Neue Welten in der Neuen Welt: Die transnationale Geschichte des Allgemeinen Jüdischen Arbeiterbund 1897-1947 9783412216771, 9783412222116

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Neue Welten in der Neuen Welt: Die transnationale Geschichte des Allgemeinen Jüdischen Arbeiterbund 1897-1947
 9783412216771, 9783412222116

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Industrielle Welt Schriftenreihe des Arbeitskreises für moderne Sozialgeschichte Herausgegeben von Andreas Eckert und Joachim Rückert Band 86

Frank Wolff Neue Welten in der Neuen Welt

Frank Wolff

Neue Welten in der Neuen Welt Die transnationale Geschichte des Allgemeinen Jüdischen Arbeiterbundes 1897–1947

2014 BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN

Gedruckt mit Unterstützung des Förderungs- und Beihilfefonds Wissenschaft der VG WORT

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abruf bar.

Umschlagabbildung: Gruppenbild einer sozialistischen Gedenkfeier für die Pogromopfer, Vilnius 1905. © Yivo. Institute for Jewish Research, New York

© 2014 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien Ursulaplatz 1, D–50668 Köln, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Korrektorat: Patricia Simon, Langerwehe Gesamtherstellung: WBD Wissenschaftlicher Bücherdienst, Köln Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier ISBN 978-3-412-22211-6

Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Editorische Notiz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Teil I Der Bund als soziale Bewegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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1. Aktivismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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2. Aktivismusmuster in Osteuropa: Die Konstitution des Transferierbaren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Teil II „Erhabene Momente unserer romantischen Vergangenheit“: Vergemeinschaftung durch kollektives Erinnern . . . . . . . . . . . . . 129

1. Erinnern als aktivistische Praktik: Einführende Gedanken . . . . . . . . . . . . . 131 2. Die Presse des Bund: Von agitierender Publizistik zu transnationaler Memorik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136 3. Erinnerungen jenseits von „Ich“ und „Wir“: Bundische Autobiographik als soziale Formation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 4. Migration als Wissensspeicher: Kollektivbiographik und Fragebögen . . . 219 5. Zwischenresümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 244 Teil III In neue Straßen zu alten Massen: Die Transnationalisierung des Bund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253

1. Zwischen Hier und Dort: Bundische Versammlungen in Übersee . . . . . . 255 2. Reproduktion als Neuschöpfung. Arbeiterorganisation und sekundärer Bundismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 286 3. Politik, Ökonomie, yidishkayt: Die Verflechtung von Arbeitskampf und Kulturarbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 322 4. Die Tradierung der yidishkayt: Transfer und Grenzen bundischer Bildungsarbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 352 5. Hilfsfonds als Waffen: Von revolutionärem Fundraising zu transnationaler Kulturarbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 401 Resümee oder: Die Ambivalenz der bundischen Moderne . . . . . . . . . . . . . . . . . 455

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Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verzeichnis häufig verwendeter Abkürzungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Archive und Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Autobiographik des Bund. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur und weitere gedruckte Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Inhalt

473 473 474 479 502

Stichwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 552

Die 60-jährige Geschichte des Bund ist wie die Geschichte eines Menschen, der seine besonderen Phasen nicht nur in verschiedenen Zeiten durchlebte, sondern auch in verschiedenen Ländern – und in Anbetracht der letzten Jahrzehnte – auf verschiedenen Kontinenten. Leon Oler, 19571

1

Leon Oler, „Di ‚tsveyer‘ in poylishn ‚bund‘“, in Leon Oler. Zayn lebn un tetikeyt, [Orig.: Unzer Tsayt, 11–12 (1957)] (New York: Unzer tsayt, 1973), 124.

Vorwort

Die Suche nach der Geschichte des Bund im Migrationsprozess führte mich in eben diesen. Dieses Projekt nahm seinen Anfang an der Universität zu Köln, wechselte mit mir nach Bielefeld, reiste nach Buenos Aires und mehrfach in die USA, um dann letzten Endes seinen Abschluss an der Johns Hopkins University in Baltimore zu finden. Das daraus entstandene, nun vorliegende Buch wurde in Berlin und Osnabrück fertiggestellt. Mehrere Jahre lebte ich aus Koffern und sammelte Quellen und Indizien in offiziellen Archiven, privaten Sammlungen und in Beständen verlassener Bibliotheken. Auf der Suche nach Personen, Erinnerungen, Briefen und Zeitschriften waren Telefonhörer oft ebenso wichtige Werkzeuge wie Findbücher – mit dem Unterschied, dass Letztere nur selten vorhanden waren. Häufig fühlte ich mich wie das lyrische Ich in dem von Jorge Luis Borges verfassten und von Astor Piazolla kongenial vertonten Gedicht Jacinto Chiclana: Me acuerdo, fue en Balvanera, en una noche lejana, que alguien dejó caer el nombre de un tal Jacinto Chiclana. […] ¡Quién sabe por qué razón me anda buscando ese nombre! Me gustaría saber cómo habrá sido aquel hombre.

Ich erinnere mich, es war in Balvanera, In einer entfernten Nacht, In der jemand den Namen fallen ließ, Von irgendeinem Jacinto Chiclana. […] Wer weiß schon, welcher Wahn mich reitet, Dass ich diesem Namen folge! Ich wünschte, ich wüsste, Wie es diesem Mann erging.

Im Laufe der Recherche hörte ich in „entfernten Nächten“ viele solcher stets mit größtem Respekt geäußerte Namen, die jedoch in keinem Katalog, Lexikon oder Register zu finden waren. Und oft wanderte ich suchend durch die Straßen Balvaneras, welches das traditionelle jüdische Viertel Once umschließt, in dem einst die bundische Peretz-Schule lag und welches heute die entsprechenden Archive beherbergt. Dass ich letzten Endes den Spuren nachgehen konnte und dass damit jene Namen auch Gesichter und oft gar Geschichte erhielten, gelang nur aufgrund der Hilfe vieler großartiger Menschen und Institutionen auf der ganzen Welt. Es ist unmöglich, in der gebotenen Kürze sämtliche Unterstützer und Unterstützerinnen zu benennen, im Folgenden möchte ich aber die Aufmerksamkeit auf jene lenken, die maßgeblich zum Abschluss des Projektes beitrugen. Von grundlegender Bedeutung war dabei ein Promotionsstipendium durch die Friedrich-Ebert-Stiftung, welches nicht nur meine Lebenskosten deckte und sehr

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Vorwort

aufwendige transatlantische Reisen trug, sondern mir auch ein Netzwerk anbot, welches die Arbeit vorantrieb. Gleiches gilt für die Bielefeld Graduate School in History and Sociology an der Universität Bielefeld. Beide Institutionen standen fest hinter dem Projekt und versagten auch in schwierigen Phasen ihre Unterstützung nicht – im Gegenteil, sie motivierten und boten die Möglichkeiten, es erfolgreich und ambitioniert zum Abschluss zu bringen. Ein anschließendes Jahr an der Johns Hopkins University in Baltimore war von unermesslichem Wert für die Arbeit, erstens, weil es mir reine „Schreibezeit“ zur Verfügung stellte, und zweitens, weil ein Ort wie die Johns Hopkins University jedem historiographischen Projekt seinen Stempel aufdrückt. Hier fand ich sowohl Austausch als auch die Ruhe, um eine Arbeit, die auf drei Kontinenten und an drei Universitäten und mit Quellen in fünf Sprachen entstanden ist, in einen kohärenten Zusammenhang zu bringen. Letztendlich konnte ich, mit tatkräftiger Unterstützung durch Dorothee Rheker-Wunsch vom Böhlau Verlag und die sorgfältige Korrektorin Patricia Simon, an meiner derzeitigen Arbeitsstätte, dem Institut für Migrationsforschung und interkulturelle Studien/Neueste Geschichte an der Universität Osnabrück dem Buch den entscheidenden Schliff verpassen. Die Basis dafür waren zahlreiche Quellen, die jedoch nur in seltenen Fällen „zugänglich“ oder „bestellbar“ waren, sondern oft nur durch die Hilfe anderer den Weg zu mir fanden. Die Mitarbeiter des YIVO und der New York Public Library in New York sowie des IWO, des CeDInCI und des Centro Mark Turkow in Buenos Aires und des CAHJP in Jerusalem standen mir helfend zur Seite. Besonders zu erwähnen sind dabei Ettie Goldwasser und das wandelnde Lexikon Leo Greenbaum am YIVO in New York. Ebenso bedeutend war meine Arbeit im IWO in Buenos Aires, welches nach wie vor unter den Folgen des Bombenanschlages auf die AMIA 1994 leidet. Es besaß zur Zeit meines Besuches noch keinen funktionalen Katalog, weswegen eine Dokumentenbestellung ungefähr so klang: „Necesito todo sobre los sindicatos judíos.“ Der Rest war Stückwerk. Ohne die Hilfe von Silvia Hansman und Debora Kacowicz, die mir ohne zu zögern und vollkommen unbürokratisch auch die extravagantesten Wünsche erfüllten, wäre das Verfassen der hier vorliegenden, transnationalen Arbeit zum Bund nicht möglich gewesen. Doch ein Buch fußt nicht nur auf Recherche, sondern auch auf Austausch, Anmerkungen und Anträgen. Für initiierende gutachterliche Unterstützung bedanke ich mich bei Regine Mehl, Manfred Alexander, Jürgen Dowe und Christoph Schmidt. Mit Gesprächen, Gutachten oder Hilfestellungen wichtiger Art unterstützten Linda Braun, Christian Alexander Bauer, Pablo Beyen, Tobias Brinkmann, Michael Bommes†, Jeffrey Brooks, Marcelo Dimentstein, Norbert Fintzsch, Heiko Haumann, Guido Hausmann, Jack Jacobs, Martin Krämer Liehn, Tony Michels, Kenneth Moss, Nick Raedburn, Christoph Rass, Dominik Schrage, Walter Sperling, Horacio Tarcus, Nerina Visacovsky, Mike Westrate und Efraim Zadoff den

Vorwort

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Weg zum erfolgreichen Abschluss. Konzeptionelle Anregungen erhielt ich auf zahlreichen Konferenzen in Deutschland, Großbritannien, den USA und in Argentinien und in Kolloquien oder Diskussionsrunden der Universitäten Basel, Bochum, Bonn, Buenos Aires, Köln, Notre Dame (IN), Osnabrück, Tübingen und mehrfach in Bielefeld. Sämtlichen Teilnehmern sei hiermit für ihre Anmerkungen und kritischen Kommentare gedankt. Von Anfang an wegweisend war die „alte Kölner Truppe“, also die anderen drei Blätter des „vierblättrigen Kleeblatts“, Julia Herzberg, Alexis Hofmeister und Alexander Kraus, sowie Birte Kohtz, Roland Cvetkovski, Moritz Heidkamp und Andreas Renner. Sie allesamt sowie meine „fellow-grads“ in Bielefeld und Baltimore, meine Kollegen am IMIS in Osnabrück, die Familien Ibañez und Pardo sowie Jean-Olivier Richard, Suzanne Werner und Jeremy Welter, die mein Leben in Buenos Aires und Baltimore zu verzaubern wussten, sind Personifikationen dessen, was Bundisten unter khaverim verstanden. Ein besonderer Dank geht an Thomas Welskopp für seine stets verfügbare und intensive Unterstützung auch in komplizierten Zeiten. Ebenso danke ich Jochen Oltmer für zahlreiche Anregungen, das Projekt noch stärker in der Migrationsgeschichte zu verankern. Daran anschließend danke ich den Herausgebern und Gutachtern der „Industriellen Welt“ für die Aufnahme des Manuskripts in diese geschichtsträchtige Reihe. Großen Einfluss auf die Arbeit hatten zudem Daniel Mahla und Thomas Maier, die es als Experten, Kollegen und Freunde auf sich nahmen, frühe Versionen einzelner Kapitel zu lesen und deren Sachverstand das an vielen Stellen benötigte Korrektiv bot. Diese Liste wäre jedoch nicht vollständig ohne die drei Personen, die sich als tragende Säulen erwiesen: Erstens ist dies Stefanie Fischer, die mir sowohl als liebende Lebenspartnerin als auch als kenntnisreiche Historikerin hilft, die Balance zwischen Durchhalten und Durchbrennen zu wahren. An unserem Abendbrottisch kamen oft nicht nur wir beide, sondern auch Bundisten und jüdische Viehhändler zusammen, um skurrile aber auch inspirierende Gespräche zu führen. Von unschätzbarem Wert war zudem die Zusammenarbeit mit Gleb J. Albert. Jedem, der ein größeres Projekt angeht, wünsche ich einen Freund und Kollegen wie ihn. Diese beiden nahmen auch die Last auf sich, das Rohskript teilweise mehrfach zu lesen, und es waren ihre Anmerkungen und Fragen, die mich glücklicherweise dazu nötigten, die Arbeit nicht nur aus meinem Kopfe auf das Papier zu bringen, sondern auch dafür zu sorgen, dass Dritte dies verstehen können. Gewidmet ist diese Arbeit Jonah Lotte Wolke als Dank für all den Sonnenschein, den sie auf diese Welt bringt.

Editorische Notiz

Für bundisches Handeln und Denken war das anderweitig oft verachtete Jiddisch elementar. In Russland begann die Geschichte des Bund noch auf Russisch, was sich die Intellektuellen oft erst mühsam „abtrainieren“ mussten. Diesen Umweg nahm die bundische Geschichte in Übersee nie, hier wurde von Anfang an auf Jiddisch gesprochen, gestritten und organisiert. Um dem Charakter des Bund (im jiddischen Genitiv) und dieser überaus bedeutsamen Persistenz des Jiddischen gerecht zu werden, transliteriere ich Kurzzitate, Schlagwörter und Eigennamen nach den YIVORegeln. Allein bei jiddischen Personennamen, für die sich in Forschung oder Publizistik eine Schreibweise etabliert hat, greife ich auf diese zurück (z. B. Rollansky statt Rozshansky, jedoch beim Verlag Yidbukh, nicht Idbuj). Dieses geschieht erstens aufgrund der Vereinheitlichung und der Nachvollziehbarkeit und zweitens zum Zwecke der Erhöhung der Lesbarkeit für deutschsprachige Leser.1 Das Jiddische kennt keine Groß- und Kleinschreibung, Konventionen folgend schreibe ich allein den Phrasenbeginn von Eigennamen groß.2 Vor allem in Anbetracht des säkularen Jiddisch der Bundisten hilft es oft, sich die problematischen Begriffe laut vorzulesen. Längere Zitate aus dem Jiddischen, Spanischen und Russischen werden prinzipiell übersetzt, ebenso wie Wendungen aus dem Hebräischen, Aramäischen oder den slavischen Sprachen. Eigennamen und feststehende Begriffe werden bei Erstnennung eingeführt und erläutert. Anders bei Namen von Organisationen oder Zeitschriften. Diese führten zwar häufig übersetzte Beinamen, die jedoch in der Praxis der Organisationen, Gruppen oder Zeitschriften selten eine Rolle spielten. So werde ich, gerade weil es für die bundischen Praktiken von größter Bedeutung war, dass sie sich auf Jiddisch versprachlichten, im Folgenden beispielsweise von der Zeitschrift ‚Unzer tsayt‘ statt von ‚Unsere Zeit‘, von dem Yidishn sotsyalistishn farband statt vom Jüdischen Sozialistischen Verband und auch von der yidishkayt als einem politischen Konzept des Bund statt vom schwammigen Begriff der Jüdischkeit sprechen. Zudem hoffe ich die Klarheit zu erhöhen, indem ich Titel von Zeitschriften in einfache Anführungszeichen setze, um sie rein optisch von den Gruppen abzugrenzen, die sie umgaben und die oft sehr

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Nach: Uriel Weinreich, Modern English-Yiddish, Yiddish-English Dictionary (New York: Schocken, 1977). Mit Ausnahme des Begriffs „Bund“ (aufgrund der Häufigkeit) werden sie zudem italisiert.

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Editorische Notiz

ähnliche Namen trugen. Beispielsweise steht so ‚Der avangard‘ für die Zeitschrift, die die Gruppe Avangard ab 1908 in Buenos Aires herausgab.3

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Die Zitationsweise der Archive unterscheidet sich stark. Soweit möglich nutze ich übliche Zitationsweisen. Probleme bereiten jedoch die Bund-Archives und das IWO, Ersteres, weil die Dokumente bestenfalls bis zur Ebene der (oft sehr umfangreichen) Ordner nummeriert sind, Letzteres, weil es zahlreiche noch nicht prozessierte Akten beherbergt und lose Sammlungen in Kisten, die aus den Trümmern des AMIA-Gebäudes geborgen wurden. Um ansatzweise Einheitlichkeit und Nachvollziehbarkeit zu gewähren, zitiere ich so genau wie möglich mit Dokumentbeschreibungen. Um die Ebenen anzugeben, trenne ich sämtliche Ebenen unterhalb der Sammlungsgruppe mit Rauten, wobei die Zahl der Rauten die Tiefe der Unterebenen angibt.

Einleitung Daniel Cohn-Bendit: Weil ich jetzt in Russland bin, habe ich gestern Abend, das war Zufall, in meinem Bücherschrank gewühlt, denn ich will doch was über Russland lesen. Da ist mir ein Buch zufällig in die Hand gekommen. Es ist die Geschichte von Marek Edelman, der letzte Überlebende des Kampfes des Warschauer Ghetto. Und er erzählt die Geschichte vom Bund. [Mit emphatischer Betonung:] Wer kennt denn noch die die Geschichte des Bundes? Gelächter im Saal: Wir kennen sie, wir kennen sie … Moskau, Oktober 2005

Daniel Cohn-Bendits Rede in Moskau wurde zu einem Affront.1 Dies lag zwar an aktuellen politischen Fragen, aber auch dieser historische Exkurs war ein schwungvoller Tritt ins Fettnäpfchen. Denn sein Gefühl, an eine zu Unrecht marginalisierte Bewegung zu erinnern, traf auf die Selbstgewissheit der russischen Politaktivisten, die meinten, den Bund zur Genüge zu kennen. Cohn-Bendit fuhr spürbar ergriffen fort: Es ist nicht zum Lachen! Es ist nicht zum Lachen. Weil die Erinnerung dieser Menschen ist von den Stalinisten vernichtet worden, von den Zionisten vernichtet worden, von allen. Keiner mehr hat die Geschichte … diese erste Geschichte … dieser Versuch von Arbeitern und Arbeiterinnen sich zu organisieren … Die waren alle Juden und haben Jiddisch gesprochen, sie wollten nicht nach Israel, sie haben hier in Russland gekämpft, sie haben in Litauen gekämpft, sie haben in Polen gekämpft und deren Geschichte ist von der traditionellen Geschichte der Zionisten, der Stalinisten alles wegradiert worden.

Der Brückenschlag hin zu einem genuin oppositionellen Thema wurde jedoch als Besserwisserei aufgefasst. Anschließend ließ der Diskussionsteilnehmer Sergej 1

„Kulturrevolution. Das Jahr 1968 und die Grünen“, gehalten auf einer Veranstaltung organisiert von Memorial, der Heinrich Böll Stiftung und der oppositionellen Nachrichtenplattform polit.ru. Mitschrift: http://www.polit.ru/article/2005/10/11/cohn_ bendit/, Zugriff: 23. Juli 2013, Tonaufnahme in Besitz des Autors (Zitat sprachlich leicht korrigiert, alle Übersetzungen FW, wenn nicht anders vermerkt), mp3: 18:52– 20:08.

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Einleitung

Solov’ev seinem Unmut freien Lauf: „Ich bin von der Zeitschrift ‚Skepsis‘. Zuallererst will ich, dass Herr Cohn-Bendit versteht, dass hier Menschen versammelt sind, die wissen, was der Bund ist, und denen man solche Dinge nicht erklären muss.“2 Im Trubel ging jedoch unter, dass der benannte Marek Edelman ein denkbar schlechtes Beispiel für den Allgemeinen Jüdischen Arbeiterbund (kurz: Bund) in Russland ist. Er war ein polnischer Bundist und späterer Solidarność-Aktivist, der erst nach der Oktoberrevolution in Warschau oder im weißrussischen Gomel’ geboren wurde. Das erwähnte Buch handelt vom Warschauer Ghettoaufstand 1943 und ist damit vielmehr polnisch-deutsche als russische Geschichte.3 Es kollidierten keine Diskussionsgegenstände, sondern Gewissheiten. Um die Geschichte des Bund zu ergründen, sind darum weder der erhobene Zeigefinger noch das allwissende Lächeln hilfreich. Vielmehr muss man gerade aufgrund der Marginalisierung des Bund stets erneut nach Inhalten und Fundamenten des Bund fragen. Dieses Buch unternimmt dies auf zweierlei Art, erstens aus praxishistorischer Sicht und zweitens, indem es den Bund in der Forschung zu transnationalen sozialen Bewegungen verortet. Die hier aufgezeigte transnationale Geschichte des Bund wurzelt im zarischen Russland Ende der 1890er-Jahre, welches aufgrund von Wirtschaftskrisen, Repressionen und immer stärker werdenden nationalen und revolutionären Bewegungen bereits zum Zerreißen gespannt war. Auch die jüdischen Arbeiter neigten zunehmend zur Revolte und schlossen sich in Scharen den illegalen Fachgewerkschaften an.4 In einem Wilnaer Dachkämmerlein gründeten im Herbst 1897 dreizehn Vertreter dieser Gewerkschaften den Allgemeinen Jüdischen Arbeiterbund.5 Im Gegensatz zu seinen zahlreichen kleineren Vorläufern bekannte er sich zu einem massenbasierten Marxismus und folgte der seit ungefähr 1890 laut werdenden Forderung, das Jiddi2 3

Ebd.: 20:08 – 20:51. Gemeint: Marek Edelman, Der Hüter. Marek Edelman erzählt (München: Beck, 2002). 4 ������������������������������������������������������������������������������������ Ezra Mendelsohn, Class Struggle in the Pale. The Formative Years of the Jewish Workers’ Movement in Tsarist Russia. (Cambridge: Cambridge University Press, 1970); John Bunzl, Klassenkampf in der Diaspora. Zur Geschichte der Jüdischen Arbeiterbewegung (Wien: Europaverlag, 1975); Katrin Hofmeester, „The Jewish Workers’ Movement in the Russian Empire“, in The Formation of Labour Movements, 1870–1914: An International Perspective, hg. von Marcel van der Linden und Jürgen Rojahn (Leiden: Brill, 1990), 473–484. 5 Nach wie vor grundlegend: Henry J. Tobias, The Jewish Bund in Russia from its Origins to 1905 (Palo Alto: Stanford University Press, 1972); weiterhin: G-B, „Der ershte tsuzamenfar fun ‚bund‘“, Di hofnung, Wilna 14 (1907); Dzshon Mill, „Der grindungstsuzamenfor fun ‚bund‘“, Unzer tsayt, New York 3–4 (1946): 35–38; Grigori Aronson, Jacob S. Hertz, et al., Hrsg., Di geshikhte fun bund. 5 Bd. (New York: Unzer tsayt, 1960).

Einleitung

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sche als Agitationssprache zu nutzen.6 Damit kehrte der Bund die bisherige sozialdemokratische Logik in Russland um, nach der die jüdischen Arbeiter erst auf ein gewisses „Niveau“ gehoben werden mussten, was sich vor allem in der Beherrschung der russischen Sprache ausdrückte, bevor sie als agitierbar galten. Der Bund hingegen erhob den Gang „in die Gassen zu den Massen“ zum revolutionären Modus. Jiddisch war für ihn die jüdische Nationalsprache, schlicht, da die Mehrheit der Juden sie sprach.7 Dies ging einher mit der Nichtanerkennung traditioneller jüdischer Autoritäten, da sie durch Religiosität oder Staatsnähe verblendet fortwährend die Klassenzustände fortgeschrieben oder verschärft hätten, anstatt sie zu bekämpfen.8 Damit eckte der Bund nicht nur in der russischen Sozialdemokratie, sondern auch im jüdischen Schtetl an, forderte er doch die Abkehr von Russophilie und Hebraismus zugleich.9 Schon an diesem Punkt wird deutlich, was diese Geschichte des Bund besonders betont: Der Bund fokussierte auf Handlungen. Auch utopische Forderungen, Programmentwürfe und organisatorische Strukturen fanden ihren Inhalt nur im Handeln für und durch die Massen, die jüdischen Arbeitermassen, wie der Bund sie nannte. Auf dieser Basis und gestärkt durch ein popularisiertes, aber revolutionär marxistisches Programm und die Anbindung an andere sozialdemokratische Arbeiterparteien wurde der Bund im Vorfeld der ersten russischen Revolution 1905 zu einer Massenbewegung. So lebte er die ihm von Georgij Plechanov zugesprochene

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Dieser Wandel wird ausführlich geschildert in: Mendelsohn, Class Struggle in the Pale; siehe auch: Franz Kurski et al., Hrsg., Di yidishe sotsyalistishe bavegung biz der grindung fun „bund“: Forshungen, zikhroynes, materialn (Paris, Wilna: YIVO, 1939). 7 ��������������������������������������������������������������������������������� Etwas später geschah Ähnliches in Galizien: Rick Kuhn, „Organizing Yiddish-Speaking Workers in Pre-World War Galicia: The Jewish Socialist Democratic Party“, Studies in Jewish Civilization 9 (1998): 37–63. 8 Unter zahllosen Texten, siehe z. B.: Bentse Levin, „Di 5te konferents fun ‚bund‘. Zikhroynes“, in Hirsh Lekert. Tsum 20-tn yortsayt fun zayn kepung (Moskau: Ruslendishe komunistishe partay, Ts. K. fun R.K.P, Ts.B. fun yidsektsye, 1922), 58 ff.; Moshe Rafes, Očerki po istorii „bunda“ (Moskau: Moskovskij rabočij, 1923); Shlugleyt, „Bam vigele fun ‚bund‘“, in 1905 yor in Barditshev (Barditshever Hisport dem krayz-komitet fun K.P. (B.) An., 1925); Shakna Epshteyn, Der Bund. Voz er iz geven un voz fun im iz gevorn (New York: Yidishe sektsye vorkers (komunistisher) partey, 1927); Yosef Baskin, „Yeshivah, haskole un der ibergang tsum ‚bund‘. Derinerungen fun a yeshivahbokher vegn dem baginen fun bund“, Unzer tsayt, New York 3 (1945): 68–72. 9 ��������������������������������������������������������������������������������� Zur damit verbundenen qualitativen Wandlung des Jiddischen siehe: Joshua A. Fishman, „Sociology of Yiddish“, in Never Say Die!: A Thousand Years of Yiddish in Jewish Life and Letters, hg. von Joshua A. Fishman (The Hague: Mouton, 1981), o. S.; Barry Trachtenberg, The Revolutionary Roots of Modern Yiddish (New York: Syracuse University Press, 2008).

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Einleitung

Funktion als „avantgarde of the worker’s army in Russia“ aus.10 Die durch seine Mitwirkung 1898 gegründete Sozialdemokratische Arbeiterpartei Russlands (SDAPR) hatte um 1905 ungefähr 5.000–8.000 Mitglieder, der Bund bereits 30.000–35.000. Der Einfluss des Bund ging aber aufgrund seiner Verwurzelung in der „yidishn gas“ weit über diese Zahl hinaus.11 Nach der Niederschlagung der Revolution 1907 gerieten sämtliche sozialistischen Bewegungen in Russland unter Druck, der für den Bund aber nie existenziell wurde.12 Ab 1912 erstarkte er erneut und baute im Laufe des Ersten Weltkrieges in zahlreichen Schtetln Zweige und Organisationen auf. Diese waren Keimzellen des in Polen ab Mitte der 1920er-Jahre wieder prosperierenden Bund.13 Im Revolutionsjahr 1917 beteiligte sich der Bund von Links aus am Umbau des Landes nach der Februarrevolution, zerriss nach dem Roten Oktober aber fast am Bruch mit den Bolschewiki.14 So musste er im Folgenden sein territoriales Zentrum nach Zwischenkriegspolen verlagern, wo er seine radikal linkslaizistische Arbeit an einer sozialistischen Erneuerung des jüdischen Lebens unter antizionistischen und antikommunistischen Vorzeichen fortsetzte.15 10 Zit. in: Tobias, The Jewish Bund in Russia from its Origins to 1905, 61. 11 Henry J. Tobias, „The Bund and the First Congress of the RSDWP: An Addendum“, Russian Review 24, Nr. 4 (1965): 393–406. 12 Henry J. Tobias und Charles E. Woodhouse, „Political Reaction and Revolutionary Careers: The Jewish Bundists in Defeat 1907–1910“, Comparative Studies in Society and History 19, Nr. 3 (1977): 367–396; Frank Wolff, „Heimat und Freiheit bei den Bundisten Vladimir Medem und Hersch Mendel“, in Vom Wir zum Ich. Individuum und Autobiographik im Zarenreich, hg. von Julia Herzberg und Christoph Schmidt (Köln: Böhlau, 2007), 301–323. 13 Grundlegend hierfür: Gertrud Pickhan, Gegen den Strom. Der Allgemeine Jüdische Arbeiterbund „Bund“ in Polen 1918–1939 (München: DVA, 2001); Jack Jacobs, Bundist Counterculture in Interwar Poland (Syracuse, N.  Y.: Syracuse University Press, 2009). 14 Arye Gelbard, Der jüdischer Arbeiterbund im Revolutionsjahr 1917 (Wien: Europaverlag, 1982); Abraham Brumberg, „The Bund: History of a Schism“, in Jewish Politics in Eastern Europe. The Bund at 100, hg. von Jack Jacobs (New York: New York University Press, 2001), 81–89; zur Vorgeschichte des Konflikts, siehe: Mario Keßler, „Parteiorganisation und nationale Frage – Lenin und der jüdische Arbeiterbund 1903–1914“, in Lenin – Theorie und Praxis in historischer Perspektive, hg. von Theodor Bergmann (Mainz: Decaton Verlag, 1994), 219–231; Viktor Gusev, „V. Kossovskij i V. Medem protiv V. Lenina: Mogut li Evrei nazyvat’sja naciej i imet’ sobstvennuju gosudarstvennost’?“, in Materialy Trinadcatoj Ežegodnoj Meždunarodnoj Meždisciplinarnoj konferencii po iudaike, hg. von K. Ju. Burminstrov (Moskau: Inst. Slavjanovedenija RAN et al., 2006). 15 Jack Jacobs, „Bundist Anti-Zionism in Interwar Poland“, Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte 33 (2005): 239–259.

Einleitung

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Die Partei allein hatte in Polen ungefähr 20.000 Mitglieder, umgeben von Jugendverbänden mit 10.000 Mitgliedern, einem säkularen Schulnetzwerk mit 25.000 Schülern, zahlreichen Gewerkschaften mit ungefähr 100.000 Mitgliedern, Sportvereinen, Kulturassoziationen, einer nationalen Tageszeitung, Verlagen und weiteren Institutionen.16 So wurde diese Bewegung „in der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre zur stärksten politischen Kraft der polnischen Judenheit“.17 Was aber im Bund verband, waren nicht Epiphänome wie Wahlerfolge und Theoriedebatten, sondern das Handeln der Aktivisten in einem stets weiterentwickelten legitimierenden Rahmen. Um diesen Aktivismus zu ergründen, greift das Buch doppelt auf den Begriff der Bewegung zurück, erstens im Sinne der sozialen Bewegung und zweitens im geographischen Sinne als Migration. Beide waren Konstituenten moderner jüdischer Geschichte und zudem für die Geschichte des Bund weitaus bedeutender als bislang angenommen.18 Wenn im Folgenden jüdische Geschichte und die Geschichte sozialer Bewegungen zusammengeführt werden, geschieht dies mit dem Ziel, erstmalig eine Sozialgeschichte der ehemals größten jüdischen sozialen Bewegung und einer der wichtigsten revolutionären Bewegungen Osteuropas in ihrer globalen Präsenz

16 Die genauen Mitgliederzahlen sind aufgrund der Zerstörung des Bund-Archives in den Flammen des Warschauer Ghettos nur schätzbar. Als Orientierungspunkt gibt Gertrud Pickhan zwischen 9.000 und 12.000 Parteimitglieder 1930–1935 an, die bis Ende der 1930er-Jahre auf ca. 20.000 angestiegen seien. Ebenso nahmen in den 1930erJahren die Mitgliedszahlen in anderen bundischen Organisationen zu. Der nach der russischen Revolution 1905 kurzzeitig noch legale Bund soll abseits seiner nordwestlichen Kerngebiete Kenneth B. Moss zufolge gar 40.000 registrierte Anhänger gehabt haben. Die Quellen sind jedoch disparat und für Vergleiche kaum nutzbar. Siehe auch die Diskussion in: Pickhan, Gegen den Strom, 27, 126–130, 203–207; Jacobs, Bundist Counterculture, 59 f.; Kenneth B. Moss, Jewish Renaissance in the Russian Revolution (Cambridge Mass., London: Harvard University Press, 2009), 23 f. 17 Pickhan, Gegen den Strom, 207; zu Wahlerfolgen: Jacobs, Bundist Counterculture, 1–7. 18 Harry S. Linfield, Jewish Migration: Jewish Migration as a Part of World Migration Movements, 1920–1930 (New York: Jewish Statistical Bureau, 1933); Zvi Gitelman, Hrsg., The Emergence of Modern Jewish Politics: Bund and Zionism in Eastern Europe (Pittsburgh, PA: University of Pittsburgh Press, 2003); John D. Klier, „Emigration Mania in Late Imperial Russia. Legend and Reality“, in Patterns of Migration 1850– 1914, hg. von Audrey Newman und Stephen W. Massil (London: Jewish Historical Society of England, 1996), 21–30; Tobias Brinkmann, „From Immigrants to Supranational Transmigrants and Refugees: Jewish Migrants in New York and Berlin before and after the Great War“, Comparative Studies of South Asia, Africa and the Middle East 30, Nr. 1 (2010): 47–57.

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vorzulegen.19 Aufgrund der Schwerpunkte des Bund, ganz besonders der auch in Übersee entscheidenden und durch ihn geprägten yidishkayt, versteht es sich dabei von selbst, dass diese Sozialgeschichte ohne kulturhistorische Aspekte undenkbar ist.20 Damit kann anhand des Bund auch der in der Forschung zu „alten sozialen Bewegungen“ empirisch bislang sträflich vernachlässigte Bezug zwischen regionaler Arbeit und transnationaler Bewegungsformation detailliert untersucht werden.21 Handlungen und Identitäten dienten im Bund als Brücken zwischen Lokalität und Transnationalität, weswegen die Studie nicht bei der Forderung nach der Kombination von Detail und Transnationalität stehen bleibt. Sie unterbreitet einen Vorschlag, wie dies aus praxishistorischer Sicht untersucht werden kann.22 Während in Soziologie und Zeitgeschichte zahlreiche tief greifende Ansätze zur Erforschung transnationaler sozialer Bewegungen vorliegen, ist dies in der Geschichte der „alten sozialen Bewegungen“ ein unterschätzter Faktor.23 Zahlreiche Arbeiten zu „neuen 19 ���������������������������������������������������������������������������������� Siehe ebenfalls: David Slucki, „The Bund Abroad in the Postwar Jewish World“, Jewish Social Studies 16, Nr. 1 (2009): 111–144; Frank Wolff, „Eastern Europe Abroad. Exploring Actor-Network in Transnational Movements. The Case of the ‚Bund‘“, International Review of Social History 57, Nr. 2 (2012): 229–255. 20 Siehe z.  B. das herausragende Buch: Daniel Katz, All Together Different: Yiddish Socialists, Garment Workers, and the Labor Roots of Multiculturalism (New York et al.: New York University Press, 2011). 21 Gemeinhin wird die Arbeiterbewegung als bekanntester Ausdruck „alter“ sozialer Bewegungen verstanden, welchen die neuen, großteils nach 1968 entstandenen „neuen“ sozialen Bewegungen gegenüber stünden. ������������������������������ Alberto Melucci, „Social Movements and the Democratization of Everyday Life“, in Civil Society and the State, hg. von J. Keane (London: Verso, 1988), 247; Robin Cohen und Shirin M. Rai, „Global Social Movements: Towards a Cosmopolitan Politics“, in Global Social Movements, hg. von Robin Cohen und Shirin M. Rai (London, New York: Athlone Press, 2000), 1–17; zur Problematisierung dieser Kategorisierung, siehe v. a.: Craig Calhoun, „‚New Social Movements‘ of the Early Nineteenth Century“, Social Science History 17, Nr. 3 (1993): 385–427. 22 ���������������������������������������������������������������������������� Inspirierende Absichtserklärungen: Michael P. Hanagan, „An Agenda for Transnational Labor History“, International Review of Social History 49, Nr. 3 (2004): 455–474; Shulamit Volkov, „Jewish History. The Nationalism of Transnationalism“, in Transnationale Geschichte: Themen, Tendenzen und Theorien, hg. von GunillaFriederike Budde, Sebastian Conrad, und Oliver Janz (Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2006), 190–201. 23 Siehe vor allem die zahlreichen Publikationen von Hanspeter Kriesi, Donatella della Porta und Dieter Rucht: Dieter Rucht, „The Transnationalization of Social Movements: Trends, Causes, Problems“, in Transnational Protest and Global Activism, hg. von Donatella Della Porta und Sidney G. Tarrow (Lanham, MD: Rowman & Littlefield, 2005), 206–222; Donatella della Portella und Sidney Tarrow, „Transnational Protest and Global Activism“, in Social Movements: A Reader, hg. von Vincenzo Ruggiero

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sozialen Bewegungen“ formulieren den Unterschied zu ihren Vorgängern anhand derer angeblicher Fokussierung auf rationalistische, oft ökonomische Ziele. Aktuelle historische Arbeiten verdeutlichen jedoch, dass dies eine unzulässige Engführung ist.24 Eine Reduktion der alten sozialen Bewegungen auf ressourcenorientierte Protestbewegungen, die nach Andreas Reckwitz weder „Identitätsbewegungen“ noch „Subjekttransformationsbewegungen“ gewesen seien, kann mit dem Beispiel des Bund widerlegt werden. Seine identifikatorische Kraft bekam er aufgrund seiner tiefen Verwurzelung in der jüdischen Arbeiterbewegung, die immer auch eine kulturelle und Identitäten schaffende Bewegung war.25 So wurde Bundistsein zu einer identitätsstiftenden Kategorie, die Sozialismus und jiddische Kultur zugleich in sich trug und mit den Aktivisten des Bund um die Welt reiste.26 Durch Handeln wurde der Bund in Russland und Polen erschaffen und durch Handeln wurde er in die Neue Welt getragen. Transnationalismus ist für die Geschichte des Bund also nicht nur essenziell, weil er sich über die neuen Kommunikationsmittel transpersonal vernetzte oder weil er als sozialistische Bewegung (New York, London: Routledge, 2008), 339–348; Thomas Risse-Kappen, „Bringing Transnational Relations Back In: Introduction“, in Bringing Transnational Relations Back In: Non-State Actors, Domestic Structures, and International Institutions, hg. von Thomas Risse-Kappen (Cambridge University Press, 1995), 3–33; empirische Beispiele in: Donatella della Portella, Hanspeter Kriessi, und Dieter Rucht, Hrsg., Social Movements in a Globalising World (London: Macmillan, 1999); Donatella della Porta und Sidney G. Tarrow, Hrsg., Transnational Protest and Global Activism (Lanham, MD: Rowman & Littlefield, 2005); Nancy A. Naples, „The Challenges and Possibilites of Transnational Feminist Praxis“, hg. von Sanjeev Khagram und Peggy Levitt, The Transnational Studies Reader: Intersections and Innovations (New York, London: Routledge, 2008), 490–500. 24 Cohen und Rai, „Global Social Movements: Towards a Cosmopolitan Politics“, 7 ff.; Thomas Welskopp, Das Banner der Brüderlichkeit. Die deutsche Sozialdemokratie vom Vormärz bis zum Sozialistengesetz (Bonn: Dietz, 2000); Thomas Welskopp, „‚Die im Dunkeln sieht man nicht‘: Systematische Überlegungen zu Netzwerken der Organisierten Kriminalität am Beispiel der amerikanischen Alkoholsyndikate der Prohibitionszeit“, in Unternehmerische Netzwerke: eine organisatorische Organisationsform mit Zukunft?, hg. von Hartmut Berghoff und Jörg Sydow (Stuttgart: Kohlhammer, 2007), 291–317; Frank Wolff, „Kollektive Identität als praktizierte Verheißung. Selbstzuschreibung und Gruppenkonstitution in der transnationalen sozialen Bewegung ,Allgemeiner Jüdischer Arbeiterbund‘“, in Theoretische Ansätze und Konzepte der Forschung über soziale Bewegungen in den Geschichtswissenschaften., hg. von Helke Stadtland und Jürgen Mittag, (Essen: Klartext, 2014), 139–167. 25 Andreas Reckwitz, Das hybride Subjekt. Eine Theorie der Subjektkulturen von der bürgerlichen Moderne zur Postmoderne (Weilerswist: Velbrück Wissenschaft, 2006), 68–72. 26 Siehe: Wolff, „Eastern Europe Abroad“.

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per se internationalistisch war, sondern weil er in der Hochzeit der identitätsstiftenden „alten“ sozialen Bewegungen, die mit dem Zeitalter der großen Migration zusammenfiel, alltäglich aktiv ausgestaltet wurde.27

Transnationalismus als Problem und Möglichkeit Um nicht nur an der deskriptiven Oberfläche zu verharren, nutzt diese Studie einen engen Transnationalismusbegriff. Wie Ludger Pries anmerkt, werden Begriffe wie „transnational“ und „Transnationalismus“ oft derart unspezifiziert verwendet, dass sie zu „‚catch-all and say nothing‘ terms“ zu verkommen drohen. Als Gegengift schlägt Pries eine präzisere Rahmung vor.28 Dies ist auch in der Geschichtswissenschaft notwendig. Viele transnational argumentierende historische Arbeiten hängen nach wie vor am Tropf der nationalhistorischen Relevanz. Transnationalität fungiert dabei als sinnvolle Erweiterung, reduziert ihren Neuerungswert jedoch großteils auf das Additive.29 Nicht selten wird zudem Methodenfreiheit als methodische Flexibilität maskiert. Wegweisende Werke scheinen gerade deswegen rezipiert zu werden, weil sie die Definition umgehen, was transnationale Geschichte eigentlich 27 Siehe v. a.: Marcel van der Linden, „Transnationalizing American Labor History“, The Journal of American History 86, Nr. 3 (1999): 1078–1092; Adam McKeown, „Global Migration 1846–1940“, Journal of World History 15, Nr. 2 (2004): 155–189; Adam McKeown, „Periodizing Globalization“, History Workshop Journal 63, Nr. 1 (2007): 218–230; Tobias Brinkmann, „Taking the Global View: Reconsidering Migration History after 1800“, Neue Politische Literatur, Nr. 2 (2010): 213–232. 28 Ludger Pries, „Transnational Societal Spaces: Which Unites of Analysism, Reference, and Measurement?“, in Rethinking Transnationalism: the Meso-Link of Organisations, hg. von Ludger Pries (London et al.: Routledge, 2008), 1. 29 Siehe z. B.: Sebastian Conrad und Jürgen Osterhammel, Hrsg., Das Kaiserreich transnational (Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2004); Sebastian Conrad, Globalisierung und Nation im Deutschen Kaiserreich (München: C. H. Beck, 2006), 72 f.; Volkov, „Jewish History. The ����������������������������������������������������������� Nationalism of Transnationalism“; Ian Tyrrell, „Reflections on the Transnational Turn in United States History: Theory and Practice“, Journal of Global History 4, Nr. 03 (2009): 453–474; Sebastian Conrad, „Double Marginalization: A Plea for a Transnational Perspective on German History“, in Comparative and Transnational History: Central European Approaches and New Perspectives, hg. von Heinz-Gerhard Haupt und Jürgen Kocka (New York et al.: Berghahn Books, 2009), 52–76; Mateusz J. Hartwich, „Wie schreibt man eine transnational orientierte Geschichte einer polnischen Provinz um 1956?“, in Vergleichen, verflechten, verwirren? Europäische Geschichtsschreibung zwischen Theorie und Praxis, hg. von Agnes Andt, Joachim C. Häberlen, und Christiane Reinecke (Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2011), 169–189.

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sei.30 Letztendlich geraten dabei allerlei Gegenstände ins Blickfeld, die irgendwann und irgendwie Grenzen überschreiten. Ob auf dieser Basis aber wirklich eine „Geschichtswissenschaft jenseits des Nationalstaates“ ( Jürgen Osterhammel) entwickelt werden kann, ist fraglich. Denn versteht man, wie Margrit Pernau zahlreichen historischen Werken attestiert, unter transnationaler Forschung die „empirische Erweiterung des Untersuchungsgegenstandes“, bleibt, Ludger Pries folgend, die Nation dennoch „als gleichsam natürliche Bezugseinheit für die Untersuchung der menschlichen Lebenszusammenhänge“ bestehen.31 Darum hebt Pernau das „Transzendieren der Nation als Ordnungskategorie“ als eine mögliche Stärke der transnationalen Geschichtsschreibung hervor.32 Dann aber muss geklärt werden, welche anderen Ordnungskategorien der historischen Forschung zur Verfügung stehen. Zahlreiche Studien umgehen dieses Problem, indem sie unter dem Schlagwort der Transnationalität in dezentrale Erinnerungswelten abtauchen oder in die Akteursferne der Weltgeschichte entschwinden.33 Sind sie dann aber mehr als ein will30 Ob als erklärte Definitionsfreiheit oder als nicht weiter definierte Ermöglichungskategorie, siehe z. B.: Jürgen Osterhammel, Geschichtswissenschaft jenseits des Nationalstaats: Studien zu Beziehungsgeschichte und Zivilisationsvergleich (Bonn: Vandenhoeck & Ruprecht, 2001), 8 f.; Sebastian Conrad und Jürgen Osterhammel, „Einleitung“, in Das Kaiserreich transnational, hg. von Sebastian Conrad und Jürgen Osterhammel (Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2004), 14  f.; Margrit Pernau, Transnationale Geschichte, UTB (Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2011); zur Kritik der Arbeitergeschichte, siehe: Marcel van der Linden, „Transnationale Arbeitergeschichte“, in Transnationale Geschichte: Themen, Tendenzen und Theorien, hg. von Gunilla-Friederike Budde, Sebastian Conrad, und Oliver Janz (Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2006), 265–274. 31 Pernau, Transnationale Geschichte, 18 f.; Ludger Pries, Transnationalisierung: Theorie und Empirie grenzüberschreitender Vergesellschaftung (Wiesbaden: VS-Verlag, 2010), 10; siehe weiterhin: Ludger Pries, Die Transnationalisierung der sozialen Welt: Sozialräume jenseits von Nationalgesellschaften (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2008), 22–46. 32 Pernau, Transnationale Geschichte, 19. 33 Prominent: Patrick Manning, Migration in World History (New York et al.: Routledge, 2005); Jürgen Osterhammel, Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts (München: Beck, 2009); Dominic Sachsenmaier, Global Perspectives on Global History: Theories and Approaches in a Connected World (Cambridge et al.: Cambridge University Press, 2011), bes. 2–11; Moshe Zimmermann, „Die transnationale Holocaust-Erinnerung“, in Transnationale Geschichte: Themen, Tendenzen und Theorien, hg. von Gunilla-Friederike Budde, Sebastian Conrad, und Oliver Janz (Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2006), 202–216; Anna Lipphardt, Vilne: Die Juden aus Vilnius nach dem Holocaust. Eine transnationale Beziehungsgeschichte (Paderborn, München, Wien, Zürich: Ferdinand Schöningh, 2010); Rebecca Kobrin, Jewish Bialystok and Its Diaspora (Bloomington: Indiana University Press, 2010).

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kommener „Protest gegen den muffigen Provinzialismus“ (Hans-Ulrich Wehler), der sich Flexibilität durch die Marginalisierung sozialer Ungleichheit und politischer Handlungsmotivationen erkauft?34 Oder ist gerade die Provinz der Rettungsanker, da Lokalstudien es ermöglichen, transnationale Phänomene im Konkreten aufzuspüren?35 Sämtliche dieser Wege ermöglichen es, den nach wie vor felsenfest in die Historiographie eingelassenen methodischen Nationalismus zu umgehen, erlauben aber selten, ihn zu durchbrechen. Denn letzten Endes ist dafür nicht nur die Frage zu beantworten, was transnationale Geschichte alles leisten kann, sondern vielmehr, wo ihre Grenzen zu ziehen sind und welche Fragestellungen sie besser an eine ebenso klar zu definierende Globalgeschichte abgibt.36 Aufgrund der eindrucksvoll schnellen Integration transnational motivierter Fragestellungen in die Geschichtswissenschaft wissen wir nun, dass grenzüberschreitende Phänomene seit Langem existieren. Unklar aber ist, was ihre Spezifika sind und mit welchen Methoden wir ihre Funktionsweisen ergründen können. Denn auch wenn sich transnatio­ nale Geschichte „nicht als Methode, sondern als Forschungsperspektive versteht“, läuft der „transnational turn“ ohne schärferes analytisches Werkzeug Gefahr, in Beliebigkeit zu versinken.37 Einen möglichen Weg aus der Misere weisen neuere Forschungen zur transnationalen Arbeiterbewegungsgeschichte. Vermutlich aufgrund der ihr innewohnenden 34 Hans-Ulrich Wehler, „Transnationale Geschichte - der neue Königsweg historischer Forschung?“, in Transnationale Geschichte: Themen, Tendenzen und Theorien, hg. von Gunilla-Friederike Budde, Sebastian Conrad, und Oliver Janz (Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2006), 162; Agnes Arndt, Joachim C. Häberlen, und Christiane Reinecke, „Europäische Geschichtsschreibung zwischen Theorie und Praxis“, in Vergleichen, verflechten, verwirren? Europäische Geschichtsschreibung zwischen Theorie und Praxis, hg. von Agnes Andt, Joachim C. Häberlen, und Christiane Reinecke (Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2011), 21 f. 35 Siehe z. B..: Adam McKeown, Chinese Migrant Networks and Cultural Change: Peru, Chicago, Hawaii, 1900–1936 (Chicago: The University of Chicago Press, 2001); Melanie Shell-Weiss, Coming to Miami: A Social History (Gainesville: University Press of Florida, 2009); Valeska Huber, „Connecting Colonial Seas: The ‚International Colonisation‘ of Port Said and the Suez Canal during and after the First World War“, European Review of History 19, Nr. 1 (2012): 141–161. 36 Vor allem die Synonymisierung von Globalgeschichte, transnationaler Geschichte und oft auch außereuropäischer Geschichte birgt zahllose Tücken, siehe z. B.: Sachsenmaier, Global Perspectives on Global History, 7–11; Osterhammel, Geschichtswissenschaft jenseits des Nationalstaats: Studien zu Beziehungsgeschichte und Zivilisationsvergleich; Arndt, Häberlen, und Reinecke, „Europäische Geschichtsschreibung zwischen Theorie und Praxis“, 21 f. 37 Kiran Klaus Patel, „Überlegungen zu einer transnationalen Geschichtswissenschaft“, ZfG 52, Nr. 7 (2004): 628.

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Aufmerksamkeit gegenüber politischen und strukturellen Fragen und der ihr inhärenten Organisationsgeschichte scheint hier die Gefahr der Akteursferne deutlich geringer.38 Darauf aufbauend und angelehnt an aktuelle soziologische Methodendiskussionen soll dieses Buch auch für die Geschichtswissenschaften eine stärkere Konkretisierung der transnationalen Forschung anregen. Ein weiterführendes Forschungsprogramm sollte dabei mehr vorhaben, als immer wieder Allgemeinplätze zu entdecken, wie die Existenz grenzüberschreitender „sozialer Beziehungen“, „Kommunikation“ oder „Ideenaustausch“. Vielmehr sollte ein dauerhaft anwendbarer Begriff des Transnationalismus konkrete Akteursentwürfe präsentieren und transnationale Organisationsmodi in das Zentrum des Interesses stellen. Nur anhand fassbarer Akteure lassen sich „transnationale Sozialräume“39 erkennen, die abgrenzbare Untersuchungseinheiten darstellen, ohne zu starren historischen Entitäten zu gerinnen.40 Die Analyse sollte demnach nicht auf transnationale Gegebenheiten in der Welt fokussieren, sondern auf transnationale soziale Einheiten oder transnationale soziale Räume, die zu verstehen sind als „relatively dense and durable configurations of transnational social practices, symbols and artefacts“ und die sich vor allem in Institutionen und Organisationen niederschlagen.41 Die Identifikation solcher Räume kann aber nicht das Ergebnis transnationaler Geschichte sein, sondern sie ist ihr Ausgangspunkt. Folglich wäre es die Aufgabe einer solchen akteurszentrierten transnationalen Geschichte, nach der Identifikation persistenter transnationaler Sozialräume jene Netzwerke zu analysieren, die zu ihrer Schaffung führten und ihren Wandel begründen. Wenn dabei, wie von Thomas 38 Bestandsaufnahmen in: Marcel van der Linden, Transnational Labour History. Explorations (Aldershot: Ashgate Publishing, 2003); Berthold Unfried, Hrsg., Transnationale Netzwerke im 20. Jahrhundert: Historische Erkundungen zu Ideen und Praktiken, Individuen und Organisationen (Leipzig: Akademische Verlagsanstalt, 2008); Leon Fink, Hrsg., Workers Across the Americas: The Transnational Turn in Labor History (Oxford et al.: Oxford University Press, 2011). 39 Pries, „Transnational Societal Spaces“, 1–11. 40 Ähnlich: ����������������������������������������������������������������������������������� Angelika Epple, „The Global, the Transnational and the Subaltern: The Limits of History beyond the National Paradigm“, in Beyond Methodological Nationalism: Research Methodologies for Cross-Border Studies, hg. von Anna Amelina u. a. (New York: Routledge, 2012), 168 f.; fünf verschieden starke Modi benennen: Sanjeev Khagram und Peggy Levitt, „Constructing Transnational Studies“, hg von Sanjeev Khagram und Peggy Levitt, The Transnational Studies Reader: Intersections and Innovations (New York, London: Routledge, 2008), 1–18. 41 Pries, „Transnational Societal Spaces“, 2 f., 16–19; Thomas Faist, „The Border-Crossing Expansion of Social Space: Concepts, Questions and Topics“, in Transnational Social Spaces: Agents, Networks, and Institutions, hg von Thomas Faist und Eyüp Özveren (Aldershot: Ashgate, 2004), 2 f.

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Faist gefordert, die Konzentration auf den involvierten Akteuren liegt, erlaubt dies, transnationale soziale Räume als durch Handeln erwachsene, grenzüberschreitende soziale Strukturen zu verstehen, die sich durch Institutionalisierung oder Organisation bewusst zu stabilisieren suchen.42 Im Gegensatz zu einem weicheren Begriffsverständnis dient Transnationalismus damit nicht mehr als Erweiterung eines bekannten nationalen Raums, sondern fordert zur Analyse der an der Formation des transnationalen Phänomens mitwirkenden Akteure auf, deren Bezüge einen transnationalen Raum konstituieren. Damit besteht sie zwangsläufig aus mehr als nur „Beziehungen“ und drückt sich konkret in Netzwerken aus, die sich in festeren Strukturen niederschlagen. Im Falle transnationaler sozialer Bewegungen ist dies in Mobilisierungsdynamiken und Strukturtransfers zu suchen, also zuvorderst im Handeln von Aktivisten und dem zeitlichen und geographischen Transfer der Organisationsformen. Eine transnationale Geschichte des Allgemeinen Jüdischen Arbeiterbund bietet damit nicht nur eine Erneuerung des Bekannten durch dessen Ausweitung, sondern erfordert eine von Grund auf neue Vermessung der durch Handlungen konstituierten sozialen Räume des Bund. Diese formierten sich um Handlungskonstellationen, die im Folgenden Aktivismusmuster genannt werden. Die Implikationen dieses Ansatzes sind weitreichend. Erstens muss die transnationale soziale Bewegung zum Zwecke der empirischen Fundierung lokalisiert werden. Denn im Unterschied zur auf Kommunikation beruhenden Weltgesellschaftstheorie, die mit einer „vollkommenen Enträumlichung des Sozialen“ einhergehen mag, kann sich Transnationalismus nicht vom Raum lösen.43 Er muss in Orten und Akteuren lokalisierbar sein, sonst besteht wieder die Gefahr, ins Vage, in Neuerungsrhetorik abzurutschen. Zweitens kann der „real empirical extent“ dieser sozialen Räume nur durch die Vermessung der Reichweite und der Grenzen von Netzwerkbeziehungen analysiert werden.44 Deswegen stehen hier stets soziale Praktiken an erster Stelle der Untersuchung, was zugleich eine Schnittstelle zur modernen Gesellschaftsgeschichte darstellt.45

42 ����������������������������������������������������������������������������������� Faist, „The Border-Crossing Expansion of Social Space: Concepts, Questions and Topics“, 2–6; Andrew Abbott, Time Matters. On Theory and Method (Chicago: University of Chicago Press, 2001), 255. 43 Pries, Transnationalisierung, 152; wenn auch aus gänzlich anderer Richtung denkend, schlussfolgert Latour ähnlich: Bruno Latour, Reassembling the Social. An Introduction to Actor-Network-Theory (Oxford, New York: Oxford University Press, 2007), 179. 44 Pries, „Transnational Societal Spaces“, 3. 45 Ebd., 11; Thomas Welskopp, „Die Dualität von Struktur und Handeln. Anthony Giddens’ Strukturierungstheorie als ‚praxeologischer‘ Ansatz in der Geschichtswissen-

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Einen nahestehenden Ansatz propagiert derzeit eindringlich Bruno Latour, dessen Akteur-Netzwerk-Theorie hier insofern als starke Inspiration dient, als dass sie das Soziale nicht als den Erklärungsfaktor, sondern als das zu Erklärende begreift. Sie fordert ein, die Aufmerksamkeit nicht auf das Erkennen der Existenz von Netzwerken zu legen, sondern zu untersuchen, inwiefern diese „das Soziale“ konstituieren.46 Ganz im Stile dieser Akteur-Netzwerke sind auch soziale Bewegungen fluide und auch ihre Institutionen bestehen nur, wenn sie stets erneut „mit Energie versorgt“ werden.47 Dies schließt an Forderungen George Marcus an, der bereits 1995 das „following“ (von Menschen, Dingen, Leben etc.) anregte. In der Kombination ermöglicht dies eine flexible Methode akteurszentrierter transnationaler Forschung.48 Wie von der im Hintergrund dieser Studie befindlichen Akteur-Netzwerk Theorie hervorgehoben, erlauben weder das verharrende Beobachten noch der schweifende Blick vom Zentrum aus, sondern alleine das Erkennen von Zusammenhängen durch das Nachgehen dieser, Transnationalismus zu analysieren. Die Neue Welt war eine Bedingung, die die Bundisten in der transatlantischen Emigration vorfanden, die sie durch Transfers aber auch prägten und mit ihrem Herkunftsraum verbanden. Dies zu untersuchen ist eine Herausforderung, denn einerseits migrierten Tausende Bundisten in die Neue Welt, andererseits beharrte schaft“, in Struktur und Ereignis, hg. von Andreas Suter und Manfred Hettling (Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2001), 99–119. 46 Dies kann hier nicht weiter ausgeführt werden, dafür siehe: Wolff, „Eastern Europe Abroad“; eine sehr gute Einführung bieten: Andréa Belliger und David J. Krieger, „Einführung in die Akteur-Netzwerk-Theorie“, in ANThropolgy. Ein einführendes Handbuch zur Akteur-Netzwerk-Theorie, hg. von Andréa Belliger und David J. Krieger (Bielefeld: transcript, 2006), 13–50; weiterhin: Latour, Reassembling the Social; Uwe Schimank, „Die unmögliche Trennung von Natur und Gesellschaft - Bruno Latours Diagnose der Selbsttäuschung der Moderne“, in Soziologische Gegenwartsdiagnosen I, hg. von Uwe Schimank und Ute Volkmann, 2. Auflage (Wiesbaden: VS, 2007), 157– 169; Markus Schroer, „Vermischen, Vermitteln, Vernetzen. Bruno Latours Soziologie der Gemenge und Gemische im Kontext“, in Bruno Latours Kollektive. Kontroversen zur Entgrenzung des Sozialen, hg. von Georg Kneer, Markus Schroer, und Erhard Schüttpelz (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2008), 361–398. 47 Bruno Latour, „Die Macht der Assoziation“, in ANThropolgy. Ein einführendes Handbuch zur Akteur-Netzwerk-Theorie, hg. von Andréa Belliger und David J. Krieger (Bielefeld: transcript, 2006), 195–212. 48 George E. Marcus, „Ethnography in/of the World System: The Emergence of MultiSited Ethnography“, Annual Review of Anthropology 24 (1995): 106–110, zu Latour: 104 f.; für aktuelle methodische Implikationen, siehe: Ester Gallo, „In the Right Place at the Right Time? Reflections on Multi-Sited Ethnography in the Age of Migration“, in Multi-Sited Ethnography: Theory, Praxis and Locality in Contemporary Research, hg. von Mark-Anthony Falzon (Farnham et al.: Ashgate, 2009), 87–102.

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auch deren bundische Identität auf der Relevanz des Zentrums jüdischen Lebens in Osteuropa. „Following“ bedeutet darum, stets die Perspektiven zu wechseln. Darum sind kurzzeitig aufblitzende von dauerhaften transnationalen Strukturen zu unterscheiden, denn nur an Letzteren entwickelte sich ein transnationales Organisationsgefüge, ein transnationaler sozialer Raum des Bund.49 Aus diesem Grund stehen vier von fünf durch Pries identifizierte Untersuchungseinheiten transnationaler Studien (Biographien, Organisationen, Institutionen und Identitäten, weniger: Familien) im Zentrum dieser transnationalen Geschichte des Bund.50 Die Aufgabe, eine transnationale Geschichte des Bund unter diesen Vorzeichen zu schreiben, erfordert damit erstens, jene sozialen Handlungen zu identifizieren, die den Bund entstehen ließen. Zweitens gilt es, diesen Handlungen und ihren Institutionalisierungen im Zeitalter der großen Migrationen zu folgen, um drittens anhand lokaler Konstellationen die Wandlungen, Übertragungen und Verfestigungen konkret zu identifizieren und zu analysieren. Daraus erwächst viertens eine Geschichte des transnationalen Bund, die ihn einerseits als eine eigene transnationale Struktur erfasst und andererseits seine Verästelungen in die umgebende Geschichte der Herkunfts- und Zielgesellschaften einordnen kann. Da bei diesen Transfervorgängen aber keine Kopien bekannter Institutionen angefertigt wurden, sondern bundische Inhalte flexibel angepasst wurden, wandelte dies auch den Bund in Osteuropa. Darum ist diese transnationale Bewegungsgeschichte auch eine Organisationsgeschichte, wobei im Gegensatz zur klassischen Historiographie der Arbeiterbewegung nicht die Organisation selbst, sondern die zahlreichen Modi des Organisierens im Vordergrund stehen. Eine derart konzipierte Geschichte des Bund nimmt seinen Ausgang in den sozialen Handlungen und Institutionalisierungen in Osteuropa, folgt dann den migrierenden Bundisten in die beiden größten Ziele jüdischer Immigration in Übersee, New York und Buenos Aires. Osteuropa wird dabei aber nie aus dem Blick gelassen, noch wird die Geschichte des Bund einfach durch überseeische „Kolonien“ erweitert. Vielmehr entfaltet sich in den folgenden Kapiteln die Geschichte des transnationalen Bund als eine Geschichte interdependenter, heterogener und immer wieder an Grenzen stoßender sozialer Einheiten.

49 Zur Langlebigkeit dieses Raumes siehe den eindrucksvollen Dokumentarfilm: Eran Torbiner, Bunda’im, Tel Aviv, 2011. 50 Pries, Transnationalisierung, 7.

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Forschungsansätze Für eine solche transnationale Bewegungsgeschichte eignet sich der Bund besonders, da er im Gegensatz zu seinen Hauptkonkurrenten, dem Zionismus und den Bolschewiki, nie eine staatstragende Ideologie entwickelte.51 Seine revolutionäre Utopie offerierte vielmehr eine erfahr- und gestaltbare Lebenswelt.52 Diese bot den Juden Russlands eine neue säkulare Identität und kann in ihrer „vielfältige[n] Ausstrahlung auf die polnische und russische Arbeiterbewegung gar nicht überschätzt werden.“53 Seine Wirkmacht endete nicht an den Grenzen des zarischen Imperiums, denn migrierende Bundisten schüttelten ihre erkämpften Lebensentwürfe nicht an Bord der transatlantischen Dampfer ab. Die tausendfache Emigration transnationalisierte die Geschichte des Bund, allein die Historiographie zum Bund spiegelt dies bislang nicht.54 Einzig David Slucki erkundet in seinem jüngst erschienen Buch die Geschichte des Bund nach dem Zweiten Weltkrieg, des „International Jewish Labor Bund“, aufgrund seiner stark dezentralisierten Struktur als transnationale Geschichte. Irrigerweise setzt er die „transnational reorganization“ des Bund jedoch nach 1945 an.55 Dies ist nicht verwunderlich, denn die Geschichte des transnationalen Bund vor 1939 ist nicht nur unterschätzt, sondern unerforscht und unbekannt. Dies liegt nicht zuletzt an Grundannahmen der jüdischen Migrationsgeschichte, in der auch zahlreiche ansonsten äußerst reflektierte Ansätze oft argumentieren, dass die aus Osteuropa stammenden jüdischen Immigranten in den USA „too busy to look back“ gewesen seien.56 Dementgegen wird dieses Buch, gestützt auf Quellen 51 V.  a.: Yoav Peled, Class and Ethnicity in the Pale: The Political Economy of Jewish Workers’ Nationalism in Late Imperial Russia (New York: St. Martin’s Press, 1989); Gertrud Pickhan, „Yiddishkayt and Class Consciousness: The Bund and Its Minority Concept“, East European Jewish Affairs 39, Nr. 2 (2009): 249–263. 52 Mendelsohn, Class Struggle in the Pale, 158 f. 53 Heiko Haumann, Geschichte der Ostjuden (München: DTV, 1990), 148. Auch in der Bundforschung ist diese lebensweltliche Kraft des Bund bislang nur für Russland und Polen angedacht, siehe: Mendelsohn, Class Struggle in the Pale; Roni Gechtman, „Socialist Mass Politics through Sport. The Bund’s Morgenshtern in Poland, 1926– 1939“, Journal of Sport History 26, Nr. 2 (1999): 326–352. 54 Für eine ausführlichere Auseinandersetzung, siehe: Frank Wolff, „Historiography on the General Jewish Labor Bund: Traditions, Tendencies and Expectations“, Medaon 4 (2009), http://www.medaon.de/pdf/M_Wolff–4–2009.pdf. 55 ���������������������������������������������������������������������������������� David Slucki, The International Jewish Labor Bund after 1945: Toward a Global History (New Brunswick, NJ: Rutgers Univ. Press, 2012), 2. 56 Brinkmann, „From Immigrants to Supranational Transmigrants and Refugees“, 51; Eli Lederhendler, Jewish Immigrants and American Capitalism, 1880–1920: From Caste to Class (Cambridge: Cambridge University Press, 2009).

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aus amerikanischen, argentinischen, israelischen, deutschen, russischen und ukrai­ nischen Archiven und Bibliotheken, darstellen, dass die Transnationalisierung des Bund bereits kurz nach seiner Gründung einsetzte. Die sich ab 1903 institutionalisierenden transatlantischen Netzwerke des Bund waren damit Pioniere der modernen jüdischen, globalen Diaspora. Im Zentrum stand dabei das Langzeitprojekt der säkularen yidishkayt als kollektive, wehrhafte und sozialistische jüdische Arbeiter­ identität. Diese basierte, wie Gertrud Pickhan hervorhebt, auf einem klassenbasierten Minderheitenkonzept im Rahmen eines erstrebten ethnischen Pluralismus.57 Über diesen programmatischen Rahmen hinaus werde ich in diesem Buch demonstrieren, dass yidishkayt als praxishistorische Kategorie zudem jene kulturellen Grenzen definierte, in denen Bundisten ihren Aktivismus in Kombination anderer Kategorien wie khavershaft und doikayt entfalten konnten. Yidishkayt legitimierte bundistisches Selbstbewusstsein ebenso, wie es den Transfer einer positiv konnotierten osteuropäisch-jüdischen Identität in die Welt ermöglichte. In früheren Arbeiten zum Bund stand oft allein die Partei im Zentrum des Interesses, an ihrem (staatspolitischen) Einfluss sollten sich Erfolg und Scheitern bemessen lassen.58 In stärker organisationshistorischen Arbeiten wird bereits seit Henry J. Tobias die Wirkung des Bund in eine „Außenwelt“ hinein zwar betont, nicht jedoch tiefer gehend untersucht.59 So entsteht nicht selten der Eindruck, dass der primär lokalistisch ausgerichtete Bund ein Sonderfall jüdischer Geschichte gewesen sei, ein seltsames Archipel im sich seit Jahrtausenden nach Zion sehnenden Meer der Söhne Abrahams.60 Am stärksten berücksichtigten jüngere kulturhistorische Arbeiten die über den Parteikern hinausgehende Wirkung des Bund.61 Wie am prominentesten 57 Vgl. Pickhan, Gegen den Strom; Pickhan, „Yiddishkayt and Class Consciousness“; Frank Wolff, „Revolutionary Identity in the Process of Migration: The Commemorative Transnationalism of Bundist Culture“, East European Jewish Affairs (erscheint 2013). 58 Elie Paretzki, Die Entstehung der jüdischen Arbeiterbewegung in Russland (Riga: Verlag „Jurist“, 1932); Bernard K. Johnpoll, The Politics of Futility. The General Jewish Workers Bund of Poland 1917–1943 (Ithaca, NY: Cornell Univ. Pr., 1967); dies tradiert sich trotz einer widersprechenden Forschung teilweise bis heute: Yosef Gorny, Converging Alternatives. The Bund and the Zionist Labor-Movement (Albany: State University of New York Press, 2006). 59 Siehe z. B.: Tobias, The Jewish Bund in Russia from its Origins to 1905; Peled, Class and Ethnicity in the Pale; Joshua D. Zimmerman, Poles, Jews, and the Politics of Nationality. The Bund and the Polish Socialist Party in Late Tsarist Russia, 1892–1914 (Madison, Wis.: University of Wisconsin Press, 2004); Jacobs, Bundist Counterculture. 60 Jüngst: Gorny, Converging Alternatives. 61 ������������������������������������������������������������������������������������ Mendelsohn, Class Struggle in the Pale; Pickhan, Gegen den Strom; davon stark inspiriert: Jacobs, Bundist Counterculture.

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in Gertrud Pickhans Geschichte des Bund in Polen argumentieren diese zwar nach wie vor im Rahmen einer Parteigeschichte, weichen sie aber aufgrund der breiten kulturellen Wirkung des Bund in der jüdischen Gesellschaft auf. Eine derartige Arbeit zum russländischen Bund steht aus. Die Möglichkeiten einer solchen Untersuchung kann dieses Buch nur andeuten, indem es jene Aktivismusmuster identifiziert, die den Bund in Russland und Polen begründeten. Aus diesen und nicht aus der Parteistruktur heraus erwuchs der Bund in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zur maßgeblichen sozialdemokratischen Bewegung jüdischer Arbeiter und Intellektueller. Durch Aktivismus wurde er zu einem der wichtigsten Protagonisten der selbstbewussten, modernen jüdischen Diaspora. Auch im Migrationsprozess blieb die Geschichte des Bund „the history of a search and a struggle for justice, dignity, and identity.“62 Doch wer suchte und kämpfte eigentlich? Um dies zu beantworten, führt diese Geschichte des Bund nicht durch die Hinterzimmer russländischer Intellektuellensalons und Debattierklubs, sondern zuerst über die Straßen des jüdischen Siedlungsrayons, um anschließend den Aktivisten über den Ozean in die größten transatlantischen jüdischen Immigrationshäfen New York und Buenos Aires zu folgen. Die Geschichte des Bund ist nicht die der Umsetzung eines Parteiprogramms, sondern das Parteiprogramm war eine Antwort auf die Praktiken und Hoffnungen der Aktivisten. Diesen hat die Forschung bislang kaum Beachtung geschenkt. Für die Forschung in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion ist bezeichnend, dass es keine lebendige Forschung zum Bund gibt, sondern dass bestenfalls Organisationsfragen oder Programmdebatten betrachtet werden.63 Es dominiert stark segmentiertes Quellenwissen, da jiddische Quellen kaum rezipiert werden. In russischer Sprache verfasste Quellen berühren aber in erster Linie programmatische Fragen und gehen selten in die Tiefe jener Praktiken und Erlebnisse, die den Bund ausmachten.64 In der englischsprachigen Forschung wiederum drehte sich lange Jahrzehnte fast alles um die Frage nach dem „Erfolg“ des Bund. Diese Debatte trat Bernhard K. Johnpoll 1965 polemisch los und sie dient auch vielen aktuellen Arbeiten als

62 Tobias, The Jewish Bund in Russia from its Origins to 1905, VII. 63 Viktor Gusev, „Bundïvskï organizaacïï Ukraïni v 1905“, Zaporožskie evrejskie čtenija 4 (2000): 98–101; Gusev, „V. Kossovskij i V. Medem protiv V. Lenina“; einen etwas anderen Ansatz verfolgt: Oleg V. Budnickij, Rossijskie evrei meždu krasnymi i belymi. 1917–1920 (Moskau: ROSSPEN, 2006). 64 A.N. Svalov, Hrsg., Doklad Parižskomu kongressu Vtorogo Internatcionala, 1900 god (Moskau: RGSU, 2007); Bund: Dokumenty i materialy. 1884–1921, ������������������������ (Moskau: ROSSPEN, 2010); ähnliches gilt für die weißrussische Seite: Godusdarstvennyj komitet po arhivam i deloproizvodstvu respubliki belarus, Hrsg., Bund v Belarusi: Dokumenty i materialy 1897–1921 (Minsk: BelNIIDAD, 1997).

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Triebfeder.65 Letzten Endes führte dies aber nur zu verhärteten Fronten, die mehr über die politische Verortung der Autoren aussagt als über den Bund als historisches Phänomen. Erst in den letzten Jahren entwickelt sich eine derzeit stark an Dynamik gewinnende Forschung zum Bund, die unter kulturhistorischen Vorzeichen auf vielen Feldern Pionierarbeit leistet.66 Dies beinhaltet nicht nur spezifische Werke zum Bund, sondern auch Studien zu anderen Organisationen, Parteien und Bewegungen, in denen Bundisten aktiv wurden. Dabei wird deutlich, wie stark Bundismus und bundische Identität über die Parteigrenzen hinaus wirkten.67 Ein weiterer Wandel lag in der Loslösung der Geschichte des Bund von der der russländischen Sozialdemokratie. Die Historiographie zum Bund war bis zum Erscheinen von Gertrud Pickhans „Gegen den Strom“ dominiert von der Geschichte des Bund im zarischen Russland.68 Jack Jacobs setzt daran an und beschreibt in seinem Buch zur „Bundist Counterculture“ einige essenziell zum polnischen Bund 65 Die Wegmarken der Stellvertreterdebatte sind: Johnpoll, The Politics of Futility; und: Gorny, Converging Alternatives; auch Jack Jacobs weitaus solideres Buch kann nicht umhin, diese Frage zum Ausgangspunkt zu erküren, vgl.: Jacobs, Bundist Counterculture, 1–7. 66 ��������������������������������������������������������������������������������� Gechtman, „Socialist Mass Politics through Sport“; Pickhan, Gegen den Strom; Zimmerman, Poles, Jews, and the Politics of Nationality; Roni Gechtman, „Conceptualizing National-Cultural Autonomy - From the Austro-Marxists to the Jewish Labor Bund“, Simon Dubnov Institute Yearbook 4 (2005): 17–49; Jacobs, „Bundist AntiZionism in Interwar Poland“; Susanne Marten-Finnis, „Translation as a Weapon for the Truth: The Bund’s Policy of Multilingualism, 1902–1906“, POLIN 18 (2005): 337–351; Jack Jacobs, „The Role of Women in the Bund“, in Jewish Women. A Comprehensive Historical Encyclopedia, hg. von Paula E. Hyman ( Jerusalem: Shalvi Publishing, 2006), http://jwa.org/encyclopedia/article/bund; Rebekka Denz, Bundistinnen. Frauen im Allgemeinen Jüdischen Arbeiterbund (’Bund’) dargestellt anhand der jiddischen Biographiesammlung „Doyres Bundistn“, (Potsdam: Universitätsverlag Potsdam, 2009); Michał Trębacz, „,Rzadko kiedy żydowski dom łączył w sobie tyle światów i tyle wartości…‘. Polsko-żydowska mozaika Rafała Lichtensteina – przyczynek do dziejów inteligencji wielokulturowej Łodz“, in „Należę do polskiej szkoły historycznej“. Studia i szkice ofiarowane prof. Jakubowi Goldbergowi z okazji odnowienia doktoratu na Uniwersytecie Łódzkim, hg. von R. Stobiecki und J. Walicki (Lodz: Centrum Badań Żydowskich, Uniwersytet Łódzki, 2010), 51–63; Daniel Mahla, „Between Socialism and Jewish Tradition: Bundist Holiday Culture in Interwar Poland“, Studies in Contemporary Jewry 24 (2010): 177–192. 67 Besonders z. B.: Tony Michels, A Fire in Their Hearts. Yiddish Socialists in New York (Cambridge Mass., London: Harvard University Press, 2005); Moss, Jewish Renaissance in the Russian Revolution; Inna Shtakser, „Self-Defence as an Emotional Experience: The Anti-Jewish Pogroms of 1905-07 and Working Class Jewish Militants“, Revolutionary Russia 22, Nr. 2 (2009): 153–179. 68 Eine Ausnahme, neben einigen Aufsätzen, war: Johnpoll, The Politics of Futility.

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gehörigen Gruppen und Institutionen.69 Er bleibt aber bei einer Beschreibung einzelner Institutionen im Bund, die Zusammenhänge der titelgebenden Gegenkultur in Polen bleiben leider sehr vage. Denn folgt man den Wegen, die Gertrud Pickhan vor ihm beschritt, erschließt sich der Bund nicht durch die Addition einzelner Teilgruppen, sondern durch deren Bezüge. Sie definiert den Bund dabei als „Linkspartei“ oder „Klassenpartei“, die wie wohl kaum eine andere „die Einheit der Arbeiterklasse“ einforderte.70 Pickhans Studie bricht mit marxistisch geprägten Analysen des Bund wie der von John Bunzl, der Klassenlagen als kausal für die Entstehung des Bund sieht, und verlagert dies stärker in Richtung Klassenidentität und Kulturarbeit.71 Klasse und Partei bleiben bei ihr aber die Dreh- und Angelpunkte einer Geschichte, die weit über Klassenlagen und Parteilichkeiten hinausreichte.72 Trotz der bedeutenden kulturhistorischen Erweiterung fokussiert dies auf Organisationen und parteiliche Institutionen, die der Bund geschaffen habe, um ein Zielpublikum zu binden oder anzuwerben. Die dahinterliegende Frage nach Mobilisierungsdynamiken und Vergemeinschaftungsprozessen, also nach der Genese bundischer Akteure innerhalb selbst gestalteter sozialer Strukturen, bleibt unbeantwortet. Allgemein werden aufgrund scharf gesetzter räumlicher und temporaler Grenzen Wechselwirkungen, Persistenzen und gescheiterte Transfers zu wenig berücksichtigt. Bislang nahm sich jede substanzielle Arbeit zum Bund eine Epoche (und daraus folgend einen Raum) vor, um aufgrund dieser Setzung „bundische Geschichte“ zu schreiben.73 Dabei stellte sich heraus, dass der russische Bund (1897–1917) ein Wegbereiter der revolutionären Bewegung des ausgehenden Zarenreiches war und zugleich eine in den jüdischen Studien leider allzu oft vernachlässigte kulturelle Bewegung, die zu einer Massenbewegung unter den fünf Millionen osteuropäischer Juden wurde.74 Zudem war der Bund ein Protagonist der russländischen revolutionären Parteienlandschaft und ist damit auch für die allgemeine osteuropäische 69 70 71 72

Jacobs, Bundist Counterculture, 6, 20, 100 f. Pickhan, Gegen den Strom, 27, 31, 98 f. Bunzl, Klassenkampf in der Diaspora. Pickhan, Gegen den Strom, 14, 29; explizit bezogen auf: Jürgen Kocka, Arbeitsverhältnisse und Arbeiterexistenzen. Grundlagen der Klassenbildung im 19. Jahrhunder (Bonn: Dietz, 1990), 4 f.; Peled, Class and Ethnicity in the Pale. 73 Ausnahmen sind bundistische Meistererzählungen oder populärwissenschaftliche Bücher, wie: Yakob Sh. Hertz, Der bund in bilder, 1897–1957 (New York: Unzer tsayt, 1958); Aronson, Hertz et al., Di geshikhte fun bund. 5 Bd.; Henri Minczeles, Histoire générale du Bund, un mouvement révolutionnaire juif (Paris: Austral, 1995); Israel Laubstein, Bund. Historia del Movimiento Obrero Judío (Buenos Aires: Acervo, 1997). 74 Andreas Kappeler, Rußland als Vielvölkerreich. Entstehung - Geschichte – Zerfall (München: C.H.Beck, 1992), 328 f.

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Geschichte von größter Bedeutung.75 Zweitens zeigen Forschungsarbeiten jüngeren Datums eindrücklich, dass aus dieser Ideen- und Organisationslandschaft des Bund eine Partei erwuchs, die im Polen der Zwischenkriegszeit (1918–1939) eine kulturelle Lebenswelt schuf, welche für sich genommen eine Form der jüdischen Moderne war.76 Drittens setze der Bund seine militante Geschichte der Pogromabwehr im Zweiten Weltkrieg fort, stieß dabei aber auf übermächtige Gegner (1939–1948).77 Im Rahmen seiner „praktischen Philosophie“ der doikayt, der Lösung der bestehenden Unterdrückung an Ort und Stelle, kämpfte er gegen die Besetzung durch die Deutschen und gegen den Holocaust. Viertens war es dabei aber gerade jene Idee der doikayt, die den Bund nach seiner Zerschlagung und Zerstreuung über die gesamte Welt (ab 1947) vor große theoretische und praktische Probleme stellte.78 So anregend diese Einzelperspektiven auch sind, die historiographische Folge sind vier Teilfelder, vier Spezialistentümer und vier Referenzwerke.79 Diese Arbeit ist durch den Fokus auf Identitäten, Transfers und Netzwerke die erste wissenschaftliche Arbeit, die benannte Epochen überspannt und Räume erweitert. Im Gegensatz zu Darstellungen, die den Bund als aufgrund ökonomischer Notwendigkeiten und Klassenlagen erwachsene Partei verstehen, ruft dies nach einer 75 Dieser „russische Bund“ zog lange Zeit die meiste Aufmerksamkeit auf sich. Weg���� weisende Studien sind: Charles E. Woodhouse und Henry J. Tobias, „Primordial Ties and Political Process in Pre-Revolutionary Russia: The Case of the Jewish Bund“, Comparative Studies in Society and History 8, Nr. 3 (1966): 331–360; Mendelsohn, Class Struggle in the Pale; Tobias, The Jewish Bund in Russia from its Origins to 1905; Bunzl, Klassenkampf in der Diaspora; Tobias und Woodhouse, „Political Reaction and Revolutionary Careers“; Nora Levin, While Messias Tarried. Jewish Socialist Movements, 1871–1917 (New York: Schocken, 1977); Jonathan Frankel, Prophecy and Politics. Socialism, Nationalism, and the Russian Jews, 1862–1917 (Cambridge Mass.: Cambridge University Press, 1984); Peled, Class and Ethnicity in the Pale; Gitelman, The Emergence of Modern Jewish Politics. 76 Obwohl Johnpolls Studie aufgrund ihrer politischen Tendenz streitbar ist, geriet der „polnische Bund“ für lange Zeit in die Hinterwasser der Forschung. Dies änderte sich in den letzten Jahren, siehe v. a.: Pickhan, Gegen den Strom; Roni Gechtman, Yidisher sotsializm. The Origin and Contexts of the Jewish Labor Bund’s National Program. (Univ. Diss., NYU, 2005); Jacobs, Bundist Counterculture. 77 Daniel Blatman, For Our Freedom and Yours. The Jewish Labour Bund in Poland 1939–1945 (London, Portland OR: Vallentine Mitchell, 2003). 78 Dies erkundete erst jüngst die innovative Studie von David Slucki: David Slucki, The Jewish Labor Bund after the Holocaust: A Comparative History (Melbourne: Univ. Diss. Monash University, 2009). 79 ������������������������������������������������������������������������������������� Diese sind derzeit: Tobias, The Jewish Bund in Russia from its Origins to 1905; Pickhan, Gegen den Strom; Blatman, For Our Freedom and Yours; jüngst ergänzt durch: Slucki, The Jewish Labor Bund after the Holocaust: A Comparative History.

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Historisierung der Praktiken und der Dynamiken der transnationalen Bewegung innerhalb lokaler Strukturen und transnationaler Vernetzungen zugleich. Dabei sind politische, ökonomische und kulturelle Zielsetzungen zu beachten.80 Besonders Memorik und Erinnerungspolitik waren entscheidende Mobilisierungsinstrumente im Bund und prägten Kontakte und Transfers über Ozeane hinweg. Dabei entstanden aber neue Probleme und Grenzen von Transfers, die weniger mit den klassischen Epochen einer isolierten Geschichte des Bund, sondern mit der Geschichte der umgebenden Nationen und Gesellschaften zu tun haben. Darum versteht sich dieses Buch als Sonde, die im Zuge einer gerade neu aufblühenden Forschung zum Bund dessen transnationalen Raum ausmisst und neue Erkundungswege vorschlägt.81 Zugleich ist diese Studie auch ein Beitrag zur aktuellen Diasporaforschung. Es wird gezeigt, dass die moderne jüdische Diaspora und die jüdische Arbeiterbewegung nicht nur synchron entstanden, sondern dass sie sich gegenseitig bedingten.82 Insofern widerspricht diese Geschichte des Bund auch Ansichten, nach denen „alte“ soziale Bewegungen sich in erster Linie an den Staat gewendet hätten, wohingegen die Stimme der „neuen“ sozialen Bewegungen weit über die Nationalstaaten hinaus gereicht habe.83 Eine zentrale Größe ist dabei die bundische Identität. Denn im Bund als transnationale soziale Bewegung war auch „der Bundist“ mehr als ein „Parteigänger“. Es stellte eine durch Handeln mit Leben erfüllte Identitätskategorie dar, die sowohl durch utopischen Vorwärtsdrang als auch durch romantisches Rückblicken gekennzeichnet war. Sowohl in der Memorik als auch jeder einzelnen aktivistischen Tat 80 Ähnlich gefordert für die Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung: Thomas Welskopp, „,Wir nehmen unsere Angelegenheiten selbst in die Hände …‘. Die deutsche Arbeiterbewegung vor 1863,“ in “Durch Nacht zum Licht“. 150 Jahre deutsche Arbeiterbewegung. Begleitkatalog zur baden-württembergischen Landesaustellung im Museum für Technik und Arbeit (Mannheim: TECHNOSEUM, 2012), 30–55; Thomas Welskopp, „Klasse als Befindlichkeit? Vergleichende Arbeitergeschichte als kulturhistorische Herausforderung“, Archiv für Sozialgeschichte 38 (1998): 301–336. 81 Eine Bestandsaufnahme erfolgte auf dem Workshop: “Beyond Internal Paradigms: New Perspectives on the History of the Jewish Labor Bund“, Warschau, 31. Mai – 3. Juni 2012, siehe den Tagungsbericht: Yaad Biran, „Fir teg fun bund oyf tlomatske-gas in varshe“, Lebns-fragn, Tel Aviv 714–716 (2012), http://www.lebnsfragn.com/bin/ articles.cgi?ID=1205. 82 Dies wird jüngst stärker betont, siehe v. a.: Katz, All Together Different; Wolff, „Eastern Europe Abroad“; Frank Wolff, „‚Osteuropa‘ als migrationshistorische Kategorie: Identifikationen und Identitäten osteuropäisch-jüdischer Migranten vor 1939“, in Aktuelle Migrationsforschung, hg. von Jochen Oltmer und et al. (Göttingen: V&R Unipress, 2013) [im Druck]. 83 Siehe ebenso: Cohen und Rai, „Global Social Movements: Towards a Cosmopolitan Politics“, 6–11.

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waren, um es mit Karl Mannheim zu sagen, „nicht nur die Vergangenheit, auch die Zukunft […] virtuell präsent“.84 Darum ist es unmöglich, eine „Geschichte des Bund“ ohne eine „Geschichte der Bundisten“ zu verfassen. Damit sind aber keine einzelnen Biographien gemeint, sondern die kollektive Konstruktion einer Identitätskategorie, die Handlungen legitimierte, Freundschaften bestimmte und Politik erlebbar machte.85 Um dies historisch zu fassen, braucht es konkret benennbare Akteure und einen Akteursbegriff, der Akteure nicht allein als rational oder voluntaristisch handelnde oder in Organisationen inkorporierte Menschen versteht. Unter Akteuren der Geschichte des Bund verstehe ich vielmehr jene zentralen Einheiten von Vergemeinschaftungsprozessen, die den transnationalen sozialen Raum des Bund konstitutieren.86 Selbstverständlich steht dabei der Bundist als identitätsbasierter Akteur im Vordergrund. Bundisten schufen den Bund per Handlung, gestalteten Netzwerke, übertrugen Inhalte und migrierten physisch. Bundisten waren aber nicht nur handelnde Individuen, sie erschrieben sich auch psychisch ihren Teil der Bewegung und akquirierten damit eine persönlich und kollektiv gerahmte Identität des „Bundistseins“. Diese benötigte einen Anlaufpunkt, den der zweite Akteur bot, der Bund als organisatorische Institution. Dieser war scheinbar stabil, entwarf sich aber auf verschiedenen regionalen Ebenen unterschiedlich. Als von Bundisten geschaffene Lebenswelt stellte er weitaus mehr dar, als Beschlüsse und Parteistrukturen es spiegeln. Der Bezugspunkt der dabei hervortretenden Heterogenität war drittens der Bundismus als ideelle Institution. Diese ist aufgrund ihrer transferierbaren Wirkkraft auch als Akteur zu erachten, wie vor allem an der Geschichte des sekundären Bundismus deutlich werden wird. Bundismus bot sowohl ein ideelles Sinngefüge und not­wendige Mythen und Utopien als auch Reflexionspotenzial und Handlungsmöglichkeiten, um zugleich ein Identitätsangebot und eine Philosophie im Wandel zu sein.

84 Karl Mannheim, Ideologie und Utopie (Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann, 1995), 212. 85 Ich folge dahin gehend: Bruno Latour, Die Hoffnung der Pandora. Untersuchungen zur Wirklichkeit der Wissenschaft (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2002), 236  ff.; Latour, Reassembling the Social, 4–8, 247 f. 86 Zu einem offenen Akteursbegriffe, siehe: Latour, Reassembling the Social, v. a. 46–50, 52–58; weiterhin: Madeleine Akrich und Bruno Latour, „A Summary of a Convenient Vocabulary for the Semiotics of Human and Non-Human Assemblies“, in Shaping Technology, Building Society. Studies in Sociotechnical Change, hg. von Wiebe E. Bijker und John Law (Cambridge, Mass. et al.: MIT Press, 1992), 259–264; Uwe Schimank, Theorien gesellschaftlicher Differenzierung, 3. Auflage (Wiesbaden: VS, 2007), 185–242.

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Diese drei Akteure formten die Geschichte des transnationalen Bund. Sie waren interdependent, überschnitten sich aber nur punktuell. Im Rahmen dieser Studie werden ihre diachronen und synchronen Wechselverhältnisse ebenso betont wie ihre spezifischen Grenzen in verschiedenen Konstellationen. Wie ich später darstellen werde, befanden sich etwa Bundisten an Schlüsselstellen der amerikanischen Arbeiterbewegung, in die sie den Bundismus oder Ableitungen von ihm einbrachten. Auf den Bund als Organisation griffen sie dabei jedoch nicht zurück. Diese von den gleichen Personen unterhaltenen bundischen Organisationen in Übersee waren aber wichtig für den Transfer von Mitteln zurück nach Osteuropa, eine Funktion, die Bundisten aus den amerikanischen Institutionen heraus nicht hätten erfüllen können. Diese Wechselbeziehungen zwischen Identität, Organisation und Ideologie zu gestalten, macht den Kern der Geschichte des transnationalen Bund aus.

Doikayt als Handlungsmaxime Der zentrale Pfeiler dieser Geschichte war die Maxime der doikayt (von jidd.: do: hier; dt. ungefähr: Hiesigkeit), die eine Handlungsaufforderung im „Hier und Jetzt“, also „mit den Massen und für die Massen“ war. Die Frage aber ist, wo dieses „Hier“ in einer selbstbewussten Diasporakultur lag? In Russland war die doikayt des Bund scheinbar selbsterklärend, entstand er hier doch aus den Handlungen der „Massen“ heraus. Jedoch mussten marxistische Konzepte in die jüdisch-sozialistische Massenagitation hinein adaptiert werden.87 Ein Paradoxon des Marxismus im Vielvölkerreich entstand aus Marxens Diktum: „Obgleich nicht dem Inhalt, ist der Form nach der Kampf des Proletariats gegen die Bourgeoisie zunächst ein nationaler. Das Proletariat eines jeden Landes muß natürlich zuerst mit seiner eigenen Bourgeoisie fertig werden.“88 Für den Bund waren aber Nation und Land nicht deckungsgleich. Bundistische Gewerkschaften attackierten aggressiv jüdische Fabrikbesitzer, die jüdische „Bourgeoisie“, verteidigten sie aber in Pogromen. Weder das Judentum noch das zarische Imperium boten die Struktur des Nationalstaates an, der bei Marx eine zentrale Einheit darstellt. Mit diesem Problem waren Bundisten nicht allein, auch die Austro-Marxisten im Habsburgerreich

87 Hier das 1893 publizierte Pamphlet Arkadi Kremers „Ob agitacii“ entscheidend, siehe dazu v. a.: Mendelsohn, Class Struggle in the Pale, 45–51; Frankel, Prophecy and Politics, 187 f. 88 Karl Marx und Friedrich Engels, Manifest der Kommunistischen Partei (London: Bildungs-Gesellschaft für Arbeiter, 1848), 10.

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teilten diese Problemlage.89 Deren Konzept der national-kulturellen Autonomie passten die Theoretiker des Bund auf ihre Lage an und verknüpften es mit dem Paradigma des Handelns.90 Damit brachen die Bundisten mit der jüdischen Tradition, das Exil als Strafe zu verstehen, und entwickelten aus dem hebräischen galut, dem strafenden Warten auf den Messias, die Losung, an Ort und Stelle für eine Verbesserung des Lebens und eine jüdisch-säkulare Kultur zu kämpfen. Doikayt verband also die Verortung jüdischen Lebens und jüdischer Kultur in der Gegenwart mit der sozialistischen Utopie und entsprechendem Aktivismus.91 Dies schuf jedoch ein Paradoxon: Da Bundisten migrierten und nicht „Aliyah machten“, war für sie ein jeder Lebensraum ein möglicher Ort für bundisches Handeln und Organisieren, für eine praktizierte yidishkayt. Doikayt war demnach weltweit umsetzbar. Das politische Programm des Bund hingegen war an Osteuropa gebunden, wo die Masse der jüdischen Arbeiter lebte und damit ein „Hier“ der Masse definierte, welches dem „Hier“ der Migrierten widersprach. Doikayt war also auch im Migrationsprozess nicht ohne Osteuropa zu denken. In dem daraus erwachsenden Spannungsverhältnis zwischen Lokalität, Dyslokalisierung und Transnationalismus entfernten sich Bund und Bundisten, Organisation und Identität voneinander. Auch der Bundismus wurde zu einem zweischneidigen Schwert. Einerseits sollte er philosophisch den Kampf für die Befreiung der jüdischen Arbeitermassen in Osteuropa fundieren, andererseits eine moderne, angepasste Jüdischkeit in Übersee ermöglichen. Doikayt konnte damit beides meinen: zum einen den Fokus auf ein „Hier“, welches für die Migranten in der Vergangenheit lag, und zum anderen auf ein „Hier“, welches die Präsenz der globalen jüdischen Diaspora ausgestalten soll89 Dies führte 1905 auch zur Gründung des „Galizischen Bund“, vgl.: Kuhn, „Organizing Yiddish-Speaking Workers“. 90 Koppel S. Pinson, „Arkady Kremer, Vladimir Medem, and the Ideology of the Jewish‚ Bund‘“, Jewish Social Studies 7, Nr. 3 (1945): 233–264; Jacob S. Hertz, „The Bund’s Nationality Program and Its Critics in the Russian, Polish and Austrian Socialist Movements“, YIVO Annual of Jewish Social Sciences 14 (1969): 53–67; Peled, Class and Ethnicity in the Pale; Jack Jacobs, On Socialists and The Jewish Question After Marx (New York: NYU Press, 1993), 106 f., 119 ff.; Gechtman, „Conceptualizing NationalCultural Autonomy – From the Austro-Marxists to the Jewish Labor Bund“; diese doikayt war darum auch für den Nachweltkriegs-Bund von größter Bedeutung, siehe: David Slucki, „Theorizing doikeit. Towards a History of the Melbourne Bund“, Australian Jewish Historical Society Journal 19, Nr. 2 (2008): 259–268. 91 ����������������������������������������������������������������������������������� Jacobs, On Socialists and The Jewish Question After Marx; Gechtman, Yidisher sotsializm; zur besonderen Bindekraft des high-risk activism an die Bewegung, siehe: Verta Taylor und Nella van Dyke, „‚Get up, Stand up‘: Tactical Repertoires of Social Movements“, in The Blackwell Companion to Social Movements, hg. von David A. Snow, Sarah A. Soule, und Hanspeter Kriesi (Malden, MA, Oxford: Blackwell, 2004), 270 f., 277.

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te.92 Dieser Wandlungsprozess hin zu einer globalen jüdischen Säkularität minderte die Sichtbarkeit des Bund in den Einwanderungsländern, verankerte aber Bundisten als geselshaftlekhe tuer in den USA und Argentinien. War die doikayt in Osteuropa also gerade wegen ihres Veränderungsanspruches an die Gesellschaft ein Ausdruck eines stolzen Diasporalebens, so war ihr Transfer im Migrationsprozess Ausdruck einer sendungsbewussten säkularen „Diaspora-Diaspora“.93 Diese Studie löst damit einerseits die Geschichte des Bund von der Disziplin der „Osteuropäischen Geschichte“, die bislang geradezu monopolistisch sein historisches Erbe diskutiert. Andererseits verknüpft sie die lokale Geschichte jüdischer Einwanderer intensiver mit Osteuropa, als es die oft nationalgeschichtlich gerahmten Immigrationsstudien der „Jewish Studies“ vermögen.94 Folgt man bundischen Lebenswegen und Handlungsweisen, tritt Wilna in einen aktiven Bezug zu Warschau, Gomel’ und Moskau, aber eben auch zu Buenos Aires, New York, Rochester und Montevideo.95 So ist diese Geschichte des transnationalen Bund ein Beitrag zur Geschichte Osteuropas – nur fand diese Geschichte primär im transatlantischen Migrationsprozess statt. Umgedreht ist dies auch ein Bestandteil der Geschichte der USA und Argentiniens – der Gesellschaften, nicht der Nationen – in großteils osteuropäisch verwurzelten Bezügen, Begriffen und Denkmustern. In jedem Fall war doikayt zugleich Möglichkeit und Problem für die transnationale Bewegung des Bund. Sie baute auf dem Leben vor Ort auf, gründete aber in Aktivismusmus92 David Slucki, „Here-ness, There-ness, and Everywhere-ness: The Jewish Labour Bund and the Question of Israel, 1944–1955“, Journal of Modern Jewish Studies 9, Nr. 3 (2010): 349–368. 93 In Abwandlung von: Rogers Brubaker, „The ‚Diaspora‘ Diaspora“, Ethnic and Racial Studies 28, Nr. 1 (2005): 1–19. 94 Hierbei ist Migration oft Bedingung einer zu untersuchenden Nachgeschichte und nicht ein andauernder Prozess. Siehe v. a.: Irving Howe, World of Our Fathers (New York et al.: Harcourt Brace Jovanovich, 1976); Manrique Zago, Hrsg., Los inmigrantes judíos: Pioneros de la Argentina (Buenos Aires: M. Zago Ediciónes, 1982); Robert M Levine, Tropical Diaspora: The Jewish Experience in Cuba (Gainesville: University Press of Florida, 1993); Suzanne D. Rutland, Edge of the Diaspora: Two Centuries of Jewish Settlement in Australia, 2nd rev. ed. (New York: Holmes & Meier, 2001); Hasia Diner, Hungering for America: Italian, Irish, and Jewish Foodways in the Age of Migration (Cambridge Mass.: Harvard University Press, 2001); Michels, A Fire in Their Hearts. 95 Grundlegend und Bezug auf die Verdichtung von Zeit und Raum als eine Bedingung der Postmoderne: David Harvey, The Condition of Postmodernity (Malden, MA, Oxford, Victoria: Blackwell, 1990), 294–307, 336  f.; dahingegen verbleibt bei Karl Schlögels Ansatz des „spatial turn“ in den Geschichtswissenschaften Zeit schlicht als Chronologie, vgl.: Karl Schlögel, Im Raume lesen wir die Zeit. Über Zivilisationsgeschichte und Geopolitik (München, Wien: Carl Hanser, 2003), 9, 48.

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tern, die in der russländischen Lebenswelt erwachsen waren. Dieses Herkunftsbewusstsein blieb die Klammer des transnationalen Bund. Darum war der Transfer der scheinbar leicht zu verortenden doikayt alles andere als einfach. Vor allem müssen dabei die Konstellationen vor Ort berücksichtigt werden.

Grenzen und Möglichkeiten der doikayt im Migrationsprozess Diese Konstellationen boten zahlreiche Strukturen und Bedingungen, die für bundische Transfers von essenzieller Bedeutung waren. Darum muss zuerst noch in die Situation eingeführt werden, in die die Bundisten kamen, bevor ab Teil I die Geschichte des transnationalen Bund geschildert wird. Die USA und Argentinien im Allgemeinen und New York und Buenos Aires im Speziellen waren für jüdische Migranten aus dem Zarenreich und Polen die beliebtesten Häfen in Übersee. Für den Bund konnten die dortigen Bedingungen jedoch kaum unterschiedlicher sein. Eines jedoch war beiden Häfen gemein: Als der Bundist Abraham Brumberg 1941 in den Zeiten schlimmster Verfolgung und nach einer Flucht rund um den Globus in den USA ankam, erlebte er die bundische mishpokhe, die ihn aufnahm und ihm Heim und Hafen bot. Für ihn und viele andere Flüchtlinge war diese Immigrantengemeinschaft gefühlt an nahezu allen Orten der Welt vorhanden.96 Bis 1941 hatte sich die bundische mishpokhe vom jüdischen Siedlungsgebiet Russlands ausgehend in die Welt ausgedehnt. Vor 1905 hingegen, also anfangs der hier dargestellten Geschichte, war von ihr in keinem der transatlantischen Zielpunkte die Rede.

USA Als um 1900 die ersten Bundisten in die USA kamen, fanden sie zwar keinen Bund, wohl aber eine aktive jiddisch-sozialistische Landschaft vor. Deren wohl wichtigster Ausdruck war der gleichfalls wie der Bund 1897 gegründete ‚Forverts‘. Auf New Yorks Lower East Side brodelte das Leben auf Jiddisch und es surrten die SingerNähmaschinen. Die Stadt war Zentrum und Sonderfall jüdischer Geschichte zugleich. Zwischen 1904 und 1914 migrierten 1.4 Millionen russländischer Juden in die USA. Im Jahre 1907 lebten 47 % aller amerikanischen Juden in New York, was auch 1927 bei 44 % blieb. Aufgrund der Massenimmigration bedeutete dies eine 96 Abraham Brumberg, „From Vilna to San Francisco. Pages from a Diary“, in The Jews in Poland, hg. von Sławomir Kapralski (Krakau: Judaica Foundation, 1999), 75–84; Slucki, „The Bund Abroad in the Postwar Jewish World“.

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Steigerung um ungefähr eine Million jüdische Stadtbewohner.97 Dies klingt wie ein idealer Nährboden für den Bund, jedoch gab es dabei ein unüberwindbares ProbGröße jüdischer Gemeinden in den USA lem. 2000 1800

Größe in Tausend

1600 1400 1200 1000 800 600 400 200 0 1878

1907 New York

Chicago

Philadelphia

1927 Baltimore

San Francisco

Tafel 1: Populationszuwachs jüdischer Gemeinden in den USA, in Tausend. Zahlen nach: Lee Shai Weissbach, „The Jewish Communities ofden the United on the Tafel 1: Populationszuwachs jüdischer Gemeinden in USA, inStates Tausend. Eve of Mass Migration“, 84. Ab einer Größe von 10.000 im Jahr 1888, Brooklyn ist New York Zahlen nach: Lee Shai Weissbach, „The Jewish Communities of the United States on the Eve of Mass zugerechnet. Symbole geben Werte wieder, Linien verdeutlichen die Entwicklung. Migration“, 84. Ab einer Größe von 10.000 im Jahr 1888, Brooklyn ist New York zugerechnet. Symbole geben Werte wieder, Linien verdeutlichen die Entwicklung.

Den Bundisten war die amerikanische Arbeiterbewegung unbekannt und oft unverständlich. Während in Russland und anderen europäischen Staaten GewerkDen Bundisten war die amerikanische Arbeiterbewegung unbekannt und oft unverständlich. schaftsbewegung und sozialistische Parteien aufs Engste verknüpft waren, schien Während Russland Federation und anderen europäischen Staatenvor Gewerkschaftsbewegung sich in die American of Labor (AFL) geradezu sozialistischen Maximenund sozialistische Parteien aufs Mitgründer Engste verknüpft siches die zu fürchten. Deren Adolf waren, Strasserschien brachte auf American den Punkt:Federation „Wir ha- of ben kein Endziel. Wir bewegen uns von Tag zu Tag vorwärts. Wir kämpfen für ein Labor (AFL) geradezu vor sozialistischen Maximen zu fürchten. Deren Mitgründer Adolf 98 Programm, das in ein paar Jahren durchgeführt werden kann. “ Auch die unter auStrasser brachte es auf den Punkt: „Wir haben kein Endziel. Wir bewegen uns von Tag zu Tag toritärer Führung des Columbia University Absolventen Daniel de Leon stehende vorwärts. Wir kämpfen für ein Programm, das in ein paar Jahren durchgeführt werden kann.“102 Socialist Labor Party (SLP) zog die radikaleren Geister der europäischen Arbeite-

Auch die unter autoritärer Führung des Columbia University Absolventen Daniel de Leon

stehende Socialist Labor Party (SLP) zog die radikaleren Geister der europäischen 97 Zahlen aus: Lee Shai Weissbach, „The Jewish Communities of the United States on the Arbeiterimmigranten an. Näher lag da die um and den Bibliography“, aus dem Arbeitermilieu Eve of Massnicht Migration. Some Comments on 1901 Geography American Jewish History 78, Nr. 1 (1988): 84; Gerald Sorin, A Time for Building. The„von Thirdden stammenden Eugene Debs gegründete Socialist Party, die wie auch der Bund den Weg Migration 1880–1920, The Jewish People in America, III (Baltimore, London: John Gewerkschaften zum Sozialismus“ suchte.103 Der stete Zustrom an Migranten stärkte sie und Hopkins University Press, 1992), 137. machte98 sie zeitweilig zu einer der großen Parteien inGeschichte, den USA. Doch ihreProbleme Anbindung die AFL Greif Sander, Amerikas Gewerkschaften. Struktur, der an Gewerkschaften in den USA (Wiesbaden: Guido Pressler Verlag, 1966), 11 f. blieb aufgrund deren unpolitischer Haltung, die Samuel Gompers unter dem Schlagwort 102 103

Greif Sander, Amerikas Gewerkschaften. Geschichte, Struktur, Probleme der Gewerkschaften in den USA (Wiesbaden: Guido Pressler Verlag, 1966), 11 f. Daniel Guérin, Die amerikanische Arbeiterbewegung 1867–1967 (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1970), 37.

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rimmigranten nicht an. Näher lag da die 1901 um den aus dem Arbeitermilieu stammenden Eugene Debs gegründete Socialist Party, die wie auch der Bund den Weg „von den Gewerkschaften zum Sozialismus“ suchte.99 Der stete Zustrom an Migranten stärkte sie und machte sie zeitweilig zu einer der großen Parteien in den USA. Doch ihre Anbindung an die AFL blieb aufgrund deren unpolitischer Haltung, die Samuel Gompers unter dem Schlagwort „More“ zusammenfasste, konfliktreich.100 In zahlreichen Geschichten und Selbstdarstellungen der Arbeiterbewegung wird Abraham Lincoln mit den Worten zitiert: „All that harms labor is treason to America. […] I am glad to see a system of labor prevails under which laborers can strike when they want to“.101 Ob echt oder nicht,102 die Nutzung des Zitates verdeutlicht, dass die Führer der AFL sich durch Staatsnähe gestärkt sahen, dass sie Teil des nationalen Projektes sein wollten. Ihre ökonomistisch begrenzten Forderungen enttäuschten jedoch viele Arbeiter, weswegen die Führung der AFL zunehmend über die Köpfe und Forderungen der Arbeiter hinweg Politik machte.103 Im Gegensatz zum „House of Labor“ setzte die Socialist Party zum Angriff auf die Tempel der Macht an.104 Dies sahen sowohl die AFL als auch Theodore Roosevelt als neue Bedrohung. Dieser äußerte 1906, dass die Arbeiter zunehmend „bösartig“ seien und dass niemand wisse, „wie weit sich diese Unzufriedenheit noch ausdehnen wird“.105 Der „Donner von 99 Daniel Guérin, Die amerikanische Arbeiterbewegung 1867–1967 (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1970), 37. 100 Samuel Gompers, „What Does Labor Want?“, in The Samuel Gompers Papers, hg. von Stuart B. Kaufman und Peter J. Albert, Bd. 3 (Urbana: University of Illinois Press, 1986), 390–392. 101 ����������������������������������������������������������������������������������� Aus den Reden Abraham Lincolns (ca. 1854), z. B. zit. in: Richard O. Boyer und Herbert M. Morais, A History of the American Labor Movement (London: John Calder, 1956), 11. 102 Zweifel stärkte v. a.: Paul F. Jr. Boller und John George, They Never Said It: A Book of Fake Quotes, Misquotes, and Misleading Attributions (New York: Oxford University Press, 1989), 77 f. 103 Philip S. Foner, History of the Labor Movement in the United States, Vol. 2: From the Founding of the A. F. of L. to the Emergence of American Imperialism, 2 (New York: International Publishers, 1977), 391. 104 Diese Polarität spiegelt sich in der Historiographie, vgl. die vernichtende Kritik der AFL in: David A. Shannon, The Socialist Party of America. A History (New York: Macmillan, 1955); und deren Lobpreisung: Sidney Lens, Die amerikanischen Gewerkschaften. Die Geschichte ihrer Kämpfe und Erfolge (Frankfurt am Main: Verlag der Frankfurter Hefte, 1949), v. a. 35; derzeit wird v. a. die Breitenwirkung erforscht, vgl. z. B.: Jeffrey A. Johnson, „They are all Red Out Here“. Socialist Politics in the Pacific Northwest (Norman: University of Oklahoma Press, 2008). 105 Zit. in: Foster Rhea Dulles, Die Arbeiterbewegung in den USA. Geschichte der amerikanischen Gewerkschaften von ihren Anfängen bis heute (Paderborn, Zürich: Ferdi-

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links“, wie Rhea Forster Dulles ihn beschrieb, erfasste die Gewerkschaften nicht nur von links, sondern auch von unten. Besonders die neuen, oftUSA aus Osteuropa stamOsteuropäisch-jüdische Immigration in die menden Führerfiguren erregten dabei die ordnungsbewussten Gemüter.106 Absolut und anteilig, nach Herkunftsländern

180000 160000

Anzahl Einwanderer

140000 Russland Österreich-Ungarn Rumänien Nordamerika Weitere, inkl. Türkei

120000 100000 80000 60000 40000 20000 0 1881

1885

1890

1895

1900

1905

1910

1914

Tafel 2: Osteuropäisch-jüdische Immigration in die USA, 1881–1914 Zahlen nach: Moses Rischin, The Promised City. New York’s Jews, 1870–1914, [Orig.: 1962] Tafel 2: Osteuropäisch-jüdische Immigration in die USA, 1881–1914 (Cambridge Mass., London: Harvard University Press, 1977), 270. Zahlen nach: Moses Rischin, The Promised City. New York’s Jews, 1870–1914, [Orig.: 1962] (Cambridgegründete Mass., London: Harvard University Zugang Press, 1977), Die Radikalisierung im problematischen zum270. Arbeitsmarkt. In der Hochzeit des Nativism wurde häufig argumentiert, dass die neuen Einwanderer zu gering ausgebildet seien.107 Die damals häufig genutzten Statistiken ließen aber, Die Radikalisierung gründete im problematischen Zugang zum Arbeitsmarkt. In der Hochzeit wie Paul Douglass entlarvte, die jüdische Immigration wissentlich außen vor. UndesterNativism wurde häufig argumentiert, dass die Einwanderer gering ausgebildet jüdischen Immigranten war die Zahl derneuen gelernten Arbeiterzuvierfach höher als 111 Die damalsDurchschnitt, häufig genutzten ließen aber, wie Paul Douglass entlarvte, die seien. im damaligen dasStatistiken amerikanische Klassensystem stufte die Neulinge 108 aber ganz unten alswissentlich Billigarbeitskräfte Qualifizierte litten zudem abnehjüdische Immigration außen vor.ein. Unter jüdischen Immigranten war unter die Zahl der

gelernten Arbeiter vierfach höher als im damaligen Durchschnitt, das amerikanische

nand Schönigh, Thomas Verlag, 1956), 315. Klassensystem stufte die Neulinge aber ganz unten als Billigarbeitskräfte ein.112 Qualifizierte litten

106 Dies ging mit steigender Skepsis gegenüber den alten „labor leaders“ einher, vgl.: Lens, Die amerikanischen Gewerkschaften, 36 f. 107 Jeremiah W. Jenks und Jett Lauck, The Immigration Problem (New York et al.: Funk 111 Jeremiah W. Jenks und Jett Lauck,1912), The Immigration Problem et M. al.: Funk & Wagnalls Company, & Wagnalls Company, v. a. 31–33; siehe(New v. a.:York Alan Kraut, Silent Travelers: 1912), v. a. 31–33; siehe v. a.: Alan M. Kraut, Silent Travelers: Germs, Genes, and the „Immigrant Germs, Genes,et and the „Immigrant (Baltimore et al.: John and Hopkins Univ. Menace“ (Baltimore al.: John Hopkins Univ. Menace“ Press, 1995); Brian N. Fry, Nativism Immigration: Press,the1995); Brian Fry,York: Nativism and Pub., Immigration: Regulating American Regulating American DreamN. (New LFB Scholarly 2007); Peter Schrag, Not Fit the for Our Society: Nativism and Immigration (Berkeley, Cal.: University California Press,Schrag, 2010). Not Fit for Our Society: Dream (New York: LFB Scholarly Pub.,of2007); Peter 112 Samuel Joseph, Jewish Immigration to the United States from 1881 to 1910 (New York: Columbia University Nativism and Immigration (Berkeley, Cal.: University of California Press, 2010).dies gilt Press, 1914), 144 f.; siehe auch: Lederhendler, Jewish Immigrants and American Capitalism, 1880-1920; auchSamuel für deutsche undJewish schwedische Einwanderer, John States Bodnar,from The 1881 Transplanted. History of 108 Joseph, Immigration to thevgl.: United to 1910A(New York: Immigrants in Urban America (Bloomington: Indiana University Press, 1987), 63. Columbia University Press, 1914), 144 f.; siehe auch: Lederhendler, Jewish Immigrants

zudem unter abnehmenden Chancen auf einen Arbeitsplatz, denn obwohl der Anteil der

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menden Chancen auf einen Arbeitsplatz, denn obwohl der Anteil der qualifizierten Einwanderer von 1871–1882 (11.4 %) und 1899–1909 (16,6 %) um 50 % anstieg, fiel ihr Anteil unter den Beschäftigten von 22,9 auf 18,1 Prozent.109 Arbeiter mussten sich oft verschuldet als „Kleinunternehmer“ selbständig machen. Ihre Existenz fußte dann oft auf Knebelverträgen unter Risikoübernahme für eigentliche Arbeitnehmertätigkeiten.110 Das contracting system lagerte hochgradig differenzierte und ausbildungsfreie Arbeitsschritte (z. B. Taschen annähen o. Ä.) und jegliches Risiko an Auftragnehmer aus. Es führte nicht zum „fabelhaften amerikanischen Reichtum“ der von Gustav Myers kritisierten „Yankeemilliardäre“ anderer Branchen, sondern dazu, dass „(Ironie über Ironie!) die Männer, Frauen und Kinder, die unendliche Mengen von Wollstoff produzieren, (…) nicht einmal angemessene Unterkleidung“ hatten.111 Nicht selten waren fünf, sechs oder acht Personen in einem Raum zum Schlafen zusammengedrängt.112 Das Durchschnittseinkommen einer Arbeiterfamilie lag Anfang des 20. Jahrhunderts, dem Soziologen Charles S. Bernheimer folgend, bei ungefähr 15 Dollar pro Woche.113 Nach einer Krise 1908 sank es jedoch deutlich und wurde durch nachfolgende Immigration immer weiter gedrückt. Das U. S. Bureau of Labor stellte fest, dass 90,7 % der Arbeiter in New York einen Wochenlohn von unter 10 Dollar, Arbeiterinnen gar nur 7 Dollar erhielten. Die den Lebensstandard zumindest sichernden 12 Dollar pro Woche bekämen gerade einmal 5 % der Näher und Näherinnen.114 Auf dem hochgradig differenzierten und vom contracting bestimmten US-amerikanischen Arbeitsmarkt waren Netzwerke darum einerseits and American Capitalism, 1880–1920; dies gilt auch für deutsche und schwedische Einwanderer, vgl.: John Bodnar, The Transplanted. A History of Immigrants in Urban America (Bloomington: Indiana University Press, 1987), 63. 109 ��������������������������������������������������������������������������������� Paul H. Douglass, „Is the New Immigration More Unskilled than the Old?“, Publications of the American Statistical Assiciation 16, Nr. 126 (1919): 393, 401 f. 110 Roger Waldinger, „Immigrant Enterprise in the New York Garment Industry“, Social Problems 32, Nr. 1 (1984): 60–71; Roger David Waldinger, Ethnic Entrepreneurs. Immigrant Business in Industrial Societies (Newbury Park et al.: Sage, 1990); Edna Bonacich, „The Other Side of Ethnic Entrepeneurship: A Dialogue with Waldinger, Aldrich, Ward and Associates“, International Migration Review 27, Nr. 3: 685–692; Stimmen der Immigranten z. B. in Ewa Morawska, Insecure Prosperity. Small-Town Jews in Industrial America, 1890–1914 (Princeton, NJ: Princeton University Press, 1996), v. a. 216. 111 Gustavus Myers, Geschichte der großen amerikanischen Vermögen, Vol. 1, [Orig.: 1910] (Berlin: S. Fischer, 1916), XVII, 774. 112 Ebd., 775. 113 Charles S. Bernheimer, „The Jewish Immigrant as an Industrial Worker“, Annals of the American Academy of Political and Social Science 33, Nr. 2 (1909): 175–182. 114 Zit. in: Myers, Geschichte der großen amerikanischen Vermögen, Vol. 1, 775.

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wichtig, um an bessere Jobs zu kommen, andererseits banden diese Netzwerke aber an die Immigrantengemeinschaften. So führten sie sowohl in Abhängigkeiten als auch in politische Organisationen.115 Auf der Lower East Side trafen die kollektive sozialistische Identität und der „American Dream“ hart aufeinander. Die Immigrantenviertel wurden in der erzkonservativen ‚Saturday Evening Post‘ als „hotbeds of dissent, unrest, sedition and anarchy“ beschrieben, gekennzeichnet durch eine „inconveniently large portion of the new immigrants float[ing] around in unsightly indigestible lumps.116 ��������� Die russländischen Juden waren den ‚Chicago News’ zufolge die härtesten Fälle, denn sie seien „not the kind of people to become Americanized because of their clannishness and bigotry.“ Schon 1892 mahnte der renommierte und sich damals im Amt befindliche commisioner of immigration, Francis Walker im ,Literary Digest‘, dass die Immigranten „a menace to the rate of wages and the American standard of living“ seien. „Living like swine“ seien sie „the greatest danger that American labor has ever known“.117 Solche Töne mehrten sich bis in die 1920er-Jahre, was zur Einführung der restriktiven Quotierung der Einwanderung 1924 führte, die vor allem süd- und osteuropäischen Immigranten die Tore zum „Promised Land“ verschloss. Die Schattenseiten des Industriekapitalismus wurden auf die von Emma Lazarus besungenen „tired“, „poor“ und „huddled masses yearning to breath free“ abgewälzt und ihnen wurden sowohl ihre Armut als auch ihre Gegenwehr gegen diese zum Vorwurf gemacht. Im Gegensatz zu zahlreichen Äußerungen ist der US-amerikanische Sozialismus weder an seinem Theoriemangel zu fassen,118 noch ist es korrekt zu behaupten, es habe ihn nie gegeben.119 Zahlreichen osteuropäischen Immigranten erschien er aufgrund der Differenz zwischen Sozialismus und Arbeiterbewegung jedoch als eine abgekühlte Form des bekannten Sozialismus, als ein Sozialismus auf Eis. Bereits 1870 wies der amerikanische religiös-revolutionäre Sozialist John Humphrey Noyes in seiner voluminösen „History of American Socialisms“ darauf hin, dass es gerade 115 Theresa Wolfson, „Role of ILGWU in Stabilizing the Women’s Garment Industry“, Industrial and Labor Relations Review 4, Nr. 1 (1950): 33–43; Ivan Hubert Light und Parminder Bhachu, Immigration and Entrepreneurship: Culture, Capital, and Ethnic Networks (New Jersey: Transaction Publishers, 1993). 116 ���������������������������������������������������������������������������������� Rita J. Simon, In the Golden Land: A Century of Russian and Soviet Jewish Immigration in America (Westport Conn.: Praeger, 1997), 15. 117 Zit. in: Ebd., 17. 118 So z. B.: Ehud Manor, Forward. The Jewish Daily Forward (Forverts) Newspaper. Immigrants, Socialism and Jewish Politics in New York, 1890–1917 (Brighton, Portland, OR: Sussex Academic Press, 2009), 14 f., 106 ff. 119 Seymour M. Lipset und Gary Marks, It Didn’t Happen Here: Why Socialism Failed in the United States (New York et al.: Norton, 2000).

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der experimentelle Charakter der amerikanischen Gesellschaftsentwicklung sei, der aus den USA „a laboratory in which Socialisms of all kinds have been experimenting“ gemacht habe.120 Wie er begriffen viele Beobachter, darunter Friedrich Engels und Werner Sombart, dies als einen Makel, denn man müsse aus diesen Experimenten lernen, um daraus einen Sozialismus zu formen.121 Diese politische Forderung hinterließ in der Geschichtswissenschaft Spuren, oft wurde fehlende Einheit bemängelt, anstatt die Pluralität zu untersuchen.122 Dies bedeutet aber zuvorderst, Sozialismus wieder als elementaren Bestandteil der jüdischen Geschichte in den USA zu verstehen. Wie Toni Michels darstellt, hatten vorherige Historikergenerationen jüdischer Geschichte in den USA ein Interesse daran, die sozialistische Vergangenheit der Mehrheit der jüdischen Einwanderer zu marginalisieren, um sie in die nationalen Meistererzählungen sowohl der USA als auch Israels einzufügen.123 Das „Jüdische Jahrhundert“, wie Yuri Slezkine es überspitzt formulierte, kann im jüdischen Revolutionär bestenfalls einen Pionier einer liberalen Moderne sehen, keinesfalls jedoch einen sperrigen und in verschiedenen Zeitebenen verhafteten, kollektiven Akteur.124 Ein solcher Ansatz ist aber besonders für die Geschichte der USA notwendig, da Einwanderergruppen unterschiedliche Latenzen für radikale Inhalte und Organisationen aufwiesen. Sammelpunkt war dafür oft die Socialist Party, die zumindest zeitweise zu einem eindrucksvollen politischen Akteur wurde. Trotz einer gegen sie ausgerichteten Presseöffentlichkeit erreichte Eugene Debs 1904 im Rennen um die 120 John Humphrey Noyes, History of American Socialisms (New York: Dover, 1966), XIX. 121 Ebd., 671 f.; Werner Sombart, Warum gibt es in den Vereinigten Staaten keinen Sozialismus? (Tübingen: J.C.B. Mohr, 1906), 7; vgl. Engels, Friedrich, Vorwort zur amerikanischen Ausgabe von „Die Lage der arbeitenden Klasse in England“, 1887: MEW, Bd. 3 (Berlin: Dietz, 1969). 122 In fast jeder beliebigen Geschichte des Sozialismus zu finden, vgl. z. B. Albert Fried, Hrsg., Socialism in America: From the Shakers to the Third International. ������� A Documentary History (New York: Anchor Books, 1970); eine auf Theorie fokussierende frühe Ausnahme: René Dumont und Marcel Mazoyer, Développement et socialismes (Paris: Édition du Seuil, 1969); grundlegend: Tony Wright, Socialisms: Old and New, 2. Edition [Orig.: 1986] (New York et al.: Routledge, 1996), xiv, 1. 123 Tony Michels, „Socialism and the Writing of American Jewish History: World of Our Fathers Revisited“, American Jewish History 88, Nr. 4 (2000): 521–546; David G. Roskies, The Jewish Search for a Usable Past (Bloomington: Indiana University Press, 1999); zu Howes Einschätzung, dass Assimilation und Professionalisierung den Sozialsmus entbehrlich machten: William M. Chace, „On the Margin. Irving Howe Reconsidered“, Common Knowledge 14, Nr. 2: 270. 124 Yuri Slezkine, Das jüdische Jahrhundert (Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2006), hier v. a. 131–141, 152–162, 170 ff.

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Präsidentschaft stattliche 400.000 Stimmen. Damit übertraf er nicht nur die damalige Mitgliederzahl der Partei um das Zehnfache, was für einen gewaltigen Mobilisierungserfolg steht, sondern er vervierfachte auch die Stimmen im Vergleich zu seinem bereits als sensationell gefeierten Erfolg aus dem Jahre 1900 vor der Gründung der Socialist Party. Bis 1912 wuchsen die Partei und der Zuspruch zu ihr stark an, bei der Präsidentschaftswahl 1912 erlangte Debs 897.000 oder 6 % aller Stimmen.125 Es wäre aber ungerechtfertigt, daraus eine nationale Schlagkraft der Socialist Party oder gar des Sozialismus abzuleiten. Die Stimmen verteilten sich nicht gleichmäßig über das Land, die Ballung in urbanen Zentren wurde durch die andernorts herrschende Red Scare aufgewogen. So wurde die Socialist Party unter dem glänzenden Rhetoriker Eugene V. Debs zu einer Lokalmacht, die dann aber weit über die Parteigrenzen hinaus wirkte.126 Wahlstimmen spiegeln zudem nur Zustimmung unter Wahlberechtigten, die Wirkung der Socialist Party unter frischen Immigranten war wesentlich höher. Unter den jüdischen Migranten blühte ein spezifischer Sozialismus, der zwischen Ost und West ebenso vermittelte wie zwischen sozioökonomischen Forderungen und der Kulturarbeit für die yidishkayt. Weithin sichtbar vertreten wurde dies von Organisationen wie dem Arbeter-ring, dem Yidishn sotsyalistishn farband und entsprechenden Zweigen der ILGWU, die allesamt von bundistischen Immigranten geformt wurden und nur aufgrund des Transfers bundischer Praktiken und Zielsetzungen erfolgreich wurden. Da sie jedoch nie zum Bund gehörten, sind sie als „sekundärbundistische Organisationen“ zu verstehen. In der amerikanischen Geschichte wird der Niedergang der Socialist Party ab 1912 diagnostiziert. Erst infolge der Great Depression und der charismatischen Führerschaft von Norman Thomas sei sie später kurzzeitig wieder aufgetaucht. Diesen „Verfall“ arbeitete James Weinstein bereits 1967 heraus, wobei als wichtigster Indikator des Niederganges, der unbestreitbar stattfand, die Auflagenzahl der sozialistischen Tageszeitungen diente. Diese brachen in den Jahren um den Ersten Weltkrieg katastrophal ein. Der rein jiddische ‚Forverts‘ hingegen wuchs in bis dato 125 Bis in die Mitte der zwanziger Jahre fanden regelmäßig sozialistische Abgeordnete den Weg in den Kongress. Auch standen viele Städte (33 im Jahre 1911, worunter sich auch wichtige Städte wie Milwaukee, Flint und Jackson/Michigan und Berkeley/Californien befanden) unter einem sozialistischen Bürgermeister. Vgl.: Shannon, The Socialist Party of America, 5. 126 Aktuell v. a.: Ernest Freeberg, Democracy’s Prisoner: Eugene V. Debs, the Great War, and the Right to Dissent (Cambridge Mass., London: Harvard University Press, 2008); Nick Salvatore, Eugene V. Debs: Citizen and Socialist, 2. Edition (Urbana: University of Illinois Press, 2007); Einblicke in seine kraftvolle Rhetorik geben: Eugene V. Debs, Writings of Eugene V. Debs: A Collection of America’s Most Famous Socialist (St. Petersburg, FLA: Red and Black Publisher, 2009); Jean Y. Tussey, Hrsg., Eugene V. Debs Speaks (New York: Pathfinder, 1970).

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unbekannte Höhen. In genau diesen Jahren erreichte eine tägliche Maximalauflage von ungefähr 275.000 Exemplaren, was ihn zur zweitstärksten sozialistischen Tageszeitung der USA überhaupt machte.127 Auch feierte in diesen Jahren des „Niederganges“ Meyer London, der Kandidat der Lower East Side, als erster sozialistischer Kongressabgeordneter sensationelle Erfolge. Er war nur durch eine Neuverteilung der Wahlbezirke zu stoppen. Auf der Lower East Side liefen die politischen Uhren anders, hier wuchs der Sozialismus mit der Höhe der Gebäude Manhattans.128 Dahin gehend ist es bezeichnend, dass das 1912 eingeweihte Gebäude der Forverts Association das höchste dieses New Yorker Stadtteils war. Somit fungierte der ‚Forverts‘ als wichtiges Bindeglied im Migrationsprozess. Seine starke Amerikanisierungstendenz, die Ehud Manor als gänzlich unsozialistisch verdammt, war vielmehr eine Bedingung dafür, dass der ‚Forverts‘ seinen Sozialismus in den USA überhaupt ausdrücken konnte.129 Im Gesamten wird in der Forschung oft betont, dass die russländischen Immigranten für die Geschichte der amerikanischen Arbeiterbewegung von größter Bedeutung gewesen seien. Allerdings wird diese Geschichte bestenfalls als Herkunft, nicht jedoch als zeitgleich stattfindende und verwobene Geschichte verstanden.130 Erst jüngst taucht diese Geschichte abseits nationaler Narrative oder Relevanzmodelle auf, wobei jedoch Transferdynamiken und kausale Vernetzungen zwischen den Bewegungen und Phänomenen in Osteuropa und in Übersee kaum betrachtet werden.131 Die vorliegende Arbeit knüpft darum an eine bestehende Diskussion um 127 ������������������������������������������������������������������������������� James Weinstein, The Decline of Socialism in America, 1912–1925 (New York, London: Monthly Review Press, 1967), 84–102. 128 Nathan Glazer und Daniel P. Moynihan, Beyond the Melting Pot: The Negroes, Puerto Ricans, Jews, Italians, and Irish of New York City, 2 (Cambridge Mass., London: MIT press Cambridge, 1970), 137 ff. 129 Manor, Forward, 44 f. 130 Unter vielen siehe v. a.: Bernard D. Weinryb, „The Adaptation of Jewish Labor Groups to American Life“, Jewish Social Studies 8 (1946): 219–244; Ezra Mendelsohn, „The Russian Roots of the American Jewish Labor Movement“, YIVO Annual of Jewish Social Science 16 (1976): 150–177; Arthur Liebman, Jews and the Left (New York et al.: John Wiley & Sons, 1979); Levin, While Messias Tarried; Gerald Sorin, The Prophetic Minority: American Jewish Immigrant Radicals, 1880–1920 (Bloomington: Indiana University Press, 1985); Nan Enstad, Ladies of Labor, Girls of Adventure. Working Women, Popular Culture, and Labor Politics at the Turn of the Twentieth Century (New York, Chichester, West Sussex: Columbia University Press, 1999); Daniel E. Bender, Sweated Work, Weak Bodies: Anti-Sweatshop Campaigns and Languages of Labor (New Brunswick, NJ: Rutgers University Press, 2004); stärkere Betonung der yidishkayt bei Michels, A Fire in Their Hearts. 131 Tony Michels, „Exporting Yiddish Socialism: New York’s Role in the Russian Workers’ Movement“, Jewish Social Studies 16, Nr. 1 (2009): 1–26; Katz, All Together Different.

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die Präsenz der russländischen Arbeiterbewegung in Übersee an, trägt sie aber ins Transnationale und betont Wechselwirkungen und Transfers russländischer sozialistischer Praktiken in der funktional differenzierten jüdischen Arbeiterbewegung in den USA. Darüber hinaus stellt sie die Geschichte der jüdischen Sozialisten in den USA in einen Zusammenhang zu ihren Genossen in Argentinien, dem zweitwichtigsten transatlantischen Einwanderungsland.

Argentinien Wie auch im Fall der USA setzte die jüdische Migration aus Osteuropa nach Argentinien in den 1880er-Jahren ein, blieb hier aber lange Zeit sehr spärlich. Erst ab ungefähr 1904 schoss sie in die Höhe, was die traditionell US-zentristische jüdische Migrationsgeschichte derzeit zum Umdenken anregt.132 Argentinien wurde nach den USA das beliebteste transatlantische Auswanderungsziel osteuropäischer Juden, weit vor Palästina. Global wurde es nur von Nahzielen wie London übertroffen.133 Im Gegensatz zu den USA ging dieser Einwanderung keine signifikante deutsch-jüdische Immigration voraus. Weiterhin war hier in der Anfangszeit aufgrund der Arbeit der Jewish Colonization Association (ICA) die „assisted migration“ bedeutend.134 Die 1888 gegründete und in Paris ansässige ICA nutzte die seit 1876 im ersten argentinischen Immigrationsgesetz (Gesetz Nr. 817) festgelegte Synonymisierung von Immigration mit Kolonisation zu ihren Gunsten und begann im großen Stil, jüdische Agrarkolonien in den Provinzen zu errichten.135 Zuvor hatte bereits der Argentinier José Mariá Bustos 132 ���������������������������������������������������������������������������������� Sie z. B.: Lloyd P. Gartner, „The Great Jewish Migration - Its East European Background“, Tel Aviver Jahrbuch für Deutsche Geschichte 27 (1998): 111; Im Gegenzug, siehe: Judith Laikin Elkin, Jews of the Latin American Republics (New York: University of North Carolina Press, 1980); Jose C. Moya, „The Positive Side of Stereotypes: Jewish Anarchists in Early-twentieth-Century Buenos Aires“, Jewish History 18, Nr. 1 (2004): 19–48; Kobrin, Jewish Bialystok and Its Diaspora; Lipphardt, Vilne. 133 ����������������������������������������������������������������������������������� Jacob Lestchinsky, „Jewish Migrations, 1840–1956“, in The Jews. Their History, Culture and Religion, hg. von Louis Finkelstein (New York: The Jewish Publication Society of America, 1960), 1536–1596. 134 Diese war keineswegs ein Sonderfall, vgl.: Gerard P. Moran, Sending Out Ireland’s Poor: Assisted Emigration to NorthAmerica in the Nineteenth Century (Dublin: Four Courts Press, 2004). 135 Das Ziel war wörtlich: „Dirigir la inmigración a los puntos que el Poder Ejecutivo, de acuerdo con la Oficina de Tierras y Colonias, designen para colonizar.“ Zitationen aus dem Gesetz nach der Ausgabe: República Argentina. Ministerio de Agricultura de la Nación, Ley de inmigración No. 817 y decretos reglamentarios (Buenos Aires, 1920)., hier S. 5f, weiterhin: Morton D Winsberg, Colonia Baron Hirsch, a Jewish Agricul-

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im Nationaldekret Nummer 12.011 die Erlaubnis zugesprochen bekommen, sich gezielt um die Einwanderung der russischen Juden zu bemühen. Diese „Einladung der jüdischen Immigranten“136 besagte, dass die im Gesetz 817 benannten „agentes de inmigración en el exterior“ sich nun auch gezielt um die jüdische Bevölkerung Osteuropas bemühen sollten. Die Rolle eines solchen Agenten übernahmen dann Organisationen wie die ICA, die ab 1892 per Nationaldekret Unterstützung durch den argentinischen Staat erfuhr.137 Die Ansiedlung weißer Kolonisten ging zudem mit einer aggressiven und genozidalen Politik an den Indios einher.138 Die jüdische Migration war, im Gegensatz zum oft gängigen „Pogrom-Paradigma“, keine direkte Folge von Zwangsmigration, Gewalt und Vertreibung, sondern in Charles Tillys Worten großteils „career“ oder „betterment migration“.139 Diese untural Colony in Argentina (Gainesville: University of Florida Press, 1964); Haim Avni, Argentina y la historia de la inmigración judía (1810 - 1950) ( Jerusalem: Ed. Univ. Magnes, AMIA, 1983). 136 Siehe: Marta Yedlin, „Moisesville: un punto de partida“, in Los inmigrantes judíos: Pioneros de la Argentina, hg. von Martha Wolff (Buenos Aires, Argentina: M. Zago Ediciónes, 1982), 8. 137 Félix Vivas Lencinas, Judíos en Argentina: Aspectos desconocidos de la inmigración (Córdoba: Lerner, 1994), 103 f.; Haim Avni, Argentine, „the Promised Land“. Baron de Hirsch’s Colonization Project in the Argentine Republic ( Jerusalem: Magnes Press, Hebrew University, 1973). 138 Besonders sticht dabei die von Julio Argentino Roca geführte „Zivilisierungsmission“ in Patagonien hervor, bei der im Prinzip sämtliche dort lebenden Indios ermordet wurden. 1880–1886 und 1898–1904 war Roca zudem argentinischer Präsident, also genau in jener Phase, in der die häufig verherrlichte Kolonisation stattfand. Sein Porträt ziert noch heute den größten argentinischen Geldschein, den 100-Pesos-Schein. Die ����������� Regierung begründet dies mit: „Prepara y conduce la campaña de la Conquista del Desierto (1875–1879) que contribuyó significativamente al desenvolvimiento de la economía agropecuaria.“ http://www.bcra.gov.ar/bilmon/bm010600.asp, 11. 01. 2009; Die neue Forschung sieht im Genozid vor allem eine nicht ausreichend aufgearbeitete Grundbedingung argentinischer Staatlichkeit, vgl.: Héctor Hugo Trinchero, „Las masacres del olvido. Napalpí y Rincón Bomba en la genealogía del genocido y el racismo de estado en la Argentina“, RUNA 30, Nr. 1 (2009): 45–60; Walter Delrio, Diana Lenton et al., „Discussing Indigenous Genocide in Argentina: Past, Present, and Consequences of Argentinean State Policies toward Native Peoples“, Genocide Studies and Prevention 5, Nr. 2 (2010): 138–159. Die Verharmlosung des genozidalen Charakters der Kolonisation rief auch schräge Parallelen zur jüdischen Geschichte hervor, siehe z. B.: Ward Churchill, A Little Matter of Genocide: Holocaust and Denial in the Americas, 1492 to the Present (San Francisco: City Lights Publishers, 1997). 139 ������������������������������������������������������������������������������� Charles Tilly, „Migration in Modern European History“, in Human Migration. Patterns and Policies, hg. von William H. McNeill und Ruth S. Adams (Bloomington: Indiana University Press, 1978), 48–72; weiterhin: Carl Solberg, „Mass Migrations

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terscheidet, wie Jochen Oltmer darstellt, zwischen „Herkunftsraum und Zielgebiet vornehmlich durch wirtschaftliche Gefälle […] einzelne[r] Marktsegmente regionale Reichweite“.140 Dadurch erhielt die aufstrebende Wirtschaftsnation Argentinien eine Anziehungskraft, die bei jüdischen Migranten zur Verklärung zu einem weiteren „Promised Land“ neben den USA führte.141 Der Vertreter der ICA in Argentinien David Feinberg lobpries das eigene Werk, welches den aus Russland kommenden „lean and piti-full looking Jew“ durch „free and healthy care of the country, physical labor and etc.“ komplett verwandelt habe.142 Die Kolonien aber waren Agrarkolonien. Die damit verbundene Lebensart stand im größten Widerspruch zu den in landwirtschaftlichen Belangen vollkommen ungebildeten Schtetlbewohnern, denen im Zarenreich Neusiedlungen auf dem Land seit 1882 explizit untersagt waren.143 Die Kolonien scheiterten großteils nach kurzer Zeit. Dass sie aber in der argentinisch-jüdischen Literatur viel stärker als das urbane Leben in der Hauptstadt reflektiert werden, ist ein andauernder Beitrag zur Mystifizierung jüdischen Lebens in Argentinien. Kolonien wie Moisesville sollten jedoch eher als „Idee“ denn als entscheidende Siedlungsstrukturen betrachtet werden.144 Ebenso wie der „Gaucho Judio“ sind sie Konstruktionen eines „produkti-

140 141

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in Argentina, 1870–1970“, in Human Migration: Patterns and Policies, hg. von William H. McNeill und Ruth S. Adams (Bloomington: Indiana University Press, 1978), 146–170; John D. Klier, „The Pogrom Paradigm in Russian History“, in Pogroms: Anti-Jewish Violence in Modern Russian History, hg. von John D. Klier und Shlomo Lambroza (Cambridge: Cambridge University Press, 1992), 13–38; Fernando Devoto, Historia de la Inmigración en la Argentina (Buenos Aires: Editorial Sudamericana, 2003), 36–42. Jochen Oltmer, „Einführung: Europäische Migrationsverhältnisse und Migrationsregime in der Neuzeit“, Geschichte und Gesellschaft 35, Nr. 1 (2009): 8 f. Avni, Argentine, „the Promised Land“. Dies wirkt bis heute als ein autobiographisches Motiv, vor allem wenn die Lebensgeschichten eng an die ICA gebunden werden, vgl. z. B. Samuel Aizicovich, Viaje al país de la esperanza (Buenos Aires, Argentina: Editorial Mila, 2006). Zit. in: Eugene F Sofer, From Pale to Pampa: A Social History of the Jews of Buenos Aires (New York: Holmes & Meier, 1982), 2. Eine Kurzdarstellung der Agrarisierungsbestrebungen: Jonathan Dekel-Chen, Farming the Red Land: Jewish Agricultural Colonization and Local Soviet Power, 1924–1941 (New Haven: Yale University Press, 2005), 1–10. Yedlin, „Moisesville“, 12; als Beispiele für die lange und internationale Traditierung, siehe: Francisco L. Barra, La inmigración en la República Argentina. Informe rendido á las Secretarías de Relaciones Exteriores y de Fomento; Colonización é Industria de los Estados Unidos Mexicanos (Buenos Aires: Compañía Sud-Americana de Billetes de Banco, 1904), 46 f.; Avni, Argentine, „the Promised Land“; Boleslao Lewin, Cómo Fue La Inmigración Judía a La Argentina (Buenos Aires: Plus Ultra, 1971); Avni, Argentina y la historia de la inmigración judía; Vivas Lencinas, Judiós en Argentina; etwas kri-

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ven“ jüdischen Ursprungsmythos, dessen rhetorische Gewichtung keiner sozialhistorischen Überprüfung standhält.145 Trocken hält Eugene Sofer darum fest: „The colonies meant locusts, Indians, hostile neighbors, and disease. In the end Baron’s dreams of a Jewish yeomanry foundered on the problems of Argentine rural life.“146 1895 lebten nur 13,3 Prozent der wenigen argentinischen Juden in Buenos Aires, 1935 lebten nur noch 11 Prozent auf dem Land.147 Magnetisch war allein Buenos Aires und so beförderte die agrarisch motivierte „assisted migration“ vor allem Urbanisierung und Proletarisierung.148 Argentinien wurde, abgesehen von einer kurzen Phase in den 1880er-Jahren, als die Regierung Gratispassagen verschenkte, erst Anfang des 20. Jahrhunderts zu einem Ziel der Massenimmigration mit über 100.000 Ankommenden pro Jahr.149 Durch die Immigration wurde die Großregion am Rio de la Plata von einstigen „backwater of the Iberian Empires“ um 1900 herum zur „most developed region of Latin America“, was sich ab 1900 vor allem am Ausbau der Stadt Buenos Aires und der sozialen

tischer: Silvia Schenkolewski-Kroll, „El cooperativismo agrícola judío en la Argentina. Su funcíon socioeconómica y su identidad étnica. 1901–1948“, Judaica latinamericano 4 (2001): 47–61. 145 Alberto Gerchunoff, Los gauchos judíos: El hombre que habló en la sorbona (Buenos Aires: Biblioteca Nacional, 2007); Edna Aizenberg, „Translating Gerchunoff “, Judaica latinoamericana: Estudios histórico-sociales 4 (1988): 403–409; Schenkolewski-Kroll, „El cooperativismo agrícola judío“, 49 f.; Siehe z. B.: Walter Bruno Berg, „Criollos y criollismo: Genese und Funktion historischer Begriffsbildung im Überschneidungsgebiet von Literatur- und Geschichtswissenschaft“, in Literarische Begegnungen. ����� Romanische Studien zur kulturellen Identität, Differenz und Alterität, hg. von Frank Leinen (Berlin: Erich Schmidt, 2002), 273–286; Judith Freidenberg, The Invention of the Jewish Gaucho. �������������������������������������������������������������������� Villa Clara and the Construction of Argentine Identity (Austin: University of Texas Press, 2009), zum „agrarian myth“, siehe: Richard Hofstadter, The Age of Reform; from Bryan to F. D. R, (New York: Knopf, 1956). 146 Sofer, From Pale to Pampa, 3. 147 Ebd. 148 Daniel K. Lewis, The History of Argentina (Westport, Conn. et al.: Greenwood Press, 2001); Roberto Cortés Conde, The Political Economy of Argentina in the Twentieth Century (Cambridge, New York et al.: Cambridge University Press, 2009). 149 ������������������������������������������������������������������������������������� Alfredo E. Ves Losada, Inmigración en la República Argentina. Breve estudio de caracter historico, consticional y estadistico (La Plata: Univ. Diss., Universidad nacional de La Plata. Facultad de ciencias jurídicas y sociales, 1917), 36 f.

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Segregation in ihr ausdrückte.150 „Making a Living“ und „Making America“ gingen Einwanderung nach Argentinien, 1857-1924 hier Hand in Hand.151 2. und 3. Klasse, transatlantisch, absolute Zahlen 350000 300000

Anzahl

250000 200000 150000 100000 50000 0 1860 1857

1870 Unter 100.000 p.A.

1880

1890

Massenimmigration

1900

1910

1920

1924

Gratispassagen

Tafel 3: Einwanderung nachArgentinien, Argentinien, 1857–1924 Tafel 3: Einwanderung nach 1857–1924 Tickets 2. und 3. Klasse, transatlantisch, absolute Zahlen. Tickets 2. und 3. Klasse, transatlantisch, absolute Zahlen.

Zahlen G. Beyhaut u. a., Inmigración y desarrollo económico Aires: de Zahlen nach: nach: G. Beyhaut u. a., Inmigración y desarrollo económico (Buenos(Buenos Aires: Dep. deDep. Sociología, Sociología, de Buenos Aires,Abb. 1961),Sexo Abb.de Sexo los inmigrantes, 1857–1924 Univ. deUniv. Buenos Aires, 1961), los de inmigrantes, 1857–1924 [o. S.].[o. S.].

Argentinien wurde, abgesehenBehörden von einer kurzen den nicht 1880er-Jahren, als die Regierung Da die argentinischen nur amPhase Passinund an der Ethnizität der Ein-

Gratispassagen verschenkte, erst istAnfang des 20. Jahrhunderts zu einem Ziel der wanderer interessiert waren, die jüdische Migration nach Argentinien nur schwer

zu beziffern. Juden wurden pauschal unter der „andere Religionen“ gelisdie Immigration wurde Massenimmigration mit über 100.000 Ankommenden proKategorie Jahr.153 Durch

Den besten Anhaltspunkt dietet. Großregion am Rio de la Plata von liefern einstigenSchätzungen „backwater of jüdischer the Iberian Hilfsorganisationen. Empires“ um 1900 Die wichtigste Studie verfasste Jahr 1935 Simón Weill, dervor damalige herum zur „most developed region of im Latin America“, was sich ab 1900 allem amVorsitzende Ausbau

des HICEM in Argentinien. Dies war auch nötig, da das American Jewish Year Book nun jährlich Zahlen erfragte. Diese gaben aber jedoch nicht (wie unter vielen „Making America“ gingen hier Hand in Hand.155 das American Jewish Year Book, Marc Wishnitzer und Chaim Avni behaupteten) DaEinwanderungszahlen, die argentinischen Behörden nur am Pass die undNettozuwanderung nicht an der Ethnizität der Einwanderer sondern allein wieder, also die jährinteressiert waren, ist die jüdischeabzüglich Migration nach Argentinien nurInschwer beziffern. Juden liche Gesamtimmigration der Emigration. einer zu von Transmigration wurden pauschal unter der Kategorie „andere Religionen“ Den besten geprägten Weltregion wie Lateinamerika ist diesergelistet. Unterschied von Anhaltspunkt größter Bedeu-

der Stadt Buenos Aires und der sozialen Segregation in ihr ausdrückte.154 „Making a Living“ und

Alfredo E. Ves Losada, Inmigración en la República Argentina. Breve estudio de caracter historico, consticional y estadistico (La Plata: Univ. Diss., Universidad nacional de La Plata. Facultad de ciencias jurídicas y sociales, 1917), 36 f. Zit.: José C Moya, „A Continent of Immigrants: Postcolonial Shifts in the Western 154 150 Zit.: José C Moya, „A Continent of Immigrants: Postcolonial Shifts in the Western Hemisphere“, Hispanic American Historical Review, Nr. 1 American (2006): 11; ausführlich in: Review, José C Moya, and Strangers: Spanish in: Hemisphere“, Hispanic Historical Nr.Cousins 1 (2006): 11; ausführlich Immigrants in Buenos Aires, 1850-1930 (Berkeley, Los Angeles: Univ. of California Press, 1998). José C Moya, Cousins and Strangers: Spanish Immigrants in Buenos Aires, 1850–1930 155 Moya, Cousins and Strangers, 205–218. 153

(Berkeley, Los Angeles: Univ. of California Press, 1998). 151 Moya, Cousins and Strangers, 205–218.

Anwachsen der jüdischen Gemeinde Argentiniens durch Migration und natürliche Reproduktion als Nettowert, nicht die durch Argentinien stattfindende Transmigration. Seine Zahlen sind aus 54 migrationshistorischer Sicht darum Mindestwerte.

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tung.152 Weill interessierte allein das Anwachsen der jüdischen Gemeinde Argentiniens durch Migration und natürliche Reproduktion als Nettowert, nicht die durch Jüdische Migration nach Argentinien, Argentinien stattfindende Transmigration. Seine Zahlen sind1900-1939 aus migrationshistorischer Sicht darum Mindestwerte. Jährliche absolute Nettozuwanderung 16000 14000 12000 10000 8000 6000 4000 2000 0 1900

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Tafel 4: Jährliche jüdische Nettozuwanderung nach Argentinien, 1900–1939 Zahlen aus: Simónjüdische Weill, Población Israelita an la República Argentina. 1900–1939 Conferencia Tafel 4: Jährliche Nettozuwanderung nach Argentinien,

pronunciada el 23 de Octubre de 1935 por el Hermano Ing. Simon Weill (Buenos Aires: Bené

Zahlen aus: Berith, Simón1936), Weill,28 f.; Población Israelita an of la Jews“, República Argentina. Conferencia pronunciada el 23 1936–1939: „Statistics American Jewish Year Book 46 (1945): 517. de Octubre de 1935 por el Hermano Ing. Simon Weill (Buenos Aires: Bené Berith, 1936), 28 f.; 1936– 1939: „Statistics of Jews“, American Jewish Year Book 46 (1945): 517.

Die jüdische Einwanderung blieb bis 1903 auf einem niedrigen Niveau. Zusammen mit der vorrevolutionären Krise in Russland schnellte die Zuwachsrate ab 1904 sprunghaft in die Höhe und pegelte sich, mit der Ausnahme des Ersten Weltkrieges, Die jüdische Einwanderung bis 1903 auf Personen einem niedrigen Zusammen mit der zwischen fünf- undblieb fünfzehntausend ein. Die Niveau. Festigung des Zuwachses ab Mitte der 1920er-Jahre hängt mit der 1924 eingeführten Quotenregelung zusammen, die jedoch bei Weitem nicht so stark wirkte wie in den USA. Die sich 156 Simón Weill, Población Israelita an la República Argentina. Conferencia pronunciada el 23 de Octubre de 1935 1930 anIng. dieSimon Macht Militärregierung General José Félix Uriburu por el Hermano Weillputschende (Buenos Aires: Bené Berith, 1936);unter vgl. die jährlichen Statistiken im American 153 Jewish Year Book, 1919-1939, weiterhin: des Mark Wishnitzer, To Dwell in Safety. The Story of ging Jewisheinher Migration verschärfte die Regulierung Zustroms osteuropäischer Juden. Dies since 1800 (Philadelphia: Jewish Publication Society of America, 1948), 291; Avni, Argentina y la historia de la inmigración judía, 543 f.

152 Simón Weill, Población Israelita an la República Argentina. Conferencia pronunciada el 23 de Octubre de 1935 por el Hermano Ing. Simon Weill (Buenos Aires: Bené Berith, 1936); vgl. die jährlichen Statistiken im American Jewish Year Book, 1919–1939, weiterhin: Mark Wishnitzer, To Dwell in Safety. The Story of Jewish Migration since 1800 (Philadelphia: Jewish Publication Society of America, 1948), 291; Avni, Argentina y la historia de la inmigración judía, 543 f. 153 Devoto, Historia de la inmigración, 353–364.

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mit immer stärker werdenden antisemitischen Vorurteilen. Diese mischten sich mit der Red Scare und wurden vor allem an den der Revolution verdächtigten Bundisten ausgelebt.154 Der erneute Anstieg der Zuwachsrate ab Mitte der 1930er-Jahre beinhaltet deutsch-jüdische Flüchtlinge, aber auch eine steigende Zahl polnischer Immigranten, die, wie Efraim Zadoff feststellte, durch legale und illegale Wege zwischen 1934 und 1938 die Hälfte aller Immigranten ausmachten und von denen der Großteil Juden waren.155 Die Zahlen des HICEM scheinen diese Kettenmigration in zu geringem Maße zu spiegeln. Damit stieg die Größe der jüdischen Gemeinde Argentiniens von knapp 20.000 Menschen 1901 auf 116.276 am Vorabend des Ersten Weltkrieges an, was sich dann bis 1935 auf 260.432 Juden mindestens mehr als verdoppelte.156 Die absolute Majorität der nach Argentinien einwandernden Juden war russländischen Ursprungs. In der Quellensprache steht der Begriff „ruso“ darum oft für Jude und der Begriff „judío“ für „aus Russland stammend.“ In Buenos Aires entstanden darum auch keine russischen Viertel, wohl aber jüdische.157 Diese lagen in den Stadtteilen 9 (Nueve) und 11 (Once), damit um dem Plaza Lavalle, der zu einem Zentrum jüdischen Lebens wurde und eine, nach Eugene Sofer, typische Sozialstruktur ausbildete.158 „Typisch“ war diese aber nicht mit Blick auf die Migranten in den USA, sondern es gab eine große Ähnlichkeit sozioökonomischer Strukturen jüdischen Lebens zwischen Argentinien und Osteuropa. Hier wie da waren die Anstellungsverhältnisse oft personengebunden und gering spezialisiert. Der für die ICA tätige, spätere argentinische Oberrabbiner Samuel Halphon berichtete 1909, dass er im ganzen Land gerade einmal 100 Berufsspezialisten ausmachen konnte, im Prinzip seien alle Juden im Lande Handwerker oder Kleinhändler.159 Um selbständig zu werden, war ein Kapitalaufwand von ungefähr 100 Pesos nötig, was für Arbeiter, die an einem Arbeitstag zwischen zwei und drei Pesos verdienten, zwar erreichbar war, aber eine große Kraftanstrengung bedeutete.160

154 Zum Phänomen siehe: Ulrich Herbeck, Das Feindbild vom „jüdischen Bolschewiken“: zur Geschichte des russischen Antisemitismus vor und während der Russischen Revolution (Berlin: Metropol, 2009), für Lateinamerika stehen entsprechende Studien aus. 155 Efraim Zadoff, Historia de la educación judiá en Buenos Aires (1935–1957) (Buenos Aires: Milá, 1994), 43. 156 Weill, Población Israelita an la República Argentina, 28 f. 157 Moya, Cousins and Strangers, 158. 158 Sofer, From Pale to Pampa, 69–79. 159 Zit. in: Ebd., 94, 112. 160 ��������������������������������������������������������������������������������� Domingo Varone, La memoria obrera: Testimonios, 2e edición (Buenos Aires: Ediciones la Rosa Blindada, Cuadernos Marxistas, 2004), 12.

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Die Grenze zwischen Werkstatt und Handel war in Buenos Aires wie in Osteuropa unscharf. Zur Zeit der russischen Volkszählung 1897 arbeitete über die Hälfte (52,5 %) aller jüdischen Handwerker im Zarenreich in der Textilbranche. Beiderorts lebten Juden kaum von Tätigkeiten im primären Sektor, in Russland waren dies nicht mehr als 0,6 % aller im Rayon lebenden Juden.161 Dieses Verhältnis änderte sich auch in der Zwischenkriegszeit kaum. Einer Studie von 1935 zufolge waren 1921 47,1 % aller in Polen lebenden Juden in der Bekleidungsbranche tätig.162 Forschungen von Abraham Léon bestätigen dies für die 1930er-Jahre.163 Dies gilt auch für Argentinien, so resümiert Sofer, dass jener, der sein Arbeitsleben in der Textilbranche begann, oft als Arbeiter dieser Branche starb.164 Dadurch entstand auch in den Augen des Bundisten Pinie Vald eine argentinisch-jüdische svive, eine „Umgebung“, die die jüdischen Einwanderer durch ihre ökonomische Stellung selbst mitgeschaffen hatten und die den Bundisten einen Transfer auch der jüdischen sozialen Bewegungen erleichterte.165 Es lag also in den Händen der Bundisten und der mit ihnen zeitgleich einwandernden Juden, einen jüdischen Sozialismus zu gestalten. Die Bundisten hatten dabei viel Spielraum, da zur Zeit der Ankunft ihrer ersten Akteure in den 1900erJahren in Argentinien noch keinerlei Orientierungsmuster jüdischer Vergemeinschaftung vorzufinden waren. Dies erlaubte es, ohne Konkurrenz zu verbrüderten Organisationen, wie es in den USA der ‚Forverts‘ war, die Gestaltungsabsichten und zahlreiche Aktivismusmuster aus dem Schtetl an den Rio de la Plata zu transferieren.166 Die um 1905 Ankommenden hatten die Definitionshoheit über das, was nun in Argentinien als „jüdisches Leben“ entworfen wurde.167 Bundischer Aktivismus fand hier darum einen guten Nährboden. Nicht umsonst betonte Ezra Mendelsohn 161 Bunzl, Klassenkampf in der Diaspora, 33 f. 162 Jenny Radt, Die Juden in Polen (Berlin: Schocken, 1935). 163 Abraham Léon, Judenfrage und Kapitalismus: Historisch-materialistische Analyse der Rolle der Juden in der Geschichte bis zur Gründung des Staates Israel (München: Trikont, 1971). 164 Sofer, From Pale to Pampa, 99. 165 ������������������������������������������������������������������������������������� Pinie Vald, „Yidish sotsyalistishe un arbeter-bavegung in Argentine biz 1910“, Argetiner IWO shriftn 2 (1942): 94. 166 Daniel J. Elazar, „Jewish Frontier Experiences in the Southern Hemisphere: The Cases of Argentina, Australia, and South Africa“, Modern Judaism 3, Nr. 2 (1983): 129–146. 167 Vgl. z. B.: Elisabeth S. Clemens, „Organizational Form as Frame: Collective Identity and Political Strategy in the American Labor Movement, 1880–1920“, in Comparative Perspectives on Social Movements Political Opportunites, Mobilizing Structures, and Cultural Framings, hg. von Doug McAdam, John D. McCarthy, und Mayer N. Zald (Cambridge Mass., New York, Melbourne: Cambridge University Press, 1996), 205–226.

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in seiner klassischen Studie, dass es die Leistung des Bund war, diese heterogene „cultural front“ in Osteuropa in eine Lebenswelt zu verwandeln, was nun in Argentinien ebenfalls zu einer Maxime bundischen Handelns wurde.168 Wenn doikayt transferierbar war, dann war Buenos Aires ein passendes Ziel.

Das soziale Band des Bund Die Einbettung der Geschichte des Bund in diese Konstellationen verändert sowohl unsere Sicht auf den Bund als auch auf die jüdische Geschichte vor Ort. Eine transnationale Perspektive eröffnet dabei vor allem die Möglichkeit, Gemeinschaften im Prozess des Entstehens und Bestehens untersuchen zu können. Gemeinschaften sind dabei keine Einheiten, sondern sich stets verändernde, wechselhafte Ballungen von Akteuren. Von einem Unterschied zwischen „echten“ und „fabrizierten“ Gemeinschaften kann darum keine Rede sein.169 Bundisten erinnerten sich ihrer Gemeinschaft jedes Mal, wenn sie zum Gesang ihrer Hymne, der Shvue, ansetzten, in welcher sie sangen: „Brider un shvester fun arbet un noyt / ale vos zaynen tsezeyt un tseshpreyt / tsuzamen, tsuzamen, di fon zi iz greyt […].“170 Symbol der Einheit dieser zerstreuten und Not leidenden Juden war die rote Fahne, ein zugleich über die jüdische Gemeinschaft hinausreichendes Symbol. Wie auf dem Titelbild dieses Buches konnte dies auch ein verbindendes rotes Band sein. Das von Latour nur metaphorisch genutzte soziale Band war hier ein wahrhaftes Kampfsymbol. In diesem Fall einte man sich 1905 symbolkräftig auf einer allsozialistischen Trauerzeremonie für die gefallenen Kämpfer in Wilna. Hunderte Revolutionäre verbanden sich symbolisch mit einem langen aus Einzelteilen bestehenden und vermutlich roten Band, bestickt mit den Namen der teilnehmenden Gruppierungen und Parteien. Das Band hat keinen sichtbaren Anfang und kein Ende, es nivelliert, ent-elitisiert und schafft einen gemeinsamen performativen Raum, in dem die Teilnehmer still kampfbereiten Aktivismus darstellen. Lose verbunden und doch im Kampf vereint, so sahen sich nicht nur die vielen bundischen Gruppen im Rayon, sondern auch der Bund unter anderen sozialistischen Parteien und die bundischen Gruppen in Übersee. So wurde er zu einem transnationalen Handlungsraum, in dem die einende Kraft der yidishkayt noch einmal an Momentum gewann. 168 Mendelsohn, Class Struggle in the Pale, 116–125, 153. 169 Siehe jüngst z. B.: Zygmunt Bauman, Gemeinschaften auf der Suche nach Sicherheit in einer bedrohlichen Welt (Frankfurt M.: Suhrkamp, 2009). 170 Brüder und Schwestern von Arbeit und Not/ Alle die ihr überall verteilt und verstreut seid/ Zusammen, zusammen, die Fahne, sie ist bereit […].

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Einleitung

Dieser Aktivismus strebte auf ein Ensemble von Praktiken zu, anhand derer Aktivisten zu Akteuren bundischer Geschichte wurden. Dieses Ensemble begreife ich als Aktivismusmuster, als Ausformungen eines politischen Handlungstyps, die in Osteuropa entworfen und dann in äußerst kreativer Form in die Welt transferiert wurden. Dabei wird deutlich, dass das Fortbestehen einer sozialen Bewegung keine „Normalität“ darstellt. Im Gegenteil, es ist absolut bemerkenswert, dass der Bund derart viele Brüche überstand und sich trotz seines Fokus auf Russland an der Lower East Side und am Rio de la Plata neu entstand. Dort erwuchs er aus Initiativen, die Bundismus weitab des Bund implementierten und letzten Endes gar den Bund in Osteuropa überdauerten. Untersuchen werde ich dies in einem Dreischritt, bei dem ich erstens Modi des bundischen Aktivismus in Osteuropa identifiziere und kontextualisiere. Unter diesen ist die im zweiten Schritt aus transnationaler und vergleichender Perspektive untersuchte Publizistik entscheidend für eine transnationale Geschichte des Bund. Sie, und ganz besonders ihre Unterform der Memorik, erlaubte es, personenübergreifende Netzwerke zu weben. Dies ist auch eine grundlegende Untersuchung transnationaler Pressearbeit und der Erinnerungspraktiken einer sozialistischen Bewegung. Im dritten Schritt fokussiere ich auf die stärker lokalisierten Aktivismusmuster. Dabei stehen sowohl die transferierten Praktiken des Versammelns und Organisierens im Zentrum als auch die wichtigsten transnationalen Aktivismusmuster der Gewerkschaftsarbeit, der Bildungsarbeit und des Fundraisings. Gemeinsam verdeutlichen sie, dass Transnationalität nicht ohne Lokalität gedacht werden kann. Dieser transnationale Netzwerkcharakter des Bund war keine Geburt der Nachkriegszeit, sondern hat eine fast ebenso alte Geschichte wie der Bund in Russland. Er war auch keine Randepisode in der Geschichte des Bund, sondern ist ein zu Unrecht marginalisierter Bestandteil der Geschichte der russländischen revolutionären Bewegung. Diese Studie entdeckt darum den transnationalen Bund als einen „global player“ jüdischer Geschichte und als bemerkenswerten, aber sicher nicht einzigartigen Fall einer auf Praktiken aufbauenden, transnationalen sozialen Bewegung. Dabei ist es auch das Ziel, politisch motivierte Praktiken wieder stärker in der Geschichte der jüdischen Diaspora zu betonen. Migrationshistorisch ist dies darum auch ein Beitrag, der darstellt, dass Migration nicht nur durch „Bewegung“ gekennzeichnet ist, sondern dass dabei konkret untersuchbare, transnationale soziale Räume entstehen, die durch Vernetzungen und durch zahlreiche Brücken bauende Akteure bestimmt sind.171 171 Siehe auch: Tobias Brinkmann, „Managing Mass Migration: Jewish Philantropical Organizations and Jewish Mass Migration from Eastern Europe, 1868/69–1914“, Historisch Tijdschrift 22 (2007): 71–90; prominente Stimmen des Paradigmas der Bewegung, z. B.: Klaus J. Bade, Europa in Bewegung: Migration vom späten 18. Jahrhun-

Einleitung

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Aus diesem Grund erweitert die Geschichte eines so randständig erscheinenden Themas wie den Bundisten in New York oder Buenos Aires die derzeitigen Ansätze transnationaler Geschichte, da sie Transnationalität nicht nur aufspürt, sondern Grenzen und Möglichkeiten transnationaler Praktiken analysiert. Dies verdeutlicht, dass „Globalisierung“ schon seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert nicht nur theoretische, ideenhistorische, makroökonomische oder systematische Konsequenzen zeitigte, sondern direkt das Handeln von Journalisten, Schneidern und Hutmachern betraf und von diesen gestaltet wurde.

dert bis zur Gegenwart (München: Beck, 2000); Dirk Hoerder, Cultures in Contact: World Migrations in the Second Millennium (Durham: Duke University Press, 2002); Harald Kleinschmidt, Menschen in Bewegung: Inhalte und Ziele historischer Migrationsforschung (Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2002).

Teil I Der Bund als soziale Bewegung

1. Aktivismus

Der politische und kulturelle Aktivismus, den die Bundisten selbst oft einfach als kamf far unzere rekht beschrieben,1 ist weder in handlungsvoluntaristischen Theorien fassbar, noch fügt er sich in rationalistische Ansätze der sozialen Bewegungsforschung ein.2 Allerdings ist „Aktivismus“ alles andere als ein selbsterklärender Begriff, wenngleich er stets in der Art verwendet wird. Trotz seiner intensiven Nutzung (vor allem in der Forschung zu sozialen Bewegungen)3 ist unklar, was er zu welcher Zeit und für welche Akteure bedeutete.4 1

Dieser Kampfbegriff geht aufgrund seines Bedarfs an Solidarität über den von Max Weber genutzten Kampfbegriff hinaus, der Kampf versteht als „das Handeln an der Durchsetzung des eigenen Willen gegen Widerstand des oder der Partner.“ Die Betonung liegt hier nach Einigung im Kampf und nicht auf dem Prozess der „Auslese“, der bei Weber im Vordergrund steht. Vgl.: Max Weber, „Soziologische Grundbegriffe“, in Wirtschaft und Gesellschaft (Tübingen: J.C.B. Mohr, 1972), 20. 2 Siehe v. a.: Hans Joas, Die Kreativität des Handelns (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1992); Richard Münch, Theorie des Handelns zur Rekonstruktion der Beiträge von Talcott Parsons, Emile Durkheim und Max Weber, (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1988); Sven Reichardt, „Praxeologie und Faschismus: Gewalt und Gemeinschaft als Elemente eines praxeologischen Faschismusbegriffs“, in Doing Culture: Neue Positionen zum Verhältnis von Kultur und sozialer Praxis, hg. von Karl H. Hörning und Julia Reuter (Bielefeld: transcript, 2004), 129–153; Carol McClurg Mueller, „Building Social Movement Theory“, in Frontiers in Social Movement Theory, hg. von Carol McClurg Mueller (New Haven, London: Yale University Press, 1992), 3–25; Verta Taylor und Nancy E. Whittier, „Collective Identity in Social Movement Communities. The Lesbian Feminist Mobilization“, in Frontiers in Social Movement Theory, hg. von Aldon D. Morris und Carol McClurg Mueller (New Haven, London: Yale University Press, 1992), 104–129; Scott A. Hunt und Robert D. Benford, „Collective Identity, Solidarity, and Commitment“, in The Blackwell Companion to Social Movements, hg. von David A. Snow, Sarah Anne Soule, und Hanspeter Kriesi (Malden, MA, Oxford, Victoria: Blackwell, 2004), 433–458. 3 ���������������������������������������������������������������������������� So im Eintrag: D. Wastl-Walter, „Art.: Social Movements: Environmental Movements“, in International Encyclopedia of the Social and Behavioral Sciences, 26 Bd., hg. von Neil J. Smelser und Paul B. Baltes (Amsterdam, [u. a.]: Elsevier, 2001), v. a. 14354; sehr deutlich auch einem der Referenzartikel zur Erforschung sozialer Bewegungen: Doug McAdam, John D. McCarthy, und Mayer N. Zald, „Social Movements“, in Handbook of Sociology, hg. von Neil J. Smelser (Newbury Park, Beverly Hills, London, New Delhi: Sage, 1988), 704–709. 4 ���������������������������������������������������������������������������������� Er wird in keinem der einschlägigen Handbücher reflektiert, auch nicht in der wegweisenden, 26-bändigen International Encyclopedia of the Social and Behavioral Sci-

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Der Bund als soziale Bewegung

Doch Aktivismus ist keine anthropologische Konstante, sondern ein Resultat des postaufklärerischen, sozialistischen Gesellschaftsaufbruchs. Nicht ohne Grund leitet schon Karl Mannheim seine wegweisenden Reflexionen über „Ideologie und Utopie“ mit der Bemerkung ein, dass es „kein Zufall [sei], daß das Problem der sozialen und aktivistischen Verwurzelung des Denkens in unserer Generation entstanden ist“.5 Dieses Entstehen ist jedoch zu ergründen. Da es keine soziale Bewegung ohne Aktivisten gibt, ist die dauerhafte Beziehung zwischen Individuum und Bewegung, die wie im Bund zur Ausbildung lebenslang bedeutender Identitäten führen konnte, weder durch „Mitgliedschaft“ noch durch Ideologie oder rationale Mobilisierungsdynamiken allein zu erklären. Bevor sich die Studie also mit den Ausformungen des bundischen transnationalen Aktivismus beschäftigen kann, ist zuerst der Begriff des Aktivismus zu klären. Dies wurde auch unter den Bundisten selbst verhandelt. Der bundische Veteran Abraham der Tate (d. i. Layb Blekhman) wurde in einem Fragebogen des BundArchivs gefragt, welche Ämter er in der jüdischen Arbeiterbewegung begleitet habe. Dem begegnet er mit einer Reformulierung: „Im Bund in Russland gab es keine Ämter, die Frage müsste man eher so formulieren: Zu welchen Körperschaften habt ihr gehört? Dann kann ich sagen: Vor allem zum Z. K.“6 Seine Funktion sieht er also nicht in der Amtsausführung, sondern in seinem Handeln zugunsten einer Organisationseinheit des Bund. Denn wie Vladimir Medem betonte, konnte man nicht einfach zum Bund gehören, man war in ihm aktiv und erschuf ihn und seine Organisationen dadurch erst.7

5 6 7

ences., siehe: Neil J. Smelser und Paul B. Baltes, Hrsg., International Encyclopedia of the Social and Behavioral Sciences, 26 Bd. (Amsterdam, [u. a.]: Elsevier, 2001); weiterhin z. B.: Edwin R. A. Seligman und Alvin Johnson, Hrsg., Encyclopedia of the Social Sciences, 15 Bd. (New York: Macmillan, 1930); Alfred Vierkandt, Hrsg., Handwörterbuch der Soziologie (Stuttgart: Ferdinand Enke, 1931); David L. Sills und Robert K. Merton, Hrsg., Encyclopedia of the Social Sciences, 19 Bd. (New York, London, et al.: Macmillan, et al., 1968); Brian S. Turner, The Cambridge Dictionary of Sociology (Cambridge: Cambridge University Press, 2006); bis beispielsweise: Georg Ritzer, The Blackwell Encyclopedia of Sociology, 11 Bd. (Malden, MA, Oxford, Victoria: Blackwell, 2007); eine Ausnahme ist: David G. Embrick, „Art.: Activism“, in International Encyclopedia of the Social Sciences, Bd. 1, hg. von William A. Darity Jr. (Detroit et al.: Thomson, 2008), 18, dass in der Bibliographie jedoch lediglich drei Fallstudien zur US-amerikanischen Bürgerrechtsbewegung und ein Radiobeitrag des National Public Radio aufgeführt sind, veranschaulicht wohl deutlich die Problematik. Zit. aus: Karl Mannheim, Ideologie und Utopie (Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann, 1995), 7. YIVO, Bund Archives, RG 1400, MG 2, #429, ##Abraham der Tate Samuel A. Portnoy, Hrsg., Vladimir Medem:. The Life and the Soul of a Legendary Jewish Socialist (New York: Ktav, 1979), S. 222; Orig.: Vladimir Medem, Fun mayn

Aktivismus

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Selbstverständlich brauchte die Tätigkeit in der jiddischen Arbeiterbewegung einen Namen. Dieser fand sich im Begriff des tuer.8 Im Gegensatz zur Unbestimmtheit des leicht assoziierbaren deutschen Hilfsverbs „tun“ ist tuer bestimmt eingesetzt, keinesfalls beliebig und geht weit über „tätig sein“ oder „machen“ hinaus. Die passende Übersetzung findet der Begriff im „Aktivist“.9 In sozialen Bewegungen sind Aktivisten die Schnittstellen zwischen Individuum, Gruppe und Idee. Sie verkörpern die stete Reproduktion der Bewegung, indem sie Taten Sinn produzierend reihen und sie glaubhaft gegenkulturell legitimieren. Dadurch öffneten sie die Bewegung für weitere Aktivismen.10 Innerhalb des Bund wurde tuer sowohl zur Tätigkeitsbeschreibung als auch zur Ehrkategorie. Folglich war es nicht nur für nach Partizipation strebende Arbeiter erstrebenswert, als tuer betrachtet zu werden, sondern auch für Intellektuelle, die sich dadurch volksnäher inszenieren konnten.11 Der Begriff des tuer ist darum als qualifizierende Selbst- und als würdigende Fremdbeschreibung omnipräsent und wurde zunehmend bewegungsübergreifend genutzt.12 lebn, 2. Bd. (New York: Vladimir Medem Komite, 1923); dieser Aspekt wird weiter ausgeführt in: Wolff, „Kollektive Identität als praktizierte Verheißung“. 8 Im Gegensatz zum explizit linken tuer-Begriff war der russische Begriff dejatel’ aber keineswegs nur in der Arbeiterbewegung verankert. So war z. B. als dejatel’ rabočego dviženija (russ: Aktivist der Arbeiterbewegung) ebenso geläufig, wie obščestvennyj dejatel’ (russ: Person der Öffentlichkeit). Auch wurde er als Ehrbezeichnung für frühe Aktivisten des Bund genutzt. So in: RGASPI, Fond 271, opis’ 1, delo 310: Avram Tate, Haim Frumoiskij, S.I. Gožanskij, Kaplinski, et al.: Iz vospominanij starih dejatelej bunda; eine Parallele zum tuer-Begriff bietet der französische militant, was die argentinischen Bundisten des ‚Der avangard‘ auch ironisch auf die die Reaktion gegen den Sozialismus ausnutzenden Rabbiner im westlichen Zarenreiches anwandten, vgl.: P. Libnyan, „Rabbinismus Militans“, Der avangard, Buenos Aires 2, Nr. 9 (1909): 4–7; der Titel wurde ironisierend und ausnahmsweise in lateinischen Lettern gedruckt. 9 Weinreich, Modern English-Yiddish, Yiddish-English Dictionary, 599 übersetzt dies lediglich mit „active person, leader“; zumindest im sozialistischen Milieu hatte der Begriff jedoch eine größere Tiefe. 10 Latour, „Die Macht der Assoziation“, 197  ff.; Gustav Roßler, „Kleine Gallerie neuer Dingbegriffe: Hybriden, Quasi-Objekte, Grenzobjekte, epistemische Dinge“, in Bruno Latours Kollektive. Kontroversen zur Entgrenzung des Sozialen, hg. von Georg Kneer, Markus Schroer, und Erhard Schüttpelz (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2008), 76–107. 11 Dies kann allgemein als moralisch untermauerndes und identitätsschaffendes Handeln betrieben werden, siehe z. B.: Ira Silver, „Buying an activist identity: Reproducing class through social movement philanthropy“, Sociological Perspectives (1998): 303–321. 12 Deutlich wird dies beispielsweise in vielen Autobiographien und auch in kommemorativen und oft glorifizierenden Sammelwerken über die Vorväter der Bewegung, wie: Yefim Yeshurin, und Hertz Jakob Sh., Hrsg., Arbeter ring boyer und tuer (New York: Arbeter ring boyer und tuer komitet, 1962); Benzion [Zivion] Hoffman, Hrsg., Toyznt

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Der Bund als soziale Bewegung

Diese Ausweitung aus dem sozialistischen Milieu in kulturelle Bewegungen hinein geschah dabei oft unter Verweisen auf die Urzeiten der Bewegung, in denen tuer pioniergleich nichtterritoriale Frontiers eroberten und diese Räume für die Aktivismen weiterer tuer-Generationen sicherten. Das politischen und kulturellen tuern gemeinsame historische Projekt der yidishkayt war dabei die einende Klammer.13 Der daraus folgende gegenkulturelle Fortschrittsdrang unterschied Aktivisten als Revolutionäre und Visionäre von Staatsdienern.14 Zielstrebiges Handeln im System konnte von diesen nicht als Aktivismus verstanden werden. Staatsdiener konnten aus der Sicht der tuer sehr wohl aktiv sein, auch schnell und direkt, aber Aktivisten waren sie nicht. Der nach Paris emigrierte Narodnik Vladimir Burcev, seines Zeichens erfolgreicher Jäger von Provokateuren innerhalb der sozialistischen Bewegung, bestätigt dies im Rahmen einer biographischen Kampagne mittels seines „Fragebogen zur Sammlung von Informationen über die Teilnehmer der Befreiungsbewegung“. Darin suchte er nicht nur diese Teilnehmer, sondern auch die „ärgsten Feinde der Befreiungsbewegung: Verräter, Provokateure, Spione, Gendarme, Gefängniswärter, Richter, Staatsanwälte“ zu erfassen. So sei es „notwendig, auch ein biographisches yor Pinsk. Geshikhte fun der shtot, der yidisher yishuv, institutsyes, sotsyale bavegungen, perzenlekhkeytn, gezelshaftlekhe tuer, pinsk iber der velt (New York: Pinsker brentsh 210 Arbeter-ring, 1941); B. Tshukhinsi, Hrsg., Leo Glezer. Der kultur-tuer un frayhayt-kemfer (Paris: Allgemeyne yidishe farteydikungs-komitet, 1947); Melech Ravitch, Mayn leksikon [4 Bd.] (Montreal, Tel-Aviv: A komitet, Veltrat far Yidish un Yidisher Kultur, 1945); Grigori Aronson, Rusish-yidishe inṭeligents: Klal-tuer, shrayber, politiker, tragishe geshtaltn (Buenos Aires: Yidbukh, 1962); ebenso im jiddischsprachigen Anarchismus, z. B.: „Dr. I. A. Merison [Nachruf ]“, Dos fraye vort, Buenos Aires, 1936, 3; Viktor M. Tshernov, Yidishe tuer in der partey sotsyalistn revolutsyonern: Biografishe eseyen (New York: Grigori Gershuni brentsh 247 Arbeyter ring, 1948); zur Bewertung der Gründung der jüdischen Sowjetrepublik Birobidzhan: H. Abramovitsh, „Vos toronter yidish klal-tuer zogn vegn Birobidzhan“, Kanader „Icor“, 1936, 11, 14 – und viele mehr, oder als Selbstzuschreibung im revolutionären Prozess: Alsvaysruslandishe konferents fun yidishe kultur- un bildungstuer, Hrsg., Resolyutsies (Minsk: Tsentralfarlag, 1931) – und viele mehr. V. Y., „Mir zaynen orem“, Gluboker shtime 3 (1939); Elimelekh Rak, Zikhroynes fun a yidishn handverker tuer (Buenos Aires: Tsentral-farband fun poylishe yidn in argentine, 1958) – und viele mehr. 13 Selten hingegen ist tuer als Eigenbeschreibung zu finden, so z. B. bei dem Sozialrevolutionär Yitsak Nakhmen Shteynberg, in: YIVO, New York, Bund-Archives, RG 1400, MG 2, #429, ##Shteynberg, Yitsak Nakhmen. 14 Nicht ohnehin tendierten sozialdemokratische Aktivisten dazu, in aller Welt Zeitschriften nach dem Vorbild des deutschen ,Vorwärts‘ zu gründen, vgl.: Sandra Carreras, Horacio Tarcus, und Jessica Zeller, Hrsg., Los socialistas alemanes y la formación del movimiento obrero argentino: Antología del Vorwärts ( 1886–1901) (Buenos Aires: Buenos Libros, 2008); Manor, Forward.

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Wörterbuch solcher ‚Aktivisten‘ [russ. dejateli] zu erstellen“.15 Gemeint ist damit das, was heute als Schwarzbuch bezeichnet wird. „Dejateli“ setzte er jedoch gezielt distanzierend und ironisierend in Anführungszeichen. Die Schergen des Staates konnten nur durch diese Distanzierung als Aktivisten bezeichnet werden. Was ihnen fehlte, war die utopische Verheißung, oder, um mit Walter Benjamins Beschreibung des „Engels der Geschichte“ zu sprechen, von dem Sturm umgeben zu sein, der vom Paradiese her weht, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, daß der Engel sie nicht mehr schließen kann. Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst. Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm.16

Der Sturmwind ist historisches Gesetz und das Paradies weltlicher Art, das allerdings auch bei den Bundisten nicht ohne religiös konnotierte Vokabeln beschrieben werden konnte. Und dieser Sturmwind trug nicht die vorhandene Kultur in sich, sondern war Träger der aktivistischen Neuartigkeit, erfüllt mit moralisch aufgeladener potentia. Dies unterschied die tuer von den zarischen Autoritäten ebenso wie von traditionellen oder chassidischen Führerfiguren. Dabei setzten sie die „aktivistische Wende“ des Judentums (Heiko Haumann) fort und verlagerten das Messianische endgültig aus dem Göttlichen in die Hände der Aktivisten.17 Politisch geboren wurde der Begriff des tuer für das intellektuelle, revolutionäre Milieu. Arbeiter erweiterten ihn stärker in Richtung des „Organisators“. Im Hintergrund stand aber in beiden Fällen historisch-materialistisches und von Vorwärtsstreben geprägtes Weltbild.18 Die Wurzel dieses Weltbildes lag aber nicht in der jüdisch aufgeklärten Selbstorganisation, die während der „aktivistischen Wende“ in Person von Max Lilienthal 15 Vgl.: Fragebogen der Redaktion der Byloe, Paris [Vladimir Burcev], Anlage an: YIVO, New York, Bund Archives, RG 1400, MG 2, #429, ##Likhtenfeld, Boris. 16 Walter Benjamin, „Über den Begriff der Geschichte“, in Illuminationen (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1977), hier 255. 17 Haumann, Geschichte der Ostjuden, 52, 154 f.; Levin, While Messias Tarried; weiterhin: Michael Walzer, Exodus and Revolution (New York: Basic Books, 1986); Michael Löwy, Erlösung und Utopie. Jüdischer Messianismus und libertäres Denken: Eine Wahlverwandschaft (Berlin: Kramer, 1997). 18 Zur Weltlichkeit des Jiddischen, siehe: Benjamin Harshav, The Meaning of Yiddish (Berkeley: University of California Press, 1990); und klassisch: Shmuel Niger, „Vegn der natsyonaler role fun yidish un der yidisher kultur“, in Never Say Die!: A Thousand Years of Yiddish in Jewish Life and Letters, hg. von Joshua A Fishman (The Hague: Mouton, 1981), 129–139.

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Der Bund als soziale Bewegung

zuerst die Allianz mit den russischen Autoritäten suchte. Wichtiger war nun der Ruf nach mehr „Straße“ im Denken. Die „Thesen über Feuerbach“ des jungen Marx stehen darum in der Genese des modernen Aktivismus an zentraler Stelle.19 Das Besondere an Marxens Thesen ist weniger, dass sie aktivistisch revolutionäres Handeln unter Arbeitern initiieren wollten, sondern dies auf intellektuelles Verhalten ausweiteten. So heißt es berühmt: „[d]ie Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert; es kommt drauf an, sie zu verändern.“20 Der philosophische Erkenntnisprozess sollte mit Veränderungswillen verknüpft werden, man müsse denken, lesen und Aktivist werden.21 Diese Aufforderung wurde eine Leitfigur nicht nur für bekennende Marxisten, wie die Bundisten es waren, sondern auch für die ferner stehende und viel stärker an Alexander Herzen, den Narodniki und am Anarchismus Pierre-Joseph Proudhons orientierte russische Sozialrevolutionäre.22 Ihnen bot der junge Marx Anknüpfungspunkte und so wurden die Feuerbachthesen zur Schnittstelle, um Marx in ihr Programm direkter Aktion integrieren zu können, ohne einem rein marxistischen Modell des Klassenkampfes folgen zu müssen.23 Ohne die stete Referenz auf das Diktum des jungen Marx hätte das Konzept des schichtübergreifenden Aktivismus weniger Schlagkraft gehabt, da es ihn auch quasitheoretisch absicherte. Die Feuerbachthesen waren damit bei jeder Nutzung des Aktivismusbegriffs zumindest implizit an Bord. Sie machten Marx von den Narodniki

19 Darum ist nicht zwischen „politischen“ die „vorpolitischen“ Bewegungen zu unterscheiden, sondern verschiedene Konstitution aktivistischer Konzeptionen zu betrachten; Eric J. Hobsbawm, Primitive Rebels: Studies in Archaic Forms of Social Movements in the 19th and 20th Centuries (Manchester: Manchester University Press, 1959); Eric J. Hobsbawm und George Rudé, Captain Swing (New York: Pantheon Books, 1968); Edward P. Thompson, The Making of the English Working Class (New York: Pantheon Books, 1964). 20 MEW, Bd. 3 (Berlin: Dietz, 1969), 7. 21 Zur allgemeinen aktivistischen Einstellung Marxens und folgenden Koherenzproblemen innerhalb seiner Theorie, siehe: Alan Gilbert, „Social Theory and Revolutionary Activity in Marx“, The American Political Science Review 73, Nr. 2 (1979): 521–538. 22 Vgl.: Manfred Hildermeier, Die Sozialrevolutionäre Partei Russlands. Agrarsozialismus und Modernisierung im Zarenreich (1900–1914) (Köln, Wien: Böhlau, 1978); Lutz Häfner, Die Partei der Linken Sozialrevolutionäre in der Russischen Revolution, 1917–1918 (Köln, Wien, Weimar: Böhlau, 1994); Francis King, Hrsg., The Narodniks in the Russian Revolution. Russia’s ����������������������������������������������������������� Socialist-Revolutionaries in 1917 (London: Socialist History Society, 2007). 23 Truman B. Cross, „Young Marx, Marxism: Viktor Chernov’s Use of the Theses on Feuerbach“, Journal of the History of Ideas 32, Nr. 4 (1971): 600–606.

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über den Bund bis zur codierten Haftsprache Antonio Gramscis zum Gründer der „filosofia della praxis“.24

Aktivismus zwischen Masse und Individuum Zudem erlaubt Aktivismus, individuelles Handeln in kollektive Interessen einzubetten. Da Aktivismus als Handlungsbegründung ent-elitisiert, erlaubt er, von der Gemeinschaft isoliertes Handeln als Bestandteil des kollektiven Freiheitskampfes zu maskieren. Als wichtige aktivistische Momente seines Lebens betont der bundistische tuer Vladimir Medem darum nicht nur den Kampf für die Arbeiterrechte, sondern auch für seine eigenen Rechte als straßenferner Autor.25 Seinen ersten aktivistischen Kampf erlebte er als Student während eines Streiks, der 1899 von der Universität St. Petersburg ausging und auf dessen Höhepunkt 30.000 Arbeiter in den Ausstand traten. Die Intelligencija, so Medem, habe einen Studentenprotest zum Arbeiterkampf erweitert und letztendlich zum Novum des von Studenten geführten politischen Streiks entwickelt, eine bis dahin „generally unknown entity“.26 Im Top-down-Prozess vom Beschluss zur Tat sei eine neue Ära angebrochen: „The large meeting had no sooner ended than we proceeded – the chairman leading the way – down the corridors of the university, determined to translate our resolution into action.“27 Dieser Aktivismus erlaubt ihm, sein „Ich“ in das progressive „Wir“ zu integrieren: „I found myself drawn into the very hub of the movement. I had got rid of my shyness by then. […] I thus entered the circle of leaders.“28 Das alles sei jedoch keine Wahl, sondern eine Zwangsläufigkeit, denn 24 Vgl.: Antonio Gramsci, Gefängnishefte. Quaderni del carcere, in 10 Bd., hg. von Wolfgang F. Haug und Klaus Bochmann (Hamburg: Argument, 1992); Diese Wortwahl Gramscis bedingt sich zum einen aus der Zensur, der sein Schreiben unterlag und zum anderen aus der Möglichkeit der Dechiffrierung seiner Bezeichnungen durch informierte Leser. Speziell zur Tradierung des Feuerbachthesen vor allem in der einflussreichen italienischen politischen Philosophie, siehe: Gerhard Roth, Gramscis Philosophie der Praxis. Eine neue Deutung des Marxismus (Düsseldorf: Patmos, 1972), v. a. 13–31. 25 Das Deuten intellektueller Tätigkeit in Begriffen der Arbeitswelt ist keine Eigenart Medems, sondern Ausdruck eines umfassenderen Integrationsbedürfnisses. Auch der bundistische Soziologe Moshe Kligsberg, Autor von Di yidishe yugent-bavegung in poyln tsvishen beyde velt-milkhomes: A sotsyologishe shtudye (New York: YIVO, 1974). verstand sich nicht als „Wissenschaftler“, sondern als „wissenschaftlicher Arbeiter“. Siehe den autobiographischen Fragebogen: YIVO, New York, Bund Archives, RG 1400, MG2, #429, ##Kligsberg, Moshe. 26 Portnoy, Vladimir Medem, 120. 27 Ebd. 28 Ebd., 121.

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nach diesem Streik „was [it] much self-evident: we three young expelled students […] would be entering the movement sooner or later. […]“.29 Aktivistisch sein bedeutet in dieser autobiographischen Reinszenierung auch, persönlich zu wachsen und einem „Schicksal“ zu folgen. Die Rollenverteilung aber blieb erhalten, seine Aufgabe war es, den Kampf per Rede und Schrift zu führen. Das habe freilich nicht nur für ihn gegolten, sondern für alle „‚professionals‘ under the jurisdictation of the Central Committee […], persons who devote themselves explicitly and exclusively to revolutionary activity.“30 Der Aktivismus per Federkiel erlaubte Medem es auch, an weiteren Streiks nur als Beobachter teilzuhaben und darüber hinaus eine gänzlich unkollektive Art des Arbeitsausstandes als Streik zu maskieren. Zahlreiche russländische Exilanten in der Schweiz verdienten ihren Lebensunterhalt als Korrespondenten. Inspiriert vom Genossen Moshe Olgin, der bereits für den New Yorker ,Forverts‘ berichtete, fand Medem eine ebensolche Verdienstmöglichkeit für die russische Zeitung ‚Den‘. Als diese zu Kriegsbeginn 1914 in Finanzprobleme geriet, unterblieben die Zahlungen an die Auslandskorrespondenten. Im Gegensatz zu Trotzki mangelte es Medem an Alternativen und so sandte er Telegramme anderen Inhalts gen Russland. Yet this did not stop me from becoming a striker. ‚If you don’t send me enough to meet my expenses,‘ I informed them, ‚I shall cease telegraphing […]!‘ The threat was unavailing, and I actually staged a strike, in which I persisted for a respectable period. After receiving some money I started working again. But before very long the money again stopped coming and again I struck. It was that way the whole time – one strike after another.31

Was Medem hier als Streik verkauft, hat natürlich wenig mit einem solidarisch-kollektiven Arbeitskampf gemein. Er stellte seine Dienstleistung aufgrund mangelnder Vergütung ein. Aber die Denkfigur des Streiks ermöglichte es ihm, sein isoliertes Handeln nicht als Passivität aufgrund fehlender Zahlungen zu verstehen. Damit konnte er nicht nur sein Schreiben, sondern nun auch das Unterlassen als Aktivismus verstehen. Beides wurde zu einem Kampf zu, den in erster Linie die Arbeiterklasse führt. Die Entfremdung eines kollektiven und solidarischen Aktes wie des Streiks zu einer rhetorischen Figur, um eigenes Handeln zu rechtfertigen, gab Medem die Möglichkeit, Aktivist für eigene Zwecke zu sein. Dabei ist es bezeichnend, dass Medems einziger Arbeitsstreik ausgerechnet in der Emigration stattfand. Über seinen „Arbeitskampf “ schrieb er sich in den Handlungsmodus derer ein, die er in

29 Ebd., 146. 30 Ebd., 446. 31 Ebd., 492 f.

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der strukturellen und geographischen Ferne zu vertreten und auch zu dirigieren beanspruchte. Um Aktivismus als Handlungsmodus zu verstehen, ist darum ein Konzept von Masse notwendig. Aktivismus ist innerhalb sozialer Bewegungen bedeutend, da er eine ent-elitisierende Sinnproduktion von Taten erlaubt, die auf ein rezeptives Kollektiv bezogen und unter Bezugnahme auf eine Masse in eine Tradition von Taten eingereiht werden kann.32 Dies kann in dem oder für das Kollektiv geschehen, wodurch der Aktivist immer auch Motor der Bewegung ist. Der Aktivist ist mehr als pars pro toto, nie aber ein alleiniger Führer. Diese stete Handlungslegitimation durch Massenbezug zieht sich durch die Zeiten. Ob als Sozialist, als Aktivist im „Kampf “ um neue Lebensformen,33 in der außerparlamentarischen politischen oder in der ökologischen Bewegung,34 Aktivismus beansprucht, einen kollektiven politischen Zweck zu erfüllen. Zugleich emanzipiert sich aber auch das Selbst durch Taten unter Rückgriff auf gegenkulturelle Deutungsmuster.35 Aus diesem Grund ist, wie ich in Teil II darlegen werde, die in der Autobiographieforschung oft genutzte Differenzierung zwischen „Ich“ und „Wir“ hier eine Scheinpolarität. Eine Spannung entsteht aber dadurch, dass aktivistische Gemeinschaften einerseits exklusiv sein müssen, sonst wären sie nicht als gegenkulturelle Gemeinschaften zu erkennen, andererseits aber auch für Neulinge offen.36 Masse war darum auch im Zeitalter der Massenimmigration und der politisch aktiven „Arbeitermassen“ nicht selbsterklärend, ihre Sichtbarkeit musste produziert werden. Aktivistische Begriffe von Masse müssen also auf handelnde Kollektive reduzierbar sein, zugleich aber 32 Zum Massenbegriff, siehe: Dominik Schrage, „Von der Präsenzmasse zur statistischen Masse. Affekte und deskriptive Aspekte eines modernen Konzepts“, in Die Macht der Menge. Über die Aktualität einer Denkfigur Spinozas, hg. von Gunnar Hindrichs (Heidelberg: Winter, 2006), 93–112, und dies erweiternd Teil III, 1. 33 Z. B. von anarchistisch inspirierter Kultursoziologie: Jens Kastner, Transnationale Guerilla: Aktivismus, Kunst und die kommende Gemeinschaft (Münster: Unrast, 2007); bis zum Absurden: Craftista Crafting Circle, Hrsg., Craftista! Handarbeit als Aktivismus (Wiesbaden: Mainz, 2009). 34 Dahin gehend ausdrucksstark: Regine Frerichs, Im Fadenkreuz der Walfänger: Bordtagebuch einer Greenpeace-Aktivistin (Stuttgart: Kosmos, 2008). 35 Die von Andreas Reckwitz vorgenommene Unterscheidung zwischen sozialer Bewegung und Subjekttransformationsbewegung trägt auch dahin gehend nicht. Vgl.: Reckwitz, Das hybride Subjekt, 68–72; Wolff, „Kollektive Identität als praktizierte Verheißung“. 36 Aus diesem Grunde sind sämtliche Gemeinschaften als prozessual zu verstehen, unterliegen also einem steten Assoziationsprozess. Bezugnahmen auf „echte“ Gemeinschaften, die „konstruierten“ entgegen ständen, wie dies jüngst noch Zygmunt Bauman hervorhob, sind daher nicht überzeugend. Bauman, Gemeinschaften auf der Suche nach Sicherheit in einer bedrohlichen Welt.

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Der Bund als soziale Bewegung

Sinnbezüge beinhalten, die über diese Gruppen hinaus gültig waren. Masse war darum zugleich Ressource und Problem für transnationale soziale Bewegungen. Um dies genauer zu fassen, ist im Folgenden in gebotener Kürze ein Massemodell zu entwerfen, welches Aktivismus als Handlungsform verständlicher macht. Dabei wird „Masse“ rein funktional verstanden, also weder pejorativ als zwischen „Masse“ und „Hochkultur“ polarisierend noch teleologisch aufgeladen, zum Beispiel als Träger revolutionärer Umwälzung.37 Wie der Soziologe Dominik Schrage feststellt, ist auch eine funktionale Verwendung des Massebegriffs nicht unproblematisch. Dies liegt an seiner häufigen und unscharfen Verwendung. Als Ausweg schlägt er vor, zwischen den affektiven und den deskriptiven Momenten des Begriffs zu unterscheiden. Auf Schrage aufbauend ist es möglich, sich dem Inhalt dessen, was mit Masse gemeint sein kann, von zwei Seiten zu nähern, wobei aus historischer Sicht die Obertypen statistische Massen und Präsenzmassen weiter definiert werden müssen.38 Als statistische Masse kann eine jede besprochene Masse gelten, die durch Beobachter geschaffen wird und rein argumentativ existiert, physisch also nicht erlebbar ist. Ein erster, bei Schrage nicht gesondert explizierter Untertyp sind argumentative Massen. Diese werden durch lose und externe Bezüge geschaffen und dienen in erster Linie als epistemische Größen und als nicht spezifizierbare Referenzeinheiten. Im Rahmen dieser Studie könnten dies beispielsweise „die osteuropäisch-jüdischen Immigranten“, „die jüdischen Sozialisten“, „die Bundisten“ oder auch schlicht „die Juden“ sein. Dieser Masse steht ein anderer Untertyp statistischer Masse zur Seite. Denn statistische Massen formen sich nicht nur in den Augen dritter Beobachter, sondern auch durch kollektives Selbstempfinden und durch indirekte Kommunikation. Sowohl in Massenmedien als auch in kollektivem Selbstverständnis („wir Bundisten“) sind darum kommunikative Massen zentrale Formationen in der Konstruktion von Massen. Dieser kommunikative Aspekt fügt dem stärker deskriptiven Wesen der statistischen Masse eine affektive Komponente bei, die sowohl positiv als auch negativ aufgeladen sein kann.

37 Vor allem Letzteres scheint sich in letzter Zeit durch die neuen Protestbewegungen erneuter Konjunktur zu erfreuen, siehe z. B.: Sonja Brünzels, „Reclaim the Streets: Karneval und Konfrontation“, UneFarce 3 (1999), http://www.copyriot.com/unefarce/ no3/reclaim.htm (25. Juli 2013); Chris Carlsson, Hrsg., Critical Mass. Bicycling’s Defiant Celebration (San Francisco: AK Press, 2002); Bettina Köhler und Markus Wissen, „Globalizing Protest. Urban Conflicts and the Global Social Movements“, International Journal of Urban and Regional Research 27, Nr. 4 (2003): 942–951; und in einem weiteren Sinne sicher auch in: Michael Hardt und Antonio Negri, Multitude. War and Democracy in the Age of Empire (New York: Penguin, 2004). 38 Schrage, „Von der Präsenzmasse zur statistischen Masse“, 96.

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Neben den Typen der statistischen Masse stehen nach Schrage zwei Formen der Präsenzmasse. Als Präsenzmasse ist die Ballung einer erlebbaren Anzahl von Menschen zu verstehen, die sich aktiv zueinander beziehen können, aber nicht müssen. Die beiden Subtypen sind einerseits die verstreute Masse, also zum Beispiel die Anhäufung von Passanten auf einer Straße, und andererseits die proaktive gerichtete Masse, die auf Versammlungen und Aktionen entsteht und damit vom Revolutionsheer über Stadionbesucher bis zur aktivistischen Masse bei Streiks, Demonstrationen oder großen Trauerfeiern reichen kann.39 Präsenzmassen bilden sich an einem konkreten Ort und unterscheiden sich deutlich von statistischen Massen, die sich z. B. per Bekenntnis, Nationalismus, Radiokonsum oder auch alleinig unter der Feder der Demographen formieren. Ein solcher, viergliedriger Massenbegriff überwindet konstruktiv die Unschärfen des Begriffes, die aus der „modernen“ Polarität zwischen Individuum und Masse erwuchsen und die auch noch in Elias Canettis Konzeption von Masse wirksam waren.40 Canettis Unterscheidung in „geschlossene“ und „offene“ Massen zielt zwar auf innewohnende Mobilisierungsdynamiken, Wachstums- und Reproduktionsprozesse ab, bleibt aber zu abstrakt, um in der Masse Akteursverhalten zu entdecken. Denn das zu erklärende konkrete Handeln ist auch bei Canetti eine angeblich erklärende Blackbox.41 Ein Problem an Schrages Massenbegriff ist jedoch, dass er die Beziehung zwischen Präsenzmasse und kommunikativer Masse als ein Abfolgemodell konzipiert, denn die Typen von Massen stehen bei ihm auch für Zeitepochen der Moderne. Getrennt seien sie ihm zufolge durch den Siegeszug der Massenmedien, durch wel39 Ebd., 97 f. 40 Zugleich distanziert sich dieser Ansatz vom in der sozialen Bewegungsforschung populären Ansatz der kritischen Masse, der zwar sehr anregend besagt, dass die Ausbildung von Gruppen gerade nicht durch möglichst große Massen als Ressourcen bedingt ist, sondern eher durch das „Paradoxon der Gruppengröße“, welches darin besteht, dass sowohl zu kleine als auch zu große Massen den Aktivismus einer Bewegung behindern können. Trotz dieser äußerst erleuchtenden Feststellung verzichte ich im Folgenden auf eine Anwendung dieses Konzeptes, da es in Fragen des Reproduktionsprozesses auf einem Mobilisierungsparadigma beruht, welches Kausalitäten voraussetzt, die im hier vertretenen Konzept der Aktivismusanalyse nicht als Bedingungen auszumachen sind. Grundlegend: Pamela E. Oliver und Gerald Marwell, „The Paradox of Group Size in Collective Action: A Theory of Critical Mass II“, American Sociological Review 53, Nr. 1 (1988): 1–8; Gerald Marwell und Pamela E. Oliver, The Critical Mass in Collective Action: A Micro-Social Theory (Cambridge: Cambridge University Press, 1993); zuletzt kritisch evaluierend: Pamela E. Oliver und Gerald Marwell, „Whatever happened to Critical Mass Theory? A Retrospective and Assessment“, Sociological Theory 19, Nr. 3 (2001): 292–311. 41 Elias Canetti, Masse und Macht, 27. Auflage (Frankfurt am Main: Fischer, 2001), 14–21, 86–105.

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chen sich Präsenzmassen in kommunikative Massen umgeformt hätten.42 Betrachtet man dahin gehend jedoch den Aktivismus, fällt auf, dass zur Schaffung aktivistischer Gruppen zeitgleich sowohl gerichtete Präsenzmassen als auch kommunikative Massen notwendig waren. Sie bedingten sich gegenseitig, denn zumindest in der gegenkulturellen Aktion greifen Präsenzmasse und kommunikative Masse strukturell ineinander. So geschieht es beispielsweise auf einer Maidemonstration, bei der die Präsenzmasse auf der einen Seite die Demonstration ausmacht, flankiert von Flugblättern und Sonderausgaben eines bundischen Organs zum Zwecke der Formierung einer kommunikativen Masse bzw. gar mehrerer kommunikativer Massen (Bundisten, lokale Arbeiterschaft, internationale Arbeiterklasse usw.) und der Nachbearbeitung dieses Ereignisses in den bundischen Medien. Ebenso kann im Fall der birzshe eine scheinbare verstreute Masse nur durch das Selbstbewusstsein als Revolutionäre zur kommunikativen Masse werden. Aus diesem Grund schlage ich anstatt eines dreistufigen Abfolgemodells eine viergliedrige Typisierung vor (Tafel 5, S. 74). Masse als Beobachterkategorie

Masse als Gegenstand der kollektiven Selbstreflexion

Statistische Masse

Argumentative Masse

Kommunikative Masse

Präsenzmasse

Verstreute Masse

Gerichtete Masse

Tafel 5: Schematisierung von „Masse“

Diese Ausformungen von Masse verbanden sich in verschiedenen Aktivismusmustern des Bund unterschiedlich. Derart flexible Sinnkonstruktionen erläutern auch Legitimationsstrategien von Aktivisten, für die Handeln nicht selbstreferenziell sein durfte. Deutlich wird dies erneut an Medems „Streik“ in seinem Schreibkämmerlein in der Schweiz. Zwar stellte er aufgrund fehlender Zahlungen einfach das Schreiben ein, als bundischer Autor war es ihm jedoch wichtig, diese Arbeitsniederlegung als Arbeitskampf zu verstehen.43 Der dabei notwendige Bezug zur Masse gelang ihm nur retrospektiv in seiner Autobiographie. Vor Ort befand er sich in keiner für Streiks notwendigen Präsenzmasse, er konnte sein Handeln nur per kommunikativer Masse 42 Schrage, „Von der Präsenzmasse zur statistischen Masse“, 105 ff., 110 f. 43 Portnoy, Vladimir Medem, 492 f.

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an die Geschichte des Streikwesens anbinden. Nur dies erlaubte ihm, das Niederlegen der Feder als Aktivismus zu maskieren und damit als ehrenvoll darzustellen. Ein „Federführer“ des Bund mochte sich derart in eine Masse einschreiben können, die Großzahl der Bundisten hingegen brauchte, wie Arbeiter im Allgemeinen, andere Wege, um ihren Aktivismus als präsent zu erleben. Darum zielten sehr viele Aktivismusmuster des Bund letztendlich auf die Formierung von Präsenzmassen.44 Um diese Gegenwärtigkeit der Bewegung jedoch zu schaffen, benötigen soziale Bewegungen überpersönliche Kommunikationsmittel, woraus sich die Relevanz der bundischen Pressearbeit zu allen Zeiten erklärt.45

Die Frage des „richtigen“ Aktivismus In diesem massenverwurzelten politischen Aktivismus verschmolz um die Jahrhundertwende die im 19. Jahrhundert wurzelnde „aktivistische Wende“ der Bildungsaufklärer mit marxistischen Konzepten und revolutionären Utopien.46 Die neue Qualität wurde vor allem an den Reaktionen auf die Pogrome ab 1903 deutlich. John D. Klier spricht von einem lange dauernden „dialogue of violence“ zwischen Juden und Umwelt. Dieser sei im 20. Jahrhundert jedoch abgebrochen, da sich Gewalt von materieller Zerstörung und Plünderung in Richtung tödlicher Kämpfe verändert habe.47 Als Wendepunkt gilt der Pogrom in Kišinev von 1903.48 Nachdem in einem überraschenden Massaker an der jüdischen Bevölkerung Kišinevs im Frühjahr 1903 44 Die Analyse dieser Dynamiken trieb aus Furcht vor der sozialistischen „Masse“ die frühen Untersuchungen zum Thema an. Vgl.: Gustave Le Bon, Psychologie der Massen, 91. - 105. Tsd. der autoris. Übers. [Orig.: 1895] (Stuttgart: Kröner, 1968), v. a. 1–9. 45 Vgl. Kap. II. 2 [Publizistik]. 46 Zu den Bildungsbestrebungen, siehe v. a.: Verena Dohrn, Jüdische Eliten im Russischen Reich. Aufklärung und Integration im 19. Jahrhundert (Köln: Böhlau Köln, 2008); Alexis Hofmeister, „Pogrom und Politik: Gewalt, Kommunikation und die Neuausrichtung jüdischer Erwartungshorizonte im Zarenreich“, in Jenseits der Zarenmacht. Dimensionen des Politischen im Russischen Reich 1800–1917, hg. von Walter Sperling, Historische Politikforschung 16 (Frankfurt am Main: Campus Verlag, 2008), 375–407. 47 John D. Klier, „Christians and Jews and the ‚Dialogue of Violence‘ in Late Imperial Russia“, in Religious Violence between Christians and Jews. Medieval Roots, Modern Perspectives, hg. von Anna S. Abulafia (Houndmills: Palgrave, 2002), 157–172. 48 ������������������������������������������������������������������������������� Monty N. Penkover, „The Kishinev Pogrom of 1903: A Turning Point in Jewish History“, Modern Judaism 24 (2004): 187–225; Edward H. Judge, Easter in Kishinev. Anatomy of a Pogrom, Reappraisals in Jewish social and intellectual history (New York: New York University Press, 1992).

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an die 50 Juden getötet worden waren, rief der Bund im Sommer unter Bezugnahme auf den Kišinever Pogrom an die Waffen.49 Als sich dann im Herbst in Gomel’ erneut Gerüchte über einen drohenden Pogrom verdichteten, zog der Bund seine neu gegründeten Kampfeinheiten zusammen und trat erstmals in der jüdischen Geschichte den Pogromisten koordiniert mit Keulen und Revolvern entgegen. Das Ergebnis war kein einseitiges Massaker, sondern ein bewaffneter Bürgerkampf mit Todesopfern auf beiden Seiten.50 Diese Eskalation gab bereits einen Vorgeschmack auf die im Jahre 1905 folgende Revolution.51 Die Kampfeinheiten des Bund waren maßgeblich daran beteiligt, die „aktivistische Wende“ militärisch zu konnotieren und so eine neue Form der Gewaltbereitschaft in das Konzept des bundischen Aktivismus einzuschreiben.52 Dies war ein scharfer Bruch mit der jüdischen Tradition, die durch das Warten auf den Messias geprägt war und sich dennoch in einer unerträglichen Unterdrückung gefangen sah, gerahmt von einem System von Dominanz, Subordination und metaphysischer Utopie. Die sozialistischen Bewegungen, ob Bundismus, Arbeiterzionismus oder unter anderen Vorzeichen auch die russische Sozialdemokratie, zielten nun auf die Erlösung der Massen durch die Massen. Sie beanspruchten das Recht für sich, den gordischen Knoten zu durchschlagen. Die Frage aber war, in welcher Art dies geschehen sollte. Die Ideengeschichte begründet die zahlreichen Konflikte unter den russländischen Sozialismen durch verschiedene Parteiprogramme. Diese aber waren Epiphänomene und resultierten aus den Konstellationen, in denen sich die jeweiligen Bewegungen befanden. Ein bedeutender Teil der russischen revolutionären Bewegung glaubte zu Beginn des 20. Jahrhunderts, dass die direkte Aktion der zündende Funke sei, um den stotternden Motor der Revolution durch Bombenschlag und Pistolenschuss zum Laufen zu bringen.53 Dies sahen die marxistischen Gruppen als dem Klassenkampf abträglich, 49 Christoph Schmidt, Die entheiligte Utopie. Jüdische Ideen- und Sozialgeschichte am Dnepr (1750–1900) (Köln, Wien, Weimar: Böhlau, 2004), 188 ff., 199. 50 Sehr verhalten resümiert: Vladimir Miched’ko, „Gomel’skij pogrom 1903 goda: Etnićeskij konflikt ili grashdanhskja vojna?“, Evrei Belarusi, Nr. 3–4 (1998): 35–48. 51 Dem Donnersturm der Pogrome nach Verkündung des Oktobermanifestes konnte die bundische Selbstwehr wenig entgegen setzen. Vgl.: Shlomo Lambroza, „The Pogroms of 1903–1906“, in Pogroms: Anti-Jewish Violence in Modern Russian History, hg. von John D. Klier und Shlomo Lambroza (Cambridge: Cambridge University Press, 1992), 195–247. 52 Shlomo Lambroza, „Jewish Self-Defence during the Russian Pogroms of 1903–1906“, The Jewish Journal of Sociology 22, Nr. 2 (1981): 123–133. 53 Vgl.: Anke Hilbrenner, „Gewalt als Sprache der Straße: Terrorismus und seine Räume im Zarenreich vor 1917“, in Jenseits der Zarenmacht. Dimensionen des Politischen im Russischen Reich 1800–1917, hg. von Walter Sperling, Historische Politikforschung 16 (Frankfurt am Main: Campus Verlag, 2008), 409–432.

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da die Seinsveränderung auch eine Bewusstseinsveränderung benötigte. Beide waren jedoch Facetten der revolutionären Bewegung. So riefen die Sozialrevolutionäre ihre Kampfgruppen genau in jenem Jahr ins Leben, als die Exilgruppe um die Zeitschrift ‚Iskra‘ (russ.: Der Funke) und Lenin die Polemik wider die direkte Aktion zuspitzten. Lenins Schrift „Was tun“ war das entsprechende Manifest. Die Streitschrift stellt sich gegen die „gewerkschaftliche Kleinarbeit […] ohne Hilfe der Intellektuellen“, deren Aufgabe es sei, die „‚Aktivität‘ der Arbeitermassen“ zu fördern. Für Lenin litten weniger straff organisierte Bewegungen an der Starre der Spontaneität, da sie den Wunsch der Arbeiter nach Leitung nicht erfüllt hätten. Diese Arbeiter lässt Lenin fordern: Erfüllt eifriger diese eure Pflicht, und sprecht weniger von der ‚Steigerung der Aktivität der Arbeitermasse‘. Wir besitzen viel mehr Aktivität, als ihr glaubt, und wir verstehen es, durch offenen Straßenkampf sogar solche Forderungen zu unterstützen, die keine ‚greifbaren‘ Resultate‘ verheißen! Und es ist nicht eure Sache, unsere Aktivität zu ‚steigern‘, denn gerade euch selber mangelt es an Aktivität. Beugt weniger die Knie vor der Spontaneität und denkt mehr an die Steigerung eurer Aktivität, ihr Herren!54

Der Ruf der Arbeiter war der nach Führung und nach über ökonomische Verbesserungen hinausgehende Utopien. Akzeptiere die Intelligenz die direkte Aktion als Handlungsziel, wie angeblich bei den Sozialrevolutionären, beim Bund und bei anderen, Lenin zufolge auf das Tagwerk konzentrierten Parteien, bliebe vom Aktivismus nichts als Aktionismus übrig. „Oekonomisten und die modernen Terroristen“ haben nach Lenin „eine gemeinsame Wurzel: Das ist Anbetung der Spontaneität“.55 Die Aktion als solche bliebe immer unbestimmt, Sinn entstünde nur, wenn sie dem Großziel des politischen Kampfes diene, also der „Erziehung der Massen zur revolutionären Aktivität“.56 Anstatt die Masse als formende Ressource zu interpretieren, sah die Exilavantgarde der Iskra die Gefahr, der russische Sozialismus könne sprichwörtlich den Kopf verlieren und ins eigene Verderben rennen. Eine kleine, im Ausland weilende Gruppe von Berufsrevolutionären konnte solch radikal durchstrukturierte Konzepte leichter fordern und (vom Kaffeehaus aus) theoretisch umsetzen, als eine gewachsene oder wachsende Massenorganisa54 Vladimir I. Lenin, „Was tun?“, in Sämtliche Werke. Bd. IV: Die Periode der ,Iskra‘ 1900–1902, Zweiter Halbband (Wien, Berlin: Verlag für Literatur und Politik, 1929), 210 f. Hervorhebungen im Original; dies geht über die klaassische Organisationsfrage hinaus, auf die das Buch oft reduziert wird, wie Lars T. Lih hervorhob: Lars T. Lih, Lenin Rediscovered. What Is To Be Done? in Context (Leiden: Brill, 2006). 55 Lenin, „Was tun?“, 210. 56 Ebd., 206.

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tion, wie der Bund oder die Sozialrevolutionäre Partei. Beide entwarfen ihre utopischen Konzepte nicht am Reißbrett, sondern in Kommunikation mit den Massen. Dies ging einher mit massenbasierten Organisationsformen, aus denen sie Herkunft, Stärke und Zukunft ableiteten. Illegal operierende Massenbewegungen hatten gänzlich andere Partizipationsprobleme zu lösen als exil-zentristische Intellektuellenvereinigungen. In Russland musste nicht nur agitiert, sondern vor allem agiert werden, damit aus dem Sozialismus mehr als ein Debattierklub werden konnte. Etwas überzeichnet kann der programmatische Konflikt zwischen Bundismus und Iskraismus im systemtheoretischen Vokabular abgebildet werden. Dabei gibt es klar definierte Aktionsradien verschiedener Akteure, welche nicht als Handelnde, sondern als Behandelte auftreten. Über den erlösenden Determinismus hinausschauend ist auch Lenins Denken ein Resultat des Wechselspiels zwischen Ursache und Wirkung, sowohl das Entstehen seines Konzepts als auch die zwangsläufige funktionale Differenzierung einer wachsenden Ideenwelt. Der Konflikt resultiert dabei weniger aus der Organisationsfrage selbst, sondern aus der Selbstbezogenheit und strukturellen Arbitrarität systeminterner Kommunikation.57 Die Debatten zwischen Bund und den Bolschewiki mussten demnach eskalieren, aber weniger aufgrund inhaltlicher Differenzen, wie bislang anhand der Programme beider landläufig behauptet,58 sondern aufgrund struktureller Schließungen der jeweiligen Systeme.59 Es lag, Luhmanns Gedanken folgend, nicht daran, dass die Inhalte zu weit auseinanderlagen, um sie verhandeln zu können, sondern vielmehr daran, dass die kommunikative Basis, also die Bereitstellung einer Kommunikation ermöglichenden Situation nicht nur kompliziert, sondern aufgrund der verschiedenen Aktivismuskonzeptionen auf Dauer unmöglich war. Darum stellte sich für den Bund die Frage nach der Spontaneität grundlegend anders. Da für ihn vor allem Präsenzmassen Aktivismus legitimierten, konnten sie organisatorisch nicht über Bord geworfen werden, um sich der Konspiration der Berufsrevolutionäre zu ergeben. In diesem Kurs sah sich der Bund durch den starken Zulauf in den vorrevolutionären Jahren bestätigt. Jedoch war der Bund keineswegs egalitär, auch in ihm entwickelten sich klare Hierarchien und Zuständigkeiten aufgrund verschiedener Bildungsstände. Die im Bund übliche Bezeichnung intern aufsteigender Arbeiter als „Halbintelligentsia“, welche von der Forschung willig über57 Niklas Luhmann, Einführung in die Systemtheorie, hg. von Dirk Baecker (Heidelberg: Carl Auer, 2002), 78; Claudio Baraldi, Giancarlo Corsi, und Elena Esposito, GLU: Glossar zu Niklas Luhmanns Theorie sozialer Systeme (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2008), 123 ff., 142 f., 176 f. 58 So klassisch bei: Keßler, „Parteiorganisation und nationale Frage“, 219–231. 59 Niklas Luhmann, Soziale Systeme. Grundriss einer allgemeinen Theorie (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1984), v. a. 193–197.

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nommen wurde, bezeugt sowohl das Strukturbedürfnis als auch die scheinbar kaum überbrückbare soziale Differenzierung.60 Es liegt auf der Hand, dass der Begriff der Halbintelligenz von betroffenen Arbeitern als Abqualifizierung verstanden wurde. Da also der Bund aus dem Aktivismus seiner Mitglieder erwuchs, können in der folgenden Analyse des bundischen Aktivismus nicht die Debatten über ihn im Zentrum stehen, sondern müssen seine Ausformungen untersucht werden. Ein solch „flaches“ Modell positioniert sämtliche Ausprägungen des Aktivismus zuerst nebeneinander, es setzt keine inhärenten Hierarchien wie die Vormacht der Schrift über die Arbeiterorganisation voraus. Aktivismusmuster ergänzen sich gegenseitig, wobei Deutungshoheiten und Wegsetzungen stets neu ausgehandelt wurden. Sie konstituierten die soziale Bewegung, machten sie für verschiedene Schichten erlebbar und transferierbar. Durch diese Sinnkonstruktionen wurden Arbeiteraktivisten zu Bundisten und im Migrationsprozess eine lose organisierte Arbeiterbewegung zum transnationalen Bund. Die folgende Ergründung erst des bundischen Aktivismus in Osteuropa und der darauf aufbauenden Übertragungen verdeutlicht darum auch, dass die Transnationalisierung sozialer Bewegungen keineswegs allein anhand der „diffusion of ideas“ untersucht werden kann. Vielmehr waren es Praktiken, die soziale Bewegungen erschufen, die sie lokal erlebbar machten und die sie transnationalisierten.61

60 �������������������������������������������������������������������������������������� So in: Mendelsohn, Class Struggle in the Pale, 62, 70; Tobias, The Jewish Bund in Russia from its Origins to 1905; Susanne Marten-Finnis, „The Bundist Press: A Study of Political Change and the Persistence of Anachronistic Language during the Russian Periode“, in Jewish Politics in Eastern Europe. The Bund at 100, hg. von Jack Jacobs (New York: New York University Press, 2001), 14; distanzierter: Pickhan, Gegen den Strom, 43; und ebenso in Bezug auf die russisch-jüdischen Revolutionäre auf der anderen Seite des Atlantik: Benjamin Stolberg, Tailor’s Progress. The Story of a Famous Union and the Men Who Made It (Garden City, New York: Doubleday, 1944), 6. 61 ���������������������������������������������������������������������������������������� Siehe v. a.: Donatella della Portella und Hanspeter Kriessi, „Social Movements in a Globalizing World: An Introduction“, in Social Movements in a Globalizing World, hg. von Donatella della Portella, Hanspeter Kriessi, und Dieter Rucht (London: Macmillan, 1999), 3–22; W. Lance Bennett, „Social Movements beyond Borders: Understanding Two Eras of Transnational Activism“, in Transnational Protest and Global Activism, hg. von Donatella Della Porta und Sidney G. Tarrow (Lanham, MD: Rowman & Littlefield, 2005), 203–226.

2. Aktivismusmuster in Osteuropa: Die Konstitution des Transferierbaren Environments are invisible. Their groundrules, and overall patterns elude easy perception. Marshall McLuhan und Quentin Fiore1

Für Bundisten war der Bund Ziel und Ursache des Aktivismus zugleich. Das ihn schaffende Handeln wurde jedoch weitaus weniger reflektiert als seine Zielsetzungen. Wenn überhaupt, wird es von Autobiographen in Berichten über deren Jugend getan, da darüber Bundistsein in Identität gewandelt werden konnte. Biographisierungen aber wirken generationell verschoben. Darum gilt für den Bund und die jüdische Arbeiterbewegung, was Edward  P. Thompson bereits für die englische feststellte: „The working class did not rise like the sun at an appointed time. It was present in its own making.“2 Die Geschichte des Bund entwickelte sich nicht entlang eines Zeitstrahls, sondern in Form eines Zeiten und Räume überspannenden Netzwerkes. Unter sich wandelnden Bezügen auf die Geschichte der Arbeiterbewegung und des Bund wurden dabei Sinn, Strukturen und Inhalte ausgehandelt, woraus sich erneut Handlungslegitimationen ableiten ließen.3 So hat der Bund überhaupt nur eine Geschichte, weil er „gemacht wurde“: Tag für Tag, Stadt für Stadt, Person für Person.

Aktivismusmuster als Ausgangspunkt einer neuen Geschichte des Bund Durch die zahlreichen Aktivismusmuster des Bund konnte das „soziale Band“ des Bund stets neu geknüpft werden. Daraus entstanden Institutionen, die ihrerseits Aktivisten hervorbrachten oder aber auch in Ermangelung von ausreichend Aktivismus wieder verschwanden.4 Es war weniger „the labor movement [which] offered 1 2 3 4

Marshall McLuhan und Quentin Fiore, The Medium is the Massage: An Inventory of Effects (New York et al.: Bantam Books, 1967), 84 f. Edward P. Thompson, The Making of the English Working Class (New York: Pantheon Books, 1964), 9. Daraus ergab sich erst die Möglichkeit, eine bundische Identität auszubilden. Vgl.: Frank Wolff, „Kollektive Identität als praktizierte Verheißung. Unter Institutionen verstehe ich, angelehnt an die Neue Institutionenökonomik sämtliche per Konvention ausgeprägten Handlungsmuster, Normen, Sitten und Bräuche

Aktivismusmuster in Osteuropa

81

its members a completely new way of life, a new framework within which to live and work“.5 Vielmehr konnte die neuartige Arbeiterbewegung zur Lebenswelt werden, weil beide intentional durch Aktivisten in einem „täglichen Plebiszit“ geschaffen wurden.6 Aktivisten sind aber immer auch Spezialisten, was mit der Zunahme der funktionalen Differenzierung innerhalb der sozialen Bewegung stets zunimmt. Daraus folgte, dass die tuer des Bund in verschiedenen Bereichen tätig wurden, ob als Agitator, Autor, Lehrer oder Drucker. Da sich dies ballte und institutionalisierte, entstanden Aktivismusmuster, anhand welcher der Bund unter handlungstheoretischen Fragestellungen historisiert werden kann. Die offene Frage ist, welche Ballungen, also welche Aktivismusmuster kausal für die Geschichte des Bund waren. Diese zu definieren, ist das Fundament einer praxistheoretischen Geschichte des Bund. Erst darauf aufbauend wird sich die Frage stellen lassen, welche dieser Muster geeignet oder notwendig für eine transnationale Geschichte des Bund waren. Aufgabe dieses Kapitels ist es erstens, die unterscheidbaren Aktivismusmuster des Bund in Osteuropa zu erfassen, sie zweitens in den verschiedenen rechtlichen Situationen zu verorten und drittens ihre Funktion in der Geschichte des Bund auszuloten. Aktivismusmuster sind darum Analysekategorien, keine historischen Einheiten. Sie dienen der Typisierung politisch motivierten Handelns, führten jedoch selten selbst zu selbstreflexiver Quellenproduktion. Sie kennzeichnen sich nicht nur durch Orts- und Zeitbindung, sondern auch durch retrospektive Sinnzuschreibungen durch die Teilhabenden. Als derartige Kategorien ziehen sie sich durch die Geschichte des Bund. Sie wirken wie Widerstände, an denen der Betrachter die Einwirkungen der Außenwelt und Spannungsschwankungen im Inneren zugleich ablesen und messen kann. Darum erlaubt erst die Pluralisierung der Perspektiven, also zum Beispiel durch die in dieser Studie genutzten offiziellen Quellen ergänzt durch über 500 autobiographische Quellen und weitere knapp 500 autobiographische Fragebögen, Kontinuitäten und Wandel des Aktivismus zu erkennen. Mittels datenbankgestützter Analyse kann dies zu Clustern, zu Aktivismusmustern verdichtet werden. An diesem Punkt ist die (später noch zu hinterfragende) einfache Unterscheidung zwischen einem „russländischen“ und einem „polnischen“ Bund ausreichend.

5 6

aber auch Organisationen, die innerhalb einer sozialen Bewegung Verständigung und Orientierung über den Personenbezug hinaus ermöglichen, vgl.: Stefan Voigt, Institutionenökonomik, 2. durchgesehene Auflage (Paderborn: Fink, 2009), 14 f. Mendelsohn, Class Struggle in the Pale, 153. Ernest Renan, „Was ist eine Nation“, in Grenzfälle - Über neuen und alten Nationalismus, hg. von Michael Jeismann und Henning Ritter (Leipzig: Reclam, 1993), 290– 311.

82

Der Bund als soziale Bewegung

Denn während der Bund in Russland bis auf wenige Monate nach dem Oktobermanifest 1905 verboten war, konnte er sich in Polen trotz zahlreicher Widerstände vergleichbar frei entfalten. Dies ging mit dem Verschwinden von Aktivismusmustern einher, die in der Illegalität zentral waren, in der Legalität aber an Relevanz verloren. Die folgende Schematisierung bundischer Aktivismusmuster zielt darum nicht auf die vollständige Erfassung jedweden bundistisch motivierten Aktivismus. Sie präsentiert vielmehr die qualitativ und quantitativ feststellbaren, Sinn schaffenden Cluster bundischen Handelns zu Zeiten verschiedener Rechtszustände in Osteuropa (siehe Schematisierung in Tafel 6, S. 82f.). Aktivismus­ muster

Versammlungen

Publizistik Parteiarbeit

Bildungsarbeit

Arbeitskampf

Ausprägung (Beispiele)

Aktivismusmuster im russländischen Bund

Aktivismus­ muster im polnischen Bund

Geheim-kumulativ (kružki, Referate, Treffen in Wäldern etc.)

+

(–)7

Öffentlich-konspirativ (birzshe)

+



Konfrontativ-öffentlich (Demonstrationen)

+

Kommemorativ-vergemeinschaftend (Erinnerungstreffen)

(–)

+

Repräsentativ vergemeinschaftend (Schaffung von Klubs und manifesten Institutionen)

(+)

+

Materiell (Druckerei, Schmuggel etc.)

+



Inhaltlich (Autorschaft)

+

+

Organisierend (Komitees)

+

+

Programmatisch (Kongresse)

+

+

Parlamentarisch (Wahlen)



+

Geheim-punktuell (Zirkel, Kreise)

+



Öffentlich-punktuell (Kulturzentren)



+

Öffentlich-breitenwirksam (Schulsystem)



+

Geheim-vorbereitend (Konspiration, kassy)

+



Öffentlich-konfrontativ (Streiks)

+

+

Offiziell-hierarchisiert (Dachorganisationen)



+

Kulturalisierend (yidishkayt im Arbeitskampf )

+

+

83

Aktivismusmuster in Osteuropa Aktivismus­ muster

Bewaffnete Militanz

Gruppen­ spezifischer Aktivismus

Ausprägung (Beispiele)

Aktivismusmuster im russländischen Bund

Aktivismus­ muster im polnischen Bund

+

+

Protektiv (Selbstschutz)8

+

+

Revanchistisch (Organisierte Rache)

o



(+)9

+



+

(+)

+

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Situativ (Prügel als „Argument“)

Generationell ( Jugend)

Geschlechtsspezifisch (YAF) Revolutionäres Fundraising

Mitgliedsbeiträge Spenden sammeln

Legende: + tendenziell als Aktivismus vorhanden; – tendenziell nicht als Aktivismus vorhanden; (+), (–) Tendenz eingeschränkt; o gescheitert.

Tafel 6: Schematisierung bundischer Aktivismusmuster in Osteuropa789

Verfolgung und politische Identität Dass sich der Bund so schnell ausbreiten konnte, lag auch daran, dass „das Zarenreich sicherlich kein patriarchaler Polizeistaat [war] wie Richard Pipes ihn einst beschrieb“,10 sondern dass in Nischen politisches Handeln stets erweitert wurde, was bis in die Zellen der zarischen Gefängnisse reichte. Russland ist zudem nicht als eine einheitliche Zone zu verstehen. Wie Jane Burbank verdeutlicht, ist mindestens zwischen dem Zustand im Osten und Westen Russlands zu unterscheiden, wobei sie aus der Perspektive der östlicheren russischen Regionen die Kritik der Intelligencija an

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Referate, Bildungsarbeit, etc. nicht mehr geheim, sondern öffentlich-informativ. Folgte nicht direkt rechtlichen Gegebenheiten, sondern vor allem den Ausprägungen des Antisemitismus und der konterrevolutionären Kräfte. 9 Existent aber institutionell unerwünscht, kämpfte selbst dafür, ein Aktivismusmuster im Bund sein zu dürfen. 10 Walter Sperling, „Jenseits von ‚Autokratie‘ und ‚Gesellschaft‘: Zur Einleitung“, in Jenseits der Zarenmacht: Dimensionen des Politischen im Russischen Reich 1800–1917, hg. von Walter Sperling (Frankfurt am Main: Campus Verlag, 2008), 19; verweisend auf den Klassiker: Richard Pipes, Russia under the Old Regime (New York: Collier Books, 1974).

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den russischen Zuständen als überzogen begriff.11 Bei genauerem Betrachten muss man diese Binnendifferenzierung noch weiter verfeinern: Die Verfolgungswahrscheinlichkeit durch staatliche Autoritäten unterlag nicht nur einem Ost-West-Gefälle, Polen und der Großteil des jüdischen Rayons müssen vielmehr als Ausnahme innerhalb Westrusslands gesehen werden. Dazu kommen punktuelle Schwerpunkte in den Städten des westlichen Zarenreiches. Die revolutionäre Arbeiterbewegung war in jenen Verdichtungszonen aktiv, in denen auch die Geheimdienste am stärksten operierten. Eine Ausnahme sind jedoch die für den Bund bedeutsamen Schtetl, in denen die Verfolgungswahrscheinlichkeit auch in Zwischenkriegspolen wesentlich geringer war.12 Hierzu fehlen jedoch aussagekräftige Mikrostudien, die ein tieferes Verständnis der sozialen Interaktionen zwischen Staatsmacht und sozialen Bewegungen ermöglichen.13 Zudem beinhaltet die Verfolgungsangst der Intelligencija und ihrer Anhänger durch den strukturell eher schwach ausgebildeten Polizeiapparat eine diskursive Komponente. Einer der Erfolge der russischen Geheimpolizei lag darin, trotz verhältnismäßiger Schwäche stets omnipräsent zu erscheinen. So schaffte sie es auch „more overblown than accurate“ in die Weltpresse und wurde darin zu jenem von Immigranten weiter genährten Gespenst, welches auch in den USA 1908 dazu diente, eine mögliche FBI-Gründung als russischen Schreckenszustand und damit als „a great blow to freedom“ zu verdammen.14 Verfolgung entstand weniger durch einen omnipräsenten Polizeistaat, sondern abhängig davon, ob die entsprechende Bewegung in den Fokus der Geheimpolizei geriet und dann deren Willkür ausgesetzt war. Gegen Verfolgung standen keine belastbaren Rechtsmittel zur Verfügung.15 Unklar ist jedoch, wie wahrscheinlich 11 Jane Burbank, Russian Peasants Go to Court: Legal Culture in the Countryside, 1905– 1917 (Bloomington: Indiana University Press, 2004); zur „Sprache der Intelligentsija“: Jane Burbank, „Securing Peasant Society: Constables and Courts in Rural Russia, 1905–1917“, in Staats-Gewalt: Ausnahmezustand und Sicherheitsregimes, hg. von Alf Lüdtke und Michael Wildt (Göttingen: Wallstein, 2008), v. a. 99 f. 12 Sowohl im zarischen Russland als auch in Zwischenkriegspolen wurde die Einhaltung der Gesetze und Restruktionen abseits der Großstädte wesentlich weniger überwacht, vgl: Mahla, „Between Socialism and Jewish Tradition“, 180 f. 13 ���������������������������������������������������������������������������� Grundlegend: Moshe Mishinsky, „Regional Factors in the Formation of the Jewish Labor Movement in Czarist Russia“, YIVO Annual of Jewish Social Sciences 14 (1969): 27–52. 14 So der republikanische New Yorker Kongressabgeordnete George E. Waldo, zit in.: Max Lowenthal, The Federal Bureau of Investigation. (New York: Sloane, 1950), 3 f.. 15 Da öffentliche Gerichtsverhandlungen unsichere Ergebnisse verhießen und zudem von Revolutionären oft als Bühnen für ihre Propaganda genutzt wurden, übergaben die Autoritäten im Lichte der steigenden politischen Verhaftungen immer weniger Fälle an die Gerichte. In den Jahren 1894 und 1902 betraf dies laut Zuckerman keinen ein-

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eine Verhaftung wirklich war. Frederic S. Zuckerman argumentiert, dass die 5590 Personen, deren Fälle 1903 durch das Justizministerium direkt und ohne Einschaltung unterstehender Gerichte behandelt wurden, in Bezug auf ca. 128 Millionen Bewohner Russlands eine quantitative Marginalie seien.16 Die räumliche Verteilung bleibt hierbei freilich unbeachtet. Zudem kann dies anhand eines Vergleichs mit dem liberaleren Deutschland qualifiziert werden. Dort wurden zwischen 1903 und 1912 aufgrund des § 153 GewO 10.536 Personen vor Gericht gestellt. Dieser offiziell zum „Schutz der Arbeitswilligen“ installierte Paragraph galt als „Sonderstrafrecht gegen Arbeiter“ der Streikabwehr.17 Nach seiner Einführung steigerten sich laut amtlicher Statistik das polizeiliche Einschreiten gegen Streiks in Deutschland von 1904 (21,6 % der Streiks) bis 1912 (35,9 %) ebenso wie die staatsanwaltschaftliche Nachverfolgung (16,6 % bzw. 22,4 %).18 Doch im Rechtsspruch zeigt sich der qualitative Unterschied zu Russland. In Deutschland wurden 48 % der von 1903– 1912 wegen § 153 GewO Angeklagten freigesprochen, 40 % wurden zu einer Haft von unter vier Tagen verurteilt. Nur 5,8 % der Verurteilten erhielten eine Haftstrafe von ein bis drei Monaten und nur 0,5 % von über drei Monaten.19 Der Unterschied zu Russland liegt darin, dass es dort keinen Anspruch auf einen ordentlichen Prozess gab. Dieser wurde vielmehr aufgrund der Gefahr eines Freispruchs zielgerichtet verhindert.20 Dies addierte sich in den Westprovinzen zu den Unterdrückungsmaßnahmen, die infolge des polnischen Aufstands 1863 eingeführt worden waren. Die späteren „Maigesetze“ trafen explizit die jüdische Bevölkerung.21

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zigen Fall und in den tumultösen Jahren 1902 und 1903 lediglich 15 Fälle. Die Zahl betroffener Personen und direkter Verurteilungen steig jedoch massiv an. Frederic S. Zuckerman, The Tsarist Secret Police in Russian Society. 1880–1917 (Basingstoke et al.: Macmillan, 1996), 15. Ebd., 16 f. Mit dem Ausbau der Okhrana unter Vjačeslav K. von Pleve entstand auch das pseudegewerkschaftliche Provokateurssystem Sergej V. Zubatovs, woraufhin sich die Abkapselung und die Aggressivität der Revolutionsbewegung erneut erhöhten. Vgl.: Ronald Hingley, Die russische Geheimpolizei (Bayreuth: Hestia, 1972), 126 f. Michael Kittner, Arbeitskampf. Geschichte, Recht (München: Beck, 2005), 294–298. Ebd., 362. Ebd., 301. Zuckerman, The Tsarist Secret Police in Russian Society, 15. Diese Gesetze waren sowohl als Strafmaßnahme gegen die angeblich schuldigen Juden als auch zur Eindämmung der Pogrome geplant. Erreicht wurde nur Ersteres. Vgl: Klier und Lambroza, „The Pogroms of 1881–1884“; in seiner klassischen Studie hebt Aronson dabei hervor, dass die Pogrome keine Initiative „von oben“ waren, sondern vielfältigen und oft lokalen Dynamiken folgten: Irwin Michael Aronson, Troubled Waters: The Origins of the 1881 Anti-Jewish Pogroms in Russia (Pittsburgh, PA: University of Pittsburgh Press, 1990).

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Folge war eine Ballung politischer Gefangener in spezifischen Trakten der zarischen Haftanstalten, wo sich wunderbar politische Versammlungen abhalten ließen. Für zahlreiche bundische Arbeiter war die Haft damit nicht nur Verfolgungsinstrument, sondern auch ein Politisierungsfaktor und ein „Ritterschlag“ durch den Gegner. Es kam oft vor, dass Personen wegen Marginalien in Haft gerieten, aber hochpolitisiert das Gefängnis verließen.22 Mithäftlinge nahmen beispielsweise dem nierenkranken Vladimir Medem Arbeiten und Besorgungen ab, wofür dieser im Austausch Vorträge und Schulungen im Gefängnis hielt. Wie sich sein ehemaliger Zellengenosse Stanislav Dvorak erinnert, habe Medem sogar häufig vor Publikum referiert und agitiert.23 An den Erinnerungen der bildungshungrigen Arbeiter wird klar: Das System der politischen Haft in Russland war ein Durchlauferhitzer und Gefängniszellen waren Orte potenzieller revolutionärer Vergemeinschaftung. Die Gefahr einer Verhaftung herrschte aber nicht nur zu russischen, sondern auch zu polnischen Zeiten. In den autobiographischen Fragebögen (Typ IV) gibt knapp ein viertel Haftzeiten in Zwischenkriegspolen an, fast ebenso viele wie zu russischen Zeiten. Wenn dies genauer expliziert wird, hängt es fast immer mit einer zuvorigen Versammlung zusammen.24 In Polen war die Haftzeit aber bedeutend kürzer. In Russland konnte sie leicht Monate dauern und direkt in die Verbannung nach Sibirien führen.25 Diesen Zahlen sollte man jedoch kritisch begegnen. Es ist mehr als unwahrscheinlich, dass ein Viertel der Aktivisten in die Hände der zarischen oder polnischen Polizei fiel. Vielmehr band die Haft die Aktivisten fester an den Bund. Für den Staat war das System der politischen Haft in doppeltem Sinne kontraproduktiv. Erstens wurden in den Zellen viele Rebellen zu Revolutionären. Zweitens verfestigte die öffentliche Desintegration der Häftlinge von ihrem ur22 Knapp 50 % der Fragebogenkampagne Typ IV berichten von Haftepisoden in Russland und/oder Polen. Bund-Archives, New York, RG 1400, MG2–429, zur Kampagne, siehe Kap. II.4 [Fragebögen]. 23 Seine Erinnerungen finden sich gedruckt in: Stanislav Dvorak, „[Erinnerungen, ohne Titel]“, in Vladimir Medem. The Life and the Soul of a Legendary Jewish Socialist, hg. von Samuel A. Portnoy (New York: Ktav, 1979), 550–558. 24 Bund-Archives, New York, RG 1400, MG–2, #429. 25 Ermittelt aus: Bund-Archives, New York, RG 1400, MG–2, #429; in der bundischen Parteipresse wurde eine solche Verbannung in einer der ersten Autobiographien und der ersten bundischen Arbeiterautobiographie überhaupt heldenhaft inszeniert: A farshikter arbeyter, „Vi bin ikh gelofn fun sibir“, Di arbeter shtime 37 (1904): 2–7; vor allem nach der Emigration konnte dies aber auch als Leiden verstanden werden, was bestenfalls situativ weiteren Aktivismus, wie das Verteilen von Flugblättern in der Verbannung, erlaubte, vgl.: Israel Pressman, „Roads that passed: Russia My Old Home [Orig: Der durkhgegangener veg, 1950]“, YIVO Annual of Jewish Social Sciences 22 (1995): 29 f., 55 f.

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sprünglichen sozialen Umfeld die gegenkulturellen Identitäten. Während die Angst vor Verhaftung abschreckend wirken konnte, vergemeinschaftete die Haft und legte sich das Fundament für weiteren Aktivismus. Wohl auch aus diesem Grund benennen zahlreiche Antwortende Lageraufenthalte im Zweiten Weltkrieg als „Haft“. Dies erlaubte, die außergewöhnliche Erfahrung des Holocaust oder der Verfolgung im stalinschen Russland in den Begriffen des Bund zu normalisieren.26

Versammeln: Aktivismusmuster als Grundlage für Aktivismus Der erste Anlaufpunkt zur Politisierung waren jedoch die Versammlungen des Bund. Er war, trotz seiner (spät)aufklärerischen Wurzeln und seines ausgeprägten Publikationswesens, keine république des belles lettres, sondern lebte vom physischen Zusammenkommen. Das naheliegende und einfachste, wenn auch nicht ungefährliche Aktivismusmuster war das Versammeln als Bundisten. Durch die Verfolgung jedes oppositionellen Engagements durch die zarische Obrigkeit sahen sich sämtliche russländischen sozialistischen Bewegungen gezwungen, die für die Vergemeinschaftung notwendigen Treffen ins Geheime zu verlegen. Diese Treffen waren darum sicherlich nicht nur wegen der Propaganda und Aufklärung reizvoll, sondern auch aufgrund ihrer Illegalität. Das dafür notwendige und daraus resultierende Gemeinschaftsgefühl festigte die Gruppe über den Akt hinaus, weswegen sowohl erfolgreiche als auch gescheiterte Versammlungen in sämtlichen Lebensschilderungen aktivistischer Arbeiter als die Essenz des frühen Engagements dargestellt werden.27

26 Bund-Archives, New York, RG 1400, MG2, #429 – Typ IV fragte im Gegensatz zu Typ III nicht nach Lagern sondern explizit in Begriffen der russischen Verfolgung danach, wann die Aktivisten „farhaftet un farshikt“ [verhaftet und verbannt] worden waren. Knapp 20% nutzen dies, um ihre Lagererfahrung explizit nivellierend darunter zu kategorisieren, teilweise auch in Kombination mit vorherigen politischen Verhaftungen. 27 Z. B. in: YIVO, RG 102, #108, Ahron Cohen, 1942; Sholom Levin, Untererdishe kemfer (New York: Sholom-Levine-Bukh-Komitet, 1946); Berl Shtern, Zikhroynes fun shturmishe yorn. Bielsk 1898–1907 (Newark: Arbeter ring komitet in Nuark, 1954); diese Erfahrungen beeinflussten aber auch die Leben von Intellektuellen, vgl.: Anna Rozenthal, „Arkadis letste yorn“, in Arkadi: Zamlbukh tsum ondenk fun Arkadi Kremer (New York: Unzer tsayt, 1942), 256 ff.; oder auch von zionistischen Aktivisten, die ebenfalls mit den Versammlungen den fehlenden Respekt vor den traditionellen Vergemeinschaftungsmodi zum Ausdruck brachten, eindrücklich in: Schneur Zalman Shazar, „Defenders of the City“, in The Golden Tradition: Jewish Life and Thought in Eastern Europe, hg. von Lucy S. Dawidowicz (New York: Holt, Rinehart and Winston, 1967), 383–388.

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Die Angst vor Aufdeckung oder Verrat führte zur Verschärfung der Konspiration. Im Sinne der sozialen Bewegungsforschung war bereits schon sozialistisch motiviertes Versammeln im Zarenreich „high-risk activism“.28 Die Konspiration sollte aber immer in Agitation umschlagen, denn der Gang aus der Kammer auf die Straßen war ein unbedingtes Ziel. Aufgrund der Gefahr verstanden Aktivistien schon das Partizipieren an solchen Versammlungen als gegenhegemonielles Handeln.29 In vielen Erinnerungen dient das erste erlebte Zusammenkommen als der agitative Ini­ tialmoment. Die Versammlungen waren darum Rituotope, bei denen „die Sozialisation des Einzelnen stattfindet“, indem „die Programmatik der Kultur/Formation/ des Sozialen explizit und dem Einzelnen inkorporiert wird“.30 Mittels der „Praxisform der Rituotope“ trugen diese werdenden Bundisten dann zur Reproduktion der Gruppe und der Bewegung bei.31 Die große Mehrzahl solcher außerhalb von Gefängnismauern stattfindenden Zusammenkünfte des Bund ist in vier Typen subsummierbar: Geheimtreffen, getarnte Treffen in der Öffentlichkeit, konfrontativöffentliche und kommemorativ-öffentliche Zusammenkünfte.

Geheim-kumulativ. Bildungstreffen in Wäldern Unter Geheimtreffen sind kollektive und konspirative Zusammenkünfte abseits der öffentlichen Räume zu verstehen. Teilweise fanden sie als direkte Erben der Bildungskreise [russ.: kružki, danach jidd: kruzshki, auch kreyslekh: Kreise, Zirkel] in Hinterzimmern, Dachkammern und Kellerräumen statt.32 Das berühmteste dieser Art ist freilich die Gründung des Bund in einem Wilnaer Dachkämmerlein selbst. Bei solchen geheim-kumulativen Versammlungen waren die Teilnehmerzahlen begrenzt und das Risiko der Entdeckung durch Verfolgung und Bespitzelung recht 28 ������������������������������������������������������������������������������� Siehe v. a.: Doug McAdam, „Recruitment to High-Risk Activism: The Case of Freedom Summer“, American Journal of Sociology (1986): 64–90; Greg Wiltfang und Doug McAdam, „Distinguishing Cost and Risk in Sanctuary Activism“, Social Forces 69 (1991): 987–1010. 29 In vielen Schilderungen schließen an Demonstrationen direkt Verhaftungen an, eindrücklich bei: Yoel Novikov, Zikhroynes fun a yidishn arbeter (Tel Aviv: Kultur Lige, 1967), 33. 30 Burkhard Dücker, Rituale. Formen – Funktionen – Geschichte (Stuttgart, Weimar: Metzler, 2007), 109. 31 Ebd., 113. 32 Für eine eingehendere Darstellung der kružki in ihrer Funktion als Fundament einer entstehenden wissenschaftlichen Alltagskultur in Russlands, siehe: Daniel A. Alexandrov, „The Historical Anthropology of Science in Russia“, Russian Studies in History 34, Nr. 2 (1995): 68–72.

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hoch. Sie fungierten vor allem als Organisations- oder Bildungstreffen, wobei „bilden“ durchaus in doppeltem Wortsinn als Arbeiter- und als Institutionsbildung zu verstehen ist. Da der Bund keine „Agentenpartei“ nach leninschem Vorbild war, brauchte er Breitenwirkung und Öffentlichkeit.33 Am populärsten waren darum Treffen in öffentlichen Räumen, die entweder konspirativ oder kumulativ ausfallen konnten. Zu Letzteren zählen vor allem Treffen in nahen Wäldern. Diese waren zwar auch der Gefahr der Entdeckung ausgesetzt, für sie war die Konspiration aber nicht Zweck, sondern nur Bedingung. Sie dienten in erster Linie der internen Vergemeinschaftung.34 Vor allem aus Schtetln stammende Aktivisten sprechen solchen Treffen in den Wäldern höchste Bedeutung zu, und zwar selbst dann, wenn, wie bei Berl Shtern, die Versammlung aufgrund zu großer Angst der Arbeiter ein totaler Reinfall war.35 Vor allem im Vorfeld des Revolutionsjahrs 1905 waren solche Treffen omnipräsent im Rayon – und zugleich versteckt. Besonders erfasst der Zimmermann Yoel Novikov die Gründungsfeier des Bund in Gorki im Jahre 1904. Um keinen Verdacht zu erregen, habe man „die Jugend [imitiert], die an Tisha B’Av36 den ganzen Tag in den Wald zu gehen pflegte, um Pilze zu sammeln“. Auf dem Marsch achtete man besonders darauf, dass sich keine zufälligen oder unerwünschten Gäste in den Zug einreihten. Als sie die entsprechende Stelle im Walde erreichten, flatterte an einem Baum eine rote Fahne mit der Aufschrift „Es lebe der Bund!“. Wir verbrachten den Tag mit feierlich begeisterten Reden und mit Bier und kleinen Speisen. In einer Rede erklärte der khaver Vilner den Tisha B’Av als einen Trauertag einer weit zurückliegenden Vergangenheit. Unter anderem sagte er: ‚Wir feiern heute den Tag der Zukunft, den Tag der Freude, der Freiheit und des Sozialismus.‘37 33 Die klassische Folie für die westdeutsche Forschung lieferte dahin gehend: Dietrich Geyer, Lenin in der russischen Sozialdemokratie. Die Arbeiterbewegung im Zarenreich als Organisationsproblem der revolutionären Intelligenz 1890–1903 (Köln, Graz: Böhlau, 1962); spezifischer zum Bund jedoch: Mario Keßler, „Parteiorganisation und nationale Frage – Lenin und der jüdische Arbeiterbund 1903–1914“, in Lenin – Theorie und Praxis in historischer Perspektive, hg. von Theodor Bergmann (Mainz: Decaton Verlag, 1994), 219–231. 34 ���������������������������������������������������������������������������������� Bertha Fox, „The Movies Pale in Comparison“, in My Future Is in America: Autobiographies of Eastern European Jewish Immigrants, hg. von Jocelyn Cohen und Daniel Soyer, [Orig.: YIVO, 1942] (New York: New York University Press, 2006), 216; Levin, Untererdishe kemfer, 94. 35 Shtern, Zikhroynes fun shturmishe yorn, 15 f. 36 Traditioneller Fastentag zur Erinnerung an die Zerstörung der Tempel in Jerusalem, 1904 fiel er auf den 21. September. 37 Novikov, Zikhroynes fun a yidishn arbeter, 28 f.

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Wie Daniel Mahla für bundistische Feiertage in Polen darstellte, nutzte der Bund oft den traditionellen jüdischen Ritus, um einerseits die Festtage zu nutzen, sie andererseits aber performativ ins Gegenteil zu verkehren.38 Die traditionellen Feiern wurden damit zu Gründungsfesten neuer Institutionen und eines neuen jüdischen Lebens, welches der Bund verkörperte. Auf den Treffen wurde primär die eigene Gegenkultur zelebriert. Rituelle Akte wie das Singen der bundischen Hymne Di shvue erlaubten, diese Gegenkultur zu erleben und zu gestalten und so die alten Institutionen mit neuen Deutungen zu überschreiben.39 Die Geselligkeit und der häufige, im jüdischen Stereotyp jedoch ungewöhnliche Biergenuss konnten sogar gefährliche Situationen auffangen. Eindrücklich erinnert sich Novikov, wie der prekäre Moment der Enttarnung eines solchen Treffens per Geselligkeit in einen revolutionären Akt umgewandelt werden konnte: Des Nachts hören wir plötzlich Gesang näher und näher kommen. Wir beschließen, an Ort und Stelle zu bleiben. Die Bauern der Umgebung antworten nach getaner Arbeit abends auf unsere Lieder. Sie nähern sich uns mit Sensen, Sicheln und Rechen. Sie schauen auf uns mit großer Verwunderung: „Was ist das für ein Feiertag [yom tov] bei euch?“ fragen sie. Der Genosse Vilner klärt sie auf: „Hier hat sich die Jugend versammelt, welche eine Welt ohne Ausbeutung, ohne Unterdrückung und Armut schaffen will. Der Arbeiter soll nicht vom Kapitalisten unterdrückt werden, und der Bauer nicht vom Grundbesitzer. Eine Welt der Freiheit.“ Der Genosse Vilner redete eingängig und mit glühendem Herzen. Seine Aufklärung ergriff die Bauern. Sie verbrachten mit uns viele Stunden, wir ehrten sie mit Bier, Essen und revolutionären Liedern. Spät in der Nacht kehrten wir müde heim, aber voller Enthusiasmus und Zukunftsglauben.40

Derartige Geheimtreffen strebten also nach Vergemeinschaftung in popularisierender Absicht und waren Feiern und Einschwörungen zugleich. Nur hier, abseits staatlicher Kontrolle oder sozialer Kontrolle durch die jüdische Gemeinde, konnte die Neuerungsgemeinschaft des Bund sich in Präsenzmassen manifestieren, erste Organisationen gründen, öffentlich agitieren und sich mittels Parolen und Liedern für den weiteren Aktivismus vorbereiten.

38 Mahla, „Between Socialism and Jewish Tradition“; Dies war freilich keine Besonderheit des Bund, sondern in politischen Bewegungen allgemein gängig, siehe auch: Tom Goyens, Beer and Revolution. The German Anarchist Movement in New York City, 1880–1914 (Urbana: University of Illinois Press, 2007). 39 Die Relevanz der Geselligkeit für sozialdemokratische Zusammenkünfte unterstrich bereits: Thomas Welskopp, Das Banner der Brüderlichkeit, 291 f., 346 f. 40 Novikov, Zikhroynes fun a yidishn arbeter, 28 f.

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Öffentlich-konspirativ: Die birzshe Ein stillerer Austausch fand auf getarnten Treffen in der Öffentlichkeit statt. Davon ist vor allem die birzshe [nach russ.: birža, Börse] zu nennen, die Yehuda Slutksi für das Schtetl Bobruisk repräsentativ beschrieb: “In the evening there used to be the followers of the Bund – workers, journeymen, artisans – coming together there, walking around in the street, shmuesn, discussing, speaking about party meetings etc.“41 Ebenso beschrieb der Bundist Nokhem Khanin das kollektive und zugleich konspirative Spazierengehen auf der birzshe im Lublin des Jahres 1905, bei der es „zuging wie in einem menschlichen Bienenstock“. Sämtliche Bundisten hätten sich dort täglich nach der Arbeit getroffen – ohne als Bundisten aufzufallen.42 Die birzshe war also nur dem Anschein nach eine verstreute Masse, für Eingeweihte war sie eine durch Kommunikation zusammengehaltene Präsenzmasse. In nahezu jeder Lebensbeschreibung von Arbeitern spielt dieses gemeinsame Spazierengehen eine große Rolle. Hier konnten Kontakte geknüpft und Neumitglieder eingeschworen werden. Zugleich konnten Neulinge dabei „im Gehen“ lernen, das Verhalten, den Kleidungsstil und andere habituelle Charakteristika zu decodieren und zu imitieren. Viele Erinnernde betonen, dass die Sichtbarkeit der in schwarz gekleideten Spaziergänger den Wunsch geweckt habe, an diesem nur scheinbar unmotivierten Wandern teilzunehmen.43 So bei Bertha Fox, die nach dem Bekenntnis der großen Schwester „‚Yes mother, I belong to the Bund and come what may I will not stop‘“ und der Exklusion durch eben diese Schwester „‚No, and no! Such a little shrimp and she wants in on the action too“ die Teilnahme an der birzshe nutzte, um in den erwünschten Kreis einzutreten. Then I hit upon a plan. I spied on my sister on Yekaterinski street and saw whom she stopped to speak with. […] Without much of a thought I went over to the same person, tugged at his sleeve and said quietly, ‚I am Rosa’s sister, and I want to be a member of the Bund too.‘44

41 Yehuda Slutski, Bobruisk: Sefer zikaron le-kehilat Bobruisk u-veneteha. Yizker-bukh far Bobruisker kehilla un umgegnt (Tel Aviv: Tabut ve-hinnuk, 1967), 161, English: http://www.jewishgen.org/yizkor/bobruisk/Bysktoc1.html, Zugriff: 4. Aug. 2010. 42 N. Khanin, „Lublin“, Unzer tsayt, New York 3 (1945): 64. 43 ���������������������������������������������������������������������������������� Layb [Laybetshke] Berman, In loyf fun yorn. Zikhroynes �������������������������������������� fun a yidishn arbeter (Warschau: Aroysgegebn durkh memuarn-komitet beym Dvinsker „Bund“ brentsh 75 fun arbeter-ring in Amerike, 1936), 109; Hersch Mendel, Erinnerungen eines jüdischen Revolutionärs (Berlin: Rotbuch, 1979), 66–69; Fox, „The Movies Pale in Comparison“, 215. 44 Fox, „The Movies Pale in Comparison“, 215.

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Folglich nahmen die Dinge ihren Lauf und in höherem Alter und in den USA konnte sie ihre Lebensgeschichte als die einer bundischen Aktivistin verfassen. Neben dem Austausch war die birzshe eine Rekrutierungsbasis. Wie sich der Arbeiter M. I. Shatan erinnert war in es in Russland 1905 eine höchst illegale Tätigkeit, eine rote Fahne für eine Maidemonstration zu nähen. Doch Shatan hatte sich dies zum Ziel gesetzt und wusste, wo er Mitstreiter finden konnte. In Bände sprechender Selbstverständlichkeit notiert er: „Ich bin zur birzshe und habe dort einige passende Mithelfer rekrutiert.“45 Dies eignete sich auch für militante Aktionen. Der berühmte Bundist und Organisator Grigori Aronson betont, dass in der Zeit um 1903 die Gomel’er birzshe zu einem Kampfplatz werden konnte. „Nicht nur einmal kam es zu Zusammenstößen zwischen der [mit Knüppeln bewaffneten] Polizei und den mit Steinen bewaffneten Arbeitern.“46 Die berühmte Gomel’er Selbstwehr hatte bereits während des Pogroms 1903 gezeigt, dass sie den offenen Kampf nicht scheute. Nun wurde sie zu einer Schutzstaffel der birzshe, die aufgrund ihrer Bedeutung für die Reproduktion der Arbeiterbewegung zu einer revolutionären Institution geworden war.47 Auch in den Erinnerungen des promovierten Bundisten Yosef Lifshits an Warschau im Ersten Weltkrieg wird die aktive Rolle der birzshe in der Arbeiterorganisation deutlich. Ihm zufolge verstärkte, verkündete und popularisierte sie die Arbeit der illegalen Fachkommitees, aus denen der polnische Bund erwuchs.48 Durch die Illegalität der birzshe wurde „Spazierengehen“ zu Aktivismus, der wiederum nur dazu diente, andere Aktivismusmuster zu ermöglichen. Wenn Gertrud Pickhan für Zwischenkriegspolen feststellt, dass der Bund „auch ohne eine neue Parteizentrale seinen fest Platz oyf der yidishe gas“ hatte,49 ist dies mit Blick auf die Tradition der

45 M.  I. Shatan, „Di ershte bundishe fon in Kutne. A kapitl zikhroynes fun Moyshe-I. Shatan, ibergegebn fun zayn zun Dr. Khaym Shatan“, Unzer tsayt, New York 9 (1970): 44. 46 Grigori Aronson, „Di birzshe un di zelbstshuts in Homel“, Unzer Tsayt 10 (1968): 18. 47 Ebd., 18 f. Wie der Pogrom in Kišinev gilt der Pogrom in Gomel’ als Initialisationsmoment, der auch in der zeitgenössischen bundistischen Presse intensiv gespiegelt wurde und zur Erhöhung der Aktivitäten der Selbstwehr führte. Siehe das faktische Sonderheft des zentralen Organ des Bund.: Di arbeyter shtime, 36 (1903), weiterhin: Shlomo Lambroza, „Jewish Self-Defence during the Russian Pogroms of 1903–1906“; Inna Shtakser, „Self-Defence as an Emotional Experience; zur Frage der Gewalt in Gomel’: Miched’ko, „Gomel’skij pogrom 1903 goda. 48 Yosef Lifshits, „A bisl zikhroynes fun far 20 yor“, Naye Folkstsaytung (November 15, 1935): 9. 49 Pickhan, Gegen den Strom, 177.

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birzshe durchaus wörtlich zu nehmen. In Russland war die birzshe die lokale Parteizentrale.50

Öffentlich-konfrontativ und öffentlich kommemorativ: Ausdrücke der Stärke Den konspirativen Planungs- und Verschwörungstreffen standen Großversammlung, Demonstrationen und oft in Demonstrationen mündende Streiks zur Seite. Diese wurden bereits ab 1899 zu einem Hauptausdruck bundischer Stärke.51 Sie waren nicht nur Plattformen zur Verkündung von Forderungen, sondern auch konfrontative Versammlungen, die in sämtlichen Epochen des Bund zu Straßenschlachten führen konnten und oft Verhaftungen nach sich zogen. Demonstrationen waren kulturelle Ausdrücke der Präsenz und hatten sowohl einen starken vergemeinschaftenden Effekt als auch einen die Umwelt dissimilierenden. Hier formierten sich weithin sichtbar bundische Präsenzmassen. Deren Wirkung wurde durch Demonstrationsrouten durch die Stadtteile und Straßenzüge der bürgerlichen Viertel gestärkt, um diese symbolisch zu übernehmen.52 Schon ab 1900 waren Demonstrationen zu Massenveranstaltungen geworden. Im Unterschied zu den Streiks wurden hier auch die engen Grenzen der Fachgewerkschaften überschritten.53 Auf den geheimen Treffen wurden Grundlagen der neuen Zeit erarbeitet, auf Demonstrationen sollte die zuvor erdachte und ersungene Gegenhegemonie publik werden. So konnte die Straße zur Bühne einer kampfbetonten neuen Kultur werden.54 Im besonderen Maße traf dies auf die Maidemonstrationen zu, den international jährlich reproduzierten „Kampf- und Feiertag“ der Arbeiterklasse, oder mit den Worten Rosa Luxemburgs „unser ‚Gottesdienst‘“.55 Dessen Demonstrationszüge sollten sich auch 50 Oft waren reisende Redner der Grund für Versammlungen. B. Vladek, „A farzamlung oyfm beth-eulum“, Unzer tsayt, New York 11 (1963): 21–23. 51 Tobias, The Jewish Bund in Russia from its Origins to 1905, 97. 52 Mahla, „Between Socialism and Jewish Tradition“, 179. 53 Tobias, „The Bund and the First Congress of the RSDWP“, 119, 140. 54 ��������������������������������������������������������������������������������� Zur historischen Bandbreite dieser Verwandlung eines Verkehrsweges in einen politischen Raum, siehe: Bernd Jürgen Warneken, Massenmedium Strasse: Zur Kulturgeschichte der Demonstration (Frankfurt am Main: Campus, 1991); Matthias Reiss, Hrsg., The Street as a Stage: Protest Marches and Public Rallies in the Nineteenth Century (Oxford: GHI London, Oxford University Press, 2007); Kevin J. Callahan, Demonstration Culture: European Socialism and the Second International, 1889–1914 (Leicester: Troubador Publ., 2010). 55 Rosa Luxemburg, „Die Maifeier im Zeichen des Wahlrechtskampfes“, in Der 1. Mai. Kampftag der Arbeiterklasse, [Orig.: Dortmunder Arbeiterzeitung, 20. Apr. 1919]

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im bundischen Rayon „durch die Straßen in die neue Welt“56 bewegen – am Ende fanden sie jedoch weitaus häufiger die Knüppel der Kosaken und der berittenen Partei vor. Die sich daran oft anschließende Phase der Haft führte aufgrund der Praxis des Zarenreichs, politische Gefangene gesondert zu inhaftieren, zu benannten Versammlungen im Zellentrakt. Neben die Demonstrationen trat im polnischen Bund eine weitere öffentliche Form der Versammlung, die Erinnerungstreffen. Es gab zwar schon zu russischen Zeiten Vorläufer, jedoch waren diese aufgrund der Illegalität oft eher konfrontativ denn kommemoriend. Darunter sind öffentliche Beerdigungen ebenso zu subsumieren wie Jubiläums- oder Ehrentage. Ihre Blüte zur polnischen Zeit hängt mit dem Aufschwung bundischer Memorik in der Zwischenkriegszeit zusammen, welche im folgenden Teil ausführlich beschrieben wird. Wichtig ist hier jedoch bereits, dass diese per Erinnerung vergemeinschaftenden Treffen einen progressiven Kern in sich trugen.57 Maifeiern waren in ihrem historischen und internationalen Bezug Hybride (auch zu Zeiten des julianischen Kalenders feierten die Revolutionäre den Ersten Mai anhand des „internationalen“ gregorianischen Kalenders), da sie einerseits erinnerten, andererseits auf die Forderungen und Utopien Raum verliehen. Deutlicher kam der nach innen gewendete Erinnerungsaspekt vor allem bei Begräbnisund Gedenkfeiern oder Jahrestagen zum Tragen. Nicht ohne Grund widmet sich Gertrud Pickhan in der Betrachtung polnischer Parteifeiern fast ausschließlich Begräbnissen verdienter Veteranen und bundischen Jubiläen, auf denen „gemeinsame Trauer und gemeinsamer Jubel“ Hand in Hand gingen.58 Vergangenheit war kein Selbstzweck, sondern die Vorgeschichte der noch zu erringenden Freiheit.59 Der aktivistische Charakter der Versammlungen wandelte sich darum mit den gesetzlichen Bedingungen (vgl. Tafel 6, S. 64). In Zwischenkriegspolen waren offizielle Parteiversammlungen erlaubt, weswegen die in der Illegalität geborenen Muster verschwanden. Doch der vergemeinschaftende Charakter der Großtreffen blieb für die Gesamtbewegung essenziell, sowohl in konfrontativer Form als auch in kultureller und memorischer.

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(Berlin: Verlag Neuer Kurs, 1972), 18. N. N., „Der ershte may amol“, Dos fraye vort, Wilna 15 (Mai 1921): 2. Siehe dazu Kap. II.1. Pickhan, Gegen den Strom, 164–171. Trotz Lobpreisungen des Erreichten unterschieden sich die Feste des Bund durch dieses Noch-Nicht deutlich vom Als-Ob der Massenfeste der sowjetischen „Inszenierungsdiktatur“, Vgl. Malte Rolf, Das sowjetische Massenfest (Hamburg: Hamburger Edition, 2006), siehe v. a. 135, 256–263. Zu weiteren bedeutenden Unterschieden zwischen der bundischen und der sowjetischen Memorik siehe: Kap II, 1–3.

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Repräsentativ-vergemeinschaftend: Orte des Bund Der Bund konnte nie eine eigene Parteizentrale errichten.60 Deswegen waren dem Bund Auftritte in der Öffentlichkeit und in eigenen Orten, wie zum Beispiel in den oft benannten bundischen Klubs, sehr wichtig. Dies kann als eine Überführung der räumlichen Präsenz des Bund in manifeste Orte und damit als die Institutionalisierung der Rituotope verstanden werden. Stärke drückte sich nicht nur im Zusammenkommen funktionale Massen aus, sondern auch in dauerhafter urbaner Präsenz. Die ersten institutionalisierten Orte waren dunkle Hinterzimmer, in denen sich die kružki trafen, um Arbeiter zu „bewussten Arbeitern“ zu machen. Diese waren aufgrund der hohen Entdeckungsgefahr ganzer Zirkel und durch die breite Kulturarbeit des Bund schnell überholt. Noakh Portnoy sprach in einer romantischen autobiographischen Schrift bereits 1907 von einer „Geschichte aus längst vergangenen Zeiten“. In der Tat, in diesem Jahr nahm Zivion bereits an einem Treffen von 1000 Bundisten in Paris teil und forderte von dort aus die Einrichtung bundischer Klubs in den Immigrationsstädten.61 Diese Lokalisierung entstand selten durch einen parteilichen Plan, sondern zumeist durch Bundisten, die die vergemeinschaftenden Orte für sich selbst schufen. Voll Stolz berichten zahlreiche Arbeiter, dass sie zwar in illegalen Strukturen sozialisiert worden seien, dass diese jedoch bereits auf die Arbeit in der Legalität vorbereitet waren. Als dies nach 1905 kurzzeitig eintrat, schossen im Rayon bundische Klubs aus dem Boden. Yoel Novikov betont, dass diese auch „die Form und den Inhalt des Bund“ änderten. „Man musste Vereine, Klubs und andere öffentliche legale Plätze schaffen, welche Menschenmassen aufnehmen konnten und in denen es auch angenehm sein sollte, seine freie Zeit zu verbringen.“62 Ein solcher „angenehmer Ort“ war in diesem Fall ein besetztes Haus im Zentrum seines Schtetls. Fürchteten sich die Chassidim vor dem leer stehenden Haus, in dem es angeblich spuke, habe der Bund sprichwörtlich „die Geister“ ausgetrieben. 60 Pickhan, Gegen den Strom, 177; im Begriff des Ortes folge ich Detlef Ipsen, der argumentierte, dass Orte einerseits identiitäsbildende Kraft besitzen, andererseits ohne den Grund, in dem sie stehen, also dem Quartier und dem Milieu, nicht erfahrbar sind. Vgl.: Detlef Ipsen, „Die Kultur der Orte. Ein Beitrag zur sozialen Strukturierung des städtischen Raumes“, in Die Differenzierung des Städtischen, hg. von Martina Löw (Opladen: Leske + Budrich, 2002), 233–245; allgemein fomuliert wird dieses kulturbezogene Raumverständnis in: Martina Löw, Raumsoziologie (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2001). 61 N[oakh] P[ortnoy], „Der geheymnisfoler laterne-klub: A maysyeh fun alte tsayten“, Di hofnung, Wilna 14 (1907): 3; Zivion, „Di yidishe arbeyter in Pariz“, Di hofnung, Wilna 14 (1907): 1. 62 Novikov, Zikhroynes fun a yidishn arbeter, 42.

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Diese neuen bundischen Institutionen, Vorläufer der späteren Kulturzentren von Warschau bis Buenos Aires, benötigten viele Arbeiteraktivisten, die ihr Fachwissen in den Auf- und Ausbau eines solchen kleinen Kulturzentrums einbringen konnten. So sei Leben in das Haus eingezogen, und Kinder spielten im Hofe. Da eine Versammlung aber kein Ziel war, sondern ein Mittel, was in anderen Aktivismus überleitete, war auch ein Versammlungsort kein Selbstzweck. Dies bedeutete oft, dass diese Räume zu Bildungszentren von Arbeitern und später auch von Kindern wurden. Erneut hat hier Bildung einen doppelten Sinn, zum einen als Bildung der Besucher durch Veranstaltungen, Reden und Bibliotheken und zum anderen als die Herausbildung der neuen, öffentlich sichtbaren performativen Gemeinschaft. Diese beanspruchte nun per Raumbesetzung auch faktisch „Raum“ in der Stadt. Mit der rasch erfolgenden, erneuten Illegalisierung des Bund ab 1907 eroberte jedoch die Polizei – und damit auch die Geister der Vergangenheit – das Haus zurück.63 Dennoch bildeten sich auch in der Illegalität Klubs und Bibliotheken heraus. Diese waren für die jüdische Kultur in Russland von größter Bedeutung und zogen Arbeitermassen in den Bund.64 Arbeiter wie Yitshok Blumenshteyn, Abraham Shuman und Mayer Shpayzer betonen dabei besonders, dass diese Anlaufstellen als Träger einer jüdischen säkularen Kultur gesehen wurden und den Bedarf nach Selbstbildung im zarischen Russland sättigten.65 Solche Zentren waren die Vorgänger der vielen Zentren, die später in Zwischenkriegspolen geschaffen wurden. Diese Schulen, Bibliotheken, Kulturzentren und Diskussionsräume hier darzustellen, würde den Rahmen dieser Studie sprengen, darum sei in Vertretung all der manifesten Orte des Bund und seiner Kooperationspartner in Polen in erster Linie das nach Vladimir Medem benannte Medem-Sanatorium benannt, welches in der Nähe von Warschau von 1926 an als Erholungsheim für verarmte, von der Tuberkolose bedrohte Kinder geschaffen wurde. Als solches fungierte es in Folge nicht nur als Heilanstalt, sondern auch als bundisch-säkularer Schulungsort, der die Lebenswege vieler dort weilender Kinder maßgeblich beeinflusste.66

63 Ebd., 42 ff. 64 Jeffrey Veidlinger, Jewish Public Culture in the Late Russian Empire (Bloomington: Indiana University Press, 2009), 37 f. 65 Bund Archives, MG2, #429, ##Blumenshteyn, Yitshok; ##Shuman, Abraham, ##Shpayzer, Mayer. 66 Stimmen der ehemaligen Kinder in: Khayim Solomon Kazdan, Hrsg., Medem-sanatorye-bukh (Tel Aviv: Hamenora, 1971); eine ausführlichere Darstellung in: Jacobs, Bundist Counterculture in Interwar Poland, 62–81.

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Publizistik: Die Schaffung der kommunikativen Masse Die Präsenzmassen des Bund benötigten eine Klammer, und diese bot das Netzwerk des bundischen Druckwesens. Seit Anbruch des 20. Jahrhunderts waren Flugblätter und sehr schnell auch Periodika entscheidende Propagandainstrumente der jiddischsprachigen Arbeiterbewegung.67 Die Publizistik des Bund band viele Aktivisten an sich, da mit einem Druckstück auch jene erreicht werden konnten, die einem Agitator nicht unbedingt persönlich bekannt waren.68 Dies stellte in der Illegalität und der Weite des bundischen Rayons eine logistische Herausforderung dar, weswegen den Druckwerkstätten des Bund in der Historiographie und den bundistischen Erinnerungen besondere Bedeutung zuteilwird. Henry J. Tobias beschreibt die erste geheime Druckpresse gar als das stets überlastete „Herz“ des ersten Zentralkomitees.69 Auch aufgrund dieses steten Drucks entwickelte sich die bundische Publizistik in der Nähe der sie umgebenden Sozialdemokratischen Parteien, so der PPS und der SPD.70 Schon in den ersten Jahren besaß der Bund erst eine, dann einige Druckpressen, unter anderem betrieben durch den Schlosser und autodidaktischen Ingenieur Israel Mikhel Kaplinski. Es ist eine der großen Paradoxien der Geschichte des Bund, dass genau jener Kaplinski später als Spion der zarischen Polizei enttarnt wurde. Er ging als der Provokateur in die Geschichte des Bund ein, jedoch war er kein „bundischer Azef “, der den Hass seiner Bewegung auf sich lud. Seinen Weggefährten war er vor allem ein Mysterium.71 Noch viele Jahre später mussten seine ehemaligen Genossen 67 Siehe v. a.: „Di bundishe prese biz oktober 1905“, Di hofnung, Wilna 14 (1907): 5; Avraham Greenbaum, „The Underground Jewish Press in Eastern Europe until 1917“, Qesher 9 (1991): 14e–19e; speziell zum Brennpunkt Wilna: Susanne Marten-Finnis, Sprachinseln (Köln, Weimar, Wien: Böhlau, 1999), 77–84; Susanne Marten-Finnis, „Wilna als Zentrum der jüdischen Parteiliteratur 1896 bis 1922“, Aschkenas 10, Nr. 1 (2000): 203–243. 68 Tobias, The Jewish Bund in Russia from its Origins to 1905, 97. 69 Ebd., 71; Erinnerungen an Druckereien ermöglichten damit auch die Konstruktion von Erinnerungsorten durch eine Betonung derer materieller Seiten. So in: T., „Vi azoy iz tsuzamengeshtelt un opgedrukt gevorn der ershter numer ‚arbeyter shtime‘“, Di hofnung, Wilna 14 (1907): 3 f.; selbst in kommunistischen Reflexionen wurde der Heroismus betont: Yokhnis [Peysi], „Vegn der drukerey fun ts. k. fun ‚bund‘ un vegn dem tayern khaver Yoyne (Fishl Kogan)“, in 1905 yor in Barditshev ([Kiev]: Barditshever hisport dem krayz-komitet fun K.P. (B.) An., 1925), 76–80. 70 Tobias, The Jewish Bund in Russia from its Origins to 1905, 46, 83 f. 71 Evgenji F. Azef (1869–1918) war ein unter Zubatov rekrutierter Doppelagent ersten Ranges in den Reihen der Sozialrevolutionäre, der ab 1902 immer wieder verdächtigt, jedoch erst 1908 von Vladimir L. Burcev offiziell beschuldigt und 1909 enttarnt wurde. Vgl.: Boris I. Nicolaevsky, Aseff, the Spy, Russian Terrorist and Police Stool (Garden

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einräumen, dass Kaplinski als Bundist eine große Hilfe war, als Provokateur aber ein großes Rätsel geblieben sei.72 Bedeutende Bundisten wie Layb Berman sahen sich genötigt, die Restehre des einstigen khaver zu verteidigen, weil er doch so viel für die Publizistik des Bund getan habe – trotz allen Verrats.73 Was auch immer Kaplinski an den Geheimdienst weitergab, die Druckpressen waren auch ohne seine Berichte an die Okhrana großer Verfolgung ausgesetzt. Die Arbeit in den Druckereien war daher hochgradig konspirativ. Schon der frühe Bund musste 1898 erleben, dass genau jene konspirativen Netzwerkstrukturen die Spitzel von einem Bundisten zum nächsten führen konnten, wenn die Polizei einmal einen Punkt zum Ansetzen entdeckt hatte. Die Vernetzungswege der Druckpressen und Verteilungswege der illegalen Literatur konnten zu wahrhaften Fallen werden. Nach der Verhaftung praktisch der gesamten intellektuellen Führungsschicht des Bund im Rahmen der Zubatovtshina war nicht nur der Apparat, sondern auch dessen Sprachrohr, das Druckwesen, neu zu gestalten. So resümiert Henry J. Tobias die Herausforderung für die schlagartig in Führungspositionen befindlichen Arbeiteraktivisten: „The purely technical production of literature was another major obstacle to overcome. The problem of finding a press and literate and capable workers were not solved qickly.“74 Doch es gelang. Bis 1904 wurde die ,Arbeter shtime‘ als das Zentralorgan des Bund, die „neue heilige Schrift“,75 illegal in Russland gefertigt. Ihre Strahlkraft war so groß, dass sie nicht nur von Bundisten,76 sondern später auch von kommunistischen Autoren noch als Ausdruck der neuen Zeit besungen wurde.77 Die berühmte russische Revolutionärin Vera Zasulič be-

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City: N. Y., Doubleday, Doran & company, inc, 1934); jüngst hervorragend beleuchtet in: Jonathan W. Daly, The Watchful State: Security Police and Opposition in Russia, 1906–1917 (DeKalb: Northern Illinois University Press, 2004), 81–109. Benzion [Zivion] Hofman, „Vi azoy ikh bin gekumen tsum ‚bund‘“, Unzer tsayt, New York 3 (1945): 58 f. So betont Berman, dass der handwerklich begabte Kaplinski unter anderem ein besonderes System der Geheimfächer zum Beispiel in Schreibtischen entwickelte, die skritkes. Da nie eines dieser Geheimfächer für Papier und Waffen von der Geheimpolizei entdeckt worden sei, schlussfolgert Berman, dass Kaplinski diese strukturell sehr wichtigen Einrichtungen nie an die Polizei verriet. M. Berman, „‚Skritkes‘. Mayn ershte bagegenish mitn khover noakh“, Unzer Tsayt 12 (1953): 19. Tobias, The Jewish Bund in Russia from its Origins to 1905, 90. So bezeichnet von: H. Gelernt, „Der nayer heyliker sefer: A mayse vegn der ‚arbeter shtime‘“, Unzer tsayt, New York 11–12 (1957): 95 f. Bund-Archives, RG 1401, #32, ##337, ### Erinnerung, Manuskript, Fragment. Grundlegend: Div., „Der ershter numer ‚arbeter-shtime‘. Zikhroynes fun die onteylnehmer“, Arbeter luakh 3 (1922): 101–109. Yokhnis, „Vegn der drukerey fun ts. k. fun ‚bund‘ un vegn dem tayern khaver Yoyne (Fishl Kogan)“.

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klagte: „Es ist ärgerlich, dass sie [die Bundisten] so geschäftig sind und nicht die Russen.“78 Aufgrund der benötigten Kenntnisse wurden in den illegalen Druckpressen auch die ersten Arbeiter als Berufsrevolutionäre angestellt, die wie Moshe Layb Paulin in den Rängen des Bund aufstiegen und zu Agitatoren wurden. Einige verfolgten diesen Weg nach der Emigration weiter und brachten, wie Sholem Levin, das erlangte Wissen als politische Autoren in die jüdisch-sozialistische Bewegung in den USA ein.79 Der Mikroraum einer Druckerei besaß ebenso wie das angebundene Schmuggeln von Literatur keinen aktivistischen Eigenwert. Sie waren materiell begründet und sind in das umfassendere Aktivismusmuster der publizistischen Tätigkeit einzuordnen. Denn es war nicht aktivistisch, Drucker, Schmuggler oder Bibliothekar zu sein, es konnte es aber werden, sobald der Inhalt der Broschüren illegal war und die Taten in einer utopisch motivierten Reihung stattfanden. Genauso verhielt es sich mit den illegalen Bibliotheken, die meist in einem Schrank oder unter einem Bett eines Aktivisten angelegt wurden. Dieses Aufbewahren war auch der sicherste Weg, um an die nur sehr vorsichtig verteilten Schriften zu kommen und um vor Ort eine bundische Funktion zu übernehmen.80 Obwohl ein großer Teil der Literatur aus dem Ausland nach Russland geschmuggelt wurde, spielt der Schmuggel in den Erinnerungen der Bundisten eine marginale Rolle. Er wird als eine höchst kontingente und eher Anekdoten denn Aktivismus produzierende romantische Tätigkeit erinnert.81 Dies gilt auch für das Scheitern von Schmuggelaktionen.82 Die Zwischenhaftigkeit des Schmuggels zwischen Auftragsarbeit und High Risk Activism entstand auch, weil der Bund wie alle russländischen sozialistischen Bewegungen auf professionelle Schmuggler zurückgriff. Er konzentrierte seine begrenzten Kräfte auf die Produktion vor Ort und den Binnenschmuggel. Grenzüberschreitende Schmuggler sind darum nicht als Aktivisten zu erachten. Schmuggel zeigt zudem, wie irreführend die Denkfigur des „hidden 78 Zuvor: „Der jüdische Bund ist ein wahres Wunder an Standfestigkeit. Zwei ihrer Druckereien und ein Haufen Leute wurde ihnen weggenommen…, aber es ist ihnen schon gelungen, in Rußland eine kleine Ausgabe einer Zeitung im Jargon herauszubringen. Und der Weg über die Grenze funktioniert wieder.“, zit. in: Bunzl, Klassenkampf in der Diaspora, 64. 79 Bund MG2, 429, #Paulin, Moshe Layb; ebd. #Levin, Sholem. 80 Viktor Shulman, „Baginen: Ideyen, geshtaltn, bagenishn - bletlekh fun a lebn“, Unzer tsayt, New York 3 (1945): 51. 81 YIVO, RG 102, #157 [Lena Friedman, 1942: 7–11]; Ebd.: #160 [Lena S. Weinberger, 1942, 5ff ]; Ebd.: #196 ##Anonyme Autobiographie [1942], 25 ff.; weiterhin: Arnold, „A nesye mit tshemodones: An episod fun dem amolikn umlegaln literatur-transport“, Arbeter luakh 3 (1922): 129–142. 82 Shulman, „Baginen: Ideyen, geshtaltn, bagenishn - bletlekh fun a lebn“, 52.

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transcript“ ist, denn der Schmuggler widersetzte sich zwar Regeln, zielte aber sicher nicht auf deren Abschaffung, da dies den lukrativen Markt beseitigt hätte.83 Laut Abraham Mutnikovitsh hielt der Bund Abstand zu den Schmugglern, denn erstens kämpfte man nicht Seite an Seite und zweitens hätten die Schmuggler deutlich höhere Preise verlangt, hätten sie gewusst, welch heiße Ware sie ins Land brachten.84 Wie Roland Girtler herausarbeitet, sind Schmuggler zwischen freien Abenteurern, Dienstleistern und Sozialrebellen anzusiedeln, wobei hier die politisch unbestimmte Begrifflichkeit des Sozialrebellen im Hobsbawm’schen Sinne gerade wegen der politischen Unbestimmtheit der Tat überaus passend ist.85 Doch auch die Tätigkeit des Druckens wandelte ihren Charakter mit der rechtlichen Situation. In der Illegalität war Drucken riskanter Aktivismus. In der Legalität in Polen und in Übersee wurde es eine technische, zu bezahlende Angelegenheit, womit auch bewegungsferne Auftragnehmer betraut werden konnten.86 Damit wurde der Beruf des Druckers, oder wie viele Bundisten in den Fragenbögen speziell betonen, des „Druckerarbeiters“,87 zur „working class experience“, aus der andere Tätigkeiten abgeleitet werden mussten, um gegenhegemoniellen Gehalt zu entwickeln.88 Im Rahmen der Verfolgung unter der nationalsozialistischen Besatzung verschärfte sich diese Situation jedoch in zuvor unbekanntem Ausmaß. Erneut wurden Schmuggel und Drucken zu widerständischen Geheimtätigkeiten, illegal und damit zu erinnerungswürdigen Aktivismusmustern.89 83 Die Scott so klar vor Augen stehende Intentionalität kann in Schmuggel bestenfalls hineininterpretiert werden. James C. Scott, Domination and the Arts of Resistance. Hidden Transcripts (New Haven: Yale University Press, 1990), 14 f. 84 G-B, „Der ershte tsuzamenfar fun ‚bund‘“; hinter dem Kürzel verbirgt sich Abraham Mutnikovitsh, der diese frühe Erinnerung auch zum Gegenstand einer späteren Erinnerung macht. Abraham (,Gleb‘) Mutnik, „Bletlekh fun mayn leben: Erinerungen“, Di tsukunft 12: 718–720; siehe weiterhin: Tobias, The Jewish Bund in Russia from its Origins to 1905, 71. 85 Roland Girtler, Abenteuer Grenze. Von Schmugglern und Schmugglerinnen, Ritualen und „heiligen Räumen“ (Wien: Lit, 2006), 1, 172–179, 192–197; Hobsbawm, Primitive Rebels; Hobsbawm und Rudé, Captain Swing, 239–249. 86 Dies führte zu neuen Abhängigkeiten und konnte auch der Ausfall des einen oder anderen Heft bedeuten, wie es zum Beispiel dem ,Der avangard‘ in Argentinien geschah. Siehe Kap. II. 2 [Publizistik]. 87 So: Bund-Archives, New York, RG 1400, MG2–429, #Bakhrakh, Hershl, #Tsuker, Mayer, #Vasershtros, Alekher Zelig. 88 Im Staatssozialismus war hier der Stakhanov-Arbeiter in einer Druckerei eine Ausnahme, vgl.: Diane P. Koenker, Republic of Labor, Russian Printers and Soviet Socialism, 1918–1930 (Ithaca, London: Cornell University Press, 2005), 3 f., 303 f. 89 Yakob Tselemenski, Mitn farshnitenem folk. A kuryer fun bund dertseylt vegn yidishn khurbn un vidershtand unter di deytshe natsim (New Y: Unzer tsayt, 1963); Lazar

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Das Schreiben für den Bund unterlag als Aktivismusmuster jedoch anderen Dynamiken als diese materiellen Tätigkeiten. Autorschaft blieb auch in der Legalität ein primäres Aktivismusmuster und bewahrte seine Legitimierung unabhängig von den gesellschaftlichen Konstellationen. Allein die Finanzierung blieb das Sorgenkind des stets wachsenden Systems der bundischen Publizistik, was besonders unter transnationalen Vorzeichen zu erkunden sein wird. Je mehr die Drucklegung aber unproblematisch wurde, desto stärker mussten die Inhalte das Gegenkulturelle bieten. So wurde letzten Endes nicht nur Schreiben ohne Verfolgung, sondern auch Erinnern als aktivistisch anerkannt. Inwieweit sich dies lokal spezifisch ausprägte und wie sich die Publizistik des Bund als Aktivismusmuster transnationalisierte, wird aufgrund der notwendigen Tiefe im folgenden Teil des Buches gesondert behandelt.

Parteiarbeit: Mobilisierung und Repräsentation Keines der benannten und folgenden Aktivismusmuster käme jedoch ohne den sich immer weiter verfeinernden, aber nie allumfassend werdenden Kern des Bund aus: die Partei. Sie wurde in der Forschung in ihren Einzelheiten bereits ausführlich beschrieben und soll daher nur kurz dargestellt werden. Im Gegensatz zu zahlreichen anderen Studien tritt anhand einer praxishistorischen Perspektive jedoch hervor, dass die Parteiarbeit nur eine Möglichkeit der Partizipation unter vielen war. Ihre Geschichte sollte also nicht mit der Geschichte des Bund verwechselt werden, der als soziale Bewegung wesentlich breiter analysiert werden muss. Parteiarbeit war für den Bund essenziell. Sie erforderte und ermöglichte Partizipation und Mobilität höchsten Maßes, horizontal wie vertikal. Als parteipolitischen Aktivismus kann man dabei die Arbeit in verschiedensten Gremien verstehen, die den Bund als Partei neben anderen aufstellte und als solche organisierte.90 Dies überlappt sich an vielen Ecken mit anderen Aktivismusmustern, denn wie Joachim Raschke feststellt, sind soziale Bewegungen nicht nur „Produkt und Produzent der

Kling, „A geheymer bundisher drukerey in Brinsk“, Unzer tsayt, New York 11 (1970): 28–31. 90 Wie Joachim Raschke hervorhob, ist es zweitrangig, in welcher Form sich eine soziale Bewegung organisiert, vielmehr sind Form, Herkunft und Ziele zueinander in Beziehungen zu setzen, Vgl. Joachim Raschke, Soziale Bewegungen. Ein Historisch-Systematischer Grundriss, (Frankfurt: Campus, 1987), 76–80. Auch für den Bund ist eine Unterscheidung zwischen sozialer Bewegung, Organisation und Partei zu trennscharf, vgl.: Doug McAdam und Richard W. Scott, „Organizations and Movements“, in Social Movements and Organization Theory, hg. von Gerald Fredrick Davis u. a. (Cambridge: Cambridge University Press, 2005), 4–40.

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Moderne“, sondern „auch Produzent der politischen Moderne“.91 Dies gilt freilich auch für den Bund, in dem Parteiarbeit erstens aus der Arbeit in parteilichen Komitees, zweitens dem öffentlichen Auftreten auf Kongressen und drittens dem wahlpolitischen Engagement bestehen konnte.

Organisierend: Komitees und „Organisationen“ Ob in Lokalorganisationen oder Zentralkomitees, Organisationsarbeit ermöglichte es zahlreichen Bundisten, sich am Ganzen zu beteiligen und es voranzutreiben. In den autobiographischen Fragebögen des Bund gibt knapp die Hälfte der Befragten an, in einem Komitee oder einer ähnlichen parteilichen Einrichtung aktiv gewesen zu sein, was es neben dem gewerkschaftlichen Engagement zum am häufigsten reflektierten Aktivismusmuster macht.92 Komplementär dazu muss man festhalten, dass trotz der Bedeutung dieses Aktivismusmusters die andere Hälfte der Befragten keine entsprechende Tätigkeit vermerkte. Selbstverständlich sahen auch diese sich als echte Bundisten, sie lebten dies nur eben anders aus. In der Historiographie zum Bund wird die Parteiarbeit oft fälschlicherweise mit dem Bund gleichgesetzt, doch schon an diesem einfachen Befund zeigt sich, dass die Arbeit für den parteipolitischen Kern des Bund nur als ein Teil des Ganzen verstanden werden kann.93 Viele dieser Komitees waren zudem kurzlebig, sie entstanden als Folge anderer Tätigkeiten im und für den Bund. Erst in der Legalität in Polen konnten sich einige der Komitees fest installieren. Persistenz im bundischen Handeln, der Grundbedingung für die Bewahrung einer bundischen Identität, fanden Bundisten unterhalb der Führungsebene in anderen Aktivismusmustern.

Programmatische Mitwirkung: Taten durch Worte Vor allem höher Qualifizierte konnten sich in der Parteiarbeit einen Namen machen und stiegen so in der Hierarchie des Bund schnell auf. Ab einem gewissen Niveau erlaubte dies auch programmatische Mitgestaltung. In Autobiographien wie der Vladimir Medems nehmen die Schilderungen solcher Debatten große Teile des Schrift-

91 Raschke, Soziale Bewegungen, 11. 92 Bund Archives, New York, RG 1400, MG2 #429, Fragebogen Typ IV. 93 In diesem Sinne ist Jack Jacobs Betrachtung einiger, explizit nicht parteipolitischer Institutionen ein bemerkenswerter Schritt., vgl.: Jacobs, Bundist Counterculture.

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werks ein.94 Viele Historiker folgten bereitwillig dieser Schwerpunktsetzung.95 Doch sie ist weniger ein Spiegel der Geschichte des Bund als der Karrierewahrnehmung der Autoren. Die früh erschienenen Erinnerungen Medems formulierten einen Prototyp, dem viele nachfolgende Arbeiterautobiographien nacheiferten. In denen vollzieht sich mit dem innerparteilichen Aufstieg auch eine Verschiebung der Erzähltechnik. Waren zuvor die Hauptthemen jene alltäglichen Aktionen, die sich zu Aktivismus verdichten ließen, betonen sie mit ihrem begrenzten Aufstieg nun die Relevanz von Debatten und Kongressen beziehungsweise auch oft das eigene Glänzen als Redner und Denker.96 Der Aktivismus und die Wahrnehmung der Relevanz der Aktivismusmuster ändern sich mit dem Aufstieg des Aktivisten. Doch im Bund blieb die Breite der Aktivismusmuster die Grundbedingung, damit Programme und Handeln zusammenwirken konnten.

Das Parlament der Straße: Wahlpolitisches Engagement Ein wenig anders verhielt sich dies im Bereich der Wahlarbeit, die selbstverständlich in der polnischen Epoche des Bund eine große Rolle spielte. Zuvor kam sie jedoch schon in den keinesfalls als frei zu bezeichnenden Dumawahlen und den Warschauer Wahlen 1912 zum Tragen. Jack Jacobs hebt hervor, dass man an den bundischen Wahlerfolgen mehr als nur die Geschichte der Wahlen ablesen könne. Für die lokale Breitenwirkung des Bund ist dem zuzustimmen, denn Wahlen spiegeln politische Entscheidungen und Hoffnungen nicht nur der Parteimitglieder. Bezüglich der Breitenwirkung des Aktivismus hingegen können wir daraus nicht viel ableiten, denn es müsste zuerst noch bewiesen werden, dass nicht nur eine Koinzidenz, sondern eine Kausalbeziehung beispielsweise zwischen dem Zulauf zu bundischen Schulen oder Sportvereinigungen und dem Wahlerfolg besteht. Das Setzen eines Kreuzes am Wahltag ist ein Epiphänomen für eine spezifische Tätigkeit des Bund: den Wahlkampf, der andere Aktivismen bestenfalls aufgreifen kann, aber nicht ursächlich integriert. In den Fragebögen des Bund-Archivs erwähnen darum auch nur sechs Prozent der Befragten, dass sie sich aktiv in die Wahlarbeit einbrachten (Wahlvorbereitung und Ratsmit94 Medem, Fun mayn leben. 95 So jüngst bei Gorny, dessen der die Geschichte des Bund in Russland großteils mit der politischen Tätigkeit Vladimir Medems synomsiert, vgl: Gorny, Converging Alternatives, v. a. 27–47. 96 Dies zeigt sich z. B. sehr stark in: Berman, In loyf fun yorn. Zikhroynes fun a yidishn arbeter; Novikov, Zikhroynes fun a yidishn arbeter; Hershl Metaloviets, A veg in leben: Fragmente fun an oytobiografie. 2 Vols. (Tel Aviv: Farlag Y.L. Perets, 1982).

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gliedschaft). Davon sind drei viertel Arbeiter.97 Auf lokaler Ebene trat der Bund damit erstens viel stärker als eine Arbeiterpartei auf, als es die Führungsebene des Bund spiegelte.98 Die geringe Benennung dieses Aktivismusmusters steht entweder dafür, dass sich in der Tat nur sehr wenige Bundisten in den Wahlkampf warfen, oder, was wahrscheinlicher ist, dass Wahlarbeit keine nachhaltige identitätsbildende Funktion hatte. Inwieweit sich darum aus den Wahlen die Präsenz des Bund über die Situation des Wahlkampfs hinaus ableiten lässt, ist mehr als unklar. Zudem war, wie Jack Jacobs herausarbeitete, der Bund in Polen dabei auch nur punktuell erfolgreich und musste sich seinen Konkurrenten oft deutlich geschlagen geben.99 Da der Bund auch keine Abgeordneten im polnischen Sejm stellte, können die Bedingungen und Bezüge des wahlpolitischen Engagements des Bund nur lokalhistorisch erforscht werden. Hier jedoch stehen komparative Studien aus.100 Aus Wahlergebnissen, ob gut oder schlecht, kann also nicht direkt auf die Arbeit, die öffentliche Präsenz und die Wirkung des Bund geschlossen werden. Aber auch umgekehrt darf das Aktivismusmuster Wahlarbeit im Bund nicht unterschlagen werden. Da der Bund seine größeren Wahlerfolge jedoch erst Ende der 1930er errang, muss die Frage nach der weiteren Entwicklung dieses Aktivismusmusters Spekulation bleiben.

Bildungsarbeit: Für eine neue yidishkayt Als die Bildungsarbeit des Bund ist jener Aktivismus zu verstehen, der an die Bildungszirkel der russischen Revolutionäre des 19. Jahrhunderts anschloss und damit eine gegenhegemoniale und über die russisch-jüdische Aufklärung hinausgehende Bildung anvisierte, die zu einer neuen, aktivistischen und säkularen yidishkayt führen sollte.101 Wie Verena Dohrn zeigt, war das Verhältnis zum zarischen Staat das bedeutende Unterscheidungskriterium zwischen den jüdischen Aufklärern, den

97 Bund, MG2, 429, Tyo IV; Erneut darf hier der Effekt des deutschen Massenmords im Zweiten Weltkrieg jedoch nicht verschwiegen werden, denn die großen Wahlerfolge des Bund fiel vor allem in die letzten Jahre des unabhängigen Polen, zur Quellenkritik siehe dahin gehend: Kap III.4 [Fragebögen]. 98 Pickhan, Gegen den Strom, 414–419. 99 Jacobs, Bundist Counterculture, 1–4; Henry Abramson, A Prayer for the Government: Ukrainians and Jews in Revolutionary Times, 1917–1920 (Cambridge, Mass: Harvard University Press, Harvard Ukrainian Research Institute and Center for Jewish Studies, 1999), 50 ff. 100 Als Ansatz: Jack Jacobs, „The Bund in Vilna, 1918–1939“, POLIN 25 (2013): 263– 292. 101 Zum Konzept, siehe: Pickhan, „Yiddishkayt and Class Consciousness“.

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Maskilim und der revolutionären Intelligencija.102 Erstere bauten vor allem auf integrierende Einrichtungen, auf die Reform sowohl des Staates als auch des Judentums durch offizielle Bildungseinrichtungen. Dies scheiterte. Die Bauernbefreiung 1861 wurde nicht auf die Siedlungsfreiheit der Juden ausgeweitet, die brisante Situation gar durch die Mai-Gesetze nach dem Zarenmord 1881 weiter verschärft. Die Unterdrückung führte zu einem aktivistischen Ausweichverhalten, denn die gemäßigten Bildungseinrichtungen und Ideen der Maskilim waren das falsche Mittel in ungemäßigten Zeiten. In der Illegalität bildeten sich mit den kružki, den geheim und punktuell operierenden, illegalen Bildungskreisen „[t]he main form of Russian radical organization in the 1880’s“ heraus.103 In ihnen wurde zuerst auf Russisch und ab Ende des 19. Jahrhunderts auch auf Jiddisch sozialistische Bildung vermittelt, die zunehmend zu Arbeiterbildung wurde. Arbeitern, die vor 1905 im Bund aktiv waren, wurde in diesen Kreisen nicht nur die Welt erklärt, sondern auch Bewusstsein für die Weltveränderung geschaffen. Hier wurden Erwachsenwerden, Säkularität und Klassenkampf in einem Atemzug gelehrt.104 Doch wurde das bundische Bildungswesen keineswegs immer derart politisch gedeutet. Bildungsaktivisten wie Khayim Kazdan sahen das Bildungswesen des Bund als Motor eines evolutionären Prozesses mit dem Ziele einer kulturell alleinstehenden yidishkayt, die viel mehr an Literatur denn an Arbeiterkultur zu messen sei. Dabei werden Autoren und ihre Schulprogramme als Struktur gebend gesehen, weswegen Kazdan, der Leiter der TSYSHO, in seiner Geschichte Fun kheder un ‚shkoles‘ biz tsysho die Geschichte des Bund in die Geschichte jüdischer Schulen integriert, wobei er die yidishkayt als die größte kulturelle Errungenschaft des Bund 102 Verena Dohrn, Jüdische Eliten im Russischen Reich. Aufklärung und Integration im 19. Jahrhundert (Köln: Böhlau, 2008). 103 Tobias, The Jewish Bund in Russia from its Origins to 1905, 13. 104 YIVO, New York, RG 102, #196; weiterhin: Sophia Dubnov-Erlich, „Zikhroynes vegn Mendele Abramovitsh, Bd. 1“, Kharkover tsaytung 5 (1918): 4  ff.; Sophia DubnovErlich, „Zikhroynes vegn Mendele Abramovitsh, Bd. 2“, Kharkover tsaytung 6 (1918): 2 f.; Shlugleyt, „Bam vigele fun ‚bund‘“; Yakob Peskin, „Di vilner grupe un Arkadi Kremer“, in Arkadi: Zamlbukh tsum ondenk fun Arkadi Kremer (New York: Unzer tsayt, 1942), 112–120; Yesir Kohen, „Bey aleksandern in kreyzl“, in Arkadi: Zamlbukh tsum ondenk fun Arkadi Kremer (New York: Unzer tsayt, 1942), 145 f.; Baskin, „Yeshivah, haskole un der ibergang tsum ‚bund‘“; Shulman, „Baginen“; Hofman, „Vi azoy ikh bin gekumen tsum ‚bund‘“; Abraham der Tate [Layb Blekhman], Bleter fun mayn yugent: Zikhroynos fun a Bundist (New York: Unzer tsayt, 1959); Arnold Sisk, „Der ‚bund‘ in mayn shtetl Stok“, in 100 yor „bund“: Spetsyele oysgabe fun der bundisher organisatsye in Myami-bitsh. Algemeyner yidisher arbeyter „bund“ 1897–1997. Tsum 100 yorign yubl fun „bund“, [Orig.: 1947, Unzer tsayt, New York] (Miami Beach, FL, 1997).

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hervorhebt.105 Dies stellt aber auch eine künstliche Trennung zwischen den teilweise äußerst radikalen politischen Forderungen des Bund und der darauf ausgerichteten Bildung dar, weswegen die kulturelle Ebene bei Kazdan deutlich überbetont wird. Eine solche Kulturalisierung des jüdischen säkularen Bildungswesens ohne Berücksichtigung des Sozialismus als Fundament der Weltlichkeit war durch den nachweltkrieglichen, amerikanischen Entstehungskontext des Buches bedingt, weniger durch die Bildungsaktivisten selbst. Denn vor dem Weltkrieg funktionierte Bildung, wie auch die yidishkayt, in politischen und oft revolutionären Bezügen. Dies stellen andere Autoren in den Vordergrund, für die Bildungskreise jene Initiatoren waren, die mit dem System des kheder brachen und die zudem Juden und Nichtjuden aufgrund revolutionärer Bestrebungen vereinten. So entstanden aufgrund des eminenten Erklärungs- und Handlungsbedarfs im Schneeballeffekt weitere Bildungsstätten.106 Diese Sicht wird vor allem von den frühen Arbeiteraktivisten bemüht. Sie heben zwar hervor, dass sie ihre „Erweckung“ oft durch Lektüre erlebten, dass sich jedoch erst in Gesprächskreisen oder bei anderen Versammlungen das angesammelte Wissen in praktizierbare Bildung wandeln konnte. Die früheren Rezipienten bauten darauf oft eine innerbundische Karriere als Agitator auf und trugen so das Erlebte wiederum nach außen.107 Kružki, Schulen, Kulturhäuser und Versammlungen griffen in einem gegenhegemoniellen System ineinander. Sie brachen mit dem Integrationsgedanken der Aufklärung, um zugleich deren Urgedanken „Bildung durch Selbstbildung“ unter Bezug auf das Klassenwesen der Gesellschaft aktivistisch auszulegen. Nun konnte ein jeder Arbeiter durch das Organisieren neuer Bundgruppen, durch Versammlungen oder durch Bildungsarbeit zum tuer werden. Bildung war also immer angebunden an die strukturelle Ausbildung sowohl neuer khaverim als auch entsprechender Zweige der Bewegung. Erst richtete sich Bildungsarbeit als politische Mission allein an Arbeiter, verlagerte sich dann aber durch den generationellen Wandel im Bund im Laufe der Jahre

105 Siehe: Khayim Solomon Kazdan, Fun kheder un ,shkoles‘ biz tsysho: Dos ��������������������������������������������������������������������������������� ruslendishe yidntum in gerangl far shul, sprakh, kultur (Mexiko: Shloyme Mendelson Fond, 1956). 106 Vgl. FN 1, S.61. 107 Vor allem die Karrieren von Arbeitern beruhen auf dem Hervortreten und dem Sichselbst-Ausprobieren und Bewähren in solchen Situationen. Vgl. die langen Karrierebeschreibungen und die ewige Wiederkehr dieses Topos in: Berman, In loyf fun yorn; Shtern, Zikhroynes fun shturmishe yorn; Hersch Mendel, Zikhroynes fun a yidishn revolutsyoner (Tel Aviv: Peretz, 1959); Novikov, Zikhroynes fun a yidishn arbeter; Metaloviets, A veg in leben, Vol. 1.

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immer weiter in Richtung der Jugendarbeit.108 Das Entstehen der Jugendgruppen SKIF, Tsukunft und des säkularen bundisch-poalei-zionistischen Bildungsdachverbands TSYSHO zu polnischen Zeiten ist daher in der russländischen Geschichte des Bund verwurzelt, stellte für sich aber eine besondere Entwicklung der Legalität des Bund in Zwischenkriegspolen dar.109 Von Kazdan wurde es retrospektiv überkulturalisiert, denn Bildung konnte nur ein massenwirksames Aktivismusmuster werden, weil sie der yidishkayt eine utopische und transnational transferierbare Deutung verlieh.

Arbeitskampf Ebenfalls zwischen Geheimhaltung und Öffentlichkeit befand sich das Aktivismusmuster des Arbeitskampfs. Es war aufs Engste mit den Wurzeln des Bund in der Streikbewegung und der daraus folgenden Gewerkschaftsarbeit verknüpft, denn der Bund war aus den Kasen (russ.: kassy), den Solidarkassen der Streikbewegung, erwachsen.110 Gesandte dieser Kassen gründeten 1897 den Bund in Wilna aufgrund zweier Hauptprobleme. Erstens waren die Kassen an sich zu klein, zu angreifbar und unterlagen zu großen Schwankungen. Gewerkschaften waren bis dahin in erster Linie berufsgruppenspezifische Zweckbündnisse mit mangelnder Institutionalisierung. Sie stiegen und fielen mit dem Streikbedarf und den Streikerfolgen.111 Der Begriff der Gewerkschaft soll also keineswegs ein Bild fester Institutionen implizieren, sondern fasst das weite Feld der fareyne, der beruflichen „Vereine“ zusammen, in denen Arbeiter für die Verbesserung ihrer Arbeits- und Lebensbedingungen stritten. Über 50 % der erwerbsfähigen jüdischen Bevölkerung Russlands waren im Textilbereich tätig, was diese Branche zu einem der hauptsächlichen Kampffelder werden ließ und die Stärke der nadlfareyne begründet.112 108 Dubnov-Erlich, „Zikhroynes vegn Mendele Abramovitsh, Bd. 2“, 2; Baskin, „Yeshivah, haskole un der ibergang tsum ‚bund‘“. Entschiedend für letzteres war die Jugendlichkeit der der Bundisten, siehe dahin gehend Kap. II. 3 [Fragebögen]. 109 Zwar liegt keine zeitgemäße Geschichte des TSYSHO vor, jedoch ist die Literatur zum jüdischen Schulwesen in Polen umfassend. Aktuell und grundlegend behandelt in: Shimon Frost, Schooling as a Socio-Political Expression. Jewish Education in Interwar Poland ( Jerusalem: Magnes Press, Hebrew University, 1998). 110 RGASPI, Moskau, Fond 217, opis’ 1 delo 34 [S. Gožanski: Pervij b’ezd bunda. Vospominanja učastnika]; Mendelsohn, Class Struggle in the Pale, 64–71; Tobias, The Jewish Bund in Russia from its Origins to 1905, 58. 111 Bunzl, Klassenkampf in der Diaspora, 63–67. 112 Stand nach der Volkszählung 1897: 52,5% Bekleidung, Baugewerbe 19,0; Nahrung 9,0%, Kulturgewerbe 5,9%, Sonst. 13,6%; nach Ebd., 34.

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Der Bund nahm sich der Aufgabe an, aus den Fragmenten der ökonomischen Bewegung im jüdischen Ansiedlungsrayon heraus die politischen und kulturellen Probleme der Arbeiterfrage zu erklären und die vielen Aktionen im Kontext einer Institution zu binden. Dabei sollte der Bund die Heterogenität der Gewerkschaften als politischer Dachverband zu einer Gewerkschaftsbewegung und im folgenden Schritt zu einer politisch-sozialen Bewegung kanalisieren. Ihr explizites Bekenntnis zum Marxismus grenzte Bundisten von den Zionisten, auch von den Arbeiterzionisten, ab. So betont zum Beispiel der Sohn des Bundisten und Professors Libman Hersh, dass sein Vater trotz seines zionistischen Elternhauses und höherer Bildungsbestrebungen genau wegen der bundischen Arbeiter- und Gegenkultur in den Bund eingetreten sei, nämlich „wegen der reaktionären Einstellung der Zionisten gegen jede sozialistische Bewegung im damaligen zarischen Russland. Streiks, zum Beispiel, haben die Zionisten nicht mitgemacht […].“113 Von den ersten Zügen an war die Gewerkschaftsbewegung im Bund mehr als eine ökonomistische Bewegung, auch wenn ökonomische Forderungen in der Gewerkschaftsarbeit zentral blieben. Zudem drängte das Problem der „Jüdischen Frage“, welche der Bund fest mit der Arbeiterfrage verknüpfte.114 Schon 1903–1906 und vor allem nach 1912 führte dies zu großen Konflikten mit der immer zentralistischer argumentierenden russischen Sozialdemokratie. Ganz besonders betraf dies Lenin, dessen Meinung sich zunehmend verhärtete und 1913 in der Losung „Jüdische nationale Kultur, das ist die Losung der Rabbiner und Bourgeois, die Losung unserer Feinde“ gipfelte. In großartiger Verkennung der Lage erblickte Lenin revolutionäres Potenzial allein bei im westlichen Europa lebenden Juden. Im gleichen Atemzug sprach den russischen Juden revolutionäre Produktivität ab und erklärte sie zum „Feind des Proletariats“, „mögen seine Absichten noch so gut sein“.115 Dies war freilich zugleich auf Lenins bundische und arbeiterzionistische Konkurrenz gemünzt und verkannte in chauvinistischer Verblendung, wie wichtig yidishkayt und spezifische Unterdrückungserfahrungen für die Mobilisierung jüdischer Arbeiter waren. Der Bund hingegen reagierte auf die zionistische Konkurrenz durch sein Beharren auf einem Alleinvertretungsanspruch, den er freilich auch nie besaß.116 Zudem widerstrebten den Vertretern einer „Agentenpartei“ die gewerkschaftlichen Wurzeln des Bund, weswegen er reduktionistisch „ökonomisiert“ wurde. Vor allem die Iskra griff die vom 113 Yosef Hersh, „Vegn politisher eynshtelung fun mayn fater: Etlikhe kurtse derinerungen“, Unzer tsayt, New York 11–12 (1957): 72, dies ist in der Art sicher überzogen und trifft nur auf die ersten Jahre des Bund zu. Mit dem Aufkommen der Poalei Zion erwuchs dem Bund ein mächtiger Konkurrent und Kooperationspartner zugleich. 114 Jack Jacobs, On Socialists and the Jewish Question after Marx, 124–133. 115 W. I. Lenin: Kritische Bemerkungen zur nationalen Frage, in Lenin Werke, 20 (Berlin: Dietz), 10 f. 116 Jacobs, On Socialists and The Jewish Question After Marx, 127 f.

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Mitgründer des Bund Dzshon Mill als für die Propaganda unbedingt notwendig erachtete „Mittelbarkeit“ des Bund an und verurteilte ihn nun gerade, weil er bei seiner Namensgebung auf den Begriff „sozialdemokratisch“ verzichtet habe.117 Mill hob seinerseits aber die praktische Seite dieses Namens hervor, nämlich dass „sozialistisch“ 1897 noch ein abschreckender Begriff gewesen sei. Der Verzicht schuf eine Flexibilität, die erlaubte, dass sich sofort weitere Komitees gründen konnten, die sich dann berufsgruppenspezifisch an den Bund anschlossen. So formte sich unter der roten Fahne des Bund ein Gemeinsames, aus dem sich mit dem Bundismus eine Philosophie ausbilden konnte, die sowohl die jüdische als auch die proletarische Seite der Unterdrückung berücksichtigte. Basierend auf der Lebenserfahrung der jüdischen Aktivisten waren Jüdischkeit und Arbeiteridentität untrennbar verschmolzen, sie wurden vor allem in der Agitation stets zusammen gedacht und in der yidishkayt zu einer kohärenten Identität zusammengeführt. Diese Notwendigkeit musste später auch die kommunistische Partei Russlands mit der Gründung der Evsekcija eingestehen, wobei es jedoch für die Bolschewiki lange Zeit sehr schwierig blieb, in dem Feld, gegen das sie so lange gekämpft hatten, Einfluss zu gewinnen und fähige Autoren zu rekrutieren.118 Freilich wirkten sich die verschiedenen Rechtszustände des Bund auch auf seine Gewerkschaftsbewegung aus, was vor allem die Professionalisierungstendenzen betraf. Die frühe Gewerkschaftsbewegung im Bund war, wie zum Beispiel der radikale Bershter Bund,119 eine Streikbewegung mit zunehmend politischem Habitus.120 Im Vorfeld der Revolution 1905 wurde in vielen ursprünglich ökonomistischen Vereinigungen langfristige politische Ziele wichtiger, was Aktivismus auch über das kurzfristige Streikereignis hinaus ermöglichte.121 Die konspirativen Gewerkschaftskassen (kassy) waren nur eine Vorbedingung des konfrontativ-öffentlichen Streiks. Auf Dauer konnten sie den Arbeitskampf jedoch nicht alleine tragen. Letztendlich, so John Bunzl, führten ab der wegweisenden fünften Konferenz des Bund 1902 diese „Schwierigkeiten der Streikbewegung […] zur Betonung des Primats des politischen 117 Dzshon Mill, „Der grindungs-tsuzamenfor fun ‚bund‘“; Tobias, The Jewish Bund in Russia from its Origins to 1905, 67 ff. 118 Zvi Gitelman, Jewish Nationality and Soviet Politics. The Jewish Sections of the CPSU, 1917–1930 (Princeton, NJ: Princeton University Press, 1972), 120–129; Moss, Jewish Renaissance in the Russian Revolution, 258–262. 119 Gewerkschaft der Bürstenmacher. 120 Arbeyter shtime 14 (1899): 8. 121 Das Problem der Streiklänge war ein doppeltes, erstens waren vor allem kurze Streiks erfolgreich und zweitens gab es Probleme, Streiks zu finanzieren. Bunzl, Klassenkampf in der Diaspora, 64 f., S. 64 f., siehe auch die zeitgenössische und detailierte Analyse aus sozialistisch-zionistischer Perspektive: Ber Borochow: Zionismus und Sozialismus – Eine Synthese (Wien: Zukunft, 1932), 330–334.

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Kampfes“.122 So wurde beschlossen, dass politische Themen zentral zu behandeln und ökonomische Belange auf lokaler Ebene zu organisieren seien. Erst ab 1904 verknüpften sich beide Stränge zu einem praktikablen politisch-ökonomischen Handlungsmuster, welches dann auch immer stärker auf der yidishkayt als einem kulturpolitischen Eigenwert beharrte.123 Obwohl die jüdischen und damit auch jiddischsprachigen Gewerkschaften in Bezug auf ihre Streikziele phasenweise sehr erfolgreich waren, können sie daher nicht als eigenständige soziale Bewegung gesehen werden. Sie benötigten die materielle und logistische Hilfe des Bund ebenso sehr wie der Bund den Zuwachs an Aktivisten aus dem Arbeitskampf.124 Selbst Kritiker wie Lenin, die gerade in dieser Bindung des Bund an die Gewerkschaften die Gefahr sahen, da er sich mit diesem Massenballast nicht wagemutig genug in den konspirativen Klassenkampf werfen könne, mussten angesichts des andauernden Erfolges indirekt eingestehen, dass der Bund einen besonders starken Einfluss auf die sich organisierenden Arbeiter ausübte.125 Auch der zarische Staat erkannte, dass Streikbewegung und Bund nicht getrennt denkbar waren, was dazu führte, dass auch die Gewerkschaftsbewegung jener Verfolgung ausgesetzt war, die die sie umgebenden politischen Bewegungen zu erleiden hatten. Dies führte jedoch nur zu einer weiteren Politisierung der Gewerkschaften.126 Die so entstandene jiddischsprachige und revolutionäre Gewerkschaftsbewegung war speziell an die Illegalität angepasst. Sie operierte ebenso wie der Bund partiell konspirativ und trat nur eruptiv in die Öffentlichkeit. Nach dem Ende des Ersten Weltkrieges kam mit der ersehnten Legalität in Polen auch die funktionale Differenzierung. Dort mussten die Gewerkschaften, wie der führende Bundist Artur Zigelboym einräumt, „gezwungenermaßen eine eigenständige Existenz führen.“127 Es entwickelte sich ein polnisches Gewerkschaftswesen mit einzelnen Berufs- und Sprachzweigen. Diese waren einerseits Bestandteile institutionalisierter Hierarchien neuer Dachverbände und funktional differenziert, was die Gewerkschaften weiter vom Bund wegrückte.128 Dies erlaubte andererseits aber auch die von 122 123 124 125

Bunzl, Klassenkampf in der Diaspora, 67, Hervorhebungen im Original. Mendelsohn, Class Struggle in the Pale, 129, 135. Zur gegenseitigen Bedingtheit, siehe auch Kap. II. 4 [Fragebögen]. Dies wurde sogar in der kommunistischen Wissenschaft des Kalten Krieges anerkannt, siehe: I. I. L Borščenko, Die Gewerkschaften in Russland von 1907 bis 1917 (Moskau: Verlag des Zentralrats der Sowjetgewerkschaften Profisdat, 1959), 10 f. 126 Zwischen 1906 und 1910 wurden von der zarischen Regierung knapp 500 Gewerkschaften verboten, 600 weiteren die Genehmigung verweigert. Die Zahl der Mitglieder sank von 245.000 (1907) auf 13.000 (1909). Ebd., 12. 127 Zit. in: Pickhan, Gegen den Strom, 200. 128 Zur Gewerkschaftsorgsanistion und dem Verhältnis zur polnischen nationalen Dachorganisation, siehe: Gertrud Pickhan, „‚Wo sind die Frauen?‘. Zur Diskussion um

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Roni Gechtman beschriebene „national-cultural autonomy in the making“.129 Denn obwohl sich die Gewerkschaftsflügel des Bund in die polnische Dachgewerkschaft integrierten, setzte man durch, dass unterhalb der obersten Ebene (Hauptkassenbücher und Korrespondenz mit der polnischen Zentralkommission) Jiddisch die offizielle Kommunikations- und Schriftsprache blieb.130 Dies brachte die Gewerkschaftsbewegung auch näher an die kulturellen Zweige des Bund, bedeutete aber nicht deren Entpolitisierung. In der Zwischenkriegszeit verstärkte sich vielmehr die „Proletarisierung“ der jüdischen Arbeiter, erstens durch den Wandel des Industriesektors und zweitens durch diskursive Anpassung. Auch der Bund nutzte nun eine immer stärker proletarisierende Rhetorik, in der gegen Ende der 1920er-Jahre auch der Begriff der „Arbeit“ (wieder) einen höheren Stellenwert einnahm. Angesichts der Verdreifachung der Mitgliedszahlen gegen Ende der 1930er-Jahre konnte Viktor Alter auf dem Kongress der jüdischen Gewerkschaften 1939 in Polen damit feststellen: „Die Juden in Polen werden immer mehr und mehr ein Volk der Arbeit!“, was auch spiegelte, wie sich yidishkayt immer mehr als Arbeiterkultur manifestierte.131 Doch kurz darauf erfolgte der Einfall der Deutschen und die bundische Kultur der Arbeiter und des Arbeitskampfes konnte nur in der Migration am Leben gehalten werden. Dabei ist es aber aufgrund der lokalen Bedingungen des Arbeitskampfes eine noch zu beantwortende Frage, in welcher Art die bundischen Formen des Arbeitskampfes überhaupt nach Argentinien oder in die USA transferiert werden konnten.

Bewaffnete Militanz: Abwehr oder Rache? Kaum ein anderes Aktivismusmuster des Bund war derart janusköpfig wie das der bewaffneten Militanz. Obwohl es extrem umstritten war, lieferte es Erlebnisse und Heldengeschichten, die weit über den Tatzeitraum hinaus wirkten. Aus diesem Grund werden in den Erinnerungen der Aktivisten auch nie die theoretischen Implikationen und Probleme der Selbstwehr reflektiert, sondern stets nur die Praxis

Weiblichkeit, Männlichkeit und Jüdischkeit im Allgemeinen Jüdischen Arbeiterbund (’Bund’) in Polen“, in Zwischen den Kriegen. Nationen, Nationalismen und Geschlechterverhältnisse in Mittel- und Osteuropa, 1918–1939, hg. von Johanna Gehmacher, Elisabeth Harvey, und Sophia Kemlein (Osnabrück: Deutsches Historisches Institut, Warschau, 2004), 201 ff. 129 Roni Gechtman, Yidisher sotsializm, 17. 130 Pickhan, Gegen den Strom, 201. 131 Ebd., 206.

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und oft abenteuerliche Organisation der Kampfeinheiten, die trotz ihrer breiten Aufgaben als Pogromabwehreinheiten in Erinnerung gehalten wurden.132

Bewaffnung als Argument Bewaffnete Gruppen waren seit den ersten Jahren feste Bestandteile des Bund. Sie übten eine doppelte Gegengewalt aus, zum einen als bewegungsspezifische, zum anderen als gesamtjüdische Schutzmacht. Anfangs schützten diese Einheiten des Bund punktuell Parteiveranstaltungen. Daraus erwuchsen jedoch Kampfeinheiten, die auch im ökonomisch-politischen Kampf eingesetzt wurden und die wiederum darauf aufbauend gegen Pogrome vorgingen. Der Bund durchbrach mit diesen Einheiten die jüdische Geschichte und ihre tradierten Gewaltformen mehrfach und er nutzte diese Stellung intensiv zur Arbeiterorganisation und zur Umerziehung der Arbeiter. Dabei kann trotz aller postumen Heroisierung keineswegs nur von organisierter bewaffneter Militanz der Kampfeinheiten gesprochen werden, sondern oft eher von kollektiver Prügelei. Wie sich der bundistische Buchbinder Sholom Levin erinnert, war man sich des Faktes bewusst, dass Gewalt bislang geordnet nach klassischen Herrschaftsverhältnissen verlief. Der einzige Weg, diese Gewalt nicht mehr zu erdulden sei für viele der Aufstieg in eben jenen Hierarchien gewesen: Ganz schnell erkannte ich, dass das Schlagen des Lehrjungen zum ‚Programm‘ [der] Ausbildung gehörte, dass der Chef gar keine Ursache für sein Schlagen brauche – er schlägt, da man ihn auch geschlagen hatte, als er die Arbeit erlernte. Und der einzige Trost des

132 Bund Archives, New York, RG 1333, #1, ##[Autobiographie, ohne Titel, ohne Jahr]: 31–41; YIVO, New York, RG 102, #107 [A. Beitani]: 16; Ebd.: #173 [Samuel Carasnik]; Laybitshke [Layb Berman], „Der Dvinkser ‚boyevoy otryod‘ – B.  O. (Kamfdruzshine): Zikhroynes fun yor 1905“, Arbeter luakh 5 (1924): 61–80; Abramovitsh, „Zshitomirer pogrom un unzer kamf-druzshine“, in 1905 yor in Barditshev ([Kiev]: Barditshever Hisport dem krayz-komitet fun K.P. (B.) An, 1925), 99  f.; M. [Laybetshke] Berman, „Ikh ver bashuldigt a ganeyve: A kapitl zikhroynes“, Unzer Tsayt 3 (1945): 73; P. [Aleksander] Mints, Lodzsh in mayn zikhroyn. Fragmentn fun mayn kindheyt un yugnt (Buenos Aires: Yidbukh, 1958), 101 ff.; M.L. Polin, „Farzamlungen in mayn zikhroyn“, in Arebeter ring in ranglenishn un dergreykhungen (1914–1964), hg. von Yefim Yeshurin (New York: Aroysgegebn fun dem „Natsyonaln sotsyaln klub“ tsu zayn fuftsikstn yubl, 1964), 301–3; Aronson, „Di birzshe un di zelbstshuts in Homel“.

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Geschlagenen ist, dass er, wenn er eines Tages Chef sein wird, auch die Lehrjungen schlagen kann.133

Aus dieser Gegenwärtigkeit der Gewalt versteht sich, dass auch die bundische Durchsetzung von Arbeiterinteressen Krafteinsatz brauchte. Da bestreikte Unternehmer zunehmend „regelrechte Streikbrechergarden (aus deklassierten Elementen)“ aufstellten, griff auch der Bund im ökonomischen Kampf auf den Knüppel zurück.134 In knapper Sachlichkeit schildert der Buchbinder Levin den Kampf gegen Rudnitski, den Inhaber der lokal größten Buchbinderei: Rudnitksi nahm sich, abgesehen von der Polizei, auch professionelle Schläger zu Hilfe. Darauf antworteten die Arbeiter mit Kloppe. Eines Tages hat man ihn dann vorm Lagerhaus abgepasst und ihn derart verprügelt, dass er einige Wochen im Bett bleiben durfte, und erst danach hat er sich ergeben.135

Derart häufig geschilderte Übergriffe fanden, wie die meisten Streiks, lokal und spontan statt. Dabei war es eine Gratwanderung, wann Gewalt als produktiv oder als negativ erachtet wurde. Die Aktivisten legten hier vor allem auf die Binnendifferenzierung zwischen „bewussten“ und „unbewussten“ Arbeitern Wert, also de facto zwischen denen, die sich im Untergrund der Streikbewegung organisierten und denen, die in den Kreisen des strukturell nahen, ideologisch jedoch fernen Untergrunds des Ganoventums tummelten.136 „Ganove“ zu sein, also der zwielichtigen Unterwelt anzugehören, war folglich in der Arbeiterbewegung eine der größten Beleidigungen.137 Um diese Abgrenzung zu verstehen, ist jedoch nicht nur das russische, revolutionäre Selbstbewusstsein zu berücksichtigen, sondern auch die Situation der Gewerkschaften zum Zeitpunkt des Schreibens. Ein Großteil der Erinnerungen bundischer Aktivisten wurde ab den 1920er-Jahren und oft in den USA verfasst, wo das Problem des Labor Racketeering, der Übernahme und Abschöpfung der Gewerkschaften durch das organisierte Verbrechen, den Gewerkschaftsaktivisten deutlich vor den Augen stand.138 Neben den italienischen Einwanderern wird dabei auch auf die prominente Rolle jüdischer Einwanderer verwiesen, wobei vor allem die zweite 133 134 135 136 137 138

Levin, Untererdishe kemfer, 120. Bunzl, Klassenkampf in der Diaspora, 66. Levin, Untererdishe kemfer, 98 f. Eindrücklich z. B. in: Mendel, Erinnerungen eines jüdischen Revolutionärs, 17 ff., 25 f. Vgl. Berman, „Ikh ver bashuldigt a ganeyve. A kapitl zikhroynes“. Diese hatte bereits seit den 1920er-Jahren ein immenses Ausmaß angenommen, was jedoch v. a.durch die McClellan Committee Hearings der 1950er-Jahre bewusst und erneut thematisiert wurde, vgl.: James B. Jacobs, Mobsters, Unions, and Feds: The

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Generation den Aufstieg durch die Kriminalität suchte und oft auch erreichte.139 Selbst der Bundist Sam Carasnik erinnert sich mit gespaltenen Gefühlen an die Prohibition: Nach seiner Auswanderung in die USA 1907 lief es für ihn schlecht, erst im Zuge der Prohibition ging es ein wenig aufwärts und er konnte sich einen gut gehenden Lebensmittelladen kaufen, der vor allem durch den Verkauf von Rohmaterial für das Brauen daheim geradezu brummte.140 Freilich stellt er in seiner Erinnerung sofort klar, dass er trotz alledem seine Ideale erhalten habe, allein hätten das Geschäft und seine Kinder ihn so eingefordert, dass er keine aktive Rolle in der Bewegung mehr habe einnehmen können. Trotz alledem musste er 1922 den Laden aufgeben, da, wie er vielsagend andeutet „einige Dinge gegen ihn liefen“.141 Über die Hintergründe jedoch bleibt er im Vagen. Aus Sicht der Arbeiteraktivisten war eine Abgrenzung zwischen Untergrund und Unterwelt notwendig, da nur mit politischem Bewusstsein untermauerte Taten als Aktivismus galten. Dies führte, wie sich Hersch Mendel erinnert, schon in Russland zu „massenhaften Auseinandersetzungen“, in denen Streikbewegung und Bekämpfung des marxschen Lumpenproletariats als Störfaktoren im Klassenkampf ineinandergriffen. Dies geschah beim ersten großen Streik, in dem die Arbeiter aller Berufe die Arbeit niederlegten und auf die Straßen zogen, um gegen die Unterwelt anzutreten. Eine solche Schlägerei dauerte im Jahr 1905 einige Tage lang. Die Arbeiter haben damals alle Bordelle verwüstet, alle Hehler blutig geschlagen, und die Unterwelter anhand von Listen zu Hause aufgesucht. Nicht selten wurden Diebe und Zuhälter aus dem Fenster geworfen. […] Die Polizei verhielt sich in diesen Kämpfen anfangs neutral. Sie glaubte, die Arbeiter würden unterliegen. Aber als sich später herausstellte, daß die Arbeiter siegten, stellte sich die Polizei auf die Seite der Unterwelt und gemeinsam begannen sie, Massenverhaftungen von Arbeitern durchzuführen. […] Das zog sich bis 1907 hin, bis zum völligen Sieg der Reaktion.142

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Mafia and the American Labor Movement (New York: New York University Press, 2006), 76–99. Siehe: Harold Seidman, Labor Czars: A History of Labor Racketeering (New York: Liverlight, 1938); John Landesco, Organized Crime in Chicago. Pt. III of the Illinois Crime Survey, [Orig.: 1929] (Chicago: University of Chicago Press, 1968); Robert A. Rockaway, But He Was Good to His Mother: The Lives and Crimes of Jewish Gangsters ( Jerusalem et al.: Gefen Publ. House, 2000). Zu den zahlreichen Geschäftsmöglichkeiten während der Prohibition, siehe: Thomas Welskopp, Amerikas große Ernüchterung. Eine Kulturgeschichte der Prohibition (Paderborn: Ferdinand Schöningh, 2010). YIVO, New York, RG 102, #173 [Carasnik, Sam] Mendel, Erinnerungen eines jüdischen Revolutionärs, 24 f.

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Mendel erlebte die Revolution in erster Linie als Prügelei, dennoch hebt er hervor, dass sie ihn zur „für die Revolution – oder für die Unterwelt“ zwang.143 Diese sehr robuste, bewaffnete Militanz wurde zu einem proletarisierenden Identitätsgenerator und Ausdruck neu erwachsender Dominanzansprüche im öffentlichen Raum. An Jürgen Kockas viel zitiertes dreistufiges Modell der Klassenbildung über Klassenlage, Klassenidentität und Klassenhandeln anschließend kann der Klassencharakter solcher Arbeiterautobiographien wie folgt resümiert werden: Der „Bewusstwerdung“ (der Klassenlage) durch (oft einfachste) Literatur folgten die Manifestation der Seitenwahl durch Gewalt (als praktizierte Identität) und drittens die Bestätigung dieses Identitätsmusters per Erinnerung. Als zentraler Entscheidungsschritt war Gewalt grundlegend für Erlebnisse in der Bewegung, weswegen sie auch „auf andere Dimensionen des Klassenbildungsprozesses förderlich einwirken“ konnte.144

Bewaffnung als Schutz Bekannt aber wurde die bundische bewaffnete Militanz als Selbstwehr gegen Pogrome.145 Nach dem verheerenden Pogrom in Kišinev 1903 verfestigte der Bund diese Formen dahin gehend, dass er offiziell an die Waffen zur Selbstwehr rief. Er erlaubte dies aber nur im Rahmen protektiver und untereinander vernetzter Einsatzgruppen, die sich lokal, geheim und mit einer straffen Binnenhierarchisierung organisierten.146 Diese in der jüdischen Geschichte erstmalige organisierte Gegenwehr gegen christliche Gewalt war ein weiteres Mittel, um den neuen Herrschaftsanspruch der tuer „oyf di yidishe gas“ zu tragen. Indirekt war dies auch ein Angriff auf traditionelle innerjüdische Hierarchien. Der Bund weigerte sich, eine Opferrolle als historisches Erbe anzuerkennen und forderte zum Widerstand in einer von Menschen gemachten Welt auf. Die Pogromabwehr war darum, trotz ihrer faktisch sehr begrenzten Macht, ein entscheidender Höhepunkt der seit dem 18. Jahrhundert stattfindenden „aktivistischen Wende“ des Judentums.147 Damit stellte der Bund die Dominanz alter jüdischer Eliten infrage. Nicht die kehilla, sondern die Truppen des Bund beanspruchten nun, die Schutzmacht der jüdischen Bevölkerung zu sein, was auf der 143 Ebd., 25. 144 Jürgen Kocka, Arbeitsverhältnisse und Arbeiterexistenzen. Grundlagen der Klassenbildung im 19. Jahrhundert (Bonn: Dietz, 1990), 5. 145 Hervorzuheben sind zwei Aufsätze, die im Abstand von fast 30 Jahren erschienen, wobei Ersterer die Organisationsgeschichte und Letzterer die Emotions- und Repräsentationsgeschichte in den Blick nimmt.: Lambroza, „Jewish Self-Defence“; Shtakser, „Self-Defence as an Emotional Experience“. 146 Dargestellt in: Lambroza, „Jewish Self-Defence“. 147 Haumann, Geschichte der Ostjuden, 52, 154 f.

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Seite der Bevölkerung oft als „heroische“ Tat des Bund gesehen wurde – oder aber als der Sündenfall der Moderne.148 Denn wie John D. Klier nahelegt, konnte durch die Institutionalisierung der Gegenwehr die Dynamik der Pogrome weiter verschärft werden und der „dialogue of violence“ zwischen Juden und Christen außer Kontrolle geraten.149 Dabei sollte aber auch nicht übersehen werden, dass auf beiden Seiten gewalthafte Institutionen entstanden, die nicht nur entlang der imaginierten jüdisch-christlichen Front marschierten, sondern vor allem auch entlang der revolutionären. Der Großteil der Kampfgruppen war vom Bund organisiert, aber keine reinen bundistischen Einheiten. Wie eine nach den Pogromen 1905/06 eingesetzte Untersuchungskommission der Pogrome feststellte, befanden sich unter 152 getöteten Selbstschützern in den 22 Schtetln auch 20 Nichtjuden, die damit nach den Bundisten die zweitgrößte Gruppe stellten.150 Viele Pogrome nach dem Oktobermanifest waren nicht nur antijüdisch, sondern antirevolutionär motiviert und die sozialistischen Verbände verteidigten nicht nur das Schtetl, sondern auch die Revolution. Sehr oft stellte der Bund dennoch die Mehrzahl und die Organisation dieser Abwehreinheiten, die schon in den Jahren zuvor entstanden waren und seit dem Kišinever Pogrom 1903 eine Feste des Bund darstellten.151 Diese Dominanz des Bund zeitigte aber auch zentrifugale Effekte. Der Poalei-Zionist A. Beitani warf sich im Vorfeld der Revolution 1905 in eine solche Kampfgruppe, um die lokalen Juden zu verteidigen. Er geriet aber zwischen die ideologischen Fronten von Bundismus und Arbeiterzionismus und verließ die Kampfgruppe sehr schnell wieder, entnervt von den steten Attacken der Bundisten gegen seine sozialistisch-zionistische Geisteshaltung.152 Auch in der standardisierten Autobiographik erscheint der Selbstschutz als integrative Tätigkeit. Knapp 20  % der Antwortenden betonen, in Osteuropa im Selbstschutz tätig gewesen zu sein. Dies liegt weit über dem historischen Schnitt der tatsächlichen Beteiligung von Bundisten an den kleinen und äußerst konspirativen 148 Dies trifft besonders auf Bundisten zu. Siehe: Shazar, „Defenders of the City“; A. Linden, Hrsg., Die Judenpogrome in Russland, Bd. 1 (Herausgegeben im Auftrag des Zionistischen Hilfsfonds in London von der zur Erforschung der Pogrome eingesetzten Kommission, 1910), 383–400. 149 Klier, „Christians and Jews“; Alexis Hofmeister, „Pogrom und Politik: Gewalt, Kommunikation und die Neuausrichtung jüdischer Erwartungshorizonte im Zarenreich“, in Jenseits der Zarenmacht. Dimensionen des Politischen im Russischen Reich 1800– 1917, hg. von Walter Sperling, Historische Politikforschung 16 (Frankfurt am Main: Campus Verlag, 2008), 375–407. 150 Linden, Die Judenpogrome in Russland, Bd. 1, 398. 151 Tobias, The Jewish Bund in Russia from its Origins to 1905, 222–231; Miched’ko, „Gomel’skij pogrom1903 goda“. 152 YIVO, New York, RG 102, #107 [A. Beitani]: S. 16.

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Kampfeinheiten.153 Dies erklärt sich durch die identitätsbildende Kraft einer solcher Erfahrung. Im Selbstschutz aktiv sein war noch stärker als andere Aktivismusmuster ein Identitätsgenerator, der zudem schichtübergreifend wirkte. Zwar waren 60 % der Beteiligten Arbeiter, das gute Drittel höher Gebildeter belegt aber, dass auch Gymnasiasten, Studenten und yeshiva-bokherim sich keineswegs zu fein waren, sich im Straßenkampf blutige Finger zu holen.154 Darüber hinaus war die Formierung solcher Wehreinheiten kein Spezifikum der russischen Illegalität. Auch in Polen traten solche Einheiten zum Aufrechterhalten der gegenhegemonialen Bewegung auf und kämpften sowohl gegen die Staatsgewalt als auch gegen Pogromisten oder Antirevolutionäre.155 Als revolutionäre und zugleich anti-antisemitische Garde entwickelten sie ihre Stärke darum nicht in direkter Abhängigkeit von der rechtlichen Situation des Bund, sondern mussten sich, wie im Falle vieler Pogrome, gegen Aktionen lokaler Kampagnenmacher und „lumpenproletarischer“ Unterschichten zur Wehr setzen. Die Stärke der Kampfeinheiten entwickelte sich abseits der Gesetzgebung und folgte Entwicklungen, die außerhalb der Gesetze stattfanden. Deswegen fand dieses Aktivismusmuster seinen finalen Höhepunkt im Ghettokampf gegen die deutsche Besatzung. Diese Aufstände allerdings litten unter einer Finalität wie keine Selbstwehr zuvor.156

153 Bund Archives, RG 1400, MG2–429, [Typ IV], von der Ehre, ein Waffenlager bewachten zu dürfen, berichtet Berman, „Ikh ver bashuldigt a ganeyve. A kapitl zikhroynes“, 73. 154 Bund Archives, RG 1400, MG2–429, [Typ IV] 155 Denn der unbedingte Zusammenhang von Revolution und Gegenrevolution wurde nicht nur in der konkreten revolutionären Situation evident, wie es Arno J. Mayer darstellte, sondern war in jede Form des Aktivismus eingeschrieben, vgl.: Arno J. Mayer, The Furies. Violence and Terror in the French and Russian Revolutions (Princeton, NJ: Princeton University Press, 2002), 45 ff. 156 Dies wurde vom Bund noch in den Kriegsjahren und mit klar aktivistischer Zielsetzung betrieben, siehe unter vielen v. a.: Leon Oler, „A por bletlekh ‚iberlebungen‘“, Unzer Tsayt 12 (1943): 26–28; Jacob Pat, „Der nes fun oyfshtand“, in Geto in flamen: Zamlbukh (New York: Amerikanishe representatsye fun „bund“ in Poyln, 1944), 82–95; Yankel Wiernik, A Year in Treblinka: An Inmate Who Escaped Tells the Day-To-Day Facts of One Year of His Torturous Experience (New York: The American Representation of the General Jewish Workers Union of Poland, 1944); Sh. Pavlevski, „Bayshpiln fun eynheyt un kamf “, Unzer tsayt, New York 8–9 (1946): 27 f.; Bernard Goldstein, Finf yor in varshever geto (New York: Unzer tsayt, 1947); siehe zudem: Blatman, For Our Freedom and Yours.

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Bewaffnung und Rache Zu anderen Zeiten war die Grenze zwischen Verteidigung und Angriff jedoch selten so klar zu ziehen wie im Zweiten Weltkrieg. Dies gilt besonders für die Ursprungszeit dieses Aktivismusmusters, in der die Frage des Verhältnisses zwischen Widerstand und Terror ergebnisoffen im Raume stand. Zumindest bis November 1917 stand mit den Sozialrevolutionären ein starker Konkurrent neben den sozialdemokratischen Kräften.157 Vor allem die 1903 gegründeten Kampfeinheiten, denen bis zu seiner Verhaftung 1903 Vladimir Medems Studienfreund Grigorij Geršuni vorstand, waren Terrorzellen mit hoher Effektivität. Sie zeichneten sich für zahlreiche Anschläge verantwortlich, so am berühmtesten jener unter Leitung des Doppelagenten Evgenij Azef, dem der in der revolutionären Bewegung verhasste russische Innenminister Pléhve zum Opfer fiel.158 Auch wenn der Bund sich scharf von den Sozialrevolutionären abgrenzte, ist es nicht nur die Beziehung zwischen Geršuni und Medem, sondern auch die Politik des Bund, die dazu leiten muss, John Bunzls Feststellung, dass der Bund kategorisch keine Terrorakte duldete, zu hinterfragen.159 Denn wann wird Selbstwehr zur Selbstjustiz, wann schadet der Abwehrkampf dem Klassenkampf ? Wie sich am Fall Hirsh Lekert zeigt, war dabei auch die Position des Bund großen Schwankungen unterworfen – und diese Schwankungen lassen auch die „Geradlinigkeit“ des Bund in einem anderen Lichte erscheinen, als es zum Beispiel die wohlwollenden Deutungen von Henry J. Tobias sahen. Dieser bemerkt in seiner nach wie vor grundlegenden Studie zu dieser Zeit des Bund, dass der „Fall Lekert“ einer der vier großen Topoi des Bund vor 1905 war, handelt dieses unangenehme Thema jedoch auf wenigen Zeilen ab.160 Schon aus diesem Grund lohnt sich ein genauer Blick auf die Geschehnisse und die Debatten im Jahre 1902. 157 Zur Nähe, die auch radikalste Aktivisten der Sozialrevolutionäre zu einer romantischen Form des Sozialismus sahen, siehe z. B. die Motive des Terroristen Marc Schweitzer, der sich 1905 aus Versehen selbst in die Luft sprengte: Nicolaevsky, Aseff, the Spy, Russian Terrorist and Police Stool, 107; die Notwendigkeit zur Differenzierung per Tat aufgrund der Nähe der Utopien siehe: Hilbrenner, „Gewalt als Sprache der Straße; grundlegend: Hildermeier, Die Sozialrevolutionäre Partei Russlands; zur Radikalisierung der Sozialrevolutionäre im Lichte des Revolutionsjahres 1917; Häfner, Die Partei der Linken Sozialrevolutionäre in der Russischen Revolution. 158 Nicolaevsky, Aseff, the Spy, Russian Terrorist and Police Stool, 44–66; Medem, Fun mayn lebn, 1. Bd, 151 f. 159 Bunzl, Klassenkampf in der Diaspora, 66 f. 160 Tobias, The Jewish Bund in Russia from its Origins to 1905, 150 ff.; die einzige längere aber eben problematische und von bundischer Hand verfasste Auseinandersetzung mit Lekert bleibt darum: J. Sh. Hertz, Hirsh Lekert (New York: Farlag Unzer tsayt, 1952).

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Als die Wilnaer Bundisten 1902 ohne die erwarteten christlichen Arbeiter und trotz des Belagerungszustandes der Stadt in den Ersten Mai marschierten, konnten sie wohl ahnen, dass dies in einer Straßenschlacht enden würde, nicht aber, dass diese Demonstration ein Präludium zu einer der bedeutendsten Episoden der bundischen Geschichte werden sollte. Nach einem kurzen Zug und dem Schwenken der roten Fahne lief diese Demonstration direkt in die Reihen der Polizei und extra angeforderter, berittener Kosaken. Es entfaltete sich eine Straßenschlacht, an deren Ende zahlreiche Bundisten verhaftet wurden.161 Eskalierend wirkte dabei das Handels des in die revolutionäre Stadt abkommandierten, extrem revolutionsfeindlichen und -fürchtigen Gouverneurs Viktor von Wahl, der die Verhafteten kollektiv auspeitschen ließ.162 Diese entweder militärpolizeiliche und überkommene oder eben gutsherrliche Gewalttat, die „Shinderey in vilna“, wie es das Auslandskomitee des Bund nannte, erzeugte einen Aufschrei nicht nur innerhalb der jüdischen Arbeiterbewegung. Rufe nach einer gezielten Rachetat wurden auch im Bund laut, der theoretisch den Terror ablehnte, da er ihn als der Massenbewegung abträglich verstand.163 In den losbrechenden Debatten vertrat vor allem das lokale Komitee des Bund eine stramm sozialdemokratische Linie, in der Rache oder Terror keinen Platz haben solle. Als sich kurz darauf jedoch der Bundist Hirsh Lekert der lokalen Parteilinien widersetzte und auf von Wahl schoss, riss dies tiefe Gräben im Bund. In einer schwierigen Vermittlungsrolle rief das Wilnaer Komitee zur Linientreue auf, zur Gegenwehr per Klassenkampf statt Donnerbüchse: Wir kämpfen mit ruhigen Mitteln, es ist nicht unser Ziel, Menschenblut zu vergießen – nur auch unsere Geduld hat Grenzen.[…] Die Volksrache ist geschehen, von Wahl wurde 161 Bund-Archives, New York, RG 1400, ME–16, #29, ##Broschüre: Der all. yid. arb’’bund in Lite, Poyln un Rus.: Hirsh Lekert un zayn protses, Drukerey fun Bund, Juni 1902; allgemein verbreitet durch diverse Beiträge in:: Di Arbeyter Shtime, Juni (1902); der Fall wurde auch in den USA zuerst als Notiz aufgenommen und erst später zu dem Fall Lekert: „Rundshoy“, Di tsukunft, New York Juli (1902): 343; A. [Abraham Liessin] Valt, „Hirsh Lekert un di Vilner may demonstratsyon in 1902“, Di tsukunft, New York [ Juli?] (1904): 5–10, in: Bund Archives, New York, RG 1400, ME–16, #28. 162 So ein Flugblatt des Auslandskomitee des Bund: Bund Archives, New York, ME–16, #29, ##Der oyslendisher komitet fun algmeynen yidishn arbeterbund fun Lite, Poyln un Rusland: Di shinderey in Vilna, Drukerey fun Bund, London, [1902]. 163 Tobias, The Jewish Bund in Russia from its Origins to 1905, 150; zur langen Debatte über die Körperstrafe in der russischen Gesellschaft, siehe: Abby Schrader, Languages of the Lash. Corporal Punishment and Identity in Imperial Russia (DeKalb Ill.: Northern Illinois University Press, 2002); Werner Benecke, Militär, Reform und Gesellschaft im Zarenreich. Die Wehrpflicht in Russland 1874–1914 (Paderborn: Ferdinand Schöningh, 2006), 33–60.

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von zwei Revolverkugeln verwundet. Das gesellschaftliche Gewissen hat einen der wildesten zarischen Satrapen gestraft.

Dies sei aber keineswegs ein Grund, dies zu einem allgemeinen Prinzip zu erheben, denn so ein Revolver [eines Sozialdemokraten] verleiht nur dem ersten Schrei des verletzten gesellschaftlichen Gewissens Ausdruck, damit die Menschen nicht unter dem Druck der Empörung ersticken. So wissen wir aber auch, dass der Kampf gegen den Zarismus als System anderer Mittel bedarf. Und diese Mittel tragen wir an uns wie unsere Hände, Mittel, welche im Gegensatz zu Revolver, Dolch oder Dynamit unweigerlich zum Ziele führen werden.164

Dieser Schuss sollte einmalig sein und wurde so auf die Tat reduziert, um nicht Aktivismus zu werden. Obwohl Lekert von Wahl nur leicht verletzte, wurde er in einem Schnellverfahren zum Tode am Galgen verurteilt und rasch hingerichtet. Dies erzeugte einen Solidarisierungseffekt, der bis in höchste Kreise wirkte und der auch den Bundismus vor die Frage der politischen Rache stellte.165 Diese mussten nun eine Antwort auf die Frage nach dem Umgang mit solch „wildem Treiben“ finden, denn selbst das intellektuell geführte Auslandskomitee in der Schweiz hatte nach einem „Rächer“ gerufen, der sich „der Erniedrigung seiner Brüder“ annehme.166 Auf der fünften Konferenz des Bund 1902, also ein Jahr, bevor sich der Bund der organisierten Bewaffnung zur Pogromabwehr überhaupt annahm, führte dies zu erhitzten Debatten. Die Tagesordnung, die sich an den Großfragen der Zeit orientierte, sah vor, dass sich die Konferenz erstens der Organisationsstruktur widmen und zweitens den Komplex der „organisierten Rache“ diskutieren solle, um dann drittens die Parteipresse und zu guter Letzt finanzielle Angelegenheiten zu besprechen. Die Forschung zum Bund konzentrierte sich auf ersten Punkt – war dies doch der erste Parteitag nach dem Erscheinen von Lenins „Was tun“.167 In späteren Erinnerungen berichten Teilnehmer jedoch einhellig, dass „[d]er Schwerpunkt auf dem zweiten Punkt der 164 Bund-Archives, New York, RG 1400, ME–16, #29, ##Khaverim arbeyter, in: Der oyslendisher komitet fun algmeynen yidishn arbeterbund fun Lite, Poyln un Rusland: Di shinderey in Vilna, Drukerey fun Bund, London, [1902]: 4. 165 Bund-Archives, New York, RG 1400, ME–16, #29, ##diverse Briefe. 166 Bund-Archives, New York, RG 1400, ME–16, #29, ##Der oyslendisher komitet fun algmeynen yidishn arbeterbund fun Lite, Poyln un Rusland: Di shinderey in Vilna, Drukerey fun Bund, London, [1902]: 1–3. 167 Tobias, The Jewish Bund in Russia from its Origins to 1905, 155, 167–170.

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Tagesordnung [lag].“ – also gerade nicht auf der später so intensiv reflektierten Beziehung des Bund zur Iskra, sondern auf der Frage der organisierten Rache.168 Dabei kam der Bund zu der (kurzlebigen) Übereinkunft, „organisierte Rache“ müsse eine Handlungsoption des Bund darstellen. Zwar lehne man grundsätzlich weiterhin Terror als politisches Aktivismusmuster ab, nur in Fällen wie dem Ersten Mai in Wilna müsse man „organisierte Rache nehmen. Solche Racheakte dürften aber ausschließlich vom ZK des Bund organisiert werden.“169 Mit anderen Worten: Rache wurde als Mittel zur Volksbefriedigung unter gleichzeitiger Wahrung der Kontrolle zur Chefsache erklärt. Sie dürfe sich nicht verselbstständigen, sei aber organisiert zu unterstützen, Taten dürften nicht verhindert werden, breiter Aktivismus sollte aber ausgeschlossen werden. Dieser Kurswechsel rief Gegenstimmen auf den Plan. Auch der Wortführer der strikt sozialdemokratisch argumentierenden Fraktion, Vladimir Medem, argumentierte hierzu später noch ambivalent. Ihm zufolge könne präventive Gewalt zum Beispiel im Kampf gegen Spione durchaus sinnhaft sein, sie dürfe aber kein Zweck werden. Darum habe er bereits auf dem fünften Parteitag davor gewarnt, dass „once embarked on, this course aquired a logic of its own and terror became a means of political struggle, a means, moreover, which gradually negated all other forms of political action“.170 �������������������������� Mit den Sozialrevolutionären im Blick warnte Medem davor, dass sich Terrorismus durch die „organisierte Rache“ im Bund ausweiten könne. Für ihn war dies Aktionismus und kein Aktivismus, weswegen es letzten Endes dem Kampf schade. Gefährlich war dies jedoch in den Augen solcher Kommentatoren wohl auch, da eine Aufweichung der Grenzen zwischen Marxisten und Sozialrevolutionären den Bund vor Definitionsprobleme gestellt hätte.171 Die angegriffenen Sozialrevolutionäre hatten dem ohnehin schon zugestimmt: Sie nahmen Lekert per Würdigungsartikel an herausragender Stelle in ihrem Kampfblatt postum aufgrund seiner Tat und entgegen seiner Geschichte und Parteizugehörigkeit in die Reihen der Sozialrevolutionäre auf. Sie sahen die Gründe für sein Scheitern nicht in der Tat, sondern in der mangelnden Unterstützung durch den Bund.172 Der Fall Lekert war also hochgradig brisant und griff in Teilen der Frage der Organisation der Selbstwehrgruppen nach dem Pogrom in Kišinev 1903 vorweg. Denn nicht die ideologische Problematik des Terrors im Bund, sondern vielmehr die Erhöhung der kollektiven Gewalt durch die neue Pogromwelle ab 1903 drängten den bundischen Terror in den Hintergrund. Die „organisierte Rache“ richtete 168 Levin, „Di 5te konferents fun ‚bund‘“, 59. 169 Ebd. 170 Portnoy, Vladimir Medem, 250. 171 Mannheim, Ideologie und Utopie, 207. 172 „Girš Lekert. Nekrolog“, Revoljucionnaja Rossija 7 ( Juni 1902): 1 f.

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sich gegen Repräsentanten eines gewalttätigen Staates. Doch diese Problematik trat 1903 angesichts des Pogroms von Kišinev 1903 in den Hintergrund. Nun stellte sich die Frage, inwieweit Gewalt als direkte Gegengewalt, als Selbstwehr „oyf der yidishe gas“ organisiert werden müsse, also wie aus Taten aktivistische und gewaltbereite Präsenzmassen geformt werden können, ohne diese zu eigenständigen Akteuren werden zu lassen. Der Terror der „organisierten Rache“ flackerte in der bundischen Geschichte nur kurz als mögliches Aktivismusmuster auf, wurde von einigen Bundisten auch eingefordert und ließ einige Bundisten den Weg zu den Sozialrevolutionären finden. Es wurde aber nicht in den Bundismus und die Aktivismusmuster des Bund integriert.173 Die „organisierte Rache“ ist daher als ein heiß diskutiertes, aber gescheitertes Aktivismusmuster zu verstehen.

Gruppenspezifischer Aktivismus Ein Kennzeichen sämtlicher bislang betrachteter Aktivismusmuster ist, dass sie potenziell allen Mitgliedern des Bund offen standen.174 Daneben gab es zwei große Ausnahmen: die Jugendarbeit und die Frauengruppen. Seit ehedem rekrutierte sich der Bund zu großen Teilen aus jugendlichen Aktivisten, was der Historiker Henry J. Tobias scharfsinnig als ein Zeichen dafür versteht, wie stark der Bund als Akteur in der jüdischen Gesellschaft vertreten war.175 Darunter befanden sich auch zahlreiche Kinder, Aktivisten, die bestenfalls die 10 Jahre gerade überschritten hatten. Diese formten eine Teilorganisation des Bund wider Willen,den Kleynen bund. Der später promovierte, ehemalige Kleinbundist Naythan Rozen betont, dass in der Propaganda zu Zeiten des russisch-japanischen Krieges und der allgemeinen Pogromfurcht die mystische Aura solch „unverständlicher Wörter wie ‚Iskraist‘, ‚Bundist‘, ‚Manifestation‘, ‚Demonstration‘“ ebenso magnetisiert habe wie das, „was in den ‚geheimen kreyslekh‘“ geschehe.176 Wie bei Bertha Fox forcierte er daher seine „Erweckung“ selbst und suchte den Kontakt zu seinen älteren Geschwistern. Sein größerer Bruder aber weigerte sich, dem Knirps den Weg in die Bewegung zu 173 Tobias, The Jewish Bund in Russia from its Origins to 1905, 155. 174 Ein weiteres Aktivismusmuster in dieser Rubrik wäre das sportliche Engagement des Bund, z. B. in seinen Arbeitersportvereinigungen unter dem Banner Morgnshtern. Zwar waren diese in Polen extrem populär, jedoch spielen sie in der Migrationsgeschichte des Bund keine Rolle, weswegen sie hier nicht eingehender betrachtet werden. Sie dahin gehend: Gechtman, „Socialist Mass Politics through Sport“; Gechtman, Yidisher sotsializm, 319–355; Jacobs, Bundist Counterculture, 48–61. 175 Tobias, The Jewish Bund in Russia from its Origins to 1905, 236. 176 Naythan Rozen, „Iberlebungen fun a ‚kleynem-bundist‘. Derinerungen fun Vilne, Vitebsk un Polotsk“, Unzer tsayt, New York 12 (1943): 29.

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bereiten. Heimlich erbeutete sich Rozen aber eine illegale antizarische Schrift, die ihn in den „siebten Himmel“ versetzt habe.177 Die „Phrasen“ des Blättleins nahm er gedanklich mit in die Schule und wurde so zum revolutionären Missionar, zum Schüler-Agitator. Dies steigerte sich ins Romantische, denn „meine khaverim sagten unter sich, dass ich ‚gefährlich‘ sei“.178 Aus diesem Revolutionär-Spielen erwuchs dann ohne größere Reflexion der Inhalte eine Ausstrahlungskraft, die weitere Schüler in den Bann zog. So formierte sich an vielen Orten komplett dezentral der Kleyne bund, der aus „beter-yinglekh und Schülern“ bestand.179 Diese Art der selbst organisierten und spontanen Kinderbewegung im Bund war keine Seltenheit und sie entwickelte sich schon sehr früh.180 Laut Tobias nahm diese komplett spontane Kinder- und Jugendbewegung seinen zaghaften Anfang bereits 1901. Ab 1903 weitete sich dieses Phänomen aus, wie sich auch der aus Gomel’ stammende Kleinbundist Yankel Levin erinnert. Damals fanden sich im ganzen Rayon immer mehr „truly young ‚activists,‘ some only age ten or so“, die auf ihre Weise die Aktivismusmuster des Bund kopierten.181 Die Aktivistin Sh. Shilits hebt in einer bislang nicht berücksichtigten und unveröffentlichten Erinnerung gar hervor, dass sie bereits ab 1899, also nur knappe zwei Jahre nach der Gründung des Bund, derart aktiv gewesen sei.182 Bei ihr wie auch bei Levin wird klar, dass es dabei keineswegs um Kinderspiele ging: Levin betont gar, dass sie auch BO’s, Kampfeinheiten, organisiert hätten. Diese hätten in Streiks und anderen Kampfsituationen durchaus gewalttätig eingegriffen, waren zwar aktivistisch und selbstbewusst, aber eben nicht „bewusst“, sprich nicht „klassenbewusst“.183 Durch Aufdringlichkeit gelang es dieser Gruppe sogar, an den revolutionären Aktionen 1905 teilzunehmen und sich so als unerwünschte, weil zu junge, jedoch äußerst wirkungsvolle Kinderaktivisten in den Bund einzuschreiben. Da der Bund dem unkontrollierbaren Kleynen bund die Anerkennung verweigerte, hätten die Kinder, wie sich mehrere Teilnehmer erinnern,

177 Wie vielen anderen auch, war ihm wichtig, sich des Erweckungsmoments als abruptes Erlebnis zu erinnern, vgl. z. B. Fox, „The Movies Pale in Comparison“; Mendel, Erinnerungen eines jüdischen Revolutionärs, 23. 178 Rozen, „Iberlebungen fun a ‚kleynem-bundist‘“, 29. 179 Gemeint sind Schüler traditioneller und religiöser Schulen und Schüler staatlicher Schülen, wie Rozen selbst es war. Ebd., 30 f. 180 Vgl.: Jacobs, Bundist Counterculture, 29 ff. 181 Yankel Levin, Fun yene yorn: „Kleyn Bund“ (Homel: Beltrespetshat, 1924); Tobias, The Jewish Bund in Russia from its Origins to 1905, 236 f., 1972, S. 236. 182 Bund-Archives, RG 1400, M–13, #130, ##[Shilits, Sh.: Zikhroynes fun a anot fun kleynen bund]: 2. 183 Levin, Fun yene yorn, 15–29.

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dessen Aktivismusmuster nachgebildet,184 von der birzshe bis zu „forms of economic terror“.185 Dadurch, dass die Kleinbundisten sehr stark auf die direkte Aktion bauten, waren sie freilich auch der Verfolgung durch staatliche Autoritäten ausgesetzt, was bei K. Roklin oder Naythan Rozen zur Verhaftung, bei Kleinbundisten wie Avremele Himelshtayn oder Yankl Moyshe Agranov aber auch zum Tode führen konnte.186 Als die revolutionäre Hitze 1907 jedoch abflaute, verlor auch dieser Bewegungsarm erst seine Kraft, dann seine Spontaneität. Doch schon im Jahre 1911 entstand in Warschau eine sozialdemokratische Jugendorganisation, die sich ab 1916 den Namen Tsukunft gab. Daraus erwuchs in Zwischenkriegspolen nun unter Federführung des Bund der bedeutende Yugnt bund ‚tsukunft‘. Die Integration einer großen Jugendorganisation in die Reihen des Bund trug dem Alterungsprozess der Bewegung Rechnung. Der Bund erkannte nun die Generationalität der Bundisten an und schuf ein Sammelbecken speziell für junge Aktivisten.187 Aus ähnlichen Motiven schuf der Bund 1926 zudem noch die Kindervereinigung Sotsyalistisher kinder-farband, kurz SKIF.188 Diese Jugendorganisation wies ein großes Rekrutierungspotenzial auf. Dies spiegelt sich in den Fragebögen. Fast jeder Bundist, der in den polnischen Zeiten in den Bund eintrat, gehörte zuvor dem SKIF oder der Tsukunft an.189 Wie der 1919 geborene „G.  W.“, ein jugendlicher Autor eines autobiographischen Jugendwettbewerbs des Wilnaer YIVO zur Zwischenkriegszeit, erklärt, verlagerte sich dabei der Erweckungsmoment aus dem Geheimnisvollen, wie ihn frühere Generationen übereinstimmend beschreiben, in die offene Arbeit und das gemeinsame Erlebnis: „In fact, I joined the movement right away; it was still in its early days. Here I discovered a new life, a life full of belief in the future.“190 Stolz ���������������������������������������������������������������������� berichtet er, dass er seinen vormals zionistisch gestimmten Bruder auch zum Eintritt in die Tsukunft bewegen konnte und dass nun auch sein jüng184 Ebd.; YIVO, New York, RG 102, #157, ##Friedman, Lena (A mitglid fun der arbeter ring mishpokhe): 12 f. 185 ���������������������������������������������������������������������������������� YIVO, New York, RG 102, #157 [Lena Friedman, Autobiographie o. T.]; 12 f.; A. Litvak, Voz iz geven. Etytudn un zikhroynes (Wilna: Vilner farlag fun B. Kletskin, 1925), 212 ff.; Levin, Fun yene yorn; Tobias, The Jewish Bund in Russia from its Origins to 1905, 237. 186 YIVO, New York, RG 102, #209, ##K. Roklin, [Autobiographie o. T]: 3 f.; Rozen, „Iberlebungen fun a ‚kleynem-bundist‘“, 31 f.; Jacobs, Bundist Counterculture, 32. 187 Vgl.: Kap. III. 4 [Fragebögen]. 188 Grundlegend zu beiden Organisationen: Jacobs, Bundist Counterculture, 8–47. 189 Bund-Archives, New York, RG 1400, MG2–429, ##Fragebögen Typ IV. 190 G. W., „My Autobiography“, in Awakening Lives. Autobiographies of Jewish Youth in Poland Before the Holocaust, hg. von Jeffrey Shandler, [Orig.: 1939] (New Haven: Yale University Press, 2002), 316.

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ster Bruder Mitglied des SKIF sei.191 Die koordinierte Jugendbewegung wandelte kindliche Spontaneität in Rekrutierung um. Es verstand sich dabei von selbst, dass die Aktivitäten der Jugendgruppen aufs Engste mit der Bildungsarbeit verzahnt waren und sich auch zusehends am sozialistischen und reformpädagogischen Konzept des Bund ausrichteten. Spontane Beteiligungsbestrebungen wie im Kleynen bund wurden also durch aktive funktionale Differenzierung gekontert. Diese zeichnete sich vor allem durch vielfältige Möglichkeiten der Mitwirkung aus. Sehr viele der SKIFistn und Tsukunftistn waren in entsprechenden Kommissionen tätig, teilweise auch nach dem Überschreiten gewisser Altersgrenzen.192 So wurde auch nach den Jugendjahren die Arbeit für die Jugend zu einem Aktivismusmuster. Einen solchen großartigen Mobilisierungserfolg kann die Frauenbewegung im Bund nicht für sich beanspruchen. Hier war aber auch der Bedarf an Differenzierung geringer ausgeprägt. Der Bund beanspruchte für sich, jüdische Arbeiter, egal welchen Geschlechts, gleichzubehandeln und ihnen gleiche Bedeutung in Rang und Mitarbeit zukommen zu lassen. So gab es in logischer Schlussfolgerung zu russischen Zeiten keine spezifischen Frauenorganisationen des Bund. Anders in Polen, wo die Differenzierung des Bund fortschritt und aktiv betrieben wurde. Doch gelang es der daraus erwachsenden Organisation YAF (Yidishe arbeter froy) nicht, eine Massenorganisation zu werden.193 Wie Rebekka Denz zeigt, konnte sie nicht einmal jene Frauenthemen ins Zentrum der jüdischen Arbeiterbewegung rücken, die mit der zunehmenden Institutionalisierung der Frauenbewegung in der Zwischenkriegszeit auf die Agenda vieler europäischer sozialer Bewegungen gekommen waren.194 Jack Jacobs folgend wird am relativen Misserfolg der Frauenbewegung im Bund deutlich, dass „Bundist counterculture had its limits, and […] that the Bund was unable to extend its reach beyond a certain point“.195 Dem ��������������������������������������� muss jedoch die Frage zur Seite gestellt werden, warum der Bund derartige Assoziationen hätte ausbilden sollen, wenn

191 Ebd., 319. 192 Bund-Archives, MG2–429, #Fragebögen Typ IV; Jacob S. Hertz, Di geshikhte fun a yugnt. Der Kleyner Bund – Yugnt-Bund Tsukunft in Poyln (New York: Unzer tsayt, 1946). 193 Jacobs, Bundist Counterculture, 82–97. 194 Ute Gerhard, Feminismus und Demokratie. Europäische Frauenbewegungen der 1920er Jahre (Königstein/Taunus: Helmer, 2001); Paula E. Hyman, „Muster der Modernisierung. Jüdische Frauen in Deutschland und Russland“, in Deutsch-Jüdische Geschichte als Geschlechtergeschichte, hg. von Kirsten Heinsohn und Stefanie Schüler-Springorum (Göttingen: Wallstein, 2006), 25–45; Rebekka Denz, „Der ‚Froyenvinkl‘. Die Frauenrubrik in der bundischen Tageszeitung ‚Naye Folkstsaytung‘“, PaRDeS. Zeitschrift der Vereinigung für Jüdische Studien e. V. 14 (2008): 96–124. 195 Jacobs, Bundist Counterculture, 82.

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Der Bund als soziale Bewegung

die dafür notwendigen Aktivismusmuster (zumindest im Selbstverständnis) bereits in sämtliche anderen Assoziationen des Bund integriert waren. Anders als die Jugendorganisationen diente die Frauenbewegung dem Vertreten einer Politik im Bund, die zugleich den Bundismus als politische Linie problematisierte. Daraus ließen sich für einzelne Frauen Möglichkeiten des Aktivismus ableiten. Dies kam aber im Prinzip nur in einer Spalte der ,Nayen folkstsaytung‘ zum Tragen und war darum eine Unterform des Aktivismusmusters der Publizistik.196 Zwar konnten nur einige wenige Frauen im Bund bedeutende Rollen einnehmen, jedoch war der Gegendruck gegen diese Exklusion nicht stark genug, dass sich eine parteiinterne Gegenbewegung hätte ausformen können, die eine funktionale Differenzierung begründet hätte. Entsprechender Aktivismus wurde gerade wegen der Inklusionskraft der anderen Aktivismusmuster nur bedingt als eigenständig anerkannt. Auch dies zeigt sich schon am Namen der YAF: Im Begriff Yidishe arbeyter froy ist Gender lediglich die dritte Unterscheidungsstufe und dient als eine Verfeinerung der beiden zentralen Begriffe des Bund „jüdisch“ und „Arbeiter“. Wie viel stärker ist da der Name: Yugnt bund ‚tsukunft‘. Vor allem aber schuf Frausein im Bund keine eigene, politisch als relevant erachtete Subidentität. Dies spiegelt sich statistisch: Unter den Hunderten von Fragebögen in den Bund-Archives in New York finden sich ganze drei Frauen, die angeben, in der YAF aktiv gewesen zu sein.197 Keine der Drei sagt aus, dass sie auch nach der Migration diesem Aktivismus nachgegangen sei, wobei jedoch vier andere Frauen nach der Auswanderung in lokalen Frauengruppen aktiv waren.198 Im Gegensatz zur Jugendbewegung konnte die YAF darum keine klar differenzierte Rolle einnehmen, weil die Nichtspezifikation ein Resultat des internen Gleichheitspostulats auch aus illegalen Zeiten war. Dies stand im Gegensatz zum Kleynen bund, der aus Sicht der älteren Bundisten ja gerade „nicht gleich“ Bund sein sollte und der vehement dafür kämpfte, integriert zu werden. Daher ist die Arbeit in der bundischen Frauenorganisation durchaus als Aktivismusmuster zu verstehen, aber es war kein Aktivismusmuster, welches weitreichende konstitutive Folgen für das Soziale des Bund verzeichnen konnte.

196 Deutlich dargestellt in: Denz, „Der ‚Froyenvinkl‘“. 197 Bund-Archives, New York, RG 1400, MG2, #429, ##Aleksandrewicz, Rosa, ##Hager, Libe, ##Kisman, Leah. 198 Bund-Archives, New York, RG 1400, MG2, #429, ##Levental, Dukhtshe, ##Luksenburg-Rozen, Pale, ##Oler, Lanye, ##Yonish Rive.

Aktivismusmuster in Osteuropa

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Revolutionäres Fundraising Sämtliche Institutionen des Bund benötigten für den öffentlichen Auftritt Gelder. Da der Bund in seiner Finanzierung nicht auf Expropriationen, sondern auf Unterstützungszahlungen aufbaute, musste auch das Geld „mobilisiert“ werden. Das revolutionäre Fundraising wurde zwar kaum als Aktivismusmuster verstanden, aber vor allem im Migrationsprozess zeigte sich, dass dieses entscheidender Aktivismus war und ebensolchen erforderte. Denn in der Migration fand das Fundraising nicht nur Akzeptanz, sondern auch rechtliche Sicherheit und wurde zum Sammelpunkt der transnationalen sozialen Bewegung. Wie Henry J. Tobias andeutet, war der Bund bereits 1900 auf Gelder aus den USA angewiesen und verließ sich auf diese. Oft übertrafen die Einnahmen des Auslandskomitees, bei welchem sämtliche Auslandsüberweisungen zusammenliefen, die in Gesamtrussland eingenommenen Gelder199 – und das lange vor der Gründung der vielen überseeischen Fundraising-Institutionen der 1920er- und 1930erJahre. Doch der Finanzbedarf des Bund erhöhte sich parallel zur Ausweitung seiner Tätigkeit. Dies legte immer mehr Verantwortung auf die Schultern der Bundisten in Übersee. Interessanterweise zog der zentrale Aspekt des Gelderwerbs für die soziale Bewegung bislang kein historisches Forscherinteresse auf sich.200 Dabei ist es auch für eine sozialistische Bewegung essenziell, Finanzmittel zur Verfügung zu haben. Der Erwerb von Geldern war bislang eine stillschweigend hingenommene Bedingung für jedweden sozialistischen Aktivismus – doch die dafür notwendigen Praktiken wurden als nicht betrachtenswert erachtet. Das liegt m. E. aber auch daran, dass ein großer Teil der Gelder im Ausland eingeworben wurde – und somit fiel das Fundraising gleich aus doppeltem Grund vom Tisch der Forscher. Da dies aber vor allem in den USA ein vielfältiger und überaus bedeutender Modus der Partizipation an der Bewegung in Russland und Polen war, werde ich das revolutionäre Fundraising in einem gesonderten Kapitel ausführlicher behandeln.

„Tsuzamen, tsuzamen“ Diese Aktivismusmuster boten den Aktivisten sowohl im zarischen Russland als auch im Zwischenkriegspolen zahlreiche Möglichkeiten, den Bund zu gestalten. 199 Tobias, The Jewish Bund in Russia from its Origins to 1905, 130, 244. 200 Wegweisend und ebenfalls auf ANT aufbauend die soziologische Studie: Dan LainerVos, Sinews of the Nation: Constructing Irish and Zionist Bonds in the United States (Cambridge: Polity Press, 2012).

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Der Bund als soziale Bewegung

Dabei waren es die Aktivisten, die Tätigkeiten als Teile des Bund entwarfen, diese ausformten. So definierten sie kollektiv, was zu welchen Zeiten Bundismus war und welcher Aktivismus dafür notwendig war: „It was present in its own making.“201 Aus diesem Grunde ist es müßig, eine „Basiseinheit“ oder einen kleinsten gemeinsamen Nenner des bundischen Aktivismus zu suchen. Weder waren es die Komitees, die Tobias so hervorhob, noch Organisationen, die im Zentrum von Jack Jacobs jüngster Studie stehen, und auch waren es nicht die Bibliotheken, die, wie Jeffrey Veidlinger behauptete, in den Kleinstädten der Nukleus des Bund schlechthin gewesen seien.202 Wenn es etwas gab, was alle Bundisten einte, dann war es der Aktivismus für den Bund, aus dem obige Institutionen hervorgingen. Dieser aber benötigte definierte Massenbegriffe, was dann immer wieder zum Aktivismusmuster „Versammeln“ führte und nur in Ausnahmesituationen besonderer Deutungshoheit, wie bei Medem in der Emigration in der Schweiz, selbst definiert werden konnte. Erst im kollektiven Entwickeln und Ausarbeiten dieser Muster und dem steten Hinarbeiten auf Präsenzmassen und kommunikative Massen entstand, was dann als Geschichte des Bund bekannt wurde. Und mit den Möglichkeiten dieser Muster aufgrund verschiedener Rechtszustände variierte die Geschichte des Bund (siehe Tafel 6), wobei ihre Grundeinheiten jedoch bemerkenswert konstant blieben. Allein, dies ist nur der erste Teil der Geschichte. Denn wenn die bundische Geschichte an den Taten der Bundisten hing, dann muss eine Geschichte des Bund den Wegen der Bundisten folgen – und somit zu einer Migrationsgeschichte werden. Im Zeitalter der Massenmigration wurde der Bund zu einer transnationalen sozialen Bewegung. Die folgenden Teile des Buches werden darum die Entwicklungen der beschriebenen Aktivismusmuster und Assoziationsbildungen im Migrationsprozess untersuchen und in Bezug zum Bund in Osteuropa stellen.

201 Thompson, The Making of the English Working Class, 9. 202 Tobias, The Jewish Bund in Russia from its Origins to 1905, 66  ff.; Jacobs, Bundist Counterculture; Veidlinger, Jewish Public Culture in the Late Russian Empire, 37.

Teil II „Erhabene Momente unserer romantischen Vergangenheit“: Vergemeinschaftung durch kollektives Erinnern

1. Erinnern als aktivistische Praktik: Einführende Gedanken

Der wichtigste Verbündete des Bund im Kampf gegen Unterdrückung und Traditionalismus und für ein besseres Morgen war die Vergangenheit. Die bundistische, verheißungsvolle Utopie baute keineswegs nur auf einer Vision des Kommenden auf, sondern brauchte für ihre eigene „Logik der Praxis“ die aktive Gegenwart aller drei Zeitschichten, gestern, heute und morgen, geeint in einem kohärenten Zusammenhang.1 Der damit genutzte Utopie-Begriff ist ein funktionaler im Sinne einer praktizierten Verheißung, die handlungsleitend war und versprach, erlebbar zu sein. Schon Karl Mannheim erkannte, dass dieses funktionale Zusammenfallen der Zeiten eine Besonderheit der „sozialistisch-kommunistischen Utopie“ sei, was er jedoch vor allem auf Ideenwelten bezog. Utopien aber benötigen handelnde Akteure. Zeitkonstruktionen einer sozialen Bewegung können nicht nur von Intellektuellen definiert werden, sie müssen von Aktivisten gestaltet werden.2 Darum wurde die Vergangenheit auf vielfältige Weise aktivistisch in die täglichen Handlungen des Bund integriert. Die Bezugsgrößen waren dabei sowohl der Sozialismus als auch das Judentum der Aktivisten, die durch diesen fortlaufend entworfenen Vergangenheitsbezug reflektiert und verändert wurden. Erinnernde Texte waren immer zugleich memorisch und aktivistisch, sie legitimierten und motivierten Handeln und schufen Identitäten, die in der transnationalen sozialen Bewegung des Bund das wichtigste Bindemittel waren. Die darauf aufbauende emotional-funktionale Erinnerungslandschaft ist darum eine entscheidende Facette der Geschichte des Bund. Im Gegensatz zur ausufernden Literatur zu individuellen und nationalen Erinnerungskonstruktionen verblieben Funktionen und Dynamiken der Erinnerungskonstruktion sozialer Bewegungen bislang nahezu unreflektiert.3 Selbstverständlich sind auch soziale Bewegungen funktionale imagined communities, wobei aufgrund ihres gegenkulturellen Charakters ihre Erinnerungsproduktion jedoch anders als die nationaler Gemeinschaften nuanciert sind. In Bewegungen wird stärker das zu 1

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Was damit über die von Pierre Bourdieu formulierte „Logik der Praxis“ herausgeht, die vor allem auf die Gegenwart und die Zukunft schaute, gegenüber der Vergangenheit jedoch starke Blindstellen aufwies. Vgl.: Pierre Bourdieu, Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1987), 149 ff. Mannheim, Ideologie und Utopie, 212. Besonders bedeutend sind im deutschsprachigen Raum selbstverständlich die Arbeiten von Aleida Assmann, hier v. a.: Aleida Assmann, Geschichte im Gedächtnis. Von der individuellen Erfahrung zur öffentlichen Inszenierung (München: Beck, 2007).

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Vergemeinschaftung durch kollektives Erinnern

Erringende als das Tradierte betont, das Bekenntnis zur Gruppe baut jedoch auf kollektiver Erinnerung auf. Daran wird Heroismus ebenso verdeutlicht, wie der zu verändernden Zustände erinnert wird. Das Handeln revolutionärer Gruppen orientierte sich an einem historischen Erbe, suchte aber zugleich den Bruch ihrer Klassenkonstellationen. Die Erinnerung sozialistischer Bewegungen unterschied sich darin auch von der sowjetkommunistischen, die nach der Oktoberrevolution vor allem der Legitimation der Führer diente.4 Doch auch bei dieser war es, im Gegensatz zu nationalen Erinnerungskulturen, das Ziel, sich über die Führer hinaus als historisch und aktivistisch fundierte und gegenkulturelle soziale Bewegung zu inszenieren. Die Legitimation kommunistischer Staatlichkeit beruhte auf dem Aktivismus gegen zu überwindende Zustände und nicht auf der Geschichte des Volkes. Der Bund hingegen brauchte diese Strukturlegitimation nie, er blieb Zeit seiner Existenz eine soziale Bewegung und wurde nie eine staatstragende Macht. Seine Erinnerung richtete sich darum weniger legitimierend nach außen, sondern vergemeinschaftend nach innen. Daneben baute der Bund aber auch auf einer jüdischen Memorialkultur auf und veränderte diese durch die von ihm propagierte yidishkayt als moderne jüdische Identität. An diesem Punkt greift die jüdische Geschichte gerne auf Pierre Noras Konzept der Erinnerungsorte zurück.5 Da das Konzept des Erinnerungsortes jedoch primär in nationale Funktionskontexte eingelassen ist, ist dies für die zahlreichen sich überlappenden Erinnerungskonstruktionen jüdischer Geschichte nur oberflächlich passend.6 Überdeutlich wird diese Problematik in Noras Einleitung zur englischen Übersetzung seines Opus Magnum. Nora zufolge sei es eine Hauptentwicklung der Nachkriegszeit, dass nun jede Minderheit die Anerkennung ihrer eigenen Erinnerung als Geschichte einfordere. „The �������������������������������������� Jewish case serves as a prime example. Hardly anyone would have spoken about a Jewish ‚memory‘ thirty years ago.“ Hinter dieser jüdischen Erinnerung hätten jedoch allein politische Ziele gestanden. Nicht nur sei erst dann der Begriff der „‘Jewish community’“ aus politischen Gründen erfunden worden (womit Nora nur seine Unkenntnis offenbart, was zum Beispiel alte innerjüdische Debatten über den Begriff des Klal angeht), vielmehr hätte 4

5 6

Vgl. das hervorragende Buch: Frederick C. Corney, Telling October. Memory and the Making of the Bolshevik Revolution (Ithaca, London: Cornell University Press, 2004); zur dafür notwenigen Kult des Freiheitskämpfers, siehe: Orlando Figes und Boris Kolonitskii, Interpreting the Russian Revolution. The Language and Symbols of 1917 (New Haven, London: Yale University Press, 1999), 74 f. Z. B.: Lipphardt, Vilne. Für eine grundlegende Kritik, siehe: J. Olaf Kleist, “Grenzen der Erinnerung: Methoden des Vergangenheitsbezugs und ihre Implikationen für Migrationspolitik,“ in Migration und Erinnerung: Konzepte und Methoden der Forschung, hg. von Elisabeth Boesen und Fabienne Lentz (Berlin, Münster: Lit, 2010), 223–255.

Erinnern als aktivistische Praktik

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die Erinnerung nun gar dazu genutzt werden können, dem französischen Präsidenten Jacques Chirac das Eingeständnis einer französischen Mitschuld am Holocaust abzuringen.7 An dieser Stelle untersage ich mir, über die Implikationen und Hintergründe solcher Aussagen zu spekulieren. Doch schon in der Historisierung irrt Nora. Die Anführungszeichen um „memory“ sind fehl am Platze, jüdische Erinnerungspraktiken und das „Wissen“ sind keine Konstruktionen der Nachkriegszeit, sondern alte und sich wandelnde Konstituenten jüdischer Geschichte. Bis Mitte des 20. Jahrhunderts war die nationalpolitische Ausdeutung dieser Vergangenheiten dabei bestenfalls eine Minderheitenmeinung. Ein auf Einheit zielendes jüdisches Gedächtnis jedoch existierte zu jeder Zeit und diente erstens dem Erhalt der jüdischen Tradition in der Gemeinschaft der Orthopraxis. Die Berufung auf das kollektive Leid nach der Gottesstrafe der Zerstörung des Zweiten Tempels und der Zerstreuung der Juden in die Welt kreierte unter dem Schlagwort „Zakhor!“ (hebr.: „Erinnere Dich!“) diese imaginierte Gemeinschaft des Judentums.8 Zweitens konnte ab Ende des 18. Jahrhunderts dieser historische Rückbezug zur Erneuerung des Judentums im Lichte der „aktivistischen Wende“ eingesetzt werden. Die jüdische Gemeinschaft wurde von diesen als Bildungsgemeinschaft verstanden, die innerhalb des russischen Staatswesens durch staatliche Bildungsinstitutionen erneuert werden könne.9 7 8

9

Pierre Nora, „General Introduction“, in Rethinking France: Les Lieux de Mémoire, Bd. 1, The State (London: University of Chicago Press, 2001), XV. Yosef Hayim Yerushalmi, Zachor: Erinnere Dich! Jüdische Geschichte und jüdisches Gedächtnis (Berlin: Wagenbach, 1996). Der Begriff der Orthopraxis unterscheidet sich dabei von dem der Orthodoxie, ein Begriff der für die jüdische religiöse Praxis irrtümlich im Umlauf ist. In der Orthopraxis ist das Handeln im rechten Grundsatz die heilende und befreiende Kategorie und nicht die reine Lehre, welche in der Orthodoxie zum Tragen käme. Die jüdische Religion ist historisch dabei weitaus stärker orthopraktisch als orthodox orientiert, denn „das Leben ist Ausdruck des Glaubens“. Vgl.: Jochen Ostheimer, Zeichen der Zeit lesen. Erkenntnistheoretische Bedingungen einer praktisch-theologischen Gegenwartsanalyse (Stuttgart: Kohlhammer, 2008), 152; zit.: Günther Stemberger, Jüdische Religion, 5. Auflage (München: C.H.Beck, 2006), 9 f. Vgl. v. a.: Shmuel Feiner, Haskalah and History: The Emergence of a Modern Jewish Historical Consciousness (Oxford et al.: The Littman Library of Jewish Civilization, 2002); Yvonne Kleinmann, Neue Orte - neue Menschen: Jüdische Lebensformen in St. Petersburg und Moskau im 19. Jahrhundert (Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2006); Alexis Hofmeister, „Vernunftjudentum: Die Figur des ostjüdischen Intellektuellen und der Geist der Aufklärung“, in Orte eigener Vernunft: Europäische Aufklärung jenseits der Zentren, hg. von Alexander Kraus und Andreas Renner (Frankfurt am Main, New York: Campus, 2008), 158–177; Dohrn, Jüdische Eliten im Russischen Reich; Brian Horowitz, Jewish Philanthropy and Enlightenment in Late-Tsarist Russia (Seattle et al.: University of Washington Press, 2009).

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Vergemeinschaftung durch kollektives Erinnern

Nach dem Scheitern des prostaatlichen Ansatzes setzten Sozialisten, ob bundisch oder poalei-zionistisch, auf ihre Art das Werk der jüdischen Aufklärer fort. Mit historischem Bezug forderten sie nun das kollektive Handeln der jüdischen Gemeinschaft ein. Für diese säkularen Bewegungen stand es ebenso wie für die traditionellen oder orthodoxen Gemeinschaften vollkommen außer Frage, dass die Erneuerung des Judentums eine historische Legitimation benötigte, die distinktiv jüdisch zu sein hatte. Stärker als bei religiösen Bewegungen war diese nun aber an den Rändern offen und führte, wie ich in den folgenden Kapiteln demonstrieren werde, in partikulare Teilidentitäten. Erinnerungsorte als Manifestationen kollektiver nationaler Gedenkkultur sind also schon deswegen nur begrenzt in der jüdischen Geschichte anwendbar, da sowohl die religiösen als auch die sozialen, die kulturellen und die politischen Strömungen als Bewegungen und nicht als nationale Entitäten wahrgenommen werden müssen.10 Nicht nur mit dem Blick auf Heinrich Graetz, Simon Dubnow und viele andere Historiker sind Anführungszeichen um „memory“ im Falle der jüdischen Geschichte eine Anmaßung. Ebenso stellt die nationalpolitische Funktionalisierung jüdischer Erinnerung eine ahistorische Verkürzung dar.11 Besonders heftig wurden dabei Deutungen des „Jüdischen“ ausgefochten. Das beste Beispiel in der Geschichte des Bund ist hier seine radikale Ablehnung des klal-Begriffs. Dieser drückte sowohl im traditionellen als auch im zionistischen Sinn die Einheit der Juden als „ausgewähltes Volk“ aus und war historisch-religiös begründet. Für den Bund war dies reaktionär und traditionalistisch verbrämt, er verwendete andere Konzepte abstrakter Kollektivität, die auf Begriffe wie yidishe arbeter-mase, folks-mase oder gar einfach yidn aufbauten. Diese bezogen stets Klasse und Ethno-Nation aufeinander und schlossen die Orthopraxis der Religion als Einigungsbegriff aus.12 Die Ziele von „Jewish memory“ waren mannigfaltig und nur in 10 ��������������������������������������������������������������������������������� Siehe besonders: Michael K. Silber, „The Emergence of Ultra-Orthodoxy: The Invention of a Tradition“, in The Uses of Tradition: Jewish Continuity in the Modern Era, hg. von Jack Wertheimer (New York: Jewish Theological Seminary of America, 1992), 23–84; Adam S. Ferziger, Exclusion and Hierarchy: Orthodoxy, Nonobservance, and the Emergence of Modern Jewish Identity (Philadelphia: University of Pennsylvania Press, 2005). 11 So z. B. in: Henry Hart Milman, The History of the Jews. From the Earliest Period to the Present Time, Bd. 3 (New York: Harper & Brothers, 1836), 117, 221, 235–243; und prominent: Simon Dubnow, Die neueste Geschichte des jüdischen Volkes. Das Zeitalter der zweiten Reaktion (1880 - 1914), Bd. 10 (Berlin: Jüdischer Verlag, 1929), 99, 521. 12 Yosef Gornys Einwand, dass der polnische Bund einen „,world Klal Yisrael‘ as the bearer of Yiddish culture“ gesehen habe und deswegen einen „proletatian klal“ konzipiert habe widerspricht den Tatsachen. Zwar ist die von Jack Jacobs benannte komplette Ablehnung des klal-Begriffes durch Bundisten nicht gänzlich zutreffend, jedoch fun-

Erinnern als aktivistische Praktik

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Ausnahmen orientierten sie sich an nationalen Gedanken. Zur Zeit der sozialen Bewegungen waren jüdische Identität und die historische Legitimation der yidishkayt keine Gegenstände einer Nationalgeschichte, sondern von Aktivismus.

gierte dieser nie als politisches Konzept. In Einzelfällen der in dieser Studie untersuchten Autobiographien wird der Begriff unreflektiert aufgegriffen, Identitäten werden aber stets über verschiedene Masse-Begriffe abgeleitet. Gornys konzeptionelle Überhöhung des klal als analytisches Bindeglied zwischen Arbeiterzionismus und Bund geht darum ins Leere und dient einzig dem Zweck, dem Bund eine „tragic illusion“ zu unterstellen. Vgl.: ������������������������������������������������������������������������� Jack Jacobs, „Ab Cahan and the Polish Bund“ (gehalten auf der Abraham Cahan and the Forverts, CUNY, New York, April 15, 2007); Gorny, Converging Alternatives, z. B. 2, 165 f., 266; Pickhan, „Yiddishkayt and Class Consciousness“.

2. Die Presse des Bund: Von agitierender Publizistik zu transnationaler Memorik

Die Oktoberrevolution war nicht nur ein historischer Bruch, sie wurde vor allem in der Art inszeniert. Massenschauspiele, Geschichtsbücher und Gedenkmärsche gehörten direkt nach dem Umsturz zu den wichtigsten Legitimationsinstrumenten der neuen Machthaber. Wie die anregenden Arbeiten von Orlando Figes und Boris Kolonitskii und ganz besonders von Frederick C. Corney darlegen, kämpfte die neue Sowjetmacht dabei weniger gegen eine „weiße“ Geschichtssicht. Die Bolschewiki lenkten die Energie vielmehr darauf, den Oktoberumsturz als das Ziel der Geschichte des Sozialismus darzustellen.1 Dies richtete sich primär gegen parallel bestehende sozialistische Bewegungen, die dem Dreh- und Angelpunkt „Oktober 1917“ eine eigene Sicht entgegenstellten und sich auf andere Aufstände als Ursprungsmythos bezogen. Während Geschichtsdarstellungen als ein bolschewikisches Kampfmittel analysiert wurden, steht dies für sozialistische Bewegungen noch komplett aus. Weder die bundischen noch andere sozialistisch-revolutionäre Erinnerungspraktiken wurden bislang reflektiert. Dies ist überraschend, denn soziale Bewegungen konnten und können ohne funktionale Konzeptionen von Geschichte keinen Schritt vorwärtsgehen.2 Die folgende Analyse der bundischen Geschichtspraxis hat darum auch einen demonstrativen Charakter. Der Bund entwickelte von seiner Gründungsphase ausgehend einen spezifischen Geschichtssinn, der von der marxistisch geprägten Geschichte der Klassenkämpfe ausging, diese aber mit dem Kulturkampf für die yidishkayt verknüpfte. Dies wurde vor allem in der Publizistik verhandelt. Im Zentrum stehen damit Fragen nach der Funktion von Geschichte in einer marxistischen Bewegung, nach dem Einzug von Kulturarbeit in diese Bewegung und nach der Rolle von Publizistik in diesem Konstruktionsprozess. Dabei gilt es, die deterministische und auch durch Propaganda immer wieder verkürzende historisch-materialistische Geschichtsdarstellung im Bund nicht als Fehlkonzeption, sondern als Motiv zu verstehen. Um das Handeln der Akteure zu verstehen, ist es irrelevant, ob die Geschichte der Klassenkämpfe tatsächlich ein ewig währender Streit zwischen Unterdrückern und Unterdrückten sei 1 2

Figes und Kolonitskii, Interpreting the Russian Revolution; Corney, Telling October. Sehr klar war dies bereits Walter Benjamin, der mit seinen wohlbekannten Reflexionen über den Begriff der Geschichte die wohl luzideste Charakterisierung des Nutzen und des Nachteils von Geschichtlichkeit für sozialistische Bewegungen vorlegte. Benjamin, „Über den Begriff der Geschichte“, 140–154.

Von agitierender Publizistik zu transnationaler Memorik

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oder eine Erfindung der einziehenden Moderne. Funktional gesehen machte diese Geschichtssicht beispielsweise für einen jungen und frustrierten Handwerker, der sich sowohl seiner Ausbeutung bewusst wurde als auch mit den traditionalistischen Lebensweisen seiner jüdischen Umgebung unglücklich war, einfach Sinn. Zudem war sie motivierend, denn so konnte er auch in seiner Misere in der Werkstube den „Hauch der Geschichte“ spüren. Eine solche marxistische Geschichtssicht bot eine Vergangenheit, die nicht nur begründete, warum das Leben unerträglich erschien, sondern eben auch, warum und vor allem wie es verändert werden konnte. Die Geister der Vergangenheit spukten nicht nur als Phantasmen in den Köpfen der Aktivisten herum, sondern legitimierten das eigene Handeln, ob in Taten, ob im hochriskanten revolutionären Lebensentwurf oder aber, wie benannt, in der Konstruktion einer neuen politischen Herrschaft. Vergangenheit war im Bund darum lebendig und geht über die Suche nach einer „usable past“ hinaus. Wie David G. Roskies darlegte, war diese in der Nachkriegszeit für die zionistische Bewegung von größter Bedeutung und diente der Aufgabe „to cast the revolutionary past in stone, and to elevate it to a new status“.3 Diese Neuordnung der Geschichte in der Nachkriegswelt unter national-territorialen Vorzeichen war für den Bund ein ahistorisches Fanal. Wie ich im Folgenden darlegen werde, widersprach es nicht nur seiner Herkunft, sondern auch seinen Zielen. Dem stemmten sich die Bundisten mit aller Kraft entgegen. In den ersten Nachkriegsjahren funktionierte dies in New York noch sehr gut. Dies belegt beispielsweise die Feier des 50-jährigen Bestehens des Bund mit 5.000 Gästen, was zugleich die vermutlich größte bundische Versammlung aller Zeiten war. Ebenso gründeten die Emigranten bereits 1941 mit der ‚Unzer tsayt‘ ein neues, monatlich erscheinendes und hochqualitatives Sprachrohr, welches bis 2002 bestand.4 Die starke Präsenz memorischer Texte in dieser Zeitschrift verdeutlicht aber auch, dass Erinnerung nun defensiv wurde und ihren Zweck immer stärker in der Opposition zur zionistischen Geschichtssicht fand. Diese Betonung der eigenen revolutionären Geschichte unterlag jedoch einer langen Entwicklung. Dies betrifft sowohl die Funktion als auch die Form des Erinnerns. Aus heutiger Sicht ist die Memorik des Bund vor allem durch seine Erinnerungsfeiern bekannt, so zum Beispiel die immer noch stattfindenden Gedenkfeiern an den Aufstand im Warschauer Ghetto, die bis zu seinem Tod 2009 noch vom ehemaligen Ghettokämpfer und Solidarność-Aktivisten Marek Edelman angeführt wurden und deren Höhepunkt nach wie vor das gemeinsame Singen von Di shvue,

3 4

Roskies, The Jewish Search for a Usable Past, 136. Siehe zur Nachkriegsgeschichte ausführlicher: Slucki, „The Bund Abroad in the Postwar Jewish World“.

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Vergemeinschaftung durch kollektives Erinnern

der Hymne des Bund, ist.5 Versammlungen zum Gedenken an Aufstände, ob in Warschau, New York oder Buenos Aires,6 sind aber keine Alleinstellungsmerkmale jüdischer Nachkriegsgeschichte. Vielmehr waren bewegende Trauerzeremonien spätestens ab 1905 ein bedeutender Bestandteil bundischer bzw. allsozialistischer Memorik. Damals waren sie aber explizit aktivistische Praktiken, da sie erstens vor Ort Präsenzmassen zusammenbrachten, die erinnerten und daraus revolutionäre Handlungen ableiteten. Memorik war Mittel, nicht Zweck. Zudem waren solche Zeremonien sehr gut dafür geeignet, durch die bundische Publizistik weiter verbreitet zu werden und so in eben jenem Sinne die stete Formung der bundischen kommunikativen Masse zu befördern, die dann weitere Präsenzmassen zusammenbringen konnte. Aktivistische Memorik, die im Erinnern einen Handlungsaufruf sieht, ist damit von gedächtnisbezogener Memorik zu unterscheiden, für die Erinnern primär Selbstzweck ist. Während Letztere bewahrt, will Erstere überwinden. Diese Unterschiede sind leicht zu verdeutlichen und bauen, dem Ende des Kapitels vorausgreifend, historisch aufeinander auf. Denn in der Geschichte des Bund führte in einem ungefähr 60 Jahre währenden Prozess das Erste zum Letzteren. Deutlich wird dies an der im Folgenden genauer untersuchten bundischen Publizistik, die sich, wie der Bund, immer stärker transnationalisierte und dabei aus dem revolutionären auch einen kulturellen Schwerpunkt ableitete.

Drei bundische Regionen und drei Modelle bundischer Publizistik Die frühen Zeitschriften des Bund waren entscheidend für das Entstehen einer jiddischsprachigen Weltlichkeit, memorisch aber waren sie unambitioniert.7 Beson5

6

7

Dies wird auch nach dem Tod Edelmans fortgesetzt, wobei nun das Erinnern an den erinnernden Edelman zu einem Bestandteil dieser Praxis geworden ist. ���������� Vgl.: Konstanty Gebert, „Poles Commemorate Warsaw Uprising in Marek Edelman’s Style, With Silence“, The Jewish Daily Forward 30. ���������������������������������� April 2010, www.forward.com/articles/127434. IWO, Buenos Aires, #1114; Bund; Diese Feiern wiederum wurden vor allem zu Vergemeinschaftung innerhalb der Bund-Gruppen genutzt, so zum Beispiel indem man sich gegenseitig zu lokalen Aktivitäten, wie z. B. dem jährlichen Begehen eines Gedenktages für den Warschauer Ghetto-Auftstand, einlud. IWO, Buenos Aires, #Gremios en proceso, ## Brief A. Vilner, Sh. Shitnitski an Abraham Zak, 8. April 1961. Die Bandbreite bundischer Periodika ist unermesslich, eine umfassende wissenschaftliche Bibliographie liegt nicht vor, sehr wohl aber einige wissenschaftliche Darstellungen und vor allem zeitnahe Auflistungen durch Bundisten selbst, die ihre Publizistik in und für ihre weitere Publizistik historisierten. Die Presse wurde damit nicht nur

Von agitierender Publizistik zu transnationaler Memorik

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ders gut lässt sich dies an der ‚Arbeter shtime‘ verdeutlichen, einem zentralen Blatt für die bundische Geschichte. Sie wurde im Spätsommer 1897 gegründet, mit der Gründung des Bund dann zu dessen offiziellem Organ aufgewertet und fand bis 1905 illegal vor allem in den polnischen und litauischen Regionen des Bund Verbreitung. Neben Flugblättern war sie das wichtigste Medium für die Agitation des frühen Bund.8 Darum wurde die ‚Arbeter shtime‘, trotz zahlreicher Verhaftungen und des gezielten Vorgehens der zarischen Autoritäten gegen sie, mit hohem konspirativen Aufwand am Leben gehalten.9 Sie erschien daraufhin nicht nur regelmäßig und mehrmals im Jahr, sondern auch in einer stattlichen Stärke von bis zu 38 Seiten. Sowohl von Arbeitern als auch von Intellektuellen wurde sie als das entscheidende Periodikum des Bund anerkannt und deswegen in einer späteren bundischen Erinnerung als „das neue heilige Blatt“ nicht nur des Bund, sondern der jüdischen Moderne allgemein bezeichnet.10 Leider fehlen Analysen zur bundischen Publizistik, einzig Susanne Marten-Finnis merkte an, dass die ‚Arbeter shtime‘ ihre Bedeutung weniger aufgrund eines aktivistischen Inhaltes erhalten habe. Dies hätten Lokalzeitschriften übernommen, die für Arbeiter einfacher zu lesen gewesen seien. Die zahlreichen Essays der ‚Arbeter shtime‘ seien vor allem für die Intelligencija des Bund interessant gewesen.11

Gegenstand der bundischen Autobiographik sondern auch der allgemeinen Erzählung bundischer Geschichte, vgl.: Bund-Archives, New York, RG 1400, Me–18, #138, ##»Amol»: Die yidishe literatur in bundishe oysgabes nokh 1905. Radio Program, Shabbes, 12. Sept. 1964 [Transkript], „Di bundishe prese biz oktober 1905, 5; Galam Narsh, „Unzer prese. A bisel bibliografye“, Di arbeter shtime 45 (1917): 15–18; Viktor Shulman, „Fun der ‚lebns-fragn‘ biz der ‚folkstsaytung‘, 6 Bd.“, Unzer shtime, Paris 1443–1448 (1951): jeweils: 2; wissenschaftliche Darstellungen einzelner Epochen oder Aspekte in: Israel Szajn, „Prasa Bundu w Polsce (1918–1939)“, Kwartalnik Historii Prasy Polskiej 22, Nr. 2 (1983): 91–100; Greenbaum, „The Underground Jewish Press in Eastern Europe until 1917“; Nadel Binyomen, „Di bundishe prese in yidish“, Oksforder yidish 3 (1995): 633–646; Marten-Finnis, Sprachinseln, v. a. 77–90. 8 Z. B. in: Tobias, „The Bund and the First Congress of the RSDWP“, 394, Fn 3. 9 Dies wurde wiederum zum Gegenstand zahlreicher Erinnerungen, sowohl durch die Gründer der ,Arbeter shtime‘ als auch deren Leser, siehe: YIVO, Bund-Archives, RG 1401, #32, ##337; Div., „Der ershter numer ‚arbeter-shtime‘“; Gelernt, „Der nayer hayliker sefer“. 10 Gelernt, „Der nayer hayliker sefer“. 11 Marten-Finnis, „The Bundist Press“, 18.

140

Vergemeinschaftung durch kollektives Erinnern

Weichenstellungen durch ‚arbeter shtime‘, ‚Der avangard‘ und die amerikanischen Publikationen Die ‚Arbeter shtime‘ richtete den Bund und auch die jiddische Weltlichkeit für den weiteren Weg aus, der Blick zurück kam dabei aber kurz. Die geringe Präsenz erinnernder oder historiographischer Texte, im Folgenden unter memorischen Texte subsumiert, unterschied die ‚Arbeter shtime‘ von den Blättern des frühen Bund in Übersee. Die bundischen Zeitschriften in der Emigration waren direkte Produkte der bundischen Emigranten. Diese waren, anders als die Gründer der ‚Arbeter shtime‘ oder die führenden bundischen Emigranten in der Schweiz, oft Arbeiter. Die Periodika gaben die Ideen, Interessen und Schwerpunktsetzungen der Arbeitermigranten sehr direkt wieder. Dies lag auch daran, dass in der Emigration „Schreiben“ als Aktivismusmuster immer wichtiger wurde, bot es doch Mobilisierungsmöglichkeiten in einer vornehmlich kommunikativen Masse. So gab in Fragebögen des Bund-Archivs knapp ein Drittel aller Antwortenden an, nach der Emigration als Autor tätig gewesen zu sein, wovon ca. 10 % Neuautoren waren, die in Osteuropa nicht geschrieben hatten. Diese Steigerung ist umso höher einzuschätzen, als dass viele Antworten allein auf Osteuropa bezogen waren und zu einer großen Zahl den Aktivismus in der Neuen Welt verschwiegen.12 Diese Selbständigkeit der bundistischen Emigrantengruppen zog verschiedene Versuche nach sich, eine lokale bundistische Publizistik zu entwickeln. In Buenos Aires waren die ersten bundistischen Versuche, Periodika für die argentinischen Leser ins Leben zu rufen, zugleich der Anbeginn der jiddischen Publizistik in Lateinamerika. In New York hingegen beherrschte der Forverts bereits die Straßen. In besonderen Nischen konnten sich einige sekundärbundistische Journale wie ‚Der veker‘ etablieren, bundische hingegen nahmen keinen Raum ein.13 Diese Absenz gründete aber nicht nur in der Präsenz anderer Blätter, sondern auch im Scheitern eigener Versuche, die bis 1941 allesamt Einzelnummern blieben.14 Um Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen den verschiedenen Pressetraditionen zu untersuchen und vergleichbar zu veranschaulichen, greife ich auf eine statistisch gestützte Medieninhaltsanalyse zurück, die ich im Folgenden als Textanteilsanalyse bezeichnen werde.15 Dabei wird der Platz bemessen werden, den ver12 Bund-Archives, New York, RG 1400, MG2–428. 13 Vgl. Kap. III.2 [Sekundärer Bundismus]. 14 Erst nach Ausbruch des Zweiten Weltkrieges gründeten New Yorker Bundisten das langlebige Organ ,Unzer tsayt‘. 15 Dies orientiert sich am Verfahren der „hierarchischen Zerlegung“, in der anhand einer an den Daten entwickelten Hierarchie Inhaltsebenen unterschieden, codiert und statistisch zugeordnet werden. Dies eignet sich hervorragend, um einzelne Bedeutungsebenen der Berichterstattung herauszufiltern und zu unterscheiden. Aufgrund der großen

Von agitierender Publizistik zu transnationaler Memorik

141

schiedene Textsorten in Periodika des Bund einnahmen. Dieser Platzbedarf jedes einzelnen Beitrages wird dann eindeutig einem an den Quellen selbst entwickelten Raster (Codierung) zugeordnet (vgl. Tafel 7). Zur Entwicklung dieses Rasters und der folgenden Argumentation wurden zahlreiche Jahrgänge der Periodika des Bund und nahestehender Bewegungen hinzugezogen und teilweise auch komplett analysiert, die sich im Folgenden im Hintergrund der Argumentation befinden.16 Um präzise argumentieren zu können, fokussiert die Analyse jedoch auf ausgewählte und unmittelbar relevante Periodika des Bund, die bei längerem Bestehen auf mehrere repräsentative Jahrgänge reduziert wurden.17 Aufgrund mehrerer Subtypen Datenmenge verwende ich dabei ein Rundungsverfahren, welches einzelne Artikel in einem auf zwei Ebenen hierarchisch gegliederten Analyseraster (Kategorie und Subtyp) ordnet. Für jeden analysierten Artikel wird eine eindeutige Zuweisung vorgenommen, je nach Seitengröße in Schritten von 0,1 bis 0,25 Seiten gerundet. So kann festgestellt werden, welchen Raum einzelne Texttypen (je nach Kategorie und Subtyp) auf einer Seite, in einer Ausgabe, in einem Jahrgang usw. beanspruchten. Dies ist eine vereinfachte Form der kommunikationswissenschaftlichen Medieninhaltsanalyse, die in dieser Art den Vorteil hat, trotz des verbleibenden eminenten Zeitaufwands eine saubere und eindeutige Analyse ganzer Textkorpora vornehmen zu können. Aufgrund dieses Unterschiedes verwende ich zur Vorbeugung von Missverständnissen im Folgenden nicht den Begriff der Medieninhaltsanalyse, sondern den der Textanteilsanalyse, der das Verfahren präziser erfasst. Vgl.: Patrick Rössler, Inhaltsanalyse (Konstanz: UTB, 2005), 15–23, 73–76. 16 Neben den in der folgenden Fußnote genannten schwerpunktmäßig analysierten Periodika liegen folgende Jahrgänge diverser Journale sowohl der Entwicklung des Rasters als auch der allgemein folgenden Argumentation zugrunde: Bundisch und sekundärbundistisch: ,Der veker‘, Wilna, Warschau (1905/06), ,Di hofnung‘, Wilna (1907), ,Di arbeyter shtime‘, Petrograd (1917), ,Der veker‘, New York (1921, 1927, 1937, 1941), ,Di naye shul‘, Warschau (1928–30), ,Kegn shtrom‘, Warschau (1930–33), ,Naye folksshtime‘, Warschau (1931, 1937), ,Labor Bund Bulletin‘, New York (1947–52), ,Lebnsfragn‘, Tel Aviv (1957, 1965–67); arbeiterzionistisch: ,Der hamer‘, Braaila (Rumänien) 1915/16, ,Unzer frayhayt‘, Białystok (1918), ,Unzer ruf ‘, Kovno (1925), ,Unzer ruf ‘; Lemberg (1927); Kommunistisch: ,Der hamer‘, New York (1926–27), ,Nayvelt‘, Buenos Aires (1927–29); Anarchistisch: ,Golos trudos‘, Buenos Aires (überlieferte Einzelausgaben 1926–29), ,Dos fraye vort‘, Buenos Aires (1936–38); Jiddischistisch und Jiddisch-sozialistisch: ,Dos yidishe vort‘, Genf (1915), ,Di yidishe tribune‘, Paris (1915), ,Di tsykunft‘, New York (1927, 1941). 17 Diese sind für Osteuropa: ,Di arbeter shtime‘, Wilna et al. (1899–1904); für Argentinien: ,Der avangard‘, Buenos Aires (1908–1910, 1916/17, 1919/20), ,Argentiner veker‘, Buenos Aires (1924), ,Sotsyalistishe bleter‘, Buenos Aires (1930–32), ,Argentiner lebn‘, Buenos Aires (1936–38), ,Tsayt-fragn‘, Montevideo (1938); für die USA: ,Fraynd fun bund‘, New York (1904), ,Der kemfer‘, New York (1906), ,Di Rotshester tsaytung‘, Rochester, NY (1907), ,Unzer tsayt‘ (1941, 1943, 1947, 1951, 1957, 1963, 1968).

142

Vergemeinschaftung durch kollektives Erinnern

stellten sich so vier Großkategorien von Texttypen in der Publizistik des Bund heraus. Erstens sind hier aktivistische Texte und Reflexionen zu nennen, die Meldungen und Standpunkte aus der Bewegung, der Partei, den Gewerkschaften usw. umfassen. Diese stehen zweitens neben überzeitlichen Texten, welche theoretische Artikel, Zukunftsvisionen, Gedanken über das Jiddische und Redaktionelles ebenso beinhalten wie Lyrik und Fiktion. Dazu kommen drittens gegenwärtige Texte, in denen vornehmlich Nachrichten und Meldungen abgedruckt wurden. Viertens findet sich eine umfassende Kategorie der Memorik, in der Erinnerungen und Historiographie zusammengefasst sind mit Nachrufen, historischen Dokumenten und weiteren Texten mit erinnerndem Fokus. Kategorie

Subtypen

Kat. I: Aktivistische Reflexionen

Meinung, Diskussion, Standpunkte zu politischen Parteien/Situationen der Gegenwart Sozialistische Berichte, Arbeiterfragen etc. Allgemeine zeitbezogene Reflexionen, aktivistische Deutung der Gegenwart Aufrufe, offene Briefe, Erklärungen etc.

Kat. II: Überzeitliches

Grundfragen, Philosophie; Bundismus, Sozialismus etc. Literatur, Lyrik, Fiktion, Erzählungen, Erlebnisse Jiddisch als Sprache und Literatursprache, Reflexionen jiddischer Säkularität, Theater Redaktionelles, Werbung etc. Zukunftsvisionen

Kat. III: Gegenwärtiges (Nachrichten)

Parteiberichte, intern Berichte und Nachrichten aus Polen, Russland und anderen Ländern Sonstiges, Chroniken, Notizen, Presseberichte, Rezensionen etc.

Kat. IV: Memorik

Autobiographien, Erinnerungen Personenbezogene Memorik (Biographik, Nachrufe, Todesanzeigen) Sachbezogene Memorik (Dinge, Tage, Ereignisse) Historiographie (Bund), historische Dokumente etc. Historiographie (nicht Bund) Sonstiges, Berichte von memorischen Veranstaltungen, Rezensionen historischer Werke Spezifische Sonderseiten (eigene Seitenzählung), Grußschreiben

Tafel 7: Schema der hierarchisch gegliederten Textanteile bundischer Publizistik.

143

Von agitierender Publizistik zu transnationaler Memorik

Anhand dieser Analyse, die nicht einfach zwischen agitativen Texten als „Arbeitertexte“ und theoretischen Texten als Intellektuellenfutter unterscheidet, sondern ein feineres Raster einbringt, ist die von Susanne Marten-Finnis getroffene Aussage, dass die Arbeiter aufgrund der hohen theoretischen Anteile weniger von der ‚Arbeter shtime‘ angezogen würden, nicht zu belegen. Sicher kann angenommen werden, dass Arbeiter allgemein zu Literatur tendierten, die auf die konkrete Lage vor Ort einging. Schon die Arbeiterautobiographien beweisen aber, dass gerade die Lektüre Frank Wolffwegweisender Texte, oft memorischer oder literarischer Art, als Türöffner fungierte. 113 Aus diesem Grund ist eine strikte Trennung zwischen Theorie und Praxis auch innicht möglich, denn beide gehörten zum aktivistischen Komplex des Bund, in dem Theorie und nerhalb der ‚Arbeter shtime‘ nicht möglich, denn beide gehörten zum aktivistischen Praxis inKomplex vielfältiger Form inzusammenfielen. gab es klare und deren des Bund, dem Theorie undDennoch Praxis in vielfältiger FormTypen, zusammenfielen. Dennoch gab es klaresich Typen, undsehr derenstark, Ausprägungen unterschieden sich Ausprägungen unterschieden regional wie eine Textanteilsanalyse derregiofrühen nal sehr stark, wie eine Textanteilsanalyse der frühen Periodika des Bund offenbart Periodika des Bund offenbart (Tafel 8). (Tafel 8).

69%

Arbeter shtime

5%

31%

Der avangard

10%

Konvolut USA 0%

51%

32% 10%

20%

Aktivismus

18%

30%

10%

35% 40%

Überzeitliches

50%

60%

Gegenwärtiges

8%

9%

23% 70%

80%

90%

100%

Memorik

Tafel 8: Textanteile früher bundischer Periodika, 1899–1910 8: Textanteile früher bundischer Periodika, 1899–1910 ,ArbeterTafel shtime‘, 1899–1904; ‚Der avangard‘, 1908–1910; Konvolut USA, 1904–1907. 'Arbeter shtime', 1899–1904; 'Der avangard', 1908–1910; Konvolut USA, 1904–1907.

In der ‚Arbeter shtime‘ lag der Schwerpunkt klar auf Kategorie I, den aktivistischen Reflexionen, die mit 69  % Textanteil die ‚Arbeter shtime‘ inhaltlich dominierten. In der 'Arbeter shtime'hingegen, lag der Schwerpunkt Kategorie I, den aktivistischen Reflexionen, Jene Texte die heute fürklar die auf bundische Geschichte oft als zentral erachtet die mit 69 % Textanteil 'Arbeter shtime' inhaltlich dominierten. Jene Texte hingegen, dieliteheute werden, so z. B.dieprogrammatische, utopisch argumentierende oder aber auch rarische, nahmen einen geringen Teil ein (Kategorien II, III). Memorische Texte für die bundische Geschichte oft als zentral erachtet werden, so z. B. programmatische, utopisch spielten eine untergeordnete Rolle und das, obwohl einige bedeutende Kongresse argumentierende oder aber auch literarische, nahmen einen geringen Teil ein (Kategorien II, III). und die erste Ausgabe einer bundischen Zeitschrift, die sich explizit als eine JubiläMemorische Texte spielten untergeordnete Rolle und das, obwohl einige umsnummer begreift,eine in diesen Zeitraum fallen. Inhaltlich jedoch sind diebedeutende wenigen Kongresse und die erste einerSiebundischen die sich explizit als eine memorischen TexteAusgabe bedeutend. sind, bis aufZeitschrift, eine Ausnahme, keine autobiographischen Texte, sondern thematisieren Vergangenheiten, die vor 1897 und damit Jubiläumsnummer begreift, in diesen Zeitraum fallen. Inhaltlich jedoch sind die wenigen außerhalb der Geschichte des Bund liegen, aber als eine Geschichte des Widerstanmemorischen Texte bedeutend. Sie sind, bis auf eine Ausnahme, keine autobiographischen Texte, des verstanden werden konnten. Erinnert wird beispielsweise an die Geschichte

sondern thematisieren Vergangenheiten, die vor 1897 und damit außerhalb der Geschichte des Bund liegen, aber als eine Geschichte des Widerstandes verstanden werden konnten. Erinnert wird beispielsweise an die Geschichte der Dekabristen oder an die illegale, jiddischsprachige Literatur in Russland vor 1897.468 Auch die einzige Erinnerung, die in den fünf untersuchten Jahren unter dem Decknamen „Ein verbannter Arbeiter“ erschien, thematisierte keine spezifische

144

Vergemeinschaftung durch kollektives Erinnern

der Dekabristen oder an die illegale, jiddischsprachige Literatur in Russland vor 1897.18 Auch die einzige Erinnerung, die in den fünf untersuchten Jahren unter dem Decknamen „Ein verbannter Arbeiter“ erschien, thematisierte keine spezifische Facette des Bund, sondern die allgemeinen Erfahrungen eines politisch Verbannten und seiner Flucht aus Sibirien.19 Die vom frühen russländischen Bund vertretenen Geschichtssichten zeichneten sich also durch eine hohe Anschlussfähigkeit an eine allsozialistische und zugleich russisch-revolutionäre Geschichte und Geschichtsauffassung aus. Vergleicht man dies mit den in der Migration erschienenen Publikationen, sind die Unterschiede zwischen den drei Orten bundischer Geschichte augenfällig. Der argentinische Avangard war eine explizite Arbeiterorganisation, sowohl in Zielrichtung als auch seiner Mitgliedschaft. Dennoch weist seine Zeitschrift, ‚Der avangard‘, einen besonders hohen Anteil an überzeitlichen Beiträgen auf (Kategorie II). Darunter war von Anbeginn viel jiddische Prosa, Lyrik, die auch Liedtexte umfasste. Dazu kamen fortlaufende und lange Texte zu theoretischen Fragen, wie zum Beispiel eine über Jahre fortlaufend erscheinende Reihe, in der Stanislav Valski sich kritisch mit dem damals in Argentinien dominanten Anarchismus auseinandersetzte.20 Davon, dass, wie Susanne Marten-Finnis annimmt, Arbeiter also von einfacheren Texten angezogen würden, kann in Anbetracht des ‚Der avangard‘ keine Rede sein, denn wie wohl nirgendwo sonst war die argentinische bundistische Gruppe eine wahrhafte Arbeiterassoziation. Gerade deswegen standen aktivistische Texte aber nicht zurück. Diese beschäftigten sich oft mit den Gewerkschaften vor Ort und mit Fragen der sozialistischen Arbeit in Argentinien. Meldungen aus Osteuropa hingegen oder Texte mit einem expliziten Bezug auf den Bund in Osteuropa sind nur äußerst selten zu finden.21 Eine andere Ausrichtung ist in den nordamerikanischen Publikationen zu erkennen. Den dominanten Anteil nahmen hier Nachrichten ein (Kategorie III), was primär Informationen aus Russland umfasste. Dies begründet sich im Erscheinungsgrund der Hefte. Deren Fokus lag nicht darauf, einen Aktivismus vor Ort für den Ort anzufachen, sondern darauf, Geld für den russischen Bund zu akquirieren. Deutlich wird der Unterschied an der abgedruckten Lyrik, die in den USA z. B. aus 18 N. N., „Di dekabristen“, Di arbeter shtime 20 (1900): 4–7; N. N., „Tsu ondenkung fun dem 15 (28) yanuar 1886 yohr“, Di arbeter shtime 26 (1902): 3–8; N. N., „Tsu der geshikhte fun der entviklung fun zshargonisher unlegaler politishe presse in russland“, Di arbeter shtime 25 (1901): 11–16. 19 A farshikter arbeyter, „Vi bin ikh gelofn fun sibir“. 20 Erstmalig in: Stanislav Valski, „Theorie und praktik fun anarkhismus“, Der avangard, Buenos Aires 1, Nr. 2 (1908): 9–12. 21 Wenn dann meist in Briefform, so z. B.: M. Olgin, „Fun der alter heym (brief )“, Der avangard, Buenos Aires 2, Nr. 8 (1909): 5–9.

Von agitierender Publizistik zu transnationaler Memorik

145

der Hymne des Bund Di shvue bestand, inklusive der selten reproduzierten zweiten Strophe, die ihren Inhalt und Furor aus dem Kampf im Zarenreich speiste.22 In Argentinien hingegen fanden sich zahlreiche Gedichte, die die yidishkayt priesen und für die jiddische Literatur eine überall mögliche, transnationale bundische Praxis waren. Als Beispiel kann hierfür das lange, balladenähnliche Gedicht „Das Lied von der Näherin“ von Martin Galpern dienen, welches ‚Der avangard‘ in Serie abdruckte.23 Diese frühen Blätter definierten Pfade, auf denen die regionale Publizistik später fortschritt. In Osteuropa wurde Aktivismus ebenso in der ab 1907 kurzzeitig legal erscheinenden ‚Di hofnung‘ betont, dem damaligen offiziellen Organ des Bund. Zwar nahmen nach und nach – und vor allem in Zeiten der Legalität – Umfang und absolute Zahl memorischer Artikel zu. Allerdings blieben Beiträge, die den revolutionären Aktivismus betrafen, stets die am stärksten präsenten. Auch die stark rezipierte Tageszeitung des Bund in Zwischenkriegspolen, die ‚Folkstsaytung‘ und später die ‚Naye folkstsaytung‘, druckte zwar zunehmend memorische Texte vor allem in Sondernummern ab. Im Gesamten lag die Betonung aber nach wie vor auf dem tagespolitisch nutzbaren Aktivismus (Kategorie I), der in Russland wie in Polen der wichtigste Vergemeinschaftungsmodus des Bund blieb, erweitert durch Nachrichten (Kategorie II), die mit dem Wesen einer Tageszeitung einhergingen.24

Vom Klassenkampf zur yidishkayt: Wandel am Rio de la Plata In Argentinien standen bundische Aktivisten vor großen Problemen, wie antisozialistischen Polizeiaktionen im Jahre 1910, dem politischen Pogrom der „tragischen Woche“ 1919. Letztendlich ließ der innere Konflikt um den Umgang mit der Oktoberrevolution den ‚Avangard‘ scheitern. Erst nach der Gründung eines bundischen Klubs 1924 gab es wieder Versuche, eine bundische Zeitschrift zu etablieren. Mit 22 Diese lautet: „Wir schwören zu kämpfen für Freiheit und Recht/ Mit allen Tyrannen und ihren Knechten/ Wir schwören zu besiegen die finstere Macht/ Oder mit Heldenmut zu fallen in der Schlacht“, „Di shvue“, Di Rotshester tsaytung. Aroysgegebn fun „bund“ brentsh S.P. un S.L. klub 1, Nr. 1 (Dezember 1907): 1; oder im Stile des sentimentalen Gedichts, welches speziell für den Spendenball des Bund vom Bundisten und Forverts-Autor A. Liesin verfasst wurde: A. Liesin, „Ahin erhoyb sikh vayt, mayn zeele“, Der fraynd fun bund. Gevidmet tsu di franyd fun „bund“, voz velen bezukhen dem ball in grand tsentral peles (April 2, 1904): 1. 23 Martin Galpern, „Dos lid fun der nayterin. Lidishe poem“, Der avangard, Buenos Aires 2, Nr. 6 (1909): 14–18; Martin Galpern, „Dos lid fun der nayterin. Lidishe poem“, Der avangard, Buenos Aires 2, Nr. 7 (1909): 10–13. 24 Dies bezog sich zunehmend auch auf die Abwehr des Antisemitismus in Zwischenkriegspolen, vgl.: Pickhan, Gegen den Strom, 300.

146

Vergemeinschaftung durch kollektives Erinnern

bescheidenem Erfolg gelang dies im letzten Vorkriegsjahrzehnt – jedoch trotz des Militärstreichs Uriburus und der allgemeinen Erschwernisse bzw. des teilweisen Verbots sozialistischer Aktionen zu dieser Zeit.25 Diese Zunahme des bundischen Aktivismus in Argentinien verlief parallel zu antisozialistischen Sondererlässen der Militärregierung. Die versuchte Unterdrückung jedoch bestärkte die Arbeiterbewegung Argentiniens, die trotz aller Zerrissenheit gerade in den 1930er-Jahren zur dominanten politischen Kraft auf den argentinischen Straßen wurde, was zu großen Teilen im Peronismus der frühen 1940er-Jahre mündete.26 Letztere Wendung nahm der Bund nicht, dennoch zog er seine Energie aus der allgemeinen Gegenwehr sozialistischer Gruppen und zudem aus einem anwachsenden jiddischsprachigen Aktivismus, der sich zusehends transnationalisierte. Diese Schwerpunkte kamen deutlich in der bundischen Publizistik zum Ausdruck. Zwar setzte der Bund lokale Schwerpunkte, verdeutlichte aber auch, dass jeglicher lokale Aktivismus, zum Beispiel für die jiddischen Schulen vor Ort, nur angebunden an transnationale Kulturarbeit denkbar war. Die Schwerpunkte des Aktivismus der Zwischenkriegszeit deckten sich darum nicht mit denen der 1900er-Jahre. Leider ist die Geschichte des jüdischen Sozialismus in Argentinien massiv untererforscht. Jedoch schon in den 1930er-Jahren war es um das Wissen kaum besser bestellt. Als die dortigen Bundisten in einer Phase der Entspannung mitten in der década infama erneut den Versuch unternahmen, mit dem ‚Argentiner lebn‘ eine bundische Arbeiterzeitung zu etablieren, verkündete die Redaktion stolz auf der Titelseite in großen Lettern: „Wir sind wieder da.“27 Im Text zur Schlagzeile zeichneten die Autoren eine Geschichte nach, die das neue Blatt in eine direkte Folge zu den verschiedenen ‚Avangard‘-Folgen, dem vom Bund in Argentinien herausgegeben ‚Argentiner veker‘ und dem direkten Vorgängerblatt ‚Sotsyalistishe bleter‘ stellte. Letzteres wurde von der sekundärbundistischen Yidishn sotsyalistishn farband in 25 Dieses Spannungsverhältnis prägte die gesamte Arbeitergeschichte in Argentinien in der Zwischenkriegszeit, vgl.: José Panettieri, Hrsg., Argentina: Trabajadores entre dos guerras (Buenos Aires: Eudeba, Universidad de Buenos Aires, 2000); Hiroshi Matshushita, „El movimiento obrero socialista ante el avance del peronismo“, in El pensiamento alternativo an la Argentina del siglo XX. Tomo II: Obrerismo, vanguardia, justicia social (1930–1960), hg. von Hugo E. Biagni und Arturo A. Roig (Buenos Aires: Biblos, 2006), 343–353. Wirklich dauerhaft konnten die Bundisten in Argentinien erst ab 1956 die Zweiwochenschrift ,Unzer gedank‘ etablieren, die dann bis Ende der 1960erJahre in Buenos Aires erschien. 26 Das Verhältnis zwischen Perón und sozialistischen Arbeiterbewegungen, zerissen durch die „alten“ und „neuen“ Arbeiter, war dementsprechend angespannnt. vgl.: Louise M. Doyon, Perón y los trabajadores: Los orígenes del sindicalismo peronista, 1943–1955 (Buenos Aires: Siglo XXI, 2006). 27 „Mir zaynen vider do“, Argentiner lebn 1, Nr. 1 (1936): 1.

Von agitierender Publizistik zu transnationaler Memorik

147

argentine, YSFA, herausgegeben und habe etwas „mehr Glück als die Vorgänger“ gehabt, weswegen es 1930 für ein volles Jahr erschienen sei. Dies schrieben 1936 die „Zeitzeugen“ und tuer aller dieser Periodika – und sie irrten. Nicht nur, dass sie nicht zu sagen wussten, wie und wann der ‚Argentiner veker‘ in den 1920er-Jahren erschienen sei, sondern nur vage andeuteten, dass dieser von zu Kriegszeiten eingewanderten Bundisten gegründet worden sei. Das Blatt habe sich „einige Zeit durchgewurstelt“ und sei dann „wieder untergegangen“. Sie irrten vor allem in Bezug auf die ‚Sotsyalistishn bleter‘, welche keineswegs nur ein Jahr, sondern von April 1930 bis mindestens Oktober 1932, also reichliche 2,5 Jahre, erschien.28 Ebenso behaupten die Autoren, dass ‚Der avangard‘ der letzten Folge von 1918 bis September 1919 erschienen sei, was aber nicht stimmt, denn seinen ersten Jahrgang hatte er im Jahr 1919 und erschien mindestens bis Januar 1920. Diese Irrtümer zu bemängeln, mag auf den ersten Blick kleinlich erscheinen, aber sie sprechen für sich. Sie sind symptomatisch für die Rolle, die die vorherigen Blätter, also die eigene Vergangenheit, in der Gegenwart der argentinisch-bundischen Presse spielten: keine. Zumindest keine konkrete, außer dass sie für nachfolgende Journale einen Bezug abgaben, eine Tradition, in der man sich verorten konnte und anhand derer man belegen konnte, nicht der Erste zu sein. Man wollte also zeigen, dass man nicht mehr an der Frontier kämpfte, sondern ein aktivisches Werk fortsetzte. Die vergangenen Blätter und Gruppen wurden eingebunden und zu einem memorischen Gegenstand zur Herkunftbestimmung der jetzigen Tat.29 Und doch war die Geschichte der argentinischen bundischen Blätter eine sehr spezifische und betonenswerte. Man kann man an ihnen erstens die Wirkung argentinischer Geschichte auf jüdische Immigranten, zweitens die inneren Vergemeinschaftungsprozesse, drittens die lokalen Schwerpunktsetzungen und viertens den Bezug zum Bund in Osteuropa ablesen. Glücklicherweise sehe ich mich durch zahlreiche Quellenfunde in der Lage, den Bezug zwischen eben jenen Journalen genauer nachzeichnen zu können. Anhand einer Textanteilsanalyse der bundischen und sekundärbundistischen Publikationen zwischen 1908 und 1938 kann man eine „argentinische Entwicklung“ feststellen, die einen klaren Schwerpunkt auf überzeitliche Reflexionen und aktivistische Texte, vor allem zu Arbeiterthemen, legte und der Memorik nur langsam zunehmend Raum eingestand (Tafel 9, S. 148).30 28 Diese Hefte liegen vor. Israel Laubstein behauptet, leider ohne weitere Quellenangabe, eine über dreijährige Existenz. Vgl.: Laubstein, Bund. Historia del Movimiento Obrero Judío, 187. 29 Explizit in: „Di feyerung tsum 30-yorikn yubiley fun ‚avangard‘“, Argentiner lebn 13 (1937): 3. 30 Erweitert durch einen Blick nach Montevideo, Uruguay. Die dort bestehende kleine bundische Gruppe war nicht nur eng an die weitaus größere in Argentinien angeschlos-

Entwicklung“ feststellen, die einen klaren Schwerpunkt auf überzeitliche Reflexionen und aktivistische Texte, vor allem zu Arbeiterthemen, legte und der Memorik nur langsam zunehmend Raum148 eingestand (Tafel 9).480

Vergemeinschaftung durch kollektives Erinnern

Argentiner veker, 1924/25

38%

37%

Sotsyalistishe bleter, 1930-32

37%

37%

0%

10%

Aktivismus

20%

30%

Überzeitliches

40%

50%

Gegenwärtiges

7% 20%

13%

26%

11%

33%

30%

Tsayt-fragn, 1938/39

60%

70%

5% 5%

21% 18%

33%

34%

Argentiner lebn, 1936-38

10%

58%

27%

Der avangard, 1919/20

9%

24%

5%

46%

25%

Der avangard, 1916/17

10%

51%

31%

Der avangard, 1908-1910

80%

90%

100%

Memorik

Tafel 9: Textanteile und sekundärbundistischer Periodika Tafel 9: Textanteile bundischer undbundischer sekundärbundistischer Periodika am Rio de la Plata, 1908–1939. am Rio de la Plata, 1908–1939.

Drei entscheidende Punkte fallen hierbei ins Auge. Erstens: Sekundärbundistische Publikationen,

Drei entscheidende Punkte fallen hierbei ins Auge. Erstens: wie die 14-täglich erscheinenden 'Sotsyalistishe bleter', unterschieden sich inSekundärbundistische ihrem Profil kaum von

Publikationen, wie die veker', 14-täglich erscheinenden ‚Sotsyalistishe bleter‘,fun unterschiebundischen wie dem 'Argentiner der sich auf der Titelseite klar als das „Organ algemeynem

den sich in ihrem Profil kaum von bundischen wie dem ‚Argentiner veker‘, der sich auf der Titelseite klar als das „Organ fun algemeynem yidishn arbeter ‚bund‘“ zu Zeiten auf zeitnahen, aktivistischen Beiträgen und überzeitlichen Reflexionen. 'Der avangard' erkennen gab. Zweitens lag der Schwerpunkt der Zeitschriften über die Zeiten auf 1916/17 stellt dahin gehend eine relative Ausnahme dar, die statistisch Ausschlag gebenden zeitnahen, aktivistischen Beiträgen und überzeitlichen Reflexionen. ‚Der avangard‘ memorischen jedoch eine den relative Weltkrieg und die Geschichte der Revolution in 1916/17Texte stellt spiegeln dahin gehend Ausnahme dar, die statistisch Ausschlag gebenden memorischen Texte auf spiegeln jedoch den Weltkrieg Russland und bezogen sich konkret das Zeitgeschehen. Drittens und setztedieabGeschichte 1930 eine der Revolution in Russland und bezogen sich konkret auf das Zeitgeschehen. Verschiebung der Textanteile ein Memorik nahm zu. Dies geschah zu der Zeit, in der jene Drittens setzte ab 1930 eine Verschiebung der Textanteile ein Memorik nahm zu. Immigranten heimisch wurden, die durch Post-Weltkriegswirren, imperialen Zerfall und die Dies geschah zu der Zeit, in der jene Immigranten heimisch wurden, die durch amerikanischen Quotengesetze imperialen nach Buenos Aires und gekommen war. Der Bedarf an Memorik Post-Weltkriegswirren, Zerfall die amerikanischen Quotengesetze entstand aber nicht nur durch die Migration. neuen Immigranten auch Zeugen des nach Buenos Aires gekommen war. Diese Der Bedarf an Memorikwaren entstand aber nicht nur durch die Migration. Diese neuen Immigranten waren auch Zeugen des Zer480 Erweitert durch Blick nach der Montevideo, Uruguay. dort bestehende kleine Gruppe war falls und dereinen Zerstörung Lebenswelt desDie Schtetl geworden, diebundische der Ethnograph, nicht nur eng an die weitaus größere in Argentinien angeschlossen, sondern beide müssen de facto als eine Schriftsteller und werden, Autor die derdenHymne des Bund, vertrat. An-sky, und andere so eindrücklich Bund-Gruppe verstanden Bund in Lateinamerika beschrieben.31 Dies wurde teilweise in der Memorik, teilweise in der Lyrik themayidishn arbeter 'bund'“ zu erkennen gab. Zweitens lag der Schwerpunkt der Zeitschriften über die

sen, sondern beide müssen de facto als eine Bund-Gruppe verstanden werden, die den Bund in Lateinamerika vertrat. 31 An-sky (Shlomo-Zanvill Rappoport), The Enemy at his Pleasure: A Journey through the Pale of Settlement During World War I, hg. von Joachim Neugroschel (New York: Metropolitan Books, 2002); Itzik Nakhmen Gottesman, Defining the Yiddish Nation: The Jewish Folklorists of Poland (Detroit: Wayne State Univ. Press, 2003).

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tisiert. Im Vordergrund standen aber weiterhin argentinische Umstände. Aktivistische und überzeitliche Beiträge (Kategorie I, II) mussten in Argentinien bis 1939 nur einen Teil ihrer Dominanz an memorische Texte abtreten. Jedoch änderte sich ihr Charakter. Der Fokus der überzeitlichen Texte lag bis in die 1920er-Jahre auf allgemeinen Reflexionen zur Klassenlage und zum Sozialismus, verschob sich dann in den 1930ern eindeutig in die kulturelle Richtung. Als neues Thema tauchten die weltlichen jüdischen Schulen und weitere Facetten der yidishkayt auf (vgl. Überblick, Tafel 10, S. 152). Der Inhalt des jiddischsprachigen Sozialismus verschob sich von der Arbeiterorganisation immer weiter hin zu einer jüdisch-sozialistischen Weltlichkeit. Dies spiegelt sich in den Begrüßungsworten der jeweiligen Erstnummern. So schrieben sich die Herausgeber des ‚Der avangard‘ 1908 im einleitenden Satz, der zugleich die jiddische Publizistik in Lateinamerika einläutete, noch einen allgemeinen Missionsanspruch und damit eine aktive historische Rolle ins Stammbuch: „Den ‚Avangard‘ herausgebend wollen wir die große Aufgabe erfüllen, welche der historische Prozess von uns erfordert, um die Ideen des Sozialismus unter der jüdischen Bevölkerung zu verbreiten.“32 Diesen Kurs setzte der 1924 erscheinende ‚Argentiner veker‘ fort, wobei die offensiven und missionarischen Ziele durch stärker vergemeinschaftende Zwecke ersetzt wurden. Niederschlag fand dies vor allem in vielen Texten zu gemeinsamen Banketten, zu Jubelfeiern für den Bund und in der Vergemeinschaftung fördernden Rubrik „Aus dem Parteileben“. Diese benannte auch einige Bundisten in Argentinien als Ansprechpartner, „um einen engeren Kontakt zwischen den Parteimitgliedern“ zu ermöglichen. Vergemeinschaftung fand also nach der Immigration zuerst über Vernetzung auf Basis alter Zugehörigkeiten und nur nachfolgend auf politisch-inhaltlicher Ebene statt.33 Dies verstärkte sich in den 1930ern. In den Eröffnungsworten des ‚Argentiner lebn‘ von 1936 wird deutlich, dass die Rechtfertigung einer solchen Zeitschrift nicht in ihrem Pioniercharakter, einer Mission oder einem allgemeinen Deutungsanspruch lag, sondern in einer durch ehrhafte Akteure zu besetzenden Lücke, die ihre Leser weniger bilden, sondern vielmehr binden wollten: Wir haben uns nicht über eine fehlende jiddische Presse in Argentinien zu beklagen. So gibt es zahlreiche Presseorgane verschiedener Tendenzen und Schattierungen, aber eine echte, aufrichtige, offenherzige jiddische sozialistische Presse, welche klar redet und sozialistisch denkt, hat gefehlt. […] Den Standpunkt eines wahrhaften Sozialisten kann nur ein Sozialist vertreten. […] Wir erklären aufrichtig, dass wir unser Wort frei erheben werden, ohne einen Gegner zu schonen. Die persönliche, ideologische [ideyishe] und gesellschaft32 „Vos vilen mir?“, Der avangard, Buenos Aires 1, Nr. 1 (1908): 1. 33 „Partey lebn“, Argentiner veker 1, Nr. 3 (1924): 7.

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Vergemeinschaftung durch kollektives Erinnern

liche Würde in die Höhe haltend, werden wir auf Ideologien, Prinzipien, Richtungen, Systeme und Geschichten reagieren, aber unsere Waffen, unser Wort, werden wir rein halten.34

Dies sah man als spezifisch lokale Aufgabe: „Wir sind wieder da, um die Lücke im argentinischen jüdischen Leben zu füllen.“35 Diese Verschiebung hin zu einem sozialistischen, in erster Linie aber jiddisch-weltlichen Lebensstil in Südamerika setzten dann kurz vor dem Zweiten Weltkrieg die ‚Tsayt-fragn‘ fort, in deren erstem Satz die Kraft der neuen kulturellen yidishkayt am deutlichsten hervortrat. Das Journal wurde nicht einmal mit einem Ruf nach Sozialismus eröffnet, sondern: Mit vollem Bewusstsein nehmen wir die schwere Verantwortung auf uns, ein Monatsheft herauszugeben – ein Journal für gesellschaftliche und Kulturprobleme. [Es wird handeln] vom historischen Prozess, welchen die jüdischen Volksmassen täglich durchmachen – dem täglichen Gerangel für das Recht auf Leben und Arbeit – vom Recht frei zu sein und davon ungestört seine Kultur und Erziehungsansichten bauen und schaffen zu können, je nach den Ländern, aus denen wir alle kommen.36

Die sozialistischen Blätter wurden immer mehr zu Medien der Kulturarbeit, die sich vor allem an den jüdisch-weltlichen Schulen ausprägte.37 Der selbst gewählte Bildungsauftrag zugunsten einer säkularen jüdischen Moderne spiegelt sich auch in der Textverteilung: Die Zahl überzeitlicher Texte zu Theorien und Praktiken revolutionärer Bewegungen tendierte in den 1930er-Jahren gegen null. Selbstvergewisserung war auf diesem Feld erreicht, die offenen Fragen lagen in der Gestaltung der jiddischen Kultur. Wurde diese anfangs bestenfalls im Rahmen des jiddischsprachigen Theaters in der Stadt thematisiert, traten nun auch transnationale Aspekte deutlicher hervor. Dies gewann im Rahmen einer Kampagne zugunsten der TSYSHOSchulen in Polen und dann 1936 nach dem Besuch des verehrten Journalisten und Gesandten der polnischen TSYSHO, Barukh Shefner, deutlich an Gewicht.38

34 „Mir zaynen vider do“. 35 Ebd. 36 „Tsu di leyener!“, Tsayt-fragn, Buenos Aires 1, Nr. 1 (Oktober 1938): 1. 37 Vgl.: Kap. III, 5 [Fundraising]. 38 IWO, Buenos Aires, #1103 [Campagna de Ayuda – Shefner], und Ebd.: #Escuelas Laicas en Argentine, Escuelas Laicas en Argentine y Polonia, zur Hilfskampage 1931: IWO, Buenos Aires, #Comite de Ayuda a las escuelas laicas Israeltita de Polonia y Argentina, 17, ## Hilfs komitet far di yidish veltlikhe shuln in poyln: Barikht fun der aktsye durkhgefirt in argentine fun sof may bis sof november 1931, eingehender siehe: Kap. III, 4 [Bildung] und III,5 [Fundraising].

Von agitierender Publizistik zu transnationaler Memorik

151

Dies ging interessanterweise mit dem Rückzug zweier Texttypen einher: Erstens schrumpfte der Anteil der ehemals sehr bedeutenden Prosa und Lyrik. Literatur wandelte sich vom Agitationsinstrument zum Gegenstand kulturpolitischer Debatten. Dies baute darauf auf, dass sich die gesamte jiddische Kulturlandschaft in Argentinien massiv gebessert hatte. Mit den vielen Immigranten der Zwischenkriegszeit, die oft Vorbilder aus Polen mitbrachten, waren Kulturzentren, Verlage und der jiddische Autorenverein Nomberg entstanden, allesamt Institutionen, für die die Gruppe Avangard noch gegen hispanisierende Tendenzen gekämpft hatte. Mit diesen Einrichtungen einher ging jedoch der Rückzug des proletarischen Deutungsanspruchs. Die Arbeiterjournale verzichteten nun großteils auf Agitation per Kulturprodukt, sondern sahen in dieser Kultur einen zu bewahrenden Ausgangspunkt einer neuen, jiddischen Arbeiterkultur. Der revolutionäre Gehalt der doikayt verwies immer mehr ins Innerjüdische (siehe Tafel 10, S. 121). Dies war aber keineswegs nur eine Verengung der Perspektive, denn die daraus folgende Regionalisierung der Kulturarbeit vor Ort in Buenos Aires ging einher mit der transnationalen Vernetzung. Zweitens tendierten nun Kurznachrichten aus aller Welt gegen null. Die ehemals zahlreichen kleinen Berichte über die globale jiddische Arbeiterbewegung wurden in Großblöcken zusammengefasst, die sich oft auf die Lage in Spanien, den global aufziehenden Faschismus und Antisemitismus konzentrierten. Zwar blieb man aufmerksam, jedoch wichen die vielen kleinen und zeitnahen Nachrichten der kulturellen Frage als neue bundische Aufgabe. Wie aus der obigen Tabelle zu entnehmen, sind dabei zwei sich gegenseitig bedingende Entwicklungen zu betrachten (Tafel 10, S. 152). Erstens wurde der Arbeiter nicht nur als jiddisch sprechender Klassenkämpfer gesehen, sondern als Träger einer weltlichen, jüdischen Kultur. Dies entzog dem Arbeiter keineswegs seine ökonomischen und politischen Interessen, der Bund wurde also keineswegs zu einer pragmatischen und kulturalistischen Vereinigung, die sich, wie Daniel Blatman suggerierte, immer stärker von der Ursprungszeit und den damaligen Handlungsmustern distanziert habe.39 Der Bund erweiterte seine Rolle vielmehr und sah darauf ab, nicht nur für die Arbeitermassen, sondern allgemein für die yidishn folksmasn einzutreten, ein Begriff, der gerade in den 1930er-Jahren sehr stark genutzt wurde. Zweitens wandelten sich Form und Inhalt der Memorik. Diese bezog sich nun kaum noch auf die Geschichte der Klassenkämpfe oder die vorbundische Geschehnisse. Man entdeckte vielmehr die eigene Geschichtlichkeit, die die moderne jüdische Geschichte sehr eng erst mit dem Bund und dann mit zahlreichen Bundisten verknüpfte. Diesen Wandel, der auch Rückschlüsse auf andere sozialistische Bewegungen zulässt, werde ich im Folgenden genauer analysieren.

39 Blatman, For Our Freedom and Yours, XVIII.

Charakterisierung

Rolle des Jiddischen

Bezug zu Arbeitern

Memorik

Vergemeinschaftung

Ziele

Untertitel/Hrsg.

Zeitschrift

Hochwertiges Journal mit vielen renommierten bundischen Autoren aus aller Welt

Vor allem Betonung von Literatur und Lyrik Dünne, großformatige Zeitschrift mit großem Anteil an Werbung

Bis auf ein wenig Lyrik nur Praxissprache

International berichtende und vernetzte Zeitschrift einer kleinen aber selbstbewussten Gruppe

Explizit nichtkommunistisches, anspruchsvolles Arbeiterblatt, sekundärbundistisch

Sozialistisches Arbeiterblatt unter Betonung der jiddischen Kultur

Jiddisches Kulturblatt im Arbeitermilieu

Ausdruck einer spezifischen, volksnahen Kultur, die Ausdruck in Schulen und Literatur fand

Arbeiter als Träger einer jiddisch-weltlichen Kultur, Informationen und Refle­ xionen zum Stand der weltweiten Arbeiterbewegung

Sehr Bund-nah, vor allem Würdigung verstorbener Größen

Lokale Betonung einer jiddischen Arbeitergemeinschaft, transnationale Vernetzung

Reflexionen und Stärkung des Bezugs von jiddischer Kultur, Arbeiterfragen und Bundismus weltweit

Tafel 10: Charakterisierung bundischer und sekundärbundistischer Periodika in Argentinien, 1908–1939

Reflektierter Modus der Vergemeinschaftung, Förderung eines klassenbewussten jiddischen Theaters Hochwertiges, strikt sozialistisches und auf Argentinien schauendes Journal, v. a. lokale Autoren

Knappe Informationen über Geschehnisse

Memorik kaum relevant

Stärkung jiddischsozialistischer Kultur in Argentinien v. a. mit Bezug auf Bund und Bundismus

Sotsyalistishe bleter, Argentiner lebn, Tsayt-fragn, 1938–1939 1930–32 1936–38 Tsveyvokhnshrift fun o. A. [YSFA, nahezu Monatsshrift far gezelshaftyidish-sotsyalistishn selbe Personen tralekhe kultur-fragn farband in argentine gend wie in ‚sotsyalis- (Montevideo) tihe bleter‘ ]

Vertreten einer jiddischen, sozialistischen Stimme, Fortsetzen der Tradition und ausführliche Reflexionen Reflexion der Immig- Aufrufe zur Integra- Kampf für das ration von Bundisten tion bei projiddisch- Jiddische, gegen und der folgenden sprachigem Sozialis- Faschismus und Vergemeinschaftung mus, klarer Bezug zur Antisemitismus Partido Socialista Gering, bezogen auf Bildung und Würdi- Bindung an den Bund Einzelpersonen und gung sozialistischer stets zunehmend, russische Revolution und bundischer letzte Hefte reine Personen weltweit Sonderhefte für Pinie Vald und Bund Hauptadressat, vor Kampf für Arbeiter- Aktivistische Integallem zu aktivierende rechte in Argentinien, ration in ein wachund über globale Information über sendes Kulturfeld, Geschehnisse zu Kampfgenossen weltweite Berichte, informierende neue weltweit Schwerpunkt: SpaImmigranten nien als Klassenkampf Vor allem als Praxis- Kultursprache, Stärkung des jiddischsprache besondere Betonung weltlichen Schulder jiddischen Arbei- wesens terschulen

Argentiner veker, 1924 Organ fun algemeynem yidishn arbeter „bund“

Fortsetzung der Ge- Eine genuin bundischichte des Avangard sche Stimme am Rio unter schwierigen de la Plata Bedingungen

Revolutionäre Fortsetzung des Vergemeinschaftung Begonnenen aufgrund osteuropäischer Herkunft

Förderung der Idee der national-kulturellen Autonomie, jiddisch-sozialistische Reflexionen

Der avangard Der avangard 1916/17 1919/20 Organ fun der yud. s. Organ fun der yidisd. arb. org. „avangard“ her sotsyalistisher arbeyter organisatsye avangard

Geschichte der polnischen Juden und der Revolution und Memorik zu wichtigen Personen Arbeiterorganisation Diskussion von in Argentinien, Arbeiterfragen und Stärkung im Klassen- jüdischer Gegenwart kampf in Argentinien

Vergemeinschaftung um die Biblioteca rusa in Argentinien, klarer Bezug zur Partido Socialista Memorik als Selbstreflexion und als Geschichte der Klassenkämpfe

Der avangard 1908–1910 Organ fun di yidishe sotsyal demokratishe arbeyter organisatsyon in argentina „avangard“ Förderung des jüdischen Sozialismus in Theorie und Praxis

152 Vergemeinschaftung durch kollektives Erinnern

Von agitierender Publizistik zu transnationaler Memorik

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Von einer Geschichte für den Bund zu einer Geschichte des Bund: Die fünf Zentren der bundischen Vergangenheit Die bundischen Publikationen in Übersee hatten zwischen verschiedenen Räumen und Zeiten zu vermitteln. Vergangenheit war sowohl heroisiert als auch ein verlorener Raum, Gegenwart war kritisch zu Gestaltendes und die Zukunft motivierte den utopischen Aktivismus. Dabei entstanden fünf sich verschiebende Zentren bundischer Memorik. Das Erste lag in der Bedeutung der Geschichte der Klassenkämpfe für den jungen Bund, das Zweite im Anstieg der Selbsthistorisierung, das Dritte in der sich dabei verändernden Rolle der Individualmemorik. Ein viertes Zentrum lag in der Vergemeinschaftung an Feiertagen und ein Fünftes in der Gründung und den Inhalten der Zeitschrift ‚Unzer tsayt‘, um die sich ab 1941 der neue, nichtosteuropäische Bund formierte. 1. Zentrum: Die Geschichte der Klassenkämpfe

In seinen frühen Jahren diente dem Bund in Russland vor allem die Geschichte der Klassenkämpfe als Legitimationsrahmen. Ganz im Sinne Walter Benjamins nährten sich auch im Bund „de[r] Haß, wie de[r] Opferwille […] an dem Bild der geknechteten Vorfahren, nicht am Ideal der befreiten Enkel.“40 In den ersten Periodika des Bund bezog man sich stark auf die russischen und deutschen Sozialdemokraten. Vor allem in den Organen des Zentralkomitees und des Auslandskomitees waren diverse Kämpfe der „Vorväter“ ein häufiges Thema. Jüdische Geschichte kam nur vor, wenn sie etwas Revolutionäres in sich barg.41 Häufige Motive waren die Französische Revolution, die Revolution von 1848, die Dekabristen, internationale zentrale Figuren oder Geschichten der Unterdrückung, wobei Texte auch aus russischen und westeuropäischen Periodika übernommen wurden.42 Das Ziel war es, den neu zu schaffenden Bund direkt in den Höhenkamm der revolutionären Geschichte zu integrieren.43 Dies diente aber nicht nur der Selbstverortung, es war in erster Li40 Benjamin, „Über den Begriff der Geschichte“, 149 [These XII]. 41 So z. B. in: N. N., „Tsu der geshikhte fun der entviklung fun zshargonisher unlegaler politishe presse in russland“; F.  P., „Di opozitsye fun 1893“, Di hofnung, Wilna 14 (Oktober 1907): 4. 42 Z. B.: N. N., „Di dekabristen“; N. N., „Tsu ondenkung fun dem 15 (28) yanuar 1886 yohr“; N. N., „Vos is azoynt a revolutsye“, Der veker, Wilna 4 ( Januar 10, 1906): 2 f.; bekannte Fremautoren z. B.: Karl Kautsky, „Alte un naye revolutsyonen“, Der veker, Wilna 1 ( Januar 3, 1906): 3; Franz Mehring, „A yor fun revolutyse“, Der veker, Wilna 7 ( Januar 14, 1906): 2. 43 Dies geschah freilich auch außerhalb der Memorik, so zum Beispiel in einem langen, über mehrere Ausgaben gehenden Bericht zum Parteitag der SPD 1907, in: Di hof-

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Vergemeinschaftung durch kollektives Erinnern

nie ein Akt der Aufklärung, denn so wurde direkt neben Berichte zu Streiks oder anderen Kämpfen deren historischer Kontext gestellt. Das in Arbeiterautobiographien stets benannte „Bewusstwerden“, die Vergegenwärtigung der gesellschaftlichen Situation in marxistischen Denkstrukturen, benötigte eine gegenhegemoniale Historiographie. Nur die Mischung aus Geschichte, Handeln und Utopie erlaubte, „das Kontinuum der Geschichte aufzusprengen“.44 Diese Geschichte hob sich freilich in Themen, Sprache und Vermittlungsinteresse von hegemonialen Geschichtssichten ab, sei es der zarisch-russischen, der traditionell jüdischen oder der polnisch-nationalen. Aufgrund abweichender utopischer Implikationen wurde sie auch verfolgt. Darum ging das vergangenheitsbewusste Fortschrittsdenken mit dem Bedrohungsszenario des Entdecktwerdens einher. Das Bewusstsein, Teil eines historischen Prozess zu sein, stärkte darum die Binnendisziplinierung, die für die Konspiration der Bewegung unumgänglich war. Die Rollen waren anfangs, aber nicht sehr lange, klar verteilt: Autoren waren vermittelnde Intellektuelle, Arbeiter in den Schtetln zuerst „bewusst zu machende“ Massenmenschen, die dann wiederum als sekundäre Mittler auftreten konnten, wie in den zahlreichen „Kreisen“ geschehen.45 Diese Fortbildung von Arbeitern unter Arbeitern führte zu einer eigenen Formation, die als Arbeiterbewegung im Bund aufgefasst werden kann. In deren Aktivismus kam die jüdische Sozialisation weitaus stärker zum Ausdruck als bei den oft „russifiziert“ ausgebildeten und sozialisierten Intellektuellen.46 Im Wechselspiel zwischen diesen beiden Kräften in der jüdischen Arbeiterbewegung entwickelte sich durch zusätzlichen Input z. B. aus der Schweiz, Wien und Deutschland ein gegenhegemonialer sozialistischer Konsens, in dem Arbeiterfragen, politische Zielsetzungen und die Gestaltung einer jüdischen Weltlichkeit nur zusammen gedacht werden konnten. An dieser Schnittstelle entstand die doikayt. In der Memorik der frühen Publikationen spielten einzelne Personen keine bedeutende Rolle. In dieser Geschichtssicht ging dem Bund eine Urzeit der revolutionären Bewegungen voraus, an die er nun anknüpfen konnte. Somit war er nur Mittler von Geschichte, nicht Gegenstand der Beschreibungen. Das Argument, dass eine Bewegung erst eine längere Geschichte brauche, um sich überhaupt historisieren zu können, ist jedoch irreführend. Erstens stand der Bund auf Wurzeln einer spezifisch jüdischen Arbeiterbewegung, die er aber kaum zum Thema erhob. Zweitens ist die bundische Gruppe Avangard in Argentinien ein Gegenbeispiel, das sich als Assozianung, Wilna 4 (20. September 1907) – 10 (3. Oktober 1907). 44 Benjamin, „Über den Begriff der Geschichte“, 151 [These XV, XVI]. 45 Vgl. Kap. I, 2 [Aktivismusmuster in Osteuropa]. 46 Ezra Mendelsohn, „Worker Opposition in the Russian Jewish Socialist Movement, from the 1890’s to 1903“, International Review of Social History 10 (1965): 268–282.

Von agitierender Publizistik zu transnationaler Memorik

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tion bereits wenige Monate nach ihrer Gründung gleich in der allerersten Nummer seiner Zeitschrift selbst historisierte.47 Ein derartiges Bestreben deutete sich in Osteuropa nur zaghaft an. 2. Zentrum: Die bundische Urzeit – Schaffung eines eigenen Gründungsmythos

Der erste Schritt war das Heft Nr. 25 der ‚Arbeter shtime‘, des Organs des Zentralkomitees des Bund. Darin feierte es bereits 1901 nicht nur sein Bestehen und das der Zeitschrift – die seit nunmehr fünf Jahren und trotz vieler Verhaftungen illegal in Russland erschien –, sondern auch die eigene Zielrichtung durch die Zelebrierung der Herkunft. Das Herausgeben dieser ersten memorischen Nummer war keine Selbstverständlichkeit, sondern benötigte noch einen Beschluss des vierten Kongresses des Bund. Dieser besagte, dass man erstens eine Sondernummer zum Jubiläum der ‚Arbeter shtime‘ herausgeben solle und dass diese zweitens auf Jiddisch und auch auf Russisch erscheinen solle.48 Große Strecken des Heftes sind dominiert von Grußbriefen aus aller sozialistischer Welt. Unter den Absendern befinden sich Karl Kautsky, August Bebel, verschiedene Gruppen der SDAPR und des Bund im In- und Ausland, darunter auch ein New Yorker Zweig des Bund, ‚Di tsukunft‘, kleine Lokalvereinigungen und diverse Einzelpersonen. All diese Schreiben besingen die Errungenschaften und großartigen Perspektiven des Bund und der ‚Arbeter shtime.‘ Zugleich kam Aufklärung nicht zu kurz: Personen wie Karl Kautsky wurden neben ihren Grußbotschaften in kleinen Absätzen durch die Redaktion vorgestellt. Man ging also nicht davon aus, dass die weltweit bekannten Figuren der Sozialdemokratie auch unter den bundischen Lesern bekannt seien. In dieser Ausgabe trug der junge Bund zudem zur Schau, wie stark er bereits mit der sozialdemokratischen Welt vernetzt war. Stilistisch unterlag man in diesem Heft noch keinen erkennbaren Routinen. Ebenbürtig stehen Parteierlässe neben Grußbotschaften und historischen Texten, wie zur Geschichte der illegalen jiddischen Presse in Russland.49 Sowohl die Sprache als auch die Formatierung der Botschaften wirken „roh“, was einerseits sprachlich erfrischend ist, andererseits aber aufgrund fehlender Hervorhebungen eine anstrengende Lektüre bereitet. Nichtsdestotrotz, diese Nummer der ‚Arbeter shtime‘ ist als

47 Pinie Vald, „Di geshikhte fun di yidishe sotsyal demokratishe arbeyter organisatsye in argentine (avangard), Vol. 1“, Der avangard, Buenos Aires 1, Nr. 1 (August 1908): 12–15. 48 Arbeter shtime 5, Nr. 25 (1901): 1, 37. 49 Ebd., Parteierlässe: 1, 37; Grußbotschaften: 3–10, 33–37.

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die erste Selbsthistorisierung des Bund zu verstehen – und zugleich als Vernetzungsund Aktivitätsbericht. In der Zeit der ersten russischen Revolution trat dies vorerst zurück, wurde 1907 aber durch die Nummer 14 der ‚Di hofnung‘ übertroffen. Diese erschien als wegweisendes Organ des Bund erstmalig kurzzeitig legal in Russland. Besagte Nummer feierte das zehnjährige Jubiläum des Bund, was in der Zeit der erneut stärker werdenden Repression ein bedeutender Fingerzeig war. Das Heft war geprägt von Gemeinschaftsrhetorik und Gesten des andauernden Widerstandes gegen die Zarenmacht. Untermauert wurde dies durch eine Historisierung der eigenen Periodika, wodurch erstmals für Autoren und für Leser ein Modus der Partizipation durch Erinnerung entstand.50 Denn man gedenke: Gelesen wurde diese Zeitschrift nicht auf dem heimischen Sessel, sondern zumeist in Klubs und auf illegalen Treffen, in denen zugleich kollektiv diskutiert und nun auch gemeinsam an die Kämpfe von 1905 gedacht wurde. Zudem belegten Grußadressen aus aller sozialdemokratischer Welt erneut, dass man nicht allein war.51 Jene Periodika, in die Memorik zunehmend Einzug hielt, wurden später selbst Gegenstand von Erinnerungen, in denen über identitätsbildende Leseerlebnisse und Schreiberfahrungen berichtet wurde.52 Es entstand somit ein Brückenschlag über mehrere Dekaden, der ehemalige Konsumenten zu Produzenten von Vergangenheit machte. Die Publizistik der frühen Tage wurde als Quasi-Objekt per Memorik zu erlebter Geschichte und so immer wieder in den späteren Bund reintegriert. Damit entstand das Bild einer Urzeit des Bund, die die direkte Vorgeschichte des Bund, die Zeit um 1897 und dem ersten Höhepunkt seiner Geschichte, der Revolution 1905 umfasste. Den Endpunkt setzt das Verbot der ‚Di hofnung‘ unter Premierminister Stolypin 1907. Jegliche folgende Memorik des Bund kam immer wieder auf diese 50 T., „Vi azoy iz tsuzamengeshtelt un opgedrukt gevorn der ershter numer ‚arbeyter shtime‘“, Di hofnung, Wilna 14 (1907): 3 f.; „Di bundishe prese biz oktober 1905“. 51 Di hofnung, Wilna 14 (1907); darunter: August Bebel, Paul Singer, Karl Kautsky und viele lokale und internationale Bundgruppen. 52 So z. B. in: T., „Vi azoy iz tsuzamengeshtelt un opgedrukt gevorn der ershter numer ‚arbeyter shtime‘“; Div., „Der ershter numer ‚arbeter-shtime‘. Zikhroynes fun die onteylnehmer“; A. Litvak und I.  B. Salutski, „Der ershter numer ‚arbeter shtime‘“, in Dos revolutsyonere rusland, hg. von I. B. Salutski und A. Litvak (New York: Yidishe sotsyalistishe federatsye in Amerike, 1917); Vladimir Medem, „Biografie fun di ‚lebns-fragn‘“, in Historisher zamlbukh. Materialn un dokumentn tsutshayer tsu der geshikhte fun algemeyner yidisher arbeter-bund, [Orig: Lebns-fragn, 1919] (Warschau: Ringen, 1948), 10 f.; ähnlich bedeutend wurde später nur „Unzer tsayt“: Israel Grosman, „Geleyent dem ershtn numer fun ‚unzer tsayt‘ in kobe“, Unzer tsayt, New York 3 (1945): 77 f.; Sh. Tenenboym, „Leyener fun der ‚folkstsaytung‘“, Unzer tsayt, New York 10 (1968): 24–27.

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Urzeit als zentraler Ursprungsmythos zurück. Sie wurde zu einem Leitmotiv der bundischen Identität.53 Diese berief sich aber in deutlich geringerem Maße auf eine allgemeine Geschichte der Klassenkämpfe, sondern auf bewegungsinterne Entwicklungen und Erfahrungen. So entstand das Gefühl einer eigenen Zeitlichkeit, die um 1905 zirkulierte und entweder um 1897 eingesetzt habe oder als Vorgeschichte auf 1897 zugestrebt sei. 3. Zentrum: Die Macht der Personen – Schaffung eigener Gründermythen

Dies rief dann aber nach eigenen Helden und Märtyrern, woraus sich ein „Kult“ um Personen entwickelte, der aber keineswegs als Kult um einzelne Personen verstanden werden sollte. Aufgrund des bereits festgestellten Mangels an Studien zu sozialistischer Memorik werden Aspekte der bolschewikischen Geschichte leichthändig auf die gesamte Geschichte der russländischen Arbeiterbewegung ausgeweitet. So stellen Orlando Figes und Boris Kolonitskii in ihren Betrachtungen des Freiheitskämpferkultes fest, dass vor allem die politische Kultur des Untergrundes im zarischen Russland die Entstehung von Führerfiguren begünstigt habe: The cult of the fallen hero was essential to that underground, as each successive generation of recruits looked at them as model ‚fighters for the people’s cause‘. As in pre-revolutionary France, there was a huge illegal literature of hagiographies, histories and legends, broadsides and prints, celebrating the exploits of Pugachev and Razin, the Decembrists, Nechaev, the SR terrorists and other martyrs of the revolutonary underground in Tsarist Russia. […] He or she was a symbol of ‚the cause‘ – an embodiement of the courage and self-sacrifice demanded of its leaders – from which people derived inspiration and support.54

Dieser Überflug über 125 Jahre revolutionärer Geschichtsmobilisierung erscheint bestechend, doch der Teufel liegt wie immer im Detail. Wie im Folgenden dargestellt, war im Bund, der größten sozialdemokratischen Bewegung des Zarenreichs, 53 In Interviews mit älteren Bundisten oder gar deren Söhnen stellte sich heraus, dass diese viel ausführlicher über die Urzeit des Bund zu erzählen wussten, die keiner von ihnen erlebt hatte, als über die Zeit ihrer eigenen Aktivität nach dem Holocaust. Die Periodisierung wurde zeitnah ähnlich entworfen, z. B. in: N. N., „Der 25-ter September 1897–1907“, Di hofnung, Wilna 14 (Oktober 1907): 2; N. N., „Tsehn yor“, Di hofnung, Wilna 14 (Oktober 1907): 2; letzerer Text entwarf eine knappe aber umfassende Geschichte des Bund und fand darum seinen direkten Nachdruck in den USA: N. N., „Tsehn yohr“, Di Rotshester tsaytung. Aroysgegebn fun „bund“ brentsh S.P. un S.L. klub 1, Nr. 1 (Dezember 1907): 1, 3. 54 Figes und Kolonitskii, Interpreting the Russian Revolution, 74.

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Memorik keineswegs an die Illegalität gekoppelt, sondern sie blühte gerade in der Legalität voll auf. Inszenierungen von Märtyrern trennten zudem keineswegs klar zwischen Führern und einfacheren Aktivisten, vielmehr kaschierte die Klammer des Aktivismus diesen Unterschied. Memorik wurde zunehmend zu einem schichtübergreifenden Partizipationsmodus und formierte sich nicht in klaren Sender-Empfänger-Kanälen, sondern im Netzwerk. Zuvorderst jedoch war Vergangenheit kein Steuerungsinstrument Machthungriger, sondern sie wurde von Arbeitern, die eine Änderung ihrer Lage anstrebten, offen eingefordert. Dies zeigt sich zum einen in sämtlichen betrachteten Arbeiterautobiographien, die die Konversion zum „klassenbewussten“ Arbeiter aufgrund des Leseerlebnisses betonen. Fremde Taten und Erlebnisse prägten sich so tief in die Identitäten der Aktivisten ein, dass selbst in den USA, wo die normalen bundischen Periodika aus Polen bestenfalls mäßigen Absatz fanden, memorische Sonderhefte wahre Kassenschlager waren.55 In diesen standen nicht die Legitimation der Führer oder die Ehre des Erinnerten im Vordergrund, sondern die Gefühle der Lesenden. Aus diesem Grund wirkten literarische Märtyrer ebenso wie echte. Diese Aufweichung zwischen Realität und Fiktion als funktionale und „bewegende“ Literatur erfasste sowohl Arbeiter als auch Intellektuelle. Der Schuster Hersch Mendel beispielsweise rekapitulierte seine Jugend: „Ich las damals sehr viel belletristische und wissenschaftliche Literatur. Am meisten liebte ich Schriftsteller, die ihre Begabungen in den Dienst des Befreiungskampfes stellten, vor allem die russischen.“ Dem standen gut gebildete Leser wie Viktor Shulman nicht nach, der betont, dass die politischen Schriften Plehanovs eine ebenso große Wirkung auf ihn gehabt hätten wie die Romane Stepnjaks (d. i. der terroristische Revolutionär des 19. Jahrhunderts Sergeij M. Kravčinskij), die Shulmans „revolutionäre Romantik speisten“.56 Entscheidend waren für die Leser erstens die fühlbare Authentizität und zweitens das Identifikationspotenzial, welches die „erinnerten“ Personen boten.57 Diese fiktive Erlebnisliteratur wurde nach der Revolution 1905 immer wichtiger und reichte über frühe Erzählungen oder die fiktive Autobiographie einer Zigarettendreherin bis zum US-amerikanisch-jiddischen Kinderbuch ‚Berele‘, in dem N. Khanin im Stile einer Biographie die fiktive Geschichte eines bundischen Arbeiterkindes erzählt.58 55 Bund-Archives, New York, RG 1400, ME–18, #23, #28. 56 Mendel, Erinnerungen eines jüdischen Revolutionärs, 47; Shulman, „Baginen“, 51. 57 Ich danke Jeffrey Brooks für anregende Gespräche über die Bedeutung dieser einfach verfügbaren Helden für das neue, lesene Russland, vgl. dazu: Jeffrey Brooks, When Russia Learned to Read: Literacy and Popular Literature, 1861–1917 (Evanston, Ill: Northwestern University Press, 2003). 58 Der evig yunger, „Gelebt – gekemft. (Strikhn)“, Der veker, Wilna 6 ( Januar 12, 1906): 2 f.; A. Nin, „Der bleykhe strahl (Fun leben)“, Di hofnung, Wilna 11 (September 4,

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Diese Konstruktion von Identifikationsfiguren baute freilich nicht allein auf Fiktion auf, dazu waren auch konkrete Personen notwendig. Eine Möglichkeit bot hierbei die Kultur des Nachrufes. In den sehr frühen Publikationen des Bund spielten die eigenen Toten noch eine geringe Rolle. Doch sobald der Bund begann, seine eigene Geschichte zu erzählen, zog er auch die Toten für diese heran. Ab 1901 nahmen Nachrufe in der bundischen Presse massiv zu. Die oft jungen Opfer, die entweder aufgrund von Ausschreitungen oder Mangel starben, waren weder Vorväter noch Führer von Bewegungen und Revolutionen, sondern sie waren „Bundisten von nebenan“. Ihre Biographisierung gestaltete sich als ein Texttyp, den man „proletarische Kurzhagiographik“ nennen kann.59 Nachrufe wie die auf den einfachen Bundisten Nathan Leyvik, der 1901 mit 23 Jahren in Südrussland starb, oder aber auch den später berühmt gewordenen Hirsh Lekert, der 1902 in Wilna hingerichtet wurde, boten das Identifikationspotenzial, gerade weil die Benannten keine bekannten Veteranen der Bewegung gewesen waren.60 Und keiner außer Hirsh Lekert schaffte es zu postumer Berühmtheit. Meist waren die jungen Arbeiter-Opfer, die großteils lediglich lokal tätig waren, auch den Lesern unbekannt. Genau dies aber bot die Möglichkeit zur Identifikation mit dem Toten, denn so konnten sie durch Formulierungen wie „unser khaver“, den aufgrund gewisser zu bekämpfender und allgemein bekannter Umstände der Tod ereilt habe, postum erneut in das Gemeinwesen und Gemeingefühl integriert werden. Die Sprache erlaubte es, aus dem fernen Einzelfall ins Erlebte zu abstrahieren und aus dem Tod einen Kampfaufruf für die Leser zu entwickeln. Einen von Susanne Marten-Finnis konstatierten Sprach-Anachronismus des Bund kann man diesen Texten gerade wegen der partiellen Schwülstigkeit keineswegs unterstellen. Vielmehr hatten sie ein ungeheures Aktivierungspotenzial. Die Sprache war kein Überbleibsel einer vergangenen Zeit, sie rief diese vielmehr emotionsgeladen herbei und band die Leser aktiv in den Trauerprozess und die dar1907): 2  f.; S. Gozhansky, „Erinnerungen fun a papirosen-makherke, 3. Vol.“, Unzer tsayt, Warschau 7, 8/9, 10 (1927): 89–95, 8 f., 85–92; N. Khanin, Berele (New York: Kinder-Ring, 1938). 59 Dieser quasi-religiöse Erzählmodus wurde vor allem unter den Sowjets in unbekannte Höhen getrieben, aber keineswegs (wie oft suggeriert) von ihnen erfunden, vgl.: Igal Halfin, From Darkness to Light. Class, �������������������������������������������������� Consciousness, and Salvation in Revolutionary Russia (Pittsburgh, PA: University of Pittsburgh Press, 2000), 118; Corney, Telling October, 41 f. 60 Arbeter shtime 6, (1901): 17. Immer stärker nahmen Nachrufe jedoch erst im ,Der veker‘ ab Ende 1905 und in ,Di hofnung‘ zu. Für Lekert gilt diese anonyme Abstraktionsmöglichkeit nur für die erste Zeit, bevor er zum Helden verschiedener Bewegungen wurde. Anfangs wurde auch im fernen New York empört, aber recht routiniert vom Fall Lekert Notiz genommen, vgl.: „Rundshoy“, Di tsukunft, New York Juli (1902): 343.

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aus ableitbare Wut mit ein.61 Was motivierte, waren nicht Anachronismen, sondern große Erzähltraditionen, die, wie Walter Benjamin bemerkte, sich nicht am Leben, sondern am Tode ausrichten. „Der Tod ist die Sanktion von allem, was der Erzähler berichten kann. Vom Tode hat er seine Autorität geliehen. Mit anderen Worten: es ist die Naturgeschichte, auf welche seine Geschichten zurückverweisen.“62 Der Bund nutzte das Pathos, stemmte sich aber gegen den ultimativen Referenzpunkt, denn er stellte sofort klar, dass seine jungen Toten eben nicht aufgrund einer unveränderlichen Naturgeschichte, sondern aufgrund veränderbarer gesellschaftlicher Umstände aus dem Leben geschieden seien. An diese kurzen Nekrologe anschließend entwickelte sich in den legalen Blättern in Russland zwischen 1905 und 1907 und zeitübergreifend in Übersee die sich immer weiter institutionalisierende Tradition der Todesanzeigen. So wie auch Werbeanzeigen tauchten diese erst sporadisch auf. Die ‚Arbeter shtime‘ beispielsweise verzichtete noch komplett auf Annoncen. Dies konnte sie sich leisten, da sie sich als illegales Blatt über Spenden und Parteigelder und nicht über einen eigenständigen Haushalt finanzierte. Dies unterscheidet sich deutlich von den legalen Blättern egal welchen Kontinents. In diesen wurde nicht nur zum Klassenkampf mobilisiert, sondern es wurden auch die Vorzüge des Konsums angepriesen, sei es durch zahlreiche Anzeigen von Schneidern, Schustern und Ärzten, durch übergroße Anzeigen für ein modernes Gramophon oder durch eine ganzseitige Werbung für Quilmes, eine beliebte argentinische Großbrauerei.63 Periodika in der Emigration waren finanziell auf sich selbst gestellt. Nach sporadischen Anfängen wurden Anzeigen darum immer bedeutender und nahmen in der dritten Folge des ‚Der avangard‘ teilweise über ein Viertel der gesamten und ohnehin bereits kurzen Ausgabe ein. Anzeigen waren aber keineswegs nur kommerziellen Inhalts, sie ermöglichten auch eine indirekte öffentliche Kommunikation unter khaverim, die sich gegenseitig in guten und schlechten Zeiten zur Seite standen. Besonders Traueranzeigen ermöglichten Vergemeinschaftung von unten unter Einbeziehung der Toten. Diese waren Schnittstellen für die Formierung von Netzwerken innerhalb des Bund. Traueranzeigen unterschieden sich also nicht nur in der Länge von offiziellen Sonderseiten oder gar Sonderheften zu Ehren verstorbener Führer. Der qualitativ Unterschied lag darin, dass berühmte Personen immer als für den Bund im Gesamten stehend ge61 Susanne Marten-Finnis bescheinigt dem Bund eine anachronistische und den zionistischen Bewegungen eine adäquatere Sprache. Die Mitgliedermobilisierung im vorrevolutionären Russland spricht jedoch eine andere Sprache. Vgl.: Marten-Finnis, „The Bundist Press“, 25 ff. 62 Walter Benjamin, „Der Erzähler“, in Gesammelte Schriften, hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Bd. II, 2 (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1977), 449 f. 63 Di hofnung, Wilna 1 (1907), S. 4; Der avangard, 2, Nr. 1 (1909): [36].

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würdigt wurden. Unbekannte Individuen hingegen wurden postum durch die Anzeigen zumindest kurzfristig zu öffentlich sichtbaren Bundisten. Dies stützte auch das gefühlte Gemeinwesen des Bund in der Emigration und es wurden Brücken aller Art genutzt, um Mitgefühl und khavershaft zugleich auszudrücken. So hieß es in einer schwarz gerahmten Anzeige im ‚Argentiner veker‘ 1925: „In tiefer Trauer gedenken wir unserer jung gestorbenen Mutter Khay Sarah Kristal. Anstatt Blumen geben wir $ 5 für den Argentiner veker.“64 Die Verstorbene, die mit keinem Wort als „Bundistin“ identifiziert wird, wird hier dadurch geehrt, dass man die lokale bundische Gemeinschaft, die sich z. B. in der Zeitschrift ‚Argentiner veker‘ manifestierte, finanziell stützte. Selbstverständlich wurde in solchen Anzeigen auch emotionale Anteilnahme ausgedrückt, was aber keine Privatsache war, sondern auch zur khavershaft gehörte. So trauerten 1936 im ‚Argentiner lebn‘ in aller Öffentlichkeit in drei verschiedenen Anzeigen der YSFA, die Redaktion und die Administration des ‚Argentiner lebn‘ und einige khaverim nebst Familien mit dem wichtigen Bundisten Yosef Horn über den Tod seiner Mutter. Stilgleich wurde in der Folgenummer von der Abteylung parke tshakabuka, dem Kindergarten des TSVISHO, „mit dem Lehrer Vasershpring wegen des Todes eures Vaters“ mitgefühlt.65 Am deutlichsten tritt die Selbstreferenzialität der Lokalmemorik in einer Anzeige in eben jener Ausgabe ‚Argentiner veker‘ 1925 zutage: „Unser tiefstes Mitgefühl drücken wir unserer lieben Mutter in Warschau zum Tode ihrer Schwester Hanah Mandelmild aus.“ Wie dies in Warschau bekannt werden konnte, ist rätselhaft, denn der ‚Argentiner veker‘ wurde alleinig in Argentinien vertrieben und rezipiert. Die globale Vernetzung unterlag darum der Agency der Mitfühlenden selbst und Gefühle verwiesen immer auch auf die Großassoziation der transnationalen, bundischen Referenzgemeinschaft. In einem ungemein größeren Ausmaß geschah diese stete Vergemeinschaftung sowohl der Toten als auch anhand von Toten in jener Memorik, die sich auf verstorbene Größen des Bund bezog. Wie dargestellt bezog sich die frühe Memorik des Bund nicht auf Personen, sondern auf die Bewegung oder aus ihr hervorgehende, nichtmenschliche bundische Akteure, wie zum Beispiel Zeitschriften. Dass diese als aktive Kampfgenossen verstanden wurden, zeigt am deutlichsten Vladimir Medem, der nach dem Ende des Ersten Weltkrieges keine „Geschichte“ der von ihm gegründeten ‚Lebns-fragn‘ verfasste, sondern deren „Biographie“, die er mit folgenden Worten einleitete: Eine Zeitung kann auch eine Biographie haben. Denn sie ist nicht nur ein Stück Papier, bedeckt mit schwarzen Zeichen. Eine Zeitung ist ein lebendes Wesen. Sie hat ihre Kind64 Argentiner veker 2, Nr. 4? (1925): 8. 65 Argentiner lebn 1, Nr. 9 (1936): 7; Argentiner lebn 1, Nr. 10 (1936): 7.

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heit und ihre reifen Jahre. Sie hat ihr Gesicht und ihren Charakter […] – es liegt ein spezieller Abdruck auf ihrem gesamten ‚Ich‘: jenes geheimnisvolle ‚Etwas‘, mit dem sich ein jedes Individuum, jedes Einzelwesen [yokhed] vom Zweiten unterscheidet.66

Diese Individualisierung einer Zeitschrift, eine wahrhafte Hybridisierung, war notwendig, um ihren Akteurscharakter im Bund zu unterstreichen, und ging mit der zunehmenden Biographisierung der gesamten bundischen Memorik nach dem Ersten Weltkrieg einher. Dies liegt zum einen im Altern der Mitglieder und zum anderen im immer stärker werdenden Verweis auf den Freiheitskampf der Urzeit begründet. Damit verschwanden die unbekannten Opfer des Klassenkampfes aus der Memorik des Bund. Nach dem Ersten Weltkrieg würdigten die Sonderhefte und Sonderseiten die alten, teilweise toten Helden in einem zuvor unbekannten Ausmaß. Auch wurde die Geschichte des Bund als eine Geschichte der Bundisten erzählt, wie am deutlichsten in der dicken und mit Porträts gespickten Sonderausgabe der ‚Naye folkstsaytung‘ zum vierzigjährigen Jubiläum des Bund zu sehen ist. In den Novemberwochen 1937 war das Tagesblatt des polnischen Bund gefüllt mit zahlreichen Erinnerungen, historiographischen Texten, Ankündigungen und Nachberichten des am 13. November beginnenden, mehrtägigen Festkongresses in Warschau, der größten bundischen Versammlung, die je in Osteuropa stattfand.67 In all diesen Texten und Reden stand die eine Geschichte des Bund im Vordergrund. Sobald diese aber konkret wurde, griff man auf Personen und Köpfe zurück. Dies schlug sich in der prachtvollen Festausgabe der ‚Naye folkstsaytung‘ in langen Fotostrecken nieder, in denen die verblichenen Führer des Bund ikonisiert dargestellt wurden.68 Diese Ausgabe war der Höhepunkt einer ab 1922 einsetzenden Tendenz, in der führende Bundisten zunehmend heroisiert wurden.69 Dies lag auch daran, dass nun einige Veteranen aus dem Leben schieden, wie 1923 Vladimir Medem und 1928 Beynish Mikhalevitsh. Sie wurden erst zu ihrem Tod, dann auch regelmäßig an Todestagen mit Texten bedacht, eine Ehre, die bedeutenden Bundisten letztendlich auch an Geburtstagen zuteilwurde.70 Hier unterscheiden sich jedoch die Publikationen des Bund in Osteuropa und in Übersee deutlich. Das bereits benannte Muster der Betonung auf aktivistischen Texten, was die ‚Arbeter shtime‘ vorlebte, wiederholte sich ebenfalls in Zwischenkriegspolen, ganz speziell in der ‚Naye folkstsaytung‘ 66 Medem, „Biografie fun di ‚lebns-fragn‘“, 10. 67 Vgl.: Diverse Ausgaben der ,Naye folkstsaytung‘, zur Feier weiterhin: Pickhan, Gegen den Strom, 170. 68 Naye Folkstsaytung (November 19, 1937). 69 Ein Meilenstein ist: Arbeter Luakh, 3 (Warschau: Farlag Lebns-fragn, 1922). 70 Beide wurde extensiv erinnert, hier sei beispielhaft genannt: Vladimir Kossovski, „Dem ondenk fun Vladimir Medem: Bletlekh zikhroynes“, Unzer tsayt, Warschau 1 (1928): 30–39.

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der 1930er-Jahre. Abgesehen von Sondernummern finden sich darin verhältnismäßig wenige memorische Texte, auch spielen Reflexionen zum Jiddischen oder auch jiddischsprachige Literatur eine geringere Rolle. Auch stellte die Tagespraxis vorerst keinen erinnernswerten Faktor dar. Diese wurde teilweise thematisiert, wie zum Beispiel durch Abdruck von Auszügen der sozialistischen, jüdischen aber nicht bundistischen Revolutionärin Eva Broido, erlangte aber in den Redaktionsplänen des Hauptorgans des polnischen Bund keine Hoheit.71 Gänzlich anders verhielt es sich in der Emigration. ‚Der avangard‘ thematisierte schon in der ersten Ausgabe seine eigene Geschichte, wobei aber die Organisation und nicht die Aktivisten im Vordergrund standen.72 Erst Mitte der zwanziger Jahre entdeckte man erstens die frühe argentinische Zeit als eine eigene Urzeit, die durch die Geschichte einzelner Personen erzählbar war. Bester Ausdruck waren Pinie Walds Erinnerungen, in denen er die Frühgeschichte des Bundismus in Buenos Aires alleinig anhand einzelner, prototypischer Aktivisten erzählt und diese ganz im Stile der proletarischen Kurzhagiographik in heroisierend-tragischen Miniaturen darstellt.73 Erst Mitte der 1930er-Jahre verschob sich dies in Richtung der Geschichte bedeutender Bundisten, wie sich an wenigen aufeinanderfolgenden Heften des ‚Argentiner lebn‘ demonstrieren lässt. In dessen ersten drei Nummern spielte Memorik keine bedeutende Rolle.74 In der vierten Nummer nahm sich der ‚Argentiner lebn‘ jedoch des ersten Todestages des bekannten polnischen Bundisten Khmurner (d. i. Yosef Lestshinsky) an. Verziert war der Beitrag durch ein Porträtfoto, und das, obwohl diese Zeitschriften bislang wohl aus Kostengründen nahezu komplett auf Bebilderungen verzichtet hatten.75 Bereits in der folgenden Nummer 5 schloss man 71 Eva Broido, „Dos sturmishe Lebn fun a revolutsyonern“, Naye Folkstsaytung 35 (Februar 6, 1931) und 36 (Februar 8, 1931); Broidos auf russisch verfassten Erinnerungen fanden weite Verbreitung und erschienen deutsch erstmals als: Eva Broido, Wetterleuchten der Revolution (Berlin: Bücherkreis, 1929). 72 Vald, „Di geshikhte fun di yidishe sotsyal demokratishe arbeyter organisatsye in argentine (avangard), Vol. 1“; Pinie Vald, „Di geshikhte fun di yidishe sotsyal demokratishe arbeyter organisatsye in argentine (avangard), Vol. 2“, Der avangard, Buenos Aires 1, Nr. 2 (September 1908): 21–23. 73 Pinie Vald, Bletlekh [Hojas. Semblanzas de mi ambiente] (Buenos Aires: Yidisher literatn un zshurnalistn fareyn in argentine, 1929). 74 Die einzigen Ausnahmen sind zwei autobiograpische Berichte des Gesandten des TSYSHO Barukh Shefner über das Schulwesen in Polen. Diese haben einen aktuellen Hintergrund, das sich Shefner gerade auf einer viel beachteten Fundraising-Tour durch Argentinien befand. B[arukh] Shefner, „Mayne forn keyn poyln“, Argentiner lebn 1 (1936): 4 f.; B[arukh] Shefner, „Bletlekh und shtoyfim“, Argentiner lebn 3 (1936): 2 f. 75 B. Bigelmeyer, „A kval fun ibergegebnkeyt: Tsu Khmurners ershtn yortsayt“, Argentiner lebn 4 (1936): 5; dieser bedeutende bundische Denker und Übersetzer sozia-

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wieder daran an, nun jedoch nicht mit einem Text zu einem fernen Bundisten, sondern zum Anlass des anstehenden 70. Geburtstages des argentinischen khaver Yitskhok Blind, erneut mit einer Photographie verziert, wobei noch nicht einmal der Festtag selbst, sondern allein die Ankündigung eines öffentlichen Banketts Hintergrund des Artikels war.76 Solche personenbezogenen Ehrveranstaltungen wurden auch in Argentinien immer wichtigere Modi der bundischen Vergemeinschaftung. Dies verstärkte sich beim Besuch des TSYSHO-Gesandten Barukh Shefner aus Polen. Wie schon zuvor Benjamin Tabatshinski befand sich dieser auf einer Fundraising-Tour für das polnische Schulnetzwerk.77 Diesem Besuch und der erneuten Ankündigung der Feier zu Ehren Blinds wurde in der Ausgabe 6 sehr viel Platz eingeräumt, ungefähr so viel wie in der folgenden Ausgabe den ausführlicheren Berichten zur Lage des Bürgerkrieges in Spanien.78 In Nummer 7, die dem Bankett zu Ehren Blinds nachfolgte, dominierte dieser Jubeltag mit mehreren bebilderten Beiträgen. Dies nahm gar deutlich mehr Raum ein als ein längerer Text zur Feier des 39-jährigen Bestehens des Bund – welches selbstverständlich auch anhand einer personalisierten Geschichte gefeiert wurde.79 Diese Schwerpunktsetzung war wohl zum Gefallen der Leser und man hielt daran fest. Am eindrücklichsten geschah dies knapp ein Jahr später, als ein gesamtes Heft allein dem 50-jährigen Geburtstag Pinie Walds gewidmet war. Darin finden sich zahlreiche Photographien, Anzeigen, Würdigungstexte und Grußbotschaften aus aller bundischer Welt, aber keine Zeile zu einem anderen Thema finden.80 Dies wurde nur durch die direkt folgende, im Seitenumfang verdoppelte Ausgabe zum 40-jährigen Jubiläum des Bund übertroffen, welches 1937 ebenso raumfüllend und ebenso personengebunden zelebriert wurde.81

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listischer Klassiker ins Jiddische erfuhr später durch die New Yorker Bundisten seine besondere Ehrung in: Khmurner bukh (New York: Unzer tsayt, 1958). B., „Kh’ Y. Blind 70 yor alt“, Argentiner lebn 5 (1936): 7. „Der hertsiker gesegnungs-banket mit B. Shefnern in medem bibliotek baym yidishsotsyalistishn farband“, Argentiner lebn 6 (1936): 7; „Shabes dem 24-ten oktober, kh’ Yitzkhok Blinds 70-yoriker yubiley“, Argentiner lebn 6 (1936): 7. Pyetro Geni, „Di rol fun der internatsyonaler arbetershaft in der shpanisher revolutsye“, Argentiner lebn 7 (1936): 2. Yosef Horn, „Fun Bontshe Sheyg biz Hirsh Lekert. Tsum 39-tn yubiley fun ‚Bund‘“, Argentiner lebn 7 (1936): 3; Zu Blind z. B.: B. Bigelmeyer, „52 yor in der sotsyalistisher bavegung. Tsum 70-yoriken yubiley fun kh. Y. Blind“, Argentiner lebn 7 (1936): 4 sowie weitere Beiträge auf den Seiten 5–7, darunter vor allem auch stattliche 16 Grußanzeigen verschiedener Institutionen und Personen , S. 7. Argentiner lebn 15 (11. September 1937). Argentiner lebn 16 (Oktober 1937): 1–16.

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Auch die Geschichte des osteuropäischen Bund wurde nun personalisiert dargestellt. Als Bote dieser neuen Zeit der Erinnerung thematisierte der ‚Argentiner veker‘ die russländische Urzeit, indem der Bundist Zelenski autobiographisch seine Erfahrungen im Streit zwischen Bund und SDAPR schilderte.82 Dem ‚Argentiner veker‘ war jedoch kein langes Leben beschert und so kam den Bundisten in Argentinien eine wichtige Plattform zur Artikulation ihrer Geschichtssicht abhanden. Da dem der wachsende Hunger nach Erinnerung entgegenstand, reagierte man stiltreu: Obwohl die Bundisten der 1920er-Jahre in Argentinien kein weiteres bundisches Periodikum etablieren konnten, erschien 1928 anlässlich des Todes von Beynish Mikhalevitsh ein Bulletin, was sich, ebenso wie 1907 in New York die ‚Rotshester tsaytung‘, das Antlitz eines Periodikums gab inkl. Datierung und Nummerierung der Ausgabe, per Untertitel aber explizit eine Sondernummer „zum Gedenken an den verstorbenen khaver Beynish Mikhalevitsh“ war. Darin wurde der Verstorbene nicht nur biographisiert, daneben wurden auch Auszüge aus der Grabrede des Führers des polnischen Bund Henryk Erlich und zahlreiche Kondolenzanzeigen argentinischer Bundisten gestellt. Dieses Heft symbolisierte damit die transnationale Vernetzung per Anteilnahme. Es verdeutlicht, wie stark der Bund auch zu einer transnationalen Gefühlsgemeinschaft geworden war.83 In den USA gab es ähnliche Tendenzen, jedoch mit dem Unterschied, dass die früher und noch stärker einsetzende Personalisierung der bundischen Geschichte die Geschichte der Bundisten in den USA ausblendete. Wichtige Akteure des frühen Bund wie Abraham Caspe oder Israel Bergman wurden nicht kommemoriert, osteuropäische Führer des Bund hingegen weit über den engen Kreis der Bundisten hinaus. Selbst Vladimir Medems berühmte Autobiographie erschien zuerst im New Yorker ‚Forverts‘ in Serie.84 Im Gesamten zeigt sich in der personenbezogenen Geschichte des Bund das, was Thomas Goetz als die „Poetik des Nachrufes“ bezeichnete: Die sprachlich-symbolische Praxis der Nekrologie ist als paradigmatischer Kern einer Kulturarbeit zu verstehen, die beim Tod eines Menschen Bedeutung und Sinn stiftet, indem sie dessen Identität über den Tod hinaus sichert, die Gemeinschaft neu formiert,

82 Zelenski, „A bisl zikhroynes“, Argentiner veker 2 (1924): 4. 83 Byuletin tsum shalushim fun farshtorbenem khaver Beynish Mikhalevitsh 1, Nr. 1 (November 1928) IWO, Buenos Aires, Fondo Escuela Sholem Aleykhem shulbibliotek. 84 Siehe hierzu: Wolff, „Heimat und Freiheit bei den Bundisten Vladimir Medem und Hersch Mendel“.

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existentielle Ängste lindert und so das individuelle und gemeinschaftliche Weiterleben stabilisieren hilft.85

Goetz bezog dies in erster Linie auf Personen der Öffentlichkeit und bemängelt einen allgemeinen Quellenmangel bezogen auf Nachrufe für jene Personen, die nicht an die Öffentlichkeit einer Nation angebunden sind.86 Das ist mit einem Blick auf die vielen Nachrufe und die personengebundene Memorik im Bund dahin gehend zu erweitern, dass es genau die von ihm benannte symbolisch vergemeinschaftende Funktion war, die öffentlichen Erinnerungen an weniger bedeutende Bundisten mit kollektivem Sinn ausstattete. Zudem ermöglichten Nachrufe in großer Zahl transnationale Kontakte. Somit sind in dieser bundischen Poetik des Nachrufes drei Felder zu unterscheiden: erstens das der „proletarischen Kurzhagiographik“, die vor allem in aktivistischen und illegalen Kampfkontexten zum Tragen kam, zweitens die zahlreichen persönlichen und empathischen Bekundungen, ob in Texten oder Anzeigen, die eine Vergemeinschaftung abseits des Kampfzentrums per Mitgefühl ermöglichten, und drittens das langsam wachsende, aber dann zum Hauptgegenstand bundischer Memorik werdende Erinnern an die personellen Größen des Bund – deren Nachrufe als Träger der Vergangenheit des Bund zu einer Geschichte des Bund durch seine Mitglieder führten. Diese Lesart, dass jeder Bundist auch Träger eines Teils der Geschichte des Bund war, steht damit im scharfen Kontrast zur Konstruktion eines Freiheitskämpfers im von Figes und Kolonistkii beschriebenen Stile. Vermutlich lag darin auch ein Hauptunterschied zwischen kommunistischer und sozialistischer Erinnerungspolitik. Für den Bund war Erinnerung eine Form von Aktivismus und eben keine Inszenierung zur Stützung der Machthabenden.87 Tote waren in erster Linie Tote, die durch den steten Wiederaufruf im bundischen aktivistischen Komplex resozialisiert wurden und mit ihrer Anwesenheit den Bund weiter auf seinem Weg begleiteten. In Bruno Latours Begriffen waren Erinnerte damit einerseits Objekte des Handelns, also des Erinnerns, und zugleich als Verkörperungen sozialisierender Vergangenheiten auch Akteure des Bund. Sie wurden zu Quasi-Objekten, „zu Hybriden, Mischwesen aus Natur und Gesellschaft, aus Sprachlichem und Realem. Es sind jene Dinge, durch die das soziale Band geknüpft und stabilisiert wird.“88 Und im Bund war dieses Soziale ein Netz, keine Machtpyramide. 85 Thomas Goetz, Poetik des Nachrufs. Zur Kultur der Nekrologie und zur Nachrufszene auf dem Theater (Wien, Köln, Weimar: Böhlau, 2008), 12. 86 Ebd., 15. 87 Figes und Kolonitskii, Interpreting the Russian Revolution. 88 Roßler, „Kleine Gallerie neuer Dingbegriffe“.

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4. Zentrum: Festtage und Gedenkfeiern

Mit der Biographisierung einher ging die Betonung einzelner Festtage und die Publikation passender Sondernummern. Das Rollenmodell war die benannte Nummer der ‚Di hofnung‘ von 1907. Wirklich populär wurde dies jedoch erst nach der Oktoberrevolution. Dies hatte seinen Grund, denn nun stritten verschiedene marxistische Bewegungen um die Interpretation der Bewegungsvergangenheit. Der Bund erkannte das Mobilisierungspotenzial solcher Festtage und Festnummern erst recht spät. Eine dicke Ausgabe des Arbeter luakh feierte 1922 in Polen offiziell das 25-jährige Jubiläum der gesamten jiddischen Arbeiterbewegung. Erst beim genaueren Hinschauen entpuppt sich dies als eine Geschichte des 25-jährigen Bund. Das Jahr 1922 war aber eine Wegmarke in der jüdisch-sozialistischen Memorik. In ihm fielen das 5-jährige Jubiläum des Revolutionsjahres 1917 zusammen mit dem 25. Jahrestag des Bund. Die Moskauer Kulturaktivisten erkannten die darin liegenden Chancen vor den Bundisten. Festivitäten waren in der jungen Sowjetunion bereits von größter Bedeutung. Sie zogen einerseits die Aufmerksamkeit der obersten Stellen auf sich, was andererseits deren Organisation aber auch bürokratisierte. Im Jahre 1922 ging vom Zentralbüro der jüdischen Sektion der KP (Evsekcija) eine Initiative aus, den Feiertag des Bund für eigene Zwecke zu nutzen. Man beschloss auf der Sitzung am 22. Juli 1922, einen Sammelband „zur Gewinnung alter Parteimitglieder mittels einer Sammlung zum 25. Jahresjubiläum des Bund“ herauszugeben.89 Gehorsamsbewusst bat man die Agitpropabteilung des ZK, ein Redaktionskollegium zusammenzustellen, und schlug seinerseits die Ex-Bundisten Esther Frumkin und Moshe Rafes als Kenner der Materie vor.90 Doch so einfach war die Anwerbung alter Mitglieder durch Erinnerungen und Reflexionen nicht. Die höheren Staatsstellen misstrauten möglichen Ergebnissen und sahen sich darum genötigt, ihrerseits die Tendenz des zu erstellenden Buches festzulegen. Das Sekretariat der Kommunistischen Partei RKP (b) lehnte am 9. August 1922 das Anliegen des ZB der Evsekcija ab, was am 11. August 1922 von der Machtzentrale des ZK der RKP (b) bestätigt wurde. Stattdessen wurde beschlossen, der Agitpropabteilung des ZK und dem Zentralbüro der Evsekcija vorzuschlagen, einen „Sammelband mit kritischen Artikeln über den ‚Bund‘ herauszugeben, ohne ihn an das 25-jährige Jubiläum zu binden.“91 Diese kleine Verschiebung des Inhaltes und des Datums brachten jedoch den Sekretär des Zentralbüros der Evsekcija A.

89 Zu den anfänglichen Problemen, jiddische Kulturarbeiter auf die Seite der Bolschewiki zu ziehen, siehe: Moss, Jewish Renaissance in the Russian Revolution, v. a. 26–33. 90 RGASPI, Fond 17, opis’ 84, delo 165, l. 51. 91 RGASPI, Fond 17, opis’ 84, delo 165, l. 50.

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Merežin auf und er erhob in einem Schreiben direkt an den Sekretär des ZK der RKP (b) Valerian Kujbyšev am 14. August 1922 Einspruch: Die Formulierung des Beschlusses des Orgbüro vom 9/VIII über den Sammelband zum 25-jährigen Jubiläum des Bundes lässt den Eindruck entstehen, als ob das Zentralbüro einen Jubelband vorgeschlagen hätte und das Orgbüro entschieden hätte, dass ein Sammelband mit kritischen Artikeln nötig sei. Dabei wird schon aus dem Beschluss des Zentralbüros vom 2. Juli über die Heranziehung alter Parteimitglieder92 deutlich, dass auch das Zentralbüro der Evsekcija von einem Sammelband kritischer Artikel ausgeht. Dies wurde auch von Gen. Merežin in seinem Wortbeitrag auf der Orgbüro-Sitzung vom 9/ VIII unterstrichen. Er wies auch darauf hin, dass das Zentralbüro den Artikel von Gen. STALIN ‚Marxismus und nationale Frage‘, der die Position des Bund scharf kritisiert, gegenwärtig in jüdischer Sprache herausgebe. Der ganze Unterschied zwischen dem, was das Zentralbüro vorgeschlagen hatte, und dem, was das Orgbüro beschlossen hat, besteht darin, dass das Zentralbüro vorgeschlagen hatte, den Sammelband zum Tag des 25-jährigen Jubiläums des Bund herauszugeben, während das Orgbüro beschlossen hat, den Sammelband nicht an das 25-Jährige zu koppeln.93

1922 befand sich der Bund bereits in scharfer Opposition zu den Bolschewiki, weswegen der Vorwurf eines Jubelbandes die Mitglieder des Zentralbüros durchaus gefährlich werden konnte. Merežin verteidigte weniger das Projekt, sondern vielmehr sich selbst. Da also das Zentralbüro nie vorgehabt habe, den Bund zu bejubeln, bat es nach langen Diskussionen in einer angehängten Beschlussvorlage, den Sammelband schlicht vom 25-jährigen Jubiläum des Bund zu entkoppeln.94 Anhand dieses Vorganges wird nicht nur deutlich, welche Hoffnungen und Sorgen in der frühen Sowjetunion mit einer Historisierung des Bund durch ehemalige Bundisten verbunden waren, sondern auch die auf die Initiatoren wartenden Stolperfallen. In den Folgejahren steigerte sich das Misstrauen gegen diese jüdischen Aktivisten weiter, was man vor allem an den Lebensläufen der beiden Betrauten, Moshe Rafes und Esther Frumkin, ablesen kann. Sie stehen sowohl für die erfolgreiche Rekrutierung alter Bundisten für die Sache der Bolschewiki als auch für die damit verbundene Tragik. Esther Frumkin war nicht nur eine Koryphäe des Bund – ihr war die Ehre vergönnt, als eine der ersten Bundistinnen persönliche Erinnerungen veröffentlichen

92 Gemeint: RGASPI, Fond 17, opis’ 84, delo 165, l. 51. 93 RGASPI, Fond 17, opis’ 84, delo 165, l. 49. 94 RGASPI, Fond 17, opis’ 84, delo 165, l. 49.

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zu können95 –, sondern auch Teilnehmerin an der ersten und wegweisenden Jiddischen Sprachkonferenz 1908 in Czernowitz. Dort stellte sie sich gegen jene, die in der jüdischen Bevölkerung eine Nation sahen. Sie forderte vielmehr, die bundische Politik der doikayt auch auf dem Felde der jiddischen Literatur umzusetzen.96 Sie ging nach 1917, ebenso wie etwas später Moshe Rafes, den „linken“ Weg, suchte aber einen Ausgleich zwischen beiden Parteien zu finden. Sie war einerseits bereits 1917 in den Kombund eingetreten, beharrte aber noch 1921 darauf, dass es so lange einen Bund geben würde, wie es ein jüdisches Proletariat gäbe.97 Dennoch wurde sie wie Rafes eine führende Figur der Evsekcija. Rafes seinerseits kann als erfolgreicher Fall der Rekrutierung gesehen werden. Als alter Bundist und Mitglied des Zentralkomitees zwischen 1912 und 1919 opponierte er zuerst, auch sehr zur Verwunderung Hersch Mendels, gegen die Oktoberrevolution und kämpfte als „Führer des ‚Bund‘ in Südrussland“ in der Ukraine gar gegen die Bolschewiki.98 Doch er konnte gewonnen werden und spielte nach seinem Eintritt in die RKP (b) 1919 eine bedeutende Rolle in der Rekrutierung alter Parteimitglieder.99 Dies alles schützte jedoch vor Terror nicht: An der Seite Trotzkis wurde Rafes eine wichtige Figur der Komintern und stellvertretender Vorsitzender der Agitprop, fiel dann aber dem Aufstieg Stalins zum Opfer. Rafes wurde 1927 aus der Partei ausgeschlossen, zwei Jahre später inhaftiert und verstarb 1942 in Haft, nachdem ihm 1937 in klassischer Art der Prozess gemacht worden war.100 Kaum anders erging es Esther Frumkin. Ihr wurde als eine der angeblich „unreconstructed Bundists“ Anfang 1938 der Prozess gemacht. Sie verstarb in einem Internierungslager im kasachischen Karaganda.101 Wie viele andere ehemalige Bundisten wurden diese beiden 95 Die ersten davon erschienen in einem sehr weit links stehenden Blatt des Bund in dem sie in Folge weiterhin veröffentlichte: Esther [Frumkin], „Fun mayn togbkh“, Unzer shtime, Wilna 2, 3 (1918): 2, 2. 96 ERF [Esther Frumkin], „Di ershte yidishe sprakh-konferents“, Di naye tsayt 4: 89–104. 97 Roni Gechtman, „Lifshits, Khaye Malke“, in YIVO Encyclopedia of Jews in Eastern Europe, http://www.yivoencyclopedia.org/article.aspx/Lifshits_Khaye_Malke (12. Juni 2012). 98 Gelbard, Der jüdischer Arbeiterbund im Revolutionsjahr 1917, 108; John Riddell, Workers of the World and Oppressed Peoples Unite! Proceedings and Documents of the Second Kongress, Vol. 2 (New York: Pathfinder, 1991), 1086. 99 Siehe v. a.: Moisej G. Rafes, Dva goda revoljucii na Ukraine: ėvoljucija i raskol Bunda (Moskva: Gosudarstvennoe Izdatel’stvo, 1920). 100 POLIN 17 (2004): 202; Riddell, Workers of the World and Oppressed Peoples Unite!, Vol. 2, 1086. 101 ��������������������������������������������������������������������������� Tamar Kaplan Appel, „Esther Frumkin“, in Jewish Women. A Comprehensive Historical Encyclopedia ( Jewish Women’s Archive, 2005), jwa.org/encyclopedia/article/ frumkin-esther; Solomon M. Schwarz, The Jews in the Soviet Union (Syracuse, N.Y.: Syracuse University Press, 1951), 128.

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Vergemeinschaftung durch kollektives Erinnern

einerseits tragischerweise vom stalinistischen Regime getötet und andererseits aufgrund ihres Gangs zum Kommunismus von der Memorik des Bund ausgeschlossen.102 1922 sah alles jedoch anders aus. Gerade Ex-Bundisten spielten aufgrund ihrer erhofften Glaubwürdigkeit eine aktive Rolle in der bolschewikischen Rekrutierungspolitik. Sehr wahrscheinlich ging aus dieser Initiative des Zentralbüros Rafes‘ – noch heute großteils unkritisch und häufig zitiertes – Buch Očerki po istorii „Bunda“ hervor, welches kurz nach, aber eben nicht mehr zum Jubiläum des Bund erschien.103 Auch Frumkins heute nahezu vergessenes Buch zum großen Arbeitermärtyrer des Bund Hirsh Lekert ist in diesem Zusammenhang zu sehen.104 Im Jahre seines 25-jährigen Jubiläums war der Bund in Polen noch stark mit dem Wiederaufbau beschäftigt. Der Riss der Oktoberrevolution und vor allem der zahlreichen Seitenwechsel seiner Aktivisten ging tief durch die Organisationsstruktur. Der Feiertag wurde genutzt, um sich einer gemeinsamen Vergangenheit zu versichern und um daraus Zukunftsperspektiven für die Arbeit im unabhängigen Polen entwickeln zu können. Das Banner des Bund jedoch einte nur mäßig, was auch ein Grund ist, warum sich die benannte Ausgabe des Arbeter luakh nominell der gesamten jüdischen Arbeiterbewegung widmete. Auch in Übersee hatten sich viele bundische Gruppen gespalten. In New York organisierte das lokale Bund-Komitee eine Jubelfeier, die jedoch relativ klein ausfiel und die auch keinen großen Niederschlag in den Akten verursachte. Dennoch war der Anstoß geschehen. Memorische Veranstaltungen nahmen in den 1920erJahren parallel zum Wiedererstarken des Bund zu. Dies erreichte zum 30-jährigen Jubiläum des Bund 1927 einen ersten Höhepunkt, sicher auch motiviert durch das Umschreiben der Bewegungsgeschichte durch die kommunistische Partei. Darum beging man dann das 30-jährige Jubiläum des Bund gezielt als eine Geschichte des Bund sowohl auf Treffen als auch in einzelnen Publikationen.105 Ein solcher Feiertag eignete sich auch wunderbar, um Präsenzmassen und kommunikative Massen zueinanderzuführen, was mit einer Umdeutung der historischen Präsenz des Bund einherging. Wurde 1922 der Bund noch als Bestandteil der jüdischen Arbeiterbewegung des Zarenreichs gesehen. 1927 hatte sich dies umgekehrt und er stand für die 102 Obwohl sie unbestritten überaus bedeutende Bundisten waren, finden sich in den Doyres bundistn keine Einträge zu ihnen. 103 Rafes, Očerki po istorii „Bunda“. 104 [Malke (Lifshitz)] Frumkin, Hrsg., Hirsh Lekert (Moskau: Farlag fun Ts.K. rusl. komunistishn yugnt-farband, 1922). 105 Bund-Archives, New York, RG 1400, ME–14B, #7, 30 yor bund, 1897–1927 (Riga: Bund in letland, 1927); auch wurde er Gegenstand kritischer Reflexionen (ehemaliger) Weggenossen, so z. B.: Shakna Epshteyn, Der bund.

Von agitierender Publizistik zu transnationaler Memorik

171

jüdische Arbeiterbewegung. In gewissem Maße kehrte mit dem Erfolg in Polen also auch das Selbstbewusstsein des Zarenreiches zurück. Dies wirkte bis nach Übersee. In New York drückte sich der Erfolg schon in den Orten und den Feierlichkeiten und den eingegangenen Assoziationen aus: das 30-Jährige des Bund, organisiert vom YSF, dem Arbeter-ring, den United Hebrew Trades, der ILGWU, der Capmakers Joint Convention, der Forverts Association und letztendlich auch der New Yorker Organisatsye fun bund, wurde nicht mehr allein im Forverts-Building auf der Lower East Side begangen, wo sonst die meisten bundischen Veranstaltungen abgehalten wurden, sondern im Mecca Center, dem späteren New York City Center, was die größten Veranstaltungssäle der Stadt anbot.106 Dies war erfolgreich, auch 1937 griff ein speziell zu diesem Zweck gegründetes Organisationskomitee auf diesen Veranstaltungspalast zurück. Das dort gefeierte Fest diente nicht nur der bundischen Vergemeinschaftung in New York, es spülte auch Geld in die Kassen des New Yorker Bund.107 Auch in Argentinien stand die Vergemeinschaftung im Vordergrund. Die khaverim organisierten gar eine Volksakademie zur Geschichte des Bund.108 Jubelausgaben bundischer Presse erschienen in der ganzen Diaspora, von der benannten Festausgabe der ‚Naye folkstsaytung‘ über Sonderhefte in den USA bis nach Uruguay.109 In New York stach dabei ein kleines Heft voller Grußbotschaften heraus, welches zum einen den Bund in Osteuropa feierte, erstmals aber zusätzlich zu Spenden für den amerikanischen Bund selbst aufrief.110 Der Erfolg der memorischen Veranstaltungen hatte auch in den USA zu einem stärkeren Selbstbewusstsein geführt. Federführend war dabei der 1923 gegründete New Yorker Klub des Bund. Auf der Basis der erworbenen Mittel und der in den Klub einbezogenen Autoren gab dieser im Folgejahr 1938 ein Zamlheft heraus, was diesen Klub zum ersten Mal historisierte – und dabei natürlich vor allem seine führenden Gestalten.111 Dieses Heft markierte einen Paradigmenwechsel, denn erstmals erkannte sich eine amerikanische Bund106 Bund-Archives, New York, RG 1400, ME–14B, #7, ##[Programmheft] Der 30 yoriger yubileum fun ,bund‘. 107 Bund 40 yor. Barikht, bashlus, Bund-Archives, New York, RG 1400, ME–18, #13; detaillierte Rechnungen in: Ebd., ME–18, #11. 108 Bundishe grupe in Montevideo, Hrsg., „Entusyastish durckhgefirt di akademye tsum 40-yorikn yuvl fun ‚bund‘ in B. Ayres“, in 40 yor „Bund“ (Montevideo: Bundishe grupe in Montevideo, 1937), 54 Bund-Archives, New York, RG 1400, ME–18, #151. 109 Naye folkstsaytung (19. November 1937); Bund-Archives, New York, RG 1400, ME–18, #151, ## 40 yor bund (Montevideo: Montevideo Gruppe). 110 Bund-Archives, New York, RG 1400, ME14B, #4, ##„40 yor ,bund‘“ (New York, 1937). 111 Bundisher Klub in Nyu York, Hrsg., Zamlheft fun bundishn klub in Nyu York. ������ Aroysgegebn lekhoved dem 15 yoriken yubiley (New York: Bundisher Klub in Nyu York,

172

Vergemeinschaftung durch kollektives Erinnern

Gruppe als historischer Akteur. Wir können nur raten, wie sich dies hätte weiterentwickeln können, denn der deutsche Überfall auf Polen änderte kurz danach sämtliche Konstellationen. Eine große Zahl bundistischer Flüchtlinge fand nach New York und einige federführende Gestalten, die für eine Fundraising-Reise gekommen waren verblieben in der Stadt. Diese bauten auf dem Bund-Klub auf, ihn gleichzeitig aber komplett um. Damit ist festzuhalten: Eine Entwicklung hin zu einer Festtagsmemorik nahm seinen Ausgangspunkt schon 1907, entwickelte sich aber bis nach der Oktoberrevolution nur zögerlich. Nach zarten Versuchen 1922 wurden ab 1927 erfolgreiche Wege beschritten, was im Herbst 1937 weltweit in zahlreichen Versammlungen und Sonderheften gipfelte. Dies erlaubte dann einen Rückbezug auf den Bund vor Ort, was die memorische Kultur des Bund nur weiter verfeinerte. Zwischen der 30- und der 40-Jahrfeier institutionalisierte sich eine fast komplett auf die eigene Geschichte bezogene Bewegungsmemorik, die aufgrund der Bindekraft bedeutender Biographien Brücken über Grenzen und Generationen hinweg schlug und so die transnationale bundische Identität mit Stolz und Ehrgefühl untermauerte.112 5. Zentrum: Memorik als Höhepunkt – Die New Yorker Unzer tsayt ab 1941

Die am längsten bestehende Zeitschrift des Bund erschien ab 1941 in New York und wurde in Bezugnahme auf ihre Vorgänger in Osteuropa ‚Unzer tsayt‘ genannt. Doch in welcher Zeitlichkeit kam das „Wir“ der Bundisten zum Ausdruck? Bezog sich der Titel „Unsere Zeit“ auf die gemeinsam in Osteuropa erfahrene Vergangenheit, auf die Gegenwart in der amerikanischen Emigration oder gar auf die angestrebte, noch zu erkämpfende utopische Zeit der Brüderlichkeit und Klassenlosigkeit? Man mag es bereits ahnen: Selbstverständlich überlagerten sich in ‚Unzer tsayt‘ all diese Ebenen, doch nahm die Vergangenheit, im Gegensatz zu den zuvor dargestellten argentinischen Blättern, zunehmend Raum ein (Tafel 11, S. 176). Diese Vergangenheit verband Blatt und Leser. Zuvor war keine der in Übersee entstandenen Zeitschriften eine „Parteipublikation“ gewesen, weder die bundistischen noch die sekundärbundistischen unterlagen der direkten Steuerung des Zentralkomitees. Dennoch aber standen sie für die Bewegung, sie waren oft Sprachrohre offizieller lokaler Gruppen und damit „Leserzeitungen“, in denen Textproduktion 1938); „Brief AR and Blumin“, Februar 16, 1938, RG 1400, ME–18, #13, BundArchives, New York. Dazu siehe: Kap. IV, 2 [Sekundärer Bundismus]. 112 Dabei erschienen nicht nur weltweit Publikationen zum Thema, sondern wurden auch Festbankette usw. zum Zwecke lokaler Vergemeinschaftung zu Ehren des Bund veranstaltet. Ausführlich dokumentiert in mehreren Beständen des Bund-Archives: BundArchives, New York, RG 1400, ME–14B, #4; ME–18, #11, #13, #14

Von agitierender Publizistik zu transnationaler Memorik

173

und Rezeption eng verschmolzen. Autoren, Leser und Dachorganisationen traten zusammen als ein Akteur-Netzwerk auf, in dessen Brennpunkt das Ereignis „Zeitschrift“ stand. Der Sekretär der bundistischen Vereinigungen des Bund in Amerika, Israel Bergman, lag falsch, als er das Scheitern des ‚Der kemfer‘ in den USA 1905 mit der literarischen Schwäche des Blatts begründete. Aufstiege und Abstiege jeweiliger Periodika erklären sich aus deren sozialer Konstellation und nicht aus der Zeitschrift allein.113 Aus diesem Grund ging es auch der ‚Unzer tsayt‘ anders als dem ‚Kemfer‘. Sie wurde 1941 erstens unter dem Einfluss der weltkriegsbedingten Einwanderung und zweitens im Wissen um den in den Untergrund der Ghettos gezwungenen Bund in Polen gegründet. Dieser hatte seine Führungsrolle verloren, zudem verstarben in eben diesem Jahre mit Noakh Portnoy und Vladimir Kossovski zwei integrative Größen. Nur ein Jahr später wurden die Führer des polnischen Bund������������ , Henryk Erlich und Viktor Alter, in stalinschen Zellen ermordet und im Folgejahr 1943 übergab sich der Gesandte des Bund bei der polnischen Exilregierung in London, Artur Zigelboym, aus Protest und Verzweiflung den Flammen.114 In wenigen Jahren war der Bund führungslos geworden. Zudem konnte er seine bisherige Qualität nicht mehr nutzen, die darin bestanden hatte, aus dem Aktivistenreservoir in Osteuropa neue Führungskräfte emporsteigen zu lassen, wie er zum Beispiel 1898 in der Zubatovščina bewiesen hatte. Damals landete nahezu die gesamte Führungsriege des Bund innerhalb eines Jahres hinter Gittern. Der Bund machte jedoch seinem Namen als Arbeiterbund alle Ehre und wurde von den bereitstehenden Arbeitern „übernommen“.115 Diese Rekrutierungsbasis stand ab dem deutschen Überfall auf Polen nicht mehr zur Verfügung, vielmehr musste der Bund in Polen von außen im Kampf gegen den Nationalsozialismus unterstützt werden. Was schon vor dem Weltkrieg begann, wurde damit intensiviert: Das neue Zentrum des Handelns musste sich dem Lebensort anpassen, denn nur hier war das Akteur-Netzwerk des Bund zu verorten. Da doikayt hieß, am Lebensort aktiv zu sein, wurde New York immer bedeutender. Zwar gestand sich der Bund diese Zentrumsverlagerung erst 1947 ein, als er sich in Brüssel als International Jewish Labor Bund (kurz: World 113 Bund-Archives, New York, RG 1400, ME–18, #4, Referat (1906): 10. 114 Gertrud Pickhan, „Das NKVD-Dossier über Henryk Erlich und Wiktor Alter“, Berliner Jahrbuch für Osteuropäische Geschichte 2 (1994): 155–186; Zigelboym-bukh (Nyu York: Unser tsayt, 1947); Artur Zigelboym, „Tsum gevisn fon der velt“, in Historisher Zamlbukh: Materialn un dokumentn tsutshayer tsu der geshikhte fun Algemeyner Yidisher Arbeter-Bund (Varshe: Ringen, 1948), 87–91. 115 Vladimir Kossovski, „Zubatov ‚likvidirt dem bund‘“, in Arkadi: Zamlbukh tsum ondenk fun Arkadi Kremer (New York: Unzer tsayt, 1942), 175–201; Solomon Shvarts, „Vegn der ‚zubatovshine‘ in Minsk: An entfer tsu Y. Sh. Herts“, Unzer Tsayt 1–2 (1968): 26–32.

174

Vergemeinschaftung durch kollektives Erinnern

Bund) neu gründete, de facto aber wurde dieser Weg mit der Gründung der ‚Unzer tsayt‘ 1941 beschritten.116 Darum schrieb der frisch in den USA angekommene Noakh Portnoy in der ersten Ausgabe der ‚Unzer tsayt‘ in fast schon entschuldigendem Ton, dass dieses Blatt ein Ausdruck davon sei, dass die sozialistischen Parteien trotz des gemeinsamen Kampfes gegen den „Faschismus und Hitlerismus“ ihre „Selbständigkeit behalten müssen“. Man müsse den bekannten Weg fortsetzen, denn es ist finster heute in Polen, die hitlerische Bestie zeigt sich an der jüdischen Bevölkerung von ihrer grausam schamlosen Seite. Die bittere Wirklichkeit des heutigen Tages verstellt uns aber nicht den Blick auf die leuchtenden Perspektiven auf die Zukunft […] Wir in unserem Land, genauso wie die arbeitenden Massen in der ganzen Welt, werden froh den Kampf für unsere Befreiung fortsetzen, für eine neue gesellschaftliche Ordnung, für den Sozialismus.117

Und um dies tun zu können, war Erinnern von entscheidender Bedeutung, wie nicht nur der Begriff „fortsetzen“ andeutet, sondern auch in vielen Texten über „Helden und Märtyrer“ klar wird, die von der ersten Nummer an in ‚Unzer tsayt‘ erschienen. Mit dieser Taktik war die ‚Unzer tsayt‘ erfolgreich und konnte sich trotz des zuvorigen Scheiterns bundischer Periodika in den USA nun aus dem Stand als das neue bundische Leitmedium etablieren. Diese Rolle hatte sie bis zu ihrem Ende 2002 inne. Trotz ihrer Führungsrolle war die ‚Unzer tsayt‘ kein reines Steuerungsinstrument von oben, sondern reflektierte stark die Bedürfnisse der Leser. Beispielsweise verstarben Ende des Jahres 1941 die führenden Bundisten Noakh Portnoy und Vladimir Kossovski, die dem Bund seit den Gründungsjahren menschlich und theoretisch Profil verliehen hatten. In der ‚Unzer tsayt‘ wurden Noakh Portnoy in einer Sonderausgabe mit großem Porträt auf der Titelseite und vielen Texten in der Nummer 9 im Oktober und ebenso Kossovski in der folgenden Nummer 10 im November gewürdigt. Scheinbar fanden diese Ausgaben jedoch nicht den Weg nach Argentinien. Der dort führende Bundist Yekum Pat wandte sich Anfang 1942 an seinen New Yorker khaver Emanuel Szerer und teilte mit, dass es erstens Lieferprobleme zu geben scheine, dass zweitens nun offenstehende Rechnungen beglichen würden und dass ihn drittens die traurige Kunde des Todes der beiden Veteranen der Bewegung ereilt habe.118 Dies verknüpfte er explizit mit der Bitte um einen ausführlichen 116 Diese Epoche bundischer Geschichte wird erst langsam zum Gegenstand der Forschung. Ausschlaggebend: Slucki, The International Jewish Labor Bund after 1945. 117 Noakh, „Oyf unzer veg“, Unzer Tsayt 1, Nr. 1 (1941): 3–5. 118 Bund-Archives, New York, RG 1400, ME–14B, #32, ##Brief: 17. Januar 1942.

Von agitierender Publizistik zu transnationaler Memorik

175

Nachruf auf beide Verstorbenen. Genau dies war in den nicht erhaltenen Nummern erfolgt. Bemerkenswert ist, dass Pat in der Redaktion der ‚Tsayt-fragn‘ tätig war und dass er solche Texte leicht hätte selbst verfassen können.119 Er wollte sie aber nicht schreiben, er wollte sie lesen. Für den transnationalen Vergemeinschaftungsprozess war es nicht nur wichtig, Erinnerung selbst produzieren zu können, sie musste auch von außen gespiegelt werden. Zudem zeigt diese Episode, dass die argentinischen Bundisten die ‚Unzer tsayt‘ bereits 1941 als das neue bundische Leitmedium anerkannt hatten und ihr die Aufgabe zusprachen, die wegweisenden Erinnerungstexte für die hinterbliebenen Leser zu schreiben, ob diese nun in New York, Shanghai, Kobe oder in Buenos Aires gelandet waren.120 Dass die ‚Unzer tsayt‘ diese Rolle annahm, zeigt sich in den Redaktionsplänen, die in den folgenden Jahrzehnten neben bundischen Feiertagen und Maifeiertagen vor allem von Nachrufen und Autobiographik dominiert waren.121 In ‚Unzer tsayt‘ verstärkte sich damit die memorisierende Tendenz, die sich bereits in den frühen amerikanischen Publikationen des Bund angedeutet hatte (Tafel 11).122 Texte zu Aktivismus (Kategorie I) erlangten nur in den direkten Kriegsjahren kurzzeitig einen Stellenwert, der auch nur annähernd an den der Memorik (Kategorie IV) heranreichte. Dabei ging es zumeist um Standpunkte bezüglich des aktuellen Kriegsverlaufes und des Kampfs gegen den Nationalsozialismus. Die zahlreichen memorischen Texte waren in diesen ersten Jahrgängen der ‚Unzer tsayt‘ bezogen sich allerdings kaum auf diesen zeitgeschichtlichen Kontext, sie gaben fast alleinig die Geschichte des Bund vor 1939 wieder. 1947 nahm Memorik fast 50 Prozent des gesamten Jahrgangs ein. Es war ein Wendejahr in vielerlei Hinsicht. Zum einen stand nun, zwei Jahre nach Kriegsende, klar vor Augen, dass es in Polen nach dem deutschen Massenmord keine Basis für eine Massenbewegung jüdischer Arbeiter mehr gab. Die Gründung des World Bund war eine Folge dieser bitteren Erkenntnis. Zudem deutete sich an, dass auch für die verbliebenen Bund-Gruppen im sowjetisch besetzten Polen immer weniger Spielraum zur Verfügung stand. 1948 wurde der Bund dort per Zwang in die kommunistische Partei integriert, wogegen vor allem die Jugendorganisation erfolglos rebellierte.123 119 Er verfasste einige memorische Texte, z. B.: Yekum Pat, „Finf milyon hiner“, Sotsyalistishe bleter, Buenos Aires 14 (1930): 5. 120 Eindrücklich in: Grosman, „Geleyent dem ershtn numer fun ‚Unzer tsayt‘ in kobe“. 121 Bund-Archives, New York, RG 1400, O, #35, #36, #39; 122 Selektive aber repräsentative Auswahl der analysierten Jahrgänge, neben Schlüsseljahren (Gründungsjahr 1941, Jubiläumsjahrgänge 1947, 1957) stehen „unverdächtige“ Jahrgänge, in denen der Drang zu Memorik nicht zwangsläufig mit dem Jahr verbunden war. 123 Der empörte Erstbericht in: „From Our Movement. Poland“, The Jewish Labor Bund Bulletin 1, Nr. 4 (1948): 7.

141

Frank Wolff

176

Vergemeinschaftung durch kollektives Erinnern

1904-07

10%

32%

1941

26%

1943

27%

1947

13%

1951

15%

17%

14%

1963

15%

1968 0%

10%

30%

15%

55% 34%

21%

32%

23%

27%

38%

27%

30%

Aktivismus

43% 20%

22% 20%

33%

31%

14%

17%

23%

26%

12%

20%

1957

35%

40%

Überzeitliches

50%

34% 60%

Gegenwärtiges

70%

80%

90%

100%

Memorik

Tafel 11: Textanteilsanalyse bundischer Periodika in den USA, 1904–1968,

Tafel 11: Textanteilsanalyse bundischer Periodika in den USA, 1904–1968, repräsentativ ausgewählte repräsentativ ausgewählte Jahrgänge. Jahrgänge. Konvolut 1904–1907, repräsentativ ausgewählte Jahrgänge ,Unzer tsayt‘, 1941–1968.

Konvolut 1904–1907, repräsentativ ausgewählte Jahrgänge 'Unzer tsayt', 1941–1968.

Dies beendete die Geschichte des Bund auf osteuropäischem Boden. Folglich orga-

Texte zunisierte Aktivismus (Kategorie I) erlangten nur inje den direkten Kriegsjahren einen sich der Bund nun weniger denn als Partei, sondern explizitkurzzeitig als ein trans-

Stellenwert, der auch nur annähernd den seine der Memorik (Kategorie IV)dem heranreichte. Dabei nationales Netzwerk. Da deranBund Legitimation aber aus Arbeitskampf

in Osteuropa gezogen hatte, konnte auch der Kriegsverlaufes neue Bund nicht diesen ausging es zumeist um Standpunkte bezüglich des aktuellen undohne des Kampfs gegen

kommen. Dies war allein durch Memorik möglich, die nun zum Hauptnenner jeder bundischen Gruppe in der Welt wurde. der 'Unzer tsayt' bezogen sich allerdings auf‚Unzer diesentsayt‘ zeitgeschichtlichen Kontext, gaben Dieser Umbruch wirkte sichkaum auf die aus. Nach jahrelanger undsieregelmäßiger Publikation sie1939 in der Jahresmitte 1947Memorik kurzzeitigfast nicht. Die Um-des fast alleinig die Geschichte deserschien Bund vor wieder. 1947 nahm 50 Prozent formierung des Bund beanspruchte alle Kräfte. Im November/Dezember gesamten Jahrgangs ein. Es war ein Wendejahr in vielerlei Hinsicht. Zum einen standerschien nun, zwei mit der Nummer 3–4 des Jahres dann eine über zweihundert Seiten starke DoppelJahre nach Kriegsende, klar vor Augen, dass es in Polen nach dem deutschen Massenmord keine nummer, die zugleich die Sonderausgabe zum 50. Jahrestag des Bund war. Sie war voll Basis für Memorik eine Massenbewegung mehr gab. Die Gründung des 1937 Worldbei Bund war und überbotjüdischer darin dieArbeiter Ausgaben zum 40-jährigen Feiertag Weitem. Dazu war einErkenntnis. neuer Schwerpunkt getreten: eine Folge dieser bitteren Zudem deutete sich der an, Warschauer dass auch fürGhettoaufstand. die verbliebenen Erinnerungen an den Holocaust und Widerstand hatten schon zuvor zunehmend Bund-Gruppen im sowjetisch besetzten Polen immer weniger Spielraum zur Verfügung stand. Seiten der ‚Unzer tsayt‘ gefüllt. Ab 1947 erlangte die Zeit der Verfolgung einen ähnli1948 wurde der Bund dort per Zwang in die kommunistische Partei integriert, wogegen vor allem chen Stellenwert wie die Urzeit. Ganz besonders steigerte sich dies freilich zum zehn573 die Jugendorganisation erfolglos rebellierte. ten Jahrestag des Aufstands 1953. Bei diesem Thema geschah eine partielle Öffnung der Bewegungsmemorik, man integrierte nun nicht nur eine eigene Vergangenheit, Dies beendete die Geschichte des Bund auf osteuropäischem Boden. Folglich organisierte sich sondern griff auch zunehmend auf eine allgemeine jüdische zurück und deutete sie der Bundinnun denn je als Partei, explizit als Worten: ein transnationales die weniger bundische Geschichte ein.sondern Oder mit anderen Gerade in Netzwerk. den Jahren,Da den Nationalsozialismus. Die zahlreichen memorischen Texte waren in diesen ersten Jahrgängen

der Bund seine Legitimation aber aus dem Arbeitskampf in Osteuropa gezogen hatte, konnte 573

Der empörte Erstbericht in: „From Our Movement. Poland“, The Jewish Labor Bund Bulletin 1, Nr. 4 (1948): 7.

Bewegungsmemorik, man integrierte nun nicht nur eine eigene Vergangenheit, sondern griff auch zunehmend auf eine allgemeine jüdische zurück und deutete sie in die bundische 177

Von agitierender Publizistik zu transnationaler Memorik

Geschichte ein. Oder mit anderen Worten: Gerade in den Jahren, in denen der Bund in scharfe Opposition zum Zionismus trat, schrieb er sich stärker in die jüdische denn die sozialistische

in denen der Bund in scharfe Opposition zum Zionismus trat, schrieb er sich stärker

Geschichte ein. Vermutlich auch dies, Geschichte wie schon nach 1917, der Versuch, unliebige in die jüdische denn diewar sozialistische ein. Vermutlich war auchgegen dies, wie

schon nach 1917, der Versuch, gegenzuunliebige Geschichtssichten anderer Bewegun-in der Geschichtssichten anderer Bewegungen opponieren, um so den eigenen Stellenwert gen zuzu opponieren, Geschichte behaupten.um so den eigenen Stellenwert in der Geschichte zu behaupten.

Regionalprofile Regionalprofile

Stellt man diese Ergebnisse nebeneinander, werden anhand der Publizistik des Arbeiterbund

Stellt man diese Ergebnisse die nebeneinander, werden anhand der Publizistik des Ar- und Regionalprofile deutlich, Schwerpunkte bundischen Aktivismus beiterbund Regionalprofilein deutlich, die Regionen Schwerpunkte bundischen Aktivismus Vergemeinschaftungsdynamiken den einzelnen spiegeln. und Vergemeinschaftungsdynamiken in den einzelnen Regionen spiegeln.

Osteuropa

69%

Argentinien

5%

32%

USA

18% 0%

10%

42% 20%

20%

30%

Aktivistische Reflexionen

13%

26% 40%

50%

Überzeitliches

18%

8% 14%

36% 60%

70%

Gegenwärtiges

80%

90%

100%

Memorik

Tafel 12: Regionale Profile bundischer Periodika im internationalen Vergleich, 1899–1968.

Tafel 12: Regionale Profile bundischer Periodika im internationalen Vergleich, 1899–1968.

In Osteuropa war Aktivismus vor allem für Arbeiterzwecke, später für Arbeiterkulturzwecke, der entscheidende Vergemeinschaftungsmodus. Dies gilt für die In Osteuropa war Aktivismus vor allem für Arbeiterzwecke, später für Arbeiterkulturzwecke, der illegale wie die legale Zeit des Bund gleichermaßen. Diese Praxis harmonierte zudem problemlos mit der der doikayt, die der Bund seit den 1900er-Jahren als sein Alleinstellungsmerkmal sah. Die argentinischen Bundisten legten, wie ihre osteuropäischen khaverim, größten Wert auf lokalen Aktivismus. Dazu formulierten sie in zahlreichen überzeitlichen Texten auch Standpunkte zu theoretischen Fragen, die in ihrer Region verwurzelt waren, so zum Beispiel erst die Beschäftigung mit dem Anarchismus und ab den 1920ern verstärkt mit dem jiddischsprachigen Kommunismus. Da diese in Argentinien die jeweils großen Konkurrenten waren, bezogen sich diese theoretischen Texte konkret auf die lokalen Praktiken des Bund. Im Gegensatz zu den osteuropäischen Bundisten standen den argentinischen Bundisten im Betrachtungszeitraum keine eigenen Druckpressen zur Verfügung. Standpunkte mussten in selbst verlegten und unsteten Periodika kommuniziert werden.124 Inter124 So zeigt sich, dass auch in Argentinien „Drucken“ kein Aktivismusmuster wurde, was zugleich auch ein Problem darstellte. Erst der nach dem Zweiten Weltkrieg gegründete

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essanterweise waren darin Beschäftigungen mit dem Zionismus sehr selten, welcher ja vor allem durch die Literatur der Nachkriegszeit und die theoretischen Debatten der führenden osteuropäischen und amerikanischen Intellektuellen zum Hauptgegner des Bund stilisiert wurde. In den 1920er- und 1930er-Jahren war man sich in Argentinien zwar der Unterschiede zum Arbeiterzionismus bewusst, suchte aber häufiger Allianzen mit der Poalei Zion. Auch diese hatte mit kommunistischen Abspaltungen zu kämpfen, was zu partiellen Kooperationen zwischen dem Bund und Poalei Zion führte.125 In den USA waren bundische Migranten bedeutend für die Entwicklung einer dortigen doikayt, der Bund jedoch spielte dahin gehend keine große Rolle. Neben der Forverts Association hatten dies bereits in den 1900er-Jahren die viel stärkeren sekundärbundistischen Organisationen wie der Arbeter-ring übernommen. Schon vor dem Zweiten Weltkrieg ermöglichte darum primär Memorik das Aufrechterhalten bundischer Identität, was sich nach dem Zweiten Weltkrieg noch weiter steigerte. Erinnerung verkörperte nicht nur Sehnsucht nach einer vergangenen Welt, sondern ermöglichte durch die stete Übersetzung des Vergangenen in die Gegenwart persistente Handlungsmuster. Memorik ließ den Bund in den Köpfen weiter bestehen und ließ seine ehemalige Rolle in der Arbeiterbewegung wieder aufleben. Dies ballte sich in New York, weswegen der US-amerikanische Bund zum Knotenpunkt des weltweiten Netzwerkes des Bund wurde. Das Imago des Vergangenen ermöglichte einerseits, das Netzwerk des Bund zentralisiert zusammenzuhalten, isolierte aber andererseits von direkt politikbezogenem Aktivismus, der weiterhin in Argentinien und vermehrt auch in Australien betrieben wurde. Wie David Slucki darlegt, sahen nicht wenige Emigranten im Bund in Melbourne den „wahren Nachfolger“ des polnischen Bund.126

bundische Verlag Yidbukh beseitigte diese Lücke in Argentinien. Bund-Archives, New York, RG 1400, ME–18, 155. 125 Dies schlug sich vor allem in der später betrachteten Schulbewegung nieder. IWO, Buenos Aires, #1111. 126 Slucki, „The Bund Abroad in the Postwar Jewish World“, 111 f.

3. Erinnerungen jenseits von „Ich“ und „Wir“: Bundische Autobiographik als soziale Formation

Mit seiner eingangs der Studie zitierten Aussage, dass die 60-jährige Geschichte des Bund „wie die Geschichte eines Menschen“ in verschiedenen Zeiten und auf verschiedenen Kontinenten sei, schrieb Leon Oler dem Bund Menschlichkeit zu, um seine Biographisierung betreiben zu können. Der Bund erhielt dadurch Subjektstatus und Agency, welche im klassischen Sinne nur Menschen besitzen.1 Oler stellt so einen Konsens der Moderne, die Unterscheidung zwischen Menschen und Dingen, zwischen Objekt und Subjekt, infrage.2 Damit war er nicht allein, auch Dzshon Mill sprach von der „Geburt des Bund“ und selbst Vladimir Medem betonte die Agency nichtmenschlicher Akteure im Bund, indem eine „Biographie der Lebns-fragn“, der von ihm im Warschau des Ersten Weltkrieges gegründeten Zeitschrift, verfasste.3 Im Rahmen dieser Biographisierung der ‚Lebns-fragn‘ verfasste Medem aber auch einen autobiographischen Text, in dem Eigen- und Fremdbiographik miteinander verschmolzen.

Arbeiterautobiographik als kollektive Tat Die wohl beliebtesten Begriffe der historischen Autobiographikforschung der letzten Dekade waren „Ich“ oder „Selbst“. Diese stünden in einem Antagonismus zu „Wir“ oder „Kontext“, wobei sie jeweils trennbare und klar adressierbare Einheiten

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Diese Sprache steht in Bezug zur gängigen Biologisierung abstrakter Gebilde, so am prominentesten wohl bei der Rede vom „Erwachen der Nationen“, vgl: Ernest Gellner, Thought and Change (London: Weidenfeld and Nicholson, 1964), 169; Benedict Anderson, Imagined communities. Reflections ������������������������������������������������� on the Origin and Spread of Nationalism (London: Verso, 1983), 6, 195. Und dies als Vertreter einer Bewegung, die sich die Moderne in großen Lettern auf ihre wehenden Fahnen geschrieben hatte. Dies ist jedoch kein Widerspruch, es ist vielmehr der Ausdruck der Moderne als Idee, nicht als unhintergehbare Praxis. Vgl.: Bruno Latour, We Have Never Been Modern (New York et al.: Harvard University Press, 1993), 10 ff. Dzshon Mill, „Di geburt fun bund“, Unzer tsayt, New York 11 (1952): 39 f.; Medem, „Biografie fun di ‚lebns-fragn‘“, 10 f.

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seien.4 Das „Ich“ steht für ein diskursiv konstruiertes „Selbst“, welches den Zielpunkt moderner Autobiographik markiere, suche es doch sich durch individualisierendes Schreiben sowohl vom „Wir“ zu emanzipieren als auch in dieses „einzuschreiben“.5 Eva Kormann nennt dies die „Entdeckung der Lesenden und der Gesellschaft“ 4

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Für einen Schwerpunktsetzung siehe: Julia Herzberg, „Autobiographik als historische Quelle in ‚Ost‘ und ‚West‘“, in Vom Wir zum Ich. Individuum und Autobiographik im Zarenreich, hg. von Julia Herzberg und Christoph Schmidt (Köln: Böhlau, 2007), 26 f.; Andreas Rutz, „Ego-Dokument oder Ich-Konstruktion? Selbstzeugnisse als Quellen zur Erforschung des frühneuzeitlichen Menschen“, zeitenblicke 1, Nr. 2 (2002); anregend ist dabei vor allem Volker Depkats Studie, in der er zwischen Kontext und Individuum unterschiedet, diese Trennung im Weiteren aber aufweicht und im Text ein „Ereignis sozialer Kommunikation“ erkennt. Vgl.: Volker Depkat, „Lebenswenden und Zeitenwenden. Deutsche Politiker und die Erfahrungen des 20. Jahrhunderts“ (München: Oldenburg, 2006), 63, 65–127. Führende Vertreter der Kontext-Methode für die russische Autobiographik sind: Halfin, From Darkness to Light; Igal Halfin, „Looking into the Oppositionists’ Souls“, Russian Review 60, Nr. 3 (2001): 316–339; Igal Halfin, Terror in My Soul: Communist Autobiographies on Trial (Cambridge, Mass.: Harvard University Press, 2003); Jochen Hellbeck, „Fashioning the Stalinist Soul: The Diary of Stepan Podljubnyi“, Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 44 (1996): 344–373; Jochen Hellbeck und Klaus Heller, Hrsg., Autobiographical Practices in Russia: Autobiographische Praktiken in Russland (Göttingen: V&R unipress, 2004); jüngst mit einem sehr anregenden komparativen Ansatz: Julia Herzberg, „Onkel Vanjas Hütte. Leibeigenschaft in der bäuerlichen Autobiografik des Zarenreiches“, Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 58 (2010): 24–51; in den Forschungen zur jüdischen Autobiographik wird hingegen die „Identität“ des Autors und die Textualität der Welt des „Volkes des Buches“ stärker betont, siehe: Jan Schwarz, „Central Questions in Studying Autobiographies of Yiddish Writers“, hg. von Ulf Haxen, Hanne Trautner-Kromann, und Karen L. Goldschmidt Salamon (Kopenhagen: Reitzel, 1998), 770–777; Daniel Soyer, „Documenting Immigrant Lives at an Immigrant Institution: Yivo’s Autobiography Contest of 1942“, Jewish Social Studies 5, Nr. 3 (1999): 218–243; Michael Stanislawski, Autobiographical Jews: Essays in Jewish Self-Fashioning (Seattle et al.: University of Washington Press, 2004); Marcus Moseley, „Jewish Autobiography: The Elusive Subject“, Jewish Quarterly Review 95, Nr. 1 (2005): 16–59; Marcus Moseley, Being for Myself Alone: Origins of Jewish Autobiography (Stanford, Cal.: Stanford University Press, 2006); Jocelyn Cohen und Daniel Soyer, „Introduction: Yiddish Social Science and Jewish Immigrant Autobiography“, in My Future Is in America: Autobiographies of Eastern European Jewish Immigrants, hg. von Jocelyn Cohen und Daniel Soyer (New York: New York University Press, 2006), 1–17; dieses Erkennen der Welt durch Text bezieht sich oft auf Forschungen zur frühneuzeitlichen Autobiographik, siehe v. a.: Gabriele Jancke, Autobiographie als soziale Praxis: Beziehungskonzepte in Selbstzeungnissen des 15. und 16. Jahrhunderts im deutschsprachigen Raum (Köln, Weimar, Wien: Böhlau, 2002); Eva Kormann, Ich, Welt und Gott. Autobiographik im 17. Jahrhundert (Köln, Wien, Weimar: Böhlau,

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im Zuge der modernen Autobiographieforschung, was die Autobiographie ihrer Textimmanenz entriss und sie in Produktion und Rezeption „vergesellschaftete“.6 Analytisch jedoch wird die Brücke zwischen Selbst und Gesellschaft in den autobiographiehistorischen Studien kaum geschlagen. Im Gegenteil, „Gesellschaft“ wird oft mit „Kontext“ synonymisiert, wobei verallgemeinerbare Theoriekonstrukte oft anhand äußerst selektiver Empirie entworfen werden. Was dabei aber dieses „Wir“ sein soll, bleibt meist in der Rhetorik des „Einschreibens“ verborgen. Wie irreführend dieser Ansatz sein kann, beweist Markus Malo, der ausgehend von einer Suche nach der Entstehung des „modernen Individuums“ in jüdischen Selbstzeugnissen auf die „Unmöglichkeit sozialistisch-jüdischer Autobiographie“ schließt, was er vor allem durch den angeblichen Gegensatz zwischen Judentum und Arbeiterbewegung begründet.7 Die schiere Existenz der hier analysierten Autobiographik des Bund demonstriert, wie unhaltbar diese These ist. Säkularität schloss jüdische Identität keineswegs aus, sie forderte vielmehr aufgrund der sozialen Funktion der Autobiographik zu Reflexionen über die eigene Biographie heraus. Bundische Autobiographik verhielt sich nicht affirmativ zu Tradition und Gesellschaft, sondern produktiv zur eigenen Gemeinschaft, die das Jüdische im Gesamten reformieren wollte. Darum ist es auch hier nicht möglich, von einem großen Korpus ausgehend, auf „Gesellschaft“ zu schließen. Wohl aber können Vergemeinschaftungsprozesse untersucht werden, die in Gesellschaften situiert werden müssen. Dabei muss die Trennung zwischen der literarischen Verkörperung des Selbst und dem kollektiv und im Außen liegenden „Wir“ hinterfragt werden. Bereits Olers Zitat ermöglicht dies. Es leitet eine Erinnerung an den Bund in Polen ein, in der das Leben eines Menschen (des Protagonisten-Autors) mit einer Gruppe (des Protagonisten-Kollektivs) in Einklang gebracht werden muss. Dazu erfindet es einen neuen Körper, den anthropomorphisierten Bund. In Rückbezug auf die im letzten Kapitel demonstrierte Bedeutung der Memorik – und ganz besonders deren Personalisierung – wird im Folgenden gezeigt, dass bundische Autobiographik weder als „Einschreiben“ in einen Kontext noch als Medium der individuellen „Emanzipation“ gesehen werden kann. Es war ein aktivistisches Mittel zur Reproduktion der sozialen Bewegung und der daran gebundenen bundischen Identität, es war eine das Soziale schaffende Tätigkeit. Aufgrund der dargestellten Relevanz von Memorik für die soziale Bewegung soll es im Folgenden nicht um Autobiographen als Vertreter der Bewegung gehen,

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2004); ähnlich, anhand einer longue durée argumentierend: Alois Hahn, Konstruktionen des Selbst, der Welt und der Geschichte (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2000). Kormann, Ich, Welt und Gott, 51. Vgl: Markus Malo, Behauptete Sujektivität: Eine Skizze zur deutschsprachigen jüdischen Autobiographik im 20. Jahrhundert (Tübingen: Niemeyer, 2009), 7–23, 177 ff.

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sondern vielmehr um bundische Autobiographik als eine soziale Formation. Memorik legitimierte die Bewegung per „Rückspiegel“, und Autobiographik unterstützte die Mobilisierung. Das distinktive bundische Geschichtsbewusstsein baute nicht nur auf Personalisierung auf. Wie im vorhergehenden Kapitel dargestellt, es benötigte zuvorderst „authentische“ Stimmen. Durch den generationellen Wandel fehlte später geborenen Aktivisten der Erfahrungsbezug auf die Urzeit des Bund. Da der Bund nach 1917 und erneut nach 1947 sehr stark an einer eigenen Geschichtssicht arbeitete, mussten die legitimierenden Erfahrungen vom kommunikativen Gedächtnis einem kulturellen Gedächtnis der Bewegung übergeben werden, ohne jedoch „Authentizität“ zu verlieren. Diesen Transfer ermöglichte Autobiographik. Durch Individualisierung repräsentierte sie die Praxis der Gegenkultur ebenso wie das Gemeinschaftsgefühl der bundischen Identität. Fragen nach dem Selbst werden dadurch keineswegs irrelevant, man muss aber zuerst einen Schritt zurückgehen nach der Funktion von Autobiographik im Vergemeinschaftungsprozess fragen, bevor man sich die Gestaltung anschaut. Und diese lag eben nicht nur im Gruppenbezug (Emanzipation oder Einschreiben), sondern zuvorderst in der Konstruktion von Gruppe und Identität. Am Kollektiv interessierte Analysen von Autobiographik sind freilich nicht neu. Autobiographik wird dabei oft als Barometer von Beziehungen, Stimmungen und Perzeptionen einer Gruppe genutzt.8 Ganz besonders gilt dies für die Arbeitergeschichte. Eine ältere Schule, die in den 1970er-Jahren entstand, suchte in Arbeiterautobiographien „wahrhafte Zeugnisse“ des Arbeiterlebens,9 was oft mit starkem Quellenpositivismus einherging. Dem stellte sich ab den 1990er-Jahren eine stärker 8

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Gruppenbezogene Ansätze verfolgen u. a.: Silke Möller, Zwischen Wissenschaft und „Burschenherrlichkeit“. Studentische Sozialisation im deutschen Kaiserreich, 1871– 1914 (Stuttgart: Steiner, 2001); Depkat, Lebenswenden und Zeitenwenden; Malo, Behauptete Sujektivität. Ursula Münchow, Frühe deutsche Arbeiterautobiographie (Berlin: Akademie-Verlag, 1973); John Burnett, The Annals of Labour: Autobiographies of British WorkingClass People, 1820–1920 (Bloomington, London: Indiana University Press, 1974); Georg Bollenbeck, Zur Theorie und Geschichte der frühen Arbeiterlebenserinnerungen (Kronberg: Scriptor-Verlag, 1976); David Vincent, Bread, Knowledge and Freedom: A Study of Nineteenth-Century Working Class Autobiography (London: Europa-Publishers, 1981); Axel Kuhn, „Die proletarische Familie: Wie Arbeiter in ihre Lebenserinnerungen über den Ehealltag berichten“, in Arbeiteralltag in Stadt und Land: Neue Wege der Geschichtsschreibung, hg. von Heiko Haumann (Berlin: Argument, 1982), 89–119; eher literaturwissenschaftlich inspiriert, aber mit dem selben Bias: Petra Frerichs, Bürgerliche Autobiographik und proletarische Selbstdarstellung (Frankfurt am Main: Haag + Herchen, 1980); Michael Vogtmeier, Die proletarische Autobiographie 1903–1914: Studien zur Gattungs- und Funktionsgeschichte der Autobiographie (Frankfurt am Main et al.: Lang, 1984).

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theoretisch reflektierte Untersuchung von Subjektivierungsstrategien entgegen.10 Legt man jedoch die Arbeiten beider „Schulen“ nebeneinander, fällt auf, dass sie sich nicht ausschließen, sondern gegenseitig ergänzen. Denn Arbeiterautobiographien sind viel zu sozial, um nur Text zu sein, und sie sind viel zu narrativ, um direkt das Soziale abzubilden.11 Maria Hetmeier brachte dies in ihrer Studie zur französischen Arbeiterautobiographik auf den Nenner, wenn sie, ganz im Gegensatz zu Schmidt und Herzberg, eine Bewegung vom „Ich“ zum „Wir“ entdeckte. Dies erachtete sie als einen Eigenzug der Subjektkonstitution schreibender Arbeiter, die sich zum Ziele gesetzt hätten, „den Zusammenhang zwischen öffentlichen und privaten Erlebnissen darzustellen“ und dies im Gang vom „je“ zum „nous“ ausdrückten.12 Großteils fokussiert die Autobiographikforschung dennoch auf Emanzipationsstrategien, Beschäftigungen mit kollektiven Aspekten, ohne direkt auf den Sonderfall stalinscher Biographieerpressungen umzublenden, sind rar. Besonders ist dabei Silke Möllers Arbeit zu Sozialisationsprozessen in studentischen Verbindungen zu nennen. Das Resultat dieses kollektiven Fokus ist ein Gruppenporträt von großer Dichte.13 Und doch wirkt die Studie lange Strecken eher interpretierend denn ana10 Wegweisend: Mary J. Maynes, Taking the Hard Road: Life Courses in French and German Workers’ Autobiographies in the Era of Industrialization (Chapel Hill et al.: University of North Carolina Press, 1995); Maria Hetmeier, Französischer Arbeitermemoiren im 19 Jahrhundert – Zeugnisse einer anderen Kultur (Münster: Lit, 1996); Mark D. Steinberg, Proletarian Imagination: Self, Modernity and the Sacred in Russia, 1910–1925 (Ithaca, London: Cornell University Press, 2002). 11 Nach: Latour, We Have Never Been Modern, 6; Diese Doppelbeziehung wird gerne vergessen. So erklärt James Stephen Amelang das Schweigen der Arbeiterautobiographen über die Arbeit vor allem durch die Trennung des täglichen Arbeitens vom nächtlichen Schreiben. Man kann dem entgegenhalten, dass dies keineswegs eine Besonderheit der nächtlichen Selbstentdeckung war, sondern vielmehr den Routinen der Arbeit geschuldet, die nicht nur für frühneuzeitliche Arbeiter sondern auch für Stahlarbeiter der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts schwer zu versprachlichen waren. Wie Thomas Welskopp darstellte ist es vielmehr genau die Abwesenheit der Sprache, die das routinierte, kollektive Arbeiten ermöglicht. Vgl.: James Stephen Amelang, „Lifting the Curse: Or Why Early Modern Worker Autobiographers Did not Write about Work“, in The Idea of Work in Europe from Antiquity to Modern Times, hg. von Joseph Ehmer (Farnham, Surrey et al.: Ashgate, 2009), 96 f.; Welskopp, Thomas, “Sprache und Kommunikation in praxistheoretischen Geschichtsansätzen“, in Unternehmen Praxisgeschichte (Tübingen: Mohr Siebeck, 2014), [im Druck]. 12 Hetmeier, Französischer Arbeitermemoiren im 19 Jahrhundert, 329; Herzberg und Schmidt, Hrsg., Vom Wir zum Ich. 13 Möller, Zwischen Wissenschaft und „Burschenherrlichkeit“, v. a. 166–191; ähnlich gruppenproduzierend fungiert Autobiographik in Maria Kłanskas Studie, und ähnli-

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lysierend. Dies kommt m. E. daher, dass Möller in den 155 Autobiographen in erster Linie die Deutung einer „‚eigenen Welt‘“ sucht, jedoch den aktivistischen Teil dieses vergemeinschaftenden Schreibens (und Rezipierens) vernachlässigt. Die resümierende Aussage, dass auf der sprachlichen Ebene „das ‚Ich‘ häufig im Text zugunsten des ‚Wir‘ zurück[trat]“, darf doch in einem derartigen Gruppenbezug nicht wirklich verwundern, versteht doch Möller selbst die kaiserliche Universität und die Burschenschaften in erster Linie als „Sozialisationsagentur“.14 Dies kann wohl nur dann als sonderlich erscheinen, wenn man auf der Suche nach dem „Ich“ ist, welches die Autobiographen aber nicht in der erhofften Reinform liefern. Diese Suche nach dem „Ich“ jedoch ist eine Suche nach der Karikatur der „negativen Freiheit“, in der Emanzipation mit der Verringerung von äußerem Widerstand gleichgesetzt wird. „Ich“ erscheint demnach als Errungenschaft.15 Wie der Philosoph Charles Taylor aber schon vor einem Vierteljahrhundert darstellte, ist dieses Selbst, welches durch die Unabhängigkeit des Individuums entsteht, eine Fiktion des Liberalismus. Dem gegenüberstehend sieht Taylor jene Philosophien, die Freiheiten stärker im Kollektiven verorten und die darauf abzielen, dass „Freiheit zumindest zum Teil auf der kollektiven Kontrolle über das gemeinsame Leben beruht“.16 Das Paradoxe daran ist, dass letztere Theorie am prominentesten von Marx und Rousseau vertreten wurde, wobei Letzterer mit seinen „Bekenntnissen“ unbestritten das Rollenmodell moderner Autobiographik vorlegte. Die darin präsentierten Individualisierungsmodi gelten als wegweisend für die moderne Autobiographik.17 Zwar

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che Probleme sind die Folge, vgl.: Maria Kłanska, Aus dem Schtetl in die Welt: Ostjüdische Autobiographien in deutscher Sprache, 1772–1938 (Köln: Böhlau, 1994). Möller, Zwischen Wissenschaft und „Burschenherrlichkeit“, 42, 58 f., 106 f., 167. Die Osteuropaforschung fokussiert leider viel zu sehr auf den Sonderfall jener Autobiographik, die sich „totalitären“ Umständen widmet, vgl. das Schwerpunktheft „Russian Subjectivity“ in Russian Review, darin: Halfin, „Looking into the Oppositionists’ Souls“; Jochen Hellbeck, „Working, Struggling, Becoming: Stalin-Era Autobiographical Texts“, Russian Review 60, Nr. 3 (2001): 340–359; dieser Engführung auf stalinistische Selbstzeugnisse unter dem Deckmantel „russischer“ Geschichte stellte sich der Sammelband von Herzberg und Schmidt entgegen, erneut jedoch unter der Fixierung auf Individualisierung. Meine Mitwirkung am Band soll jedoch nicht unerwähnt bleiben, die gemeinsamen Vorarbeiten waren wegweisend für die hier präsentierten Forschungsergebnisse. Ein gewisses Unbehagen an der Ausrichtung drückte sich jedoch darin aus, dass mein Beitrag als einziger nicht auf einen Autoren schaut, sondern zwei idealtypische Autobiographien vergleicht, siehe: Wolff, „Heimat und Freiheit bei den Bundisten Vladimir Medem und Hersch Mendel“. Charles Taylor, Negative Freiheit? Zur Kritik des neuzeitlichen Individualismus, 3. Auf. (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1999), 118. Die Inszenierung des „Ich“ war darin, wie Eva Korman feststellt, keineswegs unabhängig vom Außen, sondern davon zutiefst geprägt. Leider reduziert Kormann im Folgen-

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gelang es der Autobiographieforschung, mit ihrer Fundamentalkritik am Quellenrang der Erinnerungen die allzu bereitwillige und unreflektierte Teilhabe der Historiker der Vorgängergeneration am „autobiographischen Pakt“ aufzubrechen. Im Gegenzug wird dabei oft nur noch „Wahrnehmung“ oder Subjektivierungsstrategie und kaum noch Geschichte gesehen. Damit werden aber vergemeinschaftende und mobilisierende Effekte der Autobiographik marginalisiert. Wie im Vorkapitel beschrieben, gab es kein bundisches Gruppengefühl ohne Personalisierung, aber auch Subjektivierungen waren ohne Gruppenbezüge nicht möglich. Dies zeigt sich eindrücklich an der Suche des Schusters Hersch Mendel nach dem zum ihm passenden „-ismus“. Die Wirren des Ersten Weltkrieges verunsicherten den ehemals überzeugten Bundisten vollkommen, Selbstzuschreibungen zu einer der großen Geistesströmungen verkomplizierten sich zusehends. Auch durch Kontakte in der Migration wandelte er zwischen Bundismus, Kommunismus, Anarchismus, später Trotzkimus und gar Poalei-Zionismus hin und her. Er behauptet: „Sobald ich mein ideologisches Ringen überwunden hatte, spürte ich wieder Boden unter den Füßen.“18 Diese Sicherheit währte jedoch nie lange, weitere Suchen folgten mit gesellschaftlichen Veränderungen und dem Auf- und Abtauchen verschiedener historischer Akteure und Assoziationen. So ist Mendels Herkunft unbestritten eine bundische, aber der rote Faden seiner Arbeiterautobiographie bleibt das Suchen nach einer Deckungsgleichheit zwischen seinem Aktivismus und der richtigen Bewegung. Was durch die Fokussierung auf die Suche nach einem Arbeiter-Ich in den Hintergrund geriet, sind die explizit vergemeinschaftende Funktion der Autobiographik und die zeitgleiche Schaffung der Gegenkultur.19 Die gegenseitige Bedingtheit von Selbst und Gruppe zeigt, dass die Suche nach dem Bezug vom „Ich“ zum „Wir“ nicht grundsätzlich falsch, aber irreleitend ist. Sie stehen nicht zueinander, sie sind ineinander. Dies möchte ich erstens demonstrieren und zweitens erklären. Grundlage der folgenden Argumentation sind 532 in aller Welt recherchierte autobiographische Texte, die konkret bundischen Autoren zugeordnet werden können. Sie sind ein repräsentatives Sample, welches ich im Folgenden als „bundische Autobiographik“ bezeichnen werde. Sämtliche bundischen Autobiographien nutzen das „Ich“ als Begriff, jedoch ist deswegen keineswegs die Abwesenheit eines nicht unbedingt den aber die Entstehung des „Selbst“ auf Sprachlichkeit, vgl.: Kormann, Ich, Welt und Gott. 18 Mendel, Erinnerungen eines jüdischen Revolutionärs, 118. 19 So in: Christa Ebert, „Dichter-Ich versus Revolution: Autobiographische RevolutionsBerichte von Gippius, Cvetaeva, Bunin und Remizov“, in Autobiographical Practices in Russia: Autobiographische Praktiken in Russland, hg. von Jochen Hellbeck und Klaus Heller (Göttingen: V&R unipress, 2004), 197–222.

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versprachlichten, kollektiven „Wir“ anzunehmen, dessen starke Präsenz landläufiger Meinung nach ja den Unterschied zum bürgerlichen Memoirenautor ausmache.20 Das „Wir“ ist weder Ausgangspunkt noch Endstation, sondern Diskussionsgegenstand und Zweck, es ist wie das „Ich“ eine kopräsente Ebene unter vielen.

Integrationsmodi Da Autobiographik eine zentrale Rolle in der Entwicklung der bundischen Identität spielte, wurde sie nicht unkommentiert publiziert, sondern entsprechend angepriesen, sei es durch spezifische Hervorhebungen im Zeitungslayout oder durch entsprechende Zusatztitel. So wurde sie einerseits zugleich als „subjektiv“ gekennzeichnet, andererseits aber zugleich in den Rahmen dieser Zeitschrift und der Bewegung integriert. Bei Büchern war dieses Einbetten nicht per Layout möglich, sie mussten als Einzelgegenstände an den Leser gebracht werden. Nur prominente Autoren konnten darauf zählen, dass ihre Erinnerungen per se als wertvoll für das Kollektiv empfunden wurden. Im Falle der vielen Arbeiterautoren war dies komplizierter, jedoch waren genau sie die „authentischsten“ Stimmen des Bund. Sie benötigten Unterstützung von Dritten, die ihrerseits über Autorität verfügten. Die Integration solcher Monographien in das Kollektive übernahmen darum weniger die Texte selber, sondern die ebenso bedeutsamen Vorworte. Sehr deutlich wird dies in einem Vorwort zu Layb Bermans Autobiographie, der ersten monographischen Autobiographie eines bundischen Arbeiters. Sie wurde in den 1920er-Jahren begonnen und konnte 1936 in Warschau durch die Unterstützung von Bundisten des New Yorker Arbeter-ring endlich erscheinen.21 Berman war als einer der wenigen Arbeiter in der Führungsspitze des Bund eine der beliebtesten bundischen Figuren der polnischen Zeit. Auch deswegen ist seine Autobiographie die einzige eines bundischen Arbeiters, die in einer überarbeiteten Fassung nach der Emigration eine zweite Auflage erfuhr.22 Schon in der ersten Auflage kam ihm nicht nur die Ehre zu, durch den weltweit bedeutenden Exilbundisten und Menschewiken Rafael Abramovitsh eingeleitet zu werden, sondern zudem auch noch durch ein Vorwort vom berühmten Noakh Portnoy. Dieses Vorwort formulierte 20 Wolfgang Quatember, Erzählprosa im Umfeld der österreichischen Arbeiterbewegung. Von der Arbeiterlebenserinnerung zum tendenziösen Unterhaltungsroman (Wien, Zürich: Europaverlag, 1988), 63; Hetmeier, Französischer Arbeitermemoiren im 19 Jahrhundert, 329 f. 21 Berman, In loyf fun yorn. 22 Layb Berman, In loyf fun yorn: Zikhroynes fun a yidishn arbeter, 2. fargreserte oysgabe (New York: Unzer tsayt, 1945).

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symptomatisch die Untrennbarkeit des „Ich“ vom „Wir“ und des Faktischen vom Emotionalen.23 Um die Rolle dieser Autobiographie in der bundischen Memorik zu stärken, täuscht Portnoy Skepsis vor. Die Anfrage habe ihn „in Verlegenheit“ gebracht. Zwar lese er gerne Erinnerungen, aber „was kann mich schon in einem neuen Erinnerungsbuch überraschen, dass es mich wirklich dazu bewegt, ein Vorwort zu schreiben?“ Schließlich sei sein Wort „eine Art Pass, eine Art Empfehlung, mit dem es in die breite Leserwelt eingeht und einen solchen Pass auszustellen – damit muss man doch sehr vorsichtig sein.“ Portnoy war sich voll und ganz seiner Rolle als führender Bundist bewusst, weswegen er hervorhebt, dass ihn nicht der Freundschaftsdienst an einem alten Weggefährten motiviere, sondern dass ihn Qualität locken müsse. Qualität seien dabei neue Erkenntnisse über den Bund, nicht über den Autor.24 Dieses Spiel mit dem Leser, dem dieser „Pass“ ja vorliegt, währt nur kurz. Es dauerte „nicht lange, bis meine ganze Unruhe verschwand, von meiner Skepsis ist keine Spur mehr geblieben. Ich will mich nicht in die Pose eines ‚Alleswissers‘ begeben, ich will nicht sagen, dass mir alle Fakten, die der Autor allzu schön und bescheiden beschreibt, […] bekannt gewesen waren.“ Die Werbung für das Buch erfolgt durch eine doppelte Demutsgeste: Erstens durch den Erinnernden, der „bescheiden“ zu Werke geht, und durch Portnoy selbst, der sich trotz seiner umfassenden Kenntnisse neugierig zeigt. Dies gipfelt in einer emotionalen Kollektivierung: „Von vielen und nochmals vielen Sachen, von erhabenen Momenten unserer romantischen Vergangenheit erfuhr ich in dem Buch zum ersten Mal und las von ihnen mit einem Zittern im Herzen.“ Noakhs Gefühle wurden also angeregt, weil er diese Episoden nicht erlebt hatte. Diese von fremder Memorik ausgehende Kraft bezieht Portnoy direkt auf seine eigene Körperlichkeit, denn er hielt nicht nur die Blätter „in den Händen“, es „zitterte“ ihm nicht nur das Herz, nein, er erlebte die Spannung der damaligen Zeit erneut: „Mit angehaltenem Atem las ich, und ich meine, das ist dasselbe, was jeder erleben wird, der die heldenhafte Geschichte der Dvinkser B.  O. [russ.: boevye otriady], der Kampfeinheiten [jidd.: kamf-druzshine] liest.“ Das Resultat dieser Geschichte kann sich Portnoy, wie schon Leon Oler, nur körperlich und historisierend zugleich vergegenwärtigen:

23 Diese Betonung des historischen „Wertes“ individueller Sichten war kein Einzelfall, sondern Bestandteil schon der ersten monographischen bundischen Autobiographien auf beiden Seiten des Atlantik, vgl.: N. N., „Fun farlag“, in Zikhroynes fun a yidishen sotsyalist, Bd. 1, von Beynish Mikhalevitsh (Warschau: Lebn-fragn, 1921), 2; Ab. Cahan, „Forvort“, in Fun mayn lebn, Bd. 1, von Vladimir Medem (New York: Vladimir Medem Komite, 1923), [ohne Paginierung]. 24 Zur langen Freundschaft zwischen beiden und den gemeinsamen Erlebnissen in der Konspiration, siehe: Berman, „‚Skritkes‘“.

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Unter der Wirkung der revolutionären Bewegung, unter der Wirkung des ‚Bund‘ wächst eine neue Generation jüdischer Arbeiter heran. Die ‚Paria unter der Paria‘25 nimmt ihr Schicksal in ihre eigenen Hände. Es wächst ein neuer, ausgeglichener, stolzer Kämpfer auf, welcher mutig und unerschrocken den historischen Kampf für seine Klasse führt und bis zur Selbstaufopferung seine persönliche Selbstwürde verteidigt. Der ‚Bund‘ rief einen ganzen Menschen ins Leben und erzog ihn, einen kompromisslosen jüdischen Proletarierkämpfer, mit einem hoch entwickelten revolutionären Selbstgefühl.

Emanzipation war keine Sache des Schreibens allein, es war Kollektivarbeit und Schreiben war darin eine aktivistische Tat unter vielen. Dieser Aktivismus des Textes manifestierte sich nun aber weniger in den eingangs als zentrales Leseinteresse hervorgehobenen „Fakten“, sondern vielmehr am Gefühl der Gemeinschaft. Aber nicht nur die faktische Seite der Erinnerungen, welche für sich allein schon interessant ist und spannend zu lesen, will ich in meinem Vorwort unterstreichen. Das Buch hat in meinen Augen einen ganz besonderen Wert. Wir haben hier vor uns eine einfache, bescheidene und darum so schöne Schilderung des Lebensweges eines Menschen – ein Leben eines Arbeiters, der in nicht gekünstelten, klaren Worten seine armen, bitteren Kinderjahre beschreibt [in einer Welt], in der sich die geistige Essenz eines jüdischen Arbeitersozialisten, eines Bundisten formierte. Die Fakten [sind das] revolutionäre Gewand des lebendigen Menschen, sie wachsen in ihrer Art und Bedeutung zusammen mit dem Wachsen und Reifen des Trägers dieses Gewands, des Autors dieser Erinnerungen. Der Mensch ist hier nicht getrennt [obgerisn] von dem, was er uns übergibt. Ihr fühlt, wenn ihr dieses Buch zum Ende lest, dass ihr vor euch nicht nur eine interessante Erzählung habt, sondern auch ein menschliches Dokument.

Portnoys anfängliches Lesemotiv betonte Interesse an Fakten, endet jedoch mit der Emotionalität und der „Menschlichkeit“ des Textes. Aus dieser Kombination leitet er abschließend auch die Mobilisierungskraft der Memoiren ab: „Diese Erinnerungen sind ein schönes Kapitel in unserer Geschichte, aus welcher wir Mut und Begeisterung in unserem revolutionären Kampf für den Sozialismus schöpfen.“26 25 Anlehnung Georgij V. Plehanovs berühmte Lobpreisung der jüdischen Arbeiterbewegung als „Paria“ des russischen Sozialismus und als „avantgarde of the workers’ army in Russia“ auf dem Londoner Kongress der Zweiten Internationale 1896 , zit. in: Tobias, The Jewish Bund in Russia from its Origins to 1905, 61. 26 Sämtliche Zitate: [Noakh Portnoy] Noakh, „Forvort“, in In loyf fun yorn. Zikhroynes fun a yidishn arbeter, von Layb [Laybetshke] Berman (Warschau: Aroysgegebn durkh memuarn-komitet baym Dvinsker „Bund“ brentsh 75 fun arbeter-ring in Amerike, 1936), 5 f.

Bundische Autobiographik als soziale Formation

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Der Bund war aber nicht nur in den Erinnerungen führender Bundisten der Dreh- und Angelpunkt von Identitäten. Dies findet sich auch in weniger bedeutenden Autobiographen, bei nicht veröffentlichen und gar bei solchen, die nicht einmal im bundischen Umfeld verfasst wurden. Am prominentesten geschah dies sicher im autobiographischen Wettbewerb des YIVO 1941/2 in New York.27 Dieser Contest setzte sich zum Ziel, die Lebensgeschichten der jüdischen Immigranten zu sammeln, und rief per Anzeige in zahlreichen jiddischen Periodika vor allem in Nordamerika zur Teilnahme unter dem Titel „Why I left the old world and what I accomplished in America“ auf.28 Dies nahmen auch mehrere ehemalige Bundisten zum Anlass, ihre Lebensgeschichte zu erzählen, wobei unter diesen aber kein Einziger ist, der in der primären Autobiographik des Bund, ob veröffentlicht oder nicht, eine Rolle spielte.29 Der Bund gab diesen Erinnerungswilligen also nicht den Raum zum Erinnern. Dennoch spielen der Bund, persönliche Erlebnisse in ihm und die Taten für ihn in vielen dieser Autobiographien eine zentrale, meist die zentrale Rolle – jedoch ohne dass dies die „Emanzipation“ des Erzählenden schmälert, nein oft genau im Gegenteil.30 Da der Bund also in derart vielen und heterogenen Lebensläufen und Lebensdarstellungen eine bedeutende Rolle einnahm, ist es möglich, die bundische Autobiographik als soziale Formation selbst zu untersuchen.

Topographie bundischer Autobiographik Autobiographisches Entäußern einer personal-kollektiven Erfahrungsvergangenheit kann im Bund anhand zweier Quellengattungen erfasst werden, erstens anhand bundischer Autobiographien und zweitens, im nächsten Teilkapitel, anhand biographischer Fragebogenkampagnen. In der Addition wird sich ein differenziertes sozialhistorisches Bild des Bund und seiner Erinnernden ergeben. Autobiographien sind dabei immer beides, Äußerungen von Bundisten und Bestandteile einer memorischen Kultur des Bund.31 Im Fokus steht damit ein sozialer Raum, der durch 27 Erwähnt seien hier in erster Linie: Novikov, Zikhroynes fun a yidishn arbeter; Metaloviets, A veg in leben, Vol. 1 und 2; Mendel, Erinnerungen eines jüdischen Revolutionärs. 28 Hierzu siehe: Soyer, „Documenting Immigrant Lives at an Immigrant Institution“; Cohen und Soyer, „Introduction“. 29 YIVO, New York: RG 102, #28, #44, #47, #55, #76, 81, #83, #107, #108, #15, #142, #157, #158, #160, #171, #173, #178, #180, #191, #196, #200, #209, #222. 30 Zum Beispiel nachzulesen in: Fox, „The Movies Pale in Comparison“. 31 Keineswegs soll Subjektivität verneint, wohl aber dessen kollektive Bindung stärker betont werden. Die subjektiven Wahrnehmungen werden darum in anderen Teilen der Studie stärker berücksichtigt.

190

Vergemeinschaftung durch kollektives Erinnern

Memorik im Generellen und Autobiographik im Besonderen dem Bund seine Vergangenheit gab. Wie die englische Arbeiterklasse war der Bund „present at its own making“.32 Dies dreht die Perspektive um und fragt damit nicht nach dem Handeln im Sozialen, sondern nach der Konstitution des Sozialen durch Handeln. Der Bedarf nach einer tieferen Analyse bundischer Autobiographik ergibt sich auch aus der Forschung zum Bund selbst. Keine einzige Forschungsarbeit zum Bund kommt ohne Autobiographik aus, wobei diese jedoch in erster Linie auf ihren Inhalt reduziert und als Faktensteinbruch genutzt wird. Der soziale Gehalt der Autobiographik wird dabei aber nicht berücksichtigt. Dabei wird durch einen explizit kollektivistischen Ansatz auch der implizit forschungsleitende Kanon bundischer Autobiographik durchbrochen, der bislang nur aus dem Werk einiger, immer wieder zitierter Bundisten besteht.

Methode zur Vermessung des autobiographischen Netzwerks Als Autobiographien verstehe ich Erinnerungsschriften unterschiedlicher Länge, in denen ein Ich-Protagonist glaubhaft mit dem Autor in Deckung gebracht wird. Erstens liegt dem die von den Lesern erwartete „Authentizität“ zugrunde, die sich speist aus der glaubhaften Inszenierung des „autobiographischen Pakt“, also aus der impliziten Vereinbarung, dass der Leser die Identität zwischen Autor und Protagonist anerkennt.33 Dieses habe ich zudem weitgehend mit biographischen Informationen aus dritten Quellen abgesichert. Als bundische Autobiographien sind jene zu erachten, die von Menschen verfasst wurden, die sich zeitweise dem Bund zuschrieben, also den Bezug der Autobiographien zum Bund explizit, meist als Lebensgeschichte eines Bundisten formulieren oder ihre Erlebnisse in einem nachvollziehbaren Bezug zum Bund erzählen. Daraus entsteht die Kopplung zwischen Mensch und Bewegung, die sich in der bundischen Identität äußert. Recherchiert wurde ein Datensatz von 532 Autobiographien, der als bundische Autobiographik zu betrachten ist und der aus einer weitaus größeren Masse an jüdischen (oft jiddischen) Autobiographien „herausgefiltert“ wurde.34 32 Thompson, The Making of the English Working Class, 9. 33 Vgl: Philippe Lejeune, Der autobiographische Pakt, 2. Auflage [Orig.: 1975] (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2005); den Aspektes der Inszenierung hebt hervor: Kormann, Ich, Welt und Gott, 53 ff. 34 Bis auf zwei Ausnahmen haben diese einen individuellen Autor. Ausnahme sind zwei Sammlungen von Erinnerungen führender Bundisten, die jeweils kollektiv publiziert bzw. gesammelt wurden. Diese sind: RGASPI, Fond 271, opis’ 1, delo 310: Avram der Tate, S.I. Gožanskij et al.: Iz vospominanij starih dejatelej bunda; und: Div., „Der ersh-

Bundische Autobiographik als soziale Formation

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Frank Wolff

Tafel 13: Datenbankschema Tafel 13: Datenbankschema

Berücksichtigt wurden Erstfassungen bzw. Erstpublikationen. Nachdrucke oder Übersetzungen

ter numer Zikhroynesdurch fun die onteylnehmer“, Arbeter luakhund 3 (1922): Wurde eine Autobiographie den Autor selbst neu bearbeitet zum blieben außen vor.611 ‚arbeter-shtime‘.

101–109. Autobiographik, die in bundischen Organen erschien, jedoch von Autoren stammte, die offensichtlich nicht Bundisten waren, wurde nicht aufgenommen. Ebenso Texte wurden in eine eigens entwickelte Datenbank eingespeist Tafel Bund 13). Dies wurden keine sekundärbundistischen Autoren oder (vgl. von dem nur ermöglicht, nahestehenIntellektuellen mit der Ausnahme beiden Autobiographien von aus Textenden gewonnene Daten übernommen, statistisch auszuwerten und zugleichder inhaltsbezogen zu analysieren. Bernard Weinstein und Abraham Kotik, die für die bundischen Autobiographik eine Die damit mögliche Analyse bundischer Autobiographik ist somit ein entscheidender Beitrag zur derart eminente Bedeutung haben – auch weil sie genau zu Beginn der bundischen Sozialgeschichte des Bund und zugleich ein erschienen über den und Bundstark hinausgehender methodischer monographischen Autobiographik auf diese einwirkten – dass Vorschlag,sie Autobiographik auszuwerten. auch zu diesersozialhistorisch gezählt werden müssen, aber nicht auf diese beschränkt sind. Dies steigert sich im Falle Weinsteins dadurch, dass er als Gründer der United Hebrew TraDiese Sammlung Texten ist eine akribische aber nicht vollständige Aufnahme bundischer des undvon als532 bedeutendes Mitglied des sekundärbundistischen YSF, in dessen Verlag Autobiographik. beruht auf jahrelanger und breiterim Recherche Dokumente in er seineSieAutobiographien veröffentlichte, direkten entsprechender Bezug zum Bund in den USA stand. Bernard Weinstein, Fertsig yohr in der yidisher arbeyter bavegung: Bletlekh eri611 Diese nerungen wären als (New besondere Reproduktion eigene Kotik, Untersuchung wert. die York:Form Farlagder„veker“, 1924); eine Abraham Dos lebn fun Falls a yidishn „Erstfassungen“ nicht vorlagen oder nicht ermittelbar waren, wurden Folgedrucke aufgenommen, inteligent (New York: H. Toybenshlag, 1925). Doppeleinträge jedoch vermieden. Beispiel ausführlicher wiederveröffentlicht, stellt dies eine neue Erstfassung dar.612 Sämtliche

612

Ebenso fanden fortlaufende Drucke größerer Autobiographien, die dann in Buchform veröffentlicht wurden, wie es z. B. mit den Autobiographien von Vladimir Medem oder von Layb Berman geschah, nur eine Aufnahme.

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Vergemeinschaftung durch kollektives Erinnern

Berücksichtigt wurden Erstfassungen bzw. Erstpublikationen. Nachdrucke oder Übersetzungen blieben außen vor.35 Wurde eine Autobiographie durch den Autor selbst neu bearbeitet und zum Beispiel ausführlicher wiederveröffentlicht, stellt dies eine neue Erstfassung dar.36 Sämtliche Texte wurden in eine eigens entwickelte Datenbank eingespeist (vgl. Tafel 13, S. 192). Dies ermöglicht, aus Texten gewonnene Daten statistisch auszuwerten und zugleich inhaltsbezogen zu analysieren. Die damit mögliche Analyse bundischer Autobiographik ist somit ein entscheidender Beitrag zur Sozialgeschichte des Bund und zugleich ein über den Bund hinausgehender methodischer Vorschlag, Autobiographik sozialhistorisch auszuwerten. Diese Sammlung von 532 Texten ist eine akribische aber nicht vollständige Aufnahme bundischer Autobiographik. Sie beruht auf jahrelanger und breiter Recherche entsprechender Dokumente in deutschen, amerikanischen, argentinischen, russischen und israelischen Bibliotheken oder Archiven. Methodisch war es aufgrund der fehlenden Angabe einer Grundgesamtheit kompliziert, ein repräsentatives Verfahren zu entwickeln. Aus diesem Grund wurden die recherchierten Dokumente nicht in Samplegruppen unterteilt, sondern sämtlich analysiert. Für die früheren Jahre legte ich großen Wert auf Vollständigkeit, diese ist jedoch aufgrund der nahezu exponentiellen Zunahme von Autobiographik ab spätestens der Zwischenkriegszeit nicht möglich und auch nicht notwendig. Repräsentativität entstand darum durch Verdichtung und nicht durch Sampling. Nach der Auswertung von ungefähr einhundert Autobiographien zeigten sich klar Schwerpunkte auf sämtlichen Abfragebenen. Diese verfestigten sich weiterhin und ab ca. 250 Autobiographien erwies sich das Analyseraster als gesättigt, d. h. entstandene Typen und statistische Ballungen – und somit auch die Struktur der Datenbank – wurden nur noch bestätigt, nicht mehr verändert. Zur Absicherung setzte ich die immer aufwendiger werdende Suche nach autobiographischen Texten fort mit dem Ziel, mehr als doppelt so viele Autobiographien in die Auswertung einfließen zu lassen als die 250 Stück, die zur festen Etablierung eines geeigneten qualitativen Auswertungsrasters notwendig waren.37 Eine Hürde war stets, dass zusätzliche biographische Daten für die Aus35 Diese wären als besondere Form der Reproduktion eine eigene Untersuchung wert. Falls die „Erstfassungen“ nicht vorlagen oder nicht ermittelbar waren, wurden Folgedrucke aufgenommen, Doppeleinträge jedoch vermieden. 36 Ebenso fanden fortlaufende Drucke größerer Autobiographien, die dann in Buchform veröffentlicht wurden, wie es z. B. mit den Autobiographien von Vladimir Medem oder von Layb Berman geschah, nur eine Aufnahme. 37 Bestreben nach größtmöglicher Vollständigkeit gab es besonders bei Monographien, die mit Erscheinungsdaten bis zum heutigen Tage aufgenommen wurden. Beiträge in Periodika wurden bis 1947 intensiv recherchiert, vor allem soweit es die USA und Argentinien betrifft. Zahlreiche Jahrgänge wichtiger Periodika bis Ende der 1960er

Bundische Autobiographik als soziale Formation

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wertung notwendig sind. Gerade bei weniger bekannten Autoren sind diese jedoch bestenfalls nur sehr mühsam zu recherchieren. In die Datenbank wurde darum eine doppelte Überprüfungsebene anhand verfügbarer Sekundärliteratur eingebaut.

Grundkoordinaten Um größtmögliche Heterogenität zu gewährleisten, wurden in die Datenbank sowohl veröffentlichte (436) als auch unveröffentlichte Dokumente (96) aufgenommen. Erstere fanden Druck in Zeitschriften, Sammelbänden und Monographien sowohl des Bund als auch anderer Institutionen. Letztere stammen primär aus dem Bund-Archiv, aber auch der autobiographische Wettbewerb des YIVO 1942 erwies sich als anregende Fundgrube.38 Zu ersehen ist, dass bundische Autobiographik großteils im öffentlichen Raum stattfand, oder aber auf ihn abzielte, wie im autobiographischen Wettbewerb des YIVO, dessen Sieg mit einer Veröffentlichung prämiert war. Sie wurde stark rezipiert und weist viele intertextuelle Bezüge auf. Im Zuge der Personalisierung bundischer Memorik wurde Autobiographik nach dem Zweiten Weltkrieg in den USA zu einem Schwerpunkt der bundischen Publizistik überhaupt. Schon zuvor aber wurde sie weltweit rezipiert, so bot beispielsweise schon die argentinische Biblioteca rusa ab 1907 nicht nur russländische Publikationen an, sondern eben auch den USamerikanischen ‚Forverts‘.39 Doch gibt es, wie schon für die Presse des Bund bemerkt, starke regionale Unterschiede. Dies schlägt sich vor allem in nicht veröffentlichten Quellen nieder. Trotz intensiver Recherche wurde ich in den argentinischen Archiven kaum fündig. Die einzige größere autobiographische Sammlung entstand in einer Interviewkampagne des Centro Marc Turkow. Dieses bemühte sich nach dem Ende der Militärdiktatur um die Dokumentation jüdischen Lebens in Buenos Aires und führte lange Interviews mit über 200 argentinischen Juden. Diese wurden jedoch weitaus mehr vom Wissensdurst Involvierter geleitet als von historisch-anthropologischen Methoden wurden intensiv durchforstet, gleiches gilt für Sammelbände Art. Begrenzt hinzugezogen wurden Tageszeitungen wie der ,Forverts‘ oder die ,Naye folkstsaytung‘, etwas stärker sekundärbundistische Periodika wie ,Der veker‘. Eine volle Erfassung wäre hier vor allem durch die noch wesentlich aufwendigeren biographischen Recherchen zu den Autoren nicht zu rechtfertigen gewesen. Eingehende Sondierungen zeigten zudem, dass dadurch bestehende Trends nur bestätigt würden. Vgl. die komplette Bibliographie im Anhang. 38 YIVO, New York, RG 102. Dazu siehe: Soyer, „Documenting Immigrant Lives at an Immigrant Institution“; Cohen und Soyer, Hrsg., My Future Is in America. 39 Stets annonciert in den ersten Ausgaben des ,Der avangard‘, Buenos Aires 1908 f.

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Vergemeinschaftung durch kollektives Erinnern

und weisen darum oft äußerst zweifelhafte Schwerpunktsetzungen auf.40 Unter den Interviewten waren fünf Bundisten zu ermitteln, welche durch anderweitig recherchierte Erinnerungen führender Mitglieder des Avangard oder der Bund-Gruppen der Zwischenkriegszeit ergänzt wurden.41 In den USA hingegen nahm die Flut an Erinnerungen spätestens ab den 1920erJahren stark zu. Dies führte zu zahlreichen Monographien, die hier mit 67 Stück eine weitaus größere und heterogenere Gruppe bilden als die maximal ein bis zwei Dutzend, die in der Historiographie herangezogen werden. Fast alle Autoren eines Buches verfassten dazu jedoch auch einen oder mehrere ergänzende autobiographische Artikel, in denen an spezielle Ereignisse erinnert wurde. Dies geschah treu jenes Mottos, das der Verlag Lebns-fragn 1921 eingangs von Beynish Mikhalevitshs Autobiographie, der ersten monographischen Autobiographie eines Bundisten, formulierte: Denn die Geschichte einer Bewegung, einer Partei besteht nicht nur aus Geschehnissen und Beschlüssen allgemeiner Art. Sie besteht auch aus einem großen Reichtum an Erlebnissen und Episoden, welche sich auf einzelne Menschen beziehen, die eine glaubhafte Vorstellung der Epoche vermitteln, ein lebendiges Bild von der Umwelt, in der die Parteiarbeit stattfand, welches in sich die Stimmungen und die Gefühle der Kämpfer widerspiegelt und uns nicht nur den Tritt der Massen hören lässt, sondern auch den Herzschlag der Marschierenden.42

Diese Vermittlung einer „glaubhaften Vorstellung“ setzten sich immer mehr Autoren zum Ziele. So schrieben zahlreiche unbekannte Bundisten oft nach der Migration kurze autobiographische Texte über besondere, für den Aktivismus des Bund erwähnenswerte und per Autobiographik wieder aufrufbare Erlebnisse. Da sich diese zu einem Bild ergänzen sollten, stellen Artikel die Hauptgattung bundischer 40 Der Unterschied wird im Vergleich zweier Interviews mit dem Bundisten Hershl Goldmints deutlich. Das 1986 geführte Interview des Historikers Ephraim Zadoff (Centro Mark Turkow, Archivo de la palabra, #22) wird vor allem von den Erwartungen der Historikers geleitet und ist weitaus weniger aussagekräftig als jenes, welches 1998 vom Historiker Marcelo Dimentstein im Stile des narrativen Interviews geführt wurde (Kopie in meinem Besitz). Von mir geführte Interviews, wie z. B. mit Israel Laubstein, wurden nicht in die Datenbank aufgenommen. 41 Centro Mark Turkow, Archivo de la palabra, #11, #14, #22, #32, #53; ausgiebig recherchiert wurde in Argentinien in den Beständen des IWO, des CeDInCI, des Centro Marc Turkow und im Archiv der kommunistischen Schule I.  L. Peretz, Villa Lynch welches an der Universidad General San Martin UNSAM lagert. Für entscheidende Hilfestellungen zu Letzteren danke ich Nerina Visacovsky. 42 N. N., „Fun farlag“.

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Bundische Autobiographik als soziale Formation

Autobiographik dar. Im stark kulturalisierten Verständnis der yidishkayt war war auch genügend Raum für autobiographische Lyrik, wie zum Beispiel Dovid Eynhorns „Mayn heym“.43 Die Heterogenität der autobiographischen Schriften erlaubt also vielmehr von einem „Modus“ Autobiographik denn von einem Genre zu sprechen, wobei sich dieser Modus an den Gefühlen orientierte, die durch das Handeln innerhalb des Bund selbst entstanden.44 Obwohl also sämtliche Autoren im Bund gehandelt hatten und für ihre Mitaktivisten schrieben, darf bundische Autobiographik nicht als Parteiliteratur verstanden werden. Um differenziert arbeiten zu können, unterscheide ich darum drei Stufen. Primäre bundische Autobiographik zeichnet sich dadurch aus, dass sie in einem offensichtlichen Verhältnis zu offiziellen Organen des Bund entstand, also zum Beispiel in seinen Periodika gedruckt oder seinen Verlagshäusern verlegt wurde. Dies unterscheidet sich von der sekundären bundischen Autobiographik, die in bundnahem, aber nur oder nicht nur vom Bund dominiertem Umfeld veröffentlicht wurde, also zum Beispiel in Verlagshäusern und Journalen sekundärbundistischer Organisationen (z. B. ‚Der veker‘) oder in Verlagen, die nicht allein von Bundisten betrieben wurden (Farlag di velt, Warschau). Drittens wird dies ergänzt durch tertiäre bundische Autobiographik, die komplett abseits des Bund, also zum Beispiel in anderen linken Verlagen oder auch im Selbstverlag, erschien. Gattung

Gesamt

Typ bundischer Autobiographik (primär/ sekundär/ tertiär/unklar)

Artikel

356

250 / 62 / 43 / 1

Script (unveröffentlicht)

96

64 / - / 32 / –

Buch

67

9 / 21 / 37 / –

Interview

6

– / – / 6 / –

Brief (veröffentlicht)

4

– / 1 / 3 / –

Sonstiges

3

1/ – / 2 / –

Gesamt

532

324 / 84 / 123 / 1

Tafel 14: „Gattungen“ bundischer Autobiographik

43 Dovid Eynhorn, „Mayn heym“, in Fun dor tsu dor: Fragmentn fun forsharbetn tsu der kharakteristik un zikhroynes, hg. von A. Veyter, Dovid Eynhorn, und Z.I. Onoihi (Buenos Aires: Josef Lifshits-fond fun der literatur-geselshaft beym YIVO, 1974), 84 f. 44 Zur Unterscheidung, siehe: Inka Arroyo, „Autobiographik: Genre oder Modus der hebräischen Literatur“, in Neuer Anbruch. Zur deutsch-jüdischen Kultur, hg. von Michael Brocke, Aubrey Pomerance, und Andrea Schatz (Berlin: Metropol, 2001), 161–174.

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Vergemeinschaftung durch kollektives Erinnern

Hält man allein die autobiographischen Monographien gegen die Literaturverzeichnisse der wichtigen Bücher zum Bund, fällt auf, dass in erster Linie jene neun Monographien als Quellen genutzt werden, die primäre bundische Autobiographik sind. Partiell ergänzt werden diese durch einige wohlbekannte Bundisten, die im sekundärbundistischen Umfeld publizierten. Wesentlich weniger Beachtung finden hingegen Bücher der tertiären bundischen Publizistik, die meist von Arbeitern und weniger bekannten Bundisten verfasst wurden. Diese aber schildern jenen Einfluss des Bund über das Führungsgremium hinaus, der den Bund so bedeutend machte. Arbeiter finden fast nur Beachtung, wenn sie den Aufstieg in höhere Parteiränge geschafft hatten. Den Aussagen von Arbeiteraktivisten wurde bislang also wenig Quellenwert zugestanden. Die Forschung fand im heterogenen Feld der bundischen Autobiographik oft das, was sie suchte: Führer und klare Aussagen über organisationsspezifische Merkmale des Bund. Die Breite der Partizipation und vor allem die Ambivalenzen des Arbeiteralltags als Bundist rückten so schon durch diese Quellenauswahl in den Hintergrund. Das geschah aber nicht aufgrund einer aktiven Marginalisierung der Arbeiter, sondern aufgrund des Erkenntnisinteresses und der fehlenden Analyse bundischer Autobiographik als sozialhistorische Quelle. Um diese zu erschließen, sind erstens Konjunkturverläufe bundischer Autobiographik zu betrachten und zweitens die an ihr erkennbaren Schichtungen innerhalb des Bund.

Periodisierungen Bislang wird bundische Geschichte anhand von vier Perioden konzipiert: der russländische Bund der Zarenzeit, der polnische der Zwischenkriegszeit, die Geschichte des Bund im Widerstand gegen die nationalsozialistische Besatzung und die erst jüngst erforschte Nachkriegszeit des Bund. Keine seriöse wissenschaftliche Studie durchbrach bislang diese internen Mauern. Fragt man nach der Organisationsgeschichte des Bund, macht diese Teilung großen Sinn. In jeder Periode gab es juristische Rahmensetzungen, die zwischen Verfolgung und Illegalität und legaler Präsenz und Wahlkampf schwankten. Diese Rahmen definierten die Organisationsmöglichkeiten und damit auch Zielsetzungen. Aus praxishistorischer Sicht sind diese Epochen jedoch bestenfalls Hilfestellungen. Wie gezeigt überdauerten zahlreiche Praktiken (teilweise in gewandelter Form) die gesellschaftlichen Brüche. Zudem wurden Aktivismusmuster vergangener Tage wieder aufgegriffen. Praktiken sind an menschliche Akteure angebunden. Diese überlebten Brüche und produzierten per Praktiken Kontinuitäten, oder, in Andrew

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Bundische Autobiographik als soziale Formation

Frank Wolff Abbotts Worten, soziale Strukturen.45 In der Memorik überlagerte sich dies. Den-

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noch sindMöglichkeiten auch aus praxishistorischer Sicht15). Periodisierungen die einerseits bieten sich zwei an (vgl. Tafel Anhand der sichtbar, Schreibeepochen bundischer durch seine Organisationsformen, andererseits aber eben auch durch Generationen, Autobiographik ist esund möglich, eineSchwerpunktsetzungen praktisch-aktivistische Periodisierung Erfahrungen wandelnde definiert sind. zu entwerfen. Diese Dadie Autobiographik eine aktivistische Praktik andere Praktikenzu reflekentsteht durch Bündelung der Schreibezeitpunkte derwar, 532dieAutobiographien signifikanten tierte, lässt sich aus ihr eine feinere, aus dem bundischen Handeln selbst abgeleitete Epochen und lässt Konjunkturverläufe bundisch-autobiographischen Schreibens erkennen. Periodisierung entwickeln. Dabei bieten sich zwei Möglichkeiten an (vgl. Tafel 15, S. Dabei sind fünfAnhand Epochen auszumachen: erstens die Zeit von der Gründung des Bund 198). der Schreibeepochen bundischer Autobiographik ist es möglich, eine bis ins praktisch-aktivistische Periodisierung zu entwerfen. Diese entsteht durch die BündeRevolutionsjahr 1917, welches in der bundischen Autobiographik eine geringe Rolle spielte. lung der Schreibezeitpunkte der 532 Autobiographien zu signifikanten Epochen und Zweitens lässt gab Konjunkturverläufe es eine Übergangszeit zunehmender Autobiographik zwischen 1917Dabei und 1921/22, bundisch-autobiographischen Schreibens erkennen. sind fünf auszumachen: die Zeit von der Gründunganschloss. des Bund bis an die drittens dieEpochen Phase des etabliertenerstens polnischen Bund 1921–1939 Dieinsfolgenden Revolutionsjahr 1917, welches in der bundischen Autobiographik eine geringe Rolle Perioden ab Ausbruch des Zweiten Weltkrieges und ganz besonders nach der 1947 erfolgten spielte. Zweitens gab es eine Übergangszeit zunehmender Autobiographik zwischen Gründung1917 desundWorld Bund, verdeutlichen, Autobiographik Bund 1921/22, an die drittens die Phasedass des etablierten polnischenim Bund 1921–auch im 622 1939 anschloss. Die folgenden Perioden ab Ausbruch des Zweiten Weltkrieges und Migrationsprozess nicht nachließ. ganz besonders nach der 1947 erfolgten Gründung des World Bund, verdeutlichen, dass Autobiographik im Bund auch im Migrationsprozess nicht nachließ.46 300 250 200 150 100 50 0 x-1897

1897-1907

1907-1914

1914-1917

1917-1921

1922-1939

1939-1945

1945-x

inskribiert-aktivistisch (Berichtszeitraum) praktisch-aktivistisch (Schreibezeitraum)

Tafel 15: Konjunkturverlauf bundischer Autobiographik Symbole stehen für Werte, Linie verdeutlichen die Tendenzen

Tafel 15: Konjunkturverlauf bundischer Autobiographik

Symbole stehen für Werte, Linie verdeutlichen die Tendenzen 45 Abbott: Time Matters, 255, 258. 46 Letztere wäre sicher weiter zu differenzieren, aber dies ist nicht Gegenstand dieser Studie.

Zweitens verläuft dazu eine inskribiert-aktivistische Periodisierungskurve, in der sich die Berichtszeiträume spiegeln, also die Zeiträume, über die Autobiographien berichten. Daran sind die Schwerpunkte der erinnernswerten Zeiträume und der jeweilig dominanten Praktiken zu erkennen. Im Gegensatz zur ersten Periodisierung sind hierbei Mehrfachnennungen (insg. 891 Einträge) möglich, denn oft schildern Autobiographien Ereignisse von mehr als einer „Epoche“.

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Vergemeinschaftung durch kollektives Erinnern

Zweitens verläuft dazu eine inskribiert-aktivistische Periodisierungskurve, in der sich die Berichtszeiträume spiegeln, also die Zeiträume, über die Autobiographien berichten. Daran sind die Schwerpunkte der erinnernswerten Zeiträume und der jeweilig dominanten Praktiken zu erkennen. Im Gegensatz zur ersten Periodisierung sind hierbei Mehrfachnennungen (insg. 891 Einträge) möglich, denn oft schildern Autobiographien Ereignisse von mehr als einer „Epoche“. Nimmt man diese Schwerpunktsetzung der Texte in den Blick, ist eine leicht verschobene und mit acht Schritten weiter verfeinerte Periodisierung zu erkennen. Hauptunterschiede sind hierbei, dass erstens die Zeit vor 1897, also vor der Gründung des Bund, viel Aufmerksamkeit bekommt und dass zweitens das Gründungsjahrzehnt die am stärksten erinnerte Epoche überhaupt ist. Drittens wird der Erste Weltkrieg erinnert, obwohl der Bund in dieser Zeit politisch nicht sonderlich hervortrat, wohingegen die Zeit der intensivsten Erinnerungsproduktion nach 1945 zugleich die am wenigsten erinnerte ist. Bezieht man beide Periodisierungen aufeinander, fällt auf, dass sich beide Zeitlinien ab der Gründung des Bund zunehmend annähern und in der Zwischenkriegszeit parallel verlaufen. In dieser Zeit deckte sich die Produktion von Erinnerung also mit der Produktion von Erinnernswertem. Die bundische Kultur konnte sich zu dieser Zeit also kohärent entfalten. Durch den deutschen Massenmord und die Massenflucht wurde dem jedoch die Basis entzogen. Das Verhältnis zwischen Aktivismus und Erinnerung dreht sich um, der aktivistische Komplex des Bund zerfiel. Deutlich zu erkennen ist aber auch, dass sich die bundische Autobiographik nicht entlang einer „moving wall“ bewegte, also Vergangenheit nicht durch den Ablauf irgendeiner Frist erzählenswert wurde. Die Schwerpunktsetzung liegt ganz klar auf jenen Phasen, in denen der Bund zum einen Erfolge verzeichnen konnte, zum anderen aber auch große Hindernisse zu überwinden hatte. Dies ist in erster Linie die mit Abstand am meisten erinnerte Urzeit des Bund 1897–1907, gefolgt von der Zwischenkriegszeit. Autobiographik zum Holocaust nimmt – und das trotz der Vielzahl hinzugezogener Texte der Nachkriegszeit – in absoluten Zahlen nur den dritten Rang ein. Ebenso ist es bemerkenswert, dass sich die bundische Autobiographik im Gesamten um „Flächendeckung“ bemüht zeigt, also in sich die gesamte Geschichte des Bund abzudecken versucht und deswegen auch die Phasen intensiv kommemoriert, in denen der Bund keine Massenbewegung war, so wohl zwischen 1907 und 1921 – denn das Besondere war ja, diese Phasen als bundische Organisation anhand privat erlebter bundischer Geschichte zu überleben. Zudem erscheint hier das Jahr 1917 nicht unbedingt als „Epochenbruch“.47 Weder wird es intensiv erinnert, was einen eminenten Unterschied zur Erinnerungskul47 Dabei soll keineswegs bestritten werden, dass das Jahr 1917 eine Zäsur darstellte, jedoch suggeriert die gängige Fixierung auf das Jahr 1917, wie schon Karl Schlögel luzide

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tur der Bolschewiki ausmacht, noch „brach“ mit dem Jahr 1917 eine Welle an Autobiographik los.48 Wohl aber verstärkten sich ab 1917 Tendenzen, denn von nun an nahm die Autobiographik des Bund kontinuierlich zu. Wie gezeigt spielte Memorik schon vor 1917 eine wichtige Rolle im Bund. Erst nach 1917 jedoch zog in diese vermehrt die Autobiographik ein, um diese letzten Endes dann fast komplett zu dominieren. Wenn es überhaupt eine Art Umbruchsjahr gab, dann lag diese im Jahr 1922, in dem die 5-jährige Geschichte der Februar- und Oktoberrevolution und das 25-jährige Jubiläum des Bund zusammenfielen. Während in den Jahren 1917 und 1918 lediglich zehn bundische Autobiographien erschienen, liegt deren Zahl allein im Jahr 1922 bei 19.

Die Persistenz des Vergangenen Damit ist dies auch die erste Analyse der Autobiographik einer in der jüdischen Geschichte entscheidenden politischen Gruppe vor und nach dem Holocaust.49 Die Ergebnisse sind frappierend: Mitnichten kann die Autobiographik des Bund nach dem Zweiten Weltkrieg auf eine Bewältigungsstrategie des Holocaust reduziert werden. Man kann nicht einmal einen eindeutigen Schwerpunkt auf der Verarbeitung des Holocaust erkennen, wie eine Aufschlüsselung in Berichtsepochen pro Schreibepoche zeigt (Tafel 16, S. 200).50 Der Schock des Zweiten Weltkrieges traf die schon seit jeher gegen jedweden Antisemitismus kämpfenden Bundisten hart. Der Bund gehörte zu jenen Organisationen, die schon während des Krieges die Verfolgung der Juden lautstark thematisierten. Dies bedeutet jedoch nicht, dass die bundische Identität über Bord geworfen wurde. Der Großteil aktivistischer Pressetexte in bundischen Periodika widmete sich während des Krieges tagespolitischen Fragen. Die jüngste Vergangenheit wurde in der Autobiographik der Jahre 1939–1947 sehr stark thematisiert.51

48 49 50

51

bemerkte, „so etwas wie eine Stunde Null, einen Hiatus, ein Davor und Danach“, was letzten Endes einfach nur eine jener „Simplifikationen“ ist, mit denen wir „das Chaos der Geschichte zu ordnen pflegen.“ Karl Schlögel, Petersburg. Das Laboratorium der Moderne, 1909–1921 (München, Wien: Carl Hanser, 2002), 11 f. Zur Erinnerungspolitik der Bolschewiki, siehe: Corney, Telling October. Vgl. z. B.: Malo, Behauptete Sujektivität, 38–42. Der Fokus richtet sich meist auf einzelne Autoren oder die Verarbeitung des Holocaust als narrative Strategie, sehr anregend dahin gehend: Claudia Brecheisen, Literatur des Holocaust: Identität und Judentum bei Jakov Lind, Edgar Hilsenrath und Jurek Becker (Augsburg: Univ. Diss., 1993). Vgl. Kap. III.2 [Publizistik].

Bewältigungsstrategie des Holocaust reduziert werden. Man kann nicht einmal einen eindeutigen Schwerpunkt auf der Verarbeitung des Holocaust erkennen, wie eine Aufschlüsselung in Berichtsepochen pro Schreibepoche zeigt (Tafel 16).626 200 Vergemeinschaftung durch kollektives Erinnern

38%

bis 1907

50%

bis 1917

Schreibeepoche

63%

1917-1921

49%

26%

1922-1939

4%

1948-x

4% 0%

21%

17% 10%

9% 20%

5% 30%

10%

11% 40%

6%

11%

9%

14%

13%

11%

47%

20%

1939-1947

10%

40%

15%

24% 50%

60%

4%

70%

11%

25%

18% 80%

2%

1%

13% 90%

100%

Anteil Berichtsepochen Vorzeit (bis 1897) Übergangszeit (1917-1921)

Urzeit (1897-1907) Zwischenkriegszeit (1922-1939)

Reaktion (1907-1914) Zweiter Weltkrieg (1939-1945)

Erster Weltkrieg (1914-1917) Nachkriegszeit (nach 1945)

Tafel 16: Epochen und Schwerpunkte bundischer Autobiographik Tafel 16: Epochen und Berichtsepochen Schwerpunkte bundischer Autobiographik Verteilung von 889 unter 532 Autobiographien Verteilung von 889 Berichtsepochen unter 532 Autobiographien

Trotz allem nahm sie aber nur ein Viertel der gesamten Autobiographik der Epoche dieser kämpfenden Bundistenin hart. Der Schreibeepochen Bund gehörte zu jenenist, Organisationen, schonAspekte während des Berichtsepoche allen kann durchdiezwei erklärt werKrieges Verfolgung der Juden thematisierten. Dies bedeutet jedoch dass die den: die Erstens richtete sichlautstark die bundische Autobiographik nach nicht, innen. Dieses Innere des Bund wurde schlagartig ausgehöhlt. Gerade deswegen musste sich der Blick der 625 Bewegung den Bund selbst Vgl. z. B.: Malo,auf Behauptete Sujektivität, 38–42.richten, sonst würde ihm die für die Vorwärtsbewe626 Der Fokus richtet sich meist auf einzelne Autoren oder die Verarbeitung des Holocaust als narrative Strategie, gung notwendige Energie fehlen. Holocaust war ein und fürchterlicher Aspekt der sehr anregend dahin gehend: Claudia Brecheisen,Der Literatur des Holocaust: Identität Judentum bei Jakov Lind, Edgar Hilsenrath und Jurek Becker (Augsburg: Univ. Diss., 1993). bundischen Geschichte, der mit Absicht durch Erfolgsgeschichten aus der weiteren Vergangenheit konterkariert werden sollte. Autobiographik stand für das Leben, was nun stärker denn je weggerissen wurde. Der Blick zurück auf das Grauen war weniger persönliche Verarbeitung als vielmehr ein Aufbäumen gegen die Anormalität der Zeit. Daran schloss die Autobiographik der Nachkriegszeit an. Bundische Autobiographik nahm in der jüdischen Autobiographik sicher keinen Sonderrang ein. Es erschienen viele Überlebensberichte, die zum Zwecke der Traumabewältigung individuelle Geschichte zwischen Überfall und Befreiung erzählen. Sie verhandeln das, was Dan Diner als „gestaute Zeit“ beschrieb, ein Zeiterlebnis, welches sich von der vorherigen und späteren Zeitlichkeit löst und ein unbeschreibbares Kontinuum hinterlässt, in dem Anfang und Ende unlösbar aufeinandertreffen.52 Diese „gestaute Der Schock des Zweiten Weltkrieges traf die schon seit jeher jedweden ein. Dieser verhältnismäßig niedrige Anteil, der gegen zugleich der Antisemitismus höchste Anteil

52 Dan Diner, „Gestaute Zeit - Massenvernichtung und jüdische Erzählstruktur“, in Fünfzig Jahre danach: zur Nachgeschichte des Nationalsozialismus, hg. von Sigrid Weigel

Bundische Autobiographik als soziale Formation

201

Zeit“ erlebten Bundisten aber auch in Stalins Sowjetunion, weswegen nicht nur der Holocaust, sondern auch die dortige Verfolgung das bundische Epochenbild 1939– 1947 stark prägten. Entgegen der allgemeinen Annahme jedoch, dass jüdische Nachkriegsautobiographik immer stärker das Grauen thematisierte, gingen nach dem Holocaust Erinnerungen an die Epoche des Zweiten Weltkrieges um fast ein Drittel auf lediglich 18 % zurück.53 Überflügelt wurde dies durch Erinnerungen an die Zwischenkriegszeit. Selbst die Urzeit des Bund bis 1907 reichte fast an diesen Anteil heran – und das, obwohl aufgrund des Alters immer weniger altgediente „Veteranen“ berichten konnten. Dies unterstützt neuere Ansätze, die jüdische Autobiographik nach dem Holocaust weniger als individuelle oder kollektive Traumabewältigung, sondern vielmehr als öffentliche Indentitätsverhandlung verstehen, in der das Leben der Vorkriegszeit eine entscheidende Rolle spielt.54 Auch Nachkriegsautobiographik brach nicht mit der langen Tradition jüdischer Autobiographik.55 Zudem beruhte und Birgit R. Erdle (Zürich: vdf Hochschulverlag an der ETH Zürich, 1996), 5 f. 53 Siehe z. B.: Manuela Günter, Überleben schreiben: Zur Autobiographik der Shoa (Würzburg: Königshausen & Neumann, 2002); Erin H. McGlothlin, „‚Im eigenen Hause‘ … ‚vom eigenen Ich‘: Holocaust Autobiography and the Quest for ‚Heimat‘ and Self “, in Erinnerte Shoa: Die Literatur des Überlebenden – The Shoa Remembered: Literature of Survivors, hg. von Walter Schmitz (Dresden: Thelem, 2003), 91–119; Arianne Eichenberg, Zwischen Erfahrung und Erfindung: Jüdische Lebensentwürfe nach der Shoa (Köln, Weimar, Wien: Böhlau, 2004); Elrud Ibsch, Die Shoa erzählt: Zeugnis und Experiment in der Literatur (Tübingen: Max Niemeyer, 2004); Christoph Münz, „‚Wohin die Sprache nicht reicht …‘ Sprache und Sprachbilder zwischen Bilderverbot und Schweigegebot“, in Verbot der Bilder – Gebot der Erinnerung. Mediale Repräsentation der Shoa, hg. von Bettina Bannash und Almuth Hammer (Frankfurt am Main, New York: Campus, 2004), 146–165; Silke Segler-Messner, Archive der Erinnerung: Literarische Zeugnisse des Überlebens nach der Shoa in Frankreich (Köln, Weimar, Wien: Böhlau, 2005); Adam Brown, „Traumatic Memory and Holocaust Testimony: Passing Judgement in Representations of Chaim Rumkowski“, Colloquy 15 (2008): 128–144; Bertram J. Cohler, „Life Writing in the Shadow of the Shoah: Fathers and Sons in the Memoirs of Elie Wiesel and Leon Weliczker Wells“, International Journal of Applied Psychoanalytic Studies 7, Nr. 1 (Dezember 17, 2009): 40–57; Sharon Kangisser Cohen, „Survivors of the Holocaust and Their Children“, Journal of Modern Jewish Studies 9, Nr. 2 (2010): 165–183; Isabel Werle, Retrospektiven (üb) erlebten Tötens: autobiographische Zeugenschaft von Opfern und Tätern des Holocaust (Hamburg: Kovač, 2010). 54 ���������������������������������������������������������������������������������� Richard Freadman, „Generational Shifts in Post-Holocaust Australian Jewish Autobiography“, Life Writing 1, Nr. 1 (2004): 21–44; Richard Freadman, This Crazy Thing a Life: Australian Jewish Autobiography (Crawley: University of Western Australia Press, 2007). 55 Siehe v. a.: Moseley, Being for Myself Alone.

202

Vergemeinschaftung durch kollektives Erinnern

die transnationale bundische Vergemeinschaftung nach 1947 immer stärker auf Schilderungen des Lebens und des Aktivismus. Die Heterogenität des Erinnerns bestand fort, sie beanspruchte, ebenso bunt wie das jüdische Leben vor dem Krieg zu sein und gerade wegen des Verlustes dieser Welt immer stärker an diese zu erinnern. Darum wurde bundische Autobiographik auch nach dem Holocaust keine individualisierte Überlebensliteratur, sondern wurde nach wie vor in die Geschichte des Bund eingebunden. Das beste Beispiel ist die Autobiographik des 1889 geborenen bekannten Bundisten Bernhard Goldstein. Bereits 1947 erschien sein Buch „Finf yor in varshever geto“. Es war eines der ersten Bücher des bundischen Verlags Unzer tsayt in New York und zugleich eine sehr frühe Erinnerung an den Holocaust. Goldstein veröffentlichte auch zahlreiche kurze Überlebensberichte in ‚Unzer tsayt‘.56 Bereits im Jahre 1949 erfuhr dieses Buch eine englische Übersetzung, die jedoch aufgrund des international noch recht geringen Interesses an derartigen Berichten keine allzu bedeutende Rezeption erfuhr.57 Dies änderte sich in den 1960er-Jahren, als es zum Beispiel auch eine deutsche Übersetzung erfuhr. Seitdem hält das Interesse an dieser Erinnerungsschrift ungebrochen an, was sich auch in Neuauflagen dieses Klassikers zum Widerstand im Warschauer Ghetto niederschlägt. Dies erlebte Goldstein selbst jedoch als Engführung. In hohem Alter verfasste er darum eine ebenso einmalige Schilderung des jüdischen Lebens im Warschau der Zwischenkriegszeit. Diese sollte vor allem an seinen Aktivismus im Warschauer Bund und damit an das Leben der polnischen Juden in der Zwischenkriegszeit erinnern. „Juden gedenkt! Juden schreibt nieder! – ist der Ruf, der durch die heutige jüdische Nachkriegsepoche dringt“, bringt Emanuel Szerer in der Einleitung zu diesem Buch die Gefühle der Bundisten auf den Punkt: Aber dies darf nicht zu eng verstanden werden, es darf nicht ausschließlich auf die Vernichtung [khurbn] und den Widerstand im Zweiten Weltkrieg reduziert werden. Der beispiellose Völkermord der Nazis an über 6 Millionen Juden mit der polnischen jüdischen Gemeinschaft in der ersten Reihe der Ermordeten, wird in den Augen der Welt wahrhafter und größer für die zukünftigen jüdischen Generationen, wenn das jüdische Leben richtig beschrieben wird – und das bedeutet eben zu einem großen Teil das jüdische Arbeiterleben – was inmitten seines stürmischen Aufstieges derart grausam und to-

56 Bernard Goldstein, „Tsvishn vidershtand un onmekhtigkeyt“, Unzer tsayt, New York 1 (1947): 40–42; Bernard Goldstein, „Fun di zeydes - tsu di eyniklekh. Di ���������������� bundishe kinder unter der natsisher beytsh“, Unzer tsayt, New York 3–4 (1947): 133–137; Bernard Goldstein, „Fun dem kamf kegn geto - biz der letster geto-shlakht“, Unzer tsayt, New York 4 (1953): 8–12. 57 Bernard Goldstein, The Stars Bear Witness (New York: Viking Press, 1949).

Bundische Autobiographik als soziale Formation

203

tal niedergerissen wurde. […] Das Buch des khaver Bernard Goldstein widmet sich jener wenig beschriebenen Epoche. Schon allein deswegen erfüllt es eine wichtige Aufgabe.58

An dem Buch wiederholte sich aber das Bemängelte: Es wurde außerhalb des Bund kaum wahrgenommen und auch nicht übersetzt.59 Für die Vergemeinschaftung innerhalb des Bund jedoch war es von großer Bedeutung und ist als ein Teil jener Literatur zur Zwischenkriegszeit zu sehen, die nach 1948 den Schwerpunkt bundischer Autobiographik ausmachte. Nicht trotz, sondern gerade wegen der Schrecken des Holocaust, so ist zu schlussfolgern, fokussierte bundische Autobiographik nach dem Krieg fast gleichmäßig auf alle Epochen. Widmeten sich zuvor bis 1939 noch über zwei Drittel aller Berichtsepochen der Vor- und Urzeit des Bund, herrschte ab der Katastrophe ein umso lebendigeres Nebeneinander aller Zeiten. Die Schilderungen aber wurden immer redundanter. Besonders gilt dies für personenbezogene Autobiographik. Sie übernahm die Funktion von Nekrologen und so häufen sich Anekdoten im Stile: „Wie ich den verstorbenen khaver XY zum ersten Mal getroffen habe“. Deutlich zurück trat dabei jedoch die Epoche, die Catherine Merridale als Kennzeichen nichtsowjetischer Autobiographik benannte: Der Erste Weltkrieg. Anders als Merridale für die Sowjetunion feststellt, behielt er einen festen Platz, allerdings einen randständigen.60 Der Bund war Kriegsgegner und Vertreter einer gemäßigten Zimmerwalder Linie. Dies verhalf ihm zu Profil, in seiner politischen und kulturellen Arbeit spielte es jedoch keine große Rolle.61 An der breiten Verteilung der Berichtsepochen wird deutlich, dass bundische Vergemeinschaftung nicht von wegweisenden Entscheidungen ausging, sondern von Partizipation. Erinnernswert wurde, was von vielen Aktivisten getan wurde. Dies ballte sich in der Urzeit, ganz besonders um 1905 und später um die Zwischen58 Emanuel Szerer, „Areynfir“, in 20 yor in Varshever „bund“, 1919–1939, von Bernard Goldstein (New York: Unzer tsayt, 1960), X, XI. 59 Ein Ausdruck der sich wandelnden Aufmerksamkeit ist die laufende Übersetzung des Buches durch Marvin Zuckerman. 60 Catherine Merridale, Steinere Nächte: Leiden und Sterben in Russland (München: Karl Blessing, 2001), 138 ff.; siehe weiterhin: Aaron J. Cohen, „Oh, That! Myth, ���������� Memory, and World War I in the Russian Emigration and the Soviet Union“, Slavic Review 62, Nr. 1 (2003): 69–86. 61 Trotz großer Übereinstimmung entsandte der Bund 1915 keine Delegierten zur Zimmerwalder Konferenz, da auf dieser sein Anspruch auf nationale Selbstbestimmung nicht anerkannt wurde. Der alte, seit zwischen Bund und den „russischen Internationalisten“ um Lenin und Trotzki schwelende Konflikt zeitigte erneut Wirkung, siehe: Geoff Eley, Forging Democracy. The History of the Left in Europe, 1850–2000 (Oxford [u. a.]: Oxford University Press, 2002), 130.

204

Vergemeinschaftung durch kollektives Erinnern

kriegszeit. Bundische Autobiographik zielte keineswegs nur auf Emanzipation oder Subjektkonstitution ab, sie war in erster Linie Aktivismus in der und für die Bewegung.

Schichtung Der Bund sah sich als die jüdische Arbeiterbewegung, was er vor allem durch seine starke Präsenz unter den jüdischen Arbeitermassen begründete.62 Nicht verschwiegen wird dabei die Führungsrolle Intellektueller. Deren Errungenschaften auf organisatorischer und programmatischer Ebene bestimmten den Bund, der in Krisenzeiten aber von Arbeitern übernommen werden konnte. Aus diesem Grund überlebte der Bund, wie Ezra Mendelsohn darstellt, die erste große Verhaftungswelle bundischer Führungsfiguren ab 1898.63 Er ging gar gestärkt daraus hervor, da nun Arbeiter in größerer Zahl die Schlüsselpositionen der Bewegung besetzten.64 Aktivismus und Utopie glichen Arbeiter und Intellektuelle in der Folgezeit scheinbar an. Betrachtet man jedoch die feinen Unterschiede in den Lebensschilderungen von Bundisten – und vor allem deren Tätigkeiten –, wird deutlich, dass der Bund eine sozial differenzierte Bewegung war. Jede relevante Arbeit zum Bund betont diese soziale Heterogenität, sie wurde bislang allerdings nicht untersucht.65 Damit ist die Frage 62 Dieser Vertretungsanspruch sorgte für Konflikte innerhalb der jüdischen Arbeiterbewegung. Aus dem Massencharakter des Bund darf man keine Mehrheitspartei ableiten. Im Zarenreich wäre dies ohnehin nicht möglich gewesen und in Zwischenkriegspolen stellte der Bund nur punktuell gewählte Mehrheiten, vgl. Jacobs, Bundist Counterculture in Interwar Poland, 1–7; Robert Moses Shapiro, „The Polish Kehilla Elections of 1936: A Revolution Re-examined“, POLIN 8 (1994): 206–226. Dem Massencharakter pflichtet auch die nicht direkt auf den Bund bezogene Historiographie bei, z. B.: Haumann, Geschichte der Ostjuden, 152–162. 63 Dies ging vom „Polizeisozialismus“ Sergeij V. Zubatovs aus, der zarentreue Gewerkschaften zu etablieren versuchte, nur um hart gegen die revolutionären Bewegungen vorzugehen. Während die Forschung dies als einen (gescheiterten) Modernisierungsversuch Russlands liest, sahen z. B. Bundisten darin vor allem eine Bedrohung der Arbeiterbewegung und eine Unterstützung der Eliten, vgl.: Jonathan W. Daly, Autocrazy under Siege: Security Police and Opposition in Russia. 1866–1905 (DeKalb, Ill.: Northern Ill. University Press, 1998), 89, 104–108; Murphy, Revolution and Counterrevolution, 13–15; stellvertretend für die bundistische Sicht: Mutnik, „Bletlekh fun mayn leben“; Kossovski, „Zubatov ‚likvidirt dem bund‘“; Shvarts, „Vegn der ‚zubatovshine‘ in Minsk. 64 Mendelsohn, Class Struggle in the Pale. 65 „Schichten“ erkannten schon der Editor der Doyres bundistn, meinte damit aber Phasen des Eintritts und Formen des Aktivismus im Bund. Jakob Sh. Hertz, Hrsg., Doyres

Bundische Autobiographik als soziale Formation

205

nach dem Verhältnis zwischen Arbeitern und besser Gebildeten unbeantwortet. Gertrud Pickhans zu Recht gestellter Frage „Wo sind die Frauen?“ sollte darum die für die Arbeiterbewegung des Bund noch zentralere Frage „Wo sind die Arbeiter?“ vorangestellt werden.66 Wie jedoch identifiziert man Arbeiter in einer Arbeiterbewegung? Ich plädiere für einen biographisierenden Zugang, denn Arbeiter-Sein war im Bund weniger eine Folge der ökonomischen Situation als vielmehr eine Frage der Bildung oder Ausbildung. Ich verstehe also nicht alle Lohnabhängigen oder in spezifischen Branchen Tätigen als Arbeiter, sondern jene, deren Bildungserfahrung die biographische Identifikation als Arbeiter erlaubte. Grundlage ist dabei der Zugang zu Schriftlichkeit, die für die aktivistische Vergemeinschaftung eine zentrale Rolle spielte. Dieser war für Bundisten mit höherer weltlicher oder religiöser Bildung wesentlich leichter als für Bundisten, die lediglich einige Jahre im kheder verbracht hatten. Diese erwarben ihr Wissen nicht an Feder und Mischnah, sondern an Hammer, Nadel oder Werkbank. Ihr Bild von khavershaft war nicht vom gemeinsamen Lernen in der Talmudschule bestimmt, sondern von Ausbeutung und Verbrüderung im Arbeitsalltag. Da Bildungszugang auch ökonomisch reguliert war, behält ein solcher biographisierender Zugang klassenbasierte Exklusionen im Blick, stellt sie aber nicht ins Zentrum. Daraus folgt ein dreistufiges Schichtmodell bundischer Aktivisten. In dessen Zentrum stehen Arbeiter. Diese in der Forschung oft schweigende Majorität besuchte meist nur den kheder oder andere Elementar- oder Mittelschulen und fand den Weg ins Arbeitsleben oft von Kindesbeinen an über die Werkstatt der Eltern oder anderer Handwerker.67 Dies ist keineswegs mit „arbeitend“ zu verwechseln: Ein Gymnasiast konnte später sehr wohl einige Jahre seines Lebens als Schuster arbeiten, der Weg der yeshiva-Schüler führte gar sehr häufig von der Lehrbank zurück zur Werkbank. Entfremdung, Hunger und Lohnabhängigkeit konnten alle Bildungsschichten ereilen. Das verbesserte Verhältnis zur Schriftlichkeit aber blieb ein maßgebliches Unterscheidungskriterium und bestimmte die Lebens- und Karrierewege auf verschiedene Art.68 Arbeiter hatten grundlegend geringere Aufstiegschancen in die Höhen der Bewegung. Dieser Ambivalenz war sich der Bund bewusst und erachtete darum die Weiterbildung der Arbeiter als zentrale Aufgabe. Nicht ohne innere Motivation wurde er einer der wichtigsten Akteure moderner jüdischer bundistn, Bd. 1 (New York: Unzer tsayt, 1956), 9. 66 Pickhan, „‚Wo sind die Frauen?‘“. 67 Eine Annäherung per Sozialstatistik versuchte Bunzl, Klassenkampf in der Diaspora; per Erzählung: Mendelsohn, Class Struggle in the Pale. 68 Dies gilt nicht nur im Bund, auch in der PPS, siehe: Shtern, Zikhroynes fun shturmishe yorn.

206

Vergemeinschaftung durch kollektives Erinnern

Bildung: Er erwuchs eben nicht nur aus den Gewerkschaften des Rayon, sondern auch aus den berühmten „Kreisen“, den Orten illegaler Wissensvermittlung in den Hinterzimmern des zarischen Russland, in denen Aufklärung und Bewusstwerdung im marxistischen Sinne Hand in Hand gingen.69 Dieser Bogen spannt sich über viele Institutionen bis in die Legalität zur berühmten TSYSHO.70 Die Entstehung einer säkularen Jüdischkeit im späten Zarenreich hing, wie Jeffrey Veidlinger belegt, zum einen von der Verfügbarkeit säkularer, oft russischer Literatur ab.71 Diese aber musste durch die m. E. wesentlich wichtigere sozialistische jiddische Literatur ergänzt werden, die sich nicht in den legalen Bibliotheken Russlands befand, sondern auf der Straße von Hand zu Hand weitergereicht wurde. Schriftlichkeit wird hier nicht als Alphabetisierung allein verstanden, sondern als auf die Grundbildung aufbauende und mit steigender Bildung zunehmende Gewöhnung an den Umgang mit Texten, sowohl als Rezipient als auch als Autor. Schrei­ ben war eine bedeutende Grundqualifikation für spätere führende Tätigkeiten im Bund, da diese zunehmend vom gedruckten Wort abhingen. Die beiden anderen Schichten, höher religiös Gebildete und höher weltlich Gebildete waren quantitativ rarer, aber qualitativ besser darauf vorbereitet. Höhere Bildung erwarb man sich durch Besuche weiterführender Bildungseinrichtungen, was im Weltlichen beispielsweise Gymnasien, Hochschulen oder Universitäten sein können und im Religiösen die yeshiva. Daraus folgt ein wertfreies Stufenmodell, welches biographische Entwicklungen mitreflektiert. Weltliche Bildung wird, rein funktionell und ganz im Sinne des Bund, als die „höchste“ Form der Bildung erachtet, Arbeiter als Grundstufe, in der Mitte befindet sich die höhere religiöse Bildung. Die jeweils höhere Bildung „überschreibt“ in diesem biographisierenden Modell vorhergehende Bildungsstufen durch Wissenserwerb, denn mit ihr geht der Akteur neue Assoziationen ein, die seine Agency maßgeblich verändern. Die Kategorisierung in der Datenbank erfolgte dabei (wenn möglich) anhand der höchsten erreichten Bildungsstufe zum Untersuchungszeitpunkt (also zum Beispiel dem Eintritt in den Bund oder zum Zeitpunkt des Verfassens einer untersuchten Autobiographie). Um die Auswirkungen dieser Schichtungen auf die bundische Autobiographik zu untersuchen, war es nötig, die Lebenswege der Autobiographen zu verfolgen. 69 Eine reichhaltige Fülle bietet: Kurski et al., Hrsg., Di yidishe sotsyalistsishe bavegung biz der grindung fun „bund“; siehe z. B. weiterhin: Hershl Novok, Mayne yugnt yorn (Nyu York: Arbeter-ring bildungs-komitet, 1957); Hofman, „Vi azoy ikh bin gekumen tsum ‚bund‘“; zur Rolle der Bildungskreise auch für Töchter aus gelehrtem Hause, siehe: Dubnov-Erlich: Zikhroynes vegn Mendele Abramovitsh, 2 vols. 70 Kazdan: Fun kheyder un shkoles biz Tsisho; zu Einzelgestalten: Ders. (Hrsg.): LererYizkher-Bukh, Komitet tsu faraeybikn dem ondenk fun di umgekumene lerer fun di Tsisho shuln in Poyln: New York 1952–1954. 71 Veidlinger, Jewish Public Culture in the Late Russian Empire, 89–113.

207

Bundische Autobiographik als soziale Formation

Dabei ist der Bildungshintergrund der Autobiographen in vielen Fällen äußerst kompliziert zu recherchieren, denn erstens variieren Autorennennungen zwischen verschiedenen Namen und Pseudonymen je nach Rechtszustand und Migrationsvorgang extrem, zweitens nutzen viele Autoren Namenskürzel, drittens überwiegen in der bundischen Autobiographik episodische Erinnerungen, die nicht auf den gesamten Bildungsweg schließen lassen, und viertens waren vor allem Autoren der Autobiographik zum Holocaust „Einmal-Autoren“, die sonst nicht oder kaum wieder publizistisch in Erscheinung traten. Die Zuordnung zum Bildungshintergrund wurde, fünftens, dadurch erschwert, dass im Bund diesbezüglich starke Tendenzen zur Verschleierung herrschten, kämpfte man doch, ob Gymnasiast oder Schneider, für die gleiche Sache und gegen den gleichen Feind. Dabei ist das Schweigen über die Ausbildung oft ein Indiz höheren Bildungsstands, was sich dann bei weiterer Recherche fast immer bestätigte. Nichtsdestotrotz konnten entsprechende Daten von 80 % der Autobiographien recherchiert werden, wovon unter den Ungeklärten Holocaust-Überlebensberichte mehr als ein Drittel ausmachen. Erinnerungen, die den Kernzeitraum 1897–1939 dieser Studie betreffen, die also entweder in ihm verfasst wurden oder an ihn erinnerten, waren großteils zuordenbar, nicht selten mit sehr weitgehenden Informationen zum Autor. Bildung

Gesichert

Vermutlich

Gesamt72

Arbeiter

147

34

181

Höhere religiöse Bildung

32



32

Höhere weltliche Bildung

198

15

213

Unklar

106



106

Tafel 17: Verteilung bundischer Autobiographik nach Bildung72

Auf dieser Grundlage ist festzustellen, dass die Autobiographik des Bund fast zu gleichen Teilen von Arbeitern und höher Gebildeten verfasst wurde (Tafel 17, S. 207). Arbeiter hatten einen durchaus bedeutenden Anteil an der Autobiographik des Bund und schrieben intensiv an der Geschichte ihrer Bewegung mit. Die Jahrzehnte dauernde Marginalisierung ihrer Perspektiven ist damit schwer nachvollziehbar. Trotzdem ist die Zahl der höher gebildeten Autoren etwas größer, was jedoch in Bezug auf die Schriftlichkeit der Autoren kaum verwundert. Dennoch stammen unter den 67 autobiographischen Monographien 30 von Arbeitern, was also relativ

72 Wenn nicht anders erwähnt, nutze ich im Folgenden diese Gesamtzahl.

208

Vergemeinschaftung durch kollektives Erinnern

keinen Unterschied in der Verteilung zwischen langen und kurzen Erinnerungen erkennen lässt. Doch gibt es eine bemerkenswerte Tendenz. Der Bund entdeckte seine Arbeiter erst spät als Autoren und Träger des „großen Reichtum[s] an Erlebnissen und Episoden“, welche dem Selbstverständnis zufolge die bundische Geschichte gerade 73 Ebenso fingen Arbeiter erst sehr spät an, die Relevanz ihrer eigenen ErFrankausmache. Wolff lebnisse für die bundische Geschichte zu erkennen (Tafel 18, S. 208).

170

120 42%

100

36%

Anzahl

80

60 45%

18% 24%

18%

59%

20 83%

0

34% 29%

34%

40

10%

17%

bis 1907

13% 5%

34%

90%

1907-1917

4%

7%

1917-1921

1922-1939

1939-1947

nach 1947

Schreibepochen Arbeiter

Höhere religiöse Bildung

Höhere weltliche Bildung

Unklar

Tafel 18: Schichtverteilung bundischer Autobiographik nach Schreibepochen

Tafel 18: Schichtverteilung bundischer Autobiographik nach Schreibepochen

Erst ab 1922 zog Arbeiterautobiographik zu einem spürbaren Prozentsatz in die

Erstbundische ab 1922 zog Arbeiterautobiographik zu einem Prozentsatz in dieimmer bundische Autobiographik ein. Dies ging damitspürbaren einher, dass sich nun auch

mehr Bundisten öffentlich erinnerten, die kein Parteiamt sonAutobiographik ein. Dies ging damit einher, dass sich tragendes nun auch immer mehrinnehatten, Bundisten öffentlich dern die die die „Masse“ in der Massenbewegung vertraten. Dies macht sich„Masse“ auch an der erinnerten, kein tragendes Parteiamt innehatten, sondern die die in der

wachsenden Anzahl nicht zuordenbarer Autobiographien bemerkbar, wobei deren relativer Anteil (bis auf den Ausreißer im Lichte der Oktoberrevolution) nahezu Autobiographien bemerkbar, wobei als deren relativer Anteil zu, (bisgestärkt auf dendadurch, Ausreißerdass im unter Lichte der gleich blieb. Arbeiter nahmen Autobiographen ihnen weniger „Wiederholungstäter“ sind als nahmen unter den Gebildeten zu, beider Oktoberrevolution) nahezu gleich blieb. Arbeiter alshöher Autobiographen gestärkt Massenbewegung vertraten. Dies macht sich auch an der wachsenden Anzahl nicht zuordenbarer

dadurch, dass unter ihnen weniger „Wiederholungstäter“ sind als unter den höher Gebildeten beider Arten, die zu einem bedeutenden Prozentsatz zum Beispiel Journalisten und in geringerem 73 N. N., „Fun farlag“. Maße auch Doktoren oder Professoren waren. Anhand dieser Daten können zwei Charakterzüge des Bund hinterfragt werden, die er stolz vor sich hertrug: Erstens muss damit die Charakterisierung des Bund als Arbeiterbewegung relativiert werden. Er war eine Arbeitermobilisierungsbewegung, er zog Arbeiter an, vertrat deren Interessen und konnte im Laufe seiner Existenz nicht nur bildend wirken, sondern diese Bildung

Bundische Autobiographik als soziale Formation

209

Arten, die zu einem bedeutenden Prozentsatz zum Beispiel Journalisten und in geringerem Maße auch Doktoren oder Professoren waren. Anhand dieser Daten können zwei Charakterzüge des Bund hinterfragt werden, die er stolz vor sich hertrug: Erstens muss damit die Charakterisierung des Bund als Arbeiterbewegung relativiert werden. Er war eine Arbeitermobilisierungsbewegung, er zog Arbeiter an, vertrat deren Interessen und konnte im Laufe seiner Existenz nicht nur bildend wirken, sondern diese Bildung auch für seine Reproduktion nutzen. Zunehmend wurde damit Arbeitern Definitionsmacht über die Geschichte des Bund zuteil, dies geschah jedoch – und dies sind eminent bedeutsame Faktoren –, nachdem erstens erinnernswerte Inhalte und Schwerpunkte und zweitens Arten, diese Episoden zu erinnern, durch intellektuelle Autoren etabliert worden waren. Es hatte, um es in der Sprache der sozialen Bewegungsforschung auszudrücken, ein Framing des bundischen Erinnerns stattgefunden, welches Arbeiterautobiographen zwar nicht offiziell reglementierte, aber einen Erinnerungsstil vorgab und es zugleich schwerer machte, „neue Episoden“ zu schildern. Dieses Framing wirkte am Schreibtisch der Arbeiterautoren bis lange nach dem Zweiten Weltkrieg, was in den Autobiographien des Drehers Hershl Metaloviets oder des Tischlers Yoel Novikov deutlich wird: Die Teile, in denen sie von der Zeit vor einem „Aufstieg“ im Bund berichten, sind spannend geschrieben und und schildern unkonventionell personenspezifische Facetten des Lebens als werdender Bundist. Sobald die Autoren aber von Ämtern berichten, die sie übernahmen, ändern sich nicht nur der Inhalt und die Schwerpunkte des Erinnerns, so nehmen „Umblenden“ auf kollektive Geschehnisse in der Geschichte des Bund zu, sondern es ändern sich auch Sprachwahl und Tonfall, der formaler, ja bürokratischer wird. Dabei ist bedeutend, dass beide keine hohen Aufstiege im Bund zu vermelden hatten, sondern immer „nur“ regionale Tätigkeiten mit begrenzter Reichweite, aber hoher lokaler Wirksamkeit. Letztendlich nähern sich solche Erinnerungen damit immer stärker dem Tonfall an, den erstens Vladimir Medems Autobiographie, die am weitesten rezipierte Autobiographie eines Bundisten und Rollenmodell eines intellektuellen Autors, und den zweitens Layb Bermans Autobiographie als Rollenmodell eines im Bund aufsteigenden Arbeiters angeschlagen hatten. Diese waren aber allesamt Männer, weswegen der zweite zu hinterfragende Charakterzug die Rolle der Genderfrage im Bund ist.

Gender Der Bund verstand sich selbst als egalitäre Bewegung nicht nur zwischen Arbeitern und Intellektuellen, sondern auch zwischen Männern und Frauen. Er sprach Frauen deswegen nicht nur viele, sondern in erster Linie gleiche Rechte zu. Dies war für

210

Vergemeinschaftung durch kollektives Erinnern

viele Bundisten und Bundistinnen selbstverständlich und so resümierte die Aktivistin Tsirl Shtayngart 1975, es sei „kein Zufall, dass Frauen in all den Jahren solch eine wichtige Rolle in dem Kampf gespielt haben, den der Bund […] geführt hat“.74 Doch wie sah diese „wichtige Rolle“ konkret aus? Gertrud Pickhan verdeutlicht in einem kritischen Artikel, dass die Präsenz von Bundistinnen im Bund aufgrund des lange Zeit unhinterfragten Selbstverständnisses ungeklärt blieb.75 Als Frage stellt sich dies aber besonders für die bundische Autobiographik, denn wenn die Frauen im Bund einst bis zu 30 % der aktiven Mitglieder ausmachten, sollten doch eigentlich deren Erfahrungen und Erzählungen als „Energielieferanten“ für die aktivistische Memorik des Bund eine bedeutende Rolle spielen. Faktisch jedoch sind Bundistinnen nahezu komplett marginalisiert. Nur 50 der Autobiographien, also keine zehn Prozent, sind Autorinnen zuordenbar, wovon nur dreizehn von Arbeiterinnen stammen, und von diesen stammen wiederum nur drei aus der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg. Und obwohl diese drei Texte Erinnerungen sind, spiegeln sie nicht das Leben als Bundistin wieder. Sie fanden den Weg in den Druck, weil sie explizit nicht von Frauenerlebnissen berichten, sondern sich dem Helden Hirsch Lekert widmen. Eine allzu starke Betonung des Bund wäre bei diesen drei Texten aber auch verwunderlich, denn sie wurden im Rahmen der Mobilisierungsarbeit der Moskauer Evsekcija veröffentlicht.76 Gebildete Bundistinnen traten häufiger in Erscheinung, wobei sich die frühen Autobiographien jedoch auf die drei führenden und hochgebildeten Bundistinnen Sophia Dubnova-Erlich, Esther Frumkin und Anna Rozenthal beschränken.77

74 Tsirl Shtayngart, „Di froyen in ‚bund‘“, Unzer tsayt, New York 3–4 (1975): 22. 75 Pickhan, „‚Wo sind die Frauen?‘“. 76 Elye Reytshuk, „Hirsh Lekert“, in Hirsh Lekert. Tsum 20-tn yortsayt fun zayn kepung (Moskau: Ruslendishe komunistishe partey, Ts. K. fun R.K.P, Ts.B. fun yidsektsye, 1922), 7–10; Sheyne Grinshteyn, „Di Vilne geshehnishn fun Lekerts tsaytn“, in Hirsh Lekert. Tsum 20-tn yortsayt fun zayn kepung (Moskau: Ruslendishe komunistishe partey, Ts. K. fun R.K.P, Ts.B. fun yidsektsye, 1922), 17–21; Elye Reytshuk, „Hirsh Lekerts onteyl in novigoroder onfal. Zikhroynes fun 1900tn-yor“, Der emes, Moskau 129 ( Juni 10, 1927). Eine spezifische Suche nach Autobiographik von Autorinnen in einem noch größeren Quellenkorpus würde mit Sicherheit einige weitere Einzelexemplare zu Tage fördern würde (zum Beispiel in den Sonderbeilagen der ,Naye Folkstsaytung‘, die sich speziell an Frauen richteten, was zugleich aber die Gesamtzahl steigen lassen wird). Im Gesamtbild wird dies wenig an den Relationen ändern. 77 Sophia Dubnow, „[Erinnerungen an Sholem Alekhem]“, Evrejskaja starina (1916); Dubnov-Erlich, „Zikhroynes vegn Mendele Abramovitsh“, Bd. 1 und 2; Esther [Frumkin], „Fun mayn togbkh“, Unzer shtime, Wilna 2, 3 (1918): 2, 2; Esther [Frumkin], „Fun togbkh“, Unzer shtime, Wilna 21 (1919): 2 f.; Esther [Frumkin], „Alte gehstaltn“, Unzer shtime, Wilna 42 (1919): 2 f.; Anna Rozenthal, „Bletlekh fun a lebns-geshikhte“,

Bundische Autobiographik als soziale Formation

211

Das soll jedoch keineswegs bedeuten, dass es keinen Bedarf an bundischer Arbeiterinnenautobiographik gegeben habe. Das Gegenteil belegen die schon im Russland zur Zarenzeit kursierenden „Erinnerungen einer Zigarettendreherin“. Diese mit ca. 30 Seiten recht langen Lebenserinnerungen schildern ausführlich die Schwierigkeiten des Arbeiterinnenlebens im ausgehenden 19. Jahrhundert und deren Besserung durch den Aktivismus der Protagonistin im Bund. Hier fand sich nicht nur Kampf, hier fand sich auch Gemeinschaft, was die Autorin voll Inbrunst für den Bund werben ließ. So wurden diese Erinnerungen unter jüdischen Arbeitern und Arbeiterinnen als Propagandamaterial verteilt – die mobilisierende Funktion aktivistischer Erinnerungen aus erster Hand und erster Reihe der Arbeiterbewegung kann kaum besser belegt werden. Die Mobilisierungskraft steigerte sich vor allem dadurch, dass die Autorin, ganz ähnlich den Toten der frühen bundischen „proletarischen Kurzhagiographik“, vollkommen unbekannt war und deswegen als „unzere khaverte“ hohes Identifikationspotenzial bot. Doch die Autorin war nicht ohne Grund völlig unbekannt: Erstens wurde diese Erinnerung von einem Mann geschrieben, der zweitens alles andere als ein Arbeiter war. Samuel Gozhansky, der Autor der „Erinnerungen einer Zigarettendreherin“, war hochgebildet, Lehrer staatlich-russischer Schulen zur Zarenzeit und einer der großen „Lehrer“ in den illegalen „Kreisen“. Er war ein Bundist der ersten Generation.78 Im Gegensatz zu den Toten in der bundischen Presse war diese Zigarettendreherin also nicht nur unbekannt, sie war inexistent. Erst 1927 entschied man sich, diese Erinnerungen erneut abzudrucken – diesmal jedoch als historisches Dokument. Allein deswegen hat es überdauert; ob es ähnliche Schriften in der Zarenzeit gab, ist leider nicht bekannt.79 Es liegen leider keine Aussagen darüber vor, was Gozhansky genau motivierte, diese Erinnerungen zu verfassen, und warum der Bund nicht auf die zahlreichen existenten Frauen im Bund zurückgriff. Sicherlich bleibt dabei ein Geschmack des doppelten Paternalismus hängen, zum einen als Intellektueller, zum anderen als Mann. Zumindest Ersteres war kein Spezifikum der Arbeiterbewegung im Zarenreich. Auch das in New York 1911 erschienene „Diary of a Shirstwaist Striker“, welches „created a legend about ‚girls‘ who became both heroines and pioneers of socialist ideals“, gab vor, von einer blutjungen Näherin und Teilnehmerin am berühmten Historishe shriftn fun YIVO 3 (1939): 416–437 erschien zugleich in „Naye Folkstsaytung“, Warschau, 19. November 1939. 78 Hirsh Abramowicz, Profiles of a Lost World: Memoirs of East European Jewish Life Before World War II, hg. von Dina Abramowicz, [Orig.: Farshvundene geshtaltn: Zikhroynes un siluetn, 1958] (New York: Yivo Institute for Jewish Research, 1999), 124 f. 79 S. Gozhansky, „Erinnerungen fun a papirosen-makherke, 3. Vol.“, Unzer tsayt, Warschau 7, 8/9, 10 (1927): 89–95, 8 f., 85–92.

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Vergemeinschaftung durch kollektives Erinnern

Shirtwaist Makers‘ Stike 1909/10 verfasst worden zu sein. Jedoch stammt es aus der Feder der gebildeten und alles andere als jungen Autorin Theresa Serber Malkiel, die ihrerseits von der Herausgeberin der Erinnerungen in enge Verbindung mit dem „Bund-type radical activism“ gebracht wurde. Dieses bundistische Handeln habe eine Abkehr von der „male-centered culture“ des amerikanischen Sozialismus angestrebt, auf die Autorschaft von Bundistinnen jedoch wirkte dies jedoch nur marginal zurück.80 So gilt für den Bund: Erinnern war Männersache.81

Autobiographik und Migrationsprozess Die Ergebnisse bezüglich der Perioden und Schichtung sind also sehr ambivalent, umso eindeutiger fallen hingegen die Befunde in Bezug auf Sprache und Räumlichkeit bundischer Autobiographik aus. Besonders eindrücklich tritt dabei der Migrationsprozess hervor. Das damit verbundene „Weltenwechseln“ kann als wichtigster Autobiographiegenerator im Bund überhaupt erachtet werden, wichtiger noch als die fortschreitende Generationalität. Nur 45 % der autobiographischen Texte wurden von Autoren verfasst, die über 60 Jahre alt waren, ebenso viele von Autoren im erwerbstätigen Alter und dreizehn gar von Kindern oder Jugendlichen.82 Bundische Autobiographik ist also mitnichten auf Altersmemorik zu reduzieren. Dennoch spielte Generationalität im Migrationsprozess eine große Rolle, was sich vor allem an der Sprachwahl zeigt. Die bundische Autobiographik sprach jiddisch (Tafel 19, S. 176). Die wenigen auf russisch verfassten autobiographischen Texte erschienen locker über die Schreibepochen, die englischen und spanischen hingegen komplett nach Ausbruch des Zweiten Weltkrieges.

80 �������������������������������������������������������������������������������������� Françoise Basch, „The Shirtwaist Strike in History and Myth“, in The Diary of a Shirtwaist Striker, 4. Printing (Ithaca, NY: Cornell University Press, 1998), 3, 52. 81 Gesteigert wurde dies stilistisch, denn für die Autobiographik des Bund gilt, was Rebekka Denz bereits für die Biographisierung von Frauen im Sammelwerk Doyres bundistn feststellte, dass unter Geschlechtergleichheit in den Beschreibung meist „Maskulinisierung“ verstanden wurde – oder aber die Reduktion auf eine Randerscheinung „im Rahmen der Tätigkeitsbeschreibung ihres Mannes für den ‚Bund‘“, vgl.: Denz, Bundistinnen, 20 f., 68 f. 82 Zahlen („vermutlich“-Flag gesetzt bei nicht ganz zu klärenden oder widersprüchlichen Lebensdaten): Über 60 Jahre: 244 (davon 13 „vermutlich“), Erwerbstätiges Alter: 240 (davon 34 „vermutlich“), Jugendliche: 13, Unklar: 34.

213

Bundische Autobiographik als soziale Formation

Sprache

Anzahl (Prozent)

Jiddisch

506

Russisch

11

Englisch

9

Spanisch

6

Polnisch

1

Tafel 19: Schreibsprachen bundischer Autobiographik

Die von Petra Pescher untersuchte „Abnutzung der Muttersprache“ als identitätsbildender Faktor im Migrationsprozess kann für die Massenbewegung des Bund damit nicht als Ausgangspunkt der Untersuchung genommen werden.83 Hier war es gerade das Festhalten an der Muttersprache, was eine bundische Identität ermöglichte. Über 95 % der bundischen Autobiographik wurde auf Jiddisch verfasst, einer Sprache, die zunehmend zu einer „Gruppensprache“ wurde und die für die Vergemeinschaftung extrem wichtig war. Dies überdauerte nicht nur den Migrationsprozess, sondern oft auch politische Umorientierungen. So verfasste der vormalige Bundist Hersch Mendel seine Autobiographie als Arbeiterzionist in Israel stolz auf Jiddisch.84 Obwohl ein Großteil der Migranten in die USA ging und sich dort auch ökonomisch integrierte, hing die bundische Gruppenidentität auch dort an der alten Sprache. Nur acht (knapp 3 %) der in den USA verfassten autobiographischen Texte wurden auf Englisch verfasst, alle im Lichte des oder nach dem Zweiten Weltkrieg. Diese hatten zunächst die Funktion, das gesammelte Wissen des Bund um die Schrecken des Holocaust einem nicht jiddisch lesenden Publikum zugänglich zu machen.85 Erst sehr spät nutzten bundische Autobiographen allein Englisch als Schreibsprache.86 83 Petra Pescher, „Identity , Immigration and Language Attrition“, in Language Attrition, hg. von Barbara Köpke u. a. (Amsterdam, Philadelphia PA: John Benjamins, 2007), 189–204. 84 Mendel, Zikhroynes fun a yidishn revolutsyoner; dt.: Mendel, Erinnerungen eines jüdischen Revolutionärs. 85 Wiernik, A Year in Treblinka; Bernard Goldsztejn, „Fighting in the Ghetto“, Jewish Labor Bund Bulletin 4 (1948): 3. 86 Z. B.: Dina Abramowicz, „The World of my Parents: Reminiscences“, YIVO Annual 23 (1996): 105–155; Lily M. Margules, Memories, Memories…: From Vilna to New York with a Few Steps Along the Way, a Collection of Essays (Anapolis, MD: ProStar Publications, 1999); Brumberg, „From Vilna to San Francisco“; Victor Erlich, Child of a Turbulent Century (Evanstone, Ill.: Northwestern University Press, 2006); Abraham

214

Vergemeinschaftung durch kollektives Erinnern

Aufgrund der Sprachlichkeit stand der Bund im Migrationsprozess vor einem Dilemma. Der Dreh- und Angelpunkt der immer stärker aufgerufenen Urzeit war die Wendung zum Jiddischen, der Gang „in die gasn tsu di masn“. Dies brachte die revolutionäre mit der Gewerkschaftsbewegung des Bund zusammen. In der Realität der USA aber setzte im Alltag die Abnutzung der Muttersprache ein und so geriet dort die yidishkayt in zunehmenden Konflikt zur doikayt. Zu Zeiten Meyer Londons war politischer Aktivismus auf Jiddisch in den USA noch sehr gut möglich. Ab den 1920er-Jahren jedoch bedeutete vor Ort politisch zu handeln auch englisch zu sprechen. Darin sahen viele Bundisten aber „Assimilation“. Je größer diese Gefahr wurde, desto stärker benötigten Bundisten zum Erhalt der Bewegungsidentität das große memorische Erbe. Dies wurde besonders stark nach dem Holocaust, nun jedoch erneut unter aktivistischen Vorzeichen. Denn wie Emanuel Szerer feststellte, war das Beharren auf der yidishkayt auch ein Modus des Widerstandes gegen die „von außen kommenden, teuflischen Mörderhänden“ geschaffenen demographischen Fakten und die Tötung der yidishkayt.87 Dieses Dilemma beförderte nicht nur im Bund die Produktion jiddischer Memorik, sondern vor allem in Tausenden yizker-bikhern. Das Jiddische war dabei immer ein Fingerzeig des Überlebens, der die entstehende Memorik zugleich zu einer Insel machte. Deutlich wird dies an den Texten von Pinkhas Shvarts, einem Journalisten und frühen Holocaustautobiographen. Die ersten Besatzungstagen erlebte er noch in Warschau, dann konnte er in die USA fliehen, wo er mit seinem Buch „Dos iz geven der onheyb“[dt.: Dies war der Anfang] im Stile einer Chronik einen der ersten monographischen Erlebnisberichte über den Holocaust überhaupt veröffentlichte.88 Zudem verfasste er – aus aufklärerischen Gründen – ein Filmscript, welches in Auszügen in ‚Unzer tsayt‘ gedruckt wurde. Denn die „Autoren [in Hollywood] sollten weniger unsinnige Sachen erfinden, sondern viel mehr die wahren Beschreibungen des Untergrundkampfes in Europa lesen“. Er ging davon aus, „dass das Warschauer Ghetto einmal ein großes Thema der Filmindustrie wird, es soll aber keiner die Wahrheit mit billigem Schund verwechseln. […] Darum hört, ihr Szenen-Schreiber, hier habt ihr ein Fragment, es soll heißen: khaver Zigmunt.“89 Dieses war komplett auf Jiddisch verfasst und fand darum nicht zu den Filmproduzenten Hollywoods, sondern nur zu den Lesern der ‚Unzer tsayt‘. Theoretisch blickte man auf die Welt, praktisch agierte man nach innen, in den Bund, in die Vergemeinschaftung. Brumberg, Journeys through Vanishing Worlds (Washington, DC: New Academia Publishing, 2007). 87 Szerer, „Areynfir“, X f. 88 P[inkhas] Shvarts, Dos iz geven der onheyb (New York: Arbeter ring, 1943). 89 P[inkhas] Shvarts, „Khover Zigmunt“, Unzer tsayt, New York 3 (1945): zit 78 f.

215

Bundische Autobiographik als soziale Formation

In der Sowjetunion verlief die Dynamik entgegengesetzt. Die Evsekcija suchte, jiddische Autobiographik als Mobilisierungsmotor zu nutzen, und schmolz bundische Memorik in die proletarische „Vorgeschichte“ des Roten Oktober ein. Mit dem Aufziehen des Stalinismus jedoch wurde dies zunehmend reglementiert. Bundische Autobiographik verschwand komplett aus dem öffentlichen sowjetischen Raum. Zuerst wurde der Name des Bund getilgt, dann der spezifische Einfluss der jüdischen Arbeiterbewegung und zuletzt wurden viele der Aktivisten Opfer des roten Terrors.90 Schreibeort

Sicher

Vermutlich

Gesamt90

Nordamerika91

266

37

302

Osteuropa92

84

14

99

Argentinien93

31

2

32

Israel

24

6

30

Sowjetunion

19



19

Sonstige94

39



39

Unklar

10



10

Tafel 20: Schreibeorte bundischer Autobiographik91929394

Gänzlich anders sieht es aus, wenn man die dieser Studie zugrunde liegende Trias betrachtet, bestehend aus den USA, Argentinien und Osteuropa, hier verstanden als der Raum, in dem der Bund aktiv tätig war, also zuerst das russische Zarenreich, dann das unabhängige Polen. In diesen Regionen gemeinsam wurden über 80 % der bundischen Autobiographik verfasst (Tafel 20). Die Dominanz Nordamerikas als Schreibeort stand jedoch nicht von Anbeginn fest, sondern sie entwickelte sich (Tafel 21, S. 217). Bundische Autobiographik entfaltete sich langsam zuerst in Osteuropa und wurde ab 1917–1921 durch immer mehr Texte aus den USA ergänzt. Diese Epoche, also die Jahre nach dem 25-jährigen Jubiläum des Bund, ist die des Einzugs bundischer 90 Diese Gesamtzahl ist Ausgangspunkt der weiteren Analyse. 91 Darunter befinden sich einige wenige Autobiographien aus Kanada. 92 Gemeint sind die Plätze aktiver bundischer Präsenz, also das Zarenreich und das unabhängige Polen. 93 Darunter befinden sich einige, wenige Autobiographien aus Uruguay. 94 Darunter in erster Linie Australien (9), Frankreich (8), Belgien (7) und England (4) und Mexiko (2), wovon jedoch nur 3 Stück vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs verfasst wurden.

216

Frank Wolff

Vergemeinschaftung durch kollektives Erinnern

Autobiographik als eines der wichtigen Aktivismusmuster des Bund. Dies ging mit einer Transnationalisierung bundischer Memorik einher, denn ab der Zwischenkriegszeit entstand fast die Hälfte des Samples in Übersee. Zugleich zeigen sich aber auch die Unterschiede des Aktivismus in den USA und Argentinien, denn in Letzterem wurde Autobiographik auch nach dem Holocaust nicht zum zentralen Aktivismusmuster.

177

180 87%

160 140 90%

Anzahl

120 100 80 60

52%

40 20

34%

89% 100%

0 bis 1907

90%

14%

10%

11%

1907-1917

1917-21

1922-1939

11% 9% 2%

2%

1939-1947

nach 1948

Schreibeepochen USA

Osteuropa

Argentinien

Tafel 21: Schreibeorte bundischer Autobiographik im transatlantischen Vergleich Tafel 21: Schreibeorte bundischer Autobiographik im transatlantischen Vergleich

Die Transnationalisierung Autobiographik zeigtzudem sich zudem Die Transnationalisierung bundischerbundischer Autobiographik zeigt sich auch auch auf auf materieller materieller Ebene. Layb Bermans Autobiographie hätte ohne die finanzielle UnEbene. Layb Bermans Autobiographie hätte ohne die finanzielle Unterstützung durch den terstützung durch den amerikanischen Arbeter-ring nicht in Polen erscheinen könVladimir amerikanischen nicht Autobiographie in Polen erscheinen können. nen.95Arbeter-ring Vladimir Medems hingegen erschien in 671 den USA, erfuhrMedems aber auch in Polen größte Verbreitung. Der per Fundraising bereits bestehende Autobiographie hingegen erschien in den USA, erfuhr aber auch in Polen größte Verbreitung. transnationale Aktionsraum Osteuropa-USA entwickelte sich immer weiter fort Der per Fundraising bestehende Aktionsraum Osteuropa-USA entwickelte und wurdebereits zum Fundament destransnationale Bund durch den Austausch von Ressourcen in Form 96 Finanzkraft undwurde Memorik. bundische Autobiographik jedoch nicht nur in sich immer von weiter fort und zumDaFundament des Bund durch den Austausch von

Ressourcen in Form von Finanzkraft und Memorik.672 Da bundische Autobiographik jedoch 95 Berman, In loyf fun yorn, 4.

Vgl. zudem Kap. III, 5 [Fundraising]. nicht nur in 96 Büchern, sondern in erster Linie Artikel in Periodika stattfand, entwickelte sich die

USA erst nach der Gründung der 'Unser tsayt' 1941 zu dem Publikationsort bundischer Autobiographik schlechthin. Dies wurde freilich durch das nahezu komplette Verstummen bundischer Autobiographik in Polen in seiner Wirkung verstärkt.

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Bundische Autobiographik als soziale Formation

Büchern, sondern in erster Linie Artikel in Periodika stattfand, entwickelte sich die USA erst nach der Gründung der ‚Unser tsayt‘ 1941 zu dem Publikationsort bundischer Autobiographik schlechthin. Dies wurde freilich durch das nahezu komplette Verstummen bundischer Autobiographik in Polen in seiner Wirkung verstärkt. Argentinien fällt dabei quantitativ stark ab, aber auch qualitativ überwiegen hier die Unterschiede. Sowohl in Nordamerika als auch in Argentinien wurde am meisten über den Bund in Osteuropa berichtet. In Nordamerika, was bis auf wenige AusFrank Wolff nahmen als die USA und darin erneut bis auf wenige Ausnahmen als „New York“ 178 verstanden werden kann, handeln knapp drei Viertel aller autobiographischen Texte autobiographischen Texte von Osteuropa allein, nur eine verschwindende Anzahl thematisiert von Osteuropa allein, nur eine verschwindende Anzahl thematisiert Episoden von Episoden vonvor vor Ort (vgl. Tafel Ort (vgl. Tafel 22,22). S. 217).

USA bis 1939

76%

USA nach 1939

75%

Argentinien bis 1939

15%

20%

67%

Argeninien nach 1939

33%

52% 0%

10%

20%

30%

6%

19% 40%

Nur Osteuropa Osteuropa und/oder andernorts

50%

60%

10% 70%

80%

19% 90%

100%

Osteuropa und vor Ort Nur vor Ort

Tafel 22: Berichtsräume bundischer Migrationsautobiographik vor und nach 1939

Tafel 22: Berichtsräume bundischer Migrationsautobiographik vor und nach 1939

Unter der in den USA nach 1939 mit 20 % recht stark vertretenen Autobiographik, die beide Räume, also die Neue und die Alte Welt adressierte, befindet sich auch Unter der injene, den die USA nachden 1939 mit 20 % recht stark vertretenen Autobiographik, die beide durch autobiographischen Wettbewerb des YIVO 1942 geschaffen die also per adressierte, Aufgabenstellung und sich nichtauch per intrinsischer Mo- den Räume, also wurde, die Neue undbeide die Räume Alte Welt befindet jene, die durch tivation verband.97 Ein Interesse an der Selbstbiographisierung des amerikanischen autobiographischen Wettbewerb des YIVO 1942 geschaffen wurde, die also beide Räume per Bund oder von Bundisten im Migrationsprozess in die USA gab es nur marginal. 673 Aufgabenstellung nicht per hier intrinsischer verband. Ein Weltkrieg Interesse veran der Andersund in Argentinien, handelt einMotivation Drittel der vor dem Zweiten fassten autobiographischen Texte von Argentinien. Besonders prominent ist darunSelbstbiographisierung des amerikanischen Bund oder von Bundisten im Migrationsprozess in ter die Geschichte der Gruppe Avangard. Osteuropa und Argentinien erscheinen die USA gab es nur marginal. Anders in Argentinien, hier handelt ein Drittel der vor dem

97 Siehe: Soyer, „Documenting Immigrant Lives von at an Argentinien. Immigrant Institution“. Zweiten Weltkrieg verfassten autobiographischen Texte Besonders prominent

ist darunter die Geschichte der Gruppe Avangard. Osteuropa und Argentinien erscheinen als zwei

strikt getrennte Erfahrungsräume, die zwar in den Biographien, nicht aber in den

Autobiographien der Bundisten zusammenfallen. Dies ändert sich ab 1939 vor allem durch die

Schaffung des bundischen Verlags Yidbukh in Buenos Aires, der zahlreiche Erinnerungen und

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Vergemeinschaftung durch kollektives Erinnern

als zwei strikt getrennte Erfahrungsräume, die zwar in den Biographien, nicht aber in den Autobiographien der Bundisten zusammenfallen. Dies ändert sich ab 1939 vor allem durch die Schaffung des bundischen Verlags Yidbukh in Buenos Aires, der zahlreiche Erinnerungen und Dokumente zum jüdischen Leben im Vorkriegspolen veröffentlichte. Damit entwickelte sich, wie schon in der Textanteilsanalyse der bundischen Publizistik gezeigt, in Argentinien trotz der numerisch geringeren Präsenz jüdischer Immigranten eine ähnliche Bandbreite bundischer Publizistik wie in den USA, die jedoch wesentlich stärkere lokale Schwerpunkte aufwies. Die Autobiographik des Bund war damit ein bedeutender Faktor in der sozialen Bewegung des Bund. Sie mobilisierte und vergemeinschaftete, sie transferierte Identitäten und erlaubte den Autoren, diese zu kommunizieren. Sie trennte aber Erleben vom Reflektieren, denn die USA waren ein Hauptort der Memorik, nicht aber des breiteren Aktivismus. Bis Ende der Zwischenkriegszeit kann dies als funktionale Differenzierung gesehen werden. Erst förderte dies die produktive Transnationalisierung des Bund, nach dem Holocaust hingegen fehlte der aktive Bezugspunkt Osteuropa und Erinnerung konnte nur noch um sich selbst kreisen. Auf der anderen Seite standen stärker aktivistische Gruppen in Südamerika und später auch in Australien. Die Transnationalisierung und die Neuausrichtung des Zentrums nach 1947 hatten zur Folge, dass auch der argentinische Bund immer stärker an den nordamerikanischen herangezogen wurde. Autobiographik war damit ein zweischneidiges Schwert: Sie erlaubte es einerseits lange Zeit produktiv, eine Bewegung im Migrationsprozess zusammenzuhalten. Andererseits musste sie, um Aktivismus und nicht Literatur zu sein, an die Erfahrungen der Aktivisten anschließen und ein Ziel vor Augen haben, weswegen sowohl der Verlust der osteuropäischen Basis als auch der generationelle Wechsel in Übersee nicht per Memorik überbrückbare Probleme waren.

4. Migration als Wissensspeicher: Kollektivbiographik und Fragebögen

Bundische Memorik suchte anhand individueller Erlebnisse den Bund per memoriam zu reproduzieren. Im vorliegenden Forschungsdesign, welches primäre, sekundäre und tertiäre bundische Autobiographik im Wechselspiel mit zahlreichen anderen Quellen betrachtet, ist sie zudem die Basis für eine Sozialgeschichte des Bund. Im Zentrum steht dabei das, was die Bundisten selbst als das Berichtenswerte am Bund verstanden. Autobiographien wurden additiv in ein Gesamtbild eingegliedert, was sich am deutlichsten in Vorworten zeigt, in denen Dritte eine Autobiographie aufgrund bislang unerzählter Aspekte der bundischen Geschichte anpreisen. Dabei traten Beschönigungen auf, wie an der Genderfrage demonstriert. Diese Tendenz konnte sich jedoch nur begrenzt ausprägen, denn bundische Memorik wurde auch von Ex-Bundisten verfasst und unterlag keiner zentralen oder dezentralen Direktion. Auch spielten die Rezipienten eine wichtige Rolle, denn die Texte richten sich an Weggefährten, die im Rahmen ihres Konsums die geschilderten Episoden verifizierten. Gerade aufgrund ihrer vergemeinschaftenden Aufgabe waren memorische Texte nicht voraussetzungslos. Das Gesagte musste erstens geglaubt werden, nur dann konnte es mobilisieren. Zweitens wurde es durch die bund-interne Historiographie reflektiert. Drittens konnten Leser aufgrund des dezentralen Charakters bundischer Autobiographik jederzeit selbst Autoren werden. Dies intensivierte sich nach dem Zweiten Weltkrieg, in welchem der Bund mit dem Parteiarchiv auch sein kollektives Erinnerungszentrum verlor. Vor allem die New Yorker Aktivisten bemühten sich mehr denn je, die Geschichte der Mitglieder zu verschriftlichen, um so ein möglichst „vollständiges“ neues Archiv aufzubauen. Dieses basierte großteils auf überlieferten Fragmenten, geretteten Sammlungen und Erinnerungen.1 Memorik sollte damit nicht „wieder aufrufen“, sie sollte „zur Verfügung stellen“. Dies stellt heutigen Historikern einen sprudelnden Quell zur Verfügung, um Einsichten nicht nur in die Funktionsweisen bundischer Kollektivmemorik, sondern auch in das Soziale des Bund zu erhalten. Denn dieser Neuaufbau zwang die Bundisten dazu, die bislang per Erfahrung verinnerlichte Welt des 1

Norma F. Pratt, „Archival Resources and Writing Immigrant American History: The Bund Archives of the Jewish Labor Movement“, Journal of Library History 16, Nr. 1 (1981): 166–176; Marek Web, „Between New York and Moscow: The Fate of the Bund Archives“, in Jewish Politics in Eastern Europe: The Bund at 100, hg. von Jack Jacobs (New York: New York University Press, 2001), 243–254.

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Vergemeinschaftung durch kollektives Erinnern

Bund nun per Erinnerung zu veräußerlichen.2 Aus diesem Grund suchten Bundisten die Gemeinschaft des Bund nicht nur zu erleben und zu gestalten, sondern auch zu erkunden. Interessanterweise blieben viele dabei produzierte Quellen bis heute ungenutzt. Dies betrifft vor allem Fragebögen, die der Bund zur Erkundung seiner eigenen Bewegung selbst entwickelte. Das vorliegende Kapitel nutzt diese, um erstens einen weiteren zentralen Aspekt bundischer Memorik zu untersuchen und um zugleich anhand der dabei hinterlassenen Daten den Bund kollektivbiographisch zu analysieren.

Ansätze bundischer Kollektivbiographik Reflexion über die sozialen Beziehungen innerhalb des Bund sind ein absolutes Desiderat. Vor allem Gertrud Pickhan erweiterte zwar den Blick über Organisationsebenen und führende Individuen hinaus, erachtete aber eine sozialhistorische Differenzierung des Bund als nicht möglich.3 Auch andere, ihrem Buch nachfolgende kulturhistorische Arbeiten kamen letztendlich kaum darüber hinaus, das Soziale des Bund von gewissen Kopfgruppen ausgehend zu abstrahieren.4 Diese Ebene nahm Gertrud Pickhan bereits genauer in den Blick. In inspirierender Art erstellte sie eine Tabelle „Lebensdaten führender Bundisten und Bundistinnen der Zwischenkriegszeit“, in der sie für den Bund erstmalig politische Arbeit und kollektivbiographische Ansätze zusammenbrachte.5 Doch inwiefern spiegelte dies die Sozialstruktur des Bund, der sich selbst auch gerne als „die jüdische Arbeiterbewegung“ bezeichnete?6 Unter den dreißig aufgeführten Bundisten sind lediglich drei als ausgebildete Arbeiter zu identifizieren, der Setzer Lozer Klog, die Schneiderin Sara Shveber und der berühmte Handschuhmacher Shmuel Zigelboym. Bundisten wie Beynish Mikhalevitsh und Israel Lichtenstein erwarben zwar keine Fachaus2 3 4

5 6

Zur Problematik solche Einschreibungen zu versprachlichen, siehe: Welskopp, „Sprache und Kommunikation in praxistheoretischen Geschichtsansätzen“. Pickhan, Gegen den Strom, 132. So in bei Jack Jacobs grundlegender Erkundung der bundistischen Jugendorganisation Yugnt bund ,tsukunft‘, die jedoch vor allem anhand des Standpunktes der führenden Intellektuellen Sofia Erlich-Dubnow zur Sexualität erfolgt. Jacobs, Bundist Counterculture in Interwar Poland, 21–27. Pickhan, Gegen den Strom, 414–419. So z. B.: Arbeter Luakh, 1922; die selbst zugeschriebene Dominanz des Bund in Arbeiterkreisen wurde von der Forschung zuerst bereitwillig übernommen: Mendelsohn, Class Struggle in the Pale, dann kategorisch verneint: Frankel, Prophecy and Politics, 171–182; und letztendlich relativiert: Peled, Class and Ethnicity in the Pale, v. a. 111– 121; Pickhan, Gegen den Strom, 126–148.

Kollektivbiographik und Fragebögen

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bildung, hatten jedoch durch autodidaktische Bildung eine bedeutende Laufbahn mit hohem Verschriftlichungsgrad eingeschlagen.7 Dem gegenüber stehen im Führungsgremium des polnischen Bund 25 Bundisten, die eine höhere Bildung weltlicher (Gymnasium: 19, Handelsschule: 1, Hauslehrer: 1) oder religiöser Art (yeshiva: 4) genossen hatten. Die „Klassenpartei“8 wurde also zumindest nicht von der Arbeiterklasse geführt. Zudem verdeutlicht diese Tabelle, dass eine biographisch interessierte Bundforschung sich nicht auf Osteuropa beschränken darf. Von den dreißig Aufgeführten fanden lediglich drei als Altverdiente ihren natürlichen Tod in Osteuropa vor dem Zweiten Weltkrieg, (Khmurner 1935, Kremer 1935, Mikhalevitsh 1928), ebenso viele wie in den USA vor Eintritt der USA in den Zweiten Weltkrieg Ende 1941 (Lichtenstein 1933, Kossovski 1941, Portnoy 1941). Über ein Drittel (11) der Benannten wurde im Osteuropa des Zweiten Weltkrieges ermordet (davon vier durch sowjetische Gewalt), was durch den Freitod Zigelbojms im Londoner Exil auf zwölf erhöht werden muss. Dies wird jedoch – unrepräsentativ für die osteuropäische jüdische Bevölkerung – von der Zahl der in Übersee Überlebenden (13) übertroffen. Die Lebenswege dieser führenden Bundisten stehen damit in einem engen Verhältnis zum Migrationsprozess. Bei den „führenden Bundisten und Bundistinnen“ in Zwischenkriegspolen handelt sich also zu über 80 % um besser oder gut gebildete und oft auch weit gereiste Menschen. Die Flüchtlinge waren aber nicht allein Überlebende, sie wollten mit anderen Emigranten gemeinsam auch den Bund überleben lassen. Diese Migrationsbewegung ist von größter Bedeutung für die Geschichte und für die Geschichtsschreibung des Bund. Denn die Migration rettete nicht nur Leben, sie sicherte auch kollektives Wissen. Diese Migranten waren in den USA oft in entsprechenden Gremien des Weltbund aktiv und leiteten von da aus auch die Geschichtspolitik des Bund. Hier suchten sie auch, den Bund mit dem Leben der jüdischen Arbeiter wieder in Übereinklang zu bringen. Aus der Ferne erkannten die tuer die Relevanz biographischer Faktoren und so suchten sie, das Wissen über die Arbeiter im Bund zu mehren. Gesammelt schlug sich dies in Hunderten autobiographischer Fragebögen nieder, die im Bund-Archiv New York zugänglich sind und die bislang an der Forschung vorbeigingen. 7

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Neben Mikhalevitshs Autobiographie ist vor allem Kazdans Biographie lesenswert: Khayim Solomon Kazdan, Mentshn fun gayst un mut (Buenos Aires: Yidbukh, 1962), 213–252; nicht zu vergessen ist für diese Autodidaktik die jüdische Tradition des Lernens, vgl.: Shaul Shtampfer, „‚Is the Question the Answer?‘: East European Jews, Heder Education and Possible Antecedents of Contemporary Israeli and Jewish Life“, Studia Judaica 8 (1999): 239–254. Pickhan, Gegen den Strom, 98 f.

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Vergemeinschaftung durch kollektives Erinnern

Die innere Unkenntnis Trotz großer Risse im bundischen Netzwerk durch Massenmigration bestanden bundische Netzwerke in variierter Form nach 1945 fort. Doch das Wissen übereinander ging verloren. So erreichte im Jahre 1970 oder 1971 den New Yorker Bund eine Spende über 50 Dollar von einem gewissen Manye Goldberg. Aus Neugier erkundigte man sich unter den Aktiven, ob jene Person bekannt sei. Der in der Verwaltung des Weltbund tätige „khaver Lazar“ [verm. Lazar Kling] berichtet davon in einem Brief an eben jenen Schneider Manye Goldberg: Es kam ein Scheck über 50 $ an und man fragte mich, ob ich wisse, wer Ihr seid. Ich musste lachen. Ob ich das wisse? Ein alter Fahnenträger, ein alter Bundist von Beginn des 20. Jh., […] ein alter professioneller tuer. Ist es nicht eine Schande, dass in unserem Bund-Archiv nichts über unsere Veteranen und alte Herren [Orig: skeynim] verzeichnet ist? Wie viele 90-jährige khaverim können wir schon aufzählen? Wer ist daran schuld? Das Archiv, welches sich nicht bemüht. Die alten khaverim, die es unterlassen haben, sich zu registrieren. Mit einem Wort: Wir haben alle eine Tracht Prügel verdient. Wir vernachlässigen nicht nur unsere Vergangenheit, es werden die heroischen Taten und khaverim vergessen.9

Darum legte der khaver Lazar diesem Brief einen ausführlichen biographischen Fragebogen bei (Typ IV, siehe Tafel 23, S. 193), den Goldberg postwendend ausgefüllt zurücksandte. Gefragt wurde darin nicht nur nach Herkunft, Ausbildung, Tätigkeit und Mitgliedschaften, sondern auch nach Beteiligungen an konkreten Aktionen, Verhaftungen, Führungspositionen und vielem mehr, kurz: Es ging darum, einen biographischen Steckbrief eines alten Kämpfers zu erhalten. Entworfen wurde dieser Fragebogen Mitte der 1950er-Jahre, sein Einsatz erfolgte wohl ab 1955 erst kampagnenartig. Danach wurde er, wie im Falle Goldbergs, punktuell versandt und blieb sporadisch bis in die 1980er-Jahre zum Einsatz. Leider verblieb die Mehrzahl der Rücksendungen undatiert, aus den Inhalten und teilweise beiliegenden Briefumschlägen lässt sich jedoch ableiten, dass eine Großzahl der Rücksendungen im Rahmen der Erstkampagne anzusetzen ist. Im Anschluss an die Analyse bundischer Autobiographik ist der Modus des Fragebogens als standardisierte Autobiographik zu verstehen.10 Er war einerseits ein 9

Im Archiv findet sich ein weiterer Fragebogen von Manye Goldberg. Es ist nicht klar erkenntlich, ob dieser vor oder nach dem Brief ausgefüllt worden war – beides ist möglich, die Existenz eines Fragebogens bedeutet keineswegs, dass die darin enthaltenen Informationen beim Ausfüllen des nächsten auch präsent waren. Bund-Archives, New York, RG 1400, MG2, #429, ##Goldberg, Manye 10 Vgl. Kap. II, 3 [Autobiographik], Arroyo, „Autobiographik“.

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informationsverdichtender Rahmen, andererseits aber auch ein Korsett, welches vielen der Autoren zu eng war. Diese eine, mit Fragen vollgestopfte Seite bot nicht genug Platz für eine ausreichende Selbstbiographisierung. Ein Schlupfloch ermöglichte es jedoch, die Standardisierung aufzubrechen. Die Ersteller des Fragebogens fragten gegen Ende nach einer knappen Schilderung „besonderer Geschehnisse“, was viele der Antwortenden dafür nutzen, Abschnitte oder gar den Großteil ihres politischen Lebens als ein solches zu erachten.11 Sie hängten teilweise stichwortartige, teilweise seitenlang ausformulierte autobiographische Texte an. Von den 240 eingegangen Bögen nutzten 61 Fälle, also über ein Viertel aller Antwortenden, diese Möglichkeit. Der Drang zur Selbstbiographisierung für den Bund über ein gewisses Frageraster hinaus war also sehr stark. Informationen ließen sich standardisiert abfragen, aber ein Lebenslauf beruht in erster Linie auf Sinnproduktion und diesen fanden viele der Autoren darin, ihre politische Biographie in die des Bund zu integrieren. Wie in der Autobiographik vereinten diese Fragebögen damit das Individuelle und das Kollektive. Biographisierung zielte damit nicht auf Individualität im funktionalen Rahmen der Bewegung, die ihrerseits von solchen tuern abhing. Aus der Sicht des Bundisten war der Bund immer Teil der Identität und aus der Sicht des Bund jede Biographie eines Bundisten auch eine Teilbiographie des Bund.

Zentrale Funktionen: Fragebögen und die Doyres bundistn Da der Bund einen positivistischen Umgang mit der von ihm produzierten Memorik pflegte, lässt sich nicht genau klären, in welchem Rahmen die Fragebögen entstanden.12 Sie fügen sich aber in die Zeit der großen, nachweltkrieglichen Biographisierungs- und Historisierungswellen ein.13 Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde 11 Dies steht damit im krassen Gegensatz zu dem sowjetischen Techniker Grigorji Grigor’evich Matikhin, der in einem Schreiben an Molotov einen Fragebogen erfand und gar kunstvoll zeichnete, um seinem Anliegen (eine Verbesserung seiner Wohnsituation) Nachdruck zu verleihen. Zu dieser spezifisch sowjetischen Biographisierung per anketa, dem „basic document of Soviet life in the Stalin period“, vgl.: Sheila Fitzpatrick, „The Letter as a Work of Art. A Housing Claim in the Style of an Anketa“, Russian History 24 (1997): 189. 12 Bund-Archives, New York, RG 1400, MG2, #429. Hier finden sich nur die Fragebögen selbst. Weitergehende Informationen lassen sich nur ableiten, laut Aussage des seit Jahrzehnten verantwortlichen Archivars Leo Greenbaum sind keine ergänzenden Materialien vorhanden. Abgesehen von sporadischem Einsatz für Parteizwecke blieben diese Materialien ungenutzt, sie wurden lediglich von einem Voluntär alphabetisch sortiert. Leo Greenbaum, pers. Gespräch, New York, YIVO, 23. Juli 2008. 13 Siehe dazu: Wolff, „Historiography on the General Jewish Labor Bund“.

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es in der jüdischen Diaspora zu einer kollektiven Aufgabe, an das Zerstörte zu erinnern.14 Während sich viele landsmanshaftn, die teilweise unter bundistischer Beteiligung schon vor dem Holocaust entstanden waren, der Aufgabe vor allem in Bezug auf die Herkunftsschtetl annahmen, zielte der Bund eher auf Darstellungen, in denen die Ortschaften des Rayons zu Teilen der bundischen Geschichte wurden.15 Dem vertikalen, punktuellen Erinnern der landsmanshaftn und vieler yizker-bikher fügte der Bund eine horizontale Erinnerungsebene hinzu. Durch seinen Anspruch, die jüdischen Massen zu repräsentieren, verstand er die eigene Geschichte auch als jüdische Gesellschaftsgeschichte, ohne eine Vorgeschichte Israels zu sein. Diese Historisierung war aber auch ein Erbe der aktivistischen Memorik der Vorkriegszeit, sie wurde nun nur in einem unbekanntem Ausmaß in vielen jiddischsprachigen Monographien, Autobiographien und Sammelbüchern fortgesetzt. Ein besonderes kollektivbiographisches Mammutwerk ist die dreibändige Sammlung bundistischer Lebensläufe Doyres bundistn [Generationen von Bundisten], welche zwischen 1955 und 1968 erschien und mehrere hundert Lebensläufe versammelt. Unter der Herausgeberschaft Jakob Sholem Hertz, laut Ezra Mendelsohn dem „official historian“ des Zwischenkriegsbund, ein Amt, welches ihm nach dem Zweiten Weltkrieg umso mehr zugesprochen werden kann,16 wollte man den „Tausenden und Tausenden – Führern, tuern und Kämpfern – die durch das Mühlrad der Zeit zerrieben wurden“, anhand einer repräsentativen Auswahl ein „bescheidenes Denkmal“ setzen.17 Laut Eigendarstellung wurden dabei Bundisten „der verschiedenen Schichten“ berücksichtigt, von Pionieren bis zu Ghettokämpfern, von Führern bis zu jenen Bundisten, die sich mit „einer Tat“ in den Bund einschrieben.18 Schicht bezeichnete hier in erster Linie die Rolle im Bund. Die für die individuellen Entwicklungen als Bundist im Bund zentrale Bildung blieb unreflektiert, es zählte deren 14 Dabei sind Modi und Umfang der, dem Weltkrieg nachfolgenden Erinnerungen neuartig, das Erinnern selbst hatte aber Wurzeln in der jüngeren und älteren Vergangenheit. Vgl. den klassischen Essay zum jüdischen Erinnerungsgebot und z. B. die Reiseerinnerungen des Autors der bundischen Hymne Di shvue, An-sky, der in seinem Buch das Schwinden des Schtetls im Ersten Weltkrieg festhält. Yerushalmi, Zachor; An-sky (Shlomo-Zanvill Rappoport), „Der yidisher khurbn fun poyln, galitsye un bukovina fun tag-bukh 1914–1917“, in Gezamelte shriftn, Bd. IV (Warschau, Wilna, New York: An-sky Publishing Company, 1927); Englisch: An-sky, The Enemy at his Pleasure. A Journey through the Pale of Settlement During World War I, hg. von Joachim Neugroschel (New York: Metropolitan Books, 2002). 15 ���������������������������������������������������������������������������������� Vgl.: Soyer, Jewish Immigrant Associations and American Identity in New York; Lipphardt, Vilne; Kobrin, Jewish Bialystok and its Diaspora. 16 Zur Person, siehe: Denz, Bundistinnen, 16 f. 17 Jakob Sh. Hertz, Hrsg., Doyres bundistn, Bd. 1 (New York: Unzer tsayt, 1956), 8 f. 18 Ebd., 1:9.

Kollektivbiographik und Fragebögen

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Folge, der Aktivismus des Einzelnen für das Gesamte. Anfangs plante man, über dreihundert Bundisten zu würdigen, aufgrund einer massiven Steigerung der Eintragszahlen von Band zu Band wurde die doppelte Zahl erreicht.19 Außen vor ließ man dabei aber jene „Führer und tuer […], deren Lebensgeschichte schon in Buchform veröffentlicht wurde“, sei es durch eine Biographie oder Autobiographie.20 Deutlicher kann man den positivistischen Ansatz eines solchen Projektes nicht zum Ausdruck bringen: Das zu Würdigende war das politische Leben in einem kollektiv deutbaren Zusammenhang, der Eingang des Menschen in den Bund. Es herrschte der Glaube an die eine Lebensgeschichte. Diese war aber nur zu würdigen, wenn sie als temporär wichtig oder repräsentativ für den Bund erachtet wurde und zudem nicht durch Parteiwechsel kompromittiert wurde. Überläufer zum Kommunismus oder Zionismus, ob prominent oder nicht, wurden aus der ehrenden Sammlung verbannt.21 Treue zum Bund war wichtiger als zuvoriger Aktivismus. Folge dieser Auswahl ist eine starke Überrepräsentation höher gebildeter Aktivisten, was jedoch keiner Methode, sondern dem spezifischen Bewahrungsinteresse der Herausgeber zuzurechnen ist. Wie Rebekka Denz bereits herausstellte, gilt dies auch für den Vorrang von Bundisten vor Bundistinnen.22 Die Ungleichheit zwischen Frauen und Männern wurde, ebenso wie die zwischen Arbeitern und höher Gebildeten, von der Forschung lange bereitwillig ignoriert. So betont Paula Hyman ausgerechnet in einem Aufsatz, der sich eine kritische Sicht auf die Geschlechtergeschichte zu eigen machen wollte, euphorisch, dass Frauen „offensichtlich besonders stark vom Bund angezogen“ worden seien, denn „Schätzungen zufolge machten Frauen in den frühen Jahren des Bund ein Drittel der Mitglieder aus“.23 Anschließend hebt sie hervor, dass in den Doyres bundistn unter den Biographien von „320

19 Ebd., 3:9. 20 Ebd., 1:9. 21 Entsprechend „unvollständig“ sind aufgeführte Bibliographien; Bbd., 3:9; vgl. zudem: Jacobs, Bundist Counterculture, 143, FN 33. 22 In der Schnittmenge steigert sich dies gar: Nicht einmal 20% der biographisierten Frauen ordnet Rebekka Denz der Schicht der „Arbeiterinnen“ zu. Denz, Bundistinnen, 143. 23 Paula E. Hyman, „Muster der Modernisierung. Jüdische Frauen in Deutschland und Russland“, in Deutsch-Jüdische Geschichte als Geschlechtergeschichte, hg. von Kirsten Heinsohn und Stefanie Schüler-Springorum (Göttingen: Wallstein, 2006), 42. Diese Zahlen können von der neuen Forschung auch für die polnische Zeit nur teilweise bestätigt werden. Vermutlich lag der Frauenanteil bei ca. 20%, aber alle Zahlen beruhen auf Schätzungen und sehr problematischen Abstraktionen, dazu: Pickhan, Gegen den Strom, 130 f. Dieser Rückgang lag vor allem an den sich verändernden Aktivismusmustern in Legalität und Illegalität. Siehe: Denz, Bundistinnen, 118 f.

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bedeutenden Aktivisten 55 Frauen“24 zu finden seien. Aus einem Drittel der Mitgliedschaft wird in Hymans Text unreflektiert ein Sechstel an memorischer Bedeutung – entweder die Doyres bundistn haben ein Repräsentationsproblem, oder aber Frauen waren im Bund weitaus weniger bedeutend als ihre männlichen khaverim. Zudem sind die von Hyman benannten Zahlen falsch. Wesentlich detaillierter arbeitend identifiziert Rebekka Denz unter den ca. 570 Einträgen der drei Bände knapp 600 biographisierte Personen, wovon insgesamt 96 (65 Einzeleinträge) als weiblich identifiziert werden.25 Viele Frauen waren in den mittleren Ebenen der bundischen Organisationen aktiv und wurden darum wohl trotz der Emanzipationsrhetorik des Bund im Nachhinein als weniger bedeutend empfunden.26 Dies spiegelt sich auch in der Form ihrer Biographisierung. Diese folgte maskulinen Biographisierungsmustern, wobei Frauen als Kämpferinnen einerseits postum in an männlichen Genossen entwickelte Deutungsschemen eingeschrieben, andererseits durch die Beschreibung ihrer Äußerlichkeiten oder mütterlichen Qualitäten aber gesondert behandelt wurden.27 Diese Sonderstellung der Frau war jedoch kein Spezifikum der Doyres bundistn, sie zeichnete vielmehr die gesamte Memorik des Bund aus und wirkte bis in die autobiographischen Fragebögen. Diese unterlagen keinem Eingriff durch Herausgeber, und dennoch wurden lediglich 28 Stück aller Fragebögen, also keine 8  %, nachweislich von Frauen ausgefüllt. Nur vier Autorinnen nutzten die Chance, auch einen biographischen Zusatztext beizugeben (6,6 %). Dies unterlag jedoch keinem redaktionellen Eingriff. Oft antworteten einfach nur die Männer, teilweise auch ihre in der Emigration geborenen Kinder,28 während die Frauen schwiegen – und das, obwohl sie laut den Lebensbeschreibungen der Männer oft auch Aktivistinnen gewesen waren. Kurz: Auch die Biographisierung des Bund war Männersache.29

24 Hyman, „Muster der Modernisierung“, 42. 25 In den Sammelbiographien erscheint die Frau meistens nur als „Mitkämpferin ihres Mannes“, ihre Erwähnung hat daher oft „den Anschein einer Floskel.“ Auch die Einzelbiographien sind klar gegendert. Denz, Bundistinnen, 18–22, zit. 20. 26 Ebd., 49–60, 69. 27 Ebd., 21, 122 f. 28 Bund Archives, New York, RG 1400, MG2, #429, ##Burshtin, Sender, er antwortete ausführlich, hingegen nur sehr knapp gehalten hingegen Sohn und Schwiegertochter: Ebd.: ##Burshtin, Dovid, ##Burshtin, Doris 29 Teilweise werden die Ehefrauen gar als Eintrittsgründe in den Bund und stete Mitkämpferinnen genannt. So bei Shaye Shikhtov und Fishl Aydlman. Fragebögen dieser noch lebenden Frauen liegen jedoch nicht vor. Vgl.: Bund-Archives, New York, RG 1400, MG2, # 429 ##Shikhtov, Shaye; Ebd. ##Aydlman, Fishl.

Kollektivbiographik und Fragebögen

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Der Bezug zwischen Doyres bundistn und den Fragebögen war jedoch bestenfalls implizit. Nur wenige Einträge fußen mehr oder weniger eindeutig auf den Fragebögen,30 sehr wohl aber bediente sich Y. Sh. Hertz als Bundhistoriker der beigelegten Photographien – die er, wie im Falle des berühmten Bundisten Layb Blekhman [Abraham der Tate] wohl auch zurückzulegen vergaß.31 Insgesamt fanden überraschend wenige der antwortfreudigen Altaktivisten Eingang in einen der drei Bände.32 Die Aufgabe der Fragebögen war darum in erster Linie parteiarchivalisch, es ging um einen prinzipiellen Wissenserwerb innerhalb des Bund. Umgedreht hingegen sind rekursive Beeinflussungen der Antwortenden durch die Doyres bundistn sehr wahrscheinlich. Der Einsender von vier Fragebögen nebst drei angehängten Autobiographien, Fishl Aydlman [Philip Adelman], beispielsweise war nicht nur ein passionierter Selbstbiograph, der wohl nicht ganz zufällig in Länge und Stil seiner Selbstbiographie sehr nah an den Doyres bundistn lag, er war vielmehr, wie wohl der Großteil aller überlebenden Bundisten, selbst im Besitz dieses Standardwerkes.33 In Anlehnung an die sich immer wieder selbst verknüpfende Kettenmigration kann man hier sicher von Kettenautobiographik sprechen. Sie erzeugte immer weiter neue Autobiographien, die dann ihre Schwerpunkte durch Bestätigung des Gesamtrahmens des Bund und zeitgleiches Füllen von „Wissenslücken“ holte.

Dezentrale Selbsterkundung: Der Modus Fragebogen Es ist damit zentral, sich dem Bund als soziale Bewegung auch durch die Identifikationen der Aktivisten zu nähern. Während die Doyres bundistn in Form und Auswahl eine offizielle, aber unsystematische Kollektivbiographie bundistischer 30 So z. B. Ebd., ##Tsalevitsh, Ben-Tsyon; Y. Hart, „Bentsl Tsalevitsh“, in Doyres bundistn, hg. von Jakob Sh. Hertz, Bd. 3 (New York: Unzer tsayt, 1968), 71 f. 31 Text des beigelegten Zettel: Die beigelegte Fotographie hat der khaver Sholem Hertz genommen, 26. Februar 1958. Signiert: L.Sh.; Bund Archives, New York, RG 1400, MG2, #429, ##Abraham der Tate . 32 Sehr wohl wurden die Einsendungen punktuell von der Redaktion der ,Unzer Tsayt‘ genutzt, so in Text und Bild z. B. bei der russischen Sozialdemokratin Lydia Dan. Vgl. ebd. ##Dan, Lydia und: A[leksander]. Erlikh: Tsum Ondenk fun Lidya Dan, in: Unzer Tsayt, New York, 5 (1963), S. 21f; Teilweise wurden sie aber ignoriert, wie z. B. bei Zalmen Pudlovski, der betont, dass er 1913 in den Bund eintrat, laut seines Nachrufs soll er hingegen schon ab 1908 aktiv gewesen sein. Offensichtlich „überschrieb“ hier die Erinnerung des Nachrufenden die des Nachgerufenen. Bund Archives, New York, RG 1400, MG2, #429, ##Pudlovski, Zalmen; Unzer Tsayt, 7–8, 1970, S. 46. 33 Ebd., ##Aydlman, Fishl, ##Adelman, Philip; Exemplare der Doyres bundistn mit dem Ex Libris von Philip Adelman befinden sich in meinem Besitz.

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Vergemeinschaftung durch kollektives Erinnern

tuer darstellen, ermöglichen die Fragebögen des Bund-Archivs eine kollektivbiographische Analyse bundischer Lebenswege auf der Basis einer Sammlung, die keiner zentralen parteihistorischen Kontrolle unterlag. Wenn die Autoren dann doch inhaltlichen oder rhetorischen Schwerpunkten der offiziellen Bund-Historiographie folgten, war dies eine aktive Wahl, basierend auf Identifikation mit der Bewegung und der Intertextualität aktivistischer Kettenautobiographik. Der Modus „Fragebogen“ zwecks Wissensgewinn hat sich darum nicht ohne Grund speziell in der nordamerikanischen Migration des Bund entwickelt.34 Dabei war der Fragebogen der „1955er-Kampagne“ in seiner Informationsdichte einzigartig, ging er doch auf Vormodelle zurück und war auch nicht der Letzte seiner Art. Zwar gab es in Argentinien auch eine Tradition der Fragebögen zur Mitgliederbefragung verschiedener Verbände und Gewerkschaften, aber direkt für den Bund sind keine überliefert.35 Auch die Mitgliedsanträge des Medem vinkl, einer bundistischen, vom YSFA organisierten, sozialistisch kulturellen Institution im Buenos Aires der späten 1920er Jahre, waren bestenfalls Personalbögen und wiesen kein historisches Interesse auf.36 In den USA hingegen ist die Geschichte solcher Fragebögen an die Entstehung des bundischen Klubs in New York 1923 gebunden, der aufgrund der vor Ort bleibenden Migranten zunehmend anerkannte, dass die USA dauerhaft zu einem Ort des Bundismus und bundischer Praktiken werden würden. Der erste überlieferte Fragebogen (Typ I, vgl. Tafel 23, S. 193) war aber aber nicht an eine spezielle Kampagne oder einen Mitgliedschaftsantrag gebunden, sondern wurde 1927 im Begleitheft zur Festveranstaltung des 30-jährigen Jubiläums des Bund abgedruckt.37 Die darin gestellten Fragen verdeutlichen, dass der Bund-Klub zunehmend verstehen wollte, wer in die USA gekommen war und welche Geschichten, Erlebnisse und 34 Auf Anfrage bestätigte Gertrud Pickhan, dass auch sie in ihrer Arbeit zum polnischen Bund keine Fragebögen aufspüren konnte, sei es, weil sie nie erstellt wurden, sei es, weil sie den entsprechenden Fonds des Parteiarchives im Warschauer Ghetto verloren gingen. Dann wären aber sicher zumindest Spuren verblieben. Email, Gertrud Pickhan an Frank Wolff, 24. Juni 2010. 35 So sind blanko-Formulare überliefert für den 1922 gegründetetn und bundnahen Yidishe literatn un zhurnalistn fareyn, H.D. Nomberg in Buenos Aires, in dem nach schriftstellerischem Lebenslauf und Migrationsprozess gefragt wurde; ebenso für die jüdische Lehrergewerkschaft, deren Fragebogen recht detailliert zur Arbeitssituation in den Schulen fragte. IWO, Buenos Aires #Associacion de escritores Israelitas Nomberg, ##Fragebogen, 1927; und ebd.: #Organición de maestras, ##1124, ###13 [ohne Jahr, verm. 1930er]. 36 CAHJP, Jerusalem, AR, PER, #63–64, ##Deklaratsye (1928/29). 37 YIVO, Bund-Archives, New York, ME–14B, #7, ##Der 30 joriger jubileum fun ,bund‘, Meka-tsenter, schabbes avent, dem 15. oktober, S. 4.

Kollektivbiographik und Fragebögen

229

Erfahrungen mit den Bundisten ins Land gefunden hatten. Dass dies ein Novum war, lässt sich auch daran ablesen, dass diese Fragebögen nicht als eigenständige Dokumente verteilt wurden, sondern die letzte Seite eines Programmheftes darstellten. Versammlungen wurden damit auch zu Zentren bundischen Wissenserwerbs, Fragebögen sollten sowohl Auskunft über die Vergangenheit geben als auch eine Rekrutierung für weitere Zwecke ermöglichen. Dies wird besonders deutlich an dem Pflichtfeld der Adresse, anonyme Fragebögen kannte der Bund nicht. Leider ist über den Rücklauf dieser Kampagne nichts bekannt, seine Absenz im Archiv lässt jedoch vermuten, dass er nicht der Rede wert gewesen war. In den 1920er/30er-Jahren wurde in den USA das Wissen übereinander durch private Beziehungen verbreitet. Ein abstrakterer Modus der Bekanntmachung speziell mit Neuankömmlingen durch standardisierte Fragebögen kam belegbar ab 1941 zum Einsatz (Typ II). Diese Fragebögen waren ebenfalls sehr kurz. Da Immigration nun weniger als Kettenmigration, sondern vielmehr als Fluchtbewegung ablief, benötigten die zahlreichen neuamerikanischen Gesichter eine knappe Geschichte, um Mitglieder im amerikanischen Zweig der Partei werden zu können. Dafür war es vor allem nötig, Daten zum Lebenslauf einer Person zu ergattern, die eine Einordnung des Antragstellers in den Bund ermöglichten und die seine Ehrenhaftigkeit zeigen sollte, so zum Beispiel in Bezug auf eine zentrale Frage zu den vorherigen Mitgliedschaften. Fragebögen wurden damit auch im Bund zu einem, wie Sheila Fitzpatrick es nennt, „sociopolitial identity document“, welches eine Eingangshürde zur (neuerlichen) Aufnahme in den Bund darstellte, die durch die Migration nötig geworden war.38 Dieses wurde auch dadurch notwendig, da die sich ab 1941 neu formierende New Yorker Gruppe des Bund zum neuen Zentrum der bundischen Welt wurde. Die Fragebögen des zweiten Typs fielen noch recht kurz aus und sind aus historiographischer Sicht inhaltlich mager, da sie einzig dem Zweck dienten, Neumitgliedschaften knapp auf ihre politischen Wurzeln zu befragen. Eine Erweiterung setzte 1947 mit der ersten größeren Biographisierungswelle ein, die kaum überraschend mit der Neugründung des Bund als World Bund einherging. Das damals im Entstehen begriffene New Yorker Bund-Archiv ermittelte weltweit per Fragebogen bundische Überlebende des Holocaust (Typ III). Dies beruhte auf weltweiter Vernetzungsarbeit. Von den 45 Antwortenden des Jahres 1947 gaben nur knapp 18 % an, in Nordamerika zu leben, knapp 70 % hingegen befanden sich noch in Europa (47 % in Westeuropa, 22 % in Polen). Dies steht dem Empfängerkreis des ab 1955 verwendeten, vierten und ausführlichsten Typ diametral gegenüber. 66 % der Antwortenden gaben an, in den USA oder Kanada zu leben, zwei Drittel davon allein in New York. Keine 6  % hinge38 Fitzpatrick, „The Letter as a Work of Art“, 189.

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Vergemeinschaftung durch kollektives Erinnern

gen waren in Westeuropa, zumeist in Frankreich oder Belgien, verblieben. Aus dem gesamten osteuropäischen Raum liegt keine einzige Antworten vor, ganz Europa ist damit unwesentlich stärker vertreten als Australien.39 Dies ist ein Ausdruck einerseits des Migrationsvorganges nach 1945–48 und andererseits der Vernetzung des Bund-Archivs. Dabei war das Netz getrennt vom Raumbezug, denn wie das Beispiel Manye Goldberg zeigt, konnte ein prominenter khaver in Europa durchaus „näher“ sein, als ein in New York lebender Arbeiter und „Fahnenträger“. In diesem Fragebogen Typ IV prägte sich der Migrationsvorgang nach 1947 deutlich ab. Weiterhin war Typ IV der einzige Fragebogen, welcher über einen längeren Zeitraum eingesetzt wurde. Man hatte nicht nur eine Abfrageart gefunden, die einerseits die Ausfüllenden ausreichend würdigte und ihnen entsprechenden Freiraum ließ, sondern die auch die erwünschten Informationen abfragbar präsentierte. Die Archivare hatten ein Raster kollektiver Wissensspeicherung gefunden, was den diversen Aufgaben des Archivs gerecht wurde. Während Typ IV direkt nach der Geschichte der Bundisten fragte, also Quellen schaffen wollte, war bei Typ II, 1941/42, noch der pragmatischere Grund einer Evaluation der Gegenwart maßgeblich. Typ V, der letzte archivierte und 1968 von der bundischen Gruppe in New York eingesetzte Fragebogen, schloss daran an und stellte zugleich den Höhepunkt der Befragung über gegenwärtigen Aktivismus dar. Auf zwei Seiten fragt Typ V nur sehr selektiv historische Daten ab, so nicht einmal das Geburtsdatum, wohl aber den Eintritt in den Bund. Das Augenmerk liegt auf dem Handeln der Bundisten in New York, auf deren Mitgliedschaften in Gewerkschaften, dem Arbeter-ring und landsmanshaftn, Lesegewohnheiten und letztendlich technischen Fragen, die lokale Bundgruppe betrafen. Hierbei ging es also weniger um die Vergangenheit, sondern um eine Evaluation der gängigen Praxis der Bundgruppe. Diese Fragebögen sind freilich nicht nur Ausdruck bundischer Interessen und Praktiken in den USA, sondern auch Quellen, die anhand eines bislang nicht verfügbaren Datensamples einen einzigartigen Blick in das Soziale des Bund auch in Osteuropa erlauben. Aufgrund der im Vergleich zu den frei verfassten Autobiographien wesentlich höheren Standardisierung der Abfragen erlauben die derart beschriebenen Lebensläufe, die unter Wegnahme von Antworten von Nichtbundisten und Mehrfachantworten auf ca. 350 reduziert werden müssen, einzigartige Einblicke in die Geschichte des Sozialen des Bund und zugleich tiefere Reflexionen über Wesen und Funktion von Autobiographik des Bund.

39 Verteilung, Typ IV: 157 USA (65,4%), 32 Israel (13,3%), 23 Lateinamerika (9.6%), 14 Westeuropa (5.8%), 13 Australien (5,4%), 1 Südafrika.(0,4%) = 240 Fragebögen (99,9%)

Nahe Vergangenheit, Gegenwart/v. a. Osteuropa Name, Alter Beschäftigungen Eintritt in Bund Bisherige Mitgliedschaften Einreise in USA

8 Antrag auf Mitgliedschaft

60

Allg. Vergangenheit/Osteuropa

Name, Herkunft Bundist? Mitglied in bundischen Organisationen, Komitees und Selbstwehr Teilnahme an Konferenzen Haft Sibirien Mitglied Kleyner bund? Adresse

12

Überblick über Bundisten in USA und Teilnehmer des Balls

0

Fokus, zeitlich/ räumlich

Hauptthemen

Anzahl Fragen

Ziel

Überlieferte Antworten

41

40

Weltweit

Lokal

Lokal

Reichweite

45

Wissenserwerb bzgl. überlebender Bundisten

13

Name, Geburtsdaten Beschäftigung Eintritt in Bund Verhaftungen Lager Aufenthaltsorte im Krieg Sprachkenntnisse

Nahe Vergangenheit/ Osteuropa

240 (30 Mehrfachnennungen, 210 Aktivisten)

Allg. historischer Erkenntnisgewinn, nach Belieben in die Gegenwart ausbaubar

20 (plus Freitext und Bild)

Name, Alter, Herkunft Eltern Ausbildung Beschäftigungen Eintritt in die Arbeiterbewegung Verhaftungen Mitgliedschaften in Organisationen Eltern Ausbildung Pseudonyme Aktionen und Orte Ämter Autorschaften Lebende khaverim Anfrage nach Freitext und Foto

Allg. Vergangenheit/Osteuropa in Neue Welt ausbaubar

Weltweit

„Bund“-arkhiv fun der yidisher arbeter bavegung o. n. Franz Kurski

1955–1980er

TYP IV

37841

33

Wissenserwerb über Mitglieder des Ortsverbands

19

Name, Familienstand Beschäftigung Eintritt in Bund Einreise in USA Herkunftsstadt Mitgliedschaften in Gewerkschaften, Arbeter-ring, landsmanshaftn Gegenwärtiges Engagement in Kommissionen u. Ä. Lesegewohnheiten Partizipation am Bund-Klub Wieder zu gewinnende alte Bundisten und Interessierte

Gegenwart/Neue Welt

Lokal

Organisatsye fun „bund“ in Nyu York

1968

TYP V

TYP I: Bund-Archives, New York, RG 1400, #ME–18; TYP II: Bund-Archives, New York, RG 1400, ME–18, #15; TYP III-V: Bund-Archives, New York, RG 1400, MG2, #429. Hinzu kommen fünf weitere archivierte Antworten (Nekrologe, Zeitungsausschnitte, ein nicht bundistischer Fragebogen), die nicht in das hier vorgestellte Raster passen, wohl aber im Rahmen der Kampagnen eingingen und entsprechend abgelegt wurden.

Tafel 23: Autobiographische Fragebögen des Bund in den USA

Total, überlieferte Antworten

o. A., verm. BundArchiv

Im Rahmen der Festveranstaltung zum Bundisher klub in Nyu 30-jährigen Bestehen des Bund, New York York

Initiator

1947

1941/42

1927

Jahre

TYP III

TYP II

TYP I40

TYP

Kollektivbiographik und Fragebögen

231

232

Vergemeinschaftung durch kollektives Erinnern

Phasen statt Jahre: Eintritte in den Bund als sozialhistorisches Wahrnehmungsphänomen

Eintritte

Tiefere Einblicke in das Leben der Bundisten und die osteuropäische Vergangenheit erlaubt vor allem der Fragebogen Typ IV. Keineswegs waren alle Antwortenden zum Zeitpunkt des Erinnerns noch im Bund aktiv – aber sie sahen es eben als ihre gemeinsame Aufgabe an, dem Bund-Archiv von ihrer Vergangenheit zu berichten. In diesen Fragebögen überlappen sich bundische Epochen. Sie bilden zugleich die Vorgeschichte des Bund, das Überleben im Holocaust und das Netzwerk des Nachkriegsbund ab. Sie repräsentieren jene multiple Form der Zeitlichkeit, die dem Aktivismus zu eigen ist. Im Sinne Karl Schlögels sind sie Ausdruck von „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, von Koexistenz und Kopräsenz des Disparaten“, was auch ermöglicht, einzelne Ebenen und Überlagerungen zu analysieren, wenn man die Zeitlichkeit des Artefakts mit zum Gegenstand macht.42 Frank Wolff Zeit spielte dabei in erster Linie als Dauer eine Rolle. Die wichtigste Frage war, 192 neben dem Namen, die nach der Zugehörigkeitsdauer zum Bund. Diese wurde immer abgefragt und damit Eintritte wichtiger als Geburtsjahr, prodas Jahr bis 1939welches in Fragebogen Typ I und V nicht abgefragt wurde.

1897

1905

1912

1917

1922

1929

1936

1939

Schlüsseljahre

Tafel24: 24:Eintritte Eintritteininden denBund Bundbis bis1939, 1939, anhand anhand Fragebögen Fragebögen Typ Tafel TypII–V II–V

Betrachtet man die Phasen, in denen die befragten Bundisten in den Bund eintraten, Schwerpunkte erkennen, dieBundisten auch Erkenntnisse Konjunk-sind Betrachtet sind mandeutliche die Phasen, in denenzudie befragten in den über Bunddieeintraten, turverläufe der bundischen Geschichte im Allgemeinen erlauben (siehe Tafel 24, S. deutliche Schwerpunkte zu erkennen, die auch Erkenntnisse über die Konjunkturverläufe der bundischen42 Geschichte im Terror Allgemeinen erlauben Tafel 24,Hanser, S. 195). Während zum Karl Schlögel, und Traum : Moskau(siehe 1937 (München: 2008), 23. Zeitpunkt der Fragebögen die Zahl der noch lebenden Mitglieder aus der Gründung des Bund 1897 nur noch gering war, war die Generation, die ab 1905 beitrat, sehr stark vertreten. Vor allem in Bezug auf die Tradierung des bundistischen Erbes in Form der Memorik war diese Generation ab den 1920ern die maßgebliche. Zudem ist dies, wie hier auch zu erkennen, die Zeit, in der der

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195). Während zum Zeitpunkt der Fragebögen die Zahl der noch lebenden Mitglieder aus der Gründung des Bund 1897 nur noch gering war, war die Generation, die ab 1905 beitrat, sehr stark vertreten. Vor allem in Bezug auf die Tradierung des bundistischen Erbes in Form der Memorik war diese Generation ab den 1920ern die maßgebliche. Zudem ist dies, wie hier auch zu erkennen, die Zeit, in der der Bund zur Massenbewegung wurde. Der scharfe Einschnitt nach 1905 erklärt sich aus dem Scheitern der Revolution und deckt sich mit gängigen Forschungsmeinungen.43 Ob Bundisten dann aber bis 1912 einzig „in defeat“ gerieten, wie Henry J. Tobias und Charles E. Woodhouse in ihrer klassischen Studie argumentierten, ober ob die Leistung nicht eben genau das Überdauern dieser Phase der verschärften staatlichen Repression war,44 bleibt eine Frage der Perspektive. Die defeat-These beruht auf der Theorie der „Trägheit“ sozialer Organisationen, die durch externe Einwirkungen gebremst wird.45 Ohne diesen äußeren Einfluss, so der logische Schluss, hätte sich der Bund weiter entfalten können und müssen. Geht man aber davon aus, dass soziale Bewegungen nicht einfach „weiterexistieren“, sondern dass sie, wie alle Akteure, einen steten Zuschuss an Energie benötigen, erklärt sich der überraschend hohe Wert der Eintritte um 1908 viel eher durch den Bedarf an Zustimmung, ohne die der Bund wohl auch in dieser harten Zeit vor einem frühen Aus gestanden hätte. Aus Sicht der defeat-Perspektive wäre die hohe Zahl der Eintritte 1908 damit ein statistisch bedingter Ausreißer. Dies wäre eine Deduktion aus einer empirisch kaum gesättigten Annahme, denn Statistiken dieser Art lagen bislang eben nicht vor. Wenn man hingegen die Zahlen ernst nimmt, muss man diesen Wert auf den Schreiberaum beziehen, denn es geht in den einzelnen Fällen nicht um das konkrete Jahr 1908, sondern viel eher um einen Erinnerungsort: die Zeit der Reaktion. Der Wert beruht auf der Wahrnehmung derjenigen, die 1908 in die Bögen eintrugen, wohl aber in der Zeit zwischen 1907 und dem Wiederaufflammen revolutionärer Stimmungen ab 1912 im Bund aktiv wurden. Dies deckt sich auch mit den zeitgleich zum Fragebogen Typ IV verfassten Erinnerungen des ehemaligen Vorsitzenden des New Yorker Bund-Klub, Dovid Mayer. Er hielt fest, dass „ungefähr 1908“ eine Gruppe jüdischer gesellschaftlicher Literaten die offizielle Erlaubnis bekommen habe, die Yidishe literarishe gezelshaft ins Leben zu rufen. In Warschau gründete diese eine nach dem berühmten Autor Isaac Leib Peretz benannte Abteilung, die der Bund unterwandern wollte. Mayer wurde Vizesekretär und unter diesem Deckmantel sei es dann möglich gewesen, das jiddisch-kulturelle Projekt des illegalen Bund

43 Tobias und Woodhouse, „Political Reaction and Revolutionary Careers“. 44 Wolff, „Heimat und Freiheit bei den Bundisten Vladimir Medem und Hersch Mendel. 45 ������������������������������������������������������������������������������������� Bruno Latour, „The Powers of Association“, in Power, Action and Belief. A New Sociology of Knowledge?, hg. von John Law (London: Routledge, 1986), 264–280.

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fortzuführen.46 In der Erinnerung Mayers stehen dann Taten und Probleme im Vordergrund, genaue Daten sind Nebensache. Die Jahreszahl 1908 ist nicht mehr als ein Code, der zwischen Datierungsbedarf und der Irrelevanz der Genauigkeit vermittelt. Der Bundismus und auch die Organisationsstruktur des Bund waren damals ohne Frage Rückzugsgefechten ausgesetzt, wie die junge Garde damit umging, ist aber eine andere Frage. Die Eintrittsepoche zwischen 1907 und 1912 ist darum eine biographisierte Chiffre für die Zeit der Reaktion. Ab 1912 stiegen die Eintrittszahlen wieder deutlich an. Dies bestätigt die Forschung, die die Warschauer Wahlen 1912 und vor allem die Meuterei in der Lena-Goldgrube als Ende der Schreckstarre nach 1907 oder gar als Wendepunkte hin zu 1917 liest.47 Für viele Aktivisten waren darum eindeutige Antworten auf derart klare Fragen wie nach dem Eintrittsjahr nicht möglich. In Fragebögen, die nicht nach dem genauen Jahr des Eintritts, sondern nach der Dauer der Zugehörigkeit fragen, ist eine auffällige Tendenz zur runden Zahl zu beobachten. Und bei festen Jahreszahlen (Typ IV) treten große Ungenauigkeiten auf. Mehrfach und in größeren Zeitabständen antwortende Bundisten, wie Avrom Byalon, Abraham Feygenboym, Naftali Gelberg oder Dovid Mayer, machten Angaben, die einzeln klar klingen, im Vergleich aber inkonsistent sind. Sie wussten einfach nicht, in welchem genauen Jahr sie in den Bund eingetreten waren. Selbst der Historiker des Bund Yakob Sholem Hertz schwankt zwischen 1915 oder 1916, ebenso die führenden Bundisten Leon Oler und Yakob Tselemenski. Dovid Mayer und Dovid Boym, bedeutende US-amerikanische Bundisten, geben jeweils unterschiedliche Zahlen im Vorfeld von 1905 an.48 Auch hierfür ist die Erklärung, dass die Angabe genauer Jahre ebenso wie die der Dauer der Mitgliedschaft in erster Linie erinnerungsgeprägt und damit perzeptionsabhängig war – es lag in den wenigsten Fällen eine Quelle vor, die hätte helfen können, feste Daten zu benennen. Vielmehr schrieb man den Eintritt gewissen Epochen zu: Man trat vor 1905, nach 1907, kurz nach Beginn des Ersten Weltkrieges usw.

46 Dovid Mayer, „‚Yidishe literarishe geselshaft‘ in Varshe. A bletl zikhroynes“, Unzer tsayt, New York 11–12 (1957): 104 f. 47 John Micgiel, Robert Scott, und H.B. Segel, Hrsg., „Polish Political Strategies and the ‚Jewish Question‘ during the Elections in Warsaw to the Russian State Dumas 1906–1912“, in Poles and Jews: Myth and Reality in Historical Context (New York: Inst. on East Central Europe, Columbia University, 1986), 140–167; Bernard Singer, „The Jews, the Left and the State Duma Elections in Warsaw 1912: Selected Sources“, POLIN 9 (1996): 45–54; Michael S. Melancon, The Lena Goldfields Massacre and the Crisis of the Late Tsarist State (College Station, Tex.: Texas A&M University Press, 2006); Murphy, Revolution and Counterrevolution, 19 ff. 48 Allesamt in den jeweilgen Personenakten in Bund-Archives, New York, RG 1400, MG2, #429.

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ein, also immer zwischen einschneidenden Ereignissen. Der Fragebogen verlangte dann eine nicht zu liefernde Genauigkeit.

Der vergessene Aktivismus des Bund im Ersten Weltkrieg Weitere Fragen werfen die vergleichsweise hohen Eintrittszahlen zur Zeit des Ersten Weltkrieges auf. Denn dieser brachte, wie Kevin Murphy bemerkte, „working-class militancy to a virtual halt.“49 Der Bund stellte sich, im Gegensatz zu vielen anderen sozialdemokratischen Gruppierungen, strikt gegen Krieg und Vaterlandsverteidigung. Dies brachte ihn in Opposition zu weiten Teilen der organisierten russländischen Arbeiterbewegung.50 Trotz des Risses, der sich damals durch die Arbeiterbewegung zog, fanden sich neue Gruppen zusammen. Für Moskau zeigt Murphy, dass dies vereinzelt schon ab 1915 geschah.51 Dies kann ebenso für die Arbeiterbewegung in Warschau gesagt werden, die der Bundist Yosef Lifshits in einer Erinnerung besonders genau beschreibt.52 Anfang 1915 lagen die bundischen Organisationen in Trümmern. Im Laufe des Jahres gründeten sich aber, aufbauend auf einer wieder stärker werdenden birzshe, erste illegale Fachkomitees. Trotz des Kriegszustandes konnten diese eine Versammlung mit 70 Delegierten abhalten, auf der ein neunköpfiges Exekutivkomitee gewählt wurde. Entscheidend waren dabei bereits bestehende vordergründig karitative Institutionen, wie eine legale Garküche, die solche Versammlungen auch ohne bundische Lokale ermöglichten. Diese boten aber für die Okhrana die Möglichkeit, Verhaftungen vorzunehmen. So geschehen im Februar 1915, als 16 khaverim verhaftet und zu mehrmonatigen Haftstrafen verurteilt wurden, wovon sechs gar nach Sibirien verbannt wurden. Doch die russische Zeit näherte sich dem Ende – Lifshits bemüht hier das Bild des Knalls der Brückensprengungen, welches eine Assoziation zum Startschuss der Oktoberrevolution durch die Aurora evoziert. In besagter Garküche fasste man damit den Entschluss, die Wohltätigkeit hinter sich zu lassen und erneut politische Fachgewerkschaften zu gründen. Erfahrene Bundisten wie Viktor Shulman, Yosef Lifshits, Yankl Yankelevitsh und Hershl Metaloviets gingen voran. Neben Menschen bedurfte es dazu auch Symbole und Dinge: „So wurden Lokale 49 Murphy, Revolution and Counterrevolution, 27. 50 Grundlegend dazu: Holquist, Making War, Forging Revolution; zur Bandbreite jüdischer Erfahrungen im Ersten Weltkrieg: Frank M. Schuster, Zwischen allen Fronten. Osteuropäische Juden während des Ersten Weltkrieges (1914–1919) (Köln: Böhlau, 2004). 51 Murphy, Revolution and Counterrevolution, 27–37. 52 Lifshits, „A bisl zikhroynes fun far 20 yor“, 9.

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für 10 Vereine, 10 Schilder und 10 Stempel geschaffen“, welche bis Ende des Jahres um drei weitere ergänzt werden konnten. Damit wurde der Grundstein für jene großen Arbeitergewerkschaften gelegt, die in Zwischenkriegspolen die jüdischen Arbeitermassen anzogen.53 Unter der nachfolgenden deutschen Verwaltung hatte der Warschauer Bund weiter reichende Freiheiten. Ab 1916 konnte unter der Herausgeberschaft Vladimir Medems die bundistische Zeitschrift ‚Lebns-fragn‘ legal erscheinen. Die Bundisten hatten nun weniger gegen die revolutionsfürchtige russische Obrigkeit als gegen Papiermangel54 und inhaltliche Reglementierungen im Krieg zu kämpfen. Die Redaktion wurde beispielsweise mit einem Verbot bedroht, würden die Zeitungsjungen weiterhin „die unwahren Nachrichten der feindlichen Heeresberichte ausrufen“.55 Diese hätten ausgesagt, sie seien nachdrücklich dazu angehalten worden, was nach der Verordnung III, No. 3649 des Generalgouvernements vom 8. Februar 1916, strikt zu unterlassen sei. Doch durften die ‚Lebns-fragn‘ weiter legal erscheinen und fanden selbstverständlich schnell den Weg in die New Yorker Redaktion des ‚Forverts‘, die besonders die Herausgeberrolle des „berühmten Bundisten Vladimir Medem“ betonte.56 Als derart bedeutendes bundisches Blatt der vorrevolutionären Zeit wurde sie später Gegenstand bundischer Erinnerungen.57 Die relative Handlungsfreiheit im Ersten Weltkrieg war jedoch nicht auf Warschau beschränkt, sondern verleitete wie viele sozial Bewegte auch den Lubliner „Druckerarbeiter“ Alekher Zelig Vasershtros dazu, 1916 nach der Gründung einer Druckergewerkschaft in den Bund einzutreten.58 Ob dieser Zuspruch zum Bund nun, wie anhand dieser Zahlen zu vermuten, trotz oder wegen der Ablehnung des

53 Ebd. 54 ������������������������������������������������������������������������������������ Bund Archives, New York, MG2, #504, ##Brief, 9. Sept. ������������������������������������ 1916, Presseabteilung des Verwaltungschefs beim Gen.-Gouv. Warschau, G.-Nr. 1.a 9557 an Redaktion der „Lebensfragen“, Warschau; und: ##Erlass 6991, Warschau, 24. Juni 1916 Generalgouvernement Warschau, Presseabteilung. 55 Ebd: ##Brief, 15. Juli 1916, Warschau, Der Kaiserliche Deutsche Polizei-Präsident an den Herrn Chefredakteur der „Lebnsfragn“. 56 Forverts, 1. Juni 1916, o. S.; in: Bund Archives, New York, MG2, #504. 57 Vgl. vor allem das Büchlein: Redaktsye „lebns-fragn“, Unzer grus (Warschau, 1919). Darin die Erinnerungen von Vladimir Medem: Di lebns-fragn, 9–13; Dovid Eynhorn: Troym un vort, 14–17; und Viktor Shulman: Der bruder-khaver. Derinerung fun redaktions-sokretar, 18–24; zudem: Lifshits, „A bisl zikhroynes fun far 20 yor“; Viktor Shulman, „Fun der ‚lebns-fragn‘ biz der ‚folkstsaytung‘, 6 Bd.“, Unzer shtime, Paris 1443–1448 (1951): jeweils: 2; H. Bakhrakh, „Ven bundistn shtreytn tsvishn sikh …“, Unzer shtime, Paris 14 (1952). 58 Bund-Archives, New York, 1400, MG2, #429, ##Vasershtros, Alekher Zelig.

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Weltkrieges durch den Bund geschah, kann anhand der vorliegenden Daten nicht beantwortet werden. Der Krieg löste dabei Binnenmigrationen aus, die auch für den Nachkriegsbund bedeutend waren. Der Aktivist Khaym Babits berichtet in den in Israel erscheinenden ‚Lebens-fragn‘, dass sein Schtetl Novidor strategisch günstig lag, wodurch neue, kriegsbedingte Arbeitsmöglichkeiten entstanden.59 Mit den Arbeitsmigranten kamen auch viele Bundisten nach Novidor, unter ihnen auch der „später bekannte arbeter-tuer Y. Rudovski“.60 Aktivisten wie Rudovski waren es, die den Bund in Novidor im und nach dem Weltkrieg aufbauten und so dafür sorgten, dass er in den Kehillawahlen 1927 zur stärksten Fraktion wurde. Zudem konnte er mit der PPS den Stadtrat dominieren. Der im Ersten Weltkrieg eingewanderte Rudovski wurde letztendlich gar Vize-Bürgermeister der Stadt. Zu Zeiten des Ersten Weltkrieges wurde durch das fortschreitende Engagement in Arbeiterfragen ein Fundament gelegt, auf dem der Bund in den Folgejahren aufbaute. Darin ähnelte er also den russischen Sozialrevolutionären, die ab 1915 in Moskau und Petersburg zusehends Fuß fassten und so den Grundstein für ihre Bedeutung im Revolutionsjahr 1917 legten, allerdings war sein Erfolg langlebiger.61

Die generationelle Heterogenität des Bund Die Eintrittszahlen der nächsten Jahre untermauern die Anknüpfung des Bund an die ihn umgebende Geschichte: Nach einem temporären Höhepunkt durch die Februarrevolution 191762 fiel der Bund in eine strukturelle und programmatische Krise, aus der er sich durch sein strikt linkspolitisches, aber sozialdemokratisches Profil ab 1922/23 langsam wieder erholte. Gegen 1929 waren seine Strukturen soweit gefestigt, dass er vor allem durch seine breite kulturelle und bildungspolitische Arbeit starken Zuwachs verzeichnen konnte. Wie Jack Jacobs festhält, waren dabei vor allem die an den Kleynen bund anschließenden Kinder- und Jugendgruppen, der Sotsyalistsisher kinder-farband, SKIF und der Yugnt bund ,tsukunft‘, kurz Tsukunft, 59 ,Lebens-fragn‘ ist das israelische Sprachrohr des Bund und erscheinen seit 1951 in Tel Aviv. Sie hat nicht nur den gleichen Namen wie das im Ersten Weltkrieg von Vladimir Medem herausgegebene Blatt, das Titelblatt der Sonderausgabe zum 60-jährigen Jubiläum des Bund zierte auch ein langes Zitat Medems, siehe: Lebns-fragn, 75–76 (1957), S. 1.; Die ,Lebns-fragn‘ erscheinen heute noch heute als Online-Monatsschrift unter www.lebnsfragn.com, Abruf: 25. Mai 2012. 60 Khaym Babits, „Mayn shtetl novidvor. A kleyn shtetl mit a groysn beyshteyer tsu der geshikhte fun ‚bund‘“, Lebns-fragn, Tel Aviv 70–71 (1957): 18. 61 Murphy, Revolution and Counterrevolution, 32 f. 62 Alleinstehend: Gelbard, Der jüdischer Arbeiterbund im Revolutionsjahr 1917.

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Vergemeinschaftung durch kollektives Erinnern

entscheidend.63 Die Fragebögen belegen dies, denn knapp 40 % der Befragten geben explizit an, einer Jugendorganisation angehört zu haben und leiten ihre Identität aus dieser kollektiven Sozialisation ab.64 Zu hinterfragen ist jedoch der Abfall der Eintritte nach 1930 und ganz speziell das Fehlen eines erneuten Anstiegs nach 1936 (Tafel 24, S. 234). In jenen Jahren konnte der Bund vor allem bei den polnischen Kommunalwahlen große Erfolge verzeichnen. Traten dennoch so wenige Neumitglieder in den Bund ein? Die jüngere Forschung argumentiert mit guten Gründen in die entgegengesetzte Richtung.65 Vermutlich verfälscht hier der Einschnitt durch den Holocaust die Statistik, denn migrierten frühere Generationen in Schüben, setzte nun eine wellenartige Fluchtbewegung ein. Das Durchschnittsalter der fast komplett frisch angekommenen Flüchtlinge, die 1941/42 um eine Neuaufnahme im New Yorker Bund-Klub suchten, lag bei stattlichen 44 Jahren, der Ersteintritt in den Bund lag oft weit zurück. Die junge Generation fiel, wie Sergio DellaPergola ausführte, dem Holocaust in Osteuropa zwar gleichermaßen zum Opfer wie andere, aber dadurch, dass die osteuropäische jüdische Bevölkerung im Vergleich zu anderen europäischen Judenheiten sehr jung war und dass zudem vor allem junge Menschen in den Bund erstmalig eintraten, ist diese Kerbe in die Statistik eine, die durch den Holocaust geschlagen wurde.66 Das Soziale des Bund konnte an diesem Punkt darum nicht mehr durch den Wissensspeicher der Migration gespiegelt werden, es fiel dem deutschen Einmarsch und dem Massenmord an den osteuropäischen Juden zum Opfer. Auch darum steht das hohe Alter der im Fragebogen Typ II dokumentierten Neuregistrierungen in scharfem Kontrast zum Eintrittsalter in den Bund in Osteuropa. Nur 6 % aller Fragebögen wurden von Bundisten ausgefüllt, die bei Eintritt in den Bund 26 Jahre oder älter waren. Die Großzahl trat während der Adoleszenz zwischen 13 und 20 Jahren ein (Tafel 25, S. 239).67 Da die höchsten Einzelwerte der Eintritte zwischen 13 und 15 Jahren liegen, muss ein bedeutender Teil des Bund eine innere Jugendbewegung gewesen sein, die ihn vor allem in Bezug auf die Aktivismusmuster mitformte.

63 Jacobs, Bundist Counterculture, 8–47; lange Traditionen betont anhand des Yugntbund ,tsukunft‘ auch: Hertz, Di Geshikhte fun a yugnt. 64 Anhand Fragebogen Typ III. 65 Vgl. allgemein: Jacobs, Bundist Counterculture, 1–7; Pickhan, Gegen den Strom, 128 f. 66 Sergio DellaPergola, „Between Science and Fiction. Notes on the Demography of the Holocaust“, Holocaust and Genocide Studies 10, Nr. 1 (1996): 38. 67 Eine Dunkelziffer verbleibt, bei 52 Bögen war entweder das Eintritts- oder das Geburtsjahr, oder beide Angaben nicht ersichtlich oder konnten nicht jahresgenau recherchiert werden.

en Bund in Osteuropa.

Ersteintritte

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Anzahl Eintritte

Kollektivbiographik und Fragebögen