Neubeginn!? Bewahren und Verändern: Leidfaden 2021, Heft 2 [1 ed.] 9783666407055, 9783525404997, 9783525407059

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Neubeginn!? Bewahren und Verändern: Leidfaden 2021, Heft 2 [1 ed.]
 9783666407055, 9783525404997, 9783525407059

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10. Jahrgang  2 | 2021 | ISSN 2192-1202

faden Leid

FA C H M A G A Z I N F Ü R K R I S E N , L E I D , T R A U E R

NEUBEGINN!?

Bewahren und Verändern

Andrea Frölich Oertle Alles neu macht der Mai … Neubeginn nach Be­ziehungs­

krisen  Barbara Rüetschi Die Macht der Gewohnheit? Wieso ein Neubeginn schwerfallen kann  Caroline Walker Miano Spiritualität, Abschied und Neubeginn in der Sterbebegleitung  Pierre Stutz Trau deiner Verwandlungs­ kraft – Immer wieder klein anfangen können  Andreas Heller Das Ende der Pandemie und unsere Todesängste

WILLKOMMEN IN DER WELT DER VERBOTE UND HINEIN INS SCHILDERVERGNÜGEN!

Dirk Purz Einfahrt verboten?

Wie der Umgang mit Vorschriften und Regeln gelingt. Ein beschilderter Leitfaden 2021. 160 Seiten mit 23 Abb. und 39 Fotografien, kartoniert € 25,00 D | € 26,00 A ISBN 978-3-525-40499-7 E-Book| E-Pub € 19,99 D | € 20,60 A

Preisstand 18.3.2021

Angeregt durch die humorvoll und tiefsinnig umgestalteten Verkehrsschilder des Künstlers Clet Abraham erklärt Dirk Purz fundiert und leichtgängig, welche Funktion Verbote haben und wie sie auf unsere Psyche wirken. Manchmal rufen sie zum Widerstand auf, werden ignoriert und bewusst umgangen. Manchmal lässt es sich mit vorgegebenen Regeln aber auch gut leben und sie werden von Herzen begrüßt. Der Autor zeigt, wie facettenreich und entwicklungsfördernd der Umgang mit Verboten sein kann und wie sie so gestaltet werden können, dass einem reibungslosen Zusammenleben und Zusammenarbeiten nichts im Wege steht. Fragen zur Selbstreflexion runden diesen beschilderten Leitfaden ab.

EDITORIAL

Dem Neubeginn vertrauen?! Haben Sie auch schon einmal den Wunsch verspürt, neu zu beginnen? Die Vergangenheit hinter sich zu lassen – wie es das Kinderlied »Alles neu macht der Mai« verspricht? Doch was geschieht dann mit all dem Gewordenen, Gewachsenen, auf das wir vertrauen, wenn wir einer ungewissen, unbekannten Zukunft entgegenschauen? Wäre da nicht einiges, das wir trotz allem bewahren und ins Zukünftige mitnehmen möchten? Wie beispielsweise »unsre Lieb und Treue«, wie Hoffmann von Fallersleben es so einfach formulierte. Manchmal fordert das Leben von uns einen nicht selbst gewählten Neubeginn, beispielsweise nach dem Verlust eines geliebten Menschen oder wenn eine Beziehung zerbricht. Auch Krankheit kann eine Neuanpassung erfordern. Es gibt viele Gründe, warum wir uns mit einem Neubeginn schwertun – oder warum wir ihn herbeiwünschen. Neubeginn und Vertrauen sind ein unzertrennliches Paar – begleitet von der Hoffnung, dass Zukünftiges gelingen mag. Was aber geschieht, wenn es nicht gelingt? Wenn wir an

dem, was das Leben uns abfordert, zerbrechen? Jeder Aufbruch ist ein Wagnis. »Es gibt kein Leben ohne Wagnis« (Anselm Grün). Neues anzugehen, bedeutet weiterzuleben. Und manchmal gilt es, mit frischem Mut und neuer Hoffnung in das Neue hineinzugehen, uns nicht zu fürchten und d ­ arauf zu vertrauen, dass »es hinter uns herblüht« (Hilde Domin). Es geht weiter, ob wir selbst etwas dazu tun oder nicht. Wenn es gelingt, sich Neuem und Unbekanntem zu öffnen, entsteht ein weiteres Stück Weg – indem wir ihn gehen und ihn (er-)leben. In diesem Heft nehmen wir Sie mit auf eine Reise zum Geheimnis des Neubeginnens. Was Sie dabei bewahren oder neu mit in Ihr Leben nehmen, überlassen wir gern Ihnen selbst.

Erika Schärer-­ Santschi

Sylvia Brathuhn

Inhalt Editorial 1

4 Andrea Frölich Oertle

Alles neu macht der Mai … Neubeginn nach Beziehungskrisen

8 Hansjörg Znoj | Sinnfindung aus psychologischer Sicht

8 Hansjörg Znoj

Sinnfindung aus psychologischer Sicht



13 Diana Staudacher

Neu ist das, was Leiden verringert – Gesellschaft neu denken nach Jacques Rancière



18 Barbara Rüetschi

Die Macht der Gewohnheit? Wieso ein Neubeginn schwerfallen kann



22 Friederike Westerhaus

Das Wertvolle als Wegweiser in neuen Erfahrungen



26 Christian Ruch

Jeden Tag neu beginnen – Der Jakobsweg als Symbol für die Pilgerschaft des Lebens

18 Barbara Rüetschi | Die Macht der Gewohnheit? Wieso ein Neubeginn schwerfallen kann

30 Caroline Walker Miano

Spiritualität, Abschied und Neubeginn in der Sterbebegleitung



34 Hans Ulrich Baumgartner

Nach dem Tod der Eltern – Vater ist gestorben



38 Pierre Stutz

Trau deiner Verwandlungskraft – Immer wieder klein anfangen können

46 Andreas Heller | Das Ende der Pandemie und unsere Todesängste

62  Interview mit Godehard Brüntrup | Der nahende Tod als Grenzerfahrung

42 Franziska Maurer

Mitten in »guter Hoffnung« der Tod – Weiterleben

79 Fortbildung

als Eltern eines totgeborenen Kindes

46 Andreas Heller

Das Ende der Pandemie und unsere Todesängste



50 Sabine Zwierlein-Rockenfeller

Diagnose Krebs – Zerbruch und Neubeginn



55 Walter Ditscheid

Querschnittlähmung: Unterbrechen, Zerbrechen und Neubeginn



59 Joachim Albrecht

Wir brauchen dich …



62 Interview mit Godehard Brüntrup

Der nahende Tod als Grenzerfahrung



65 Carmen Birkholz

Nähe in Distanz: Trauer in Zeiten von Corona – Restriktionen und Kreativität als prägende Elemente coronabedingter Trauerkultur



69 Elke Schnyder

Etwas kommt dazwischen … Und dennoch …



72 Katharina Friederich-Dumelin



Mein Neubeginn fängt mit dem Loslassen an –

begleitung als Übergang in den Neubeginn

Einsicht in einen Chatverlauf zwischen zwei Frauen mit Brustkrebs

77 Aus der Forschung: Zwischen Aushalten und

Gestalten – Ein Forschungsprojekt zu Resilienz

79 Fortbildung: Das geplante Ende einer Trauer­



84 Cartoon | Vorschau



88 Impressum

4

Alles neu macht der Mai … Neubeginn nach Beziehungskrisen Andrea Frölich Oertle Alles neu macht der Mai … Diese Zeile aus dem berühmten Kinderlied verspricht einen unbeschwerten Neuanfang, nachdem sich der Winter endgültig verabschiedet hat. In Beziehungen kennt wahrscheinlich jeder dieses verheißungsvolle Gefühl und die damit verbundene Zuversicht. Jetzt wird alles anders und besser. Ein Neubeginn nach einer Krise steht jedoch nicht einfach für sich allein, sondern ist verbunden mit dem Erlebten und eingebunden in unseren Lebenszusammenhang. Was das für einen Beziehungsfrühling bedeutet, soll im Folgenden etwas genauer betrachtet werden. Doch vorweg ein paar grundlegende Überlegungen. »Neubeginn!? Bewahren und Verändern« »Ich habe immer darauf gewartet, dass das Leben anfängt, doch es ging immer nur weiter« (unbe­ kannt). Veränderung passiert, von der Zeugung bis zum Tod. Ohne unser Zutun. Immer. Ob wir wollen oder nicht. Mit jeder Sekunde nähern wir uns dem Tod und jede Sekunde ist der Anfang des Rests unseres Lebens. Als Mensch sind wir eingebunden in dieses Kontinuum von Zeit und Raum. Neubeginn ist so gesehen die nächste Sekunde, die nächste Bewegung. Es gibt nur den einen, nächsten Schritt auf der Zeitachse. Zyklisch betrachtet ist das Leben ein ständiger Kreislauf – Beginnen, Festigen, Verändern – analog zu den Jahreszeiten. Als Mensch sind wir Teil der Natur, eingebunden in Zyklen und Rhythmen, ob wir wollen oder nicht. Auch so betrachtet ist Neubeginn der nächste Schritt, prozesshaft und folgerichtig.

Wie viele Veränderungen haben sich über Tage, Wochen, Jahre ergeben, einfach, indem wir lebten, Sekunde um Sekunde, immer den einen, nächsten Schritt machend. Dieser ist »richtig und wichtig», egal wie bedeutend er uns erscheint, wie bewusst oder unbewusst wir ihn machen und ob wir ihn positiv oder negativ bewerten. Jeder Schritt ist ein Neubeginn, beruhend auf dem letzten und mitbestimmend für den nächsten. Neubeginn ist der Punkt der Gegenwart, der Vergangenheit und Zukunft miteinschließt. Es ist kein losgelöster Akt, sondern ein persönliches Momentum. Eine künstliche Zäsur im Kontinuum des Lebens. Blicken wir nach vorn in Richtung Tod, ist alles Veränderung. Blicken wir zurück auf den Beginn des Lebens, hat sich alles bewahrt. Neubeginn, Bewahren und Verändern, alles ein und dasselbe aus verschiedenen Blickwinkeln betrachtet. »Lebensarchäologie« – Vergangenheit in der Gegenwart In der Vergangenheit lässt sich NICHTS verändern. Alles ist geschehen und bewahrt. Wir stehen im Hier und Jetzt auf den Schichten, die das Leben abgelagert hat. Unsere Geschichte bildet den Boden für den nächsten Schritt. Bezeichnen wir diesen als Neubeginn, ist er verbunden mit einer subjektiv wahrnehmbaren Veränderung und der Hoffnung auf ein glücklicheres Leben. Meist auch mit der Vorstellung, die Vergangenheit hinter sich zu lassen, gerade in Beziehungskrisen, was sich jedoch über kurz oder lang als Trugschluss erweist. Doch der Reihe nach. Unser Beziehungsverhalten wurde geprägt durch unsere frühesten Be-

By Sten Porse – Self-published work

https://commons.wikimedia.org/w/index .php?curid = 37483

by Sten Porse, CC BY-SA 3.0,

A l l e s n e u m a c h t d e r M a i   … N e u b e g i n n n a c h B e z i e h u n g s k r i s e n    5

Neubeginn ziehungserfahrungen: die Zeugung, die Zeit im Mutterbauch, die Geburt und die ersten Kinderjahre. Meist haben wir keine bewusste Erinnerung daran, doch unser Körper speichert alles. Auf entsprechende Auslöser hin erinnert sich unser Körpergedächtnis, folgt unbewussten Mustern und reagiert im Hier und Jetzt physisch und psychisch. Alles, was wir als Kind bewusst und unbewusst erlebt haben, wirkt in uns weiter und beeinflusst unsere gegenwärtigen Beziehungen. Beziehungsdynamik und Krisen »Gleich und gleich gesellt sich gern« und »Gegensätze ziehen sich an«. Sprichwörter, die widersprüchlicher nicht sein könnten, doch die, wie wir als Paar in unserer mehr als zwanzigjährigen Erfahrung in der Begleitung von Paaren festgestellt haben, in ein und derselben Beziehung zum Tragen kommen. Sie machen die Dynamik einer Beziehung aus und helfen, diese rational und gefühlsmäßig besser zu verstehen. Zwei Menschen finden sich aufgrund einer ähnlichen Ohnmacht, die sie aus ihrer Kindheit mitbringen, mit der sie jedoch auf gegensätzliche Art umzugehen lernten. Irgendwie fühlen sich

die beiden verwandt und gleichzeitig sind sie fasziniert von ihrer Andersartigkeit. Diese Gegensätze ergänzen sich perfekt, ganz im Sinne von »Du bist alles, was mir fehlt«. Das macht die beiden füreinander attraktiv. Sie verlieben sich. Unromantisch ausgedrückt ist die Verliebtheit der Lockstoff, um sich nichtsahnend in die kleinste Selbsthilfegruppe zu begeben. Beziehung: die beste Form von Therapie. Im »Paaradies« der Verliebten sind die beiden ein Herz und eine Seele. Doch mit der Zeit zerfällt die Einheit. Der Alltag, Unstimmigkeiten und Auseinandersetzungen schaffen Distanz. Der Fall aus dem »Paaradies« lässt die Partner die gegenseitige Andersartigkeit erkennen. Wo sie sich vorher so wunderbar ergänzten, polarisieren sie sich jetzt perfekt. Die Beziehung wird immer öfter zum kräfteraubenden Seilziehen um die Macht. Keiner der beiden will mit der altbekannten Ohnmacht und den dazugehörigen Gefühlen aus Kinderjahren in Kontakt kommen. Und doch »reinszenieren« Beziehungskrisen auf der Gefühlsebene die alten Geschichten punktgenau im Hier und Jetzt. Das aktuelle Geschehen löst alte Gefühle und Abwehrmuster aus. Dabei greifen die Muster der Partner wie bei einem

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Bewahren

­ uzzle ineinander. Es entsteht eine dem Paar eigeP ne Beziehungsdynamik, für die beide gleichermaßen verantwortlich sind – mit allem, was sie tun und nicht tun. Beziehungsfrühling Was bedeutet das für einen gelingenden Beziehungsfrühling? Egal ob wir einen Neubeginn in der bestehenden Beziehung wagen oder nach einer Trennung, allein oder frisch verliebt ein neues Leben beginnen, unsere ganze Lebensgeschichte ist immer mit dabei. Es sind die gleichen Themen und Muster, die uns, sobald das Neue seinen Glanz verloren hat, wieder beschäftigen. Die Vergangenheit bewahrt sich. Verändern lässt sich einzig unsere Haltung dazu und unser Umgang damit. Werden Beziehungskrisen auch als Chancen erkannt, öffnen sich Räume, die wir allein nie betreten könnten. Räume, die es ermöglichen, miteinander und aneinander zu wachsen. Dafür braucht es Engagement, Beherztheit, wohlwollende Neugier für sich und den anderen und ein paar »Werkzeuge«, um die innere und äußere Beziehung zu gestalten. Hierfür wird dem polarisierenden Denken von Schuld und Unschuld, von

Richtig und Falsch eine annehmende Haltung zur Seite gestellt, die alles umfasst, ohne es zu werten. Eine Beziehung ermöglicht es, sich im anderen zu spiegeln. Dieser verkörpert unsere blinden Flecken. Durch ihn werden sie fassbar, im Guten wie im Schlechten. Diese Projektionen gilt es zu uns zurückzunehmen und damit unsere Individualität (lateinisch »Ungeteiltheit« = Ganzheit) wiederzufinden. Oder wie Martin Buber es ausdrückte: »Der Mensch wird am Du zum Ich« (Buber 1999). Dafür ist es hilfreich, die Beziehungskrise im Nachhinein zu reflektieren, allein und, je nach Situation, zu zweit. Nicht in endlosem Vorwurfspingpong und sich im Kreis drehend, sondern fragend, was im Hier und Jetzt aus der eigenen Vergangenheit aufscheint. Es geht dabei nicht um exakt gleiches Geschehen, sondern um analoges Erleben. Woher sind die mit der Krise verbundenen Gefühle, Muster und Rollen – die eigenen und jene des Partners – bekannt? Meist gehören sie dem Kind, das wir einmal waren (Ohn(e) macht) und einem verinnerlichten Abwehrmuster oder Elternteil (Macht). Dieses existenziell abhängige Kind von damals braucht unsere Hilfe. Kein Partner dieser Welt, sondern nur wir selbst können für dieses im Hier und Jetzt die elterliche Verantwortung und Fürsorge übernehmen. Damit

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Verändern wird die Beziehungsdynamik, in dem die Macht des einen auf der Ohnmacht es anderen beruht, weitgehend durchbrochen. Es bedeutet, das innere Kind mit all seinen Bedürfnissen und Gefühlen, auch den unliebsamen, anzunehmen. Es ernst zu nehmen und ihm einen geschützten Raum zu bieten, um mit wachen Sinnen in kreativem Tun die berechtigten Gefühle von damals auszudrücken. Denn was Eindruck fand und uns nicht bekommt, muss wieder Ausdruck finden. Eine Form von seelischer Verdauung. Soweit die innere Ebene. Im Außen brauchen Paare eine Konfliktkultur, die es erlaubt, Konflikte mit all den dazugehörenden Gefühlen auszutragen, und eine Gesprächskultur, um später, mit kühlem Kopf, den Konflikt zu reflektieren und in der je eigenen Geschichte zu verorten. Für einen gelingenden Neuanfang braucht es nach einer Krise ein umfassendes Ja – zu sich selbst, zum anderen und zur Beziehung. Ein Ja zu allem, was war, ist und sein wird. Diese Annahme wird das Unveränderbare verändern. Die Beziehung wird so zu einem Ort des individuellen Wachstums in gegenseitiger Verbundenheit. Polarisierende Gegensätze und ergänzende Gegenschätze sind damit zwei Perspektiven ein und derselben Ganzheit.

»Gott, gib mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann, den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann, und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden.« Reinhold Niebuhr

Andrea Frölich Oertle ist in eigener Praxis tätig als LebensArchäologin, Lebens- und Trauerbegleiterin und Supervisorin. Mit Peter Oertle führt sie seit 1999 unter dem Namen »pandrea« eine Praxis für Paarberatung und Persönlichkeitsbildung. Kontakt: [email protected] Literatur Buber, M. (1999). Ich und Du. Gütersloh. Frölich Oertle, A.; Oertle, P. (2019). Drei Schritte zum Paa­ra­ dies. Frieden finden zu zweit. Winterthur. Reddemann, L.; Dehner-Rau, C. (2008). Trauma, Folgen erkennen, überwinden und an ihnen wachsen. Ein Übungsbuch für Körper und Seele 3. Auflage. Stuttgart. Renggli, F. (2018). Früheste Erfahrungen  – ein Schlüssel zum Leben. Wie unsere Traumata aus Schwangerschaft und Geburt ausheilen können. Gießen.

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Sinnfindung aus psychologischer Sicht Hansjörg Znoj Sinnsuche, Sinnfindung: Diese beiden Wörter elektrisieren, sie symbolisieren das, was Menschen bewegt, sie zweifeln lässt an ihrem Tun, antreibt, halten lässt, aber auch motiviert, gewohnte Lebensweisen aufzugeben, neue Wege, Rat und Hilfe zu suchen. Aber was ist der »Sinn des Lebens«? Oder noch schärfer formuliert: Was gibt dem Leben Sinn, Erfüllung und Zweck? In diesem Beitrag möchte ich zeigen, was aus psychologischer Perspektive wichtige Faktoren sind, die als sinnstiftend interpretiert werden können. Es ist ein Versuch, zu zeigen, dass die großen Fragen nicht direkt beantwortet, aber soweit heruntergebrochen werden können, dass zumindest Faktoren benannt werden können, die Hinweise auf ein sinnvoll verbrachtes Leben erschließen lassen. Aus psychologischer Perspektive gibt es nur Fragen, die sich dann stellen, wenn der Mensch an einen Punkt gekommen ist, wo seine oder ihre Annahmen über die Welt infrage gestellt werden, an dem kritischen Punkt, wo die bisherigen Strategien, mit dem Leben zurechtzukommen, nicht länger greifen. Die Sinnfrage ergibt sich erst aus der Freiheit, so oder anders handeln zu können. Der Mensch als besonderes Tier Psychologische Handlungstheorien gehen davon aus, dass einer Handlung eine Phase der Willensbildung (Volition) vorausgeht, die wiederum von Umweltbedingungen, Normen und Werten sowie früheren Entscheidungen abhängt. Ohne auf die unterschiedlichen theoretischen Konzepte im Detail einzugehen, unterscheiden sich psychologische Handlungstheorien von Annahmen, die eine Handlung als reine Reaktion auf eine Umweltbedingung betrachten. Dem Organismus wird keine

Wahlfreiheit zugestanden, je nach Zustand (zum Beispiel hungrig oder gesättigt) ist die Handlung determiniert. Als Wissenschaft ist die Psychologie daran interessiert, die motivierenden Variablen zu bestimmen und daraus Wahrscheinlichkeiten für bestimmte Handlungen (oder Unterlassungen) zu berechnen. Trotz großer Fortschritte bleibt aber immer viel unerklärte Varianz übrig, was bedeutet, dass den Handlungen von Menschen letztlich ein großer Freiheitsgrad innewohnt. Eine von vielen gesuchte und meist positiv empfundene Freiheit, die aber manchmal in Ungewissheit, Angst oder in erlebte Sinnlosigkeit umschlagen kann. Einem Tier, dessen biologische Instinkte intakt sind, stellt sich, wenn es denn ein Bewusstsein seiner Existenz hätte, die Sinnfrage nicht; es lebt ein mehr oder weniger deterministisches Leben, bestimmt von den Bedürfnissen des Organismus und den Anforderungen aus der Umwelt. Ob das reflektierende Bewusstsein die Antwort auf fehlende angeborene (instinkthafte) Handlungsanweisungen ist, versuchten verschiedene Wissenschaftler aufzugreifen. Eine besonders interessante Theorie stammt von Jaynes (1976). Nach ihm tritt das reflektierende Bewusstsein an die Stelle des instinktgesteuerten Verhaltens. Dieses Bewusstsein selbst ist einer Evolution unterworfen. Der erste Akt der Instinktbefreiung bedurfte einer starken Innenorientierung, die aber subjektiv als Außenorientierung wahrgenommen wurde, als Autorität, die den Menschen sagt, was sie zu tun haben. In letzter Konsequenz also ein »höheres Wesen«, eine Gottheit, die selbstverständlich Repräsentanten in der Gesellschaft installieren musste, eine erste »höhere Schicht« von einer Gottheit eingesetzter Herrscher, die ihr

Franz Marc, Die gelbe Kuh, 1911 / akg-images

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Handeln mit dieser (unsichtbaren) Autorität legitimierten. Das gesellschaftliche Modell durchläuft aber selbst eine Evolution, die wir beispielsweise in der Entwicklung der Religionen beobachten können. Ein Esel braucht keinen Gott, ihm genügt die Erfüllung seiner natürlichen Bedürfnisse und wenn das ein Mensch oder die Natur garantiert, so ist der Esel zufrieden. Ihn plagt keine Sinnkrise, sondern höchstens der Hunger oder eine ihm auferlegte Last. Was aber tritt an die Stelle der Gottheit? Nun, der Mensch entwickelt ein Bewusstsein seiner selbst, orientiert sich an kulturellen Werten und Normen und versucht, seine Bedürfnisse optimal zu befriedigen. Ohne die durch Kultur vermittelte Orientierung ist er verloren, ist das Leben sinnlos. Der große Philosoph Émile Durkheim sieht in der Orientierungslosigkeit ein Motiv zum Suizid, zumindest aber ist das Leben ohne Sinn wertlos und damit bedeutet auch das Leben anderer

Menschen nichts oder dient ausschließlich der Befriedigung der durch den (tierischen) Organismus vorhandenen Bedürfnisse. Das erfolgreiche Zusammenleben mit anderen Menschen, der Erhalt der gesellschaftlichen Struktur bedingt, dass Menschen ein subjektiv erfahrbares »sinnvolles« Leben führen, nur so gelingt das, was als »contrat social« die Gesellschaft verbindlich zusammenhält und sie vor dem Verfall schützt. Zerbrochene Welt Menschen »konstruieren« sich ihre subjektiv erfahrbare Welt, indem sie Ereignisse mit Werten und Normen, mit Gefühlen, Vorlieben und Ängsten als Selbst (Identität) erleben und aus diesem Selbst gestaltend in die Welt eingreifen. Das Gedächtnis ist der Speicher all dieser Erfahrungen, durch das Gedächtnis filtern wir unsere Wahrnehmungen und bestimmen damit Handlungen,

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die, nicht immer nur bewusst und beabsichtigt, wiederum Signale in der Welt erzeugen, die beachtet und als Erfahrungen gespeichert werden. Wir bewegen uns in der eigenen Welt. Kritische Lebensereignisse sprengen diese Erfahrungswelt: Gewisse Ereignisse haben das Potenzial, so viel Unsicherheit, Ungewissheit zu erzeugen, dass bewährte Mechanismen und Handlungen zur Bewältigung nicht mehr ausreichen; Situationen werden als emotional überwältigend und als kognitiv überfordernd wahrgenommen. Es gibt – wenigstens aus der eigenen Erfahrung – nichts, was diese Situation in einer günstigen Weise beeinflussen könnte. Ein psychisches Trauma ist das Ergebnis einer zerbrochenen (subjektiven) Welt. Nach Grawe (2004) hat ein Trauma eine ganze Reihe von Konsequenzen für das psychische Funktionieren zu Folge: Das Zusammenspiel von neuronalen Erregungsbereitschaften oder Schemata wird gestört, alte und längst überwunden geglaubte psychische Verletzungen werden reaktiviert. Damit die Psy-

Grundbedürfnisse des Menschen

che nicht »zusammenfällt«, werden die Freiheitsgrade im Erleben und Verhalten reduziert, indem Symptome auftreten. Diese haben primär die Aufgabe, die Aufmerksamkeit zu binden und das Bewusstsein zu trüben. Damit wird die Situation kurzfristig erträglicher, allerdings mit dem Preis einer eingeschränkten Handlungs- und Wahrnehmungsfreiheit. Durch diesen Vorgang stellt sich die Sinnfrage weniger dringend, denn sie wird durch die neue Symptomatik überdeckt und gleichzeitig beruhigt. Eine Sinnkrise ist nach dieser Sichtweise ein Zusammenbruch oder ein Ungenügen des psychischen Apparates, sich in der Welt zu orientieren und die Grundbedürfnisse seines Wesens zu befriedigen. Als Grundbedürfnisse gelten beispielsweise das Streben nach Autonomie, nach Orientierung und Sicherheit, nach Selbstverwirklichung und nach Intimität und Geborgenheit (Aufzählung unvollständig, siehe Abbildung 1).

SELBST­ VERWIRK­ LICHUNG Kreativität, Problem­ lösungen, Spontaneität, Authentizität

WERTSCHÄTZUNG Selbstvertrauen, Zuversicht, Erfolg

SOZIALE BEDÜRFNISSE Freunde, Famile

SICHERHEIT UND GEBORGENHEIT GRUNDBEDÜRFNISSE ZUM LEBEN Luft, Wasser, Essen, Schutz Abbildung 1: Die Bedürfnispyramide nach Maslow (1970)

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Sinnfindung Die Psychologie begreift Sinn nicht als »höheren Sinn«, als Streben nach einem absoluten letzten Sinn. Das bedeutet aber nicht, dass die Psychologie ein solches Streben nicht als Motiv oder Bedürfnis anerkennen würde. Wir werden sehen, dass viele Menschen nach einer fundamentalen Krise die Erfahrung machen, dass sie durch diese Krise transformiert sind, dass Dinge, die ihnen bis zur Krise wichtig waren, ihren Wert verloren haben und andere wie zum Beispiel die Beziehung zu ihren Mitmenschen und Angehörigen wichtig geworden sind. Die Krise als Anlass, im Leben einen Sinn zu suchen, war für Viktor Frankl so zentral, dass er daraus eine Psychotherapieschule entwickelte, die Logotherapie (Frankl 1972). Wie kann unser Leben heute als sinnvoll und erfüllend gelebt werden? Frankls Antwort: »Die Taten, die wir gesetzt, die Lieben, die wir geliebt, und die Lei­ den, die wir mit Würde und Tapferkeit erlitten ha­ ben« (Frankl 1992). In der unglaublichen Zerstörung jeder Menschlichkeit und der Sinnlosigkeit im Holocaust entdeckte Aaron Antonovsky (1979, 1987) in den Überlebenden eine Fähigkeit zur Kohärenz, die auf den drei zentralen Fähigkeiten beruht: Handhabbarkeit, Verstehbarkeit und Sinn­ haftigkeit. Sinnhaftigkeit, nicht Sinn! Antonovsky meint damit die Fähigkeit, auch in absurden Situationen einen Sinn erkennen zu können. Wie kommt man aber zu dieser Fähigkeit? Darauf geht Antonovsky nicht ein. Ganz offensichtlich hat es etwas mit Einstellungen und früheren Handlungen zu tun. Für Einstellungen gibt es in der Psychologie ein zentrales Konzept, den »locus of control« (Rotter 1966), die Kontrollüberzeugung. Bei der externalen Kontrollüberzeugung ist man überzeugt, dass das eigene Schicksal vom Verhalten einer äußeren Macht abhängig ist, man erwartet also, dass das Schicksal oder eine Macht die Ereignisse kontrolliert. Bei einer internalen Kontrollüberzeugung glaubt man, das Schicksal selbst in die Hand nehmen zu können,

und tut etwas dafür, dass sich die Situation oder, falls diese nicht zu ändern ist, man sich selbst ändert. Auf Bandura (1977) geht der Begriff der »Selbstwirksamkeitsüberzeugung« zurück. Diese wird vermittelt über Vorbilder, über eigene Erfahrungen und über soziale Einflussgruppen sowie über die Interpretation der eigenen Empfindungen. Unter Druck nehmen viele Menschen körperliche Empfindungen (feuchte Hände, Zittern, Herzrasen) als Zeichen für ein mögliches Scheitern wahr. Durch Übungen können Menschen lernen, diese Empfindungen neu zu interpretieren, etwa als körperliche Vorbereitung für eine Herausforderung. Aktiv eingreifen zu können in Situationen, die das emotionale und kognitive Fassungsvermögen übersteigen, erfordert »übermenschliche« Qualitäten. Hier können spirituelle Erfahrungen eine Möglichkeit sein, sich zumindest zeitweise eine »Kontrollillusion« zu verschaffen, die in dem Moment Handlungsfähigkeit erzeugt, wo sonst keine Ressourcen vorhanden sind oder solche nicht wahrgenommen werden können. In der Psychologie gibt es viele Belege, die zeigen, dass es keine Rolle spielt, ob eine Kontrolle tatsächlich oder nur vorgestellt möglich ist. Viele Pioniertaten, Eroberungen und Erfindungen wären nicht Realität geworden, wenn die Akteure sich keine Illusionen über den (nur mit Glück) erreichten Ausgang gemacht hätten. Aber das betrifft nicht nur solche Unternehmen, sondern es betrifft auch die Gesundheit, wie die Arbeiten von Shelley Taylor (zum Beispiel Taylor und Brown 1988) zeigen. So sind unrealistische positive Annahmen über den Verlauf einer Krankheit tatsächlich hilfreich, weil diese Annahmen Ressourcen mobilisieren, die dann letztlich helfen, gesund zu werden oder trotz Krankheit ein erfülltes Leben zu führen. Optimismus hilft sogar dann, wenn eine optimistische Haltung eigentlich nicht gerechtfertigt wäre. Das sind erstaunliche Befunde, die aber in der Forschung immer wieder bestätigt wurden.

N e u b e g i n n ! ? B e w a h r e n u n d Ve r ä n d e r n

Tom Levold

Viele Menschen machen nach einer fun­da­men­ talen 1Krise die 2    H a nErfahrung, sjörg Znoj dass sie durch diese Krise transformiert sind, dass Dinge, die ihnen bis zur ­Krise wichtig waren, ihren Wert verloren haben und ­andere wie zum Beispiel die Be­ziehung zu ihren Mit­menschen wichtig ge­ worden sind.

Schlussfolgerung Mündet eine Lebenskrise wie der Tod eines nahen Angehörigen oder andere kritische Lebensereignisse in ein sinnvolles Leben? Leider nein, viele Menschen finden nicht aus dem psychischen Trauma, sie werden depressiv oder empfinden ihr Leben als sinnlos und leer. Andere sind so widerstandsfähig, dass sie selbst ein lebensbedrohendes Ereignis integrieren können und – in der Regel nach kurzer Zeit – ihr normales Leben wieder aufnehmen können. Ihnen hilft, was ich vorher als »Kohärenzsinn« bezeichnet habe, sie können selbst in fürchterlichen Situationen einen Weg finden, damit zurechtzukommen. Sie werden in der Literatur oft als »resilient« bezeichnet (zum Beispiel Bonanno 2004). Ihr psychisches System ist robust und »zerbricht« nicht. Und es gibt Menschen, die an solchen Krisen wachsen und sich in eine positive Richtung entwickeln. Diese Entwicklung wird unter dem Begriff »posttraumatic growth« (posttraumatisches Wachstum) verstanden und untersucht. Offenbar gelingt es diesen Menschen, einen neuen Sinn im Leben zu generieren, nachdem ihr Leben sinnlos geworden ist. Sie können, trotz der leidvollen Erfahrung, positive Veränderungen wahrnehmen und auf diesen aufbauend sich ein neues adaptives Weltbild konstruieren (zum Beispiel Tedeschi und Calhoun 1995). Sinn aus psychologischer Sicht ist kein Zustand, sondern ein Prozess, der Ressourcen benötigt und einer ständigen Anstrengung bedarf; der Sinn des Lebens wird einem nicht gegeben, sondern den muss man sich erarbeiten.

Prof. Dr. Hansjörg Znoj ist Leiter der Abteilung Gesundheitspsychologie und Verhaltensmedizin am Institut für Psychologie der Universität Bern. Seine Forschungsthemen sind kritische Lebensereignisse, Psychotherapieprozessforschung, Bewältigungsstrategien, besonders die Regulation von Emotionen. Kontakt: [email protected] Literatur Antonovsky, A. (1978). Health, stress, and coping. New perspectives on mental and physical well-being. San Francisco. Antonovsky, A. (1987). Unraveling the mystery of health. How people manage stress and stay well. San Francisco. Bandura, A. (1977). Self-efficacy: Toward a unifying theory of behavior change. In: Psychological Review, 84, S. 191–215. Bonanno, G. A. (2004). Loss, trauma, and human resilience. Have we underestimated the human capacity to thrive after extremely aversive events? In: American Psychologist, 59, 1, S. 20–28. Frankl, V. (1972). Der Mensch auf der Suche nach Sinn. Stuttgart. Frankl, V. (1972). Der Wille zum Sinn. Ausgewählte Vorträge über Logotherapie. Bern. Frankl, V. (1992). Bergerlebnis und Sinnerfahrung. Innsbruck. Grawe, K. (2004). Neuropsychotherapie. Göttingen u. a. Jaynes, J. (1976). The origin of consciousness in the breakdown of the bicameral mind (deutsch: Der Ursprung des Bewußtseins durch den Zusammenbruch der Bikameralen Psyche). Boston/New York. Maslow, A. H. (1970). Motivation and personality (2nd edition). New York. Rotter, J. B. (1966). General expectancies for internal vs. external control of reinforcement. In: Psychological Monographs: general and Allied, 80, 1, 1–28. Taylor, S. E.; Brown, J. D. (1988). Illusion and well-being  – a social psychological perspective on mental-health. In: Psychological Bulletin, 103, 2, S. 193–210. Tedeschi, R. G.; Calhoun, L. G. (1995). Trauma &  transformation: Growing in the aftermath of suffering. Thousand Oaks, CA: Sage.

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Neu ist das, was Leiden verringert Gesellschaft neu denken nach Jacques Rancière

Diana Staudacher

»Jeden Werts und jeder Würde beraubt, marginalisiert, ausgeschlossen und verstoßen zu werden« – mit dieser Gefahr sind Menschen seit jeher konfrontiert (Bauman 2018, S. 38). Humanität und Moralität sind »stets prekär und bedroht«.1 Moralität »muss jedes Mal neu wiedergeboren werden – in jeder menschlichen Begegnung. Einmal geboren, ist ihr Überleben niemals gesichert« (Bauman 2000, S. 84). Auf diese Situation antwortet das Konzept einer Ethik, die dem Leiden des anderen Menschen »absolute Aufmerksamkeit« widmet (Rancière 2004). Das »höchste Gut« ist in dieser Ethik die Leidfreiheit des anderen Menschen. Denn »für das Glücklichsein Sorge zu tragen ist weitaus weniger lebenswichtig, als denjenigen Menschen zu helfen, die leiden« (Atkins und Watson 1963, S. 84). Das Leitprinzip dieser Ethik lautet: Handle so, dass das Lindern des Leidens

Astrid Gast / Colourbox

Die bestehende »Ordnung der Dinge« immer wieder zu unter­ brechen, damit das Ausgeschlossene, Vernachlässigte, Vergessene, an den Rand Gedrängte Aufmerksamkeit erhalten kann – das erweist sich als Voraussetzung einer Gesellschaft, die nicht länger ausgrenzt und dadurch soziales Leiden auslöst. Das eigene Denken und Handeln immer wieder zu unterbrechen, um andere und anderes als gleich­wertig willkommen zu heißen – das ist der Beginn einer »neuen« Zeit der ­»sozialen Aufmerksamkeit«.

stets den Vorrang hat. Achte darauf, dass dein Vorgehen in erster Linie dazu beiträgt, Leiden zu verringern und unerfüllte Bedürfnisse leidender Menschen zu erfüllen (Vinding 2020). Wahrhaft Neues ereignet sich, wenn es gelingt, eine Ordnung zu unterbrechen, die soziales Leiden verursacht. Dies ist eine Grundaussage der Philosophie von Jacques Rancière. Im Zentrum steht die Frage: Wie können wir Zusammensein neu gestalten – auf eine Weise, die soziales Leiden verringert? Zusammensein bedeutet für Jacques Rancière, ein Verhältnis zum anderen und zur Andersheit aufzubauen, das frei ist von Dominanz, Demütigung, Stigmatisierung, Ausschließung und Unterdrückung. Seine Philosophie widmet sich der Lebenssituation derjenigen Menschen, die »keinen Anteil an der Gesellschaft haben«.

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Neu sehen und hören lernen Jacques Rancière spricht von einer »Zweiteilung« der Lebenswelt – in Menschen, die Anteil an der Gesellschaft haben, und solche, die »anteilslos« sind. Er fragt: Wer ist nicht sichtbar in einer Gesellschaft? Wer hat keine Stimme? Wer erhält keine öffentliche Aufmerksamkeit? Wer findet kein Gehör? Wessen Worte haben kein politisches Gewicht? Wer wird übergangen? Wer wird vernachlässigt? Wer wird preisgegeben? Anhand dieser Fragen ist es möglich, ein Sensorium für die soziale Realität zu entwickeln (Rancière 2014). Dieses Sensorium bezieht sich auf die alltägliche Sinneswahrnehmung im öffentlichen Raum. Der lebensweltliche Raum ist aufgeteilt in Orte für »Anteilslose« und Orte für »Anteilhabende«. Zu den »Anteilslosen« gehören diejenigen Menschen, die von Seiten der »Anteilhabenden« Stigmatisierung und Ausgrenzung erfahren – aufgrund von Krankheit, Beeinträchtigung, sozialer Benachteiligung oder Herkunft. »Anteilslos« können beispielsweise psychisch erkrankte Menschen oder kognitiv beeinträchtigte Personen sein, erblindete/blinde oder taubstumme Menschen, arbeitslose oder obdachlose Personen. Neues geschieht, wenn bisher »anteilslose« Menschen auf einmal sichtbar sind an den Orten der »Anteilhabenden« – wenn sie das Wort ergreifen und Gehör finden. Dann geschieht eine Unterbrechung der bisher geltenden Ordnung. Bisher vertraute Seh- und Hörerlebnisse verändern sich. Die Gesellschaft erhält ein neues Gesicht: Menschen, die bisher unsichtbar waren, treten in die Sichtbarkeit ein (Rancière 2014). Neues ereignet sich, wenn sichtbar wird, was aus dem Wahrnehmungsfeld ausgeschlossen war, wenn hörbar wird, was bisher nicht hörbar war (Rancière 1999). Menschen beginnen, Mitmenschen wahrzunehmen, die sie bisher nicht gesehen oder übersehen haben. Ihr Blick fällt auf Personen, vor denen sie bisher die Augen verschlossen haben. Sie schenken Menschen Gehör, deren Worte für sie früher kein Gewicht hatten. Dies sind Mo-

mente einer neuen Zeit der »sozialen Aufmerksamkeit«. Momente der Gleichheit Menschen machen sich auf eine »Reise«, wenn sie sich für die Welt anderer Menschen öffnen. Das Ziel dieser Reise »sind jedoch nicht ferne, exotische Inseln, sondern Länder, die viel näher liegen (…). Nicht weit von hier, am Ende der Straße oder am Ende der U-Bahn-Linie – dort leben die ›Anderen‹« (Rancière 2015, S. I). Jacques Rancière spricht von Reisen in eine andere soziale Welt, die auch Teil dieser Welt ist. So entsteht ein Nebeneinander von Welten – eine »Rekonfiguration der Wahrnehmungslandschaft«. Es bestehen keine gemeinsame Lebenserfahrung und keine gemeinsame Sprache. Zwei Welten existieren getrennt voneinander (Ran­cière 1999). Durch das Mitsehen und Mithören der anderen Welt kann sich jedoch das eigene Sensorium erweitern. Es wird möglich, mit den Augen der anderen zu sehen. Auf diese Weise können sich »Momente der Gleichheit« ereignen. Menschen erleben »Gleichheit in Solidarität«. Solidarität kann »welterzeugend« und »welt­erschließend« sein (Karaliotas und ­Kap­sali 2020). Sie kann Unterschiede nicht ungeschehen machen. Dennoch ermöglicht sie, die Welt miteinander zu teilen. Jacques Rancière legt Wert darauf, dass Gleichheit sich nicht auf die Zu­ kunft bezieht: »Man muss von der Gleichheit ausgehen und nicht versuchen, zu ihr zu gelangen. Man muss voraussetzen, dass alle gleich sind« (Rancière 2012). Gleichheit ist

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eine Voraussetzung, die Menschen im Hier und Jetzt verwirklichen können – in jeder einzelnen Begegnung. Dies geschieht durch zwei Dinge: absolute Aufmerksamkeit für den anderen Menschen und für Sprache (Bourgault in C ­ onradi und Vosman 2016). Der Mensch ist »das Wesen der Aufmerksamkeit«. Sprache ist eine aufmerksame Art und Weise, Gleichheit zu verwirklichen – die Gleichheit eines jeden »sprechenden Wesens« mit einem jeden anderen »sprechenden Wesen« (­Ranciere 2000). »Subjektivierung« in einer gewaltgeprägten Gesellschaft

giu lie tta 73  / p hot oca se.de

Menschen leben in »Verletzungsverhältnissen« (Straub 2014). Jede(r) Einzelne(r) hat eine eigene »Verletzungsgeschichte«. Sie ist geprägt durch »stille« Gewalt, die im Alltag fast unbemerkt bleibt: von Mitmenschen nicht beachtet zu werden, keine Aufmerksamkeit zu erhalten, ignoriert, übergangen, vernachlässigt und ausgeschlossen zu werden. Somit trägt jeder Mensch eine Geschichte der »Anteilslosigkeit« mit sich. Diese Geschichte beginnt in der Kindheit und reicht bis ins Hier und Jetzt. Die erlittenen Verletzungen sind ins Körpergedächtnis eingeprägt. Sie bilden den weitgehend unbewussten »soziokulturell vermittelten und zugleich individuellen Erlebnisgrund einer Person« (Straub 2014). Dazu gehören Ängste, Misstrauen und Verunsicherung als Folge früher Kränkungen. Diese Wunden beeinflussen bis heute die Art und Weise, wie Menschen Begegnungen und Beziehungen erleben. Somit ist die

Verletzungsgeschichte ständig präsent. Es gibt also keine »neutrale« Kommunikation und keine »harmlose« Interaktion. Alle Begegnungen können verletzend sein, wenn sie an alte Wunden rühren (Straub 2014). Wie kann »Subjektivierung« gelingen – in einer Gesellschaft, die ausgrenzt, verletzt, ignoriert und wegsieht? Wahre »Subjektivierung«, so Jacques Rancière, setzt zunächst eine »Entidentifizierung« voraus. Darunter versteht er den Versuch, sich von Stigmata, Zuschreibungen und einer Fremdbestimmung der eigenen Identität abzulösen. Dies kann für den einzelnen Menschen sehr schwierig sein. Umso wichtiger ist deshalb eine »kollektive politische Subjektivierung« (Karaliotas und Kapsali 2020). Verletzungen sind kein privates Geschehen. Sie haben immer eine gesellschaftliche Dimension. Es braucht mitmenschliche und gesellschaftliche Solidarität, um neu beginnen zu können. Solidarität bedeutet für Jacques Rancière, gemeinsam eine Situation zu unterbrechen, die soziales Leiden, Stigmatisierung und Ungleichheit verursacht. Die »unendliche« Unterbrechung Neues lebt nur im Augenblick der Unterbrechung, betont Jacques Rancière. Er spricht bewusst niemals von einer »neuen Ordnung« oder einer »Herrschaft der Gleichheit«. Die Geschichte hat gezeigt: Jede »Ordnung«, jedes »System« beruht auf Ausschließung und Aufteilung. Neues kann sich deshalb nur ereignen, wenn Menschen das Bestehende immer wieder unterbrechen. Dadurch bleiben gesellschaftliche Strukturen dynamisch, offen und sensibel für andere(s). Dadurch kann eine Kultur des Einspruchs für das andere, bisher Ausgeschlossene, Vernachlässigte, Vergessene entstehen (Rancière 2017). Durch Unterbrechung entstehen »Momente der Gleichheit«. Sie eröffnen einen Raum des Möglichen – eine Tür für die Vorstellungskraft: Wie könnte es anders sein – hier und jetzt?

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Sensibilität für Neues

Einspruch erheben

Durch Neues wird »das Auge überrascht, beschenkt und beglückt« (Scharoun 1951). Neues kann Menschen positiv oder negativ berühren. Es kann begeistern, aber auch erschüttern und »ins Auge stechen« (Reisenzein, Horstmann und Schützwohl 2019). Wie die Neurobiologie zeigt, ist das Gehirn hochgradig sensibilisiert für neue Sinneseindrücke. Es identifiziert Neues, wenn keinerlei Schema aktivierbar ist, um das momentane Ereignis einzuordnen. Dadurch ist ein Geschehen »unfassbar« und »außerordentlich«. Es irritiert die Ordnung: »Schemata dienen dazu, die Gegenwart und die Vergangenheit zu deuten – und daraus Vorhersagen abzuleiten in Bezug auf das, was in Zukunft eintreffen könnte. Somit sind Schemata handlungsleitend« (Reisenzein et al. 2019, S. 52). Unerwartete Ereignisse sind »schema-diskrepant« (Reisenzein et al. 2019). Sie verursachen eine automatische Unterbrechung der momentan ablaufenden Prozesse. Die Pupillen erweitern sich. Die Sensibilität für aktuelle Sinneseindrücke ist maximal erhöht. Der Muskeltonus steigt, die Hirnaktivität erhöht sich. Neues wirkt somit körperlich »ergreifend« – im positiven oder negativen Sinn (Reichhardt, Polner und Simon 2020). Unerwartetes richtet die Wahrnehmung von einer Sekunde auf die andere vollkommen neu aus. Das bisherige »Bild der Welt« erweitert sich. Neue, feinere Deutungsmuster entstehen, wenn bisherige Schemata an die Grenzen der Deutungskraft kommen.

Neues bewirken durch das Lindern sozialen Leidens – dabei kommt den helfenden Berufen eine Schlüsselrolle zu. »Ungleichheit geht unter die Haut« (Hertzman und Boyce 2010). Sie zählt zu den Hauptgründen schwerwiegender gesundheitlicher Probleme. Soziale Exklusion und psychisches Leiden sind eng miteinander verbunden (Van den Bergen et al. 2019). Die »Theorie der kumulativen Ungleichheit« macht deutlich, wie dringend eine sozioökonomische Sichtweise von Krankheit und Gesundheit ist (Ferraro und Shipee 2009). Nach wie vor steht jedoch das Individuum im Zentrum der Prävention und Intervention. Dadurch bleibt eine krankmachende Umwelt oft unerkannt. Vor dem Hintergrund der Philosophie von Jacques Rancière zeigt sich der hohe Stellenwert helfender Berufe, um Menschen vor leidvoller »Anteilslosigkeit« zu bewahren: • Es ist zentral, dass Menschen in Krisen- und Leidenssituationen »Momente der Gleichheit« erleben. Verletzend wäre es, von Seiten der Fachpersonen Dominanz oder Stigmatisierung zu erfahren. • »Anteilslosigkeit« hat auch mit Diagnosen und Zuschreibungen zu tun. Es gibt eine »Gewalt der Klassifikation und des Systems der Benennungen« (Derrida 1983). Dazu zählen diagnosebezogene Begriffe wie »psychisch krank« oder »dement«. Es ist wich-

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Unerwartetes richtet die Wahrnehmung von einer Sekunde auf die andere vollkommen neu aus. Das bisherige »Bild der Welt« erweitert sich. Neue, feinere Deutungsmuster entstehen, wenn bisherige Schemata an die Grenzen der Deutungs­ kraft kommen.

tig, dass Fachpersonen Einspruch erheben, wenn Menschen auf ihre Diagnose reduziert werden. • Solidarität von Seiten der Fachpersonen kann »welterzeugend« und »welterschließend« sein (Karaliotas und Kapsali, 2020). Sie kann zur »Subjektivierung« beitragen, wenn Menschen mit Exklusion und »Anteilslosigkeit« konfrontiert sind. Solidarität bedeutet auch, Menschen im Widerstand gegen soziale Verletzungen und Stigmatisierungen zu unterstützen. Ob Menschen »neu anfangen können, liegt nicht allein in ihrer Hand. Es hängt auch davon ab, ob sie die Solidarität der Gesellschaft erleben oder nicht. Dabei ist es wichtig, Fachpersonen zu begegnen, die nicht nur »das sehen, was ist«, sondern solidarisch mitsehen, mithören, mitfühlen und mitdenken. Dadurch kann sich ein befreiender Möglichkeitsraum des Neuen eröffnen – in einem Moment der Unterbrechung leidvoller Ungleichheit.

Dr. phil. Diana Staudacher studierte Germanistik und Humanmedizin. Sie arbeitet als freie Publizistin und ist als wissenschaftliche Mitarbeiterin im Universitätsspital Zürich sowie an der Fachhochschule St. Gallen, Fachbereich Gesundheit, tätig. Kontakt: [email protected]

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Anmerkung 1 Bei den Zitaten handelt es sich um Übersetzungen der Autorin aus dem Englischen oder Französischen. Literatur Atkins, H.; Watson, J. (1963). Negative utalitarism. In: Proceedings of the Aristotelian Society, S. 37, 83–114. Bauman, Z. (2000). Ethics of individuals. In: The Canadian Journal of Sociology, 25, 1, S. 83–96. Bauman, Z. (2010). Amour liquide. De la fragilité des liens entre les hommes. Paris. Bauman, Z. (2018). Symptome auf der Suche nach ihrem Namen und Ursprung. In: Geiselberger, H. (Hrsg.), Die große Regression (S. 37–56). Frankfurt a. M. Conradi, E.; Vosman, F. (Hrsg.) (2016). Praxis der Achtsamkeit. Schlüsselbegriffe der Care-Ethik. Frankfurt a. M. Derrida, J. (1983). Grammatologie. Frankfurt a. M. Ferraro, K.; Shippee, T. (2009). Aging and cumulative inequality: How does inequality get under the skin? In: Gerontologist, 49, 3, S. 333–343. Hertzman, C.; Boyce, T. (2010). How experience gets under the skin to create gradients in developmental health. Annual Review of Public Health, 31, 329–347. Karaliotas, L.; Kapsali, M. (2020). Equals in solidarity: Orfanotrofio’s housing squat as a site for political subjectification across differences amid the »Greek crisis«. Antipode. A Radical Journal for Geography, 53, 2, S. 399–421 Rancière, J. (1999). Disagreement: Politics and philosophy. Minneapolis. Rancière, J. (2000). Le partage du sensible: Esthétique et politique. Paris. Rancière, J. (2004). Le maître ignorant. Cinq leçons sur l’émancipation intellectuelle. Paris. Rancière, J. (2012). Die Wörter des Dissenses. Interviews 2000–2002 Wien: Passagen. Rancière, J. (2014). Les noms de l’histoire. Essai de poétique du savoir. Paris. Rancière, J. (2015). Courts voyages au pays du peuple. Paris. Ranciere, J. (2017). Chroniques des temps consensuels. Paris. Reichhardt, R.; Polner, B.; Simon, P. (2020). Novelty manipulations, memory performance, and predictive coding: the role of unexpectedness. In: Frontiers of Human Neuroscience, 14, 152. Reisenzein, R., Horstmann, G.; Schützwohl, A. (2019). The cognitive‐evolutionary model of surprise: A review of the evidence. In: Topics of Cognitive Science, 11, 1, S. 50–74. Scharoun, H. (1951). Mensch und Raum. In Conrads, U., Neitzke, P. (Hrsg.), Das Darmstädter Gespräch. Braunschweig. Straub, J. (2014). Verletzungsverhältnisse. Erlebnisgründe, unbewusste Tradierungen und Gewalt in der sozialen Praxis. In: Zeitschrift für Pädagogik, 60, 1, S. 74–95. Van den Bergen, A.; Wolf, J.; Badou, M.; van Hemert, A (2019). The association between social exclusion or inclusion and health in EU and OECD countries: a systematic review. In: European Journal of Public Health, 29, 3, S. 575–582. Vinding, M. (2020). Suffering-focused ethics: Defense and implications. Kopenhagen.

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Die Macht der Gewohnheit? Wieso ein Neubeginn schwerfallen kann

Barbara Rüetschi »Nichts ist so beständig wie der Wandel« wusste bereits Heraklit vor 2500 Jahren. Dennoch tun wir uns manchmal schwer damit, Veränderungen einzuleiten und etwas Neues in Angriff zu nehmen. So wie jener Ingenieur, der über zwanzig Jahre im gleichen Betrieb ausharrte, obwohl ihn seine Tätigkeit schon nach wenigen Jahren nicht mehr erfüllte und ihm dank seines Ausbildungshintergrunds durchaus andere Alternativen offen gestanden hätten. Aber warum ist dies so? Ist es, weil das Neue unbekannt und damit angstauslösend ist? Oder weil wir den hohen Aufwand scheuen, den tiefgreifende Veränderungen manchmal erfordern? Nachfolgend will ich einige relevante Aspekte beleuchten, die aus meiner Erfahrung im Begleiten verschiedenster Veränderungsprozesse eine Rolle spielen, ohne Anspruch auf Vollständigkeit und mit Blick auf psychisch gesunde Menschen. Psychische Erkrankungen beeinflussen Wahrnehmungs- und/ oder Entscheidungsfähigkeiten und erschweren allein dadurch, Neues in Angriff zu nehmen.

neuronalen Plastizität des Gehirns können bis ins hohe Alter immer wieder neue Netzwerke gebildet werden. Im Erwachsenenalter nimmt die Gesamtzahl neuronaler Netzwerke ab, sie werden dafür stärker ausgeprägt. Je ausgeprägter nun ein solches Netzwerk ist, umso leichter wird es aktiviert und umso schwerer ist es, alternative Verbindungen zwischen anderen Nervenzellen und damit neue Netzwerke zu etablieren. Eine neue synaptische Verbindung kann innerhalb von 24 Stunden gebildet werden, aber damit ein neues Netzwerk stabil und alltagstauglich werden kann, muss es über längere Zeit regelmäßig aktiviert und benutzt werden. Dieser Prozess kann mehr als 45 Tage dauern. Die Macht der Gewohnheit findet damit eine neurobiologische Erklärung und es wird einleuchtend, wieso es uns so schwerfällt, aus gewohnten Routinen auszubrechen, oder wieso Neujahrsvorsätze im Februar bereits wieder in Vergessenheit geraten. Persönliche Aspekte

Neurobiologische Hintergründe In unserem Gehirn sind Wissen und Erfahrungen, aber auch Überzeugungen, Gewohnheiten oder die eigene Selbstsicht in Form von neuronalen Netzwerken abgespeichert. Diese bestehen aus einer Vielzahl von Nervenzellen, die über Synapsen miteinander verbunden sind. Werden diese Verbindungen häufig aktiviert, wird die Übertragungsbereitschaft verstärkt und es entstehen stabile Netzwerkbahnungen (Roth 2007/2019). Kleinkinder verfügen über viele, noch wenig ausgeprägte neuronale Netzwerke und dank der

Ob jemandem ein Neubeginn grundsätzlich eher leicht oder eher schwerfällt, hängt maßgeblich von der eigenen Disposition ab. Verschiedene Persönlichkeitsmerkmale wirken begünstigend wie beispielsweise Offenheit, Gewissenhaftigkeit und Selbstkontrolle, Leistungsorientierung, Risikobereitschaft oder Optimismus. Zusätzlich wirkt die Selbstwirksamkeitserwartung moderierend, also jene subjektive Gewissheit, neue oder schwierige Aufgaben aufgrund der eigenen Kompetenzen erfolgreich bewältigen zu können (Bandura 1997). Sie beeinflusst, was wir uns grund-

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sätzlich zutrauen und entsprechend in Angriff nehmen, reguliert unsere Anstrengungsbereitschaft in Lernsituationen oder auch die Ansprüche an uns selbst. Menschen mit einer geringen Selbstwirksamkeitserwartung trauen sich weniger zu, sind weniger ausdauernd und geben schneller wieder auf, lassen sich leichter vom ursprünglichen Ziel ablenken und können schlechter mit eigenen Fehlern oder Misserfolgen umgehen – augenfällige Aspekte, die der erfolgreichen Umsetzung eines neuen Vorhabens im Wege stehen. Nebst diesen Merkmalen spielen Grundbedürfnisse eine zentrale Rolle. Zum Beispiel kann ein starkes Bedürfnis nach Sicherheit einen Neubeginn verlangsamen oder gar verhindern, ist dieser doch per se stets mit vielen Unsicherheiten gekoppelt. Hinter dem Sicherheitsbedürfnis mag letztlich auch noch anderes verborgen liegen wie das Bedürfnis nach finanzieller Absicherung und Unabhängigkeit, die Furcht vor gesellschaftlichem Statusverlust und Scham oder vielleicht die Befürchtung, dass bei einem Neuanfang die bis anhin gut austarierte persönliche Situation ins Wanken kommt und eigene verdrängte Unzulänglichkeiten zutage kommen könnten. »Wollen« versus »müssen« Ein Neubeginn kommt stets aufgrund verschiedener Anstöße in Gang, wobei zwischen internalen und externalen Auslösern unterschieden werden kann. Abhängig von persönlichen Dispositionen sowie von der Lebenslage braucht es gegebenenfalls einen größeren äußeren Druck, bis sich jemand zu einem neuen Schritt entschließen kann. Der vorgängig stattfindende Abwägeprozess läuft dabei längst nicht immer bewusst ab. Liegt zudem bereits eine hohe persönliche Grundbelastung vor oder ist jemand stark zeitlich ausgelastet, mag auch dies gegen einen Neubeginn sprechen, da schlicht die Kapazität nicht vorhanden ist, Neues zu bewältigen. Beim eingangs erwähnten Ingenieur brauchte es viel äußeren Druck. Er musste erst aufgrund

einer Reorganisation im Betrieb seine Stelle verlieren, bevor er selbst genügend Antrieb mobilisieren konnte, um andere berufliche Perspektiven zu entwickeln. Dies ging er anschließend gründlich und gewissenhaft an und entschied sich für einen kompletten Wechsel der Berufsrichtung. Er absolvierte, obwohl bereits fast fünfzigjährig, ein zweites Studium in Sozialpädagogik und ist heute in seiner Tätigkeit mit verhaltensauffälligen Menschen deutlich zufriedener als früher. Stufenweiser Prozess bis zum Neubeginn Bis jemand etwas Neues in Angriff nimmt, laufen nebst dem obgenannten Abwägeprozess aus motivationspsychologischer Sicht verschiedene weitere Phasen ab, wie im »Rubikonmodell der Handlungsphasen« von Heckhausen und Gollwitzer dargestellt (Heckhausen und Heckhausen 2018): Abwägen und Entscheiden, Planen, Umsetzen und Bewerten. In sämtlichen Phasen können Schwierigkeiten oder Blockaden auftreten, die von äußeren und/oder inneren Faktoren verursacht werden, sodass eine Handlung frühzeitig abgebrochen oder gar nicht erst ausgeführt wird. Erfolgszuversichtliche Menschen können beispielsweise auch trotz äußerer schwieriger Umstände die eigene Anstrengung länger aufrechterhalten und stärkere Willenskraft an den Tag legen als misserfolgsängstliche. Einige Motivationstrainer vertreten die Auffassung, dass der Wille wie ein Muskel trainiert werden kann. Neuere Ergebnisse lassen jedoch vermuten, dass dies nur bedingt möglich ist und vor allem dann gelingt, wenn die intrinsische Motivation hoch ist, also jener Antrieb, eine Handlung um seiner selbst willen und nicht aufgrund externaler Anreize auszuüben. Komplexe Zusammenhänge Sämtliche genannten Faktoren beeinflussen sich gegenseitig, sind dabei längst nicht immer bewusst zugänglich und können sich gegenseitig verstärken, sodass eine Negativspirale in Gang kommt:

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Eine 43-jährige Frau kam mit dem Anliegen nach einer beruflichen Neuorientierung zur Beratung. Sie sei bereits seit längerem zutiefst unzufrieden im Job, der ihr zeitlich viel abverlange. Sie fühle sich wie im Hamsterrad und wisse um ihre perfektionistische Art, komme aber dagegen partout nicht an. Es fiel ihr schwer, ihre eigenen Fähigkeiten zu benennen, trotz ausgewiesenem Leistungsausweis sowohl bildungsmäßig wie beruflich, und es gelang ihr auch nicht zu formulieren, was sie stattdessen lieber machen würde. Nebst einem großen Sicherheitsbedürfnis trieb sie der Gedanke um, sie könnte als Versagerin gelten, wenn sie ihre gutbezahlte Kaderposition aufgeben würde. Aufgrund ihrer hohen zeitlichen Auslastung beruflich wie familiär blieb ihr praktisch keine Zeit, sich außerhalb der Beratungen um ihre eigenen Wünsche zu kümmern. Erst nachdem wir ihre verschiedenen Persönlichkeitsanteile herausgearbeitet hatten und sie sich dieser Wirkmechanismen bewusst(er) geworden war, konnte sie sich auf das Entwickeln alternativer beruflicher Vorstellungen einlassen, die in der aktuellen Lebenslage realistisch und auch umsetzbar waren. Nebst dem Entwickeln eines Zeitmanagements, das ihr persönlich mehr Freiräume einräumte, konnte sie alternative Tätigkeitsgebiete zu suchen beginnen. Dabei kam ihr ihr starkes Pflichtbewusstsein zugute, trotz verschiedener Rückschläge und Enttäuschungen am Prozess dranzubleiben und dafür genügend Willensstärke aufzubringen, um nicht wieder vorzeitig in alte Muster zurückzufallen; dies war ihr bei früheren eigenen Versuchen immer wieder passiert. Schlussfolgerungen Es gibt sehr viele gute Gründe und Erklärungen, wieso sich jemand mit einem Neubeginn schwertut. Im Coaching gibt es hilfreiche Methoden, um die zugrunde liegenden Ursachen

zu bearbeiten, wie beispielsweise das Aufdecken verschiedener Persönlichkeitsanteile – anhand des »inneren Teams« von Schulz von Thun oder des Modells der »Inneren Familie« von Schwartz (1997) – oder Tools zur Unterstützung bei der Entscheidungsfindung. In der Begleitung eines solchen Prozesses kann auch das Zürcher Ressourcen Modell »ZRM®« von Maja Storch und Frank Krause (2017) unterstützend wirken, das auf neurowissenschaftlichen Erkenntnissen zum Lernen und Handeln basiert und dabei hilfreich ist, sowohl bewusste Motive wie auch unbewusste Bedürfnisse klarer zu erkennen und im Alltag umzusetzen. Bei all diesem braucht es jedoch die grundsätzliche Bereitschaft der Betroffenen, an solchen Themen zu arbeiten. Für uns als Entwicklungsbegleiterinnen oder Außenstehende heißt es, ein »Nein« zu akzeptieren und uns in Gelassenheit zu üben, im Wissen darum, dass eine Veränderung (manchmal viel) Zeit benötigt und dafür der richtige Zeitpunkt da sein muss. Barbara Rüetschi, lic. phil., Arbeits- und Organisationspsychologin und Fachpsychologin für Coaching-Psychologie FSP, arbeitet als Coach, Supervisorin, Trainerin und Organisationsberaterin mit Beratungsbüros in Bern und Thun. Kontakt: [email protected] Website: www.br-coaching.ch Literatur Bandura, A. (1997). Self-efficacy. The exercise of control. New York. Heckhausen, J.; Heckhausen, H. (2018). Motivation und Handeln. 5., überarb. und erw. Auflage. Berlin. Roth, G. (2007/2019). Warum es so schwierig ist, sich und andere zu ändern. Persönlichkeit, Entscheidung und Verhalten. Vollst. überarb. und aktual. Auflage. Stuttgart. Schulz von Thun, F. (1998). Miteinander reden 3 – Das »innere Team« und situationsgerechte Kommunikation. Reinbek. Schwartz, R. (1997). Systemische Therapie mit der inneren Familie. München. Storch, M.; Krause, F. (2017). Selbstmanagement  – ressourcenorientiert. Grundlagen und Trainingsmanual für die Arbeit mit dem Zürcher Ressourcen Modell (ZRM). 6., überarb. Auflage. Bern.

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Das Wertvolle als Wegweiser in neuen Erfahrungen Friederike Westerhaus »Das ist Italien. Und was ich mir, seit ich den­ ken kann, als höchste Lebensfreude gedacht habe, das ist nun angefangen u. ich genieße es. Der heutige Tag war zu reich als daß ich mich nicht jetzt des Abends ein wenig sam­ meln müßte, u. da schreibe ich denn an Euch u. will Euch danken, liebe Eltern, die Ihr mir das ganze Glück schenkt« (Mendelssohn Bartholdy 1998, S. 42).

Mit 21 Jahren macht sich Mendelssohn auf in den Süden, mehr als ein halbes Jahr verweilt er dort.

J. M. W. Turner, Venice at Sunrise, 1840 / akg-images

Der Anfang klingt, als würden die Tauben auf dem Markusplatz in Venedig aufflattern, ins Licht, inmitten der lachenden, staunenden, schwatzenden Menschen, vor der glitzernden, mit Mosaiken verzierten Fassade des Markusdoms, den betriebsamen Straßencafés unter den Arkaden, dem aufstrebenden Campanile. Der Beginn einer Sinfonie, ein Neuanfang, der vitaler und sprühender vor Lebenslust nicht sein könnte: Felix Mendelssohn Bartholdys »Italienische« Sinfonie, seine Vierte. Gerade in Venedig angekommen, schreibt Felix am 10. Oktober 1830 nach Hause:

D a s We r t v o l l e a l s We g w e i s e r i n n e u e n E r f a h r u n g e n    2 3

Eine Reise, die ihn reifen lässt, seinen Horizont erweitert, ihm hilft, seinen eigenen Weg zu gehen. Aus jedem Takt dieses Allegro vivace spricht für mich Lebensfreude, pure Energie, Vitalität. Diese Musik bringt das zum Klingen, was so entscheidend ist, wenn wir unseren Werten nachspüren: Wo spüre ich Lebendigkeit und Freude? Selbst zum Klingen zu kommen durch das, was ich erlebe? Was spricht mich an, was zieht mich geradezu magnetisch zu sich? Mendelssohn ist schier überwältigt von all den Eindrücken in Venedig. Sie reißen ihn mit, erfüllen ihn. Seine Stimme scheint sich fast zu überschlagen, als er davon erzählt. Und auch im Allegro sprudelt die Musik, fontänenartig, munter, ein musikalischer Lebensquell. »Das Unvergessliche hat sich mir in jeder Stunde so viel gezeigt, daß ich nicht weiß, wo ich Sinne hernehmen soll, um es recht zu begreifen; die Himmelfahrt habe ich ge­ sehen, dann eine ganze Gallerie im Palast Manfredini, dann ein Kirchenfest in der Kir­ che wo nebenbey der heil. Petrus von Tizian hängt, dann die Marcuskirche, nachmittags war ich auf dem Adriatischen Meer spazieren u. in den öffentlichen Gärten, wo das Volk im Grase liegt u. frißt, dann wieder auf dem

In all den bunten, sprudelnden, über­ wältigenden Ein­ drücken in Venedig kam Mendelssohn zur Ruhe. Er hielt inne, nahm sich Zeit, ließ sich berühren.

Marcusplatz, wo in der Dämmerung ein un­ glaubliches Treiben und Drängen ist. Und all das mußte gerade heut sein, weil wieder viel Neues und Anderes nur morgen zu sehen ist« (Mendelssohn Bartholdy 1998, S. 42).

Beziehung – Zeit – Nähe Der Existenzanalytiker Alfried Längle schreibt: »Wenn ich etwas tue, was ich mag, küsst mich das Leben« (Längle und Bürgi 2014, S. 93). Da, wo ich Wertvolles erlebe, ist Leben. Meine Werte aufzuspüren, das ist kein Luxus. Auch nicht egoistisch. Es ist existenziell. Wo ich einen Wert erlebe, da sage ich: Ja! Das mag ich! Das ist etwas, dem ich mich zuwenden will, dem ich nah sein will. Ob das nun ein Mensch ist, ein Objekt, eine Tätigkeit, eine Idee. Ich wende mich dem zu, weil ich es als wertvoll erlebe. Es braucht dieses Zuwenden. Nur wenn ich mich dem Wertvollen öffne, kann ich mich davon berühren lassen. Ich nehme Beziehung auf mit dem, was da ist, lasse mich davon ansprechen. Genauso könnte ich mich davor verschließen. Dichtmachen. Das Leben eben nicht reinlassen. Und dieser Prozess beginnt bei mir selbst. Wie sehr trete ich in Beziehung mit mir? Bin ich mit mir verbunden? Im Zuwenden zum anderen gilt es, auch mit sich selbst verbunden zu bleiben, sich innerlich abzustimmen mit dem, was uns begegnet. Uns nicht zu verlieren im anderen. Nehme ich mir die Zeit, die eine Blüte am Rosenbusch genau anzuschauen? Wirklich da zu sein in dem Gespräch mit der Freundin, statt immer aufs Handy zu schielen oder den nächsten Termin im Nacken zu spüren? Nehme ich mir Zeit, in mich hineinzuhorchen und wahrzunehmen, was in mir Resonanz findet? Ich habe es selbst in der Hand, wie ich meine Zeit gestalte. Und bewusst das zu wählen, was ich als wertvoll empfinde. »Das, wofür ich die Zeit aufbringe, ist das, wofür ich lebe« (Längle und Bürgi 2014, S. 101). Fasse ich diese Rosenblüte vielleicht sogar an?

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2 4   Fr i e d e r i k e We s t e r h a u s

Neige ich mich zur ihr, ganz nah, um ihren Duft genießen zu können? Fasse ich vorsichtig die Blätter an, spüre ihre Zartheit, ihre glatte Oberfläche, vielleicht die letzten Tautropfen, die wie Perlen dort aufgereiht sind? Wenn wir uns einer Sache zuwenden, Beziehung aufnehmen, ihr Zeit schenken und ihr wirklich nah kommen, dann wird sie für uns wertvoller. Etwas Unbedeutendes, das wir immer haben links liegen lassen oder das für uns schlichtweg selbstverständlich war – plötzlich erscheint es in neuem Licht. Das Konzert-Abo habe ich seit Jahren. Und jetzt? Wie geht es mir damit in einer Zeit, in der keine Konzerte stattfinden? Im Abhandenkommen wird der Wert mir noch einmal bewusster. Ich spüre es deutlich: Da geht ein Stück Leben verloren. Ein Bild steht seit Jahren in meinem Regal. Wann habe ich es zum letzten Mal wirklich mit Muße betrachtet? In all den bunten, sprudelnden, überwältigenden Eindrücken in Venedig kam Mendelssohn zur Ruhe. Er hielt inne, nahm sich Zeit, ließ sich berühren. Er betrachtete die »Himmelfahrt« des Malers Tizian, jeden Tag ein Mal. »Soll ich aber ein Wort von den Tizians sa­ gen, so muß ich ernsthaft werden. (…) Wie die Maria da auf der Wolke schwebt, u. wie ein Wehen durch das ganze Bild geht, wie man ihren Athem u. ihre Beklemmung u. An­ dacht u. kurz die tausend Empfindungen alle in einem Blick sieht – die Worte klingen nur alle so philiströs u. trocken gegen das, was es heißen soll – u. dann sind drei Engelsköpfe auf der rechten Seite, die von Schönheit das Höchste sind, das ich kenne; die reine, klare Schönheit, so unbewußt u. heiter u. fromm. Aber nichts weiter; ich muß sonst poetisch werden oder bin es gar schon, u. das kleidet mir wenig; aber sehen werd ichs alle Tage« (Mendelssohn Bartholdy 1998, S. 47).

Man sieht förmlich vor sich, wie Mendelssohn dort sitzt, versunken das Bild betrachtend. Und auch das spritzige Allegro hat diesen Moment

der Ruhe. Inmitten des sprudelnden Stroms, etwa nach sieben von elf Minuten, entdecken wir dieses Innehalten. Ein Tasten. Ein sanftes Hinabgleiten in tiefere Schichten der Seele. Und d ­ araus erblüht eine einzelne Oboenstimme, hebt an zu einem kurzen Gesang, bevor sie wieder in den munteren, tanzenden Reigen einstimmt. Werte und Sinn Das, was für mich einen Wert hat, spricht mich im Innersten an. Aber die Werte schaffen für mich gleichzeitig den Bezug zum Außen. Ich bin immer auch eingebettet im großen Ganzen, in einem Kontext. Die Werte bieten Orientierung, sie weisen mir einen Weg in dem, was mir begegnet – und das ist immer neu. Tag für Tag, Stunde für Stunde, Minute für Minute. Lasse ich mich von der Situation ansprechen? Bin ich bereit dazu, mich auf sie einzulassen, mich berühren zu lassen? Zu dem, was auf mich zukommt, in Beziehung zu treten und das Wertvolle darin entdecken? Wenn ich mich auf das beziehe, was für mich wertvoll ist, dann kann ich Sinn erleben.

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D a s We r t v o l l e a l s We g w e i s e r    2 5

Christiane Knoop

von dem, was er erlebte, schuf und ausdrückte. Am 8. November 1830 schreibt er aus Rom nach Hause:

Viktor E. Frankl, KZ-Überlebender und Begründer der Logotherapie, beschreibt drei »Hauptstraßen« zum Sinn: die »schöpferischen Werte«, also selbst etwas Wertvolles zu schaffen, die »Erlebniswerte« – das Erleben zum Beispiel von Kunst und Natur, von Schönheit – und die »Einstellungswerte«, in denen es um das Beziehen einer Position, einer Haltung geht. »Die geistige Freiheit des Menschen, die man ihm bis zum letzten Atemzug nicht nehmen kann, läßt ihn auch noch bis zum letzten Atemzug Gelegenheit finden, sein Leben sinn­ voll zu gestalten« (Frankl 1977, S. 103).

Mendelssohn wurde nur 38 Jahre alt. Aber wenn ich seine Musik höre, und sei es nur der 1. Satz der »Italienischen«, dann habe ich den Eindruck: Er hat ganz gelebt, er hat die Lebendigkeit des Lebens genossen und ausgekostet. Er hat sich vom Leben selbst berühren und »küssen« lassen, immer wieder neu. Noch unterwegs begann er zu komponieren, auch diese Sinfonie. Ganz erfüllt

»Wenn ich Morgens früh nur ins Frühstücks­ zimmer komme, und die Sonne so hell auf die Buttersemmeln scheint (Ihr seht, ich bin zum Poeten verdorben) da wird mir gleich unendlich behaglich zu Sinn (…) Nach dem Frühstück geht es ans Arbeiten u. da spie­ le u. singe u. componire ich denn bis gegen Mittag; dann liegt mir das ganze unermeß­ liche Rom wie eine Aufgabe zum Genießen vor; ich gehe dabey sehr langsam zu Werke u. wähle mir täglich etwas anderes Weltge­ schichtliches aus; u. so macht mir jede mei­ ner Beschäftigungen die reinste Freude (…) So leb’ ich froh drauflos, u. denke Eurer in je­ dem vergnügten Augenblick. Seid glücklich, u. freut Euch mit mir der Zeit, die sich mir hier aufzutun scheint. Lebt alle wohl. Felix MB« (Mendelssohn Bartholdy 1998, S. 63/67).

Friederike Westerhaus arbeitet als freie Musikjournalistin, Moderatorin und Existenzieller Coach in Berlin und Hamburg. Kontakt: [email protected] Website: www.existenzielles-coachingberlin.de Quellen Frankl, V. E. (1977).  … trotzdem Ja zum Leben sagen. Ein Psychologe erlebt das Konzentrationslager. München. Längle, A.; Bürgi, D. (2014). Existentielles Coaching. Theoretische Orientierung, Grundlagen und Praxis für Coaching, Organisationsberatung und Supervision. Wien. Mendelssohn Bartholdy, F. (1789). Sinfonie Nr. 4 in A-Dur, »Italienische«. Daraus: Allegro vivace (1. Satz). RadioSinfonieorchester Stuttgart des SWR, Leitung: Roger Norrington (Hänssler Classic). Mendelssohn Bartholdy, F. (1998). Eine Reise durch Deutschland, Italien und die Schweiz. Briefe, Tagebuchblätter, Skizzen. Hrsg. von P. Sutermeister. 3. Auflage. Tübingen.

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Jeden Tag neu beginnen Der Jakobsweg als Symbol für die Pilgerschaft des Lebens

Christian Ruch Jedenfalls kann man sagen, dass Pilgern absolut in ist, und vor allem gilt das für die diversen Jakobswege, die sich durch Europa ziehen und mit dem Grab des heiligen Jakobus im nordwestspanischen Santiago de Compostela einen gemeinsamen Zielpunkt haben. Im Jahr 2019 registrierte das dortige Pilgerbüro fast 350.000 Ankünfte, die Gesamtzahl der Pilgernden dürfte jedoch um einiges höher gelegen haben. Die Coronapandemie hat – wie den Tourismus insgesamt – auch das Pilgerwesen und die Menschen, die wirt-

Wichtig ist immer nur der jeweilige Schritt, der jeweilige Moment. Zukünftiges ist unbekannt, Vergangenes nicht mehr wichtig.

Diana.phor / Shutterstock.com

Es ist ein scheinbar merkwürdiges Paradox, dass die Kirchen immer mehr an gesellschaftlicher Bindungskraft verlieren und sich mehr oder weniger permanent in einer schweren Vertrauensund Motivationskrise befinden, sich das Pilgern als gelebte Spiritualität aber eines ungebrochenen Booms erfreut. Doch vielleicht ist der Widerspruch ja auch gar keiner, indem die Krise der Kirchen die Suche nach alternativen Formen der Spiritualität, entkoppelt vom kirchlichen Vollzug, erst recht befeuert.

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schaftlich von ihm profitieren oder sogar abhängig sind, erheblich beeinträchtigt. 2020 ging die Zahl der in Santiago Eintreffenden um sage und schreibe 85 Prozent zurück! Da Spanien für Pilgernde sogar zeitweise gesperrt war, was viele Jakobswegpläne zunichtemachte, kam es im Sommer vermehrt zur Wieder- und Neuentdeckung heimischer Pilgerwege wie etwa des deutschen »Mosel-Camino« zwischen Koblenz und Trier. Es war also sozusagen Pilgern zu Hause angesagt, und das ließ mich in diesem Jahr realisieren, dass Jakobswege nicht nur die Pfade sind, die man für ein paar Wochen irgendwann zwischen Frühling und Herbst, ausgestattet mit schwerem Rucksack auf dem Buckel, im Schweiße seines Angesichts abwandert, sondern dass eigentlich das ganze Leben als Pilgerweg betrachtet werden kann. Lebensweg und Pilgerpfad weisen interessante Parallelen auf:

Lebens – und gerade davor scheuen viele Menschen zurück. Und das nicht nur, wenn es um das Pilgern geht. »Das Leben zu wagen, fällt heute vielen Menschen schwer, gerade jüngeren. Sie wollen sich lieber absichern, anstatt einfach einen Weg auszuprobieren. Sie überlegen lange, ob sie eine Stelle in einem Unternehmen annehmen sollen, ob sie damit vielleicht am Ende überfordert sind oder viele ihrer liebgewonnenen Gewohnheiten lassen müssen. Doch vor lauter Absicherung kommen sie nicht in die Gänge. Sie wagen das Leben nicht«, hat der Benediktinerpater Anselm Grün beobachtet. Doch »es gibt kein Leben ohne Wagnis« (Grün 2014, S. 24 f.). Das Leben oder einen Pilgerpfad mit seinen Höhen und Tiefen (er-)leben, kann nicht, wer vor dem Wagnis des Aufbruchs zurückschreckt. Das Wagnis des Vertrauens

Das Wagnis des Aufbruchs Wenn ich Menschen von meinem Jakobsweg erzähle (er führte mich 2019 rund 250 Kilometer von Porto nach Santiago), spüre ich oft so etwas wie Bewunderung, garniert mit einem Hauch von Neid. »Das würde ich auch gerne mal machen«, höre ich oft. Ich bin dann versucht zu fragen: »Und warum machen Sie es nicht?« Die Antwort kenne ich in den meisten Fällen: Es ist die Angst vor dem Wagnis, der Zweifel an der eigenen Fähigkeit, das durchzuhalten. Und damit verbunden die Angst, aufgeben zu müssen und sich womöglich vor Freunden und Familienmitgliedern zu blamieren. Ja, der Aufbruch ist ein Wagnis. Man kann unterwegs krank werden, Portemonnaie und Handy verlieren, so schlimme Schmerzen an Füßen und Gelenken bekommen, dass man zum Arzt oder sogar abbrechen muss, man kann schlaflose Nächte haben, weil in der Pilgerherberge vielstimmig geschnarcht wird, sich verlaufen oder klatschnass werden. Der Aufbruch des Pilgerns ist der Ausbruch aus der Komfortzone unseres

Wer dann unterwegs ist, muss das Wagnis des Vertrauens eingehen. Ich muss mich darauf verlassen können, dass mich die anderen Pilgernden in der Herberge nicht beklauen, dass die Wegmarkierungen stimmen, mich Einheimische, die ich nach dem Weg frage, nicht in die Irre schicken, ja ganz generell: dass die vielen fremden Menschen, denen ich begegne und deren Sprache ich vielleicht nicht spreche, es gut mit mir meinen. Pilgern ist also Vertrauenssache – und das ist ein gutes Training in einer Zeit, die von einer großen Vertrauenskrise geprägt ist. Gerade die Coronapandemie hat einmal mehr gezeigt, dass das Vertrauen vieler Menschen in Politik, Wissenschaft und Medien erschüttert ist. Wem kann man heute noch (ver-)trauen? Orientierungslosigkeit kann die Folge dieses Vertrauensverlustes sein, und das kann üble Folgen nach sich ziehen, so etwa wenn man sich orientierungslos auf dem Lebensweg verirrt. Vertrauen hingegen kann beruhigend wirken, weil ich weiß, dass ich nach einer Phase der Orientierungslosigkeit zurück auf den für mich richtigen Weg finde – oder zumindest auf

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2 8   C h r i s t i a n R u c h

Menschen treffe, die mir zeigen können, wie ich auf diesen Weg zurückfinde. Das Gewicht des Rucksacks

Christian Ruch

Fast nichts wird auf Online-Foren für Pilgernde so leidenschaftlich diskutiert wie die Frage, wie schwer der Rucksack sein sollte. Und damit verbunden, was man unbedingt braucht und was nicht. Nicht wenige Pilgerwillige packen ihren Rucksack vor dem Abmarsch mehrmals ein und wieder aus, immer zweifelnd, ob sie auch alles Nötige, zu viel oder zu wenig dabeihaben. Eigentlich sollte man das auch auf dem Lebensweg immer mal wieder machen – zumal es ja nicht immer nur wir selbst sind, die uns den Rucksack des Lebens füllen. Wer pilgert, will in der Regel unnötigen Ballast vermeiden. Umso unverständlicher, dass wir auf dem Pilgerweg des Lebens oft

sehr viel unnötigen Ballast mit uns herumschleppen. Zugegeben: Wenn es um seelischen Ballast geht, ist es bisweilen nicht so einfach, den einfach auszupacken und hinter sich zu lassen. Auf dem Jakobsweg gibt es dafür ein schönes Ritual: Man nimmt sich einen Gegenstand, zum Beispiel einen Stein, mit auf den Weg. Er symbolisiert etwas Belastendes und wird dann symbolisch abgelegt und hinter sich gelassen. Ein Ritual, das man auch im täglichen Leben immer mal wieder machen sollte, und sei es nur in Gedanken. Jeden Tag neu beginnen Wer sich auf einem Pilgerpfad wie dem Jakobsweg bewegt, stellt bald fest, dass man viel stärker im Hier und Jetzt lebt als zu Hause. Gerade weil der Weg unbekannt ist, weiß man nicht, was einen nach der nächsten Kurve erwartet: eine anstrengende Steigung? Ein Brunnen, an dem ich die Flasche auffüllen kann? Wichtig ist immer nur der jeweilige Schritt, der jeweilige Moment. Zukünftiges ist unbekannt, Vergangenes nicht mehr wichtig. Wer am Vormittag verregnet, aber am Nachmittag mit schönstem Sonnenschein belohnt wird, hat die unerfreuliche Erfahrung schon fast vergessen. Dieses Gehen im Hier und Jetzt hat außerdem zur Folge, dass jeder Morgen ein neuer Aufbruch ist. Man verlässt die Herberge, um am nächsten Abend wieder in einer anzukommen. Jeder einzelne Tag wird damit zu einem Symbol für das Leben: Von der schützenden Herberge der Kindheit bricht man auf, geht seinen Weg und erreicht am Abend das Ziel, eine erneut schützende Herberge, in der man stolz auf den Weg und das Geschaffte zurückblickt. Seit meiner Zeit auf dem Jakobsweg versuche ich jeden Tag als eine neue Ertappe zu sehen: Aufbruch – Weg – Ankunft. Was gestern war, ist nur noch Erinnerung, was morgen kommt, ist jetzt, in diesem Augenblick, noch nicht wichtig. Der Tag erhält so viel mehr Qualität, habe ich festgestellt, weil er wie jede Jakobswegetappe einen

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eigenen Wert hat. Einen Wert, der im Alltag, im gedanklichen Verweilen in der Vergangenheit und den Projektionen der Zukunft, oft gar nicht mehr wahrgenommen wird. Was zählt, ist das Unterwegssein im Jetzt, nichts anderes, und dieses Gefühl schenkt eine Ahnung von Ewigkeit: »Wenn man unter Ewigkeit nicht unendliche Zeitdauer, sondern Unzeitlichkeit versteht, dann lebt der ewig, der in der Gegenwart lebt«, so Ludwig Wittgenstein (1922/1963, S. 113). Das Ziel Jeder Pilgerweg geht einmal zu Ende – mag er auch noch so lang sein. Wer das Leben als Pilgerschaft betrachtet, bewegt sich mit jeder Tagesetappe, jedem Lebensabschnitt auf das Ziel des Todes zu. Hinter sich der zurückgelegte Weg, der immer länger wird, vor sich die verbleibende Strecke, mit jedem Tag kürzer. In diesem Bewusstsein kann ich voller Stolz und Dankbarkeit auf das Erreichte zurückblicken, mir gleichzeitig aber auch vergegenwärtigen, dass meine restliche Zeit auf diesem Weg verrinnt und deshalb so gut wie möglich zu nutzen ist. Wer mit diesem Bewusstsein durchs Leben geht, den Lebensweg beschreitet, bekommt vielleicht eine ganz neue Beziehung zum Tod. Er ist dann nicht mehr der alles verschlingende Moloch, sondern Ziel und vielleicht sogar die lang ersehnte Heimkehr. »Die Lust der Fremde ging uns aus, / Zum Vater wollen wir nach Haus«, dichtete Novalis in der sechsten seiner »Hymnen an die Nacht« mit dem bezeichnenden Titel »Sehnsucht nach dem Tode« (Novalis 1995, S. 175). Und in seinem Romanfragment »Heinrich von Ofterdingen« lässt er einen Pilger (!) ein Mädchen fragen: »Wo gehen wir denn hin?« Und die Antwort des Mädchens: »Immer nach Hause« (S. 373). Schließen möchte ich mit einer Art Gedicht unbekannter Herkunft, das sich im Gästebuch einer französischen Pilgerherberge fand und deutlich macht, wie sehr das Leben Pilgerschaft sein kann:

Pilger suchen den Weg Finden den Weg Folgen dem Weg Verlieren den Weg Sie kreuzen andere Wege. Pilger gehen gemeinsam und gehen getrennte Wege Pilger gehen den Hinweg Gehen den Rückweg Gehen den Umweg Gehen den Irrweg Finden den Ausweg Pilger haben eine Wegbeschreibung Haben eine Wegzehrung Haben Weggefährten Pilger gehen Leidenswege Gehen Kreuzwege Pilger gehen unter Sternenwegen unentwegt weiter den Pilgerweg den Lebensweg. (www.jakobus-info.de/ultreia/texte.htm)

Dr. Christian Ruch ist Historiker, Soziologe und Ritualgestalter sowie begeisterter Pilger. Er lebt in Chur (Schweiz). Kontakt: [email protected]

Literatur Grün, A. (2014). Von Gipfeln und Tälern des Lebens. Freiburg i. Br. Novalis (1995). Werke in einem Band. München. Wittgenstein, L. (1922/1963). Tractatus logico-philosophicus. Frankfurt a. M.

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Spiritualität, Abschied und Neubeginn in der Sterbebegleitung Caroline Walker Miano In unserer inzwischen mehr als sechzehnjährigen Tätigkeit als ehrenamtliche Sterbebegleiter*innen für den Oberwalliser Verein für Sterbeund Trauerbegleitung, dürfen wir Menschen über einen längeren Zeitraum am Ende ihres Lebens begleiten. Immer wieder können wir dabei sehen, wie Rückschau gehalten wird auf ein Leben mit all seinen Höhen und Tiefen, Wünschen und gelebten oder nicht gelebten Träumen und wie tiefe spirituelle Erfahrungen von Sterbenden gemacht werden. Eine Erklärung für ein gehäuftes Auftreten spiritueller Erfahrungen in Todesnähe sieht Renz (2010) darin, dass der Sterbeprozess zum äußeren Loslassen zwingt und von innen in einen Grenzbereich verändernder Wahrnehmung führt. Von Walach (zitiert in Behr 2008) wird Spiritualität als eine Vielzahl von Vorstellungen beschrieben, die auf dem Hoffen auf oder Glauben an ein Leben nach dem Tod beruhen. Für Begleitende von sterbenden Menschen gilt damit, zu achten und zu respektieren, was der Mensch glaubt und hofft. Um es mit den Worten von Geisler (2009) zu sagen: »mit leeren Händen« zu den Sterbenden zu kommen. Was im Inneren eines Menschen geschieht, bleibt uns als Begleiter*innen immer bis zu einem gewissen Grad verborgen. Auch bei noch so genauer Betrachtung haben wir immer nur den Blick von außen und können nur unzulänglich erkennen, was der Sterbende empfindet (Geisler 2009). Im Verlauf der Jahre habe ich, mit der Erlaubnis der Sterbenden und deren Angehörigen, viele Erlebnisse in den Sterbebegleitungen aufgeschrieben, aus denen ein Buch entstehen wird. Die Begleitung von Frau W. bis zu ihrem Tod war für das ganze an der Begleitung beteiligte

Team wohl eine der berührendsten und intensivsten Begleitungen seit der Vereinsgründung. Zum einen, weil die Begleitung im privaten Umfeld stattfand, und zum anderen, weil Frau W. ihr Sterben, ihre Spiritualität und ihre Jenseitsvorstellungen so breitwillig mit uns teilte. Ein größeres Geschenk als dieses Vertrauen in völlig fremde Menschen hätten uns Frau W. und ihre Söhne nicht machen können. Die Erzählung mag als sehr idealistisch dargestellt erscheinen, entspricht aber voll und ganz dem Erlebten. Und dann war da die »Weltenreisende« Ostersamstagvormittag, das Diensthandy klingelt. Ein Herr will wissen, ob er da richtig sei bei der Sterbebegleitung – eine Pflegefachfrau des ­Spitex-Dienstes habe ihm die Nummer gegeben. Er sei bei seiner Mutter zu Hause. Sie sei sterbend und die Familie benötige Unterstützung. Seine Mutter möchte gern zu Hause sterben und man wolle es ihr ermöglichen. Nachdem ich abgeklärt habe, wo sich dieses Zuhause befindet, vereinbaren wir einen Termin, damit ich mir ein Bild von der Gesamtsituation machen kann. Bereits auf der Straße werde ich in Empfang genommen und in die Wohnung im zweiten Stock geführt. Frau W. liegt hellwach in ihrem Pflegebett mitten im Wohnzimmer und verlangt nach ihrem Hörgerät. Während der Sohn mich mit der Situation vertraut macht, setze ich mich neben das Bett von Frau W. Immer wieder beteiligt sie sich sehr interessiert und liebenswürdig an unserer Unterhaltung. Da mein Nachname italienisch klingt, beginnt sie augenblicklich Italienisch zu sprechen. Fließend wechselt sie dann zum Englisch und

Godong / UIG / Bridgeman Images

Ulrike Rastin

dann ins Französische. Sie erzählt, dass sie ihre Söhne allein großgezogen hat, da ihr Mann früh verstorben ist. Und von Rita erzählt sie mir. Rita ist ihre Tochter, ein besonderes Kind. Als Nachzüglerin und als Mensch mit besonderen Bedürfnissen ist Rita ihr immer sehr nahe gewesen. Leider ist sie sehr früh verstorben. Sie erzählt mir auch, dass sie vom Diesseits ins Jenseits wechseln kann. Sie kann zwischen den beiden Welten wandeln und manchmal nach »drüben« schauen, wo ihre Tochter auf sie wartet. Gemeinsam besprechen wir, dass die Pflegenden des Spitex-Dienstes, die Frau W. seit längerer Zeit zu Hause pflegen, sich melden, wenn Frau W. nicht mehr allein bleiben kann. Ab diesem Zeitpunkt wird das Team des Oberwalliser Vereins für Sterbe- und Trauerbegleitung Frau W. nach Möglichkeit in ihrer vertrauten Umgebung bis zu ihrem Tod begleiten. Die Angehörigen wohnen nicht im Wallis und sind berufstätig, was es schwer macht, dem Wunsch der Mutter, zu Hause zu sterben, nachzukommen. Es erstaunt uns immer wieder, welch großes Vertrauen Menschen uns entgegenbringen. Der Sohn L. überreicht mir einen Wohnungsschlüssel, damit wir jederzeit Zutritt zur Wohnung haben. Beide Söhne werden jetzt noch einige Tage allein mit ihrer Mama verbringen und sich danach bei uns melden. Selbstverständlich vereinbaren wir, dass ich sie täglich darüber informieren werde, wie es Frau W. geht. Solange es geht, werden beide Söhne täglich mit ihrer Mutter telefonieren. Während meines ersten Besuchs ist auch eine Enkeltochter anwesend. Da das Schlucken der Sterbenden schon sehr schwerfällt, bespreche

ich mit dem Enkelkind, dass sie für ihre Groß­ mama in kleinen Bechern Preiselbeersaft einfrieren kann. Haben Sie sich schon einmal Gedanken darüber gemacht, wie köstlich ein winzig kleines, mit Preiselbeersaft gesüsstes Stück Eis schmecken kann, wenn es mit so viel Liebe hergestellt wird? Für Frau W. war jede einzelne kleine Erfrischung auch ein Teil der Liebe dieser Enkeltochter. Einen Pfarrer wollte sie nicht mehr bei sich haben. Ihr Glaube an das Jenseits, ihre Spiritualität und ein tiefes Wissen um die Anwesenheit der Engel haben ihr eine unglaubliche Ruhe und Sicherheit gegeben. Eine Sicherheit, dass sie im Sterben und auch danach behütet und geborgen sein wird. Angst ist nie ein Thema. Immer wieder erzählt sie, dass sie »hinüber«schaue und -gehe und dort die Engel und ihre Tochter auf sie warten. Sie gehe ins Jenseits, um bei den Engeln noch viel zu lernen. Für jede Begleiterin war die Betreuung von Frau W. auf ihre ganz eigene Weise ein Geschenk. Als sie realisierte, dass der Tod nun wohl nicht mehr weit entfernt war, bat sie mich, ihr einen Rucksack zu packen, damit sie, wenn sie abfliegen würde, wie sie es nannte, schnell sei und alles Nötige mithabe. Die zwei Hasen­fell­stücke, die eine Ehrenamtliche ihr geschenkt hatte, mussten unbedingt mit dabei sein. Derselben Begleiterin, die ihr das Fell schenkte, erzählte sie auch, wie lange sie noch zu Hause sein will nach ihrem letzten Atemzug, da die Seele Zeit brauche, um sich zu verabschieden, und wo sie bestattet werden will. Ihre beiden geliebten Söhne hat sie auch informiert. Dass alle lachen, singen, tanzen und essen, das wünscht sie sich an ihrer Abdankungsfeier.

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S p i r i t u a l i t ä t , A b s c h i e d u n d N e u b e g i n n i n d e r S t e r b e b e g l e i t u n g    3 3

An einem anderen Abend war es für Frau W. wichtig zu überlegen, was für Kleider sie im Sarg tragen wird. Sie beschließt, dass sie ihren weißen, weichen Morgenmantel anziehen will. Er sei so weich und flauschig und sie würde sich sehr wohl darin fühlen. Auf die Frage, was sie denn darunter anziehen möchte, schickt sie mich in ihr Schlafzimmer. Im Schrank sei ein Homedress, den sie in Amerika gekauft habe, als sie einen ihrer Söhne dort besuchte. Auf der Suche nach diesem Dress begegneten mir in diesem Schrank viele farbenfrohe Kleidungsstücke. Den gesuchten Dress aber fand ich leider nicht. Behängt mit Blusen, Jacken und Hosen begab ich mich wieder ins Wohnzimmer, wo Frau W. in großer Erwartung lag. Wir veranstalteten eine kleine Modenschau und hatten beide unseren Spaß dabei. Schlussendlich traf sie ihre Kleiderwahl. Frau W. war eine lebendige, farbige Persönlichkeit und dementsprechend fiel auch ihre Kleiderwahl aus. An dem Abend, als sie ihren Weg zu den Engeln antrat, war es ein Geschenk für die Begleiterin, die bei ihr sein durfte, als sie hinüberging, und für mich, ihr dieses Festgewand anzuziehen.

aber, wenn wir uns trauen, auch einmal über die Grenzen zu blinzeln, schließt sich der Kreis und unsere Lieben sind in unserer Nähe. Wenn nicht körperlich, so doch auf einer spirituellen Ebene. Sie war eine große Lehrerin für uns. Mit ihrer so eigenen Weltanschauung und dem Frieden, den sie mit ihrem Leben und Sterben geschlossen hatte, lehrte sie uns alle etwas. Sie hat uns gezeigt, dass der Tod nicht das Ende ist. Sie hat uns glaubhaft mit ihrer eigenen spirituellen Art versichert, dass Angst unnötig ist auf diesem »letzten« Weg hier auf Erden. Für Frau W. ist der Tod ein Neubeginn in einer anderen Dimension. Für ihre Familie ist es der Anfang eines Lebens ohne Mutter. Das Team der Ehrenamtlichen des Oberwalliser Vereins für Sterbe- und Trauerbegleitung schließt mit dem Ritual zu Ehren von Frau W. eine tief berührende Begleitung ab. Wichtig für den Neubeginn für das Team ist ein »guter« Abschluss nach einer Begleitung. Wichtig für die Angehörigen und Freunde der verstorbenen Frau W. ist es zu wissen, dass ihre geliebte Mutter da »neu« beginnen konnte, wo für sie zu Hause war. So können auch sie ihr Leben ohne Mutter »neu« beginnen.

Mehr als Dankbarkeit Es genügt nicht, einfach »danke« zu sagen, und ist fast nicht möglich, Worte zu finden, um auszudrücken, was für kostbare Momente uns so immer wieder geschenkt werden. Auf Wunsch von Frau W., aber auch des Begleiterteams, gestalteten wir ein paar Wochen später noch ein Abschiedsritual. Wie sie uns gebeten hat, lachten wir gemeinsam, stießen mit einem Glas Wein auf sie an und ließen zu ihrer Ehre eine Himmelslaterne steigen, die wir während unseres Rituals beschriftet hatten. Zurück blieben für uns eine tiefe Dankbarkeit, ein Teil der Reise dieser »Grande Dame« gewesen zu sein, und das Wissen, das die Weltenreisende für uns dagelassen hat: Das Leben ist nicht immer einfach und es hält manchen Stolperstein und Abschied für uns bereit. Am Ende

Caroline Walker Miano, CAS Palliative Care, ist Präsidentin und Co-Stellenleiterin Oberwalliser Verein für Sterbe- und Trauerbegleitung, Geschäftsleiterin Hospiz Oberwallis HOPE. Kontakt: [email protected] Websites: www.lebens-halt.ch www.hospiz-oberwallis.ch www.sterbebegleitung oberwallis.ch Literatur Behr, A. (2008). Palliative Sozialarbeit – ein Überblick. Eine Darstellung zentraler Aspekte hospizlicher Sozialarbeit. Hamburg. Geisler, L. S. (2009). Sterben gläubige Menschen leichter? Spiritualität im Sterbeprozess. http://www.linus-geisler. de/vortraege/0902phos_spiritualitaet-sterbeprozess.html Renz, M. (2010). Grenzerfahrung Gott. Spitituelle Erfahrungen in Leid und Krankheit. Freiburg i. Br.

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Nach dem Tod der Eltern – Vater ist gestorben Hans Ulrich Baumgartner Das Telefon reißt uns aus dem Schlaf – es ist 3 Uhr. Mein jüngerer Bruder ruft an: Unser Vater ist gestorben. Ich mache mich so schnell wie möglich auf den Weg ins Altersheim, wo meine beiden Brüder bereits eingetroffen sind. Ich fühle mich unerwartet leer – es gehen mir kaum Gedanken durch den Kopf. Nicht dass Vater nun gestorben ist, erschüttert mich – sein Tod war aufgrund seiner langjährigen Krebserkrankung absehbar –, und doch ist er nun früher gestorben, als ich es erwartet hätte. Wir waren am Tag zuvor am Nachmittag noch bei ihm – einerseits war er erstaunlich klar und präsent, andererseits war er bereits dabei weiterzugehen. Ein langes Leben hat ein Ende gefunden – ein neuer Lebensabschnitt für mich, meine Brüder und unsere Familien nimmt seinen Anfang. Beerdigung Rund drei Wochen später findet die Beerdigung statt. Die Restriktionen aufgrund von Corona bestimmen nach den letzten Lebensmonaten unseres Vaters nun auch die Gestaltung der Abdankung und Beerdigung. Nur für die engsten Familienangehörigen ist eine Teilnahme möglich. Onkel, Tante und Cousins aus Dänemark können nicht anreisen. Die Videoübertragung der Beerdigung ist nur ein geringer Trost und Ersatz. Wir können unsere Trauer und Verbundenheit in diesen Tagen nur durch Worte, jedoch kaum durch Gesten ausdrücken – dürfen uns nicht umarmen oder festhalten. An der Abdankung verliest der Pfarrer – wie bereits zehn Jahre zuvor beim Abschied von unserer Mutter – Briefe von uns drei Brüdern an unseren Vater. Texte, die davon sprechen, was uns prägte, was uns wichtig war, wofür

wir dankbar sind. Ich war berührt, wie ähnlich die Worte waren und die Erlebnisse und Eindrücke, die von ihm in Erinnerung bleiben und in uns weiterleben. Mutters Tod Unsere Mutter starb 2010 – der Verlust war groß und einschneidend. Sie verstarb nach mehrjähriger und schwerer Krankheit, in deren Verlauf unser Vater sie begleitete, unterstützte und als ehemaliger Landarzt die relevanten medizinischen Entscheidungen fällte. Zweifelsohne unterstützte er sie in ihrer Krankheit und ihrem Sterbeprozess professionell, blieb jedoch uns Kindern gegenüber häufig in der Rolle des Arztes. Seine Ängste, seine Befürchtungen und seine Betroffenheit mussten wir immer zwischen den Zeilen herauslesen und spüren. So fühlten wir uns während Mutters letzten Tagen jeder auf sich gestellt. Eindrücklich und berührend war für mich, wie unser Vater an der Beerdigung der Mutter während des gesamten Gangs zum Grab seine Hand auf ihren Sarg legte – diese Geste zeigte uns sehr deutlich und eindrücklich, wie nahe ihm der Verlust seiner Frau und unserer Mutter ging und wie tief er eigentlich trauerte. Noch heute bin ich immer wieder von neuem gerührt, wenn ich an dieses Bild, an diesen kurzen Moment zurückdenke. Zwischenzeit Schon bald nach dem Tod unserer Mutter eröffnete Vater zuerst uns und danach der ganzen Familie, dass er sich entschlossen habe, mit einer neuen Partnerin durchs Leben zu gehen. Wir waren überrascht und fühlten uns im ersten Mo-

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ment vor den Kopf gestoßen. Bald aber haben wir seine neue Partnerin näher kennen und rasch als liebenswerte und unternehmungslustige Frau schätzen gelernt – ein Geschenk für unseren Vater und eine Bereicherung für unsere Familie. Beide gingen offen und ohne Tabu mit der neuen Situation um. So blieben die verstorbenen Ehegatten ebenso ein Thema. Seine neue Lebensgefährtin hatte ihren Mann auch an Krebs verloren. Beide blieben in ihren Häusern wohnen und pflegten so eine gewisse Unabhängigkeit. Als vor ein paar Jahren bei Vater ebenfalls Krebs festgestellt wurde, war seine Krankheit im engsten Familienkreis ein offenes Thema. Wiederum informierte er uns Kinder über Krankheitsverlauf und Therapieschritte durch regelmäßige Krankheitsberichte primär in der Rolle des behandelnden Arztes. Seinen eisernen Willen, alles bis zu seinem Tod selbst zu steuern und zu kontrollieren, war einerseits bewundernswert. Andererseits erschwerte es uns Kindern jedoch den Zugang zu ihm, seine Begleitung im Übergang vom Leben zum Tod. Seinen wirklichen Gesundheitszustand, aber auch seine Sorgen, Ängste und Gedanken konnten wir nur erahnen oder über Drittpersonen in Erfahrung bringen. Altersheim Im Herbst 2019 verschlechterte sich Vaters Zustand dramatisch und er musste hospitalisiert werden. Während des anschließenden Kuraufenthalts musste er einsehen, dass er nicht mehr in sein geliebtes Haus zurückkehren konnte. Glücklicherweise fand er rasch eine kleine Wohnung in einem Altersheim in der Nähe seines Wohnortes und entschied, fortan in einer möblierten Einzimmerwohnung zu wohnen. Der Umzug fand innerhalb kurzer Zeit statt – viel konnte er nicht mitnehmen. Sein Zuhause und unser Elternhaus verblieben lange vollkommen unverändert, so wie er es verlassen hatte. In seiner umsetzungsorientierten Art schien er den Wechsel problemlos zu meistern – zumindest gemäß seinen eigenen Aussagen. Für

seine Partnerin, aber auch für uns war der rasche Wechsel nicht einfach, da allen klar wurde, dass mit diesem Umzug sein letzter Lebensabschnitt begonnen hatte und der Abschied nahte – von Vater, von den Eltern und unserem gemeinsamen Zuhause, in dem wir großgeworden sind. Rückblick Heute, ein halbes Jahr nach dem Tod des Vaters, beschäftigen mich viele Fragen, besonders, was in ihm vorgegangen sein mochte während seiner letzten Wochen, Tage und Stunden. Wir hatten eine gute und relativ entspannte Beziehung zueinander. Wir teilten viele Hobbys und Gemeinsamkeiten – so die Liebe zu Kunst und Kultur, Musik, Fotografie, aber auch das Reisefieber, die Lust, fremde Länder und Kulturen zu entdecken, hat er mir mitgegeben. Insbesondere in diesen Bereichen fanden wir immer wieder Themen, uns auszutauschen oder uns anlässlich von Kulturveranstaltungen zu treffen. Trotzdem – auch wenn uns manchmal gleiche Dinge ansprachen und berührten – fand unser Austausch oft nur auf intellektueller Ebene statt, seltener auf der Herzensebene. Ich kann nicht sagen, ob ich dies bedaure oder ob mir etwas gefehlt hat – es wird mir einfach klar, wenn ich mich an beide Eltern erinnere. Bei meiner Mutter war die Beziehung grade umgekehrt – geprägt von Wärme, Nähe, Alltag und Freundschaft. Sie ist mir in meinen Erinnerungen näher – sie fehlt mir bis heute manchmal sehr. Unser Vater hatte eine sehr innige Beziehung zu seiner zweiten Lebenspartnerin, ohne jedoch die langjährige Ehe mit unserer Mutter zu ignorieren oder zu vergessen – beide hatten in seinem Leben einen Platz. Je mehr der nahende Tod und der kommende Abschied von Vaters spürbar wurden, umso klarer realisierte ich, dass nicht wir Kinder die ersten Ansprech- und Bezugspersonen waren, sondern seine Lebenspartnerin, die ihm in den letzten Jahren am nächsten stand. Mit Vaters Umzug ins Altersheim wurde mir zunehmend bewusst, dass ich mich nicht nur auf

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Max Beckmann, Sunflower, 1930 / akg-images

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einen Abschied von Vater, sondern ebenso von unserem Elternhaus, meinem Zuhause einstellen musste. So fällt mir die Auflösung des Hauses nicht leicht. Es ist dem Verlust der Eltern vergleichbar und doch anders. Viele Erinnerungen an meine glückliche Kindheit und an meine Eltern sind stark mit diesem Ort verbunden. Die letzten Monate waren sehr intensiv – die häufigen Begegnungen mit meinen Brüdern, das Sichten des Nachlasses und das Räumen des großen Elternhauses. Vieles lebt erneut auf: Leichte und lustige Momente wechseln ab mit Trauer, Emotionen, Erinnerungen, Freude, Erstaunen und auch Verlegenheit. Wir sehen uns trotz Corona so häufig wie seit Kindertagen nicht mehr. Die vielen Treffen schenken uns die Möglichkeit, uns als Erwachsene wieder näher zu kommen – durch die Eltern und unsere gemeinsame Vergangenheit, die uns verbindet. Ich stelle fest, dass sich die Wahrnehmung meines Vaters beziehungsweise meiner Beziehung zu ihm nach seinem Tod in der Phase der Verarbeitung und Betrachtung aus zunehmen-

Der Tod meines Vaters hat Türen geöffnet und mich zu gewissen Gedankengängen und Reflexionen gebracht. Eigene existenzielle Fragen und Themen stellen sich mir, worüber ich mir bis anhin weniger Gedanken machte.

der Distanz verändert. Ich lasse es auch zu, ihn kritisch zu reflektieren und meine Beziehung zu ihm neu zu betrachten. Ich weiß nicht, wie es meinen Brüdern ergeht, ich kann es nur erahnen. Bei einem meiner Brüder hatte ich den Eindruck, dass seine in Jugendjahren eher zurückhaltende Beziehung zum Vater sich während seiner häufigen Besuche im Altersheim vertiefte und positiv wandelte. Ich hoffe, dass wir uns mit zunehmender zeitlicher Distanz noch weiter darüber austauschen können. Ausblick Der Tod meines Vaters hat Türen geöffnet und mich zu gewissen Gedankengängen und Reflexionen gebracht. Ob schmerzhaft oder positiv, ist nicht entscheidend. Eigene existenzielle Fragen und Themen stellen sich mir, worüber ich mir bis anhin weniger Gedanken machte: Wie gestaltet sich mein eigenes Familienleben als Ehepaar ohne Kinder? Wem in der nächsten Generation (Nichten, Neffen, Patenkinder) möchte ich was weitergeben – nicht nur materiell, sondern besonders ideell und wertemäßig? Wie gestalten sich künftig die Beziehungen innerhalb der Großfamilie, für deren Zusammenhalt und aktiven Austausch Vater eine zentrale Rolle spielte? Je mehr Distanz ich zu Vaters Tod bekomme, desto mehr wird mir bewusst, dass die Trauer, der Abschied nicht einmal einfach abgeschlossen sein werden, sondern mich ein Leben lang in Erinnerung an meine Eltern begleiten werden. Die dadurch gewonnenen Erkenntnisse über mich und mein Leben sind mir wertvolle Orientierung – als Sohn, dessen Eltern nicht mehr da sind. Hans Ulrich Baumgartner, Primarlehrer, Architekt, ist Bauberater beim Amt für Kulturgüter des Kantons Freiburg. Am wohlsten fühlt er sich beim Segeln, Skifahren, auf dem Rad. Die Auseinandersetzung mit verschiedensten Kulturformen und Reisen gehören zu seinen Leidenschaften. Verheiratet mit Angelika Louis Baumgartner. Kontakt: [email protected]

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Trau deiner Verwandlungskraft Immer wieder klein anfangen können

Pierre Stutz Im Sommer 2020 habe ich im Deutschen Historischen Museum in Berlin die Ausstellung »Hannah Arendt und das 20. Jahrhundert« besucht. Seither begleitet mich die Ermutigung der Philosophin, geburtlich zu leben. »Jeder Mensch ist ein neuer Anfang, begabt mit der Freiheit zum gemeinsamen Handeln«, ist ein faszinierender Gedanke, in dem auch ich gut aufgehoben bin. Mir tut es gut, Menschen zu bestärken, ihrer eigenen Verwandlungskraft zu trauen. Wir sind unserem Leben, auch in seiner ganzen Härte, nicht einfach so ausgeliefert, sondern wir können auch an durch-kreuzten Hoffnungen und Lebensplänen wachsen und reifen. Obwohl ich zu viele Menschen kenne, die am Schweren zerbrochen sind und durch Suizid gestorben sind, so hoffe ich, dass ich bis zu meinem letzten Atemzug mich und andere ermutigen kann, die Opferrolle zu verlassen, indem wir das unerschöpfliche Wachstumspotenzial, das in jeder und jedem von uns ganz tief angelegt ist, noch mehr entfalten.

Interreligiös können wir diese befreiende Einsicht in jeder Lebensphase neu entdecken. In der buddhistischen Zen-Tradition ist der »Anfängergeist« von größter Bedeutung, weil das Wesentliche nie zu haben ist, sondern immer im Werden. Der Friedensmann aus Nazareth spricht uns zu, ein Leben lang Kind sein zu dürfen, nochmals neu, ganz klein anfangen zu können, und der islamische Dichter und Sufi Rumi (1207–1273), der die tanzenden Derwische inspiriert, zeigt uns eine Spur auf, wie wir uns und anderen Verwandlung zugestehen können: »Jenseits von richtig und falsch liegt ein Ort, an dem wir uns treffen.« Diese Lebenseinstellung hat nichts mit Beliebigkeit zu tun, in dem alles gleich-gültig ist, sondern sie ist eine hohe ethische Lebenskunst. Ein Neubeginn wird möglich, wenn wir nicht immer alles gleich beurteilen, sondern einfach mal wahr-­nehmen was ist, ohne es zu bewerten. Tönt gut, bubileicht (!), solange wir es nicht ins Auf und Ab unseres Alltags hineinweben, nie ein für alle Mal, sondern jeden Tag neu, wie wenn es zum ersten Mal wäre!

Liebe und Leiden als Verwandlungskräfte Die Liebe und das Leiden sind die großen Verwandlungskräfte unserer Existenz, die in unserem Innersten und in unserer Dialogbereitschaft immer schon auf uns warten, um verwirklicht zu werden. Es ist nicht nur ein großer Leidensdruck, der uns zu einem Neubeginn zwingen kann, sondern auch das Geschenk der Liebe beflügelt uns, Neues zu wagen. Das lustvolle Staunen und eine erinnernde Dankbarkeit sind für mich wichtige spirituelle Grundhaltungen, die uns aufzeigen, wie wir bis open end immer wieder neu klein anfangen können.

Zugrundegehen als Hoffnungskraft Ich brauchte sehr lange, um mir eine verwandelnde Vertrauensperspektive in meinem Leben zu erlauben. Viel einfacher war es für mich, Geduld mit anderen zu haben, in ihnen freizulegen, was schon lange dank eines Neubeginns mehr gelebt werden möchte. Ich stand mir selbst viele Jahre im Wege, wirklich bei mir selbst anzukommen, in meinem göttlichen Kern, weil mich eine panische Angst vor Liebesentzug lähmte. Obwohl ich bis zu meinem 38. Lebensjahr immer sehr erfolgreich unterwegs war, ließ sich zum Glück

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meine Seele nie durch meinen Erfolg blenden. ­Geduldig-beharrlich mutete sie mir zu, oft durch schmerzvolle psychosomatische Signale, zu mir selbst, zu meiner tiefen Sehnsucht als Liebender partnerschaftlich unterwegs sein zu dürfen, befreit zu werden. Ich kämpfte wie wild gegen die Chance eines Neubeginns, weil sie den Preis der Niederlegung meines Priesteramtes beinhaltete. Doch meine Seele ließ nicht locker und so fiel alles, was ich mir mit meiner großen Willenskraft aufgebaut hatte, durch ein monatelanges Burnout wie ein Kartenhaus in sich zusammen. In diesen dunkelsten, verzweifeltsten Stunden meines Lebens schrieb ich seitenweise in mein Tagebuch »ich gehe zugrunde, ich halte es nicht mehr aus mit mir …«. Bis mir diese Worte in einer lebensfördernden Sicht von einem Weisheitslehrer, dem Dominikanermönch Johannes Tauler (1300–1361) zugefallen sind. Ich stolperte in meinem Umherirren über seine Predigten und stieß auf eine Stelle, die in mir das Gefühl auslöste, nur für mich geschrieben worden zu sein. Als Weggefährte vom Erfurter Mystiker Meister Eckhart webt Tauler das weihnachtliche Lebensthema der Gottesgeburt in uns, in eine existenzielle Krisenzeit hinein, das für mich Zumutung und Trost zugleich war. Es kam mir so vor, als ob Johannes Tauler mich persönlich ansprach und mir liebevoll-bestimmt sagte: »Ja, mach es doch endlich, geh zugrunde, geh deiner Angst, nicht zu genügen, und deiner Überaktivität, deinem Helfersyndrom auf den Grund. Es wird weh tun, doch vertraue, dass sich dadurch etwas Neues, Unerwartetes in dir gebiert.« Ein Aha-Erlebnis, das mein Leben verwandelt hat, und obwohl es sich vor dreißig Jahren ereignet hat, lebe und gestalte ich bis heute in diesem Bewusstseinswandel meine Beziehung zu mir selbst, zu den anderen, zur Natur und in alledem zum Göttlichen. Ich bin mehr als … Geburtlich leben, immer wieder einen Neubeginn wagen zu können, lässt mich das Bezaubernde

im Leben, Eros in all seinen Facetten und seiner Schönheit als Geschenk des Himmels feiern. Jeden Tag versuche ich im alltäglichen Kleinkram das Wunderbare zu entdecken und es zu würdigen. Dank diesem lebensbejahenden Perspektivenwechsel kann ich dem Schweren, dem Frustrierenden, dem Überfordernden auch auf den Grund gehen. Dabei hilft mir mein Tagebucheintrag, der sich am 20. Juli 1999 innerhalb von Minuten geschrieben hat: Was immer an Verwundungen sich in meinem Leben angehäuft hat Mag noch so Schreckliches passiert sein ich will mein Leben nicht auf diese Verletzung reduzieren Ich bin mehr als das und zu einem befreiten Leben gerufen Auch wenn ich mich manchmal körperlich-seelisch behindert fühle so kann sich auch darin meine Lebenskraft zeigen die durch die Behinderung hindurch noch mehr entfaltet werden will Dank DIR Auch heute kenne ich Tage, an denen ich morgens schwer erwache und Angst vor dem Leben, vor Begegnungen habe. Wenn ich diese Stimmung bekämpfe, dann wird sie noch stärker. Erlösend ist für mich jedes Mal der Gedanke, immer noch viel mehr zu sein als mein lähmendes Gefühl. Es ist die befreiende Erlaubnis, unvollkommen bleiben zu dürfen und auch mir zuzugestehen, dass ich manchmal nicht abrufen kann, was ich schon hundert Mal in meinen Büchern geschrieben habe. Was immer ich fühle, ich bin mehr als das und ich lasse mich von niemandem auf meine Befindlichkeit reduzieren, auch nicht

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4 0   P i e r r e S t u t z

von mir selbst! Dabei versuche ich, mich zu verabschieden von all den Überforderungsprogrammen, in denen ich ein für alle Mal alles im Griff haben sollte, was ich doch längst »begriffen« habe. Achtsamkeit und Mitgefühl entfalten sich im Leben, wenn wir alltäglich staunend-dankbar das Leben begrüßen und zugleich nicht überrascht sind, uns dabei auch dünnhäutig zu fühlen. Echtes, liebendes Leben ereignet sich in vielen Wendungen. So eine geerdete Spiritualität der Unvollkommenheit habe ich im Sommer 2016 hautnah im Begehen des Labyrinths von Chartres erfahren. Schritt für Schritt begann ich meinen Weg zur Mitte, mit 28 Wendungen, und als ich ganz nah am innersten Kreis war, durfte ich nochmals zum äußersten Kreis zurück: Mit Tränen in den Augen habe ich erfahren, dass ich ein gesegneter Rückfall sein darf. Wie bedrückend wäre ein Leben, in dem es immer nur vorwärts geht. Als leidenschaftlicher Tänzer kann ich die Vielfalt umkreisen, die zu einem bewegten Leben gehört; in wachsenden Ringen, wie es mein Lieblingsdichter Rainer Maria Rilke ausdrückt. Der Theologe Hieronymus (347–420) sagt es mit Humor:

So eine geerdete ­Spiritualität der Unvollkommenheit habe ich hautnah im Begehen des Labyrinths von Chartres erfahren. Schritt für Schritt begann ich meinen Weg zur Mitte, mit 28 Wendungen, und als ich ganz nah am innersten Kreis war, durfte ich nochmals zum äußersten Kreis zurück. Wie bedrückend wäre ein Leben, in dem es immer nur vorwärts geht.

Lach nicht über jemanden, der zwei Schritte zurück geht, bedenke, er könnte Anlauf nehmen! Eine höchstpolitische Aussage, denn ich kenne zu viele Menschen, die ihren Arbeitsplatz verlieren, weil sie nicht mehr so effizient oder zu langsam sind. Deshalb brauchen wir dringendst eine Spiritualität des Neubeginns, in der wir unsere Menschlichkeit neu buchstabieren als ein Wunder und eine Gratwanderung, bei denen Erfolg und Scheitern, Lachen und Weinen, Ankommen und Aufbrechen, Wut und Versöhnung, Sexualität und Spiritualität nicht mehr voneinander getrennt werden, sondern Ausdruck eines geburtlichen Lebens sind, das auch im Tod nicht endet. Einem Neubeginn steht nichts mehr im Wege, wenn wir nie aufhören, Träumende zu sein. Die Regisseurin Margarethe von Trotta (*1942), deren

Filme ich sehr schätze, wurde am 4. Mai 2019 bei der Verleihung des Ehrenpreises des Deutschen Filmpreises nach ihren Träumen im hohen Alter gefragt. Ihre Antwort berührt mich sehr: »Ich hoffe, dass die Träume nie aufhören, selbst wenn der Tod kommt … noch in den Tod hinüberträumen, das wäre das Schönste!«

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CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=510275

Tr a u d e i n e r Ve r w a n d l u n g s k r a f t    4 1

© Stefan Weigand

Pierre Stutz, war von 1985 bis 2002 katholischer Priester, danach freischaffender Autor zu Themen engagierter Spiritualität. Er ist Mitbegründer des offenen Klosters Abbaye de Fontaine-André in Neuchâtel. Er lebt mit seinem Lebensgefährten in Osnabrück.

Literatur Stutz, P. (2003/2018). Verwundet bin ich und aufgehoben. Für eine Spiritualität der Unvollkommenheit. München. Stutz, P.; Burggrabe, H. (2021). Menschlichkeit JETZT. Ostfildern.

Kontakt: [email protected] Website: www.pierrestutz.ch

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Mitten in »guter Hoffnung« der Tod Weiterleben als Eltern eines totgeborenen Kindes

Franziska Maurer Stirbt ein Kind während der Schwangerschaft, bei der Geburt oder kurz danach, erscheint der Tod da, wo er nicht erwartet wird. Im Elternwerden ist alles ausgerichtet auf Vorbereitung, Hinwendung und Fürsorge. Es kommt zu Trennung und Abschied, wo gerade erst Beziehung am Entstehen ist. Der Tod des Kindes erschüttert die werdenden Eltern zutiefst und verunsichert alle Beteiligten. In Erwartung Frauen und Männer werden in ihrem Leben einmal, mehrmals oder nie Eltern. Die körperliche Fruchtbarkeit wird unterschiedlich gelebt – oder vielleicht präziser: Das Leben fügt es auf seine Weise. Schätzungsweise jede dritte Schwangerschaft endet in den ersten drei Monaten als Fehlgeburt. Eine natürliche Regelung der Natur – für die werdenden Eltern oft eine einschneidende Erfahrung mit intensiven Gefühlen. Das Wort »Fehlgeburt« weist auf das Fehlen des lebenden Kindes hin, nicht auf einen Fehler. Der natürliche Ablauf einer Fehlgeburt ist von routinemäßigen medizinischen Interventionen verdrängt worden. Eine Fehlgeburt wird heute aus medizinischer Sicht mehrheitlich als behandlungsbedürftig eingestuft und mit Medikamenten oder einem operativen Eingriff (Curettage) vorzeitig beendet. Dadurch kennen viele Frauen und auch Fachleute den natürlichen Verlauf einer Fehlgeburt kaum noch (Maurer 2017). Welche Auswirkungen dies auf die Selbstwirksamkeit der Frau und die Bewältigung für das Paar haben kann, wird später noch veranschaulicht. Als Frauen noch »guter Hoffnung« waren, wurde oft erst im vierten, fünften Monat vom

erwarteten Kind gesprochen. Man wusste, dass im ersten Drittel viele wieder »abgehen«. Heute werden die »anderen Umstände« überwacht und kontrolliert, Ultraschalluntersuchungen vermitteln Sicherheit. Die Pränataldiagnostik spielt dabei eine bedeutende Rolle. Sie hat sich zu einer »routinemäßigen Durchmusterung der Ungeborenen« entwickelt, wie es der Medizinethiker Giovanni Maio kritisch benennt (Maio 2013). Damit verschärft sich der Wandel von »guter Hoffnung« hin zu einer (vermeintlichen) Kontrolle über das Leben des erwarteten Kindes. Umso unvorbereiteter sind alle Beteiligten, wenn das Kind im Mutterleib stirbt und tot zur Welt kommt. Die Kindersterblichkeit ist in Ländern mit gesicherten Lebensumständen und hoher medizinischer Versorgung seit etwa zwei Jahrzehnten konstant. Pro Jahr sterben in der Schweiz laut Bundesamt für Statistik rund dreihundert Kinder in der zweiten Schwangerschaftshälfte im Mutterleib, in Deutschland sind es etwa dreitausend1. Ungefähr gleich viele Kinder sterben im ersten Lebensmonat nach der Geburt. Also täglich rund zwei Familien in der Schweiz respektive zwanzig Familien in Deutschland, die in der Erwartung ihres Kindes und inmitten absichernder Maßnahmen mit dem Tod konfrontiert sind. Bruch im Kontinuum Mit Beginn der Schwangerschaft eröffnet sich das Kontinuum Elternschaft. Die Schwangerschaft bereitet die Frau auf ihr Muttersein vor. Gegen 1

Bei rund 85.000 lebend geborenen Kinder pro Jahr in der Schweiz und rund 850.000 in Deutschland.

M i t t e n i n » g u t e r H o f f n u n g « d e r To d    4 3

Ende der neun Monate wird sie bereit, ihr Kind zu gebären und es zu sich zu nehmen, zu schützen und zu stillen. Stirbt das Kind im Mutterleib, erschüttert die Todesnachricht die Eltern zutiefst. Es kommt zum Bruch im Kontinuum. Das autonome Nervensystem reagiert mit Überlebensmodus, mit dem Drang, dem Schlimmen so schnell wie möglich zu entkommen (Rothschild 2002). Diese Reaktionen sind Teil des physiologischen Plans, um aus einem inkohärenten wieder in einen kohärenten Zustand zu gelangen. Solange die Angst dominiert, wird die Situation als ausweglos und ausgeliefert erlebt, es gibt keinen Zugang zu Ressourcen (Hüther 2020). Erleben die Eltern sicherheitsspendenden Beistand, kann sich die lähmende Angst wandeln und sie kommen langsam wieder zu sich. Die Mutter erkennt, dass ihr Kind noch in ihrem Bauch ist und ihr eigenes Leben nicht bedroht ist. Im Zustand der akuten Angst erscheint ihr die bevorstehende Geburt als unbewältigbar. Verbunden mit sich und ihrem Kind realisiert sie, dass es etwas von dem Wenigen ist, was sie mit ihrem Kind noch erleben kann. Das Kontinuum Elternschaft weist den Weg aus dem großen ersten Schreck und zeigt auf, was alles vorbereitet und zur Verfügung steht. »Da habe ich plötzlich realisiert: jetzt brauche ich erst einmal Ruhe. Ich muss mich sammeln und bereit werden für die Geburt meines Kindes. Das ist eine große Sache, die ich jetzt zu leisten habe« (eine Mutter, deren Kind im neunten Monat im Mutterleib starb).2 Die Fäden wieder aufnehmen Angesichts des Todes sind wir machtlos. Der Umgang mit dem Geschehen hingegen ist gestaltbar. Legt sich die erste heftige Erregung, wird aus Ohnmacht und Hilflosigkeit wieder Selbstwirk2

Alle Zitate stammen von Eltern aus der Praxis und Begleitung der Autorin.

samkeit. Dann erleben Eltern auch wieder die Hinwendung und Fürsorge für ihr Kind und fassen Mut, ihm beizustehen und ihm zu begegnen. »Als die Ärztin und die Hebamme uns sagten, es soll jetzt eine normale Geburt werden, da dachte ich, das ist komplett unmöglich, unmenschlich. Ich wollte nicht, dass meine Frau noch so unnötig Schmerzen erlebt. Ich hatte große Angst um sie. Während der Geburt habe ich dann miterlebt, welche Kräfte da wirken … da habe ich realisiert, dass wir beide gerade Eltern werden. Ich kann nicht in Worte fassen, was das für mich bedeutet. Es ist zu groß« (ein Vater drei Monate nach der Geburt seiner im Mutterleib verstorbenen Tochter). In der Akutsituation brauchen die Betroffenen Beistand, dass sie aus der ausweglosen Enge ins Lebbare finden. Menschen, die mit ihnen innehalten und aushalten. Beruhigung und Halt, um zurück ins Kontinuum zu finden und zu dem, was bevorsteht: Das Kind kommt auf die Welt, wird begrüßt, umsorgt und in die Gemeinschaft aufgenommen. Auch die beteiligten Fachleute sind erst einmal erschüttert, wenn sie den Tod des Kindes feststellen. In ihnen wirken auch Notimpulse, was nicht selten zu Handlungsdrang führt. So wird zum Beispiel eine sofortige Geburtseinleitung angeboten. Das ist gut gemeint, vermittelt jedoch den Eltern einen vermeintlichen Ausweg aus dem Schlimmen. So, als ob »schnell hinter sich bringen« die Antwort darauf sein könnte, dass sie für den Rest ihres Lebens Mutter und Vater dieses Kindes bleiben. Die vermeintlich »rettenden« Interventionen entpuppen sich als zusätzliche Beschleunigung im bereits hoch erregten Notzustand – also genau das Gegenteil der dringend notwendigen Beruhigung. Zudem führen Eingriffe weg von der eigenen Bewältigung. »Also, zu erleben, dass mein Körper das regelt, wie klug er das macht und dass meine Kräfte

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ausreichen … also, das hat mir wieder Boden unter die Füße gegeben in dieser bodenlosen Zeit« (eine Frau nach einer spontan verlaufenen Fehlgeburt im dritten Monat). Im Zentrum von Krisenbewältigung steht die Selbstwirksamkeit. Damit Betroffene mit ihren ganz eigenen Möglichkeiten auf die Herausforderung reagieren können, braucht es eine Beruhigung der akuten Aufregung. Das gilt auch für die beteiligten Fachpersonen: Sie müssen selbst zur Ruhe kommen, um hilfreich beistehen zu können. So können die Schwangere und der werdende Vater aus der überwältigenden Ohnmacht wieder zu sich kommen und nach einem gangbaren Weg statt nach einem Ausweg suchen. Im Kontext von medizinischem Intervenieren wird heute oft vergessen, welche zentrale Bedeutung das Beistandleisten hat. Also ein Nichttun und mit voller Präsenz Anwesendsein. Oder wie es der Psychoanalytiker Arno Gruen als grundlegend menschliche Fürsorge immer wieder betont hat: den Betroffenen Gemeinschaft anbieten, um mit dem Unaushaltbaren sein zu können. Schmerz, Leid und Not zu teilen ermöglicht die Entwicklung der eigenen inneren Kraft (Gruen 2013). Weiterleben Der Körper der Mutter kennt kein Zurück und keine Auswege, nur »vorwärts«: gebären, heilen, zurück in den Zyklus von Fruchtbarkeit. Gleichzeitig ist alles bereit für das Leben mit diesem Kind: Die Brüste sind voll Milch, die Fürsorge, die Liebe, die Arme sind bereit … Die Eltern sind bereit, ihrem Kind Eltern zu sein. Und nun sind sie gefordert, auf ganz unerwartete Weise ihr Elternsein zu leben, mit intensiver Liebe und tiefstem Schmerz. Nach der Geburt kommt es zur Begegnung mit dem verstorbenen Kind. Es ist die vorgesehene Hinwendung der Eltern zu ihrem Kind, sich berühren lassen von seinem Dasein. Eine kurze Zeit, wenig gemeinsames Leben. Umso größer ist die Bedeutung dessen, was jetzt noch mög-

lich ist. Geschützte, ungestörte Zeit der Eltern mit ihrem Kind. Großeltern, die ihr Enkelkind kennen lernen und begrüßen. Das Kind wird erkannt, beim Namen genannt und in die Gemeinschaft aufgenommen. »Jetzt, im Nachhinein, bin ich einfach so froh, dass wir unserem Sohn beigestanden sind bis zuletzt. Oder eigentlich darüber hinaus« (ein Vater zur Bedeutung der Geburt seines Sohnes und der Zeit danach bis zur Beerdigung). Es geht um die Würdigung dessen, was ist: Eine Frau wird Mutter, ein Mann wird Vater, ein Kind kommt auf die Welt, ein Mensch stirbt. Das be-

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sylvi.bechle / photocase.de

M i t t e n i n » g u t e r H o f f n u n g « d e r To d    4 5

deutet Angst, Liebe, Schmerz, Freude, Verzweiflung, Fürsorge. Das Kommen des Kindes würdigen, ihm seinen Platz geben und ihm die Ehre erweisen. So können Fürsorge und Liebe ins Umsorgen des Leichnams münden. Vielleicht wird Totenwache gehalten, gebetet, steht der Seelenfrieden des Kindes im Mittelpunkt. Eltern kommen beim Tod ihres Kindes zum Ursprung über Liebe, Leben, Tod. Sie sind konfrontiert mit einer Intensität und Tiefe ihres Daseins, die sie vielleicht bis dahin nicht erlebt haben. Das kann sie zutiefst verunsichern – und auch ganz still werden lassen und neu im Leben verankern. Die Erfahrung transformiert sie. Damit gehen sie weiter als die, die sie geworden sind.

Franziska Maurer, Hebamme MSc, Therapeutin, Dozentin, ist in eigener Praxis in Bern (Schweiz) und international als freiberufliche Dozentin und Ausbildnerin tätig. Ihre Schwerpunkte sind Beratung rund um Pränataldiagnostik und Elternschaft, Begleitung durch Krisen und bei Verlusterfahrungen. Zudem coacht sie Fachpersonen im Gesundheitswesen, die Menschen in existenziellen Lebensphasen begleiten. Kontakt: [email protected] Website: www.franziskamaurer.ch Literatur Gruen, A. (2013). Dem Leben entfremdet. Warum wir wieder lernen müssen zu empfinden. Stuttgart. Hüther, G. (2020). Wege aus der Angst. Über die Kunst, mit der Unvorhersehbarkeit des Lebens umzugehen. Göttingen. Maio, G. (2013). Abschied von der freudigen Erwartung. Werdende Eltern unter dem wachsenden Druck der vorgeburtlichen Diagnostik. Waltrop und Leipzig. Maurer, F. (2017). Fehlgeburt. Die Physiologie kennen, professionell handeln. Hannover. Rothschild, B. (2002). Der Körper erinnert sich. Die Psychophysiologie des Traumas und der Traumabehandlung. Essen.

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Das Ende der Pandemie und unsere Todesängste Andreas Heller Wir erleben seit dem Frühjahr 2020 ein globales Laboratorium, auch zu den Themen Bewahren und Verändern. Was wir in der Coronapandemie hören und sehen, können wir in der Komplexität nur langsam begreifen. Wir sind Zeitzeug*innen, wie das Spannungsfeld von Bewahren und Verändern unter Coronabedingungen prozessiert wird. Für ein Fazit ist es zu früh. Für zwischen­ bilanzierende Blicke vielleicht nicht. Während die eine Fraktion behauptet, nichts wird mehr nachher so sein wie vorher, also: Veränderung total, betont das andere Lager: Wir werden wieder zur Normalität zurückkehren und bewahren können, was sich bewährt hat.

Rede und Praxis von Rückkoppelungen, etwa ob die Anordnungen der Exekutive die Rechte der Parlamente relativierten. Kaum transparente Kommunikation im Sinne abwägender, partizipativer Entscheidungsprozesse. Wenig Ambivalenzen bezogen etwa auf das schwer errungene und deklarierte Grundrecht, auf der Basis der ersten Menschenrechtserklärung aus dem Jahre 1776, der Virginia Declaration of Rights. Dort hieß es: »Alle Menschen sind von Natur aus gleichermaßen frei und unabhängig und besitzen gewisse angeborene Rechte.«

Gesellschaftliche Veränderung durch radikale Trivialisierung

Hinter all diesen »Veränderungen« steht möglicherweise die Angst vor dem Tod, im Gewand

Mit Verordnungen und Regeln wurden in kürzester Zeit radikale Veränderungen des kollektiven und individuellen Lebens durchgesetzt, manche unter Strafandrohung, andere mit sanft werbenden Appellen an die individuelle Einsichtsfähigkeit. Der soziale Radius unseres Lebens wurde enger. Die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung stimmt den wochenlang verfügten Restriktionen zu. Die Welt, die Interaktionen und sozialen Beziehungen, der Lebensalltag und das gesellschaftsöffentliche Leben, Handel und Wirtschaft, Kultur und Privatleben werden mit trivial anmutenden Regeln umgebaut, in einem Ausmaß, wie man es nicht für möglich gehalten hätte. Dieses Politikmuster ist technokratisch und maschinenförmig. Gesellschaft wird wie eine Maschine gesehen. Steuerungsprozesse werden linear vollzogen. Was in modernen Veränderungstheorien vorgesehen ist, fällt weitgehend aus. Keine

Veränderung aus Angst vor dem Tod

D a s E n d e d e r Pa n d e m i e u n d u n s e r e To d e s ä n g s t e    4 7

Schäferle / Pixabay

des Ansteckungstodes. Dieses mächtige Gefühl wird auch für Veränderungsprozesse in komplexen Organisationen als elementar gesehen. Der renommierte amerikanische Organisationsforscher Edgar Schein formulierte lapidar schon vor Jahren: »Organisationen ändern sich erst, wenn die Angst vor dem Untergang größer ist als die Angst vor der Veränderung.« Die Angst vor dem »Infektionstod« ist veränderungsleitend. Das dominante politische Reaktionsmuster ist nicht sonderlich originell. Es ist ein um die Virologie erweitertes altes medizinisches Kampfmuster nach dem Motto: Wir werden den Feind – in diesem Fall das Virus – und den potenziell innewohnenden Tod irgendwann besiegen. Dem Virus wird daher der Kampf, ja der Krieg angesagt. Das Virus reaktiviert alte, in Seuchenzeiten immer wieder praktizierte Muster im Umgang mit dem drohenden Tod: Kampf, Krieg, Ausrottung, Isolation, Ausgrenzung. Um jeden Preis, koste es, was es wolle. Nun kann man zugestehen, dass in Krisenzeiten oder auch in »Kriegszeiten« quasimilitärische Denkfiguren im Kommandostil eine gewisse An-

schlussfähigkeit haben. Das klingt ganz vertraut nach heroischem Managementjargon, dem bewunderten »starken Mann«, der – besonders in illiberalen Demokratien – durchgreift, der harte Entscheidungen trifft und sich in die hoffnungssuggerierende Pose setzt: Wir kriegen die Dinge schon wieder in den Griff! Wir werden uns die Kontrolle über die Lage zurückerobern, »zurückimpfen«, indem wir durchimpfen. Schon die alten Märchen der Brüder Grimm wussten allerdings ganz fundamental: Gegen den Tod ist kein Kraut gewachsen! Die medizin-politische Ideologie, den Tod zu besiegen Was wir erleben, ist die Reaktivierung einer kollektiven Mentalität, den Tod meinen besiegen zu können. Es wundert wenig, dass die Politik nicht über den Tod spricht, eigentlich »tödlich verschwiegen« und »todesstumm« ist. Als wenn man den Tod verstecken wollte in Säulendiagrammen, hinter Verlaufskurven, völlig anonymisiert in statistischen Zahlen, mathematisiert. Tode ohne Gesichter, ohne Schicksale, ohne Lebensgeschichten. Der Tod als Algorithmus. Diesen Nicht-Umgang mit dem Tod, dieses Umschweigen des Todes kann man aus der Perspektive von Palliative Care und Hospizarbeit durchaus als tiefe Enttäuschung begreifen. Nicht wenige haben sich buchstäblich getäuscht in der Annahme, wir wären in den letzten vier Jahrzehnten gesellschaftlich in der Thematisierung des Todes und im Umgang mit dem Tod woanders angekommen, die gesellschaftlich-kollektive Bewusstseinslage hätte sich verändert. Denn die in den 1980er Jahren entstehende soziale Bürgerbewegung, die Hospizbewegung, das Aufkommen und Etablieren von Palliative Care und Palliativmedizin hatten doch einen anderen Umgang mit dem Tod ermöglicht und öffentlich verbreitet. Damals hieß Sterben in Badezimmern, in Abstellräumen, in gekachelten Räumen zu ster-

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ben: Sterben war eine Niederlage des Systems, ein »Betriebsunfall im Krankenhaus« (Herbert ­Kappauf), peinlich, am besten zu vermeiden gewesen und ein Totalversagen der an Leben und maximaler Lebensverlängerung orientierten Medizin. Man bekämpfte den Tod mit »Todesverachtung« und war diffus von der menschheitsalten Sehnsucht belebt, den Tod besiegen zu können, bestätigt durch grandiose Erfolge in der Intensiv- und Transplantationsmedizin, deren Erfolgsgeschichte in den 1970er Jahren Fahrt aufnahm. Onkologen sahen die Fortschritte in der Krebsforschung und prognostizierten, im Jahr 2000 werde niemand mehr an Krebs sterben. Veränderung durch einen Friedensschluss mit dem Tod Dann aber haben Hospizarbeit und Palliative Care eine gesellschaftliche Thematisierungsleistung erbracht, die breite politische Anerkennung und Wertschätzung erfuhr, bis heute. Sterben, Tod und Trauer wurden auf die Agenda der gesellschaftlichen Auseinandersetzung gesetzt. Rahmenvereinbarungen und Gesetzesänderungen schufen einen stabilen Kontext guter Versorgung im Sozial- und Gesundheitssystem. Historisch war es alles andere als selbstverständlich, über das Sterben und letztlich mit den Sterbenden zu sprechen. Aber es wurde als Ausdruck einer größeren Humanität, eines sozialen Respekts vor den Lebenssituationen von vulnerablen Bürger*innen gesehen, das Sterben nicht zu ignorieren. Die tiefgreifenden Veränderungen im Umgang mit dem Sterben und den Sterben-

m.schröer

Freundschaft kann ein solcher Raum des Gesprächs sein. Freundschaftliche Sorge ist das existenzielle, offene, präsente Gespräch. Freundschaft entsteht durch die Haltung des Zuhörens.

den vollzogen sich ja erst in den 1970er und dann rasant in den 1980er Jahren. In den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg konnte kaum oder gar nicht über Sterben und Tod gesprochen werden (vgl. Heller 2015). Die traumatischen Erfahrungen des deutschösterreichischen Nationalsozialismus, Millionen von Toten und Ermordeten an den Fronten, in der Zivilbevölkerung, die ideologisch motivierte systematische, fabrikmäßige Ermordung der jüdischen Bevölkerung in Deutschland, Österreich, in Europa hatten tiefe Spuren im kollektiven Bewusstsein hinterlassen. Auch die nationalsozialistische »Euthanasiepraxis«, der über 200.000 Menschen, die anders waren, zum Opfer fielen und die in der verächtlichen Doktrin des Faschismus als »Ballastexistenzen« und »lebensunwertes Leben« ermordet wurden, hat sich tief ins Bewusstsein eingefräst. Zwischen 1939 und 1945 wurden Menschen ermordet, weil sie krank, beeinträchtigt, behindert waren, als erblich vorbelastet oder einfach als »verrückt« galten. Scham- und Schuldgefühle belasten Eltern und Familienangehörige, die sich vielleicht von einer Last befreit fühlten und dieses Kapitel der Familiengeschichte einfach zuzuschlagen versuchten. Individuell wie kollektiv wurden »entlastende Legitimationen« bemüht, die bis heute eine bedrängende Aktualität haben: Erlösungstod, Gnadentod, Lebensunterbrechung, Sterbehilfe, Euthanasie (Aly 2013). Es hat Jahrzehnte gedauert, bis in Deutschland und Österreich Sterben und Tod gesellschaftsöffentlich thematisiert werden konnten. Als man wieder über das Sterben, den Tod sprach, war das nur über die Wahrnehmung und Thematisierung

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D a s E n d e d e r Pa n d e m i e u n d u n s e r e To d e s ä n g s t e    4 9

der eigenen Gefühle, der Gefühle von Schuld und Scham, von Angst, Entsetzen, Erschrecken und Mitleid möglich. Es brauchte individuelle und kollektive Selbstreflexion, eine empathische, existenzielle und politische Auseinandersetzung mit der jüngsten individuellen Geschichte, den Erfahrungen der Menschen und der kollektiven Geschichte. Dieser Prozess dauerte Jahre, ja Jahrzehnte. Ein veränderter Umgang mit Sterben und Tod war die Folge. In einem tiefen Sinn stehen ja Hospizarbeit (»Hospeace«) und Palliative Care (als schützende, lindernde und widerständige Sorge) dafür, Frieden mit dem Tod zu schließen, zu pazifizieren (lat. pax: Frieden, facere: machen, tun), dadurch, dass Gefühle denkbar werden und Gedanken fühlbar.

tenzielle, offene, präsente Gespräch. Freundschaft entsteht durch die Haltung des Zuhörens, die es dem Freund, der Freundin überhaupt erst ermöglicht zu sprechen, sich selbst, die tiefen Gefühle, das ambivalente Leben in all seinen Schattierungen und Lichtwürfen zur Sprache zu bringen. Das freundschaftliche Gespräch verändert, indem wir uns ohne Scham, buchstäblich unverschämt sehen lassen können, in allem, bis in die Angst vor dem Tod, und uns darin angenommen und verstanden fühlen. Nichts verändert mehr, als den Raum solcher Freundinnenschaft zu betreten und die Freundin als Raum zu erleben, die eine Ahnung von dem vermittelt.

Der Tod als Freund?!

Das deutsche Wort »bewahren« hat einen Doppelklang, im Sinne von erhalten (die Freundschaft, das Andenken bewahren) und überliefern einerseits und andererseits in der Bedeutung von vor Gefahren schützen (»bewahre uns vor dem Bösen«) und zu verteidigen. Was wir erhalten respektive bewahren können, ist das offene, wesentliche, freundschaftliche Gespräch, es kann uns davor schützen, in Angst und bewusstlosen kriegerischen Habitus zu verfallen, und dazu verhelfen, eine gelassenere Lebensweise zu entfalten, auch unter Coronabedingungen.

Die Ahnung, die in diesem Prozess aufkommt, ist die menschheitsalte Einsicht. »Wir sind immerzu in dieser inneren Verwobenheit mit dem Sterben. Deshalb können wir dem Tod wie einem Freund entgegengehen, nicht wie einem Feind. Es präsentiert sich dir immer mal wieder jemand in deinem Leben, der keine Angst vor dem Tod hat, der den Tod als Freund erkennt, als einen guten Freund, einen wichtigen Begleiter. Ich denke, wir lernen in unserer Gesellschaft, den Tod als Feind zu sehen, vor dem wir Angst haben. Um den Tod als Freund zu sehen, müssen wir die Natur unseres Geistes erkennen, die Wahrheit der Unbeständigkeit, den Wert der Meditation« (Halifax in Lüchinger 2020, S. 90). Vielleicht verändern sich Menschen tiefgreifend nur durch ihre Gefühle, durch die Möglichkeit, sich selbst zu offenbaren im Raum eines wärmend-verstehenden Zuhörens und Sprechens, eines fundamentalen Angenommenseins, das letztlich auch über die empirische Erfahrung solcher raumgebenden Freundschaftlichkeit hinaus verweist. Freundschaft kann ein solcher Raum des Gesprächs sein. Freundschaftliche Sorge ist das exis-

Bewahren und verändern?

Dr. Andreas Heller ist Professor für Palliative Care und Organisationsethik an der Universität Graz. Kontakt: [email protected]

Literatur Aly, G. (2013). Die Belasteten. »Euthanasie« 1939–1945. Eine Gesellschaftsgeschichte. Frankfurt a. M. Gronemeyer, R.; Heller, A. (2021). Assistierter Suizid  – In welcher Gesellschaft wollen wir leben? Ostfildern. Heller, A.; Pleschberge, S.; Fink, M., Gronemeyer, R. (2015). Die Geschichte der Hospizbewegung in Deutschland. 2. Auflage. Esslingen. Lüchinger, T. (Hrsg.) (2020). DA SEIN. Ein Buch mit Gesprächen über die fürsorgliche Begleitung von Menschen in der letzten Lebensphase. Palliative Ostschweiz.

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Diagnose Krebs – Zerbruch und Neubeginn Sabine Zwierlein-Rockenfeller Zäsur des bisherigen Lebens Die Diagnose Krebs schneidet tief in das Leben eines betroffenen Menschen ein. Betroffene beschreiben ein eruptives Geschehen, »ein Raus aus dem Dornröschenschlaf« des Gewohnten. Sie finden sich plötzlich in einer Realität wieder, die sie noch nicht (be-)greifen, die viele Fragen aufwirft und durch die vieles in Frage gestellt wird. Ich sitze Frau B. gegenüber, die mir gerade erzählt, dass sie sich seit Januar aus ihrem alten Leben herauskatapultiert fühlt. Mit ihrer Krebserkrankung vor mittlerweile zehn Monaten, so sagt sie, habe sich alles verändert. Warum verwundert mich das jetzt nicht?, denke ich. Die Beschreibung einer erlebten Zäsur höre ich sehr oft. Die Zäsur ist mit der Diagnosestellung gesetzt: ungefragt, ungewollt, und vor allem unwiderruflich ist sie ins Leben getreten. Sie führt an Krebs erkrankte Menschen in eine Wirklichkeit hinein, die große Umwälzungen seelischer und lebenspraktischer Art mit sich bringt. Der gewohnte Alltag ist nicht mehr all-täglich. Die üblichen Routinen existieren nicht mehr und Selbstverständliches ist nicht mehr selbst-verständlich. Auch als Person sind wir uns oft nicht mehr selbst verständlich. Weil wir zum Beispiel nach einer Operation körperlich nicht mehr heil sind. Weil wir die gewohnten Alltagsdinge nicht mehr so leicht oder gar nicht mehr meistern können aufgrund einer kräftefordernden Behandlung oder durch die Fatigue, das Erschöpfungssyndrom, das sich nach Therapieende eingestellt hat. Weil möglicherweise unser gewohntes berufliches und soziales Umfeld nicht mehr unser alltägliches Umfeld ist. Weil unsere Arbeit nicht mehr unsere Arbeit ist, da wir

diese für eine gewisse Zeit oder für immer nicht mehr ausüben können. Weil Trennung passiert von Lebenspartnern und Freunden, da das Belastende der Erkrankung auch in die Beziehungen einfließt. Und zu guter Letzt und mit einem großen Gewicht, weil das Selbstverständliche, von dem wir alle unbewusst ausgehen, nämlich unse-

Caspar David Friedrich, Weidengebüsch bei tiefstehender Sonne, 1835 / akg-images

re Unsterblichkeitsillusion, wie Sigmund Freud es nennt, zerplatzt ist. Leichtigkeit und Unbeschwertheit haben sich mit all diesem verflüchtigt. Wenn mir Menschen mit einer Krebserkrankung im Rahmen meiner psychoonkologischen und lebensberaterischen Begleitung erzählen, wie viel sich für sie auf dramatische Weise verändert

hat, dann setze ich genau hier an: an den Veränderungen, die erlebt werden. Die Veränderungen und die durch sie ausgelösten Gefühle werden gesehen, dürfen ausgesprochen und zum Thema gemacht werden. Wir begeben uns gemeinsam auf eine Lebens- und Lernreise, die bei der erlebten Zäsur und dem damit oftmals verbundenen Ver-

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5 2   S a b i n e Z w i e r l e i n - R o c k e n f e l l e r

lust an Verstehbarkeit, Handhabbarkeit und Sinnhaftigheit beginnt. Das Salutogenese-Konzept von Aaron Antonovsky weist diese Faktoren als gesundheitsprotektiv aus. Umgekehrt leidet bei abhandengekommener Verstehbarkeit, Handhabbarkeit und Sinn die Gesundheit darunter. Von diesem Startpunkt aus kann ein Neubeginn in ein zwar verändertes, aber dennoch »gesundes«1, lebenswertes Leben gesucht werden, auch wenn die Erkrankung fortschreitet oder die Erkrankte mit ihr weiterlebt oder wenn sie im wünschenswertesten aller Fälle von ihr geheilt wird. Krise und Chance

KRIACHKO OLEKSII / Shutterstock.com

Der Fokus meiner Begleitung liegt auf der Chance, die in der Krise einer lebensbedrohlichen Er-

krankung liegt. Das chinesische Zeichen Weiji vereint die doppelte Struktur der Krise. Sie ist Krise und Chance zugleich. Die Chance zu (er-) greifen heißt, den Modus des reinen Überlebenwollens, der zu Anfang einer solchen Erkrankung dominant sein kann, zu verlassen, (wieder) in die Buntheit des Lebens einzutauchen und das Leben zu vertiefen. Der existenzielle (Ein-)Schnitt kann so zum Sprungbrett ins Leben selbst werden. Also frage ich nach: »Was genau ist denn nun anders?«, »Was ist geblieben aus dem Vorher?«, »Was aus dem, was geblieben ist, ist gut bzw. was ist schlecht für Sie?«, »Was soll jetzt noch anders werden, dass das Leben mit und nach Krebs für Sie gelingen kann?«, »Was möchten Sie mit Ihrem Leben jetzt anfangen?«, »Was macht Sinn und was hat Wert für Sie jetzt?«, »Was bedeutet der Tod für

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D i a g n o s e K r e b s   – Z e r b r u c h u n d N e u b e g i n n    5 3

Sie?«. Diese und andere Fragen werden natürlich nicht hintereinander gestellt. Ich weiß, dass die Fragen es in sich haben und dass es für die Fragen den richtigen Kairos, also den richtigen Augenblick braucht, um sie zu stellen. Dann nämlich, wenn eine Tür in der betroffenen Frau auf ist und die Durchlässigkeit es ihr ermöglicht, sich der Frage in der fundamentalen Lebensbedeutung zu stellen, ohne dass diese überfordert oder zu sehr ängstigt. Leugnen, weglaufen, in Aktionismus verfallen und Ablenkung suchen dürfen auch sein. Jede hat auch ein Recht, nicht hinsehen zu wollen. Dies gehört zu einer guten Begleitung. Dass Betroffene nicht hinsehen wollen oder zunächst nicht können, äußern sie oft zu Beginn der begleitenden Gespräche: »Wenn ich erst einmal die Behandlungen hinter mir habe, dann ist

Es braucht Zeit, um eines fernen Tages, wie Rilke es sagt, in die Antworten auf die vielen Fragen, die sich einstellen, hineinzu­ wachsen. Als Lohn dieser geduldig getanen Arbeit warten Entwicklung und Entfaltung des Lebens.

das ›Ganze‹ für mich abgeschlossen.« Ich spüre dann den verständlichen Wunsch, dass es doch so werden soll wie vorher. Wer auf diese Weise zurückschaut und zurückwill, dem ergeht es wie Lots Frau: Diejenige kommt nicht weiter, erstarrt zur Salzsäule. Sicher muss auch zurückgeschaut werden, denn das Alte bleibt immer da, das Gute und das Schreckliche vergangener Zeiten. Es muss mit diesem Alten im Zurückschauen gut, gerecht und wahrhaftig umgegangen werden. Dann kann auf diesem Boden etwas Neues Wurzeln schlagen. Regression, die unmögliche Flucht des Ausweichens in das Vorherige, das nicht mehr ist, ist der erfolglose Umgang mit dem Alten, der das Neue verhindert. Im »Leben der Fragen«, wie uns Rilke (1929) in seinem Brief an den jungen Dichter empfiehlt, kann an das Alte angeknüpft und geschaut werden: »Was will ich in das Neue mitnehmen?« In der aktiven Auseinandersetzung mit den Fragen verlässt die erkrankte Frau auch die erlebte Hilflosigkeit, bleibt nicht Opfer der Zäsur, sondern wird darüber (wieder) zur Gestalterin ihres Lebens. Sie bringt sich aktiv ein, hilft sich selbst und baut sich Geländer und Trittsteine auf ihrem Weg durch und mit der Erkrankung. Das »Leben der Fragen« bedeutet zunächst Mühe und Arbeit. Die Antworten auf die Fragen, die »gelebt werden wollen«, als stelle das Leben gerade jetzt aufs Heftigste seine existenziellen Ansprüche an uns, stehen meist nicht in direkter Klarheit in ihrer Tiefgründigkeit zu unserer Verfügung, geht es darin doch auch um das Einholen einer »neuen Identität« als an Krebs erkrankter Mensch. Von Krebs betroffene Menschen schildern häufig, dass sie sich mit sich selbst nicht mehr auskennen, sich selbst nicht mehr verstehen. Der allgemeinen Aufforderung nach dem »Erkenne dich selbst«,2 die im antiken Tempel des Apoll zu Delphi zu lesen war, macht eine aus der erlebten Zäsur heraus spezifischere Frage mit großem Gewicht Platz: »Wer bin ich jetzt, nachdem ich an Krebs erkrankt bin?« Es braucht Zeit, um eines fernen Tages, wie Rilke es sagt, in die Antworten auf die vielen Fragen,

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die sich einstellen, hineinzuwachsen. Als Lohn dieser geduldig getanen Arbeit warten Entwicklung und Entfaltung des Lebens. So berichten Menschen, die schon länger mit ihrer Erkrankung zu leben gelernt haben und die an nicht allzu starken körperlichen Symptomen leiden müssen, von einer höheren Lebensintensität mit allen Höhen und Tiefen, die das Leben mit sich bringt. Der Weg der weiterführenden Fragen in der Begleitung Die Tatsache, dass der Mensch generell ein FrageSein ist,3 das gar nicht anders kann, als in und mit Fragen unterwegs zu sein, rechtfertigt es, mit Fragen in der Begleitung anzuheben und damit im Laufe der Begleitung weiterzugehen. Den Königsweg der Fragen lehrt uns bereits Sokrates in seiner »Hebammenkunst«. Gute Fragen, so zeigt er, sind Geburtshelferinnen, um lebensstarke Antworten zur Welt zu bringen. Als Begleiterin fordert mich dies auf, fragend zu begleiten. »Was du fragen kannst, sage nicht« ist mir zu einem wichtigen Motto der Begleitung geworden. Denn wir sind allzu schnell in der Gefahr, Ratschläge zu geben und voreilig für den anderen zu antworten. Aber »an den Scheidewegen des Lebens stehen keine Wegweiser« (Charlie Chaplin). Den neuen Weg, der so individuell ist, wie die Menschen individuell sind, muss sich jede Einzelne selbst bahnen, in dem sie durch ihre Fragen hindurchgeht. Als Begleiter*innen können wir Menschen weiterführende Fragen zur Verfügung stellen. Es sind hier vor allem W-Fragen zu nennen. W-Fragen sind Fragen, die mit einem »W« anfangen und nicht mit einem einfachen Ja oder Nein zu beantworten sind. W-Fragen lassen Spielräume entstehen, um so neuen Gedankenexperimenten Raum zu geben und neue Perspektiven und neue (Ein-)Sichten zu ermöglichen. W-Fragen wie »Wie könnte eine andere Sichtweise auf das Jetzt aussehen?«, »Wo oder wodurch kannst du aktiv etwas tun für dich?«, »Welche neuen ›Kontinente‹ wollen Sie jetzt angesichts der Diagnose

Krebs (noch) für sich erobern?«, »Wie könnte es dir (jetzt) gelingen, an deine Stärken anzuknüpfen?«, »Welche Fähigkeiten, die du bereits entwickelt hast, bleiben durch die Erkrankung unberührt und können dir jetzt helfen?«, »Was kann dir die Erkrankung nicht nehmen?«, »Wie ist es dir in früheren Krisen gelungen, diese zu meistern?«. Gerade die letzten vier Fragen unterstützen an Krebs erkrankte Menschen dabei, das Gute, das trotz der Erkrankung (noch) da ist, zu bewah­ ren und mitzunehmen. Durch derartige ressourcenorientierte Fragen helfen wir, die »Ernte, die bereits im Leben vor der Diagnose eingefahren wurde«, »Früchte, die bisher eingesammelt wurden«, mit der Betroffenen zu suchen, um diese für die Neugestaltung eines Lebens mit und nach Krebs zu nutzen. Dr. Sabine Zwierlein-Rockenfeller, Diplom-Pädagogin, Studium der Pädagogik, Philosophie, Psychologie, Soziologie, Politik, Focusing-Beraterin/Coach (FZR), psychoonkologische Beratungsund Betreuungstätigkeit für krebskranke Menschen und ihre Angehörigen, Ausbildungs- und Referententätigkeit in den Bereichen Sterben, Tod, Trauer, Spiritualität und Kommunikation, Consultant in einer Unternehmensberatung mit Schwerpunkt im Gesundheitswesen. Kontakt: [email protected] Literatur Rilke, R. M. (1929). Briefe an einen jungen Dichter (1903– 1908). Leipzig. Zwierlein, E. (2013). Magna Quaestio. Der Mensch als große Frage. Berlin. Anmerkungen 1 Siehe die WHO-Definition von Gesundheit, die nicht allein an körperlicher Gesundheit festgemacht wird. 2 Eine neue Bearbeitung der Frage nach dem »Erkenne dich selbst« ist zu finden in E. Zwierlein, Erkenne dich selbst! (Freiburg/München 2020). Zum allgemeinen Weg des Selbstverstehens siehe S. Zwierlein-Rockenfeller, Sich selbst verstehen. Untersuchungen zu einer möglichen Erkenntnistheorie der Innenwelt bei Paul Ludwig Landsberg (Münster 2020). 3 Zur umfassenden Darlegung des Frage-Seins als unhintergehbare Dimension des Menschseins siehe Zwierlein (2013).

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Querschnittlähmung: Unterbrechen, Zerbrechen und Neubeginn Walter Ditscheid Die Querschnittlähmung, eine traumatische oder krankheitsbedingte Schädigung des Rückenmarks, ist eine der schwerwiegendsten Behinderungen, die einen Menschen treffen kann. Für den Betroffenen und die Angehörigen verändert sich das Leben schlagartig und entscheidend. Im Wesentlichen verursacht durch die schweren körperlichen Einschränkungen, die dadurch bedingte erhebliche Immobilität und gleichzeitig durch eine teilweise schwerste Hilflosigkeit, die zur sozialen Ausgrenzung führen kann. Die persönliche Verzweiflung führt vor allem bei jüngeren Menschen nicht selten zum Bruch der Lebensgemeinschaft und auch häufig zu schweren finanziellen Nöten. Die Patienten und auch die Angehörigen sind extremen physischen, psychischen und sozialen Belastungen ausgesetzt. Man stelle sich einen vierzigjährigen verheirateten Familienvater mit zwei Kindern im Alter von zehn und zwölf Jahren vor, der gerade ein kleines Einfamilienhaus gebaut hat, in seiner Freizeit von einer Leiter stürzte und sich einen Wirbelkörperbruch mit nachfolgender Querschnittlähmung zuzieht. Von Beruf ist er Maurer und kann sein Haus vor allem durch eingeplante Überstunden finanzieren. Die Kinder dürfen zum Reiten und zum Musikunterricht. Nach sechs Wochen fällt die Lohnfortzahlung weg und der Familienvater erhält nur noch sein Krankengeld. Das Überstundengeld fällt ganz weg. Die sozialen Probleme sind vorgegeben. Sein bisheriges Leben ist unterbrochen und zerbrochen. Ein Neubeginn zu diesem Zeitpunkt schwer vorstellbar. Es ist wichtig zu wissen, dass Querschnittlähmung weit mehr bedeutet als die sichtbare Lähmung der Beine und auch Arme (wenn eine Hals-

markverletzung vorliegt) und gerade so eben mit einem Rollstuhl ausgeglichen werden kann. Meist liegt auch Gefühllosigkeit vor, verbunden mit dem Verlust des Lageempfindens im gelähmten Bereich. Der Patient weiß nicht, wo seine Beine sind: Stehen sie noch auf der Fußraste des Rollstuhls? Sind sie heruntergerutscht, kann sich der Betreffende unbemerkt beim Fahren das Sprunggelenk brechen. Neben den motorischen Störungen kommt es immer auch zu einer Schädigung des autonomen (unfreiwilligen) Nervensystems, das für die Steuerung der inneren Organe unter anderem auch für die Blasen- und Darmtätigkeit verantwortlich ist. In der Folge leiden die betroffenen Menschen an einer Blasen- und Darmlähmung mit unkontrolliertem und unbemerktem Urin- und Stuhlabgang. Hierunter leiden Patient auf besondere Weise. Des Weitern kommt es oft zu einer Vielzahl anderer, teilweise sehr quälender Beeinträchtigungen wie störende Spastik, chronische Schmerzsyndrome, fieberhafte Harnwegsinfektionen und im Verlauf nicht selten zum Dekubitus (Wundliegen), zu Nierenversagen, Lungenproblemen sowie zu zusätzlichen orthopädischen Leiden wie Schulterschmerzen, Wirbelsäulenverkrümmungen, Kontrakturen der großen Gelenke. Die Querschnittlähmung ist also geprägt durch eine Vielzahl körperlicher Beeinträchtigungen, mit denen der Mensch leben muss. Neben diesen körperlichen Leiden sind natürlich auch schwere seelische Beeinträchtigungen vorstellbar, wie Zukunftsängste, finanzielle Nöte, Zugehörigkeitsverluste, Identitätsprobleme, Sexualitätsunsicherheiten. Dennoch bestehen bei den meisten Menschen nach einem schweren seeli-

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schen Tief ein ausgesprochener Lebenswille und der Mut zu einer Lebensgestaltung mit der Behinderung. Dies zeigt auch die Suizidrate, die bei querschnittgelähmten Menschen nicht höher ist als in der Bevölkerung. Dies war nicht immer so. Die Prognose der traumatischen Querschnittlähmung war vor 1944 weitgehend infaust. Tetraplegiker (Halsmarkverletzte) überlebten nie, Paraplegiker (Brust- und Lendenmarkverletzte) nur zu 5 Prozent die FünfJahres-Grenze. Während des Ersten und Zweiten Weltkriegs erfolgten wichtige Entwicklungen in der Neurologie und der Blasenbehandlung sowie der Behandlung und Rehabilitation von Behinderungen bei Patienten mit Schädelhirntraumata, Poliomyelitis, Amputationen und Skelett-Tuberkulosen. Diese Fortschritte fanden jedoch keine Anwendung bei Rückenmarksverletzten. Es bestand eine pessimistische Grundhaltung. Die Komplikationen waren zu schwerwiegend, die Patienten wurden sediert und durften sterben. Die Wende in der Behandlung wurde durch Sir Ludwig Guttmann eingeleitet. Ihm ist es zu verdanken, das Querschnittgelähmte heute ein lebenswertes und überwiegend selbstbestimmtes Leben führen können und eine statistisch fast normale Lebenserwartung haben. Ludwig Guttmann wurde am 3. Juli 1899 in Oberschlesien geboren. Ab 1918 studierte er Medizin in Breslau, Freiburg und Würzburg. 1924 wurde er approbiert. Als Assistenzarzt arbeitete er in der Neurologischen Klinik in Breslau. 1930 promovierte er und wurde 1933 Facharzt für Neurologie. Noch im gleichen Jahr wurde er Chefarzt in einem Breslauer Krankenhaus, jedoch im Rahmen der Judenverfolgung mit einem Berufsverbot belegt. Sein wissenschaftlicher Lehrer, Otfried Förster, einer der renommiertesten Neurologen und Neurochirurgen der damaligen Zeit, stellte ihn als Oberarzt in seiner Klinik ein. Hier beschäftigte sich Guttmann auch mit grundlegenden Fragen der Querschnittlähmung. 1939, als Förster seinen Schüler Guttmann nicht mehr schützen konnte, floh dieser mit seiner Fami-

lie nach England und arbeitete zunächst in der Neurochirurgie in Nuffield. Wegen seiner Kenntnisse über Rückenmarksschädigung erteilte die britische Regierung ihm 1943 den Auftrag, das erste Spezialzentrum für Rückenmarksverletzte aufzubauen. Die Bestrebungen hierzu gingen vom Militär aus, um die Behandlung von wirbelsäulenverletzten Soldaten zu gewährleisten. So wurde am 1.2.1944 das National Spinal Injuries Centre in Stoke Mandeville Hospital in Aylesbury als weltweit erstes Querschnittgelähmten-Zentrum eröffnet. Eine wesentliche Leistung von Guttmann lag in der Schaffung eines multiprofessionellen

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Hermine Overbeck-Rohte, Sonnenbeschienener Weg, Worpswede, 1898 / akg-images

Q u e r s c h n i t t l ä h m u n g : U n t e r b r e c h e n , Z e r b r e c h e n u n d N e u b e g i n n    5 7

Teams im Sinne einer umfassenden Behandlung – der comprehensive care. 1. Die medizinische Leitung unterliegt einem erfahrenen Arzt, der die verschiedenen Professionen, die zur Behandlung von querschnittgelähmten Menschen notwendig sind, koordiniert. 2. Pflegekräfte, Physiotherapeuten, Ergotherapeuten sollen sich voll auf diese Patienten konzentrieren und nicht ständig auf andere Abteilungen wechseln müssen. 3. Es soll ausreichende technische Ausstattung

für die physische und soziale Rehabilitation vorhanden sein. 4. Das Ziel des Rehabilitationsprozesses soll eine soziale, häusliche und berufliche Wiedereingliederung sein. 5. Es soll eine ausreichende Nachsorge gewährleistet sein, um die durch Pflege, Physiotherapeuten, Ergotherapeuten (wieder) erreichten Funktionen und Fähigkeiten zu erhalten. Die Behandlungsprinzipien von Ludwig Guttmann beruhen im Wesentlichen auf folgenden Punkten:

N e u b e g i n n ! ? B e w a h r e n u n d Ve r ä n d e r n

5 8   Wa l t e r D i t s c h e i d

1. Lagerungstechnik (spezielle Betten, die eine Bewegung der Wirbelsäule verhindern, aber die Körperhygiene zulassen, zum Beispiel Drehbetten) zur geschlossenen Einrichtung der Wirbelsäulenverletzung und zur Vermeidung von Liegegeschwüren. 2. Das Management der gelähmten Blase und des Darms. 3. Die krankengymnastische Behandlung rund um die Uhr zur Unterstützung der Atemfunktion, zur Vermeidung von Kontrakturen und zum Erhalt sowie zur Kräftigung von motorischen Restfunktionen. 4. Die Thromboseprophylaxe. Das Ansinnen von Ludwig Gutmann war nach Beherrschen der medizinischen Probleme, den Menschen ein lebenswertes und selbstbestimmtes Leben – einen Neubeginn – zu ermöglichen. Einer der wichtigsten Erkenntnisse war, dass der behinderte Mensch wieder (s)ein Selbstwertgefühl erhält, sich integriert fühlt und für die Gesellschaft nützlich ist. Ludwig Guttmann drückte dies so aus, als er zu den Eltern eines jungen Querschnittgelähmten sagte: »Ich mache Ihren Sohn zu einem guten Steuerzahler.« Nach genau diesen Prinzipien werden heute querschnittgelähmte Menschen behandelt. Nicht umsonst dauert eine stationäre Therapie heute immer noch, je nach Lähmungshöhe, im Schnitt zwischen vier und neun Monate. Neben der medizinischen Behandlung nimmt die psychologische Betreuung des Patienten und der Angehörigen einen großen Stellwert ein. Ziel der Behandlung ist, dass ein junger Querschnittgelähmter bei Entlassung in der Lage ist, sich weitgehend selbstständig zu versorgen, das heißt, der Paraplegiker sollte in der Lage sein, sich selbstständig an- und auszuziehen, die Körperhygiene zu beherrschen, den Transfer in den Rollstuhl durchzuführen und möglichst ohne wesentliche fremde Hilfe in einer behindertengerechten Wohnung zu leben. Tetraplegiker sind je nach Lähmungshöhe mehr oder weniger auf fremde Hilfe

zur Bewältigung des täglichen Lebens angewiesen. Anzustreben ist unabhängig von der Lähmungshöhe eine Wiedereingliederung in die Berufswelt. Um solche Ziele zu erreichen, ist ein gut geschultes multiprofessionelles Behandlungsteam bestehend aus Pflege, Physiotherapie, Ergotherapie, Sporttherapie, Logopädie, Sozialdienst, Psychologen, Seelsorge und Ärzten notwendig, die im Team arbeiten. Jede Profession ist gleichberechtigt und bringt konstruktive Überlegungen in die Therapie ein. Zum Erhalt der Gesundheit sind sportliche Betätigungen von besonderer Wichtigkeit. Diese helfen querschnittspezifische Komplikationen zu vermeiden. Auch das hat Ludwig Guttmann sehr wohl erkannt: Er wusste, dass der Sport auch das Selbstwertgefühl stärkt. Somit führte er 1948 die Stoke Mandeville Games ein, ein Behindertensportfest, aus dem sich später die Paralympischen Spiele entwickeln sollten. Die ersten Spiele fanden 1960 in Rom statt. Die meisten querschnittgelähmten Menschen sehen ihr Leben als lebenswert an. Viele junge Menschen leben mit Lebenspartnern zusammen, haben Kinder und versuchen ein möglichst normales Leben zu führen. Dies verlangt von den Betroffenen eine strenge Disziplin. Auch die Gesetzgebung hat viel zur Inklusion Querschnittgelähmter beigetragen – vieles gibt es noch zu verbessern. Sir Ludwig Guttmann wurde 1966 von Queen Elizabeth zum Ritter geschlagen. Für sein Lebenswerk erhielt er von der Bundesrepublik Deutschland das große Verdienstkreuz mit Stern. Sir Ludwig Guttman starb am 18. März 1980 in Aylesbury, England im Alter von 80 Jahren. Walter Ditscheid, Facharzt für Chirurgie, Unfallchirurgie, Orthopädie und spezielle Unfallchirurgie, ist leitender Arzt des Zentrums für Querschnittlähmung im Evangelischen Stift St. Martin in Koblenz am Gemeinschaftsklinikum Mittelrhein. Kontakt: [email protected] 

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Wir brauchen dich … Joachim Albrecht Am 14. Juli 1989 sollte mir auf tragische Weise bewusst werden wie schlagartig sich ein Leben von einer auf die andere Sekunde verändern kann. Mein Name ist Joachim Albrecht. Mittlerweile bin ich 51 Jahre alt. Zum Zeitpunkt des Unfalls war ich 19. Ich fuhr mit einem Motorrad auf einer Landstraße durch ein Waldgebiet. Ein schöner Tag. Einer Rechtskurve nicht folgen könnend, ging mein Weg geradeaus und wurde von einem massiven Baum gebremst. Sofort hatte ich das Gefühl, weniger Luft zu bekommen, und spürte meine Beine nicht mehr. Ich bekam mit, wie ein Mann an die Unfallstelle gekommen ist. Ich fragte ihn, wo meine Beine seien, da ich das Gefühl hatte, dass sie nicht mehr zu meinem Körper gehören. Er erwiderte mir, dass sie flach vor mir lägen. Komischerweise, und obwohl ich mit diesem Thema nie konfrontiert wurde, war mir in dieser Sekunde schlagartig klar, dass ich mir eine Querschnittlähmung zugezogen habe. Diese Erkenntnis wurde später in einer Uniklinik bestätigt. Ich brach mir den fünften und sechsten Halswirbel mit einer einhergehenden Schädigung des Rückenmarks. Diese relativ hoch ansetzende Lähmung bezeichnet man als Tetraplegie. Hierbei sind alle vier Gliedmaßen (tetra) beeinträchtigt. In meinem Fall bedeutet das nicht nur die Lähmung der unteren Gliedmaßen, sondern auch der Verlust sämtlicher Fingermotorik. Ich bin nicht in der Lage, meinen Trizeps anzuregen, sodass ich meine Arme nicht gegen die Schwerkraft ganz nach oben strecken kann. Eine wichtige Symptomatik meiner Querschnittlähmung ist zudem eine fast immer damit einhergehende Blasen- und Mastdarmlähmung. Meine Atemnot wurde durch ein Loch in der Lunge verursacht. Der Lenker

vom Motorrad riss mir eine klaffende Wunde in den Brustkorb. Eine Woche künstliches Koma mit zwei Herzstillständen, insgesamt sechs Wochen Intensivstation und anschließend achteinhalb Monate Reha kamen auf mich zu. Mein Leben hatte sich verändert. Schon als kleiner Junge war eine meiner größten Bedürfnisse, wann immer es geht, gegen einen Ball zu schlagen, zu treten, mich an der frischen Luft auszutoben, sportlich aktiv zu sein und mein unbeschwertes Leben zu genießen. Ich wuchs glücklich und zufrieden mit zwei Geschwistern auf. Aber schon ganz früh musste ich erkennen, was es bedeutet, anders zu sein, da meine Eltern von frühester Kindheit an gehörlos waren. Ich war leidenschaftlicher Fußballspieler. Und hatte die Absicht, mit einem Kumpel auf die Insel Korfu nach Griechenland auszuwandern. Nun lag ich ziemlich bewegungsunfähig in einem Krankenhausbett und dachte, dass mir so ziemlich alles genommen wurde. Nach einer erneuten sechswöchigen Leidenszeit zu Beginn meiner Reha, in der ich jeden Tag und jede Nacht weinte und dachte, dass mein Leben jetzt an mir vorüberziehen würde, nach dunklen Gedanken, wofür ich noch nützlich sein könnte, nach quälenden Gedanken, dass ich ja jetzt eine Belastung für die Familie sein könnte, kam an meinem zwanzigsten Geburtstag der Schlüssel zur Wende. Meine Mutter und meine Schwester haben mir eine Kette geschenkt mit einem Anhänger, auf dem drei für mich so wichtige Worte eingraviert waren: Wir brauchen dich! Von diesem Moment an hörte ich auf zu jammern, ich hörte auf zu weinen und nahm das Leben jetzt so an, wie es wohl für mich – eventuell – vorbestimmt war. Ich wusste, dass ich kei-

Joachim Albrecht

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ne Belastung für meine Familie bin. Sie waren froh, dass ich überlebt habe. Egal in welchem Zustand. Ich habe meinen Zustand akzeptiert. Was bedeutet, dass ich nicht aufgegeben habe. Von nun an wollte ich das Beste aus meiner Situation machen. Natürlich hat sich sehr vieles verändert. Mein Alltag, meine Pläne, meine Freunde, die teilweise nicht mit der Situation klargekommen sind. Ich habe meinen Sport verloren. Aber das Gravierendste war wohl, dass ich meine Selbstständigkeit verloren habe. Von nun an war ich auf Hilfe angewiesen. Im Laufe der Jahre lernte ich jedoch,

dass es noch zwei Dinge gibt, die für mich noch weitaus wichtiger sind, als selbstständig zu sein: Mobilität und vor allem Selbstbestimmung. Die ersten neun Jahre nach meinem Unfall lebte ich im Schoße meiner Familie, bestens versorgt in unserer Wohnung in meinem Heimatort. Dann traf ich wiederum eine Person, die mein Leben noch einmal verändern sollte. Eine Therapeutin, die mir zeigte, dass ich aus meinen Möglichkeiten viel mehr machen könnte, als ich es bis dahin tat. Sie setzte mich in einen für mich viel besser angepassten Rollstuhl, mit dem ich auch in der Lage war, allein zu fahren. Sie brachte mich zum Rollstuhl-Rugby. Eine Sportart, die mir so viel von dem zurückgegeben hat, was mir einst verloren schien. Ich wurde immer selbstständiger und selbstständiger. Durch glückliche Umstände konnte ich mit meiner damaligen Partnerin sogar ein Auto erwerben, mit dem ich in der Lage war, allein alle Orte zu erreichen, die vorher für mich unerreichbar schienen. Seit mittlerweile fast zehn Jahren arbeite ich in einer Klinik auf einer Querschnittstation und berate frisch verletzte Patienten mit einer Querschnittlähmung. Ich versuche ihnen – an meinem Beispiel – zu verdeutlichen, dass das Leben nach einem Schicksalsschlag mit solch gravierenden Folgen nicht vorbei sein muss. Sehr viel kommt es auf die eigene Einstellung und Sichtweise an. Ich versuche ihnen zu vermitteln, dass in den verschiedensten Bereichen, wie Beruf, Hobbys, Familie, Freunde, Mobilität, Reisen und Sexualität, das Leben qualitativ nicht unbedingt schlechter weiter verlaufen muss. Natürlich hilft mir dabei meine Glaubwürdigkeit als selbst Betroffener. Und wieder sind drei Worte in diesem Zusammenhang extrem wichtig. Ich kann zu jedem Patienten sagen: Ich verstehe dich! Ja, mein Körper hat sich verändert. Meine Perspektiven und meine Pläne haben sich verändert. Ganz bestimmt sind mir auch Möglichkeiten genommen worden, die ich als Fußgänger hätte erreichen können. Garantiert habe ich jedoch auch wunderschöne Erfahrungen sammeln, tolle Men-

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Joachim Albrecht

Im Laufe der Jahre lernte ich jedoch, dass es noch zwei Dinge gibt, die für mich noch weit­ aus wichtiger sind, als selbstständig zu sein: Mobilität und vor allem Selbst­ bestimmung.

schen kennenlernen dürfen. Erfahrungen, die ich ohne meine Lähmung nicht gemacht hätte. Aber haben diese ganzen Umstände mich als Menschen verändert? Ich denke, dass mein Charakter vorher und nachher der gleiche ist. Jedoch entwickelt sich jeder Mensch im Alter weiter und merkt für sich selbst, was für ihn im Leben wichtig und bedeutend ist. Zum Beispiel welche Werte elementar bedeutsam sind im Umgang mit anderen Menschen. Die Lähmung hat mich nicht zu einem besseren Menschen gemacht. Das ist völliger Unsinn. Aber vielleicht hat sie mich dazu befähigt, das Leben bewusster wahrzunehmen. Die

sprichwörtlichen Kleinigkeiten erfüllen mein Leben jetzt weitaus mehr als alle anderen materiellen Verführungen. Nach wie vor kann ich von mir behaupten ein glücklicher Mann und ein glücklicher Mensch zu sein. Diese Erkenntnis und diese Eigenschaft sind Gott sei Dank nicht am Baum liegen geblieben … Joachim Albrecht Gern kann der Autor auf seiner Facebookseite kontaktiert werden: Facebook Joachim Albrecht (Jojo).

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Der nahende Tod als Grenzerfahrung Interview mit Godehard Brüntrup Sylvia Brathuhn, Leidfaden-Herausgeberin, führte ein Interview mit Godehard Brüntrup SJ zum Thema Nahtoderfahrung (NTE). Nach Godehard Brüntrup berichten Menschen, die sich aufgrund einer medizinischen Notlage am Rande des Todes befinden, über intensive Erlebnisse, die den Rahmen des Alltäglichen sprengen: Nahtoderfahrungen. Für den Philosophen Brüntrup geht es bei der Nahtoderfahrung vor allem darum, die Inhalte der Erfahrung selbst zu würdigen und sich darüber auszutauschen zu können. Was genau wird unter einer Nahtoderfahrung ver­ standen? Was passiert neurophysiologisch? Die etwas beunruhigende Wahrheit ist zunächst, dass wir immer noch nicht genau wissen, was während der NTE auf physiologischer Basis passiert. Es ist nicht leicht, den Zeitpunkt einer NTE genau zu datieren. Aber neuere Forschungen legen nahe, dass es auch drei Minuten nach einem Herz-Kreislauf-Stillstand noch zu einer NTE kommen kann. Zu diesem Zeitpunkt ist aber die mit üblichen Mitteln messbare Aktivität des Gehirns bereits auf ein Minimum gesunken, bei dem eigentlich keine reichen Erfahrungen und Bewusstseinszustände mehr möglich sein sollten. Die NTE bringt uns in Grenzbereiche unseres naturwissenschaftlichen Verstehens. Was aber nicht fraglich ist, ist der subjektiv erlebte Inhalt einer NTE. Es handelt sich um eine bewusstseinserweiternde und persönlichkeitsverändernde Grenzerfahrung, die in Intensität und Inhalt von der Alltagserfahrung und den allermeisten Drogenerfahrungen weit entfernt ist. Die Person, die eine NTE durchlebt, erfährt zumindest subjektiv eine andere Realität, von der her ihr das bisherige Leben in all seinen Stärken

und Schwächen schonungslos offengelegt und relativiert wird. Gleichzeitig wird erfahren, welches die Werte sind, die in Zukunft das eigene Leben bestimmen sollen: die Suche nach Weisheit und die Vertiefung der Liebe. Alte Ziele wie Geld, Einfluss, Erfolg verblassen. Die Beziehungsfähigkeit, Empathie und intuitive Situationserfassung nehmen hingegen zu. Oft genug ist ein Mensch nach einer NTE dauerhaft in Persönlichkeit und Charakter signifikant verändert. Der Verlust der Angst vor dem Tod ist eine weitere dieser typischen Veränderungen. Muss die Nahtoderfahrung immer mit einer lebens­ bedrohlichen Situation zusammenhängen? Oder kann diese auch sonst gemacht werden? Nein. Obwohl eine NTE oft im Zusammenhang mit einer Reanimation oder einem schweren Unfall gemacht wird, werden sehr ähnliche Erfahrungen gelegentlich auch in Kontexten der Meditation oder sogar unvermittelt im Alltag beschrieben. Der klassische Ort ist jedoch die unmittelbare Todesnähe. Durch die moderne Intensivmedizin überleben heute Millionen von Menschen solche kritischen Situationen und können sich oft nachher an eine NTE erinnern. Was passiert in der Nahtoderfahrung? Es gibt typische Elemente wie die Gewissheit zu sterben, die fotorealistische Beobachtung des eigenen Körpers von außen, das Gefühl eines Übergangs oder eines Tunnels, einen Lebensrückblick, der detailgenau das eigene Leben noch einmal in seinen personalen Beziehungen nacherleben und verstehen lässt, das Gefühl absoluter Ruhe und geistiger Klarheit, die Begegnung mit Wesen in einer anderen Realität, das Gefühl, in

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Wie prägt sie sich beim Menschen ein? Der Lebensrückblick, bei dem man noch einmal erlebt, wo man andere Menschen geliebt hat und wo man sie verletzt hat, verändert dauerhaft die Sicht auf das eigene Leben und die Rolle von Beziehungen. Der veränderte Bewusstseinszustand macht klar, dass das normale Wachbewusstsein nur ein möglicher Bewusstseinszustand für den Menschen ist. Die geistige Kommunikation und Begegnung mit andersartigen Wesen vermitteln ein andauerndes Gefühl, dass unsere Alltagswelt nicht die ganze Wirklichkeit ist. Viele spüren,

dass sie ihr Leben radikal ändern müssen, um der Erfahrung im Alltag gerecht zu werden. Wie schwer oder leicht fällt es Menschen, darüber zu sprechen? Sehr schwer, sie haben Angst, dafür für »verrückt« gehalten zu werden, obwohl sie doch gerade die wichtigste Erfahrung ihres Lebens gemacht haben, die sie auch gern teilen würden. Welche Auswirkungen kann eine NTE auf das wei­ tere Leben des Menschen haben? Menschen, die ein NTE hatten, verändern sich in ihrer Wertehierarchie, ihrer Lebensphilosophie und Spiritualität so radikal, dass sie oft von engsten Vertrauten kaum noch wiedererkannt werden.

Sonja Knyssok

eine überwältigende Liebe einzutauchen, schließlich die Erfahrung, in die irdische Existenz zurückkehren zu müssen.

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Das unterscheidet die NTE von beispielsweise einem Herzinfarkt ohne NTE, wo es zwar auch zu Verhaltensänderungen kommt, aber weit weniger radikal und weniger anhaltend. Wie gehen Menschen mit Nahtoderfahrungen um? Die meisten NTE-Erfahrenen sprechen kaum über das, was sie erlebt haben. Manchmal suchen sie Begegnungen mit anderen NTE-Erfahrenen. Oft verändern sie den Beruf und den Lebensentwurf, weil sie ein neues, geistigeres, spirituelleres Koordinatensystem ausgebildet haben. Viele wenden sich mehr geistigen Tätigkeiten wie Kunst, Literatur, Philosophie oder Religion zu. Oft engagieren sich NTE-Erfahrene auch für andere Menschen, indem sie soziale, therapeutische oder seelsorgliche Berufe ergreifen. Menschen berichten, dass sie keine Angst vor dem Tod gehabt hätten – aber sie waren ja noch nicht tot … woher wissen sie denn, dass es in der Erfah­ rung um den Tod geht? Sie waren dem Tod sehr nahe. Man spürt in der NTE, dass man stirbt. Das Herz hört auf zu schlagen, der Kreislauf kommt zum Stillstand. Die EEG-Linie kann flach sein. Näher kann man dem Tod nicht kommen, jedenfalls wenn man zurückkehren will. Viele, die diese Erfahrung gemacht haben, berichten, dass ihr Bewusstsein in der NTE signifikant klarer, heller, leistungsfähiger war als das normale Wachbewusstsein, obwohl das Gehirn schon nicht mehr vom Kreislauf versorgt wurde. Das ist eigenartig und überraschend. Sie wissen nun, dass Sterben »ganz anders« ist. Dass es kein Wegdämmern, sondern eher ein Aufwachen ist, dass es vielleicht sogar kein Ende, sondern nur ein Übergang ist. Wie ist denn Tod im Bereich der Nahtoderfahrung zu definieren? Ein kritischer Zustand des Organismus, der dem irreversiblen Hirntod sehr nahe kommt, ohne ihn jedoch ganz zu erreichen.

Eine Vorletzte Frage: Was können Sie Therapeut*in­ nen, Begleiter*innen, Behandler*innen mit auf den Weg geben? Gibt es einfühlsame Fragen, die gestellt werden können? Versuchen Sie als Therapeut*in nicht, die Erfahrung physiologisch, medizinisch oder psychologisch wegzuerklären oder sie auf etwas zu reduzieren, was ihr nicht gerecht wird. Achten Sie darauf, ihre eigene Unsicherheit bezüglich dieser Grenzerfahrungen nicht durch Erklärungsversuche zu überspielen, die der betroffenen Person nicht weiterhelfen. Helfen Sie der NTE-erfah­re­ nen Person, über die Erfahrung angstfrei in ihrer ganzen Fülle und Tiefe zu sprechen, ihre Bedeutung für das eigene Leben immer mehr zu entdecken. Begleiten Sie die NTE-erfahrene Person in dem schwierigen Rückkehrprozess in den normalen Alltag, denn diese Menschen fühlen sich dort oft wenig verstanden und irgendwie »im falschen Film«. Eine letzte Frage: Mögen Sie sagen, wie Sie zu die­ sem Thema kamen? Ich hatte selbst eine intensive NTE, bevor ich mich jahrzehntelang mit den wissenschaftlichen, philosophischen und spirituellen Aspekten der NTE beschäftigte und mit hunderten von Betroffen den Austausch suchte. Herzlichen Dank, dass Sie Ihre Gedanken mit uns teilen. Godehard Brüntrup ist Professor für Philosophie und Mitglied des Jesuitenordens. Sein Fachgebiet ist die Philosophie des Geistes, die sich mit dem Verhältnis von Materie und Bewusstsein beschäftigt. Er gilt als einer der Hauptvertreter des Panpsychismus, der Auffassung, dass  Geist und Materie fundamental miteinander verbunden sind und zwei Seiten einer Medaille darstellen. Kontakt: [email protected]

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Nähe in Distanz: Trauer in Zeiten von Corona Restriktionen und Kreativität als prägende Elemente coronabedingter Trauerkultur

Carmen Birkholz Vom 7. Januar bis zum 16. April 2020 habe ich als Begleitperson im Krankenhaus eine Freundin, die von Demenz betroffen ist, begleitet. Durch einen Keim wurden aus den geplanten zehn Tagen für eine Operation dreieinhalb Monate mit fünf Operationen. So habe ich in der Klinik die Zeiten mit und ohne Corona erlebt. Ich bekam eine BesuchsAusnahmegenehmigung. Der Unterstützung behandelnder Ärzte und vermutlich auch meinem Selbstbewusstsein im System Klinik war zu verdanken, dass ich weiterhin täglich begleiten konnte. Die Ärzte teilten meine Einschätzung, dass es um das Überleben meiner Freundin ging. Sie waren die entscheidenden Gatekeeper. Vielen Menschen gelang es nicht, Ausnahmegenehmigungen für die Begleitung ihrer An- und Zugehörigen zu bekommen. Einsames Leiden und Sterben und hilfloses, verwehrtes Begleiten prägen die Trauererfahrungen in Zeiten von Corona. Das Ausmaß an Beschädigung, erschwerter Trauer und Traumatisierungen durch die restriktiven und pauschalen Anordnungen im Gesundheitswesen ist nicht zu übersehen. Gerade zu Beginn der Pandemie und im ersten Lockdown konnten die einzelnen Personen in den Institutionen wenig gegen die systemisch und strukturell verursachte Gewalt ausrichten (vgl. Birkholz 2020, S. 84 ff.; Gröning 2005). Die Mitarbeiter*innen der Telefonseelsorge sind zum Beispiel Zeuginnen der ohnmächtigen Trauergefühle und eines Klimas von Angst, das im Jahr 2020 prägend war (Telefonseelsorge 2020). Wenn Trauer die natürliche Reaktion ist, mit Verlusten umzugehen, muss sie derzeit bei nahezu allen Menschen weltweit eine Rolle spielen.

Die allgemein leitende und akzeptierte Relevanz lautet: Leben schützen und gleichzeitig die Funktionsfähigkeit des Gesundheitssystems gewährleisten. Da medial täglich vermittelt wird, dass es »um Leben und Tod« geht, treten die Beschädigungen, die diese Maßnahmen auch verursachen, in den Schatten der Aufmerksamkeit. Die Restriktionen lösen eine Fülle von psycho-sozialspirituellen Schmerzen aus: Isolation und Kontaktarmut in den Krisenzeiten des Lebens, selbst im Sterben, haben eine Vielfalt von Trauerempfindungen und -äußerungen zur Folge. Gerade die sogenannten Risikogruppen, die zwangsisoliert wurden und werden, wie Patient*innen in Kliniken und Menschen, die in Pflegeeinrichtungen leben, können sich der institutionellen Macht nicht entziehen. Erschwerte und potenziell traumatische Trauer entsteht dort, wo der einzelne Mensch den Coronarelevanzen untergeordnet wird und keine Differenzierung zwischen hinnehmbarer Isolation und potenziell traumatischer Schädigung des Körpers und der Seele geschieht. Es ist wichtig, auch pandemiebedingte Gewalt in Zeiten von Corona zu sehen und klug abzuwenden, um zusätzliche Traumatisierungen zu verhindern. Viele werden zu Opfern coronabedingter Gewalt. Ebenso erleben viele Beteiligte eine Kreativität und eine Widerstandskraft, die verbindend und heilsam wirkt. So wie täglich das RobertKoch-Institut mit neuen Zahlen zu Wort kommt, müssten täglich psycho-sozial-spirituelle Bewältigungsmöglichkeiten als Beispiele guter Praxis geteilt werden. Die Botschaften, die nicht nur Sor-

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ge, sondern auch Angst und Ohnmacht schüren, müssen von heilsamen Ideen begleitet werden. So gibt es Mitarbeiter*innen in Kliniken, die per Video die Verbindung zu Angehörigen herstellen, ein Telefon an das Ohr eines bewusstlosen Menschen halten, sodass Angehörige erzählen und singen können. Sie machen Fotos von den Schwerkranken, deren Hand ein Pfleger, eine Pflegerin hält. Tagebücher werden geschrieben für die Betroffenen und zum Abschied ein Foto von den Verstorbenen gemacht, sodass die Angehörigen über ein Bild die Realität des Todes begreifen können. Gedenkfeiern würdigen die »Corona-­ Toten« und ihre Angehörigen erhalten die Symbole oder Bilder: ein kleines Stück Teilhabe, übergeben von Menschen, die stellvertretend Nähe gestiftet haben (Wüstenhagen 2020). Einige Familien habe ich in dieser Zeit begleitet und die Trauerfeier und Beerdigung für ihre Angehörigen entwickelt. Abschied mit Corona ist geprägt von Begrenzung: etwa eine Trauerfeier mit nur vier Personen und nicht in der Trauerhalle. Die Freund*innen wurden durch einen bunten Blumenstrauß symbolisiert und das Ablegen des Straußes wurde mit dem Gedicht von Rose Ausländer »Gemeinsam« (Ausländer 1984) begleitet. Am Grab wurde vor dem Absenken der Urne ein Brief von Freund*innen gelesen. So waren sie präsent. Die Familien mussten sich also nicht nur zur Würdigung der Verstorbenen und der eigenen Trauer ins Verhältnis setzen, sondern auch in kurzer Zeit eine für sie sinnvolle Form des sozialen Abschieds finden. Abschiede waren geprägt von den Ambivalenzen, sich innig mit dem Leben und der Bedeutung der Verstorbenen zu beschäftigen und die tagesaktuellen Bestimmungen für Beerdigungen einer Stadt im Blick zu behalten. Trauer in Zeiten von Corona ist vielfach unerkannt (Birkholz 2018), sozial aberkannt (Doka 2002) und aktuell neu durch die Lockdown-Maßnahmen eine untergeordnete Trauer. Trauer ist massiv vorhanden in Zeiten von Corona und ihr wird unverhältnismäßig wenig Relevanz eingeräumt. So fehlt ihr Bezug nahezu völlig in den

Richtlinien der verschiedenen Fachgesellschaften (vgl. DGP 2020; DGfG 2020). Für Trauerbegleiter*innen ist es daher wichtig, den Blick auf die untergeordnete Trauer in Zeiten von Corona zu richten. Sie müssen Risiken für erschwerte Trauerprozesse wahrnehmen und diese zuallererst zu verhindern suchen. Dann sollten Freiräume für kreative Umgangsmöglichkeiten entwickelt werden, um Beschädigungen zu mildern. Beides erfordert, gut informiert zu sein über die Übertragungswege des Virus, um notwendige Schutzmaßnahmen treffen zu können. Persönliche Ressourcen und unterstützende Trauerbegleitung sind wesentlich. So gibt es Trauergespräche in Gärten, auf Terrassen und in Parks; Trauerfeiern mit Abstand und digital als Livestream in die Welt übertragen; religiöse und individuelle Symbolvielfalt, Fotos, Blumen, Musik, die die Verstorbenen und die Nichtanwesenden repräsentieren. Kreativ wird Essen im Anschluss an die Beisetzung gereicht, bei dem niemand das Essen des anderen berühren muss, im Garten oder Park. Die sozialen Medien ermöglichen digitale Nähe und Zeichen kreativer Solidarität sowie ein schnelles und vielfältiges Teilen guter Ideen. Trauerbegleitung geht online und in Pflegeheimen wird mit Angehörigen geskypt. Der Begrenzung steht eine unbegrenzte Kreativität gegenüber. Im Elternhaus krebskranker Kinder in Essen treffen sich regelmäßig verwaiste Eltern zu einer Trauergruppe. Da in diesem Jahr nicht möglich, wurde alternativ eine Wanderung als Begegnungsraum geplant. Symbolisch wichtig waren eine Wanderung durch den Wald, ein ungestörter Platz fürs Picknick, Wasser, um Schiffchen zu bauen, zu beschriften und schwimmen zu lassen, eine Gastronomie zum Einkehren und eine Kapelle. Zu Beginn bekam jede*r eine Tasche, gefüllt mit Taschentüchern, Desinfektionsmitteln, Bastelutensilien, einem Teelicht und einem Engel. Der Engel stand für das verstorbene Kind, das auf der Wanderung dabei war. Die Eltern schrieben den Namen ihres Kindes auf ihn und

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Alexej Jawlensky, Variation: der Weg, Mutter aller Variationen, 1914 / akg-images

so wanderte es an Jacke oder Rucksack befestigt mit. Wir hielten Abstand, waren draußen und fanden eine Form, die viel Austausch ermöglichte. Es gab immer wieder Haltepunkte, an denen die Eltern einen Text lasen, oder den Impuls für ein Gespräch, zum Basteln und ein Licht, das in der Kapelle angezündet werden konnte. Am Ende

waren alle dankbar für die gemeinsame Zeit und beschlossen, auch in diesem Jahr den weltweiten Gedenktag für verstorbene Kinder gemeinsam zu planen, der unter den AHA-Regeln stattfand und als Live­stream die Teilhabe vieler ermöglichte. Die Rituale des Worldwide Candle Lighting Day wurden den Coronaregeln angepasst. Jede*r stell-

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Colourbox

Es ist schmerzhaft, sich in der Trauer nicht in den Arm nehmen zu können. Es fühlt sich falsch an, seinen Trost nicht körperlich zeigen zu dürfen. Das muss betrauert werden.

te ein Licht für sein Kind auf den Altar, der an einer großen Fensterfront stand. Eltern schrieben Texte für den Abend oder drehten vorab ein Video zu ihrem Erleben. Das Lied, das wir im letzten Jahr mit verwaisten Eltern getextet und komponiert haben, konnten wir nicht singen, aber es wurde gespielt und von einer verwaisten Schwester gesungen. Die Gedenkfeier erfüllte so auf verschiedene Weise das gewählte Motto: »Trotz(t) Corona – Nähe in Distanz«. Einer dem Virus untergeordneten Trauer kann kreativ Form und Ausdruck gegeben werden. Nähe in Distanz zu suchen, dazu zu ermutigen und sie zu ermöglichen, ist der Kern von Trauerangeboten in Coronazeiten. Es ist schmerzhaft, sich in der Trauer nicht in den Arm nehmen zu können. Es fühlt sich falsch an, seinen Trost nicht körperlich zeigen zu dürfen. Das muss betrauert werden – und dann können zum Teil ersetzende, alternative Gesten und Rituale gefunden werden, die jetzt stimmig sind und denen das Wesentliche nicht fehlt. Und am Ende können wir in der Trauerbegleitung auf einen größeren Koffer an Begleitungsmöglichkeiten schauen, als es vor Corona je denkbar gewesen wäre.

Drin phil. Carmen Birkholz ­arbeitet und forscht in ihrem Institut für Lebens­ begleitung in Essen zu Spiritualität, Spiritual Care, Trauer, Demenz, geistige Behinderung und Palliative Care. Sie ist tätig als Trainerin und Beraterin und Lehrbeauftragte an der Evangelischen Hochschule Rheinland-Westfalen-Lippe, Bochum und der Katholischen Hochschule Münster. Kontakt: [email protected] Literatur Ausländer, R. (1984). Ich höre das Herz des Oleanders. Gedichte 1977–1979. Frankfurt a. M. Birkholz, C. (2018). Trauer und Demenz. Trauerbegleitung als verstehender Zugang und heilsame Zuwendung. Göttingen. Birkholz, C. B. (2020). Spirituelle Sorge um Menschen mit Demenz. Eine interpretative hermeneutische Studie im Kontext von Palliative Care. Wiesbaden. DGfG – Deutsche Gesellschaft für Geriatrie e. V. (2020). Ergänzende Empfehlungen für die Situation heimversorgter geriatrischer Patienten zu den »Entscheidungen über die Zuteilung von Ressourcen in der Notfall- und Intensivmedizin im Kontext der COVID-19-Pandemie« der DIVI, DGINA, DGAI, DGIIN, DGP, DGP, AEM. DGP  – Deutsche Gesellschaft für Palliativmedizin (2020). Handlungsempfehlung zur Therapie von Patient*innen mit COVID-19 aus palliativmedizinischer Perspektive. Doka, K. J. (2002). Disenfranchised grief. New directions, challenges, and strategies for practice. Champaign. Gröning, K. (2005). Wenn die Seele auswandert. Belastung, emotionale Entleerung und Gewalt in der professionellen Pflege alter Menschen. In: Forum Supervision, 13, 26, S. 64–75. Telefonseelsorge (2020). https://www.telefonseelsorge.de/aktuelles (Zugriff am 13.12.2020). Wüstenhagen, C. (2020). Das letzte Foto. Abschied in Corona-Zeiten. In: ZEIT ONLINE, 6.6.2020. https://www. zeit.de/wissen/gesundheit/2020-06/abschied-in-coronazeiten-gestorben-todesfaelle-intensivstation-besuchsverbot-trauer-pflege-betreuung (Zugriff am 3.12.20).

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Etwas kommt dazwischen … Und dennoch … Elke Schnyder Vielleicht kennen Sie das: Du planst, hast ein Ziel, das du unbedingt erreichen willst, und dann kommt es ganz anders. Dir ist nämlich etwas da­ zwischengekommen. Wenn wir für uns überlegen, dann fallen uns bestimmt ganz viele DazwischengekommenGeschich­ten ein. Selten nur läuft alles so, wie wir uns das vorstellen. Meistens kommt etwas dazwischen. Und – mir kam etwas dazwischen! Dazwischen kam die Diagnose Facio-scapulo-humerale Muskeldysthrophie (FSHD). Ich war 42 Jahre, die Hoffnung auf Heilung zerschlug sich sehr schnell. Progredienter Verlauf mit stetig wachsendem Muskelschwund. Kann es noch schlimmer kommen? Ja, es kam noch schlimmer. Die Diagnose einer FSHD wurde auch bei meiner Tochter festgestellt. Sie war 16 Jahre und der Krankheitsverlauf verlief aggressiver als bei mir. Irgendetwas in mir sagte mir, dass ich jetzt die Augen zumache und vor der Wahrheit davonlaufen soll. Doch dann dachte ich an meinen geliebten Vater. Er hat viel Leid erfahren, im Krieg, als Flüchtling in einer fremden Welt, Verantwortung für Frau und Kinder. Dieser kleine große Mann hat nie aufgegeben, hat dem Schicksal getrotzt und das Leben mit einem Lächeln im Gesicht gemeistert. Er ist vor vielen Jahren gestorben. Heute weiß ich, dass ich viel von ihm in mir habe. So wie er liebe ich das Leben, auch wenn etwas dazwischenkommt. Einen Satz von ihm habe ich verinnerlicht: »Wenn du irgendwann an einem Punkt bist, und du glaubst, es nicht zu schaffen, wenn du keine Hoffnung mehr hast und du denkst, Leben lohnt sich nicht mehr, dann gib nicht auf, es lohnt sich weiterzumachen.« Für mich heißt das: Stell dich der Situation und mach das Beste daraus.

»Glaubst du an Wunder?«, hat mich vor etwa zwanzig Jahren ein Kind im Religionsunterricht gefragt und ich habe geantwortet: »Ja, solange es Kinder gibt, die danach suchen und die daran glauben.« Heute glaube ich immer noch an Wunder, auch wenn diese anders sind als vor zwanzig Jahren. Denn es kam ja etwas dazwischen … Dazwischen kam diese Krankheit. Ich wollte es nicht wahrhaben, habe Einschränkungen vertuscht, Normalität hatte höchste Priorität. Anders meine Tochter, sie ging von Anfang an offen mit der Krankheit um. Wie sehr habe ich das bewundert. War doch bei mir die Krankheit schambesetzt, mein Erscheinungsbild veränderte sich. Die Einschränkungen waren nicht mehr zu verbergen. Wie sieht mein Umfeld mich, reduzieren sie mich auf meine Krankheit? Bin ich noch ein vollwertiger Mensch? Ich spürte Blicke auf mich gerichtet, die es sicherlich nicht gab, und doch, es war mein Empfinden. Ich liebe meine Arbeit und es sollte doch alles so weitergehen wie bisher. Als Schulseelsorgerin und Seelsorgerin in elf Gemeinden mit wunderbaren, vielfältigen Aufgaben wollte ich weiterhin arbeiten. Sollte das jetzt alles vorbei sein? Ich war 44 Jahre. Hilfe und Unterstützung habe ich von meinen Kolleginnen und Kollegen erfahren. Ich konnte in diesem tollen Team meine Aufgaben so gestalten, wie es für mich ging. Doch die Selbstzweifel wuchsen mit den körperlichen Einschränkungen. Werde ich ernst genommen oder werde ich bemitleidet? Je stärker die Krankheit voranschritt, umso mehr leistete ich, wollte nicht anders als die anderen sein, wollte nicht bemitleidet werden. Hilfen konnte ich schwer annehmen. Und auch da wieder die quälenden Fragen: Bin ich noch selbstbestimmt? Werde ich nur noch auf

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Träume Das Leben leben, die Erinnerungen wachhalten. Das Fröhliche, das Traurige, das Nachdenklichstimmende. Das Kind in mir zulassen, sich dem Zauber hingeben. Immer wieder Wunder ent­ decken und nie aufhören zu träumen.

Elke Schnyder ist Gemeindereferentin und leitet die Internetseelsorge im Bistum Aachen. Sie arbeitet als systemische Beraterin (DGSF) und Trauerbegleiterin (BVT). Wichtig ist ihr, die Welt mit dem Blick eines staunenden Kindes betrachten zu können und neugierig zu bleiben. Kontakt: [email protected]

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Edvard Munch, Portrait of Käte Perls, 1913 / Bridgeman Images

meine Krankheit reduziert? Werde ich noch einbezogen, angefragt? Und dann kam wieder etwas dazwischen. Der Tod meines Chefs. Neben der tiefen Trauer um ihn kamen Zweifel. Wie geht es mit mir weiter? Schaffe ich einen Neubeginn? Ich wollte doch bewahren, was mir in meiner Arbeit Halt und Hoffnung gegeben hat. Jetzt war ich 55 Jahre. Nochmals einen Neubeginn starten? Mit dieser Krankheit? »Gib nicht auf«, so die Worte meines Vaters! Und ja, ich habe einen Neubeginn gewagt. Heute bin ich Leiterin der Internetseelsorge im Bistum Aachen, Trauerbegleiterin und systemische Beraterin. Auch in meiner jetzigen Arbeit spüre ich meine Begrenztheit. Vieles ist zerbrochen an Sicherheiten und Träumen. Mein altes Arbeitsleben habe ich hinter mir gelassen. Bewahrt habe ich für mich etwas ganz Elementares. Es kommt auf meine Haltung an. Meine Haltung im Umgang mit mir und mit anderen Menschen! Jeder Mensch ist wertvoll, einmalig und unersetzlich mit all seinen Fähigkeiten, Charismen, Träumen und Visionen. Hilfen kann ich auch heute noch schwer annehmen. Machen sie mir doch deutlich, dass ich mehr und mehr meine Selbstständigkeit verliere. Mit dieser Krankheit zu leben ist und bleibt eine Herausforderung, jeden Tag aufs Neue. »Gib nicht auf« – wie gut, dass es diese Stimme in mir gibt. Wie viel Kraft, Angst und Mut stecken darin! Mag sein, dass ich viele Ressourcen in mir habe. Mag sein, dass ich ein positiv denkender Mensch bin. Ich weiß es nicht. Doch ich weiß, dass ein Neubeginn möglich ist. Dass ich mich immer wieder verändern und mich neu auf die Situation einstellen kann. Glaubst du an Wunder? Ja, ich tue es jeden Tag! Die Kraft dazu geben mir meine beiden Töchter, meine wunderbaren Enkelkinder, meine Freundinnen, die für mich da sind, und mein geliebter Mann, der mich durch alle Tiefen trägt. Und – ich habe auch heute noch Träume und Visionen.

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Mein Neubeginn fängt mit dem Loslassen an Einsicht in einen Chatverlauf zwischen zwei Frauen mit Brustkrebs

Katharina Friederich-Dumelin Konfrontiert mit der Diagnose Brustkrebs werde ich schlagartig in meinen gelebten Werten, den eingeübten Rollen und im starken Willen gebremst. Ich fange an, mich bewusst mit mir auseinanderzusetzen und mich den aufkommenden, schmerzhaften Reaktionen auf mein Kranksein zu stellen. In einem Chat begleitet mich meine Freundin durch das erste Jahr nach meiner Diagnose. Ich nenne sie Fortuna, die Glücksgöttin. Vor vier Jahren musste sie selbst diese Krankheit bewältigen. Wir stehen beide voll im Leben als Mütter zweier Jungs. Mit einer Kurzfassung unseres Austauschs gewähre ich hier Einsicht in meinen anspruchsvollen Weg zwischen Vertrautem und Unbekanntem.

12. November 2018 »Liebe Fortuna, vielen Dank für deine Gedanken. Ja, ich bin eine starke Frau. Doch ich bin nun herausgefordert, auch meiner Schwäche den nötigen Raum zu geben. Du gibst mir Mut, den Weg zu beschreiten. Danke für deine Freundschaft! Katharina«

Einschnitt im Alltag

»Liebe Katharina, das stimmt natürlich, du bist nicht nur stark. Ich erlebe dich als Frau mit sehr viel Tiefgang und du hast die Größe, auch deinen Ängsten und Schwächen ins Auge zu sehen. Ich habe es geschafft! Du schaffst es auch! Um ehrlich zu sein: Ich wäre nicht der Mensch, der ich heute bin, ohne diese Krankheit. Und: Ich mag mich, wie ich bin. Genau! Fortuna«

11. November 2018

Sich fallen lassen und getragen sein

»Liebe Fortuna, seit fünf Tagen weiß ich, dass ich Brustkrebs mit Ausbreitung in mehreren Lymphknoten habe. Ich beginne übermorgen mit der Chemotherapie, welche fünf Monate dauern soll. Danach wird operiert und anschließend beginnt die Strahlentherapie. Ich hoffe, ich habe genug Kraft für diesen langen Weg. Im Moment bin ich guten Mutes. Liebe Grüße, Katharina«

26. November 2018

»Liebe Katharina, mir fehlen die Worte. Ich wünsche, ich könnte zu dir kommen, Zeit mit dir verbringen, weinen und dich in die Arme nehmen. Du bist eine starke Frau. Bitte lass mich wissen, wie ich dich unterstützen kann. Ich habe dich lieb und bin im Gebet mit dir verbunden. Eine große Umarmung, Fortuna«

»Liebe Fortuna, ich bin sehr froh um unseren Austausch! So vielen Menschen fehlen noch die Worte. Ich fühle mich müde von all den lieben, betroffenen Reaktionen und konfrontiert mit einer plötzlichen Wut in mir, die wohl einfach Ausdruck meiner Überforderung ist. Ich bin dir sehr dankbar für deine Begleitung! Katharina« 19. Dezember 2018 »Liebe Katharina, in diesen Tagen wünsche ich dir ganz viel Kraft und Geduld mit dir, mit der Krankheit und mit der Welt. Für unser Umfeld ist es schwer nachvollziehen zu können, wie

Wassily Kandinsky, Lastend, 1928 / akg-images

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die Chemotherapie die Kräfte nimmt. Ich hoffe, du hast Momente, in denen du dich ganz fallen lassen kannst und dich trotzdem getragen fühlst. Mit meinen Gedanken bin ich mit dir verbunden. Mit viel Liebe, Fortuna« »Liebe Fortuna, danke für dein tiefes Verständnis! Leider kann ich mich noch nicht fallen lassen. Ich versuche noch immer alles im Griff zu haben und will meinem Mann meine Schwäche nicht zumuten, weil er schon so viel zu tragen hat. Ich hoffe, dass es mir im Laufe der Zeit besser gelingen wird. Katharina« 30. Dezember 2018 »Liebe Fortuna, ich habe endlich loslassen können! Erneut zwang mich meine bleierne Schwäche in die Knie. Ich brauchte Unterstützung von meinem Mann, damit ich nicht das Bewusstsein verliere. Er tat mir unendlich leid und doch habe ich ihm in diesem Moment meinen Zustand zugetraut. Das Loslassen ist ein entlastendes Gefühl! Katharina« »Liebe Katharina, das mit dem Starksein für den Partner und die Buben kenne ich nur zu gut. Es ist ein Prozess, und unsere Lieben sind ja im Prozess mit dabei. In Liebe, Fortuna« Die Auseinandersetzung mit der eigenen Endlichkeit 17. Januar 2019 »Liebe Fortuna, hattest du eigentlich einmal das Gefühl, dass deine Krankheit stärker ist als du? Wie bist du mit diesen Ängsten um den eigenen Tod umgegangen? Mich überfällt manchmal eine Trauer, unsere Kinder nicht mehr lange genug begleiten zu können. Es sind kurze Momente, doch so intensiv und schmerzvoll, dass sie mich lange beschäftigen. Es fällt mir schwer, mit meinen

Nächsten über diese verborgenen Gedanken zu reden. Katharina« »Liebe Katharina, ich kenne das Gefühl. Ich hatte es nicht so oft, aber wenn es mich befiel, war es so, wie du es beschreibst. Es ist eine Erfahrung, an der kaum jemand bereit ist teilzunehmen. Ich merkte, dass ich viele Freunde damit überforderte. Ich glaube, erst wer den Tod in das Leben integrieren kann, lebt in einer Fülle. Der Wille zu leben gibt viel Kraft. Mindfullness hat mir geholfen: im Moment zu sein! Denn für diesen Moment, in dem ich gerade bin, habe ich das Leben, meine Buben und die Kraft. Fortuna« An meinem Lebensnerv angekommen 2. April 2019 »Liebe Fortuna, ich habe meine letzte Chemotherapie hinter mir! Jetzt habe ich einen Monat Pause, bevor ich operiert werde. Ich bin froh darüber. Es ist unglaublich anstrengend, mich ständig für meine Bedürfnisse einzusetzen. Viel Verborgenes und Schmerzhaftes kommen ungeordnet und kaum fassbar an die Oberfläche. Es überfordert mich und trotzdem bleibe ich dran. Ich hoffe, ich finde nun etwas Ruhe vor der nächsten Hürde. Katharina« »Liebe Katharina, danke für dein Teilhabenlassen. Die Zeit während meiner Chemotherapie habe ich, so wie du, als enorm aufwühlend erlebt. Schmerzhafte Dinge kamen zum Vorschein, deren Existenz ich mir nicht bewusst war. Es brauchte enorm viel Energie, diese Gefühle anzuschauen, zu ordnen und zum Teil auch Heilung zu erfahren. Nie zuvor in meinem Leben waren mein Körper und meine Seele so gefordert. Die Krankheit wird uns nun bis ans Ende prägen und bereichern. Ich freue mich, dass wir gemeinsam unterwegs sind. Ich bete weiter für uns. Fortuna«

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M e i n N e u b e g i n n f ä n g t m i t d e m L o s l a s s e n a n    7 5

7. Mai 2019 »Liebe Fortuna, die Operation ist gut verlaufen! Wieder im Alltag finde ich langsam meine Balance zurück. Alles ist krebsfrei! Das lässt im Moment den Einschnitt und die Narben etwas vergessen! Sei lieb umarmt. Katharina« »Liebe Katharina, ich bin so dankbar! Ich habe soeben viele Freudentränen vergossen. Gib dir viel Zeit und Geduld für die Heilung. Ich habe dich lieb und du bedeutest mir sehr viel! Fortuna« Vorbei und doch erst am Anfang 29. Juli 2019 »Liebe Fortuna, ich habe es geschafft! Alle meine Therapien sind abgeschlossen. Ein Grund zur Freude! Und trotzdem überrollt mich gerade wie-

der eine Welle der Erschöpfung, Unsicherheit und Wut. Ich nehme erst jetzt wahr, wie verletzt mein Körper ist. Wir wissen beide, was die Seele dabei geleistet hat. Ich und meine Familie sehnen uns alle nach dem normalen Alltag, doch der kommt vielleicht nie wieder so wie früher. Katharina« 31. Juli 2019 »Liebe Katharina, ich kann dich sehr gut verstehen. Bei mir ist der Prozess auch noch nicht abgeschlossen. Es kommt in Wellen und die Wellen werden je länger je ruhiger, oder ich lerne immer besser schwimmen. Richard Rohr, ein franziskanischer Priester, sagte einmal: ›Weisheit kommt durch deep love and deep suffering‹ (Rohr 2013). So gesehen sind wir auf dem besten Weg, SEHR reife Menschen zu werden. Wir kennen beides. Ich wünsche dir viel Liebe für dich selbst und deine Geschichte. Fortuna«

N e u b e g i n n ! ? B e w a h r e n u n d Ve r ä n d e r n

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»Liebe Fortuna, du bist mir eine so gute Begleiterin! Ich sehe, dass das Überwinden der akuten Krankheit nur der Anfang des neuen Lebenswegs ist. Ich glaube auch, dass die Wellen schwächer werden und wir stärker, um darin nicht unterzugehen. Du bist es, die mir Halt gibt! Katharina« 22. Oktober 2019 »Liebe Fortuna, wie geht es dir? Ich möchte dir so viel erzählen. Von meiner zweiwöchigen Kur und vom Zurückfinden in den Alltag. Hier ist ein Text von mir. Ich glaube, er sagt alles. Katharina«

»Die Welt pulsiert, ein Atemzug und ich merke, dass meine Welt langsamer geworden ist Mithalten, kaum möglich Schritt halten, nur für einen Moment Ich habe den Puls der Welt verloren Zwischen zwei Welten bin ich ins Straucheln geraten« »Liebe Katharina, ich denke so oft an dich. Ich befinde mich zurzeit auch in einer Phase der Trauer. Das Ja zur Situation fühlt sich gerade noch weit entfernt an. Deine Freundschaft ist mir sehr wichtig. Mit viel Liebe, Fortuna« »Liebe Fortuna, in meiner Kur habe ich mich mit Widerständen auseinandergesetzt. Ein Nein zu einer Situation bedeutet ein Ja zu etwas anderem. Ich wünsche dir, dass du deinen Widerstand an die Hand nehmen kannst und fürsorglich auf dessen Grund kommst. Umarmung, Katharina«

Mit Rücksicht auf meinem Weg bleiben 8. November 2019 »Liebe Fortuna, Ein Jahr ist seit meiner Diagnose vergangen. Ich bin diese Tage dünnhäutig unterwegs. Tränen fließen erst jetzt. Dankbar bin ich, habe ich dieses Jahr gut überstanden. Unsere Buben haben wieder Boden gefunden und bereiten uns viel Freude. Und ich bin ein Stückchen näher bei mir selbst. Das ist ein großes Stück Arbeit gewesen! Danke für deine kostbare Begleitung! Hoffen wir, dass wir unsere Krankheit und den Wert unseres Lebens niemals vergessen. Katharina« 9. November 2019 »Liebe Katharina, ich kann deine Worte sehr gut nachvollziehen. Ich wurde 2014 diagnostiziert und wälze noch so viele Dinge in meinem Herzen. Es tut mir echt gut, mich mit dir auszutauschen. Mögen unsere Herzen die Dankbarkeit, die uns durch unsere Krankheit gegeben wurde, bewahren. Ich bin sehr berührt über das, was uns in dieser schweren Zeit geschenkt wurde, nämlich unsere Freundschaft und eine Weisheit, die uns prägt! Mit viel Liebe. Fortuna« Nicht jede Betroffene hat das Glück, eine solche Freundin zur Seite zu haben. Darum soll aus unserem Chat ein Buch entstehen, das ermutigt zum Nachdenken, Dranbleiben und Neubeginnen. Katharina Friederich-Dumelin ist lebensmutig, sensibel, wertschätzend, beherzt und pflichtbewusst unterwegs. Hauptsächlich Mutter zweier Knaben und dazu engagiert im Gestalten des Alltags für Bewohnende im Pflegeheim. Wieder gesund nach einer Brustkrebsdiagnose und ambitioniert, den Chat­ verlauf als Buch herauszugeben. Kontakt: [email protected] Literatur Rohr, R. (2013). Yes, And … Daily Meditations. C ­ incinnati, Ohio.

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AUS DER FORSCHUNG

Zwischen Aushalten und Gestalten Ein Forschungsprojekt zu Resilienz

Lukas Radbruch, Franziska Geiser Das Konzept der Resilienz hat in den letzten Jahren zunehmend Aufmerksamkeit im Umgang mit Krisen und Leid gewonnen. Dies gilt nicht nur für die Palliativversorgung und Psychosomatik, sondern auch für viele andere Bereiche in Medizin und Gesellschaft. Die Suche nach den Stichworten »Resilienz Ratgeber« bei Amazon bringt mehr als 2000 Vorschläge. Das Leibniz-Institut für Resilienzforschung bietet im Internet Ratschläge zur Resilienz in der Coronapandemie an (https://lir-mainz.de). Dabei bleibt oft unklar, was eigentlich unter Resilienz zu verstehen ist. Es scheint so, als ob der Begriff inflationär verwendet wird und geradezu alle Verhaltensweisen im Zusammenhang mit Krise und Neubeginn umfassen soll. Deshalb war es für uns als Mediziner auch interessant, als wir vor mittlerweile fünf Jahren mit einer kleinen Gruppe von Wissenschaftlern aus Theologie und Philosophie an der Bonner Universität zusammenkamen, um Resilienz und den Zusammenhang mit Religion und Spiritualität zu diskutieren. Mittlerweile ist daraus eine interdisziplinäre Forschergruppe erwachsen, die seit einem Jahr mit Förderung durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft zum Thema »Resilienz in Religion und Spiritualität – Aushalten und Gestalten von Ohnmacht, Angst und Sorge« forscht. Das Forschungsprojekt umfasst acht Teilprojekte mit einem weiten Spektrum an Forschungsfragen (https://gepris.dfg.de/gepris/projekt/348851031). Darunter ist zum Beispiel auch eine Analyse zur Resilienz in den Psalmen der Bibel. Welche Bedeutung hat dort die Klage als Artikulation von Ohnmacht, Angst und Sorge? Und wieweit werden dadurch auch heute noch religiös-spirituelle Sprachbilder geprägt? Alle Teil-

projekte eint das gemeinsame Interesse daran, wie Menschen mit Krisen und Leid umgehen. In unseren beiden Teilprojekten ergänzen wir uns in dem Versuch, Resilienz als Konzept fassbar zu machen. Im psychosomatischen Teil­projekt wird der Versuch einer Operationalisierung un­ ternommen, um Resilienz bewerten zu können und messbar zu machen. Dafür wird allerdings erst einmal eine möglichst eindeutige Definition von Resilienz benötigt. Im palliativmedizinischen Teilprojekt wird als Ergänzung Resilienz mit anderen Konzepten, wie zum Beispiel Kohärenzgefühl oder Lebenssinn, verglichen. Wieweit lassen sich diese Konzepte voneinander abgrenzen, wieweit überlappen sie? Dabei ist auch zu erörtern, wo bei Resilienz – ebenso wie Lebenssinn oder Lebensqualität – die Grenzen der Messbarkeit liegen, wenn dabei die individuell höchst unterschiedlichen Wertvorstellungen und Prioritäten der Menschen eine Rolle spielen. In unseren Teilprojekten nutzen wir systematische Literaturanalysen, Analysen der diskursiven Praxis aus verschiedenen Textkörpern und Experteninterviews, um Hypothesen zu entwickeln. Diese Hypothesen werden dann in Interviews und Fragebogenerhebungen mit Patienten, Angehörigen und Behandlern überprüft auf ihre Anwendbarkeit und Sinnhaftigkeit in der Praxis. In solchen interdisziplinären Diskussionen mit geistes- und naturwissenschaftlichen Forschungsfeldern ist es nicht unüblich, dass erst einmal ein gegenseitiges Verständnis der unterschiedlichen wissenschaftlichen Arbeitsweisen gefunden und eine gemeinsame Sprache gesucht werden muss. Deshalb hat es auch mehrere Jahre der Vorbereitung gebraucht, bis der Forschungsantrag ein-

gereicht, begutachtet und bewilligt worden war. Selbst methodologische Begriffe, die uns ganz klar schienen, wie zum Beispiel Inhaltsanalyse, Diskursanalyse oder Grounded Theory, wurden in den anderen Disziplinen ganz unterschiedlich benutzt. Dennoch, oder vielleicht gerade deshalb, war die Zusammenarbeit in der Forschergruppe von Anfang an für uns nicht nur sehr bereichernd, sondern hat sogar Spaß gemacht. Es ist einfach spannend, wenn man über den eigenen Tellerrand blicken, voneinander lernen und damit plötzlich neue Perspektiven auch auf die eigene Arbeit gewinnen kann. Ist es nicht in­te­res­sant, ob vielleicht die Patienten in der Palliativ­versorgung die gleichen Sprachbilder wie in den Klagepsalmen benutzen? Zur Erforschung von Resilienz ist in Deutschland vor allem das Leibniz-Institut für Resilienzforschung in Mainz bekannt. Allerdings liegt dort der Schwerpunkt auf den neurobiologischen und kognitiven Mechanismen der Resilienz, es geht vor allem um Hirnfunktionen oder genetische Mechanismen. Im Gegensatz dazu ist unsere (viel kleinere) Forschergruppe in dem Spannungsfeld von seelischem, psychischem und körperlichem Befinden unterwegs. Als erste Erkenntnis aus den gemeinsamen Diskussionen wurde eine dreifache Typologie zur Resilienz beschrieben. Resilienz kann als eine Grundeigenschaft verstanden werden, die unabhängig von einer Krise im Sinne einer psychophysischen Konstitution bestehen kann, oder als dynamischer Anpassungsprozess im Verlauf einer Krise. Resilienz kann aber auch als positiver Krisenausgang verstanden werden. Allerdings wurde auch kontrovers diskutiert, was denn nun ein positiver Ausgang sei: Ist Resilienz mehr ein Zurückfedern in den Ausgangszustand, wie das Gras im Wind? Oder ist Resilienz mehr die erfolgreiche Anpassung an die Krise, sei es nun durch Aushalten oder durch Gestalten? Kann vielleicht die Forderung nach einem Wachstum durch die Krise, als »personal growth«, zu einer zusätzli-

Ulrike Rastin

7 8   A u s d e r Fo r s c h u n g

chen Belastung durch die Betroffenen führen und zu einer Abwertung von denjenigen, denen dieses Wachstum nicht gelingt? Auch wenn die ersten Ergebnisse in den Teilprojekten anlaufen, können wir diese Fragen noch nicht beantworten. Wir freuen uns aber auf den gemeinsamen Weg in den nächsten Jahren in der Forschergruppe und sind zuversichtlich, dass wir mit unseren Forschungsergebnissen dann einen Beitrag zur Förderung der Resilienz bei Menschen in Krisen und Leid leisten können. Lukas Radbruch ist Direktor der Klinik für Palliativmedizin am Universitätsklinikum Bonn und Leiter des Zentrums für Palliativmedizin am Helios Krankenhaus Bonn/Rhein-Sieg. Er leitet das Teilprojekt »Resilienz und Kohärenz in der Palliativmedizin« in der Forschergruppe Resilienz in Religion und Spiritualität (DFG-FOR 2686). Kontakt: [email protected] Franziska Geiser ist Professorin und Direktorin der Klinik und Poliklinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie am Universitätsklinikum Bonn. Sie leitet das Teilprojekt »Dynamik von Resilienz in der Lebenskrise. Interdisziplinäre Begriffsklärung und Operationalisierung« in der Forschergruppe Resilienz in Religion und Spiritualität (DFG-FOR 2686). Kontakt: [email protected]

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FORTBILDUNG

Das geplante Ende einer Trauerbegleitung als Übergang in den Neubeginn Sylvia Brathuhn Das geplante Ende einer Trauerbegleitung hat seinen Sinn. Menschen, die in die Trauerbegleitung kommen, wurden mit dem Lebensende ihres nahestehenden Menschen konfrontiert. Sie mussten den durch den Tod verursachten Abschied passiv erleiden und gleichzeitig in der weiteren Lebensgestaltung aktiv darauf reagieren. Das ist eine immense Herausforderung. Bei diesem Abschied ist die große Leerstelle, die der Verstorbene hinterlässt, oft das, was am meisten quält. Hinzu kommen viele weitere Verluste, die mit diesem Tod einhergehen und den Trauerweg beschweren. In der Begleitung Trauernder ist es auch vor diesem Hintergrund wichtig, einen Abschied aus dem Begleitprozess heraus zu planen und mit dem Trauernden aktiv zu gestalten. Dieser Abschied beinhaltet den Blick zurück (Wie war es, als Sie hier ankamen?), es werden Stationen des gegangenen Weges in den Blick genommen (Was war für Sie besonders wichtig? Wo haben Sie Wendepunkte oder Fortschritte erlebt?), die verstorbene Person und ihre stärkenden Merkmale werden erwärmt (Welches Bild taucht in Ihnen auf, wenn Sie an Ihren verstorbenen Menschen denken?), es wird danach gefragt, was hilfreich war auf dem Trauerweg (Was war Ihnen hilfreich in dieser schweren Zeit?), und es kann danach gefragt werden, was für die jetzt kommende Zeit hilfreich sein kann (Was kann Ihnen in der kommenden Zeit Kraft und Unterstützung sein?). In all den Fragen zeigt sich das Bewahren und Verändern, um dem Neubeginn immer mehr Kontur und Inhalt zu verleihen. Frau Irmgard Schneider (40 Jahre) (der Name wurde datenschutzrechtlich verändert) ist seit 14 Monaten bei mir in der Trauerbegleitung.

Der Erstkontakt fand acht Monate nach dem Tod ihrer 73-jährigen Mutter statt, die an Magenkrebs erkrankt war. Zwei Monate lang trafen wir uns vierzehntägig und dann vereinbarten wir, dass die Begleitstunde nur noch im Vier-Wochen-Rhythmus stattfinden sollte. Das klappte auch vier Mal ganz gut. Dann blieb Frau Schneider weg beziehungsweise sagte zwei Mal die neugemachten Termine ab. In ihrer letzten Terminabsage tat sie kund, dass sie denke, nun gut allein zurechtkommen zu können. Ich habe ihr von Herzen gratuliert zu dieser Entscheidung und sie gefragt, ob sie sich denn vorstellen könne, noch einmal zu kommen, um einen geregelten und runden Abschluss für die Trauerbegleitung zu finden. Ich erklärte ihr, dass es sinnvoll sei, im Blick zurück noch einmal achtsam auf deutlich gewordene Zusammenhänge zu fokussieren, neue Deutungsmuster zu erkennen und bewusst den Schritt in das neue Leben, in den Neubeginn, zu gehen. Frau Schneider willigte ein, und wir vereinbarten ein Abschlussgespräch. Ein Auszug aus dem Gespräch, das vierzig Minuten dauerte, wird hier – mit Einverständnis von Frau Schneider – im Folgenden wiedergegeben. Begleiterin: Frau Schneider, Sie haben Ihre Mutter vor 22 Monaten an den Tod verloren. Heute ist Ihre letzte Sitzung bei mir. Ist es für Sie in Ordnung, wenn wir nochmal zurückschauen? Den Weg in den Blick nehmen, den Sie gegangen sind? Vielleicht an ein paar Stationen verweilen? Irmgard Schneider: Ja, das würde ich gerne. Manchmal kommt es mir vor, als wäre ich hier

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verbinde ich mit meiner Mutter. Irgendwie war sie unerschütterlich. Ja, sie war ein Leuchtturm – mein Leuchtturm! Begleiterin: Ist das ein trostreicher Gedanke für Sie? Irmgard Schneider: Ja durchaus. Tatsächlich habe ich mir im Frühjahr auf Sylt einen kleinen Leuchtturm im Andenkenladen gekauft. Der stand in der Auslage, und ich musste plötzlich ganz intensiv an meine Mutter denken. Jetzt steht er zu Hause neben einem Bild von ihr, und das tut mir wirklich gut. In den kleinen Stürmen und Verzagtheiten meines alltäglichen Lebens bleibt sie mein Wegweiser, eine Art Navigationshilfe. Begleiterin: Was hat Sie damals bewogen, in die Trauerbegleitung zu kommen? Irmgard Schneider: Das war eigentlich ein Zufall. Ich las in der Zeitung, dass der örtliche Hospizverein einen sogenannten Auszeit-Tag angeboten hat. Da habe ich mich sehr spontan an-

Anna Denisova / photocase.de

schon ewig, und denke, es reicht; manchmal glaube ich, es ist doch gerade erst passiert. Dann fehlt sie mir so entsetzlich. Begleiterin: Ja, das Fehlen spüren Sie immer wieder. Welches Bild taucht bei Ihnen auf, kommt Ihnen in den Sinn, wenn Sie an Ihre Mutter denken? Irmgard Schneider: In den Sinn kommt mir ein Leuchtturm. Meine Mutter war sehr groß, und sie war auch eine durchaus auffällige Persönlichkeit. Sie wurde gesehen und genoss auch Ansehen. Ihre Devise war: sehen und gesehen werden. Das verweist auch auf den zweiten Aspekt eines Leuchtturms. Sie hatte irgendwie immer alles im Blick. Sah, wenn ich was brauchte, war für mich da, und sie gab mir immer Orientierung. Es gab genug Situationen in meinem Leben, in der ich ihren Rat brauchte, um Verirrungen zu vermeiden. Der Leuchtturm ist ja sehr stabil, den kann so schnell nichts umwerfen, und auch das

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gemeldet. Da wurde mir dann klar, wie hilfreich dieser Austausch für mich war, und so kam ich dann regelmäßig zu den Gesprächen. Begleiterin: Was genau hat Sie in dieser Ausschreibung angesprochen? Irmgard Schneider: Genau weiß ich es nicht mehr. Ich glaube, es wurde so etwas gesagt, dass trauernde Menschen unzählige Fragen haben und dass es wenig Antworten gebe. Für mich war das damals eine Bestätigung, da ich mich wirklich so verloren fühlte. Ja, ich hatte unzählige Fragen und ja, es gab keine oder kaum Antworten, und wenn es welche gab, dann waren sie eher unbefriedigend. Begleiterin: Was für Fragen hatten Sie, und was gab es für be- oder unbefriedigende Antworten? Irmgard Schneider: Na ja. Beispielsweise habe ich mich schon gefragt, warum meine Mutter, die ja erst 73 Jahre alt war, sterben musste. Warum sie die Krankheit nicht früher wahrgenommen

»Der Leuchtturm ist ja sehr stabil, den kann so schnell nichts umwerfen, und auch das verbinde ich mit meiner Mutter. Irgendwie war sie un­ erschütterlich. Ja, sie war ein Leuchtturm – mein Leuchtturm!«

hat. Wieso ich es nicht gemerkt habe, dass sie krank ist. Es ging ja alles sehr schnell. Sie war ja schon sieben Monate nach der Diagnosestellung des Magen-Karzinoms tot. Ich habe mich gefragt, warum ich nicht offen über ihren bevorstehenden Tod mit ihr reden konnte (wollte?). Und mir war völlig unklar, wie ein Leben ohne meine Mutter überhaupt sein würde. Sie war ja eine große Stütze, Vertraute und eben auch eine tolle Oma. Mein Sohn war sechs Jahre alt, als die Oma starb, und ich wusste nicht, wie ich es ihm erklären sollte. Ja, zu dem Zeitpunkt waren so viele Fragen in mir. Ich hatte das Gefühl, mich gar nicht auszukennen. Begleiterin: Eine große Fragewelt, in der Sie sich befanden. Was war hinderlich, und was hat Ihnen gutgetan? Irmgard Schneider: Ich fange mal mit dem an, was nicht besonders hilfreich war. (Lacht) Da gibt es durchaus einiges aufzuzählen. Weniger hilfreich war, dass meine Kolleginnen nicht verstanden, dass ich in Schwarz gehe (»das macht dich doch nur noch trauriger«), dass wenige Wochen nach der Beerdigung eigentlich niemand mehr (außer mein kleiner Sohn) mit mir über meine Mutter sprach, dass ich beim Ausräumen der Wohnung einen Zeitdruck hatte, dass ich nicht wusste, was ich denn mit diesen ganzen Sachen machen soll. Dass ich mich als Eindringling in die private und persönliche Welt meiner Mutter fühlte, dass Menschen zu mir sagten: »Na ja, sie war ja auch sehr krank, und du wusstest doch seit Monaten, dass dies geschehen würde.« Für mich kam es dennoch so plötzlich, und das war schmerzhaft, dass dies nicht von anderen geteilt wurde. Komischerweise war mein Exmann, der sonst nicht sehr sensibel ist, diesbezüglich am verständnisvollsten. Er sagte: »Kaum zu glauben, dass sie nicht mehr da sein wird.« Begleiterin: Was würden Sie sagen, war Ihnen hilfreich? Irmgard Schneider: Hilfreich und gut getan hat mir beispielsweise die Krankenschwester, die in der Nacht des Todes bei meiner Mutter war. Sie war so unaufgeregt und gleichzeitig so unglaublich acht-

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sam. Ich durfte bleiben, und als die Mama tot war, hat sie sich neben mich gestellt und nur ganz leicht ihren Arm an meinen Rücken gelegt. Ich höre noch heute ihre Worte. »Nun ist ihre Mutter tot. Mein herzlichstes Beileid, Frau Schneider.« Dann blieb sie einfach ruhig stehen. Es war schrecklich, es zu hören, und gleichzeitig auch wichtig, denn ich konnte es irgendwie gar nicht glauben. Dachte immer, gleich wacht sie wieder auf. Gut getan hat mir auch die Anteilnahme, die Menschen mir entgegenbrachten. Da meine Mutter sehr beliebt war, gab es auch wirklich viele schöne Begegnungen. Ich habe zum Beispiel manche Kondolenzkarten immer wieder gelesen. Vor allem die, die sehr persönlich waren. Manchmal habe ich meine Mutter mit den Augen anderer Menschen gesehen, und das war auch schön. Hilfreich war auch die Lehrerin von Maarten, meinem Sohn. Sie hat mir einen Brief geschrieben und mir angeboten, behutsam auf Maarten zu achten und – wenn nötig – das Gespräch mit ihm (und mir) zu suchen. Das war eine große Beruhigung. Begleiterin: Wenn Sie heute Ihre Trauer in einem Bild beschreiben würden, wie würde dies aussehen? Irmgard Schneider: Hm, muss ich mal überlegen … vielleicht am ehesten als ein Chamäleon. Also nicht, dass ich Expertin für Chamäleons wäre. Doch stelle ich mir vor, dass sie immer wieder ihr Aussehen wandeln und damit ihrer Umgebung Hinweise auf ihre Stimmung geben. Es gibt Tage, da bin ich sehr kräftig rot und leuchtend. Ich fühle mich stark und lebendig. Und dann gibt es Tage, da verliert sich das Rot von einem Moment zum anderen. Alle Leuchtkraft verblasst, und es bleibt nur ein blasses Rosagrau, ich will mich nur noch verstecken. Und doch: Die Rot-Tage überwiegen mittlerweile vor den Rosagrau-Tagen, und ich spüre immer wieder Dankbarkeit, dass meine Mutter mir so viel mitgegeben hat. Das trägt mich, und das bleibt. Begleiterin: Das ist ein schönes Schlusswort, das Sie jetzt gesprochen haben. Sie haben et-

was, das Sie trägt und das bleibt, nämlich die Stabilität und Leuchtkraft, die Ihre Mutter – der Leuchtturm – Ihnen mitgegeben hat und die Ihnen zur Verfügung bleibt, hier und über den Tod hinaus. Liebe Frau Schneider, wir sind am Ende eines gemeinsamen Weges angekommen. Sie haben viel geleistet, und es ist schön, Ihre Kraft zu spüren. Ganz vielen Dank für Ihr Vertrauen und Ihren Mut und für die Bereitschaft, die Trauerbegleitung sehr bewusst abzuschließen. Ich wünsche Ihnen viel Gutes. Irmgard Schneider: Danke. Ich kann jetzt gut durch diese Tür gehen. Ich möchte nicht auf Wiedersehen sagen. Sondern einfach nur »danke« und wünsche auch Ihnen alles Gute.

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Ein paar Impulsgedanken zum Abschlussgespräch: • Dem Abschluss eines Trauerbegleitungsprozesses muss Aufmerksamkeit und Raum geschenkt werden. Er ist so wichtig wie der Erstkontakt: »Anfang und Ende reichen sich die Hände.« • Der oder die zu Begleitende muss auf das Abschlussgespräch vorbereitet werden. • Im Abschlussgespräch gilt es, den durchlaufenen Trauerbegleitprozess nochmals in den Blick zu nehmen und die getanen Wachstums- und Werdeschritte nachzuzeichnen. • Es gilt zu schauen, was bewahrt und was verändert werden will.

• Es können haltgebende und stärkende Abschlussbilder entwickelt werden. • Zuversicht und Vertrauen in die Fähigkeit des Menschen formulieren, der jetzt aktiv einen bewussten Abschied vollzieht. • Selbst als Begleiterin auch Abschied nehmen und sich am »Fort-Gang« des Menschen erfreuen. Dr. Sylvia Brathuhn, Diplom-Pädagogin, ist in der psychoonkologischen Beratung und Betreuung für krebskranke Menschen und ihre Angehörigen tätig; sie ist Landesvorsitzende der Frauenselbsthilfe Krebs Rheinland-Pfalz/Saarland e. V., Mitglied der IWG (International Workgroup of Death, Dying and Bereavement); Trainerin in den Bereichen Sterben, Tod, Spiritualität und Kommunikation, Trauerbegleiterin.

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REZENSIONEN

Trauer am Arbeitsplatz

Norbert Mucksch

Petra Sutor (2020). Trauer am Arbeitsplatz. Sprachlosigkeit überwinden – Fürsorgepflicht wahrnehmen – Trauerkultur entwickeln. Ostfildern: Patmos, 168 Seiten

Mit der Neuveröffentlichung »Trauer am Arbeitsplatz« von Petra Sutor ist ein Fachbuch erschienen, das ein sehr großes und bedeutsames Feld von Trauer und trauernden Menschen in den Blick nimmt. Und zugleich ein Feld, welches bislang im Rahmen von Trauerbegleitung nicht oder doch zumindest nicht genügend Beachtung gefunden hat. Der Umgang mit und die gebotene Achtsamkeit für trauernde Menschen am Arbeitsplatz war und ist in vielen Bereichen immer noch zu gering ausgeprägt, um nicht zu sagen deutlich vernachlässigt. Und in Teilen auch hilflos. Diese Situation greift Petra Sutor fundiert, sachlich und ausgesprochen hilfreich auf. Gegliedert ist das Buch in sechs gut strukturierte Artikel, die sehr sinnvoll aufeinander aufbauen. Im ersten Kapitel beschreibt Sutor zunächst ganz basal und hilfreich, was Trauer ist. Dazu nimmt sie einen sehr offenen Blick ein und versteht Trauer ganz konsequent nicht ausschließlich als ein Erleben nach dem Tod eines vertrauten Menschen. Sie beschreibt den Zusammenhang von spezifischen Todesursachen im Hinblick auf den Trauerprozess ebenso wie die Folgen ungelebter oder nicht zugelassener Trauer. Sutor wendet sich auch der Bedeutung des Faktors Zeit zu und benennt die Bedeutung der Spiritualität in der Trauer. Kurzum: ein erstes Kapitel, welches

in aller Kürze und gebotenen Sachlichkeit die Bedeutung von Trauer als menschliche Fähigkeit beschreibt, ohne in diesem Kontext zu unsachlich zu verkürzen. Aus meiner Sicht eine hilfreiche, weil pragmatische Einführung (nicht nur) für Menschen in Personalverantwortung. Das zweite Kapitel wendet sich dann dem eigentlichen Thema Trauer am Arbeitsplatz zu. In diesem Abschnitt mit der Überschrift »Wenn die Trauer im Unternehmen ankommt« finden sich zahlreiche Hinweise und Gedankenanstöße zu verschiedenen Fragestellungen, die auftauchen können und auftauchen werden nach dem Versterben einer Mitarbeiterin oder eines Mitarbeiters. Aus dem zweiten Kapitel entwickelt sich im dritten Kapitel unmittelbar eine Anforderung und ein Aufruf an Unternehmen, nämlich konkret der Appell, Trauerbegleitung als Teil von Unternehmenskultur zu etablieren und den Bereich in den Fokus zu nehmen, der zumindest in der Vergangenheit in vielen Betrieben, Unternehmen und Verwaltungen zu geringe Beachtung fand. Im vierten Kapitel wird die Autorin dann ganz konkret und geht auf spezifische Trauersituationen in diesem Kontext ein (Suizid, Tod eines Kindes, Tod von Führungskräften, Eintritt des Todes am Arbeitsplatz u. a.) und gibt dazu erste fachliche Hinweise.

SchattenPerlen Norbert Mucksch

Sehr positiv habe ich es beim Lesen dieses wirklich gut verständlichen und wichtigen Fachbuchs erlebt, dass Sutor im fünften Kapitel ihres Buches auch auf kulturelle und religiöse Unterschiede eingeht und dabei nicht nur die drei großen monotheistischen Religionen in den Blick nimmt, sondern auch das Sterben und Trauern im Buddhismus und im Hinduismus mit den je eigenen Besonderheiten beschreibt. Das Buch schließt mit einem für akute Situationen sehr hilfreichen sechsten Kapitel, in dem das Wichtigste in Kürze in sehr übersichtlicher Weise zu finden ist. Dieses Kapitel ist eine Art Notfallmanual, in dem im Todesfall rasch erste wichtige Informationen abgerufen werden können und das in Situationen, die zunächst einmal Gefühle von Hilflosigkeit auslösen können, Orientierung und Ruhe vermitteln kann. Eines ist dieses Buch eindeutig nicht: Es ist nicht das erste oder gar einzige Buch zum wichtigen Thema »Trauer am Arbeitsplatz«. Aber es überzeugt durch seine klare Strukturierung und durch einen sehr hohen Praxisbezug. Es wäre wünschenswert, dass diese Fachlektüre Einzug hält in die Bücheregale von Personalverantwortlichen und Personal- und Betriebsräten. Deren Aufmerksamkeit hat es mehr als verdient und in deren Arbeitsplatzbibliotheken kann es wichtige Dienste tun.

Sylvia Brathuhn, Annedore Paeske, Eduard Zwierlein (2018). SchattenPerlen. Trauer erleben und verstehen. Münster: LIT, 197 Seiten Bereits im Sommer 2018 ist das Buch »SchattenPerlen – Trauer erleben und verstehen« in der Reihe »Philosophie und Lebenskunst« im LIT-Verlag erschienen. Verfasst ist es von Sylvia Brathuhn, Annedore Paeske und Eduard Zwierlein, entstanden aus einer begleiteten Trauererfahrung. In dieser Begleitung hat Annedore Paeske als trauernde Witwe für sich das Schreiben als hilfreiches Instrument des notwendigen Ausdrucks in der Trauer entdeckt und erfahren (im Sinne des Untertitels: Trauer erleben). Sylvia Brathuhn als Begleitende wiederum hat die Texte als Grundlage genommen, um aus den Erfahrungen von Annedore Paeske wichtige Trauererkenntnisse herauszuarbeiten, sie zu erläutern und in einen historischen und systematischen Bezug zur Trauerliteratur zu setzen. Orientiert an ihrem eigenen Modell »Werdeschritte« macht sie den gelungenen Versuch, die aus einer Trauererfahrung entstandenen Gedichte quasi aufzuschließen und den wichtigen Prozess, der darin ables-

N e u b e g i n n ! ? B e w a h r e n u n d Ve r ä n d e r n

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bar ist, sichtbar zu machen. In dem von ihr verfassten Teil des Buches geht es also zentral um das Verstehen von Trauer. Der dritte Verfasser dieses aus meiner Sicht ganz besonderen Buches, Eduard Zwierlein, hat dazu als Wissenschaftler und Philosoph eine ebensolche Einleitung geschrieben, überschrieben mit »Trauer – ein Weg zum Verstehen von Selbstverstehen«. Durch diese sehr philosophisch geprägte Einleitung habe ich mich in der Tat ein Stück mühsam durcharbeiten müssen, habe sie aber dennoch mit großem Gewinn gelesen. Es ist entsprechend Zwierleins beruflicher Herkunft ein durch und durch philosophischer Text, der Bezug nimmt zur Gedankenwelt von Paul Ludwig Landsberg, eines von seiner Herkunft her jüdischen Philosophen und Schülers von Max Scheler, der – evangelisch getauft – sich später zum katholischen Glauben bekannte. Aufgrund seines Engagements im französischen Widerstand wurde er im März 1943 verhaftet und starb gut ein Jahr später im Konzentrationslager Sachsenhausen an Hunger und Erschöpfung. Mich persönlich hat in diesem Buch spontan und vor allem der Abschnitt mit den Gedichten von Annedore Paeske interessiert. Diese überaus authentischen Texte, jeweils illustriert mit Fotos oder Bildern (teilweise von ihrem verstorbenen Mann) habe ich gelesen als Suchbewegungen und Entwicklungsschritte in Zeiten des Schmerzes, aber auch des Wachsens und der Zuversicht. Der Gedichttext, der dem Buch seinen Titel »SchattenPerlen« gegeben hat, macht diese ambivalenten Zeiten prägnant deutlich. Darin geht es metaphorisch gesprochen um »grauschattierte Täler« und um »trübe Ebenen«, Bilder, die Trauerbegleitenden aus ihrem Tun sicher sehr bekannt vorkommen. Zugleich wird im gleichen Text auch von »zaghafter Wahrnehmung mit Auge und Herz« gesprochen. Und von Wandel ist dort die

Rede, also von Entwicklung. An dieser Stelle benutzt Paeske den Titelbegriff »SchattenPerlen« und wandelt ihn selbst im Sinne von Aufbruch in den Begriff »PerlenSchatten«. Dieser dem Leben so zugewandte Umgang mit Sprache hat mich in vielen der in diesem Buch zu lesenden Gedichte sehr intensiv angesprochen und auch berührt. Immer wieder ist in diesen Gedichten von Bewegung und Entwicklung und Wandlung die Rede. Und deutlich wird darin auch das, was Trauer so unbedingt braucht: Ausdruck, in welcher Form auch immer. Sylvia Brathuhn knüpft mit Ihren Gedanken zum Verstehen von Trauer genau hier an. Sie schlägt mit Hilfe ihres Modells der »Werdeschritte« eine hilfreiche Brücke vom Erleben und vom Ausdruck der Trauer zur Theorie. Indem sie dieses Modell (in dem es ja zentral um Wachsen und Entwickeln geht, letztendlich um Individuation, also um Selbstwerdung) über die in dichte Sprache gegossene Trauererfahrung legt, öffnet sie auch eine ebenso hilfreiche wie lehrreiche Tür in die Praxis der Trauerbegleitung. Zu Beginn des Epilogs des Buches wird dies deutlich. Dort heißt es: »Menschen, die es schaffen, für ihre vielschichtigen und nicht selten unverstehbaren Trauerreaktionen Raum, Zeit und Verständnis zu finden, sie sich selbst zu schenken, werden in der Lage sein, sich allmählich neu zu (er)finden und zu gestalten.« In diesem Zitat bündelt sich für mich die Grundaussage aller drei Verfasser*innen. Hier begegnet das Erleben dem Verstehen. In der großen Fülle von Fachliteratur zum Thema Trauer/ Trauerbegleitung nimmt dieses Buch aufgrund seines besonderen Zugangs einen ganz eigenen Platz ein. Es eröffnet weitere Blickwinkel und Zugänge. Daher empfehle ich es sehr gern zur Lektüre, und das mit allen seinen drei sehr unterschiedlichen Abschnitten.

L E I D FA D E N   – FAC H M AG A Z I N F Ü R K R I S E N , L E I D, T R AU E R   H e f t  2  /  2 0 21

Einsamkeit durch Ausgrenzung, Ismen und Ignoranz

Meine Werte – deine Werte: Wie behandle ich Patienten, die ich nicht mag? Anders lieben. Anders trauern Erfahrungen eines schwulen Witwers

Begegnung mit Leiderfahrungen junger Geflüchteter in der Sozialen Arbeit Gehörlosigkeit – Gebärdensprache – Kulturvielfalt

Ausdruck von seelischem Leid in einer visuellen Sprache

u. a. m.

10. Jg. | 3 | 2021

© Roland Kopp-Wichman

Blinde Flecken

Leid faden

Thema: Anders leben, anders lieben, anders trauern

ANDERS LEBEN, ANDERS LIEBEN, ANDERS TRAUERN

Vorschau Heft 3 | 2021

10. Jahrgang

Leidfaden

3 | 2021 | ISSN 2192-1202

FA C H M A G A Z I N F Ü R K R I S E N , L E I D , T R A U E R

ANDERS LEBEN, ANDERS LIEBEN, ANDERS TRAUERN

Impressum Herausgeber/-innen: Monika Müller M. A., KAB-Ring 22, D-53359 Rheinbach E-Mail: [email protected] Prof. Dr. med. Lukas Radbruch, Zentrum für Palliativmedizin, Von-Hompesch-Str. 1, D-53123 Bonn E-Mail: [email protected] Dr. phil. Sylvia Brathuhn, Frauenselbsthilfe Krebs e. V., Landesverband Rheinland-Pfalz/Saarland e. V. Schweidnitzer Str. 17, D-56566 Neuwied E-Mail: [email protected] Prof. Dr. Arnold Langenmayr (Ratingen), Dipl.-Sozialpäd. Heiner Melching (Berlin), Dipl.-Päd. Petra Rechenberg-Winter M. A. (Hamburg), Dipl.-Pflegefachfrau Erika Schärer-Santschi (Thun, Schweiz), Dipl.-Psych. Margit Schröer (Düsseldorf), Rainer Simader (Wien), Prof. Dr. Reiner Sörries (Erlangen), Peggy Steinhauser (Hamburg) Bitte senden Sie postalische Anfragen und Rezensionsexemplare an Monika Müller, KAB-Ring 22, D-53359 Rheinbach Wissenschaftlicher Beirat: Dr. Colin Murray Parkes (Großbritannien), Dr. Sandra L. Bertman (USA), Dr. Henk Schut (Niederlande), Dr. Margaret Stroebe (Niederlande), Prof. Robert A. Neimeyer (USA) Redaktion: Ulrike Rastin M. A. (V. i. S. d. P.), Vandenhoeck & Ruprecht Robert-Bosch-Breite 6, D-37079 Göttingen Tel.: 0551-5084-423, Fax: 0551-5084-454 E-Mail: [email protected] Bezugsbedingungen: Leidfaden erscheint viermal jährlich mit einem Gesamtumfang von ca. 360 Seiten. Bestellung durch jede Buchhandlung. Die Bezugsdauer verlängert sich jeweils um ein Jahr, wenn das Abonnement nicht bis zum 01.10. bei der HGV gekündigt wird. Bestellungen und Abonnementverwaltung: HGV Hanseatische Gesellschaft für Verlagsservice mbH, Leserservice, Holzwiesenstr. 2, D-72127 Kusterdingen; Tel.: 07071-9353-16, Fax: 07071-9353-93, E-Mail: [email protected] Preise und weitere Informationen unter www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com. Verlag: Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstr. 13, D-37073 Göttingen; Tel.: 0551-5084-40, Fax: 0551-5084-454 www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2192-1202 ISBN 978-3-525-40705-9 ISBN 978-3-666-40705-5 (E-Book) Umschlagabbildung: Bernhard Moser/www.farbebewegt-plus.ch Anzeigenverkauf: Ulrike Vockenberg, Kontakt: [email protected] Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. © 2021 Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen Gestaltung, Satz und Lithografie: SchwabScantechnik, Göttingen Druck und Bindung: Beltz Grafische Betriebe GmbH, Bad Langensalza Printed in Germany

VORANKÜNDIGUNG

FACHTAGUNG LEIDFADEN ACADEMY ZUM THEMA »ZUVERSICHT« 04./05. FEBRUAR 2022

Anlässlich des zehnjährigen Jubiläums von »Leidfaden – Fachmagazin für Krisen, Leid, Trauer« Veranstalter: Universitätsmedizin Göttingen/Klinik für Palliativmedizin und BRILL Deutschland/Vandenhoeck & Ruprecht Veranstaltungsort: Tagungshaus Alte Mensa, Göttingen

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Wie Trauernde ihre Emotionen besser verstehen können und was in schweren Stunden hilft Was geschieht in uns, wenn wir einen schweren Verlust erleiden? Welchem Stress sind wir dabei ausgesetzt, und welche heilenden Kräfte schützen uns? Wie wirkt sich die Trauer aus und wie kann Freude wieder möglich werden? Die Grundlagen dieses innovativen Buches liegen in den langjährigen Erfahrungen des Autors in der Trauerbegleitung, aber auch dem Wissen über Trauerrituale in anderen Kulturen und Religionen sowie den aktuellen biologischen Erkenntnissen zum Prozess der Trauer. Gerade die hoch aktuellen Forschungsergebnisse zum Stressgeschehen können Hinweise geben, wie sich leibseelische Prozesse in uns vollziehen und wie wir sie gestalten können.

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