Anders leben, anders lieben, anders trauern: Leidfaden 2021, Heft 3 [1 ed.]
 9783666407697, 9783525407691, 9783525407073, 9783525462706

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10. Jahrgang  3 | 2021 | ISSN 2192-1202

faden Leid

FA C H M A G A Z I N F Ü R K R I S E N , L E I D , T R A U E R

A N D E R S L E B E N, ANDERS LIEBEN, A N D E R S T R AU E R N

ng und Beratung tu ei gl Be r de n Vo – n hö sc ist rs anders! Ande Monika Müller Schön ist ir zu nahekommt m de em Fr s da n en W ke En el Ax n)  unterschiedlicher Menschen(type deine Werte: Wie – te er W ne ei M ch ru db Ra s ka e  Lu oder ich die Orientierung verlier stattung Reiner Sörries Queere Be ?  ag m t ch ni ich e di , behandle ich Patienten

UMGANG MIT VIELFALT AM ENDE DES LEBENS WER SORGT SICH UM DIE SEELE? UND WIE?

ONLINETAGUNG Freitag, 29. Oktober 2021, 9–12 Uhr

Eine gemeinsame Veranstaltung vom Haus der Begegnung der Diözese Innsbruck, der Tiroler Hospiz-Gemeinschaft und dem Kardinal König Haus Wenn es in belastenden Situationen am Lebensende nicht nur für den Leib, sondern auch seelisch-geistig »prekär« wird, drängen sich verschiedene Fragen auf: Auf welchen unterschiedlichen spirituellen Hintergründen beruht die Begleitung? Welche Menschenbilder sprechen dadurch? Welche Formen des Umgangs mit Sterben, Tod, Trauer, Leid und Schmerz werden aktualisiert? Können diese neu verhandelt und weiterentwickelt werden? Welche Rolle spielen kulturell-religiöse Prägungen und gewachsene Traditionen und wie können sie thematisiert werden von Seiten der Betroffenen und aus der Perspektive der professionellen Akteur*innen? Die Veranstaltung wird mit einem Impulsvortrag zum Thema »Wenn Wissen und Handeln an Grenzen stößt – migrationsbezogene Handlungspraxen am Lebensende« von Prof. Dr. Ulrike Kluge, Professorin für Psychologische und medizinische Integrations- und Migrationsforschung an der Charité – Universitätsmedizin Berlin eröffnet. Angeregte Fragen und Perspektiven werden anschließend mit weiteren Expert*innen aus den Bereichen Medizin, Katholischer Klinikseelsorge, Islamischer Theologie und Seelsorge und den Teilnehmer*innen vertieft. Das hochkarätige Podium wird von Dr. phil. Patrick Schuchter, MPH, vom Kardinal König Haus moderiert. Das Symposium richtet sich an ein Fachpublikum, das schwer kranke und sterbende Menschen und deren Angehörige betreut und begleitet: Ärzt*innen, Pflegekräfte, Therapeut*innen, Seelsorger*innen, Sozialarbeiter*innen, ehrenamtliche Hospiz-Begleiter*innen u.a. Die Tagung findet online via Zoom statt. Anmeldung bis Freitag, 22. Oktober 2021 unter https://hdb.dibk.at/Termine Teilnahmebeitrag: € 25,Um DFP-Punkte wird angesucht. Aktuelle Details zur Onlineveranstaltung finden Sie zeitnah auf der Homepage.

VORANKÜNDIGUNG Im Rahmen einer Summer School finden multiperspektivische Workshops zum Thema statt. Merken Sie sich jetzt den Termin vor: Montag, 11. Juli 2022, 10-15 Uhr, Innsbruck

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EDITORIAL

Was wir sind, entsteht durch das, was wir nicht sind

Eindrücke, neue Erfahrungen, Austausch mit der Mitwelt, irritierende Begegnungen stimulieren und verstören mitunter unsere eingespielten Wahrnehmungsmuster. Sie konfrontierten mit scheinbar verlässlichen Bewertungskategorien oder tragenden Wirklichkeitskonstruktionen. Kurz: Es ist das Andere, das Gegenüber und das uns Fremde, das uns prägt. Im komplexen Miteinander bilden wir unsere Persönlichkeit. Nur in aufmerksamer Gegenseitigkeit werden wir zum Menschen, nur mittels Teilen sind wir lebensfähig, nur im beständigen Wechselspiel können wir Beziehungswesen existieren. Mit all unserem Eigensinn, unserer Individualität und Autonomie sind wir konstant eingebundener Teil eines umfassenden Miteinanders. Der Philosoph Hans Jonas1 beschreibt diese elementare Verbundenheit anhand des Stoffwechsels, jenes differenzierten Lebensprozesses, der unser menschliches Sein als beständiges Teilen sichert. Wir atmen Sauerstoff, den Bäume bilden, wir ernähren uns von dem, was wir Pflanzen und Tieren verdanken, wir entwickeln uns aneinander. Beständig tauschen wir unsere Substanz im kosmischen Wechselspiel, ihm verdanken wir unsere Existenz. 1

Hans Jonas (1997). Das Prinzip Leben. Ansätze zu einer philosophischen Biologie. Frankfurt a. M.

Im Element des Sozialen und des Geistigen begegnet uns das Andere oft auch noch jenseits von Austausch und Einverleibung. Fremdheit kann radikal sein – das Andere bleibt fremd und fern. Die Fremdheit ruft zur Antwort und zur Verantwortung, appelliert an eine Ethik der Gastfreundschaft. Dieses Themenheft befasst sich mit den sozialen und persönlichen Aspekten lebendigen Miteinanders, mit Begegnungen eigenwilliger Lebensentwürfe, einmaligen Erfahrungen, bisher unbekannten Sichtweisen und neuen Orientierungspunkten. Geleitet von Vorstellungen gegenseitigen Wachsens und im Verständnis des Lebens als transformativem Prozess laden wir Heftverantwortliche mit unseren Autorinnen ein, einem anderen Leben als dem eigenen zu begegnen, der Kraft anderen Liebens nachzuspüren und andere Formen des Trauerns respektvoll zu bestaunen. Wir geben der Diversität im Kontext von Krise, Leid und Trauer die Ehre.

Petra Rechenberg-Winter

Lukas Radbruch

Patrick Schuchter

Inhalt Editorial 1

4 Monika Müller

Schön ist anders! Anders ist schön – Von der Begleitung und Beratung unterschiedlicher Menschen(typen)

4 Monika Müller | Schön ist anders! Anders ist schön



9 Axel Enke

Wenn das Fremde mir zu nahekommt oder ich die Orientierung verliere

12 Traugott Roser

Anders lieben. Anders trauern. Erfahrungen eines schwulen Witwers

16 Bärbel Traunsteiner

Sind Begleitprozesse gleichgeschlechtlich l(i)eben­-

der Menschen anders zu gestalten? Förderliche Aspekte für die Begleit- und Prozessqualität

20 Jonathan Kohlrausch und Né Fink

Trans*-Sein und Transition: Impulse für Beratende – Ein Dialog

12 Traugott Roser | Anders lieben. Anders trauern. Erfahrungen eines schwulen Witwers



23 care-macht-mehr.com

Großputz! Care nach Corona neu gestalten – Ein Positionspapier zur Care-Krise aus Deutschland, Österreich, Schweiz – August 2020



30 Lukas Radbruch

Andere Länder, andere Sitten

23 care-macht-mehr.com | Großputz! Care nach ­Corona neu gestalten

71  Michaela Fink und Reimer Gronemeyer | Kinder in Namibia – Lebensbedingungen und Lebenskräfte in einer Krisengesellschaft



34 Sabine Egg

78  Verena Mayrhofer Iljić | Blinde Flecken: Einsamkeit durch Ausgrenzung, Ismen und Ignoranz

Gehörlosigkeit – Gebärdensprache – Kulturvielfalt – Ausdruck von seelischem Leid in einer visuellen Sprache

37 Lukas Radbruch

Meine Werte – deine Werte: Wie behandle ich Patienten, die ich nicht mag?



42 Christian Rabanus

​Inklusion und Identifikation durch Diversität



48 Reiner Sörries

Queere Bestattung



56 Theresa Sellner-Pogány

Die Krise als Lebenskonstante – Abschied und ­Verlust aus suchtmedizinischer Perspektive



61 Alexandra Prinz

Was bedeutet Sterben, Tod und Trauer für ­Menschen mit HIV?



65 Daniela Dohr

Zwischen geplanter Beziehung und Nächsten-



kritischen Praxis – Vorschläge für Methoden

liebe – Begegnung mit Leiderfahrungen junger

zur Weiterentwicklung der eigenen Haltung in

Geflüchteter in der Sozialen Arbeit

­Beratung und Begleitung

71 Michaela Fink und Reimer Gronemeyer

Kinder in Namibia – Lebensbedingungen in einer Krisengesellschaft



82 Fortbildung: Wege zu einer diskriminierungs­

78 Verena Mayrhofer Iljić

Blinde Flecken: Einsamkeit durch Ausgrenzung, Ismen und Ignoranz

84 Rezensionen 88 Verbandsnachrichten 91 Cartoon | Vorschau

92 Impressum

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Schön ist anders! Anders ist schön Von der Begleitung und Beratung unterschiedlicher Menschen(typen)

Monika Müller

Im Rahmen einer kollegialen Supervision erregt sich eine von mir durchaus geschätzte Frau, die im selben Kontext von Trauer tätig ist: »Also, mit Frau L. weiß ich nicht mehr weiter. Sie regt mich nur noch auf, von Termin zu Termin mehr. Ich gebe mir so viel Mühe mit ihr, habe ihr trotz meines engen Zeitplans zusätzliche Termine eingeräumt, aber sie kommt regelmäßig zu spät. Und ich hetze mich ab, um pünktlich zu sein. Dann haben wir zu Beginn besprochen, woran wir konkret mit ihrem Verlust arbeiten wollen, aber sie wechselt nach Belieben Thema, Ziel und Absprache. Nach jeder Sitzung dokumentiere ich akribisch den Verlauf des Gesprächs und fasse beim nächsten Termin dies noch einmal zusammen, um dort fortzufahren. Aber sie ist dann immer schon ganz woanders, lamentiert, dramatisiert, erzählt mir das Blaue vom Himmel, kommt nicht zum Wesentlichen und führt sich auf, als stünde sie auf einer Bühne.« Meine Kollegin ringt die Hände und schaut uns verzweifelt an. »Sie nervt, sie ist so …, sie ist halt so anders …« »Anders als wer?«, fragt jemand aus der Runde. »Naja, als ich«, lautet die verzagte Antwort. In der Gruppe entstand eine lebhafte Diskussion, wie hilfreich oder auch störend eine Ähnlichkeit oder Fremdheit mit der beratenden Person selbst sein könnte.

Eigen- und andersartig Die Vorstellung von Andersartigkeit geht als Referenzpunkt von einer stabilen, passenden, richtigen Identität aus – nämlich von der eigenen Artigkeit, der jeweiligen Eigen-Art. Diese Eigenheit bewirkt ein Identitätsgefühl, also das Gefühl von

Äpfel und Birnen, Farbholzschnitt, China, 1644 / Roland and Sabrina Michaud / akg-images

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Menschen, dass sie selbst ein kohärentes Bild von sich selbst haben. Diese »Substanz-Theorie« von Identität bietet vor allem: Orientierung und Sinn. »Anders« kann immer nur im Vergleich gesehen und bewertet werden, anders als …, abweichend von … Was aber nicht identisch ist, abweichend von etwas mir Sicherem oder von der eigenen Per-

son, ist verschieden und somit verwirrend, weil nicht bekannt oder gar vertraut. So gesehen konnten wir im kollegialen Draufschauen die Unsicherheit unserer Kollegin nachvollziehen. Gleichzeitig wollten wir doch das Anderssein ihrer Klientin und vor allem ihr heftiges Empfinden dazu besser nachvollziehen können.

Anders leben, anders lieben, anders trauern

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Auch waren wir daran interessiert, gemeinsam mit ihr einen Umgang mit diesem grundverschiedenen Auftreten und dem offensichtlich abweichenden Charakter erarbeiten. Ungleiche Charakterstrukturen Auf die Frage, wie sich unsere Kollegin selbst charakterisieren würde, meinte sie, dass ein wichtiges Merkmal ihres Wesens eine gewisse Zwanghaftigkeit sei. Und fügte direkt hinzu, diese gebe ihrem Privat- und Arbeitsleben Struktur und Halt. Nach Fritz Riemann zeichnen sich Menschen mit einem solchen Persönlichkeitsanteil im Wesentlichen durch ihr Streben nach Verlässlichkeit, Ordnung und präziser Planung aus sowie durch das Festhalten am Bestehenden und Vertrauten. Sie sehnen sich nach Dauer, Beständigkeit und Verlässlichkeit in allen Bereichen des Lebens. Der zwanghafte Mensch versucht »das Leben in Schemata und Regeln zu zwingen und setzt Unduldsamkeit und eigensinnige Ablehnung ein gegen alles, was ihn, weil es neu und anders als das Gewohnte ist, beunruhigt.«

Und genau diese Irritation und Beunruhigung erfolgte durch das Verhalten von Frau L., die offensichtlich mehr der histrionischen Charakterstruktur entsprach. Bei einer solchen Persönlichkeit handelt es sich um den Gegenpart zum Zwanghaften. Was also beim Zwanghaften Angst erzeugt – Chaos, Unbestimmtheit, Unplanbarkeit, Spontaneität und Wechsel –, sucht der histrio­ nische Mensch herzustellen, da dieser sich wiederum vor der zwanghaften Gegenstrebung ängstigt. Im Wesentlichen zeichnen Menschen mit hysterischer Persönlichkeit sich aus durch ihre Lebhaftigkeit, Emotionalität, Spontaneität und Handlungsfähigkeit. Sie lieben die Abwechslung und haben den lebhaften Drang, sich auszudrücken, sich mitzuteilen, inneres Erleben nach außen darzustellen; ein großes Kontaktbedürfnis sowie ein betontes Geltungsbedürfnis. Möglicherweise fürchten sie sich vor einengender Ordnung, Notwendigkeit und Festlegung, da dies mit Verantwortung verbunden ist. Dies steht ihrem Freiheitsund Ungebundenheitsdrang entgegen. Mir ist an dieser Stelle wichtig festzuhalten, dass die hier schematisch skizzierten beiden

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Wir könnten uns in der ­Würdigung des Anders­ artigen üben. Wir könnten uns dazu entschließen und dahin wachsen, auf das Andere neugierig zu sein, uns zu öffnen und bereichern lassen und gleichzeitig den eigenen Standpunkt nicht zu verlieren.

Colourbox

Persönlichkeitsstrukturen und die damit verbundenen Ängste Normalstrukturen mit gewisser – mehr oder weniger starker – Akzentuierung darstellen. Keine dieser Ängste und Persönlichkeitsstrukturen kommt in Reinform vor. Wir alle tragen die Anlagen in uns, die unterschiedlichen Persönlichkeitsstrukturen auszubilden. Je nach genetischer Disposition, Sozialisation und Erziehung tendieren wir mehr oder weniger zu einem der genannten Typen. Es handelt sich bei Riemanns Erklärungsmodell menschlicher Persönlichkeitsstrukturen und der damit verbundenen Grundängste um eine typologische Zuordnung. Diese typologischen Markierungen können helfen, die Komplexität der unterschiedlichen Charaktertypen durchsichtiger zu machen. Das kann dann sehr hilfreich sein, um die Unterschiedlichkeiten besser zu verstehen. Vergleiche sind dann nicht gleich Grund für Abwertungen des mir Fremden, sondern Hilfen zum Verständnis. Und genau zu dieser Verständlichkeit führte unsere Diskussion. Unsere Kollegin und wir begriffen immer deutlicher, wie schwierig ein Zusammenkommen und gegenseitiges Erfassen die-

ser beiden so verschiedenartigen Frauen gewesen sein muss. Die Kollegin war erleichtert, dass wir ihr Problem nachvollziehen konnten und es ihr nicht als mangelnde Kompetenz zuschrieben. »Wenn mir Klienten ähnlicher sind, ist es sicher leichter mit ihnen«, meinte sie abschließend. Führen Ähnlichkeiten zu besserem Verständnis? Nicht unbedingt. Bei sehr großer echter oder vermeintlicher Ähnlichkeit mit der Klientin (in der Charakterstruktur, im Alter, in der Familien- oder Berufssituation und besonders im Verlustgeschehen selbst) entstehen Phantasien, Impulse, Gefühle und eine Identitätsvermutung, die mit der anderen Person nichts zu tun haben müssen. Der Fachbegriff hierfür lautet konkordate Gegenübertragung:  mit dem Erleben der Patientin identifiziert zu sein. »Ich möchte später am liebsten Mütter begleiten, die ein Kind verloren haben«, schrieb eine Frau in ihrem Bewerbungsschreiben für die Aufnahme in einen Trauerfortbildungskurs, »denn schließlich weiß ich aus eigenem Erleben leider nur zu gut, wie es denen geht.« Vielleicht wird spätestens an diesem Punkt deutlich, warum es so wichtig ist, sich selbst sehr gut zu kennen und genau zu reflektieren, wohin welches Gefühl gehört. Schließlich wollen Begleiterinnen ihren Klientinnen nichts Eigenes überstülpen. Nicht zuletzt ist dies ein Grund, warum Selbsterfahrung und Supervision Bestandteile der Beraterausbildung und während der Begleittätigkeit sind. Mit der Gegenübertragung verfügen wir über ein sehr feines Instrument, das die Orientierung in komplexen Beziehungssituationen erleichtert. Es lohnt sich, das Erkennen und Bewusstmachen der Gegenübertragung in der Einzel- oder Gruppenbegleitung zu trainieren. Denn wenn wir auf unsere Gegenübertragungsgefühle achten, wird uns oft klarer, welcher Art von Übertragung wir ausgesetzt sind und zu welchem Rollenspiel wir verführt zu werden drohen.

Anders leben, anders lieben, anders trauern

8   M o n i k a M ü l l e r

Mehr Bandbreite Es mag deutlich geworden sein, dass der, die oder das Andere eine Ergänzung der eigenen Vorstellungen und Möglichkeiten und eine Ausweitung des Weltbilds bedeuten kann. Allerdings muss man dafür den Glauben aufgeben, Andersartigkeit sei dringend änderungs- oder zumindest kritikbedürftig. In der Soziologie gibt es den Begriff der Ambiguitätstoleranz1, also das Aushalten und Gestalten von Fremdheiten und Gegensätzen. Mit dieser Fähigkeit eröffnet sich die Möglichkeit, Fremdheiten, Widersprüchlichkeiten,  miteinander unvereinbare Erwartungen, Unstimmigkeiten oder mehrdeutige Informationslagen in ihrer Vielschichtigkeit und Pluralität wahrzunehmen, zu respektieren und im besten Fall positiv zu bewerten. »Andere Meinungen und Sichtweisen sind zu hören sowie Mehrdeutigkeiten und Widersprüche in Situationen und Handlungsweisen zu ertragen, ohne sich unwohl zu fühlen oder aggressiv zu reagieren« (Dorsch 2004, S. 11). Menschen, die nicht in Bereitschaft für dieses Toleranzstreben sind, empfinden Andersartigkeit und Widersprüchlichkeiten sowie paradoxes Verhalten möglicherweise als Bedrohung ihrer persönlichen Wahrnehmung der Wirklichkeit. Kein Wunder, dass sie sich dementsprechend unwohl fühlen. In der Reaktion hierauf werden dann oft Abwertungsmechanismen aktiviert, um das aus dem Lot geratene emotionale Gleichgewicht wiederherzustellen. Das Erwartungswidrige, Unstrukturierte oder Mehrdeutige kann so als minderwertig klassifiziert werden.

meintlich unauflösbare Erfahrungen immer auch als eigene Lernchancen auffassen. Wir könnten lernen, uns in einem Korridor zu bewegen, der Spielraum für Anpassungen und flexible Selbstund Fremdbewertungen lässt. Wir könnten uns in der Würdigung des Andersartigen üben. Wir könnten uns dazu entschließen und dahin wachsen, auf das Andere neugierig zu sein, uns zu öffnen und bereichern lassen und gleichzeitig den eigenen Standpunkt nicht zu verlieren. Das So-Sein verlebendigt sich im Anderssein Vor Jahren war ich in der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin die Sprecherin der so genannten »anderen Berufsgruppen«, nämlich derer, die nicht der Medizin und Pflege angehören. Es gab in unseren Reihen immer mal wieder Unmutsäußerungen über diese Bezeichnung, man erlebte sie als ausgrenzend oder sogar abwertend. Dann hörten wir von einem unserer Mitglieder, dass in der Philosophie der/die/das Andere als Ermöglichungsgrund für das Eigene gesehen werden könne, weil es die Bestimmung des Einen in sich enthält (vgl. Levinas 2003). Fortan stellten wir uns vor, dass Mediziner/Medizinerinnen und Pflegende uns »Andere« brauchten zur Schärfung ihres Berufsbildes und ihrer selbst, und trugen die Bezeichnung mit einem gewissen Stolz. Monika Müller, M. A., war Leiterin von ALPHA Rheinland, der Ansprechstelle in NRW zur Palliativversorgung, Hospizarbeit und Angehörigenbegleitung mit Sitz in Bonn. Sie ist Dozentin und Supervisorin im Bereich Trauerbegleitung und Spiritual Care.

Das Andere als Einladung des Reifens Thérèse von Lisieux hat einmal geschrieben: »Verschiedenheit (… kann) Ermutigung (sein), am eigenen Weg nicht stehen zu bleiben.« Wir Beraterinnen dürfen frustrierende oder paradoxe, ver1

Der Begriff geht auf Adorno zurück (vgl. Luhmann 2011).

Literatur Dorsch, F. (2004). Psychologisches Wörterbuch. Hrsg. von H. O. Häcker u. K.-H. Stapf. 14. Auflage. Bern u. a. Levinas, E. (2003). Die Zeit und der Andere. Hrsg. von L. Wenzler. Hamburg. Luhmann, N. (2011). Organisation und Entscheidung. 3. Auflage. Wiesbaden. Riemann, F. (1961). Grundformen der Angst und die Antinomien des Lebens. Basel/München.

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Wenn das Fremde mir zu nahekommt oder ich die Orientierung verliere Axel Enke

Axel Enke

Haben Sie das schon mal erlebt? Sie gehen durch eine fremde Landschaft und auf einmal wissen Sie nicht mehr genau, wo Sie sind? Beunruhigender ist es dann noch, wenn man nicht mehr genau weiß, wo es lang geht, und in einer unbekannten Landschaft kann sich sogar Angst ausbreiten, zumal wenn gleichzeitig ein Gewitter naht. In solch einer Situation verlieren wir mehr oder weniger die Orientierung, was unmittelbar Verunsicherung auslöst. In einer fremden Landschaft braucht man dann schon ein gutes Vertrauen in

die eigenen Kompetenzen, um nicht noch ängstlicher zu werden, was ja letztlich wenig hilfreich ist. Doch welche Kompetenzen genau? Dieses Phänomen der Orientierung ist sehr vielschichtig. Zunächst einmal lernen wir, uns in und an uns selbst zu orientieren. Dies können wir wunderbar beobachten, wenn ein Säugling plötzlich seinen Fuß entdeckt und genüsslich an der

Um Handlungsoptionen entwickeln zu können, ist es hilfreich, sich erst einen Überblick zu verschaffen.

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Axel Enke

Großzehe lutscht. Sodann orientieren wir uns an den Beziehungspersonen, die durch ihre verlässliche Wiederkehr uns interaktiv Sicherheit schenken. Wir orientieren uns in dem Moment an den unsichtbaren, aber sehr wirkmächtigen Banden der Beziehungsorientierung. Und so kommen in unserem Leben nach und nach weitere Ebenen der Orientierung hinzu, die alle ein »sich orientieren« verlangen: im Kindergarten, in der fremden Welt der Schule, im Berufsleben und in immer abstrakteren Feldern wie gesellschaftlichen und politischen Fragestellungen. In all diesen Aspekten müssen wir uns orientieren. Aber was ist eigentlich das »sich orientieren« genau? Der deutsche Philosoph Werner Stegmaier erklärt es als Leistung, sich in einer Situation zurechtzufinden, um Handlungsmöglichkeiten auszumachen. Sind wir in einer Situation (scheinbar) eingeschränkt, erwarten wir von uns selbst oder anderen eine Handlung; die Situation wird ungemütlich bis ängstigend. Um Handlungsoptionen entwickeln zu können, ist es hilfreich, sich erst einen Überblick zu verschaffen. Dabei ist jede Situation grundsätz-

Bezugs- oder Referenzpunkte bestimmen, was ich sehe.

lich mehr oder weniger neu. Ich benötige also zunächst einmal einen Standpunkt, von dem aus ich Bezugspunkte definiere. Bereits die körperliche Erfahrung zeigt uns, dass Bezugs- oder Referenzpunkte bestimmen, was ich sehe. Wer schon mal auf einem Berg stand weiß, dass der Blick in die Ferne sehr unterschiedliche Perspektiven und Details hervorbringt. So sehen wir unterschiedliche Horizonte, die sich in dem Maß ändern, wie wir uns ihnen zuwenden und auf sie zugehen. Dabei kann ein vormaliger Horizont schnell zu einem neuen Standpunkt werden. Und der jetzige Standpunkt ermöglicht durch die Blickrichtung zurück einen bekannten Horizont, nämlich den Ort, wo ich vormals stand, der jetzt aber anders aussieht. Diese Metapher des Gehens und der (Lebens-) Wanderung verweist auf die zeitliche Dimension beim Orientieren. Jede neue Orientierung löst die vorangegangene ab. Und so kann im Hier und Jetzt jederzeit etwas geschehen, das meine Orientierung stört. Im Laufe des Lebens erlernen wir kulturell bestimmte Orientierungsweisen, ohne dass wir uns daüber Rechenschaft ablegt haben. So bin ich bis heute beispielsweise leicht irritiert, wenn mich ein dunkelhäutiger Mensch mit fließendem Deutsch anspricht. Und meine Irritation macht mir deutlich, dass ich eine unbewusste Orientierung erlernt habe, die so nicht stimmt. Das ist der Hinweis auf die Wirkung von Diversität. Wir alle sind sozusagen zunächst einmal gefangen in einem engen, erworbenen Orientierungsmodus, der in einer Welt der zunehmenden Unterschiede immer weniger angemessen ist. Ich muss mich also neu orientieren beziehungsweise meinen Horizont erweitern. Dies ist nicht schwer, wenn ich mich mit der oder dem Fremden auf einen gemeinsamen Weg mache. In der Erfahrung merke ich, dass die oder der Fremde bekannter und vertrauter wird. Wie eine Landschaft, die ich durchwandere und dabei viele schöne Details entdecke. Das führt mich zu dem sogenannten Überblick. Der Überblick hat es in sich. Denn wenn ich aus der Distanz einen Überblick habe, erkenne

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We n n d a s Fr e m d e m i r z u n a h e k o m m t o d e r i c h d i e O r i e n t i e r u n g v e r l i e r e    1 1

ten auf ihrem Horizont beharren und die eigene Blickrichtung und Perspektive als die einzige Wahrheit reklamieren. Die Behauptung einer Wahrheit in Bezug auf sehr komplexe Sachverhalte und Beziehungsgefüge geht von einem Wissensmodus aus (So ist die Welt!). Im Orientierungsmodus schaut man eher wie auf einer Bergspitze herum und orientiert sich erst einmal nach verschiedenen Möglichkeiten. Und das impliziert, dass es verschiedene Perspektiven gibt und diese zeitlich nacheinander angeschaut werden müssen. Man kann nun mal nicht gleichzeitig alles betrachten. Unser Blick und somit auch unser Standpunkt sind eingeschränkt, weswegen wir uns eigene Horizonte erarbeiten müssen. Axel Enke ist systemischer Berater und Lehrender, Coach, ­Kinaestheticstrainer und leidenschaftlicher Bergwanderer. Derzeit auf einer persönlichen Reise zum Philosophischen Praktiker. Kontakt: [email protected] Literatur Stegmaier, W. (2008). Philosophie der Orientierung. Berlin.

Axel Enke

ich nicht die wichtigen Details. Sehe ich die Details, habe ich keinen Überblick. Und das ist auch wieder so ein Dilemma. Beides zugleich kann ich nicht gewährleisten. Ich muss also eine Anstrengung aufbringen, um mal nah zu sein und mal auf Distanz zu gehen. Dies nennen manche auch Perspektivwechsel. Das ist jedoch anstrengend, da man seine eigenen, scheinbar so verlässlichen Standpunkte verlassen muss. Für manche ist diese Art der Neuorientierung eine Zumutung! Sie hätten gern die Welt so, dass sie den eigenen Standpunkten entspricht. Neben der benötigten Anstrengung entsteht eine weitere Herausforderung: Je öfter ich meine wechselnden Standpunkte und Orientierungen ändere, desto mehr beginne ich zu begreifen, dass die Welt nicht so eindeutig ist, wie ich es gern hätte. Hier kommt der Begriff der Ambiguitätstoleranz ins Spiel. Das Aushalten der Uneindeutigkeiten wie »alles ist möglich« oder »es könnte auch ganz anders sein« ruft emotional nach festen und sicheren Standpunkten. Wir erleben das beispielsweise in der aktuellen Pandemie. Woran sollen wir uns orientieren? Es gibt so viele verschiedene Meinungen und Erkenntnisse. Und je größer die Unsicherheit wird, desto mehr sehnen wir uns nach klaren Haltepunkten, an denen wir ankern können. Das gäbe uns Orientierung, Sicherheit und einen nötigen Erklärungsrahmen. Und so hat manch einer, der noch nie eine Person traf, die ernsthaft durch C ­ OVID-19 betroffen war, eine völlig andere Orientierung als eine Person, die einen Zugehörigen auf einer Intensivstation verlor oder deren Zugehörige durch Long-COVID ernsthaft und längere Zeit beeinträchtigt ist. Beide leben in der gleichen Welt, aber sie haben unterschiedliche Perspektiven, aus denen unterschiedliche Standpunkte entstehen. Doch was kann ich tun? Wie können wir einander ankoppeln oder zumindest einander nähern? Das erscheint grundsätzlich dadurch möglich, dass beide im Gespräch die Perspektive des jeweils anderen einnehmen. Es wird allerdings schwierig bis unmöglich, wenn beide Beteilig-

Ich durchwandere eine Landschaft und entdecke dabei viele schöne Details.

Anders leben, anders lieben, anders trauern

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Anders lieben. Anders trauern. Erfahrungen eines schwulen Witwers

Traugott Roser In Zeiten, in denen – Gott sei’s gedankt (auch wenn einige von Gottes Repräsentanten auf Erden immer noch zicken) – homosexuelle Partnerschaften und Regenbogenfamilien vor dem Gesetz den Heterosexuellen und der »klassischen« Familie gleichgestellt sind, klingen meine Erinnerungen wie aus einer längst vergangenen Zeit. Man mag dies als Wühlen in der Vergangenheit abtun. Aber in der Hospizbegleitung wissen wir, dass alte Erfahrungen sich zurückmelden, vor allem dann, wenn man sie verdrängen will. In den Senioren- und Pflegeheimen sind längst Frauen und Männer eingezogen, die in ihrem Leben handfester staatlicher, gesellschaftlicher und juristischer Diskriminierung ausgesetzt waren. Viele von ihnen haben irgendwann ein »Outing« erlebt – nicht immer freiwillig – und gelernt, offen schwul, lesbisch oder bisexuell zu leben oder als Transmann oder Transfrau ihr Recht auf ein selbstbestimmtes Leben durchzusetzen. Aber es gibt auch viele, die einen wesentlichen Teil ihres Seins verstecken mussten und sich dafür schämten. In der Situation von Pflegebedürftigkeit oder Krankheit werden diese Erfahrungen eine Rolle spielen. Meine eigenen Erfahrungen mögen als ein Beitrag zum Verständnis gelesen werden. Mein eingetragener Lebenspartner starb im November 2006, zwei Jahre nach der Diagnose Darmkrebs. Die Krankheit, die zu seinem Tode führte, musste ich damals gegenüber Kolleginnen und Kollegen extra erwähnen, denn ihnen war ich vor allem als offen Schwuler bekannt. Als ich ihnen von der gesundheitlichen Situation meines Partners (er war Mitte vierzig) berichtete, war die erste Nachfrage: »Schon wieder AIDS?« Dass einer schwuler Mann auch an einer ande-

ren, »normalen« Krankheit sterben konnte, war wohl kaum denkbar. Schon wieder AIDS? Gut fünfzehn Jahre vorher war ich schon einmal am Sterbebett eines Lebensgefährten gesessen, der tatsächlich an einer durch AIDS bedingten Lungenentzündung ziemlich schnell verstarb. Mein erster mehrjähriger Freund hatte im München der achtziger Jahre hautnah die Befreiung der LGBT-Community miterlebt. Die Jahrzehnte der Kriminalisierung schienen endlich überwunden, man durfte feiern, in bunten Paraden am Christopher Street Day durch die Stadt gehen, flirten, tanzen, Sex haben. Der »Schwulenkrebs«, wie es anfangs hieß, verbreitete sich rasend und raffte vital wirkende Menschen dahin. Wenn wir in Diskos oder bei Feiern zusammen waren, gab es immer einen, von dem wir wussten, dass er infiziert war. Manche lebten lange damit, manche nicht. Mein erster Mann gehörte zu den Letzteren. Ich kann mich sehr gut an die Szenen im Krankenhaus erinnern, in dem er die letzten drei Wochen seines Lebens verbrachte: Das Personal war sehr liebevoll. Ich durfte fraglos zu jeder Tag- und Nachtstunde zu meinem Freund und konnte, als er dann gestorben war, auch alle weiteren Freunde und Freundinnen anrufen, damit wir am Sterbebett gemeinsam Abschied nehmen konnten. Geprägt hat mich die Szene, als zwei Ärzte zu meinem noch lebenden Freund kamen und ihm die Frage stellten, ob er als letzte kurative Option künstlich beatmet werden oder lieber darauf verzichten wolle. Er flüsterte, er wolle nicht an die Maschine. Die Ärzte sahen mich an, als ob sie meine Bestätigung haben wollten. Das ist der Moment, der mich – im Nachhinein – auf das Thema

Wir begannen öffentlich für unsere Rechte zu kämpfen. Dass Schwule, Lesben, Queere heute unter dem Motto »Pride« marschieren, hat mit den Kränkungen jener Jahre zu tun. Patientenverfügung und Vorsorgevollmacht aufmerksam werden ließ. Es ist wahrscheinlich der Moment, in dem mein Weg in die Hospiz- und Palliativarbeit begann. Beim Bestattungsinstitut war es ganz anders. Da hatte ich nichts zu sagen, denn ich hatte keinerlei rechtlichen Status. Den Begriff »Zugehöriger« kannte kein Mensch, und Angehöriger durfte ich nicht sein. Seine Familie, die aus dem Schwäbischen angereist kam, musste alles entscheiden. Bis auf eine Schwester waren sie sehr nett zu mir. Als es um das Erben ging, war natürlich Schluss mit lustig. Die Schwester sorgte dafür, dass seine Wohnung versiegelt wurde, damit ich nichts mitnehmen könne. Und der Vermieter wartete nicht einmal bis zum Tag der Beerdigung, um die Wohnung bereits neu zu vermieten. Ich wurde nicht einmal gefragt, ob wir zusammengewohnt hätten. Das Sterben an AIDS ging im Freundeskreis weiter. Wenn Schwule bei Beerdigungen unerwünscht waren, haben wir in einer Münchner Kirche separate Trauerfeiern veranstaltet. Wir begannen öffentlich für unsere Rechte zu kämpfen, das Recht, im Krankenhaus am Kranken- und Sterbebett sitzen zu dürfen. Nicht als Fremder Erbschaftssteuern nach Höchstsatz und ohne Freibetrag zahlen zu müssen. Rentenansprüche geltend machen zu können. Ja, sogar heiraten zu dürfen. Dass Schwule, Lesben, Queere heute

unter dem Motto Pride marschieren, hat mit den Kränkungen jener Jahre zu tun. All das war 2006 schon anders. Da gab es bereits seit vier Jahren die eingetragene Partnerschaft. Mein Mann und ich haben uns genau ein Jahr nach Einführung des Gesetzes »verpartnern« lassen; da waren wir schon etliche Jahre zusammen. In Bayern war gleichgeschlechtlichen Paaren der Gang zum Standesamt verwehrt (mit der schönen Begründung »zum Schutz von Ehe und Familie«). Wir nutzten den Besuch im Notariat auch zur Regelung der »letzten Dinge«. Wichtig war uns auch der kirchliche Segen für die Partnerschaft. Mein Mann kam aus einer katholischen Familie. Von seiner Kirche hat er sich vor allem wegen der unbelehrbaren Haltung Roms zur Homosexualität weit entfernt, nicht jedoch von seinem Glauben. Wie sich dann bald erweisen sollte, war der Segen notwendig. Er hat uns vor allem in den zwei Jahren der Krebsbehandlungen und des nahenden Sterbens getragen. Ich frage mich, ob die Gegner kirchlicher Segnungsfeiern für gleichgeschlechtliche Partnerschaften jemals darüber nachdenken, welche Folgen die Verweigerung von Segen hat. Wer nicht gesegnet wird, fühlt sich verflucht. Das kennen auch wiederverheiratete Geschiedene. Die Bedeutung der eingetragenen Lebenspartnerschaft wurde mir beim Gang zur Rentenversi-

Anders leben, anders lieben, anders trauern

Von S Pakhrin from DC, USA – Capital Pride Parade DC 2014, CC BY 2.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=33876600

A n d e r s l i e b e n . A n d e r s t r a u e r n .    1 3

Jose Clemente Orozco, Prometheus, 1945 / Photo © Christie’s Images / Bridgeman Images

cherungsbehörde vor Augen geführt. Mein Mann hatte im Verlauf der Erkrankung die Verrentung beantragen müssen. Als ich wenige Tage nach der Beerdigung zur Behörde ging, klärte mich die Beraterin als Erstes darüber auf, dass mir nun offiziell die sogenannte »Kleine Witwerrente« zustehe. In den Augen des Gesetzes galt ich als Witwer, dem zwar wegen Alter und Eigenverdienst keine Rente zustand, der aber doch auf Dokumenten diesen Status anzuzeigen hatte. Einem Nichtbetroffenen mag das seltsam anmuten. In der Zu-

schreibung des Witwer-Titels wurde aber festgehalten, dass die Lebenspartnerschaft Teil meiner Lebensgeschichte ist, auch im Umgang mit Behörden, Arbeitgebern etc. Zugleich brachte die Beraterin der Rentenbehörde zum Ausdruck, dass ich bedeutsam für meinen verstorbenen Partner war, indem sie mich als Ansprechpartner akzeptierte. Nachdem die Diskriminierung homosexueller Partnerschaften oder auch nur gleichgeschlechtlichen Verkehrs über Jahrzehnte Staatsangelegenheit war, Zehntausende ins Gefängnis und ins KZ

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A n d e r s l i e b e n . A n d e r s t r a u e r n .    1 5

gebracht hatte, fühlt sich die staatliche Anerkennung noch immer wie ein Ausnahmezustand an. Diskriminierende Erfahrungen erlebte ich auch nach 2006 noch immer. Das Standesamt verweigerte bei der Erstellung der Sterbeurkunde den bei Ehen üblichen Eintrag des (immerhin ja »eingetragenen«) Lebenspartners. Das führte wiederum dazu, dass die Rentenbehörde nach Erhalt der Urkunde einen Fehler reklamierte, mit der Folge, dass ich nicht als Rentenberechtigter eingesetzt werden könne. Der Sachbearbeiter des Standesamts erklärte mir, dass es ihm gesetzlich verboten sei, einen gleichgeschlechtlichen Lebenspartner einzutragen. Die Rentenbehörde machte über diesen Vorgang einen Vermerk in ihrer Akte und erwies sich als kulant. An der Universität erlebte ich noch lange wenig Erbauliches. Ein väterlich gesinnter Kollege nahm mich einmal beiseite. Er hatte erfahren, dass ich mich bei einer Bewerbung auf eine Professur mit meiner eingetragenen Lebenspartnerschaft und als Witwer erkennbar gemacht hätte. »Behalten Sie das lieber für sich, da sind Sie schnell aus dem Rennen.« Heterosexuelle vermerken selbstverständlich ihren Familienstand (»verheiratet, drei Kinder« etc.) und erwarten dafür Anerkennung. Als schwuler Witwer muss ich mir genau überlegen, was ich schreibe, damit ich nicht schon in der Vorrunde ausscheide. Nur ein paar Jahre nach dem Tod meines Mannes erlebte ich als Seelsorger eine Situation, in der ein Patient mit einer schlimmen Tumorerkrankung in einer Hospizeinrichtung aufgenommen wurde. Wegen eines MRSA-Keims durfte man sich nur mit Schutzkleidung nähern. Er wurde von seiner Mutter täglich besucht, aber auch von einem etwas jüngeren Mann, mit dem er seit Jahren schon zusammenlebte. Die Mutter, die in einer weiter entfernten Kleinstadt lebte, wusste nichts davon – und so sollte es auf Wunsch des Kranken auch bleiben. Als bei Durchsicht der Krankenakten aber herauskam, dass der Patient auch HIV-positiv war (was er und sein Mann wussten), drehte das Hospizteam samt Ärzten

durch. Der Patient wurde bedrängt, er solle seiner Mutter von seinem Status erzählen, was er strikt ablehnte. Man rief mich hinzu. Ich fragte, ob man mich als Seelsorger und Krisenberater oder als Schwulen mit AIDS-Erfahrung brauche. Auch mir gegenüber blieb der Patient bei seiner Position: Die HIV-Erkrankung und sein Schwulsein ging nur ihn und seinen Freund etwas an. Allerdings nahm er die Anregung auf, mit einer Notarin die Lebenspartnerschaft eintragen zu lassen und ein Testament zu verfassen, damit der Freund nicht aus der Wohnung geworfen werden konnte. Der behandelnde Arzt fürchtete aber um die Gesundheit der Mutter und setzte sie schließlich von der Infektionserkrankung in Kenntnis, obwohl die Schutzkleidung ja vor Kontakt mit Blut bewahrte. Das Drama nahm seinen Lauf: Die Mutter zog für die verbleibende Lebenszeit ihres Sohnes in den Kampf gegen seine Lebensweise und schrie den Freund an. Ihre größte Angst war, dass jemand bei der Beerdigung von der HIV-Infektion und dem Schwulsein ihres Sohns erfahren könnte. Die Trauer aller Beteiligten, des Patienten vor dem Tod, des Freundes und der Mutter, wurde durch den Bruch des selbstgewählten Tabus verkompliziert. Das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung und auf Schutz der eigenen Daten sind Grundrechte, die es auch bei bester Intention des Gesundheitspersonals zu wahren gilt. Vieles ist heute anders. Vieles ist heute besser. Aber Erfahrungen von Diskriminierung und Marginalisierung sind Kranken und Trauernden aus der LGBTIQ+-Community bis heute nicht fremd. Und wir tragen viele Narben – manche unter reichlich Schminke –, die dann schmerzen, wenn man unsensibel an sie rührt. Traugott Roser lehrt Praktische Theologie an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Münster mit den Schwerpunkten Seelsorge, P ­ alliative Care, Religion im Film und Pilgern. Er lebt mit seinem Mann in der Nähe von Münster. Kontakt: [email protected]

Anders leben, anders lieben, anders trauern

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Sind Begleitprozesse gleichgeschlechtlich l(i)ebender Menschen anders zu gestalten? Förderliche Aspekte für die Begleit- und Prozessqualität

Bärbel Traunsteiner Die Frage, wie gleichgeschlechtlich l(i)ebende Menschen l(i)eben und trauern und ob sie dies anders als andere tun, ist nicht beantwortbar. Denn es gibt sie nicht, die gleichgeschlechtlich l(i)ebenden Menschen. Gleichgeschlechtlich l(i)ebende Menschen haben vielfältige Geschlechtsidentitäten, unterschiedliche soziale wie ethnische Hintergründe und sind verschiedenen Alters. All diese Aspekte bedingen, dass es auf diese beiden Fragen keine allgemeingültige Antwort gibt. Was es allerdings sehr wohl gibt, sind strukturelle Rahmenbedingungen, welche die Lebensgestaltungsmöglichkeiten von Individuen beeinflussen oder gar beschränken, und dementsprechend auch Auswirkungen auf individuelle Trauer- und Sterbeprozesse haben. Diese Rahmenbedingungen sind je nach den sexuellen Orientierungen, mit denen Menschen durch ihre Leben gehen, unterschiedlich. Zur Förderung der Qualität einer Prozessbegleitung ist ein reflektierter Umgang mit und in diesen Strukturen, in denen wir alle leben, empfehlenswert. Für Ehrenamtliche wie Professionist*innen, die mit gleichgeschlechtlich l(i)ebenden Menschen im Zuge von Krisen, Leidenssituationen oder in Trauerprozessen in Kontakt kommen, können daher folgende Fragen und Anregungen für eine qualitative Prozessbegleitung unterstützend sein. Mit welchen inneren Bildern/Vorannahmen gehe ich selbst auf Menschen zu? In unserer Gesellschaft existiert eine hetero­sexu­ elle Norm – der Fachbegriff dafür ist »Hetero­ normativität«. Unter diesem Begriff ist der Um-

stand zu verstehen, dass Heterosexualität von der Gesellschaft als »natürlich« und »normal« angesehen und bewertet wird und dass an jeden Menschen diese antizipative und normative Erwartung1 herangetragen wird (vgl. Goffman 1967, S. 13). Das bedeutet, dass von jedem Individuum angenommen und erwartet wird, heterosexuell zu leben und auch zu begehren. Diese Unterstellung von heterosexuellem Begehren entspricht der »gängigen gesellschaftlichen Praxis« (Köllen 2012, S. 147). Dementsprechend wird die Frage, welche sexuelle Orientierung wir in einem ersten, unbedachten und unreflektierten Blick unserem (unbekannten) Gegenüber zuschreiben, überwiegend mit »heterosexuell« beantwortet. Überlegen Sie, wann Sie beispielsweise gegenüber einer anderen Person zuletzt von »ihrem Mann« oder »seiner Frau« gesprochen haben, ohne jedoch zu wissen, ob Ihr Gegenüber überhaupt in einer heterosexuellen Beziehung lebt. Jeder Mensch, dem wir im Zuge von Prozessbegleitungen begegnen – sei es als Betroffene*r oder auch als Unbeteiligte*r –, kann vielfältige L(i)ebensbeziehungen leben und sich für diese Anerkennung wünschen. Allein die sprachliche Adressierung beispielsweise mit dem Begriff »Ihre Lieben« – welche das Geschlecht der geliebten Personen vollkommen offenlässt – schließt alle Menschen und ihre L(i)ebensbeziehungen mit ein – unabhängig von ihrer sexuellen Orientierung. Begleitung, Hilfe oder auch Rat anzunehmen oder anderen Unterstützung zu gewähren, bedingt eine Offenheit Ihres Gegenübers. Diese notwendige Offenheit können Sie mittels eige-

Ernst Ludwig Kirchner, Drei Akte im Wald, 1909/1920 / akg-images

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ner Offenheit und der dafür nötigen Reflektiertheit hinsichtlich Ihrer eigenen Vorannahmen und dadurch bedingter Ansprachen fördern.

Familienzusammenhänge hinaus ist daher unbedingt empfehlenswert. Wer hat das Recht (zu trauern)?

Wer sind die Beteiligten im Prozess? Die Frage der Betroffenen ist im Kontext vielfältiger sexueller Orientierungen teilweise eine ebenso vielfältig beantwortbare. Gleichgeschlechtlich geliebte Menschen können selbst die Verstorbenen oder Trauernden sein, können aber auch Partner*innen, Eltern, Kinder, Angehörige, Freund*innen oder Bekannte von Trauernden sein. Im Kontext von nicht-heteronormativen Beziehungen können soziale Beziehungen sowohl normativ gelebt werden als auch unkonventionell. Das traditionelle Familienbild mit Vater, Mutter, Kind kann ebenso vorgefunden werden – zum Beispiel mit einer erst im späteren Lebensverlauf gleichgeschlechtlich l(i)ebenden Mutter oder auch einem schwulen Sohn – wie Wahlfamilien mit ausgewählten L(i)ebens­menschen. Das bedeutet, dass sich die zuvor genannte Offenheit zum einen gegenüber allen Prozess­beteiligten an den Tag zu legen empfiehlt, sowohl gegenüber dem schwulen Vater der verstorbenen Tochter als auch der bisexuellen Partnerin des heterosexuellen Sohnes, dem schwulen Lebensmenschen und gleichzeitigen Nachbar des*der Verstorbenen und so weiter. Zum anderen sind eine Offenheit für und ein respektvolles In­teresse an den vielfältigen L(i)ebens- und (Wahl-)Familien­ beziehungen der Prozessbeteiligten für einen unterstützenden Prozess förderlich. Nichthetero­normative L(i)ebensweisen und dementsprechende Outings oder Verborgenheiten haben nicht nur Einfluss auf die Liebenden selbst, sondern auch auf ihre Beziehungen und ihre Familien. Je nachdem wie diese sozialen Prozesse verliefen beziehungsweise verlaufen, gestalten sich auch die Familien-, Freund*innenschafts- und L(i)ebensbeziehungen sehr unterschiedlich. Der sensible und vorbehaltlose Einbezug von potenziellen Prozessbeteiligten über heteronormative

Die Auswirkungen von heteronormativen Strukturen schlagen sich auch in rechtlichen Rahmenbedingungen nieder. Wer beispielsweise eine L(i)e­bes­beziehung rechtlich mittels Heirat oder Verpartnerung anerkennen lassen kann, hängt von der anhaltenden rechtlichen Wirkmächtigkeit dieser normativen Strukturen in den jeweiligen Staaten ab. Bei weitem nicht überall ist es Menschen beispielsweise möglich, ihre homosexuellen L(i)ebensbeziehungen mittels Heirat oder Verpartnerung zu institutionalisieren2. Insofern gibt es – je nach Rechtslage – Angehörige und Trauernde, die beispielsweise Zugang zu institutionellen Informationen im Sterbe- oder auch Trauerprozess bekommen, und andere Angehörige wiederum nicht. Diese Abhängigkeit von staatlicher Anerkennung ist individuell nicht beeinflussbar und hinterlässt teils große Verletzungen und eine große Bandbreite von Emotionen. Wahlfamilien oder L(i)ebensmenschen ohne rechtliche Verbindung zur*m Sterbenden oder Verstorbenen haben beispielsweise keinen Rechtsanspruch auf Auskunft hinsichtlich ihrer geliebten Person. Insofern gilt es sich dieser unterschiedlichen Rechtsansprüche und daraus resultierender Un-/ Zugänglichkeiten und Berechtigungen im Begleitprozess bewusst zu sein/werden und darauf einzugehen. Denn das Menschenrecht zu leiden und zu trauern haben alle – unabhängig davon, ob sie rechtsstaatliche Rechte hinsichtlich der Sterbenden oder Verstorbenen haben. Darüber hinaus ist Grundlagenwissen zu rechtlichen, gesellschaftlichen und historischen Entwicklungen rund um nicht-heteronormative L(i)e­bens­beziehungen und deren Nicht-/Anerkennung als ein wesentlicher Baustein von Beratungskompetenz anzusehen. Denn Wissen zu den Rahmenbedingungen der Lebenswelten von Leidenden und Trauernden und damit bei-

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B e g l e i t p r o z e s s e g l e i c h g e s c h l e c h t l i c h l ( i ) e b e n d e r M e n s c h e n    1 9

spielsweise das Wissen um strafrechtliche Verbote3 von homosexuellen Handlungen – welche bis ins 21. Jahrhundert rechtlich bestimmend auf die Beziehungsmöglichkeiten und die Leben von homosexuellen Menschen in Österreich gewirkt haben4 – kann als förderliche Grund­lage von Beratungsprozessen angesehen werden. Denn je mehr Wissen um strukturelle Rahmen-, L(i)ebensund Sterbebedingungen bei den Beratenden und Begleitenden vorhanden ist, desto weniger Aufklärung durch die Beratenen oder Begleiteten ist notwendig, und auch das Risiko für diesbezügliche Irritationen kann dadurch reduziert werden. Welche Rolle spielt Anerkennung in Begleitprozessen mit gleichgeschlechtlich l(i)ebenden Menschen?

gegebenheiten lässt auch (teils tiefe) Emotionen besser nachvollziehen, die rund um das Thema Anerkennung in der Prozessbegleitung von und mit gleichgeschlechtlich l(i)ebenden Menschen auftauchen. Diese Emotionen können Zeichen für bereits durchgestandene Krisen, erlittenes Leid oder auch tiefsitzende Trauer im Kontext von Nicht-Anerkennung sein, die in Trauer- und Begleitprozessen (erneut) ihren Widerhall finden. Drin Bärbel Traunsteiner ist Organisationsentwicklerin, Supervisorin und Fach-/Hochschullektorin. Ihre Arbeitsschwerpunkte liegen im Bereich Führungskräftecoaching und Teamsupervision sowie im Themenfeld Diversität und Diversitätsmanagement. Kontakt: [email protected] Website: www.baerbeltraunsteiner.at Literatur

Egal welche*r der Prozessbeteiligten in nichtheteronormativen L(i)ebenszusammenhängen lebt(e): Die Frage der persönlichen, zwischenmenschlichen, institutionellen und/oder gesellschaftlichen Anerkennung als gleichgeschlechtlich l(i)ebender Menschen spielt im Leben und damit auch im Sterben sowie Trauern von und um nicht-heteronormativ l(i)ebenden Menschen immer eine (teils sehr große) Rolle: sei es die Akzeptanz der eigenen Begehrensweisen, die nicht immer von Anbeginn gegeben ist und teils bis zum Ende des eigenen Lebens nicht erlangt werden kann oder konnte; sei es die Anerkennung in Beziehungen mit anderen Menschen wie Freund*innen, Arbeitskolleg*innen oder auch Eltern, die teils niemals erlangt wird; sei es die institutionelle Nicht-Anerkennung von nicht-heteronormativen L(i)ebensweisen, wie sie auch in Gesundheitseinrichtungen – aber längst nicht nur dort – immer wieder anzutreffen ist; sei es die nicht annähernd vollständige gesellschaftliche Anerkennung gleichgeschlechtlicher L(i)ebensweisen. Diese mangelnde Akzeptanz bis hin zur Diskriminierung sind Strukturelemente heteronormativer Gesellschaften, die individuell nicht veränderbar sind. Das Wissen um diese Struktur-

Cremer-Schäfer, H.; Stehr, J. (1990). Der Normen- und WerteVerbund Strafrecht, Medien und die herrschende Moral. In: Kriminologisches Journal, 22, S. 82–104. Durkheim, É. (1961). Die Regeln der soziologischen Methode. Hrsg. von R. König. Neuwied. Goffman, E. (1967). Stigma. Über Techniken der Bewältigung beschädigter Identität. Frankfurt a. M. Köllen, Thomas (2012): Privatsache und unerheblich für Unternehmen? Der Stand der Personalforschung zur »sexuellen Orientierung«. In: Zeitschrift für Personalforschung, 26, 2, 2012, S. 143–166. Anmerkungen 1 Die (Aus)Wirkungen von (Hetero-)Normativität gehen jedoch weit über eine reine Erwartungshaltung an Individuen hinaus. Soziale Normierungen sind dadurch charakterisiert, dass sie außerhalb der Definitionsmöglichkeiten von Individuen liegen und immer im Zusammenhang mit Macht, Zwang und Sanktion gegenüber diesen stehen (vgl. Durkheim 1961, S. 105 ff.). Sie finden Niederschlag beispielsweise in religiösen Dogmen, Moralgeboten oder auch in rechtlichen Normen wie beispielsweise der Möglichkeit der rechtlichen Anerkennung von L(i)ebensgemeinschaften. 2 Beziehungen, die über die Anzahl von zwei Partner*innen hinausgehen, sind von dieser rechtlichen Anerkennung beispielsweise weltweit noch viel weiter entfernt. 3 Das Strafrecht wird hier beispielhaft als heteronormativer »Teil eines ›Normen & Werte-Verbunds‹« (Cremer-­Schäfer und Stehr 1990, S. 82) und damit als Ausdruck und Zeichen von Macht und Herrschaft in Gesellschaft und Staat angeführt. Andere Rechtsbereiche sind jedoch ebenfalls derart durch heteronormative Bedingungen gekennzeichnet. 4 Erst im Jahr 2002 und damit erst Anfang des 21. Jahrhunderts wurde der letzte Sonderparagraph zu homosexuellen Handlungen in Österreich (§ 209) als verfassungswidrig durch den Verfassungsgerichtshof aufgehoben und damit außer Kraft gesetzt.

Anders leben, anders lieben, anders trauern

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Trans*-Sein und Transition: Impulse für Beratende Ein Dialog

Jonathan Kohlrausch und Né Fink

Trans*/Transition Das Wort trans* kann als Adjektiv genutzt werden und beschreibt die verschiedenen Erfahrungen, die Menschen in ihrem Alltag machen, die sich nicht (mehr) mit dem Geschlecht identifizieren, welches ihnen bei der Geburt zugewiesen wurden. So ist beispielsweise eine trans*Frau eine Frau, deren Geschlecht bei der Geburt als »männlich« beschrieben wurde. Nun lebt sie aber als Frau und möchte als solche anerkannt werden. Ihre Transitionserfahrungen können sein, dass sie sich einen passenden neuen, weiblichen Namen gibt, ihrem Umfeld Bescheid sagt, den Namen und das passende Geschlecht rechtlich eintragen lässt, ihr Äußeres angleicht (durch Kleidung, medizinische Unterstützung etc.). Aber auch Diskriminierungsund Beschämungserfahrungen sowie gesellschaftlich Ausschlüsse sind in dieser Gesellschaft Alltagserfahrungen dieser Frau. Für all diese Erfahrungen nutzen wir hier das Adjektiv trans*. In diesem Dialog sprechen Jonathan Kohlrausch und Né Fink über ihre Erfahrungen mit systemischer Beratungsarbeit im Kontext Trans*Beratung. Jonathan: Als ich gefragt wurde, ob wir für diese Ausgabe des Leidfadens das Thema »trans*« in den Kontext von Leid, Krise, Trauer stellen können, hat es sofort »klick« gemacht. Viele Themen fächern sich auf. Als Erstes aber war für mich der Gedanke: Damit Neues entstehen kann, hat Transition auch mit Abschied, Loslassen und auch mit Trauern zu tun, für trans* Menschen selbst und auch für ihre An- und Zugehörigen. Und ich denke, dass trans* Menschen im Kontext von Beratung bessere Erfahrungen machen können, wenn Berater*innen für diese Gleichzeitigkeit sensibel sind. Né: Die Themen von Trauer, Leid und Krise begleiten alle Menschen im Laufe ihres Lebens auf die ein oder andere Art. In der Beratung von

trans* Personen und ihrem sozialen Umfeld fällt mir auf, wie oft das Trans*Sein selbst direkt mit Leid verknüpft wird. Bestimmt leiden auch manche Menschen unter der Tatsache, dass sie trans* geschlechtlich sind, oder können dies nur schwer akzeptieren. Gleichzeitig sehe ich in der Beratungsarbeit, wie die gesellschaftlichen Bedingungen dieses Leid oft erst produzieren. Zum Beispiel wenn Menschen, die sich nach langen Jahren der inneren Auseinandersetzung endlich sicher sind: »Ja, ich bin eine Frau.« Und dann erst die Schwierigkeiten durch Nicht-Akzeptanz des Umfelds, Zwangsbegutachtung oder Wartezeiten bis zu geschlechtsangleichenden Maßnahmen so richtig anfangen. Die Stigmatisierung, die trans* Menschen in dieser Gesellschaft erfahren, verursacht oft viel Leid und in schlimmen Fällen auch Depressionen bis hin zu Suizidalität. Es ist deswegen für Berater*innen sehr wichtig, diese Gefühle von Trauer, zum Beispiel über den Verlust von Freund*innen oder Familie, ernst und wahrzunehmen.

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Tr a n s * - S e i n u n d Tr a n s i t i o n : I m p u l s e f ü r B e r a t e n d e    2 1

Jonathan: In der Transition lassen Menschen Altes los – Geliebtes und Ungeliebtes. Loslassen, Losgelassenem einen Ort in der Biografie geben, darum trauern zu dürfen, ohne dass das von außen als Hinweis gilt, vielleicht doch nicht »so sicher« zu sein – das finde ich wichtig. In der Beratung dazu ist für mich die systemische Haltung des wertschätzenden, interessierten NichtWissens entscheidend: Ich kenne die Identitätsfragen und -antworten meiner Klient*innen nicht. Die Bilder von Geschlecht, mit denen viele Menschen vertraut sind, lassen (noch/allzu oft) wenig Raum für diese Spezifik einer Trans*Biografie. In einem solchen Kontext eine eigene Erzählung über die Biografie zu finden, ist eine Ressource für und von trans* Menschen. Beratung kann ein Freiraum sein, um selbstbestimmt diese Erzählung zu finden. Das sehe ich auch in der Beratung von Angehörigen von trans* Menschen. Angehörige wollen vielleicht einen Menschen auf gute Weise begleiten, müssen sich zugleich von Aspekten oder auch als wesentlich Empfundenem verabschieden, sehen vielleicht auch eigene Gewissheiten über Geschlecht in Frage gestellt. Das ist manchmal herausfordernd, wird vielleicht auch widersprüchlich erlebt, und hier ist eine Beratung hilfreich, die Uneindeutigkeit aushält und wertschätzt.

Né: Wie in jeder Beratung ist eine offene, möglichst unvoreingenommene Haltung auch in der Beratung von trans* Menschen und ihren Zuund Angehörigen hilfreich. Die Suche nach Ressourcen (Kompetenzen und Erfahrungen, Kontakte, Vorbilder, positive Repräsentationen in Film und Medien) ist in der Arbeit mit gesellschaftlich marginalisierten Gruppen zentral. Ihre Erfahrungen, zum Beispiel Ausschluss und Diskriminierungserfahrungen, und das dadurch entstandene Leid in einen gesamtgesellschaftlichen Kontext zu stellen, kann die ratsuchende Person von »irgendwas stimmt mit mir nicht«/»ich bin falsch« zu einem »die Gesellschaft bietet mir nicht dieselben Chancen und Möglichkeiten« führen. Also eine alternative, sich selbst wertschätzende Wahrnehmung anbieten. Die Erkenntnis, dass nicht alle Menschen in dieser Gesellschaft gleich ernst genommen und oft leider auch nicht gleich respektvoll behandelt werden, kann Trauer auslösen. Im Beratungssetting kann ein Raum geschaffen werden, wo diese Trauer gefühlt und angeschaut werden darf. Der*die Berater*in kann hier begleitend zur Seite stehen und den Raum eröffnen, wenn sie*er die Hypothese hat, dass die Trauer an anderen Orten keinen oder nur wenig Raum haben kann/darf. In der Beratung erleben wir, dass Menschen zuerst

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mit ihrem Schmerz gesehen werden wollen, bevor sie dann erste Schritte Richtung Lösung gehen können. Jonathan: Ich arbeite auch methodisch gern mit dem Raum. Zum Beispiel im Lebensfluss können Menschen ihre Biografie einschließlich ihrer Entwicklungswünsche als kongruent erleben – Ressourcen aus ihrer Vergangenheit für die Zukunft nutzen. In der Systemaufstellung können wir erfahren, was die Veränderung der einen Person mit dem System macht, mit Nähe, Distanzen, Blickrichtungen, Bindungen – und wie das System sich heilsam mitverändern kann. Es soll Raum sein, hier kreativ und bedürfnisorientiert Neues auszuprobieren. Deswegen arbeite ich übrigens mit ganz neutralen, einheitlichen Klötzen. Die Zuschreibung und Phantasie liegt bei den Klient*innen. Es soll nicht dazu kommen, dass ein Klotz für eine Tochter durch einen Klotz für einen Sohn ausgetauscht werden muss. Né: Ich persönlich mag paradoxe Fragen und Interventionen sehr gern. Dafür muss natürlich die Beziehungsebene gut passen. Ich frage Klient*innen oder Eltern gern, wie lange sie eine Situation noch aushalten können. Oder auch, wie lange die Eltern noch brauchen, um den neuen Namen und die neuen Pronomen zu lernen. Ich lasse mir dann eine ganz genaue Zeitangabe geben und mich nicht mit einem »bald« oder »ich brauche halt noch Zeit« abspeisen. Die trans* Kinder und trans *Jugendlichen bringt das zum Schmunzeln. Denn im Alltag machen sie häufig die Erfahrung, dass ihr Bedürfnis nach Veränderung weniger wichtig ist als das Bedürfnis des Umfelds, die Veränderung zu verzögern oder gar nicht zu wollen. In der Beratung versuche ich, die Eltern mit ihren Bedürfnissen ernst zu nehmen, aber auch die Perspektive des Kindes immer wieder zu stärken: »Was wäre, wenn es dem Kind mit der sprachlichen Anpassung besser geht?« »Was wäre das Schlimmste, was passieren kann, wenn im Alltag ein neuer Name ausprobiert wird?«

Paradoxe Interventionen und auch Skalenfragen können für die Ratsuchenden Impulse geben, sich in der Beratung erstmal gedanklich und dann später vielleicht auch zu Hause etwas Neues auszuprobieren. Ich gebe Familien dann die Aufgabe mit, das einfach mal eine Woche auszuprobieren mit dem neuen Namen und es wieder zu lassen, falls es keine Verbesserung bringt. Auch das gehört für mich zur Arbeit mit Trauer und Leid. Spaß zu entdecken und auch die verschiedenen sozialen Transitionsprozesse nicht nur als »schwer« oder »verlustreich« zu betrachten, sondern auch Umgangsstrategien wie Witze, albern und ausgelassen sein, gerade im Kontext von Schwere und Krise, wiederzuentdecken. Jonathan: Da stimme ich dir zu. Transition kann und sollte für alle Beteiligten auch kreativ und lustvoll gestaltet werden, als eine Veränderung, in der Menschen (neue) Ressourcen entdecken und ausleben können. Dr. Jonathan Kohlrausch ist systemischer Berater und Coach. Er berät und arbeitet selbstständig sowie an der Universität zu Lübeck zu Geschlecht und Sexualität, Diskriminierungserfahrungen und Gesundheitsthemen. Zudem arbeitet er als Coach im Bereich der Wissenschaft. Kontakt: [email protected] Website: www.jonathankohlrausch.de Né Fink arbeitet als Trainer und Berater für geschlechtliche Vielfalt und begleitet als ehrenamtlicher trans*Berater trans*Personen, ihre Zu- und Angehörigen sowie Multiplikator*innen. Xe [Pronomen] ist systemischer Berater in Ausbildung. Kontakt: [email protected] Website: www.ne-fink.de

Gemeinsam ­bieten Né Fink und ­Jonathan Kohlrausch Workshops für systemische Berater*innen zum Thema geschlechtliche Vielfalt an.

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Großputz! Care nach Corona neu gestalten Ein Positionspapier zur Care-Krise aus Deutschland, Österreich, Schweiz – August 2020

care-macht-mehr.com

Initiativkreis Prof. Dr. Barbara Thiessen, Landshut Dr. Bernhard Weicht, Innsbruck Prof. Dr. Maria S. Rerrich, München Dr. des. Frank Luck, Basel Dr. Karin Jurczyk, München Prof. Dr. Claudia Gather, Berlin Prof. Dr. Eva Fleischer, Innsbruck Prof. Dr. Margrit Brückner, Frankfurt/Main

Ausgangspunkt Die Auswirkungen der Coronakrise im Care-Bereich sind nicht überraschend. Denn Krise war schon vorher im Erziehungs- und Gesundheitsbereich, in Sozialer Arbeit und im Familienalltag. Wir haben sie im länderübergreifenden Care-Mani­fest vom Sommer 2013 als Care-­Krise bereits skizziert:

wohl ist Care keine Privatangelegenheit, sondern eine gesellschaftliche Aufgabe. Auch wenn derzeit einzelne Themen öffentlich verhandelt werden (Kita-Ausbau, Pflegenotstand, Burnout etc.), sind grundsätzliche Lösungen nicht in Sicht. Das Ausmaß der Krise zeigt sich erst, wenn alle CareBereiche zusammen gedacht werden.«

»Care in allen Facetten ist in einer umfassenden Krise. Hierzu gehören unverzichtbare Tätigkeiten wie Fürsorge, Erziehung, Pflege und Unterstützung, bezahlt und unbezahlt, in Einrichtungen und in privaten Lebenszusammenhängen, bezogen auf Gesundheit, Erziehung, Betreuung u. v. m. – kurz: die Sorge für andere, für das Gemeinwohl und als Basis die Sorge für sich selbst, Tag für Tag und in den Wechselfällen des Lebens. Care ist Zuwendung und Mitgefühl ebenso wie Mühe und Last. Gleich-

Die Krise in Care-Bereichen, die durch die Coronapandemie nun noch viel deutlicher zu sehen und zu spüren ist, zeigt sich am ohnehin schon bestehenden Mangel an Pflegefachpersonen ebenso wie an der Not von 24-Stunden-­ Betreuerinnen aus osteuropäischen Ländern. Sie betrifft auch Familien mit Kindern, vor allem durch die Gleichzeitigkeit von Home-Office und Home-Schooling – für Alleinerziehende eine unlösbare Aufgabe. Angehörige von Menschen

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mit Behinderungen sind betroffen, die nach der Schließung von Betreuungseinrichtungen als Unterstützungspersonal in Verantwortung genommen wurden. Nicht zuletzt leiden Kinder und Jugendliche, die nicht mehr in Kindertagesstätten (Kitas), Horte und Einrichtungen der offenen Jugendarbeit gehen können. Zutage treten auch die Probleme, die entstehen, wenn Sozialarbeits-, Gesundheits- und Pflegestrukturen vor allem nach ökonomischen Kriterien ausgerichtet werden. Dies zeigt der eklatante Mangel an Personal und Ausrüstung. Deutlich wurde auch, dass diejenigen, die Care leisten, einerseits endlich als »systemrelevant« sichtbar und als solche auch beklatscht wurden, andererseits aber in den Krisenstäben und Expertengremien nicht oder nicht angemessen vertreten waren. In der noch andauernden Pandemie wird einmal mehr deutlich, dass zum Menschsein nicht nur der Wunsch nach Unabhängigkeit und Eigenständigkeit gehört, sondern auch Verletzlichkeit und Angewiesenheit. Menschen können – in jedem Alter – ohne Care nicht (über-)leben. Frauen sind als Care-Gebende sowohl in Familien als auch in Care-Berufen überproportional aktiv. Dass Care-Tätigkeiten in beiden Bereichen sinnstiftend und erfüllend sein können, entdecken aber auch immer mehr Männer. Wir sollten Care jenseits von Geschlechterklischees denken und adressieren, ohne Geschlechterhierarchien zu verfestigen. Und: Care-Arbeit muss geschlechtergerecht finanziert werden. Die Krise kann dann eine Chance sein, wenn nicht nur Prämien und Held*innentitel verteilt werden, sondern die Gelegenheit genutzt wird, unsere Gesundheits-, Sozial- und Wohlfahrtssysteme und somit die Gesamtheit von Care-Arbeit gesellschaftlich solidarischer zu organisieren und zu finanzieren. Wir haben dazu erste Arbeitspakete vor dem Hintergrund unserer Forschungen zusammengestellt, die an einigen Stellen exemplarisch auf die besondere Situation in den drei Ländern Deutschland, Österreich, Schweiz Bezug nehmen.

Care-Reform-Arbeitspakete I. Care Mainstreaming einführen! Abhängigkeiten von anderen und die Sorge füreinander sind keine Randerscheinungen, die auf kleine Gruppen der Gesellschaft reduziert sind. Vielmehr besteht menschliches und gesellschaftliches Leben aus Interdependenzen, denen mit unterschiedlichen Arten von Care begegnet wird. Eine faire Gesellschaft muss deshalb an diesen – für die Existenz aller – notwendigen Tätigkeiten und Bedarfen ausgerichtet werden. Überall in ökonomischen und sozialpolitischen Planungsprozessen soll Care von Beginn an mitgedacht werden: Care Mainstreaming heißt, dass bei allen politischen Maßnahmen aller Ressorts die Auswirkungen auf Menschen, die Care-Verantwortung tragen, die Care-Tätigkeiten leisten oder die Care benötigen, als verpflichtende Dimension bei Entscheidungen berücksichtigt werden. Es braucht dafür eine breite gesellschaftliche Auseinandersetzung darüber, wie wir Care gemeinsam organisieren wollen, in der die Stimmen aller Beteiligten gehört werden. So startet zum Beispiel in Österreich ein digitaler Beteiligungsprozess zur Zukunft der Pflege, der in der parlamentarischen Entscheidungsfindung seinen Niederschlag finden muss. II. Professionelle Care-Arbeit angemessen finanzieren und entlohnen! Die Finanzierung von Kliniken, Pflege-, Sozialoder Erziehungseinrichtungen, basierend auf öffentlichen Mitteln und Beitragszahlungen, muss so geändert werden, dass die Erfüllung des sozialpolitischen Auftrags im Vordergrund steht, statt die Erwirtschaftung von Renditen. Dies betrifft vor allem gute Rahmenbedingungen für Nutzer*innen und Beschäftigte. Das Beispiel Österreich zeigt, dass es möglich ist, dies auch politisch umzusetzen: So sind dort in mehreren Bundesländern Altenpflegeheime verpflichtend gemeinnützig zu führen.

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G r o ß p u t z ! C a r e n a c h C o r o n a n e u g e s t a l t e n    2 5

Auch in Care-Berufen, die spezialisierte, oft hochqualifizierte Ausbildungen erfordern, ist eine angemessene Tarifierung von Care-Arbeit, die den spezifischen Anforderungen der Tätigkeiten entspricht, wesentlich. Seit den 1980er Jahren gibt es ausgearbeitete Modelle der Arbeitsbewertung, die sowohl Beziehungskompetenzen als auch die unmittelbare Verantwortung für Menschen einbeziehen. Care-Arbeiter*innen in der Pflege, der Erziehung, der Sozialen Arbeit, aber auch Arbeitende in der Gebäudereinigung sind gewerkschaftlich wenig organisiert. Zudem ist in Deutschland der Anteil der tarifgebundenen Arbeitgeber*innen, die in Verbänden organisiert sind, in vielen dieser Branchen gering. Damit fehlen wesentliche Voraussetzungen für erfolgreiche Tarifverhandlungen und auch für Flächentarife. Um mehr Macht in Tarifauseinandersetzungen zu haben, bessere Löhne und Arbeitsbedingungen auszuhandeln, ist es erforderlich, dass sich deutlich mehr Beschäftigte aus dem Care-Bereich zusammenschließen und gewerkschaftlich organisieren. Solange dies nicht der Fall ist, ist die Politik gefordert, entsprechende Rahmenbedingungen und Mindeststandards zu setzen, wie dies aktuell in Deutschland im Bereich der Pflege geschieht: Neben dem allgemeinen gesetzlichen Mindestlohn wird für die Pflege durch eine »Pflegekommission«, bestehend aus Vertreter*innen von Arbeitgeber*innen und Arbeitnehmer*innen, ein Branchenmindestlohn verhandelt. Dies kann aber nur ein erster Schritt zu einem System angemessener und gerechter Löhne sein. Das wäre auch für viele weitere Care-Berufe mit geringem Organisationsgrad notwendig. III. Arbeitsbedingungen in Care-Berufen verbessern! Der Mangel an Menschen, die in Care-Berufen wie Pflege, Sozialer Arbeit oder Kindererziehung und -betreuung arbeiten wollen, ist über bessere Bezahlung allein nicht zu beheben. Ein we-

sentlicher Faktor sind die Bedingungen, unter denen professionelle Care-Arbeit heute geleistet wird. Das gesellschaftliche Image als zweite, schlechtere Wahl gegenüber der »eigentlichen« Versorgung oder Betreuung in Familien ist dabei nur ein Aspekt. Imagekampagnen, die hervorheben, dass die Lebensbedingungen in Heimen besser sein können als ihr Ruf und dass Kitas besonders gute Lern- und Entwicklungsmöglichkeiten bieten können, reichen nicht aus. Für die Umsetzung qualitativ hochwertiger professioneller Care-Arbeit braucht es neben gut ausgebildetem Personal vor allem angemessene Betreuungsschlüssel und Fallzahlen, hinreichend Zeit für Kommunikation, um Care-Aufgaben im Dialog gestalten zu können, und auf das Wesentliche fokussierte Dokumentationspflichten. Hierzu gehört etwa gesellschaftlich-politisches Engagement wie die »Pflegeinitiative« des Berufsverbandes SBK (Schweizer Berufsverband der Pflegefachfrauen und Pflegefachmänner: www.pflegeini� tiative.ch). Dann können Fachpersonen das tun, wofür sie ausgebildet sind: Menschen unterstützen in einem selbstbestimmten Leben. Ebenso braucht es eine Arbeitswelt mit flachen Hierarchien, Mitsprache bei der Gestaltung der Arbeitsprozesse sowie Möglichkeiten für kontinuierliche Fort- und Weiterbildung. Ein weiteres positives Beispiel ist aus Deutschland mit aktivistischer Organisierung gelungen, rund um die Arbeitskämpfe an der Berliner Charité 2014. Hier wurden ein erweiterter Pflegeschlüssel und das Wieder-­ »Insourcing« von Berufsgruppen in die Klinik (zum Beispiel Reinigungskräfte, Hausmeister*innen) erkämpft. Prekarisierte Angebote in Pflege und Betreuung, wie etwa die häusliche 24-Stunden-Betreuung, müssen neu geregelt werden: Ausreichende Sozialversicherung, angemessene Entlohnung, fairer Zugang zu Sozialleistungen, kontrollierte Arbeitsbedingungen mit genügend Freizeit und Erholung, menschenwürdige Lebensbedingungen in den Haushalten sowie ein sicherer Aufenthaltsstatus sind vorzusehen. Dies sollte ohne Pseudo-­

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Selbstständigkeit und Abhängigkeiten von Vermittlungsorganisationen umgesetzt werden. Darüber hinaus braucht es gesamteuropäische Zugänge, damit nicht die Lösung von Problemen in einem Land durch migrantische Arbeitskräfte zu einer Verschärfung der Care-Krise in deren Herkunftsländern führt. Ein erster Schritt dazu wäre die Ratifizierung (Österreich) beziehungsweise Umsetzung (Deutschland, Schweiz) der ILO-Konvention 189 zum Schutz von Hausangestellten. Die Kampagnen dazu sollten von Selbstvertretungsorganisationen der migrantischen Pflege- und Betreuungskräfte, Gewerkschaften und NGOs gemeinsam getragen werden. Zudem braucht es lokale Informationskampagnen, um die migrantischen Arbeitskräfte über die ihnen zustehenden Rechte aufzuklären und die Haushalte über ihre Pflichten zu unterrichten.

wiesen ist, auch mit einem Lohnersatzanspruch und sozialer Sicherung einhergehen. Ein solches »Optionszeitenmodell« (www.fis-netzwerk.de) zielt darauf, berufliche Unterbrechungen oder Arbeitszeitreduzierungen für Care-Aufgaben für alle Menschen zu einer neuen Normalität zu machen. Wenn diese selbstverständlich werden, tragen nicht mehr vor allem Frauen die Risiken für Care-bedingte berufliche Auszeiten. Dieses Zeitmodell kann nur dann geschlechtergerechte Wirkung erzielen, wenn es flankiert wird durch begleitende steuerliche und sozialversicherungsrechtliche Regelungen (zum Beispiel bei Renten und Pensionen) sowie durch Abschaffung des Gender Pay Gap.

IV. Mehr Zeit für Care im Alltag und im Lebenslauf! Care braucht Zeit – im Beruflichen und im Privaten. Die jeweiligen Aufgaben folgen einer eigenen Logik, nicht einem standardisierten Takt, und davon hängt die Qualität von Care stark ab. Deshalb müssen Menschen über ein Recht auf Zeit für Care-Aufgaben verfügen, das sie beim Berufseinstieg erhalten. Das Verhältnis von Ausnahme und Regel bei der Inanspruchnahme von persönlichen Care-Zeiten wird damit umgekehrt. Denn bislang gilt jede Unterbrechung oder Verkürzung der Erwerbsarbeit als Abweichung von der »normalen« Erwerbsbiografie. Da verstärkte Care-­Bedarfe zu jedem Zeitpunkt auftreten können und oft unvorhersehbar sind, ist mit starren Einzelregelungen – etwa nach der Geburt eines Kindes – nicht viel geholfen. Das Care-Zeit-Budget sollte daher über den gesamten Lebensverlauf hinweg selbstbestimmt und flexibel für unterschiedliche CareAufgaben genutzt werden können. Und es muss, da es um gesellschaftlich relevante Tätigkeiten geht und die Erwerbsgesellschaft auf diese ange-

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V. Digitalisierung und die Auswirkungen auf Care-Arbeit: Kritisch reflektieren und geschlechtergerecht organisieren!

Foto: m.schröer

Der hohe Ökonomisierungsdruck in Care-Institutionen treibt digitale Rationalisierungs- und Standardisierungsprozesse voran. Care-Arbeit ist aber nicht ohne weiteres durch digitale und virtuelle Angebote ersetzbar. Sie braucht unmittelbare menschliche Interaktion, Kommunikation sowie Beziehungen aufgrund persönlichen Vertrauens. Eine mögliche Gefahr der Digitalisierung liegt darin, dass die impliziten technologischen Möglichkeiten als Lösung für problematische Arbeitsbedingungen gelten, ohne die nötigen strukturellen Reformen für Betroffene und Beschäftigte

anzugehen. Wo in Care-Berufen viele Frauen beschäftigt werden, sind Weiterbildungen und betriebliche Schulungen nicht so verankert wie in der Industrie, auch weil Frauen oft in Teilzeit arbeiten und ihre Erwerbstätigkeit unterbrechen. Für Alleinerziehende ist die Vereinbarkeit von Familie, Beruf und Weiterbildung noch herausfordernder. Care-Beschäftigte dürfen aber nicht abgehängt werden von den digitalen Entwicklungen in ihrem beruflichen Umfeld. Neue Perspektiven sind nötig, um eine geschlechtergerechte und diskriminierungsfreie Technik zu entwickeln. Hierfür braucht es mehr Frauen als Entwickler*innen, die auch CareArbeiter*innen an der Technikentwicklung beteiligen, um ihr Erfahrungswissen einzubeziehen. Es braucht einen Wandel auf gesellschaftlicher Ebene, um die Vereinbarkeit von Familie und Beruf geschlechtergerecht zu organisieren. Mobiles und flexibles Arbeiten bietet hierfür Chancen. Dabei sind aber im Zuge der neuen Möglichkeiten der Digitalisierung klare Regularien und Be-

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triebsvereinbarungen notwendig, die sich nicht einseitig zum Vorteil der Arbeitgeber*innen ausrichten. Durch neue Online-Anbieter*innen, die flexibel buchbare Care-Arbeitskräfte vermitteln, bereitet sich aktuell ein neuer prekärer Markt in Privathaushalten aus. Eine Reihe von Start-ups der digitalen Plattformökonomie erzielen Gewinne mit App-basierter Vermittlung von Dienstleistungen. Die angepriesene Flexibilität bezahlen jedoch die Arbeitskräfte, auf die die sozialen Risiken abgewälzt werden. Deshalb braucht es spezifische arbeitsrechtliche Regulierungen in diesem Feld und einen umfassenden Schutz der Care-Arbeitskräfte in der Plattform-Ökonomie. VI. Caring Communities: Sorgende Nachbarschaften fördern! Wenn wir in der Coronakrise eines gelernt haben, dann, dass es eine hohe Bereitschaft gibt, zusammenzuhalten, aufeinander zu achten und füreinander zu sorgen. Nachbarschaften sind eine wichtige Ressource für das Alltagsleben, können aber nicht auf Dauer Leerstellen des Sozial- und Wohlfahrtsstaates füllen. Deshalb braucht es heute und auf lange Sicht unterstützende Strukturen, etwa Hauptamtliche aus der Sozialen Arbeit, die freiwilliges Engagement vernetzen und stärken. Sie sollen auch Menschen stützen, die in Familien, Wohngemeinschaften und Nachbarschaften Betreuungs- und Pflegearbeit übernehmen, und mit Informationen versorgen. Zudem sind Anlaufstellen vonnöten, wie etwa Stadtteilcafés oder Dorfläden. Beteiligungsprozesse in der Stadt- und Regionalplanung, um Begegnungsräume und ausreichende Infrastrukturen zu schaffen, sind dazu ebenso unumgänglich wie barrierefreies Bauen. VII. Ausreichend Schutz vor Gewalt! Care ist eine emotional aufgeladene Tätigkeit, da Sich-Sorgen auf Beziehung und Kontakt beruht, ob im familialen oder professionellen Feld.

Sorgen braucht das Sich-Einlassen in einem asymmetrischen Kontext sowohl von Seiten der Sorge-Gebenden als auch von Seiten der SorgeNehmenden. Eigene und fremde Wünsche, Ängste, Wut, Scham und andere Gefühle müssen bewältigt und Vorgehensweisen ausgehandelt oder zumindest gegenseitig akzeptiert werden. Care schließt daher mögliches Scheitern durch Missverstehen, Vernachlässigung, Übergriffigkeit oder Gewalttätigkeiten ein und stellt eine Gratwanderung zwischen Hingabe und Abgrenzung, Verantwortung und Bevormundung, Desinteresse und Selbstausbeutung dar. Care-Beziehungen sind besonders dann gefährdet, wenn sie von Machtverhältnissen durchzogen sind wie etwa Eltern-Kind-Beziehungen, Fürsorge für Kinder in Einrichtungen, Pflege zu Hause und in Einrichtungen und auch Partnerbeziehungen zwischen Frauen und Männern aufgrund von Hierarchien. Besonders in Zeiten von Abschottungen wie während der Coronapandemie bleibt Gewalt oft unsichtbar, obwohl viele Anzeichen dafürsprechen, dass aufgrund eingeschränkter Möglichkeiten, einander auszuweichen, einerseits und steigender Belastungen andererseits Übergriffe zunehmen. Wie sich Gewalt in Familien und in Einrichtungen in und seit der Coronakrise verändert hat, muss wissenschaftlich untersucht werden, ebenso die Frage, wie vorhandene Schutz- und Beratungseinrichtungen greifen, wen sie erreichen, wen nicht und wie diese Maßnahmen ausgebaut werden müssen. Bezogen auf Häusliche Gewalt fordert bereits die Istanbul-Konvention des Europarates (seit 1.8.2014 in Österreich, 1.2.2018 in Deutschland, 1.4.2018 in der Schweiz in Kraft) regelmäßiges Monitoring von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt, Sicherung des Schutzes aller von Gewalt Betroffenen, bedarfsgerechte Schutz- und Beratungseinrichtungen, wirksame Schutzrechte von Kindern und Abbau von Kooperationshindernissen zwischen beteiligten Institutionen, um das Recht aller Menschen auf Unversehrtheit zu wahren.

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VIII. Selbst- und Mitbestimmungsrechte von Care-Empfänger*innen ernst nehmen! Im Zuge der Coronamaßnahmen wurden freiheitsbeschränkende Entscheidungen in Institutionen, etwa Besuchs- und Ausgangsverbote, ohne die Einbeziehung von kontrollierenden Instanzen getroffen. Es war nicht mehr überall möglich, dass die Zuständigen für Heimaufsicht und gesetzliche Betreuer*innen/Erwachsenenvertreter*innen Besuche machen konnten. In den Krisenstäben waren Care-Empfänger*innen, beispielsweise Menschen mit Behinderungen, nicht vertreten. Die gesetzliche Verpflichtung zur Bereitstellung der erforderlichen Mittel für Inklusion wurde in Frage gestellt. Prinzipien der Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) müssen jedoch auch in der Krise gelten. Gleiches gilt für die Prinzipien der Kinderrechtskonvention. Dies bedeutet, dass Partizipation im Sinne von Mitbestimmung (»Mit uns, nicht über uns«) an allen Entscheidungen, die Care-Empfänger*innen betreffen, umfassend verankert und umgesetzt werden muss. Das heißt auch, dass Nutzer*innen mit ihrer Expertise in die Entwicklung von Konzepten und Maßnahmen aktiv einbezogen werden sollen. Dazu braucht es Teilhabe fördernde Strukturen und Prozesse wie Selbstvertretungsorgane in Einrichtungen, partizipative Hilfe- und Sozialplanung. IX. Europäische und internationale Solidarität stärken! Die Coronakrise hat gezeigt: Bei Gefahr wurde der Nationalstaat gestärkt und vor allem in diesem Rahmen Solidarität gezeigt. Europa steht aber für internationalen Zusammenhalt, grundsätzlich und gerade in Krisenzeiten. Es braucht deshalb Katastrophenschutzpläne, die länderübergreifend gelten, sowie unbürokratische Kooperationen, die gegenseitige Hilfe bei Care-Bedarfen ermöglichen. Zudem müssen Grundrechte wie Asyl und Recht auf reproduktive Selbstbestimmung

garantiert bleiben. Die 2017 vom Europäischen Parlament, dem Rat und der Kommission verabschiedete Proklamation »Europäische Säule sozialer Rechte« mit den drei Bestandteilen »Chancengleichheit und Arbeitsmarktzugang«, »Faire Arbeitsbedingungen« sowie »Sozialschutz und soziale Inklusion« muss zügig umgesetzt werden – auch mit einer Einladung an die Schweiz, daran mitzuwirken (https://ec.europa.eu/commission/ sites/beta-political/files/social-summit-european-pillar-social-rights-booklet_en.pdf). Diese Liste an Arbeitspaketen ist nicht abschließend. Aber wer sich beim Aufräumen und Umbauen allzu viel vornimmt, schafft meist nichts. Lassen Sie uns also damit anfangen. Zur alten »Normalität« wollen wir nicht zurück! Neue Bündnisse schmieden! Der kommende Großputz wird nur zu bewerkstelligen sein, wenn alle – gerade auch die unterschiedlichen Interessengruppen – zusammenwirken. Wir als Initiativkreis von Forscher*innen können sozial- und gesundheitswissenschaftliche Expertise liefern. Aber es braucht zusätzlich Fachwissen aus der Praxis, von Nutzer*innen und Beteiligten aus allen Care-Bereichen: Pflege, Betreuung, Versorgung, Erziehung, Beratung, Sozialer Arbeit. Unverzichtbar sind dabei die Wohlfahrtsverbände, Verwaltungen, Gewerkschaften und Ini­ti­ativen, die sich mit einzelnen oder übergreifenden Care-Themen befassen. Kontakt www.care-macht-mehr.com V.i.S.d.P. Prof. Dr. Barbara Thiessen Wir danken Deborah Oliveira (Zentrum Gender Studies, Universität Basel, Schweiz), Katharina Pühl (Rosa-Luxemburg-Stiftung Berlin, Deutschland) und Dr. Sarah Schilliger (IZFG Universität Bern, Schweiz) für Beratung und Anregungen.

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Andere Länder, andere Sitten Lukas Radbruch Mutter zu fahren – stellte sich schnell als Notwendigkeit heraus. Wie in anderen Entwicklungsländern kann man ein Auto nicht einfach auf der Vor fünfzehn Jahren wurde ich eingeladen zu Straße stehen lassen, sondern muss es bewachen, einem Workshop zur Opioidtherapie in Afri- so dass schon deshalb ein Fahrer notwendig ist. ka – eine für mich fremde Welt, schon auf der Und die Straßen in Nairobi haben keine Namen, Fahrt vom Flughafen zum Hotel in Nairobi (Ke- Hausnummern gibt es auch nicht, so dass ein nia). Am nächsten Morgen dann der Workshop Angehöriger dem Team den Weg zum Patienmit ein paar Palliativ- und Schmerzexperten aus ten zeigen muss. Die Patientin litt an einem weit Europa, einem Palliativmediziner aus Indien und fortgeschrittenen Leberkrebs. Sie war in ihrem den kenianischen Experten. Einer der Europäer Wohnort vom örtlichen traditionellen Heiler schlug vor, dass man doch am besten die Erfah- behandelt worden, aber als es ihr zunehmend rung der Anästhesisten mit Opioiden zur Nar- schlechter ging, hatte ihr Sohn sie dann zu sich koseführung nutzen sollte, um den Einsatz von in die Hauptstadt geholt. Im Krankenhaus hatte Opioiden zur Schmerztherapie man ein Computertomogramm und in der Palliativversorgung gemacht, das fortgeschrittene … die Straßen in Nairobi im Land zu etablieren. Die keKrebsleiden festgestellt und sie haben keine Namen, nianische Palliativmedizinerin deshalb nach Hause entlassen. Hausnummern gibt Zipporah Ali (die von allen nur Meine Kollegin gab dem Sohn es auch nicht, so dass Zippy genannt wird) neben mir Medikamente zur Symptomkonein Angehöriger dem lachte kurz und sagte leise zu trolle, schrieb ein Rezept über Team den Weg zum mir: Damit wären doch nur die Infusionen, die er in der nächsPatienten zeigen muss. Menschen an der Hauptstraße in ten Apotheke kaufen könne und Nairobi versorgt, die Menschen die eine freiberufliche Pflegekraft außerhalb der Hauptstadt sehen doch praktisch aus der Nachbarschaft anhängen könnte; dann nie einen Arzt, schon gar keinen Anästhesisten. fuhren wir wieder weg. Ich fand es sehr schwieAm nächsten Tag besuchte ich den örtlichen rig, diese Kombination aus moderner Medizin Hospiz- und Palliativdienst. Ich war beeindruckt (Infusionen, Medikamente) und Entwicklungsvon der massiven Stahltür vor dem Apotheken- land (der traditionelle Heiler, das Krankenhaus raum, in dem auch die Opioide aufbewahrt wur- schickt sie einfach weg) zu verstehen. den, damals einer der wenigen Orte in Afrika, an Auf dem Rückweg erklärte mir Zippy das Prindenen diese Substanzen überhaupt vorrätig wa- zip des Juakali. Der Swahili-Ausdruck bedeutet ren. Dann durfte ich die Palliativärztin bei ihren eigentlich »heiße Sonne«, wird aber als Begriff Hausbesuchen begleiten. Der vermeintliche Lu- für das durch die Not getriebene phantasie- und xus – es gab einen eigenen Fahrer für die Haus- ressourcenreiche Durchwursteln und Überleben besuche, und der Sohn der Patientin war extra benutzt. Der sichtbare Ausdruck von Juakali sind ins Hospiz gekommen, um mit uns zur kranken die unzähligen Bretterverschläge, WellblechbuModerne Medizin und traditionelles Leben in Entwicklungsländern

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den und Unterstände aus Plastikplanen an allen Victoria Teaching Hospital in Banjul (Gambia) größeren Straßen in Nairobi und vielen anderen war nicht nur der Baum im Innenhof des KranStädten in Afrika (oder in armen Ländern ande- kenhauses mit der von den Angehörigen gewarer Regionen der Welt), in denen eine Vielzahl schenen Wäsche übersät, sondern in der Gasse von kleinen Unternehmern und Geschäftsleuten hinter dem Krankenhaus war fast kein Durchihre Dienstleistungen und Waren anboten. Jua- kommen, weil dort so viele Angehörige im Strakali zeigt die wirtschaftliche Not, aber auch den ßenstaub warteten, für die Patienten kochten und Erfindungs- und Ressourcenreichtum in den är- teilweise auch übernachteten. meren Ländern. In meiner vierjährigen Amtszeit als Präsident Palliativversorgung in der Europäischen Palliativgesellschaft1 und als Entwicklungsländern Vorstandsvorsitzender der Internationalen Palliativgesellschaft2 habe ich seitdem an einer Reihe Mit mehreren Kollegen haben wir dort in Banjul von Tagungen, Konferenzen und Lehrgängen in einen Palliativlehrgang durchgeführt, gemeinsam Afrika, Asien und Lateinamerika teilgenommen. mit einer Partnerorganisation vor Ort. Wir hatEs gab dabei immer wieder unerwartete Momen- ten uns im Unterricht darauf eingestellt, dass die te des Erstaunens, zum Beispiel bei einem Lehr- vorherrschende Religion in Gambia der Islam ist. gang in Kampala (Uganda), als ich die an einem Erst später haben wir erkannt, wie tief darunter Wasserturm des Hospizes angebundene Ziege be- noch animistische Denkweisen verwurzelt sind, wunderte. Ich hatte das Bild eines Maskottchens der Glaube an Naturgeister oder an Zauberdokoder Streicheltiers, aber die Kollegen versicher- toren. Kaum ein Patient wird ins Krankenhaus ten mir, dass es sich dabei um das gehen ohne den Schutz durch Abendessen handele. einen Talisman oder mehrere. … wir waren sehr Andere Eindrücke waren vielUnd wir waren sehr überrascht überrascht, als sich einer leicht eher erwartet, aber deshalb bei der Einführungsrunde, als der Kursteilnehmenden nicht weniger schockierend. Die sich einer der Kursteilnehmenals traditioneller Heiler Not in der Gesundheitsversorden als traditioneller Heiler heherausstellte, der gung in den Entwicklungslänrausstellte, der bei uns sein Wisbei uns sein Wissen dern, wo so viele durch so wenige sen erweitern wollte. erweitern wollte. versorgt werden müssen, macht Dies ist eine der Erfahrungen die Flure und Treppen in den in der Entwicklung der PalliaKrankenhäusern voll mit wartenden Patienten tivversorgung in Entwicklungsländern: Die Palund Angehörigen. Im Makerere-Krankenhaus, liativversorgung kann nicht gegen vorhandene der Universitätsklinik von Kampala, sind nicht Strukturen angehen, sondern sollte diese nutzen. nur die Säle der Krankenstationen überfüllt mit Erfolgreiche Implementierungsmodelle haben die Patientenbetten, sondern es stehen auch immer lokalen Religionsführer auf ihre Seite gezogen einige Betten auf den Fluren. Daneben campen und auch die traditionellen Heiler eingebunden Angehörige auf dem Boden, um die Patienten und mit dem Hinweis, dass es doch auch für sie von Patientinnen zu versorgen, sie zu waschen oder Vorteil wäre, wenn sie die schwerstkranken und ihnen Essen zu bringen. Wer keine Angehörigen unheilbar kranken Menschen an die Palliativverhat, kann für diese Aufgaben eine Hilfskraft beauf- sorgung abgeben könnten. tragen, entsprechende Angebote finden sich auf Die Bereitschaft zur Zusammenarbeit mit solden Zetteln an den Wänden. Das Krankenhaus- chen auf den ersten Blick ungewöhnlichen Partpersonal wird es jedenfalls nicht tun. Im Royal nern ist aber nicht das Einzige, das wir aus diesen

Anders leben, anders lieben, anders trauern

Weiße Dame von Auahouret, Felsmalerei in der Sahara um 4000 v. Chr. / The Yorck Project (2002)

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Ländern lernen können. Es sind auch der offene Blick auf die Not der Menschen und die Bereitschaft, diese Not unabhängig von den Vorgaben und Regeln zu lindern. In Cochin (Indien) nahm mich Dr. Chitra Venkateswaran mit zu den Hausbesuchen, die ihr Palliativdienst bei Patienten und Patientinnen mit psychiatrischen Erkrankungen durchführt. Wir fuhren zu einer Patientin mit fortgeschrittener Demenz, einem Patienten mit Parkinson und einem Patienten mit Psychose, dessen Frau an fortgeschrittenem Nierenversagen litt. Die Hausbesuche wurden mit einem Minibus gemacht, weil das Team aus der Ärztin, einer Pflegekraft, einem Psychologen, einem Sozialarbeiter, einem Ehrenamtlichen und dem Fahrer bestand. Das Team konnte eine ganzheitliche Versorgung dieser Patienten in ihrem häuslichen Umfeld, in der Obhut ihrer Angehörigen, durchführen. Eine Behandlung im Krankenhaus oder in einer anderen Einrichtung wäre für diese Patienten nicht möglich, weil solche Einrichtungen entweder gar nicht vorhanden sind oder die Kosten für die Familien völlig unerschwinglich wären. Dieser Besuch hat mir verdeutlicht, dass für diese Krankheiten eindeutig ein Bedarf an Pal-

Im Gegenzug können wir viel von diesen Ländern lernen. Nicht nur als Einblicke in fremde Sitten und Gebräuche, die unser Verständnis erweitern können, sondern vor allem mit ihrer Energie, Phantasie und ihrer Bereitschaft, aus den vorhandenen Ressourcen das Beste zu machen, anstatt zu warten, bis die Bedingungen perfekt genug sind.

liativversorgung besteht, obwohl viele der Palliativeinrichtungen in Indien wie in Deutschland Patienten mit solchen Diagnosen wohl ablehnen würden. Ein kurzer Blick in die Palliativversorgung in einem der ärmeren Länder der Welt kann nicht nur zeigen, wie groß die Not ist und wie viel Entwicklungsbedarf in der Palliativversorgung besteht. Die Palliativeinrichtungen in diesen Ländern brauchen dringend Hilfe und Unterstützung bei der Herkulesaufgabe, die vielen Patienten und Patientinnen zu betreuen und die große Not zu lindern. Aber das ist keine Einbahnstraße. Im Gegenzug können wir viel von diesen Ländern lernen. Nicht nur als Einblicke in fremde Sitten und Gebräuche, die unser Verständnis erweitern können, sondern vor allem mit ihrer Energie, Phantasie und ihrer Bereitschaft, aus den vorhandenen Ressourcen das Beste zu machen, anstatt zu warten, bis die Bedingungen perfekt genug sind. Das gilt übrigens sogar für die Corona­pande­ mie: Das Gesundheitsministerium von Uganda hat alle öffentlichen Krankenhäuser zur Einrichtung einer Palliativstation angewiesen. Auslöser waren Gespräche der nationalen Fachgesellschaft mit den Politikern, um auch in der Pandemie die Kontinuität der Palliativversorgung sicherzustellen. Von dieser Energie sollten wir lernen. Lukas Radbruch ist Direktor der Klinik für Palliativmedizin am Universitätsklinikum Bonn und Leiter des Zentrums für Palliativmedizin am Helios Krankenhaus Bonn/Rhein-Sieg. Er leitet das Teilprojekt »Resilienz und Kohärenz in der Palliativmedizin« in der Forschergruppe Resilienz in Religion und Spiritualität (DFG-FOR 2686). Kontakt: [email protected]

Anmerkungen 1 European Association for Palliative Care (https://www. eapcnet.eu, Zugriff am 30.3.2021). 2 International Association for Hospice and Palliative Care (https://hospicecare.com/home, Zugriff am 30.3.2021).

Anders leben, anders lieben, anders trauern

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Gehörlosigkeit – Gebärdensprache – Kulturvielfalt Ausdruck von seelischem Leid in einer visuellen Sprache

Sabine Egg

Gehörlosigkeit und Gebärdensprache Gerechnet auf die österreichische Gesamtbevölkerung ist ein Tausendstel davon gehörlos. Ein

Gebärde MÖGLICH

Großteil dieser Menschen würde die Österreichische Gebärdensprache – kurz ÖGS – als ihre Erst- oder Muttersprache bezeichnen. Wichtig erscheint mir in diesem Zusammenhang zu erwähnen, dass die ÖGS eine eigenständige Grammatik und Syntax hat, seit 2005 in Österreich als Minderheitensprache anerkannt ist und laut UNESCO seit 9.10.2013 als immaterielles Kulturerbe gilt, da die Anwenderinnen sich als kulturelle Minderheit sehen. Oftmals wird beklagt, warum denn die Gebärdensprache nicht international ist und warum es dann auch noch regionale Dialekte geben muss. Ja, Sprache ist zutiefst mit der Identität der Nutzerinnen verbunden und geprägt von ihrem Heranwachsen, ihrem Umfeld und vielem mehr. Dies alles würde bei einer Vereinheitlichung verloren gehen. Dadurch, dass die ÖGS nicht bei allen Menschen von Geburt an verwendet, sondern häufig erst später (im sechsten Lebensjahr oder noch später) erworben wird, ist auch die Sprachkompetenz sehr unterschiedlich. Eine oft gestellte Frage ist: Können alle Gehörlosen von den Lippen

Hannes Senfter

Menschen mit Behinderungen oder Menschen, die von außen behindert werden – Zweiteres ist weniger diskriminierend – und zudem in einer krisenhaften Situation stehen, sind selten im Fokus der Öffentlichkeit. Daher freut es mich umso mehr, dass ich hier über Gehörlosigkeit und Gebärdensprache im kulturvielfältigen Kontext schreiben darf. Ich beschäftige mich beruflich wie auch privat seit über zwanzig Jahren mit dieser wunderbaren Sprache und mit den Menschen, die sie anwenden, und stets tauchen neue AhaErlebnisse auf. In diesem Artikel möchte ich gern einen allgemeinen Überblick zur Situation von Gehörlosen in Österreich geben und ein wenig von meinen Erfahrungen in unterschiedlichen Settings berichten. Den Abschluss stellen Kontakte und Vernetzungs- beziehungsweise Unterstützungsmöglichkeiten in den Bundesländern dar.

G e h ö r l o s i g k e i t   – G e b ä r d e n s p r a c h e   – K u l t u r v i e l f a l t    3 5

ablesen? – in der Hoffnung, dass dann die Kommunikation etwas leichter fällt. Allerdings ist die Frage mit Nein zu beantworten. Außerdem kann beim Lippenlesen lediglich 30 Prozent von den Lippen abgelesen werden (vorausgesetzt, dass jemand sehr gut Lippen lesen kann), da die meisten Laute im Rachenraum gebildet werden. Trauma – Krise – Trauer

Hannes Senfter

Seit 2010 biete ich Psychotherapie für Gehörlose an und habe zuvor in meiner Rolle als Dolmetscherin in verschiedensten Krisensituationen gedolmetscht. In solchen Ausnahmesituationen wird deutlich, dass sich Menschen in ihren diversen Rollen unterschiedlich ausdrücken. Wenn die Seele von Leid überflutet wird, kann eine Gesprächssituation mit einer Dolmetscherin, die ich kenne, da die Community sehr überschaubar ist, entlastend sein, aber auch überfordern und beschämen. Hierbei wird eine hohe Sensibilität von den Anwesenden verlangt, um gut mit diesen Krisensituationen umzugehen. Gehörlos ist nicht gleich gehörlos und nicht unbedingt jeder versteht jeden. Geflüchtete gehörlose Menschen benötigen eine andere Kommunikation, bringen eine Kultur mit, die sich von der Kultur des Aufenthaltslandes unterscheidet, und es wird womöglich der Einsatz einer tauben Dolmetscherin notwendig. Eine taube Dolmetscherin wird zusätzlich zur hörenden Dol-

metscherin benötigt, um Inhalte viel bildhafter und angepasster zu dolmetschen, aber auch, da taube Menschen sich eventuell durch die beiderseitige Betroffenheit schneller verstehen. Dann sind schon mindestens vier Personen bei einem »Eins-zu-eins-Gespräch« anwesend. Hier ein vertrauensvolles Gesprächsklima aufzubauen und einen geschützten Rahmen zu bieten, ist wichtig und gelingt auch in den meisten Fällen gut. Dennoch kann es sehr beschämend sein, bei einem Gespräch Inhalte mit mehreren Gesprächspartnern zu teilen. Dies kostet ja oftmals bereits im Zweier-Setting Überwindung. Die Gebärdensprache wird in einem Gebärdenraum vor dem Körper gezeigt, wobei Mimik, Gestik, Körperhaltung, aber auch die Geschwindigkeit den Inhalt genauer definieren. Dies alles geschieht gleichzeitig und kann sich beim Erzählen von traumatischen Inhalten auch verändern. Eventuell werden Inhalte oder Gebärden anders gezeigt oder Positionierungen im Gebärdenraum sind für das Gegenüber nicht verständlich. Bei der Begleitung von sterbenden Gehörlosen wird die Körperspannung schwächer und es ist gerade vor dem Sterben nicht mehr möglich, sich über die Gebärdensprache auszudrücken. Eventuell werden hier Lippenlesefähigkeiten benötigt, um noch Bedürfnisse und Wünsche des Sterbenden verstehen und erfüllen zu können. Hochbetagte Gebärdensprachnutzerinnen, die in Alters- und Pflegeheimen in Österreich leben,

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klagen häufig über Einsamkeit und darüber, keine oder nur wenige Gespräche in ihrer Sprache führen zu können. Gerade diese Personengruppe ist häufig auf mehrere Altersheime aufgeteilt und es sind kaum zwei oder mehr Gehörlose im gleichen Heim untergebracht. Diese Zusammenführung wäre eventuell hilfreich, allerdings verstehen oder mögen sich auch nicht alle Menschen, nur weil sie die gleiche Sprache verwenden. Auch hier sind Pflegende, die womöglich Grundkenntnisse in Gebärdensprache haben oder zumindest immer wieder den Kontakt und die Kommunikation mit den Gehörlosen suchen, Balsam für die Seele. Was kann ich tun, wenn ich keine ÖGS kann? Ein offenes Aufeinanderzugehen und sich nicht erschrocken wegdrehen und die Kommunikation gar nicht erst versuchen, ist ein guter Anfang. Im Idealfall besuchen Sie einen Gebärdensprachkurs und erlernen diese wunderbare, visuelle Sprache, ansonsten versuchen Sie eine Gebärdensprachdolmetscherin für das Gespräch zu beauftragen. Die Finanzierungen unterscheiden sich hier in den Bundesländern, aber die Kolleginnen informieren sie bestimmt gern. Eventuell hat ja auch die gehörlose Person eine Gebärdensprachdolmetscherin bestellt. In der heutigen Zeit ist das Handy auch fast immer zur Hand. Somit ist es schon einmal möglich, Wörter aufzuschreiben oder Bilder zu Wörtern zu suchen und dies zur Kommunikation zu verwenden. Es gibt auch schon Online­wörter­ bücher für Gebärden, die zusätzlich genutzt werden können. Links hierzu sind am Ende des Artikels angeben. Papier und Bleistift können auch sehr hilfreich sein. Am Beginn der Kommunikation ist es empfehlenswert zu sagen, worum es im Gespräch gehen wird oder was der Zweck der Unterhaltung ist. Der Blickkontakt dient auch zur Gesprächsaufnahme, wenn ich also mein Gegenüber ansehe, weiß es, dass wir nun zu reden beginnen.

Bezogen auf das Thema Sterben oder Begleitung in den letzten Lebensstunden sind sämtliche nonverbalen Kommunikationsmittel gut einsetzbar. Es ist sinnvoll, vorab, solange die Person noch gebärden kann, mit dem Menschen zu klären, wo er gern berührt wird. Vielleicht auch einfache Gebärden zu vereinbaren, wie Daumen hoch oder Daumen runter, um Stimmungen und Zufriedenheiten abfragen zu können. Auch bildhaftes Material wie Smileys, zum Einschätzen der Schmerzen oder der Spannungslage, ist sehr hilfreich. Wenn Sie zu Beginn Kontakt aufnehmen wollen, bietet sich beim Betreten eines Raumes an, den Lichtschalter ein- und auszuschalten, da dann die Person auch im Bett liegend bemerkt, dass jemand ins Zimmer kommt. Dies ist wohl die angenehmste Art. Ansonsten funktioniert auch ein Stampfen auf den Boden (Holzböden schwingen) oder eine Berührung am rechten oder linken Oberarm; aber bitte nicht zwischen den Schulterblättern, da die gehörlose Person dann nicht weiß, ob die andere Person rechts oder links hinten steht oder auch erschrecken könnte. In den verschiedenen Bundesländern finden Sie auch Gehörlosenverbände, Beratungsstellen, Dolmetschvermittlungszentralen oder auch Gehörlosenambulanzen der Barmherzigen Brüder mit Spezialangeboten für Betroffene. Gern können Sie sich bei Fragen per Mail an mich wenden.

© Hannes Senfter

Sabine Egg ist Gebärdensprachdolmetscherin und Psychotherapeutin. Sie arbeitet sowohl als Dolmetscherin als auch als Integrative Therapeutin in eigener Praxis sowie in einer Anstellung im Bereich der dolmetschgestützten Psychotherapie mit Asylbewerbern und Migrantinnen. Kontakt: [email protected] Website: www.integrativepraxis.at

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Meine Werte – deine Werte Wie behandle ich Patienten, die ich nicht mag?

Lukas Radbruch Konfrontation mit der Nazizeit Meine erste Arbeitsstelle als junger frischgebackener Arzt war in einer kleinen internistischen Abteilung in einem Krankenhaus mitten in der Eifel. Als Berufsanfänger war ich auf den Rat meines erfahrenen Kollegen angewiesen. Wir untersuchten zusammen einen Patienten, den ich gerade auf der Station aufnehmen sollte. Als wir aus dem Patientenzimmer kamen, fragte mich der Kollege, ob ich die kleine, runde Narbe an der Innenseite des Oberarmes gesehen hätte. Dies sei in der Eifel nicht so selten. Bei den Soldaten der SS sei an dieser Stelle ihre Blutgruppe tätowiert worden, und da man nach dem Krieg an dieser Tätowierung ihre SS-Mitgliedschaft hätte erkennen können, hätten sie oft – zum Beispiel mit einem Brandmal durch eine Zigarette – die Tätowierung entfernt.

Soldaten auch unter Zwang für die Waffen-SS rekrutiert. Aber es blieb für mich doch immer ein nagendes Gefühl, hier vielleicht einem der Mittäter des Naziregimes gegenüberzustehen. Und ich war mir nie sicher, wieweit daraus eine Abneigung entstand, die vielleicht den Aufbau einer vertrauensvollen Beziehung als Grundlage einer optimalen medizinischen Behandlung verhindert haben könnte. Das ist schon ziemlich lange her, und diese Generation der Patienten ist mittlerweile nicht mehr am Leben. Und natürlich sind es nicht immer solche extremen Brüche in den ethischen Werten, die mir bei der Behandlung meiner Patienten und Patientinnen in die Quere kommen. Aber wie gehe ich um mit den Menschen, deren Lebensentwürfe so gar nicht dem meinen entsprechen? Wie reagiere ich, wenn ein drogenabhängiger Patient zum wiederholten Mal den vereinbarten TheraIn der Folge habe ich öfter bei den Patienten sol- pieplan nicht einhält, wenn eine Patientin mit che Narben am Oberarm gesehen. Ich war jedes Messie-Syndrom nach Hause will statt ins Hospiz, Mal geschockt. In meiner Familie wurde nicht wo doch viel besser für sie gesorgt würde, als es viel über die Nazizeit und den Krieg erzählt, aber in der vermüllten Wohnung möglich wäre, wenn es gab einen Großonkel, Otto Peltzer, der wegen ein obdachloser Patient aus der RundumversorHomosexualität ins Konzentrationslager gesperrt gung im Krankenhaus geradezu flüchtet, weil er worden war und in seinen Memoiren beschrie- es nicht aushält mit einem festen Dach über seiben hat, wie er nur überleben konnte, weil einer nem Kopf? Kann ich Verständnis für diese andeder SS-Wächter ein begeisterter Sportler war und re Lebensperspektive aufbringen? ihn als früheren Weltrekord-Leichtathleten desIch muss auch immer wieder feststellen, dass halb beschützt habe. ich – trotz aller Toleranz, die ich zu haben glauNatürlich wusste ich kaum etwas von der Vor- be – doch in vielen Dingen einen strikten morageschichte dieser Patienten, weder ob sie wirk- lischen Kompass habe. Ich merke das vor allem lich in der SS gewesen waren noch was sie als SS-­ dann, wenn ich auf Menschen mit einer ganz anSoldaten eventuell getan hatten. Im Krieg wurden deren moralischen Grundhaltung treffe.

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Beeinflussung durch konträre Werte Ein Patient hatte, weil es ihm so schlecht ging, seinen kleinen Hund an seinen Bruder zur Pflege gegeben. Wider Erwarten ging es ihm jetzt wieder etwas besser, und er fragte, ob der Hund ihn jetzt nicht auf der Palliativstation besuchen könnte. Der Bruder wollte dies aber nicht. Wie er uns gegenüber dann zugab, hatte er den Hund schon weggegeben, weil er sich nicht um ihn kümmern wollte, und auch nicht damit gerechnet hatte, dass es dem Patienten nochmal besser gehen könnte. Der neutrale Umgang mit diesem Angehörigen fiel mir danach sehr schwer. Entgegen einem weitverbreiteten Glauben müssen Ärzte und Ärztinnen in Deutschland vor Beginn der Berufsausübung keinen Eid ablegen. Aber das ärztliches Gelöbnis des Weltärztebundes ist der Musterberufsordnung der Bundesärztekammer vorangestellt: »Ich werde nicht zulassen, dass Erwägungen von Alter, Krankheit oder Behinderung, Glaube, ethnischer Herkunft, Geschlecht, Staatsangehörigkeit, politischer Zugehörigkeit, Rasse, sexueller Orientierung, sozialer Stellung oder jeglicher anderer Faktoren zwischen meine Pflichten und meine Patientin oder meinen Patienten treten«. Natürlich würde ich keinesfalls die Behandlung eines Patienten aus einem der genannten Gründe oder aufgrund anderer Faktoren ablehnen. Aber wie kann ich sicher sein, dass ich nicht doch in meiner Haltung von solchen Unterschieden in den ethischen und moralischen Werten beeinflusst werde? Deutlich wird das auch beim Kontakt mit Menschen aus anderen Kulturkreisen, wenn zum Beispiel die Stationsärztin berichtet, dass sie sich von dem Patienten mit arabischem Migrationshintergrund und seinen Angehörigen nicht ernst genommen fühlt. Patient und Familie möchten die Therapieziele und Therapieplanung nicht mit ihr besprechen, sondern versuchen immer wieder auf Oberarzt oder Chefarzt auszuweichen. Manch-

mal wird sogar explizit nach einem männlichen Arzt gefragt. Das scheint nicht nur an der Hierarchieebene zu liegen, sondern auch am unterschiedlichen Verständnis von geschlechtsspezifischem Rollenverhalten. Der männliche Patient kann sich vor dem Hintergrund seines kulturellen Wertesystems nicht von einer Frau sagen lassen, wo es lang geht. In den Teamsitzungen der Palliativstation wird bei solchen kulturellen Unterschieden schnell eine einheitliche Haltung des Palliativteams klar. Wir sind in Deutschland und arbeiten auf der Grundlage unseres Wertesystems, und Patienten und Angehörige aus einem anderen Kulturkreis müssen sich anpassen und können nicht erwarten, dass sich das Behandlungsteam ganz ihrem Wertesystem unterordnet. Der Patient und die Angehörigen werden sich also daran gewöhnen müssen, dass die Behandlung von der Ärztin weitergeführt wird. Wieweit wird aber durch diese geforderte Anpassung der Grundsatz einer individuellen, patientenzentrierten Palliativversorgung in Frage gestellt? Und wieweit können durch die Grundhaltungen der Palliativversorgung, zum Beispiel der Achtung des Lebens, solange es währt, auch weitere Rahmungen gesetzt werden, die mit den Werthaltungen der Patienten in Konflikt geraten können? Patientenzentrierte Palliativversorgung In meiner palliativmedizinischen Ausbildung lernte ich auf der Palliativstation einen Patienten mit fortgeschrittener Krebserkrankung kennen, einen beruflich erfolgreichen Mann, Unternehmer, mit hohem Autonomie- und Kontrollbedürfnis. Er wurde schon seit einigen Tagen auf der Palliativstation behandelt, und mit den Behandlungsmaßnahmen war die Belastung durch die ausgeprägten körperlichen Symptome nun ausreichend gelindert worden. Das Gespräch bei der nächsten Visite ging in Richtung psychisches und spirituelles Befin-

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Paul Klee, Begrüssung, 1922 / Heritage Images / Fine Art Images / akg-images

Gerade bei Konflikten in den Wertesystemen sollte ich zunächst einmal neugierig sein auf das Andere, soweit dies möglich ist, und nicht gleich in Opposition gehen.

den, und die Stationsärztin fragte ihn, was er denn vielleicht noch gern machen würde in der verbleibenden Lebenszeit, mit der Intention, daraus vielleicht ein Therapieziel ableiten zu können. Er antwortete, dass er gern noch einmal auf die Pirsch gehen wollte. Er sei begeisterter Jäger, und vielleicht wäre es ihm ja noch einmal möglich, ein kapitales Stück Rotwild zu erlegen. Die Stations­ärztin war schockiert. Der Wunsch des Patienten passte so gar nicht zu ihrer Grundhaltung der Ehrfurcht vor dem Leben. Sie war der Meinung, dass ein Patient, der

sich der Begrenztheit des Lebens und der Nähe des eigenen Todes doch eigentlich in seinem Krankheitsstadium besonders bewusst sein sollte, auch eine große Ehrfurcht vor dem Leben entwickeln sollte und nicht den Tod einer anderen Kreatur als letztes Ziel in seinem Leben anstreben sollte. Sie versuchte, unterstützt durch das gesamte Palliativteam, den Patienten davon zu überzeugen und von seinem Wunsch abzubringen. Das wiederum verstand der Patient überhaupt nicht, weil die Jagd doch nun mal neben seiner Firma seine große Leiden-

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majivecka / Shutterstock.com

Die Wertschätzung fällt leichter, wenn ich mein Gegenüber als komplexes Wesen mit vielen unterschiedlichen Bestandteilen und Facetten sehe.

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schaft im Leben war. Ich war, als etwas außenstehender Beobachter, beeindruckt davon, wie wenig sich diese unterschiedlichen Haltungen angleichen ließen. Dabei ist es doch gerade in der Palliativversorgung notwendig, dass ich Patienten und Angehörige so akzeptiere, wie sie sind, mit allen ihren Eigenschaften und Eigenarten. Nur dann kann ich eine patientenzentrierte Palliativversorgung anbieten. Natürlich müssen sich Patienten und Angehörige an die Rahmenbedingungen, zum Beispiel der Sozialgesetzbücher oder der Verträge mit den Kostenträgern, anpassen, aber ich sollte als Behandler den Rahmen möglichst weit spannen und nicht dadurch einengen, dass ich eine Anpassung des Patienten und seiner Familie an meinen eigenen Wertekanon erwarte. Gerade bei Konflikten in den Wertesystemen sollte ich zunächst einmal neugierig sein auf das Andere, soweit dies möglich ist, und nicht gleich in Opposition gehen. Getreu der Personzentrierten Psychotherapie von Carl Rogers sollte ich versuchen, die Beziehung nach den Grundsätzen der Wertschätzung, Einfühlung und Echtheit zu entwickeln. Ich sollte mein Gegenüber als Person wahrnehmen und es so akzeptieren, wie es ist. Ich sollte versuchen, ein einfühlendes Verständnis zu finden, warum der Patient so ist, wie er ist. Das heißt allerdings nicht, dass ich alles gutheißen muss. Ich sollte durchaus authentisch bleiben und kann Unterschiede in den Werten oder Wertsystemen auch klar benennen. Die Wertschätzung fällt leichter, wenn ich mein Gegenüber als komplexes Wesen mit vielen unterschiedlichen Bestandteilen und Facetten sehe. Die Weltgesundheitsorganisation hat schon lange eine Sprachregelung eingeführt, die verhindern soll, dass Menschen auf eine Eigenschaft reduziert werden. Es soll deshalb nicht von »Süchtigen« oder »Obdachlosen« gesprochen werden, sondern von Menschen mit Missbrauch oder Abhängigkeit oder von Menschen ohne festen Wohnsitz. Damit soll klargestellt werden, dass diese Menschen

auch noch viele andere Eigenschaften haben und nicht nur den Missbrauch oder die Obdachlosigkeit. Genaugenommen wird von der Weltgesundheitsorganisation übrigens mittlerweile der Ausdruck »Menschen mit nichtmedikamentösem Substanzgebrauch« empfohlen, aber vielleicht ist das zu viel der Political Correctness. Im wertschätzenden Umgang kann ich dann auch wieder den Fokus auf die Ressourcen von Patient/Patientin und Familie legen. Vielleicht werden ja gerade durch die anderen Werthaltungen auch Ressourcen geschaffen, wenn zum Beispiel ein anderer kultureller Hintergrund eine hohe Verpflichtung der gesamten Familie für die Pflege und Versorgung des erkrankten Familienmitglieds sicherstellt. Vor allem aber brauche ich in solchen Situationen mein Behandlungsteam als Korrektiv. Ich kann mir nicht sicher sein, wieweit ich bei den oben geschilderten Konflikten noch ein guter Behandler sein kann. Die Diskussion solcher Konflikte im Team helfen mir, meine eigene Position klarer zu erkennen, die Unterschiede in den Werthaltungen zu benennen und vor allem in den Rückmeldungen der anderen Teammitglieder zu spiegeln und zu relativieren. Ich werde zwar trotz allem die Konflikte nicht verhindern oder ganz auflösen können. Aber dann kann ich zumindest sicher sein, dass ich auch bei den Patienten und Patientinnen, die ich nicht mag, trotzdem eine gute Behandlung gewährleisten kann. Lukas Radbruch ist Direktor der Klinik für Palliativmedizin am Universitätsklinikum Bonn und Leiter des Zentrums für Palliativmedizin am Helios Krankenhaus Bonn/Rhein-Sieg. Er leitet das Teilprojekt »Resilienz und Kohärenz in der Palliativmedizin« in der Forschergruppe Resilienz in Religion und Spiritualität (DFG-FOR 2686). Kontakt: [email protected] Anmerkung 1 https://www.bundesaerztekammer.de/recht/berufsrecht/ muster-berufsordnung-aerzte (Zugriff am 30.3.3021).

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​Inklusion und Identifikation durch Diversität Christian Rabanus Identität und Diversität scheinen nicht so recht zusammenzupassen. Während sich der Begriff »Identität« entsprechend der Bedeutung des lateinischen Wortes »idem« – laut Wörterbuch mit »derselbe« oder »der gleiche« zu übersetzen – auf eine bestimmte Entität bezieht beziehungsweise die Einheit von mehreren Entitäten bedeutet, bezieht sich der Begriff »Diversität« auf Verschiedenheiten: Er stammt vom lateinischen Wort »divertere« ab, welches »auseinandergehen« oder »verschieden sein« bedeutet. Diversität ist also sinnlos ohne Rekurs auf mindestens zwei Entitäten, die nicht gleich sind. Aber so offensichtlich die Verschiedenheit der beiden Begriffe »Identität« und »Diversität« zunächst zu sein scheint – ein genauerer Blick zeigt, wie wenig verständlich Identität ohne Diversität ist und dass Diversität gesellschaftlich sogar identitäts- und inklusionsfördernd wirkt. Die folgenden Überlegungen sollen dies verdeutlichen. Umgangssprachlich findet sich der Begriff der Identität in Bezug auf das Phänomen der numerischen Identität. So wird das Wort beispielsweise in der Aussage »Der Abendstern ist mit dem Morgenstern identisch – es handelt sich nämlich um den Planeten Venus« gebraucht. Eine zweite umgangssprachliche Bedeutung von Identität findet sich in Bezug auf das Phänomen der qualitativen Identität, die in der Regel als »Gleichheit« bezeichnet wird – etwa in dem Satz »Ich fahre das gleiche Auto wie du«. Die qualitative Identität sieht dabei von bestimmten Bestimmungen ab, nämlich normalerweise mindestens von Ort und Zeit, oft auch von materieller Instanz: Das Auto des Sprechers von eben mag exakt die gleiche technische Spezifikation wie das Auto seines Gegenüber haben, es befindet sich aber auf jeden

Fall an einem anderen Ort und stellt eine andere materielle Instanz der technischen Spezifikation des entsprechenden Modells dar. Spricht man also davon, dass man das gleiche Auto wie eine andere Person fährt, so meint man damit, dass man natürlich ein anderes Auto fährt, das aber vom gleichen Hersteller stammt, die gleiche Karosserieform, die gleiche Motorisierung etc. hat, kurz: exakt die gleiche technische Spezifikation aufweist wie das Vergleichsfahrzeug – aber eben ein anderes materielles Objekt an einer anderen Stelle in Raum und Zeit ist. Im Anschluss an diese qualitative Identität verwendet man den Begriff »Identität« auch in Bezug auf den Menschen als ein Wesen, das sich bewusst auf sich selbst bezieht. In dieser Bedeutung hat der Begriff »Identität« etwas mit dem Selbstbild und dem Selbstverständnis des Menschen zu tun und kommt in Sätzen mit der Form »Ich bin XYZ« zum Ausdruck, zum Beispiel in Sätzen wie »Ich bin ein Europäer«, »Ich bin eine Frau« oder »Ich bin ein Philosoph«. Was bedeutet nun die Äußerung eines solches Satzes? Indem ich davon spreche, dass ich ein Philosoph bin, vollziehe ich einen Akt – oder anders gesagt: Der Satz »Ich bin ein Philosoph« ist ein performativer Akt, durch den ich mich meines Philosoph-Seins vergewissere und mich meiner Außenwelt in meinem Philosoph-Sein präsentiere; ganz grob gesprochen entspricht das Philosoph-Sein der technischen Spezifikation des Autos, von der weiter oben die Rede war. Ich verständige mich damit über mich selbst und versuche dafür Sorge zu tragen, dass mich die Außenwelt meinem Selbstbild entsprechend wahrnimmt. Geht man mit dem Kommunikationstheoretiker Friedemann Schulz von Thun davon aus, dass

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nicht zu widersprechen (Appell), Überheblichkeit (Beziehung) und auf der Sachebene vielleicht gar nichts, da er kein Bild davon hat, was objektiv einen Philosophen ausmacht. Und vielleicht ist mein Gegenüber reflektiert genug, seine Auffassung zu hinterfragen oder über das, was er gehört hat, mit mir in Austausch zu gehen – vielleicht aber bricht er auch direkt den Kontakt ab, dreht sich um und geht. Auch wenn dies ein konstruiertes Beispiel ist – vermutlich kennen wir alle Erlebnisse derartigen Missverstehens beziehungsweise Miss­ver­stan­den­ wer­dens. Offensichtlich stiftet im angeführten Beispiel der sprachlich geäußerte, identifizierende Akt »Ich bin ein Philosoph« unterschiedliche Attribuierungen: einmal Bücherfreund, interessiert, an Gleichwertigkeit orientiert, in Philosophiegeschichte bewandert, das andere Mal Weisheit beanspruchend, direktiv, überheblich, diffuse Fremdheit. Von außen betrachtet finden hier Identifikationen mit verschiedenen Typen statt. Die Typisierungen gehen dabei auf Erlebnisse zurück, in denen Philosophen (oder Personen, die als Philosophen identifiziert wurden) eine typbildende Rolle gespielt haben. Indem ich meine Identität als Philosoph-Sein beschreibe, beziehe

Ulrike Rastin

jeder Satz auf vier Ebenen eine Bedeutung trägt, nämlich auf den Ebenen der Selbstoffenbarung, des Appells, der Beziehung und der Sache, so zeige ich mich mit dem Satz »Ich bin ein Philosoph« beispielsweise als ein Bücherfreund (Selbstoffenbarung), zeige an, dass ich an einem theoretischen Gespräch interessiert bin (Appell), signalisiere meinem Gegenüber, dass ich mich dem gewachsen fühle, mit ihm dieses Gespräch zu führen (Beziehung), und sage schließlich, dass ich viel Zeit mit dem Studium der Geschichte der Philosophie verbracht habe (Sache). Geht man weiterhin mit Schulz von Thun davon aus, dass meine vier-fältige Aussage auch auf vier-fältige, dabei gegebenenfalls ganz anders als meine Münder gestimmte Ohren trifft, so ist klar, dass ich nicht damit rechnen darf, dass meine Aussage auch tatsächlich so verstanden wird, wie ich sie intendiert habe (wenn ich mir überhaupt über die vier Ebenen der Aussagebedeutung beim performativen Akt der Identifikation bewusst gewesen bin). In seinem Hören vollzieht auch mein Gegenüber einen identifizierenden Akt – er hört und versteht in dem von mir geäußerten Satz »Ich bin ein Philosoph« vielleicht den Anspruch auf Weisheit (Selbstoffenbarung), die Aufforderung, mir

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Wassily Kandinsky, Circles, 1926 / INTERFOTO / Granger, NYC

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ich mich damit auf einen Rahmen, der etwas über mein In-der-Welt-Sein aussagt. Dieses In-derWelt-Sein macht meinen Charakter aus, der wiederum eine Art Stil ist und grob gesagt einem in der Regel unbewusst ablaufenden Programm entspricht, das mir den Alltag zu meistern hilft. Als Philosoph bin ich an Austausch interessiert, achte die Meinung der anderen, schaue gern in Bücher. Wenn ich ein Buch in die Hand bekomme, ist es keine bewusste Entscheidung, in das Buch auch hineinzuschauen oder zumindest den Titel zur Kenntnis zu nehmen, das passiert automatisch – genauso wie es zunächst nicht meine primäre Idee sein wird, mit dem Papier des Buches ein Feuer anzufachen. Ich muss all das nicht in jedem Moment neu entscheiden, sondern diese Habitualitäten, um das schöne Wort dafür zu verwenden, das von Edmund Husserl geprägt wurde, sind Ausdruck der Weise, wie ich in der Welt bin. Eine Identifikation als performativer Akt bedeutet eine Verstärkung dieser Art des In-der-WeltSeins, hat also direkt Auswirkung auf den Menschen in seinem praktischen Handeln, nicht nur in seinem Selbstverständnis. Nichtsdestotrotz kann ich all diese Gewohnheiten hinterfragen und aussetzen – wenn ich etwa abends über den Tag reflektiere und überlege, was ich so alles gemacht habe. Oder wenn ich dringend etwas zum Feueranzünden brauche und mir nur ein schlechter Groschenroman zur Hand ist. Oder eben wenn ich einem Menschen begegne, der auf meine Auskunft, dass ich Philosoph sei, mir sehr unverständlich und mich scheinbar abweisend reagiert. Die Möglichkeit, diese Gewohnheiten zu hinterfragen und auszusetzen, ist Ausdruck davon, dass ich meinem Charakter nicht ausgeliefert bin, sondern mich »charakterfremd« verhalten kann und ihn sogar verändern kann – wobei das freilich nicht in einem Augenblick passiert, sondern Zeit braucht, nämlich Zeit zur Herausbildung neuer Habitualisierungen. Ich kann mein Bild davon, was einen Philosophen ausmacht, modifizieren und damit auch mich selbst verändern.

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Ich kann aber auch feststellen, dass der Satz »Ich bin ein Philosoph« für mich nicht mehr stimmt, dass er nicht mehr eine Stärkung meines Selbstbildes darstellt, sondern für mich falsch geworden ist. Vielleicht stelle ich irgendwann fest, dass ich mir immer nur etwas vorgemacht habe, dass mein Satz eigentlich »Ich bin ein Möchtegernphilosoph« lauten müsste. Auch diese Identifikation kann mir dann wieder helfen, meinen Alltag zu meistern. Vielleicht gelingt es mir sogar sehr gut, mich im Möchtegernphilosoph-Sein einzurichten, vielleicht bringt mir das Anerkennung durch die Erscheinung als Philosoph von außen, Ruhe und Entspannung von innen. Durch das Eingebundensein des Menschen in eine Gesellschaft fungieren die gesellschaftlich erlebten möglichen Identifikationsmodelle als Orientierungsrahmen auch für die persönliche Identifikation. Es geht dabei nicht um Schubladendenken oder um die Annahme einer vorgefundenen Systematik. Vielmehr findet sich der Mensch in einer Gesellschaft, in der Rollenbilder und Identifikationsmodelle flexibel und dynamisch sind. Die Prinzipien dieser flexiblen Systematik der Identifikationsmodelle sind Ausdruck der Diversität einer Gesellschaft – und je diverser die Gesellschaft ist, desto vielfältiger sind die Identifikationsmodelle und damit auch die Orientierungsmöglichkeiten. Das heißt, je mehr Diversität in einer Gesellschaft herrscht, desto mehr Identifikationsmöglichkeiten gibt es, desto heterogener können sich also individuelle Identitäten ausprägen. Mit zunehmender Zahl der Prinzipien der Diversität, also zunehmender Zahl der Schemata, die für Identifikationen der Menschen herangezogen werden können, steigt die Fähigkeit einer Gesellschaft, integrierend zu wirken – weil es nämlich einen passenden Orientierungsrahmen für unterschiedliche Identitäten in der Gesellschaft gibt und »andersartige« Menschen, die bezüglich Geschlecht, sexueller Orientierung, ethnischer Herkunft oder anderer identitätsbildender Momente nicht die Mehrheitsgesellschaft reprä-

sentieren, trotzdem nicht ausgeschlossen sind, sondern gleichberechtigte Mitglieder der Gesellschaft sind. Diversität ermöglicht also Inklusion – und damit die Einheit einer Gesellschaft. In der modernen Soziologie bedeutet Diversität in Einklang mit diesem phänomenologischen Befund eine Binnendifferenzierung in einer übergreifenden Einheit. Die Rede von Diversität ergibt nur Sinn vor dem Hintergrund dieser zusammenfassenden Einheit: Diversität in einer Gesellschaft ist eben keine Diversität in einem absoluten Sinn, sondern bezogen auf Unterschiede in ein und derselben Gesellschaft. Unterschiede zwischen verschiedenen Kulturen werden nicht mit dem Terminus »Diversität« bezeichnet, da in diesem Fall das einheitsstiftende Moment fehlt: Die Unterschiede zwischen dem Christentum und dem Islam würde man nicht als Ausdruck von Diversität, sondern von Verschiedenheit bezeichnen, wohl aber ist es Ausdruck von Diversität, wenn Christen und Muslime in einer Gesellschaft friedlich und gleichberechtigt zusammenleben. Die Inklusion, die durch Diversität ermöglicht wird, macht wiederum die Identifikation mit der die Inklusion bewerkstelligenden Gesellschaft möglich – so können sich zum Beispiel auch Personen mit Migrationshintergrund als Deutsche identifizieren. Die Identifikation mit einer Gesellschaft als einer Diversitäten umfassenden Einheit ist dabei kein Ausdruck von Nationalismus; Nationalismus ist eng verbunden mit der Idee des Zusammenlebens in einer Gemeinschaft, also eines exklusiven Verbundes, der auf organischen Prinzipien wie dem ius sanguinis beruht. Gesellschaften dagegen sind der Unterscheidung des Soziologen Ferdinand Tönnies zufolge auf ideellen und rational verhandelbaren Prinzipien gegründet. Während Gemeinschaften trotz der Unterschiedlichkeit ihrer Individuen Einheiten bleiben, bleiben Individuen in einer Gesellschaft trotz der sie verbindenden Überzeugungen voneinander getrennt. Gemeinschaften tendieren zum Untergang, wenn die Verschiedenheit ihrer

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Individuen immer größer wird, Gesellschaften werden gestärkt, je unterschiedlicher die Individuen sind, die sich zu den gleichen Prinzipen bekennen. Sofern also die Identifikation mit der die Inklusion ermöglichenden Gesellschaft gelingt, resultiert eine Stärkung der Gesellschaft. Förderung der Diversität bedeutet, die Möglichkeit von Inklusion und damit die Vielfältigkeit von Identitäten zu erweitern. Der Zusammenhalt in der Gesellschaft wird dadurch gestärkt, durch zunehmende Vielfältigkeit profitiert die geistige und materielle Wertschöpfung einer Gesellschaft. In einer diversen Gesellschaft finden sich auch ganz unterschiedliche Arten und Weisen des Umgangs mit Krisen-, Leid- und Trauersituationen. Gerade in solchen Situationen – der Philosoph Karl Jaspers verwendete dafür den ausdrucksstarken Begriff »Grenzsituationen« – zeigen sich mehr als im Alltag und unmittelbarer als im Alltag wesentliche Verhaltensweisen der betroffenen Personen, wodurch sich mehr als im Alltag, in dem die bewährten Schutzmechanismen in der Regel gut funktionieren, Verletzlichkeit und Gefährdung der eigenen Persönlichkeit und Würde zeigen. Das Wissen darum, dass solche Situationen in unterschiedlichen Kulturen unterschiedlich gelebt werden und unterschiedlichen Ausdruck finden, dass Trauer in manchen Kulturen etwa durch lautes Klagen und Weinen in der Öffentlichkeit stattfindet, in manch anderen Kulturen dagegen eher still und leise im Privaten, dass persönliche Krisen in manchen Kreisen Gegenstand offener Gespräche in der Familie, im Freundes- oder Bekanntenkreis sind, in anderen dagegen auch gegenüber nahestehenden Menschen

eher nicht offen thematisiert, sondern allein getragen werden – solches Wissen kann das Verständnis der Anderen und die Akzeptanz der Anderen in ihrer Andersheit deutlich verbessern. Gleichzeitig kann für die Betroffenen das Wissen darum, dass sie gegenüber ihren unterschiedlichen Formen, mit Grenzsituationen umzugehen, mit Akzeptanz von ihrer Umgebung rechnen können, entlastend und stützend sein – und zwar nicht zuletzt durch das in diversen Gesellschaften gestärkte Bewusstsein, dass sie mit ihrer empfundenen Andersartigkeit nicht allein sind. Nicht zuletzt wirkt sich das wiederum stärkend auf ihr Zugehörigkeitsgefühl gegenüber der Gesellschaft aus, in der sie leben. Wenn in einer professionellen Begleitung in Grenzsituationen eine solche Stärkung gelingt, indem ein Bewusstsein für das Ineinandergreifen von Inklusion, Identifikation und Diversität geschaffen wird, ist der erste und meistens schwierigste Schritt aus der Grenzsituation heraus schon getan. Dr. Christian Rabanus ist Philosoph sowie gestalttherapeutischer Supervisor und Coach. Er bietet am Wiesbadener Institut für Phänopraxie Veranstaltungen und Beratungen für Einzelpersonen, Teams und Gruppen an und lehrt an Einrichtungen der Erwachsenenbildung in privater und öffentlicher Trägerschaft. Kontakt: [email protected] Website: www.phaenopraxie.de Literatur Husserl, E. (1977). Cartesianische Meditationen. Hrsg. von E. Ströker. Hamburg. Jaspers, K. (1932). Philosophie. 3 Bände. Berlin. Schultz von Thun, F. (1981/1989/1998). Miteinander reden. 3 Bände. Reinbek. Tönnies, F. (1935). Gemeinschaft und Gesellschaft. Leipzig.

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kerttu / Pixabay

In einer diversen I n k l u s i o n u n d I d e n t i f i k a t i o n d u r c h D i v e r s i t ä t    4 7 Gesellschaft finden sich auch ganz unterschiedliche Arten und Weisen des Umgangs mit Krisen-, Leid- und Trauersituationen.

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Queere Bestattung Reiner Sörries Es war schon ein heftiges Rauschen im Blätterwald und im Netz, als 2014 ein »Erster Friedhof nur für Lesben« eröffnet wurde. So lautete die Headline in Bild online am 1. April 2014, und es war kein Aprilscherz. Und Bild fügte hinzu: »400 Quadratmeter auf Berliner Friedhof männerfrei«. Doch berichteten nicht nur die Boulevardblätter von diesem Ereignis, das taten auch seriöse Zeitungen. Die Süddeutsche Zeitung ließ sich allerdings ein paar Tage Zeit und reflektierte am 7. April das Ereignis in der Überschrift mit einem Zitat der Initiatorinnen: »Wir reagieren auf die Ausgrenzung«. Die Initiatorinnen sind Frauen der SAPPhO-Frauenwohnstiftung mit dem Zweck, eine »Verbesserung und Erweiterung der bestehenden Möglichkeiten zur Altenselbsthilfe und Altenhilfe für Lesben«1 zu erreichen. Fast folgerichtig war es für die 1997 gegründete Stiftung, den Blick über das Lebensende hinaus auf die Bestattung lesbischer Frauen zu richten, um eine Gemeinschaft von Lesben über den Tod hinaus zu ermöglichen. Dabei geht es diesen Frauen eben nicht um Abgrenzung, sondern um Sichtbarmachung ihrer selbst gewählten Lebensform, die aus ihrer Sicht in allen Bereichen der Gesellschaft lange nicht erreicht ist. Sie verstehen diesen Friedhof als »Statement gegen die weitgehende Unsichtbarkeit von Lesben in Gesellschaft, Politik und Medien« (Süddeutsche Zeitung, 7.4.2014). Ort des Geschehens ist der Friedhof Georgen-Parochial I am Prenzlauerberg in der Nähe des Alexanderplatzes in Berlin, und daraus wird deutlich, dass es sich natürlich nicht um einen eigenen Friedhof für lesbische Frauen handelt, sondern um den Gaststatus eines Grabfeldes mit 80 Bestattungsplätzen auf einem Friedhof in einer öffentlich-recht­lichen Trägerschaft. Eine solche

ist nach geltendem Recht notwendig, um einen Friedhof betreiben zu können. Träger dieses Friedhofs ist die Evangelische Georgen-­ParochialGemeinde, mit der die SAPPhO-Stiftung einen entsprechenden Vertrag schließen konnte. Wenn man so will, handelt es sich um ein sehr großes Familiengrab, nur handelt es sich hier nicht um eine biologische, sondern eine Wahlfamilie. Bestattung durch die Wahlfamilie Insofern gehört der Friedhof für lesbische Frauen in eine Entwicklung, in der aus verschiedenen Gründen die bisher von der biologischen Familie geleistete Totenfürsorge von einer Wahlfamilie übernommen wird, sei es, weil es keine Angehörigen mehr gibt, weil sich die biologische Familie verweigert oder für die Verstorbenen schon zu Lebzeiten die Wahlfamilie wichtiger geworden war als die leiblichen Angehörigen. So fanden nicht weniger als der Berliner Lesbenfriedhof die exklusiven Grabfelder für Fußballfans des HSV seit 2009 oder Schalke 04 seit 2012 eine hohe Aufmerksamkeit. Dabei kann übersehen werden, dass sich abseits spektakulär erscheinender Bestattungswünsche von Lesben und Fußballfans der Trend zur Bestattung durch die Wahlfamilie in der Gesellschaft verbreitet. In die Schlagzeilen hat es beispielsweise das 2008 angelegte Gemeinschaftsgrab eines Berliner Hospizes nicht geschafft. Die Begründung für ein solches Gemeinschaftsgrab liest sich auf der Website des Hospizes: »Das Diakonie-Hospiz Wannsee begleitet Menschen, im Leben und im Sterben. Darüber hinaus ist uns wichtig, dass Verstorbene würdig bestattet werden und es einen Ort der Erinnerung für sie gibt. Aus diesem Anliegen heraus

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Am Anfang stand AIDS Mögen solche Bestattungen »von Amts wegen« eine Notlösung sein, so entstanden die ersten queeren Gräber ebenfalls aus einer Not heraus. Als die Immunschwächekrankheit AIDS 1981 als eigenständige Krankheit erkannt worden war, wurde AIDS in weiten Kreisen der Gesellschaft noch als »Schwulenpest« stigmatisiert und die daran Erkrankten erfuhren gesellschaftliche Ausgrenzung. Häufig waren es sogar die Familien und engsten Angehörigen, die den Stab über sie brachen. Menschen, die drohten, daran zu sterben, sahen sich mit der Möglichkeit konfrontiert, dass ihre Angehörigen sie nicht einmal bestatten würden. Hatten sich an AIDS Erkrankte in Selbsthilfegruppen organisiert, so keimte der Gedanke, dass diese sich nicht nur um die Probleme der Lebenden, sondern auch um die Bestattung der Verstorbenen kümmern könnten. Es war der Hamburger L ­ andschaftsgärtner Horst Lange, selbst schwul, der 1994 Pfarrer Rainer Ehlers, geb. Jarchow, mit dem Anliegen betraute, eine Gemeinschaftsgrabstätte für Menschen einzurichten, die an AIDS verstarben. Ehlers hatte gerade die bundesweit erste Pfarrstelle für die Seelsorge von Menschen mit HIV und AIDS in Hamburg angetreten und zeigte sich dem Ansinnen gegenüber aufgeschlossen. Mit einigen Unterstützern gründete er den Verein Memento e. V. mit dem Ziel, eine solche Grabstelle zu realisieren. Hier sollte eine Möglichkeit geschaffen werden, in würdiger Umgebung und mit Namens-

nennung bestattet zu werden. Auch sollte über den Verein die Pflege der Grabstätte gewährleistet werden, die schließlich auf dem Friedhof HamburgOhlsdorf gefunden wurde. 1995 erwarb der Verein ein ehemaliges Kaufmannsgrab, nahm es in Patenschaft und organisierte dort die Bestattung der an AIDS Verstorbenen. Das Grabmal besitzt ein Mosaik in den Regenbogenfarben und ein Stundenglas, weshalb es der AIDS-Szene durchaus bildlich entspricht: eine bunte Gemeinschaft von Individuen, die sich der Begrenztheit ihrer Lebenszeit in besonderer Weise bewusst sind.

Reiner Sörries

entstand die Idee, eine eigene Grabstelle zu erwerben.«2 Ohne dies hier vertiefen zu können, sei aber noch darauf verwiesen, dass heutzutage die politischen Kommunen die größte Wahlfamilie darstellen, denn ihre Ordnungsämter müssen eine stetig wachsende Zahl von Menschen ohne Angehörige bestatten. Statistiken werden darüber offiziell nicht geführt beziehungsweise nicht veröffentlicht. In Hamburg waren es 2015 etwa 1.000 Personen, knapp zehn Prozent aller Sterbefälle.

Friedhof Ohlsdorf in Hamburg, AIDS-Grabstätte Memento I, 1995

Binnen Jahresfrist waren dort 35 Menschen beigesetzt worden, auch zwei schwule Männer, die nicht an AIDS verstorben waren, und somit entwickelte sich das aus der Not geborene Projekt zu einem identitätsstiftenden Mittelpunkt der homosexuellen Community, darunter auch Frauen und Transsexuelle. Die gemeinsame Bestattung erhielt den Status eines Signals erwachenden Selbstbewusstseins: Statt sich in einem anonymen Grab zu verstecken, wählte man das AIDSGemeinschaftsgrab als sichtbares Bekenntnis zu der praktizierten Lebensweise. Der AIDS-Aktivist Michael Jähme fasste das so zusammen: »Unsere

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Erinnerungen sind also unser Anker und unsere Verortung in der Welt und in unserer Lebensumgebung, die sich permanent verändert. Durch das Bewusstsein über den eigenen Lebensweg erhalten wir die Gewissheit und Sicherheit, wo wir hingehören, wo wir zuhause und verwurzelt sind. Erinnerung ist Halt und Orientierung. Wir identifizieren uns mit dem, was wir erlebt haben: Es ist unsere Geschichte, die wir erzählen können, und es ist unsere Biografie, unsere Lebensgeschichte, unsere Einzigartigkeit.«3 Creating Identites

Reiner Sörries

Spielten anfänglich aus der Not geborene, praktische Überlegungen bei der Anlage queerer Gräber eine Rolle, so entwickelten sie sich zu einem identitätsstiftenden Faktor. Die postmoderne Frage Wer bin ich – und wenn ja, wie viele?, wie

sie der Philosoph und Publizist Richard David Precht (2007) formuliert hat, bewegt heute viele Menschen, und sie machen sich auf die Suche nach ihrer Identität. Die Gruppe, zu der man gehört, gibt darauf eine gewichtige Antwort. Von der AIDS-Szene ging der Impuls aus, der die Totenfürsorge aus den Händen der biologischen Familie in die Verantwortung der Wahlfamilie legte. Als in Berlin die AIDS-Selbsthilfegruppe Denk mal positHIV e. V. 2000 ein Gemeinschaftsgrab auf dem Alten St.-Matthäus-Kirchhof anlegte, machte sie aus dem Anlass für dieses Grab und der Lebenswirklichkeit der dort Beigesetzten kein Hehl. Sowohl der Name des Vereins ist dort zu lesen, wie auch ein sich umarmendes Männerpaar auf der Grabtafel zu sehen ist. Es ging dort von Anfang an um die Identität der Verstorbenen und der Hinterbliebenen, was offenbar ein tröstliches Moment in sich trägt.

Reiner Sörries

of in Alter St.-Matthäus-Kirchh 2000 Berlin, AIDS-Grabstätte, (Detail der Grabplatte)

Alter St. Matthäus-Kirchhof in Berlin, AIDS-Grabstätte, 2000

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Mit »Unzucht zwischen Männern« war der legendäre Paragraph 175 überschrieben, in dem homosexuelle Handlungen unter Männern mit Strafe und Freiheitsentzug bedroht waren. Zwar wurde das Gesetz in der Nachkriegszeit mehrfach novelliert und vorsichtig entschärft, aber es blieb immerhin bis 1994 in Geltung, ehe es ersatzlos gestrichen wurde. Es war ein langer Weg vom ersten Aufstand der Homosexuellen 1969 in New York bis zur gesellschaftlich anerkannten Homoehe. Im Gedenken an diesen sogenannten Stonewall-­ Aufstand wurde erstmals 1970 der ChristopherStreet-Day organisiert, der in Deutschland seit 1979 ebenfalls unter dieser Bezeichnung gefeiert wird. Schwule und Lesben haben indessen längst die Ränder der Gesellschaft verlassen und sind in ihrer Mitte angekommen. Eigene Friedhöfe oder Gemeinschaftsgrabstätten waren die nächsten Schritte. Der erste Friedhof für Homosexuelle wurde 2008 in Kopenhagen als Teilbereich des Assistẹns Kirkegård in Kopenhagen eingeweiht, und die Begründung von Pfarrer Ivan Larsen leuchtet ein: »Wir haben unsere eigenen Plätze, an denen wir uns treffen und amüsieren können – Schwulenbars und so weiter. Deswegen wollten wir auch eine eigene Grabstelle. (…) Mit dem Homo-Grab will sich Larsen, der bereits für sich und seinen Partner Ove Carlsen ein Plätzchen reserviert hat, nicht von der Hetero-Welt absetzen. Er sieht es vielmehr als eine Ruhestätte im Kreis seiner Familie an: ›Wir wollen uns nicht isolieren, sondern finden es wichtig, zusammen zu sein. Wir sehen das als Familiengrab an. Eines, um das sich unsere Familie auch kümmern wird.‹«4 Nur ist die Familie jetzt der Verein Regnbuen (Regenbogen), den Larsen selbst gegründet hat. Die letzte Ruhestätte hat bislang Platz für 45 Verstorbene. Der kleine abgetrennte Homo-Ruheplatz ist mit Kieselsteinen ausgelegt, am Rand sind in Dreiecksform Blumen gepflanzt. Daneben steht ein großer Grabstein, auf dem sich die Regenbogenflagge befindet. »Das Dreieck ist unser altes Symbol, aber auch ein Symbol unseres Leidens«, so

Larsen, der daran erinnerte, dass Schwule in nationalsozialistischen Konzentrationslagern rosa Winkel tragen mussten. Einen ähnlich gearteten Entschluss fassten 2009 die Frauen der Genossenschaft FrauenWohnen5 in München: Die Genossenschaft FrauenWohnen bietet ihren Mitfrauen die Möglichkeit, in einem gemeinsamen Gräberfeld auf dem neuen Friedhof in Riem bestattet zu werden. Dies ist eine Alternative zur anonymen Bestattung oder auch ein Ort für Frauen, die keine Angehörigen haben, die das Grab pflegen können beziehungsweise wollen. Die Frauen der Münchner Wohngemeinschaft wollen demnach nicht nur zusammenleben, sondern nach dem Tod zusammenbleiben, gewissermaßen als »Nachbarinnen für immer«, wie die Süddeutsche Zeitung am 27. April 2011 ihren Bericht über den Frauenfriedhof titelte. Dabei war den Münchner Frauen durchaus bewusst, dass sie nichts Neues erfunden hatten, sondern auf die alte Tradition der Friedhöfe für Ordensfrauen zurückgriffen. Die Frauen wollten wissen, wo sie ihre letzte Ruhe finden. Beim Vereinsgrab haben sie die Gewissheit, dass sie von den Mitgliedern besucht werden – ein schöner Gedanke für jene, die keine Familie haben. Gräberfeld Schiefe Kiefer für Frauen der Genossenschaft FrauenWohnen nennt sich das Projekt offiziell in der Trägerschaft eines nicht eingetragenen Vereins, der seinen Vereinszweck in seiner Satzung folgendermaßen formuliert: »Der Zweck des Vereins ist die Anmietung, Verwaltung und Pflege des Gräberfelds Nr. 53 auf dem neuen Friedhof Riem für die Bestattung von Mitfrauen des Vereins.«6 Auf dem Gräberfeld steht eine blaue Stahlskulptur mit dem Titel »Raumzeichnung«, die der Verein in Auftrag gegeben hat. Man habe, so wird berichtet, schon seine Einweihung mit Prosecco begossen, wie man das vielleicht auch bei Trauerfeiern tut. Dass die Schiefe Kiefer fünf Jahre vor dem Berliner Lesbenfriedhof kaum publizistische Aufmerksamkeit erregte, liegt wohl daran, dass er nicht unter

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Heb­amme am Lebensende. Heute betreibt sie das Bestattungsinstitut Die Barke mit dem Grundsatz, »den würdevollen und sanften Umgang mit den Toten wieder in Frauenhände zu nehmen«.7

Reiner Sörries

Lebenswirklichkeit

Friedhof Riem in München, Gräberfeld »Schiefe Kiefer« für Frauen der Genossenschaft FrauenWohnen, 2009

dem ­Begriff »lesbisch« firmierte. Stattdessen hatten sich lediglich Frauen entschlossen, Frauen zu sein und unter sich bleiben zu wollen. So treten neben die bewusst queeren Bestattungen genderspezifische Anliegen und Anlagen. Frauen sind anders als Männer, und nicht jede Frau fühlt sich wohl bei dem Gedanken, nach ihrem Tod ihren Leichnam in Männerhänden zu wissen. Frauen bestatten Frauen ist deshalb der Grundsatz von Ajana Holz, die mit ihrer damaligen Freundin und Lebenspartnerin Brigitte bereits 1999 das Bestattungsinstitut Die Barke gründete. Insbesondere schien es ihr seinerzeit kaum möglich, Bestattungen gemäß ihrer lesbischfemi­nistischen Vorstellung durchzuführen. Sie erinnerte sich an die alten Traditionen der Totenfrauen und Leichenwäscherinnen, die über Generationen hinweg die Totenfürsorge betrieben hatten. Ihr wurde gleichzeitig die besondere Aufgabe der Frau am Lebensbeginn bewusst und übertrug diese Kompetenz auf das Lebensende. Ajana Holz, die in Erwägung gezogen hatte, Hebamme zu werden, versteht sich nun als Seelen-

Friedhöfe nur für Frauen, für Lesben oder Schwule deuten eine Entwicklung an, die einer Diversität im Leben wie im Tod den Weg bereitet, doch in der Realität ist die Gesellschaft längst noch nicht an diesem Punkt angekommen. Als der Kölner Schwulenaktivist Jean-Claude Letist 1990 verstarb, weigerte sich der Kölner Stadtanzeiger, den Verstorbenen in der Traueranzeige »schwul« zu nennen, denn das könne in einer Familienzeitung Anstoß erregen. Darüber, ob sich die Verhältnisse seitdem grundsätzlich geändert haben, fehlen entsprechende Untersuchungen, doch echte schwule Todesanzeigen finden sich nach wie vor nicht in den herkömmlichen Tageszeitungen, sondern ausschließlich in den einschlägigen Szenemagazinen wie etwa der Berliner Siegessäule oder in Hamburgs schwulem Stadtmagazin Hinnerk, also dort, wo man auch schwule Kontaktanzeigen schaltet und findet. Diese beiden Szenemagazine untersuchte die Ethnologin Jasmin Stein 2007 und fand bemerkenswerte Alternativen zum schwarzen Standardtyp mit Trauerrand. Schwule Todesanzeigen sind vielfach bunt, die Fotos der Verstorbenen oftmals Schnappschüsse von verwackelt bis erotisch, und die Texte formulieren posthume Liebesbekenntnisse. Im Vergleich zu herkömmlichen Todesanzeigen, die über das Ableben eines Verstorbenen, Ort und Zeitpunkt der Trauerfeier und die Traueradresse informieren, sind schwule Anzeigen anders und ihr Informationswert ist gering. Schon dem in der Regel nur monatlichen Erscheinungstermin der Magazine ist die Tatsache geschuldet, dass die Anzeigen erst Wochen nach dem Trauerfall erscheinen und somit nicht über eine Trauerfeier informieren können. Stattdessen haben wir es hier mit Traueranzeigen zu

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tun, in denen die Hinterbliebenen ihren Schmerz über den Verlust zum Ausdruck bringen. Die Absender sind der Lebenspartner, die Freunde oder einschlägige Clans oder Vereine wie in einem Fall der Leder- und Fetischclub Berlin. Adressen oder andere konkretere Mitteilungen fehlen in aller Regel, denn es ist ein Zirkel, in dem man sich kennt. Überhaupt verlagern sich Traueranzeigen wie Kondolenzen in der LGBT-Szene in die einschlägigen Foren im Internet. Das gilt in ähnlicher Weise für die manche Berührungspunkte besitzende BDSM-Szene. Ihr wichtigstes Portal sklavenzentrale.com unterhält eine eigene digitale Gedenkstätte mit der Möglichkeit zu kondolieren oder virtuelle Kerzen anzuzünden. Der normale Alltag kann indes für queere Menschen schwierig und zur Anfechtung werden. Mag es in Großstädten mittlerweile einfacher sein, ist aber allgemein die Aufgeschlossenheit dafür eher problematisch. Nicht jeder Bestatter reagiert entsprechend sensibel, wenn ein schwuler Lebensgefährte die Beerdigung »seines Mannes« besprechen möchte. Ähnlich den Frauen, die sich für Trauerfälle in lesbischen Beziehungen zuständig wissen und teilweise selbst lesbisch leben, haben sich auch Männer auf schwule oder sogenannte Gay-Bestattungen spezialisiert. 2007 galt der damals dreißigjährige Bestattermeister Björn Schulz mit seiner Firma Gaybestattungen in Frankfurt/Main als der erste, der sich dem besonderen Anliegen homosexueller Paare angenommen hatte und entsprechende Aufmerksamkeit in den Medien fand. Er wusste zu berichten, dass gerade viele Homosexuelle eine andere »ausgeflippte Kultur« leben und entsprechend auch bestatten und trauern wollen. Manche legen Wert auf sexy Sargträger oder eine Drag Queen am Grab, einen schwulen Mann in glamourösem Frauenoutfit. Schulz war sich seinerzeit bewusst, dass schwule Bestattungen selbst in einem Großraum wie Frankfurt mit geschätzten eineinhalb Millionen homosexuellen Männern und Frauen nicht die ausschließliche Geschäftsgrundlage bilden können, aber er verstand sich als Bestat-

ter für alle, denen eine herkömmliche Trauerfeier zu spießig ist. Julian Heigel, Inhaber der Thanatos Bestattung in Berlin, schreibt auf seiner Website: »Wir treten dafür ein, dass die Bestattung zu den Toten passt. Queere Menschen haben oft bestattungspflichtige Verwandte, die ganz andere Vorstellungen von der Bestattung haben als die eigentlichen Bezugspersonen. Dann ist es unsere Aufgabe zu vermitteln und allen den Abschied zu ermöglichen, den sie brauchen, ohne dass andere davon verletzt sind.«8 Damit verweist er auf die Konflikte, die vor allem in nicht eingetragenen Lebenspartnerschaften oder dann auftreten können, wenn eine gleichgeschlechtliche Ehe nicht geschlossen wurde. Dann konkurrieren mitunter die Bestattungsvorstellungen der Partner mit jenen der biologischen Verwandten, die per Gesetz die Bestattungspflichtigen sind. Das Verschweigen gleichgeschlechtlicher Lebensweisen ist heute immer noch ein Standardverhalten. Als am 11. Oktober 2020 die engagierte und beliebte Politikerin Marlis Bredehorst, die mit der Pfarrerin Eli Wolf verheiratet war, verstarb, würdigten die sozialen Netzwerke und Portale von queer.de bis schwules-netzwerk.de ihr Engagement für queere Rechte. Auch die Partei Bündnis 90/Die Grünen, deren Mitglied Bredehorst war, hob ihr Engagement für »Soziales, Umwelt, Integration, Inklusion, Gesundheit, Lesben, Schwule und Trans« hervor. Die Evangelische Kirche im Rheinland hingegen würdigte Bredehorst, die Mitglied der Kirchenleitung war, in ihrem Nachruf zwar für ihr »leidenschaftliches Engagement in und für ihre Kirche«, reduzierte jedoch ihr entschieden queeres Engagement auf ihr »Eintreten für Geschlechtergerechtigkeit«, bewusst die Begriffe »homosexuell«, »lesbisch« oder »queer« vermeidend. Ebenso vermied es die Stadt Köln, deren Sozial-, Gesundheits-, Integrationsund Umweltdezernentin Bredehorst von 2003 bis 2010 gewesen war, ihr Engagement für Lesben, Schwule und Queere hervorzuheben, und formulierte vorsichtig ihr Eintreten für die »Ehe für alle«.

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Bunte Vögel

Reiner Sörries

Schwul zu sein wird nur wenigen Künstlern und Prominenten zugestanden. Sie dürfen ungestraft mit dem Image des bunten Vogels ihre sexuelle Orientierung preisgeben. Selbst Wikipedia pflegt eine Liste von Personen mit Symbolstatus in der Lesben- und Schwulenszene von Cher bis Conchita Wurst. Sterben sie, sind ihnen Extravaganzen durchaus erlaubt. Als Dirk Bach am 1. Oktober 2012 im Alter von 51 Jahren verstarb, erhielt er sein Grab auf dem Melaten-Friedhof in Köln. Seinen Grabstein aus schwarzem Granit ziert ein rosafarbener Stern. Noch kurz vor seinem Tod hatte Bach im Schlosspark Theater Berlin für die Hauptrolle in »Der kleine König Dezember« geprobt, und im Stück hätte er als kleiner König gesagt: »Und wer tot ist, wird ein Stern« – der Stern und dieser Spruch zieren nun seinen Grabstein.

2013 ließ seine langjährige Kollegin und Freundin Sonja Zietlow den Deutschen Comedypreis an seiner Grabstätte anbringen. Bach und Zietlow waren für den Preis in der Kategorie »Beste Moderation« in »Ich bin ein Star – Holt mich hier raus!« nominiert, den Zietlow jedoch erst zusammen mit Dirk Bachs Nachfolger Daniel Hartwich 2013 verliehen bekam. Beide lehnten die Annahme des Preises aus Respekt vor dem Verstorbenen ab. Bevor Zietlow den Preis am Grab anbringen ließ, hatte sie die Trophäe eigenhändig mit rosa Farbe besprüht. Dann steht neben dem Grab noch eine ebenfalls rosafarbene Bank, eine Stiftung der Komödiantin Hella von Sinnen, die er aus gemeinsamen Zeiten in einer Kölner Wohngemeinschaft kannte und mit der Bach in vielen seiner Produktionen eng zusammenarbeitete. So hat Dirk Bach eine Grabstätte erhalten, die heute zu den

Melaten-Friedhof in Köln, Grabstätte von Dirk Bach, 2013

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Sehenswürdigkeiten auf dem Melaten-Friedhof gehört, weil sie versucht, seiner Person und Individualität gerecht zu werden. Ein rosaroter Hoffnungsschimmer für eine queere Bestattungskultur scheint dies aber eher nicht sein. Die meisten Friedhöfe hätten im Sinne ihrer gültigen Gestaltungsrichtlinien eine derartige Grabgestaltung wohl nicht genehmigt. Es muss jedoch keineswegs so schrill sein. Der erste Lesbenfriedhof in Berlin, der wie eingangs beschrieben so viel Aufmerksamkeit erhielt, kommt stattdessen eher vertraut oder gar zurückhaltend daher. Unter Bäumen werden dort die Verstorbenen in 80 Urnen- und Erdgräbern ruhen. Gestalterisches Element ist lediglich eine ­S-förmige Holzbank am gewundenen Weg, auf der man sitzen, nachdenken und trauern kann. Es geht nicht um eine Aufmerksamkeit um jeden Preis, sondern um das Bewusstsein einer Gemeinschaft. Dr. Reiner Sörries, Theologe, Pfarrer der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern, apl. Professor für Christliche Archäologie und Kunstgeschichte am Fachbereich Theologie der Universität Erlangen. Er war von 1992 bis 2015 Geschäftsführer der Arbeitsgemeinschaft Friedhof und Denkmal und Direktor des Museums für Sepulkralkultur in Kassel. Er lebt in Kröslin an der Ostsee. Kontakt: [email protected]

Reiner Sörries

Literatur Arbeitsgemeinschaft Friedhof und Denkmal (Hrsg.) (2007). Creating Identities: Die Funktion von Grabmalen und öffentlichen Denkmalen in Gruppenbildungsprozessen. Kassel. Precht, R. D. (2007). Wer bin ich – und wenn ja, wie viele? Eine philosophische Reise. München. Sörries, R. (2016). Ein letzter Gruß. Neue Formen der Bestattungs- und Trauerkultur. Kevelaer.

Gemeinschaftsgrabfeld der SAPPhO-Frauenwohnstiftung auf dem Friedhof Georgen-Parochial I in Berlin, 2014

Anmerkungen 1 2 3 4 5 6 7 8

https://www.sappho-stiftung.de/unsere-stiftung/ziele-struktur (Zugriff am 11.05.2021). https://diakonie-hospiz-wannsee.de/ueber-uns/wuerdiges-sterben (Zugriff am 11.05.2021). http://archiv.ondamaris.de/index.html %3Fcat=58.html (Zugriff am 11.05.2021). https://www.queer.de/detail.php?article_id=8566 (Zugriff am 11.05.2021). https://frauenwohnen.de/schiefe-kiefer (Zugriff am 11.05.2021). https://frauenwohnen.de/wp-content/uploads/2020/05/Satzung-Schiefe-Kiefer-2015-06-18.pdf (Zugriff am 11.05.2021). https://die-barke.de/philosophie/philosophie (Zugriff am 11.05.2021). https://www.thanatos-berlin.de/queere-bestattung (Zugriff am 11.05.2021).

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Die Krise als Lebenskonstante Abschied und Verlust aus suchtmedizinischer Perspektive

Theresa Sellner-Pogány Epidemiologische Situation Suchterkrankungen, das sei vorausgeschickt, sind kein einheitliches Erkrankungsbild, tatsächlich gibt es ganz unterschiedliche Erscheinungsformen: Die häufigsten Formen der substanzgebundenen Süchte in Österreich werden immer noch durch gesellschaftlich legitimierte Substanzen verursacht – nämlich Nikotin (24 Prozent der Bevölkerung) und Alkohol (5 Prozent). Während es auch beim Konsum dieser Substanzen zu gravierenden gesundheitlichen und psychosozialen Problemen kommen kann, führt doch gerade der im Grunde weniger verbreitete risikoreiche Drogenkonsum unter Beteiligung von Opioiden (in ganz Österreich ca. 35.000 bis 38.000 Personen) vermehrt zum Verlust an der gesellschaftlichen Teilhabe und einer damit einhergehenden speziellen Konstellation an Lebensherausforderungen. Eine zahlenmäßig große Gruppe an Suchterkrankungen bilden die nichtsubstanzgebundenen Süchte (zum Beispiel Kauf-, Glücksspielund Internetsucht), auf die ich aber hier nicht weiter eingehen werde. Einen guten Überblick über die epidemiologische Situation der Suchterkrankungen in Österreich bietet das Factsheet SUCHT (Stand 23.02.2021). Psychiatrische Komorbidität, Suizidalität und körperliche Begleiterkrankungen Psychiatrische Komorbiditäten wie affektive Störungen, Schizophrenien oder Persönlichkeitsstörungen treten bei Suchterkrankungen gehäuft auf. Sie können einen erfolgreichen Beziehungsaufbau sowohl im Privatleben als auch im thera-

peutischen Setting torpedieren und so zu häufigen Abbrüchen und Krisen beitragen. In der Behandlung von Suchterkrankungen sollte man im Auge behalten, dass es zu einer Häufung von suizidalen Krisen und leider auch von tatsächlich durchgeführten Suiziden kommen kann. Alle Suchterkrankungen erhöhen das Risiko für Suizidalität. Bei Opiatkonsum ist die Sterblichkeit durch Suizid bis zu vierzehnmal höher als in der Allgemeinbevölkerung (Schneider et al. 2019). Gleichzeitig kommt es durch die Häufung von körperlichen Begleiterkrankungen wie Lebererkrankungen, lokalen und systemischen Infektionen, Herzklappenerkrankungen etc., zusammen mit den harten Lebensrealitäten, die durch Obdachlosigkeit und den ständigen Beschaffungsdruck etwaiger illegaler Substanzen entstehen, zu einer oft deutlich eingeschränkten Lebenserwartung.

Gefühlen von Ohnmacht, Wut, Trauer und innerer Anspannung wird von den Betroffenen nicht selten wieder mit vermehrtem Substanzgebrauch begegnet. Abschiede und Verluste im Leben von Suchtkranken können zur gesamten Destabilisierung beitragen.

Klaus Meinhardt

Foto: Ulrike Rastin

Verlust und Abschied als alltägliche Suchterfahrungen Menschen mit risikoreichem Drogenkonsum sind im Laufe ihres Lebens mit einer ganzen Reihe von Abschieden und Verlusten konfrontiert: Durch die Suchterkrankung kommt es in vielen Fällen zu einem Abbruch bisheriger Beziehungen, familiäre Kontakte und Unterstützungen dünnen sich aus, die Kontakte zu Freunden reduzieren sich auf ein Minimum. Durch den Suchtdruck und damit einhergehende gesundheitliche und rechtliche Probleme kann es in der Folge zum Verlust des Ausbildungs- oder Arbeitsplatzes kommen. Es folgen Geldprobleme, der Verlust der eigenen Wohnung, nicht selten gefolgt von Obdachlosigkeit. Brüche mit der Herkunftsfamilie oder dem bisherigen Freundeskreis sind bei Suchtpatientinnen keine Seltenheit. Hier spielen oft auch Scham über die Suchterkrankung oder damit einhergehende Begleiterkrankungen eine Rolle, aber auch Ab-

lehnung durch allgemeine Moralvorstellungen oder wiederholte (Ent-)Täuschungen bisheriger Vertrauenspersonen. Herr A., 34 Jahre, konsumiert seit Jahren verschiedenste illegale Substanzen und ist aufgrund von Beschaffungskriminalität in Haft gekommen. Dort wird bei dem Patienten, der auch HIV- und Hepatitis-C-positiv ist, eine fortgeschrittene onkologische Erkrankung festgestellt. Da die Erkrankung rasant fortschreitet, wird der Patient aus humanitären Gründen vorzeitig aus der Haft entlassen. Als Herr A. aus dem Spital nach Hause verlegt werden soll, erwähnt eine Pflegekraft vor der versammelten Familie die HIV-Diagnose, die der Patient bisher vor seiner Familie geheim gehalten hatte. Die Empörung der Familie ist daraufhin groß, Herr A. wird als Gefahr für die gesamte Familie wahrgenommen und – so die Worte des Patienten – »verstoßen«. Der Patient ist nun zusätzlich zu seiner nur noch palliativ

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D i e K r i s e a l s L e b e n s k o n s t a n t e    5 9

zu behandelnden Erkrankung mit Obdachlosigkeit und noch größerer Einsamkeit konfrontiert. Die Scham darüber, von seiner Familie abgelehnt zu werden und in seinem Leben »nichts ordentlich hinbekommen« zu haben, erschwert seine einsetzende Trauer über das absehbare Lebensende. Auch bei Menschen mit Suchterkrankungen gibt es Wege zurück in ein stabileres Leben, aber oft folgt doch eine Krise der nächsten. Einer Phase der Stabilisierung kann auch wieder eine instabile Phase folgen – und umgekehrt – und bisherige Lebensentwürfen zerschellen so an der Realität der Suchterkrankung. Zur Trauer um den Verlust des bisherigen Lebensentwurfs kommt oft auch ein täglicher Überlebenskampf um ganz alltägliche Dinge wie die nächste Mahlzeit oder einen sicheren Schlafplatz. So können die Themen Abschied, Verlust, Tod und Trauer eine wiederkehrende Konstante für Menschen mit Suchterkrankungen werden. In ihrer Betreuung hören wir daher immer wieder Geschichten von gehäuften Verlusten. Den dadurch entstehenden Gefühlen von Ohnmacht, Wut, Trauer und innerer Anspannung wird von den Betroffenen nicht selten wieder mit vermehrtem Substanzgebrauch begegnet. Es sollte nicht unterschätzt werden, wie sehr Abschiede und Verluste im Leben von Suchtkranken zur gesamten Destabilisierung beitragen können. Herr B., 29 Jahre, ausgebildeter Automechaniker, wird in einer suchtmedizinischen Einrichtung vorstellig. In den letzten Monaten war er in einem anderen Bundesland in Opiatsubstitution, möchte nun aber nach Wien ziehen, um dem dortigen »schlechten Einfluss« seiner bisherigen Freunde zu entgehen. Er ist voller Hoffnung auf einen Neuanfang, der aufgrund seiner guten Ausbildung nicht ganz unrealistisch erscheint. Nach kurzer Zeit fällt jedoch auf, dass der Patient mehrmals schwer alkoholisiert zur Medikamentenabgabe erscheint.

Im Rahmen eines Gesprächs berichtet Herr B., dass er vor zwei Jahren innerhalb sehr kurzer Zeit seine Mutter und seine Großmutter durch Krankheit verloren hat. Kurz darauf wurde er selbst in einen Autounfall verwickelt, bei dem seine Schwester ums Leben kam. Trotz dieser Schicksalsschläge gelang es dem Patienten, seine Ausbildung abzuschließen. Als jedoch vor wenigen Monaten auch noch sein Hund verstarb, verlor er den Halt und geriet in eine Abfolge von Krisen, die mit exzessivem Alkoholund Drogenkonsum einhergingen, gefolgt von Job- und Wohnungsverlust. Auch emotional aufgeladene Feste wie Weihnachten können ein Auslöser für eine Destabilisierung sein und so selbst bei relativ stabilen Patientinnen zu krisenhaften Situationen führen. Frau C., 46 Jahre, ist seit mehreren Jahren bei einem niedergelassenen substituierenden Arzt stabil in Betreuung. Anfang Januar muss sie jedoch vorübergehend in einer suchtmedizinischen Einrichtung betreut werden, nachdem sie es versäumt hatte, ihr reguläres Substitutions-Dauerrezept zu verlängern. Die Patientin hat insgesamt vier Kinder, die allesamt bei Pflegefamilien untergebracht sind, da Frau C. aufgrund ihrer psychiatrischen Vorerkrankungen nicht ausreichend für sie sorgen kann. Durch das bevorstehende Fest wurde die Patientin schmerzlich daran erinnert, dass sie auch dieses Jahr wieder ganz ohne Familie feiern würde. Während es ihr während des restlichen Jahres recht gut gelungen war, die regelmäßigen Treffen mit ihren Kindern einzuhalten, führt die Krise rund um Weihnachten wieder zu neuerlichem unkontrollierten Heroinkonsum. Im Gespräch gelingt es, die Trauer der Patientin um den Verlust ihrer Kinder zu thematisieren. Es kann herausgearbeitet werden, welche Leistung Frau C. vollbringt, indem sie die regelmäßigen Kontakte mit den Kindern

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und so eine neue Form der mütterlichen Beziehung aufrechterhält. Frau C. ist sehr überrascht über diese neue Sichtweise. Es gelingt ihr im Anschluss, die Termine wieder regelmäßig einzuhalten, und sie kann zurück ins Substitutionsprogramm übernommen werden. Herausforderungen in der Begleitung suchtkranker Menschen am Lebensende Die Themen Verlust und Abschied treten naturgemäß auch bei der Begleitung suchtkranker Menschen am Lebensende auf (Schreiber 2021). Dabei gilt es auch zu bedenken, dass unsere üblichen Idealvorstellungen von palliativer Begleitung und Betreuung oft zu kurz greifen. Hospizliche Versorgung im Allgemeinen wird oft mit Bildern des umsorgten, behüteten Abschieds assoziiert (Schneider 2016). Bei Menschen mit einer längeren Vorgeschichte von Suchterkrankung und Obdachlosigkeit müssen wir damit rechnen, dass diese Form des scheinbar »guten Sterbens« nicht immer umsetzbar ist und manchmal auch nicht den Wünschen unserer Patientinnen entspricht. Herr D., 64 Jahre, hat ein metastasiertes Lungenkarzinom und kommt in schon sehr schlechtem Allgemeinzustand in die Ambulanz. Er ist bereits seit Jahrzehnten opiatabhängig, relativ stabil substituiert und hat dennoch sein Leben lang in einem Zelt auf der Donauinsel in Wien gelebt. Durch das Fortschreiten der Erkrankung wird ihm diese Lebensart nun immer beschwerlicher und er wechselt in eine Notschlafstelle, wo er zumindest in der Nacht ein Dach über dem Kopf hat. Nach der anfänglichen palliativen Symptombetreuung von Schmerzen und Atemnot treten mit zunehmender Schwäche die Wünsche des Patienten für sein Lebensende in den Vordergrund. Da Herr D. keinesfalls im Spital sterben möchte, beginnt die Suche nach einer sicheren Bleibe für das Lebensende. Schließlich gelingt es, ein

Zimmer in einer betreuten Wohngemeinschaft für den Patienten zu organisieren. Durchaus zuversichtlich zieht der Patient dort ein. Doch nur wenige Tage später sucht Herr D. zu unserer Überraschung wieder bei der Notschlafstelle um einen Schlafplatz an: Er vermisse seine gewohnte Umgebung, das »Szeneleben« mit all seinen Auf-und-ab-Bewegungen und – ja – auch die frische Luft. Nur mit Mühe gelingt es, den Patienten zu überzeugen, wieder in die in unseren Augen stabilere Unterkunft zurückzukehren, wo er nur wenige Wochen später verstirbt. Das Gespräch als Chance einer Begegnung Insgesamt sollten wir in der Begleitung von Menschen mit Suchterkrankungen vor Augen haben, dass sich Krisen und Verluste wie ein roter Faden durch das Leben dieser Menschen ziehen können. Das Aufnehmen solcher oft schmerzhaften Erlebnisse in gemeinsamen Gesprächen wird aus meiner Erfahrung von den Betroffenen durchaus begrüßt. Es eröffnet sich so die Möglichkeit, abseits der üblichen Stigmatisierung als »Drogenkranker« als menschliche Person in ihrer Gesamtheit wahrgenommen zu werden. Dr. Mag. Theresa Sellner-Pogány, Ärztin für Allgemeinmedizin, Spezialisierung in Palliativmedizin, ÖÄK-Diplom für Psychotherapeutische Medizin (Systemische Richtung), arbeitet in einer niederschwelligen suchtmedizinischen Einrichtung der Suchthilfe Wien. Kontakt: [email protected] Literatur Factsheet SUCHT (praevention.at). Institut Suchtprävention pro mente OOE. Schneider, B.; Eilert, L.; Milin, S. et  al. (2019). Suizidalität bei Abhängigkeit von illegalen Substanzen und psychotrop wirksamen Medikamenten. In: Suchttherapie, 20, 3, S. 129–134. Schneider, W. (2016). Riskantes Sterben – das Lebensende in der reflexiven Moderne. In: SuchtMagazin, 2. Schreiber, W. (2021). Der »unheilbar erkrankte« psychiatrische Patient. Eine palliative Haltung als wegweisende Zugangsform. In: Zeitschrift für Palliativmedizin, 22, 1, S. 35–40.

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Was bedeutet Sterben, Tod und Trauer für Menschen mit HIV? Alexandra Prinz »Man stirbt, wie man lebte; das Sterben gehört zum Leben, nicht zum Tod.« (Ludwig Marcuse)

Wer sich mit dem Leben befasst, muss den Tod mit einbeziehen. Sterben, Tod und Trauer in dem speziellen Kontext von Menschen mit HIV sollten nicht anders betrachtet werden als bei Menschen ohne HIV. Das HI-Virus kann zum Ausbruch von AIDS führen, woran man bei unzureichender Behandlung sterben kann. Die Behandlungsmöglichkeiten in Ländern mit modernen Gesundheitssystemen sind so, dass niemand mehr an AIDS sterben muss, der unter medikamentöser Therapie steht. 2019 wurden in Österreich 430 HIV-Neuinfektionen1 gemeldet, 13.631 Menschen leben mit HIV. Grund genug, sich damit zu beschäftigen, wie das Leben der Menschen mit HIV ist und dass sie trotz vierzig Jahren Erfahrung, Wissen und wissenschaftlicher Erkenntnisse weiterhin erheblicher Diskriminierung ausgesetzt sind. Allgemein scheint immer noch die Ansicht vorzuherrschen, dass der Sterbeprozess bei HIVinfizierten Menschen anders verläuft als beim Rest der Gesellschaft – aber dem ist nicht so. Nur weil jemand HIV-positiv ist, stirbt man nicht anders und man stirbt auch nicht schneller. Die Lebenserwartung von Menschen mit HIV ist mittlerweile nahezu gleich hoch wie von Menschen ohne HIV. »Man« ist hier ganz bewusst gesetzt, wobei wir mitten im Thema sind. Es drückt Geschlechtslosigkeit aus und legt nicht eindeutig auf männlich oder weiblich fest. HIV-positive Menschen lassen sich in ihrer geschlechtlichen Identität manchmal nicht so einfach zuordnen. Dies

wirft die Frage auf, ob man sich nicht grundsätzlich einer Auseinandersetzung mit der dualen Geschlechtsidentität in der Gesellschaft viel offener stellen müsste? HIV-positive Menschen leben in normalen Beziehungen, sind homo- oder heterosexuell, haben unterschiedliche Identitäten und gehören unterschiedlichen sozialen, ökonomischen, kulturellen Entitäten an. Worin sollte sich dann bei ihnen Sterben, Tod und Trauer unterscheiden? Das Menschsein verbindet uns vollkommen unterschiedslos von gesellschaftlicher, sozialer, finanzieller, geschlechtlicher, religiöser oder anderer Zugehörigkeit. Es geht hier um die Verdeutlichung, dass wir in unserem irdischen Dasein jene Vielfalt des Lebens hervorbringen, die uns als vernunftbegabte Geschöpfe mit Geist und Seele mit allem Lebendigen verbindet. HIV-Positive gewinnen diesem Leben genauso schöne und weniger schöne Seiten ab wie alle anderen auch. Und am Ende stirbt man so, wie man gelebt hat. Menschen mit HIV sterben, weil wir alle sterben müssen, aber aufgrund der inzwischen ausgezeichneten Therapie eben nicht früher als andere Menschen mit chronischen Erkrankungen. Der Tod von HIV-Infizierten ist häufig einsam, was selbst im Jahr 2021 mit der allgemeinen Stigmatisierung und Diskriminierung einhergeht, die trotz des Wissens, das man seit Jahrzehnten von dieser Krankheit hat, vielerorts immer noch vorherrscht. Davon sind Gesundheitseinrichtungen laut Rückmeldungen von Betroffenen nicht ausgenommen, obwohl man meinen könnte, dass Mitarbeitende in Gesundheitsberufen über entsprechende Sensibilität verfügen müssten.

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Die Mehrheit der Gesellschaft wird in der Regel nicht mit HIV-positiven Menschen konfrontiert. Das Thema Tod, Trauer und Sterben berührt einen meist erst dann, wenn man unmittelbar selbst davon betroffen ist durch einen Todesfall im Bekannten- oder Verwandtenkreis. War eine HIV-Diagnose anfangs oft noch mit Todesangst verbunden, haben inzwischen die meisten Infizierten mit der Diagnose sinnerfüllend zu leben gelernt. Kritisch sind die ersten 24 Stunden nach Erhalt der Diagnose, weswegen es besonders wichtig ist, wie einem das Ergebnis mitgeteilt wird. Der Schock über die Diagnose kann Gedanken an Suizid auslösen. Wer beispielsweise im Aids-­HilfeHaus Wien einen HIV-Test macht, erhält die Befundung durch geschulte Psycholog*innen und damit auch umfassende Information über Unterstützungsangebote. HIV-Infizierte fühlen nicht anders als andere Menschen auch. Beschwerlich ist lediglich die Vorstellung, dass sie von einem lebensgefährlichen Virus befallen sind. Doch was weiß die Gesellschaft über HIV ganz allgemein und im Besonderen über die Gefühlslage von Menschen, die HIV-positiv sind? Die Wissenschaft gibt dazu wenig Fakten und Daten her. Geschultes Personal, das mit HIVpositiven Menschen arbeitet, ist rar und meist im Akutbereich verankert. Doch gibt es auch Einrichtungen, die spezialisiert sind und sich eine Expertise in diesem Setting aufgebaut haben wie zum Beispiel Diversity Care Wien, eine vom Fond Soziales Wien anerkannte Einrichtung, die sich seit zwanzig Jahren speziell für eine integrierte Versorgung von HIV-positiven Menschen einsetzt, die in ihren eigenen Wohnungen leben. Dort ist man mit dem Umfeld von HIVpositiven Menschen bestens vertraut und oft ist das Personal dieser spezialisierten Einrichtung der letzte verbliebene Kontakt, vor allem wenn es um die Sterbephase geht. Dank der spezialisierten Einrichtung und der hochprofessionellen Pflegekräfte ist es auch in der Letztphase des Lebens möglich, dass diese Menschen zu Hause

bis zum letzten Atemzug betreut werden können. Damit gelingt das, was die meisten Menschen für sich erhoffen: zu Hause möglichst würdevoll zu sterben. Über die Biografien von Menschen mit HIV ist in der Öffentlichkeit wenig bekannt. Man hat HIV häufig mit Drogen oder Homosexualität in Zusammenhang gesehen. Fakt ist, dass niemand davor gefeit ist, sich mit dem HI-Virus anzustecken. Jedoch erfahren die genannten Gruppen auch ohne HIV schon genug Diskriminierung. Aus einschlägigen internationalen Studien wird berichtet: »There is increasing recognition that lesbian, gay, bisexual and/or trans* (LGBT) communities represent minority groups with specific health­care needs. People who identify as LGBT are at increased risk of life-limiting illnesses, including certain cancers, and exhibit more risk behaviours linked to experiences of discrimination. A recent systematic review described a potentially increased need for palliative care among these communities. Isolation is more common among the LGBT communities, particularly among the older generations, who may face additional barriers when accessing healthcare, resulting in a reluctance to share their identity with healthcare professionals.«2 Hier zeigt sich, dass Menschen, die nicht der gesellschaftlichen Norm entsprechen, in normierten Systemen mit erheblichen Benachteiligungen konfrontiert sind. Der Weg zur Diversität ist noch ein langer. Doch haben die von HIV-Betroffenen häufig das Privileg, zu Hause sterben zu können. Manchmal sehr einsam und – aufgrund jahrelanger sozialer Notlage – in oft ärmlichen Wohnungen, manchmal aber auch im Kreis der Familie, umgeben von guten Freunden und Freundinnen und mit schönen Vorstellungen. Das Leben hat den Sinn, den man ihm gibt. Die Fähigkeit dazu ist uns Menschen inhärent. Menschen mit HIV leben das Leben, das sie sich

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Heinrich Hoerle, Arbeiter, 1931 / akg-images

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für sich wünschen. Anfangen kann man, indem man die Biografien von Menschen versteht und dafür sorgt, dass Menschen in einer menschengerechten, liebenden Welt leben. HIV ist nicht nur eine Randgruppenerkrankung, sondern manchmal die Folge von erlittenen Demütigungen, Gewalterfahrungen, Kränkungen, die Menschen dazu gebracht hat, in ihrer Verzweiflung auf Abwege zu geraten. Ein Betroffener äußert seine Vorstellung über das Sterben mit folgenden Worten: »Vor dem Sterben habe ich keine Angst. Ich weiß, dass ich mich auf meine Familie, insbesondere meine Schwestern, verlassen kann. Vor einem Jahr ist mein Hund gestorben, der mir sehr wichtig war. Da konnte ich auch das anwenden, was ich in einer Ausbildung zum palliativen Begleiter gelernt habe. Das war mir sehr wichtig und ich habe die Asche meines Hundes bei mir zu Hause in einer Urne. Mit dieser Urne soll ich dann gemeinsam unter einem Baum begraben werden. Im Krankenhaus habe ich oft schlimme Erfahrungen gemacht. Es war immer belastend, wenn man herausgefunden hat, dass ich HIV-positiv bin und das Personal dann getuschelt hat; das hat mich sehr gekränkt. Deswegen sage ich es immer gleich, aber das ist auch nicht besser. Wenn ich mich verletze und es blutet, dann möchte ich immer, dass sich alle entfernen und ich verbinde mich selbst, weil ich nicht möchte, dass sich irgendjemand ansteckt. In all den Jahren ist mir nur einmal ein Arzt begegnet, der sich Zeit genommen hat und mir zugehört hat und der dann gesagt hat: ›Ich verstehe Sie.‹ Das war ganz wichtig für mich. Als mein Freund damals die Diagnose erhielt, da wollte ich auch nicht mehr leben. Deswegen wollte ich mich anstecken. Als ich dann positiv war, haben sich einige in meiner Familie abgewandt, aber einige haben mich auch sehr unterstützt. In meinem Leben

habe ich viel Gewalt erfahren, vor allem in der Kindheit und in der Jugend. Mein Vater war Alkoholiker und hat uns alle geschlagen. Wir waren 13 Kinder und einige sind deswegen auf die ›schiefe Bahn‹ geraten und kamen mit Drogen in Kontakt. Ich selbst leide bis heute unter Depressionen und wollte deswegen schon in meiner Jugend sterben, weswegen ich einige Suizidversuche hinter mir habe. Damals habe ich mein Leben verloren und versuche, irgendwie durchzukommen. Aber jetzt bin ich doch froh, dass ich noch lebe und die Natur erleben kann. Mit dem Sterben verbinde ich Erlösung, von den Schmerzen und der Müdigkeit, die auch immer schlimmer wird. Ich möchte gerne so lange wie möglich zu Hause bleiben und zu Hause betreut werden. Das Schlimmste wäre für mich, im Krankenhaus zu sterben oder alleine in irgendeinem Eck. Meine Wünsche sollen respektiert werden und meine Schwestern sollen bei mir sein, auch wenn ich weiß, dass das für sie nicht einfach sein wird. Wenn ich sterbe, möchte ich, dass die Trauernden feiern, sie sollen tanzen. Den Tod empfinde ich nicht als traurig. Ich glaube an das Universum, dass da oben irgendwo ein kleines Licht ist und dass wir alle zu Lichtern werden.« Mit herzlichem Dank an Willibald Koller für seine Geschichte Alexandra Prinz, Studium der Philosophie, Kultur- und Sozialanthropologie, Ausbildung zur diplomierten Gesundheits- und Krankenschwester, Master in Advanced Nursing Practice, Arbeitserfahrung als Krankenschwester und Führungskraft im In- und Ausland, Spezialisierung auf HIV sowie Palliative Care, auch Öffentlichkeitsarbeit, Begutachtungstätigkeit und Qualitätssicherung in der Pflege. Kontakt: [email protected] Anmerkungen 1 https://www.aids-hilfe.at/wissen/hiv-statistik/ 2 https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC49843 11/pdf/10.1177_0269216316634601.pdf

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Zwischen geplanter Beziehung und Nächstenliebe Begegnung mit Leiderfahrungen junger Geflüchteter in der Sozialen Arbeit

Daniela Dohr Wer seine Professionalität in der Sozialen Arbeit hervorheben will, der oder die spricht vom »Klienten« oder »der Klientin« und betont damit die geschulte Distanz gegenüber dem Hilfe­suchenden. Er macht deutlich, dass er sich nicht von Emotionen hinreißen lässt und auch in schwierigen Situationen imstande ist, rational zu entscheiden, einen »kühlen« Kopf zu bewahren. Die »Abgrenzung« gegenüber dem Anderen und seinem Leid vollzieht sich im Inneren der Gesellschaft wie an den Grenzen der Festung Europa. Die »professionelle« Vermeidung freundschaftlicher Hinwendung zu Hilfesuchenden soll beiden Seiten dienen: den Hilfegebenden wie den Hilfeempfangenden. Begründet wird dies mit der Notwendigkeit, die eigene psychosoziale Gesundheit für den Beruf zu erhalten, nicht auszubrennen, und Fehler, unkalkulierbare Risiken in der Arbeit, die aus mangelnder Distanz resultieren können, zu vermeiden (vgl. Schmidbauer 2005). Schon im ersten Kontakt mit dem »Klienten« oder der »Klientin« soll die Fachkraft sich darüber im Klaren sein, dass am Ende die Wiederauflösung des Kontakts mit dem »Klienten« steht. Die Fachkraft soll auch dadurch geschützt werden, dass ihre Verantwortung auf einen klar abgesteckten Rahmen mit einer konkreten Zielvereinbarung beschränkt wird. Die so erzeugte »Verlässlichkeit« soll eine solide Vertrauensbasis für den »Klienten« ermöglichen. Außerdem soll die professionelle Distanz eine Gleichbehandlung aller »Klientinnen« und »Klienten« sicherstellen.

Bei Hausbesuchen, die ich als Sozialarbeiterin bei jungen Geflüchteten und asylsuchenden Familien im Auftrag eines Berliner Trägers mache, erlebe ich, wie die professionell definierten Grenzen immer wieder aufbrechen und wie erst in Momenten der »Grenzüberschreitung« eine wirkliche Begegnung auf Augenhöhe möglich wird. Des Öfteren werde ich von meinen »Klienten« bei ihnen zu Hause zum Essen eingeladen und empfinde es als ein wunderbares Geschenk, wenn sich an der gemeinsamen Tafel das Machtgefälle von Hilfe-Gebenden und Hilfe-­Empfangenden auflöst und Gemeinschaft entsteht. Plötzlich kommen Fragen und Themen auf, die im vorgegebenen Rahmen des Hilfeplans keinen Platz haben. Solche Gespräche bedürfen einer besonderen ­Atmosphäre, die wesentlich vom Ungeplanten bestimmt ist. Gemeinsam denken, trauern, hoffen Meine Arbeit schenkt mir Einblicke in fremde Lebenswelten, die mich tief bewegen und verändern. Die asylsuchenden Menschen, denen ich begegne: Sie haben Furchtbares erlebt, mussten um Leib und Leben fürchten. Ihr Leben ist von vielen Verlusterfahrungen gekennzeichnet, von Beziehungsbrüchen, manchmal nur temporär, manchmal endgültig. Nun hoffen sie auf ein neues Leben in Europa. Bis zum »Bescheid«: ein endloses Warten. Warten auf Termine bei Behörden; warten auf den ersehnten Umzug in eine eigene kleine Wohnung; warten, die eigene Familie

Erich Fromm spricht von der »Kunst des Liebens«, die sich nicht auf die persönliche Sphäre beschränken darf, sondern untrennbar auch mit dem gesellschaftlichen Bereich verbunden sein muss. Liebe ist für Fromm ein Charakterzug, der gleichermaßen in familialen, freundschaftlichen und beruflichen Kontexten gelebt werden will.

nachzuholen oder eine eigene zu gründen; warten auf einen Schul- und Ausbildungsplatz, auf einen Job, einen Therapieplatz. Sie warten und hoffen, bleiben zu dürfen. Dabei steigt die Zahl derer, die unter 16 Jahren unbegleitet – also ohne ihre Eltern – in Deutschland ankommen, stetig an (vgl. BumF 2020). Ich bringe junge Geflüchtete im Rahmen meiner Tätigkeit mit engagierten Berliner Bürgerinnen und Bürgern zusammen, die für sie eine ehrenamtliche Einzelvormundschaft oder Patenschaft übernehmen möchten. Ich kann beobachten, wie soziale Beziehungen entstehen, die in Gemeinschaft und Freundschaft aufgehen. Nicht selten bleibt der Kontakt über das Ehrenamt hinaus bestehen. Und dies erscheint mir auch nötig, wenn die Realisierung von »gleichberechtigten Teilhabechancen« für geflüchtete Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene gelingen soll. Ohne die Förderung des zivilgesellschaftlichen Engagements zugunsten dieser besonders schutzbedürftigen Gruppe bliebe die Forderung nach »Teilhabe« wohl nur eine leere Floskel. Zugleich sollte die Politik sich nicht aus der Verantwortung ziehen, indem sie versucht, Sorgepflichten ins Private zu verschieben. Aber zugleich gilt: Kein politisches Programm kann das persönliche, soziale Engagement ersetzen.

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Hilma af Klint, Group IV, No. 2. The Ten Largest, Childhood, 1907 / Heritage Images / Fine Art Images / akg-images

Die Kunst des Liebens für unsere Gesellschaft Erich Fromm spricht von der Kunst des Liebens, die sich nicht auf die persönliche Sphäre beschränken darf, sondern untrennbar auch mit dem gesellschaftlichen Bereich verbunden sein muss. Liebe ist für Fromm ein Charakterzug, der gleichermaßen in familialen, freundschaftlichen und beruflichen Kontexten gelebt werden will: »in den Beziehungen zu all jenen […], mit denen wir durch unsere Arbeit, unser Geschäft oder unseren Beruf in Kontakt kommen. Es gibt keine ›Arbeitsteilung‹ zwischen der Liebe zu den eigenen Angehörigen und der Liebe zu Fremden. Ganz im Gegenteil ist letztere die Vorbedingung für erstere« (Fromm 2001, S. 146). Er bezieht sich auf das religiöse Gebot der Nächstenliebe und stellt sie als die »fundamentalste Art von Liebe, die allen anderen Formen zugrunde liegt« (S. 59) heraus, die niemals exklusiv sein kann. In der Nächstenliebe findet die Liebe zum »Fremden«, zum Armen und Hilflosen, ihren Ausdruck. Empathie, Fürsorge, Verantwortlichkeit, aber auch Respekt und Toleranz jedem Lebewesen gegenüber sowie der Wunsch, dessen Leben zu fördern, werden dabei als grundlegende Tugenden verstanden. Für Fromm beruht Nächstenliebe auf der Überzeugung, dass wir alle eins sind. Es geht um nichts Geringeres als um Solidarität und das Gefühl der Einheit. Liebe ist in erster Linie ein Geben und nicht ein Empfangen: »Nicht der ist reich, der viel hat, sondern der, welcher viel gibt« (S. 35). Damit ist die Fähigkeit gemeint, einem anderen etwas von sich selbst zu geben, etwas von dem, was in einem selbst lebendig ist. Der wichtigste Bereich des Gebens liegt folglich nicht im Materiellen begründet, sondern im zwischenmenschlichen Bereich: Ich gebe einem anderen Menschen etwas von meiner Freude, von meiner Traurigkeit, von meinem Interesse, von meinem Verständnis, meinem Wissen. Kurzum: von meiner Liebe und allem, was in mir lebendig ist.

Anders leben, anders lieben, anders trauern

Die soziale Kälte, die aus hilfesuchenden Menschen Objekte von definierten »Handlungszielen« macht, wird gesellschaftlich kaum noch empfunden, so sehr ist uns die selbst auferlegte Professionalität unter die Haut gegangen.

Die soziale Kälte, die aus hilfesuchenden Menschen Objekte von definierten »Handlungszielen« macht, wird gesellschaftlich kaum noch empfunden, so sehr ist uns die selbst auferlegte Professionalität unter die Haut gegangen (vgl. Jurk und Gronemeyer 2017). Wir leben in einer »auf Berechenbarkeit zugerichteten Welt«, schreibt Marianne Gronemeyer, in der »als sicher nur noch das Gemachte« gilt, »das Verwaltete und Kontrollierte, dasjenige, dem die Eigendynamik der Überraschung und Unvorhersehbarkeit ausgetrieben wurde« (Gronemeyer 2010).

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Z w i s c h e n g e p l a n t e r B e z i e h u n g u n d N ä c h s t e n l i e b e    6 9

Soziale Verantwortung in Zeiten von Rassismus und der Vereindeutigung des Denkens

Spiegelbild / Bernhard Moser / www.farbebewegt-plus.ch

Das gesellschaftliche Klima ist angespannt: Rassismus und gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit sind hochaktuell und keine Randerscheinung. So lässt sich in der Kriminalstatistik des Bundes ein Anstieg rassistischer, islamfeindlicher und antisemitischer Straftaten beobachten und dokumentiert damit die Zunahme von Hass, Gewalt und Vorurteilen in der deutschen Gesell-

schaft. Auch die Beratungsanfragen der Antidiskriminierungsstelle zu »rassistischer Diskriminierung« haben sich von 2015 bis 2019 mehr als verdoppelt (vgl. Antidiskriminierungsstelle 2020, S. 13). Hilfreich könnte ein Bezug auf den Begriff der Ambiguitätstoleranz sein. Dieser geht ursprünglich auf die Psychoanalytikerin Else FrenkelBrunswik zurück, die ihn 1949 definierte als die Fähigkeit, Mehrdeutiges zu ertragen (vgl. Streitbörger 2019). Wendet man diesen nun auf den Bereich der Kultur an und der ihr inhärenten Diversität, dann erfährt dieser Bedeutung als kulturelle Ambiguität. Beeindruckend vollzieht dies der Islamwissenschaftler Thomas Bauer, der den klassischen Islam als Kultur der Ambiguität (Bauer 2011) in seinem gleichnamigen Werk beschreibt und damit viel lehrreiches Wissen offenbart, das nicht nur für eine positive Veränderung der unsäglichen Debatten um »den Islam« oder »Zuwanderung und Integration« fruchtbar gemacht werden könnte. Es geht Bauer darum, den eurozentrischen Blickwinkel zu verlassen und zu sehen, dass alle Kulturen mit Ambiguität, also Mehrdeutigkeit, leben müssen. Daran entscheide sich das Wesen einer Gesellschaft: Bringt sie die nötige Ambiguitätstoleranz auf, also das Vermögen, »verschiedene, einander möglicherweise sogar bestreitende Normen und Werte nebeneinander bestehen zu lassen, ohne auf die ausschließliche Geltung der eigenen Werte oder Normen zu pochen« (Bauer 2011, S. 2), oder scheitert sie daran. Die »Frage nach dem Mitgefühl des Menschen ist die Frage nach seinem Menschsein«, schreibt Arno Gruen und spricht von einer »Gefahr« für das Mitgefühl, die durch die »bürokratische Persönlichkeit« ausgeht und die kennzeichnend für die Entfremdung vom Mitgefühl ist. Dabei ist gerade »das Mitgefühl die in uns eingebaute Schranke zum Unmenschlichen. Mit seiner Unterdrückung und Verzerrung ist die Geschichte unserer Zivilisation nicht nur verflochten, sie ist ihr Fundament« (Gruen 2016, S. 11). Auch Achille

Anders leben, anders lieben, anders trauern

7 0   D a n i e l a D o h r

Mbembe thematisiert in »Politik der Feindschaft«, wie die Fundamente des sozialen und demokratischen Miteinanders systematisch ausgehöhlt werden. Er spannt einen historischen roten Faden, der in den Gräueltaten des Kolonialismus seinen Ursprung hat, durch den Kapitalismus befeuert und am Laufen gehalten wurde und schließlich heute seinen Ausdruck in einem Wiedererstarken von Hass und Gewalt, Nationalismus und Islamophobie findet. Für Mbembe kommt der Notwendigkeit zur Fürsorge eine zentrale Bedeutung zu – und der Frage, wie unter den gegenwärtigen Umständen Fürsorge möglich ist (vgl. Mbembe 2017). Die (religionsübergreifenden) Gebote der Nächstenliebe und Barmherzigkeit könnten uns dazu befähigen, füreinander zu sorgen; sie könnten uns dazu auffordern, Verantwortung zu übernehmen: »›Seinen Nächsten lieben‹ heißt, sich für ihn verantwortlich und sich eins mit ihm zu fühlen, während die Fairneß-Ethik das Ziel verfolgt, sich nicht verantwortlich für ihn und eins mit ihm zu fühlen, sondern von ihm getrennt und distanziert zu sein; sie bedeutet, daß man zwar die Rechte seines Nächsten respektiert, nicht aber, daß man ihn liebt. […] Aber wenn man Liebe praktizieren will, muß man erst einmal den Unterschied zwischen Fairneß und Liebe begriffen haben« (Fromm 2001, S. 147 f.).

Aufmerksamkeit gegenüber dem, was uns auseinandertreibt, und Aufbegehren gegen das, was uns sozial verkümmern lässt. Unbestimmte Begegnungen und ungeplante Entwicklungen zulassen und sie damit ihrer Fähigkeit, Geschichte zu schreiben, nicht zu berauben. Die Fortschrittserzählungen, so sagt Anna Lowenhaupt Tsing, haben uns blind gemacht gegenüber der Entfremdung von Menschen und Dingen. Sie begibt sich auf die Suche nach der Möglichkeit von Leben in den Ruinen des Kapitalismus und konstatiert: ein Leben in Beziehungen oder gar keines (vgl. Lo-

wenhaupt Tsing 2018, S. 19 f.). Es wird künftig darum gehen, Widerspruch zu formulieren und zu leben, gemeinsam neue Formen des Zusammenwirkens und Zusammenseins zu finden. Es braucht dafür ein radikales Eintreten für das Gefühl, die Empathie, kurz: für die Liebe. Dipl.-Päd. Daniela Dohr ist Sozialarbeiterin und Projektkoordinatorin im Bereich Flucht und Migration für einen Träger der Freien Wohlfahrtspflege in Berlin, der ehrenamtliche Vormundschaften und Patenschaften für junge Geflüchtete vermittelt. Im Rahmen der Kinder- und Jugendhilfe bildeten die ambulante Betreuung von unbegleiteten minderjährigen Geflüchteten sowie jungen Erwachsenen und Familien mit Fluchtbiografie Arbeitsschwerpunkte. Kontakt: [email protected] Literatur Antidiskriminierungsstelle des Bundes (2020). Gleiche Rechte, gleiche Chancen. Jahresbericht 2019. Berlin. Bauer, T. (2011). Die Kultur der Ambiguität. Eine andere Geschichte des Islams. Berlin. BumF (Bundesfachverband unbegleitete minderjährige Flüchtlinge) (2020). Inobhutnahmezahlen 2019: Anteil von unbegleiteten Mädchen und unter 16-Jährigen gestiegen. https://b-umf.de/p/inobhutnahmezahlen-2019-anteilvon-unbegleiteten-maedchen-und-unter-16-jaehrigengestiegen/(letzter Zugriff am 28.02.2021). Fromm, E. (1956/2001). Die Kunst des Liebens. München. Gronemeyer, M. (2010). Fremder. Gastfreund. Feind. Verstehen als Vernichtung des Anderen. Streifzüge, 48. https:// www.streifzuege.org/2010/fremder-gastfreund-feind/ (letzter Zugriff am 28.02.2021). Gruen, A. (2016). Der Verlust des Mitgefühls. Über die Politik der Gleichgültigkeit. 11. Auflage. München. Jurk, C.; Gronemeyer, R. (2017). Entprofessionalisieren wir uns! Ein kritisches Wörterbuch über die Sprache in Pflege und sozialer Arbeit. Bielefeld. Lowenhaupt Tsing, A. (2018). Der Pilz am Ende der Welt. Über das Leben in den Ruinen des Kapitalismus. Berlin. Mbembe, A. (2017). Politik der Feindschaft. Berlin. Schmidbauer, W. (2005). Hilflose Helfer. Über die seelische Problematik der helfenden Berufe. Reinbek. Streitbörger, W. (2019, 30. Dezember). Ambiguitätstoleranz. Lernen, mit Mehrdeutigkeit zu leben. Deutschlandfunkkultur. https://www.deutschlandfunkkultur.de/ambiguitaetstoleranz-lernen-mit-mehrdeutigkeit-zu-leben.976.de. html?dram:article_id=466828 (letzter Zugriff am 28.02. 2021).

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Kinder in Namibia Lebensbedingungen in einer Krisengesellschaft1

Michaela Fink und Reimer Gronemeyer Hileni2: eine Stimme aus Katutura Hileni ist mit den Randzonen der namibischen Gesellschaft vertraut. Sie kümmert sich um Kinder. Um Kinder, die in einer besonders armen Hüttensiedlung leben. Blechbaracken, nackter Erdboden, ein Bett, ein Topf auf offener Feuerstelle, keine Elektrizität, kein Wasser – das übliche Bild, das in den informellen Siedlungen dieser Welt den Alltag bestimmt. Versteht sich: kein WC, manchmal eine Plastikplane, hinter der man sich einen Eimer Wasser über den Kopf gießen kann. Frauen mit Kindern, Frauen ohne Arbeit. Männer, die vor Hütten zusammensitzen und tombo, das selbstgebraute Bier, trinken. Hileni schätzt die Zahl der Menschen, die in dieser Wellblechhüttensiedlung einer formalen Arbeit nachgehen, auf zehn Prozent. Zehn Prozent, die zum Beispiel als Watchman, Gärtner, Hotel-, Restaurant- oder Supermarktangestellter, als Zeitungsverkäufer oder Taxifahrer im Stadtzentrum von Windhoek arbeiten. Viele Menschen versuchen sich innerhalb der Siedlung mit informellen Tätigkeiten durchzuschlagen: Frauen verkaufen an kleinen Ständen selbstgebackenes Brot, Fettkuchen (fatcakes), Grillfleisch (kapana), Obst und Gemüse. Oder sie betätigen sich als Wäscherinnen für Nachbarn, betreuen Kinder gegen ein kleines Entgelt. Manche Frauen sehen in der Prostitution die einzige Chance, um zu überleben. Tagelöhnerarbeiten werden meist von Männern übernommen. Das Bild, das Hileni zeichnet, ist düster: Sie spricht von Alltagsbedingungen, die sich aus ihrer Sicht verschlechtern. Dank Hileni bekommen mehr als vierzig vulnerable children im Vor-

schulalter bei ihr zwei Mahlzeiten am Tag – Frühstück und Mittagessen. Hileni leitet zudem ein Programm, in dem einige der ärmsten Haushalte in Katutura mit Essen und anderen Notwendigkeiten für den Alltag versorgt werden. Besonders ältere und kranke Menschen werden mit Essen, Milchpulver für ihre Babys, Decken, Winterkleidung, Plastikplanen zum Abdecken ihrer undichten Hütten, bei medizinischen Behandlungen und bei der Finanzierung von Beerdigungen etc. unterstützt. Hilenis kleine Initiative befindet sich in einem der ärmsten Stadtteile von Katutura. Katutura ist ein Stadtteil in Namibias Hauptstadt Windhoek. Nein, eigentlich ist es kein Stadtteil von Wind­hoek. Katutura wurde 1950 als Vorstadt Wind­hoeks gegründet. In Zeiten der Apartheid also entstand Katutura – die schwarze Bevölkerung, die als Arbeitskraft gebraucht wurde, die aber nicht im weißen Windhoek leben sollte, wurde nach Katutura ausgelagert. In Zeiten der Landflucht wächst Katutura. Die Zahl der Bewohner wird 2019 auf über mehrere hunderttausend Menschen geschätzt. Aus der Vorstadt für Arbeitskräfte wurde ein unkontrolliert wachsender Koloss, der inzwischen das kleine Windhoek überragt. Lebendig, vielfältig, kreativ ist Katutura, aber eben auch in großen Teilen von Armut und Arbeitslosigkeit geprägt. Blechhütten bestimmen das Bild (von den Bewohnern silver town genannt). Die Verwaltung der Stadt Windhoek hinkt dem wilden Wachstum nach, muss immer wieder widerwillig Squatter-Siedlungen anerkennen. Der Übergang von informeller zu formalisierter Siedlung bringt Bauvorschriften und Umsiedlungen mit sich, aber auch den allmählichen Anschluss an Elektrizität, Wasser und Kanalisation.

7 2   M i c h a e l a Fi n k u n d R e i m e r G r o n e m e y e r

Die Menschen kommen mit Tränen in den Augen …

Pietro Sutera

Hileni sagt: »Hier in Namibia haben wir eine dramatische Wirtschaftskrise. Der Ökonomie geht es schlecht. Die Menschen, auch hier in der Stadt, leiden unter der aktuellen Dürre, weil die Versorgungskette vom Land abgebrochen ist. Viele Menschen, die zu mir kommen, kommen gleich zu ihrer wichtigsten Frage: Sie waren schon bei den offiziellen Stellen, aber dort gibt es, wie sie sagen, keine Lösung für sie. Deshalb kommen sie hierher zu uns. Und sie kommen mit unterschiedlichsten Problemen und hoffen auf Hilfe. Es kommen Menschen unterschiedlichen Alters: junge Frauen mit Kind auf dem Rücken, alte Frauen und Männer. Sie kommen mit Tränen in den Augen. Ich muss sehr stark sein. Und manche von ihnen kommen mit schrecklichen Geschichten. Warum kommen diese Menschen? Der Grund Nummer eins ist ›Armut‹, Grund Nummer zwei ist ›hoffnungslose Armut‹. Viele der Menschen, die zu meiner Initiative kommen, wollen,

dass ich mir ihre Hütten ansehe, um ein klares Bild von ihrer schwierigen Lebenslage zu bekommen. Sie leiden sehr unter Stress. Sie sagen: ›Du kannst auch meine Nachbarn danach fragen, wie ich lebe. Ich habe Kinder und ich habe Hunger.‹ Manche von ihnen sagen: ›Fass meinen Bauch an, damit du sehen kannst, dass ich schon eineinhalb Tage nichts mehr gegessen habe. Ich bin zum Amt gegangen und habe kein Harambee bekommen.‹ [Harambee ist so etwas wie eine Tafel, wo die ärmsten Menschen manchmal Essen vom Staat bekommen.]3 Was die Menschen mir aber berichten, ist, dass die Verantwortlichen auf Stadt- und Verwaltungsebene das, was sie zur Verteilung bekommen, lediglich ihren eigenen Familien geben. Die Menschen, die zu mir kommen, sagen: ›Schau, Hileni, es ist besser zu sterben. Es ist besser, Selbstmord zu begehen.‹ Ich sage dann: ›Nein, das ist keine Lösung!‹ Sie sagen: ›Wozu lebe ich? Komm mit mir und sieh dir mein Haus und meine Situation an.‹ Manchmal erzählen mir die Menschen Dinge ganz im Vertrauen: Dinge, die ich nicht einmal anonym erzählen möchte, weil

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K i n d e r i n N a m i b i a    7 3

sie so schrecklich sind. Aber ein Beispiel, das ich erzählen kann: Die Leute in unserer Wellblechhüttensiedlung haben keine eigenen Toiletten. Es gibt nur ganz wenige öffentliche Toiletten hier und das Gebiet ist sehr groß. Und du weißt, wenn du in der Mitte der Siedlung lebst und du auf die Toilette gehen musst, wo gehst du dann hin? Was die Leute machen, sie machen alles in eine Plastiktüte. Sie nehmen ihre Plastiktüte, Einkaufstüte oder was auch immer. Das ist, wo sie alles reinmachen […] Die Situation vieler Menschen ist so schlimm, dass sie denken, dass Sterben die einzige Lösung ist. In diesem Teil von Katutura ist die Selbstmordrate sehr hoch. Ich habe unsere Polizei angesprochen. Sie meinen es nicht sehr gut mit uns, mit der armen Bevölkerung. Vor kurzem hatten wir einen kleinen Unfall in der Siedlung. Ich bin zur Polizei gegangen. Und während ich dort war, kam eine Frau mit einem ganz kleinen Baby. Ich glaube, dieses Baby war ungefähr zwei Monate alt. Sie kam und sie hat geblutet. Sie erzählte, dass sie eine Auseinandersetzung mit ihrem Freund hatte und dass er sie geschlagen hat. Sie sagte, dass er sogar das Baby auf den Boden geworfen hat und sie nicht wisse, in welcher Verfassung das Baby jetzt sei. Dann hat die Polizei die Frau vor meinen Augen gefragt: ›Was sollen wir deiner Meinung nach machen? Hast du 800 (namibische) Dollar für einen Krankenwagen? [Also etwa 50 €]. Wenn du die nicht hast, können wir dir nicht helfen.‹ Ich konnte mich nicht wirklich in die Unterhaltung einmischen, weil ich wegen etwas anderem da war. Ich war überrascht. Ich ging raus. Ich wollte nach Hause gehen. Aber als ich die Polizeistation verlassen hatte, kamen mir die Tränen. Ich konnte mich nicht mehr kontrollieren. Dieses kleine Baby in den Händen der blutenden Mutter zu sehen – und die Polizisten sagen, sie müsse 800 Dollar haben. Die Frau – das konnte man sehen – war eine Person, die nicht einmal 10 Dollar hatte, um sich einen Fettkuchen zu kaufen. Das hat mich sehr aufgewühlt. Ich war so durcheinander, dass ich beinahe in ein vorbeifahrendes Auto

gelaufen wäre. Ich musste schrecklich weinen. Als die Frau weinend aus der Polizeistation heraustrat, fiel sie mir in die Arme und wir haben gemeinsam geweint. Ich habe sie gehalten und wir haben zusammen geweint. Ich hatte gerade einmal 20 Dollar bei mir. Aber dann kam ein Mann, der an uns vorrüberging und uns fragte, was los sei. Ich erzählte ihm, was geschehen war. Dieser Mann hatte glücklicherweise 50 Dollar. Die gab er der Frau und ich legte meine 20 Dollar dazu und sagte ihr: ›Du brauchst nicht mehr zur Polizei zu gehen, fahre einfach direkt ins Krankenhaus.‹« Es gibt keinen Frieden mehr … »Die Verhältnisse werden immer schlimmer. Vor zehn Jahren ging es den Menschen noch deutlich besser. Und dieses Jahr, 2019, ist ein komplett anderes Jahr. Alle sind frustriert wegen der Wirtschaftskrise. Die Situation ist sehr schlimm. Neulich sprach ich mit einem Mann, dessen vier Kinder in meine Einrichtung gehen. Dieser Mann hatte eine gute Arbeit in einem Haushalt. Die hatte er aber nun verloren. Das war der Grund, weshalb er zu mir kam und weinte. Er ist jetzt ohne Arbeit. Auch seine Frau ist zu Hause. Die beiden leben eigentlich im Norden, aber dort gibt es auch keine Arbeit mehr, weil der Regen nicht mehr kommt. Alle ihre Tiere sind gestorben. Es ist, als lebten wir heute in einer anderen Welt. Alles hat sich verändert. Die Menschen sind sehr verzweifelt. Es gibt keinen Frieden mehr. Viele – zum Beispiel die Eltern der Kinder, die ich betreue – haben keine Arbeit. Sie machen etwas Hausarbeit, sie verkaufen Fettkuchen oder putzen Häuser usw. Sie bekommen etwa 800 oder 500 namibische Dollar im Monat. Manche helfen sich auch gegenseitig: Du bekommst 50 Dollar und wäschst dafür für mich – sowas in der Art. Aber ich kann sagen, 90 Prozent der Menschen hier haben keine richtige Arbeit. Männer und Frauen. Sie kämpfen darum, Arbeit zu finden. Oder sie sitzen an irgendeiner Ecke und trinken Bier und haben einfach nichts zu tun.«

Anders leben, anders lieben, anders trauern

7 4   M i c h a e l a Fi n k u n d R e i m e r G r o n e m e y e r

Ich sage ihnen, dass sie sich nicht das Leben nehmen sollen … »Für unsere Siedlung hier kann ich sagen, dass die Zahl der Hilfsbedürftigen von Tag zu Tag wächst. Ältere Frauen hören von anderen Frauen, dass man hier Hilfe bekommt. Also kommen sie auch. Und du weißt, dass die Familien, denen wir Essen bringen, wirklich in Not sind. Die Menschen kommen zu mir und flehen um Hilfe. Und ich kann sie einfach nicht ignorieren. Wenn ich sie ignorieren würde, würde mich das krank machen. Sie kommen zu mir, sie bringen mir ihr Leben. Ich versuche stark zu sein und nehme mich ihrer Probleme an. Im Dezember (wenn sie zum Weihnachtsessen kommen) sage ich ihnen, dass sie sich nicht das Leben nehmen sollen. Denn im Dezember bringen sich viele um. Und wir sagen ihnen, dass sie ihre Kinder nicht missbrauchen sollen.« Das Mädchen sagte: »Es ist wahr, ich habe das Baby getötet …« »In unserer Siedlung lebt ein Mädchen, nicht einmal 15 Jahre alt – dieses Mädchen hatte ein Kind. Und ihre Mutter: Sie ist Alkoholikerin, wegen vieler Probleme. Und das Baby, welches das Mädchen bekommen hat, hatte keinen Vater. Vermutlich hat der Mann sie einfach geschwängert und ist dann abgehauen. Jetzt reden die Nachbarn und die anderen Leute in der Gegend über das Mädchen. Sie sagen zum Beispiel: ›Du bist so jung und hast dich schon auf Männer eingelassen. Und du hast ein Kind bekommen, das jetzt vaterlos ist.‹ Dieses Mädchen war daraufhin so verzweifelt, dass sie in der Nacht ihr Baby nahm und in den Busch ging. Dort nahm sie einen Stein und schlug damit den Kopf des Babys ein. Dann hat sie das Baby halb begraben. Sie ging nach Hause in ihr Zimmer und hat dort den ganzen Tag geweint. Als die anderen das bemerkten, fragten sie: ›Wo ist dein Baby … wo ist dein Baby?‹ Und sie sagte: ›Ihr Leute, ihr redet so viel über dieses

Baby und dass ich einen Fehler gemacht habe, also habe ich das Baby umgebracht.‹ Die Leute sagten: ›Du machst Scherze!‹ Das Mädchen sagte: ›Es ist wahr, ich habe das Baby getötet.‹ Und sie weinte. Also gingen die anderen dorthin, wo das Mädchen angab, das Baby begraben zu haben. Sie fanden dort nur noch ein Bein von dem Kind. Den Rest hatten die Schakale aufgefressen. Das ist die Art von Geschichten, die hier passieren. Dann war da zum Beispiel eine Frau, die zu der Müllhalde ging. Sie hatte ein Baby und es stand sehr schlecht um sie. Sie konnte ihrem Baby nicht die Brust geben, weil sie keine Milch in ihrer Brust hatte. Und sie selbst hatte großen Hunger. Es war nichts mehr zu essen im Haus. Sie sperrte das Baby in ihrer Hütte ein. Dann ist sie zur Müllhalde gelaufen. Die Nachbarn haben das schreiende Baby im Haus gehört und haben geklopft und nach der Frau gerufen: ›Bitte, bitte, dein Baby schreit sehr viel, wo bist du?‹ Als die Menschen sahen, dass das Haus abgeschlossen war und sie nicht hineinkamen, haben sie die Polizei alarmiert. Als die Polizei kam, haben sie wieder geklopft und das Baby hat weiterhin geschrien. Also dachten sie: Vielleicht ist die Mutter tot. Sie brachen die Tür auf, gingen rein und fanden das Baby […] völlig verwahrlost und dehydriert. Das Kind war hungrig und stand kurz davor zu sterben. Sie nahmen es mit und fragten die Nachbarn nach der Mutter. Die sagten, sie wüssten nicht wo die Mutter sei. Das Kind habe unablässig geschrien. Sie begannen die Mutter zu suchen. Sie benutzten ein Megafon, über das sie die Mutter bei ihrem Namen riefen. Als sie schließlich zur Müllhalde kamen, fanden sie die Mutter, die dasaß und weinte. Die Polizisten nahmen sie in ihrem Auto mit und stellten ihr Fragen: ›Warum hast du dein Baby eingeschlossen?‹ Sie sagte: ›Es gibt keine Hoffnung für mich, es gibt keine Hilfe für mich. Ich habe das Kind eingeschlossen, weil ich nicht sehen wollte, wie es verhungert und stirbt. Also habe ich das Kind dort eingeschlossen und bin selber zur Müllhalde gegangen, damit wir an unterschiedlichen Plätzen sterben

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geht hier zur Schule. Sie hat jetzt aber aufgehört, zur Schule zu gehen. Ich habe die Sozialarbeiter angerufen. Aber das hat nichts gebracht. – Wie bei den drei Waisenkindern, die bei der blinden Großmutter lebten, die dann verstarb und die Kinder allein zurückließ. Ich habe mich mit den Behörden zusammengesetzt, habe ihnen das Problem vorgetragen, aber es ist nichts daraus erfolgt. Dieses Mädchen also, sie wollte Geld haben, da ihr Auge weh tat und sie ins Krankenhaus gehen wollte. Ich gab ihr 100 Dollar. Einige Zeit später kam sie wieder und bedankte sich bei mir. Wenn Jugendliche kommen, helfe ich ihnen immer so gut wie möglich. Die Kinder, die früher in meine Initiative gekommen sind und dann in die Schule gekommen sind: Einige von ihnen kommen immer noch nach der Schule zu mir. Es scheint, dass in manchen Schulen die Schulspeisung eingestellt wurde. Die Leute sagen, das hat aufgehört, weil es kein Geld mehr gibt.«

Michaela Fink

können.‹ Sie brachten die Frau und ihr Baby ins Krankenhaus. Ich weiß nicht, was dann mit der Frau und dem Kind passierte. Es war ein Ereignis, über das auch in der Zeitung berichtet wurde. Weißt du, diese Menschen kommen aus dem Norden. Und im Norden gibt es keine Hoffnung. Sie kommen hierher wegen der ›grünen Weiden‹ [das ist bildlich gemeint: die Hoffnung auf ein besseres Leben]. Aber hier in der Stadt gibt es keine grünen Weiden und viele Frauen enden als Prostituierte. Und was mich wirklich frustriert, ist, dass das Familienplanungsprogramm in den Krankenhäusern jetzt ausläuft, weil kein Geld mehr dafür da ist. Es gibt keine Lieferungen mehr: keine Injektionen oder andere Dinge, um Schwangerschaften zu vermeiden. Kannst du dich noch an das Mädchen mit der Verletzung am Auge erinnern? […] Sie kam, ich gab ihr Geld, um zum Arzt zu gehen. Du wirst es nicht glauben, dieses Mädchen lässt sich auf Männer ein. Sie ist erst 11 Jahre alt und

Anders leben, anders lieben, anders trauern

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Ich habe einen großen Traum …

Michaela Fink

»Die Kinder in meiner Initiative. Wenn ich wissen möchte, wie die Situation bei ihnen zu Hause ist, dann lasse ich sie Bilder malen und frage sie dann, was sie gemalt haben. In vielen Fällen zeigt sich, dass die Kinder zu Hause von ihren Eltern (oder anderen Erziehungsberechtigten) geschlagen werden. Auch Missbrauch gibt es sehr häufig. Die Kinder bekommen zu hören: ›Wenn du den Mund aufmachst und darüber sprichst, werde ich dich töten!‹ Sie werden bedroht. Also gebe ich ihnen Papier, wenn ich über die Situation zu Hause Bescheid wissen will. Ich sage zu den Kindern: ›Alles, was du weißt, mal es einfach, mal es, mal es, mal es! Dann kommst du zu mir und erzählst mir, was du gemalt hast.‹ Und dann erzählen die Kinder: ›Hier, das ist Papa, er schlägt Mami und Mami ist weggerannt.‹ Und auch wenn sie spielen, siehst du, was bei ihnen zu Hause und in ihrer Umgebung passiert. Und

dann, wenn du etwas Auffälliges siehst, rufst du das Kind und sagst: ›Du weißt, dass ich deine Lehrerin bin. Du kannst mir vertrauen.‹ – Die Kinder wissen, dass sie von mir geliebt werden, wirklich geliebt werden. Ich sage ihnen: ›Du kannst es mir einfach erzählen, ich bin dein Freund. Ich werde alle anderen aus dem Raum schicken. Nur du und ich sind hier.‹ Oder ich spreche mit dem Kind, wenn alle anderen nach Hause gegangen sind. Ich sage dann: ›Bleib noch, ich werde dich nach Hause bringen, aber erzähl mir, wir sind nur noch zu zweit hier.‹ Dann wirst du sehen, dass das Kind zu weinen anfängt. Und dann wird es dir erzählen, was passiert ist. Vielleicht, dass es immer geschlagen wird. Wenn ich so etwas erfahre, dann nehme ich Kontakt zu den Eltern auf. Man kann aber nicht einfach sagen: ›Was macht ihr mit dem Kind!?‹ Man muss versuchen, den Eltern Lösungsansätze zu präsentieren. Nur so kannst du in eine gute Verbindung zu den Eltern treten. Und dann hilft man, wo man kann.

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Da war zum Beispiel ein kleines Mädchen, das von einem größeren Schuljungen vergewaltigt wurde. Da konnte ich nicht einfach zu dem Jungen gehen. Ich muss die Kinder, die ich betreue, beschützen. Was ich also tat, war, die Mutter anzurufen und ihr von der Situation zu erzählen und sie zu informieren, wo sie Hilfe bekommen kann. Außerdem gab ich ihr ein paar Telefonnummern von Personen, die sich mit solchen Fällen auseinandersetzen. Die Mutter kümmerte sich dann selbst um die Sache und der Junge kam in Jugendhaft. Man fand schließlich heraus, dass er auch andere kleine Mädchen vergewaltigt hatte. Ich habe einen großen Traum. Ich habe einen sehr großen, großen Traum. Ich möchte, dass aus diesen Kindern in der Zukunft etwas wird. Ich möchte nicht, dass sich die Geschichte immer wiederholt. Weißt du, dass sie in der 7. Klasse enden, in der 4. Klasse enden, in der 8. Klasse enden und dann die Schule verlassen. Wenn ich eines Tages alt bin und am Stock gehe, dann möchte ich jemanden von diesen Kindern wiedertreffen und hören: ›Ich bin Arzt geworden‹ oder ›Ich bin Professor‹, ›Ich bin Lehrer‹.« Wer Hileni zuhört, kann den Eindruck gewinnen, dass wir es in Namibia, zumindest in Katutura, mit einer Gesellschaft zu tun haben, die in Gefahr ist, außer Kontrolle zu geraten. Es gibt viele Zahlen – nur diese seien genannt: Nach einer Statistik von 2018 leben in Namibias urbanen Zentren 995.000 Menschen (mehr als 40 Prozent der Bevölkerung) in Wellblechhütten (shacks), die aus Holz, Platten, Pappe und Planen zusammengezimmert sind. Die durchschnittliche Arbeitslosenrate in der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter liegt bei 33,4 Prozent. Etwa ein Drittel der arbeitenden Bevölkerung verdient weniger als 1000 N$ im Monat. Das sind (bei einem Wechselkurs von durchschnittlich 1:16) 62,50 €. Nicht wenige von ihnen arbeiten sieben Tage in der Woche.4 Das Durchschnittseinkommen eines Tagelöhners in Windhoek beträgt 2500 N$.5 Etwa 80 Prozent der arbeitenden Bevölkerung verdient weniger als 5000 N$ im Monat.6 Der deutsch-­

namibische Arbeitsexperte Herbert Jauch weist darauf hin, dass die wichtige Forderung nach einem Mindestlohn insofern problematisch ist, als Firmen, die ihre Mitarbeiter besser vergüten, sich womöglich veranlasst sehen könnten, fortan nur noch den Mindestlohn zu zahlen.7 Wie ist das alles möglich? So viele Jahre nach der Unabhängigkeit, in einem Land, das an Ressourcen reich ist? Dr. phil. Michaela Fink ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Soziologie der Universität Gießen. In den vergangenen Jahren hat sie in einem DFG-Projekt zum Thema Waisen und gefährdete Kinder in Namibia geforscht. © Pietro Sutera Sie engagiert sich seit vielen Jahren im Vorstand des gemeinnützigen Vereins Pallium in Gießen, der soziale Projekte in Namibia unterstützt. In Malawi hat sie im Auftrag der GIZ an einer Studie zum Problem der Mangelernährung mitgearbeitet. Gegenwärtig forscht sie in einem BMZ-geförderten Projekt zu den Lebenslagen von Frauen in Äthiopiens Textilindustrie. Kontakt: [email protected]

© Wolfgang Polkowski

Dr. theol., Dr. rer. soc. oec. Reimer Gronemeyer ist Professor emeritus für Soziologie an der Universität Gießen. Er forscht in verschiedenen Ländern Afrikas, ist Leiter der o. g. Projekte und arbeitet auch zu den Themen alternde Gesellschaft und Demenz. Kontakt: [email protected]

Literatur Fink, M.; Gronemeyer, R. (2020). Namibias Kinder. Lebensbedingungen und Lebenskräfte in der Krisengesellschaft. Bielefeld. Anmerkungen 1 Auszüge aus Fink und Gronemeyer 2020, S. 38–48. 2 Das telefonische Interview wurde von Michaela Fink im November 2019 durchgeführt. Der Name wurde auf Wunsch der Interviewpartnerin geändert. 3 Der »Harambee Prosperity«-Plan wurde vom namibischen Präsidenten Hage Geingob am 5. April 2016 ins Leben gerufen. 4 The Namibian (2019). Severe poverty still haunts ­Namibia. By Ch. Ngatjiheue, 02.08.2019. 5 Van Wyk, A. M. (2019). Investigation the subjective wellbeing of the informally employed: A case study of day labourers in Windhoek and Pretoria. Dissertation, NWU Potchefstroom (SA), S. 77. 6 The Namibian (2018). Workers struggle with slave wages. By Ch. Ngatjiheue, 17.08.2018. 7 Ebd.

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Blinde Flecken: Einsamkeit durch Ausgrenzung, Ismen und Ignoranz Verena Mayrhofer Iljić 2020 ist das Jahr, in dem die Normalität verlustig ging und einer neuen Normalität Platz machte. Doch was ist die Normalität? Was ist die Normalität für Menschen, die sich auch schon in der alten Normalität außerhalb oder am Rand der Norm gefunden haben? Am Rand der weißen Heteronormativität sind Menschen schon vor Corona einsam. Zu Einsamkeit werden in der gesellschaftlichen Mitte schnell Bilder generiert: die alleinerziehende Mutter, alleinstehende Menschen im Ruhestand, Menschen in Pflegeheimen. Weniger im Blickfeld sind Menschen, denen wir ein reges Sozialleben zuschreiben oder die wir mit Gruppen assoziieren, wie Menschen mit Migrations- oder Fluchtgeschichte, Menschen aus der LGBTIQ++ Community oder auch junge Menschen. Wenig Aufmerksamkeit finden auch Menschen mit Behinderungen, mit psychischen Erkrankungen, wohnungslose Menschen. Im Hilfswerk Nachbarschaftszentrum kommen Menschen verschiedenster Hintergründe zusammen und damit kommen auch Ausgrenzungen und die damit verbundene Einsamkeit zur Sprache: »Als ich aus der Türkei nach Österreich kam, habe ich sieben Jahre lange nur geweint, ich war allein, auch wenn ich hier Kinder bekommen habe und eine Familie hier hatte.« »In Damaskus hatte ich ein Haus, ich war ein reicher Mann. Ich bin am Balkon gestanden und habe hinuntergeschaut, auf meine Enkelkinder geblickt. Ich habe Gedichte geschrieben. Hier bin ich blind und stumm und habe niemanden und nichts!«

»In Ägypten sind Nachbarn auch Freunde, hier macht jeder schnell die Tür zu, wenn ich plaudern will!« »Mit meiner Familie kann ich nicht über meine Homosexualität reden, Sie sind die Ersten, denen ich das erzähle.« »Wenn es mir nicht gut geht, die Depressionen kommen, nehmen alle Abstand.« »Weil ich schwarz bin, werde ich immer kontrolliert, in der Straßenbahn, auf der Straße, ständig, in den Club lassen sie mich nicht rein, meine weißen Freunde schon.« »Ich weiß nicht, mit wem ich sonst reden kann, mein (Behinderten-)Betreuer kommt einmal in der Woche, dann ist noch wer aus der Werkstätte – aber mit wem kann ich reden, wenn ich dort Krach habe?«

Die Stadtteilarbeit in den Wiener Hilfswerk-Nachbarschaftszentren beschäftigt sich seit vierzig ­Jahren mit Fragen rund um Inklusion und Teilhabe und versucht ­Situationen und Räume zu schaffen, um Mit­ein­­ander, Gemeinwohl und Gemein­schaft zu fördern. www.nachbarschaftszentren.at

Henri de Toulouse-Lautrec, Le jeune Routy a Celeyran, 1882 / INTERFOTO / A. Koch

Ausgrenzung Der Mensch ist als soziales Wesen auf Gemeinschaften angewiesen, allerdings läuft Identifikation sehr stark über Grenzziehungen zwischen dem »Ich« und dem »Anderen«. Diese sind häufig mit einer Aufwertung des »Selbst« und einer Abwertung oder Ausgrenzung des »Anderen« verbunden. Die Soziologin Laura Wiesböck (2018)

schreibt vom »selbstgerechten Blick auf andere für den eigenen Seelenfrieden«. Einsam sind Menschen nicht nur, weil sie allein sind, sondern auch, wenn sie allein gelassen, ausgegrenzt werden: allein gelassen in einem neuen Land, isoliert auch mitten in einer Familie und auch mitten in einer Community, einer Betreuungseinrichtung. Men-

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schen leben von Interaktion, von Gemeinschaft und davon, selbstwirksam Teil von etwas Größerem zu sein. Menschen, die auf allen drei Ebenen des Sozialkapitals (Mikro: der engste Familien- und Freundeskreis, Meso: Nachbarschaft/Vereine, Makro: ideelle Gemeinschaften) gut ausgestattet sind, sind glücklicher. Die Sozialkapitalforschung kann das belegen. Seit den Untersuchungen von Putnam von 1995 beschäftigen sich Sozialwissenschaften wieder damit, welchen Wert unsere sozialen Netze haben und welche Zusammenhänge es mit Gesundheit, Glück und auch Sicherheit gibt (Gehmacher und Hagen 2016). Die ausgrenzenden Mechanismen von Armut sind seit langem bekannt. »Mit zunehmendem sozialen Abstieg schwinden die sozialen Netze, Freunde verabschieden sich, soziale Unterstützung wird geringer. Menschen in Armutslagen leben wesentlich öfter allein, haben seltener Kontakte außerhalb des Haushaltes und können deutlich seltener auf ein tragfähiges Unterstützungsnetzwerk zurückgreifen als andere Personen« (Schenk und Moser 2010, S. 85). Was Schenk und Moser 2010 beschreiben, hat sich unter dem Brennglas von Corona noch verschärft. Sie auszuschließen, macht Menschen nicht nur einsam und unglücklich, sondern auch krank und kann in letzter Konsequenz zum Tod führen. Aus einer Gemeinschaft ausgestoßen zu werden, kann lebensgefährlich sein, wie Mobbingbeispiele tragisch zeigen (Gehmacher und Hagen 2016). Einsamkeit an sich macht erwiesenerweise krank und tötet. Ismen Mit Framing-Mechanismen und verschiedenen Ismen werden Menschen ausgegrenzt und in die Isolation gedrängt. Vieles davon passiert durch unsere eigenen blinden Flecken unbewusst. #Metoo, Black Lives Matter und auch #metwo haben einige Ismen in den Blick der Öffentlichkeit gerückt.

Verena Mayrhofer Iljić

8 0   Ve r e n a M a y r h o f e r I l j i ć

Vorurteile und Ismen sind unter dem Aspekt der Intersektionalität zu betrachten. Rassismus, Klassismus, Islamophobie, Ageismus, Ableismus oder auch Lookismus spielen ineinander und treten selten allein auf. Wenn eine Frau sieben Jahre lang weint, weil sie in Österreich einsam ist, hat das möglicherweise damit zu tun, den Anschluss zur eigenen Community verloren zu haben und in der Aufnahmegesellschaft auf Ablehnung oder Desinteresse zu stoßen. Vielleicht ist es die finanzielle Enge, die daran hindert, Gleichgesinnte zu finden. Die Zuschreibung zu einer sozialen Schicht, aber auch Aussehen, die Kleidung (eventuell aufgrund einer Religionszugehörigkeit oder Tradition) können zu Distinktions­merk­ malen werden, die ausgrenzend wirken. Repräsentanz und Resonanz statt Ignoranz Ignoranz ist ursprünglich das Nicht-Wissen und Nicht-Kennen. Nicht gesehen werden bedeutet, dass die eigenen Sorgen und Bedürfnisse nicht beachtet werden, man damit allein bleibt. Igno-

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B l i n d e F l e c k e n : E i n s a m k e i t d u r c h A u s g r e n z u n g , I s m e n u n d I g n o r a n z    8 1

ranz passiert dabei meist nicht bewusst, sondern weil Menschen und Menschengruppen nicht in unserem Blickfeld sind. Doell und Koslowski beschreiben dies in dem 2021 erschienenen Band zu Klassismus (Seeck und Theiß 2021) am Beispiel der Marginalisierung von »Be_hinderten« durch »Nicht_Behinderte«. Die Ausgrenzung geschieht durch das »Anzweifeln« der Existenz von »Be_hinderung« in dem Sinne, dass Menschen erst von der Gesellschaft be_hindert werden und Nicht_Behinderte »Menschen fremddiagnostizieren, pathologisieren und stigmatisieren (…) oder in ihrem Leid alleine lassen«, weil »unsere Gesellschaft immer noch für gesunde, leistungsfähige (weiße, männliche) Individuen eingerichtet ist« (Doell und Koslowski 2021, S. 169 f.). Repräsentanz schützt dagegen vor Ausgrenzung. Menschen mit Migrations- oder Fluchtgeschichte finden sich sehr oft nur in bestimmten Frames repräsentiert. Queere Menschen, Menschen mit Behinderung finden kaum Repräsentanz in der Gesellschaft oder in den Medien. Wer nicht präsent ist, wird auch in den eigenen Bedürfnissen nicht gesehen. Wer nicht repräsentiert ist, über dessen Bedürfnisse wird von anderen befunden. In der Diskussion um den »Schutz von Menschen mit Behinderung vor Corona« setzt sich die »Selbstbestimmt-Leben-Bewegung« von Menschen mit Behinderung* mit dem Motto »Nichts über uns – ohne uns!« dafür ein, dass nicht über den Köpfen der Betroffenen über sie entschieden wird und diese in eine noch größere Vereinsamung gedrängt werden (Udl 2020). Der Soziologe Hartmut Rosa geht in seinem gleichnamigen Buch davon aus, dass Resonanz es uns ermöglicht, der Entfremdung zu entgehen, gelingende Beziehungen für ein gutes Leben einzugehen. Eine Gesellschaft, in der Menschen miteinander in Resonanz gehen, kann offene Partizipation ermöglichen und Marginalisierten Selbstwirksamkeit erlebbar machen (Rosa 2016). Um in einer neuen Normalität ein Miteinander, Gemeinsamkeit und eine neue Solidarität zu entwickeln, bedarf es auch einer Auseinandersetzung

mit dem »Fremden/Unbekannten« in uns, mit gesellschaftlichen Dissonanzen und Vorurteilen. An den Spaltungslinien der Gesellschaft konstruktiv zu arbeiten, erweist sich als lohnend, um Menschen aus der Isolation oder einer Viktimisierung zu holen. Hinschauen, Beziehungen aufbauen, in Resonanz mit den Menschen zu gehen ist wichtiger denn je. Erst alle Teile einer Gesellschaft machen gleichberechtigt und gemeinsam das Ganze aus. Nach dem Motto social solidarity statt social distancing, auch mit einem Blick darauf, wie sich Einsamkeit unter einem Zelt in Kara Tepe anfühlen mag. Verena Mayrhofer Iljić ist seit 1998 Leiterin des Hilfswerk Nachbarschaftszentrum 16 und seit 2006 Diversitätsbeauftragte des Wiener Hilfswerk. Besondere Arbeitschwerpunkte sind Gender- und Migrationsfragen. Kontakt: Verena.Mayrhofer-Iljic @wiener.hilfswerk.at Literatur Doell, D. E. C.; Koslowski, B. (2021). Klassismus in der ableistischen Klassengesellschaft. In: Seeck, F.; Theiß, B. (Hrsg.), Solidarisch gegen Klassismus. Organisieren, intervenieren, umverteilen (S. 168–178). Münster. Gehmacher, E.; Hagen, A. (2016). Sozialkapital. Glück und Liebe messen und machen. Ein Übungsbuch. Berlin Hagen, A. (2011). Lernen ist Beziehung. Ein Spiel- und Übungsbuch zum Begreifen von Sozialkapital. Horn. Putnam, R. D. (1995). Bowling alone: America’s declining social capital. In: Journal of Democracy, 6, 1, S. 65–78. Rosa, H. (2016).  Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung. Berlin. Schenk, M.; Moser, M. (2010). Es reicht! Für alle! Wege aus der Armut. Wien. Seeck, F.; Theiß, B. (Hrsg.) (2021). Solidarisch gegen Klassismus. Organisieren, intervenieren, umverteilen. Münster. Udl, E. (2020). Frauen* mit Behinderung* in Wien und die Corona-Krise. Herausforderungen so vielfältig wie Lebensentwürfe. In: Büro für Frauengesundheit und Gesundheitsziele/Wiener Programm für Frauengesundheit in der Abteilung Strategische Gesundheitsversorgung der Stadt Wien: Frauengesundheit und Corona. Sammelband des Wiener Programms für Frauengesundheit (S. 223– 227). Wien. Wiesböck, L. (2018). In besserer Gesellschaft. Der selbstgerechte Blick auf die Anderen. Wien.

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FORTBILDUNG

Wege zu einer diskriminierungskritischen Praxis Vorschläge für Methoden zur Weiterentwicklung der eigenen Haltung in Beratung und Begleitung

Tanja Schwichtenberg Verwendung von Bezeichnungen kommuniziert werden kann. Auch hier ist es sehr wichtig, Diskriminierungen nicht zu reproduzieren und verletzende Wörter beispielsweise abzudecken oder nicht auszuschreiben. Ein wichtiger Fokus der Entwicklung der eigenen Haltung ist die stetige Weiterentwicklung des eigenen sensiblen Sprachgebrauchs. Sprache bildet gewachsene und tagtägliche Machtverhältnisse und Normalitätsvorstellungen ab. Damit schafft Sprache immer wieder Wirklichkeiten. Sie strukturiert unsere Wahrnehmung, unser Denken, Handeln und Fühlen. Intersektionalität im Sinne des Zusammenwirkens unterschiedlicher sozialer Kategorien bietet eine zusätzliche Analyseperspektive und sollte sich als Querschnittsthema etwa in der Auswahl von Beispielen niederschlagen. Zur eigenen Auseinandersetzung oder zum Einsatz in Seminaren werden exemplarisch drei Übungen vorgestellt: 1. Anfangsrunde mit Pronomen Die korrekte Anrede ist nicht automatisch am Aussehen oder Namen erkennbar. Misgendert, also mit dem falschen Geschlecht angesprochen zu werden, kann verletzend sein. Überall dort, wo wir miteinander ins Gespräch kommen, sollte in der Vorstellungsrunde nebst dem Namen auch das Pronomen jeder Person erfragt werden, um die geschlechtliche Selbstverortung der Person und das gewünschte Pronomen zu erfahren (»Mein Name ist Tanja, meine Pronomen sind sie/ihr«).

Petra Rechenberg-Winter

Unter Diversity wird meist die Vielfalt sozialer Lebenslagen und Zugehörigkeiten verstanden, bedeutet für mich aber vielmehr, den Fokus auf den bewussten Umgang mit Vielfalt in der Gesellschaft zu lenken und sensibel wahrzunehmen, wie Menschen aufgrund von unterschiedlichen Zugehörigkeiten zu sozialen Gruppen individuell, persönlich und strukturell benachteiligt oder diskriminiert werden. Eine Voraussetzung für die Entwicklung einer eigenen kritischen professionellen Haltung im beruflichen Praxisfeld ist die Reflexion der eigenen Positionierung sowie der eigenen Privilegien. Meines Erachtens ist es wichtig, das Bewusstsein dafür zu schärfen, von welchem Standort aus ich (in diesem Fall als weiße deutsche Frau) welche Angebote in welcher Form machen kann und wo Herausforderungen, Chancen oder auch Grenzen liegen. Die Entwicklung einer diskriminierungssensiblen Praxis beinhaltet ein Ver-lernen von erworbenen Denkmustern und Handlungsstrukturen: die Anerkennung struktureller und intersektionaler Diskriminierung sowie eine stetige Reflexion darüber, welches Wissen das eigene Handeln bestimmt und wie die Welt gelesen wird. Eine der Hauptaufgaben beim Lernen zu Diskriminierung in heterogenen Gruppen ist das Herstellen einer Atmosphäre, die einen offenen Lernraum kreiert und gleichzeitig Lernprozesse nicht auf Kosten von Menschen mit Diskriminierungserfahrungen gestaltet. Hier können klare Regeln für Feedback und solidarische Kritik sowie eine »offene Wand« hilfreich sein, an der parallel zum Workshop beispielsweise über die

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2. Spiel des Lebens In Kleingruppen bewegen sich die Teilnehmenden auf einem Spielbrett von der Geburt bis heute durch verschiedene Lebensabschnitte und reflektieren im Austausch mit anderen ihre biografischen und aktuellen Bezüge zum Thema, beispielsweise zu Fragen wie: • Welche Botschaften/wiederholenden Sätze erinnerst du von deinen Eltern beziehungsweise Bezugspersonen? • Wann hast du zum ersten Mal gemerkt, dass du ein Geschlecht hast? • Wann ist dir zum ersten Mal bewusst geworden, wie häufig Zugänge nicht barrierefrei sind?

• Wann wurde dir bewusst, dass du eine Hautfarbe hast? • Inwiefern hätte man sich in deiner Schulklasse outen können? • Gab es widersprüchliche Konventionen in verschiedenen sozialen Bezugsgruppen: in der Familie, im Freundeskreis, in politischen Gruppen? • Wo spielen Geschlecht und sexuelle Orientierung in deinem Leben eine Rolle? • Wenn du an deinen Arbeitsplatz denkst: Welche Personen arbeiten auf welchen Positionen, wer hat welche Aufgaben? Wenn es Ungleichheiten gibt: Welche Gründe könnten diese haben? 3. Unterscheidung von Intention und Wirkung In dieser Übung wird auf Grundlage des Films »how microaggressions are like mosquito-bites« (https://www.mangoes-and-bullets.org/howmicroaggressions-are-like-mosquito-bites/) die Unterscheidung von Intention und Wirkung verdeutlicht. Eine Handlung oder eine Aussage gilt dann als diskriminierend, wenn ihre Wirkung diskriminierend ist, unabhängig davon, ob diese Wirkung von der handelnden Person beabsichtigt wurde oder nicht. Gleichzeitig sollte die Intention nicht ganz aus dem Blick geraten: Haben Menschen mit guten Absichten gehandelt und wird dieser Aspekt anerkannt, ist die Bereitschaft, die Wirkung der eigenen Handlungen kritisch zu reflektieren und in einen Umlernprozess einzusteigen, deutlich größer. Tanja Schwichtenberg arbeitet freiberuflich als systemische Supervisorin und Coachin, moderiert gern große Gruppen und Beteiligungsprozesse mit verschiedenen Akteur*innen und hat viele Seminare und Fortbildungen in der politischen Bildungsarbeit zum Umgang mit Diskriminierung konzipiert und durchgeführt. Kontakt: [email protected]

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REZENSIONEN

99 Fragen an den Tod Norbert Mucksch

Claudia Bausewein und Rainer Simader (2020). 99 Fragen an den Tod – Leitfaden für ein gutes Lebensende. München: Droemer, 283 Seiten

Unter dem Titel »99 Fragen an den Tod« legen die Palliativärztin Claudia Bausewein und der Physiotherapeut Rainer Simader ein Buch vor, in dem sie Fragen von sterbenden Menschen und von Kolleg*innen zusammengetragen haben. Fragen, die Patient*innen und Angehörige gestellt haben in der eigenen Konfrontation mit dem Sterben und dem Tod. Das Buch gibt – so gut man es überhaupt kann – Antworten auf solche Fragen, die in emotionalen Situationen oftmals nicht gestellt werden können. Zumindest stellt sich dieses Buch fachlich grundiert diesen Fragen und traut sich an Antworten heran mit dem vorrangigen Ziel, Mut zu machen und den Tod und das Sterben zu enttabuisieren. Der Untertitel »Leitfaden für ein gutes Lebensende« setzt einen hohen Anspruch und macht zugleich deutlich, dass das Buch Betroffene ermutigen und stärken will, mit der Realität Sterben, Tod und Trauer bewusst und aktiv umzugehen. Das Buch teilt sich in neun chronologisch strukturierte Abschnitte, beginnend zunächst mit der Nachricht über eine zum Tod führende Erkrankung. Dass es dabei gerade nicht nur um fachliche Fragen an begleitende Ärzt*innen geht, machen diese zwei Fragen exemplarisch deutlich: »Sind Hoffnungen und Wünsche am Lebensende noch sinnvoll?« »Wo finde ich Trost für mich und meine Angehörigen?« Diese Fragen nach Sinn im Angesicht des Todes berühren die spirituelle und auch religiöse

Dimension des sterbenden Menschen, die alle begleitenden Mitmenschen und Fachleute nicht außer Acht lassen dürfen. Im 2. Kapitel wenden sich die beiden Autor*innen dem Blickwinkel der Angehörigen zu mit Fragen, die man sich als Leser*in sicher auch schon selbst gestellt hat: »Was sage ich, wenn ich keine Antwort weiß?« oder »Wie gehe ich mit meiner eigenen Belastung um?«. Kapitel 3 stellt sich grundsätzlichen Fragen zur guten Begleitung am Lebensende. In diesem Abschnitt finden sich auch konkrete Informationen zu Patientenverfügung und Vorsorgevollmacht, ebenso wie Informationen zu Palliativversorgung und Hospizpflege. Das 4. Kapitel beantwortet Fragen zur Situation, in der die zum Tod führende Erkrankung fortgeschritten ist, und zu dem, was jetzt hilfreich ist. Entscheidende Symptome werden hier konkret, verständlich und hilfreich erläutert (Schmerzen, Appetitlosigkeit, Atemnot, Übelkeit, Erschöpfung, Angst, Depression, Schlaflosigkeit). Kapitel 5 thematisiert häufig gestellte Fragen zur Sterbephase (»Was geschieht und was ist hilfreich?«) und gibt darauf – sensibel und zugleich fachlich formuliert – Antworten. Die Ausrichtung dieses Buches wird ganz besonders in diesem Abschnitt deutlich, wenn die Autor*innen Fragen beantworten wie: »Was kann ich als Angehöriger für den Sterbenden in der Sterbephase tun?« oder »Darf ich vor dem Sterbenden weinen?«. Das selbst gesetzte Ziel, nämlich Menschen zu ermutigen, wird in der zuge-

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wandten Beantwortung solcher Fragen besonders stimmig und authentisch umgesetzt. Das Kapitel 6 befasst sich mit dem Tod und gibt Informationen zu den Abläufen nach dem Eintritt des Todes und dazu, was mit einem verstorbenen Menschen passiert. Aber auch Fragen dazu, in welchen Fällen eine Obduktion gemacht wird und welche Behördengänge zu erledigen sind, finden hier entsprechende Antworten. Im Sinne des chronologischen Aufbaus wenden sich die beiden Autor*innen im Kapitel 7 dem Thema Trauer zu und tragen damit auch der Tatsache Rechnung, dass das erstarkte Bewusstsein mit Blick auf die Bedeutung von Trauer und Trauerbegleitung in der Gesellschaft konsequent auch in diesem Buch Berücksichtigung findet. Es finden sich Fragen und Antworten zu dem, was Trauer ist, zur Unterschiedlichkeit der Trauer bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen, zur Dauer von Trauer ebenso wie zur Normalität von Trauer. Die letzte Frage in diesem Buch – Frage 99: »Was kommt nach dem Tod?« – und die Antwort darauf haben mich ganz besonders beschäftigt und auch berührt. Die beiden Autor*innen führen ihre Antwort zu dieser Frage in folgender Weise ein: »Vielleicht überrascht Sie diese Frage, da die bisherigen 98 Fragen aus Expert*innensicht beantwortet wurden. Tatsächlich sind wir bei dieser Frage genauso unwissend wie Sie.« Und so maßen sich die Autor*innen auch keine Antwort an, sondern sie machen eine je persönliche Aussage und ergänzen diese durch fünf weitere persönliche Aussagen überwiegend von Menschen, die eine fachliche Verbindung zum palliativen Feld haben. Aber auch von einer 16-jährigen Schülerin aus München, die ihre persönliche Aussage mit dem Satz

an alle Leser*innen beendet: »Und was denken Sie?« Bei allen hilfreichen Fragen und Antworten dieses Buches ist dieser Abschluss des 7. Kapitels meines Erachtens sehr klug und weise gesetzt. Letztendlich sind und bleiben das Sterben und der Tod ein Mysterium. Und bei allen hervorragend ausgewählten Fragen und sensibel formulierten Antworten bleibt dieses Geheimnis. Dass das Buch seinen inhaltlichen Teil so abschließt, macht deutlich, mit welch großer Sensibilität und Erfahrung die beiden Autor*innen dieses Buch strukturiert und verfasst haben. Es folgen noch zwei ergänzende Teile, die weniger inhaltlicher Natur sind. Im Kapitel 8 finden betroffene Menschen und auch Begleitende eine gut und breit sondierte Auswahl von hilfreichen Adressen (Internetadressen zu den Bereichen: Hospizversorgung und Palliative Care, Krebserkrankungen, Demenz, Physiotherapie, Ergotherapie, Logopädie, Ernährungsberatung, Psychotherapie, Psychoonkologie, Trauer, Bestatter). Kapitel 9 enthält ein hilfreiches Glossar medizinischer Begriffe und Abkürzungen. Ein Schlagwortregister erleichtert das Auffinden von konkreten Fundstellen. Das Buch von Claudia Bausewein und Rainer Simader ist ein gut zusammengetragenes Nachschlagewerk. Aber es ist meines Erachtens noch viel mehr: Es ist Menschen gegenüber, die in der konkreten Situation stehen, von Sterben, Tod und Trauer betroffen zu sein, eine zugewandte, verständnisvolle, aber auch ehrliche Begleitlektüre. Das Buch erklärt nicht fachlich von oben herab, sondern es ist in der Lage, betroffene Menschen abzuholen, und wird dadurch seinem eigenen Untertitel gerecht, nämlich ein Leitfaden für ein gutes Lebensende zu sein.

Anders leben, anders lieben, anders trauern

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Palliativ & Zeiterleben Norbert Mucksch

Hermann Ewald, Kai Vogeley, Raymond Voltz (Hrsg.) (2020). Palliativ & Zeiterleben. Stuttgart: W. Kohlhammer, 224 Seiten

Wie erleben, wie erfahren Menschen Zeit in einer palliativen, lebenszeitbegrenzenden Situation? Wie ändert sich für Betroffene (akut selbst erkrankt oder als Angehörige und Zugehörige) das individuelle Erleben von Zeit? Der Sammelband »Palliativ & Zeiterleben« widmet sich dieser Dimension von Erfahrung und tut dies aus einer sehr breiten interdisziplinären Sicht. 15 Autor*innen setzen sich mit dieser Thematik diskursiv auseinander aus theologischer, philosophischer, (palliativ-)medizinischer, psychologischer, pflegewissenschaftlicher, sozialpädagogischer und neurowissenschaftlicher Sicht. Insgesamt enthält das Buch elf interdisziplinäre Beiträge, wobei vermutlich nicht jeder Beitrag in gleicher Weise für Leser*innen interessant oder bedeutsam sein wird. Das hat sicherlich auch damit zu tun, mit welchem individuellen fachlichen Interesse man dieses Buch zur Hand nimmt. Entscheidend und wertvoll aber sind die Multiprofessionalität und Vielschichtigkeit, wodurch der selbst gesetzte Anspruch palliativer Arbeit, eine ganzheitliche und eben multiprofessionelle Begleitung von Menschen zu leisten, erfüllt wird. Dies sollte, wie es im Vorwort heißt, in jeglicher Art von Gesundheitsversorgung selbstverständlich sein. Und so ist dieses Buch ein großer Wurf zu einer großen und bedeutsamen Frage. Es beleuchtet viele Aspekte und erhebt dabei an keiner Stelle den Anspruch, fertige, abgeschlossene Antworten zu geben, allenfalls Denkanstöße und Antwort-

versuche im Sinne von Denkangeboten. Diese Angebote und die damit verbundenen Suchbewegungen machen den Band für mich sehr lesenswert. Wenn ich mich in dieser Rezension auf einige Beiträge konzentriere, so ist dies eine subjektive Auswahl, die allerdings keine Abwertung der anderen Beiträge bedeutet. Nach einem einleitenden Vorwort der Herausgeber startet das Buch mit einem philosophischen Beitrag, der die begrenzte Lebens-Zeit und das Zeiterleben in seiner Bedeutung für die menschliche Existenz zu erfassen und zu erklären versucht. Unsere Sterblichkeit und unser Todesbewusstsein, so eine zentrale Aussage dieses Beitrags, verändern die an sich unendliche Zeit. Sie wird qualitativ anders. Der zweite Hauptabschnitt mit dem Titel »Was verändert unser Zeiterleben?« wendet sich unterschiedlichen Lebenswirklichkeiten zu (Depression, Demenz, onkologische Erkrankungen, Palliative Care, Trauer). Dieser Abschnitt mit insgesamt fünf Beiträgen ist das Kernstück dieses Buches. Die Autoren David Vogel und Kai Vogeley widmen sich aus medizinischer Sicht dem Thema der »gelebten Zeit« bei Depressionen und in Todesnähe. Im Hinblick auf die Depression identifizieren sie diese als »Störung der gelebten Zeit«, also einer Beeinträchtigung eines so Erkrankten in seinen Möglichkeiten, nach seiner Zukunft zu streben und seine Gegenwart sinnvoll zu beeinflussen. Und auch die dritte Dimension des

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Zeiterlebens ist – so die Autoren – negativ beeinträchtigt: Die Vergangenheit kann nicht mehr als biografische Ressource erlebt werden. Mich hat dieser Blickwinkel hilfreich aufmerksam gemacht, auch von dieser Perspektive her in das Verstehen depressiver Menschen zu gelangen. Marina Kojer wendet sich dem Verstehen von Menschen mit Demenzerkrankungen zu. Sie betrachtet den Wandel des Zeiterlebens im Alter unter dem Stichwort »Zeitrafferphänomen« und öffnet hilfreiche Türen zum Verstehen und zum Kontakt. Dieser Beitrag vermittelt ausgesprochen praktische Zugänge zu Menschen mit Demenz. Ein gemeinschaftlich interdisziplinär verfasster Beitrag stellt das Ergebnis einer wissenschaftlichen Studie zum Zeiterleben von onkologischen Patient*innen vor, an der 91 stationäre Patient*innen im Alter von 18 bis 73 Jahren teilgenommen haben. Ein Ergebnis dieser Studie ist ein Leit­faden für mehr Achtsamkeit für An- und Zugehörige von Palliativpatient*innen. Dieser Artikel ist sehr lesenswert ist für Begleitende in der palliativen und hospizlichen Arbeit. Den Abschluss des Hauptkapitels bildet ein Beitrag von Ruthmarijke Smeding und Herman Ewald, der die Trauer-Zeit in den Fokus nimmt: »Zeit der Trauer oder Zeit zum Trauern?«. Auch hier zeigt sich, dass die Herausgeber einen durchgängig sehr weiten Blick haben: Die inhaltlichen Auseinandersetzungen zum Thema Zeiterleben enden nicht bei kranken und sterbenden Menschen, sondern sie nehmen sehr konsequent auch

die trauernden Angehörigen und Zugehörigen mit in die fachliche Aufmerksamkeit. Im dritten Hauptteil des Buches, überschrieben mit der Frage »Wie gehen wir mit der Zeit um?«, wenden sich Elmar Hatzelmann (Wirtschaftspsychologe und Zeitmanagementtrainer), Ulrich Eibach (evangelischer Theologe) und Manfred Gaspar (Sozialpädagoge) aus drei weiteren Blickwinkeln dem Erleben von Zeit zu: Es geht es um Zeitmanagement, Ewigkeitserleben und um den Umgang mit der Zeit in unterschiedlichen Kulturen. Diese drei Aufsätze vervollständigen den umfassenden interdisziplinären Blick und runden zugleich das Buch in aller Vielschichtigkeit ab. Die Herausgeber setzen mit dem Titel »Palliativ & Zeiterleben« dem/der Leser*in eine Brille auf, die in sehr hilfreicher Weise dazu ermuntert, verschiedene, notwendige Blickrichtungswechsel zu vollziehen und genau damit die eigene Helfer*innen-Rolle immer wieder neu zu reflektieren und zu hinterfragen. Die unterschiedlichen Beiträge sind in besonderer Weise dazu geeignet, den eigenen fachlichen (Herkunfts-)Horizont zu erweitern. Das macht dieses Buch entscheidend aus. Illustriert wird der fachwissenschaftliche Sammelband in einem sehr angenehmen und angemessenen Umfang durch Cartoons, teilweise in Kombination mit Zitaten. »Palliativ & Zeiterleben« ist für mich ein besonderes und sehr inspirierendes Buch in dem großen und manchmal unüberschaubaren Angebot der Literatur im Bereich Palliative Care, Hospiz, Tod und Sterben.

Anders leben, anders lieben, anders trauern

VERBANDSNACHRICHTEN

Trauer und Diversität sind zwei nicht voneinander zu trennende Aspekte, denn Trauer ist in jeder Hinsicht vielfältig! Stefanie Garbade Sprechen wir von Trauer, denken wir unmittelbar an Sterben und Tod. Aber das sind nicht die einzigen Verluste, die Trauer auslösen. Das Spektrum ist vielfältig: Neben dem Tod lieber Mitmenschen, zu denen eine Bindung bestand, lösen auch Geschehnisse wie Trennung vom Partner, Auszug der Kinder, Jobverlust, erkrankte Angehörige, Tod des Haustiers, Rollenwechsel im Berufsleben und anderes mehr Trauer aus. Die Pandemie lässt diese Liste weiter anwachsen: fehlende soziale Kontakte, wenige bis keine körperlichen Berührungen, Vereinsamung, Zukunftsängste – auch hier ist die gesamte Vielfältigkeit erkennbar. Schock, Stress, Ohnmacht, Tränen gehören zur Trauer. Zunächst heißt es überleben, den Schock überwinden, dann muss der Verlust realisiert und akzeptiert, der Schmerz durchlebt, die Veränderung angenommen und damit die Trauer verarbeitet werden. Bei Trauer durch Tod gehört noch dazu, dem Verstorbenen einen neuen Platz zuzuweisen. Die Trauer verläuft prozesshaft, wobei sich die einzelnen Phasen beziehungsweise Zustände in einem stetigen Wandel und damit Veränderungsprozess befinden. Auch hier zeigt sich die Diversität, da die Trauer und deren Bewältigung in ihrem gesamten Spektrum und Zeit-

    

strahl individuell sind, je nach emotionaler Belastung, sozialem Netzwerk, eigenen Ressourcen, bereits erlebter und gemachter Erfahrungen anders ausfallen. In unserer Gesellschaft ist die Vielfalt obligatorisch. Merkmale wie Geschlecht, Alter, Religion oder Weltanschauung, Herkunft, Familie, Hautfarbe, geistige oder körperliche Fähigkeiten, die Alltagserfahrungen, der Beruf beeinflussen den Umgang mit Tod, Sterben, Verlusten. Damit stehen Menschen, die professionell Trauernde begleiten, vor der Herausforderung, Bedürfnisse, Erwartungen, emotionale Stabilität und Gemütszustand zu erfassen und Bedarfe zu erkennen, um geeignete Unterstützung leisten zu können. Die einen möchten reden, andere möchten schweigen, einige dürstet es nach Informationen, um das eigene Verhalten, die eigenen Gedanken besser einordnen zu können, wieder anderen hilft es, gemeinsam in der Begleitung die eigenen Ressourcen zu erkennen und nutzbar zu machen, Erinnerungen wachzurufen, Perspektiven zu erarbeiten. Trauernde sind hoch sensibilisiert, so dass es guttun kann, sich als Betroffener einfach einmal fallen lassen, einen geschützten Raum betreten zu dürfen. Unterschiedlichste Be-

Weißes Licht / Sonja Knyssok

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dürfnisse benötigen unterschiedliche Begleitungen, auch hier ist die Diversität offenkundig und notwendig! Hierzu zwei Beispiele, wie sie sich aktuell darstellen: Katharina G. ist jobbedingt vor zwei Jahren vom Norden in die Mitte Deutschlands gezogen. Sie ist Single, ihre sozialen Kontakte beschränken sich am neuen Wohnort auf die Kollegen*innen. Ihre Familie und ihre Freunde wohnen im Osten und Norden Deutschlands. Seit dem 16. März letzten Jahres arbeitet Katharina ganztags im Homeoffice. Sie hat keine sozialen Kontakte, die gemeinsamen Abendessen oder Kinogänge zwischendurch mit Kollegen*innen finden nicht mehr statt. Ihr Arbeitgeber bietet Unterstützung in digitalen Formaten an, sie kann sich abends zu unterschiedlichen Themen via Zoom anmelden. Zudem haben sie mehrfach in der Woche Teammeetings in Form von Videokonferenzen. Aber keine persönlichen Kontakte, keine Berührungen, keine gemeinsamen Aktivitäten, das alles führt zunehmend zur Vereinsamung. Katharina sagt von sich selbst: »Ich habe das Gefühl, ich rutsche in eine Depression.« Sie durchlebt Trauer, sie trauert um fehlende Nähe, um fehlende soziale Kontakte. Im Februar nimmt Katharina Urlaub und fährt für eine Woche zu einer Freundin, das tut ihr gut. Birgit S. ist Witwe. Ihr Mann ist Ende 2018 gestorben. Sie trauert, aber Freunde und Familie sind für sie da. Dann der erste Lockdown. Birgit ist mit einem Nagelstudio selbstständig, darf nicht mehr arbeiten, körpernahe Dienstleistungen sind verboten. Ihre Freunde haben ihre Familien, möchten weitere Kontakte mei-

den. Sie ist allein! Keine Möglichkeit, Menschen zu treffen. Geschäfte und Restaurants sind geschlossen. Was nun? Ihr geht es zunehmend schlechter. Eine Freundin gibt ihr den Tipp, sich mit einer Trauerbegleiterin zu treffen. Sie ruft mich an. Wir treffen uns einmal in der Woche. Wir reden über ihren Mann, ihre Einsamkeit, über Perspektiven, über die Zukunft. Ihre Tränen werden weniger und sie kann sich wieder freuen. Aber die Treffen im Ein- bis Zwei-Wochen-Rhythmus bleiben bestehen. Nur bis Corona vorbei ist!, bittet Birgit. Sie ist fast panisch. Natürlich treffen wir uns weiter, auch heute noch. Birgit sagt über sich selbst, dass sie den Tod ihres Mannes akzeptiert und ihr neues Leben leben kann, aber die durch die Pandemie bedingte Isolation, die vielen Tage der Einsamkeit führen ihr ihren großen Verlust immer wieder deutlich vor Augen und dann ist sie wieder da: die Trauer, sie hüllt sie ein wie ein großer dunkler Vorhang. Trauer und Tod werden in unserer Gesellschaft gern gemieden. Die Coronapandemie zeigt sehr deutlich, dass der Tod und die Trauer in ihrer gesamten Vielfältigkeit zum Leben dazugehören. Diese Beispiele zeigen, dass die Pandemie die Trauer der Trauernden zum Teil verdichtet, dass die Pandemie Begegnungen und Taten, die Trauernden guttun würden, nicht zulässt. Trauernde brauchen andere Menschen, soziale Distan-

Anders leben, anders lieben, anders trauern

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ziertheit, so notwendig sie aktuell ist, verhindert dies. Geben wir Trauernden keinen Resonanzboden, kann Trauer nicht verarbeitet werden, kann Trauer krank machen. Umso wichtiger ist es, dass diejenigen, die Trauernde professionell begleiten, diesen Umständen Rechnung tragen. Die Trauerbegleiter*innen stehen aktuell vor der Herausforderung, geeignete Formate für Trauerangebote zu finden und umzusetzen. Der Bundesverband für Trauerbegleitung unterstützt hierbei mit umfangreichen Fortbildungsangeboten, Stammtischen zwecks Erfahrungsaustausches und der Veröffentlichung und Unterstützung ehrenamtlicher Ideen und Aktionen. Auch hier ist Diversität gefragt: Trauertreffs und -gruppen in digitalem Format, offene Telefonsprechstunden, Ge(h)spräche, Waldspaziergänge, Einzelbegleitungen via Telefon, Zoom, WhatsApp und vielleicht – wenn möglich – auch in Präsenz, Chats und Foren für Trauernde und Trauergruppen, Patenschaften etc. Trauer braucht Ausdruck! Bedürfnisse und Form sind vielschichtig. Manche Trauernde haben das Bedürfnis zu erzählen: was passiert ist, wie es ihnen geht, woran sie glauben, was ihnen fehlt. Andere können ihre Gefühle nicht benennen, vermögen das Unaussprechliche nicht in Worte zu fassen. Sie drücken ihre Gefühle in anderer Form aus – sie malen, töpfern, basteln, tanzen. Wieder andere haben das Bedürfnis zu weinen, zu schreien, zu klagen – Trauerbegleitende geben hierfür den geschützten Raum. Trauer­ begleiter*innen stehen Schatzkisten gefüllt mit kreativen Ideen zur Verfügung, aus welchen sie schöpfen können. Notwendig hierfür ist die Sensibilität, erkennen zu können, welche Bedürfnisse wer hat, denn oftmals wissen es die Trauernden selbst nicht. Die Diversität zeigt sich auch hier in

der Differenzierung der Bedürfnisse und der Vielfalt der zur Verfügung stehenden Möglichkeiten. Zudem kann bei Trauernden nach deren Verlust, Alter und Geschlecht unterschieden werden. So gibt es im Rahmen der Trauerbegleitung Trauergruppen für Kinder und Jugendliche. Die Ansprache, Kreativität, der Rahmen, der Raum, der Ablauf differenzieren bereits zwischen Kindergarten- und Vorschulkindern, Schulkindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Ferner gibt es beispielsweise auch Trauergruppen für Männer. Männer trauen oftmals anders und gezielte Angebote können deren Ansprüchen und Ausdrucksformen dann eher entgegenkommen. Des Weiteren gibt es auch Trauer- oder Selbsthilfegruppen, Foren und ähnliche Formate, die anhand der familiären Beziehung zum/zur Verstorbenen unterscheiden: verwaiste Eltern, Verwitwete, Geschwistertrauende. Auch der Arbeitsplatz birgt verschiedene Perspektiven. Sei es, dass ein Kollege innerhalb eines Teams verstirbt, eine Kollegin als Trauerende an den Arbeitsplatz zurückkehrt oder durch trauernde Kolleg*innen eigene Trauererfahrungen wachgerufen werden. Diversität – ohne die Vielfalt und Vielseitigkeit könnten wir Trauernde nicht verstehen und Trauernde nicht begleiten. Und genau das ist das originäre Ziel der Mitglieder im Bundesverband für Trauerbegleitung. Stefanie Garbade ist zertifizierte Trauerbegleiterin und Mitglied im BVT. Nach mehr als 30 Jahren Berufserfahrung auf Managementebene hat sie sich selbstständig gemacht mit TrauerLeben. Der Fokus liegt auf dem Thema »Trauer am Arbeitsplatz« mit einem umfangreichen Portfolio an Vorträgen und Workshops. Sie ist auch als Trauerrednerin tätig. Kontakt: [email protected] Website: www.worpswede-tipps.de/trauerleben

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Vorschau Heft 4 | 2021

Leid faden

Thema: Tiere

10. Jg. | 4 | 2021

Margarita Balabina / Shutterstock.com

Begegnung der dritten Art

Es war eben nicht »nur ein Hund« Wie trauern Menschen um Tiere Erfahrungen aus der Tierarztpraxis

Tierfriedhöfe und Todesanzeigen für Tiere Was kann die tiergestützte Therapie? Pferdegestützte Psychotherapie Tiergestützte Therapie im Hospiz Kein Kuscheln – Krisenbegleitung mit Greifvögeln Helfer auf vier Pfoten

Wie Diensthunde einsatzgeschädigten Soldaten in der Traumatherapie helfen

Die Internationale Fachgesellschaft für die Hospiz- und Palliativversorgung von Tieren u. a. m.

Leidfaden

4 | 2021 | ISSN 2192-1202

FA C H M A G A Z I N F Ü R K R I S E N , L E I D , T R A U E R

AUF DEN AUF DEN HUND GEKOMMEN – TIERE IN UND BEI KRISEN, LEID UND TRAUER

Die einfühlsam-professionelle Begleitung von Menschen, die um ein Tier trauern

10. Jahrgang

HUNDGEKOMMEN

TIERE IN UND BEI KRISEN, LEID UND TRAUER

Impressum Herausgeber/-innen: Monika Müller M. A., KAB-Ring 22, D-53359 Rheinbach E-Mail: [email protected] Prof. Dr. med. Lukas Radbruch, Zentrum für Palliativmedizin, Von-Hompesch-Str. 1, D-53123 Bonn E-Mail: [email protected] Dr. phil. Sylvia Brathuhn, Frauenselbsthilfe Krebs e. V., Landesverband Rheinland-Pfalz/Saarland e. V. Schweidnitzer Str. 17, D-56566 Neuwied E-Mail: [email protected] Prof. Dr. Arnold Langenmayr (Ratingen), Dipl.-Sozialpäd. Heiner Melching (Berlin), Dipl.-Päd. Petra Rechenberg-Winter M. A. (Hamburg), Dipl.-Pflegefachfrau Erika Schärer-Santschi (Thun, Schweiz), Dipl.-Psych. Margit Schröer (Düsseldorf), Rainer Simader (Wien), Prof. Dr. Reiner Sörries (Erlangen), Peggy Steinhauser (Hamburg) Bitte senden Sie postalische Anfragen und Rezensionsexemplare an Monika Müller, KAB-Ring 22, D-53359 Rheinbach Wissenschaftlicher Beirat: Dr. Colin Murray Parkes (Großbritannien), Dr. Sandra L. Bertman (USA), Dr. Henk Schut (Niederlande), Dr. Margaret Stroebe (Niederlande), Prof. Robert A. Neimeyer (USA) Redaktion: Ulrike Rastin M. A. (V. i. S. d. P.), BRILL Deutschland GmbH Vandenhoeck & Ruprecht Theaterstr. 13, D-37073 Göttingen Tel.: 0551-5084-423, Fax: 0551-5084-454 E-Mail: [email protected] Bezugsbedingungen: Leidfaden erscheint viermal jährlich mit einem Gesamtumfang von ca. 360 Seiten. Bestellung durch jede Buchhandlung. Die Bezugsdauer verlängert sich jeweils um ein Jahr, wenn das Abonnement nicht bis zum 01.10. bei der HGV gekündigt wird. Bestellungen und Abonnementverwaltung: HGV Hanseatische Gesellschaft für Verlagsservice mbH, Leserservice, Holzwiesenstr. 2, D-72127 Kusterdingen; Tel.: 07071-9353-16, Fax: 07071-9353-93, E-Mail: [email protected] Preise und weitere Informationen unter www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com. Verlag: BRILL Deutschland GmbH, Vandenhoeck & Ruprecht, Theaterstr. 13, D-37073 Göttingen; Tel.: 0551-5084-40, Fax: 0551-5084-454 www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2192-1202 ISBN 978-3-525-40769-1 ISBN 978-3-666-40769-7 (E-Book) Umschlagabbildung: Petra Rechenberg-Winter Anzeigenverkauf: Ulrike Vockenberg, Kontakt: [email protected] Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. © 2021 by Vandenhoeck & Ruprecht, Theaterstraße 13, 37073 Göttingen, Germany, an imprint of the Brill-Group (Koninklijke Brill NV, Leiden, The Netherlands; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Germany; Brill Österreich GmbH, Vienna, Austria) Koninklijke Brill NV incorporates the imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau, Verlag Antike, V&R unipress. Gestaltung, Satz und Lithografie: SchwabScantechnik, Göttingen Druck und Bindung: Beltz Grafische Betriebe GmbH, Bad Langensalza Printed in Germany

ES GIBT DINGE ZWISCHEN HIMMEL UND ERDE … DIE BEI DER TRAUER HILFREICH SEIN KÖNNEN

Sarah Pohl | Yvonne Künstle | Reiner Sörries Aberglaube, Magie und Zuflucht im Übernatürlichen Der Umgang mit außersinnlichen Erfahrungen in der Trauerbegleitung 2021. 122 Seiten, kartoniert € 17,00 D | € 18,00 A ISBN 978-3-525-40707-3 E-Book | E-Pub € 13,99 D | € 14,40 A

Preisstand 28.1.2021

Handelt es sich um abergläubische Vorstellungen, wenn Trauernde von Begegnungen mit Verstorbenen, mit Geistern oder von anderen Spukphänomenen berichten, oder können diese Erfahrungen eine Ressource im Abschiedsprozess sein? In diesem Buch geht es um eine inhaltliche Einordnung solcher außergewöhnlichen Erlebnisse. Ihre Bandbreite wird in den zahlreichen Praxisbeispielen rund um Sterben und Tod deutlich. Anregungen zum beraterischen und therapeutischen Umgang mit solchen Erlebnissen ermuntern Trauerbegleiter*innen, wertschätzend, offen und ressourcenorientiert mit Berichten über außergewöhnliche Erfahrungen umzugehen.

Orientierung für Fachleute, die mit transidenten Menschen arbeiten Udo Rauchfleisch Transsexualität – Transidentität Begutachtung, Begleitung, Therapie 5., unveränderte Auflage 2016. 216 Seiten, kartoniert € 30,00 D | € 31,00 A ISBN 978-3-525-46270-6 E-Book € 23,99 D | € 24,70 A

Udo Rauchfleisch plädiert seit vielen Jahren für eine Entpathologisierung von Transsexualität beziehungsweise Transidentität, die für ihn keine psychische Krankheit ist. Er diskutiert die Fragen der Begutachtung und der therapeutischen Begleitung vor, während und nach der hormonellen und operativen Angleichung an das andere Geschlecht. Die umfassende Überarbeitung berücksichtigt die aktuelle rechtliche Situation. Zwei Beiträge tranisdenter Menschen geben Einblicke aus ihrer Perspektive. Das Buch richtet sich an Fachleute wie Psychologen, Psychotherapeuten, Ärzte und Psychiater, aber auch an Transidente selbst und ihre Angehörigen.

ISBN 978-3-525-40769-1

9 783525 407691