Neuere Tendenzen in der Diversion: Exemplarisch dargestellt anhand des Berliner Diversionsmodells - Zurückdrängung staatsanwaltschaftlicher Entscheidungskompetenz? [1 ed.] 9783428517480, 9783428117482

In Berlin wird die Praxis der Verfahrenseinstellungen im Jugendstrafrecht maßgeblich durch die sog. Diversionsrichtlinie

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Neuere Tendenzen in der Diversion: Exemplarisch dargestellt anhand des Berliner Diversionsmodells - Zurückdrängung staatsanwaltschaftlicher Entscheidungskompetenz? [1 ed.]
 9783428517480, 9783428117482

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Strafrechtliche Abhandlungen Neue Folge · Band 165

Neuere Tendenzen in der Diversion Exemplarisch dargestellt anhand des Berliner Diversionsmodells – Zurückdrängung staatsanwaltschaftlicher Entscheidungskompetenz?

Von

Ingke Goeckenjan

asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin

INGKE GOECKENJAN

Neuere Tendenzen in der Diversion

Strafrechtliche Abhandlungen · Neue Folge Begründet von Dr. Eberhard Schmidhäuser (†) em. ord. Prof. der Rechte an der Universität Hamburg

Herausgegeben von Dr. Dr. h. c. (Breslau) Friedrich-Christian Schroeder ord. Prof. der Rechte an der Universität Regensburg

in Zusammenarbeit mit den Strafrechtslehrern der deutschen Universitäten

Band 165

Neuere Tendenzen in der Diversion Exemplarisch dargestellt anhand des Berliner Diversionsmodells – Zurückdrängung staatsanwaltschaftlicher Entscheidungskompetenz?

Von

Ingke Goeckenjan

asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin

Zur Aufnahme in die Reihe empfohlen von Professor Dr. Ulrich Eisenberg, Freie Universität Berlin Der Fachbereich Rechtswissenschaft der Freien Universität Berlin hat diese Arbeit im Jahre 2004 als Dissertation angenommen.

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.

D 188 Alle Rechte vorbehalten # 2005 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme: Klaus-Dieter Voigt, Berlin Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0720-7271 ISBN 3-428-11748-4 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier ∞ entsprechend ISO 9706 *

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorwort Die Arbeit wurde im Sommersemester 2004 vom Fachbereich Rechtswissenschaft der Freien Universität Berlin als Dissertation angenommen. Zwischenzeitlich ist nach langwierigen Vorarbeiten am 15. September 2004 eine neue Verwaltungsvorschrift in Kraft getreten, die die bis dahin geltende Diversionsrichtlinie ersetzt.1 Die Änderungen sind allerdings überwiegend redaktioneller Natur. Sie lassen das Bemühen erkennen, den Verfahrensbeteiligten durch eine verständlichere Darstellung die Anwendung der verschiedenen, durchaus komplexen Diversionsregelungen zu erleichtern. Die bisherige Unterteilung in die eigentliche Anordnung einerseits und die Empfehlung für die Umsetzung und praktische Handhabung der Diversionsrichtlinie andererseits wurde zu Gunsten der übersichtlicheren Regelung in einer einheitlichen Verwaltungsvorschrift aufgegeben. Auch innerhalb der einzelnen Regelungspunkte ist die Gliederung nunmehr einheitlicher und nachvollziehbarer. Zudem sind die Motive für eine stärkere Ausschöpfung von Diversionsmöglichkeiten expliziter formuliert sowie einzelne für das Verständnis bedeutsame Begriffe definiert. Die gesetzlichen Voraussetzungen für die einzelnen Einstellungsmöglichkeiten wurden klarer gefasst. Die der Richtlinie als Anlage beigefügte Übersicht über die Straftatbestände, bei denen eine Diversion in Betracht kommen kann, wurde erweitert und nach der Schwere der Delikte gestuft. Noch ausdrücklicher als bislang wird die Kompetenz der Staatsanwaltschaft betont, die abschließende Entscheidung über die Verfahrenseinstellung zu treffen und auf Grundlage des § 45 Abs. 2 JGG gegebenenfalls andere erzieherische Maßnahmen als die Einschaltung des Diversionsmittlers anzuregen. Bezüglich der organisatorischen Abläufe unterscheidet sich die neue Richtlinie insofern von der bislang gültigen, als nunmehr die Verwendung einer so genannten Diversionsvorgangsnummer zur Registrierung der Verfahren vorgesehen ist. Außerdem wird genauer ausgeführt, welche Dokumente und Informationen die Polizei an den Diversionsmittler übersendet. Der bisherigen Praxis entspricht die nunmehr ausdrückliche Regelung, dass die Diversionsmittler „Päda-

1 Gemeinsame Allgemeine Verfügung über die vermehrte Anwendung des § 45 JGG im Verfahren gegen Jugendliche und Heranwachsende (Diversionsrichtlinie) vom 5. Oktober 2004, ABl. Berlin 2004, S. 4300 ff.

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Vorwort

gogen der Jugendhilfe“ sind und zwar „zur Zeit“ Pädagogen des Berliner Büros für Diversionsberatung und -vermittlung. Insgesamt ist festzustellen, dass hinsichtlich des Ablaufs und der Organisation des Berliner Diversionsmodells keine wesentlichen Änderungen vorgenommen wurden. Daher haben die rechtlichen und rechtstatsächlichen Aussagen, die in dieser Arbeit über das Modell getroffen werden, nach wie vor Gültigkeit. Dies gilt insbesondere auch für die geltend gemachten grundlegenden Bedenken. Die Modifizierung der Richtlinie kann nicht genügen, solange lediglich sprachliche Unklarheiten beseitigt werden, zugleich aber die strukturellen Abläufe der Entscheidungsfindung unangetastet bleiben. Diese Arbeit ist durch die Unterstützung von verschiedenen Seiten überhaupt erst möglich geworden. Mein besonderer Dank gilt Herrn Professor Dr. Ulrich Eisenberg, der die Arbeit betreut, mit konstruktiver Kritik begleitet und mir auf meinem bisherigen wissenschaftlichen Weg mit Rat und Tat zur Seite gestanden hat. Den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Lehrstuhls für Kriminologie, Jugendstrafrecht und Strafvollzug der Freien Universität, insbesondere Herrn wiss. Mit. Jens Puschke, danke ich für ihre inhaltlichen Anregungen und freundschaftliche Unterstützung. Zu Dank verpflichtet bin ich außerdem Herrn Professor Dr. Klaus Geppert für die Übernahme des Zweitgutachtens sowie Herrn Professor Dr. Dr. h.c. Friedrich-Christian Schroeder für die Aufnahme der Arbeit in die Schriftenreihe „Strafrechtliche Abhandlungen, neue Folge“. Nicht zuletzt danke ich meiner Familie, die mich stets uneingeschränkt unterstützt hat. Ihr ist diese Arbeit gewidmet. Bayreuth, im April 2005

Ingke Goeckenjan

Inhaltsverzeichnis A. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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B. Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Begriffsbestimmung Diversion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Umlenkung um das förmliche Strafverfahren durch Verfahrenseinstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Intervenierende Diversion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die Rechtslage betreffend Diversion im Jugendstrafrecht . . . . . . . . . . . . . . . 1. § 45 JGG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) § 45 Abs. 1 JGG i. V. m. § 153 StPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) § 45 Abs. 2 JGG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Geständniserfordernis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Erzieherische Maßnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Befugnisse der Staatsanwaltschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ee) Zustimmungserfordernisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) § 45 Abs. 3 JGG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Geständnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Beschränkte Rechtskraftwirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Zustimmungserfordernisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. § 47 JGG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Zustimmungserfordernisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Anwendbarkeit auf Heranwachsende . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Vorschriften des allgemeinen Strafverfahrensrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . a) § 153 StPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) § 153 Abs. 1 StPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Ausnahmsweise Anwendung des § 153 Abs. 1 StPO? . . . . bb) § 153 Abs. 2 StPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) § 153a StPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) § 153a Abs. 1 StPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Schlechterstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

15 15 15 17 18 19 19 20 20 22 22 22 24 24 27 28 28 29 29 30 31 31 32 33 34 35 35 35 36 47 47 48 48

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Inhaltsverzeichnis (2) Andere Ansicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Verfassungskonforme Auslegung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (4) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) § 153a Abs. 2 StPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) § 153b StPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) §§ 153c bis f, 154b StPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) § 154 und § 154a StPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . f) §§ 154c bis e StPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Betäubungsmittelrechtliche Vorschriften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) § 31a BtMG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) § 38 Abs. 2 i. V. m. § 37 BtMG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Diversionsrichtlinien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Regelungsbedarf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Rechtsnatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Neuere Tendenzen in anderen Bundesländern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Polizeidiversion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Einschränkung von Diversionsmöglichkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Die Berliner Diversionsrichtlinie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Entstehungsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Zielsetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Besonderheiten der Berliner Vorgehensweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Institutionelle Gegebenheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Polizei . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Staatsanwaltschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

48 49 52 52 52 53 53 53 53 53 54 55 55 57 59 59 62 63 63 63 64 65 65 66

C. Methodisches Vorgehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Ursprünglich geplante empirische Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Untersuchungsplan und sein Scheitern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Ausgangssituation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Methodische Einwände gegen die vorgeschlagenen Fragestellungen c) Weitere Ereignisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Erklärungsansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Ausrichtung kriminologischer Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Auswirkungen behördlicher Strategien auf Forschungsvorhaben . . . c) Ansätze zur Erklärung der konkreten Ereignisse . . . . . . . . . . . . . . . . II. Tatsächlich angewandte Erhebungsmethoden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Beobachtungen bei den Mittlern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Fragestellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Vorgehensweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Beobachtungen bei der Polizei . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Fragestellungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Vorgehensweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhaltsverzeichnis 3. Interviews zum Stand der Implementation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Fragestellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Vorgehensweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Auswertung internen Datenmaterials . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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D. Verfahrensablauf gemäß der Diversionsrichtlinie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82 I. Polizei als „Selektionsinstanz“ im Diversionsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . 82 1. Vorfilterung der für eine Einstellung nach § 45 Abs. 1 und 2 JGG geeigneten Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82 a) Voraussetzungen für eine Einstellung nach § 45 Abs. 1 JGG . . . . . 82 aa) Tatvorwurf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82 bb) Strafrechtliche Vorbelastung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84 cc) Kein Bedarf für erzieherische Maßnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . 84 dd) Geständnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 b) Voraussetzungen für eine Einstellung nach § 45 Abs. 2 JGG . . . . . 85 aa) Tatvorwurf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 bb) Erzieherische Maßnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86 cc) Geständnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 dd) Zustimmungserfordernisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 c) Praktische Umsetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 aa) Schwere des Tatvorwurfs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 bb) Strafrechtliche Vorbelastung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 cc) Anwendung von materiellem Jugendstrafrecht auf Heranwachsende . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 2. Vernehmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 a) Inhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 b) Schulung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 3. Weichenstellung für das Absehen von der Verfolgung nach § 45 Abs. 1 JGG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92 4. Weichenstellung für das Absehen von der Verfolgung nach § 45 Abs. 2 JGG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 a) Normverdeutlichendes Gespräch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 b) Weichenstellung für die Einschaltung eines Diversionsmittlers . . . . 93 aa) Telefonat mit dem Ansprechpartner bei der Staatsanwaltschaft 94 bb) Entscheidung des Ansprechpartners bei der Staatsanwaltschaft 95 c) Vereinbarung mit dem Jugendlichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 II. Einschaltung der vermittelnden Institution: „Diversionsmittler“ . . . . . . . . . 96 1. Wer sind die Diversionsmittler? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 2. Wie arbeiten sie? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 a) Vorgaben der Diversionsrichtlinie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 b) Sicht des Berliner Büros für Diversionsberatung und -vermittlung . 98 c) Theoretische Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 d) Ergebnisse der Beobachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102

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Inhaltsverzeichnis aa) Formale Merkmale der beobachteten Verfahren . . . . . . . . . . . . . (1) Anzahl der in das jeweilige Diversionsverfahren einbezogenen Jugendlichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Persönliche Merkmale der Jugendlichen . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Tatvorwurf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (4) Strafrechtliche Vorerfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (5) Dauer des Verfahrens bis zur Einschaltung des Mittlers . . bb) Gesprächsinhalte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Einwilligung in meine Anwesenheit und Videoaufzeichnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Erklärungen zum Diversionsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Mutmaßliches Tatgeschehen, Umstände der mutmaßlichen Tat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (4) Gründe für die Begehung der (mutmaßlichen) Tat . . . . . . . (5) Bisheriges Verfahren, insbesondere Kontakt mit der Polizei (6) Durch die mutmaßliche Tat hervorgerufener Schaden; andere Auswirkungen der mutmaßlichen Tat beim Geschädigten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (7) Reaktionen auf die mutmaßliche Tat und ihre Entdeckung im sozialen Umfeld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (8) Mögliche „Wiedergutmachung“ des Schadens . . . . . . . . . . (9) Getroffene Vereinbarungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (10) Weitere Themen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Gesprächssituation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Probleme bei der praktischen Umsetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Unabhängigkeit der Mittler versus Ausrichtung auf die staatsanwaltschaftliche Erledigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Unsicherheiten bezüglich des Vorliegens der Voraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Freiwilligkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Statistische Angaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Staatsanwaltschaft als Entscheidungsträgerin? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Vorwegnahme der staatsanwaltschaftlichen Entscheidung durch die Polizei? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Zuständiger Dezernent hält Maßnahme für unzureichend . . . . . . . . . b) Zuständiger Dezernent hält erfolgte Maßnahme für zu weitgehend c) Keine erzieherische Maßnahme erfolgt, zuständiger Dezernent hält dies jedoch für angezeigt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Weiteres Vorgehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

103 103 103 104 104 106 106 107 107 108 110 111

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Inhaltsverzeichnis E. Rechtliche Bedenken gegenüber der Diversionsrichtlinie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Die neue „Entscheidungsinstanz“ Polizei . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Anregung von Diversion und Vorauswahl diversionsgeeigneter Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Gewaltenteilungsgrundsatz und Richtervorbehalt . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Vereinbarkeit von § 45 Abs. 2 JGG mit dem Gewaltenteilungsgrundsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Vereinbarkeit der Richtlinie mit dem Gewaltenteilungsgrundsatz b) Einschränkung der Verteidigungsrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Verteidigungsrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Auswirkungen der Richtlinie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Freiwilligkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Unschuldsvermutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Gleichbehandlungsgrundsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Vorschriften des JGG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Normverdeutlichendes Gespräch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die neue „Reaktionsinstanz“ Diversionsmittler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Verstoß gegen Kompetenzregelungen des § 45 JGG . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Beschneidung der Kompetenzen der Jugendgerichtshilfe . . . . . . . . . . . . III. Weitere Bedenken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Bestimmtheitsgrundsatz und Gesetzesvorbehalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Bestimmtheit der Richtlinie selbst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Verstoß gegen den Gesetzesvorbehalt durch Regelung in einer Verwaltungsvorschrift . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Umgehung von (milderen) Einstellungsmöglichkeiten auch außerhalb des JGG und Verletzung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes . . . . . . . a) Ausweitung des Netzes sozialer Kontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Adäquanz zwischen Tatvorwurf und Rechtsfolge . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Einschränkung der gesetzlichen Voraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Vorenthaltung ausreichenden Rechtsschutzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . F. Zusammenfassung und Schlussfolgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Zusammenfassung der Untersuchungsergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Rechtstatsächliche Aspekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Polizei als „Selektionsinstanz“ im Diversionsverfahren . . . . . . . . . . . b) Freiwilligkeit der Maßnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Tätigkeit der Mittler zwischen pädagogischer Ausrichtung und Erwartung der Staatsanwaltschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Unzureichende Informationslage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Polizei . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Staatsanwaltschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Mittler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Rechtliche Aspekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Gewaltenteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhaltsverzeichnis b) c) d) e) f)

Einschränkung der Verteidigungsrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Unschuldsvermutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verstoß gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . Bestimmtheitsgebot und Gesetzesvorbehalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verhältnismäßigkeit und Umgehung von weniger eingriffsintensiven Vorschriften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . g) Vorenthaltung ausreichenden Rechtsschutzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . h) Verletzung der gesetzlichen Regelungen in § 45 JGG . . . . . . . . . . . . aa) Einschränkungen der gesetzlichen Voraussetzungen . . . . . . . . . bb) Filternde Funktion der Polizei . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Befugnis der Polizei zur Durchführung normverdeutlichender Gespräche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Tätigkeit der Diversionsmittler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . i) Beschneidung der Kompetenzen der Jugendgerichtshilfe . . . . . . . . . II. Schlussfolgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Empfehlungen zur Ausgestaltung von Diversionsrichtlinien im Allgemeinen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Positive Ansätze der bestehenden Berliner Diversionsrichtlinie . . . . b) Empfehlungen für zukünftige Richtlinien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Empfehlungen für die Gesetzgebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Registerrechtliche Regelungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Gesetzliche Ausgestaltung der Diversion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . G. Anlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Übersicht über das Berliner Diversionsmodell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Beobachtungsbogen Diversionsgespräche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Beobachtungsleitfaden Diversionsgespräche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Interviewleitfaden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 Sachwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178

A. Einleitung Am 22. März 1999 wurde in Berlin die sog. Diversionsrichtlinie (Gemeinsame Anordnung der Senatsverwaltungen für Justiz, für Inneres und für Schule, Jugend und Sport zur vermehrten Anwendung des § 45 JGG im Verfahren gegen Jugendliche und Heranwachsende)1 erlassen. Wie in der überwiegenden Mehrzahl der übrigen Bundesländer wird mit einer solchen Richtlinie das Ziel verfolgt, Diversionsmöglichkeiten verstärkt auszuschöpfen und die Diversionspraxis zu vereinheitlichen. Jugendstrafverfahren sollen verkürzt werden; von der zeitnahen Durchführung von Diversionsmaßnahmen soll eine spezialpräventive Wirkung ausgehen. Die Berliner Diversionsrichtlinie zeichnet sich darüber hinaus dadurch aus, dass sie nicht nur – wie die Regelungen in anderen Bundesländern2 – die Polizei stärker in den Prozess der Entscheidung über eine Verfahrenseinstellung einbezieht, sondern die Einschaltung von Sozialarbeitern bzw. Sozialpädagogen als Vermittlungspersonen (sog. „Diversionsmittler“) in das Diversionsverfahren vorsieht. Diese Neuregelungen sind jedoch nicht nur auf Zustimmung gestoßen; vielmehr sind ihnen gegenüber vom Zeitpunkt ihres Erlasses an rechtliche und praktische Bedenken geltend gemacht worden. Dennoch werden die Regelungen der Berliner Diversionsrichtlinie seit Mitte April 1999 in drei Berliner Polizeidirektionen3 umgesetzt; von Januar bis Mai des Jahres 2000 ist das Modell offiziell auf die vier übrigen Polizeidirektionen erweitert worden.4 Nach Ablauf von drei Jahren wurde die Projektphase für beendet erklärt und das Diversionsverfahren als fester Bestandteil der Jugendstrafrechtspflege eingegliedert. Um den vielfach formulierten Bedenken gegenüber der Diversionsrichtlinie Rech1

ABl. Berlin 1999, S. 1891 = DVJJ-Journal 1999, S. 207. Vgl. etwa Niedersächsische Leitlinie für die polizeiliche Bearbeitung von Jugendsachen vom 7.12.1998, Nr. III. 4., DVJJ-Journal 1999, S. 208; Schleswig-Holstein: Richtlinie zur Förderung der Diversion bei jugendlichen und heranwachsenden Beschuldigten vom 24.6.1998 Nr. 3.1, SchlHA 1998, S. 205 = DVJJ-Journal 1998, S. 261; Brandenburg: Einstellung von Jugendstrafverfahren nach §§ 45, 47 JGG (Diversion). Gemeinsamer Runderlass des Ministeriums der Justiz und für Europaangelegenheiten, des Ministeriums des Innern und des Ministeriums für Bildung, Jugend und Sport vom 22.12.2000, JMBl. Brandenburg 2001, S. 23 (= DVJJ-Journal 2001, S. 183), geändert durch Gemeinsamen Runderlass vom 6.2.2003, JMBl. 2003, S. 30. 3 Polizeidirektionen 2, 5, 7. 4 Im Zuge von Polizeistrukturreformen wurden bis 2003 die Direktionsgrenzen an den Grenzen der Verwaltungsbezirke (seit dem 1.1.2001 zwölf Bezirke anstatt der früheren 23) ausgerichtet, wodurch sich die Anzahl der Polizeidirektionen von sieben auf sechs reduzierte. 2

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A. Einleitung

nung zu tragen, wird in den Senatsverwaltungen zur Zeit an einer Modifizierung der bisherigen Fassung gearbeitet. Unter Berücksichtigung der seit dieser Zeit von den an dem Projekt beteiligten Personen und Institutionen gesammelten Erfahrungen sollen die geltend gemachten Bedenken überprüft werden. Zunächst werden im ersten Teil der in der Untersuchung zu Grunde gelegte Begriff der „Diversion“ definiert und die gesetzlichen Regelungen zur Diversion im (bundesdeutschen) Jugendstrafrecht vorgestellt. Außerdem wird dargelegt, was unter einer „Diversionsrichtlinie“ zu verstehen ist und wie sich eine solche in das System gesetzlicher Regelungen einfügt. Daran schließt sich ein kurzer Überblick über neuere Tendenzen hinsichtlich der Diversionsrichtlinien anderer Bundesländer an. Sodann werden Entstehungsgeschichte, Zielsetzung und Besonderheiten der Berliner Diversionsrichtlinie beschrieben. Im zweiten Teil werden die methodische Herangehensweise für die vorliegende Arbeit sowie die Gründe, auf denen die methodischen Entscheidungen beruhen, beschrieben. Auf Grundlage der empirisch gewonnenen Erkenntnisse wird im dritten Teil dargestellt, wie sich der Verfahrensablauf von der Kenntniserlangung einer mutmaßlichen Straftat durch die Polizei bis hin zur Einstellungsentscheidung der Staatsanwaltschaft nach Maßgabe der Berliner Diversionsrichtlinie gestaltet. Die rechtlichen – insbesondere die verfassungsrechtlichen – Bedenken gegenüber den Neuregelungen der Diversionsrichtlinie werden in einem vierten Teil aufgezeigt und überprüft. Schließlich werden im letzten Teil Schlussfolgerungen gezogen und die Ergebnisse der Arbeit zusammengefasst.

B. Grundlagen I. Begriffsbestimmung Diversion 1. Allgemeines Ausgehend von seinem Wortsinn1 wird der aus dem Lateinischen stammende Begriff der „Diversion“ im strafrechtlichen Kontext gemeinhin als – im Einzelnen durchaus unterschiedlich ausgestaltetes – kriminalpolitisches Konzept zur Vermeidung bzw. Beschränkung formeller strafrechtlicher Verfahren verstanden.2 Obwohl der Diversionsgedanke insbesondere für den Bereich des Jugendstrafrechts entwickelt wurde,3 hat er auch im allgemeinen Strafrecht Niederschlag gefunden.4 Im Bereich des Jugendstrafrechts wird Diversion insbesondere auf den Erziehungsgedanken5 sowie den Grundsatz der Subsidiarität6 des Strafverfahrens gestützt.7 Letzterer besagt, dass die jeweils einschneidendere

1 Fremdwörterbuch, Duden, Band 5: veraltet für Angriff von der Seite; Ablenkung. Im weiteren Sinn verstehen etwa Kaiser u. a. (Hrsg.), Kleines Kriminologisches Wörterbuch, S. 88 und Meier/Rössner/Schöch-Meier, Jugendstrafrecht, § 7 Rnr. 2 Diversion auch als Umlenkung oder Wegführung. 2 So etwa Kaiser u. a. (Hrsg.), Kleines Kriminologisches Wörterbuch, S. 88; Kerner (Hrsg.), Kriminologie Lexikon, S. 70. Überblick über die geschichtliche Entwicklung des Begriffs etwa bei Dirnaichner, Der nordamerikanische Diversionsansatz und rechtliche Grenzen seiner Rezeption im bundesdeutschen Jugendstrafrecht, S. 17 ff., 103 ff.; Heinz, in: BMJ (Hrsg.), Diversion im Jugendstrafverfahren der Bundesrepublik Deutschland, S. 6 ff. 3 Vgl. zur Begründung des Diversionsgedankens in den USA und seiner Rezeption in der Bundesrepublik Deutschland, van den Woldenberg, Diversion im Spannungsfeld zwischen „Betreuungsjustiz“ und Rechtsstaatlichkeit, S. 3 ff.; Blau, Jura 1987, S. 25 (26 ff.). Allerdings weist Heinz, in: BMJ (Hrsg.), Diversion im Jugendstrafverfahren der Bundesrepublik Deutschland, S. 15 ff. darauf hin, dass sich Ansätze eines – freilich noch nicht mit diesem Terminus bezeichneten – Diversionsgedankens im deutschen Rechtskreis bereits seit Anfang des vorigen Jahrhunderts finden. 4 Siehe nur Heinz, DVJJ-Journal 1998, S. 245 ff.; ders., in: BMJ (Hrsg.), Diversion im Jugendstrafverfahren der Bundesrepublik Deutschland, S. 10 f. 5 Zur Diskussion siehe Brunner/Dölling, JGG, Einf. II Rnr. 4 ff.; krit. zum Begriff des Erziehungsgedankens Eisenberg, JGG, Einleitung Rnr. 5 ff.; Heinz, RdJB 1992, S. 123 (133 f.). Für die Entfernung des Erziehungsgedankens aus dem Jugendstrafrecht und seine Ersetzung H.-J. Albrecht, Ist das deutsche Jugendstrafrecht noch zeitgemäß? Gutachten zum 64. DJT, S. D 97 ff. Zu Reaktionen auf das Gutachten, die Diskussion und Beschlüsse auf dem DJT siehe etwa Dünkel, NK 2002, S. 90 ff.; Laubenthal, JZ 2002, S. 807 ff.; Scheffler, NJ 2002, S. 449 ff.; Sonnen, DVJJ-Journal 2002, S. 115 ff.; Walter, ZfJ 2002, S. 321 ff; Ostendorf, NK 2003, S. 16 ff.

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B. Grundlagen

Reaktion nur dann gewählt werden darf, wenn die weniger eingriffsintensive keinen Erfolg verspricht.8 Das Konzept der Diversion folgt der kriminologischen Erkenntnis, dass geringfügige Normverletzungen im Jugend- und Heranwachsendenalter der Entwicklung entsprechen9 und in der Regel auch ohne einschneidende Reaktion vorübergehende Erscheinungen bleiben10 und sog. „stationäre“ Sanktionen schädliche Nebenwirkungen für die Entwicklung haben können.11 Diversion soll es ermöglichen, die durch ein Strafverfahren drohenden Stigmatisierungen zu minimieren, die dem strafrechtlich relevanten Geschehen zu Grunde liegenden Konflikte losgelöst von formalen Zwängen aufzuarbeiten und – durch die Schnelligkeit der Reaktion – den aus pädagogischer Sicht gebotenen engen Zusammenhang zwischen Tat und Reaktion besser als bei einer Verurteilung zu wahren. Damit ist Diversion letztlich ein Instrument positiver Spezialprävention.12 Abgesehen von der breit gestreuten Bagatelldelinquenz sind all diejenigen Delikte diversionsgeeignet, deren justizförmige Bewältigung aus kriminologischer Sicht besonders unangemessen erscheint. Das kann auf bestimmte Gruppen von Beschuldigten (etwa sehr junge Beschuldigte) ebenso zutreffen wie auf bestimmte Tatvorwürfe (etwa Drogendelikte).13 Rechtssystematisch betrachtet stellt Diversion eine Durchbrechung des strafprozessualen Legalitätsprinzips (§§ 152 Abs. 2, 160, 170 Abs. 1 StPO) dar.14 Sie kann nur dann zur Anwendung gelangen, wenn die Voraussetzungen für eine 6 Brunner/Dölling, JGG, Einf. II Rnr. 18 ff.; allgemein zum Subsidiaritätsprinzip im Jugendstrafrecht siehe Eisenberg, JGG, § 5 Rnr. 5 ff.; Heinz, in: BMJ (Hrsg.), Diversion im Jugendstrafverfahren der Bundesrepublik Deutschland, S. 25 f. 7 Siehe etwa Brunner/Dölling, JGG, § 45 Rnr. 4. 8 Damit betrifft die Subsidiarität nur den Aspekt der Erforderlichkeit, während der aus dem Rechtsstaatsprinzip abgeleitete Verhältnismäßigkeitsgrundsatz Geeignetheit, Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne (Angemessenheit) beinhaltet. Siehe näher Nothacker, „Erziehungsvorrang“ und Gesetzesauslegung im Jugendgerichtsgesetz, S. 153 ff.; Heinz, in: BMJ (Hrsg.), Diversion im Jugendstrafverfahren der Bundesrepublik Deutschland, S. 4 Anm. 17. 9 Heinz, in: BMJ (Hrsg.), Diversion im Jugendstrafverfahren der Bundesrepublik Deutschland, S. 47 m. w. N.: Strafrechtlich relevante Verhaltensweisen, die zu mindestens einer – formellen oder informellen – justiziellen Sanktionierung führen, sind jedenfalls im männlichen Teil der Bevölkerung statistisch „normal“. 10 Brunner/Dölling, JGG, § 45 Rnr. 4; Heinz, in: BMJ (Hrsg.): Jugendstrafrechtsreform durch die Praxis, S. 16 ff.; Storz, in: BMJ (Hrsg.), Diversion im Jugendstrafverfahren der Bundesrepublik Deutschland, S. 131 ff. 11 BT-Drucksache 11/5829, S. 1; vgl. zu Zweifeln an spezialpräventiver Wirkung von Jugendarrest und Jugendstrafe, Eisenberg, Kriminologie, § 42 Rnr. 22, 29. 12 Ostendorf, JGG, Grdl. zu §§ 45, 47 Rnr. 4; Nix-Rzepka, JGG, vor §§ 45, 47, Rnr. 2; Heinz, in: BMJ (Hrsg.), Diversion im Jugendstrafverfahren der Bundesrepublik Deutschland, S. 23; Fasoula, Rückfall nach Diversionsentscheidungen im Jugendstrafrecht und im allgemeinen Strafrecht, S. 51 f. 13 Walter, ZStW 95 (1983), S. 32 (37).

I. Begriffsbestimmung Diversion

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strafrechtliche Verfolgung gegeben sind, von der Verfolgung jedoch aus Opportunitätsgründen abgesehen wird.15 Daher können in Fällen, in denen das Verfahren aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen (wie etwa mangels hinreichenden Tatverdachts oder mangels Vorliegens von Prozessvoraussetzungen; vgl. § 170 Abs. 2 StPO bzw. §§ 206a, 260 Abs. 3 StPO) eingestellt werden muss, Diversionsmaßnahmen nicht Platz greifen.16 Obwohl bereits verschiedentlich der Versuch unternommen wurde, den Begriff der Diversion einer eindeutigen Begriffsbestimmung zuzuführen,17 besteht bislang keine einheitliche wissenschaftliche Definition.18 Teilweise wird herausgestellt, dass der Begriff missverständlich sei, da eine wirkliche Umleitung um das Strafverfahren nur dann stattfinde, wenn auf eine staatliche Beteiligung an der Reaktion auf strafrechtlich relevantes Geschehen gänzlich verzichtet werde, wie etwa bei einer gütlichen Einigung zwischen Täter und Opfer ohne Einbeziehung offizieller Instanzen.19 Indes kann eine solche Form von Nichtverfolgung nicht Inhalt eines Reaktionskonzeptes sein, da staatliche Institutionen gerade keinen Einfluss darauf ausüben können. 2. Umlenkung um das förmliche Strafverfahren durch Verfahrenseinstellung Weitgehend Einigkeit besteht daher darüber, dass unter Diversion die Umlenkung um ein förmliches Strafverfahren zwischen der polizeilichen Erfassung einer mutmaßlichen Straftat und der förmlichen Beendigung des Verfahrens durch ein strafgerichtliches Urteil zu verstehen ist.20 Ein solcher vorzeitiger Ab14 Van den Woldenberg, Diversion im Spannungsfeld zwischen „Betreuungsjustiz“ und Rechtsstaatlichkeit, S. 29 mit Nachweisen. 15 Meier/Rössner/Schöch-Meier, Jugendstrafrecht, § 7 Rnr. 3: „erzieherische Opportunität“. 16 Heinz, MschrKrim 1993, S. 355 (356); Eisenberg, JGG, § 45 Rnr. 8; Brunner/ Dölling, JGG, § 45 Rnr. 1; Diemer/Schoreit/Sonnen-Diemer, JGG, § 45 Rnr. 7; NixRzepka, JGG, § 45 Rnr. 7; Streng, Jugendstrafrecht, § 7 Rnr. 35; Meier/Rössner/ Schöch-Meier, Jugendstrafrecht, § 7 Rnr. 4; Beulke, in: DVJJ (Hrsg.), Jugend, Gesellschaft und Recht im neuen Jahrtausend, S. 311 (321); van den Woldenberg, Diversion im Spannungsfeld zwischen „Betreuungsjustiz“ und Rechtsstaatlichkeit, S. 29. 17 Vgl. z. B. van den Woldenberg, Diversion im Spannungsfeld zwischen „Betreuungsjustiz“ und Rechtsstaatlichkeit, S. 31. 18 Übersicht über verschiedene Verwendungsweisen des Diversionsbegriffs siehe Heinz, in: BMJ (Hrsg.), Diversion im Jugendstrafverfahren der Bundesrepublik Deutschland, S. 9 f. 19 Schaffstein/Beulke, Jugendstrafrecht, § 36 I. 20 Vgl. Heinz, in: BMJ (Hrsg.), Diversion im Jugendstrafverfahren der Bundesrepublik Deutschland, S. 10; P.-A. Albrecht, Jugendstrafrecht, § 5 I. 1; van den Woldenberg, Diversion im Spannungsfeld zwischen „Betreuungsjustiz“ und Rechtsstaatlichkeit, S. 28, m. w. N.; Sessar/Hering, in: Kury (Hrsg), Kriminologische Forschung in der Diskussion, S. 374; Hering/Sessar, Praktizierte Diversion, S. 14 f. schränken diese

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B. Grundlagen

bruch des Strafverfahrens wird mit dem Mittel der Verfahrenseinstellung erreicht.21 Teilweise wird vertreten, dass Diversion im weiteren Sinne darüber hinaus auch solche Maßnahmen umfasse, die zwar nicht zu einer vorzeitigen Verfahrensbeendigung führen, jedoch auf eine möglichst weitgehende Reduzierung der Eingriffsintensität der – auch durch Urteil – verhängten Reaktion abzielen.22 Zwar mögen solche Ansätze auf ähnlichen Erwägungen beruhen wie das Konzept der Diversion, insbesondere dem Aspekt weitgehender Vermeidung sozialer Kontrolle und Stigmatisierung der beschuldigten Person. Eine Umlenkung um den verfahrensrechtlich vorgesehenen Weg führt jedoch bereits begrifflich zu einer vorzeitigen Beendigung des Strafverfahrens; strafgerichtliche Urteile, die auf eine Hauptverhandlung hin ergehen und das Strafverfahren abschließen, können daher nicht als Diversionsmaßnahmen angesehen werden.23 3. Intervenierende Diversion Uneinigkeit herrscht weiterhin über die Frage, ob der Begriff der Diversion lediglich die Verfahrenseinstellung auf der Grundlage durchgeführter oder eingeleiteter Maßnahmen erfasst24 oder auch diejenige ohne weitere Intervention (vgl. § 153 StPO, § 45 Abs. 1 JGG i. V. m. § 153 StPO, § 47 Abs. 1 Nr. 1 JGG).25 Diese Diskussion ist jedoch insofern überflüssig, als auch die VerfahDefinition dahingehend ein, dass sie darunter nur das Absehen von der Verfolgung durch die Staatsanwaltschaft verstehen. 21 Eisenberg, Kriminologie, § 43 Rn. 8. 22 Pfeiffer, Kriminalprävention im Jugendgerichtsverfahren, S. 125; ders., in: BMJ (Hrsg.), Jugendstrafrechtsreform durch die Praxis, S. 74; Dirnaichner, Der nordamerikanische Diversionsansatz und rechtliche Grenzen seiner Rezeption im bundesdeutschen Jugendstrafrecht, S. 63 ff.; Heinz, ZRP 1990, S. 7 ff.; Kury/Lerchenmüller (Hrsg.), Diversion, Bd. 2, S. 657 ff. 23 Ebenso van den Woldenberg, Diversion im Spannungsfeld zwischen „Betreuungsjustiz“ und Rechtsstaatlichkeit, S. 29. So ist etwa das Absehen von Strafe gemäß § 60 StGB nicht als Diversionsmaßnahme anzusehen, da der Strafverzicht in der Urteilsformel zu erklären ist, Tröndle/Fischer, StGB, § 60 Rnr. 7. 24 So etwa Walter, ZStW 95 (1983), S. 32 ff.; Kaiser, in: Kaiser/Kerner/Sack/ Schellhoss (Hrsg.), Kleines Kriminologisches Wörterbuch, S. 88. Im österreichischen Strafrecht wird unter Diversion nur der Verzicht auf Verfolgung „nach Zahlung eines Geldbetrages, nach Erbringung gemeinnütziger Leistungen, nach einer Probezeit und nach außergerichtlichem Tatausgleich“ verstanden (vgl. IXa. Hauptstück der ÖStPO). Die Verfahrenseinstellung ohne weitere Intervention ist lediglich im ÖJGG vorgesehen und wird als bloßer Verfolgungsverzicht bezeichnet, siehe näher Schütz, Diversionsentscheidungen im Strafrecht, S. 1 ff. 25 Der Kommentar zu Nr. 11.3 der Mindestgrundsätze der Vereinten Nationen für die Jugendgerichtsbarkeit, abgedruckt in: ZStW 99 (1987), S. 253 (267), betont, dass es „in vielen Fällen (. . .) das beste (wäre), von jeglichem Einschreiten abzusehen. Optimal kann es daher durchaus sein, von vorneherein auf eine Verfolgung zu verzichten und auch keine alternativen (sozialen) Einrichtungen einzuschalten; dies insbesondere dann, wenn es sich um keine schwere Verfehlung handelt und die Familie, die Schule

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renseinstellung ohne weitergehende Intervention eine Sanktion im sozialwissenschaftlichen Sinne darstellt26 und es somit eine nicht-intervenierende Diversion im Wortsinne nicht gibt. Schließlich gehen der Verfahrenseinstellung die Tatentdeckung und das Ermittlungsverfahren einschließlich der Vernehmung der beschuldigten Person und der Ermittlungen im sozialen Umfeld voraus. Hinzu kommen die Belastung der beschuldigten Person, als tatverdächtig zu gelten, ggf. die Eintragung in das Erziehungsregister, die Erfassung personenbezogener Daten in behördeninternen Systemen sowie die Unterrichtung von Behörden und Einzelpersonen. Folglich sind auch Verfahrenseinstellungen ohne zusätzlich durchgeführte oder eingeleitete Maßnahmen als dem Begriff der Diversion unterfallend anzusehen.27 4. Zusammenfassung Somit lässt sich festhalten, dass unter Diversion die Umgehung eines formellen Strafverfahrens im Wege der (nicht nur vorläufigen28) Verfahrenseinstellung aus Opportunitätsgründen nach der Tatentdeckung durch Strafverfolgungsorgane und vor Abschluss des Verfahrens durch richterliches Urteil zu verstehen ist.29

II. Die Rechtslage betreffend Diversion im Jugendstrafrecht In Übereinstimmung mit der vorangegangenen Definition können auf dem Gebiet des bundesdeutschen Jugendstrafrechts30 Verfahrenseinstellungen gem. §§ 45 Abs. 1 bis 3, 47 JGG, §§ 153 ff. StPO31 sowie §§ 31a, 37 i. V. m. § 38 Abs. 2 BtMG als Diversionsentscheidungen angesehen werden.32 Um überprüoder andere informelle soziale Kontrollinstanzen bereits angemessen und konstruktiv reagiert haben oder dies voraussichtlich tun werden.“ 26 Heinz, in: BMJ (Hrsg.), Diversion im Jugendstrafverfahren der Bundesrepublik Deutschland, S. 26 f.; ders., DVJJ-Journal 1998, S. 245; Nix-Rzepka, JGG, § 45 Rnr. 25. 27 Z. B. P.-A. Albrecht, Jugendstrafrecht, § 5 I. 2.; van den Woldenberg, Diversion im Spannungsfeld zwischen „Betreuungsjustiz“ und Rechtsstaatlichkeit, S. 31 m. w. N. 28 Heinz, DVJJ-Journal 1998, S. 245. 29 Ebenso van den Woldenberg, Diversion im Spannungsfeld zwischen „Betreuungsjustiz“ und Rechtsstaatlichkeit, S. 31; Walter, ZStW 95 (1983), S. 32 (34). 30 Einen Überblick über Diversionsmöglichkeiten in anderen europäischen Staaten bietet Fasoula, Rückfall nach Diversionsentscheidungen im Jugendstrafrecht und im allgemeinen Strafrecht, S. 40 ff.; zu den Diversionsentscheidungen im österreichischen Strafrecht eingehend Schütz, Diversionsentscheidungen im Strafrecht, S. 1 ff. 31 Vgl. nur Löwe/Rosenberg-Beulke, § 153 Rnr. 1; AK-StPO-Schöch, § 153 Rnr. 2. 32 So auch Heinz, DVJJ-Journal 1998, S. 245, der im Bereich des allgemeinen Strafverfahrensrechts jedoch lediglich §§ 153, 153a und 153b StPO als Diversionsentscheidungen anerkennt. Soweit (als Umkehrschluss zu § 80 Abs. 1 S. 1 JGG) auch die Einstellung bei Fehlen der Voraussetzungen des öffentlichen Interesses, von Erzie-

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fen zu können, ob die Berliner Diversionsrichtlinie die gesetzlichen Bestimmungen in zulässiger Weise ausgestaltet, sollen letztere in einem Überblick dargestellt werden. Dies wird zugleich Anlass sein, die seit Jahrzehnten bestehenden Streitstände zu Voraussetzungen und Rechtsfolgen sowie wechselseitigen Abgrenzungen der Einstellungsvorschriften darzulegen und mögliche Ansätze für neue Perspektiven aufzuzeigen. 1. § 45 JGG § 45 JGG ermöglicht für den Bereich des Jugendstrafverfahrens eine Einstellung vor Erhebung der Anklage. Dabei folgt der Aufbau der Vorschrift dem Grundsatz der Subsidiarität derart, dass die Eingriffsintensität von Absatz 1 bis Absatz 3 zunimmt, so dass klargestellt ist, dass die intensivere Maßnahme nur dann in Betracht kommt, wenn die im jeweils vorangegangenen Absatz beschriebenen Maßnahmen nicht ausreichen.33 Die Regelungen des § 45 JGG gelten auch für Heranwachsende, wenn materielles Jugendstrafrecht Anwendung findet (§§ 105 Abs. 1, 109 Abs. 2 Satz 1 JGG).34 a) § 45 Abs. 1 JGG i. V. m. § 153 StPO Die Einstellung durch die Staatsanwaltschaft ohne weitere Maßnahmen ist als Reaktion mit der relativ geringsten Eingriffsintensität an erster Stelle in Absatz 1 geregelt. Die Staatsanwaltschaft kann danach ohne Zustimmung des Gerichts von der Verfolgung absehen, wenn die Voraussetzungen des § 153 StPO vorliegen, d.h. wenn es sich bei der (mutmaßlichen) Tat um ein Vergehen handelt, die Schuld des (mutmaßlichen) Täters als gering anzusehen wäre und „kein öffentliches Interesse an der Strafverfolgung“ besteht. Das „öffentliche Interesse“ ist in diesem Zusammenhang im Sinne positiver Individualprävention zu bestimmen, d.h. es ist zu verneinen, wenn die Durchführung einer Hauptverhandlung zur Vermeidung erneuten strafrechtlich relevanten Verhaltens nicht erforhungsgründen oder berechtigten Verfolgungsinteressen des Verletzten zu den Diversionsentscheidungen gezählt wird (vgl. Heinz, in: BMJ (Hrsg.), Diversion im Jugendstrafverfahren der Bundesrepublik Deutschland, S. 11), so kann dem nicht gefolgt werden, da die Regelung des § 80 Abs. 1 S. 2 JGG im Vergleich zum allgemeinen Strafverfahrensrecht eine Erweiterung staatlicher Eingriffsbefugnisse darstellt, deren bloße Nichtanwendung keine Diversion begründen kann. 33 Nix-Rzepka, JGG, § 45 Rnr. 4. 34 Entgegen dem Wortlaut von § 109 Abs. 2 Satz 1 JGG („Wendet der Richter Jugendstrafrecht an“) sind die Regelungen des § 45 Abs. 1 und 2 JGG, die sich an die Staatsanwaltschaft wenden, nach herrschender Ansicht auch auf Heranwachsende anwendbar, Eisenberg, JGG, § 109 Rnr. 15, Brunner/Dölling, JGG, § 109 Rnr. 5; Ostendorf, JGG, § 109 Rnr. 5; Nix-Rzepka, JGG, § 45 Rnr. 1; Richtlinien zum JGG Nr. 5 zu § 109; a. A. Böhm, in: Festschrift für Günter Spendel, S. 777 (786).

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derlich erscheint.35 Nicht zu berücksichtigen sind hingegen generalpräventive Gesichtspunkte.36 Anders als die Verfahrenseinstellung nach § 45 Abs. 3 JGG setzt diejenige nach § 45 Abs. 1 JGG kein Geständnis des Beschuldigten voraus. Entgegen dieser gesetzgeberischen Vorgabe enthalten einige Diversionsrichtlinien der Länder Voraussetzungen, die einem Geständniserfordernis nahe kommen.37 Nach der Vorstellung des Gesetzgebers ist eine Anwendung des § 45 Abs. 1 JGG sachgerecht, wenn es sich um eine jugendtypische Verfehlung mit geringem Schuldgehalt und geringen Auswirkungen handelt, die keine weiteren erzieherischen Maßnahmen erfordert.38 Denn wenngleich das Strafverfahren ohne zusätzliche Maßnahmen eingestellt wird, darf – wie bereits ausgeführt – nicht unberücksichtigt bleiben, dass das bisher durchgeführte Verfahren den Beschuldigten bereits durch die Tatentdeckung, durch etwa erfolgte Vernehmungen und Ermittlungen, durch das Bekanntwerden des Tatvorwurfs im sozialen Umfeld sowie durch informelle Reaktionen etwa der Erziehungsberechtigten, der Schule oder der Geschädigten belastet haben wird.39 Auch bei wiederholter Deliktsbegehung kann nach § 45 Abs. 1 JGG zumindest dann verfahren werden, wenn zwischen den (mutmaßlichen) Taten ein erhebliches zeitliches Intervall liegt oder die Taten hinsichtlich des verletzten Rechtsguts und der Begehungsart unterschiedlich sind.40 Die Verfahrenseinstellung nach § 45 Abs. 1 JGG geht – wie auch die Einstellungen nach den übrigen Absätzen des § 45 JGG – mit einer Eintragung in das Erziehungsregister einher (§ 60 Abs. 1 Nr. 7 BZRG). Dies hat zur Folge, dass die Einstellungsentscheidungen – anders als im allgemeinen Strafrecht41 – in künftigen Verfahren immer über den Auszug aus dem Erziehungsregister dem erkennenden Gericht bekannt und dem Angeklagten vorgehalten werden, selbst 35

Heinz, DVJJ-Journal 1999, S. 131 (134); Nix-Rzepka, JGG, § 45 Rnr. 13. Vgl. nur Ostendorf, JGG, § 45 Rnr. 10; Nix-Rzepka, JGG, § 45 Rnr. 13; zur Frage, ob speziell für § 17 Abs. 2, 2. Alt. JGG eine Ausnahme von diesem Grundsatz anzunehmen ist, siehe Eisenberg, JGG, § 17 Rnr. 5, 29 ff.; Ostendorf, JGG, § 17 Rnr. 5; jeweils mit weiteren Nachweisen. 37 So etwa die Berliner Diversionsrichtlinie, nach der „eine Verfahrenseinstellung nach § 45 JGG (. . .) erst dann in Betracht (kommt), wenn ausreichender Tatverdacht besteht und der Beschuldigte den Tatvorwurf nicht ernstlich bestreitet“ (ABl. Berlin 1999, S. 1891). Siehe näher unter D. I. 1. a). 38 BT-Drucksache 11/5829, S. 23; so auch Richtlinien zum JGG Nr. 2 zu § 45. 39 Siehe auch Heinz, MschrKrim 1993, S. 355 (356); van den Woldenberg, Diversion im Spannungsfeld zwischen „Betreuungsjustiz“ und Rechtsstaatlichkeit, S. 36; Blau, Jura 1987, S. 25 (33). 40 BT-Drucksache 11/5829, S. 23 f.; Eisenberg, JGG, § 45 Rnr. 18a; Diemer/Schoreit/Sonnen-Diemer, JGG, § 45 Rnr. 12; Nix-Rzepka, JGG, § 45 Rnr. 16. 41 Siehe aber zum staatsanwaltschaftlichen Verfahrensregister (§§ 492 ff. StPO) unter B. II. 3. a) aa) (2) (c). 36

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wenn in den früheren Verfahren eindeutige Schuldfeststellungen nicht getroffen wurden. Dennoch wird wie bei der parallelen Vorschrift des allgemeinen Strafverfahrensrechts, § 153 Abs. 1 StPO, allgemein davon ausgegangen, eine Zustimmung der beschuldigten Person oder ihrer Personensorgeberechtigten zu dieser Form der Diversion sei nicht erforderlich.42 b) § 45 Abs. 2 JGG aa) Allgemeines Im nachfolgenden Absatz 2 ist die Verfahrenseinstellung durch die Staatsanwaltschaft für den Fall vorgesehen, dass eine erzieherische Maßnahme bereits durchgeführt (§ 45 Abs. 2 Satz 1, 1. Alt. JGG) bzw. eingeleitet (§ 45 Abs. 2 Satz 1, 2. Alt. JGG) wurde und die Staatsanwaltschaft weder die Mitwirkung des Gerichts im formlosen Erziehungsverfahren nach § 45 Abs. 3 JGG noch die Erhebung einer Anklage (bzw. die Beantragung des vereinfachten Jugendverfahrens nach § 76 JGG) für erforderlich hält. Eine Beschränkung auf Vergehen enthält § 45 Abs. 2 JGG nicht.43 Eine Einstellung nach dieser Vorschrift wird regelmäßig bei erneuter Auffälligkeit wegen solcher Delikte, bezüglich deren nach § 45 Abs. 1 JGG eingestellt werden kann, bzw. bei erstmaliger Auffälligkeit wegen eines Delikts, das in seiner Schwere oberhalb der Delikte liegt, bezüglich deren nach § 45 Abs. 1 JGG eingestellt werden kann, für angezeigt erachtet.44 bb) Geständniserfordernis Ebenso wenig wie für eine Verfahrenseinstellung gemäß Absatz 1 – und im Gegensatz zu Absatz 3 – ist nach dem Wortlaut das Vorliegen eines Geständnisses erforderlich. Nichtsdestotrotz fordern einige Autoren, auch für eine Einstel42 Siehe nur Diemer/Schoreit/Sonnen-Diemer, JGG, § 45 Rnr. 11, der allerdings nicht darauf eingeht, dass die Verfahrenseinstellung nach § 45 Abs. 1 JGG anders als diejenige nach § 153 Abs. 1 StPO die Eintragung in das Erziehungsregister nach sich zieht und sich damit von letzterer in ihrer belastenden Wirkung unterscheidet. 43 Entgegen der gesetzlichen Konzeption beschränkt die entsprechende Verwaltungsvorschrift des Landes Rheinland-Pfalz alle Diversionsentscheidungen auf Fälle (mutmaßlicher) Vergehen, siehe Diversionsstrategie für die Praxis des Jugendstaatsanwalts nach § 45 JGG. Gemeinsames Rundschreiben des Ministeriums der Justiz, des Ministeriums des Innern und für Sport und des Ministeriums für Soziales und Familie vom 31.7.1987, zuletzt geändert durch Gemeinsames Rundschreiben vom 1.4.1993, Justizblatt Rheinland-Pfalz 1993, 105, Nr. 1.3. 44 Siehe Heinz, in: BMJ (Hrsg.): Diversion im Jugendstrafverfahren der Bundesrepublik Deutschland, S. 68 mit weiteren Nachweisen. Vgl. auch mehrere Diversionsrichtlinien, dazu Heinz, DVJJ-Journal 1999, S. 131 (135). So auch die Berliner Diversionsrichtlinie (ABl. Berlin 1999, S. 1891 (1892)); siehe näher unter D. I. 1. b).

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lung nach § 45 Abs. 2 JGG müsse der Jugendliche Tat und Schuld glaubhaft eingestehen.45 Gestützt wird diese Auffassung zum einen auf historische Argumente. So sei der Rechtsausschuss des Bundestages bei der Schaffung des § 45 JGG a. F. davon ausgegangen, „dass formlose Maßnahmen, die ein Absehen von der Verfolgung rechtfertigen, nur dann getroffen werden können, wenn der Beschuldigte geständig ist.“46 Zum anderen sprächen teleologische Gründe dafür, ein Geständnis auch als Voraussetzung für eine Einstellung nach § 45 Abs. 2 JGG zu fordern. Es stelle einen Wertungswiderspruch dar, wenn die Staatsanwaltschaft ein Geständnis nicht benötige, während der Richter (im formlosen jugendrichterlichen Erziehungsverfahren nach § 45 Abs. 3 JGG) darauf angewiesen sei.47 Demgegenüber ergibt sich aus dem eindeutigen Wortlaut sowie der Systematik der Absätze des § 45 JGG, dass ein Geständnis nicht Voraussetzung für eine Verfahrenseinstellung nach § 45 Abs. 2 JGG ist. Zudem kann die erforderliche Bereitschaft des Jugendlichen zur Teilnahme am Diversionsverfahren auch über das Erfordernis seiner Zustimmung sichergestellt werden.48 Demnach ist das Vorgehen nach Absatz 2 selbst gegenüber einem den Tatvorwurf bestreitenden Beschuldigten zulässig.49

45 Brunner/Dölling, JGG, § 45 Rnr. 24; Breymann, ZfJ 1985, S. 14 (16); Dölling, in: DVJJ (Hrsg.), Sozialer Wandel und Jugendkriminalität, S. 251; Miehe, in: Dölling (Hrsg.), Jugendstrafrecht an der Wende zum 21. Jahrhundert, S. 158; zu § 45 a. F. bereits Walter, ZStW 95 (1983), S. 32 (61). 46 Schriftlicher Bericht des Ausschusses für Rechtswesen und Verfassungsrecht, BTDrucksache 1/4437, S. 8. 47 Brunner/Dölling, JGG, § 45 Rnr. 24; Böhm, in: Festschrift für Günter Spendel, S. 777 (793); Walter, ZStW 95 (1983), S. 32 (61). 48 Ähnlich Streng, Jugendstrafrecht, § 7 Rnr. 35, 40, der jedoch im Fall der Anregung einer Maßnahme durch die Staatsanwaltschaft ein glaubhaftes Geständnis als ungeschriebene Voraussetzung fordert. 49 Eisenberg, JGG, § 45 Rnr. 19a; Ostendorf, JGG, § 45 Rnr. 14; Diemer/Schoreit/ Sonnen-Diemer, JGG, § 45 Rnr. 17; Bohnert, NJW 1980, S. 1927 (1931) zu § 45 a. F.; Heinz, MschrKrim 1993, S. 355 (369) m. w. N.; ders., DVJJ-Journal 1999, S. 131 (133) auch zu abweichenden Diversionsrichtlinien der Bundesländer; H. E. Müller, DRiZ 1996, S. 443 (444); Zieger, Verteidigung in Jugendstrafsachen, Rnr. 152. Siehe aber (bundeseinheitliche) Richtlinien zum JGG Nr. 3 S. 4 zu § 45: „Erforderlich hierfür ist, dass der Beschuldigte den Tatvorwurf nicht ernstlich bestreitet, das Anerbieten der Staatsanwaltschaft annimmt und die Erziehungsberechtigten und die gesetzlichen Vertreter nicht widersprechen.“ Ähnlich die Berliner Diversionsrichtlinie, der gemäß „eine Verfahrenseinstellung nach § 45 JGG (. . .) erst dann in Betracht (kommt), wenn ausreichender Tatverdacht besteht und der Beschuldigte den Tatvorwurf nicht ernstlich bestreitet.“ Siehe näher unter D. I. 1. b). In praktischer Hinsicht ist allerdings zu berücksichtigen, dass es der Zustimmung des Jugendlichen zur erzieherischen Maßnahme bedarf (s. u.) und kaum Fälle vorstellbar sind, in denen er der Maßnahme zustimmt, jedoch die Einlassung, er habe die Tat nicht begangen, aufrechterhält, vgl. Nix-Rzepka, JGG, § 45 Rnr. 28.

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cc) Erzieherische Maßnahmen Von dem Begriff der „erzieherischen Maßnahme“, der inhaltlich nicht mit dem der „Erziehungsmaßregel“ (§§ 9 ff. JGG) identisch ist, sind alle Maßnahmen erfasst, die zur Erziehung des Beschuldigten von privater oder öffentlicher Seite im Rahmen bestehender Erziehungsaufgaben durchgeführt oder eingeleitet sind. Einen Katalog in Betracht kommender erzieherischer Maßnahmen enthält das Gesetz nicht.50 Nach § 45 Abs. 2 Satz 2 JGG steht das Bemühen des Jugendlichen, einen Ausgleich mit dem Verletzten zu erreichen, einer erzieherischen Maßnahme gleich. Reaktionen aus dem sozialen Umfeld, etwa der Personensorgeberechtigten oder der Schule, sind gegenüber justiziellen Eingriffen mit Blick auf die möglichst weitgehende Subsidiarität jugendstrafrechtlicher Maßnahmen vorrangig51 und werden für „besonders geeignet“ gehalten, „Schuldeinsicht zu fördern und das künftige Verhalten des Jugendlichen zu beeinflussen.“52 dd) Befugnisse der Staatsanwaltschaft Strittig ist, inwieweit die Staatsanwaltschaft selbst befugt ist, erzieherische Maßnahmen durchzuführen oder einzuleiten, aufgrund deren gemäß § 45 Abs. 2 JGG von der Verfolgung abgesehen werden kann. Diese Frage ist insofern praktisch besonders relevant, als zahlreiche Diversionsprogramme – wie auch das Berliner Diversionsmodell – auf der Annahme einer derart aktiv gestalterischen Rolle der Staatsanwaltschaft basieren.53 Nach teilweise vertretener Ansicht sind die in § 45 Abs. 2 JGG genannten erzieherischen Maßnahmen ausschließlich solche anderer Personen und Institutionen, wie etwa der Eltern, der Schule, des weiteren sozialen Umfelds, des Jugendamtes, des Familien- und Vormundschaftsgerichts; das jugendstrafrechtliche Inventar ambulanter Maßnahmen sei gemäß § 45 Abs. 3 JGG dem Jugendgericht vorbehalten. Die Staatsanwaltschaft selbst dürfe die Durchführung oder Einleitung erzieherischer Maßnahmen nicht anregen oder ergreifen.54 Vertreter dieser Auffassung berufen sich sowohl auf den Wortlaut als auch auf die Systematik des § 45 JGG. Voraussetzung für eine 50 Allerdings enthalten einige Verwaltungsvorschriften der Bundesländer wie etwa die Berliner Diversionsrichtlinie (ABl. Berlin 1999, S. 1891 [1892 f.]) einen derartigen Katalog. Siehe näher unter D. I. 1. 51 Eisenberg, JGG, § 45 Rnr. 20; Nix-Rzepka, JGG, § 45 Rnr. 23. 52 Vgl. Begründung des Regierungsentwurfs BT-Drucksache 11/5829, S. 24. 53 Siehe auch Nix-Rzepka, JGG, § 45 Rnr. 19. 54 Van den Woldenberg, Diversion im Spannungsfeld zwischen „Betreuungsjustiz“ und Rechtsstaatlichkeit, S. 152 ff.; Dirnaichner, Der nordamerikanische Diversionsansatz und rechtliche Grenzen seiner Rezeption im bundesdeutschen Jugendstrafrecht, S. 341 ff., 400 ff.; ders., ZfJ 1991, S. 12 (18); Böhm, in: Festschrift für Günter Spendel, S. 777 (790); Diemer/Schoreit/Sonnen-Diemer, JGG, § 45 Rnr. 14.

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Verfahrenseinstellung nach § 45 Abs. 2 JGG ist, dass eine erzieherische Maßnahme „durchgeführt oder eingeleitet ist“. Die passivische Formulierung verweist zumindest nicht ausdrücklich auf die Möglichkeit, dass die Voraussetzungen auch von der Staatsanwaltschaft selbst geschaffen werden können. Die Erteilung von jugendstrafrechtlichen Reaktionen ist – dem Grundsatz der Subsidiarität folgend – in Absatz 3 geregelt. Hieraus könne geschlossen werden, dass die Erteilung von Reaktionen dem Gericht vorbehalten und die Kompetenz der Staatsanwaltschaft auf die Möglichkeit einer Anregung beim Gericht begrenzt seien.55 Durch diese Auslegung könne auch der Wertungswiderspruch vermieden werden, der andernfalls dadurch entstünde, dass die Erteilung einer Maßnahme durch das Gericht gemäß § 45 Abs. 3 JGG ein Geständnis erfordert, das Vorgehen der Staatsanwaltschaft nach § 45 Abs. 2 JGG jedoch nicht.56 Darüber hinaus sprächen auch verfassungsrechtliche Erwägungen für diese Ansicht. Die Erteilung jugendstrafrechtlicher Sanktionen gemäß § 45 Abs. 3 JGG sei Rechtsprechungstätigkeit im Sinne des Art. 92 GG und damit den Gerichten vorbehalten. Eine Kompetenzzuweisung auch an die Staatsanwaltschaft verstieße gegen den Grundsatz der Gewaltenteilung.57 Zudem gebe es empirische Anhaltspunkte dafür, dass Jugendstaatsanwälte ihre Tätigkeit im Vergleich zu Jugendrichtern weniger lang ausübten und zudem weniger aus- und fortgebildet seien.58 Aufgrund ihrer Weisungsgebundenheit ließen sich Staatsanwälte darüber hinaus in ihrer Entscheidungsfindung stärker von Bürokratiebedingungen leiten. Daher erscheine der Jugendrichter als die kompetentere Institution. Dem gegenüber zeigen die Materialien zum Ersten Gesetz zur Änderung des JGG59, dass der Gesetzgeber von der Möglichkeit der Staatsanwaltschaft, die Voraussetzungen für eine Verfahrenseinstellung nach § 45 Abs. 2 JGG selbst zu schaffen, ausging.60 So ist nach überwiegender Ansicht in der Literatur die Jugendstaatsanwaltschaft zwar nicht befugt, die in § 45 Abs. 2 JGG vorgesehenen erzieherischen Maßnahmen anzuordnen, wohl aber diese anzuregen.61 Gegen die Annahme einer Anordnungskompetenz spricht, dass die Staatsanwaltschaft 55

Diemer/Schoreit/Sonnen-Diemer, JGG, § 45 Rnr. 14. Böhm, in: Festschrift für Günter Spendel, S. 777 (790 ff.). 57 Van den Woldenberg, Diversion im Spannungsfeld zwischen „Betreuungsjustiz“ und Rechtsstaatlichkeit, S. 152 f. 58 Van den Woldenberg, Diversion im Spannungsfeld zwischen „Betreuungsjustiz“ und Rechtsstaatlichkeit, S. 153 f. mit Nachweisen. 59 BGBl. I 1990, S. 1853. 60 Begründung des Regierungsentwurfs BT-Drucksache 11/5829, S. 24: „Der Staatsanwalt kann auch selbst die Voraussetzungen für ein Absehen von der Verfolgung nach § 45 Abs. 2 JGG schaffen, falls noch keine angemessene erzieherische Reaktion erfolgt ist“; vgl. auch die (bundeseinheitlichen) Richtlinien zum JGG Nr. 3 Satz 3 zu § 45: „so prüft die Staatsanwaltschaft, ob sie selbst die Voraussetzungen für die Einstellung des Verfahrens herbeiführen kann“. Auch die Diversionsrichtlinien der Länder gehen von einer solchen Möglichkeit aus; Heinz, DVJJ-Journal 1999, S. 131 (137). 56

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den Beschuldigten lediglich vor die Alternative stellen kann, das förmliche Verfahren entweder gegen sich fortsetzen zu lassen oder eine zur Einstellung führende Maßnahme durchzuführen.62 Geht man mit der herrschenden Auffassung von einer Anregungskompetenz der Staatsanwaltschaft aus, stellt sich die Frage, bezüglich welcher erzieherischen Maßnahmen sie besteht. Nach einer Ansicht ist die Staatsanwaltschaft befugt, alle in Betracht kommenden, auch die in § 45 Abs. 3 JGG aufgeführten, vom Jugendgericht zu verhängenden Maßnahmen anzuregen.63 Zur Begründung wird angeführt, es bestehe kein Ausschließlichkeitsverhältnis. Vielmehr habe der Gesetzgeber zwei unterschiedliche Erledigungsalternativen geschaffen, die sich darin unterschieden, ob die Staatsanwaltschaft die Einschaltung des Gerichts für erzieherisch erforderlich halte.64 Dies stehe auch im Einklang mit dem Prinzip der Subsidiarität, wonach die nächste Verfahrensstufe nur dann beschritten werden dürfe, wenn die vorangegangene in erzieherischer Hinsicht nicht ausreiche. Diesem Grundsatz widerspräche es, wenn der Staatsanwalt gehalten wäre, im Gespräch mit dem Jugendlichen beispielsweise die Möglichkeiten einer Schadenswiedergutmachung oder eines Täter-Opfer-Ausgleichs auszuloten, bei einer entsprechenden Bereitschaft des Jugendlichen das Gespräch aber abbrechen und den Jugendrichter einschalten müsste. Demgegenüber geht die wohl überwiegende Ansicht davon aus, dass die Staatsanwaltschaft lediglich solche Maßnahmen anregen dürfe, die unterhalb der Eingriffsschwelle des § 45 Abs. 3 JGG liegen.65 Diese Ansicht wird gestützt vom Wortlaut und der Systematik des § 45 JGG sowie dem Zweck der Vorschrift.66 61 Siehe Heinz, in: BMJ (Hrsg.), Diversion im Jugendstrafverfahren der Bundesrepublik Deutschland, S. 97, ders., MschrKrim 1993, S. 355 (368) m. w. N.; ders., DVJJJournal 1999, S. 131 (136); Brunner/Dölling, JGG, § 45 Rnr. 21; Eisenberg, JGG, § 45 Rnr. 21; Ostendorf, JGG, § 45 Rnr. 13; Schaffstein/Beulke, Jugendstrafrecht, § 36 II. 2.; Streng, Jugendstrafrecht, § 7 Rnr 41; Beulke, in: DVJJ (Hrsg.), Jugend, Gesellschaft und Recht im neuen Jahrtausend, S. 311 (325); Nix-Rzepka, JGG, § 45 Rnr. 26; Zieger, Verteidigung in Jugendstrafsachen, Rnr. 151; Mohren, Die Veranlassung erzieherischer Maßnahmen durch den Staatsanwalt nach § 45 JGG: Verfassungsrechtliche und strafprozessuale Probleme, S. 58, 71. 62 Van den Woldenberg, Diversion im Spannungsfeld zwischen „Betreuungsjustiz“ und Rechtsstaatlichkeit, S. 158. 63 So etwa Brunner/Dölling, JGG, § 45 Rnr. 26; Heinz, in: BMJ (Hrsg.), Diversion im Jugendstrafverfahren der Bundesrepublik Deutschland, S. 97 f.; ders., MschrKrim 1993, S. 355 (370), jedoch jeweils mit der Forderung nach einer Begrenzung de lege ferenda. Außerdem Heinz, DVJJ-Journal 1999, S. 131 (137); Dölling, in: DVJJ (Hrsg.), Sozialer Wandel und Jugendkriminalität, S. 249 ff.; Mohren, Die Veranlassung erzieherischer Maßnahmen durch den Staatsanwalt nach § 45 JGG: Verfassungsrechtliche und strafprozessuale Probleme, S. 75 f.; Streng, Jugendstrafrecht, § 7 Rnr. 41. 64 Vgl. Regierungsentwurf zum Ersten Gesetz zur Änderung des JGG (1. JGGÄndG), BT-Drucksache 11/5829, S. 25: „Wichtigstes Unterscheidungskriterium zwischen den neuen Absätzen 2 und 3 ist die Antwort auf die Frage, ob der Staatsanwalt eine Entscheidung/Anklage durch den Richter für entbehrlich oder aber für erforderlich hält.“

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Folgt man dieser Ansicht, so ist weiterhin fraglich, ob die Staatsanwaltschaft in einem Gespräch eine Ermahnung aussprechen darf oder ob auch diese Maßnahme nach § 45 Abs. 3 JGG dem Gericht vorbehalten ist.67 Dies wird zumindest dann nicht zu beanstanden sein, wenn der Staatsanwalt sich im Rahmen der Ermittlungen mit dem Jugendlichen unterhält und in diesem Gespräch auf die Folgen der mutmaßlich begangenen Tat hinweist.68 ee) Zustimmungserfordernisse Gesetzlich nicht ausdrücklich geregelt ist, ob der Beschuldigte und seine Personensorgeberechtigten (vgl. §§ 1626 Abs. 1 S. 2, 1631 BGB) bzw. gesetzlichen Vertreter (§ 1629 BGB) der vorgeschlagenen Maßnahme zustimmen müssen bzw. ob zumindest das Fehlen ihres Widerspruchs erforderlich ist. Die praktische Handhabung und die ihr zu Grunde liegenden Diversionsrichtlinien sind in den Bundesländern durchaus unterschiedlich.69 Zwar erscheint es angesichts der Belastung durch das drohende Strafverfahren problematisch, eine wirkliche Freiwilligkeit der Zustimmung des Jugendlichen und seiner Personensorgeberechtigten zu erreichen.70 Jedoch liegt das Erfordernis einer Zustimmung insofern nahe, als die durchzuführende erzieherische Maßnahme als Grundlage für eine einvernehmliche Verfahrenserledigung anzusehen ist. Zudem erfordert es die erzieherische Zielsetzung der Maßnahmen, dass die betreffende Person bereit ist, eine solche durchzuführen.71 65 Eisenberg, JGG, § 45 Rnr. 21; Ostendorf, JGG, § 45 Rnr. 13; Diemer/Schoreit/ Sonnen-Diemer, JGG, § 45 Rnr. 14; Schaffstein/Beulke, Jugendstrafrecht, § 36 II. 2.; Meier/Rössner/Schöch-Meier, Jugendstrafrecht, § 7 Rnr. 17; Zieger, Verteidigung in Jugendstrafsachen, Rnr. 151; bereits zu § 45 a. F. Walter, ZStW 95 (1983), S. 32 (61); kritisch Schimmel, Täter-Opfer-Ausgleich als Alternative?, S. 27. 66 Vgl. auch zu verfassungsrechtlichen Erwägungen van den Woldenberg, Diversion im Spannungsfeld zwischen „Betreuungsjustiz“ und Rechtsstaatlichkeit, S. 154 f. 67 Für eine solche Kompetenz der Staatsanwaltschaft, Ermahnungsgespräche zu führen: Schaffstein/Beulke, Jugendstrafrecht, § 36 II. 2.; Brunner/Dölling, JGG, § 45 Rnr. 26; Ostendorf, JGG, § 45 Rnr. 13. Siehe weitere Nachweise bei Heinz, in: BMJ (Hrsg.), Diversion im Jugendstrafverfahren der Bundesrepublik Deutschland, S. 97. 68 Im Ergebnis ähnlich van den Woldenberg, Diversion im Spannungsfeld zwischen „Betreuungsjustiz“ und Rechtsstaatlichkeit, S. 157 f., allerdings mit der Einschränkung, dass eine solche Ermahnung nicht Grundlage für eine Einstellung nach § 45 Abs. 2 JGG sein könne. 69 Überblick etwa bei Heinz, DVJJ-Journal 1999, S. 131 (136); ders., MschrKrim 1993, S. 355 (368). 70 Siehe aber zu grundsätzlichen Bedenken gegenüber der Zustimmungsbedürftigkeit von Diversionsmaßnahmen Walter, ZStW 95 (1983), S. 32 (57 ff.): „Freikaufverfahren“ (betr. die Parallelproblematik bei § 153a StPO). 71 Für ein entsprechendes Zustimmungserfordernis Eisenberg, JGG, § 45 Rnr. 20; Brunner/Dölling, JGG, § 45 Rnr. 25; Heinz, DVJJ-Journal 1999, S. 131 (136); NixRzepka, JGG, § 45 Rnr. 27; dagegen Diemer/Schoreit/Sonnen-Diemer, JGG, § 45 Rnr. 7.

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B. Grundlagen

Soweit Belange der elterlichen Sorge berührt sind – und dies wird jedenfalls bei Anregung erzieherischer Maßnahmen regelmäßig der Fall sein –, ist auch die Zustimmung der Sorgeberechtigten erforderlich.72 Um diese Mitwirkungsrechte abzusichern, ist es bei – in der Fähigkeit zur Wahrnehmung ihrer Verfahrensrechte regelmäßig ohnehin eingeschränkten – jugendlichen und heranwachsenden Beschuldigten notwendig, sie explizit und leicht verständlich auf die Möglichkeit hinzuweisen, ihre Einwilligung zu verweigern. Hinsichtlich der Sorgeberechtigten und gesetzlichen Vertreter wird es aus Gründen der Praktikabilität für ausreichend angesehen, wenn ihnen Gelegenheit zur Ablehnung gegeben wird.73 c) § 45 Abs. 3 JGG aa) Allgemeines Das sog. formlose jugendrichterliche Erziehungsverfahren nach Abs. 3 gelangt zur Anwendung, wenn die Staatsanwaltschaft zwar nicht die Erhebung der Anklage bzw. die Stellung eines Antrages nach § 76 JGG, aber dennoch die Einschaltung des Jugendrichters für erforderlich hält. Der abschließende Katalog von Maßnahmen, die auf Anregung der Staatsanwaltschaft vom Jugendrichter angeordnet werden können, umfasst: die Erteilung einer Ermahnung; die Weisung, Arbeitsleistungen zu erbringen (§ 10 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 JGG); die Weisung, sich zu bemühen, einen Ausgleich mit dem Verletzten zu erreichen (Täter-Opfer-Ausgleich, § 10 Abs. 1 Satz 3 Nr. 7 JGG); die Weisung, an einem Verkehrsunterricht teilzunehmen (§ 10 Abs. 1 Satz 3 Nr. 9 JGG) sowie die Erteilung von Auflagen (§ 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 bis 4 JGG: Wiedergutmachung, Entschuldigung, Erbringung von Arbeitsleistungen, Zahlung eines Geldbetrages). Entspricht der Jugendrichter der Anregung und hat der Beschuldigte die gegebenenfalls erteilten Weisungen oder Auflagen erfüllt, so muss die Staatsanwaltschaft von der Verfolgung absehen.74 Im form72 Eisenberg, JGG, § 45 Rnr. 20; Brunner/Dölling, JGG, § 45 Rnr. 25; Heinz, DVJJ-Journal 1999, S. 131 (136); Mohren, Die Veranlassung erzieherischer Maßnahmen durch den Staatsanwalt nach § 45 JGG: Verfassungsrechtliche und strafprozessuale Probleme, S. 121; a. A. Diemer/Schoreit/Sonnen-Diemer, JGG, § 45 Rnr. 7. 73 Vgl. auch die (bundeseinheitlichen) Richtlinien zum JGG Nr. 3 S. 4 zu § 45: „Erforderlich hierfür ist, dass der Beschuldigte den Tatvorwurf nicht ernstlich bestreitet, das Anerbieten der Staatsanwaltschaft annimmt und die Erziehungsberechtigten und die gesetzlichen Vertreter nicht widersprechen.“ Ähnlich auch die Begründung zum 1. JGGÄndG, BT-Drucksache 11/5829, S. 24. Gemäß der Berliner Diversionsrichtlinie ist für eine erzieherische Maßnahme nach § 45 Abs. 2 JGG das Einverständnis des Jugendlichen Voraussetzung, während hinsichtlich des Erziehungsberechtigten oder gesetzlichen Vertreters das Nichtvorliegen eines Widerspruchs genügt (ABl. Berlin 1999, S. 1891 [1893]); Heinz, DVJJ-Journal 1999, S. 131 (136); ders., MschrKrim 1993, S. 355 (368). Siehe näher auch D. I. 1. und 4.

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losen jugendrichterlichen Erziehungsverfahren können somit nahezu alle durch Urteil verhängbaren Weisungen und Auflagen angeordnet werden, ohne dass Anklage erhoben werden muss. Vorzüge eines solchen Vorgehens sind insbesondere die Reduzierung der Belastungen für den Jugendlichen, eine beschleunigte Reaktion, die unmittelbarere Kommunikation zwischen Jugendrichter und Jugendlichem durch Verzicht auf die förmlichen Abläufe einer Hauptverhandlung sowie die Einsparung von Ressourcen.75 Diesen Vorteilen steht jedoch der – mit allen Diversionsmaßnahmen einhergehende – Verzicht auf eine Hauptverhandlung mit ihren verfahrensmäßig abgesicherten Beteiligungs- und Verteidigungsrechten der beschuldigten bzw. angeklagten Person gegenüber. bb) Geständnis Anders als die Absätze 1 und 2 erfordert der Gesetzeswortlaut des Absatzes 3 das Vorliegen eines Geständnisses der beschuldigten Person. Da Absatz 3 jugendstrafrechtliche Maßnahmen von einigem Gewicht ermöglicht, soll die Schuld durch das Geständnis möglichst feststehen und gesichert sein, dass die Maßnahmen vom jungen Beschuldigten als Reaktion auf das von ihm eingestandene strafbare Handeln verstanden werden. Dieser gesetzgeberischen Erwartung widersprechen jedoch empirische Nachweise über die Fehleranfälligkeit von Geständnissen insbesondere jugendlicher Beschuldigter.76 cc) Beschränkte Rechtskraftwirkung Ferner unterscheidet sich die Einstellung nach Absatz 3 von der nach den anderen Absätzen durch die (beschränkte) Rechtskraftwirkung gemäß § 45 Abs. 3 Satz 4 i. V. m. § 47 Abs. 3 JGG. Entspricht der Jugendrichter der Anregung der Staatsanwaltschaft und stellt die Staatsanwaltschaft das Verfahren (im Fall von Auflagen und Weisungen nach deren Erfüllung durch die beschuldigte Person) daraufhin ein, so steht der Einstellungsbeschluss einer Anklageerhebung als Verfahrenshindernis entgegen, es sei denn, es liegen neue Tatsachen oder Beweismittel vor. Der Umfang der Rechtskraft entspricht derjenigen des die Eröffnung des Hauptverfahrens ablehnenden Beschlusses gemäß § 211 StPO.77 Da 74 Diemer/Schoreit/Sonnen-Diemer, JGG, § 45 Rnr. 24; Ostendorf, JGG, § 45 Rnr. 18; Brunner/Dölling, JGG, § 45 Rnr. 34. 75 Vgl. Begründung zum 1. JGGÄndG, BT-Drucksache 11/5829, S. 24 f. 76 Zu rechtlichen und rechtstatsächlichen Bedenken gegenüber dem Geständniserfordernis siehe Eisenberg, JGG, § 45 Rnr. 24 ff.; Heinz, MschrKrim 1993, S. 355 (371); Zieger, Verteidigung in Jugendstrafsachen, Rnr. 154; siehe auch schon Bohnert, NJW 1980, S. 1927 (1929). 77 Zum beschränkten Strafklageverbrauch bei Entscheidungen nach §§ 153 Abs. 2, 153a Abs. 1 Satz 5 StPO siehe BGH NJW 2004, S. 375 ff.

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eine Rechtskraftwirkung der Einstellungsentscheidungen nach § 45 Abs. 1 und 2 JGG nicht ausdrücklich vorgesehen ist, kann die Strafverfolgung in diesen Fällen grundsätzlich jederzeit wieder aufgenommen werden.78 Allerdings ist es im Hinblick auf das schützenswerte Vertrauen des Beschuldigten in die verfahrensabschließende Wirkung der Einstellung auch in diesen Fällen angezeigt, das Verfahren nur dann wieder aufzunehmen, wenn Tatsachen bekannt werden, die der ursprünglichen Annahme der Einstellungsvoraussetzungen entgegenstehen.79 dd) Zustimmungserfordernisse Ebenso wenig wie § 45 Abs. 2 JGG beinhaltet § 45 Abs. 3 JGG dem Gesetzeswortlaut nach das Erfordernis der Zustimmung des Jugendlichen. Dennoch wird wohl überwiegend nur für die Einstellung nach Absatz 2, nicht jedoch für diejenige nach Absatz 3 JGG die Zustimmung des Jugendlichen verlangt.80 Demgegenüber ist zu berücksichtigen, dass auch dies eine Variante intervenierender Diversion darstellt, die – vergleichbar mit derjenigen gemäß Absatz 2 – den Jugendlichen in die belastende Situation versetzt, entweder eine Maßnahme durchzuführen oder aber das Verfahren gegen sich fortgesetzt zu sehen. Zudem können die Diversionsmaßnahmen, die nach § 45 Abs. 3 JGG erteilt werden, nach überwiegender Ansicht die gemäß § 45 Abs. 2 JGG anzuregenden Maßnahmen in ihrer Eingriffsintensität übersteigen. Dass die Entscheidung durch ein Gericht getroffen wird, ändert an dieser Einschätzung nichts, denn auch hier wird dem Jugendlichen – auf Grundlage einer justiziell nicht mehr angreifbaren Maßnahme – der Zugang zu einer verfahrensrechtlich abgesicherten förmlichen Klärung des Tatvorwurfs versperrt. Darüber hinaus ist auch hier die Bereitschaft der betreffenden Person zur Durchführung der Maßnahme Voraussetzung für ihre erzieherische Geeignetheit. Daher wird teilweise davon ausgegangen, dass sie der Zustimmung des Jugendlichen bedürfe.81 Diese Ansicht wird zudem dadurch gestützt, dass die Mindestgrundsätze der Vereinten Nationen für die Jugendgerichtsbarkeit eine Zustimmung des Jugendlichen sowie seiner Sorgeberechtigten zumindest für den Fall verlangen, dass die Einstellung mit einer Überweisung des Jugendlichen an eine gemeindliche oder sonstige Einrichtung verbunden ist.82 Laut dem offiziellen Kommentar zu den Mindestgrundsätzen 78

Eisenberg, JGG, § 45 Rnr. 31 m. w. N. Ostendorf, JGG, § 45 Rnr. 20; Diemer/Schoreit/Sonnen-Diemer, JGG, § 45 Rnr. 27; Nix-Rzepka, JGG, § 45 Rnr. 18. 80 Brunner/Dölling, JGG, § 45 Rnr. 25, 29 ff. geht im Unterschied zu § 45 Abs. 2 JGG von einer Anordnungskompetenz des Gerichts aus, woraus geschlossen werden kann, dass eine Zustimmung nicht erforderlich sein soll. 81 H. E. Müller, DRiZ 1996, S. 443 (444) mit weiteren Nachweisen, die allerdings nicht für § 45 Abs. 3 JGG gelten. 82 Nr. 11.3 der Mindestgrundsätze der Vereinten Nationen für die Jugendgerichtsbarkeit, abgedruckt in: ZStW 99 (1987), S. 253 (266). Allerdings handelt es sich hier79

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verstieße eine ohne Zustimmung des Jugendlichen erteilte Leistung gemeinnütziger Arbeiten gegen das Übereinkommen über die Abschaffung der Zwangsarbeit.83 2. § 47 JGG a) Allgemeines Nach Erhebung der Anklage durch die Staatsanwaltschaft kann das Jugendgericht das Verfahren gemäß § 47 JGG einstellen. Im Zwischenverfahren darf eine Einstellung nach § 47 JGG allerdings nur erfolgen, wenn der hinreichende Tatverdacht als Voraussetzung für die Eröffnung des Hauptverfahrens (§ 203 StPO) gegeben ist.84 Anderenfalls beschließt das Gericht die Ablehnung der Eröffnung des Hauptverfahrens (§ 204 StPO), durch die der Jugendliche nicht mit den registerrechtlichen Folgen des § 60 Abs. 1 Nr. 7, 6, Abs. 2 BZRG belastet wird.85 Ab Eröffnung des Hauptverfahrens ist die Anwendung des § 47 JGG in jeder Lage des Verfahrens, sogar noch in der Revisionsinstanz, möglich.86 Die Voraussetzungen des § 47 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 bis 3 JGG sind an die des § 45 Abs. 1 bis 3 JGG angelehnt. Darüber hinaus ermöglicht § 47 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 JGG eine Einstellung auch für den Fall, dass sich erst nach Eröffnung des Hauptverfahrens87 die mangelnde strafrechtliche Verantwortlichkeit des Jugendlichen herausstellt. Indes ist letztere Verfahrenseinstellung gemäß der oben erarbeiteten Definition88 keine Diversionsentscheidung, da bereits die Voraussetzungen für eine strafrechtliche Ahndung fehlen. Vielmehr soll diese Regelung der bei um eine rechtlich nicht verbindliche Resolution der Generalversammlung, sog. „soft law“, siehe auch Schüler-Springorum, ZStW 99 (1987), S. 809. Zudem wird in Frage gestellt, dass es sich bei den nach §§ 45 Abs. 2, 3 JGG möglichen Maßnahmen um „Überweisung(en) des Jugendlichen an geeignete gemeindliche oder sonstige Einrichtungen“ handelt (Schüler-Springorum, ZStW 99 (1987), S. 809 (839 f.), jedoch mit dem nachfolgenden Hinweis, dies sei eine „Ausrede“). Dem gegenüber ist aufgrund der sehr vagen Formulierung etwa eine Arbeitsauflage oder ein Täter-Opfer-Ausgleich ohne weiteres erfasst, da diese von kommunalen oder privaten Institutionen betreut werden. 83 Kommentar zu Nr. 11.3 der Mindestgrundsätze der Vereinten Nationen für die Jugendgerichtsbarkeit, abgedruckt in: ZStW 99 (1987), S. 253 (267). 84 Eisenberg, JGG, § 47 Rnr. 5; Brunner/Dölling, JGG, § 47 Rnr. 3; Diemer/Schoreit/Sonnen-Diemer, JGG, § 47 Rnr. 4; Nix-Rzepka, JGG, § 47 Rnr. 7. 85 Eisenberg, JGG, § 47 Rnr. 5. 86 Brunner/Dölling, JGG, § 47 Rnr. 1, 5; Nix-Rzepka, JGG, § 47 Rnr. 10; Zieger, Verteidigung in Jugendstrafsachen, Rnr. 156; Diemer/Schoreit/Sonnen-Diemer, JGG, § 47 Rnr. 6, mit Einschränkungen betr. § 47 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 JGG. 87 Die Nichtanwendbarkeit des § 47 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 JGG im Zwischenverfahren ergibt sich bereits aus dem Wortlaut „Angeklagter“ vgl. § 157 StPO; siehe näher Eisenberg, JGG, § 47 Rnr. 5; Nix-Rzepka, JGG, § 47 Rnr. 1. 88 Siehe oben unter B. I. 1.

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B. Grundlagen

Verfahrensökonomie, der Verschonung des Jugendlichen vor dem weiteren Verfahren und der Verhinderung von als erzieherisch ungünstig beurteilten Freisprüchen mangels Reife dienen.89 Bei dem Vorgehen nach § 47 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 und 3 JGG besteht die Möglichkeit, das Verfahren nur vorläufig einzustellen und mit der endgültigen Einstellung zu warten, bis der Jugendliche den Auflagen, Weisungen oder erzieherischen Maßnahmen nachgekommen ist (§ 47 Abs. 1 Satz 2 bis 5 JGG). Das Gericht muss jedoch den Erfolg einer eingeleiteten Maßnahme nicht abwarten, es kann bereits auf Grundlage der Einleitung der Maßnahme das Verfahren endgültig einstellen.90 Der Wortlaut des Gesetzes verlangt nur in der Alternative des § 47 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 JGG ein Geständnis seitens des Jugendlichen.91 Der Einstellungsbeschluss ist nicht anfechtbar. Er entfaltet beschränkte Rechtskraft in der Art, dass eine erneute Anklage nur bei Vorliegen neuer Tatsachen oder Beweismittel erhoben werden kann (§ 47 Abs. 3 JGG). Der Umfang der Rechtskraft entspricht – wie erwähnt – derjenigen des die Eröffnung des Hauptverfahrens ablehnenden Beschlusses gemäß § 211 StPO. b) Zustimmungserfordernisse Gemäß § 47 Abs. 2 JGG ist für eine Verfahrenseinstellung die Zustimmung der Staatsanwaltschaft erforderlich. Die Zustimmung der angeschuldigten bzw. angeklagten Person verlangt der Gesetzeswortlaut demgegenüber nicht. Unter Verweis auf die Unanfechtbarkeit eines Einstellungsbeschlusses nach § 47 JGG und den Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 27. Januar 198392 wird in der Literatur daher überwiegend davon ausgegangen, ihrer Zustimmung bedürfe es nicht.93 Es ist allerdings zu berücksichtigen, dass § 47 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 JGG auf § 153 StPO verweist. Da die Regelungen des § 47 JGG die Erhebung der Anklage voraussetzen, gelangt § 153 Abs. 2 StPO zur Anwendung, wonach die Zustimmung der angeklagten Person zur Einstellungsentscheidung erforderlich 89

Eisenberg, JGG, § 47 Rnr. 12. Diemer/Schoreit/Sonnen-Diemer, JGG, § 47 Rnr. 8 f. 91 Zur strittigen Frage, ob § 45 Abs. 2 JGG (und damit auch § 47 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 JGG) entgegen dem Wortlaut eines Geständnisses bedarf, siehe oben unter B. II. 1. b). 92 Beschluss des BVerfG – Aktenzeichen 2 BvR 92/83 – (unveröffentlicht): „Im Übrigen ist die Auffassung, eine Einstellung des Verfahrens nach §§ 47 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2 Satz 1, 45 Abs. 2 Nr. 2 JGG bedürfe nicht der Zustimmung des Angeklagten, verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden.“ 93 Etwa Eisenberg, JGG, § 47 Rnr. 18; Ostendorf, JGG, § 47 Rnr. 11; Streng, Jugendstrafrecht, § 7 Rnr. 51. 90

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ist.94 Im Hinblick auf das allgemeine Strafrecht wird dieses Erfordernis damit begründet, dass eine Person, die angeklagt ist oder gegen die bereits eine Hauptverhandlung durchgeführt wird, die Befugnis haben soll, die Durchführung der Hauptverhandlung zum Zweck einer für sie günstigen Entscheidung zu erzwingen und damit den mit der Anklageerhebung verbundenen „Makel“ vollständig zu beseitigen.95 Entsprechendes wird wegen des Verweises auch für Jugendliche zu gelten haben. Ein Zustimmungserfordernis erscheint umso erforderlicher, soweit die Verfahrenseinstellungen gemäß § 47 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 und 3 JGG erfolgen und somit als eine Art „Gegenleistung“ für die Durchführung von Maßnahmen im Sinne des § 45 Abs. 2 JGG bzw. § 45 Abs. 3 JGG gewährt werden. Zwar ist in solchen Fällen, in denen eine Maßnahme schon durchgeführt wurde oder dem Gericht die Einleitung einer solchen Maßnahme genügt, um das Verfahren endgültig einzustellen, durch die Unanfechtbarkeit des Einstellungsbeschlusses die Sicherheit gegeben, dass die Staatsanwaltschaft nicht mehr zuungunsten der angeklagten Person gegen den Beschluss vorgehen kann; die (eingeschränkte) Rechtskraft des Beschlusses garantiert, dass nur unter den engen Voraussetzungen des § 47 Abs. 3 JGG erneut Anklage erhoben werden kann. Macht das Gericht jedoch von der – erst durch das Erste Gesetz zur Änderung des JGG von 1990 eingeführten und damit vom Bundesverfassungsgericht nicht berücksichtigten – Möglichkeit einer vorläufigen Einstellung Gebrauch, um den erfolgreichen Abschluss einer Maßnahme nach § 47 Abs. 1, Satz 1 Nr. 2 oder 3 JGG abzuwarten, so ist der Jugendliche noch durch das schwebende Verfahren belastet. Vergleichbar der Situation, dass die Staatsanwaltschaft eine Maßnahme gem. § 45 Abs. 2 JGG anregt, kann sich der Jugendliche gezwungen sehen, die Maßnahme durchzuführen, um sich von der Last des Strafverfahrens zu befreien. Vor diesem Hintergrund erscheint es nicht nachvollziehbar, warum es zu einer Einstellung nach § 45 Abs. 2 JGG96 nach überwiegender Ansicht einer Zustimmung des Jugendlichen bedarf, zu einer Einstellung in der Hauptverhandlung mit vergleichbaren Voraussetzungen jedoch nicht.97 c) Anwendbarkeit auf Heranwachsende Die Vorschrift des § 47 JGG gilt – mit Ausnahme des Absatzes 1 Satz 1 Nr. 4 – auch für Heranwachsende, wenn materielles Jugendstrafrecht Anwendung findet (§§ 105 Abs. 1, 109 Abs. 2 Satz 1 JGG). Obwohl § 109 Abs. 2 Satz 1 JGG 94

So auch Nix-Rzepka, JGG, § 47 Rnr. 12. Meyer-Goßner, StPO, § 153 Rnr. 27. 96 Gleiches gilt nach hier vertretener Auffassung für das formlose jugendrichterliche Erziehungsverfahren nach § 45 Abs. 3 JGG. 97 Im Ergebnis auch Nix-Rzepka, JGG, § 47 Rnr. 12. 95

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B. Grundlagen

nicht ausdrücklich auf die Regelung über die vorläufige Einstellung des Verfahrens (§ 47 Abs. 1 Satz 2 bis 6 JGG) verweist, gilt diese bei Anwendung materiellen Jugendstrafrechts auch für Heranwachsende, da das Fehlen des Verweises wohl auf einem Redaktionsversehen beruht und die so entstandene Gesetzeslücke ausfüllungsbedürftig ist.98 Umgekehrt umfasst der Verweis in § 109 Abs. 2 Satz 1 JGG (wohl infolge eines weiteren Redaktionsversehens) auch § 47 Abs. 2 Satz 4 JGG. Daraus, dass § 54 Abs. 2 JGG aus dem Verweis ausgenommen ist, ergibt sich jedoch, dass Heranwachsenden die Gründe für eine sie betreffende Entscheidung mitzuteilen sind, denn bei (volljährigen) Heranwachsenden können zu befürchtende Nachteile für die Erziehung das Absehen von der Mitteilung der Entscheidungsgründe nicht rechtfertigen.99 3. Vorschriften des allgemeinen Strafverfahrensrechts Ungeklärt ist das Verhältnis der Vorschriften des allgemeinen Strafverfahrensrechts betreffend die Verfahrenseinstellung aus Opportunitätsgründen (§§ 153 ff. StPO) einerseits zu den speziell jugendstrafrechtlichen Einstellungsregelungen in §§ 45, 47 JGG andererseits. Ein grundlegender Unterschied100 zwischen ihnen besteht darin, dass die jugendstrafrechtlichen Vorschriften vorrangig erzieherische Zielsetzungen verfolgen, insbesondere den Zweck, gegenüber jungen Menschen schädliche Wirkungen förmlicher Strafverfahren und Verurteilungen zu vermeiden, wohingegen die Einstellungsvorschriften des allgemeinen Strafverfahrensrechts in erster Linie der Beschleunigung des Verfahrens und der Entlastung der Justiz dienen, indem eine „verurteilungslose Friedensstiftung“ erreicht wird, die zwar Sanktionen ermöglicht, aber ohne Strafe und Vorbestraftsein auskommt.101 Allerdings darf nicht unerwähnt bleiben, dass auch die jugendstrafrechtlichen Vorschriften zum Absehen von der Strafverfolgung gleichsam als Nebeneffekt eine – von der Praxis mitunter vorrangig erstrebte – Entlastung der Justiz mit sich bringen.102 Umgekehrt werden auch hinsichtlich der Regelungen des allgemeinen Strafrechts zunehmend Gerechtigkeitserwägungen herausgestellt, denen zufolge angesichts (mutmaßlicher) gerin98

Diemer/Schoreit/Sonnen-Diemer, JGG, § 47 Rnr. 2. Eisenberg, JGG, § 47 Rnr. 2; Diemer/Schoreit/Sonnen-Diemer, JGG, § 47 Rnr. 2, 14; Nix-Rzepka, JGG, § 47 Rnr. 1. 100 Heinz, DVJJ-Journal 1998, S. 245 (249) sowie DVJJ-Journal 1999, S. 11 f.; Herrmann, ZStW 96 (1984), S. 455 (469, 478). 101 Siehe etwa Meyer-Goßner, StPO, § 153a Rnr. 2; Löwe/Rosenberg-Beulke, StPO, § 153 Rnr. 1. 102 Nix-Rzepka, JGG, vor §§ 45, 47 Rnr. 3; Zieger, Verteidigung in Jugendstrafsachen, Rnr. 145. Empirische Anhaltspunkte dafür bieten die vielfach festgestellten Zusammenhänge zwischen den Diversionsraten und der Anzahl der Ermittlungsverfahren, siehe Heinz, DVJJ-Journal 1999, S. 11 (12); ders., in: Göppinger (Hrsg.): Kriminologie und Strafrechtspraxis, S. 179. 99

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ger Schuld den mit einer Sanktionierung verbundenen Stigmatisierungen entgegenzuwirken sei.103 Die allgemeinen strafrechtlichen Vorschriften gelten gemäß § 2 JGG (bzw. § 10 StGB) nur, soweit im JGG nichts anderes bestimmt ist. Die Regelungen des JGG sind nicht nur dann vorrangig, wenn die Anwendung der allgemeinen Vorschriften ausdrücklich ausgeschlossen bzw. die Anwendung der Regelungen des JGG explizit angeordnet ist, sondern auch dann, wenn die Anwendung der allgemeinen Vorschriften den Grundsätzen des JGG widerspräche.104 Unter allgemeinen Vorschriften sind alle diejenigen Rechtsnormen strafrechtlicher Erfassung von Verhalten zu verstehen, die unabhängig von dem Alter der beschuldigten Person geregelt sind.105 Damit sind auch Spezialregelungen etwa im Bereich des Nebenstrafrechts und zwar sowohl auf Bundes- wie auch auf Landesebene als allgemeine Vorschriften anzusehen.106 Andererseits sind solche außerhalb des JGG festgelegten Strafrechtsnormen, die speziell bezüglich Jugendlicher oder Heranwachsender bestehen, keine allgemeinen Vorschriften und können ggf. den Regelungen des JGG vorgehen. Gemäß diesen Grundsätzen treten die allgemeinen Vorschriften in dem Umfang hinter §§ 45, 47 JGG zurück, als letztere die Verfahrenseinstellung im Jugendstrafverfahren als leges speciales abschließend regeln. Inwieweit dies der Fall ist, ist im Einzelnen umstritten. a) § 153 StPO Die Vorschrift des § 153 StPO ermöglicht bei Geringfügigkeit der mutmaßlichen Straftat die Einstellung des Verfahrens durch die Staatsanwaltschaft (Absatz 1) bzw. das Gericht (Absatz 2). Voraussetzungen sind die geringe Schuld des (mutmaßlichen) Täters und das Nichtbestehen eines öffentlichen Interesses an der Strafverfolgung. aa) § 153 Abs. 1 StPO (1) Allgemeines Die Anwendung des § 153 Abs. 1 StPO wird grundsätzlich durch die der Staatsanwaltschaft größere Entscheidungsbefugnisse gewährende speziell ju103 Heinz, DVJJ-Journal 1999, S. 11 (12); Löwe/Rosenberg-Beulke, StPO, § 153 Rnr. 1. 104 Eisenberg, NStZ 1999, 281; Eisenberg, JGG, § 2 Rnr. 6; Ostendorf, JGG, § 2 Rnr. 2 ff.; Brunner/Dölling, JGG, § 2 Rnr. 2; Diemer/Schoreit/Sonnen-Sonnen, JGG, § 2 Rnr. 14. 105 Eisenberg, JGG, § 2 Rnr. 2. 106 Eisenberg, JGG, § 2 Rnr. 2; Diemer/Schoreit/Sonnen-Sonnen, JGG, § 2 Rnr. 18.

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B. Grundlagen

gendstrafrechtliche Vorschrift des § 45 Abs. 1 JGG ausgeschlossen. Denn während bei einer Einstellung nach § 153 Abs. 1 StPO die Zustimmung des für die Eröffnung des Hauptverfahrens zuständigen Gerichts nur dann entbehrlich ist, wenn es sich um ein Vergehen handelt, das nicht mit einer im Mindestmaß erhöhten Strafe bedroht ist und bei dem die durch die Tat verursachten Folgen gering sind (§ 153 Abs. 1 Satz 2 StPO), bedarf die Einstellung nach § 45 Abs. 1 JGG i. V. m. § 153 StPO in keinem Fall der Zustimmung des Gerichts.107 Aus diesem Grund kann der teilweise vertretenen Auffassung,108 die Verfahrenseinstellung gemäß § 153 StPO habe stets in der Weise Vorrang vor einer Einstellung nach § 45 JGG, dass letztere nur in Betracht komme, wenn die Staatsanwaltschaft eine Eintragung in das Erziehungsregister aus Präventivgründen für notwendig erachte, aus systematischen und teleologischen Gründen nicht gefolgt werden. Zwar vermiede eine solche Auslegung die den Jugendlichen belastende Eintragung in das Erziehungsregister (§ 60 Abs. 1 Nr. 7 BZRG); jedoch ist ein solches Ergebnis eindeutig contra legem und könnte allenfalls de lege ferenda gefordert werden. (2) Ausnahmsweise Anwendung des § 153 Abs. 1 StPO? Fraglich ist, ob § 153 Abs. 1 StPO dennoch in Ausnahmefällen auch auf Jugendliche (bzw. bei Anwendung von materiellem Jugendstrafrecht gemäß §§ 105 Abs. 1, 109 Abs. 2 Satz 1 JGG auf Heranwachsende)109 Anwendung finden kann. (a) Nach einer Ansicht verdrängen die speziell jugendstrafrechtlichen Normen §§ 45, 47 JGG die allgemeinen Vorschriften ausnahmslos,110 so dass auch 107 Im Fall der Verfahrenseinstellung nach § 153 Abs. 1 StPO ist somit die Zustimmung des Gerichts in allen Fällen qualifizierter Vergehen (etwa gefährliche Körperverletzung gemäß §§ 223, 224 StGB oder qualifizierter Diebstahl nach §§ 242, 244 StGB) erforderlich (vgl. Meyer-Goßner, StPO, § 153 Rnr. 15), so dass – entgegen Burscheidt, Das Verbot der Schlechterstellung Jugendlicher und Heranwachsender gegenüber Erwachsenen in vergleichbarer Verfahrenslage, S. 66 – die Einstellungsvoraussetzungen von § 153 StPO einerseits und § 45 JGG andererseits durchaus nicht „nahezu gleich hoch sind“. 108 LG Itzehoe StV 1993, S. 537 mit zust. Anm. Ostendorf; Ostendorf, JGG, § 45 Rnr. 5; Nix-Rzepka, JGG, § 45 Rnr. 59; Bohnert, NJW 1980, S. 1927 (1931). 109 Entgegen dem Wortlaut von § 109 Abs. 2 Satz 1 JGG („Wendet der Richter Jugendstrafrecht an“) sind die Regelungen des § 45 Abs. 1 und 2 JGG, die sich an die Staatsanwaltschaft wenden, nach herrschender Ansicht auch auf Heranwachsende anwendbar, Eisenberg, JGG, § 109 Rnr. 15, Brunner/Dölling, JGG, § 109 Rnr. 5; Ostendorf, JGG, § 109 Rnr. 5; Nix-Rzepka, JGG, § 45 Rnr. 1; Richtlinien zum JGG Nr. 5 zu § 109; a. A. Böhm, in: Festschrift für Günter Spendel, S. 777 (786). 110 LG Aachen NStZ 1991, S. 450 mit abl. Anm. Eisenberg; Brunner/Dölling, JGG, § 45 Rnr. 3; Böhm, Festschrift für Günter Spendel, S. 777 (783); Diemer/Schoreit/Sonnen-Diemer, JGG, § 45 Rnr. 9; Dölling, in: BMJ (Hrsg.), Jugendstrafrechtsreform durch die Praxis, S. 255 f.; Rieß, in: Löwe/Rosenberg, § 153 Rnr. 12; Schoreit,

II. Die Rechtslage betreffend Diversion im Jugendstrafrecht

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§ 153 Abs. 1 StPO neben § 45 Abs. 1 JGG keine Anwendung finden könne. Begründet wird diese Auffassung damit, dass es sich bei §§ 45, 47 JGG um ein abgestuftes und am Erziehungsgedanken orientiertes System von Verfahrensbeendigungen ohne Urteil handele, das durch die Eintragung in das Erziehungsregister (§ 60 Abs. 1 Nr. 7 BZRG) ergänzt werde. Diese Vorschriften stellten ihrer tatbestandlichen Fassung nach eine andere Bestimmung im Sinne von § 2 JGG dar und enthielten keine ausfüllungsbedürftige Lücke. Diese gesetzgeberische Entscheidung dürfe nicht durch die Anwendung der §§ 153, 153a StPO ausgehebelt werden.111 Außerdem fehle es bisher an klaren und überzeugenden Kriterien für eine Abgrenzung zwischen dem Anwendungsbereich der §§ 45, 47 JGG und dem der allgemeinen Vorschriften für den Bereich des Jugendstrafrechts.112 Ein allgemeiner Grundsatz des Inhalts, dass ein Jugendlicher oder Heranwachsender niemals schlechter gestellt werden dürfe als er in demselben Verfahren als Erwachsender stünde, existiert nach dieser Auffassung nicht.113 (b) Da die Einstellung nach § 153 StPO anders als diejenige nach § 45 JGG nicht in das Erziehungsregister einzutragen ist, soll einer zweiten Auffassung zufolge die Verfahrenseinstellung immer dann, wenn die Zustimmung des Gerichts vorliegt, nach § 153 Abs. 1 StPO und nicht nach § 45 Abs. 1 JGG erfolgen, damit Jugendliche bzw. Heranwachsende gegenüber Erwachsenen in vergleichbarer Verfahrenssituation nicht benachteiligt werden.114

in: Karlsruher Kommentar, § 153a Rnr. 8; van den Woldenberg, Diversion im Spannungsfeld zwischen „Betreuungsjustiz“ und Rechtsstaatlichkeit, S. 42; Burscheidt, Das Verbot der Schlechterstellung Jugendlicher und Heranwachsender gegenüber Erwachsenen in vergleichbarer Verfahrenslage, S. 82; Mohren, Die Veranlassung erzieherischer Maßnahmen durch den Staatsanwalt nach § 45 JGG: Verfassungsrechtliche und strafprozessuale Probleme, S. 17; Wolf, Gerhard, Strafe und Erziehung nach dem JGG, S. 331. 111 Brunner/Dölling, JGG, § 45 Rnr. 3; Diemer/Schoreit/Sonnen-Diemer, JGG, § 45 Rnr. 9. 112 Böhm, in: Festschrift für Günter Spendel, S. 777 (780 f., 783); Brunner/Dölling, JGG, § 45 Rnr. 3. 113 Schaffstein/Beulke, Jugendstrafrecht, § 35 III. 2.; Diemer/Schoreit/Sonnen-Diemer, JGG, § 45 Rnr. 9; Kuhlen, Diversion im Jugendstrafverfahren, S. 15 f.; Schlüchter, Plädoyer für den Erziehungsgedanken, S. 81 ff.; Bindzus/Musset, Grundzüge des Jugendrechts, Rnr. 538. 114 So Eisenberg, JGG, § 45 Rnr. 10 f.; Nothacker, JZ 1982, S. 61; Nix-Rzepka, JGG, § 45 Rnr. 59; Bottke, ZStW 95 (1983), S. 69 (82) zu § 45 a. F.; Burscheidt, Das Verbot der Schlechterstellung Jugendlicher und Heranwachsender gegenüber Erwachsenen in vergleichbarer Verfahrenslage, S. 66, 68 wirft die Frage auf, ob das Verbot der Schlechterstellung einen Vorrang des § 153 Abs. 1 StPO nicht auch in all jenen Fällen verlange, in denen eine Zustimmung des Gerichts gemäß § 153 Abs. 1 Satz 2 StPO nicht erforderlich ist. Auch die Diversionsrichtlinien Schleswig-Holsteins enthalten einen Hinweis auf die Anwendbarkeit des § 153 StPO im Jugendstrafrecht, „wenn es angebracht erscheint, die mit einer Einstellung nach § 45 Abs. 1 JGG verbundene Eintragung in das Erziehungsregister (§ 60 Abs. 1 Nr. 7 BZRG) zu vermeiden“ (Nr. 2.2), Amtsblatt für Sch.-H. 1998, 389 = DVJJ-Journal 1998, 260.

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B. Grundlagen

Nach Ansicht einiger Autoren und Gerichte ist das Verbot der Benachteiligung Jugendlicher und Heranwachsender gegenüber Erwachsenen in vergleichbarer Verfahrenslage ein Grundsatz des Jugendstrafverfahrens.115 Zu seiner Begründung wird zum einen angeführt, die das JGG beherrschenden erzieherischen Gebote erforderten es, Ungleichbehandlung und Zurücksetzung zu vermeiden.116 Da in dem Fall einer Benachteiligung die Grundsätze des JGG durch Anwendung der allgemeinen Vorschriften besser Berücksichtigung fänden, seien die jugendstrafrechtlichen Regelungen dann nicht mehr als abschließend zu betrachten.117 Zum anderen wird das Verbot der Schlechterstellung als Ausfluss des Grundsatzes des fairen Verfahrens gemäß Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK betrachtet.118 (c) Rechtsdogmatisch ließe sich die Abweichung von speziell jugendstrafrechtlichen Vorschriften etwa dann begründen, wenn eine Schlechterstellung Jugendlicher bzw. Heranwachsender gegenüber Erwachsenen gegen den allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3, 28 Abs. 1 Satz 1, 1 Abs. 3 GG) verstieße119 und damit eine verfassungskonforme Auslegung der jugendstrafrechtlichen Regelungen erforderlich machte. Ein Verstoß gegen den allgemeinen Gleichheitssatz liegt vor, wenn wesentlich gleiche Sachverhalte willkürlich, d. h. ohne vernünftigen Grund für eine Differenzierung, ungleich behandelt werden.120 Wesentlich gleich sind zwei Sachverhalte, wenn ein gemeinsamer Bezugspunkt (tertium comparationis) ermittelt werden kann.121 Nach der sog. „Neuen Formel“ des BVerfG verstößt eine Ungleichbehandlung von Personengruppen gegen Art. 3 Abs. 1 GG, „wenn eine Gruppe von Normadressaten im Vergleich zu anderen Normadressaten anders behandelt wird, obwohl zwischen beiden Gruppen keine Unterschiede von solcher Art und solchem Gewicht bestehen, dass sie eine ungleiche Behandlung rechtfertigen könnten“.122 Umgekehrt ist eine unter115 Eisenberg, JGG, § 45 Rnr. 9; Bottke, in: BMJ, Verteidigung in Jugendstrafsachen, S. 46 ff.; ders., ZStW 95 (1983), S. 69 ff.; Nothacker, JZ 1982, S. 57 ff.; ders., ZBl. 1985, S. 101 ff.; ders., „Erziehungsvorrang“ und Gesetzesauslegung im Jugendgerichtsgesetz, S. 306 ff.; Weigend, in: Marks/Meyer/Schreckling/Wandrey, Wiedergutmachung und Strafrechtspraxis, Erfahrungen, neue Ansätze, Gesetzesvorschläge, S. 37 ff., 47; Bohnert, NJW 1980, S. 1927 ff.; LG Itzehoe StVert 1993, S. 537; BayObLG, NStZ 1991, S. 584. 116 Eisenberg, JGG, § 45 Rnr. 9; Bottke, ZStW 95 (1983), S. 69 (92). 117 Eisenberg, JGG, § 45 Rnr. 9. 118 Bottke, ZStW 95 (1983), S. 69 (88 ff.). 119 Nothacker, „Erziehungsvorrang“ und Gesetzesauslegung im Jugendgerichtsgesetz, S. 306 ff; Burscheidt, Das Verbot der Schlechterstellung Jugendlicher und Heranwachsender gegenüber Erwachsenen in vergleichbarer Verfahrenslage, S. 29 ff. 120 St. Rspr. des BVerfG, siehe nur BVerfGE 4, 144 (155); 10, 234 (246). 121 BVerfGE 13, 181 (202); 71, 255 (271); 81, 108 (117); 83, 395 (401); 84, 348 (359); 85, 238 (244); 87, 1 (36); 90, 145 (196). 122 BVerfGE 55, 72 (88); 60, 123 (133 f.).

II. Die Rechtslage betreffend Diversion im Jugendstrafrecht

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schiedliche Behandlung von Personengruppen mit Art. 3 Abs. 1 GG nur dann vereinbar, wenn sowohl Differenzierungskriterium als auch Differenzierungsziel verfassungsgemäß sind und die Ungleichbehandlung zur Erreichung des Ziels geeignet und erforderlich ist. Zudem muss die Differenzierung verhältnismäßig im engeren Sinne sein, d.h. sie darf den Betroffenen nicht in unangemessener Weise belasten bzw. die Grenze des Zumutbaren überschreiten.123 Lassen die anerkannten Auslegungsregeln mehrere Interpretationen einer Vorschrift zu, wonach bei einer Auslegung Verfassungswidrigkeit festzustellen wäre, bei einer anderen, gleichfalls möglichen Auslegung jedoch noch Verfassungskonformität, so wird letzterer Auslegung der Vorzug gewährt. Eine verfassungskonforme Auslegung kann jedoch nur dann vorgenommen werden, wenn eine dahingehende Interpretation nach den anerkannten Auslegungsmethoden noch möglich ist; andernfalls ist die Regelung verfassungswidrig.124 Der ausdrückliche Verweis des § 45 Abs. 1 JGG auf die Vorschrift des § 153 StPO sowie das abgestufte System unterschiedlicher Einstellungsmöglichkeiten in §§ 45, 47 JGG deuten darauf hin, dass die Regelungen des JGG zur Verfahrenseinstellung aus erzieherischen Gründen gegenüber den allgemeinen Vorschriften der §§ 153, 153a StPO spezieller und abschließend sind. Demgegenüber erscheint es ebenso vertretbar, dem in § 2 JGG niedergelegten Grundsatz keine absolute Geltung zuzusprechen, sondern ihn als mit anderen jugendstrafrechtlichen Grundsätzen wie etwa dem der Subsidiarität von Strafe und Strafverfahren konkurrierend anzusehen125 und daher aus teleologischen Gründen davon auszugehen, die Regelungen zur Verfahrenseinstellung seien dann nicht abschließend und ließen eine parallele Anwendung der allgemeinen Vorschriften nach § 2 JGG zu, wenn die erzieherischen Zielsetzungen des JGG durch Anwendung der allgemeinen Vorschriften besser erreicht werden könnten. Es ist daher zu prüfen, ob die dahingehende Auslegung, dass § 45 Abs. 1 JGG eine abschließende Regelung beinhaltet und eine direkte Anwendung des § 153 StPO ausgeschlossen ist, gegen den allgemeinen Gleichheitsgrundsatz verstößt. Die zu vergleichenden Sachverhalte sind die Einstellung eines gegen einen Jugendlichen gerichteten Verfahrens nach § 45 Abs. 1 JGG mit der Folge der Eintragung in das Erziehungsregister (§ 60 Abs. 1 Nr. 7 BZRG) einerseits und die Einstellung eines gegen einen Erwachsenen gerichteten Verfahrens gemäß § 153 Abs. 1 StPO, die diese Konsequenz nicht nach sich zieht, andererseits. Der gemeinsame Bezugspunkt ist somit die Einstellung eines Verfahrens, das zur Verfolgung einer mutmaßlichen Straftat von der Staatsanwaltschaft gegenüber dem Betroffenen eingeleitet wurde.126

123 124 125

Gubelt, in: von Münch/Kunig (Hrsg.), GG, Art. 3 Rnr. 14 m. w. N. Degenhart, Staatsorganisationsrecht, Rnr. 633. So etwa Bohnert, NJW 1980, S. 1927 (1928).

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B. Grundlagen

Diese wesentlich gleichen Sachverhalte werden rechtlich unterschiedlich behandelt, indem die Verfahrenseinstellung gegen Jugendliche eine Eintragung in das Erziehungsregister nach sich zieht, die Verfahrenseinstellung nach allgemeinem Strafrecht hingegen nicht. Allerdings ist zu berücksichtigen, dass auf Grundlage der §§ 492 ff. StPO127 nunmehr auch im allgemeinen Strafverfahren personenbezogene Daten zu Verfahrenseinstellungen in einem bundesweiten System, dem zentralen staatsanwaltschaftlichen Verfahrensregister („BundesSISY“), gespeichert werden. Diese Speicherung betrifft Jugendliche, Heranwachsende und Erwachsene gleichermaßen.128 Um eine überörtliche Erfassung bisheriger Strafverfahren zu ermöglichen, hielt der Gesetzgeber die Einrichtung eines bundesweiten staatsanwaltschaftlichen Registers für erforderlich, da aus den bislang bestehenden Registern nicht zu entnehmen ist, ob im Zuständigkeitsbereich anderer Staatsanwaltschaften ebenfalls Ermittlungsverfahren gegen einen bestimmten Beschuldigten anhängig sind oder vor kurzem durch Einstellung des Verfahrens erledigt wurden.129 Durch die bundesweite Erfassung sollen u. a. wiederholte Einstellungen nach § 153 und § 153a StPO verhindert werden.130 Damit ist das zentrale staatsanwaltschaftliche Verfahrensregister zwar auf einen ähnlichen Zweck ausgerichtet wie das Erziehungsregister, da es ebenso die Grundlage für zukünftige Verfahrenserledigungen schaffen soll. Inhaltlich erweitert es jedoch lediglich die bisher bereits auf Ebene der Bundesländer bzw. einzelner staatsanwaltschaftlicher Zuständigkeitsbereiche praktizierte Datenerfassung. Überdies geht die Erfassung von Verfahrenseinstellungen gegen Jugendliche und Heranwachsende im Erziehungsregister insofern über die genannte Registrierung im staatsanwaltschaftlichen Verfahrensregister hinaus, als neben den Staatsanwaltschaften u. a. auch die Strafgerichte, Vormundschaftsgerichte und Familiengerichte (§ 61 Abs. 1 BZRG) auskunftsberechtigt sind. Aus dem zentralen staatsanwaltschaftlichen Verfahrensregister hingegen können Gerichte nicht direkt Auskunft verlangen; sie müssen bei der zuständigen Staatsan126 Allgemein zur Vergleichbarkeit von Jugend- und Erwachsenenstrafverfahren, Burscheidt, Das Verbot der Schlechterstellung Jugendlicher und Heranwachsender gegenüber Erwachsenen in vergleichbarer Verfahrenslage, S. 31. 127 Eingefügt durch das Verbrechensbekämpfungsgesetz vom 28.10.1994, BGBl. I S. 3186. Auf Grundlage des § 494 Abs. 4 StPO hat das Bundesministerium der Justiz am 7.8.1995 eine Errichtungsanordnung (BAnz S. 9761) erlassen, in der die näheren Einzelheiten geregelt sind (Allgemeine Verwaltungsvorschrift über eine Errichtungsanordnung für das länderübergreifende staatsanwaltschaftliche Verfahrensregister). Für Berlin siehe auch §§ 21 ff. AGGVG (GVOBl. 92, S. 3186). 128 Vgl. Ziffer 4. der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift über eine Errichtungsanordnung für das länderübergreifende staatsanwaltschaftliche Verfahrensregister (BAnz 1995, S. 9761): „Aufnahme in die Datei finden Daten aller Beschuldigten in einem Ermittlungs- und Strafverfahren einschließlich steuerstrafrechtlicher Verfahren.“ 129 Meyer-Goßner, StPO, § 492 Rnr. 1; Richter, NJW 1989, S. 1785. 130 Schneider, NJW 1996, S. 302 (304).

II. Die Rechtslage betreffend Diversion im Jugendstrafrecht

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waltschaft um Einholung der Auskunft bitten.131 Schließlich sind die im Erziehungsregister enthaltenen, die Verfahrenseinstellung betreffenden Daten detaillierter als die im zentralen staatsanwaltschaftlichen Verfahrensregister, da sie sich außer auf die Tatsache der Verfahrenseinstellung selbst auch auf die ggf. durchgeführten oder eingeleiteten erzieherischen Maßnahmen erstrecken (§ 60 Abs. 2 BZRG).132 Im Ergebnis geht die mit Eintragung und Speicherung von Informationen in das Erziehungsregister verbundene Eingriffswirkung über die des staatsanwaltschaftlichen Verfahrensregisters hinaus. Damit liegt auch nach neuerer Rechtslage eine Ungleichbehandlung Jugendlicher und Heranwachsender gegenüber Erwachsenen in vergleichbarer Verfahrenslage darin, dass die Verfahrenseinstellung gegen Jugendliche eine Eintragung in das Erziehungsregister nach sich zieht, die Verfahrenseinstellung nach allgemeinem Strafrecht hingegen nicht.133 Bei dieser Gegenüberstellung wird jedoch deutlich, dass die Ungleichbehandlung Jugendlicher nicht direkt aus der Anwendung der jugendstrafrechtlichen Vorschrift des § 45 Abs. 1 JGG resultiert. Vielmehr erweitert diese Vorschrift sogar die – für die beschuldigte Person günstigen – Einstellungsmöglichkeiten, indem sie im Gegensatz zu § 153 Abs. 1 StPO keine Zustimmung des Gerichts verlangt und somit ein mögliches Hindernis auf dem Weg zu einer Verfahrenseinstellung weniger enthält. Allein die an die Einstellung anknüpfende Eintragung in das Erziehungsregister vermag eine Schlechterstellung zu begründen; diese ergibt sich jedoch nicht aus § 45 JGG, sondern aus § 60 Abs. 1 Nr. 7 BZRG. Folglich kann die Frage nicht lauten, ob § 45 Abs. 1 JGG, sondern nur ob § 60 Abs. 1 Nr. 7 BZRG im Hinblick auf Art. 3 Abs. 1 GG verfassungskonform auszulegen oder gar verfassungswidrig ist. Die Verlagerung der Diskussion auf das Verhältnis von § 45 Abs. 1 JGG zu § 153 Abs. 1 StPO beruht auf dem – durchaus nachvollziehbaren – Bestreben vieler Stimmen in Literatur und Praxis, eine auch nach bestehender Rechtslage vertretbare Möglichkeit zur Vermeidung der umstrittenen Rechtsfolge des § 60 Abs. 1 Nr. 7 BZRG zu schaffen, ohne auf eine Änderung der registerrechtlichen Folgen durch den Gesetzgeber warten zu müssen. (d) Zu untersuchen ist folglich allein, ob die auf der Vorschrift des § 60 Abs. 1 Nr. 7 BZRG beruhende Ungleichbehandlung von Jugendlichen und gegebenenfalls Heranwachsenden einerseits und Erwachsenen andererseits verfassungsrechtlich unbedenklich ist. Diese Ungleichbehandlung ist nur dann mit 131

Meyer-Goßner, StPO, § 492 Rnr. 8. Zu den im zentralen staatsanwaltschaftlichen Verfahrensregister enthaltenen Daten siehe § 492 Abs. 2 StPO sowie Ziffer 5. der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift über eine Errichtungsanordnung für das länderübergreifende staatsanwaltschaftliche Verfahrensregister (BAnz 1995, S. 9761). 133 Anders wohl Streng, Jugendstrafrecht, § 14 Rnr. 10; Meier/Rössner/SchöchSchöch, Jugendstrafrecht, § 14 Rnr. 44. 132

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B. Grundlagen

Art. 3 Abs. 1 GG vereinbar, wenn die Eintragung in das Erziehungsregister auf sachlichen jugendspezifischen Erwägungen beruht und zur Verwirklichung eines verfassungsgemäßen Ziels geeignet, erforderlich und verhältnismäßig im engeren Sinne ist.134 Das Differenzierungskriterium Alter verstößt nicht gegen spezielle Differenzierungsverbote oder -gebote wie etwa Art. 3 Abs. 3 GG, Art. 33 Abs. 1 GG oder Art. 12a Abs. 1 GG. (aa) Das Erziehungsregister wird zwar gemäß § 59 Satz 1 BZRG beim Bundeszentralregister geführt, ist ihm gegenüber jedoch rechtlich selbständig.135 Eintragungspflichtig sind lediglich solche Maßnahmen, die keinen Strafcharakter aufweisen, wie etwa Erziehungsmaßregeln, Zuchtmittel, Freisprüche wegen mangelnder strafrechtlicher Verantwortlichkeit oder familien- und vormundschaftsgerichtliche Maßnahmen (§ 60 Abs. 1 Nr. 1 bis 9 BZRG). Die übrigen jugendstrafrechtlichen Entscheidungen, namentlich die Verhängung von Jugendstrafe, der Schuldspruch nach § 27 JGG sowie die Anordnung von Maßregeln der Besserung und Sicherung (§ 7 JGG) werden demgegenüber gemäß §§ 3, 4 BZRG in das Bundeszentralregister eingetragen. Sind Erziehungsmaßregeln, Zuchtmittel oder Nebenstrafen und Nebenfolgen mit einer Verurteilung zu Jugendstrafe, einem Schuldspruch nach § 27 JGG oder der Anordnung von Maßregeln der Besserung und Sicherung in einer einheitlichen Entscheidung verbunden, so werden auch sie in das Bundeszentralregister eingetragen (§ 5 Abs. 2 BZRG). Mit der Führung des Erziehungsregisters soll bewirkt werden, dass die zur Persönlichkeitserforschung des jugendlichen Beschuldigten in einem späteren Verfahren notwendigen Informationen gespeichert werden und zur Verfügung stehen, um dadurch die Auswahl individualpräventiv möglichst wirksamer Entscheidungen zu ermöglichen. Die separate Führung von Bundeszentralregister und Erziehungsregister soll vermeiden, dass jede – auch leichtere – Verfehlung in das Zentralregister eingetragen wird und dadurch zu einer unverhältnismäßigen Stigmatisierung des Jugendlichen führt. Mit der Eintragung speziell von Verfahrenseinstellungen gemäß §§ 45, 47 JGG wird der Zweck verfolgt, Informationen über bisherige Strafverfahren sowie die sie beendenden Entscheidungen und verhängte Reaktionen zu speichern, um sie dem Jugend-, Vormundschafts- und Familiengericht, der Staatsanwaltschaft, den Jugendämtern und den Gnadenbehörden (§ 61 Abs. 1 Nr. 1–4 BZRG) als Grundlage für nachfolgende Entscheidungen zur Verfügung stellen zu können. Dies soll eine möglichst umfassende – für das Jugendstrafrecht in besonderem Maße bedeutsame – Persönlichkeitserforschung sowie eine an erzieherischen Belangen ausgerichtete Entscheidung ermöglichen.136 Das Wissen darum, ob und gegebenenfalls welche Entscheidungen getroffen und welche 134 135 136

Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rnr. 440. Hase, BZRG, § 59 Rnr. 1. Siehe auch Amtliche Begründung, BT-Drucksache 6/477, S. 26.

II. Die Rechtslage betreffend Diversion im Jugendstrafrecht

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Maßnahmen gegenüber dem Jugendlichen bereits durchgeführt wurden, kann für die Bewertung der Wirksamkeit und damit für die Auswahl künftiger erzieherischer Maßnahmen Bedeutung haben.137 Letztlich dient die Eintragung in das Erziehungsregister der Förderung des allgemeinen, das gesamte Jugendstrafrecht beeinflussenden Erziehungsgedankens. Wenngleich Ausgestaltung und Reichweite dieses Grundsatzes durchaus umstritten sind,138 so geht doch die herrschende Meinung davon aus, dass die Erziehungsziele des Jugendstrafverfahrens darauf gerichtet sind, durch Bereitstellung individuell geeigneter, jugendspezifischer Angebote (erneutes) strafrechtlich relevantes Verhalten Jugendlicher und Heranwachsender zu vermeiden.139 Folglich dient die Ungleichbehandlung einem verfassungsgemäßen Zweck.140 (bb) Weiterhin ist fraglich, ob die Eintragung von Verfahrenseinstellungen bei Jugendlichen zur Erreichung dieses Zieles geeignet, d.h. ihm förderlich ist. Ein Verstoß gegen das Erfordernis der Geeignetheit ist nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts erst dann gegeben, wenn die Regelung „schlechthin untauglich“ oder „von vorneherein ungeeignet“ ist.141 Der erzieherische und damit letztlich individualpräventive Nutzen der Eintragung wird vielfach in Frage gestellt.142 Eingewandt wird, dass die dem Erziehungsregister zu entnehmenden Informationen lediglich den Umstand der Verfahrenserledigung durch Einstellung (sowie gegebenenfalls die getroffenen Maßnahmen, § 60 Abs. 2 BZRG) betreffen, damit rein formaler Natur seien und nur sehr eingeschränkt Auskunft über die persönliche Situation der beschuldigten Person geben könnten.143 Zwar mag es von der Praxis vielfach als be137 Zweifelnd am Nutzen der Kenntnis von der Verfahrenseinstellung für die erzieherische Qualität der Folgeentscheidung, Böhm, in: Festschrift für Günter Spendel, S. 777 (782). 138 Eisenberg, JGG, Einleitung Rnr. 5 ff.; Brunner/Dölling, JGG, Einf. II. Rnr. 4 ff; Ostendorf, JGG, Grdl. zu §§ 1–2 Rnr. 3 ff.; Schaffstein/Beulke, Jugendstrafrecht, § 5 IV. 139 Eisenberg, JGG, Einleitung Rnr. 5c; Brunner/Dölling, JGG, Einf. II. Rnr. 6; Ostendorf, JGG, Grdl. zu §§ 1–2 Rnr. 4; Schaffstein/Beulke, Jugendstrafrecht, § 1 I. 140 So auch Burscheidt, Das Verbot der Schlechterstellung Jugendlicher und Heranwachsender gegenüber Erwachsenen in vergleichbarer Verfahrenslage, S. 69. 141 Siehe z. B. BVerfGE 71, 206 (215 f.); 81, 156 (192); 99, 341 (353); 100, 313 (373). 142 Siehe zur Diskussion Heinz, in: BMJ (Hrsg.), Diversion im Jugendstrafverfahren der Bundesrepublik Deutschland, S. 27 Anm. 184; ders., MschrKrim 1993, S. 355 (373 f.) m. w. N.; Burscheidt, Das Verbot der Schlechterstellung Jugendlicher und Heranwachsender gegenüber Erwachsenen in vergleichbarer Verfahrenslage, S. 71. Eine Gesetzesinitiative der Freien und Hansestadt Hamburg zur Abschaffung des Eintragungserfordernisses (vgl. BR-Dr. 461/86 vom 10.10.1986) wurde im Bundesrat abgelehnt (vgl. Verhandlungen des Bundesrates 1987, Stenographischer Bericht der 573. Sitzung des Bundesrates vom 20.2.1987, S. 4 ff.). 143 Carspecken, ZfJ 1983, S. 254 (258); P.-A. Albrecht, Jugendstrafrecht, 13. Kap. D. VI.

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B. Grundlagen

deutsam beurteilt werden, zu wissen, ob auf den Jugendlichen bereits in vorangegangenen Verfahren erzieherisch eingewirkt wurde – und sei es nur durch die Durchführung eines im Ergebnis folgenlos eingestellten Vorverfahrens mit den damit einhergehenden Vernehmungen und Ermittlungen. Eine empirische Fundierung der These, die Kenntnis von früheren Verfahrenseinstellungen verbessere die Qualität der Folgeentscheidung,144 steht jedoch bislang aus.145 Zudem lässt sie unberücksichtigt, dass angesichts der bei jungen Menschen bestehenden Entwicklungsdynamik länger zurückliegende Auffälligkeiten nur geringe Aussagekraft besitzen.146 Darüber hinaus gebe es empirische Anhaltspunkte dafür, dass der Makel der Eintragung die Entwicklung der Jugendlichen und Heranwachsenden beeinträchtige und selbst kriminogen wirken könne.147 Allerdings muss bei diesem Einwand berücksichtigt werden, dass der Kreis derjenigen, die berechtigt sind, eine Auskunft aus dem Erziehungsregister zu erhalten, gemäß § 61 Abs. 1 BZRG beschränkt ist.148 Schließlich wird vorgebracht, die Eintragung in das Erziehungsregister könne eine Voreingenommenheit der Gerichte in nachfolgenden Verfahren verursachen und so zu einer Sanktioneneskalation führen, die dem Erziehungsziel gerade zuwider laufe.149 Diese Kritik kann nicht durch den pauschalen Hinweis ausgeräumt werden, die Gerichte seien sich der Grenzen und Möglichkeiten des Verfahrens nach § 45 JGG bewusst, so dass dem Jugendlichen durch die Kenntnis einer früheren Einstellung kein Nachteil erwachse.150 Vielmehr geht die Praxis – auch gestützt durch die Diversionsrichtlinien der Länder – überwiegend dahin, nach einer als erfolglos beurteilten Maßnahme zur jeweils eingriffsintensiveren überzugehen.151 Trotz der genannten Einwände scheint die Eintragung in das Erziehungsregister zur Förderung des Differenzierungsziels, nämlich der Auswahl einer erzieherisch geeigneten Maßnahme, nicht schlechthin ungeeignet.152 144

So Böhm, in: Festschrift für Günter Spendel, S. 777 (783). Heinz, MschrKrim 1993, S. 355 (374). 146 Heinz, MschrKrim 1993, S. 355 (374). 147 P.-A. Albrecht, Jugendstrafrecht, 13. Kap. D. VI. 148 Strafgerichte, Staatsanwaltschaften, Vormundschaftsgerichte, Familiengerichte, Jugendämter sowie Gnadenbehörden. 149 Ähnlich Eisenberg, JGG, § 45 Rnr. 10; P.-A. Albrecht, Jugendstrafrecht, 13. Kap. D. VI.; Böhm, in: Festschrift für Günter Spendel, S. 777 (782); Walter, in: Walter (Hrsg.), Beiträge zur Erziehung, S. 81. 150 So aber Brunner/Dölling, JGG, § 45 Rnr. 3; Burscheidt, Das Verbot der Schlechterstellung Jugendlicher und Heranwachsender gegenüber Erwachsenen in vergleichbarer Verfahrenslage, S. 72. 151 Siehe etwa Nix-Rzepka, JGG, vor §§ 45, 47 Rnr. 14. 152 Degenhart, Staatsorganisationsrecht, Rnr. 393. 145

II. Die Rechtslage betreffend Diversion im Jugendstrafrecht

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(cc) Erforderlich wäre die Eintragung dann, wenn es kein anderes, gleich wirksames, aber die Rechte, insbesondere die Grundrechte, des einzelnen weniger einschränkendes Mittel gäbe.153 Eine andere Möglichkeit, die für die Auswahl zukünftiger Maßnahmen relevanten Informationen zu speichern und den entscheidenden Institutionen zugänglich zu machen, ist nicht erkennbar, so dass die Eintragung zur Erreichung des angestrebten Ziels auch erforderlich ist. Insbesondere können staatsanwaltschaftliche Register nicht ausreichen. Zwar gibt es in den Bundesländern staatsanwaltschaftliche Register (wie etwa das Staatsanwaltschaftliche Auskunftssystem AStA für Berlin) sowie auf Bundesebene das zentrale staatsanwaltschaftliche Verfahrensregister („Bundes-SISY“, §§ 492 ff. StPO), in denen Personendaten, Aktenzeichen und Verfahrensabschlüsse der Ermittlungsverfahren aufgeführt sind. Für die staatsanwaltschaftlichen Diversionsentscheidungen gemäß § 45 JGG könnten diese bestehenden Systeme ausreichen, da die jeweils mit den Entscheidungen befassten Dezernenten hierauf Zugriff haben. Allerdings stehen diese Systeme dem Erziehungsregister insofern nach, als sie nicht die konkreten durchgeführten oder angeregten Maßnahmen enthalten, deren Kenntnis vielfach als bedeutsam angesehen wird. Darüber hinaus haben Gerichte keinen direkten Zugriff auf diese Register;154 im Hinblick auf die Möglichkeit gerichtlicher Diversion (insbesondere § 47 JGG) ist jedoch ein einheitliches System zu bevorzugen, auf das neben den Staatsanwaltschaften auch Gerichte Zugriff nehmen können. (dd) Schließlich müsste die Eintragung speziell der Einstellungsentscheidung nach § 45 Abs. 1 JGG auch verhältnismäßig im engeren Sinne sein, d.h. die Eingriffsintensität darf nicht außer Verhältnis zu den mit der Regelung verfolgten Gemeinwohlbelangen stehen.155 Teilweise wird vertreten, dass der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz nicht verletzt sei, da das Recht auf informationelle Selbstbestimmung nicht übermäßig eingeschränkt werde, denn die Eintragung wird gemäß § 63 Abs. 1 BZRG bei Vollendung des 24. Lebensjahres gelöscht. Überdies werde die eingetragene Person durch die Einschränkung des Kreises der Auskunftsberechtigten (§ 61 Abs. 1 BZRG), durch das Recht, die Eintragung zu verschweigen (§ 64 Abs. 1 BZRG), sowie durch die Nichtaufnahme der Daten in das Führungszeugnis (§ 32 BZRG) geschützt.156

153

Vgl. BVerfGE 71, 206 (215 f.); 81, 156 (192); 99, 341 (353); 100, 313 (373). Gemäß § 492 Abs. 3 Satz 2, Abs. 3 StPO sind auskunftsberechtigt nur Strafverfolgungsbehörden, d.h. Staatsanwaltschaften, Polizeien, Finanzbehörden, Steuer- und Zollfahndungsdienststellen, sowie Verfassungsschutzbehörden des Bundes und der Länder, das Amt für den Militärischen Abschirmdienst und der Bundesnachrichtendienst. Wenn ein Gericht Auskunft begehrt, muss es sich an die zuständige Staatsanwaltschaft wenden und diese um Einholung der Auskunft bitten. Dies wird teilweise als wenig sachdienlich beurteilt. Für eine Erstreckung des Auskunftsrechts auf Gerichte, Meyer-Goßner, StPO, § 492 Rnr. 8 f. 155 Siehe z. B. BVerfGE 90, 145 (185). 154

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B. Grundlagen

Der Verweis auf die flankierenden gesetzlichen Regelungen vermag jedoch die Bedenken nicht zu beseitigen. Eine bis zu zehn Jahren157 bestehende Registrierung einer auch nur einmaligen, nicht in einem richterlichen Urteil festgestellten Auffälligkeit (zumal einer, die als geringfügig genug angesehen wird, keine weiteren Reaktionen auszulösen) kann nicht mehr als verhältnismäßig angesehen werden.158 Auch kann es für nach Vollendung des 21. Lebensjahres begangene Taten auf einen erzieherischen Zweck nicht mehr ankommen, weil die Anwendung von Jugendstrafrecht dann ausgeschlossen ist und damit der im JGG verankerte Erziehungsgedanke nicht mehr zum Tragen kommen kann.159 Zudem ist darauf zu verweisen, dass die im Regierungsentwurf eines „Ersten Gesetzes zur Reform des Strafverfahrensrechts“160 vorgesehene Eintragung von Einstellungen nach § 153a StPO im Bundeszentralregister im Sonderausschuss des Bundestages für die Strafrechtsreform abgelehnt wurde, weil sie im Hinblick auf die Unschuldsvermutung bedenklich erschien. Warum etwas anderes für den Bereich des Jugendstrafrechts gelten sollte, ist indes nicht erkennbar.161 (e) Im Ergebnis ist die Regelung des § 60 BZRG wegen Verstoßes gegen den Gleichheitssatz verfassungswidrig, weil sie zumindest in der bestehenden Ausgestaltung unverhältnismäßig ist. Da gemäß Art. 100 Abs. 1 GG das Verwerfungsmonopol betreffend nachkonstitutionelle förmliche Gesetze dem Bundesverfassungsgericht übertragen ist,162 muss die Vorschrift trotz möglicher Verfassungswidrigkeit weiterhin angewendet werden, solange sie nicht vom 156 Burscheidt, Das Verbot der Schlechterstellung Jugendlicher und Heranwachsender gegenüber Erwachsenen in vergleichbarer Verfahrenslage, S. 74. 157 Da Eintragungen im Erziehungsregister erst mit Vollendung des 24. Lebensjahres gelöscht werden (§ 63 BZRG), bleibt die Eintragung einer gegenüber einem 14-jährigen Jugendlichen getroffenen Entscheidung nach § 45 Abs. 1 JGG bis zu zehn Jahre bestehen. 158 H. E. Müller, DRiZ 1996, S. 443 (447); für eine Reform auch Heinz, MschrKrim 1993, 355, 374; Nix-Rzepka, JGG, § 45 Rnr. 56; bereits zu § 45 Abs. 2 Nr. 2 JGG a. F. Rautenberg, ZfJ 1984, S. 507 (508). Das Missverhältnis wird umso deutlicher, wenn man die Länge der Tilgungsfristen bei Verurteilungen zu Jugendstrafe bis zu einem Jahr (Tilgungsfrist: fünf Jahre, § 46 Abs. 1 Nr. 1c BZRG) einerseits mit der Länge der Tilgungsfristen bei Entscheidungen nach §§ 45, 47 (Tilgungsfristen: zwischen drei und zehn Jahren) andererseits vergleicht. Anders Mohren, Die Veranlassung erzieherischer Maßnahmen durch den Staatsanwalt nach § 45 JGG: Verfassungsrechtliche und strafprozessuale Probleme, S. 135 f. mit der pauschalen Aussage, die Ungleichbehandlung sei durch den Erziehungsgedanken sachlich gerechtfertigt und wegen des begrenzten Kreises der Auskunftsberechtigten auch nicht unverhältnismäßig. 159 Böhm, in: Festschrift für Günter Spendel, S. 777 (782). Allerdings ist zu bedenken, dass hinsichtlich solcher Taten, die vor Vollendung des 21. Lebensjahres begangen wurden, jedoch erst danach verfolgt werden, durchaus Jugendstrafrecht Anwendung finden kann. 160 BT-Drucksache 7/551. 161 Heinz, DVJJ-Journal 1999, S. 131 (133 Fn. 47). 162 Siehe auch BVerfGE 2, 143 (172); 3, 41 (44).

II. Die Rechtslage betreffend Diversion im Jugendstrafrecht

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Bundesverfassungsgericht für nichtig erklärt wurde.163 Die Nichtanwendung dieser Vorschrift kann aber nicht über den Umweg der Nichtanwendung des § 45 JGG erreicht werden, denn dieser selbst ist verfassungskonform. bb) § 153 Abs. 2 StPO Auch hinsichtlich der Frage, ob § 47 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 JGG die Anwendung der allgemeinen Vorschrift des § 153 Abs. 2 StPO ausschließt, besteht keine Einigkeit. Teilweise wird wiederum vertreten, die speziell jugendstrafrechtliche Vorschrift verdränge die allgemeine Vorschrift völlig.164 Nach anderer Ansicht solle – sofern deren Voraussetzungen erfüllt seien – eine richterliche Einstellung nach § 153 Abs. 2 StPO statt nach § 47 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 JGG erfolgen, um eine Eintragung in das Erziehungsregister und damit eine Schlechterstellung Jugendlicher und Heranwachsender gegenüber Erwachsenen zu vermeiden.165 Aus den oben ausgeführten Gründen gilt auch hier, dass die Schlechterstellung nicht auf der Anwendung des § 47 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 JGG beruht, sondern auf der des § 60 Abs. 1 Nr. 7 BZRG. Letztgenannte Vorschrift ist zwar wegen Verstoßes gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz nicht verfassungsgemäß; ihre zu erstrebende Nichtanwendung kann jedoch nicht über den Umweg der vorrangigen Anwendung der allgemeinen Vorschriften erreicht werden. b) § 153a StPO Die Vorschrift des § 153a StPO ermöglicht der Staatsanwaltschaft mit Zustimmung des für die Eröffnung des Hauptverfahrens zuständigen Gerichts und des Beschuldigten (Absatz 1) bzw. nach Anklageerhebung dem Gericht mit Zustimmung der Staatsanwaltschaft und des Angeschuldigten (Absatz 2) das Abse163 Vgl. auch Mohren, Die Veranlassung erzieherischer Maßnahmen durch den Staatsanwalt nach § 45 JGG: Verfassungsrechtliche und strafprozessuale Probleme, S. 17. Ein Vorlageverfahren nach Art. 100 Abs. 1 GG, § 13 Nr. 11, 80 ff. BVerfGG wird wohl bereits deswegen ausgeschlossen sein, weil eine gerichtliche Überprüfung der Einstellungsentscheidung, innerhalb deren ein Gericht die Verfassungsmäßigkeit der Vorschrift bezweifeln könnte, nicht vorgesehen ist. Allerdings wäre eine Verfassungsbeschwerde (Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG, §§ 13 Nr. 8a, 90 ff. BVerfGG) denkbar. 164 Brunner/Dölling, JGG, § 47 Rnr. 4; Diemer/Schoreit/Sonnen-Diemer, JGG, § 47 Rnr. 5. 165 Eisenberg, JGG, § 45 Rnr. 10, § 47 Rnr. 9; Nix-Rzepka, JGG, § 47 Rnr. 6, 31; Ostendorf, JGG, § 47 Rnr. 7, der hier – in umgekehrter Weise zu dem parallelen Fall der Anwendung von § 153 Abs. 1 StPO statt § 45 Abs. 1 JGG (Ostendorf, JGG, § 45 Rnr. 5) – die isolierte Anwendung von § 153 Abs. 2 StPO nur dann für geboten hält, wenn die Eintragung in das Erziehungsregister als eine unnötige und unangemessene Reaktion zu werten ist.

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B. Grundlagen

hen von der Strafverfolgung nach Erteilung von Auflagen oder Weisungen. Umstritten ist auch diesbezüglich, ob die Regelungen der §§ 45, 47 JGG die Anwendung des § 153a StPO im Jugendstrafrecht aus Gründen der Spezialität (§ 2 JGG) ausschließen. aa) § 153a Abs. 1 StPO Während im Jugendstrafrecht das sog. formlose richterliche Erziehungsverfahren gemäß § 45 Abs. 3 JGG, in dem die Staatsanwaltschaft die Erteilung einer Ermahnung oder von Weisungen bzw. Auflagen durch das Jugendgericht anregt, ein Geständnis des Beschuldigten voraussetzt, kann die Staatsanwaltschaft im allgemeinen Strafverfahren gemäß § 153a Abs. 1 StPO das Verfahren gegen Erteilung von Auflagen oder Weisungen ohne Vorliegen eines Geständnisses einstellen. (1) Schlechterstellung Hierin wird nach einer Ansicht166 eine unzulässige Schlechterstellung Jugendlicher und Heranwachsender gegenüber Erwachsenen gesehen mit der Folge, dass bei einem nicht geständigen Jugendlichen das Verfahren gemäß § 153a Abs. 1 StPO eingestellt werden müsse, sofern weder die Voraussetzungen des § 45 Abs. 1 JGG i. V. m. § 153 StPO vorlägen noch erzieherische Maßnahmen nach § 45 Abs. 2 JGG durchgeführt oder eingeleitet seien. (2) Andere Ansicht Nach anderer Auffassung ist § 45 Abs. 3 StPO gemäß § 2 JGG die gegenüber § 153a Abs. 1 StPO abschließende Vorschrift. Die Geständnisvoraussetzung dürfe durch Anwendung der allgemeinen Vorschrift nicht einfach umgangen werden.167 Dies müsse umso mehr gelten, seit durch Art. 4 des Gesetzes 166 Eisenberg, JGG, § 45 Rnr. 12; Meyer-Goßner, § 153a Rnr. 4; Nothacker, „Erziehungsvorrang“ und Gesetzesauslegung im Jugendgerichtsgesetz, S. 322; Bottke, ZStW 95 (1983), S. 69 (93 f.); P.-A. Albrecht, Jugendstrafrecht, 5. Kap. B. V.; Pfeiffer, StPO, § 153a Rnr. 1. Für eine uneingeschränkte Anwendbarkeit des § 153a StPO neben § 45 Abs. 2 und 3 JGG aus Gleichbehandlungsgründen: Nix-Rzepka, JGG, § 45 Rnr. 60. 167 Brunner/Dölling, JGG, § 45 Rnr. 3; Böhm, Einführung in das Jugendstrafrecht, S. 101 f.; ders., in: Festschrift für Günter Spendel, S. 777 (783); Wolf, Strafe und Erziehung nach dem Jugendgerichtsgesetz, S. 331; van den Woldenberg, Diversion im Spannungsfeld zwischen „Betreuungsjustiz“ und Rechtsstaatlichkeit, S. 42 f.; Ostendorf, JGG, § 45 Rnr. 6, der allerdings der Ansicht ist, § 153a StPO könne im Jugendstrafrecht ausnahmsweise dann angewendet werden, wenn die in § 45 Abs. 3 JGG genannten Maßnahmen nicht geeignet erschienen.

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zur Änderung des Straßenverkehrsgesetzes und anderer Gesetze vom 24. April 1998168 die abschließende Aufzählung von nach § 153a StPO zulässigen Maßnahmen entfallen sei und die Gerichte nunmehr neue Auflagen und Weisungen schöpfen könnten. Eine Anwendung dieser Vorschrift im Jugendstrafrecht würde das gesetzliche System der §§ 45, 47 JGG „vollends durcheinander bringen“.169 (3) Verfassungskonforme Auslegung? Es fragt sich daher erneut, ob ein Verstoß gegen das Verbot der Schlechterstellung Jugendlicher und Heranwachsender gegenüber Erwachsenen die Anwendbarkeit der allgemeinen Vorschrift des § 153a Abs. 1 StPO begründet. Wenn die Auslegung, nach der § 45 Abs. 3 JGG für den Bereich des Jugendstrafrechts abschließend ist, gegen den allgemeinen Gleichheitsgrundsatz verstieße, so müsste im Wege einer verfassungskonformen Auslegung der anderen möglichen Interpretation gefolgt werden, nach der bei fehlendem Geständnis § 153a Abs. 1 StPO Anwendung finden kann. Dazu müssten zunächst beide Auslegungen nach den herkömmlichen Methoden herleitbar sein. Wortlaut und Gesetzessystematik der genannten Vorschriften sprechen für eine abschließende Geltung der speziell jugendstrafrechtlichen Vorschrift des § 45 Abs. 3 JGG. Demgegenüber könnte die Auslegung, § 153a StPO sei in solchen Fällen anzuwenden, in denen die beschuldigte Person nicht geständig sei, auf teleologische Argumente gestützt werden.170 Dies wäre etwa dann der Fall, wenn die Grundsätze des JGG durch Anwendung der allgemeinen Vorschriften besser Berücksichtigung fänden als bei Anwendung der speziell jugendstrafrechtlichen Regelung.171 Es könnte gegen die das JGG beherrschenden erzieherischen Gebote verstoßen, wenn Jugendliche und Heranwachsende gegenüber Erwachsenen in verfahrensrechtlicher Hinsicht dadurch schlechter gestellt werden, dass bei ihnen bei Fehlen eines Geständnisses die Einstellung gegen Erteilung einer Auflage oder Weisung ausgeschlossen ist, wohingegen sie bei Erwachsenen möglich wäre. Es ist jedoch zu bedenken, dass im Fall der Anwendung des § 153a Abs. 1 StPO auch auf Jugendliche (und Heranwachsende bei Anwendung von Jugendstrafrecht) diejenigen Beschuldigten, die nicht geständig sind, gegenüber geständigen Beschuldigten privilegiert wären, da sie nicht mit einer Eintragung ins Erziehungsregister belastet würden.172 Zwar ist es zu vermeiden, an ein Geständnis positive Rechtsfolgen zu 168

BGBl. I S. 747. Brunner/Dölling, JGG, § 45 Rnr. 3. 170 So etwa Bottke, ZStW 95 (1983), S. 69 (93). 171 Eisenberg, JGG, § 45 Rnr. 9. 172 Andererseits wäre der Anwendungsbereich für nicht geständige Jugendliche auf Vergehen begrenzt, während bei Vorliegen der Voraussetzungen des § 45 Abs. 3 JGG eine Einstellung grundsätzlich auch bei Verbrechen möglich ist. 169

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B. Grundlagen

knüpfen, da hierdurch angesichts des drohenden Strafverfahrens die Selbstbelastungsfreiheit des Beschuldigten eingeschränkt werden könnte; allerdings ist die Verbindung mit einer negativen Rechtsfolge, nämlich der Eintragung in das Erziehungsregister, sicherlich aus verfahrenstechnischen wie erzieherischen Gründen wenig sinnvoll. Zudem würde die nach § 45 Abs. 3 JGG vorgesehene – und vom Gesetzgeber offenbar als erzieherisch bedeutsam beurteilte – verstärkte Einbindung des Gerichts umgangen, da zu der Entscheidung nach § 153a StPO nur die Zustimmung des Gerichts erforderlich ist, es jedoch nicht selbst die Auflagen bzw. Weisungen erteilt. Damit ist auch aus teleologischer Sicht eine parallele Anwendung des § 153a Abs. 1 StPO neben § 45 Abs. 3 JGG nicht begründbar. Folglich stellt sich nicht die Frage, ob von zwei möglichen Auslegungen eine verfassungswidrig ist und daher der zweiten – verfassungsgemäßen – Auslegung zu folgen ist, sondern ob die Vorschrift des § 45 Abs. 3 JGG unter Zugrundelegung der einzig möglichen Auslegung verfassungsrechtlich unbedenklich ist. (a) Verfahrenseinstellungen gemäß § 153a Abs. 1 StPO einerseits und § 45 Abs. 3 JGG andererseits sind vergleichbare Verfahrenslagen, da es sich jeweils um Einstellungen des Verfahrens vor Anklageerhebung durch die Staatsanwaltschaft gegen Erteilung einer Reaktion handelt. Diese vergleichbaren Sachverhalte werden ungleich behandelt, indem bei Anwendung materiellen Jugendstrafrechts ein Geständnis des Beschuldigten erforderlich ist, bei Anwendung allgemeinen Strafrechts hingegen nicht. (b) Die Ungleichbehandlung müsste sachlich gerechtfertigt sein. Vielfach wird davon ausgegangen, ein glaubhaftes Geständnis des Beschuldigten könne den Tatnachweis ersetzen und damit die Grundlage für die Auferlegung einer Pflicht ohne Verurteilung bilden.173 Dies ist jedoch keine spezifisch jugendstrafrechtliche Argumentation, sondern müsste in gleichem Maße für Erwachsene gelten und vermag daher die Ungleichbehandlung nicht zu rechtfertigen. Darüber hinaus lässt diese Sichtweise unberücksichtigt, dass Geständnisse im Strafprozess besonders fehleranfällig und daher als Ersatz für den Tatnachweis ungeeignet sind. Dies gilt für Jugendliche und Heranwachsende aufgrund ihrer eingeschränkten Überführungsresistenz sogar in höherem Maße.174 Teilweise wird in diesem Zusammenhang betont, dass jugendstrafrechtliche Vorschriften vorrangig erzieherischen Zwecken dienen, insbesondere dem 173 Burscheidt, Das Verbot der Schlechterstellung Jugendlicher und Heranwachsender gegenüber Erwachsenen in vergleichbarer Verfahrenslage, S. 79; BT-Drucksache 1/ 4437, S. 8. 174 So auch Eisenberg, NJW 2000, S. 2726; allgemein zur Fehleranfälligkeit von Geständnissen siehe Eisenberg, JGG, § 45 Rnr. 24 ff. m. w. N.; ders., NStZ 1999, S. 281 (282); Nix-Rzepka, JGG, § 45 Rnr. 28, 40; bereits Bohnert, NJW 1980, S. 1927 (1929); Walter, ZStW 95 (1983), S. 32 (58 f.); Blau, Jura 1987, S. 25 (32).

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Zweck, gegenüber jungen Menschen schädliche Wirkungen förmlicher Strafverfahren und Verurteilungen zu vermeiden, wohingegen die Einstellungsvorschriften des allgemeinen Strafverfahrens in erster Linie der Beschleunigung des Verfahrens und der Entlastung der Justiz dienen.175 Stelle man auf diese Unterscheidung in der Zielsetzung ab, so könne das Geständniserfordernis des § 45 Abs. 3 JGG erziehungspsychologisch zumindest insofern sinnvoll sein, als ein glaubhaftes Geständnis den Jugendlichen für ein Erziehungsverfahren öffnen und bei ihm die Bereitschaft wecken könne, aktiv an den Maßnahmen mitzuarbeiten.176 Zudem werde die Auswahl geeigneter erzieherischer Maßnahmen durch ein glaubhaftes Geständnis erleichtert, da es der Staatsanwaltschaft ermögliche, ein umfassenderes Bild von der mutmaßlichen Tat und damit auch der Persönlichkeit des Beschuldigten zu gewinnen.177 Dieser Argumentation ist jedoch entgegen zu halten, dass die genannte Fehleranfälligkeit von Geständnissen insbesondere junger Menschen auch deren Nutzen in pädagogischer Hinsicht in Frage stellt. So vermag etwa ein in einer psychischen Drucksituation abgelegtes falsches Geständnis kaum eine geeignete Grundlage für erzieherisch sinnvolle Reaktionen zu bilden. Zudem ließe sich die aus pädagogischer Sicht erwünschte Mitwirkung des Jugendlichen bei der Durchführung von Maßnahmen möglicherweise über das – nach hier vertretener Ansicht ohnehin erforderliche – Zustimmungserfordernis178 erzielen. Zwar droht die Gefahr, dass die angestrebte Freiwilligkeit durch die Drucksituation des schwebenden Strafverfahrens eingeschränkt wird. Andererseits werden durch das Erfordernis der Zustimmung zu der Maßnahme jedenfalls die Subjektstellung des Jugendlichen und seiner Sorgeberechtigten im Verfahren und damit deren Bereitschaft zur Mitwirkung an der Maßnahme gestärkt. Daher beruht die Ungleichbehandlung Jugendlicher und Heranwachsender gegenüber Erwachsenen im Hinblick auf das Erfordernis eines Geständnisses nicht auf sachgerechten, altersspezifischen Erwägungen.179

175 Heinz, DVJJ-Journal 1998, S. 245 (249) sowie DVJJ-Journal 1999, S. 11; Herrmann, ZStW 96 (1984), S. 455 (469, 478); Meyer-Goßner, StPO, § 153a Rnr. 2 für das allgemeine Strafverfahrensrecht. 176 Burscheidt, Das Verbot der Schlechterstellung Jugendlicher und Heranwachsender gegenüber Erwachsenen in vergleichbarer Verfahrenslage, S. 78; Meier/Rössner/ Schöch-Meier, Jugendstrafrecht, § 7 Rnr. 25; einschränkend Eisenberg, JGG, § 45 Rnr. 24. 177 Burscheidt, Das Verbot der Schlechterstellung Jugendlicher und Heranwachsender gegenüber Erwachsenen in vergleichbarer Verfahrenslage, S. 78. 178 Siehe zur – umstrittenen – Notwendigkeit einer Zustimmung des Jugendlichen zu einer Einstellung nach § 45 Abs. 3 JGG bereits oben unter B. II. 1. c). 179 A. A. Burscheidt, Das Verbot der Schlechterstellung Jugendlicher und Heranwachsender gegenüber Erwachsenen in vergleichbarer Verfahrenslage, S. 78.

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B. Grundlagen

(4) Ergebnis Folglich steht die Vorschrift des § 45 Abs. 3 JGG nicht mit dem Grundgesetz in Einklang, da die durch sie bewirkte Ungleichbehandlung von Jugendlichen (und Heranwachsenden bei Anwendung materiellen Jugendstrafrechts) gegenüber Erwachsenen nicht erforderlich und damit unverhältnismäßig ist. Die Nichtanwendung dieser Vorschrift lässt sich jedoch nicht über ein Ausweichen auf die Regelungen des allgemeinen Strafverfahrensrechtes erreichen; vielmehr ist es Aufgabe des Gesetzgebers, die Ungleichbehandlung durch Streichung des Geständniserfordernisses zu beseitigen. bb) § 153a Abs. 2 StPO Auch hinsichtlich des Verhältnisses von § 153a Abs. 2 StPO zu § 47 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 i. V. m. § 45 Abs. 3 Satz 1 JGG wird vertreten, dass das Jugendgericht zur Vermeidung einer Schlechterstellung Jugendlicher und Heranwachsender gegenüber Erwachsenen in vergleichbarer Verfahrenslage gemäß der allgemeinen Vorschrift des § 153a Abs. 2 StPO von der Verfolgung absehen solle, wenn ein Geständnis des Beschuldigten gemäß § 47 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 i. V. m. § 45 Abs. 3 Satz 1 JGG nicht vorliegt.180 Aus den bereits ausgeführten Gründen ist das Geständniserfordernis zwar verfassungsrechtlich zu beanstanden; dennoch darf es durch Anwendung der allgemeinen Vorschriften nicht umgangen werden. c) § 153b StPO Überwiegend wird – wenn auch mit unterschiedlichen Begründungen – davon ausgegangen, dass § 153b StPO, der eine Verfahrenseinstellung ermöglicht, wenn die Voraussetzungen für das Absehen von Strafe vorliegen, auch im Jugendstrafrecht Anwendung findet.181 Da aber die Vorschriften der §§ 45, 47 JGG ausreichend Möglichkeiten zur Verfahrenseinstellung bieten, ist ein Rückgriff auf die allgemeine Vorschrift des § 153b StPO in der Praxis selten erforderlich.182

180 Eisenberg, JGG, § 47 Rnr. 9, § 45 Rnr. 12; Ostendorf, JGG, § 47 Rnr. 7; Meyer-Goßner, StPO, § 153a Rnr. 4; a. A. Diemer/Schoreit/Sonnen-Diemer, JGG, § 47 Rnr. 5. 181 Brunner/Dölling, JGG, § 45 Rnr. 3, § 47 Rnr. 4; Diemer/Schoreit/Sonnen-Diemer, JGG, § 45 Rnr. 9a; Eisenberg, JGG, § 45 Rnr. 13; Nix-Rzepka, JGG, § 45 Rnr. 60; Meier/Rössner/Schöch-Meier, Jugendstrafrecht, § 7 Rnr. 33. 182 Vgl. etwa Meyer-Goßner, StPO, § 153b Rnr. 5.

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d) §§ 153c bis f, 154b StPO Die Regelungen der §§ 153c bis f StPO sowie § 154b StPO betreffen Einstellungsmöglichkeiten bei besonderen Verfahrenssituationen (etwa Auslandsbezug oder politische Auswirkungen eines Strafverfahrens) und sind insoweit spezieller als die Vorschriften des JGG, so dass letztere zurücktreten.183 e) § 154 und § 154a StPO Entsprechendes gilt für §§ 154, 154a StPO.184 Zweck dieser Vorschriften ist die – regelmäßig auch im Sinne erzieherischer Wirksamkeit von Reaktionen anzustrebende – Vereinfachung und Beschleunigung von Strafverfahren. f) §§ 154c bis e StPO Schließlich beziehen sich auch die §§ 154c bis e auf spezielle Umstände der mutmaßlichen Straftat bzw. des Verfahrens, so dass die jugendstrafrechtlichen Vorschriften wiederum hinter ihnen zurücktreten.185 4. Betäubungsmittelrechtliche Vorschriften Auch das Betäubungsmittelgesetz enthält Vorschriften, nach denen ein Strafverfahren eingestellt werden kann. a) § 31a BtMG Parallel zu § 153 StPO regelt § 31a BtMG die Möglichkeit einer Verfahrenseinstellung wegen Geringfügigkeit des Gesetzesverstoßes speziell für den Bereich des Betäubungsmittelstrafrechts. Neben der geringen Schuld des (mutmaßlichen) Täters und dem Nichtvorliegen des öffentlichen Interesses an der Strafverfolgung muss (der Verdacht auf) eine der genannten Handlungsalternativen zum Eigenverbrauch gegeben sein.

183 Vgl. etwa Eisenberg, JGG, § 45 Rnr. 14, § 47 Rnr. 9; Brunner/Dölling, JGG, § 45 Rnr. 3, § 47 Rnr. 4; Diemer/Schoreit/Sonnen-Diemer, JGG, § 45 Rnr. 9a, § 47 Rnr. 5; Nix-Rzepka, JGG, § 45 Rnr. 61, § 47 Rnr. 33. 184 Eisenberg, JGG, § 45 Rnr. 15, § 47 Rnr. 9; Brunner/Dölling, JGG, § 45 Rnr. 3, § 47 Rnr. 4; Diemer/Schoreit/Sonnen-Diemer, JGG, § 45 Rnr. 9a, § 47 Rnr. 5; NixRzepka, JGG, § 45 Rnr. 61; § 47 Rnr. 33; Meier/Rössner/Schöch-Meier, Jugendstrafrecht, § 7 Rnr. 33; a. A. Bohnert, NJW 1980, S. 1927 (1930). 185 Diemer/Schoreit/Sonnen-Diemer, JGG, § 45 Rnr. 9a; Nix-Rzepka, JGG, § 45 Rnr. 61; § 47 Rnr. 33.

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B. Grundlagen

Nach ganz herrschender Ansicht ist diese Vorschrift auch im Jugendstrafrecht neben §§ 45, 47 JGG anwendbar. Obwohl die Anwendbarkeit des § 31a BtMG im Jugendstrafrecht anders als die des § 37 BtMG nicht ausdrücklich angeordnet ist, wird davon ausgegangen, dass für erstere nichts anderes gelten könne als für letztere.186 Andere Autoren begründen die Anwendbarkeit des § 31a BtMG damit, dass eine Einstellung nach dieser Regelung nicht in das Erziehungsregister (§ 60 BZRG) eingetragen wird und ihre Berücksichtigung daher zur Vermeidung von Benachteiligungen Jugendlicher gegenüber Erwachsenen angezeigt sei.187 b) § 38 Abs. 2 i. V. m. § 37 BtMG Gemäß § 38 Abs. 2 i. V. m. § 37 BtMG kann die Staatsanwaltschaft mit richterlicher Zustimmung (§ 37 Abs. 1 BtMG) bzw. das Gericht (§ 37 Abs. 2 BtMG) unter bestimmten Voraussetzungen von der Verfolgung absehen, wenn die beschuldigte Person nachweist, dass sie sich wegen der Drogenabhängigkeit einer Behandlung unterzieht. Indem § 38 Abs. 2 BtMG für Jugendliche und Heranwachsende auf § 37 BtMG verweist, ist klargestellt, dass § 38 Abs. 2 BtMG auch neben §§ 45, 47 JGG anwendbar ist.188 Nach einer Ansicht wird daher davon ausgegangen, dass die betäubungsmittelrechtlichen Regelungen spezieller sind und damit den jugendstrafrechtlichen vorgehen. Versagt der Richter die Zustimmung zu einer vorläufigen Einstellung nach dem BtMG, so soll die Staatsanwaltschaft dieses Veto nicht durch Anwendung des § 45 Abs. 2 JGG umgehen können.189 Nach anderer Auffassung ist die Anwendung der §§ 45, 47 JGG bei Vorliegen der Voraussetzungen des § 38 Abs. 2 i. V. m. § 37 BtMG nicht generell ausgeschlossen. Vielmehr könne eine bereits teilweise durchgeführte oder zumindest eingeleitete Behandlung der Betäubungsmittelabhängigkeit auch als „erzieherische Maßnahme“ im Sinne des § 45 Abs. 2 JGG die weitere Strafverfolgung entbehrlich machen.190 Tatsächlich aber dürfte sich eine Konkurrenz der Einstellungsmöglichkeiten nach § 38 Abs. 2 i. V. m. § 37 BtMG einerseits und §§ 45, 47 JGG andererseits kaum ergeben,191 da sich die Anwendungsbereiche hinsichtlich der Delikts186 Körner, BtMG, § 31a Rnr. 30; Brunner/Dölling, JGG, § 45 Rnr. 4; Meier/Rössner/Schöch-Meier, Jugendstrafrecht, § 7 Rnr. 33. 187 Eisenberg, JGG, § 45 Rnr. 10, 10b. 188 Siehe aber zu Bedenken wegen fehlender jugendspezifischer Ausgestaltung, Eisenberg, JGG, § 45 Rnr. 29a, sowie der geringen praktischen Bedeutung, van den Woldenberg, Diversion im Spannungsfeld zwischen „Betreuungsjustiz“ und Rechtsstaatlichkeit, S. 45. 189 Brunner/Dölling, JGG, § 45 Rnr. 48 f.; Ostendorf, JGG, § 45 Rnr. 8. 190 Nix-Rzepka, JGG, § 45 Rnr. 63.

III. Diversionsrichtlinien

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schwere unterscheiden, denn §§ 37, 38 BtMG sind auch dann noch anwendbar, wenn mit Jugendstrafe bis zu zwei Jahren zu rechnen ist. Auch bei (mutmaßlichen) Betäubungsmittelstraftaten kann § 45 JGG anzuwenden sein, wenn in Fällen geringer Schuld ein Vorgehen nach den betäubungsmittelrechtlichen Vorschriften schon wegen der zu erwartenden Rechtsfolge unangebracht wäre und die nach § 45 JGG vorgesehenen Rechtsfolgen ausreichend erscheinen. Dies ergibt sich aus dem Gebot verhältnismäßiger Reaktion auf Jugendkriminalität. 192

III. Diversionsrichtlinien 1. Regelungsbedarf Die in §§ 45, 47 JGG enthaltenen Regelungen sind insofern abstrakt gefasst, als sie keine Vorgaben enthalten, in welchen Situationen, insbesondere bei welchen Delikten, bei welchen strafrechtlichen Vorbelastungen und – im Hinblick auf Eigentums- und Vermögensdelikte – bis zu welchen Schadenshöhen sie Anwendung finden können. Zudem setzen § 45 Abs. 2 und 3 JGG Einschätzungen der Staatsanwaltschaft voraus (Beteiligung des Jugendrichters und Anklageerhebung nicht erforderlich bzw. Anklageerhebung nicht geboten), die einen Beurteilungsspielraum begründen.193 Über die Unbestimmtheiten auf der Tatbestandsseite hinaus fragt es sich, ob auf der Rechtsfolgenseite den Rechtsanwendern Ermessenspielräume gewährt werden. Während § 45 Abs. 2 und 3 JGG eindeutig als zwingende Vorschriften ausgestaltet sind,194 legt der Wortlaut der § 45 Abs. 1 JGG i. V. m. § 153 StPO sowie § 47 Abs. 1 JGG nahe, dass es sich um Ermessensentscheidungen handelt („kann“). Jedoch kann allein aus dieser Formulierung noch nicht geschlossen werden, dass die Entscheidung in pflichtgemäßem Ermessen der jeweiligen Entscheidungsinstanz stehe. Hinsichtlich der vergleichbaren Formulierungen in §§ 153, 153a StPO wird zwar von der Judikatur teilweise von einem Ermessensspielraum ausgegangen;195 auch der Gesetzgeber bezeichnet in §§ 467 Abs. 4, 472 Abs. 2 Satz 1 StPO die Anwendung der §§ 153 ff. StPO als im Ermessen des Gerichts stehend. Im Schrifttum jedoch wird vielfach angenommen, die unbestimmten Rechtsbegriffe „geringe Schuld“ und „Nichtbestehen ei191 Brunner/Dölling, JGG, § 45 Rnr. 48; ähnlich van den Woldenberg, Diversion im Spannungsfeld zwischen „Betreuungsjustiz“ und Rechtsstaatlichkeit, S. 44 f. 192 So auch Nix-Rzepka, JGG, § 45 Rnr. 63. 193 Zu § 45 Abs. 3 JGG Nix-Rzepka, JGG, § 45 Rnr. 31: „Ermessen“; vgl. BTDrucksache 11/5829, S. 24. 194 BT-Drucksache 11/5829, S. 24; Nix-Rzepka, JGG, § 45 Rnr. 3; Meier/Rössner/ Schöch-Meier, Jugendstrafrecht, § 7 Rnr. 20; Heinz, in: BMJ (Hrsg.), Diversion im Jugendstrafverfahren der Bundesrepublik Deutschland, S. 97 zu § 45 Abs. 2 JGG. 195 Vgl. BGHSt 27, 275; BGH NJW 1978, 2033.

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B. Grundlagen

nes öffentlichen Interesses an der Strafverfolgung“ enthielten bereits alle bei der Einstellungsentscheidung anzustellenden Überlegungen, so dass ein Entscheidungsspielraum nach Bejahung dieser Merkmale ausgeschlossen sei.196 Selbst wenn man für das allgemeine Strafverfahrensrecht zu dem Ergebnis gelangt, die Einstellungsvorschriften stünden im Ermessen der Entscheidungsinstanz, so ist dies nicht ohne Weiteres auf den Bereich des Jugendstrafrechts übertragbar. Legt man zu Grunde, dass die Einstellungsregelungen des allgemeinen Strafverfahrensrechts primär die Entlastung der Justiz bezwecken, so erscheint es vertretbar, auch dieser die Entscheidung zu überlassen, in welchen Fällen eine solche Entlastung angezeigt ist. Demgegenüber sind die Vorschriften der §§ 45, 47 JGG in erster Linie auf eine erzieherische Zielsetzung ausgerichtet. Geht es um geringfügige Delikte, so ist aus Verhältnismäßigkeits- und Gleichheitsgründen wohl eine Ermessensreduzierung auf Null anzunehmen.197 Die zumindest auf der Tatbestandsseite offene und Raum für Interpretationen gewährende Fassung der §§ 45, 47 JGG mag zwar die Möglichkeit bieten, jugendspezifische und an individuellen erzieherischen Belangen und der konkreten Situation ausgerichtete Entscheidungen zu treffen, begründet jedoch zugleich die Gefahr von Unsicherheiten und Ungleichheiten in der Rechtsanwendung.198 Daher haben alle Bundesländer mit Ausnahme Bayerns und nach Fristablauf der bisher geltenden Erlasse nunmehr auch Hessens199 Diversions196

Löwe/Rosenberg-Beulke, § 153 Rnr. 38 m. w. N. Nix-Rzepka, JGG, § 45 Rnr. 15. 198 So auch Nix-Rzepka, JGG, § 45 Rnr. 3. Allerdings bestehen Bedenken, dass die unterschiedlich ausgestalteten Richtlinien die Ungleichheiten zwischen den Bundesländern festschreiben, siehe bereits Heinz, in: BMJ (Hrsg.), Diversion im Jugendstrafverfahren der Bundesrepublik Deutschland, S. 91. 199 Baden-Württemberg: Die Justiz 1998, S. 20 (wird überarbeitet); Berlin: Gemeinsame Anordnung der Senatsverwaltungen für Justiz, für Inneres und für Schule, Jugend und Sport zur vermehrten Anwendung des § 45 JGG im Verfahren gegen Jugendliche und Heranwachsende (Diversionsrichtlinie) vom 22.3.1999, ABl. Berlin 1999, S. 1891 = DVJJ-Journal 1999, S. 207; Brandenburg: Einstellung von Jugendstrafverfahren nach §§ 45, 47 JGG (Diversion). Gemeinsamer Runderlass des Ministeriums der Justiz und für Europaangelegenheiten, des Ministeriums des Innern und des Ministeriums für Bildung, Jugend und Sport vom 22.12.2000, JMBl. Brandenburg 2001, S. 23 (= DVJJ-Journal 2001, S. 183), geändert durch Gemeinsamen Runderlass vom 6.2.2003, JMBl. 2003, S. 30; Bremen: Amtsblatt der Freien Hansestadt Bremen 1989, S. 99; Hamburg: Rundverfügung der Ltd. Generalstaatsanwältin vom 2.1.2001 betr. die „Bearbeitung von Verfahren im Rahmen von § 45 JGG (Diversion)“ vom 2.1.2001 (421.31); Hessen: Bisherige Erlasse: Diversion im Jugendstrafverfahren bei den Staatsanwaltschaften in Hessen. Gemeinsamer Runderlass des Hessischen Ministeriums der Justiz, des Hessischen Ministeriums des Innern und des Hessischen Sozialministeriums vom 22.12.1989 (unveröffentlicht), Unterrichtung der Leiter der Staatsanwaltschaften über die Sichtweise des Hessischen Justizministeriums (Förderung der Diversion im Jugendstrafverfahren) (unveröffentlichter Erlass vom 2.2.1993); beide Erlasse sind nicht mehr in Kraft; eine Neuauflage ist nach Auskunft des Hessischen Justizministeriums vom 17.7.2003 vorerst nicht geplant; Mecklenburg-Vorpommern: Amtsblatt Mecklenburg-Vorpommern 1993, S. 780 (wird zur Zeit überarbeitet); Nie197

III. Diversionsrichtlinien

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richtlinien oder vergleichbare Verwaltungsvorschriften erlassen, welche die Anwendung der Diversionsvorschriften des JGG genauer ausgestalten.200 Sie enthalten gemäß den rechtspolitischen Vorgaben der jeweiligen Landesregierung die Voraussetzungen, nach denen – den Abstufungen der verschiedenen Absätze von §§ 45, 47 JGG folgend – das Absehen von der Verfolgung angezeigt sein soll. 2. Rechtsnatur Diversionsrichtlinien sind Verwaltungsvorschriften der Landesjustizverwaltungen bzw. der ersten Beamten der Staatsanwaltschaft bei den Oberlandesgerichten oder Landgerichten, in denen diese gemäß ihrer Weisungskompetenz als vorgesetzte Instanzen (vgl. §§ 146, 147 Nr. 2, 3 GVG) die Einstellungspraxis der Staatsanwaltschaften regeln.201 Unter Verwaltungsvorschriften sind generellabstrakte Anordnungen zu verstehen, welche die innere Ordnung der nachgeordneten Behörde oder das sachliche Verwaltungshandeln der Behörde betreffen und von den angesprochenen Organwaltern kraft ihrer dienstrechtlichen „Gehorsamspflicht“ zu beachten und anzuwenden sind.202 Da Verwaltungsvorschriften grundsätzlich nur innerhalb eines Verwaltungsträgers verbindlich sind, werden Diversionsrichtlinien gemeinsam mit den Landesinnenverwaltungen bzw. dersachsen: NdsRpfl. 1998, S. 236; Nordrhein-Westfalen, JMBl. NW 1992, S. 451 (wird überarbeitet); Rheinland-Pfalz: Diversionsstrategie für die Praxis des Jugendstaatsanwalts nach § 45 JGG. Gemeinsames Rundschreiben des Ministeriums der Justiz, des Ministeriums des Innern und für Sport und des Ministeriums für Soziales und Familie vom 31.7.1987, zuletzt geändert durch Gemeinsames Rundschreiben vom 1.4.1993, Justizblatt Rheinland-Pfalz 1993, S. 105; Saarland: Richtlinie für Diversionsverfahren im Saarland. Gemeinsamer Erlass des MdJ, MdI und MFAGS vom 3.1.1992 (Amtsbl. S. 62), zuletzt geändert durch Gem. Erlass vom 18.6.1996 (GMBl. S. 220) (4213–4); Sachsen: Gemeinsame Verwaltungsvorschrift der Sächsischen Staatsministerien der Justiz, des Innern, für Soziales, Gesundheit und Familie sowie für Kultus zur Förderung der Diversion bei jugendlichen und heranwachsenden Beschuldigten (VwV Diversion) vom 27.8.1999, JMBl. 1999, S. 158 = DVJJ-Journal 1999, S. 432, zuletzt geändert durch Gemeinsame Verwaltungsvorschrift vom 29.9.2001, JMBl. 2001, S. 136; Sachsen-Anhalt: Richtlinien und Empfehlungen für die Bearbeitung von Jugendstrafsachen gemäß §§ 45, 47 des JGG (Diversionsrichtlinien) vom 13.12.2002, JMBl. 2002, S. 345; Schleswig-Holstein: Gemeinsamer Erlass des Ministeriums für Justiz, Bundes- und Europaangelegenheiten, des Innenministeriums, des Ministeriums für Frauen, Jugend, Wohnungs- und Städtebau vom 24.6.1998, Amtsblatt für Sch.-H. 1998, S. 389 = DVJJ-Journal 1998, S. 260; Thüringen: Verwaltungsvorschrift „Einstellung von Jugendstrafverfahren nach den §§ 45, 47 JGG (Diversion)“, Thüringer Staatsanzeiger 1996, S. 1133. 200 Einen Überblick über die Inhalte der einzelnen Verwaltungsvorschriften der Länder gibt Heinz, DVJJ-Journal 1999, S. 131 (132). 201 Die Bezeichnungen variieren allerdings von Land zu Land („Rundschreiben“, „Erlass“, „Verwaltungsvorschrift“, „Runderlass“, etc.). Siehe auch Heinz, DVJJ-Journal 1999, S. 131. 202 Anstelle vieler Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 24 Rnr. 1 ff., 15 ff.

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anderen vorgesetzten Instanzen erlassen, soweit auch die Tätigkeit der Polizei oder anderer Behörden von den Regelungen betroffen ist. Als verwaltungsinterne Regelungen begründen Verwaltungsvorschriften grundsätzlich für Bürgerinnen und Bürger weder Rechte noch Pflichten.203 Auch sind sie für die Entscheidung von Rechtsstreitigkeiten durch die Gerichte rechtlich unerheblich.204 Verwaltungsvorschriften können die innere Organisation und den Dienstbetrieb einer Behörde betreffen (Organisations- oder Dienstvorschrift), die Auslegung und Anwendung von Rechtsnormen näher bestimmen (norminterpretierende Verwaltungsvorschriften), einen der Verwaltung gewährten Beurteilungs(normkonkretisierende Verwaltungsvorschriften) oder Ermessensspielraum (ermessenslenkende Verwaltungsvorschriften) ausgestalten oder aber in bestimmten normbedürftigen Bereichen gesetzliche Regelungen ersetzen (gesetzesvertretende Verwaltungsvorschriften).205 Verwaltungsvorschriften zur Handhabung von Diversionsbestimmungen enthalten regelmäßig sowohl Regelungen zu Organisation und Verfahrensablauf als auch norminterpretierende Elemente. Neben diesen Verwaltungsvorschriften speziell zum Verfahren bei Diversion haben die Justizminister der Bundesländer die bundeseinheitlichen Richtlinien zum Jugendgerichtsgesetz erlassen, die ebenfalls Regelungen zu §§ 45, 47 JGG enthalten.206 Wie einzelne Diversionsrichtlinien ausdrücklich klarstellen, bleiben die bundeseinheitlichen Richtlinien neben den Verwaltungsvorschriften zur Diversion anwendbar.207 Speziell für Berlin gilt, dass die Diversionsrichtlinie von den drei Senatverwaltungen Justiz, Inneres und Schule/Jugend/Sport erlassen wurde und sich in erster Linie an Polizei und Staatsanwaltschaft, teilweise jedoch auch an die Jugendgerichtshilfe richtet. Die Verwaltungsvorschrift ist zweigeteilt: Die eigentliche Anordnung enthält allgemeine Grundsätze, Konkretisierungen zu den tatbestandlichen Voraussetzungen der einzelnen Diversionsentscheidungen sowie 203 Zur Frage, in welchen Konstellationen dennoch eine Außenwirkung anzunehmen ist, Leisner, JZ 2002, S. 219 ff. m. w. N. 204 Heinz, DVJJ-Journal 1999, S. 131; Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 24, Rnr. 17. 205 Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 24, Rnr. 8 ff. 206 In der Einführung zu den Richtlinien wird klargestellt, dass sie „sich vornehmlich an die Staatsanwaltschaft (wenden) und (. . .) für den Regelfall Anleitungen und Orientierungshilfen (geben), von denen wegen der Besonderheit des Einzelfalls abgewichen werden kann. Sie enthalten aber auch Hinweise und Empfehlungen an das Gericht. Soweit diese Hinweise nicht die Art der Ausführung eines Amtsgeschäftes betreffen, bleibt es dem Gericht überlassen, sie zu berücksichtigen. Auch im Übrigen enthalten die Richtlinien Grundsätze, die für das Gericht von Bedeutung sein können.“ 207 Z. B. Diversionsrichtlinien Sachsen-Anhalts, JMBl. 2002, 346, Brandenburgs, JMBl. 2001, 23 = DVJJ-Journal 2001, 183, und Sachsens, JMBl. 1999, 158 = DVJJJournal 1999, 432. Demgegenüber gehen gemäß der Rundverfügung Hamburgs die in ihr enthaltenen Grundsätze im Zweifel den bundeseinheitlichen Richtlinien zum JGG vor.

III. Diversionsrichtlinien

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Verfahrensgrundsätze. In der „Empfehlung für die Umsetzung und praktische Handhabung der Diversionsrichtlinie“ sind sodann die praktischen Verfahrensabläufe weiter ausgestaltet. Die Bezeichnung „Diversionsrichtlinie“ ist insofern ungenau, als nur ein Teil der oben dargestellten, im bundesdeutschen Jugendstrafrecht enthaltenen Diversionsmöglichkeiten ausgestaltet ist. So wird weder auf die Regelungen des Betäubungsmittelgesetzes noch die des allgemeinen Strafrechts eingegangen. Zudem beziehen sich die Regelungen der Diversionsrichtlinie ihrer Rechtsnatur gemäß lediglich auf die Tätigkeiten behördlicher Institutionen (Polizei, Staatsanwaltschaft, Jugendgerichtshilfe), nicht jedoch die Diversionsentscheidungen von Gerichten. 3. Neuere Tendenzen in anderen Bundesländern a) Polizeidiversion In den vergangenen Jahren ist – unbeschadet unterschiedlicher Ausgestaltungen – bundesweit eine Tendenz hin zur verstärkten Einbeziehung der Institution Polizei in die Diversionstätigkeit zu verzeichnen,208 die sich auch in den Diversionsrichtlinien der jeweiligen Bundesländer niedergeschlagen hat. Diese Entwicklung wird verschiedentlich mit dem Schlagwort „Polizeidiversion“ beschrieben.209 Als ihre Vorzüge werden insbesondere die Beschleunigung der Diversionsentscheidung einschließlich zeitnaher erzieherischer Reaktionen und die Verringerung stigmatisierender Effekte durch Reduzierung des Kontakts zwischen Beschuldigtem und Strafverfolgungsbehörden auf eine Institution angesehen. Darüber hinaus könne die der verantwortlichen Vernehmung bei der Polizei eigene spezialpräventive Wirkung210 in größerem Maße genutzt werden.211 Den bestehenden gesetzlichen Regelungen nach sind der Polizei keine Diversionsmöglichkeiten eröffnet, da ihre Tätigkeit ausnahmslos durch das Legalitätsprinzip (§§ 152 Abs. 2, 160, 170 Abs. 1 StPO) bestimmt wird und sie deshalb jedes einmal begonnene Verfahren nach Abschluss der Ermittlungen an die Staatsanwaltschaft weiterleiten muss. Die Einstellung von Strafverfahren bzw. die Schaffung der jeweiligen Voraussetzungen hierfür ist gemäß den strafprozes208 Siehe zu dieser Entwicklung Beulke, in: DVJJ (Hrsg.), Jugend, Gesellschaft und Recht im neuen Jahrtausend, S. 311 (318 ff.). 209 Siehe zum Begriff Heinz, in: BMJ (Hrsg.), Diversion im Jugendstrafverfahren der Bundesrepublik Deutschland, S. 10; Schaffstein/Beulke, Jugendstrafrecht, § 36 I.; Beulke, in: DVJJ (Hrsg.), Jugend, Gesellschaft und Recht, S. 311 (317 ff.); Zieger, Verteidigung in Jugendstrafsachen, Rnr. 153; Walter, ZStW 95 (1983), S. 32 (35); Blau, Jura 1987, S. 25 (28 f.). 210 Siehe etwa Heinz, DVJJ-Journal 1999, 1, 17 m. w. N. auch zu empirischen Anhaltspunkten; Rautenberg, ZfJ 1984, S. 507 (508). 211 Beulke, in: DVJJ (Hrsg.), Jugend, Gesellschaft und Recht im neuen Jahrtausend, S. 311 (317 ff.).

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B. Grundlagen

sualen Vorschriften der StPO wie des JGG dem Gericht bzw. der Staatsanwaltschaft vorbehalten.212 Die zur Zeit in den Bundesländern praktizierten Diversionsmodelle basieren daher auf dem Bemühen, die Vorteile einer verstärkten Einbindung der Polizei zu nutzen, ohne die gesetzlichen Bestimmungen zu verletzen. Dennoch werden diesen Modellen verschiedene Einwände entgegengebracht, wie etwa der Verstoß gegen den Grundsatz der Gewaltenteilung, die Missachtung der Unschuldsvermutung und die Einschränkung von Verteidigungsrechten.213 Die Einführung einer originären polizeilichen Diversionstätigkeit de lege ferenda wird von der herrschenden Meinung abgelehnt.214 Als Ausgangspunkt der genannten Entwicklung kann das sog. Bielefelder Informationsmodell angesehen werden.215 Ihm zufolge ist die Polizei angehalten, solche Informationen, die für die spätere Diversionsentscheidung der Staatsanwaltschaft von Bedeutung sein können, zu ermitteln und niederzulegen.216 Zusätzlich wurde das Vorschlagsrecht der Polizei hinsichtlich der adäquaten Diversionsentscheidung eingeführt. Die Durchführung oder Vermittlung von erzieherischen Maßnahmen durch die Polizei selbst hingegen ist nach diesem Modell nicht vorgesehen. Diese Verbesserung der Informationslage betreffend diversionsrelevante Tatsachen hat mittlerweile in der überwiegenden Zahl der Bundesländer in Diversionsrichtlinien Eingang gefunden.217 In Niedersachsen wurde die Einbindung der Polizei weitergehend vollzogen:218 Nach der „Niedersächsischen Leitlinie zur polizeilichen Bearbeitung von Jugendsachen“219, welche die Vorgaben der niedersächsischen Diversionsrichtlinie220 konkreter ausgestaltet, obliegt es der Polizei, sog. „erzieherische Gespräche“ durchzuführen. Dabei werden diese nicht selbst als erzieherische 212 Allerdings wird teilweise auf die vor Einleitung eines Ermittlungsverfahrens bestehenden faktischen Freiräume der Polizei für Ermessensentscheidungen hingewiesen, siehe etwa bereits Herrmann, ZStW 96 (1984), S. 455 (465 ff.): „eine Form der einfachen Diversion durch Nichteinleitung eines Strafverfahrens“; Blau/Franke, ZStW 96 (1984), S. 485 (494). 213 Zieger, Verteidigung in Jugendstrafsachen, Rnr. 153; Ostendorf, Jugendsachbearbeitung der Polizei unter besonderer Berücksichtigung der kriminalpolitischen Entwicklungen, DVJJ-Journal 1995, S. 103 (105). 214 Heinz, in: BMJ (Hrsg.), Diversion im Jugendstrafverfahren der Bundesrepublik Deutschland, S. 10 m. w. N.; Heinz, MschrKrim 1993, S. 355 (366, Anm. 81); Fasoula, Rückfall nach Diversionsentscheidungen im Jugendstrafrecht und im allgemeinen Strafrecht, S. 51, 69. 215 Siehe im Einzelnen Rzepka, in: P.-A. Albrecht (Hrsg.), Informalisierung des Rechts, S. 341 ff. 216 Ostendorf, JGG, § 45 Rnr. 16a. 217 Siehe Überblick bei Heinz, DVJJ-Journal 1999, S. 131 (138 f.). 218 Beulke, in: DVJJ (Hrsg.), Jugend, Gesellschaft und Recht im neuen Jahrtausend, S. 311 (319). 219 DVJJ-Journal, 1999, S. 208 ff. 220 NdsRpfl. 1998, 236.

III. Diversionsrichtlinien

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Maßnahmen im Sinne des § 45 Abs. 2 JGG beurteilt, sollen jedoch als Grundlage für eine spätere Diversionsentscheidung der Staatsanwaltschaft dienen. Weitere Maßnahmen darf die Polizei nicht ergreifen.221 Auch in Schleswig-Holstein wurde die Polizei zunehmend stärker einbezogen.222 Nach dem 1979 von der Staatsanwaltschaft Lübeck eingeführten „Lübecker Modell“ oblag die Durchführung „normverdeutlichender Gespräche“ noch der Staatsanwaltschaft. Diese entschied auf Grundlage des Gesprächs, ob das bisherige Verfahren als erzieherische Maßnahme ausreichte oder weitere Reaktionen erforderlich waren. Das „Lübecker Modell“ wurde durch das von der Staatsanwaltschaft Kiel in Zusammenarbeit mit der Polizei entwickelte „Kieler Modell“ abgelöst, das 1984 landesweit eingeführt wurde. Im Rahmen des „Kieler Modells“ wurden der Polizei selbständige Diversionsbefugnisse übertragen. So war vorgesehen, dass die Polizei ohne Rücksprache mit der Staatsanwaltschaft dem geständigen Jugendlichen, der erstmalig strafrechtlich in Erscheinung trat, eine Ermahnung erteilte, eine Entschuldigung, Wiedergutmachung oder Teilnahme am Verkehrsunterricht anregte und anschließend der Staatsanwaltschaft die Einstellung des Verfahrens vorschlug. Dieses Modell wiederum wurde im Jahr 1990 durch eine gemeinsame Richtlinie des Justizund des Innenministeriums abgelöst, welche die Befugnisse der Polizei einschränkte. Die Polizei sollte nunmehr lediglich bei der Staatsanwaltschaft auf Möglichkeiten zur Schaffung von Einstellungsvoraussetzungen hinweisen können. Seit Juli 1998 sind die noch immer gültigen Richtlinien in Kraft.223 Sie revidieren teilweise die mit der Richtlinie von 1990 verbundenen Einschnitte bei den Befugnissen der Polizei. Hiernach ist die Polizei „ermächtigt“, anlässlich der verantwortlichen Vernehmung mit dem jugendlichen oder heranwachsenden Beschuldigten ein „erzieherisches, normverdeutlichendes Gespräch“ zu führen und gegebenenfalls eine sofortige Entschuldigung oder eine sofortige Schadenswiedergutmachung beim (mutmaßlichen) Opfer anzuregen, um dadurch die Voraussetzungen für eine Einstellung nach § 45 Abs. 1 JGG zu schaffen.224 Hält die Polizei darüber hinaus die Durchführung erzieherischer Maßnahmen im Sinne des § 45 Abs. 2 JGG225 für angezeigt und zeigt sich der Beschuldigte damit einverstanden, so schlägt sie eine solche Maßnahme (aus 221

Siehe hierzu Heinz, DVJJ-Journal 1999, S. 131 (138 f.). Zur Entwicklung betr. Schleswig-Holstein siehe Ministerium für Justiz, Bundesund Europaangelegenheiten des Landes Schleswig-Holstein, DVJJ-Journal 2000, S. 78 ff. 223 Siehe hierzu Engel, DVJJ-Journal 1998, S. 257; Beulke, in: DVJJ (Hrsg.), Jugend, Gesellschaft und Recht im neuen Jahrtausend, S. 311 (320). 224 Unklar bleibt allerdings, wie Entschuldigung und Wiedergutmachung eine Voraussetzung für § 45 Abs. 1 JGG bilden können, denn § 45 Abs. 1 JGG regelt den Fall einer Verfahrenseinstellung ohne weitere Maßnahme oder erzieherische Reaktion. 225 Als Beispiele werden in der Richtlinie gemeinnützige Arbeit, Arbeit zur Schadenswiedergutmachung, kleinere Geldzahlungen an gemeinnützige Einrichtungen, 222

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B. Grundlagen

Zeitgründen möglichst) telefonisch der Staatsanwaltschaft vor und holt deren Zustimmung hierzu ein. Im Weiteren überwacht die Polizei die Durchführung der Maßnahmen und schlägt der Staatsanwaltschaft gegebenenfalls die Einstellung des Strafverfahrens vor. Vergleichbar den Regelungen in Schleswig-Holstein ist auch in Brandenburg226 vorgesehen, dass die Polizei im Rahmen der verantwortlichen Vernehmung ein „erzieherisches Gespräch“ mit dem Beschuldigten führt und gegebenenfalls nach (telefonischer) Rücksprache mit der Staatsanwaltschaft die Durchführung erzieherischer Maßnahmen im Sinne des § 45 Abs. 2 JGG beim Beschuldigten anregt.227 b) Einschränkung von Diversionsmöglichkeiten Als Vorläufer eines weiteren Trends könnte die Entwicklung in Sachsen-Anhalt zu werten sein. Dort ist Ende 2002 eine neue Diversionsrichtlinie228 in Kraft getreten, durch die verschiedene Regelungen zur Stärkung der Diversion zurückgenommen wurden. So wurde die Möglichkeit der Staatsanwaltschaft, von einer Anklageerhebung abzusehen, auf Fälle erstmaliger strafrechtlicher Erfassung beschränkt. Bei Delikten wie Raub oder Erpressung ist die Diversion in der Regel nunmehr ausgeschlossen. Im Gegensatz zur bisherigen Regelung muss die Staatsanwaltschaft künftig nicht mehr begründen, warum sie das Verfahren nicht einstellt, sondern Anklage erhebt. Zur Begründung dieser Restriktionen wird angeführt, dass alle Änderungen mit Staatsanwaltschaften sowie der Deutschen Vereinigung für Jugendgerichte und Jugendgerichtshilfen e. V. (DVJJ) diskutiert und abgestimmt worden seien. Es gehe nicht um eine Abschaffung der Diversion, um auf Umwegen das Jugendstrafrecht zu verschärfen. Allerdings verlange der Erziehungsgedanke, dass jugendlichen Straftätern die Strafbarkeit ihres Tuns rechtzeitig und nachhaltig vor Augen geführt werde. Dies gelte in Sachsen-Anhalt umso mehr, da hier der prozentuale Anteil der jugendlichen und heranwachsenden Tatverdächtigen erheblich über dem Bundesdurchschnitt liege.229

Teilnahme am Verkehrsunterricht und Täter-Opfer-Ausgleich genannt, Amtsblatt für Schl.-H. 1998, 389 = DVJJ-Journal 1998, 260. 226 JMBl. Brandenburg 2001, 23 = DVJJ-Journal 2001, 183, geändert durch Gemeinsamen Runderlass vom 6.2.2003, JMBl. 2003, 30. 227 Siehe hierzu auch Beulke, in: DVJJ (Hrsg.), Jugend, Gesellschaft und Recht im neuen Jahrtausend, S. 311 (320). 228 JMBl. Sachsen-Anhalt 2002, 345. 229 Ministerium der Justiz Sachsen-Anhalt, Pressemitteilung Nr.: 60/02 vom 18. Dezember 2002 „Jugendliche Straftäter – Minister: Neue Diversionsrichtlinien ermöglichen konsequenteres Vorgehen“.

IV. Die Berliner Diversionsrichtlinie

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IV. Die Berliner Diversionsrichtlinie 1. Entstehungsgeschichte Nach Angaben des Berliner Büros für Diversionsberatung und -vermittlung230 haben im Jahre 1998 der Berliner Justizsenator sowie die Staatsanwaltschaft Berlin dringenden Handlungsbedarf bezüglich schnellerer und angemessener Reaktionen auf Jugenddelinquenz festgestellt. Dabei stützten sie sich auf statistisches Material, wonach im Jahr 1998 nur 4% der Jugendstrafverfahren nach § 45 Abs. 2 JGG eingestellt worden seien, obwohl diese Reaktionsmöglichkeit nach ihrer Einschätzung in weitaus mehr Fällen geeignet gewesen wäre. Zu dieser Zeit beruhte die Einstellungspraxis noch auf der Diversionsrichtlinie vom 21. Juli 1989231 in der Fassung vom 17. Februar 1992. Daraufhin wurde zunächst die Idee diskutiert, der Polizei zusätzliche Aufgaben im Rahmen der Diversion zu übertragen. Erwogen wurde, dass die polizeilichen Sachbearbeiter neben ihrer Ermittlungsarbeit erzieherische Gespräche führen sowie erzieherische Maßnahmen anregen und begleiten. Dieser Ansatz stieß jedoch insbesondere bei der Jugendhilfe aber auch der Polizei auf Bedenken. Eingewandt wurde zum einen, die Polizei weise nicht die erforderlichen pädagogischen Kompetenzen auf, zum anderen, dass eine solche Kompetenzverlagerung zu einem Rollenkonflikt innerhalb der Ermittlungsbehörde Polizei führen könne. Eine gemischte Arbeitsgruppe aus Vertretern der Senatsverwaltungen, des Jugendamtes, der Polizei und der Staatsanwaltschaft erarbeitete sodann ein Modellprojekt als Grundlage für die spätere Diversionsrichtlinie, dem zufolge die Polizei zwar verstärkt diversionsrelevante Informationen erheben und in den Entscheidungsprozess eingebunden werden sollte, die eigentliche erzieherische Reaktion auf die mutmaßliche Straftat jedoch Sozialarbeitern bzw. Sozialpädagogen eines freien Trägers obliegen sollte. Die letztgenannten Aufgaben wurden dem Sozialpädagogischen Institut Berlin (SPI) übertragen, das zu diesem Zweck das Berliner Büro für Diversionsberatung und -vermittlung gründete. 2. Zielsetzung Gemäß der allgemeinen Einleitung der Berliner Diversionsrichtlinie232 ist das Ziel von Diversionsentscheidungen – wie jeder anderen strafrechtlichen Reaktion –, auf beschuldigte Jugendliche derart erzieherisch einzuwirken, dass sie in Zukunft nicht mehr straffällig werden. Speziell durch die Nutzung der Diver230 Haustein/Nithammer, in: Arbeitsstelle Kinder- und Jugendkriminalitätsprävention (Hrsg.), Schnelle Reaktion. Tatverdächtige Kinder und Jugendliche im Spannungsfeld zwischen beschleunigtem Verfahren und pädagogischer Hilfe, S. 83 (84 f.). 231 Siehe DVJJ-Journal 1990, S. 25. 232 ABl. Berlin 1999, S. 1891.

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B. Grundlagen

sionsmöglichkeiten könne eine – pädagogisch sinnvolle – Beschleunigung erreicht werden. Dabei soll der Erlass der Richtlinie eine einheitliche Handhabung der Einstellungsvorschriften durch Polizei und Staatsanwaltschaft gewährleisten. Schließlich sollen die Regelungen der Richtlinie zu einer vermehrten Nutzung der in § 45 JGG eröffneten informellen Erledigungsmöglichkeiten führen.233 Dazu wird in der Richtlinie – wie auch in denen anderer Bundesländer234 – auf Erkenntnisse neuerer kriminologischer Forschung235 zur Episodenhaftigkeit von Straftaten Jugendlicher Bezug genommen, allerdings mit dem Hinweis, dass sie möglichst tatnah einer deutlichen und individuellen Reaktion bedürfen.236 Das mit der Durchführung der „Diversionsvermittlung“ beauftragte Berliner Büro für Diversionsberatung und -vermittlung formuliert die Ziele seiner Tätigkeit im Rahmen der Diversion folgendermaßen:237 Es gehe darum, eine schnelle und spezifische Reaktion auf die (mutmaßliche) Straftat zu ermöglichen, indem die informelle Erledigungsmöglichkeit gemäß § 45 Abs. 2 JGG in mehr Fällen als bisher genutzt werde. Dadurch solle beim Jugendlichen eine spezialpräventive Wirkung erzielt werden; er solle außerdem bei seinen „Entwicklungsaufgaben“ unterstützt werden. Mit Blick auf die Opfer (mutmaßlicher) Straftaten solle die „Wiederherstellung des sozialen Friedens“ erreicht werden. 3. Besonderheiten der Berliner Vorgehensweise Wie die Richtlinien anderer Bundesländer (Schleswig-Holstein, Niedersachsen, Brandenburg) sieht die Berliner Diversionsrichtlinie eine stärkere Nutzung polizeilicher Sachnähe und Sachkompetenz vor. Dies soll zum einen mit der Durchführung „normverdeutlichender Gespräche“ erreicht werden, die ähnlich wie die „ermahnenden Gespräche“ des niedersächsischen und die „erzieherischen Gespräche“ des schleswig-holsteinischen und brandenburgischen Modells darauf abzielen, den jugendlichen Beschuldigten bereits im Rahmen der verant233 Zu vergleichbaren Zielsetzungen von Verwaltungsvorschriften anderer Bundesländer Heinz, DVJJ-Journal 1999, S. 131 (132). 234 Heinz, DVJJ-Journal 1999, S. 131 (132). 235 Vgl. Ad-hoc-Kommission „Diversion“, Empfehlungen der Ad-hoc-Kommission „Diversion“ der Jugend- und Justizministerkonferenz vom 5. Februar 1988, in: BMJ (Hrsg.), „Diversion“ im deutschen Jugendstrafrecht, S. 11 f. 236 Das Ziel der Vermeidung unnötiger Stigmatisierungen wird – anders als in Richtlinien anderer Bundesländer – nicht ausdrücklich formuliert, siehe Heinz, DVJJJournal 1999, S. 131 (133). 237 Siehe Haustein/Nithammer, DVJJ-Journal 1999, S. 427 (428); Haustein/Nithammer, Berliner Forum Gewaltprävention Sondernummer 4, S. 2; Haustein/Nithammer, in: Arbeitsstelle Kinder- und Jugendkriminalitätsprävention (Hrsg.), Schnelle Reaktion. Tatverdächtige Kinder und Jugendliche im Spannungsfeld zwischen beschleunigtem Verfahren und pädagogischer Hilfe, S. 83 (88).

IV. Die Berliner Diversionsrichtlinie

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wortlichen Vernehmung bei der Polizei „den Unrechtsgehalt der Tat vor Augen“ zu führen.238 Zum anderen werden ähnlich wie in Brandenburg und SchleswigHolstein einzelne Entscheidungsschritte in Richtung auf die Anregung einer erzieherischen Maßnahme der Polizei übertragen. Allerdings unterscheidet sich das Berliner Modell von denen Brandenburgs und Schleswig-Holsteins vor allem dadurch, dass in Berlin die nach Rücksprache mit dem Staatsanwalt noch zu veranlassenden erzieherischen Maßnahmen durch einen Sozialpädagogen oder -arbeiter, den sog. Diversionsmittler, angeregt oder veranlasst werden, wohingegen in Brandenburg und Schleswig-Holstein die erzieherischen Maßnahmen unmittelbar von der Polizei angeregt werden.239 4. Institutionelle Gegebenheiten Die institutionellen Gegebenheiten der Strafverfolgungsbehörden in Berlin, in denen sich die genannten Änderungen auswirkten, stellen sich wie folgt dar: a) Polizei Dem Polizeipräsidenten als Leiter der Polizeibehörde in Berlin untersteht zum einen das Landeskriminalamt (LKA), das als Zentralstelle für die Kriminalitätsbekämpfung im Land Berlin fungiert und dem neben der Führung von Ermittlungen die Leitlinienkompetenz in der Verbrechensbekämpfung obliegt. Die Ermittlungskompetenz des LKA erstreckt sich insbesondere auf die Bekämpfung der sog. Organisierten Kriminalität, der Rauschgiftkriminalität und der Einbruchs- bzw. Raubdelikte sowie auf Staatsschutzaufgaben und Fahndungsmaßnahmen. Weiterhin sind dem Polizeipräsidenten u. a. das Polizeiverwaltungsamt, dem insbesondere die Versorgung und Verwaltung der gesamten Polizeibehörde zugewiesen sind, die Direktion Öffentliche Sicherheit und Straßenverkehr, die für eine Vielzahl von Sonderaufgaben für ganz Berlin zuständig ist (etwa der Zentrale Verkehrsdienst), und die Polizeidirektionen unterstellt. Die Polizeidirektionen sind jeweils für bestimmte Stadtbezirke zuständig und dienen als direkte Ansprechpartner vor Ort für alle polizeilichen Belange, die Bürgerinnen und Bürger betreffen. Innerhalb der Direktionen sind die örtlichen Polizeiabschnitte (vergleichbar mit Großraumrevieren) angesiedelt. Zum Zeitpunkt der Einführung des neuen Diversionsverfahrens im Jahre 1999 bestand die Berliner Polizei aus sieben Polizeidirektionen. Im Zuge von Polizeistrukturreformen wurden bis 2003 die Direktionsgrenzen an den Grenzen der Verwaltungsbezirke (seit dem 1.1.2001 zwölf Bezirke anstatt der früheren 238 Empfehlung für die Umsetzung und praktische Handhabung der Diversionsrichtlinie, ABl. Berlin 1999, S. 1891 (1895). 239 Heinz, DVJJ-Journal 1999, S. 131 (138 f.).

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B. Grundlagen

23) ausgerichtet, wodurch sich die Anzahl der Polizeidirektionen von sieben auf sechs reduzierte.240 Neben dieser Strukturreform wurde ein weiteres Reformmodell eingeführt, das sog. Berliner Modell. Ziel dieses Modells ist es, durch eine Neuverteilung der Aufgaben zwischen Schutz- und Kriminalpolizei eine höhere Effizienz bei der Kriminalitätsbekämpfung und eine höhere Präsenz von Polizeibeamten in Berlin zu erreichen. Zu diesem Zweck werden Arbeitsprozesse von der Kriminal- auf die Schutzpolizei verlagert. Letztlich soll erreicht werden, dass jeder Schutzpolizist vollständige Ermittlungen durchführt, d.h. den Vorgang von der Anzeigenaufnahme über die Vernehmung bis hin zum Abschlussbericht bearbeitet. Dadurch sollen bei der Kriminalpolizei Kapazitäten frei werden, um sich auf die Verfolgung schwerer wiegender Kriminalität zu konzentrieren. Dieses Modell wurde im Februar 1998 zunächst im Rahmen eines Probelaufes in der Direktion 5 eingeführt. Mittlerweile wird das „Berliner Modell“ in drei weiteren Direktionen umgesetzt. Der Probelauf ist seit Ende Juli 2002 beendet. b) Staatsanwaltschaft Die Generalstaatsanwaltschaft Berlin unter der Leitung des Generalstaatsanwalts ist die zuständige Dienstbehörde für die Strafverfolgungsbehörden Berlins. Ihr obliegt die Aufsicht über die nachgeordneten Ermittlungsbehörden (Staatsanwaltschaft Berlin und Amtsanwaltschaft Berlin) und die Bearbeitung derjenigen Verfahren, in denen das Kammergericht entweder erstinstanzlich zuständig ist oder über Rechtsmittel gegen Entscheidungen des Amts- und Landgerichts zu entscheiden hat. Der überwiegende Teil der staatsanwaltschaftlichen Strafverfolgung in Berlin obliegt der Staatsanwaltschaft Berlin. Sie ist in acht Hauptabteilungen mit ihren jeweiligen Abteilungen unterteilt, in denen die einzelnen Dezernenten arbeiten. Zwei der Hauptabteilungen umfassen auch Jugendabteilungen.

240 Direktion 1: Pankow und Reinickendorf; Direktion 2: Spandau und Charlottenburg-Wilmersdorf; Direktion 3: Mitte, seit 1.8.2003 einschließlich Wedding; Direktion 4: Tempelhof-Schöneberg und Steglitz-Zehlendorf; Direktion 5: Friedrichshain-Kreuzberg und Neukölln; Direktion 6: Marzahn-Hellersdorf, Lichtenberg und Treptow-Köpenick.

C. Methodisches Vorgehen Bevor nun im Einzelnen auf die Vorgaben der Berliner Diversionsrichtlinie und ihre Umsetzung in der Praxis eingegangen wird, soll zunächst dargestellt werden, in welcher Weise die empirischen Erkenntnisse hierzu gewonnen wurden. Dabei wird nicht nur ins Blickfeld gerückt, welche Erhebungsmethoden zur Anwendung gelangt sind, sondern auch, wie es zur Auswahl der letztlich angewandten Methoden gekommen ist. Dies ist insbesondere deshalb relevant, da einige gewichtige Forschungsentscheidungen nicht aufgrund wissenschaftlicher Überzeugungen getroffen werden konnten, sondern auf rein pragmatischen Gründen beruhen.

I. Ursprünglich geplante empirische Untersuchung 1. Untersuchungsplan und sein Scheitern a) Ausgangssituation Da die genannten Neuerungen im Berliner Diversionsverfahren rechtlich wie rechtstatsächlich untersuchenswert erschienen, hatte ich im Mai 1999 erwogen, die Berliner Diversionsrichtlinie und deren Umsetzung zum Gegenstand einer Dissertation zu machen. Zu diesem Zeitpunkt waren die im Einzelnen zu bearbeitenden Fragestellungen noch nicht festgelegt; es war jedoch vorgesehen, dass ein empirischer Teil enthalten sein sollte. Um den Zugang zu den an der Umsetzung der Diversionsrichtlinie beteiligten Stellen (insbesondere Polizei, Staatsanwaltschaft, Berliner Büro für Diversionsberatung und -vermittlung) zu eröffnen, wandte ich mich mit meinem Vorhaben an die Senatsverwaltung für Justiz. Dort erfuhr ich, dass die Senatsverwaltung für Schule, Jugend und Sport bereits am 19. April 1999 eine (unbezahlte) Begleitforschung zur Diversionsrichtlinie ausgeschrieben hatte und das Berliner Büro für Diversionsberatung und -vermittlung die Vorgespräche mit in Betracht kommenden Forschenden führte. Daraufhin setzte ich mich mit den Leiterinnen des Diversionsbüros in Verbindung und tauschte mit ihnen Vorstellungen zu dem fraglichen Forschungsvorhaben aus. Dabei stellte sich heraus, dass sie in besonderem Maße daran interessiert waren, überprüfen zu lassen, ob die in der Diversionsrichtlinie vorgesehene Verfahrensweise:

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C. Methodisches Vorgehen

– zu einer Beschleunigung von Jugendstrafverfahren führt, – eine verstärkte Ausschöpfung der Verfahrenseinstellung nach § 45 Abs. 2 Satz 1 JGG bewirkt und – eine Reaktionsverschärfung mit sich bringt dergestalt, dass Strafverfahren, die vor Einführung der Diversionsrichtlinie ohne weitere Maßnahmen gem. § 45 Abs. 1 JGG eingestellt worden wären, nunmehr erst nach Durchführung einer erzieherischen Maßnahme i. S. d. § 45 Abs. 2 JGG durch Verfahrenseinstellung abgeschlossen werden. b) Methodische Einwände gegen die vorgeschlagenen Fragestellungen Diese Fragen sind für die Bewertung des Programms zweifelsohne bedeutsam. Insbesondere den Mitarbeitern des Projektes musste an einer Evaluation gelegen sein, u. a. um sich gegenüber den Verantwortlichen in den zuständigen Senatsverwaltungen ggf. auf eine positive Bilanz berufen zu können und damit die Fortführung des zunächst als Modellversuch angelegten Verfahrens und die Bewilligung der dazu erforderlichen Gelder zu rechtfertigen. Nichtsdestotrotz erschien die wissenschaftliche Bearbeitung dieser Fragestellungen aus methodischen Gründen problematisch. Da die genannten Fragestellungen darauf abzielen, ein bestimmtes Handlungsprogramm (die Vorgaben der Diversionsrichtlinie) und die durch dieses Programm bewirkten Effekte in methodisch kontrollierter Weise miteinander in Beziehung zu setzen und sie aus der Perspektive der Handlungsziele (Beschleunigung, bessere Ausschöpfung bestehender Möglichkeiten, keine Ausweitung sozialer Kontrolle) auf ihren Erfolg hin zu bewerten, handelt es sich um Evaluation.1 Das Forschungsdesign einer solchen Evaluation hat sicherzustellen, dass die existierenden Rahmenbedingungen als auch der Ist-Zustand der Zielvariablen vor Programmbeginn empirisch beschrieben und die während der Programmlaufzeit vorgenommenen Eingriffe in die Randbedingungen erfasst werden, und zwar sowohl Eingriffe durch die im Programm vorgegebenen Maßnahmen als auch andere relevante Veränderungen in der Programmumwelt. Zudem muss das Design darauf ausgerichtet sein, dass der Zustand der Zielvariablen nach Programmdurchführung wiederum empirisch beschrieben wird, so dass Art und Ausmaß der Veränderungen feststellbar sind. Ein zentrales methodisches Problem besteht darin, für etwaig festgestellte Veränderungen der Zielvariablen zu 1 Vgl. etwa Kromrey, Empirische Sozialforschung, Kap. 2.4.4; Diekmann, Empirische Sozialforschung, Kap. B. VIII. 4. Zu einzelnen Formen von Evaluationsforschung siehe Kromrey, Evaluation. Empirische Konzepte zur Bewertung von Handlungsprogrammen und die Schwierigkeiten ihrer Realisierung, ZSE 1995, S. 313 ff.

I. Ursprünglich geplante empirische Untersuchung

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entscheiden, ob und in welcher Höhe sie durch die Maßnahmen des Programms bewirkt wurden oder ob sie auf programmexterne, intervenierende Variablen zurückzuführen sind. Diese Aufgabe der Wirkungszurechnung lässt sich am ehesten bewältigen, wenn sich die Untersuchungsanordnung an der Logik eines Feldexperiments orientiert.2 Feldexperimente verfolgen das Ziel, die Konzeption des klassischen Experiments auch auf Untersuchungsanordnungen im sozialen Feld zu übertragen und dort zu realisieren.3 Das Forschungsdesign klassischer sozialwissenschaftlicher Experimente lässt sich folgendermaßen charakterisieren: In einer kontrollierten, von externen Einflüssen abgeschirmten Untersuchungssituation wird eine Experimentalgruppe (meist Versuchspersonen) einer bestimmten Maßnahme ausgesetzt. Eine weitere, in allen wesentlichen Merkmalen äquivalente Kontrollgruppe wird dieser Maßnahme nicht ausgesetzt. In beiden Gruppen werden vor der Durchführung der Maßnahme und ausreichende Zeit danach die Ausprägungen der abhängigen Variablen gemessen. Stimmen vor der Maßnahme in der Experimental- und in der Kontrollgruppe die Verteilungen der abhängigen Variablen überein (dies muss bei äquivalenten Vergleichsgruppen gewährleistet sein) und sind nach Durchführung der Maßnahme zwischen den Gruppen Unterschiede feststellbar, so werden diese als Effekte der experimentellen Stimuli interpretiert.4 Diese Vorgehensweise ist in realen sozialen Situationen jedoch fast niemals in vollem Umfang möglich. Insbesondere wäre die Erwartung unrealistisch, Versuchs- und Kontrollgruppen könnten nach von der Forschung vorgegebenen Kriterien zusammengesetzt oder nach dem Zufallsprinzip gebildet werden. So wäre es aus rechtlichen wie aus ethischen Gründen nicht möglich, die Durchführung eines Diversionsverfahrens vom Zufall oder anderen wissenschaftlichen Kriterien abhängig zu machen. Daher müssen die Forschenden bestrebt sein, Ersatzlösungen zu finden, die ähnliche Funktionen erfüllen. Zum Beispiel kann versucht werden, äquivalente Kontrollgruppen dadurch zu ersetzen, dass Vergleiche mit Situationen angestellt werden, in denen die untersuchten Maßnahmen nicht durchgeführt werden. Sind externe Einflüsse auf die Effekte des untersuchten Programms nicht auszuschalten, müssen sie gleichfalls gemessen werden, damit sie bei der Auswertung der gesammelten Daten berücksichtigt werden können. Solche Untersuchungsanordnungen, die sich an der Experimentallogik orientieren, jedoch nicht alle Bedingungen des klassischen Experiments erfüllen können, werden als Quasi-Experimente bezeichnet.5

2 Kromrey, Empirische Sozialforschung, Kap. 2.4.4; Diekmann, Empirische Sozialforschung, Kap. B. VIII. 4. 3 Kromrey, Empirische Sozialforschung, Kap. 2.4.3. 4 Kromrey, Empirische Sozialforschung, Kap. 2.4.3. Diekmann, Empirische Sozialforschung, Kap. B. VIII. 2. 5 Kromrey, Empirische Sozialforschung, Kap. 2.4.3.

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C. Methodisches Vorgehen

Übertragen auf die oben genannten Fragestellungen ist Folgendes festzustellen: Eine für ein experimentelles Forschungsdesign erforderliche Messung der abhängigen Variablen vor Durchführung der Maßnahme war zum fraglichen Zeitpunkt nicht mehr möglich, da das Handlungsprogramm der Diversionsrichtlinie bereits in der Umsetzung begriffen war und unabhängig vom Forschungsprojekt erhobene Daten nicht verfügbar waren. Auch die für eine quasiexperimentelle Forschungsanordnung anzustrebende Bildung äquivalenter Vergleichsgruppen schien nicht erreichbar. Zwar wäre ein Vergleich der Polizeidirektionen, in denen das Modellprojekt zuerst eingeführt wurde, mit denen, die erst später hinzutraten, für den Zeitraum der unterschiedlichen Handhabung denkbar gewesen. Allerdings hätte jene Zuordnung zu Vergleichsgruppen allein auf den politischen Entscheidungen zur Durchführung des Projektes beruht und nicht auf die Ausprägungen der abhängigen sowie der intervenierenden Variablen abgestimmt werden können. Eine Vergleichbarkeit der Verfahren in den verschiedenen Polizeidirektionen konnte schon allein deshalb nicht angenommen werden, da die Direktionen sich hinsichtlich der Bevölkerungsstruktur, der anfallenden Ermittlungsverfahren sowie der behördeninternen Handlungsnormen z. T. erheblich unterscheiden. Weiterhin erschien die für einen quasi-experimentellen Ansatz erforderliche Kontrolle intervenierender Variablen bereits deshalb schwerlich erreichbar, weil diesbezüglich noch keine Erkenntnisse etwa durch explorative Vorstudien vorlagen. Schließlich erschien es verfrüht, bereits wenige Monate nach Inkrafttreten der Richtlinie solche Effekte wie den der Beschleunigung von Jugendstrafverfahren messen zu wollen, da das Verfahren selbst trotz angestrebter Verkürzung noch immer einige Wochen umfasst und davon auszugehen war, dass sich das Verfahren bei den Beteiligten erst einmal einspielen musste. c) Weitere Ereignisse Nach einer Vertiefung der genannten methodischen und inhaltlichen Fragen sowie fachlicher Beratung durch einen unabhängigen Sozialwissenschaftler entschied ich mich, die von den Leiterinnen des Diversionsbüros in den Vordergrund gerückten Aspekte zumindest nicht zum Kernstück meines Forschungsvorhabens zu machen. Dasjenige Merkmal, das die Berliner Diversionspraxis von der anderer Bundesländer unterscheidet, ist die Diversionsberatung durch die Diversionsmittler. Es erschien mir daher sinnvoll, zu untersuchen, wie sich dieser Aspekt konkret für die jugendlichen Beschuldigten auswirkt. Ich plante also, die Diversionsgespräche zwischen den jugendlichen Beschuldigten und den Diversionsmittlern im Hinblick auf die Interaktion der Teilnehmenden und den Gesprächsverlauf einschließlich der thematisierten Inhalte zu analysieren.

I. Ursprünglich geplante empirische Untersuchung

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Zur Erfassung von Ablauf und Bedeutung einzelner Handlungen und Handlungszusammenhänge ist die Erhebungsmethode der Beobachtung besonders geeignet.6 Die Beobachtung bietet den Vorteil, dass sie einen direkten und nicht durch die Wahrnehmung der an dem Projekt beteiligten Personen gefilterten Zugang zum Untersuchungsgegenstand durch die Forscherperson gewährt.7 Darüber hinaus ermöglicht die Anwendung dieser Erhebungsmethode die Berücksichtigung quantitativer wie qualitativer Aspekte: Einerseits können unter Zuhilfenahme eines standardisierten Erhebungsbogens Gesprächssituation wie besprochene Themen statistisch erfasst und ausgewertet werden.8 Zum anderen lässt die Beobachtung die Erfassung der Komplexität und Ganzheit einer Situation in ihrem alltäglichen Kontext zu.9 Neben diesen Aspekten plante ich den Stand der Implementation der Richtlinie, eine Auswertung der statistischen Daten sowie eine umfassende rechtliche, insbesondere verfassungsrechtliche, Prüfung der in der Richtlinie enthaltenen Bestimmungen zum Gegenstand der Arbeit zu machen. Nachdem ich meine Vorstellungen den Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen des Diversionsbüros zur Kenntnis gebracht hatte, wurde mir im Juli 1999 gestattet, testweise zwei Diversionsgespräche zwischen jugendlichen Beschuldigten und einem Diversionsmittler zu beobachten. Der die Gespräche führende Diversionsmittler kam anschließend zu der Einschätzung, meine Anwesenheit habe die Gesprächsituation mit dem Jugendlichen nicht wesentlich beeinflusst. Im September 1999 trug ich die erarbeiteten Aspekte meines Forschungsinteresses zunächst dem Leiter des für die Diversionsberatung und -vermittlung zuständigen Geschäftsbereichs des SPI vor, woraufhin er mir seine Unterstützung zusicherte. Wenig später stellte ich mein Forschungsvorhaben den Mitgliedern der Steuerungsrunde vor, dem Gremium, das aus Vertretern der zuständigen Behörden und Institutionen besteht und über den Stand der Umsetzung des Projektes berät; es wurden keine Einwände erhoben. Unerwartet wurde mir einige Wochen später mitgeteilt, die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen des SPI seien nach neuerlichen Überlegungen zu der Überzeugung gelangt, die angestrebte Beobachtung der Diversionsgespräche zwischen Jugendlichen und Diversionsmittlern könne nicht gestattet werden, da die Anwesenheit einer weiteren Person den Ablauf des Gespräches in nicht zu tolerierendem Maße störe. Allenfalls könne die Auswertung von auf Videobändern 6

Kromrey, Empirische Sozialforschung, Kap. 7.2. Zu Vor- und Nachteilen der Beobachtung als Methode empirischer Datenerhebung siehe Kromrey, Empirische Sozialforschung, Kap. 7.2. 8 Zur Beobachtung als Methode quantitativer Sozialforschung Kromrey, Empirische Sozialforschung, Kap. 7.2; Friedrichs, Methoden empirischer Sozialforschung, Kap. 5.7; Diekmann, Empirische Sozialforschung, Kap. C. XI. 9 Zur Beobachtung als Methode qualitativer Sozialforschung Flick, Qualitative Forschung, Kap. 1, 12. 7

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C. Methodisches Vorgehen

aufgezeichneten Diversionsgesprächen gestattet werden. Dabei müsste die Kamera allerdings so installiert werden, dass die Jugendlichen nicht bzw. nur von hinten zu sehen seien. Diese neuen Vorgaben des SPI riefen erhebliche methodische Bedenken hervor. Vor der Aufzeichnung auf Video müssen die Jugendlichen selbstverständlich um ihre Einwilligung hierzu gebeten werden. Diese hätten die Diversionsmittler stellvertretend für mich einholen müssen, da ich als Forschende nicht anwesend gewesen wäre. Da nach den vorangegangenen Ereignissen nicht zu erwarten war, dass sich die Diversionsmittler für meine Belange einsetzen würden, wäre es zumindest denkbar gewesen, dass die Mittler ihre Frage nicht ergebnisoffen formulieren würden und die Jugendlichen daher ihre Einwilligung verweigerten. Zudem hätte keine Überprüfungsmöglichkeit dafür bestanden, ob tatsächlich alle Jugendlichen in dem fraglichen Zeitraum nach ihrer Zustimmung gefragt und alle angefertigten Gesprächsaufzeichnungen übergeben wurden. Schließlich ist der Eindruck, den man aufgrund eines Videos – zumal mit einer Perspektive, aus der einer der beiden Interakteure nicht visuell wahrgenommen werden kann – gewinnen kann, wesentlich weniger umfassend als derjenige, der bei persönlicher Anwesenheit möglich ist. Der wichtigste Einwand hingegen richtet sich gegen die inhaltlichen Auswirkungen einer solchen Videoaufzeichnung. Das Bewusstsein der Beobachteten, auf einem Videoband festgehalten zu werden, wirkt vielfach derart verzerrend auf die zu untersuchende Situation zurück, dass sie dem Beobachtungsziel nicht mehr entspricht.10 Im Vergleich mit der einfachen Anwesenheit einer weiteren Person kann der störende Einfluss einer Videoaufzeichnung für jugendliche Beschuldigte wie Mittler noch größer sein, da sie sich bewusst sind, dass ihre Aussagen reproduzierbar sind11 und potentiell in die Hände Dritter gelangen, während die Anwesenheit einer Person viel fassbarer und einschätzbarer ist. Für einen störenden Einfluss meiner Anwesenheit gab es schließlich keine Anhaltspunkte; die guten Erfahrungen mit meiner zweimaligen Beobachtung wurden bei der Entscheidung offenbar außer Acht gelassen. In weiteren Gesprächen mit Mitarbeitern des Diversionsbüros stellte sich heraus, dass sie meiner Anwesenheit bei Diversionsgesprächen doch zustimmen würden, wenn die Gespräche zusätzlich auf Video aufgezeichnet würden. Die von mir genannten Bedenken gegenüber den Videoaufzeichnungen wurden nicht geteilt. Damit liegt die Vermutung nahe, dass die vom SPI vorgebrachten Erwägungen weniger von der Sorge um die Rechte der beteiligten Jugendlichen als von der Befürchtung getragen waren, ich könnte mit meiner Untersuchung 10

Kromrey, Empirische Sozialforschung, Kap. 7.2. Dies gilt umso mehr, als sich – wie sich später zeigte – die Diversionsmittler von den Jugendlichen Schweigepflichtsentbindungen unterschreiben lassen, um die in den Videos enthaltenen Informationen im Kreise ihrer Kollegen auswerten zu können. 11

I. Ursprünglich geplante empirische Untersuchung

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zu als ungünstig beurteilten Ergebnissen gelangen, ohne dass es die Möglichkeit einer Überprüfung anhand von objektivem Material gäbe. Alle diese Ereignisse zeigen, dass zu dem genannten Zeitpunkt das Verhältnis zwischen den am zu untersuchenden Projekt beteiligten Personen und mir als Forscherin von Zweifel und Misstrauen geprägt war. d) Ergebnis Schließlich entschloss ich mich, die durch Videoaufzeichnungen ergänzten Beobachtungen als zwar nicht gleichwertigen, aber einzig verfügbaren Ersatz für die ursprüngliche Erhebung zu akzeptieren, da ansonsten die – besonders interessanten und in dieser Form einzigartigen – Diversionsgespräche keinen Eingang in die empirische Untersuchung gefunden hätten. Es wurde mir ermöglicht, im Jahr 2000 über einen Zeitraum von drei Monaten in einer Polizeidirektion zwanzig Diversionsgespräche zu beobachten. Die entsprechenden Videoaufzeichnungen wurden mir anschließend zur Verfügung gestellt. Die darüber hinaus vereinbarten Beobachtungen in einer weiteren Direktion wurden – trotz mehrfacher Nachfrage – unter Hinweis auf die geringen Fallzahlen nicht realisiert. Nach Abschluss der zwanzig Beobachtungen entschied ich mich, meine Auswertung darauf zu beschränken. Diese begrenzte und nur auf eine Direktion beschränkte Auswahl an Beobachtungen kann zwar keine Grundlage für repräsentative Aussagen über die Durchführung von Diversionsgesprächen sein, sie erlaubt jedoch einige bedeutsame Schlüsse, die im Kapitel über die Umsetzung der Richtlinie dargestellt werden. 2. Erklärungsansätze a) Ausrichtung kriminologischer Forschung Angesichts der geschilderten Auseinandersetzungen mit den Mitarbeitern des im Blickpunkt meines Forschungsinteresses stehenden Projektes fragt es sich, welchen Bedürfnissen sich kriminologische Forschung – in meinem Fall mit speziell jugendstrafrechtlicher Ausrichtung – zu widmen hat. Dazu werden verschiedene Meinungen vertreten, die sich im Wesentlichen auf zwei Grundpositionen reduzieren lassen.12 Einerseits kann kriminologischer Forschung die Aufgabe zugewiesen werden, Informationen für aktuelle oder auch langfristige Probleme praktischer Kriminalpolitik im Sinne von Bedarfsforschung zu liefern. Dabei liege die Kompetenz zur Bestimmung der relevanten Fragestellungen bei den mit diesen Problemen befassten Institutionen. Andererseits wird vielfach 12

Vgl. hierzu etwa Eisenberg, Kriminologie, § 2 Rnr. 5 ff.; Kunz, Kap. 2. §§ 6 ff.

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C. Methodisches Vorgehen

angenommen, Kriminologie müsse auf Erkenntnisfortschritt angelegte Grundlagenforschung betreiben, indem sie sich von Interessen und Bedürfnissen der Kriminalpolitik freihalte, autonom über Forschungsgegenstand und -methoden entscheide und damit auch kritische Positionen gegenüber dem Kriminaljustizsystem einnehmen könne. Zudem werden weitere Ansichten vertreten, wie etwa die Empfehlung, die Bestimmung der konkreten Bedürfnisse, über die Kriminologie zu informieren habe, nicht in die Hände der mit praktischer Kriminalpolitik befassten Institutionen zu legen, sondern der Bevölkerung zu überlassen, und zwar insbesondere den von strafrechtlicher Erfassung am stärksten betroffenen Sozialgruppen.13 Allgemein wird davon auszugehen sein, dass es – soweit es sich nicht um unmittelbare Auftragsforschung handelt – den forschenden Personen selbst überlassen sein muss, welchen Bedürfnissen sie ihre Forschungen widmen wollen, soweit die Grundvoraussetzungen der Vertretbarkeit des methodischen Vorgehens erfüllt sind. Auch für den Fall, dass die Anregung zu Forschungen nicht von diesen Personen selbst ausgeht, wird ihnen jedenfalls die Auswahl eines spezifischen Forschungsproblems innerhalb eines thematischen Bereichs vorzubehalten sein.14 b) Auswirkungen behördlicher Strategien auf Forschungsvorhaben Bei der wissenschaftlichen Untersuchung der Tätigkeit von am Strafverfahren mitwirkenden Behörden und Institutionen kommt behördlichen bzw. institutionellen Strategien zur Förderung oder Behinderung bestimmter Forschungsvorhaben besondere Bedeutung zu.15 Eine Behinderung geschieht etwa durch Versagen der Erlaubnis für Datenzugang und -gewinnung, und sie mag im Einzelfall ausschließlich oder wesentlich auf behördeneigenen – ggf. erkenntnisfeindlichen – Gründen wie etwa der Sorge beruhen, es könnte das Ausmaß institutionalisierter Handlungsnormen16 oder eine rechtlich bedenkliche Praxis ausgeforscht werden.17

13

Eisenberg, Kriminologie, § 2 Rnr. 7. Eisenberg, Kriminologie, § 2 Rnr. 8. 15 Vgl. hierzu auch Eisenberg, Kriminologie, § 3 Rnr. 15. 16 Siehe zu institutionalisierten Handlungsnormen Eisenberg, Kriminologie, § 40; Singelnstein, Institutionalisierte Handlungsnormen bei den Staatsanwaltschaften im Umgang mit Ermittlungsverfahren wegen Körperverletzung im Amt gegen Polizeibeamte, MschrKrim 2003, S. 1 ff. 17 Eisenberg, Kriminologie, § 3 Rnr. 15 Anm. 6. 14

II. Tatsächlich angewandte Erhebungsmethoden

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c) Ansätze zur Erklärung der konkreten Ereignisse Antriebsfeder meines Forschungsinteresses war die Fragestellung, wie das neu eingeführte Diversionsverfahren die rechtliche und tatsächliche Position jugendlicher Beschuldigter im Strafverfahren verändert. Damit war es einerseits auf sehr praktische Bedürfnisse ausgerichtet, namentlich auf die der potentiell mit dem Diversionsverfahren in Berührung kommenden Beschuldigten, zugleich aber auch auf die Interessen der beteiligten Institutionen, denen etwaige Erkenntnisse über rechtliche und rechtstatsächliche Probleme und entsprechende Lösungsansätze zugute kommen sollten. Andererseits sollte die Auswahl der konkreten Problemstellungen und die Ausgestaltung des Forschungsplanes unabhängig von den Beteiligten erfolgen, um eine kritische Distanz zum Untersuchungsobjekt aufrechterhalten zu können. Mein Interesse an einer Forschung über das Projekt, von dem ich aus der lokalen Presse erfahren hatte, entwickelte sich zufällig zu einem Zeitpunkt, als die an dem gerade eingeleiteten Projekt Beteiligten die Durchführung einer Begleitforschung beschlossen. So schien es zunächst, als ließen sich die Interessen und Erwartungen beider Seiten miteinander verbinden. Es sollte sich jedoch herausstellen, dass die Vorstellungen über Forschungsthemen und deren Bearbeitung durchaus Unterschiede aufwiesen. Aus Sicht etwa des kurz zuvor gegründeten Berliner Büros für Diversionsberatung und -vermittlung ist es nachvollziehbar, dass eine Untersuchung der Umsetzung solcher Ziele angestrebt wurde, deren Erreichung sich die Mitarbeiter des Diversionsbüros verschrieben hatten. Da die Finanzierung des vorerst als Modellprojekt angelegten Verfahrens noch nicht langfristig durch die Senatsverwaltung gesichert war, musste es bedeutsam erscheinen, praktische Erfolge der Arbeit vorzuweisen. Diese Herangehensweise ließ sich jedoch mit meinem Wunsch nach inhaltlicher wie formaler Unabhängigkeit vom Untersuchungsgegenstand nicht in Einklang bringen.

II. Tatsächlich angewandte Erhebungsmethoden Aufgrund der beschriebenen Schwierigkeiten war es erforderlich, die geplante Untersuchung neu zu konzipieren. Ich entschloss mich, neben der – in modifizierter Form durchgeführten – Beobachtung der Diversionsgespräche weiteres verfügbares Datenmaterial über die Umsetzung der Richtlinie zu erheben und auszuwerten, um die rechtlichen Fragestellungen auf einer empirisch fundierten Basis bearbeiten und beantworten zu können.

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C. Methodisches Vorgehen

1. Beobachtungen bei den Mittlern Wie bereits ausgeführt, ist es trotz abweichender Erwartungen auf Seiten der an dem Projekt beteiligten Personen möglich gewesen, eine begrenzte Anzahl von Diversionsgesprächen zu beobachten. a) Fragestellung Ziel der Beobachtung war es, einen Eindruck davon zu gewinnen, in welcher Weise die Diversionsgespräche zwischen den jugendlichen Beschuldigten und den Diversionsmittlern durchgeführt wurden. Dabei kam es insbesondere darauf an, zu untersuchen, in welchem Ausmaß die Diversionsmittler den Gesprächsverlauf beeinflussen bzw. wie viel Raum sie den Jugendlichen bei der Auswahl einer angemessenen Reaktion gewähren. Die Untersuchung war einerseits auf die Erhebung formaler Daten betreffend die mutmaßliche Tat (polizeilicher Tatvorwurf, mutmaßliches Opfer, Tatumstände), die beschuldigte Person (Geschlecht, Alter, Ausbildung/Beruf), das bisherige Verfahren (Dauer des Verfahrens bis zum ersten Gespräch mit dem Diversionsmittler, bisher erfolgte Reaktionen) und die vereinbarte Reaktionsmaßnahme (Art der Maßnahme, geplanter zeitlicher Umfang) ausgerichtet, andererseits aber so offen konzipiert, dass Aspekte der Interaktion und Kommunikation während des Gesprächs sowie im Gespräch thematisierte ungewöhnliche Umstände mit einbezogen werden konnten. Vor dem Hintergrund aller erhobenen Daten sollte auch eine Bewertung der Verhältnismäßigkeit der vereinbarten Maßnahme im Hinblick auf den Tatvorwurf, etwaige Vorbelastungen und bereits erfolgte Reaktionen ermöglicht werden. b) Vorgehensweise Die genannten Forschungsfragen wurden unter Anwendung der Erhebungsmethode „Beobachtung“ bearbeitet. Mit Hilfe dieser Erhebungsmethode18, die der Erfassung sozialer Prozesse und Verhaltensabläufe dient, wird ein an sich alltägliches Vorgehen systematisiert angewendet und wissenschaftlichen Erfordernissen angepasst. Eine Schwierigkeit der Beobachtung ist, dass verschiedene Aktivitäten einer Vielzahl von Handelnden gleichzeitig ablaufen und sich die zu beobachtende Situation während des Beobachtungsprozesses ständig verändert. Einmal verpasste Beobachtungen können nicht nachgeholt werden. Die be18 Allgemein zur Beobachtung als Methode quantitativer Sozialforschung Kromrey, Empirische Sozialforschung, Kap. 7.2; Friedrichs, Methoden empirischer Sozialforschung, Kap. 5.7; Diekmann, Empirische Sozialforschung, Kap. C. XI.; zur Beobachtung als Methode qualitativer Sozialforschung, Flick, Qualitative Forschung, Kap. 1, 12.

II. Tatsächlich angewandte Erhebungsmethoden

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obachtende Person muss den beobachteten Handlungsablauf an Ort und Stelle und im gleichen Tempo interpretieren, in dem die beobachteten Handlungen vorgenommen werden.19 Um dennoch eine möglichst weitgehende Ausblendung subjektiver Einflüsse der beobachtenden Person auf das Beobachtungsergebnis zu erreichen, empfiehlt es sich, die Beobachtung zu strukturieren.20 Der Grad der Strukturierung ist zwischen den beiden Polen „unstrukturiert“ und „hoch strukturiert“ auszumachen.21 Bei einer unstrukturierten Beobachtung wird die Selektion der zu beobachtenden Aspekte allein dem Interesse der beobachtenden Person überlassen. Diese Gestaltungsfreiheit bietet einerseits Raum für Spontaneität und die Möglichkeit der Registrierung unvorhergesehener Ereignisse; andererseits begründet sie die Gefahr selektiver Beobachtungsverzerrungen. Die Strukturierung des Beobachtungsvorgangs zielt darauf ab, dieses Problem durch möglichst präzise Vorgaben über den zu beobachtenden Wirklichkeitsausschnitt zu lösen. Dazu ist jedoch ein hohes Maß an Vorwissen über die Beobachtungssituation erforderlich. Nachdem ich im Juli 1999 testweise zwei Diversionsgespräche zwischen jugendlichen Beschuldigten und einem Diversionsmittler in der (früheren) Polizeidirektion 722 hatte beobachten können, hatte ich genug Vorwissen über die Beobachtungssituation erlangt, um einen den Erfordernissen entsprechenden Beobachtungsbogen zu erstellen.23 Auf einem Formblatt wurden zunächst alle Daten zu Gesprächssituation, Beschuldigtem, bisherigem Verfahren und Ergebnis des Gesprächs erfasst. Dieses Formblatt wird ergänzt durch einen Beobachtungsleitfaden,24 in dem all diejenigen Gesichtspunkte aufgeführt sind, auf die ich als Beobachterin meine Aufmerksamkeit zu lenken beabsichtigte. Die Gesichtspunkte umfassen neben den regelmäßig im Gespräch zu thematisierenden Inhalten auch die Umstände der Gesprächssituation. Neben der Differenzierung nach dem Grad der Strukturiertheit können Beobachtungen auch danach unterschieden werden, ob die beobachtende Person an der sozialen Interaktion teilnimmt oder sich außerhalb des Feldes befindet.25 Da 19

Kromrey, Empirische Sozialforschung, Kap. 7.2. Zu den unterschiedlichen Formen der Strukturierung bzw. Systematisierung von Beobachtungen siehe Diekmann, Empirische Sozialforschung, Kap. C. XI. 5.; Friedrichs, Methoden empirischer Sozialforschung, Kap. 5.7.; Kromrey, Empirische Sozialforschung, Kap. 7.2.1. 21 Siehe näher Diekmann, Empirische Sozialforschung, Kap. C. XI. 5. 22 Die Polizeidirektion 7 umfasste vormals die Bezirke Marzahn, Hellersdorf, Hohenschönhausen, Weißensee, Prenzlauer Berg. 23 Siehe Anlage II. 24 Siehe Anlage III. 25 Vgl. Diekmann, Empirische Sozialforschung, Kap. C. XI. 4.; Friedrichs, Methoden empirischer Sozialforschung, Kap. 5.7.; Kromrey, Empirische Sozialforschung, 20

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C. Methodisches Vorgehen

ich während des Gesprächs für die Akteure wahrnehmbar anwesend war, muss man von einer teilnehmenden Beobachtung ausgehen. Allerdings kam mir keine definierte soziale Rolle innerhalb des Gesprächsgeschehens zu, so dass es sich um einen Fall passiver teilnehmender Beobachtung handelte. Da meine Teilnahme für die Anwesenden erkennbar war, war die teilnehmende Beobachtung eine offene. Mit Hilfe des Erhebungsinstrumentes beobachtete ich im Zeitraum vom 28. Februar 2000 bis zum 5. Juni 2000 insgesamt 20 Diversionsgespräche in der (früheren) Polizeidirektion 7. Mit dem für diese Polizeidirektion zuständigen Diversionsmittler war die Vereinbarung getroffen worden, dass er mich über alle für Diversionsgespräche vereinbarten Termine in Kenntnis setzen würde, damit ich die Gelegenheit bekäme, alle relevanten Gespräche in dieser Direktion ohne vorherige Selektion beobachten zu können. Somit war es möglich, bis auf wenige Ausnahmen (etwa solche Gespräche, die spontan zu Stande gekommen waren, z. B. dadurch, dass die polizeiliche Vernehmung in dem Gebäude stattgefunden hatte, in dem der Diversionsmittler sein Büro hat, wodurch es dem Jugendlichen möglich war, den Diversionsmittler gleich nach Abschluss der Vernehmung ohne vorherige Festlegung eines Termins aufzusuchen) alle Gespräche, die – nach Auskunft des Diversionsmittlers – in dem genannten Zeitraum durchgeführt wurden, zu beobachten. Wegen der geringen Anzahl der beobachteten Gespräche kam eine umfassende statistische Auswertung nicht in Betracht, da sie den Anschein von Repräsentativität erwecken würde, der nicht gerechtfertigt wäre. Ich beschränkte mich daher auf eine gründliche Analyse. Wie zuvor vom SPI ausbedungen, wurden die Gespräche zusätzlich auf Video aufgenommen. Die Kamera wurde so installiert, dass die Jugendlichen sie nicht sehen konnten und sie damit auf dem Bildmaterial nicht oder nur von hinten zu sehen sind. Aus organisatorischen bzw. technischen Gründen (Kamera nicht verfügbar oder defekt) konnten sieben der insgesamt 20 Gespräche nicht auf Video aufgezeichnet werden. Nach Abschluss der Beobachtungen wurde mir das Videomaterial zu den übrigen 13 Gesprächen vom SPI zur Verfügung gestellt. Die Untersuchung beruht jedoch in erster Linie auf meinen Beobachtungen, da diese einen umfassenderen Eindruck von den beobachteten Personen und der beobachteten Situation erlaubten. Das Videomaterial wurde, soweit es vorhanden war, zur Überprüfung der durch die Beobachtung gewonnenen Erkenntnisse verwendet. Vor Beginn des Diversionsgespräches wurden die Jugendlichen und ggf. deren Sorgeberechtigten jeweils gefragt, ob sie mit meiner Anwesenheit während Kap. 7.2.1. Zu weiteren Varianten der Beobachtung siehe Friedrichs, Methoden empirischer Sozialforschung, Kap. 5.7.2.

II. Tatsächlich angewandte Erhebungsmethoden

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des Gesprächs und der Aufzeichnung des Gesprächs auf Video einverstanden seien. In keinem Fall versagten Jugendliche oder Sorgeberechtigte die Zustimmung hierzu. 2. Beobachtungen bei der Polizei a) Fragestellungen Um einen Eindruck nicht nur von den neu eingeführten Diversionsgesprächen zwischen den Jugendlichen und den Diversionsmittlern, sondern auch von den Auswirkungen der Richtlinie auf die polizeiliche Tätigkeit, insbesondere die Durchführung der verantwortlichen Vernehmung, zu bekommen, nahm ich die Möglichkeit wahr, bei der Polizei eine begrenzte Zahl von verantwortlichen Vernehmungen jugendlicher Beschuldigter zu beobachten. Da die Diversionsrichtlinie die polizeiliche Tätigkeit während der Vernehmung insbesondere dahingehend modifiziert, diversionsgeeignete Verfahren vorzufiltern und – im Fall eines Vorgehens nach § 45 Abs. 2 JGG – normverdeutlichende Gespräche zu führen, sollten diese beiden Gesichtspunkte in das Zentrum der Beobachtung gerückt werden. b) Vorgehensweise Um diese Aspekte untersuchen zu können, ersuchte ich den Polizeipräsidenten in Berlin um Zustimmung. Nachdem das Landespolizeiverwaltungsamt (Behördlicher Datenschutz) sowie das Landeskriminalamt 143 (Zentralstelle für Jugendsachen) jeweils ihre schriftliche – und mit dem Hinweis auf Einhaltung der datenschutzrechtlichen Bestimmungen versehene – Zustimmung erteilt hatten, wandte ich mich an den Referatsleiter der Verbrechensbekämpfung in der (früheren) Polizeidirektion 7, der mir seine Unterstützung zusicherte. Über ihn stellte ich Kontakt zu Polizeibeamten in den einzelnen Polizeiabschnitten her. Es erwies sich jedoch für die Polizeibeamten in den Abschnitten als schwierig, mich im Voraus auf Termine für Vernehmungen mit Jugendlichen hinzuweisen, in denen die Vorgaben der Richtlinie überhaupt relevant sein würden. Nach Angaben der Polizeibeamten stelle es sich nämlich vielfach erst im Laufe der Vernehmung heraus, ob die Voraussetzungen für Diversion vorlägen. Dies hat sich im Laufe meiner Beobachtungen bestätigt. Zwar war ich zu dem jeweils anberaumten Termin von zehn Vernehmungen jugendlicher Beschuldigter anwesend, allerdings kamen nur in einem einzigen Fall die Vorgaben der Diversionsrichtlinie zum Tragen. In allen weiteren Fällen erschienen die Jugendlichen entweder gar nicht oder der vernehmende Polizeibeamte gelangte im Verlauf der Vernehmung zu der Einschätzung, dass die Voraussetzungen für Diversion nicht erfüllt seien. So war mir lediglich ein kleiner Ausschnitt der durch die Richt-

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C. Methodisches Vorgehen

linie beeinflussten Polizeiarbeit zugänglich. Dennoch waren die Ergebnisse meiner Beobachtung der Vernehmungssituation entscheidend für mein Verständnis des gesamten Verfahrensablaufs. 3. Interviews zum Stand der Implementation a) Fragestellung Die Umsetzung der Richtlinie befand sich zu Beginn meiner Untersuchungen noch in der Modellphase. Daher erschien es mir besonders wichtig, den Stand der Implementation zum Gegenstand der Forschung zu machen. Dazu bot es sich an, die an dem Projekt beteiligten Personen nach ihren bisherigen Erfahrungen mit der Umsetzung der Richtlinie zu befragen. b) Vorgehensweise So führte ich mit Vertretern der Polizei, der Staatsanwaltschaft sowie des Diversionsbüros gezielt Interviews. Zu diesem Zweck nahm ich Kontakt zu den genannten Institutionen auf. Im Bereich der Polizei führte ich Befragungen mit den (damaligen) Diversionsbeauftragten durch, die in den drei zu Beginn des Modellprojekts einbezogenen Direktionen26 tätig waren. Im Bereich der Staatsanwaltschaft befragte ich Oberstaatsanwälte in der Jugendstaatsanwaltschaft zu ihren Erfahrungen. Um den Interviewgegenstand vorzustrukturieren und den Befragten dennoch Raum für eigene Gedankengänge zu gewähren, entschied ich mich zwischen den beiden Polen „vollständig strukturiertes Interview“ und „offenes Interview“ für einen Mittelweg und erarbeitete einen Beobachtungsleitfaden.27 Die darin enthaltenen Fragen sind lediglich Anregungen und Gedächtnishilfen. Sie wurden nicht immer in der vorgegebenen Reihenfolge abgearbeitet. Ebenso plante ich, Vertreter des Berliner Büros für Diversionsberatung und -vermittlung zu interviewen. Im Verlauf meiner Untersuchung stellte sich jedoch heraus, dass ich einen bedeutenderen Anteil an Informationen in spontanen Gesprächen mit den an der Umsetzung der Richtlinie beteiligten Personen gewinnen konnte. So ergaben sich etwa im Laufe meiner Beobachtungen bei der Polizei und dem Diversionsbüro immer wieder Situationen, in denen mir die Beteiligten von ihren Erfahrungen berichteten und ich diesbezüglich Fragen stellen 26

Frühere Polizeidirektionen 2, 5, 7. Siehe Anlage IV. Zu den unterschiedlichen Formen der Strukturierung bzw. Systematisierung von Befragungen siehe Diekmann, Empirische Sozialforschung, Kap. C. X. 2.; Friedrichs, Methoden empirischer Sozialforschung, Kap. 5.2.; Kromrey, Empirische Sozialforschung, Kap. 7.3. 27

II. Tatsächlich angewandte Erhebungsmethoden

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konnte. Diese Erkenntnisse waren insofern von großer praktischer Relevanz, als sie in einen tatsächlichen Verfahrensablauf eingebettet waren und meine Fragen daher viel genauer auf die empirische Grundlage abgestimmt werden konnten. 4. Auswertung internen Datenmaterials Zur Veranschaulichung der durch die Richtlinie bewirkten Effekte soll dasjenige statistische Material, das von den einzelnen Institutionen, deren Arbeit von der Richtlinie beeinflusst ist, erhoben und zur Verfügung gestellt wird, dargestellt und ausgewertet werden. Insbesondere das Berliner Büro für Diversionsberatung und -vermittlung führt eine umfassende interne Statistik über die eigene Fallbearbeitung. Meiner Bitte um Übermittlung der jüngsten Daten ist das Diversionsbüro trotz mehrfacher Nachfrage ohne Angabe von Gründen nicht nachgekommen, so dass die angegebenen Zahlen überwiegend aus den Jahren 2000 und 2001 stammen. Im Folgenden wird jeweils an einschlägiger Stelle auf dieses Datenmaterial Bezug genommen und die jeweilige Quelle angegeben. Bei der Bewertung ist zu berücksichtigen, dass diese amtlichen Zahlen nur mit Blick auf die internen Aufgaben und Interessen und ohne Berücksichtigung wissenschaftlicher Fragestellungen erhoben werden und daher lediglich über erfasste bearbeitete Verfahren Auskunft geben. Es handelt sich somit um reine Tätigkeitsstatistiken.28

28 Siehe zu Verfahrensstatistiken von Strafverfolgungsbehörden näher Eisenberg, Kriminologie, § 17 Rnr. 1 ff.

D. Verfahrensablauf gemäß der Diversionsrichtlinie Im Folgenden soll nun beschrieben werden, welche Vorgaben die Diversionsrichtlinie enthält und wie die beteiligten Personen und Institutionen diese umsetzen.1 Teilweise finden sich in der Richtlinie und der Empfehlung für ihre Umsetzung für das Vorgehen von Polizei und Staatsanwaltschaft sehr detaillierte Regelungen, zum Teil jedoch wird ein weiter Raum zur Ausgestaltung durch die Praxis eröffnet. Soweit die praktische Umsetzung angesprochen ist, beziehe ich mich auf die empirischen Erkenntnisse, die ich auf Grundlage der oben ausgeführten methodischen Entscheidungen habe gewinnen können.

I. Polizei als „Selektionsinstanz“ im Diversionsverfahren 1. Vorfilterung der für eine Einstellung nach § 45 Abs. 1 und 2 JGG geeigneten Verfahren Als erste Beteiligte wird die Polizei in das Verfahren eingeschaltet. Sie erlangt durch Anzeige oder durch Ermittlungen von Amts wegen Kenntnis von Tatvorwürfen gegenüber Jugendlichen und Heranwachsenden. Die Richtlinie hat den Aufgabenbereich der Polizei insofern erweitert, als es nunmehr ihr obliegt, eine (zumindest vorläufige) Einschätzung darüber zu treffen, ob eine Verfahrenseinstellung gemäß § 45 Abs. 1 oder 2 JGG in Betracht kommt. Dazu muss sie überprüfen, ob die Voraussetzungen der Absätze 1 bzw. 2 des § 45 JGG – konkretisiert durch die Richtlinie – erfüllt sind. a) Voraussetzungen für eine Einstellung nach § 45 Abs. 1 JGG Gesetzliche Voraussetzung für eine Einstellung nach § 45 Abs. 1 JGG i. V. m. § 153 StPO ist, dass es sich bei der mutmaßlichen Tat um ein Vergehen handelt, die Schuld des Jugendlichen als gering anzusehen wäre und kein öffentliches Interesse an der Verfolgung besteht. aa) Tatvorwurf Die Richtlinie konkretisiert diese Voraussetzungen dahingehend, dass die mutmaßliche Tat als „jugendtypisches Fehlverhalten mit geringem Schuldgehalt 1

Zur Veranschaulichung siehe Anlage I.

I. Polizei als „Selektionsinstanz‘‘ im Diversionsverfahren

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und geringen Auswirkungen“ beurteilt werden muss.2 Als Anhaltspunkte für „jugendtypisches Fehlverhalten“ sollen „insbesondere leichtsinniges, unbekümmertes, ziel- und planloses Handeln aus der Situation heraus sowie Handeln aus Geltungsbedürfnis, Erlebnishunger oder ähnlichen jugendtypischen Motivationen“ gelten. „Geringe Auswirkungen“ sollen in der Regel bei einem Schaden bis zu 50 Euro (vormals 100 DM), im Einzelfall aber auch bei einem höheren Schaden anzunehmen sein. Es wird klargestellt, dass die Einstellung nach § 45 Abs. 1 JGG bei Verdacht auf Verwirklichung von Verbrechenstatbeständen wegen des Verweises auf § 153 StPO ausgeschlossen ist. In einer Anlage zur Richtlinie3 sind exemplarisch Delikte aufgeführt, die regelmäßig als jugendtypische Straftaten geringeren Gewichts gelten sollen. Dieser Katalog ist für die Polizei als Orientierungshilfe für die Vorauswahl von Verfahren gedacht, in denen die Staatsanwaltschaft auf förmliche, jugendrichterliche Entscheidungen verzichten wird: Allgemeine Straftaten: – Diebstahl, Unterschlagung und Hehlerei (§§ 242, 246, 259 StGB) geringwertiger Sachen (Schadenshöhe bis zu 50 Euro, vormals 100 DM); – Betrug (§ 263 StGB) in leichten Fällen (Schadenshöhe bis zu 50 Euro, vormals 100 DM); – alle Fälle, in denen ein Strafgesetz auf § 248a StGB verweist; – unbefugter Gebrauch eines Fahrzeugs (§ 248b StGB); – Leistungserschleichung (§ 265a StGB); – leichte Fälle der Sachbeschädigung (§ 303 StGB), insbesondere bei jugendtypischer Motivation oder Situation; – Hausfriedensbruch (§ 123 StGB) bei jugendtypischer Motivation; – leichte Fälle der Nötigung oder Bedrohung (§§ 240, 241 StGB); – Beleidigung (§ 185 StGB); – fahrlässige Körperverletzung (§ 229 StGB); – vorsätzliche einfache Körperverletzung (§ 223 StGB) bei leichtem Angriff und leichten Folgen;

2 Vgl. auch Formulierungen BT-Drucksache 11/5829, S. 23 und Richtlinien zum JGG Nr. 2 zu § 45. 3 ABl. Berlin 1999, S. 1891 (1894).

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D. Verfahrensablauf gemäß der Diversionsrichtlinie

Verkehrsstraftaten: – Fahren ohne Fahrerlaubnis in leichten Fällen (§ 21 StGB); – leichte Verstöße gegen das Pflichtversicherungsgesetz (§§ 1, 6 PflVG); – leichte Fälle des unerlaubten Entfernens vom Unfallort (§ 142 StGB); Verstöße gegen sonstige Nebengesetze: – geringfügige Verstöße gegen das Ausländergesetz und das Asylverfahrensgesetz; – geringfügige Verstöße gegen das Urheberrechtsgesetz, sofern wirksam auf die Rückgabe der sichergestellten Vervielfältigungsstücke verzichtet oder wirksam in eine Vernichtung der durch die Tat hervorgebrachten Produkte eingewilligt wird; – geringfügige Vergehen nach dem Waffengesetz, sofern wirksam auf die Rückgabe der sichergestellten Gegenstände verzichtet wird. bb) Strafrechtliche Vorbelastung Weiterhin verlangt die Richtlinie über die gesetzlichen Voraussetzungen hinaus, dass der Jugendliche sog. „Ersttäter“, d.h. bisher nicht vorbelastet ist; bei sog. „Zweittätern“ soll eine reaktionslose Einstellung nur angezeigt sein, wenn zwischen den (mutmaßlichen) Taten ein größerer Zeitabstand liegt oder die Taten im Hinblick auf die geschützten Rechtsgüter oder die Begehungsweise nicht vergleichbar sind.4 cc) Kein Bedarf für erzieherische Maßnahmen Zusätzlich muss die Polizei positiv feststellen, dass im Hinblick auf die von der Entdeckung der (mutmaßlichen) Tat und dem Ermittlungsverfahren ausgehenden Wirkungen für erzieherische Maßnahmen kein Bedarf besteht.5 Bereits durch die Einleitung und Durchführung des Ermittlungsverfahrens sei dem Jugendlichen – etwa durch besondere Ermittlungsmaßnahmen, die verantwortliche Vernehmung oder die Informierung von Eltern oder Jugendgerichtshilfe – „verdeutlicht worden, dass er gegen das Gesetz verstoßen hat und dies nicht ohne Reaktion geblieben ist“.6 Entbehrlich seien darüber hinausgehende Maßnahmen 4 Vgl. auch die (bundeseinheitlichen) Richtlinien zum JGG Nr. 2 zu § 45 JGG: „insbesondere bei Taten erstmals auffälliger Jugendlicher“. 5 Ähnlich Richtlinien zum JGG Nr. 2 zu § 45. 6 ABl. Berlin 1999, S. 1891 (1892).

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insbesondere dann, wenn der Beschuldigte Unrechtseinsicht gezeigt und glaubhaft zum Ausdruck gebracht hat, dass er sein Verhalten bedauert oder die Tat lange zurückliegt und „sich der Jugendliche seither ohne Begehung weiterer Straftaten gut geführt hat“.7 dd) Geständnis Der Wortlaut des § 45 Abs. 1 JGG verlangt – in Abgrenzung zu dem des Absatzes 3 – kein Geständnis des Beschuldigten. Diese gesetzgeberische Entscheidung wird in der Richtlinie deklaratorisch wiederholt. Allerdings wird sie in der allgemeinen Einführung zur Diversionsrichtlinie eingeschränkt, indem jede Form der Diversion gemäß § 45 JGG ausgeschlossen wird, wenn der Beschuldigte den Tatvorwurf ernstlich bestreitet, da dieses Bestreiten entweder in der Unschuld des Jugendlichen oder aber in dessen Uneinsichtigkeit begründet liegen könne.8 b) Voraussetzungen für eine Einstellung nach § 45 Abs. 2 JGG Der Anwendungsbereich des § 45 Abs. 2 JGG ist nach dem Gesetz dann eröffnet, wenn erzieherische Maßnahmen schon durchgeführt oder zumindest eingeleitet sind und die Staatsanwaltschaft weder die Beteiligung des Jugendrichters nach § 45 Abs. 3 JGG noch eine Anklageerhebung für erforderlich hält. Die Richtlinie wiederholt diese Voraussetzungen und betont dabei den kausalen Zusammenhang zwischen der erzieherischen Maßnahme und der Erwartung zukünftiger Legalbewährung auch ohne Einschaltung des Jugendrichters insofern, als die Erwartung zukünftiger Legalbewährung gerade auf den erwarteten Wirkungen der durchgeführten oder eingeleiteten Maßnahme beruhen muss. aa) Tatvorwurf Eine Einstellung nach § 45 Abs. 2 JGG komme einerseits in solchen Fällen in Betracht, in denen wegen schwerer wiegender Delikte ermittelt wird als solchen, bezüglich deren nach § 45 Abs. 1 JGG eingestellt werden kann. Darüber hinaus sei die Anwendung des § 45 Abs. 2 JGG in Fällen möglich, in denen wegen bereits wiederholter Begehung dieser Delikte ermittelt wird. Es wird klargestellt, dass die Anwendung des § 45 Abs. 2 JGG auch bei mutmaßlicher Verwirklichung von Verbrechenstatbeständen nicht ausgeschlossen ist.

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ABl. Berlin 1999, S. 1891 (1892). ABl. Berlin 1999, S. 1891.

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D. Verfahrensablauf gemäß der Diversionsrichtlinie

bb) Erzieherische Maßnahmen In der Richtlinie wird ausgeführt, dass unter „erzieherischen Maßnahmen“ i. S. des § 45 Abs. 2 JGG all jene „präventiv wirkenden Maßnahmen verstanden werden können, die aufgrund der jeweiligen Straftat getroffen wurden und individuell auf Täter und Tat abgestimmt sind. Entscheidend ist, dass die Maßnahmen in möglichst engem zeitlichem Zusammenhang mit der Tat erfolgen und eine Beziehung zur Tat herstellen, damit sie deutlich als Reaktion auf die Tat empfunden werden. Zu berücksichtigen sind auch Leistungen und Maßnahmen, die der Beschuldigte von sich aus erbringt oder vorschlägt.“9 In einer Liste werden all diejenigen Maßnahmen bzw. Leistungen aufgeführt, die in Betracht kommen sollen: (1) eine Entschuldigung gegenüber dem Geschädigten; (2) die (auch teilweise) materielle Schadenswiedergutmachung; (3) Schmerzensgeldzahlungen; (4) Arbeitsleistungen für den Geschädigten; (5) das Bemühen des Jugendlichen, einen Ausgleich mit dem Verletzten zu erreichen (Täter-Opfer-Ausgleich); (6) gemeinnützige Arbeit; (7) Geldzahlung an eine gemeinnützige Einrichtung; (8) die Teilnahme an einem polizeilichen Verkehrsunterricht oder einem ErsteHilfe-Kurs; (9) die Erfüllung präventiv-polizeilicher Anordnungen der Polizei, die im Zusammenhang mit der Tat auf der Grundlage des ASOG ergangen sind; (10) ein normverdeutlichendes Gespräch der Polizei mit dem Jugendlichen im Zusammenhang mit der verantwortlichen Vernehmung; (11) ein erzieherisches Gespräch der Jugendgerichtshilfe mit dem Jugendlichen; (12) ein erzieherisches Gespräch des Staatsanwaltes mit dem Jugendlichen. Gemäß der Richtlinie können die erzieherischen Maßnahmen etwa von den Erziehungsberechtigten des Jugendlichen, der Schule, dem Ausbilder oder dem Sozialamt ausgehen. Maßnahmen aus dem sozialen Umfeld des Jugendlichen werden für besonders geeignet gehalten, das künftige Legalverhalten des jugendlichen Beschuldigten positiv zu beeinflussen.10 Zudem sollen die erzieherischen Maßnahmen auch von der Staatsanwaltschaft oder der Polizei angeregt werden können. 9 10

ABl. Berlin 1999, S. 1891 (1892). Vgl. auch Begründung des Regierungsentwurfs BT-Drucksache 11/5829, S. 24.

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Im Einzelnen ist vorgesehen, dass die Polizei – nach Rücksprache mit der Staatsanwaltschaft – die oben genannten Maßnahmen Nr. (1) bis (8) anregen kann; die Staatsanwaltschaft selbst soll die Maßnahmen Nr. (1), (8), (11) oder andere geeignete Maßnahmen anregen oder mit dem Jugendlichen ein erzieherisches Gespräch (12) führen können. In erster Linie aber ist die Diversionsrichtlinie daraufhin ausgerichtet, dass die Polizei nach Absprache mit der Staatsanwaltschaft die Durchführung einer erzieherischen Maßnahme anregt und den Beschuldigten zu diesem Zweck an den Diversionsmittler überweist. Damit folgen die Verfasser der Richtlinie hinsichtlich der staatsanwaltschaftlichen Kompetenzen der wohl herrschenden Auffassung, nach der nicht nur Personen und Institutionen des weiteren sozialen Umfelds, sondern auch die Staatsanwaltschaft selbst erzieherische Maßnahmen anregen kann.11 Darüber hinaus liegt der Richtlinie die Ansicht zu Grunde, die Staatsanwaltschaft könne diese Anregungskompetenz auch in der Art ausüben, dass sie lediglich die Zustimmung zu einer von der Polizei vorgenommenen Anregung erteilt. Entgegen der überwiegenden Auffassung12 umfasst die staatsanwaltschaftliche Anregungskompetenz laut Richtlinie auch solche Maßnahmen, die im formlosen jugendrichterlichen Erziehungsverfahren gemäß § 45 Abs. 3 JGG vom Jugendrichter zu erteilen sind und geht teilweise sogar darüber hinaus. cc) Geständnis Im ersten Teil der Diversionsrichtlinie wird darauf hingewiesen, dass für eine Verfahrenseinstellung nach § 45 Abs. 2 JGG – in Übereinstimmung mit dem Wortlaut des Gesetzes – kein Geständnis erforderlich ist. Dies wird jedoch dadurch eingeschränkt, dass als Voraussetzung für alle Formen der Diversion gemäß § 45 JGG verlangt wird, die beschuldigte Person dürfe den Tatvorwurf nicht ernstlich bestreiten. Zusätzlich wird in der Empfehlung zur Umsetzung der Richtlinie ausgeführt, dass die Polizei ein normverdeutlichendes Gespräch nur dann führen darf, wenn ein glaubhaftes Geständnis vorliegt oder der Jugendliche von der Polizei auf frischer Tat betroffen wurde.13 Dieses normverdeutlichende Gespräch ist aber als Zwischenschritt auf dem Weg zur Einstellung nach § 45 Abs. 2 JGG ausgestaltet, so dass demnach im Widerspruch zur herrschenden Auffassung eine Verfahrenseinstellung bei bestreitenden Beschuldigten vielfach ausscheiden wird. Dadurch wird auch ausgeschlossen, dass Verfahren aufgrund bereits durchgeführter Reaktionen des sozialen Umfelds eingestellt werden. 11

Siehe oben unter B. II. 1. b) dd). Siehe zum Streitstand betr. den Umfang der Anregungskompetenz der Staatsanwaltschaft oben unter B. II. 1. b) dd). 13 Berliner Diversionsrichtlinie ABl. Berlin 1999, S. 1891 (1895). 12

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D. Verfahrensablauf gemäß der Diversionsrichtlinie

Diese Vorgaben decken sich auch mit der Praxis der Polizeibeamten: Sie scheinen keinen Raum für Diversion zu sehen, wenn der Jugendliche die ihm vorgeworfene Tat nicht positiv einräumt. Auch in der staatsanwaltschaftlichen Bearbeitung von Verfahren zeigt sich, dass ein Geständnis vielfach als ungeschriebene Voraussetzung für eine Einstellung nach § 45 Abs. 1 und 2 JGG angesehen wird. dd) Zustimmungserfordernisse Schließlich muss der Jugendliche mit der Maßnahme einverstanden sein; der Erziehungsberechtigte oder gesetzliche Vertreter darf gegen sie keinen Widerspruch erheben.14 Dies erscheint bereits wegen des einvernehmlichen Charakters der Verfahrenserledigung und der erzieherischen Zielsetzung der Maßnahmen einerseits sowie des grundrechtlich geschützten Rechts elterlicher Sorge (Art. 6 Abs. 2 GG) andererseits erforderlich. c) Praktische Umsetzung aa) Schwere des Tatvorwurfs Besonders die Einschätzung, ob ein (mutmaßlich begangenes) Delikt seiner Schwere nach zur Diversion geeignet ist, bereitet vielen ermittelnden Polizeibeamten Schwierigkeiten, denn in der Anlage zur Richtlinie werden lediglich Delikte genannt, die für eine Verfahrenseinstellung nach § 45 Abs. 1 JGG geeignet sind. Für den Anwendungsbereich des § 45 Abs. 2 JGG gibt die Richtlinie eine Begrenzung nach oben nicht vor.15 Dies steht zwar in Einklang mit dem Gesetz, führt jedoch bei vielen polizeilichen Sachbearbeitern zu einer Verunsicherung hinsichtlich der Einschätzung, ob etwa ein Raubdelikt für eine Diversion geeignet sein kann. Erklärte Zielsetzung der Richtlinie ist es, den Anwendungsbereich des § 45 Abs. 2 JGG auch in den Bereich der „mittleren Kriminalität“ hinein zu erweitern.16 Eher restriktive Tendenzen in der Handhabung der Diversionsmöglichkeiten zumindest durch Teile der Polizei wirken diesem Ziel entgegen. Dies schlägt sich umso mehr nieder, als eine Einschaltung des Diversionsmittlers zur Schaffung der Voraussetzungen nach § 45 Abs. 2 JGG nur dann möglich ist, wenn die Polizei das Verfahren als diversionsgeeignet erkennt. Befindet sich die Akte bereits bei der Staatsanwaltschaft, so ist die Einschaltung 14

Ausführlich zu den Zustimmungserfordernissen siehe oben unter B. II. 1. b) ee). Anders etwa die Sächsische VwV Diversion vom 27. August 1999 JMBl. 1999, 158, 159 = DVJJ-Journal 1999, 432, die bei Eigentumsdelikten eine Wertbegrenzung vorgibt. 16 ABl. Berlin 1999, S. 1891 (1895): „bis in den Bereich mittelschwerer Verfehlungen“. 15

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des Diversionsmittlers zumindest nach den Vorgaben der Richtlinie nicht mehr möglich. Zwar ist die Anregung einer anderen Reaktion noch denkbar, wird jedoch wegen des Mehraufwandes zumeist nicht in Erwägung gezogen. Damit wird die Polizei zu einer „Selektionsinstanz“ hinsichtlich solcher Verfahren, in denen eine Diversionsmaßnahme durchgeführt wird. Darüber hinaus bestehen nicht nur Probleme bei der Auswahl von Verfahren, die nach der Schwere des Tatvorwurfs zur Durchführung von Diversion geeignet sind, sondern auch bei der Feststellung des Tatverdachts selbst.17 Bekanntermaßen ist diesbezüglich bei der Polizei vielfach eine Tendenz zur Überbewertung zu verzeichnen, die im Fortgang des förmlichen Strafverfahrens durch die Filterfunktion der staatsanwaltschaftlichen Erledigung teilweise ausgeglichen wird.18 So werden etwa Ermittlungsverfahren wegen absoluter Antragsdelikte eingeleitet, ohne dass der Strafantrag jemals gestellt würde. Oder aber der Anfangsverdacht (§ 152 Abs. 2 StPO) lässt sich nicht zu einem hinreichenden Tatverdacht (§§ 170 Abs. 1, 203 StPO) erhärten. In beiden Fällen muss die Staatsanwaltschaft das Verfahren mangels genügenden Anlasses zu Erhebung der öffentlichen Klage gemäß § 170 Abs. 2 StPO einstellen. Überwiegend wird bei (mutmaßlichen) Diebstahlsdelikten die Einschaltung des Mittlers angeregt:19 Im Jahre 2000 bezogen sich 45% der Verfahren, in denen die Polizei nach Rücksprache mit der Staatsanwaltschaft den Diversionsmittler einschaltete, auf Diebstahlsdelikte.20 Weitere Straftatbestände, bei denen die Polizei häufig eine Diversionsvermittlung anregt, sind Sachbeschädigung (14%), Körperverletzung (11%) und Erschleichen von Leistungen (4%). bb) Strafrechtliche Vorbelastung Neben der Einschätzung, ob das mutmaßliche Delikt seiner Schwere nach die Voraussetzungen erfüllt, muss die Polizei auch erwägen, ob die bisherige strafrechtliche Vorbelastung eine Diversion angemessen erscheinen lässt. Als Grundlage für diese Einschätzung dienen die Daten des Informationssystems der Polizei, das – entgegen dem Wortlaut des § 12 StGB – die Bezeichnung Informationssystem Verbrechensbekämpfung (ISVB) trägt. Hier sind je17 Zum polizeilichen Beurteilungsspielraum bei der Bestimmung des Tatverdachts vgl. nur Eisenberg, Kriminologie, § 27 Rnr. 31 ff. mit weiteren Nachweisen. 18 Siehe zum Strafverfahren als Selektionsprozess Eisenberg, Kriminologie, § 27 Rnr. 27 ff.; P.-A. Albrecht, Kriminologie, §§ 16, 17. 19 Hier ist zu berücksichtigen, dass auch hinsichtlich aller polizeilich erfassten Verfahren die Diebstahlsdelikte die zahlenmäßig bedeutendste Gruppe bilden (vgl. PolSt. 2002 S. 28: 47,5%). 20 Diese Zahlen entstammen internen Statistiken des Sozialpädagogischen Instituts. Die Statistik weist eine Kategorie „Einbruch“ aus, die nicht mit einbezogen ist, weil unklar bleibt, welche Straftatbestände hierdurch im Einzelnen erfüllt wurden.

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D. Verfahrensablauf gemäß der Diversionsrichtlinie

doch lediglich solche Informationen abrufbar, die die polizeiliche Bearbeitung etwaiger früherer Ermittlungsverfahren gegenüber dem Beschuldigten betreffen. Die Polizei kann hieraus nicht entnehmen, ob diese Verfahren von der Staatsanwaltschaft eingestellt wurden, ob Anklage erhoben wurde und ob im letzteren Fall auch eine Verurteilung erfolgte. Dieses Informationsdefizit führt dazu, dass Polizeibeamte Verfahren für ungeeignet halten, die es in Wirklichkeit nicht sind. So fallen etwa solche Beschuldigte heraus, die bereits mehrfach angezeigt worden sind, gegen die die Staatsanwaltschaft in den vorangegangenen Verfahren jedoch keinen hinreichenden Tatverdacht feststellen konnte. Umgekehrt ist es möglich, dass nach Einschätzung der Polizei eine Verfahrenseinstellung gemäß § 45 Abs. 2 JGG und zwar erst nach Durchführung einer erzieherischen Maßnahme angezeigt ist, jedoch im Hinblick auf die Geringfügigkeit des Delikts und die (fehlende) bisherige Vorbelastung das Vorgehen nach § 45 Abs. 1 JGG ohne weitere Maßnahmen angemessen erscheint. Nach Angaben des SPI haben Diversionsmittler bereits mehrfach die Durchführung von Diversionsgesprächen abgelehnt mit der Begründung, das Projekt diene nicht der „Strafverschärfung“ und dürfe nicht dazu führen, dass in solchen Verfahren, die vormals folgenlos eingestellt wurden, nunmehr erzieherische Maßnahmen erfolgten.21 cc) Anwendung von materiellem Jugendstrafrecht auf Heranwachsende Die Polizei muss weiterhin eine Einschätzung darüber treffen, ob bei einem Verfahren gegen einen Heranwachsenden Jugendstrafrecht und damit die Einstellungsvorschrift des § 45 JGG anwendbar ist. Die Richtlinie weist darauf hin, dass die abschließende Entscheidung der Staatsanwaltschaft verbleibt. Dieser Hinweis ist insofern überflüssig, als die Entscheidungsgewalt nach der gesetzlichen Grundlage letztlich ohnehin bei der Staatsanwaltschaft liegt. Entgegen dieser gesetzlichen Kompetenzzuweisung hat eine Vorauswahl durch die Polizei in jedem Fall unwiderrufliche Folgen. Hält die Polizei eine Anwendung des Jugendstrafrechts nicht für angezeigt, so kann der Heranwachsende zumindest nach den Vorgaben der Richtlinie nicht an einer Diversionsmaßnahme mit dem Mittler teilnehmen, auch wenn dies nach Ansicht des abschließend entscheidenden Staatsanwaltes in Betracht gekommen wäre. Hält die Polizei Jugendstrafrecht für anwendbar und regt daraufhin erfolgreich die Einschaltung eines Diversionsmittlers an, so lässt sich diese Maßnahme selbst dann nicht rückgängig machen, wenn die Staatsanwaltschaft später zu dem Ergebnis gelangt, Jugendstrafrecht sei nicht anwendbar.22 21 Siehe Haustein/Nithammer, in: Arbeitsstelle Kinder- und Jugendkriminalitätsprävention (Hrsg.), Schnelle Reaktion. Tatverdächtige Kinder und Jugendliche im Spannungsfeld zwischen beschleunigtem Verfahren und pädagogischer Hilfe, S. 83 (95).

I. Polizei als „Selektionsinstanz‘‘ im Diversionsverfahren

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2. Vernehmung Kommt die Polizei zu dem Ergebnis, dass das Verfahren für eine Einstellung nach § 45 Abs. 1 oder 2 JGG geeignet ist, so wird – wie in jedem anderen Jugendstrafverfahren auch – der Jugendliche über seine Erziehungsberechtigten23 zu einer verantwortlichen Vernehmung vorgeladen. a) Inhalt In der Vernehmung soll die Polizei über das Tatgeschehen hinaus auch solche Informationen ermitteln, die für eine Diversionsentscheidung relevant sind. So ist insbesondere zu erfragen, ob der Beschuldigte auf das Tatwerkzeug und die durch die Tat hervorgebrachten Gegenstände verzichtet hat und ggf. in die Löschung unrechtmäßig erworbener oder hergestellter Ton- und Bildaufzeichnungen oder EDV-Programme einwilligt. Weiterhin sind die Wirkung des bisherigen Strafverfahrens auf den Beschuldigten sowie etwaige nachteilige Folgen der Tat für den Beschuldigten (wie z. B. eigener materieller oder gesundheitlicher Schaden, Verlust der Ausbildungs- oder Arbeitsstelle) aktenkundig zu machen. Im Hinblick auf eine mögliche Einstellung nach § 45 Abs. 2 JGG sollen ggf. bereits getroffene oder zu erwartende erzieherische Maßnahmen von Eltern, Geschädigten, Schule oder Ausbilder sowie Wiedergutmachungsleistungen, die der Beschuldigte gegenüber dem Geschädigten von sich aus erbracht hat (etwa Entschuldigung, Schadensersatzleistungen, Schmerzensgeldzahlungen, Arbeitsleistungen), sonstige Leistungen, die der Beschuldigte von sich aus erbracht hat und die Erfüllung präventiv-polizeilicher Anordnungen der Polizei im Zusammenhang mit der (mutmaßlichen) Tat aktenkundig gemacht werden. Weitere Ermittlungen im sozialen Umfeld des Jugendlichen sollen unterbleiben, um ihn nicht mehr als unvermeidbar bloßzustellen. b) Schulung Da in dieser Vernehmung und den anschließenden Arbeitsschritten wichtige Weichen für die spätere Diversionsentscheidung gestellt werden, sollen sie von einem sog. speziell geschulten Polizeibeamten durchgeführt werden.24 Wer die 22

Kritisch auch Herrlinger, DVJJ-Journal 1999, S. 149 (150). Vgl. PDV 382, 3.3.1, abgedruckt DVJJ-Journal 1997, S. 5 (12). 24 Die Richtlinie verlangt jedoch nicht, dass die im Vorfeld zu treffende und für das weitere Vorgehen maßgebliche Auswahl überhaupt diversionsgeeigneter Verfahren von einem speziell geschulten Polizeibeamten vorgenommen wird. Zur Forderung nach einer „besonderen theoretischen und praktischen Ausbildung“ von Polizeibeamten, die allgemein mit Jugendlichen befasst sind, siehe bereits Nr. 12 der Mindestgrundsätze der Vereinten Nationen für die Jugendgerichtsbarkeit, abgedruckt in: ZStW 99 (1987), S. 253 (268); Ostendorf, DVJJ-Journal 1995, S. 103 ff. 23

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D. Verfahrensablauf gemäß der Diversionsrichtlinie

Schulungen leitet und welche Inhalte sie umfassen, lässt die Richtlinie offen. Jedenfalls wurde bisher nur ein geringer Teil der Polizeibeamten, die mit der Durchführung der Richtlinie in Berührung kommen können, geschult.25 Insbesondere in den Polizeidirektionen, in denen bereits das sog. „Berliner Modell“26 praktiziert wird, ist eine Schulung aller betroffenen Beamten kaum zu erreichen. Die im Zusammenhang mit Diversion stehenden Aufgaben sind nach diesem Modell von Schutzpolizisten wahrzunehmen. Da jeder Schutzpolizist potenziell auch mit Tatvorwürfen gegenüber jugendlichen Beschuldigten befasst ist,27 ist es so bedeutsam wie schwierig, die notwendigen Informationen zu verbreiten. Die bereits geschulten Polizeibeamten sollen daher ihre neu gewonnenen Kenntnisse und Fähigkeiten in die Direktionen hineintragen und damit als Multiplikatoren fungieren. In allen Polizeidirektionen gibt es eine Diversionsbeauftragte bzw. einen Diversionsbeauftragten. Sie sind für die statistische Erfassung der diversionsgeeigneten Jugendstrafverfahren bei der Polizei zuständig und sollen intern Defiziten oder Uneinheitlichkeiten in der Anwendung der Richtlinie entgegenwirken. 3. Weichenstellung für das Absehen von der Verfolgung nach § 45 Abs. 1 JGG Die Vernehmung des Beschuldigten bietet die Grundlage für die (Vor-)Entscheidung des zuständigen Polizeibeamten, ob das Verfahren für eine Einstellung nach § 45 Abs. 1 JGG geeignet erscheint. Zu diesem Zweck kann „der Polizeibeamte den Jugendlichen im Rahmen der Vernehmung in angemessener Form auf die Unrechtmäßigkeit seines Verhaltens“28 hinweisen. Dies und die daraufhin erfolgende Reaktion des Jugendlichen sind dann in den Akten zu vermerken. Gelangt der vernehmende Polizeibeamte nach Abschluss seiner Ermittlungen zu dem Ergebnis, dass eine Einstellung ohne weitere Reaktion nach § 45 Abs. 1 JGG angezeigt ist, so soll er die Akten ohne Beteiligung der Jugendgerichtshilfe der Staatsanwaltschaft übersenden mit der Anregung, von der Verfolgung gemäß § 45 Abs. 1 JGG abzusehen.

25

Junker, in: Stiftung SPI (Hrsg.), Infoblatt Nr. 17, Juli 2001, S. 6. Das sogenannte „Berliner Modell“ wurde im Februar 1998 zunächst im Rahmen eines Probelaufes in der Direktion 5 eingeführt. Mittlerweile wird in drei weiteren Direktionen das „Berliner Modell“ praktiziert und der Probelauf ist seit Ende Juli 2002 beendet. Siehe auch oben unter B. IV. 4. a). 27 Vgl. auch Weber, in: Berliner Forum Gewaltprävention, Sondernummer 5, S. 91. 28 ABl. Berlin 1999, S. 1891 (1895). 26

I. Polizei als „Selektionsinstanz‘‘ im Diversionsverfahren

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4. Weichenstellung für das Absehen von der Verfolgung nach § 45 Abs. 2 JGG Kommt nach der Einschätzung des Polizeibeamten hingegen eine Einstellung auf der Grundlage einer bereits durchgeführten oder noch anzuregenden Maßnahme gemäß § 45 Abs. 2 JGG in Betracht, so soll er in folgender Weise vorgehen. a) Normverdeutlichendes Gespräch Sofern der Jugendliche geständig ist bzw. von der Polizei auf frischer Tat betroffen wurde und der verwirklichte Straftatbestand eindeutig zu bestimmen ist, soll der Polizeibeamte im Zusammenhang mit der Vernehmung ein sog. normverdeutlichendes Gespräch mit dem Jugendlichen führen. In diesem Gespräch, zu dem der Erziehungsberechtigte hinzugezogen wird, soll der Polizeibeamte mit dem Jugendlichen „die Verfehlung aufarbeiten“, indem er diesem den Unrechtsgehalt der Tat vor Augen führt. Dabei ist es Aufgabe des jeweiligen Polizeibeamten, in einer auf Alter und Persönlichkeit des Jugendlichen abgestimmten Weise so auf diesen einzuwirken, dass er zu der Einsicht gelangt, sein Verhalten sei nicht richtig gewesen. Die Wahrnehmung dieser neuen Funktion innerhalb des Verfahrens hat für den Alltag der Polizei keine große Veränderung gebracht. Die Polizei hat es seit jeher als ihre Aufgabe gesehen, im Rahmen der Vernehmung auf die Strafbarkeit des verfolgten Verhaltens hinzuweisen und die Gründe für dessen Strafbewehrung aufzuzeigen. Neu ist lediglich, dass die Sachbearbeiter über dieses Gespräch einen Vermerk für die Staatsanwaltschaft auf einem eigens dafür entworfenen Formblatt zu fertigen haben. Hält der Polizeibeamte nach Abschluss der Ermittlungen eine Verfahrenseinstellung gemäß § 45 Abs. 2 Satz 1, 1. bzw. 2. Alt. JGG im Hinblick auf bereits erfolgte erzieherische Maßnahmen, von dem Jugendlichen erbrachte Leistungen oder zu erwartende Maßnahmen Dritter für angezeigt, so übersendet er die Akten ohne Beteiligung der Jugendgerichtshilfe an die Staatsanwaltschaft mit der Anregung, gemäß § 45 Abs. 2 JGG von der Verfolgung abzusehen. b) Weichenstellung für die Einschaltung eines Diversionsmittlers Erscheint dem jeweiligen Polizeibeamten aufgrund der Ermittlungen und des normverdeutlichenden Gesprächs eine Verfahrenseinstellung im Hinblick auf noch zu veranlassende Maßnahmen sinnvoll, so wird die Einschaltung eines Diversionsmittlers relevant. Es ergeben sich dann neue und zeitintensive Arbeitsabläufe:

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D. Verfahrensablauf gemäß der Diversionsrichtlinie

aa) Telefonat mit dem Ansprechpartner bei der Staatsanwaltschaft Der Polizeibeamte muss in einem Telefonat mit dem Ansprechpartner bei der Staatsanwaltschaft klären, ob der Sachverhalt für die Einschaltung eines Mittlers geeignet ist. Für jede Polizeidirektion in Berlin ist ein Abteilungsleiter (mit Stellvertreter) bei der Jugendstaatsanwaltschaft als Ansprechpartner bestimmt, der für diese Fragen zuständig ist. Der Ansprechpartner ist jedoch nicht derjenige, der das Verfahren bearbeitet und über die Einstellung letztlich entscheidet, wenn die Akten nach Abschluss der polizeilichen Ermittlungen bei der Staatsanwaltschaft eingehen. Hierfür sind die Dezernenten in den Abteilungen zuständig. Es ist nicht einmal gewährleistet, dass die Dezernenten derselben Abteilung angehören, der der zuständige Ansprechpartner als Abteilungsleiter vorsteht. Dadurch entsteht die Gefahr sich widersprechender Entscheidungen. Zu Beginn des Modellprojekts hatte es hinsichtlich des Kontakts zwischen Polizei und Staatsanwaltschaft einige Schwierigkeiten gegeben.29 So scheuten sich einige Polizeibeamte, überhaupt bei den Abteilungsleitern anzurufen; andere riefen bei ihnen an, um generelle Fragen zur Richtlinie zu stellen. Da sich die Abteilungsleiter durch diese häufigen Anfragen in ihrem Arbeitsablauf gestört fühlten, haben sich Polizei und Staatsanwaltschaft mittlerweile darauf geeinigt, dass hauptsächlich in einer Kernzeit angerufen werden soll. Dass die Abteilungsleiter die Anrufe der Polizeibeamten zunächst als Störung empfanden, könnte die Vermutung stützen, die Konzeption der telefonischen Zustimmung begründe – auch aus Gründen der Arbeitsbelastung – die Gefahr einer routinemäßigen Erteilung der Zustimmung.30 Während des Telefonats legt der jeweilige Polizeibeamte dem Ansprechpartner bei der Staatsanwaltschaft den Sachverhalt dar, soweit er ihm bekannt ist. Der Ansprechpartner berücksichtigt seine eigenen Informationen zu den Vorbelastungen des Beschuldigten bei der Entscheidung, ob der Mittler einzuschalten ist. Diese entnimmt er dem Staatsanwaltschaftlichen Auskunftssystem AStA31, das dem ISVB insofern überlegen ist, als es zumindest auch die Daten über den Abschluss der Verfahren bei der Staatsanwaltschaft enthält. Dennoch bieten auch die Informationen des AStA keine umfassende Entscheidungsgrundlage, da sie regional begrenzt sind und nur eingeschränkt Auskunft geben über et29

Siehe auch Junker, in: Stiftung SPI, Infoblatt Nr. 17, Juli 2001, S. 6. So Heinz, DVJJ-Journal 1999, S. 131 (141). 31 Das AStA ist das Datenverarbeitungssystem der Berliner Staatsanwaltschaft. Es wurde 1984 eingeführt. Es beinhaltet personenbezogene Daten von Beschuldigten, das entsprechende Delikt und das Aktenzeichen des Verfahrens. Aufgabe des AStA-Systems ist es insbesondere, die Arbeit der Staatsanwaltschaft zu rationalisieren, Statistiken zu erstellen, die Haftverhältnisse einzelner Straffälliger zu überwachen und die Hauptverhandlungstermine zu planen und einzuhalten. 30

I. Polizei als „Selektionsinstanz‘‘ im Diversionsverfahren

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waige gerichtliche Entscheidungen, also über Verurteilung, Freispruch oder richterliche Verfahrenseinstellung. Die Nutzung des zentralen staatsanwaltschaftlichen Verfahrensregisters (§§ 492 ff. StPO, „Bundes-SISY“) vermag die genannten Defizite teilweise auszugleichen, da es auf bundesweiter Erfassung beruht und die Registrierung auch gerichtlicher Verfahrenserledigungen umfasst (§ 492 Abs. 2 Satz 1 Nr. 5 StPO). Problematisch bleibt aber, dass die Polizei die Fälle, die aufgrund ihrer eigenen unzureichenden Informationen als ungeeignet erscheinen, bereits im Vorfeld herausfiltert. Daher droht auch hier die Gefahr, dass diversionsgeeignete Verfahren als solche nicht erkannt werden und nur mangels einschlägiger Informationen eingriffsintensivere Maßnahmen angeregt oder verhängt werden. bb) Entscheidung des Ansprechpartners bei der Staatsanwaltschaft Ist der Ansprechpartner bei der Staatsanwaltschaft der Auffassung, das Verfahren könne ohne weitere Reaktion eingestellt werden oder es müsse eine andere Maßnahme erfolgen, so übersendet der Polizeibeamte die Akte (ohne Beteiligung der Jugendgerichtshilfe) an die Staatsanwaltschaft. Der Ansprechpartner kann in geeigneten Fällen auch die Durchführung eines erzieherischen Gesprächs der Jugendgerichtshilfe oder des zuständigen Staatsanwalts mit dem Jugendlichen einleiten. Entscheidet der Ansprechpartner bei der Staatsanwaltschaft, dass der Mittler einzuschalten ist, erklärt er dem Polizeibeamten gegenüber sein Einverständnis. Er legt zugleich eine Frist von höchstens drei Monaten32 fest, binnen deren die erzieherische Maßnahme zu erledigen und dies nachzuweisen ist. c) Vereinbarung mit dem Jugendlichen Mit diesem Einverständnis der Staatsanwaltschaft führt der Polizeibeamte erneut ein Gespräch mit dem Jugendlichen, in dem er ihn auf die Möglichkeit hinweist, innerhalb von einer Woche mit dem zuständigen Diversionsmittler Kontakt aufzunehmen und mit diesem gemeinsam eine Maßnahme zu entwickeln, auf die mutmaßliche Tat zu reagieren, insbesondere einen etwaigen Schaden wiedergutzumachen. Dem Jugendlichen ist bewusst zu machen, dass diese Maßnahme freiwillig ist und die endgültige Entscheidung über die Verfahrenseinstellung bei der Staatsanwaltschaft verbleibt.33 32 So der Text der Richtlinie ABl. Berlin 1999, S. 1891 (1896). Nach Angaben der Mitarbeiterinnen des Berliner Büros für Diversionsberatung und -vermittlung wird in der Praxis von einer dreiwöchigen Frist ausgegangen. 33 Zur Frage der Freiwilligkeit siehe eingehend unter D. II. 2. d) dd) (3) und E. I. 1. b) cc).

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D. Verfahrensablauf gemäß der Diversionsrichtlinie

Ist der Jugendliche nicht einverstanden, übersendet die Polizei die Akten der Staatsanwaltschaft. Ist er hingegen einverstanden, trifft die Polizei mit ihm auf einem Formularblatt eine Vereinbarung (Diversionsvereinbarung). Über diese Vereinbarung ist die Jugendgerichtshilfe zu unterrichten. Die Polizei übermittelt sodann die erforderlichen Aktenauszüge an den zuständigen Diversionsmittler. Die Akte verbleibt bis zum Bericht des Mittlers bei der Polizei. Erst wenn der Bericht vorliegt, wird die Akte unter deutlicher Kennzeichnung als Diversionssache der Staatsanwaltschaft zur weiteren Bearbeitung übersandt.

II. Einschaltung der vermittelnden Institution: „Diversionsmittler“ Sind die Voraussetzungen für die Einschaltung des Mittlers gegeben, so kann der Jugendliche sich innerhalb von einer Woche bei diesem melden, um ein Treffen zu vereinbaren.34 1. Wer sind die Diversionsmittler? Wer die Diversionsmittler sind, klärt die Richtlinie nicht. In der Praxis haben die Senatsverwaltungen das Sozialpädagogische Institut Berlin (SPI) mit der Wahrnehmung der „Diversionsvermittlung“ beauftragt. Als Grund für die Übertragung dieser Aufgaben an das SPI wird angeführt, dass die Clearingstelle Jugendhilfe/Polizei des SPI bereits über langjährige Erfahrungen mit der Zusammenarbeit von Polizei einerseits und Institutionen der Jugendhilfe andererseits verfüge, die zur Wahrnehmung der Diversionsaufgaben genutzt werden könnten.35 Das SPI ist eine rechtsfähige Stiftung des bürgerlichen Rechts mit Sitz in Berlin. Stifter ist der Arbeiterwohlfahrt (AWO) Landesverband Berlin e. V.36 Als ein Modellprojekt des SPI wurde das Berliner Büro für Diversionsberatung und -vermittlung gegründet.37 Das Diversionsbüro gehört zum Geschäftsbereich 34 Nach Angaben des Berliner Büros für Diversionsberatung und -vermittlung betrug die durchschnittliche Zeitspanne zwischen der Diversionsvereinbarung des Jugendlichen und der Polizei bis zum ersten Treffen mit dem zuständigen Diversionsmittler im Jahr 2000 sieben Tage. 35 Haustein/Nithammer, in: Arbeitsstelle Kinder- und Jugendkriminalitätsprävention (Hrsg.), Schnelle Reaktion. Tatverdächtige Kinder und Jugendliche im Spannungsfeld zwischen beschleunigtem Verfahren und pädagogischer Hilfe, S. 83 (86). 36 Stiftungszweck ist es, „die Ziele der Arbeiterwohlfahrt zu verfolgen und dazu beizutragen, eine Gesellschaft zu entwickeln, in der sich jeder Mensch in Verantwortung für sich und das Gemeinwesen frei entfalten kann.“ Vgl. hierzu Homepage des SPI, www.stiftung-spi.de. 37 Zu Einzelheiten der Organisation und Arbeitsbedingungen vgl. Haustein/Nithammer, DVJJ-Journal 1999, S. 427 (428).

II. Einschaltung der vermittelnden Institution: „Diversionsmittler‘‘

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„Soziale Räume und Projekte“, in dem verschiedene Maßnahmen und Projekte mit den Kernthemen „Soziales“ und „Gesundheit“ zusammengeschlossen sind. Finanziert wird das Projekt über die Senatsverwaltung für Schule, Jugend und Sport. Räume, Telefon und Faxgeräte für die Diversionsmittler stellt die Polizei in den jeweiligen Direktionen.38 Die im Diversionsbüro zusammenarbeitenden Diversionsmittler sind Sozialarbeiter bzw. Sozialpädagogen. „Vermittelnd“ werden sie tätig, da sie ihre Rolle, anders als etwa „Streetworker“, nicht als parteilich für die betreuten Jugendlichen verstehen, sondern neben der Unterstützung der betroffenen Jugendlichen auch die Wiederherstellung des sozialen Friedens als Zielvorgabe für ihre Arbeit formuliert haben.39 In jeder Polizeidirektion gibt es einen Diversionsmittler oder eine Diversionsmittlerin. Die Beratungsgespräche mit den Jugendlichen finden in den Räumen der Diversionsmittler statt, die sich innerhalb eines Dienstgebäudes der Polizei in der jeweiligen Polizeidirektion befinden. Geleitet wird das Berliner Büro für Diversionsberatung und -vermittlung von einer Psychologin und einer Pädagogin. In regelmäßigen Arbeitstreffen findet ein Austausch der Mittler untereinander und eine interne Supervision statt.40 Das Diversionsbüro übernimmt nicht nur die Diversionsberatung, sondern arbeitet auch mit den Diversionsbeauftragten in den Polizeidirektionen zusammen, um für das Modellprojekt bei den polizeilichen Sachbearbeitern zu werben und die erforderlichen Kenntnisse zu verbreiten. Darüber hinaus bemühen sich die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter um eine Stärkung der Zusammenarbeit aller Beteiligten. 2. Wie arbeiten sie? a) Vorgaben der Diversionsrichtlinie Die Richtlinie sieht vor, dass der Diversionsmittler prüft, welche erzieherische Maßnahme im konkreten Fall in Betracht kommt. Insbesondere sollen möglich sein:

38 Haustein/Nithammer, in: Arbeitsstelle Kinder- und Jugendkriminalitätsprävention (Hrsg.), Schnelle Reaktion. Tatverdächtige Kinder und Jugendliche im Spannungsfeld zwischen beschleunigtem Verfahren und pädagogischer Hilfe, S. 83 (87). 39 Haustein/Nithammer, in: Arbeitsstelle Kinder- und Jugendkriminalitätsprävention (Hrsg.), Schnelle Reaktion. Tatverdächtige Kinder und Jugendliche im Spannungsfeld zwischen beschleunigtem Verfahren und pädagogischer Hilfe, S. 83 (88). 40 Haustein/Nithammer, DVJJ-Journal 1999, S. 427; Näheres zu den Mitarbeitern Haustein/Nithammer, in: Arbeitsstelle Kinder- und Jugendkriminalitätsprävention (Hrsg.), Schnelle Reaktion. Tatverdächtige Kinder und Jugendliche im Spannungsfeld zwischen beschleunigtem Verfahren und pädagogischer Hilfe, S. 83 (95).

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D. Verfahrensablauf gemäß der Diversionsrichtlinie

(1) eine Entschuldigung gegenüber dem Geschädigten; (2) die (auch teilweise) materielle Schadenswiedergutmachung; (3) Schmerzensgeldzahlungen; (4) Arbeitsleistungen für den Geschädigten; (5) das Bemühen, einen Ausgleich mit dem Verletzten zu erreichen (TOA); (6) gemeinnützige Arbeit; (7) Geldzahlungen an gemeinnützige Einrichtungen; (8) Teilnahme an einem polizeilichen Verkehrsunterricht oder einem ErsteHilfe-Kurs. Solche Maßnahmen, die binnen einer Woche zu erledigen sind und drei Kontakte nicht überschreiten, kann er selbst durchführen. In Ausnahmefällen kann die einwöchige Frist um drei Tage überschritten werden. Über die erfolgreiche Durchführung oder das Scheitern der Maßnahme erstellt der Diversionsmittler einen Bericht, der mit den Akten an die Staatsanwaltschaft weitergeleitet wird. Hält er hingegen eine längerfristige Maßnahme für erforderlich oder führt er die Maßnahme aus anderen Gründen nicht selbst durch, so leitet er die Aktenauszüge an die zuständige Jugendgerichtshilfe weiter, die dann die Durchführung der Maßnahme übernimmt. b) Sicht des Berliner Büros für Diversionsberatung und -vermittlung Das Team des Berliner Büros für Diversionsberatung und -vermittlung hat seine Arbeitsschwerpunkte wie folgt definiert:41 – Beratung der Jugendlichen über Möglichkeiten der Diversion; – Durchführung erzieherischer Maßnahmen, z. B. erzieherischer Gespräche; – Unterstützung beim Schadensausgleich, z. B. bei Entschuldigungen, Wiedergutmachungsleistungen, Schadensersatz einschließlich der Zusammenarbeit mit den Firmen, die häufig von Jugendstraftaten betroffen sind (z. B. Kaufhäusern); – Bei Bedarf: Beratung der Jugendlichen in Bezug auf die Bewältigung individueller Schwierigkeiten und in Bezug auf Angebote der Jugendhilfe; – Bei Bedarf: Vermittlung der Jugendlichen in weiterführende Einrichtungen; – Vernetzung mit Jugendhilfe-Angeboten (Jugendämter, Freie Träger), um Jugendliche bei Bedarf vermitteln zu können; 41 Haustein/Nithammer, in: Arbeitsstelle Kinder- und Jugendkriminalitätsprävention (Hrsg.), Schnelle Reaktion. Tatverdächtige Kinder und Jugendliche im Spannungsfeld zwischen beschleunigtem Verfahren und pädagogischer Hilfe, S. 83 (89).

II. Einschaltung der vermittelnden Institution: „Diversionsmittler‘‘

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– Information der Polizei über Diversion; – Konzeptentwicklung, z. B. Erarbeiten von Standards bezüglich im Einzelfall angemessener Reaktionen und Angebote. Nachdem der betreffende Jugendliche sich mit dem zuständigen Diversionsmittler in Verbindung gesetzt hat, werde in einem ersten Gespräch zunächst der Bedarf an Unterstützung bzw. Vermittlung in andere Institutionen ermittelt. Inhalt dieses Gespräches seien regelmäßig folgende Aspekte: Zu Beginn würden den Jugendlichen (und ggf. deren Sorgeberechtigten) die Rahmenbedingungen des Diversionsverfahrens dargelegt. Im weiteren Fortgang würden die Ziele des Jugendlichen und die zu deren Erreichung zur Verfügung stehenden Ressourcen herausgearbeitet. Zudem werde der Jugendliche über seine Möglichkeiten, auf das Verfahren Einfluss oder Hilfe in Anspruch zu nehmen, informiert. In einem weiteren, pädagogisch ausgerichteten, Teil des Gesprächs gehe es darum, dass die Jugendlichen die Tat reflektieren und über künftige Verhaltensalternativen nachdenken. Um alle für bedeutsam gehaltenen Aspekte im Gespräch abzudecken, habe sich das Team eine Checkliste erarbeitet. Es wird angestrebt, die möglichen erzieherischen Maßnahmen, Wiedergutmachungen oder Vermittlungen nicht einseitig vorzuschlagen, sondern gemeinsam mit den Jugendlichen zu erarbeiten. Haben die Jugendlichen keine Ideen etwa für eine Wiedergutmachung, so regen die Diversionsmittler angemessene Aktivitäten an, z. B. eine Entschuldigung oder das Angebot, für den Geschädigten Arbeitsleistungen zu erbringen. Maßnahmen, die drei Kontakte nicht überschreiten und innerhalb von zehn Tagen zu erledigen sind, führen die Diversionsmittler selbst durch bzw. veranlassen diese. Solche Maßnahmen können etwa sein: ein erzieherisches Gespräch mit dem Jugendlichen, eine Entschuldigung gegenüber dem Geschädigten, die materielle Schadenswiedergutmachung, Arbeiten und Hilfen für den Geschädigten, Teilnahme am thematischen Gruppenangebot (z. B. „Ladendiebe-Gruppe“). Ergibt sich jedoch, dass mittel- oder längerfristige Maßnahmen notwendig sind, dann schlagen die Diversionsmittler dies dem Jugendlichen und den Sorgeberechtigten vor, vermitteln den Jugendlichen in eine entsprechende Einrichtung und vermerken dies im Bericht an den Staatsanwalt. Die wichtigsten Grundlagen für die Arbeit der Mittler seien „das lösungsorientierte Gespräch und die Orientierung auf einen Ausgleich zwischen beschuldigten Jugendlichen und Geschädigten.“42 Im Rahmen einer „systemischen lösungsorientierten Kurzzeitberatung“ solle den Jugendlichen eine aktive, mitgestaltende Rolle zukommen.43 Wenn die Diversionsmittler im Rahmen von 42 Haustein/Nithammer, in: Arbeitsstelle Kinder- und Jugendkriminalitätsprävention (Hrsg.), Schnelle Reaktion. Tatverdächtige Kinder und Jugendliche im Spannungsfeld zwischen beschleunigtem Verfahren und pädagogischer Hilfe, S. 83 (89).

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D. Verfahrensablauf gemäß der Diversionsrichtlinie

Entschuldigungsgesprächen oder umfassenderen Ausgleichsgesprächen zwischen jugendlichen Beschuldigten und den Geschädigten vermitteln, wenden sie Methoden der Mediation an. Dadurch könne sichergestellt werden, dass sich alle Parteien einbringen und ihre Interessen berücksichtigt werden könnten. c) Theoretische Grundlagen Nach ihren eigenen Angaben orientieren sich die Diversionsmittler an dem Ansatz der „systemischen lösungsorientierten Kurzzeitberatung“. Den wissenschaftstheoretischen Hintergrund systemischen Denkens bildet die Systemtheorie. Sie wurde als erstes in der Biologie und der Physiologie entwickelt,44 hat dann jedoch Eingang in die unterschiedlichsten Wissenschaftsbereiche gefunden. So ist sie heute keine einheitliche Theorie mehr. Vielmehr zielt sie als Metatheorie darauf ab, gemeinsame Gesetzmäßigkeiten der verschiedensten Wissensgebiete herauszuarbeiten und die Integration von unterschiedlichem Wissen zu ermöglichen. Allgemein wird systemisches Denken als eine Haltung beschrieben, komplexe Phänomene nicht linear-kausal verstehen zu wollen, sondern Wechselwirkungen zwischen den Elementen in einem System zu berücksichtigen. Dadurch soll der Gefahr entgegenwirkt werden, sich in Einzelheiten zu verlieren. Der systemische Ansatz wurde unter anderem in der Familientherapie aufgenommen und weiterentwickelt.45 Im Laufe der Jahrzehnte wurden diese systemischen Ansätze auf andere soziale (Teil-)Systeme als die Familie übertragen und auch außerhalb von Therapie im Sinne von Beratung genutzt. Auch die beratende Tätigkeit im Rahmen von Sozialarbeit ist mittlerweile zu einem Anwendungsbereich systemischer Konzepte geworden.46 Systemische Beratung beruht auf verschiedenen Prämissen und Haltungen, die je nach persönlichen Vorlieben und Erfahrungen des Beratenden mehr oder weniger stark Berücksichtigung finden. Eine bedeutsame Grundhaltung ist das zirkuläre Denken. Darunter ist der Versuch zu verstehen, das Verhalten der Elemente eines Systems als Regelkreis so zu beschreiben, dass die Eingebundenheit dieses Verhaltens in einen Kreislaufprozess sichtbar wird.47 43 Haustein/Nithammer, in: Arbeitsstelle Kinder- und Jugendkriminalitätsprävention (Hrsg.), Schnelle Reaktion. Tatverdächtige Kinder und Jugendliche im Spannungsfeld zwischen beschleunigtem Verfahren und pädagogischer Hilfe, S. 83 (90). 44 Zur geschichtlichen Entwicklung der Systemtheorie siehe etwa von Schlippe/ Schweitzer, Lehrbuch der systemischen Therapie und Beratung, Kap. II.2.2. 45 Zur Entwicklung von der Familientherapie zur systemischen Therapie und Beratung von Schlippe/Schweitzer, Lehrbuch der systemischen Therapie und Beratung, Kap. I.1. mit weiteren Nachweisen. 46 Vgl. etwa Pfeifer-Schaupp, Jenseits der Familientherapie. Systemische Konzepte in der sozialen Arbeit.

II. Einschaltung der vermittelnden Institution: „Diversionsmittler‘‘

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Weiterhin wird das Konzept der Neutralität für wichtig gehalten, damit die beratende Person einerseits von allen Beteiligten als kompetent akzeptiert wird und andererseits nicht in bestehende Beziehungsmuster eingebaut wird.48 Für das Konzept der Lösungsorientierung ist die Annahme zentral, dass jedes System bereits über ausreichend Ressourcen verfügt, um bestehende Probleme zu lösen, diese aber derzeit nicht genutzt werden. Um diese Ressourcen aufzufinden, sollte man sich nicht mit dem Problem beschäftigen, sondern den Fokus auf die Konstruktion von Lösungen verlagern.49 Die Formulierung klarer Therapie- bzw. Beratungsziele ist damit eine Grundvoraussetzung des lösungsorientierten systemischen Ansatzes. Die Idee der Kundenorientierung50 hat ihren Ursprung zwar im Bereich der Ökonomie, sie findet jedoch mittlerweile auch verstärkt im Bereich systemischer Beratung Beachtung. Kundenorientierung bedeutet, dass die Leistungserbringer möglichst genau das anbieten, was ihre Kunden subjektiv haben wollen, und nicht das, was sie nach Meinung der Fachleute benötigen. Dieses Konzept zu verwirklichen erweist sich allerdings dann als schwierig, wenn die beratende Person mehreren Personen oder Institutionen mit voneinander abweichendem Bedarf verpflichtet ist. Eine im Zusammenhang mit systemischer Therapie und Beratung wichtige methodische Herangehensweise ist die Bildung von Hypothesen. Sie dient dazu, die Informationen zu ordnen und für alle Beteiligten neue Sichtweisen zu schaffen.51 Eine weitere zentrale Methode in der systemischen Therapie und Beratung ist die Methode des Fragenstellens. Hierbei spielt das zirkuläre Fragen eine besondere Rolle.52 Die Grundannahme dieser Methode ist, dass in einem sozialen System alle Verhaltensweisen und Ausdrucksweisen von Gefühlen nicht nur als isolierte, im Menschen ablaufende Ereignisse zu sehen sind, sondern auch als Formen von Kommunikation innerhalb eines Beziehungsgeflechts. Durch zirkuläre Fragen können diese kommunikativen Bedeutungen sichtbar gemacht werden. Zudem wird das Angebot gemacht, eine Außenperspektive zum eigenen sozialen System einzunehmen und dadurch bisherige Sichtweisen und Deutungsmodelle zu verändern. Die Irritation, die mit dieser Fragetechnik aus47 Von Schlippe/Schweitzer, Lehrbuch der systemischen Therapie und Kap. III.5.3. 48 Von Schlippe/Schweitzer, Lehrbuch der systemischen Therapie und Kap. III.5.4. 49 De Shazer, Wege der erfolgreichen Kurzzeittherapie, S. 12 ff. 50 Von Schlippe/Schweitzer, Lehrbuch der systemischen Therapie und Kap. III.5.9. 51 Von Schlippe/Schweitzer, Lehrbuch der systemischen Therapie und Kap. III.5.2., III.6. 52 Von Schlippe/Schweitzer, Lehrbuch der systemischen Therapie und Kap. III.7.1.; ausführlich mit praktischen Beispielen Simon/Rech-Simon, Fragen.

Beratung, Beratung,

Beratung, Beratung, Beratung, Zirkuläres

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D. Verfahrensablauf gemäß der Diversionsrichtlinie

gelöst wird, bewirkt, dass die linear-kausale Sicht zu Gunsten einer zirkulär-systemischen Betrachtungsweise aufgegeben wird. Die Mitglieder des Systems erfahren sich aufeinander bezogen. Übertragen auf eine Diversionsberatung könnte dies etwa bedeuten, dass der Jugendliche nicht (nur) gefragt wird: „Warum hast Du X geschlagen?“, sondern „Was meinst Du, wie hat sich X gefühlt, als Du ihn geschlagen hast?“ Eine weitere Technik der systemischen Therapie und Beratung ist die wertschätzende Konnotation, d.h. eine grundsätzlich positive Haltung der therapierenden bzw. beratenden Person bzgl. der Verhaltensweisen aller Mitglieder des Systems.53 Diese Haltung soll die Neutralität der beratenden Person sichern und eine Verhärtung zirkulärer Abläufe verhindern. Weiterhin ist die Umdeutung („Reframing“) eine der wichtigsten systemischen Interventionen.54 Bei dieser Methode wird einem Geschehen ein anderer Sinn gegeben, indem man es in einen anderen Rahmen stellt und dadurch die Bedeutung des Geschehens verändert. Das Erzählen von Geschichten und Metaphern ermöglicht es, sich von der direkten, oft schwierigen ernsten Situation zu entfernen, und wie aus der Distanz heraus eine Sichtweise für die eigene Situation zu gewinnen.55 Unter der Schlussintervention wird jede Form von Intervention verstanden, die den Beratenen „etwas mit auf den Weg gibt“, etwa ein Resümee des Gesprächs, Handlungsvorschläge oder Aufgaben.56 d) Ergebnisse der Beobachtung Meine Erfahrungen mit der Umsetzung der Vorgaben der Diversionsrichtlinie in der Praxis beruhen in erster Linie auf der Beobachtung von 20 Diversionsgesprächen, die alle von einem Diversionsmittler durchgeführt wurden und im Mittel etwa 45 Minuten dauerten. Diese sollen im Folgenden in formaler wie inhaltlicher Sicht analysiert werden. Zu berücksichtigen ist, dass es sich um Diversionsgespräche handelt, die relativ früh nach Beginn des Projektes geführt wurden, so dass einige der angesprochenen Aspekte unter Umständen nicht mehr in vollem Umfang gültig sind. Eine weitergehende Überprüfung anhand neuerer Beobachtungen wurde mir jedoch – wie oben erörtert – nicht ermöglicht.

53 Von Schlippe/Schweitzer, Lehrbuch der systemischen Therapie und Beratung, Kap. III.9.1. 54 Von Schlippe/Schweitzer, aaO., Kap. III.9.2. 55 Von Schlippe/Schweitzer, aaO., Kap. III.8.5. 56 Von Schlippe/Schweitzer, aaO., Kap. III.10.

II. Einschaltung der vermittelnden Institution: „Diversionsmittler‘‘

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aa) Formale Merkmale der beobachteten Verfahren (1) Anzahl der in das jeweilige Diversionsverfahren einbezogenen Jugendlichen An den in die Beobachtung einbezogenen 20 Diversionsgesprächen haben insgesamt 25 Jugendliche teilgenommen. Teilweise wurden also Gespräche mit mehreren beschuldigten Jugendlichen durchgeführt. In zehn der Verfahren, innerhalb deren ich Diversionsgespräche beobachtete, wurde den Jugendlichen gemeinschaftliche Deliktsbegehung vorgeworfen; dabei bezog sich der Tatvorwurf ausnahmslos (zumindest auch) auf Diebstahlsdelikte. Von diesen zehn Verfahren wurden in vier Verfahren die Diversionsgespräche mit jeweils allen – in einem verbundenen Ermittlungsverfahren – beschuldigten Jugendlichen gleichzeitig durchgeführt; es nahmen an drei der beobachteten Gespräche jeweils zwei Jugendliche teil und an einem der Gespräche drei Jugendliche. An vier der Gespräche nahm nur jeweils ein Beschuldigter teil; für die (ursprünglich) Mitbeschuldigten wurde die Durchführung einer Diversionsmaßnahme nach § 45 Abs. 2 JGG angesichts abweichender strafrechtlicher Vorbelastung bzw. abweichenden Umfangs der Beteilung an der mutmaßlichen Tat als zu eingriffsintensiv oder aber zu eingriffsschwach eingeschätzt. Dagegen führte der Diversionsmittler mit zwei Jugendlichen, gegen die in einem gemeinsamen Verfahren wegen gemeinschaftlicher Deliktsbegehung ermittelt wurde, getrennte Gespräche. Der Grund dafür wird darin gelegen haben, dass die beiden ehemaligen Freundinnen sich nach Entdeckung der mutmaßlichen Tat zerstritten hatten und eine gemeinsame Maßnahme (jedenfalls zunächst) undurchführbar erschien. Während neun der beobachteten Gespräche waren sorgeberechtigte Personen anwesend, davon in sieben Fällen die Mutter, in einem Fall der Vater sowie in einem weiteren Fall der Betreuer aus dem „Kinderhaus“, in dem die beschuldigten Jugendlichen lebten. (2) Persönliche Merkmale der Jugendlichen Von den insgesamt 25 beschuldigten Jugendlichen waren lediglich drei weiblich. Das Alter der Beschuldigten lag zwischen 14 und 17 Jahren.57 Obwohl gesetzliche Grundlagen und die Diversionsrichtlinie selbst es zulassen, waren also keine Heranwachsenden einbezogen. Insgesamt waren bis auf drei Auszubildende und einen arbeitslosen Jugendlichen alle Beschuldigten Schüler.

57 Sieben Jugendliche im Alter von 14, acht im Alter von 15, vier im Alter von 16 und sechs im Alter von 17 Jahren.

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D. Verfahrensablauf gemäß der Diversionsrichtlinie

(3) Tatvorwurf Die Polizei übersandte dem Diversionsmittler regelmäßig vor Durchführung der Gespräche die Unterlagen über das Ermittlungsverfahren, insbesondere das Formblatt über die Anzeigeerstattung (Pol 900). Hieraus ergab sich, welche Straftaten den jeweiligen Jugendlichen vorgeworfen wurden und auf welchem mutmaßlichen Sachverhalt die Vorwürfe beruhten. Die polizeilichen Tatvorwürfe gegenüber den Jugendlichen, die ein von mir beobachtetes Gespräch mit dem Diversionsmittler führten, lauteten in zehn Fällen auf Diebstahlsdelikte (§§ 242 ff. StGB), wovon sich fünf Fälle auf Ladendiebstahl bezogen und vier Fälle zusätzlich mit dem Vorwurf der Sachbeschädigung (§ 303 StGB) verbunden waren. Jeweils zwei weitere Verfahren hatten den Vorwurf der Körperverletzung (§ 223 StGB), des Erschleichens von Leistungen (§ 265a StGB), der Hehlerei (§ 259 StGB) und des Missbrauchs von Scheckund Kreditkarten (§ 266b StGB) zum Gegenstand. Jeweils ein Tatvorwurf bezog sich auf Sachbeschädigung (§ 303 StGB) und Fahren ohne Fahrerlaubnis (§ 21 StVG). Bei einem Abgleich zwischen dem jeweils vorgeworfenen Verhalten und der polizeilichen Angabe des mutmaßlich verletzten Straftatbestandes erwies sich mehrfach, dass die polizeiliche Subsumtion unzutreffend war. In den beiden Verfahren, in denen der polizeiliche Tatvorwurf „Kreditkartenmissbrauch“ (in einem Fall in Verbindung mit Diebstahl) lautete, hatte die Polizei selbst ermittelt, dass die Beschuldigten die ec-Karte eines Familienangehörigen ohne dessen Wissen an sich genommen, mit der ihnen bekannten PIN-Nummer unbefugt größere Summen Geldes (1.000 DM bzw. 6.000 DM) am ec-Automaten abgehoben und die ec-Karten anschließend wieder zurückgelegt hatten. Zwar ist die materiell-strafrechtliche Beurteilung eines solchen Verhaltens umstritten,58 es besteht aber jedenfalls insoweit Einigkeit, als der Tatbestand des Missbrauchs von Scheck- und Kreditkarten (§ 266b StGB) nicht erfüllt ist, weil tauglicher Täter nur der berechtigte Karteninhaber sein kann.59 Letztlich ist diese abweichende juristische Einschätzung jedoch für die Entscheidung über die Zuweisung an den Diversionsmittler unbedenklich, da in beiden Fällen die – diesbezüglich sehr vagen Voraussetzungen – der Diversionsrichtlinie erfüllt sind. (4) Strafrechtliche Vorerfassung Den polizeilichen Unterlagen konnte der Diversionsmittler überwiegend nicht entnehmen, ob und ggf. in welcher Weise die Jugendlichen bereits vor dem aktuellen Ermittlungsverfahren strafrechtlich erfasst worden waren. Dies wurde 58 59

Vgl. Tröndle/Fischer, StGB, § 263a Rnr. 13 m. w. N. Siehe BT-Drucksache 10/5058, S. 32; Tröndle/Fischer, StGB, § 266b Rnr. 3.

II. Einschaltung der vermittelnden Institution: „Diversionsmittler‘‘

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daher teilweise im Gespräch mit den Jugendlichen erörtert. Da sich viele Jugendliche nicht an die genauen Umstände eines etwaigen früheren Strafverfahrens erinnern konnten, etwa nicht einzuschätzen wussten, ob ein früheres Strafverfahren durch Einstellung oder aber Urteil beendet worden war, oder sich nicht erinnern konnten, ob sie bereits strafmündig gewesen waren, musste die Frage der strafrechtlichen Vorerfassung für den Diversionsmittler vielfach offen bleiben. Dennoch lässt sich begründet vermuten, dass dem Diversionsmittler einige Fälle zugewiesen wurden, in denen er – unter Zugrundelegung der verfügbaren Informationen und den Vorgaben der Diversionsrichtlinie – gar nicht hätte eingeschaltet werden dürfen bzw. in denen es jedenfalls streitig sein dürfte, ob die Voraussetzungen bereits erfüllt waren. So erschien ein Jugendlicher zum Diversionsgespräch, der beschuldigt wurde, in einem Supermarkt Waren im Wert von 4,50 DM gestohlen zu haben. Aus den Unterlagen der Polizei ging lediglich hervor, dass der Jugendliche vor Erreichen der Strafmündigkeit zweimal polizeilich erfasst worden war. Auch der Jugendliche konnte keine Angaben über weitere Ermittlungsverfahren machen. Der Diversionsmittler teilte dem Jugendlichen daraufhin mit, er sehe in ihm einen sog. „Ersttäter“, so dass seiner Auffassung nach angesichts der geringen Schadenssumme eine Einstellung ohne weitere Maßnahme angezeigt sei. In einem anderen Fall, in dem es um den Vorwurf der Sachbeschädigung durch „Tagging“60 ging, lagen dem Diversionsmittler keine Informationen über eine bisherige strafrechtliche Erfassung vor. Der 15-jährige Jugendliche gab lediglich an, als Kind einmal dabei ertappt worden zu sein, wie er ein Auto aufbrach. Der Diversionsmittler führte dennoch mit dem Jugendlichen ein Gespräch und vereinbarte, sich nach der Höhe des Schadens und ggf. nach Möglichkeiten einer Wiedergutmachung durch Arbeitsleistung zu erkundigen. Ein dritter Fall, in dem einem 17-jährigen Jugendlichen Fahren ohne Fahrerlaubnis (§ 21 StVG) und ein Verstoß gegen die StVZO vorgeworfen wurde, wurde dem Diversionsmittler vom Referat Verkehrsdienst (VKD) zugewiesen. Da dieses Referat jedoch zumindest zum damaligen Zeitpunkt keinen Zugang zum polizeilichen Register (ISVB) hatte, fehlte es völlig an einer geeigneten Grundlage für die Entscheidung, ob die Einstellung ohne weitere Reaktion oder aber erst nach Durchführung einer erzieherischen Maßnahme erfolgen sollte. Dennoch führte der Mittler das Gespräch, wies jedoch darauf hin, dass das Verfahren möglicherweise auch ohne seine Einschaltung hätte eingestellt werden müssen.

60

Mit „Tag“ bezeichnet man eine grafisch gestaltete Graffitisignatur.

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(5) Dauer des Verfahrens bis zur Einschaltung des Mittlers Der seit Einleitung des Ermittlungsverfahrens bis zur Durchführung des ersten Diversionsgesprächs verstrichene Zeitraum ist insofern bedeutsam, als erklärtes Ziel der Diversionsrichtlinie die Beschleunigung von Jugendstrafverfahren ist. Dieser Zeitraum betrug bei den Verfahren, zu denen ich Diversionsgespräche beobachtete, mindestens 19 Tage und höchstens 172 Tage, bezüglich aller Verfahren im Mittel 70,3 Tage (Median 61 Tage). Der Zeitraum zwischen dem Abschluss der Diversionsvereinbarung bei der Polizei und dem ersten Diversionsgespräch betrug in einem Fall nur eine halbe Stunde, im Höchstfall 31 Tage, im Mittel 9,6 Tage (Median 7 Tage). bb) Gesprächsinhalte Die Inhalte der beobachteten Diversionsgespräche variierten sehr stark in Abhängigkeit davon, ob es sich um den ersten Kontakt zwischen dem Mittler und dem Jugendlichen oder aber ein Folgetreffen handelte. Nur zwei der insgesamt 20 beobachteten Gespräche waren bereits persönliche Treffen zwischen dem Jugendlichen und dem Diversionsmittler vorausgegangen. Die Gesprächsinhalte solcher Zweit- oder Dritttreffen richten sich danach, was in den jeweiligen Erstgesprächen mit den Jugendlichen vereinbart wurde. So war in einem Verfahren mit dem Jugendlichen beim ersten Kontakt vereinbart worden, ein Ausgleichsgespräch mit dem Verletzten zu führen. Nachdem der Verletzte zu diesem Gespräch nicht erschienen war, traf sich der Mittler erneut mit dem Jugendlichen, um gemeinsam mit diesem einen Brief an den Verletzten zu verfassen, in dem ein weiterer Gesprächstermin vorgeschlagen wurde. In dem zweiten Fall war gegen einen Jugendlichen ein Strafverfahren wegen des Tatvorwurfs des Erschleichens von Leistungen (§ 265a StGB) eingeleitet worden, nachdem er mehrfach ohne Fahrausweis in Verkehrsmitteln der Berliner Verkehrsbetriebe (BVG) angetroffen worden war. In dem Erstgespräch hatten Diversionsmittler und Jugendlicher vereinbart, die Zahlungsaufforderungen der BVG bzw. der von ihr beauftragten Inkasso-Unternehmen zu sortieren und einen Plan für die Begleichung der angefallenen Forderungen aufzustellen. Außerdem sollte erwogen werden, wie zukünftig der regelmäßige Erwerb von Zeitkarten sichergestellt werden könnte. Zu diesem Zweck wurde ein zweites Gespräch durchgeführt, zu dem der Jugendliche Zahlungsaufforderungen und weitere erforderliche Unterlagen mitbrachte. Zusätzlich zu den 20 Diversionsgesprächen war ich bei einem Treffen anwesend, bei dem ein Jugendlicher – gemäß der im Erstgespräch getroffenen Vereinbarung – gemeinsam mit dem Mittler ein Zeitungsgeschäft aufsuchte, um sich dort dafür zu entschuldigen, dass er eine Zeitschrift gestohlen habe, und

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den Kaufpreis für die Zeitschrift zu entrichten. Es handelte sich somit nicht um ein Diversionsgespräch, sondern bereits um die Durchführung der innerhalb des Erstgesprächs vereinbarten erzieherischen Maßnahme. Im Übrigen bezogen sich meine Beobachtungen auf den jeweils ersten Kontakt zwischen dem Diversionsmittler und dem betreffenden Jugendlichen. Hinsichtlich der Inhalte und des Ablaufs sind diese Erstgespräche überwiegend miteinander vergleichbar. (1) Einwilligung in meine Anwesenheit und Videoaufzeichnung Aus datenschutzrechtlichen Gründen sowie zur Herstellung eines für eine erfolgreiche Beratung erforderlichen Vertrauensverhältnisses zu dem Jugendlichen wies der Diversionsmittler in meinem Beisein vor Beginn jedes einzelnen Beratungsgespräches darauf hin, dass zum einen ich als Beobachterin an dem Gespräch teilnehmen wolle und zum anderen das Gespräch auf Video aufgezeichnet werden solle. Er fragte den Jugendlichen, ob er hierzu seine Zustimmung erteile. Im Verlauf meiner Beobachtungen bestätigte sich meine ursprüngliche Einschätzung, dass die Jugendlichen die Videoaufzeichnung im Vergleich zu der Anwesenheit meiner Person als störender empfinden. Mehrere Jugendliche zeigten sich viel zögerlicher, ihre Zustimmung zur Videoaufzeichnung zu erteilen als zu meiner Anwesenheit. Im Ergebnis erteilten jedoch alle Jugendlichen ihre Zustimmung, nachdem der Diversionsmittler sie darauf hingewiesen hatte, dass sie auf dem Videomaterial nicht zu erkennen seien und dieses nur zum Zwecke wissenschaftlicher Auswertung und interner Supervision verwendet würde. In jedem Fall betonte der Diversionsmittler mehrfach, dass die Zustimmung freiwillig sei und ohne Probleme verweigert werden könne. Einschränkend ist jedoch zu berücksichtigen, dass Jugendliche in der betreffenden Situation zu vielen Zugeständnissen bereit sein mögen, um Personen, denen sie Einfluss auf die Entscheidung über den Fortgang des Strafverfahrens zuschreiben, in einem für sie positiven Sinne zu beeinflussen. (2) Erklärungen zum Diversionsverfahren Zu Beginn des eigentlichen Gespräches erläuterte der Diversionsmittler regelmäßig den Sinn und die Besonderheiten des Berliner Diversionsverfahrens. Dabei versuchte er die Jugendlichen einzubeziehen, indem er nicht von sich aus darauf einging, was der Sinn des Diversionsverfahrens sei und wie es ablaufen werde. Vielmehr fragte er zunächst, was den Jugendlichen bei der Polizei gesagt wurde, zu welchem Zweck er den Diversionsmittler aufsuchen solle und was dieser tun werde. Diese Frage erscheint zum einen sinnvoll, um die Voreinstellung der Jugendlichen einschätzen zu können und zum anderen um zu erfahren, welches Verständnis die Sachbearbeiter bei der Polizei den Jugendlichen

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vermitteln. Es zeigte sich, dass die Jugendlichen überwiegend nicht genau wussten, was sie bei dem Diversionsmittler erwartete. In den meisten Fällen gaben sie an, sie kämen zu dem Mittler, damit dieser über die Verhängung von „Strafarbeit“ entscheide. Viele Jugendliche konnten sich nicht mehr daran erinnern, was die Polizisten ihnen gesagt hatten; einige äußerten die vage Vermutung, sie müssten eine Leistung für den Verletzten erbringen, damit das Verfahren nicht vor Gericht verhandelt würde. Diese Aussagen nahm der Diversionsmittler als Ausgangspunkt für seine Ausführungen. Gegebenenfalls korrigierte er die Angaben des Jugendlichen dahingehend, dass es nicht um die Verhängung einer „Strafe“ gehe, die Diversionsvermittlung vielmehr freiwillig sei. Außerdem sei er ein von der Polizei unabhängiger Sozialarbeiter, der der Schweigepflicht unterliege, also keine im Gespräch mit dem Jugendlichen gewonnenen Informationen etwa über weitere Straftaten des Jugendlichen an die Strafverfolgungsbehörden weitergeben dürfe.61 Der Jugendliche könne mit Unterstützung des Diversionsmittlers versuchen, eine Wiedergutmachung des durch die (mutmaßliche) Straftat angerichteten Schadens zu erreichen. Dies wiederum könne sodann Grundlage für den zuständigen Staatsanwalt sein, das Verfahren einzustellen, d.h. es zu beenden, noch bevor das Gericht damit befasst ist. Allerdings könne er, der Diversionsmittler, nicht versprechen, dass das Verfahren tatsächlich eingestellt werde, da die abschließende Entscheidung allein dem zuständigen Staatsanwalt obliege. (3) Mutmaßliches Tatgeschehen, Umstände der mutmaßlichen Tat Den polizeilichen Unterlagen konnte der Diversionsmittler regelmäßig bereits vor dem Beginn des Gespräches entnehmen, wessen der jeweilige Jugendliche beschuldigt wurde. Jedoch waren die Angaben zum Tatvorwurf sowie zu den ermittelten Umständen oftmals nicht ausreichend, um die gesamte Situation einschätzen zu können. Überdies hielt der Mittler es für bedeutsam, die persönliche Sicht der jeweiligen beschuldigten Person zu kennen, um gemeinsam mit dieser eine Maßnahme zu erarbeiten. Daher fragte der Mittler regelmäßig die Jugendlichen, wie sich für sie selbst das Geschehen darstellte. Dabei zeigte er sich sehr aufmerksam und interessiert. In Fällen, in denen Jugendliche über strafrechtlich relevantes Verhalten berichteten, das über den Tatvorwurf hinausging, wies er erneut auf seine Schweigepflicht hin. Ganz überwiegend räumten die Jugendlichen die Begehung der ihnen vorgeworfenen Tat – bis auf kleinere Abweichungen etwa bei dem Wert gestohlener 61 Allerdings wies der Diversionsmittler die Jugendlichen nicht daraufhin, dass ihm im Falle einer gerichtlichen Vernehmung als Zeuge kein Zeugnisverweigerungsrecht aus beruflichen Gründen (§ 53 StPO) zusteht.

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Waren – ein, so dass sich die Darstellung mit dem Ergebnis der polizeilichen Ermittlungen deckte. Die Bedenken, die Geständnissen wegen Fehleranfälligkeit entgegen gebracht werden,62 mögen angesichts des gegenüber einer polizeilichen Vernehmung offeneren und weniger autoritär geprägten Kommunikationsstiles innerhalb des Diversionsgespräches geringere Bedeutung haben. Andererseits ist zu beachten, dass die Jugendlichen sich bereits vor der Polizei geständig eingelassen haben und es ihnen schwer fallen wird, dieses Geständnis vor einer anderen – gleichwohl der staatlichen Sphäre zuzurechnenden – Institution zu widerrufen. Außerdem wird den Jugendlichen sehr wohl bewusst sein, dass sich das Verfahren durch Kooperation mit den beteiligten Stellen am schnellsten beenden lässt und Widerspruch und Bestreiten nur zu Verfahrensverzögerungen oder Verschärfungen der zu erwartenden Reaktion führen. In einigen wenigen Fällen stellte sich allerdings im Laufe des Diversionsgespräches heraus, dass die Beschuldigten das Geschehen anders darstellten als es das Ergebnis der polizeilichen Ermittlungen nahe legte. So führte der Mittler mit zwei zur Tatzeit 14 bzw. 15 Jahre alten Schülerinnen, denen zur Last gelegt wurde, gemeinsam drei Ladendiebstähle begangen zu haben, getrennte Diversionsgespräche. Darin räumten zwar beide ein, in allen drei Geschäften gemeinsam gewesen zu sein. Allerdings stimmten ihre Angaben nur für das Geschehen in einem der Geschäfte soweit überein, dass darauf der Vorwurf des gemeinschaftlichen Diebstahls gestützt werden konnte (§§ 242, 25 Abs. 2 StGB). Hinsichtlich des Geschehens in den beiden weiteren Läden wiesen sich die Mädchen gegenseitig die Begehung der Tathandlung zu. Diese Unklarheit lässt die Behandlung der Verfahren gemäß § 45 Abs. 2 JGG zweifelhaft erscheinen, da – mangels Hinweisen auf eine frühere strafrechtliche Erfassung – angesichts der Schadenshöhe von 60 DM durch den übereinstimmend eingeräumten Diebstahl eine Verfahrenseinstellung nach § 45 Abs. 1 JGG durchaus möglich gewesen wäre. Jedoch ist es nicht Aufgabe des Diversionsmittlers, Defizite in der Sachverhaltsaufklärung auszugleichen; er ließ diese Unsicherheiten auf sich beruhen und versuchte vielmehr, Lösungen für den Konflikt zwischen den beiden Mädchen zu erarbeiten. In einem weiteren Fall zeigte sich, dass die polizeilichen Ermittlungen nicht ausreichten, um als Grundlage für den Vorwurf der Verwirklichung eines bestimmten Straftatbestandes zu dienen. Ein Jugendlicher, dem Hehlerei vorgeworfen wurde, räumte ein, diverse Teile eines Fahrrades abgeschraubt und anderweitig verwendet zu haben, das zuvor – gemäß dessen Einlassung – von seinem Bruder gestohlen worden war. Allerdings widersprachen sich die Angaben der beiden Brüder insofern, als der Jugendliche angab, mit dem Einverständnis seines Bruders gehandelt zu haben, während dieser sich in seiner Ver62

Siehe auch B. II. 3. b) aa) (3) (b) und B. II. 1. c) bb).

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nehmung dahingehend einließ, davon nichts gewusst zu haben und damit nicht einverstanden gewesen zu sein. Als Tathandlung der Hehlerei (§ 259 StGB) käme das Sich-Verschaffen in Betracht. Darunter ist nach herrschender Ansicht jedoch die Herstellung einer vom Vortäter abgeleiteten tatsächlichen Herrschaftsgewalt über die Sache im einverständlichen Zusammenwirken mit dem „Vordermann“ zu verstehen.63 Dazu ist das Einverständnis des Vortäters erforderlich, das auch stillschweigend erteilt werden kann; die irrige Vermutung des Täters, das Einverständnis sei vorhanden, genügt hingegen nicht.64 Liegt das Einverständnis nicht vor, so kann Diebstahl (§ 242 StGB) oder Unterschlagung (§ 246 StGB) vorliegen. Der Sachverhalt war demnach noch nicht genug ausermittelt, um einen eindeutigen Tatvorwurf zu formulieren. Gleichwohl wäre gemäß den gesetzlichen Voraussetzungen und denen der Diversionsrichtlinie bei allen in Betracht kommenden Tatvorwürfen die Einleitung einer Diversionsmaßnahme und damit die Zuweisung an den Diversionsmittler möglich gewesen. In den beiden bereits genannten Fällen, in denen Jugendlichen vorgeworfen wurde, zu Lasten von Familienangehörigen unbefugt Geld mit einer ec-Karte abgehoben zu haben, wurde im Diversionsgespräch deutlich, dass die Geschehnisse in einen sehr schwierigen familiären Kontext eingebettet waren, so dass dieser bei der Auswahl einer pädagogisch sinnvollen Maßnahme berücksichtigt werden musste. (4) Gründe für die Begehung der (mutmaßlichen) Tat Nachdem sich der Diversionsmittler einen Eindruck davon verschafft hatte, wie sich die Situation, die Grundlage für den Tatvorwurf ist, für den Jugendlichen darstellte, fragte er regelmäßig nach den Gründen für das beschriebene Verhalten. Insbesondere soweit das Strafverfahren auf dem Vorwurf der Verwirklichung von Vermögensdelikten (Diebstahl § 242, Erschleichen von Leistungen § 265a StGB, Hehlerei § 259 StGB, Computerbetrug § 263a StGB) beruhte, wurde auch die finanzielle Lage der Jugendlichen angesprochen. Mehrfach gaben Jugendliche an, nicht ausreichend Geld für den Erwerb solcher Produkte oder Dienstleistungen zur Verfügung zu haben, die nicht nur von ihnen, sondern im Allgemeinen als notwendig angesehen werden (z. B. Zeitkarten für die BVG, Kosmetikprodukte wie Duschgel und Sonnenmilch). Andere wiederum führten aus, dass sie genug Geld etwa in Form von Taschengeld bekämen, und daher nicht aus einer finanziellen Notlage heraus gehandelt hätten. Die Jugendliche, die beschuldigt wurde, unbefugt mit der ec-Karte ihrer Mutter 63 Tröndle/Fischer, StGB, § 259 Rnr. 14; Schönke/Schröder-Stree, StGB, § 259 Rnr. 42, jeweils mit Nachweisen auch zur abweichenden Ansicht. 64 Tröndle/Fischer, StGB, § 259 Rnr. 16.

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etwa 1.500 DM abgehoben zu haben, erklärte ihr Verhalten damit, sie habe das Geld benötigt, um sich u. a. mehrere Handys kaufen und sich damit mehr Ansehen bei ihren Freunden verschaffen zu können. Ein 14-jähriger Jugendlicher, dem vorgeworfen wurde, einen anderen Schüler auf dem Schulhof geschlagen zu haben, gab an, der andere habe ihn bereits über einen längeren Zeitraum hinweg provoziert. In einem Fall berichteten die beiden 16- bzw. 17-jährigen Jugendlichen, die gemeinsam beschuldigt waren, ein Auto aufgebrochen und versucht zu haben, dieses kurzzuschließen, um damit anschließend wegzufahren, sie hätten zuvor am Computer Autorennen gespielt und sich dabei entschlossen, einmal ein richtiges Auto zu fahren. Nachdem sie das Auto aufgebrochen hätten, sei ihnen dann aber bewusst geworden, dass sie keine Ahnung hätten, wie man es durch Kurzschließen zum Starten bringe. Manche Jugendliche konnten oder wollten keine bestimmten Gründe für ihr Verhalten angeben. So sagten zwei Jugendliche, denen zur Last gelegt wurde, den Kühlergrill eines fremden Autos abgerissen zu haben, sie wüssten nicht, warum sie das getan hätten. Zwei weitere Jugendliche, denen vorgeworfen wurde, Teile eines fremden Fahrrades abgeschraubt zu haben, um sie für sich zu verwenden, gaben an, sie hätten einfach „Scheiße im Kopf“ gehabt. (5) Bisheriges Verfahren, insbesondere Kontakt mit der Polizei Da auch bisher im Rahmen von Ermittlungsmaßnahmen erfolgte Reaktionen bei der Bestimmung eines Bedarfs für weitere erzieherische Maßnahmen berücksichtigt werden, erfragte der Diversionsmittler regelmäßig, wie die Jugendlichen das Strafverfahren und insbesondere den Kontakt mit der Polizei empfunden hätten. Es zeigte sich, dass die Jugendlichen bereits die Entdeckung der Tat als sehr einschneidend und unangenehm empfunden hatten. In einem Fall wurde einem Jugendlichen vorgeworfen, gemeinsam mit anderen Jugendlichen in einem Supermarkt einen Diebstahl begangen zu haben. Da seine Mutter für dieselbe Ladenkette arbeitete, war sie im betreffenden Supermarkt bekannt und wurde direkt informiert. Sie kam sofort zum Ort des Geschehens und wurde von ihren Kollegen mit dem Tatvorwurf konfrontiert, was von dem Jugendlichen als sehr peinlich empfunden wurde. In einem weiteren Fall erlebte der beschuldigte Jugendliche es umgekehrt als besonders unangenehm, dass seine Eltern nicht anwesend waren, denn nach seiner Vernehmung auf dem Polizeirevier hätten seine Eltern telefonisch nicht erreicht werden können und so habe er bis 3:00 Uhr morgens unter Neonlicht auf einer Holzliege verharren müssen. Ansonsten beschränkte sich der Kontakt zwischen den Jugendlichen und der Polizei überwiegend auf eine verantwortliche Vernehmung sowie das Unterschreiben der Diversionsvereinbarung.

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(6) Durch die mutmaßliche Tat hervorgerufener Schaden; andere Auswirkungen der mutmaßlichen Tat beim Geschädigten In den meisten der Diversionsgespräche wurde thematisiert, welche materiellen wie immateriellen Schäden die (mutmaßlichen) Taten verursacht haben mögen und aus welchen Gründen die jeweiligen Tatbestände vom Gesetzgeber mit Strafe bewehrt sind. Die Beschuldigten, denen Ladendiebstahl vorgeworfen wurde, waren ganz überwiegend auf frischer Tat entdeckt worden, so dass die entwendeten Waren an die Berechtigten zurückgegeben werden konnten. Den Berechtigten ist demnach kein materieller Schaden entstanden. Der Diversionsmittler fragte dennoch danach, wer bei solchen Ladendiebstählen der Geschädigte sei. Ein Jugendlicher meinte, er selbst sei der Leidtragende, denn schließlich habe er den ganzen Ärger mit der Strafverfolgung. Andere konnten keine Antwort geben. Überwiegend antworteten die Jugendlichen jedoch, dass den Ladeninhabern geschadet werde. In diesen Fällen versuchte der Mittler das Geschehen in die größeren Zusammenhänge zu stellen und wies darauf hin, dass die Inhaber bzw. Geschäftsführer von Geschäften, insbesondere von großen Ladenketten, den durch Diebstähle ausgelösten materiellen Verlust ausgleichen würden, indem sie ihn auf die Preise der angebotenen Waren umlegten. Zudem würde viel Geld in die Errichtung von Sicherheitssystemen investiert, das ebenso über die Preise an die Kunden weitergegeben werde. Damit würden letzten Endes alle Kunden, etwa auch der betreffende Jugendliche und seine Familie und Freunde, mit den Verlusten belastet. In einigen Fällen vertiefte er die Problematik, indem er ausführte, vielfach würden die durch Diebstahl bewirkten Verluste auch den Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen in den Geschäften angelastet; entweder, indem sie von der Geschäftsleitung direkt beschuldigt würden, etwas gestohlen zu haben oder aber, indem ihnen vorgeworfen würde, die Kunden nicht gut genug überwacht zu haben. Schließlich störe ihn, den Mittler, persönlich, dass man sich als Konsequenz der großen Zahl von Diebstählen auch als zahlender Kunde permanenter Verdächtigung in Form von Überwachung (etwa durch Kameras) ausgesetzt sehe. In den Gesprächen, in denen es um den Vorwurf von Straftaten zu Lasten öffentlicher Einrichtungen ging, etwa den Vorwurf der Sachbeschädigung in einer Kindertagesstätte, erörterte der Diversionsmittler, dass die entstandenen Kosten zunächst einmal von den Einrichtungen selbst getragen würden und damit letztlich von den Beitrags- bzw. Steuerzahlern. In solchen Gesprächen, die mutmaßliche Straftaten zu Lasten von Privatpersonen zum Inhalt hatten, etwa in den beiden Verfahren wegen Sachbeschädigung an einem Auto, regte der Diversionsmittler eine systemische Betrachtung an, indem er zirkulär fragte, wie sich die Geschädigten wohl am nächsten Morgen

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gefühlt hätten, als sie die beschädigten Autos vorgefunden hätten. Die Jugendlichen meinten, dass sie sich wohl sehr geärgert hätten. Der Diversionsmittler fügte hinzu, dass sie – selbst wenn der materielle Schaden ersetzt würde – zunächst einmal viel Ärger mit der Werkstatt und der Versicherung hätten. Möglicherweise hätten sie an dem betreffenden Morgen nicht rechtzeitig zur Arbeit kommen können. Auf ähnliche Weise fragte der Mittler die drei Jugendlichen, die beschuldigt wurden, u. a. die Fenster der Wohnung eines Ehepaares mit Steinen eingeworfen und deren Hund mit einer Spielzeugpistole beschossen zu haben, welche Folgen ihr Verhalten für das geschädigte Ehepaar habe. Einer der Jugendlichen meinte, dass die Geschädigten möglicherweise auch in Zukunft Angst hätten, dass etwas Derartiges erneut passieren könne. Wiederum wies der Diversionsmittler darauf hin, dass es unangenehm und Zeit raubend sei, neue Scheiben einsetzen zu lassen und sich um die Versicherung zu kümmern. Auch mit den jugendlichen Beschuldigten, denen vorgeworfen wurde, von einem fremden Fahrrad Teile abgeschraubt zu haben, um sie für sich zu verwenden, besprach der Mittler, wie sich der Betroffene einer solchen Tat fühlt, und sagte, dass dieses Gefühl ihnen sicherlich bekannt sei, wenn ihnen selbst schon einmal etwas gestohlen worden sei. Über die persönlichen Auswirkungen beim Betroffenen selbst hinaus drohe die Gefahr eines Kreislaufes; etwa dann, wenn einer etwas stehle und der Geschädigte sich dafür etwas bei einem Dritten hole, in der Annahme, dazu berechtigt zu sein. Die Jugendlichen, die ein Auto mit dem Plan aufgebrochen hatten, es kurzzuschließen und damit umher zu fahren, fragte der Diversionsmittler außerdem, warum dieses Verhalten unabhängig von der Verletzung des Eigentums verboten sei. Einer der beschuldigten Jugendlichen antwortete, man könne einen Unfall verursachen und dabei Leute verletzen. Der Mittler veranschaulichte diese Gefahr, indem er erzählte, dass eine Person aus seinem Bekanntenkreis gestorben sei, weil „Crashkids“ bei einem Autorennen durch die Stadt rücksichtslos über eine Kreuzung gerast seien. Schließlich schützten die gesetzlichen Vorschriften auch die Jugendlichen selbst vor einer Gefährdung ihres Körpers und ihres Lebens sowie ihres Vermögens, denn durch die Verursachung eines Unfalls ohne Versicherungsschutz könnten enorme Schadensersatzforderungen auf sie zukommen. Wurde den Jugendlichen die Verwirklichung abstrakterer und weniger bekannter Straftatbestände vorgeworfen, so war es für den Diversionsmittler mitunter schwieriger, die Gründe für die Strafbewehrung mit den Jugendlichen herauszuarbeiten. So machte der Mittler den Jugendlichen, der wegen des Ausbauens der Drosselung an seinem Motorrad beschuldigt wurde, darauf aufmerksam, dass die gesetzlichen Vorschriften darauf abzielten, Schaden vom Jugendlichen selbst und anderen Verkehrsteilnehmern abzuwenden. Wiederum verdeutlichte

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er dies mit dem Bericht über die tödlich verunglückte Bekannte. Diese „Geschichte“ kann einerseits normales kommunikatives Alltagsverhalten sein oder gezielte systemische Technik; letztlich zielt sie auf dieselbe Wirkung ab, nämlich die Verdeutlichung und emotionale Verankerung der sozialen Missbilligung gegenüber einem bestimmten Verhalten. Den Jugendlichen, denen Hehlerei vorgeworfen wurde, versuchte der Mittler nahezubringen, dass ein solches Verhalten missbilligt werde, weil der z. B. durch einen Diebstahl hervorgerufene gesetzwidrige Zustand vertieft werde, indem die Sache noch weiter von dem Berechtigten entfernt werde und damit die Wahrscheinlichkeit sinke, dass dieser die Sache zurückbekommen werde. (7) Reaktionen auf die mutmaßliche Tat und ihre Entdeckung im sozialen Umfeld Da auch bisher erfolgte informelle Reaktionen des sozialen Umfelds auf die mutmaßliche Tat und ihre Entdeckung Grundlage für eine Diversionsentscheidung oder zumindest der Bestimmung des Bedarfs an zusätzlichen Maßnahmen sein können, fragte der Diversionsmittler vielfach, ob solche Reaktionen bereits erfolgt seien. In acht Fällen berichteten die Jugendlichen, dass das Geschehen gemeinsam mit den Sorgeberechtigten besprochen und ausgewertet wurde. In einigen Fällen sprachen die Eltern einen Hausarrest oder die Kürzung des Taschengeldes aus. Einem Jugendlichen gegenüber schränkten die Eltern den Kontakt mit denjenigen Freunden ein, denen die Tat gemeinschaftlich mit dem Jugendlichen vorgeworfen wurde. Jugendlichen, denen ein Ladendiebstahl vorgeworfen wurde, wurde in vier der Verfahren ein Hausverbot für das betreffende Geschäft erteilt. In fünf Fällen hatten sich die Jugendlichen bereits bei den Verletzten der mutmaßlichen Tat entschuldigt; teilweise verbunden mit dem Angebot, Arbeitsleistungen zu erbringen. Der 17-jährige Jugendliche, dem vorgeworfen wurde, mit der ec-Karte seiner Mutter unbefugt 6.000 DM abgehoben und ausgegeben zu haben, wurde von seinem Vater der gemeinsamen elterlichen Wohnung verwiesen. (8) Mögliche „Wiedergutmachung“ des Schadens Der Diversionsmittler gab den Jugendlichen nicht einseitig vor, mit welcher Maßnahme sie die Grundlage für eine spätere Einstellung durch die Staatsanwaltschaft erreichen könnten, sondern versuchte gemeinsam mit ihnen eine mögliche Reaktion auf die mutmaßliche Tat zu erarbeiten, insbesondere eine Möglichkeit zu finden, den verursachten Schaden wiedergutzumachen. Zu diesem Zweck fragte er sie regelmäßig, was sie tun könnten, um den entstandenen

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Schaden auszugleichen. Mehrere Jugendliche äußerten, sie hätten keine Idee, worin eine Wiedergutmachung bestehen könnte. In diesen Fällen stellte der Mittler vielfach die Frage, was sie selbst als Reaktion erwarten würden, wenn sie an der Stelle der Geschädigten stünden. Insgesamt haben die meisten Jugendlichen eine Entschuldigung vorgeschlagen. Teilweise wurde – zusätzlich zur Entschuldigung oder aber unabhängig davon – eine Übernahme der entstandenen Kosten oder – für den Fall, dass die finanziellen Mittel nicht verfügbar waren – auch die Erbringung von Arbeitsleistungen für die Geschädigten erwogen. In fünf der Verfahren hatten die Jugendlichen sich bereits entschuldigt und teilweise zusätzlich ihre Arbeitsleistung angeboten. Zwei Jugendliche verwiesen darauf, dass es Aufgabe des Mittlers sei, ihnen zu sagen, was zu tun sei. In diesen Fällen betonte dieser, dass es im Diversionsverfahren nicht darum gehe, eine Strafe zu verhängen; vielmehr sei die Mitwirkung der Jugendlichen freiwillig. Wurde die Erbringung von Arbeitsleistungen für die Geschädigten diskutiert, so fragte der Mittler die Jugendlichen stets nach ihren Vorstellungen vom Umfang einer solchen Leistung. Überwiegend gaben die Jugendlichen an, eine Arbeitsleistung von mehreren Tagen oder gar Wochen sei angemessen. Es zeigte sich, dass die Jugendlichen vielfach zu Leistungen bereit gewesen wären, die in keinem Verhältnis zu dem jeweiligen Tatvorwurf gestanden hätten. Der Diversionsmittler gab ihnen dann zumeist einige Anhaltspunkte für die Bestimmung der Angemessenheit zwischen mutmaßlicher Tat und Wiedergutmachung an die Hand. So rechnete der Diversionsmittler in dem Fall, in dem zwei 14- bzw. 15-jährigen Schülerinnen zur Last gelegt wurde, gemeinsam in einem Supermarkt Waren im Wert von 60 DM gestohlen zu haben, wie folgt: Bei einem Warenwert von ca. 60 DM müsse jede der beiden Jugendliche für einen Summe von ca. 30 DM aufkommen. Unter Zugrundelegung eines Stundenlohns von 10 bis 15 DM für Schülerjobs müssten beide Beschuldigten jeweils zwei bis drei Stunden Arbeit leisten. Dabei ließ er unberücksichtigt, dass die Jugendlichen noch vor Verlassen des Supermarktes gestellt worden, die Waren daher zurückgegeben worden waren und ein materieller Schaden somit nicht entstanden war. Demgegenüber argumentierte der Diversionsmittler in einem anderen Verfahren, in dem einem 14-jährigen Jugendlichen vorgeworfen wurde, eine Hehlerei begangen zu haben, indem er ein von Freunden gestohlenes Modellauto im Wert von 200 DM als Geschenk angenommen habe, eine ideelle Wiedergutmachung reiche aus, da ein materieller Schaden nicht entstanden sei, denn das Auto sei von der Polizei an den Eigentümer zurückgegeben worden. Im Gegensatz zu dieser Praxis führt das Berliner Büro für Diversionsberatung und -vermittlung selbst aus,65 dass in solchen Fällen, in denen Jugendliche ihre

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Entschuldigung durch Arbeit für den Geschädigten bekräftigen oder gemeinnützig arbeiten wollten, darauf geachtet werde, dass der zeitliche Aufwand im Rahmen bleibe; es handele sich in der Regel um einen Zeitraum zwischen einem Nachmittag und höchstens mehreren Tagen. Ideal sei es, den Aufwand nicht nach Zeit, sondern nach Aufgaben zu bemessen, etwa vier Fahrräder in Stand zu setzen. Eine Umrechnung des Wertes in Arbeitsstunden werde von den Diversionsmittlern abgelehnt, da sich die Maßnahmen am Erziehungsbedarf, nicht an der Höhe des Schadens oder Wertes ausrichten sollten. Schließlich entspreche „die pädagogische Logik nicht der Logik der Strafverfolgung“.66 Betreffend den Ausgleich zivilrechtlicher Ansprüche erwies sich in zwei Gesprächen, dass die mutmaßlich Geschädigten mehr verlangten, als ihnen nach Auffassung der Jugendlichen zustand. So hatten zwei 16- bzw. 17-jährige Beschuldigte zugegeben, von einem fremden Fahrrad die Tretkurbel sowie die Fahrradkette abmontiert zu haben. Die Geschädigte hatte ihr Angebot, das Fahrrad zu reparieren, abgelehnt und das Rad stattdessen in eine Fahrradwerkstatt gebracht. Auf der Rechnung, nach der die Reparatur 114,– DM gekostet hatte, waren Leistungen – wie etwa das Zentrieren der Räder – aufgeführt, die nach Ansicht der Jugendlichen nicht auf das Abschrauben der Tretkurbel und der Fahrradkette zurückgeführt werden konnten. Der Diversionsmittler riet den Jugendlichen, genau zu überlegen, ob sie mit der Geschädigten über die Summe streiten wollten oder aber einsehen, dass sie in diesem Fall „Mist gemacht“ hätten und dafür die evtl. überhöhte Rechnung bezahlen. Glaubten die Jugendlichen, im Recht zu sein, so stehe es ihnen jedoch selbstverständlich zu, dieses auch durchzusetzen. Für diesen Fall sei es ratsam, eine Rechtsberatung in Anspruch zu nehmen. In dem Fall, in dem einem 15-jährigen Jugendlichen vorgeworfen wurde, Teile eines von seinem Bruder gestohlenen Fahrrades abgeschraubt zu haben, forderte der Geschädigte von dem Bruder 4.500 DM als Ersatz. Der Mittler regte an, dass sich der Beschuldigte an dem Schadensersatz beteiligen könne. Dieser wies den Vorschlag unter Hinweis auf die überzogene Forderung zurück. Daraufhin erklärte der Mittler, es passiere oft, vor allem bei Autounfällen, dass der Geschädigte sein Fahrzeug in die Reparatur gebe und dort zusätzliche Reparaturen durchführen lasse, die nicht aufgrund des Unfalles notwendig geworden seien. Trotzdem verlangten die Geschädigten dann die volle Summe von den mutmaßlichen Verursachern. 65 Siehe dazu Haustein/Nithammer, in: Arbeitsstelle Kinder- und Jugendkriminalitätsprävention (Hrsg.), Schnelle Reaktion. Tatverdächtige Kinder und Jugendliche im Spannungsfeld zwischen beschleunigtem Verfahren und pädagogischer Hilfe, S. 83 (94). 66 Haustein/Nithammer, in: Arbeitsstelle Kinder- und Jugendkriminalitätsprävention (Hrsg.), Schnelle Reaktion. Tatverdächtige Kinder und Jugendliche im Spannungsfeld zwischen beschleunigtem Verfahren und pädagogischer Hilfe, S. 83 (94).

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(9) Getroffene Vereinbarungen In fünf der Diversionsgespräche wurde vereinbart, dass sich der Mittler bei den Geschädigten erkundige, ob diese mit einer persönlichen Entschuldigung des Beschuldigten (bei größeren Geschäften auch gegenüber den Geschäftsführern bzw. Filialleitern) einverstanden seien. Für den Fall, dass die persönliche Entschuldigung abgelehnt würde, sollte ein Entschuldigungsbrief verfasst werden. Zusätzlich zu der Entschuldigung wollte der Mittler der mutmaßlich Geschädigten eines Diebstahls eine Ratenzahlungsvereinbarung zum Ausgleich des entstandenen Schadens vorschlagen. In zwei der weiteren Fälle versprach der Mittler, mit den Vertretern der von den mutmaßlichen Diebstählen betroffenen Unternehmen abzuklären, ob sie evtl. mit der Erbringung von Arbeitsleistungen in dem betreffenden Geschäft bzw. in der betreffenden Firma einverstanden seien. Die zwei 16- und 17-jährigen Jugendlichen, die beschuldigt waren, ein Auto aufgebrochen und versucht zu haben, damit wegzufahren, vereinbarten mit dem Mittler, sich – neben der Entschuldigung – selbst ein Wiedergutmachungsangebot für den Geschädigten auszudenken. In dem Fall, in dem ein 14-jähriger Schüler beschuldigt wurde, durch die Annahme eines gestohlenen Modellautos als Geschenk den Tatbestand der Hehlerei verwirklicht zu haben, sollte es bei der Entschuldigung bleiben. In den sechs Fällen, in denen eine persönliche Entschuldigung bereits im Vorfeld des Diversionsgespräches erfolgt war oder aber nicht sinnvoll erschien, sollte der Mittler lediglich herausfinden, ob eine Arbeitsleistung von den Geschädigten gewünscht sei. Dabei handelte es sich in drei Fällen um Geschäfte, die von mutmaßlichen Diebstählen betroffen waren und denen eine Arbeitsleistung im Geschäft angeboten werden sollte. Der Diversionsmittler wies die Jugendlichen darauf hin, dass die Leiter dieser Geschäfte ihnen gegenüber möglicherweise skeptisch eingestellt und daher nicht zu einer solchen Form der Wiedergutmachung bereit seien. Den drei 14-, 15- und 16-jährigen Jugendlichen, die beschuldigt waren, in eine Kindertagesstätte eingedrungen zu sein und dort Gegenstände zerstört zu haben, versprach der Mittler sich ebendort zu erkundigen, ob Arbeitsleistungen innerhalb der Einrichtung möglich seien. Betreffend die Taten, die denselben drei Jugendlichen gegenüber einem Ehepaar vorgeworfen wurden, schlug der Mittler außerdem vor, den „Opferfonds“ einzuschalten, der die Schäden gegenüber Privatpersonen ersetze und demgegenüber sich die Beschuldigten dann zu einer Abarbeitung des vorgestreckten Geldes verpflichten könnten. Über die Möglichkeit der Einschaltung des „Opferfonds“ wollte sich der Mittler auch in dem Fall informieren, in dem zwei 16- bzw. 17-jährige Jugendliche mutmaßlich Einzelteile eines fremden Fahrrades abgeschraubt hatten. Für den Fall, in dem einem 15-jährigen Schüler Sachbeschädigung durch Auftragen eines „Tags“ auf der Rückseite eines Sitzes in der Straßenbahn vorgeworfen wurde, wollte sich der Mittler mit der Einrichtung „Trialog“ in Ver-

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bindung setzen, über die eine Abarbeitung der für die BVG anfallenden Reinigungskosten möglich ist. In all diesen genannten Fällen war es zum Zeitpunkt meiner Beobachtungen noch unklar, ob die Geschädigten sich mit einer Entschuldigung bzw. der Erbringung von Arbeitsleistungen einverstanden erklären würden. Die Vereinbarung lautete also vorläufig, dass sich der Mittler informieren und dann wieder mit den Jugendlichen in Verbindung setzen würde. In drei Verfahren wurde vereinbart, mit dem Geschädigten ein Mediationsgespräch unter Leitung eines Diversionsmittlers zu führen (dazu wollte der Diversionsmittler ggf. eine in Mediation ausgebildete Kollegin hinzuziehen). Dabei ging es in einem Fall um ein Körperverletzungsdelikt zwischen zwei Schülern. Der Geschädigte war zum vereinbarten Termin nicht erschienen, so dass sich der Diversionsmittler erneut mit dem Beschuldigten traf, um den Geschädigten in einem Brief zu einem erneuten Termin einzuladen. Im zweiten Fall ging es um die 16-jährige Schülerin, die unbefugt mit der ec-Karte ihrer Mutter ca. 1.500 DM abgehoben und das Geld überwiegend ausgegeben hatte. Da sich im Diversionsgespräch, in dem der Mittler auch die Gelegenheit genutzt hatte, mit Tochter und Mutter getrennt zu sprechen, herausgestellt hatte, dass deren Beziehung insgesamt sehr angespannt war, wurde auch hier ein Mediationsgespräch unter Einbeziehung des Lebensgefährten der Mutter vereinbart. Schließlich wurde auch in dem Verfahren, in dem zwei Schülerinnen des gemeinschaftlichen Ladendiebstahls beschuldigt wurden, sich jedoch gegenseitig die Tatbeiträge zuwiesen und darüber in Streit geraten waren, die Durchführung eines Mediationsgespräches geplant. Die beiden Jugendlichen, die – in verschiedenen Verfahren – beschuldigt wurden, Leistungen erschlichen zu haben, indem sie mehrfach Leistungen der BVG ohne gültige Fahrkarte in Anspruch genommen hatten, vereinbarten mit dem Diversionsmittler, in weiteren Treffen mit seiner Hilfe die Zahlungsaufforderungen zu ordnen, einen Zahlungsplan zu erstellen sowie den regelmäßigen Erwerb von Zeitkarten für die BVG sicherzustellen. In einigen Fällen gab der Mittler den Jugendlichen als eine Art Aufgabe mit auf den Weg, dass sie sich selbst eine angemessene Reaktion überlegen und dann wieder mit ihm Kontakt aufnehmen sollten. Abgesehen von dem bereits genannten Fall, in dem die zwei Jugendlichen einverstanden waren, sich selbst ein Wiedergutmachungsangebot für den Geschädigten auszudenken, vereinbarte der Mittler mit dem 15-jährigen Jugendlichen, dem Hehlerei zur Last gelegt wurde, dass er sich überlegen solle, ob er seinen Bruder bei der Zahlung von Schadensersatz an den Geschädigten unterstützen wolle. Dem Jugendlichen, der wegen des Vorwurfs, unbefugt mit der ec-Karte der Mutter ca. 6.000 DM abgehoben zu haben, von seinem Vater aus der elterlichen Wohnung geworfen wurde und nicht sagen wollte oder konnte, was er mit dem gesamten Geld ge-

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macht hatte, trug der Mittler auf, die Zwischenzeit, die er, der Mittler, benötige, um sich beim Arbeitsamt nach einem Ausbildungsplatz und beim Sozialamt nach einer Wohnmöglichkeit zu erkundigen, zu nutzen, um sich über den Verbleib des Geldes klar zu werden. Schließlich wurden in den zwei Verfahren, in denen der Mittler der Ansicht war, es hätte auch eine Einstellung nach § 45 Abs. 1 JGG erfolgen können, über die Durchführung des Diversionsgesprächs hinaus keine weiteren Maßnahmen vereinbart.

(10) Weitere Themen In einigen Gesprächen wurde darüber hinaus thematisiert, wie die Jugendlichen zukünftig strafrechtlich relevantes Verhalten vermeiden könnten, und versucht, alternative Verhaltensstrategien zu entwickeln. Dem Jugendlichen, der beschuldigt wurde, einen anderen Schüler geschlagen zu haben, legte der Mittler nahe, sich in Zukunft zu bemühen, Provokationen hinzunehmen und Konflikte nur verbal zu lösen. Soweit es um den Vorwurf von Diebstahlsdelikten ging, fragte der Mittler die Jugendlichen nach Möglichkeiten, sich Wünsche nach bestimmten, auch teureren, Konsumartikeln zu erfüllen, ohne dabei Eigentumsrechte anderer zu verletzten. Die Jugendlichen meinten teilweise, sie könnten die Unterstützung ihrer Eltern erbitten oder sich durch Schülerjobs etwas dazu verdienen. Der Mittler fügte hinzu, es gehöre zum Erwachsenwerden dazu, sich damit abzufinden, dass nicht jeder Wunsch erfüllt werden könne und man lernen müsse, auch mit wenig Geld auszukommen. Diebstahl sei keine Alternative, denn – abgesehen davon, dass die Rechte anderer verletzt würden – drohten strafrechtliche Verfolgung und noch mehr Schulden. Außerdem fragte der Mittler in einigen Gesprächen, welche Pläne die Jugendlichen für ihre Zukunft hätten. Überwiegend hatten sich die Jugendlichen noch nicht für ein konkretes Berufsziel entschieden. Die beiden Jugendlichen, die bereits den Wunsch äußerten, eine bestimmte Ausbildung zu absolvieren, bestärkte er und wies sie darauf hin, dass zur Erreichung dieses Wunsches ein guter Schulabschluss und ein Führungszeugnis ohne Eintragungen wichtig seien. In einigen wenigen Gesprächen äußerte der Mittler seine persönliche Wertung des mutmaßlichen Tatgeschehens. Gegenüber den Jugendlichen, die beschuldigt waren, u. a. in eine Kindertagesstätte eingebrochen und dort einige Gegenstände beschädigt sowie Fische aus einem Aquarium entnommen und zertreten zu haben, führte er aus, dass der Einbruch und die Sachbeschädigungen zwar für die Geschädigten unangenehm seien, jedoch ausschließlich materielle Verluste zur Folge gehabt hätten. Demgegenüber spräche aus der Tötung der Fische eine Missachtung von Leben.

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D. Verfahrensablauf gemäß der Diversionsrichtlinie

Im Gespräch mit dem Jugendlichen, der beschuldigt war, die Drosselung aus seinem Motorrad ausgebaut zu haben, betonte der Mittler, er halte ein solches Verhalten nicht für schwere Kriminalität, wolle aber auf die Gründe für die Strafbewehrung, unter anderem den Schutz des Jugendlichen selbst, hinweisen. Am Ende der Gespräche fasste der Mittler zumeist zusammen, welche weiteren Schritte vereinbart worden waren. cc) Gesprächssituation Alle beobachteten Diversionsgespräche fanden im Büro des Diversionsmittlers statt, das sich im Dienstgebäude der Polizei befindet. Dieser Raum hebt sich durch Einrichtung und Gestaltung vom übrigen Gebäude ab; er wirkt heller und freundlicher. Die Jugendlichen saßen dem Mittler gegenüber an einem Tisch. Ich als Beobachterin befand mich seitlich versetzt zu diesem Tisch, so dass der jeweilige Jugendliche mich nicht direkt im Blickfeld hatte und auch ich ihn nur im Profil wahrnehmen konnte. Den Mittler hingegen konnte ich schräg von vorne sehen. Die Kamera war auf den Mittler ausgerichtet; die Jugendlichen befanden sich nicht oder nur mit dem Rücken im Fokus der Kamera. Hinsichtlich der Sorgeberechtigten, die an fast der Hälfte der Gespräche teilnahmen, ergaben sich in den beiden Fällen Besonderheiten, in denen diese zugleich Verletzte der mutmaßlichen Straftat waren. Diese Situation lag zum einen bei der 16-jährigen Schülerin vor, der vorgeworfen wurde, mit der ec-Karte ihrer Mutter unbefugt 1.500 DM von deren Konto abgehoben zu haben, zum anderen bei dem 17-jährigen Jugendlichen, der beschuldigt wurde, unter unbefugter Verwendung der ec-Karte seiner Mutter 6.000 DM abgehoben zu haben. In beiden Fällen hatten die Mütter bei der Polizei Strafanzeige erstattet. Jedoch war nur bei dem Gespräch mit der Schülerin deren Mutter anwesend. Wegen des angespannten Verhältnisses zwischen Mutter und Tochter führte der Mittler mit ihnen getrennte Gespräche und machte das Angebot, im Rahmen einer Mediation für die familiären Konflikte Lösungen zu erarbeiten. Bei mehreren Diversionsgesprächen zeigten sich die Jugendlichen und teilweise auch ihre Sorgeberechtigten erstaunt darüber, wie schnell und freundlich der Kontakt mit dem Mittler ablief. Sie schienen einschneidendere Reaktionen zu erwarten und waren verblüfft, wie viel Bedeutung der Mittler der Kooperation mit dem Jugendlichen beimaß.

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dd) Probleme bei der praktischen Umsetzung Die Beobachtung der Diversionsgespräche hat gezeigt, dass die Umsetzung der Berliner Diversionsrichtlinie auch für die Diversionsmittler in der Praxis Schwierigkeiten mit sich bringen kann. (1) Unabhängigkeit der Mittler versus Ausrichtung auf die staatsanwaltschaftliche Erledigung Die Besonderheit des Berliner Diversionsverfahrens liegt darin, dass die Auswahl der „erzieherischen Maßnahmen“ Personen obliegt, die – anders als etwa Staatsanwälte oder Polizeibeamte – dafür ausgebildet sind, Jugendliche zu beraten und pädagogisch sinnvolle Reaktionen zu erarbeiten. Die Verantwortung für die Beratung und die sich daraus ableitenden Maßnahmen liegt nach dem Berliner Diversionsmodell allein bei den Diversionsmittlern; Polizei oder Staatsanwaltschaft haben keinen Einfluss darauf. Hierdurch soll sichergestellt werden, dass die Auswahl der Maßnahme sich allein an pädagogischen Kriterien orientiert. Das gesamte Diversionsverfahren ist jedoch darauf ausgerichtet, dass die Staatsanwaltschaft aufgrund der Maßnahme das Verfahren einstellt. Daraus ergibt sich für die Mittler der Konflikt, einerseits nur den Maßstäben der Pädagogik verpflichtet zu sein, sich andererseits sehr wohl an den Erwartungen der Staatsanwaltschaft ausrichten zu müssen. Diese Uneindeutigkeit zeigt sich auch darin, dass eine Umrechnung des Wertes des durch die mutmaßliche Straftat verletzten Rechtsgutes in Arbeitsstunden von den Diversionsmittlern offiziell als pädagogisch nicht sinnvoll abgelehnt, in der Praxis jedoch mitunter durchaus vorgenommen wird. Bei der Auswahl der Maßnahme, insbesondere bei der Bestimmung ihres Umfangs, berücksichtigen die Mittler auch, wie oft die Jugendlichen bereits strafrechtlich erfasst wurden. Die diesbezügliche Informationslage ist unzureichend, da die Angaben entweder von der Polizei stammen, die ihrerseits die Daten aus dem ISVB bezieht, oder aber von den Jugendlichen, die vielfach selbst nicht wissen, ob gegen sie bereits ein Ermittlungsverfahren in anderer Sache durchgeführt worden ist und ob und wie dieses gegebenenfalls beendet wurde. (2) Unsicherheiten bezüglich des Vorliegens der Voraussetzungen Bevor die Diversionsmittler die Unterlagen über das Ermittlungsverfahren gegenüber einem jugendlichen Beschuldigten erhalten und sich der betreffende Jugendliche mit ihnen in Verbindung setzt, hat der jeweils zuständige Polizeibe-

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D. Verfahrensablauf gemäß der Diversionsrichtlinie

amte – nach Rücksprache mit dem Ansprechpartner bei der Staatsanwaltschaft – bereits überprüft, ob die Voraussetzungen für die Durchführung von Diversionsmaßnahmen gegeben sind, das Verfahren also insbesondere nach der Schwere der mutmaßlichen Tat und der strafrechtlichen Vorbelastung des Beschuldigten für die Einschaltung der Mittler geeignet erscheint. Allerdings hat sich in der Praxis erwiesen, dass diese Vorauswahl teilweise den Vorgaben der Berliner Diversionsrichtlinie widerspricht oder aber zumindest fragwürdig erscheint. Zudem muss die von der Polizei vorgenommene Subsumtion des Sachverhalts in einigen Fällen als fragwürdig beurteilt werden.67 Hinsichtlich der Frage der strafrechtlichen Vorbelastung weisen die geschilderten Fälle auf eine Tendenz hin, dass polizeiliche Sachbearbeiter jede polizeiliche Registrierung der beschuldigten Person als strafrechtliche Vorerfassung werten – ungeachtet der Tatsache, dass etwa Ermittlungen gegen Kinder wegen § 19 StGB eingestellt werden müssen und daher nicht als strafrechtliche Erfassung gelten dürften. Betreffend die Schwere der mutmaßlichen Tat gibt die Richtlinie für Vermögensdelikte konkrete Auswahlkriterien vor. Daher vermochte der Diversionsmittler in zwei der geschilderten Fälle einzuschätzen, dass die Voraussetzungen für ein Vorgehen nach § 45 Abs. 2 JGG nicht gegeben waren. Eine Begrenzung der Schadenshöhe nach oben ist für Einstellungen nach § 45 Abs. 2 JGG allerdings nicht vorgesehen. Diese Ungenauigkeit der Vorgaben der Richtlinie birgt einerseits die Gefahr von Ungleichbehandlungen in sich; andererseits eröffnet sie im Einzelfall die Möglichkeit, auch solche Verfahren mit sehr hoher Schadenssumme (wie etwa im genannten Beispiel 6.000 DM) einzubeziehen, wodurch dem Ziel der Erweiterung der Anwendung von § 45 Abs. 2 JGG in den Bereich von Straftaten mittlerer Schwere entsprochen werden kann. Wird den Jugendlichen eine solche Straftat vorgeworfen, bei der sich der mutmaßliche Schaden nicht materiell bestimmen lässt, so ergeben sich erhebliche Unsicherheiten. Dies mag erklären, warum der Mittler in zwei der geschilderten Fällen trotz seiner Zweifel über das Vorliegen der Voraussetzungen Diversionsgespräche führte und in einem der beiden Fälle sogar darüber hinausgehende Maßnahmen vereinbarte. Es entspricht weder der Aufgabe des Diversionsmittlers noch seinen Qualifikationen, etwaige Fehler der Polizei bei Subsumtion des Sachverhaltes unter die gesetzlichen Voraussetzungen aufzudecken. Seine Aufgabe ist es vielmehr, ge67 Allerdings legt bereits die gesetzliche Konzeption der strafprozessualen Hinweispflichten nahe, dass der polizeilichen Subsumtion nur begrenzt Bedeutung zugemessen wird. So ist die Polizei im Gegensatz zu Gericht und Staatsanwaltschaft nur verpflichtet, dem Beschuldigten zu eröffnen, welche Tat ihm zur Last gelegt wird, nicht hingegen, welche Straftatbestände möglicherweise verletzt sind, §§ 136 Abs. 1 Satz 2, 163a Abs. 3 Satz 2, Abs. 4 Satz 2 StPO.

II. Einschaltung der vermittelnden Institution: „Diversionsmittler‘‘

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meinsam mit den beschuldigten Jugendlichen pädagogisch geeignete Maßnahmen als Reaktionen auf die mutmaßlichen Taten auszuwählen. Es zeigt sich aber in diesen Ungenauigkeiten und Fehleinschätzungen, dass auch der telefonische Kontakt der polizeilichen Sachbearbeiter mit dem Ansprechpartner bei der Staatsanwaltschaft nicht alle im Vorfeld der Diversionsentscheidung zu erwägenden juristischen Probleme zu lösen vermag. (3) Freiwilligkeit Die Konzeption des Berliner Diversionsverfahrens beruht maßgeblich auf der Freiwilligkeit der Maßnahmen. Eine solche Freiwilligkeit ist in der Praxis jedoch schwer zu erreichen. Den Jugendlichen ist bewusst, dass die Alternative zu einer Kooperation mit der Polizei und den Diversionsmittlern die Fortsetzung des Strafverfahrens ist. Da ein solches Strafverfahren für die Mehrzahl der Jugendlichen, zumal solchen, die zuvor noch nicht oder erst einmal strafrechtlich erfasst worden sind, ein nicht einschätzbares, Angst behaftetes Risiko darstellt, werden sie sich vielfach gezwungen fühlen, die formal als Angebot zu verstehende Teilnahme am Diversionsverfahren über sich ergehen zu lassen. Auch der bewusst kooperative Umgang der Mittler mit den Jugendlichen sowie das Hinwirken auf ein freundliches Gesprächsklima vermag dieses Zwangsmoment nicht zu beseitigen. Die geschwächte Verfahrensposition der Jugendlichen zeigt sich auch in solchen Verfahren, in denen es Hinweise darauf gibt, dass die Verletzten der mutmaßlichen Straftat überhöhte Forderungen gegenüber den Beschuldigten stellen. Diese Beispiele verdeutlichen, dass – ähnlich wie bei dem sog. Täter-OpferAusgleich – auch hinsichtlich des Berliner Diversionsverfahrens die Gefahr besteht, dass eine „Dominanz der Befriedigungswünsche des Opfers“ zu strafprozessual bedenklichen Dienstleistungen seitens des Beschuldigten führen kann.68 3. Statistische Angaben In den Jahren 2000, 2001 und 2002 waren nach Auskunft des Berliner Büros für Diversionsberatung und -vermittlung 333, 628 und 550 jugendliche Beschuldigte an dem Diversionsmodell beteiligt. Nach Einschätzung des Diversionsbüros wurden im Jahr 2000 in 84% der Fälle die Maßnahmen erfolgreich abgeschlossen, d.h. bis zum Ende durchgeführt.69

68

Eisenberg, Kriminologie, § 30 Rnr. 17d. Diese Angabe sagt jedoch nichts darüber aus, ob das Verfahren tatsächlich von der Staatsanwaltschaft eingestellt wurde. 69

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D. Verfahrensablauf gemäß der Diversionsrichtlinie

Als Maßnahmen wurden neben einem oder mehreren erzieherischen Gesprächen des Mittlers mit dem Jugendlichen Entschuldigungen bei dem Geschädigten (2000: 33%) oder Schadenswiedergutmachungen70 (2000: 3%) oder beides (2000: 35%) durchgeführt. In 10% der Fälle des Jahres 2000 erfolgte eine Vermittlung in andere Projekte; im Übrigen wurden die Maßnahmen vom Berliner Büro für Diversionsberatung und -vermittlung selbst durchgeführt. Der von der Richtlinie vorgegebene Zeitrahmen von zehn Tagen bis zum Abschluss der Maßnahme wurde vielfach überschritten. So gibt das Diversionsbüro die durchschnittliche Dauer der erfolgreich durchgeführten Maßnahmen für das Jahr 2000 mit 20 Tagen an. Dies widerspricht der Richtlinie, nach der Maßnahmen, die 10 Tage überschreiten, der JGH zuzuweisen sind.

III. Staatsanwaltschaft als Entscheidungsträgerin? Nach dem Gesetz obliegt die Entscheidung, ob das Verfahren gegen einen Jugendlichen gemäß § 45 Abs. 1 oder 2 JGG eingestellt wird bzw. die Erteilung einer jugendrichterlichen Maßnahme nach § 45 Abs. 3 JGG angeregt wird, allein der Staatsanwaltschaft. Diese Entscheidungsgewalt könnte durch die in der Richtlinie vorgesehene verstärkte Mitwirkung der Polizei beschränkt werden, wenn sie sich als Vorwegnahme der staatsanwaltschaftlichen Entscheidung auswirkt. 1. Vorwegnahme der staatsanwaltschaftlichen Entscheidung durch die Polizei? Es sind drei unterschiedliche Situationen möglich, in denen die Einschätzung der Polizei von der späteren Entscheidung der Staatsanwaltschaft abweicht. a) Zuständiger Dezernent hält Maßnahme für unzureichend Da das Gesetz die Kompetenz zur abschließenden Entscheidung über die Verfahrenseinstellung der Staatsanwaltschaft zuweist, besteht die rechtliche Möglichkeit, dass der mit der Verfahrenserledigung befasste Dezernent bei der Staatsanwaltschaft die Voraussetzungen für ein Absehen von der Verfolgung gemäß § 45 Abs. 2 JGG für nicht gegeben einschätzt, obwohl die Polizei nach Rücksprache mit dem zuständigen Staatsanwalt erfolgreich die Einschaltung eines Diversionsmittlers angeregt und unter dessen Mitwirkung eine Maßnahme stattgefunden hat. Allerdings wird diese abweichende Entscheidung regelmäßig schwer fallen, da hierdurch einerseits das Vertrauen oder zumindest die Hoff70

Etwa durch eine Geldzahlung oder Arbeitsleistung.

III. Staatsanwaltschaft als Entscheidungsträgerin?

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nung des Jugendlichen auf eine Verfahrenseinstellung erschüttert und andererseits von der früheren Vorentscheidung des Ansprechpartners bei der Polizei, immerhin eines Oberstaatsanwalts, abgewichen würde.71 Trifft der Dezernent jedoch trotz des beschriebenen rechtstatsächlichen Drucks eine von der Anregung der Polizei abweichende Entscheidung, so kann die bereits durchgeführte Maßnahme im weiteren Verfahren als Grundlage für eine weitere – dann milder ausfallende – Reaktion nach § 45 Abs. 2 oder 3 JGG oder eine durch Urteil zu verhängende Sanktion genutzt werden. Daher halten viele der an dem Diversionsmodell Beteiligten derart abweichende Einschätzungen für unproblematisch. b) Zuständiger Dezernent hält erfolgte Maßnahme für zu weitgehend Umgekehrt kann es vorkommen, dass eine erzieherische Maßnahme unter Mitwirkung des Diversionsmittlers erfolgreich abgeschlossen wurde, der Dezernent bei der abschließenden Entscheidung jedoch zu der Ansicht gelangt, dass das Verfahren auch ohne eine solche Maßnahme mangels hinreichenden Tatverdachts gemäß § 170 Abs. 2 StPO oder aber wegen Geringfügigkeit nach § 45 Abs. 1 JGG hätte eingestellt werden müssen. So berichtete ein Dezernent, er habe schon mehrfach Verfahren bearbeitet, in denen ein Diversionsmittler eingeschaltet worden sei, er jedoch zu dem Ergebnis gelangt sei, es fehle (z. B. mangels Strafantrags bei absoluten Antragsdelikten oder mangels ermittelter Tatsachen zum Tatvorwurf) am genügenden Anlass zur Erhebung der öffentlichen Klage (§ 170 Abs. 2 StPO) oder es hätte reaktionslos nach § 45 Abs. 1 JGG eingestellt werden können.72 In einem solchen Fall lässt sich die einmal durchgeführte Maßnahme nicht mehr rückgängig machen.73 Die Einschätzung, dass hierin eine Gefahr der Ausweitung sozialer Kontrolle entgegen der erklärten Zielsetzung der Richtlinie liegt, teilen viele Beteiligte, insbesondere Polizeibeamte, nicht. Sie sind vielfach der Auffassung, eine Maßnahme zur Wiedergutmachung könne auch bei Bagatellen zumindest „nicht schaden“. Diese ohnehin fragwürdige Einschätzung trägt zumindest in den Fällen nicht, in denen die Staatsanwaltschaft den hinreichenden Tatverdacht verneint.

71

Ähnlich Heinz, DVJJ-Journal 1999, S. 131 (141). Auch bei der internen Evaluierung der Diversionsstrategie in Schleswig-Holstein wurden teilweise Defizite der Polizei bei der Abklärung der rechtlichen Voraussetzungen für Privatklage- und Antragsdelikte festgestellt, Ministerium für Justiz, Bundesund Europaangelegenheiten des Landes Schleswig-Holstein, DVJJ-Journal 2000, S. 78 (82). 73 Auf diese Gefahr weist auch Ostendorf, JGG, § 45 Rnr. 16 hin. 72

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D. Verfahrensablauf gemäß der Diversionsrichtlinie

c) Keine erzieherische Maßnahme erfolgt, zuständiger Dezernent hält dies jedoch für angezeigt In manchen Fällen erkennen Polizeibeamte nicht, dass sich ein Verfahren für die Einschaltung des Diversionsmittlers eignet. Stellt dies erst der zuständige Dezernent bei der Staatsanwaltschaft fest, so ist es bereits zu spät. Wie erwähnt, ist eine Einschaltung des Mittlers durch die Staatsanwaltschaft in der Richtlinie nicht vorgesehen. d) Fazit Insbesondere die beiden letztgenannten Konstellationen zeigen, wie bedeutsam die (Vor-)Entscheidung der Polizei ist. Die Gefahr abweichender Einschätzungen über die Geeignetheit der Verfahren bzw. die Reichweite der durchzuführenden Maßnahmen ist dem Projekt immanent. Sie kann nur dadurch reduziert werden, dass die Beteiligten sich über ihre gegenseitigen Auffassungen austauschen. Dies geschieht in der Praxis in Gesprächsrunden auf verschiedenen Ebenen. Für Polizeibeamte und Diversionsmittler wäre es von großem Nutzen, wenn sie in jedem Einzelfall eine Rückmeldung darüber bekämen, ob die Staatsanwaltschaft das Verfahren aufgrund der vom Mittler begleiteten Maßnahme tatsächlich eingestellt hat. So könnten sie ihre Arbeitsweise besser auf das Ziel der Verfahrenseinstellung hin ausrichten. Ein flächendeckendes Rückmeldungssystem zwischen Staatsanwaltschaft, Diversionsmittler und Polizei gibt es jedoch noch nicht. Die Diversionsmittler versuchen den genannten Schwierigkeiten dadurch zu begegnen, dass sie stark auf ein angemessenes Verhältnis zwischen (mutmaßlicher) Tat und Reaktion achten. Doch unterschiedliche Bewertungen lassen sich auch dadurch nicht mit Sicherheit ausschließen. Bei Unkenntnis über die Beurteilung der Staatsanwaltschaft besteht die Gefahr, dass die Mittler „sicherheitshalber“ eine weiterreichende Maßnahme durchführen als notwendig, um die Einstellungsvoraussetzungen in jedem Fall zu schaffen. Wie hoch der Anteil von Verfahren ist, in denen der zuständige Dezernent bei der Staatsanwaltschaft die durchgeführten Maßnahmen für zu weitgehend bzw. für nicht ausreichend hält, kann bisher nicht umfassend angegeben werden, da hierüber kein Zahlenmaterial zur Verfügung steht. Für das Jahr 1999 wurde der Anteil der Verfahren, die nach Einschaltung des Diversionsmittlers eingestellt wurden, von der Staatsanwaltschaft mit 71% angegeben. Ob die Staatsanwaltschaft das Verfahren möglicherweise auch ohne die Einschaltung des Mittlers eingestellt hätte, lässt sich daraus jedoch nicht entnehmen.

III. Staatsanwaltschaft als Entscheidungsträgerin?

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2. Weiteres Vorgehen Hält der Staatsanwalt nach den aus den Akten ersichtlichen Umständen die Voraussetzungen des § 45 Abs. 1 JGG für gegeben, so schickt er dem Jugendlichen – regelmäßig ohne Mitwirkung der Jugendgerichtshilfe – eine Mitteilung über die Verfahrenseinstellung. Hierin soll in geeigneten Fällen eine Ermahnung enthalten sein. Ergibt sich nach Ansicht des Staatsanwalts aus den Akten, dass die Voraussetzungen des § 45 Abs. 2 JGG im Hinblick auf bereits erfolgte Maßnahmen – also insbesondere Maßnahmen unter Mitwirkung des Diversionsmittlers – erfüllt sind, so schickt er ebenfalls dem Jugendlichen eine Einstellungsmitteilung. Hält er weitere erzieherische Maßnahmen ohne Beteiligung des Jugendrichters für erforderlich, so regt er diese gegebenenfalls unter Mitwirkung der Jugendgerichtshilfe an. Entscheidet der Staatsanwalt, dass eine Beteiligung des Richters erforderlich ist, so übersendet er die Akten dem Jugendrichter mit der Anregung einer Maßnahme nach § 45 Abs. 3 Satz 1 JGG. Er informiert die Jugendgerichtshilfe, gegebenenfalls mit der Bitte, dem Gericht beschleunigt zu berichten.

E. Rechtliche Bedenken gegenüber der Diversionsrichtlinie Allen Diversionsmaßnahmen ist ein grundsätzlicher Zielkonflikt zwischen informeller Erledigung einerseits und rechtsstaatlichen Garantien und Sicherungen andererseits eigen; denn letztere verlangen förmliche Verfahren, also das, wovon im Wege der Diversion gerade abgesehen werden soll.1 Rechtsstaatlichkeit umfasst jedoch neben der Durchsetzung prozessualer Rechte in förmlichen Strafverfahren auch die Berücksichtigung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes. Dieser wiederum kann es erfordern, andere Möglichkeiten sozialer Kontrolle als die Durchführung förmlicher Strafverfahren in Betracht zu ziehen. Folglich geht mit der Realisierung des Diversionsgedankens nicht zwangsläufig eine Aufweichung des Rechtsstaatsprinzips einher. Jedoch ist jede Diversionsentscheidung im Einzelfall daraufhin zu überprüfen, ob die Verfahrensrechte des Beschuldigten nur in solchem Maße angetastet werden, das erforderlich und angemessen ist, um das Ziel der Diversion zu erreichen.2 Die Regelungen der Berliner Diversionsrichtlinie sind noch weitergehenden rechtlichen Bedenken ausgesetzt als die Diversion im Allgemeinen, da sie die Mitwirkung von nichtstaatlich organisierten Sozialarbeitern und -pädagogen sowie in stärkerem Maß als herkömmliche Diversionsmaßnahmen die Einbindung der Polizei bei der Entscheidungsfindung vorsehen. Bei der Erarbeitung des Entwurfs zur Richtlinie wurden diese Bedenken bereits insofern berücksichtigt, als die rechtlichen Grenzen ihrer Handhabung im einleitenden Text der Richtlinie ausdrücklich aufgezeigt werden. So wird (pauschal) darauf hingewiesen, dass „Diversion (. . .) nicht zu einer Missachtung der Unschuldsvermutung oder einer Einschränkung von Verteidigungsrechten führen (darf). Aspekte der Vereinfachung und Erleichterung der Arbeitsabläufe treten hinter dem hier verfolgten Erziehungsgedanken zurück. Eine Verfahrenseinstellung nach § 45 JGG kommt daher erst dann in Betracht, wenn ausreichender Tatverdacht besteht und der Beschuldigte den Tatvorwurf nicht ernstlich bestreitet. Einstellungen nach § 170 Abs. 2 StPO gehen der Diversionsentscheidung in jedem Fall vor.“3

1

So bereits Walter, ZStW 95 (1983), S. 32 (50). Ähnlich auch Walter, ZStW 95 (1983), S. 32 (52). 3 ABl. Berlin 1999, S. 1891. Zu vergleichbaren Hinweisen in Richtlinien anderer Bundesländer siehe Heinz, DVJJ-Journal 1999, S. 131 (133). 2

I. Die neue „Entscheidungsinstanz‘‘ Polizei

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I. Die neue „Entscheidungsinstanz“ Polizei 1. Anregung von Diversion und Vorauswahl diversionsgeeigneter Verfahren Dass die Polizei die für eine Einstellung relevanten Informationen niederlegt und die Einstellung bei der Staatsanwaltschaft anregt, bedeutet eine verbesserte Nutzung von Informationen der Polizei als der sachnäheren Behörde und ist als rechtlich unproblematisch und praktisch sinnvoll anzusehen, sofern der Umfang der Ermittlungen in einem angemessenen Verhältnis zur mutmaßlichen Tat steht.4 Insbesondere die Erhebung von Informationen über Reaktionen im sozialen Umfeld ermöglicht eine bessere Berücksichtigung des grundsätzlichen Vorrangs außerjustizieller vor justiziellen Maßnahmen.5 Die Entscheidungskompetenz verbleibt wie gesetzlich vorgesehen bei der Staatsanwaltschaft. Wie bereits dargelegt, kann die Polizei jedoch durch die Vorauswahl solcher Verfahren, in denen eine Maßnahme durch den Mittler durchgeführt werden soll, maßgeblichen Einfluss auf die Diversionsentscheidung nehmen. Hierdurch wird zumindest bei einer Ablehnung eine unwiderrufliche Entscheidung getroffen, an der weder ein Gericht noch die Staatsanwaltschaft beteiligt ist. Es fragt sich, ob diese Kompetenzverlagerung gegen geltendes Recht verstößt. a) Gewaltenteilungsgrundsatz und Richtervorbehalt Auf der Ebene des Verfassungsrechts könnten zunächst der Grundsatz der Gewaltenteilung sowie der Richtervorbehalt (Art. 20 Abs. 2 Satz 2, 92 GG) verletzt sein.6 Gegenüber intervenierender Diversion durch die Staatsanwaltschaft im Allgemeinen wurde und wird verschiedentlich vorgebracht, sie be4 So auch statt Vieler Ostendorf, JGG, § 45 Rnr. 16a; ders., Jugendsachbearbeitung der Polizei unter besonderer Berücksichtigung der kriminalpolitischen Entwicklungen, DVJJ-Journal 1995, S. 103 (105 f.); Brunner/Dölling, JGG, § 45 Rnr. 12; Beulke, in: DVJJ (Hrsg.), Jugend, Gesellschaft und Recht im neuen Jahrtausend, S. 311 (323, 326); Nix-Rzepka, JGG, § 45 Rnr. 34; Heinz, in: BMJ (Hrsg.), Diversion im Jugendstrafverfahren der Bundesrepublik Deutschland, S. 99. Die meisten Diversionsrichtlinien der Bundesländer enthalten nunmehr – mehr oder weniger differenzierte – Regelungen zu diversionsorientierter Ermittlungstätigkeit der Polizei, siehe Überblick bei Heinz, DVJJ-Journal 1999, S. 131 (138 f.). 5 Heinz, MschrKrim 1993, S. 355 (365). Ähnlich auch Begründung zum 1. JGGÄndG: „Welche erzieherischen Maßnahmen bisher erfolgt sind, wird sich regelmäßig aus Niederschriften oder Vermerken der Polizei ergeben, die bei ihren Vernehmungen auf die persönliche und soziale Situation des Jugendlichen eingehen und insbesondere auch bereits erfolgte erzieherische Reaktionen erfassen sollte.“ BT-Drucksache 11/5829, S. 24. 6 Siehe Eisenberg, JGG, § 45 Rnr. 20f m. w. N.; Ostendorf, JGG, § 45 Rnr. 16; van den Woldenberg, Diversion im Spannungsfeld zwischen „Betreuungsjustiz“ und Rechtsstaatlichkeit, S. 139.

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E. Rechtliche Bedenken gegenüber der Diversionsrichtlinie

gründe durch die Konzentration von Ermittlungs- und Sanktionskompetenz in den Händen der Staatsanwaltschaft die Gefahr inquisitorischer Verfahren und verstoße gegen den Grundsatz der Gewaltenteilung, indem der Richtervorbehalt des Grundgesetzes unterlaufen werde.7 Auch speziell hinsichtlich des Berliner Diversionsverfahrens oder anderer Diversionsprojekte, nach denen die Polizei (oder Jugendgerichtshilfe) stärker mit der autonomen Feststellung oder Herstellung einstellungsbegründender Faktoren nach § 45 Abs. 2 JGG betraut ist, wird die verfassungsrechtliche Zulässigkeit in Zweifel gezogen.8 Die in der Berliner Diversionsrichtlinie vorgesehene Stärkung polizeilicher Entscheidungsbefugnisse könnte dann gegen den Grundsatz der Gewaltenteilung verstoßen, wenn durch sie der rechtsprechenden Gewalt einer ihrer Kernbereiche entzogen würde.9 Hierzu zählen neben den Aufgaben, die das Grundgesetz ausdrücklich den Gerichten zuweist, die traditionellen Kernbereiche der Rechtsprechung, d.h. die bürgerliche sowie die Strafgerichtsbarkeit, soweit es um die eigentliche Entscheidung geht. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist den Gerichten jedenfalls die Verhängung von Kriminalstrafen vorbehalten.10 Darunter sind zumindest solche Reaktionen auf mutmaßliche Straftaten zu verstehen, die einen besonders schweren Eingriff in die Rechtsstellung des Bürgers darstellen und mit einem ethischen Schuldvorwurf verbunden sind.11 aa) Vereinbarkeit von § 45 Abs. 2 JGG mit dem Gewaltenteilungsgrundsatz Die Regelungen der Berliner Diversionsrichtlinie gestalten in erster Linie die Anwendung der gesetzlichen Vorschrift des § 45 Abs. 2 JGG aus. Diese Vorschrift verpflichtet die Staatsanwaltschaft, unter bestimmten Voraussetzungen von der Strafverfolgung abzusehen. Diese Kompetenzzuweisung berührt nicht den Kernbereich der Strafgerichtsbarkeit, sondern ist Bestandteil der Verantwortung der Staatsanwaltschaft als Anklagebehörde. So ist nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts die Einschränkung des Verfolgungs7 Kausch, Der Staatsanwalt, ein Richter vor dem Richter?; Dirnaichner, Der nordamerikanische Diversionsansatz und rechtliche Grenzen seiner Rezeption im bundesdeutschen Jugendstrafrecht, S. 359 ff.; Zieger, Verteidigung in Jugendstrafsachen, Rnr. 153, 162. 8 Diemer/Schoreit/Sonnen-Diemer, JGG, § 45 Rnr. 3; Nix-Rzepka, JGG, § 45 Rnr. 25; Beulke, in: DVJJ (Hrsg.), Jugend, Gesellschaft und Recht im neuen Jahrtausend, S. 311 (323 f.); Herrlinger, DVJJ-Journal 1999, S. 148 f.; Heinz, DVJJ-Journal 1999, S. 131 (137); Burghardt, in: Stiftung SPI, Infoblatt Nr. 17, Juli 2001, S. 8. 9 So etwa van den Woldenberg, Diversion im Spannungsfeld zwischen „Betreuungsjustiz“ und Rechtsstaatlichkeit, S. 152 ff. 10 BVerfGE 22, 49 (73 ff.). 11 Jarass/Pieroth, GG, Art. 92 Rnr. 2 ff.

I. Die neue „Entscheidungsinstanz‘‘ Polizei

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zwangs gemäß den strafprozessualen Einstellungsvorschriften verfassungskonform;12 allerdings muss sie sich in ihrer jeweiligen Ausgestaltung an den grundgesetzlichen Vorgaben messen lassen.13 Der überwiegenden Ansicht zufolge ist die Staatsanwaltschaft zudem befugt, die erzieherischen Maßnahmen, die als Grundlage für eine Einstellungsentscheidung nach § 45 Abs. 2 JGG dienen, selbst anzuregen.14 Auch diese Befugnis verstößt nicht gegen den Grundsatz der Gewaltenteilung, da die Anregung von erzieherischen Maßnahmen nicht als Verhängung von Kriminalstrafen gewertet werden kann. Vielmehr handelt es sich bei den mit einer Verfahrenseinstellung verbundenen Auflagen, Weisungen oder Anregungen um Sanktionen „besonderer, nichtstrafrechtlicher Art“15, die nicht der Genugtuung für begangenes Unrecht dienen und kein sozialethisches Unwerturteil enthalten. Formales Indiz hierfür ist deren Verortung in den prozessualen Kodifikationen der StPO und des JGG. Zusätzlich gilt für Auflagen und Weisungen gemäß § 153a StPO, dass sie das öffentliche Interesse an einer Strafverfolgung und Bestrafung beseitigen sollen, so dass sie denklogisch etwas anderes als Strafe sein müssen.16 Schließlich ist Kennzeichen von Strafe deren Durchsetzbarkeit, die bei Diversionsmaßnahmen nicht gegeben ist.17 Die Durchführung dieser Maßnahmen basiert vielmehr auf der Freiwilligkeit der Beschuldigten und kann weder von der Staatsanwaltschaft noch vom Gericht (etwa durch Verhängung von Jugendarrest) erzwungen werden.18 Dass die Eingriffsintensität der Maßnahmen überwiegend proportional zur Schwere des Tatvorwurfs festgelegt wird, muss nicht zwangsläufig bedeuten, dass damit eine Schuldzuweisung verbunden ist,19 sondern kann auch auf Verhältnismäßigkeitserwägungen zurückgeführt werden. bb) Vereinbarkeit der Richtlinie mit dem Gewaltenteilungsgrundsatz Die Annahme eines Verstoßes gegen den Gewaltenteilungsgrundsatz durch Verlagerung von Entscheidungsbefugnissen von der Staatanwaltschaft auf die Polizei wird teilweise damit begründet, dass Aufgaben der Exekutive, namentlich die Ermittlungsaufgaben der Polizei, mit Aufgaben der Judikative, nament12

BVerfGE 90, 145 (191) zu § 31a BtMG. Vgl. auch Beulke, in: DVJJ (Hrsg.), Jugend, Gesellschaft und Recht im neuen Jahrtausend, S. 311 (322). 14 Zum – umstrittenen – Umfang dieser „Anregungskompetenz“ siehe oben unter B. II. 1. b). 15 Siehe zu § 153a StPO Löwe/Rosenberg-Rieß, StPO, § 153a Rnr. 9. 16 Zum Ganzen Walter, ZStW 95 (1983), S. 32 (56). 17 So auch Ministerium für Justiz, Bundes- und Europaangelegenheiten des Landes Schleswig-Holstein, DVJJ-Journal 2000, S. 78 (80). 18 Vgl. auch Heinz, MschrKrim 1993, S. 355 (360). 19 Siehe hierzu aber H. E. Müller, DRiZ 1996, S. 443 (445). 13

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E. Rechtliche Bedenken gegenüber der Diversionsrichtlinie

lich der Aufgabe der Staatsanwaltschaft, den Sachverhalt strafrechtlich zu beurteilen, die Schuld zu prüfen und eine Entscheidung über Anklage oder Einstellung zu treffen, vermengt würden.20 Die Staatsanwaltschaft wird zwar als ein Organ der Strafrechtspflege angesehen,21 dem die Strafverfolgung und Mitwirkung im Strafverfahren obliegt. Sie trägt die Verantwortung für die Rechtmäßigkeit, aber auch für die Gründlichkeit des Ermittlungsverfahrens sowie für dessen angemessen schnelle Durchführung. Im Verhältnis zu den Strafgerichten schafft sie die Voraussetzungen für die Ausübung der rechtsprechenden Gewalt, fördert die rechtsprechende Tätigkeit der Gerichte und vollstreckt die gerichtlichen Entscheidungen.22 Die Staatsanwaltschaft übt selbst jedoch – auch soweit sie judizielle Entscheidungen wie etwa Verfahrenseinstellungen trifft – keine rechtsprechende Tätigkeit aus, da der einzelne Staatsanwalt weisungsgebunden ist (vgl. § 146 GVG) und ihre Entscheidungen nicht der Rechtskraft fähig sind.23 Obwohl die Staatsanwaltschaft als eine Institution sui generis angesehen wird, da sie nicht verwaltet, sondern im Funktionsbereich von Rechtsprechung gemeinsam mit den Gerichten auf dem strafrechtlichen Gebiet die Aufgabe der „Justizgewährung“ erfüllt, ist sie daher Teil der Exekutive.24 Durch die Regelungen der Diversionsrichtlinie werden Kompetenzen ausschließlich innerhalb der Exekutive verschoben; die Gerichte werden in ihren Funktionen und Aufgaben nicht betroffen. Ein Verstoß gegen den Gewaltenteilungsgrundsatz kann somit nicht angenommen werden. Dass die Staatsanwaltschaft aufgrund der umfassenderen juristischen Ausbildung der einzelnen Dezernenten gegenüber der Polizei die kompetentere Behörde sein mag, ist von rechtstatsächlicher Relevanz, vermag jedoch die verfassungsrechtliche Einschätzung nicht zu ändern. b) Einschränkung der Verteidigungsrechte Weiterhin ist zu besorgen, dass das Berliner Diversionsverfahren die Verteidigungsrechte der Beschuldigten beeinträchtigt, soweit die Polizei ohne justizielle und durch Verfahrensrechte abgesicherte Feststellung der Schuld des Jugendlichen eine Sanktion einleitet.

20 21 22 23 24

Heinz, DVJJ-Journal 1999, S. 131 (137). BGHSt 24, 170 (171). Meyer-Goßner, StPO, vor § 141 GVG Rnr. 1 ff. Meyer-Goßner, StPO, vor § 141 GVG Rnr. 5. BVerfGE 9, 223 (228).

I. Die neue „Entscheidungsinstanz‘‘ Polizei

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aa) Verteidigungsrechte Verteidigungsrechte sind solche Rechtspositionen des Beschuldigten, die seine Möglichkeit zu materieller Verteidigung, also rechtlicher Gegenwehr gegen die Strafverfolgung schlechthin, absichern. Zwar gelten viele der ausdrücklich geregelten Verteidigungsrechte erst im Hauptverfahren, da jedoch die Weichen für die Beweisaufnahme bereits im Ermittlungsverfahren gestellt werden, ist der Beschuldigte auch in diesem Verfahrensstadium bereits mit Mitwirkungs- und Gestaltungsrechten ausgestattet.25 Speziell für das Ermittlungsverfahren, auf das sich die Vorgaben der Berliner Diversionsrichtlinie ihrer Rechtsnatur gemäß in erster Linie beziehen, umfassen diese Rechte insbesondere den Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) mit zahlreichen Konkretisierungen in der StPO (§§ 163a Abs. 1 und 4, 136 Abs. 2 StPO). Darüber hinaus ist das Schweigerecht als Form der „passiven Verteidigung“ garantiert (§§ 163a Abs. 3 Satz 2 und Abs. 4 Satz 2, 136 Abs. 1 Satz 2 StPO), d.h. niemand ist verpflichtet, sich selbst im Strafverfahren zu belasten (nemo-teneturGrundsatz).26 Jegliche Drohungen und Versprechungen, etwa hinsichtlich des von der Polizei zu erstellenden Aktenvermerks, die aus der Sicht des Beschuldigten auf die Erlangung eines Geständnisses abzielen, beeinträchtigen die effektive Wahrnehmung dieses Rechts. Verstärkt gilt dies für Jugendliche und Heranwachsende angesichts ihrer geringeren Handlungskompetenz im Umgang mit der Polizei. Ohnehin besteht für Vernehmungen im gesamten Strafverfahren ein Verbot der Beeinträchtigung der Willensentschließung und -betätigung des Beschuldigten durch Zwang, Täuschung, Drohung und ähnliche Mittel (§§ 163a Abs. 3 Satz 2, Abs. 4 Satz 2, 136a StPO). Dieses Abwehrrecht ist auch dann beeinträchtigt, wenn für eine bestimmte Aussage gesetzlich nicht vorgesehene Vorteile versprochen werden.27 Weiterhin ist der Beschuldigte berechtigt, in jeder Lage des Verfahrens einen Verteidiger hinzuzuziehen (§ 137 Abs. 1 Satz 1 StPO). Zudem stehen dem Beschuldigten verschiedene Antragsrechte zu, insbesondere das Recht, Beweiserhebungen zu beantragen (§§ 163a Abs. 2, Abs. 3 Satz 2, Abs. 4 Satz 2, 136 Abs. 1 Satz 3, 166 StPO) sowie in gesetzlich geregelten Fällen das Recht auf Verweigerung der Zustimmung (z. B. § 153a StPO). Schließlich wird dem Beschuldigten ein Anwesenheitsrecht bei Vernehmungen von Zeugen oder Sachverständigen durch den Ermittlungsrichter (§ 168c Abs. 2, 5 StPO) und das Recht zur Einlegung von Rechtsbehelfen (§ 296 StPO) gewährt. 25

Lesch, Strafprozessrecht, Kap. 3 Rnr. 36. Siehe nur Meyer-Goßner, StPO, Einl. Rnr. 29 a; Eisenberg, Beweisrecht der StPO, Rnr. 831 ff. 27 Meyer-Goßner, StPO, § 136a Rnr. 12 ff.; eingehend Eisenberg, Beweisrecht der StPO, Rnr. 685 ff. 26

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E. Rechtliche Bedenken gegenüber der Diversionsrichtlinie

Eng mit den Rechtspositionen zu materieller Verteidigung verknüpft und gleichsam Voraussetzung für deren effektive Wahrnehmung ist die Kenntnis des Beschuldigten von seinen Verteidigungsrechten. Denn potentielle Freiheiten und Rechte können sich erst dann zu wirklichen Reaktionsmöglichkeiten entfalten, wenn der Rechtsträger seine Rechtsstellung kennt und deren Inhalt versteht.28 Die Strafverfolgungsbehörden sind daher verpflichtet, den Beschuldigten über die Freiheit, sich nicht zu äußern (§ 163a Abs. 3 Satz 2 und Abs. 4 Satz 2 i. V. m. § 136 Abs. 1 Satz 2 StPO), das Recht auf Konsultation eines Verteidigers (§ 163a Abs. 3 Satz 2 und Abs. 4 Satz 2 i. V. m. § 136 Abs. 1 Satz 2 StPO) sowie das Recht, zu seiner Entlastung einzelne Beweiserhebungen zu beantragen (§ 163a Abs. 3 Satz 2 und Abs. 4 Satz 2 i. V. m. § 136 Abs. 1 Satz 3 StPO), zu belehren. Speziell für Verfahren gegenüber Jugendlichen und Heranwachsenden gilt in erhöhtem Maße, dass die Belehrung über die Rechte allein nicht ausreicht; vielmehr ist die Belehrung derart zu erteilen, dass die beschuldigte Person diese versteht und dadurch in die Lage versetzt wird, die Rechte ggf. wahrzunehmen. Dafür ist es erforderlich, dass ihr nicht – auch nicht stillschweigend – vermittelt wird, dass die Wahrnehmung dieser Rechte ihre Verhandlungsposition schwächt. Ebenfalls bedeutsam für die Ausübung der Verteidigungsrechte ist das auf dem Grundsatz des fairen Verfahrens beruhende Recht auf Information über die Beschuldigung und den Gang des Verfahrens. Dieses Recht wird durch zahlreiche Einzelvorschriften konkretisiert, etwa durch das Recht auf Information über die Beschuldigung (§ 163a Abs. 3 i. V. m. §§ 136 Abs. 1 Satz 1, 163a Abs. 4 Satz 1 StPO), das Recht auf Anwesenheit bei wichtigen Verfahrensvorgängen im Ermittlungsverfahren (z. B. §§ 168c, 168d StPO) sowie das Akteneinsichtsrecht des Verteidigers (§ 147 Abs. 1 StPO) und das Recht des Beschuldigten, die Erteilung von Auskünften und Abschriften aus den Akten zu beantragen (§ 147 Abs. 7 StPO). bb) Auswirkungen der Richtlinie Wie dargelegt, ist die in der Berliner Diversionsrichtlinie geregelte Verfahrensweise darauf ausgerichtet, dass – gesetzt den Fall, der jeweils zuständige Polizeibeamte hält die Voraussetzungen für erfüllt und der Ansprechpartner bei der Staatsanwaltschaft erteilt seine Zustimmung – der beschuldigte Jugendliche an den Diversionsmittler verwiesen wird und dieser mit dem Jugendlichen gemeinsam eine Maßnahme durchführt, auf Grundlage deren die Staatsanwaltschaft schließlich gemäß § 45 Abs. 2 JGG von der weiteren Strafverfolgung absieht. Diese Konzeption lässt besorgen, dass Polizeibeamte auch aufgrund von institutionalisierten Handlungsnormen gehalten sind, den Anteil von Ver28

Lesch, Strafprozessrecht, Kap. 3 Rnr. 37.

I. Die neue „Entscheidungsinstanz‘‘ Polizei

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fahren, die im Rahmen des Diversionsmodells erfolgreich abgeschlossen werden, zu steigern. Dies kann etwa dadurch geschehen, dass den Beschuldigten in der Vernehmung empfohlen wird, die durch ein Strafverfahren drohenden negativen Konsequenzen abzuwenden, indem sie ihre Zustimmung zum Diversionsverfahren erteilen und aktiv daran teilnehmen. Dem Ziel der Diversionsrichtlinie, nämlich mehr Einstellungen nach § 45 Abs. 2 JGG zu erreichen, läuft es hingegen zuwider, wenn sich Jugendliche entscheiden, keine Aussage zu machen oder die ihnen vorgeworfene Straftat zu bestreiten, da in diesen Fällen u. U. die Voraussetzungen der Richtlinie für die Einschaltung der Diversionsmittler nicht erfüllt sind. Daher droht die Gefahr, dass die Belehrung über Verteidigungsrechte und die Darstellung der Vorzüge von Diversion derart tendenziös erfolgt, dass Jugendliche ihren Entscheidungsspielraum als solchen nicht mehr wahrzunehmen in der Lage sind. Fühlt sich etwa eine jugendliche Person zu Unrecht beschuldigt, so mag sie angesichts der in Aussicht gestellten Einstellung des Verfahrens auf das Recht, zu schweigen und sich nicht selbst zu belasten, verzichten, um das Risiko eines für sie negativen Ausgangs des Strafverfahrens auszuräumen. Ebenso wenig wie die Ausübung der Freiheit, die Tat zu bestreiten oder aber zu den Vorwürfen zu schweigen, fügt sich die Wahrnehmung des gesetzlich verbürgten Rechts auf Hinzuziehung eines Verteidigers in die Konzeption des Berliner Diversionsverfahrens ein. So enthält die Richtlinie keine Regelungen zur Frage der Einbeziehung von Verteidigern in das Verfahren. Aus diesem Grund wird dem Berliner Modell teilweise entgegengehalten, Verteidiger würden „ausgesperrt“, und gefordert, diese Praxis auf politischem Wege zu beenden.29 cc) Freiwilligkeit Diesen Befürchtungen versuchten die Verfasser der Richtlinie durch den ausdrücklichen, aber lediglich formelhaften Hinweis zu begegnen, dass die Verteidigungsrechte des Beschuldigten nicht verletzt werden dürften30 und die Einschaltung des Diversionsmittlers für den Jugendlichen freiwillig ist. In der Tat ließen sich diese rechtlichen Bedenken ausräumen, wenn eine wirkliche Freiwilligkeit seitens der Jugendlichen erreichbar wäre. Dies ist aber angesichts der für Jugendliche oftmals nicht einschätzbaren Bedrohung durch das schwebende Strafverfahren sowie der Übermacht der staatlichen Kontrollorgane mehr als zweifelhaft.31 Selbst wenn in der Praxis sowohl von dem vernehmenden Poli29

Zieger, Verteidigung in Jugendstrafsachen, Rnr. 153. Berliner Diversionsrichtlinie ABl. Berlin 1999, S. 1891. 31 Ostendorf, JGG, § 45 Rnr. 16; Eisenberg, JGG, § 45 Rnr. 21; Beulke, in: DVJJ (Hrsg.), Jugend, Gesellschaft und Recht im neuen Jahrtausend, S. 311 (321); NixRzepka, JGG, § 45 Rnr. 26; Streng, Jugendstrafrecht, § 7 Rnr. 40; Zieger, Verteidigung in Jugendstrafsachen, Rnr. 151; H. E. Müller, DRiZ 1996, S. 443 (444); bereits 30

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E. Rechtliche Bedenken gegenüber der Diversionsrichtlinie

zeibeamten als auch vom Diversionsmittler darauf hingewiesen wird, dass alle Maßnahmen freiwillig sind32, so ist dem Jugendlichen doch immer bewusst, dass eine Ablehnung der ihm unterbreiteten Angebote zwangsläufig eine weitere Strafverfolgung nach sich zieht. Um das schwebende Strafverfahren zu beenden, scheinen viele Jugendliche – wie auch die beobachteten Verfahren zeigten – zu ganz erheblichen Leistungen und Zugeständnissen bereit zu sein. Teilweise wird daher davon ausgegangen, in einer solchen Situation sei die Freiwilligkeit des Beschuldigten de facto nicht vorhanden.33 Da der Jugendliche wisse, dass die Einstellung des Verfahrens davon abhängt, ob er eine Vereinbarung mit den Diversionsmittlern erreicht und dieser nachkommt, werde diese Vereinbarung zu einer „Vereinbarung zur Anordnung“.34 Die in der Richtlinie vorgeschriebene Verpflichtung der Polizei und der Mittler, den Beschuldigten auf die Freiwilligkeit der Maßnahme und damit die Möglichkeit der Ablehnung hinzuweisen, werde zudem dadurch entwertet, dass mangelnde Kooperation im Jugendstrafverfahren vielfach zum Anlass eingriffsintensiverer Maßnahmen genommen werde.35 Seinen formalen Ausdruck findet die in der Richtlinie vorausgesetzte Freiwilligkeit in der sog. Diversionsvereinbarung, die zwischen dem zuständigen Polizeibeamten und dem beschuldigten Jugendlichen geschlossen wird. Obgleich – formal betrachtet – an den Bruch der Vereinbarung über die Fortsetzung des Strafverfahrens hinaus keine negativen Konsequenzen geknüpft sind, setzt der Abschluss einer solchen Vereinbarung im Hinblick auf dessen Weichen stellende Wirkung – vergleichbar einem zivilrechtlichen Vertrag – ein gewisses Maß an Mündigkeit des Jugendlichen voraus. In diesem Sinne mündig zur eigenständigen Wahrnehmung von Rechten innerhalb eines Strafverfahrens sind jedoch sicherlich nicht alle jugendlichen Beschuldigten.36 Dennoch enthält die Richtlinie keine zwingende Regelung, dass neben dem Jugendlichen eine sorgeberechtigte Person die Vereinbarung unterzeichnen muss; vielmehr hängt dies in der Praxis offenbar von dem Umstand ab, ob die Sorgeberechtigten den Jugendlichen zum Gespräch bei der Polizei begleiten. Blau, Jura 1987, S. 25 (32). Dass das rein formale Kriterium der Zustimmung des Beschuldigten und seiner Personensorgeberechtigten nicht genügt, um Zweifel an der Freiwilligkeit auszuräumen, zeigt beispielhaft der Fall, in dem ein Jugendstaatsanwalt Verfahren gem. § 45 Abs. 2 JGG einstellte, nachdem er den Jugendlichen – zumeist mit deren (formaler) Einwilligung und der ihrer Eltern – Stockschläge auf das nackte Gesäß erteilt hatte, BGHSt 32, 357 f., siehe dazu auch Spendel, JR 1985, S. 485 (486). 32 Dies geschah in den Vernehmungen und Diversionsgesprächen, an denen ich teilnahm, regelmäßig. 33 Zur Parallelproblematik der Freiwilligkeit einer Einwilligung in eine Auflage oder Weisung nach § 153a StPO siehe Walter, ZStW 95 (1983), S. 32 (58 Anm. 89). 34 Böhm, in: Festschrift für Günter Spendel, S. 777 (790). 35 Nix-Rzepka, JGG, § 45 Rnr. 26. 36 So auch H. E. Müller, DRiZ 1996, 443.

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Um das Diversionsverfahren für die Jugendlichen attraktiv erscheinen zu lassen, werden die Polizeibeamten ihnen mitteilen, dass nach Durchführung der Maßnahme eine Einstellung durch die Staatsanwaltschaft vorgesehen ist. Andererseits ist die Polizei durch die Richtlinie verpflichtet, die Beschuldigten darauf hinzuweisen, dass die endgültige Entscheidung allein der Staatsanwaltschaft obliegt. Dadurch entsteht eine den Jugendlichen schwer verständlich zu machende Unklarheit, die eine autonome Entscheidung zusätzlich erschweren dürfte. Darüber hinaus kann der Jugendliche eine freiwillige Entscheidung nur treffen, wenn er über alle entscheidungserheblichen Tatsachen aufgeklärt wurde. Oftmals ist sich der Jugendliche der Bedeutung eines Verzichts auf ein förmliches Verfahren mit den auch zu seinem Schutz bestehenden Reglementierungen nicht bewusst. Auch wird der Jugendliche selten darüber belehrt, dass eine Einstellung nach erfolgreicher Maßnahme nicht völlig folgenlos bleibt, sondern registerrechtliche Konsequenzen nach sich zieht.37 Der auf dem Jugendlichen lastende und der vorausgesetzten Freiwilligkeit entgegenwirkende Unterwerfungsdruck ist der Verfahrenssituation immanent und wird sich letztlich nicht vermeiden lassen. Dennoch könnte er durch die Einführung von (gerichtlich überprüfbaren) Begründungspflichten und gesetzlich formulierten Einstellungskriterien gemindert werden.38 Es müssten Rahmenbedingungen geschaffen werden, die den auf dem Beschuldigten und seinen Sorgeberechtigten lastenden Druck so gering wie möglich halten.39 c) Unschuldsvermutung Auch einem möglichen Verstoß gegen die Unschuldsvermutung versuchten die Verfasser der Richtlinie durch den Hinweis zu begegnen, die Diversion dürfe nicht zu einer Missachtung der Unschuldsvermutung führen.40 Nach Art. 6 Abs. 2 MRK gilt „jede Person, die einer Straftat angeklagt ist, (. . .) bis zum gesetzlichen Beweis ihrer Schuld“ als unschuldig (siehe auch Art. 5 Abs. 2 IPBPR). Nach herrschender Auffassung folgt dieser Grundsatz aus dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3, 28 Abs. 1, 1 Abs. 3 GG) und genießt damit Verfassungsrang.41 Obwohl sich die Unschuldsvermutung dem Wortlaut nach lediglich auf bereits angeklagte Personen bezieht, muss sie erst recht für nur beschuldigte oder angeschuldigte Personen gelten. 37

Siehe auch H. E. Müller, DRiZ 1996, S. 443 (444). Heinz, MschrKrim 1993, S. 355 (362). 39 So auch Nix-Rzepka, JGG, § 45 Rnr. 27. 40 Berliner Diversionsrichtlinie ABl. Berlin 1999, S. 1891. 41 Ständige Rechtsprechung des BVerfG, BVerfGE 19, 342 (347); 22, 254 (265); 25, 327 (331); 35, 311 (320); 74, 358 (370); 82, 106 (114); Meyer-Goßner, StPO, Art. 6 MRK Rnr. 12 m. w. N. 38

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E. Rechtliche Bedenken gegenüber der Diversionsrichtlinie

Der sachliche Gehalt dieses Grundsatzes ist nicht abschließend geklärt. Lediglich darüber, dass als sein Kernbestand die Regel des „in dubio pro reo“ umfasst ist, herrscht Einigkeit.42 Überwiegend wird davon ausgegangen, die Unschuldsvermutung diene darüber hinaus dazu, zu verhindern, dass jemand als schuldig behandelt werde, ohne dass ihm in einem gesetzlich geregelten Verfahren seine Schuld nachgewiesen worden sei. Maßnahmen, die den vollen Nachweis der Schuld zur Voraussetzung hätten, dürften demnach nicht getroffen werden, bevor dieser erbracht sei. Darüber hinaus gebiete die Unschuldsvermutung eine unvoreingenommene Einstellung der Strafverfolgungsbehörden und Gerichte gegenüber dem Beschuldigten.43 Dieser Grundsatz verwehre aber nicht die Beurteilung des Grades des Verdachts gegenüber einem bestimmten Beschuldigten, eine strafbare Handlung begangen zu haben.44 Auch die Zulässigkeit von Strafverfolgungsmaßnahmen aufgrund eines bestimmten Verdachts werde hierdurch nicht berührt.45 Demgegenüber wird die Unschuldsvermutung teilweise als „nichts sagende und überdies auch sachlich verfehlte Floskel“ abgetan.46 Nähme man die Unschuldsvermutung ernst, so könne es keine Strafverfahren und Anklagen mehr geben, denn diese setzten gerade einen Anfangsverdacht bzw. einen hinreichenden Tatverdacht voraus, also die Annahme, der Beschuldigte sei schuldig. Strafrechtliche Schuld existiere nicht einfach; sie werde vielmehr erst durch eine verurteilende Entscheidung konstituiert. Damit sei die Unschuld des Beschuldigten bis zum Erlass einer solchen Entscheidung keine Vermutung, sondern vielmehr ein Faktum. Die Unschuldsvermutung könne daher lediglich beinhalten, dass die strafrechtliche Zuschreibung von Schuld auf ein Verfahren kanalisiert werde und der Ausgang dieses Verfahrens offen sei.47 Trotz der genannten Abweichungen im Verständnis der Unschuldsvermutung herrscht Übereinstimmung darüber, dass die Verhängung einer Sanktion als Reaktion auf eine Schuldfeststellung ohne rechtskräftigen Abschluss eines gesetzlich geregelten Strafverfahrens unzulässig wäre. Die Verknüpfung einer Reaktion auf eine mutmaßlich begangene Straftat mit einem ethischen Schuldvorwurf ist – wie oben erörtert – Kennzeichen von Strafe. Diversionsverfahren, wie auch dasjenige nach dem Berliner Modell, sind hingegen auf eine kooperative Verfahrensbeendigung ausgerichtet, die nicht auf einem Schuldspruch, sondern der Einwilligung des Jugendlichen und ggf. seiner Personensorgeberechtigten beruht. Die Schuldfrage bleibt vielmehr offen; etwaige Maßnahmen werden 42 43 44 45 46 47

Lesch, Strafprozessrecht, Kap. 2 Rnr. 247 ff. Meyer-Goßner, StPO, Art. 6 MRK Rnr. 12 m. w. N. BVerfG NJW 1990, S. 2741. BVerfGE 35, 307. Lesch, Strafprozessrecht, Kap. 2 Rnr. 247 f. Lesch, Strafprozessrecht, Kap. 2 Rnr. 247.

I. Die neue „Entscheidungsinstanz‘‘ Polizei

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freiwillig erfüllt.48 In den nach dem Berliner Diversionsmodell anzuregenden erzieherischen Maßnahmen können daher nicht zuletzt mangels Durchsetzbarkeit keine Strafen erblickt werden. Damit wird der Grundsatz der Unschuldsvermutung nicht verletzt, soweit die Voraussetzung der Freiwilligkeit der Maßnahmen gewahrt wird.49 d) Gleichbehandlungsgrundsatz Sofern in der Diversionsrichtlinie die Gefahr uneinheitlicher Handhabung von Einstellungsvorschriften angelegt ist, könnte dies gegen den allgemeinen Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) verstoßen.50 Betreffend Diversion im Allgemeinen bestehen empirische Hinweise auf starke Unterschiede in der praktischen Handhabung. So weisen etwa die Diversionsraten51 für die einzelnen Bundesländer extreme Abweichungen auf, die nicht allein mit unterschiedlichen Tat- und Beschuldigtenstrukturen erklärt werden können.52 Auch innerhalb der einzelnen Bundesländer ist die Einstellungspraxis keinesfalls homogen. Abweichungen wurden zwischen verschiedenen Landgerichtsbezirken eines Bundeslandes nachgewiesen; selbst innerhalb ein und derselben Behörde ist die Einheitlichkeit der Diversionspraxis nicht gewährleistet.53 Der Erlass von Diversionsrichtlinien in den Bundesländern hat keine Vereinheitlichung der Handhabung von Einstellungsvorschriften mit sich gebracht, im Gegenteil, teilweise wurden durch sie bestehende Unterschiede auf Landesebene 48

Allgemein zur Diversion Heinz, MschrKrim 1993, S. 355 (359). So speziell zu Modellen der „Polizeidiversion“ Beulke, in: DVJJ (Hrsg.), Jugend, Gesellschaft und Recht im neuen Jahrtausend, S. 311 (320) allerdings verbunden mit Zweifeln an der rechtstatsächlichen Erreichbarkeit von Freiwilligkeit. Betreffend Diversionsmaßnahmen im Allgemeinen Böhm, in: Festschrift für Günter Spendel, S. 777 (793 f.); Heinz, MschrKrim 1993, S. 355 (359), allerdings verknüpft mit der Empfehlung, aus diesen Gründen das Erfordernis einer Eintragung in das Erziehungsregister entfallen zu lassen. Zum Schleswig-Holsteinischen Diversionsmodell siehe Ministerium für Justiz, Bundes- und Europaangelegenheiten des Landes Schleswig-Holstein, DVJJ-Journal 2000, S. 78 (79). A. A. Nix-Rzepka, JGG, § 45 Rnr. 25; Zieger, Verteidigung in Jugendstrafsachen, Rnr. 153. 50 Allgemein Diemer/Schoreit/Sonnen-Diemer, JGG, § 45 Rnr. 5 f., 31; Ostendorf, JGG, Grdl. z. §§ 45, 47 Rnr. 8. Auch das BVerfG hat (im Zusammenhang mit § 31a BtMG) eine einheitliche Handhabung der Einstellungsvorschriften angemahnt, BVerfGE 90, 145 (190). 51 Mit Diversionsrate wird der Anteil solcher Personen bezeichnet, bei denen das Verfahren nach Diversionsvorschriften eingestellt wird, an allen formell oder informell sanktionierten Personen. 52 So schon Heinz, DVJJ-Journal 1998, S. 245 (252 f.). 53 Heinz, MschrKrim 1993, S. 355 (357) m. w. N.; ders., in: BMJ (Hrsg.), Diversion im Jugendstrafverfahren der Bundesrepublik Deutschland, S. 46 f. 49

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E. Rechtliche Bedenken gegenüber der Diversionsrichtlinie

festgeschrieben.54 Auch innerhalb des Geltungsbereichs von Diversionsrichtlinien kann durch deren Erlass eine einheitliche Diversionspraxis vielfach nicht erreicht werden.55 Im Hinblick auf die Diversionspraxis in Berlin gibt es nach Angaben des Diversionsbüros Abschnitte innerhalb der Polizeidirektionen, die nur sehr wenige Fälle an die Diversionsmittler weiterleiten. Auch nach Informationen der Diversionsbeauftragten in den Polizeidirektionen lassen sich durchaus Unterschiede in der Handhabung feststellen. Während sich einige Sachbearbeiter gegenüber der Idee der Diversion sehr aufgeschlossen zeigten, sträubten sich andere gegen deren Umsetzung. Daher sind interne Schulungen sowie der Austausch innerhalb der Polizei besonders bedeutsam. Es wird versucht, eine einheitlichere Anwendung der Richtlinie durch einen speziellen polizeiinternen Vordruck (Pol 1026) zu erreichen, in dem die Sachbearbeiter darlegen müssen, ob eine Diversionsmaßnahme in Betracht kommt und – falls nicht – worin die Gründe für eine Ablehnung bestehen. Auch innerhalb der Staatsanwaltschaft scheint es erhebliche Unterschiede in der Bereitschaft zu geben, Verfahren einzustellen. Dies zeigt sich u. a. darin, dass einige Sachbearbeiter bei der Polizei nicht den für ihre Direktion zuständigen – als zögerlich bekannten – Ansprechpartner bei der Staatsanwaltschaft nach seinem Einverständnis fragen, sondern gleich dessen Stellvertreter, der sich in der Vergangenheit schneller zu Diversion bereit gezeigt hat. Wenn aber solche Abweichungen in der Anwendung von Diversion und speziell der Einschaltung von Diversionsmittlern nicht auf Unterschieden hinsichtlich bestimmter Merkmale des Beschuldigten und der mutmaßlichen Tat, sondern auf der durch das Wohnortprinzip begründeten Bearbeitung durch eine bestimmte Staatsanwaltschaft und einen bestimmten Polizeiabschnitt beruhen, so liegt hierin eine Ungleichbehandlung wesentlich gleicher Sachverhalte. Unterschiedliche Vorstellungen von Polizeisachbearbeitern und Staatsanwälten darüber, was ausreichend und erforderlich ist, um den Beschuldigten von (weiteren) Straftaten abzuhalten, können keine sachliche Rechtfertigung für eine solche Ungleichbehandlung begründen.56 Die genannten Einwände lassen sich auch nicht unter Hinweis darauf entkräften, durch die vorhergehende telefonische Absprache könne der zuständige 54 Heinz, MschrKrim 1993, S. 355 (364) mit der Forderung nach einer bundeseinheitlichen gesetzlichen Regelung. 55 Heinz, in: BMJ (Hrsg.): Diversion im Jugendstrafverfahren in der Bundesrepublik, S. 46 f.; ders., in: Dölling (Hrsg.), Jugendstrafrecht an der Wende zum 21. Jahrhundert, S. 74.; ders., DVJJ-Journal 1998, S. 245 (252 ff.) m. w. N.; Nix-Rzepka, JGG, vor §§ 45, 47 Rnr. 13. 56 Allerdings weist Beulke, in: DVJJ (Hrsg.), Jugend, Gesellschaft und Recht im neuen Jahrtausend, S. 311 (322) darauf hin, dass auch die Entscheidungspraxis der Gerichte teilweise erheblich voneinander abweicht.

I. Die neue „Entscheidungsinstanz‘‘ Polizei

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Staatsanwalt zumindest in seinem Zuständigkeitsbereich für eine Einheitlichkeit in der Handhabung sorgen.57 Denn wie bereits dargelegt sind die Zuständigkeitsbereiche für die telefonischen Absprachen nicht deckungsgleich mit denen für die Bearbeitung der Akten nach Abschluss der polizeilichen Ermittlungen. e) Vorschriften des JGG Nach der Konzeption der StPO, die durch das JGG für den Bereich des Jugendstrafrechts insoweit nicht modifiziert wird, obliegt die Verfahrensherrschaft über das Ermittlungsverfahren der Staatsanwaltschaft. Sie hat das Ermittlungsverfahren zu leiten und nur sie darf über die Art des Verfahrensabschlusses entscheiden. So weist auch § 45 Abs. 2 JGG die Zuständigkeit für die Einstellung des Verfahrens aufgrund durchgeführter oder eingeleiteter erzieherischer Maßnahmen der Staatsanwaltschaft zu. Diese Kompetenzzuweisung darf auch durch eine der staatsanwaltschaftlichen Entscheidung vorgreifende Tätigkeit der Polizei oder der Jugendgerichtshilfe nicht unterlaufen werden.58 Nach den Vorgaben der Berliner Diversionsrichtlinie ist die Staatsanwaltschaft formal betrachtet in ihrer Entscheidung frei, und zwar sowohl hinsichtlich der vorherigen telefonischen Zustimmung als auch der abschließenden Entscheidung über das Verfahren. Allerdings hat die Analyse der drei unterschiedlichen Situationen, in denen die polizeiliche Einschätzung von der späteren Entscheidung der Staatsanwaltschaft abweicht, gezeigt, dass der Beurteilung durch die Polizei vielfach präjudizielle Wirkung für die Entscheidung der Staatsanwaltschaft zukommen kann. Für die Fälle, in denen der zuständige Dezernent bei der Staatsanwaltschaft die erfolgte Maßnahme für zu weitgehend hält, lässt sich die einmal durchgeführte Maßnahme nicht mehr rückgängig machen.59 Falls keine erzieherische Maßnahme angeregt wurde, der zuständige Dezernent dies jedoch für angezeigt hält, so ist es für eine Hinzuziehung des Diversionsmittlers bereits zu spät, da die Einschaltung des Mittlers durch die Staatsanwaltschaft in der Richtlinie nicht vorgesehen ist. Eine umfassende Prüfung der Sach- und Rechtslage sowie der präventiven Notwendigkeit erzieherischer Maßnahmen durch die Staatsanwaltschaft vor der Durchführung dieser Maßnahmen ist nicht gewährleistet.60 Dadurch wird die der Staatsanwaltschaft zugewiesene Sachentscheidungsbefugnis faktisch zumindest teilweise der Polizei übertragen.61

57 So Beulke, in: DVJJ (Hrsg.), Jugend, Gesellschaft und Recht im neuen Jahrtausend, S. 311 (322). 58 Heinz, DVJJ-Journal 1999, S. 131 (137); Diemer/Schoreit/Sonnen-Diemer, JGG, § 45 Rnr. 3. 59 Auf diese Gefahr weist auch Ostendorf, JGG, § 45 Rnr. 16 hin. 60 Heinz, DVJJ-Journal 1999, S. 131 (141).

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E. Rechtliche Bedenken gegenüber der Diversionsrichtlinie

Auch rechtstatsächlich ist eine solche Verlagerung bedenklich62: Begleitforschungen haben gezeigt, dass Polizeibeamte sich nicht nur am Tatbestand und der Zielsetzung der Einstellungsvorschriften, sondern auch am Beschuldigtenverhalten in der verantwortlichen Vernehmung orientieren.63 Ferner gibt es Anhaltspunkte dafür, dass Polizeibeamte in tendenziell stärkerem Maße einen Sachverhalt so konstruieren, dass er auf die gesetzlichen und verwaltungsinternen Vorgaben passt.64 Schließlich sind Polizeibeamte keine ausgebildeten Juristen, so dass – wie auch die vorliegende Untersuchung gezeigt hat – zumindest die rechtliche Würdigung fehleranfälliger sein dürfte. 2. Normverdeutlichendes Gespräch Gegenstand des normverdeutlichenden Gesprächs ist es, „die Verfehlung mit dem Jugendlichen aufzuarbeiten“, indem der Polizeibeamte dem Jugendlichen „den Unrechtsgehalt seiner Tat vor Augen führt“.65 Dies ist jedoch Inhalt einer Ermahnung, die gemäß § 45 Abs. 3 JGG der Jugendrichter und – nach herrschender Meinung – gemäß § 45 Abs. 2 JGG der Staatsanwalt erteilen darf.66 Demnach verstößt die Diversionsrichtlinie gegen die einfachgesetzlichen Kompetenzregelungen des JGG. Zusätzlich ist bei einer richterlichen oder staatsanwaltschaftlichen Ermahnung zu beachten, dass sie lediglich auf einem Tatverdacht beruht und keine Schuldzuweisung enthalten darf. Dies lässt die Richtlinie unberücksichtigt, wenn sie sich auf „Verfehlung“ und „Tat“ bezieht, obwohl im Zeitpunkt des Diversionsverfahrens lediglich ein Verdacht gegeben sein kann. Zudem erscheint es fragwürdig, warum ein solches normverdeutlichendes Gespräch auch dann vorgesehen ist, wenn der zuständige Polizeibeamte aufgrund des Ermittlungsergebnisses zu der Einschätzung kommt, eine Verfahrenseinstellung nach § 45 Abs. 2 JGG komme im Hinblick auf bereits erfolgte erzieherische Maßnahmen etwa des sozialen Umfelds des Jugendlichen in Betracht.67 In 61 So auch Schöch, in: Dölling (Hrsg.), Jugendstrafrecht an der Wende zum 21. Jahrhundert, S. 132; Dölling, in: Dölling (Hrsg.), Jugendstrafrecht an der Wende zum 21. Jahrhundert, S. 185; Heinz, DVJJ-Journal 1999, S. 131 (137); Herrlinger, DVJJJournal 1999, S. 148; Miehe, in: Dölling (Hrsg.), Jugendstrafrecht an der Wende zum 21. Jahrhundert, S. 156; Beulke, in: DVJJ (Hrsg.), Jugend, Gesellschaft und Recht im neuen Jahrtausend, S. 311 (325); Brunner/Dölling, JGG, § 45 Rnr. 12a. 62 Heinz, DVJJ-Journal 1999, S. 131 (137). 63 Rzepka, in: P.-A. Albrecht (Hrsg.), Informalisierung des Rechts, S. 457. 64 Kurt, in: Reichertz/Schröer (Hrsg.): Qualitäten polizeilichen Handelns, S. 231. 65 Berliner Diversionsrichtlinie, ABl. Berlin 1999, S. 1891 (1895). 66 Schaffstein/Beulke, Jugendstrafrecht § 36 II. 2.; Brunner/Dölling, JGG, § 45 Rnr. 26; Ostendorf, JGG, § 45 Rnr. 13; Heinz, DVJJ-Journal 1999, S. 131 (141). Siehe weitere Nachweise bei Heinz, in: BMJ (Hrsg.), Diversion im Jugendstrafverfahren der Bundesrepublik Deutschland, S. 97.

II. Die neue „Reaktionsinstanz‘‘ Diversionsmittler

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einem solchen Fall sind gerade keine weiteren Maßnahmen erforderlich, so dass die Richtlinie zu einer Ausweitung sozialer Kontrolle gegenüber der vorherigen Praxis führen könnte. Anders als bei der Einschaltung des Diversionsmittlers kann diesen Einwänden nicht die Legitimation durch die Einwilligung des Jugendlichen entgegen gehalten werden, da die Durchführung dieses Gespräches nicht freiwillig ist. Der Jugendliche kann sich zwar entziehen, indem er trotz Vorladung nicht erscheint; es erfolgt jedoch kein Hinweis darauf, dass seine Anwesenheit in seinem Belieben steht. Hierzu liegt nicht einmal das telefonische Einverständnis der Staatsanwaltschaft vor, da dieses erst nach dem normverdeutlichenden Gespräch einzuholen ist. Dadurch ist § 45 Abs. 2 JGG verletzt, der die Sachleitungsbefugnis allein der Staatsanwaltschaft überträgt.68 Diesen rechtlichen Bedenken stehen allerdings Erfahrungen der Praxis gegenüber, nach denen es die Polizei seit jeher als ihre Aufgabe angesehen hat, im Rahmen der Vernehmung auf die Strafbarkeit des verfolgten Verhaltens hinzuweisen und die Gründe für dessen Strafbewehrung aufzuzeigen. Insofern haben die Neuregelungen der Diversionsrichtlinie zumindest rechtstatsächlich keine bedeutenden Veränderungen gebracht.69 Dennoch erscheint es wichtig, dass die Polizei bezüglich solcher „normverdeutlichender Inhalte“ innerhalb von Vernehmungen im Blickfeld behält, dass Grundlage der Diversion nicht die Feststellung von Schuld, sondern lediglich das Vorliegen eines Tatverdachts ist.

II. Die neue „Reaktionsinstanz“ Diversionsmittler Eine weitere Besonderheit des Berliner Modells ist die Einschaltung nicht staatlich organisierter Sozialpädagogen. In der kaum begrenzten Autonomie dieser Diversionsmittler liegt nach Einschätzung von Beteiligten des Berliner Diversionsmodells dessen Überlegenheit gegenüber anderen vergleichbaren Modellen, da die Maßnahmen allein nach pädagogischen Gesichtspunkten ausgewählt werden könnten. Andererseits ist gerade dieser Regelungsbereich der Richtlinie Anlass für rechtliche Bedenken. Solchen rechtlichen Bedenken gegenüber einer Einschaltung von Diversionsmittlern in das Diversionsverfahren ist das Diversionsbüro mit dem Argument entgegengetreten, dass § 45 Abs. 2 JGG sich in erster Linie auf außerjustizielle Reaktionen beziehe und eine solche in der Diversionsberatung durch einen Pä67

Berliner Diversionsrichtlinie, ABl. Berlin 1999, S. 1891 (1895). Ostendorf, JGG, § 45 Rnr. 16. 69 So hält Beulke, in: DVJJ (Hrsg.), Jugend, Gesellschaft und Recht im neuen Jahrtausend, S. 311 (323, 326) ein normverdeutlichendes Gespräch dann für unbedenklich, wenn dessen Eingriffsintensität nicht über das mit der Vernehmung ohnehin verbundene Maß hinausgeht. 68

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E. Rechtliche Bedenken gegenüber der Diversionsrichtlinie

dagogen eines freien Trägers zu sehen sei.70 Diese Betrachtungsweise lässt jedoch unberücksichtigt, dass die in Frage kommenden Fälle von staatlicher Seite, nämlich der Polizei, ausgewählt werden und die vom Mittler zu betreuenden erzieherischen Maßnahmen gerade zu dem Zweck einer späteren Verfahrenseinstellung durch die Staatsanwaltschaft durchgeführt werden. Von einer außerjustiziellen Reaktion kann daher nicht die Rede sein. Originär außerjustiziell handelnde Personen oder Institutionen werden nicht deshalb erzieherisch tätig, um ein förmliches Strafverfahren entbehrlich zu machen, sie handeln vielmehr unabhängig von etwa zu erzielenden Folgen für das Strafverfahren.71 Mit einer solchen Unbefangenheit können die Diversionsmittler nicht vorgehen, da es ihnen gerade darauf ankommt, die Einstellungsvoraussetzungen zu schaffen. Deswegen erscheint es konsequent, für diese gesetzlich nicht vorgesehene Konstellation gewisse Sicherungen zu fordern. 1. Verstoß gegen Kompetenzregelungen des § 45 JGG Die Richtlinie enthält eine nicht abschließende Aufzählung von Maßnahmen, die der Diversionsmittler dem Jugendlichen vorschlagen und gemeinsam mit diesem durchführen kann. Die exemplarisch genannten Maßnahmen sind überwiegend solche, die nach herrschender Ansicht gemäß der Konzeption der Absätze 2 und 3 des § 45 JGG die Staatsanwaltschaft nicht selbstständig vorschlagen, sondern lediglich beim Jugendrichter anregen darf.72 Damit räumt die Richtlinie als nur intern wirkende Regelung dem Mittler weitergehende Befugnisse ein, als das Gesetz der Staatsanwaltschaft verleiht und nahezu dieselben Befugnisse, die das Gesetz dem Jugendrichter vorbehält.73 Hierin ist wiederum ein Verstoß gegen die Kompetenzregelungen des JGG zu erblicken. 2. Beschneidung der Kompetenzen der Jugendgerichtshilfe Weiterhin wurde im Zusammenhang mit dem Erlass der Diversionsrichtlinie kritisiert, dass die Einbeziehung von Diversionsmittlern in das Diversionsverfahren zu einer Beschneidung der Kompetenzen der Jugendgerichtshilfe (§§ 38 Abs. 3, 43 Abs. 1 Satz 4 JGG) führe. Die Richtlinie sieht in der Tat nur eine sehr eingeschränkte Mitwirkung der Jugendgerichtshilfe vor. Für die Fälle, in denen eine Einstellung ohne zusätzliche Maßnahmen nach § 45 Abs. 1 JGG oder eine Einstellung gemäß § 45 70

Haustein/Nithammer, in: Stiftung SPI (Hrsg.), Infoblatt Nr. 17, Juli 2001, S. 5. Vgl. Walter, ZStW 95 (1983), S. 32 (58 f.). 72 So auch Eisenberg, JGG, § 45 Rnr. 21; Ostendorf, JGG, § 45 Rnr. 13 m. w. N.; a. A. Brunner/Dölling, JGG, § 45 Rnr. 26. 73 Vgl. auch Herrlinger, DVJJ-Journal 1999, S. 148. 71

II. Die neue „Reaktionsinstanz‘‘ Diversionsmittler

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Abs. 2 JGG auf der Grundlage bereits außerjustiziell erfolgter erzieherischer Maßnahmen in Betracht gezogen wird oder aus sonstigen Gründen keine weitergehenden Diversionsmaßnahmen eingeleitet werden sollen, schließt die Richtlinie explizit eine Beteiligung der Jugendgerichtshilfe aus. Lediglich die nach Nummer 3.2.7 der Polizeidienstvorschrift „Bearbeitung von Jugendsachen bei der Polizei“ (PDV 382) vorgesehene Einschaltung der Jugendgerichtshilfe bleibt bestehen.74 Ausdrücklich regelt die Richtlinie eine Hinzuziehung der Jugendgerichtshilfe nur für den Fall, dass ein Diversionsmittler eingeschaltet wurde und dieser eine kurzfristige Maßnahme, die von ihm selbst durchgeführt werden könnte, nicht für ausreichend hält. Dann leitet der jeweilige Mittler die Aktenauszüge an die zuständige Jugendgerichtshilfe weiter, die sodann mit dem Jugendlichen Kontakt aufnimmt und für die Durchführung der aus ihrer Sicht erforderlichen Maßnahme Sorge trägt. Nach Einschätzung des Berliner Büros für Diversionsberatung und -vermittlung gebe es kaum Überschneidungen zwischen der Arbeit der Mittler und den Aufgaben der Jugendgerichtshilfe. Schließlich würden die Mittler nur für kurzfristige Maßnahmen hinzugezogen, während in allen jenen Verfahren, in denen eine dauerhaftere Betreuung notwendig sei, die Jugendgerichtshilfe eingeschaltet werde.75 Auch gemäß der überwiegenden Ansicht im Schrifttum wird eine Einschaltung der Jugendgerichtshilfe gerade bei erstmals strafrechtlich erfassten Jugendlichen ohne erkennbares Risiko erneuten delinquenten Verhaltens für entbehrlich gehalten.76 Hinsichtlich der Einstellung gemäß § 45 Abs. 1 JGG sei von einer Unterrichtung der Jugendgerichtshilfe und deren Bericht abzusehen, da ansonsten der Vorteil der eigentlich erstrebten Non-Intervention (nämlich eine schnelle, verhältnismäßige Verfahrenserledigung) konterkariert werde.77 Ebenso könne auch im Rahmen von § 45 Abs. 2 JGG weitgehend auf eine ermittelnde Entscheidungsvorbereitung durch die Jugendgerichtshilfe verzichtet werden.78 74 Nummer 3.2.7 der PDV 382 lautet: „Das Jugendamt und sonst zuständige Behörden sind unverzüglich zu unterrichten, wenn fürsorgerische Maßnahmen schon während der polizeilichen Ermittlungen notwendig erscheinen. In allen anderen Fällen ist spätestens mit der Abgabe der Ermittlungsvorgänge an die Staatsanwaltschaft das Jugendamt zu unterrichten, sofern eine Gefährdung vorliegt. Hat das Jugendamt Aufgaben der Jugendgerichtshilfe anderen Stellen übertragen, ist bei einvernehmlicher Regelung zwischen Staatsanwaltschaft, Jugendamt und Polizei eine unmittelbare Unterrichtung dieser Stellen zulässig.“ 75 Haustein/Nithammer, in: Arbeitsstelle Kinder- und Jugendkriminalitätsprävention (Hrsg.), Schnelle Reaktion. Tatverdächtige Kinder und Jugendliche im Spannungsfeld zwischen beschleunigtem Verfahren und pädagogischer Hilfe, S. 83 (96). 76 Brunner/Dölling, JGG, § 45 Rnr. 22; Ostendorf, JGG, § 45 Rnr. 10. 77 Nix-Rzepka, JGG, § 45 Rnr. 13. 78 Nix-Rzepka, JGG, § 45 Rnr. 33.

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E. Rechtliche Bedenken gegenüber der Diversionsrichtlinie

Aus dem allgemeinen Verhältnismäßigkeitsgrundsatz in Verbindung mit dem in § 43 Abs. 1 S. 3 JGG zum Ausdruck kommenden Rechtsgedanken ergibt sich, dass Art und Umfang der Ermittlungen in einem angemessenen Verhältnis insbesondere zur Schwere des Tatvorwurfs und zu den zu erwartenden Rechtsfolgen stehen müssen.79 In Fällen leichterer Kriminalität kann daher die Hinzuziehung der Jugendgerichtshilfe unverhältnismäßig sein.80 Zusätzlich widerspricht es dem Beschleunigungsgrundsatz, in einfach gelagerten Fällen vor der Einstellungsentscheidung die Unterrichtung der Jugendgerichtshilfe und deren Bericht abzuwarten. Schließlich können durch ein Absehen von der Beteiligung der Jugendgerichtshilfe zusätzliche Stigmatisierungen und Bloßstellungen des Jugendlichen vermieden werden.81 Die Jugendgerichtshilfe wird somit von Verfahren freigestellt, in denen eine kurzfristige erzieherische Beratung ausreichend erscheint, so dass sie ihre Ressourcen auf Fälle mit tatsächlichem Betreuungsbedarf konzentrieren kann. Eine Beeinträchtigung der gesetzlichen Kompetenzen der Jugendgerichtshilfe steht folglich nicht zu befürchten.

III. Weitere Bedenken 1. Bestimmtheitsgrundsatz und Gesetzesvorbehalt a) Bestimmtheit der Richtlinie selbst Gemäß Art. 103 Abs. 2 GG muss die Strafbarkeit eines Verhaltens gesetzlich bestimmt sein, damit der Einzelne die staatlichen Reaktionen voraussehen und sein Verhalten darauf abstimmen kann.82 Strafbarkeit bezieht sich dabei auf jede staatliche Maßnahme, die „eine missbilligende hoheitliche Reaktion auf ein schuldhaftes Verhalten“ enthält.83 Der strafrechtliche Bestimmtheitsgrundsatz ist insofern ein Spezialfall des aus dem Rechtsstaatsprinzip fließenden Grundsatzes des Gesetzesvorbehalts84, als er nicht nur die Regelung der Strafbarkeit durch ein Gesetz erfordert, sondern zusätzlich konkrete Anforderungen an dessen Qualität stellt.

79

Heinz, DVJJ-Journal 1999, S. 131 (141 f.). Diemer/Schoreit/Sonnen-Diemer, JGG, § 45 Rnr. 30; Nix-Rzepka, JGG, § 45 Rnr. 33; Heinz, DVJJ-Journal 1999, S. 131 (141). 81 Beulke, in: DVJJ (Hrsg.), Jugend, Gesellschaft und Recht im neuen Jahrtausend, S. 311 (324). 82 Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rnr. 1091; zum Problem der Voraussehbarkeit und Berechenbarkeit von Maßnahmen „privater Anbieter“ siehe auch Dirnaichner, RdJB 1993, 302, 307 ff. 83 BVerfGE 26, 186 (204). 84 Degenhart, Staatsorganisationsrecht, Rnr. 334 ff. 80

III. Weitere Bedenken

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Die Diversionsrichtlinie könnte gegen dieses Bestimmtheitsgebot verstoßen, indem sie die Regelung der Grenze zwischen einerseits verfolgungswürdigem und andererseits nicht strafbedürftigem Verhalten nicht ausreichend eindeutig zieht.85 Zwar ist die Unbestimmtheit der Richtlinie hinsichtlich ihrer Tatbestandsseite nicht größer als die vieler Straftatbestände, deren ausreichende Bestimmtheit bislang nicht in Zweifel gezogen wurde.86 Nach der Konzeption der Richtlinie ist die Betreuung von erzieherischen Maßnahmen Jugendlicher durch die Diversionsmittler jedoch darauf ausgerichtet, die Grundlage für Einstellungen nach § 45 Abs. 2 JGG zu schaffen und damit den Ausschlag dafür zu geben, ob ein Strafverfahren fortgesetzt wird oder aber von der weiteren Verfolgung abgesehen wird. Die inhaltliche Arbeit der Diversionsmittler unterliegt nur sehr geringen und zudem unbestimmten Beschränkungen. Diese Unbestimmtheit der Vorgaben für die Tätigkeit der Mittler führt dazu, dass die Vorhersehbarkeit und Berechenbarkeit der Maßnahmen und damit letztlich der Kriterien für die Entscheidung zwischen Einstellung des Verfahrens und Erhebung der Anklage nicht gegeben sind. b) Verstoß gegen den Gesetzesvorbehalt durch Regelung in einer Verwaltungsvorschrift Die vom Bundesverfassungsgericht zum Gesetzesvorbehalt entwickelte Wesentlichkeitslehre verlangt außerdem, dass der Gesetzgeber nicht nur in dem Bereich des Strafrechts, sondern in allen grundlegenden normativen Bereichen, insbesondere solchen mit Grundrechtsrelevanz, alle wesentlichen Entscheidungen selbst trifft.87 Wesentliche Entscheidungen sind mithin durch Parlamentsgesetze zu regeln, in denen wiederum der wesentliche Regelungsgehalt, insbesondere betreffend Tatbestand und Rechtsfolge, enthalten sein muss.88 Aufgrund der beschriebenen nicht intendierten, aber vielfach faktisch gegebenen Zwangswirkung des drohenden Strafverfahrens kommt der Durchführung einer Maßnahme durch einen Mittler für den Jugendlichen Eingriffscharakter zu. Damit handelt es sich um einen wesentlichen, weil grundrechtsrelevanten Sachverhalt, der einer parlamentarischen, gesetzesförmigen Grundlage bedarf. Die Regelung des § 45 Abs. 2 JGG kann hierfür nicht als Ermächtigungsgrundlage dienen, da sie nur eine Anregungskompetenz der Staatsanwaltschaft vorsieht. Da sie ihrer Rechtsnatur nach eine Verwaltungsvorschrift ist, beinhaltet auch die Richtlinie selbst keine Ermächtigungsgrundlage. 85

Kausch, Der Staatsanwalt – ein Richter vor dem Richter?, S. 149 ff. Heinz, in: BMJ (Hrsg.), Diversion im Jugendstrafverfahren der Bundesrepublik Deutschland, S. 96 f. mit Nachweisen. 87 BVerfGE 61, 269 (275). 88 Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rnr. 308 f. 86

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E. Rechtliche Bedenken gegenüber der Diversionsrichtlinie

Um diesen Missstand zu beseitigen, erscheint es erwägenswert, in §§ 45, 47 JGG im Einzelnen noch näher festzulegende Formalkriterien zu verankern und deren gerichtliche Nachprüfung zu ermöglichen. Diese Kriterien könnten sich durchaus inhaltlich an den in der Praxis bereits erprobten Diversionsrichtlinien einzelner Bundesländer orientieren.89 2. Umgehung von (milderen) Einstellungsmöglichkeiten auch außerhalb des JGG und Verletzung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes Möglicherweise führt die Anwendung der Berliner Diversionsrichtlinie zu einer Umgehung von (milderen) Einstellungsmöglichkeiten auch außerhalb des JGG (§§ 170 Abs. 2, 153 ff. StPO, §§ 31a, 38 Abs. 2, 37 Abs. 1 Satz 1 BtMG) und zu einer Verletzung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes. a) Ausweitung des Netzes sozialer Kontrolle Gegenüber Diversion im Allgemeinen wurden und werden vielfach Bedenken formuliert, sie könne zu einer Ausweitung des Netzes sozialer Kontrolle führen.90 Unter diesem Stichwort werden verschiedene unerwünschte Nebenfolgen von Diversion zusammengefasst.91 Eine Ausdehnung des Netzes sozialer Kontrolle wäre gegeben, wenn solche Verfahren, in denen es bereits am hinreichenden Tatverdacht fehlt und die daher gemäß § 170 Abs. 2 StPO einzustellen sind, vermehrt gemäß §§ 45, 47 JGG eingestellt würden. Empirisch begründbare Anhaltspunkte dafür, dass sich diese Gefahr in der jugendstrafrechtlichen Sanktionspraxis der Bundesrepublik Deutschland realisiert hätte, liegen bislang nicht vor.92 Eine Verstärkung des Netzes sozialer Kontrolle würde erfolgen, wenn die Intensität und Dauer von Kontrolle zunähme, d.h. wenn – etwa nach Einführung neuer Programme intervenierender Diversion – in solchen Verfahren gemäß § 45 Abs. 2 oder 3 JGG „erzieherische Maßnahmen“ angeregt oder an89 So auch Heinz, in: BMJ (Hrsg.), Diversion im Jugendstrafverfahren der Bundesrepublik Deutschland, S. 99. 90 Siehe Heinz, in: BMJ (Hrsg.), Diversion im Jugendstrafverfahren der Bundesrepublik Deutschland, S. 92 ff.; Nix-Rzepka, JGG, vor §§ 45, 47 Rnr. 8; jeweils mit weiteren Nachweisen; Zieger, Verteidigung in Jugendstrafsachen, Rnr. 162. 91 Zu den Begrifflichkeiten siehe Heinz, in: BMJ (Hrsg.), Diversion im Jugendstrafverfahren der Bundesrepublik Deutschland, S. 92 ff. 92 Heinz, in: BMJ (Hrsg.), Diversion im Jugendstrafverfahren der Bundesrepublik Deutschland, S. 93; Ludwig-Mayerhofer, Die staatsanwaltschaftliche Diversionspraxis im Jugendstrafrecht, in: P.-A. Albrecht (Hrsg.), Informalisierung des Rechts, S. 96 ff.; Hering/Sessar, Praktizierte Diversion, S. 131; Nix-Rzepka, JGG, vor §§ 45, 47 Rnr. 15. Siehe Nachweise betr. Ergebnisse zur Diversionspraxis in den USA Walter, ZStW 95 (1983), S. 32 (39).

III. Weitere Bedenken

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geordnet würden, die ansonsten ohne weitere Reaktion nach § 45 Abs. 1 JGG eingestellt worden wären. Obwohl vereinzelt empirische Hinweise darauf vorliegen, dass ambulante Diversionsmaßnahmen auch bei erstmals strafrechtlich erfassten oder geringfügiger Straftaten verdächtigten Personen verhängt werden, lässt sich die Frage der Verstärkung des Netzes sozialer Kontrolle im Bereich des bundesdeutschen Jugendstrafrechts noch nicht abschließend beurteilen.93 Ebenso wenig geklärt ist die Frage, ob die verstärkte Nutzung von Diversionsmöglichkeiten zu einer Substitution des Netzes sozialer Kontrolle geführt hat. Dies wäre dann der Fall, wenn die Beschuldigten an solche Kontrollsysteme außerhalb der Strafjustiz überwiesen würden, deren „Kontrollen strukturanalog zu denjenigen wären, von denen umgeleitet wird“.94 Obgleich umfassende empirische Untersuchungen zu diesen Bedenken noch ausstehen, lassen sie sich nicht mit der pauschalen Aussage entkräften, eine Ausweitung sozialer Kontrolle durch verstärkte Nutzung der Diversionsmöglichkeiten sei bereits deshalb nicht zu besorgen, weil Diversion gerade darauf angelegt sei, Strafen nur als ultima ratio anzuwenden, wenn mildere Maßnahmen nicht ausreichen.95 Im Hinblick auf die Umsetzung der Berliner Diversionsrichtlinie, die anders als entsprechende Verwaltungsvorschriften anderer Bundesländer keinen Hinweis darauf enthält, dass die Diversion nicht zu einer Ausweitung der sozialen Kontrolle auf Kosten sonst folgenloser oder weniger einschneidender Erledigungsformen führen darf,96 könnten alle drei Aspekte der Ausweitung des Netzes sozialer Kontrolle relevant sein. Die Ausdehnung des Netzes sozialer Kontrolle ist zu befürchten, da die Vorauswahl der Verfahren, in denen eine von Diversionsmittlern betreute Maßnahme durchgeführt wird, in den Händen der Polizei liegt. Diese ist weder nach ihren gesetzlichen Aufgaben noch nach der Ausbildung ihres Personals kompetent, eine umfassende juristische Würdigung des Sachverhaltes vorzunehmen. Hierdurch könnten Umstände – wie etwa das Nichtvorliegen eines Strafantrags 93 Heinz, in: BMJ (Hrsg.), Diversion im Jugendstrafverfahren der Bundesrepublik Deutschland, S. 94; Schreckling, Bestandsaufnahmen zur Praxis des Täter-Opfer-Ausgleichs in der Bundesrepublik Deutschland, S. 33 ff.; Hering/Sessar, Praktizierte Diversion, S. 131. 94 So Heinz, in: BMJ (Hrsg.), Diversion im Jugendstrafverfahren der Bundesrepublik Deutschland, S. 94; Hering/Sessar, Praktizierte Diversion, S. 132; Ludwig, Diversion: Strafe im neuen Gewand, S. 128 ff. 95 So aber zum Schleswig-Holsteinischen Diversionsmodell Ministerium für Justiz, Bundes- und Europaangelegenheiten des Landes Schleswig-Holstein, DVJJ-Journal 2000, S. 78 (79). 96 Zu Formulierungen in Diversionsrichtlinien anderer Bundesländer siehe Heinz, DVJJ-Journal 1999, S. 131 (133). Zum Schleswig-Holsteinischen Modell siehe auch Ministerium für Justiz, Bundes- und Europaangelegenheiten des Landes SchleswigHolstein, DVJJ-Journal 2000, S. 78 (79), in dem davon ausgegangen wird, das Übermaßverbot sei nicht verletzt, da die Richtlinien (Nr. 2.1 bis 2.3) ausdrücklich regeln, dass § 170 Abs. 2 StPO und § 153 StPO sowie § 31a BtMG vorrangig zu prüfen sind.

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E. Rechtliche Bedenken gegenüber der Diversionsrichtlinie

(§§ 77 ff. StGB) bei absoluten Antragsdelikten – übersehen oder – wie in einigen beobachteten Verfahren geschehen – falsche Subsumtionen vorgenommen werden, die auch bei einem kurzen Telefonat mit dem Ansprechpartner bei der Staatsanwaltschaft nicht erkannt werden. Wird in solchen Fällen der Diversionsmittler eingeschaltet und führt dieser mit dem Jugendlichen eine erzieherische Maßnahme durch, so ist ein Fall der Ausdehnung sozialer Kontrolle gegeben. Diese Beurteilung behält auch dann ihre Gültigkeit, wenn der Dezernent der Staatsanwaltschaft bei seiner abschließenden Entscheidung eine andere Würdigung vornimmt und das Verfahren gemäß § 170 Abs. 2 StPO einstellt. Zudem ist die Schaffung und Einrichtung eines neuen politischen Handlungsprogramms zumeist mit einem gewissen Erfolgsdruck der Verantwortlichen verbunden, der sich in institutionalisierten Handlungsnormen niederschlagen könnte, die eine verstärkte Nutzung des jeweiligen Programms vorsehen. Im Hinblick auf das Berliner Diversionsmodell könnte dadurch die Tendenz entstehen, das Modell, das auf die Durchführung von Reaktionen ausgerichtet ist, auch dann umfassend umzusetzen, wenn eine Verfahrenseinstellung ohne weitere Reaktion nach § 45 Abs. 1 JGG angezeigt wäre.97 Nicht zu beanstanden ist hingegen, dass sich die Richtlinie nicht auf die Einstellung nach § 153 StPO bezieht.98 Diese zöge zwar keine Eintragung in das Erziehungsregister nach sich und wäre damit als eingriffsschwächer anzusehen, die Anwendung des § 153 StPO ist jedoch – wie oben erörtert – bei Anwendung materiellen Jugendstrafrechts durch die abschließende Regelung der jugendstrafrechtlichen Vorschriften gesperrt. Schließlich liegt auch der Einwand der Substitution des Netzes sozialer Kontrolle nahe, wenn erzieherische Maßnahmen staatlich eingeleitet werden, deren Durchführung jedoch durch Übergabe an eine privatrechtlich organisierte Einrichtung gleichsam ausgelagert und anschließend als „außerjustiziell“ gekennzeichnet wird, obwohl sie erklärtermaßen die Voraussetzungen für eine Entscheidung der Justizbehörden schaffen soll. Die Ausweitung des Netzes sozialer Kontrolle geht nicht nur mit der Verletzung einfachgesetzlicher Regelungen einher, etwa wenn trotz fehlenden hinreichenden Tatverdachts eine Diversionsmaßnahme eingeleitet wird. Vielmehr kann sie im Einzelfall auch gegen den verfassungsrechtlichen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verstoßen, indem z. B. trotz Geringfügigkeit des Tatvorwurfs und fehlender strafrechtlicher Vorerfassung nicht von der Möglichkeit einer Verfahrenseinstellung ohne weitere Reaktion Gebrauch gemacht wird.

97 Allgemein zu der durch das Angebot an intervenierenden Maßnahmen begründeten Gefahr eines „net-widening“ Effekts Ostendorf, JGG, § 45 Rnr. 9. 98 Siehe aber Ostendorf, JGG, § 45 Rnr. 5 und Sächsische VwV Diversion Nr. II. 2., JMBl. 1999, 158 = DVJJ-Journal 1999, 432.

III. Weitere Bedenken

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b) Adäquanz zwischen Tatvorwurf und Rechtsfolge Neben der Entscheidung, gemäß welcher Einstellungsvorschrift und nach welchem Diversionsmodell vorgegangen wird, muss auch die ausgewählte Diversionsmaßnahme selbst am Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gemessen werden. Dies bedeutet insbesondere, dass die Maßnahme in Relation zur Schwere des Tatvorwurfs verhältnismäßig sein muss. Auf keinen Fall darf eine Diversionsmaßnahme den Beschuldigten stärker belasten als eine hypothetische strafrechtliche Rechtsfolge ohne Diversion.99 Beteiligte des Berliner Diversionsmodells stellen es als einen Vorteil heraus, dass die Verantwortung für die Diversionsberatung sowie die sich daraus ergebenden Maßnahmen allein den Pädagogen obliegt und die Justizbehörden darauf keinen Einfluss haben. Dies bedeutet aber zugleich, dass die Eingriffsintensität solcher Maßnahmen kaum beschränkt ist. Sicherlich werden die Diversionsmittler darauf achten, die Jugendlichen nicht zu sehr zu belasten. Dennoch ist es Aufgabe der Mittler, den erzieherischen Bedarf auszumachen. Dieser kann jedoch im Einzelfall höher sein, als es die Schwere des konkreten Tatvorwurfs nahe legt. Eine juristische Prüfung der Verhältnismäßigkeit zwischen Reaktion und Tatvorwurf ist demnach im Berliner Modell nicht angelegt. 3. Einschränkung der gesetzlichen Voraussetzungen Entgegen der hier vertretenen Ansicht100, nach der neben der Einstellung nach § 45 Abs. 1 JGG auch die nach § 45 Abs. 2 JGG selbst bei Bestreiten des Beschuldigten zulässig ist, schließt die Richtlinie alle Formen der Diversion aus, wenn der Beschuldigte den Tatvorwurf ernstlich bestreitet, da dies entweder in der Unschuld des Jugendlichen oder aber in dessen Uneinsichtigkeit begründet liegen könne.101 Zusätzlich wird in der Empfehlung zur Umsetzung der Richtlinie ausgeführt, dass die Polizei ein normverdeutlichendes Gespräch nur dann führen darf, wenn ein glaubhaftes Geständnis vorliegt oder der Jugendliche von der Polizei auf frischer Tat betroffen wurde.102 Da das normverdeutlichende Gespräch nach der Konzeption der Richtlinie einen notwendigen Zwischenschritt auf dem Weg zur Verfahrenseinstellung nach § 45 Abs. 2 JGG darstellt, wird dadurch eine Einstellung nach dieser Vorschrift bei bestreitenden Jugendlichen völlig ausgeschlossen. Diese Einschränkung mag für solche Fälle sinnvoll sein, in denen auf der Grundlage des Tatverdachts zukünftig eine Maßnahme angeregt werden soll. Hinsichtlich solcher Verfahren jedoch, in denen 99

Dazu schon Blau, Jura 1987, S. 25 (32). Siehe oben unter B. II. 1. b). 101 ABl. Berlin 1999, S. 1891. 102 Berliner Diversionsrichtlinie ABl. Berlin 1999, S. 1891 (1895). 100

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E. Rechtliche Bedenken gegenüber der Diversionsrichtlinie

bereits eine außerjustizielle erzieherische Maßnahme durchgeführt wurde, bedeutet dies eine Einschränkung der gesetzlichen Vorgaben. 4. Vorenthaltung ausreichenden Rechtsschutzes Besonders problematisch erscheint, dass gegen die Einstellungsentscheidungen und die angeregten Maßnahmen de lege lata keine Möglichkeit gerichtlicher Überprüfung besteht. Dieser Einwand richtet sich gegen jegliche Diversionsverfahren, nicht nur speziell gegen das Berliner Modell. Dennoch könnte die Gewährung von Rechtsschutz im Hinblick auf das Berliner Verfahren wegen dessen Besonderheiten umso dringlicher sein. Allgemein gilt, dass Entscheidungen der Staatsanwaltschaft nach § 45 JGG nicht im Wege des Klageerzwingungsverfahrens gemäß § 172 StPO angegriffen werden können, da es sich um Opportunitätsentscheidungen handelt (vgl. § 172 Abs. 2 Satz 3 StPO).103 Teilweise wird jedoch angenommen, dass bei einer Überschreitung der gesetzlichen Kompetenzen durch die Staatsanwaltschaft eine Ausnahme hiervon zulässig sei.104 Der Rechtsweg nach §§ 23 ff. EGGVG ist stets ausgeschlossen.105 Den Verfahrensbeteiligten steht daher nur die Dienstaufsichtsbeschwerde beim vorgesetzten Beamten der Staatsanwaltschaft zur Verfügung. Auch der richterliche Einstellungsbeschluss nach § 47 JGG unterliegt keiner regulären Überprüfungsmöglichkeit (§ 47 Abs. 1 Satz 4 JGG). Allerdings soll die Staatsanwaltschaft Beschwerde (§ 304 StPO) einlegen können, wenn es um die Klärung von Zweifeln geht, ob die prozessualen – nicht im Ermessen stehenden – Voraussetzungen der angewandten Einstellungsvorschriften vorgelegen haben.106 Dem Jugendlichen soll dann ein Beschwerderecht zustehen, wenn die Einstellung nach § 47 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 JGG mit einer Maßnahme verbunden wurde, die in § 45 Abs. 3 JGG nicht genannt ist und er durch diese Maßnahme beschwert ist.107 103 Eisenberg, JGG, § 45 Rnr. 44; Diemer/Schoreit/Sonnen-Diemer, JGG, § 45 Rnr. 28; Nix-Rzepka, JGG, § 45 Rnr. 52. 104 Meyer-Goßner, StPO, § 172 Rnr. 3; Brunner/Dölling, JGG, § 45 Rnr. 40. 105 OLG Hamm, MDR 1983, S. 255 m. w. N.; Brunner/Dölling, § 45 Rnr. 40; Diemer/Schoreit/Sonnen-Diemer, JGG, § 45 Rnr. 28; Nix-Rzepka, JGG, § 45 Rnr. 53; a. A. Mohren, Die Veranlassung erzieherischer Maßnahmen durch den Staatsanwalt nach § 45 JGG: Verfassungsrechtliche und strafprozessuale Probleme, S. 142 ff. 106 Vgl. OLG Hamm, MDR 1977, S. 949 f.; OLG Köln, NJW 1952, S. 1029; OLG Saarbrücken, VRS 1925, S. 205; LG Krefeld, NJW 1976, S. 815; Diemer/Schoreit/ Sonnen-Diemer, JGG, § 47 Rnr. 13; Eisenberg, JGG, § 47 Rnr. 26; Brunner/Dölling, JGG, § 47 Rnr. 14; Meyer-Goßner, StPO, § 153 Rnr. 34; Nix-Rzepka, JGG, § 47 Rnr. 28. 107 Eisenberg, JGG, § 47 Rnr. 26; Diemer/Schoreit/Sonnen-Diemer, JGG, § 47 Rnr. 13; Nix-Rzepka, JGG, § 47 Rnr. 28.

III. Weitere Bedenken

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Demnach stellt das geltende Recht bislang kein prozessuales Mittel zur Verfügung, Verfahrenseinstellungen nach §§ 45, 47 JGG mit dem Ziel anzugreifen, eine gerichtliche Klärung des Tatvorwurfs zu eröffnen. In Bezug auf den richterlichen Einstellungsbeschluss nach § 47 JGG hat das Bundesverfassungsgericht dessen Nichtanfechtbarkeit gemäß § 47 Abs. 2 Satz 3 JGG für verfassungsrechtlich unbedenklich erachtet.108 Demgegenüber sehen die Mindestgrundsätze der Vereinten Nationen für die Jugendgerichtsbarkeit in Nr. 11.3 die Überprüfbarkeit von Diversionsentscheidungen, die mit einer Überweisung des Jugendlichen an geeignete gemeindliche oder sonstige Einrichtungen verbunden sind, durch ein zuständiges Organ vor.109 Die Möglichkeit einer Dienstaufsichtsbeschwerde wird zur Erfüllung dieser Anforderung wohl nicht ausreichen; vielmehr ist die Eröffnung einer qualifizierten rechtlichen Kontrolle erforderlich.110 Zur Begründung des Erfordernisses rechtlicher Überprüfbarkeit wird im Kommentar zu den Mindestgrundsätzen ausgeführt, dass Jugendliche die gemäß Nr. 11.3 erforderliche Zustimmung zu einer Maßnahme möglicherweise aus Verzweiflung erteilen. Die objektive Würdigung der Angemessenheit der Entscheidungen durch eine zuständige Institution solle daher „die Notwendigkeit unterstreichen, die Anlässe für Zwang und Einschüchterung auf ein Mindestmaß zu reduzieren“.111 Die Nichtanfechtbarkeit von Entscheidungen im bundesdeutschen Jugendstrafrecht, die mit einer Überweisung an eine Einrichtung zu erzieherischen Zwecken verbunden ist, verstößt daher gegen die Mindestgrundsätze.112 Allerdings handelt es sich bei den Mindestgrundsätzen um eine rechtlich nicht verbindliche Resolution der Generalversammlung der Vereinten Nationen und damit um sog. „soft law“.113 Gestützt werden kann die Empfehlung zur Schaffung gerichtlicher Überprüfungsmöglichkeiten jedoch zusätzlich auf verfassungsrechtlich verbürgte Grundsätze und Rechte.

108 Beschluss des BVerfG – Aktenzeichen 2 BvR 92/83 – (unveröffentlicht): „Die Annahme des Landgerichts, der Einstellungsbeschluss des Jugendrichters sei nicht anfechtbar, ist verfassungsrechtlich offensichtlich nicht zu beanstanden. Gegen die Unanfechtbarkeit aufgrund der verfassungsrechtlich unbedenklichen, eindeutigen gesetzlichen Regelung des § 47 Abs. 2 Satz 3 JGG bestehen – zumal im Blick auf § 33a StPO in Verbindung mit § 2 JGG – auch dann keine verfassungsrechtlichen Bedenken, wenn mit der Beschwerde geltend gemacht werden soll, dass eine Anhörung vor der Einstellung unterblieben sei.“ 109 Nr. 11.3 der Mindestgrundsätze der Vereinten Nationen für die Jugendgerichtsbarkeit, abgedruckt in: ZStW 99 (1987), S. 253 (266). 110 Schüler-Springorum, ZStW 99 (1987), S. 809 (839 f.). 111 Kommentar zu Nr. 11.3 der Mindestgrundsätze der Vereinten Nationen für die Jugendgerichtsbarkeit, abgedruckt in: ZStW 99 (1987), S. 253 (267 f.). 112 Heinz, MschrKrim 1993, S. 355 (372); Nix-Rzepka, JGG, § 45 Rnr. 53; SchülerSpringorum, ZStW 99 (1987), S. 809 (840). 113 Schüler-Springorum, ZStW 99 (1987), S. 809.

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E. Rechtliche Bedenken gegenüber der Diversionsrichtlinie

Rechtsstaatlichkeit (Art. 20 Abs. 3, 28 Abs. 1 Satz 1, 1 Abs. 3 GG) wird verfahrensmäßig u. a. durch die Gewährung eines umfassenden Gerichtsschutzes gegen Akte öffentlicher Gewalt verwirklicht, die als grundrechtlich geschützte Position jedes Einzelnen in Art. 19 Abs. 4 GG niedergelegt ist.114 Hierin wird zum Zweck der Überprüfung von Rechtsverletzungen durch die vollziehende Gewalt der Zugang zu einem Gericht, die Bereitstellung eines Verfahrens und die Gewährung einer Entscheidung durch das Gericht garantiert.115 Die Einstellungsentscheidungen sind Akte der vollziehenden Gewalt, da sie gemäß § 45 JGG von der Staatsanwaltschaft als Teil der Exekutive getroffen werden. Sie gehen regelmäßig mit Eintragungen in das Erziehungsregister einher, die zu Stigmatisierungen und Verschärfungen möglicher Folgeentscheidungen führen und damit auch Rechtsverletzungen darstellen können. Zur Einstellungsentscheidung selbst wird die Zustimmung des Betroffenen nicht verlangt, so dass dies keine Rechtfertigung darstellen kann. Die erzieherischen Maßnahmen, auf denen nach den Vorgaben der Berliner Richtlinie die Einstellung nach § 45 Abs. 2 JGG überwiegend beruhen soll, werden hingegen von den Diversionsmittlern ausgewählt und betreut. Das Berliner Büro für Diversionsberatung und -vermittlung ist eine Einrichtung des SPI, das wie oben erwähnt eine rechtsfähige Stiftung des bürgerlichen Rechts und damit kein Bestandteil der öffentlichen Verwaltung ist. Die einzige staatliche Kontrolle, die über die Tätigkeit der Stiftung ausgeübt werden kann, ist die Staatsaufsicht i. S. d. § 7 des Stiftungsgesetzes Berlin. Danach wacht die Staatsaufsicht über die Rechtmäßigkeit der Verwaltung der Stiftung. In Berlin wird die Rechtsaufsicht von der Senatsverwaltung für Justiz ausgeübt. Diese Aufsicht dient jedoch in erster Linie dem Schutz des Stiftungsvermögens und des Stifterwillens vor pflichtwidrig handelnden Stiftungsorganen im öffentlichen Interesse.116 Die im Einzelnen von den Diversionsmittlern angeregten und durchgeführten Maßnahmen unterliegen hingegen keiner rechtlichen Kontrolle. Die Mittler sind in ihrer Auswahl frei und orientieren sich an dem, was nach ihrer Ansicht im Verhältnis zur mutmaßlichen Tat angemessen erscheint und die Staatsanwaltschaft zur Verfahrenseinstellung bewegen kann. Gerade letzterer Maßstab ist besonders vage, da die staatsanwaltschaftliche Praxis ihrerseits uneinheitlich ist. 114

Degenhart, Staatsorganisationsrecht, Rnr. 218. Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rnr. 1096 ff. 116 Die Aufsichtsbehörde prüft die ordnungsgemäße Zusammensetzung der Stiftungsorgane und stellt ihre Handlungsfähigkeit sicher. Ferner überwacht sie im Rahmen der Rechtsaufsicht die Geschäftsführung der Stiftungsorgane und prüft, ob das Stiftungsvermögen ungeschmälert erhalten und die Mittel der Stiftung satzungsgemäß verwendet wurden. Um diese Prüfung zu ermöglichen, haben alle Stiftungen nach Ablauf des Geschäftsjahres durch die Mitglieder ihres Vertretungsorgans einen Jahresbericht einzureichen. 115

III. Weitere Bedenken

155

Hinsichtlich ihrer Organisationsform können die Mittler demnach nicht der öffentlichen Gewalt zugerechnet werden. Jedoch ist zu bedenken, dass eine staatsanwaltschaftliche Tätigkeit, nämlich die Anregung von erzieherischen Maßnahmen, auf eine privatrechtlich organisierte Institution übertragen wurde. Diese übt ihre Aufgaben in staatlichem Auftrag aus und schafft damit gezielt die Grundlage für spätere behördliche Entscheidungen. Daher ist ihre Arbeit der vollziehenden Gewalt zuzuordnen. Die Gewährung eines Rechtsschutzes ist damit erforderlich und angesichts der sogar geringeren Kontrollierbarkeit der Tätigkeit privatrechtlich organisierter Pädagogen besonders dringlich. Die vorausgesetzte Freiwilligkeit der Maßnahmen vermag dies nicht zu entkräften, da ansonsten etwaige Beeinträchtigungen der Willensentschließung des Betroffenen, etwa durch Drohung oder Täuschung, nicht überprüft werden könnten.117 Der Gesetzgeber sollte daher eine Möglichkeit gerichtlicher Überprüfung der Diversionsentscheidungen schaffen.118 In Betracht käme beispielsweise die Einräumung eines Widerspruchsrechts gegen die Einstellungsentscheidung mit der Folge, dass der Tatvorwurf gerichtlich geklärt werden muss.119

117

Vgl. auch Nix-Rzepka, JGG, § 45 Rnr. 53. So auch Heinz, MschrKrim 1993, S. 355 (372). 119 Siehe P.-A. Albrecht, in: P.-A. Albrecht (Hrsg.), Informalisierung des Rechts, S. 39; Heinz, in: BMJ (Hrsg.), Diversion im Jugendstrafverfahren der Bundesrepublik Deutschland, S. 99 f. 118

F. Zusammenfassung und Schlussfolgerungen I. Zusammenfassung der Untersuchungsergebnisse Die Umsetzung der Berliner Diversionsrichtlinie ist ein anerkennenswerter Schritt auf dem Weg zu einer stärkeren Ausrichtung jugendstrafrechtlicher Reaktionen an pädagogischen Maßstäben. Die erzieherischen Maßnahmen werden in der Praxis von motivierten, speziell ausgebildeten und sich stetig weiterbildenden Sozialarbeitern und -pädagogen durchgeführt bzw. betreut. In den untersuchten Diversionsgesprächen habe ich den Eindruck gewonnen, dass der beobachtete Diversionsmittler über besondere kommunikative Fähigkeiten im Umgang mit Jugendlichen verfügt und in der Lage ist, mit diesen in einen Dialog auf gleicher Ebene zu treten. Die Jugendlichen wirkten – vorbehaltlich einer Beeinflussung durch den Erwartungsdruck oder meine Anwesenheit – überwiegend motiviert, sich im Gespräch mit dem Mittler mit der Tat, ihren Gründen und ihren Folgen insbesondere für den Geschädigten auseinander zu setzen und nach Möglichkeiten für eine Wiedergutmachung zu suchen. Daher lässt sich begründet annehmen, dass eine solche Reaktion im Hinblick auf erneute strafrechtliche Erfassung wirksamer ist als beispielsweise die von Gerichten so häufig verhängten „gemeinnützigen Arbeiten“. Die Zusammenarbeit der beteiligten Personen und Institutionen wird ganz überwiegend positiv beschrieben. Insbesondere die im Vorfeld als schwierig eingeschätzte Kooperation von Sozialpädagogen und Polizei wird von beiden Seiten als konstruktiv beurteilt. Eine berufsbedingte Antipathie ist nicht zu erkennen. Die Diversionsmittler scheinen sich in ihren in polizeilichen Dienstgebäuden befindlichen Büros gut etabliert zu haben, ohne ihre institutionelle Unabhängigkeit gegenüber dem Strafverfolgungsapparat eingebüßt zu haben. Auch die zu Beginn des Modellprojekts bestehenden Probleme im Kontakt zwischen Polizei und Staatsanwaltschaft konnten mit der Durchführung verschiedener Gesprächskreise und der Einrichtung einer Kernzeit für die erforderlichen Telefonate behoben werden. Lediglich hinsichtlich der Polizei wurde vielfach von Schwierigkeiten berichtet, sich auf die neue, ihr bisher wesensfremde Rolle im Strafverfahren einzustellen: auf die Rolle einer Institution, die nicht nur den Sachverhalt ermittelt, sondern zugleich erwägen muss, welche Reaktion angemessen erscheint. Diese Schwierigkeiten schlagen sich insbesondere bei der Entscheidung nieder, ob der Mittler einzuschalten ist. Wie mir in Interviews berichtet wurde, lehnen einige Polizeibeamte dies schlicht aus Un-

I. Zusammenfassung der Untersuchungsergebnisse

157

kenntnis ab, oder aber aus der Überzeugung, diese Art von Reaktion werde dem Phänomen der Kriminalität nicht gerecht. Trotz der überwiegend positiven Erfahrungen der Beteiligten bestehen schwerwiegende rechtstatsächliche wie rechtliche Bedenken gegenüber der Berliner Verfahrensweise. Diese sind teilweise in der Richtlinie bzw. deren gesetzlicher Grundlage angelegt, so dass sie sich nicht allein durch eine Modifizierung der Handhabung beseitigen lassen werden. 1. Rechtstatsächliche Aspekte a) Polizei als „Selektionsinstanz“ im Diversionsverfahren1 Die polizeiliche Auswahl derjenigen Strafverfahren, bei denen Diversionsmittler hinzugezogen werden, beeinträchtigt die gesetzlich vorgesehene Entscheidungskompetenz der Staatsanwaltschaft. Vor der Durchführung der von Diversionsmittlern betreuten Maßnahmen wird der Staatsanwaltschaft keine Möglichkeit zu einer umfassenden juristischen Beurteilung der Diversionsvoraussetzungen und des erzieherischen Bedarfs der jeweiligen Jugendlichen gewährt. Es können daher Situationen auftreten, in denen eine erzieherische Maßnahme unter Mitwirkung des Diversionsmittlers abgeschlossen wurde, der Dezernent der Staatsanwaltschaft bei der abschließenden Entscheidung jedoch zu der Ansicht gelangt, dass das Verfahren auch ohne eine solche Maßnahme gemäß § 170 Abs. 2 StPO oder aber nach § 45 Abs. 1 JGG hätte eingestellt werden müssen. In einem solchen Fall lässt sich die einmal durchgeführte Maßnahme nicht mehr rückgängig machen. Auch in solchen Fällen, in denen Polizeibeamte Verfahren nicht für die Einschaltung des Diversionsmittlers geeignet halten und dies der zuständige staatsanwaltschaftliche Dezernent anders beurteilt, ist es bereits zu spät. Eine Einschaltung des Mittlers durch die Staatsanwaltschaft ist in der Richtlinie nicht vorgesehen. Fehleinschätzungen der Polizei können insbesondere die tatbestandlichen Voraussetzungen wie etwa den hinreichenden Tatverdacht, die Schwere des Tatvorwurfs und die strafrechtliche Vorbelastung sowie die Anwendbarkeit von Jugendstrafrecht betreffen. b) Freiwilligkeit der Maßnahmen2 Die Konzeption des Berliner Diversionsverfahrens beruht maßgeblich auf der Freiwilligkeit der Maßnahmen. Eine solche Freiwilligkeit ist in der Praxis jedoch kaum zu erreichen. Den Jugendlichen ist bewusst, dass die Alternative zu 1 2

Siehe hierzu genauer unter D. I. 1. c) und E. II. 1. Siehe eingehend D. II. 2. d) dd) (3).

158

F. Zusammenfassung und Schlussfolgerungen

einer Kooperation mit der Polizei und den Diversionsmittlern die Fortsetzung des Strafverfahrens ist. Da ein solches Strafverfahren für die Mehrzahl der Jugendlichen ein nicht einschätzbares, Angst behaftetes Risiko darstellt, werden sie sich vielfach gezwungen fühlen, am Diversionsverfahren teilzunehmen. Die geschwächte Verfahrensposition der Jugendlichen zeigt sich auch in solchen Fällen, in denen es Hinweise darauf gibt, dass die Verletzten der mutmaßlichen Straftat überhöhte Forderungen gegenüber den Beschuldigten stellen. Diese Beispiele verdeutlichen, dass – ähnlich wie bei dem sog. Täter-OpferAusgleich – auch hinsichtlich des Berliner Diversionsverfahrens die Gefahr besteht, dass eine „Dominanz der Befriedigungswünsche des Opfers“ zu strafprozessual bedenklichen Dienstleistungen seitens des Beschuldigten führen kann.3 c) Tätigkeit der Mittler zwischen pädagogischer Ausrichtung und Erwartung der Staatsanwaltschaft 4 Die Verantwortung für die Beratung und die sich daraus ableitenden Maßnahmen liegt nach dem Berliner Diversionsmodell allein bei den Diversionsmittlern; Polizei oder Staatsanwaltschaft haben keinen Einfluss darauf. Hierdurch soll sichergestellt werden, dass sich die Auswahl der Maßnahmen ausschließlich an pädagogischen Kriterien orientiert. Dennoch ist das gesamte Diversionsverfahren darauf ausgerichtet, dass die Staatsanwaltschaft das Verfahren aufgrund der Maßnahme einstellt. Daraus ergibt sich für die Mittler der Konflikt, einerseits nur den Maßstäben der Pädagogik verpflichtet zu sein, sich andererseits sehr wohl an den Erwartungen der Staatsanwaltschaft ausrichten zu müssen. Die Diversionsmittler versuchen den genannten Schwierigkeiten dadurch zu begegnen, dass sie stark auf ein angemessenes Verhältnis zwischen (mutmaßlicher) Tat und Reaktion achten. Bei Unkenntnis über die Beurteilung der Staatsanwaltschaft besteht die Gefahr, dass die Mittler „sicherheitshalber“ eine weiterreichende Maßnahme durchführen als notwendig, um die Einstellungsvoraussetzungen in jedem Fall zu schaffen. d) Unzureichende Informationslage aa) Polizei5 Neben der Einschätzung, ob das mutmaßliche Delikt seiner Schwere nach die Voraussetzungen erfüllt, muss die Polizei beurteilen, ob die bisherige strafrechtliche Vorbelastung eine Diversion angemessen erscheinen lässt. Als Grundlage 3 4 5

Eisenberg, Kriminologie, § 30 Rnr. 17d. Siehe näher D. II. 2. d) dd) (1). Siehe hierzu D. I. 1. c) bb).

I. Zusammenfassung der Untersuchungsergebnisse

159

für diese Einschätzung dienen die Daten des Informationssystems der Polizei (ISVB). Hier sind jedoch lediglich solche Informationen abrufbar, die die polizeiliche Bearbeitung etwaiger früherer Ermittlungsverfahren gegenüber dem Beschuldigten betreffen. Dieses Informationsdefizit führt dazu, dass Polizeibeamte Verfahren für ungeeignet halten, die es in Wirklichkeit nicht sind. bb) Staatsanwaltschaft6 Während des Telefonats mit dem zuständigen Polizeibeamten berücksichtigt der Ansprechpartner bei der Staatsanwaltschaft Informationen des Staatsanwaltschaftlichen Auskunftssystems (AStA) zu den Vorbelastungen des Beschuldigten bei der Entscheidung, ob der Mittler einzuschalten ist. Auch die Informationen des AStA bieten keine umfassende Entscheidungsgrundlage, da sie regional begrenzt sind und nur eingeschränkt über etwaige gerichtliche Entscheidungen Auskunft geben. Die Nutzung des zentralen staatsanwaltschaftlichen Verfahrensregisters (§§ 492 ff. StPO, „Bundes-SISY“) vermag die genannten Defizite teilweise auszugleichen, da dieses auf bundesweiter Erfassung beruht und die Registrierung auch gerichtlicher Verfahrenserledigungen umfasst (§ 492 Abs. 2 Satz 1 Nr. 5 StPO). cc) Mittler7 Bei der Auswahl der Maßnahme, insbesondere bei der Bestimmung ihres Umfangs, berücksichtigen die Mittler auch, wie oft die Jugendlichen bereits strafrechtlich erfasst wurden. Die diesbezügliche Informationslage ist unzureichend, da die Angaben entweder von der Polizei stammen, die ihrerseits die Daten aus dem ISVB bezieht, oder aber von den Jugendlichen, die vielfach selbst nicht wissen, ob gegen sie bereits ein Ermittlungsverfahren in anderer Sache durchgeführt und ob bzw. wie dieses gegebenenfalls beendet wurde. 2. Rechtliche Aspekte a) Gewaltenteilung8 Durch die Regelungen der Diversionsrichtlinie werden Kompetenzen ausschließlich innerhalb der Exekutive verschoben; die Gerichte werden in ihren Funktionen und Aufgaben nicht betroffen. Ein Verstoß gegen den Gewaltenteilungsgrundsatz kann somit nicht angenommen werden. 6 7 8

Ausführlich unter D. I. 4. b) aa). Siehe hierzu D. II. 2. d) dd) (1). Siehe dazu eingehend unter E. I. 1. a).

160

F. Zusammenfassung und Schlussfolgerungen

b) Einschränkung der Verteidigungsrechte9 Die Befürchtungen, die Berliner Diversionspraxis führe zu einer Einschränkung der Verteidigungsrechte des Beschuldigten, ließen sich ausräumen, wenn eine Freiwilligkeit seitens der Jugendlichen tatsächlich erreichbar wäre. Dies ist aber angesichts der für Jugendliche oftmals nicht einschätzbaren Bedrohung durch das schwebende Strafverfahren sowie der Übermacht der staatlichen Kontrollorgane mehr als zweifelhaft. c) Unschuldsvermutung10 Mit der Anregung und Durchführung von erzieherischen Maßnahmen nach dem Berliner Diversionsmodell ist kein Schuldspruch verbunden. Die Schuldfrage bleibt vielmehr offen; etwaige Maßnahmen werden freiwillig erfüllt. Damit wird der Grundsatz der Unschuldsvermutung nicht verletzt, soweit die Voraussetzung der Freiwilligkeit der Maßnahmen gewahrt wird. d) Verstoß gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz11 Es gibt Hinweise auf sehr unterschiedliche Handhabungen der Richtlinie auf polizeilicher wie staatsanwaltschaftlicher Ebene. Hierin liegt eine Ungleichbehandlung wesentlich gleicher Sachverhalte. Unterschiedliche Vorstellungen von Polizeisachbearbeitern und Staatsanwälten darüber, was ausreichend und erforderlich ist, um den Beschuldigten von (weiteren) Straftaten abzuhalten, können keine sachliche Rechtfertigung für eine solche Ungleichbehandlung begründen. Durch einen fortgesetzten Austausch zwischen den Institutionen sowie eine stete Fortbildung der am Projekt Beteiligten lässt sich eine größere Einheitlichkeit in der Anwendung von Diversionsvorschriften erreichen; die Gefahr von Ungleichbehandlungen ist dennoch nicht gänzlich auszuschließen. e) Bestimmtheitsgebot und Gesetzesvorbehalt12 Die inhaltliche Arbeit der Diversionsmittler unterliegt nur sehr geringen und zudem unbestimmten Beschränkungen. Diese Unbestimmtheit der Vorgaben für die Tätigkeit der Mittler führt dazu, dass Vorhersehbarkeit und Berechenbarkeit der Maßnahmen und damit letztlich der Kriterien für die Entscheidung zwischen Einstellung des Verfahrens und Erhebung der Anklage nicht gegeben sind. 9

Dazu ausführlich unter E. I. 1. b). Siehe hierzu E. I. 1. c). 11 Siehe hierzu E. I. 1. d). 12 Siehe eingehend unter E. III. 1. 10

I. Zusammenfassung der Untersuchungsergebnisse

161

Aufgrund der beschriebenen nicht intendierten, aber vielfach faktisch gegebenen Zwangswirkung des drohenden Strafverfahrens kommt der Durchführung einer Maßnahme durch einen Mittler für den Jugendlichen Eingriffscharakter zu. Damit handelt es sich um einen wesentlichen, weil grundrechtsrelevanten Sachverhalt, der gemäß der vom Bundesverfassungsgericht entwickelten Wesentlichkeitslehre einer parlamentarischen, gesetzesförmigen Grundlage bedarf. Um diesem Erfordernis zu genügen, erscheint es erwägenswert, in §§ 45, 47 JGG im Einzelnen noch näher festzulegende Formalkriterien zu verankern und deren gerichtliche Nachprüfung zu ermöglichen. f) Verhältnismäßigkeit und Umgehung von weniger eingriffsintensiven Vorschriften13 Es bestehen Hinweise darauf, dass die Umsetzung der Berliner Diversionsrichtlinie zu einer Ausweitung des Netzes sozialer Kontrolle führen kann. Dies würde nicht nur einfachgesetzliche Regelungen verletzen, sondern kann im Einzelfall auch gegen den verfassungsrechtlichen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verstoßen. Eine juristische Prüfung der Verhältnismäßigkeit zwischen Reaktion und Tatvorwurf ist im Berliner Modell nicht angelegt. g) Vorenthaltung ausreichenden Rechtsschutzes14 Das geltende Recht stellt kein reguläres prozessuales Mittel zur Verfügung, Verfahrenseinstellungen nach §§ 45, 47 JGG und die ihnen zugrunde liegenden Maßnahmen gerichtlich überprüfen zu lassen. Dies verstößt gegen Nr. 11.3 der Mindestgrundsätze der Vereinten Nationen für die Jugendgerichtsbarkeit sowie gegen das aus dem Rechtsstaatsprinzip abgeleitete grundrechtlich abgesicherte Recht auf Gewährung eines umfassenden Gerichtsschutzes gegen Akte öffentlicher Gewalt (Art. 19 Abs. 4 GG). Der Gesetzgeber sollte daher eine Möglichkeit gerichtlicher Überprüfung der Diversionsentscheidungen schaffen. Auch die Tätigkeit der privatrechtlich organisierten Diversionsmittler ist der vollziehenden Gewalt zuzuordnen, da sie die der Staatsanwaltschaft obliegende Anregung von Maßnahmen lediglich übernehmen, in staatlichem Auftrag ausführen und damit gezielt die Grundlage für spätere behördliche Entscheidungen schaffen. Die Gewährung eines Rechtsschutzes ist damit erforderlich und angesichts der sogar geringeren Kontrollierbarkeit der Tätigkeit privatrechtlich organisierter Pädagogen besonders dringlich.

13 14

Eingehend dazu unter E. III. 2. Siehe hierzu E. III. 4.

162

F. Zusammenfassung und Schlussfolgerungen

h) Verletzung der gesetzlichen Regelungen in § 45 JGG aa) Einschränkungen der gesetzlichen Voraussetzungen15 Entgegen der hier vertretenen Ansicht, nach der neben der Einstellung nach § 45 Abs. 1 JGG auch die nach § 45 Abs. 2 JGG selbst bei Bestreiten des Beschuldigten zulässig ist, schließt die Richtlinie alle Formen der Diversion aus, wenn der Beschuldigte den Tatvorwurf ernstlich bestreitet. Zusätzlich wird durch die besondere Konzeption des Verfahrens für alle Verfahrenseinstellungen gemäß § 45 Abs. 2 JGG die Voraussetzung eines glaubhaften Geständnisses bzw. des Betroffenseins auf frischer Tat eingeführt. Insbesondere hinsichtlich solcher Verfahren, in denen bereits eine außerjustizielle erzieherische Maßnahme durchgeführt wurde, bedeutet dies eine Einschränkung der gesetzlichen Vorgaben. bb) Filternde Funktion der Polizei16 Formal betrachtet wahrt die Berliner Diversionsrichtlinie die gesetzlich vorgesehene Verfahrensherrschaft der Staatsanwaltschaft über das Ermittlungsverfahren. Allerdings kommt der Beurteilung durch die Polizei vielfach präjudizielle Wirkung für die Entscheidung der Staatsanwaltschaft zu. Eine umfassende Prüfung der Sach- und Rechtslage sowie der präventiven Notwendigkeit erzieherischer Maßnahmen durch die Staatsanwaltschaft vor der Durchführung dieser Maßnahmen ist nicht gewährleistet. Dadurch wird die der Staatsanwaltschaft zugewiesene Sachentscheidungsbefugnis faktisch zumindest teilweise der Polizei übertragen. cc) Befugnis der Polizei zur Durchführung normverdeutlichender Gespräche17 Gegenstand des normverdeutlichenden Gesprächs ist es, „die Verfehlung mit dem Jugendlichen aufzuarbeiten“, indem der Polizeibeamte dem Jugendlichen „den Unrechtsgehalt seiner Tat vor Augen führt“. Dies ist jedoch Inhalt einer Ermahnung, die gemäß § 45 Abs. 3 JGG der Jugendrichter und gemäß § 45 Abs. 2 JGG der Staatsanwalt erteilen darf. Demnach verstößt die Diversionsrichtlinie gegen die einfachgesetzlichen Kompetenzregelungen des JGG. Demgegenüber hat die Praxis gezeigt, dass die Neuregelungen der Diversionsrichtlinie zumindest rechtstatsächlich keine bedeutenden Veränderungen gebracht haben. Dennoch erscheint es wichtig, dass die Polizei bezüglich solcher 15 16 17

Siehe E. III. 3. Hierzu eingehend unter E. I. 1. e). Siehe E. I. 2.

II. Schlussfolgerungen

163

„normverdeutlichender Inhalte“ innerhalb von Vernehmungen im Blickfeld behält, dass Grundlage der Diversion nicht die Feststellung von Schuld, sondern lediglich das Vorliegen eines Tatverdachts ist. dd) Tätigkeit der Diversionsmittler18 Die Richtlinie enthält eine nicht abschließende Aufzählung von Maßnahmen, die der Diversionsmittler dem Jugendlichen vorschlagen und gemeinsam mit diesem durchführen kann. Die exemplarisch genannten Maßnahmen sind überwiegend solche, die nach der Konzeption der Absätze 2 und 3 des § 45 JGG die Staatsanwaltschaft nicht selbstständig vorschlagen, sondern lediglich beim Jugendrichter anregen darf. Damit räumt die Richtlinie als nur intern wirkende Regelung dem Mittler weitergehende Befugnisse ein, als das Gesetz der Staatsanwaltschaft verleiht und nahezu dieselben Befugnisse, die das Gesetz dem Jugendrichter vorbehält. Hierin ist wiederum ein Verstoß gegen die Kompetenzregelungen des JGG zu erblicken. i) Beschneidung der Kompetenzen der Jugendgerichtshilfe19 Aus Gründen der Beschleunigung und der Verhältnismäßigkeit kann es in Diversionsverfahren vielfach angezeigt sein, auf eine Beteiligung der Jugendgerichtshilfe zu verzichten. Die Jugendgerichtshilfe wird somit von Verfahren freigestellt, in denen eine kurzfristige erzieherische Beratung ausreichend erscheint, so dass sie ihre Ressourcen auf Fälle mit tatsächlich bestehendem Betreuungsbedarf konzentrieren kann. Eine Beeinträchtigung der gesetzlichen Kompetenzen der Jugendgerichtshilfe steht nicht zu befürchten.

II. Schlussfolgerungen 1. Empfehlungen zur Ausgestaltung von Diversionsrichtlinien im Allgemeinen a) Positive Ansätze der bestehenden Berliner Diversionsrichtlinie Die Erfahrungen mit der Umsetzung der Berliner Diversionsrichtlinie haben gezeigt, dass eine verstärkte Einbeziehung der Polizei in das Diversionsverfahren dann sinnvoll sein kann, wenn dadurch der Informationsvorsprung der sachnäheren Behörde für die Auswahl von erzieherischen Maßnahmen genutzt wird. 18 19

Siehe E. II. 1. Siehe eingehend E. II. 2.

164

F. Zusammenfassung und Schlussfolgerungen

Insbesondere die Erhebung von Informationen über Reaktionen im sozialen Umfeld ermöglicht eine bessere Berücksichtigung des grundsätzlichen Vorrangs außerjustizieller vor justiziellen Maßnahmen. Allerdings muss gewährleistet werden, dass der Umfang der Ermittlungen in einem angemessenen Verhältnis zur mutmaßlichen Tat steht und die Entscheidungskompetenz der Staatsanwaltschaft gewahrt bleibt.20 Es wurde zudem deutlich, dass – trotz vereinzelter Rollenkonflikte innerhalb der Polizei – eine intensivere Kommunikation und Kooperation der einzelnen am Diversionsverfahren beteiligten Institutionen möglich ist. Der Austausch zwischen den Beteiligten sowie deren fortlaufende Weiterbildung fördern die einheitlichere Handhabung von Diversionsrichtlinien zumindest innerhalb des Geltungsbereichs der jeweiligen Richtlinie. Außerdem gewährleistet die Mitwirkung von Sozialarbeitern bzw. -pädagogen bei der Auswahl der erzieherischen Maßnahmen eine stärkere Ausrichtung an pädagogischen Maßstäben und eine spezifischere Berücksichtigung der einzelnen Umstände. b) Empfehlungen für zukünftige Richtlinien Diesen positiven Ansätzen stehen freilich schwerwiegende Defizite der bestehenden Berliner Diversionsrichtlinie gegenüber. Basales Element des Diversionsmodells ist die Weichen stellende Rolle der Polizei innerhalb des Verfahrens. Es wurde gezeigt, dass diese Konzeption gegen die gesetzliche Kompetenzregelung des § 45 Abs. 2 JGG verstößt.21 Eine Modifizierung allein der Ausgestaltung dürfte kaum ausreichen; vielmehr erscheint eine Neukonzeption erforderlich, die der gesetzlich vorgesehenen Sachentscheidungsbefugnis der Staatsanwaltschaft Rechnung trägt. Dies wäre nur durch eine umfassende juristische Prüfung der Diversionsvoraussetzungen und des erzieherischen Bedarfs durch die Staatsanwaltschaft vor Durchführung der Maßnahmen zu erreichen. Entscheidungsgrundlage müssen umfassende Informationen über bisherige Vorbelastungen sein; die polizeilichen Daten reichen hierfür nicht aus.22 Bezüglich Privatklage- und relativen Antragsdelikten muss neben den rechtlichen Voraussetzungen auch der Verfolgungswille der Staatsanwaltschaft abklärt werden.23 Zusätzlich könnte die Staatsanwaltschaft einen Rahmen für etwaige erzieherische Maßnahmen abstecken, um Unsicherheiten

20

Siehe hierzu E. I. 1. Dazu näher unter E. I. 1. e). 22 Siehe ausführlich D. I. 1. c) bb). 23 Siehe auch Ministerium für Justiz, Bundes- und Europaangelegenheiten des Landes Schleswig-Holstein, DVJJ-Journal 2000, S. 78 (82). 21

II. Schlussfolgerungen

165

bei den Diversionsmittlern hinsichtlich des Verhältnisses von mutmaßlicher Tat und Reaktion abzumildern.24 Die Berliner Diversionsrichtlinie setzt – wie auch die entsprechenden Verwaltungsvorschriften anderer Bundesländer – die Freiwilligkeit der Maßnahmen voraus, d.h. die Möglichkeit der beschuldigten Jugendlichen, zwischen verschiedenen Verhaltensalternativen autonom zu entscheiden. Den Verfahrensbeteiligten muss jedoch bewusst sein, dass der Situation der Jugendlichen ein Unterwerfungsdruck immanent ist, der sich nicht vollständig ausschließen lässt. Daher müssten Rahmenbedingungen geschaffen werden, die den auf dem Beschuldigten und seinen Sorgeberechtigten lastenden Druck so gering wie möglich halten. Dazu ist eine umfassende Aufklärung des Beschuldigten über seine Verfahrenssituation einschließlich der registerrechtlichen Folgen einer etwaigen Diversionsentscheidung unerlässlich. 2. Empfehlungen für die Gesetzgebung a) Registerrechtliche Regelungen Die Ungleichbehandlung Jugendlicher und Heranwachsender gegenüber Erwachsenen hinsichtlich der registerrechtlichen Folgen von Diversionsentscheidungen (vgl. § 60 Abs. 1 Nr. 7 BZRG) ist unverhältnismäßig und sollte vom Gesetzgeber korrigiert oder zumindest durch Verkürzung der Tilgungsfristen abgemildert werden.25 b) Gesetzliche Ausgestaltung der Diversion Die Untersuchung hat gezeigt, dass es nach wie vor erwägenswert erscheint, die gesetzlichen Voraussetzungen von Diversionsentscheidungen nach §§ 45, 47 JGG de lege ferenda stärker auszudifferenzieren und um Begründungspflichten zu ergänzen. Die Voraussetzungen könnten sich inhaltlich an den in der Praxis bereits erprobten Diversionsrichtlinien einzelner Bundesländer orientieren.26 Zusätzlich sollte die Möglichkeit einer regulären gerichtlichen Überprüfung von Diversionsentscheidungen geschaffen werden. In Betracht käme beispielsweise die Einräumung eines Widerspruchsrechts gegen die Einstellungsentscheidung mit der Folge, dass der Tatvorwurf gerichtlich geklärt werden muss.27 24

Dazu näher unter D. II. 2. d) dd). Siehe B. II. 3. a) aa) (2) (d). 26 So auch Heinz, in: BMJ (Hrsg.), Diversion im Jugendstrafverfahren der Bundesrepublik Deutschland, S. 99. 27 Siehe P.-A. Albrecht, in: P.-A. Albrecht (Hrsg.), Informalisierung des Rechts, S. 39; Heinz, in: BMJ (Hrsg.), Diversion im Jugendstrafverfahren der Bundesrepublik Deutschland, S. 99 f. 25

166

F. Zusammenfassung und Schlussfolgerungen

Eine solche Modifizierung der bestehenden Rechtsgrundlage würde den Anforderungen der Wesentlichkeitstheorie des BVerfG28 sowie dem Grundrecht auf umfassenden Rechtsschutz gegen Akte öffentlicher Gewalt gemäß Art. 19 Abs. 4 GG29 zu mehr Wirkung verhelfen. Zusätzlich könnte der auf dem Jugendlichen lastende und der vorausgesetzten Freiwilligkeit entgegenwirkende Unterwerfungsdruck hierdurch abgeschwächt werden.

III. Ausblick Im Hinblick auf die Frage, wie das Modell weiterentwickelt und verbessert werden könnte, wurde sowohl von Seiten der Mittler als auch einzelner Polizeibeamter der Vorschlag formuliert, es dahingehend zu modifizieren, dass in allen Jugendstrafverfahren vor der staatsanwaltschaftlichen Entscheidung über Einstellung oder Anklageerhebung ein Diversionsmittler hinzugezogen werden sollte. Hierdurch könne eine größere Einheitlichkeit in der Handhabung sowie eine bessere Ausschöpfung der Diversionsmöglichkeiten des § 45 JGG erreicht werden. Gegen diesen Vorschlag sprechen – trotz seiner möglichen praktischen Vorteile – die gegen die Diversionstätigkeit der Mittler bereits angeführten Bedenken in noch stärkerem Maße. Hierdurch würden private Anbieter ohne jede gesetzliche Grundlage und rechtliche Überprüfbarkeit zu justiziellen Kontrollorganen.30 Die Senatsverwaltungen nehmen die von Wissenschaft und Praxis formulierte Kritik an der Berliner Diversionsrichtlinie ernst und arbeiten derzeit an einer Neufassung, in der die Erfahrungen der dreijährigen Projektphase Berücksichtigung finden sollen, insbesondere in Bezug auf die Erfassung aller relevanten Fallgruppen sowie die Straffung und Vereinfachung des Verfahrens. Zudem wurde nach Auskunft der Senatsverwaltung für Justiz ein wissenschaftliches Institut beauftragt, das Projekt langfristig zu evaluieren und zu beraten. Die rechtlichen und rechtstatsächlichen Einwände gegen das Berliner Diversionsmodell wiegen jedoch so schwer, dass es zweifelhaft erscheint, sie beheben zu können, ohne die zu Grunde liegende Konzeption anzutasten.

28

Hierzu eingehend E. III. 1. b). Siehe dazu E. III. 4. 30 Vgl. zu dem parallelen Problem einer verstärkten Einbeziehung der JGH in die Diversionsentscheidung, Ostendorf, JGG, § 45 Rnr. 15. 29

Jugendlicher (oder Heranwachsender)

Mutmaßliche Straftat

oder Einverständnis

Kein Einverständnis des Jugendlichen

oder Einverständnis

Telefonat mit Ansprechpartner bei StA: Kein Einverständnis

oder weitere Diversionsmaßnahmen erforderlich

Voraussetzung für § 45 Abs. 2 JGG bereits erfüllt

Normverdeutlichendes Gespräch

oder § 45 Abs. 2 JGG (Maßnahmen bereits erfolgt oder noch durchzuführen)

Einschätzung: Einstellung nach § 45 Abs. 1 JGG (ohne weitere Maßnahmen)

Vernehmung des Beschuldigten

Vorfilterung der Verfahren für Einstellung nach § 45 Abs. 1 bzw. Abs. 2 JGG

Polizei

Gespräch mit Jugendlichem Bericht für StA

Diversionsmittler

Anklage

Vermittlung in andere Einrichtungen (JGH)

Erzieherische Maßnahme(n)

Nur erzieherisches Gespräch

Anregung weiterer Maßnahmen

Dezernent: Abschlussverfügung

Staatsanwaltschaft Ansprechpartner der Polizei

Einstellung des Verfahrens

Übersendung der Akte

G. Anlagen

I. Übersicht über das Berliner Diversionsmodell

168

G. Anlagen

II. Beobachtungsbogen Diversionsgespräche Datum der Beobachtung: . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ort der Beobachtung: . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Uhrzeit Beginn/Ende der Beobachtung: . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nummer der Beobachtung: . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . &

Videoaufzeichnung erfolgt?

ja

nein

Wenn ja, wievielte Aufzeichnung?

Nr. . . . . . . . . .

&

Wenn nein, warum? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anzahl der teilnehmenden Jugendlichen: . . . . . . . . . . Tatvorwurf:

....................................................

Datum der vorgeworfenen Tat/des Ergreifens:

.................

Datum der Vernehmung/Vereinbarung: . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vorgangsnummer SPI: . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vorgangsnummer Polizei:

....................

Geschlecht des/r Jugendlichen:

weiblich

&

männlich

&

Alter des/r Jugendlichen: . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Beruf des/r Jugendlichen:

..........................................

Beobachteter Diversionsmittler:

......................................

Das wievielte Treffen zwischen Diversionsmittler und Jugendlicher/m ist dies? . . . . . Personensorgeberechtigte Person anwesend?

ja

&

nein

&

Wenn ja, wer ist dies? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (Vorläufig) vereinbarte Maßnahme: .............................................................. .............................................................. .............................................................. .............................................................. Besonderheiten des Beobachtungsverlaufs: .............................................................. .............................................................. .............................................................. ..............................................................

G. Anlagen

169

III. Beobachtungsleitfaden Diversionsgespräche 1. Gesprächssituation: – Gestaltung des Ortes – Jeweiliger Redeanteil der Personen – Gesprächsatmosphäre 2. Gesprächsinhalte: – Erklärungen zum Diversionsverfahren – Mutmaßliches Tatgeschehen, Umstände der mutmaßlichen Tat – Gründe für die Begehung der Tat – Bisheriges Verfahren, insbesondere Kontakt mit der Polizei – Frühere Strafverfahren – Reaktionen auf die mutmaßliche Tat und ihre Entdeckung im sozialen Umfeld – Durch die mutmaßliche Tat hervorgerufene Auswirkungen beim Geschädigten – Mögliche „Wiedergutmachung“ des Schadens – Alternative Verhaltensstrategien – Getroffene Vereinbarung – Überlegungen für die Zukunft

IV. Interviewleitfaden 1. Diversion im Allgemeinen – Was verstehen Sie unter dem Begriff der „Diversion“ im Allgemeinen? – Wozu dient Ihrer Meinung nach Diversion? – Welche Annahmen liegen der Diversion zu Grunde? – Halten Sie Diversion grundsätzlich für ein sinnvolles Konzept für den Bereich des Jugendstrafrechts? 2. Inhalt und Ziele der Diversionsrichtlinie im Besonderen – Welche Neuregelungen beinhaltet die Diversionsrichtlinie? – Was bezweckt die Richtlinie? 3. Berührungspunkte mit den Neuregelungen – Wie hat Ihre Behörde/Institution die Vorgaben im Einzelnen umgesetzt? – Wie ist der Ablauf in Ihrer Behörde/Institution geregelt? – Inwieweit ist Ihre eigene Tätigkeit von den Neuregelungen betroffen? 4. Erwartungen – Haben Sie im Vorfeld des Erlasses der Richtlinie überhaupt Handlungsbedarf gesehen? – Welche Verbesserungen haben Sie von der Richtlinie erwartet?

170

G. Anlagen

5. Erfahrungen – Welche Erfahrungen haben Sie mit der Umsetzung der Diversionsrichtlinie bisher gemacht? – Wo liegen positive Effekte? Und wo negative? – Und welche Effekte überwiegen aus Ihrer Sicht? – Wie schätzen Sie die Zusammenarbeit mit den übrigen Beteiligten ein? – Glauben Sie, dass eine Diversionsvermittlung in mehr Fällen in Betracht kommt, als sie tatsächlich angeregt wird? Wenn ja, woran liegt es Ihrer Meinung nach, dass das Potential nicht ausgeschöpft wird? 6. Ausblick – Insgesamt betrachtet: Meinen Sie, die Diversionsrichtlinie hat sich bisher bewährt? – Sollte sie weiterhin – möglicherweise auch in anderen Bundesländern – Anwendung finden? – Haben Sie konkrete Verbesserungsvorschläge?

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Sachwortverzeichnis Absehen von Strafe 52 Anfechtbarkeit des Einstellungsbeschlusses 32, 152 ff., 161 Ausweitung des Netzes sozialer Kontrolle 148 ff., 161 Beobachtung als Methode empirischer Datenerhebung 71 ff., 75 ff., 102 ff. Bestimmtheitsgrundsatz 146 ff., 160 f. Betäubungsmittelrecht 53 ff. \;Bielefelder Informationsmodell\( 60 Diversion – Begriff 15 ff., 31 – intervenierende 18 f. Diversionsmittler 96 ff., 143 ff., 156, 163, 166 Diversionsrichtlinie – Begriff 55 ff. – Berliner 63 ff. Diversionsvereinbarung 96, 106, 111, 136 Ermahnung 27, 28, 48, 142, 162 Erzieherische Maßnahmen 24, 86, 97 f. Erziehungsgedanke 15, 43 ff., 62 Erziehungsregister 19, 21, 36 ff., 150, 154 Erziehungsverfahren, formloses jugendrichterliches 28 ff., 48 ff. Evaluation 68 f. Freiwilligkeit der Diversionsmaßnahmen 27, 51, 95, 108, 123, 131, 135 ff., 143, 157 f. Gesetzesvorbehalt 146 ff., 160 f. Geständnis 21, 22 ff., 25, 29, 32, 48 ff., 52, 85, 87 f., 109, 151, 162

Gewaltenteilung 25, 60, 129 ff., 159 Gleichheitsgrundsatz 38 ff., 49 ff., 139 ff. Heranwachsende 20, 33 f., 52, 90, 103 Jugendgerichtshilfe 58, 82, 144 ff., 163 \;Kieler Modell\( 61 Legalitätsprinzip 16 f., 59 \;Lübecker Modell\( 61 Nemo-tenetur-Grundsatz 133 Normverdeutlichendes Gespräch 64 f., 79, 87, 93 ff., 142 f., 151, 162 f. Öffentliches Interesse an der Strafverfolgung 20 f., 55 f. Opportunitätsprinzip 17, 19, 34, 152 Polizei – als \;Entscheidungsinstanz\( 129 ff. – als \;Reaktionsinstanz\( 143 f. – als \;Selektionsinstanz\( 82 ff., 157 Polizeidirektionen Berlin 13, 65 f. \;Polizeidiversion\( 59 ff. Rechtskraftwirkung, eingeschränkte 29 f., 32, 33 \;Schlechterstellungsverbot\( 36 ff., 47 ff., 52 Staatsanwaltschaft – \;Anordnungskompetenz\( der 24 ff. – \;Anregungskompetenz\( der 24 ff. Subsidiaritätsgrundsatz 15 f., 20, 24, 26

Sachwortverzeichnis Tatverdacht, hinreichender 17, 31, 89 f., 125, 128, 148, 150 Unschuldsvermutung 46, 137 ff., 160 Verfahrensregister, zentrales staatsanwaltschaftliches 40 f., 45, 95, 159

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Verhältnismäßigkeitsgrundsatz 45 ff., 148 ff., 161, 165 Vernehmung, verantwortliche 59, 91 f. Zustimmung – des Beschuldigten 22, 23, 27 f., 30 f., 32 f., 51, 88, 153, 154 – der Personensorgeberechtigten 28, 88