Negationen des Absoluten: Meister Eckhart, Cusanus, Hegel 9783787318940, 9783787320561

Meister Eckhart, Cusanus und Hegel verbindet - bei aller Unterschiedenheit - eine Fragestellung, die sie mit aller Inten

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Negationen des Absoluten: Meister Eckhart, Cusanus, Hegel
 9783787318940, 9783787320561

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PARADEIGMATA 30

PARADEIGMATA Die Reihe Paradeigmata präsentiert historisch-systematisch fundierte Abhandlungen, Studien und Werke, die belegen, daß sich aus der strengen, geschichtsbewußten Anknüpfung an die philosophische Tradition innovative Modelle philosophischer Erkenntnis gewinnen lassen. Jede der in dieser Reihe veröffentlichten Arbeiten zeichnet sich dadurch aus, in inhaltlicher oder methodischer Hinsicht Modi philosophischen Denkens neu zu fassen, an neuen Thematiken zu erproben oder neu zu begründen.

Stephan Grotz, geb. 1966. Studium der Kunstgeschichte und Theaterwissenschaft, dann der Philosophie, Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft und Klassischen Philologie in München und Berlin. Promotion 1998, Habilitation 2007. Oberassistent am Institut für Philosophie der Universität Regensburg. Buchveröffentlichungen: Thomas von Erfurt, Abhandlung über die bedeutsamen Verhaltensweisen der Sprache (Tractatus de Modis significandi), übersetzt und eingeleitet von Stephan Grotz, Amsterdam/Philadelphia: Grüner 1998. Vom Umgang mit Tautologien: Martin Heidegger und Roman Jakobson, Hamburg: Meiner 2000. Thomas von Aquin, Quaestiones disputatae de potentia Dei I–III, Übersetzung und Nachwort von Stephan Grotz, Hamburg: Meiner 2009. Thomas von Aquin, Quaestiones disputatae de potentia Dei IV–VI, Übersetzung und Nachwort von Stephan Grotz, Meiner: Hamburg 2009.

STEPHAN GROTZ

Negationen des Absoluten Meister Eckhart · Cusanus · Hegel

FELIX MEINER VERLAG HAMBURG

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-7873-1894-0

www.meiner.de © Felix Meiner Verlag Hamburg 2009. Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Dies betrifft auch die Vervielfältigung und Übertragung einzelner Textabschnitte durch alle Verfahren wie Speicherung und Übertragung auf Papier, Transparente, Filme, Bänder, Platten und andere Medien, soweit es nicht §§ 53 und 54 URG ausdrücklich gestatten. Satz: Satzpunkt Ursula Ewert GmbH, Bayreuth. Druck und Bindung: Hubert & Co., Göttingen. Werkdruckpapier: alterungsbeständig nach ANSI-Norm resp. DIN-ISO 9706, hergestellt aus 100 % chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Printed in Germany.

INHALT

Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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I. MEISTER ECKHART 1. Der Negationscharakter der Ununterschiedenheit . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Ununterschiedenheit und Negatio negationis . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Selbstunterscheidung oder Ununterscheidbarkeit? . . . . . . . . . . . . 1.3 Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

18 20 25 32

2. Affirmative Gleich-Gültigkeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Unmittelbarkeit und Negation der Mittel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Gleichheit ›mit‹ Gott. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Das notwendige Eine . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4 Vita activa oder contemplativa? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

39 40 46 53 68

3. Absolutes Sein und Relation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Relation als Akzidens? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Intellekt und Negation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Einheit und Relation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

78 79 96 105

Überleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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II. NICOLAUS CUSANUS 1. Koinzidenz als Problem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Koinzidenz und negative Theologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Koinzidenz und Kosmologie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3 Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

122 123 128 134

2. Negation und Ineinsfall der Gegensätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Koinzidenz und Proportion. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Absolute und kopulative Koinzidenz. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Koinzidenz und Kreisquadratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

138 140 155 165

6

Inhalt

3. Endlichkeit und Negation der Koinzidenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Koinzidenz als Gassenhauer? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Koinzidenz und Kontraktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Das Nichtandere und das Andere . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

174 176 182 204

Überleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

225

III. HEGEL 1. Das Problem des Anfangs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Diskrepanz von Anfang an: ›Sein‹ als ›Nichts‹ . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Die anfängliche Andersheit: ›Sein‹ und ›Nichtsein‹ . . . . . . . . . . . . 1.3 Der Anfang und die autonome Negation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4 Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

231 231 242 258 273

2. Der absolute Anfang und seine Negationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Der Anfang und die Negation der Reflexion . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 ›Sein‹ als Gleichheit ohne Gleiches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Verschwinden und Werden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4 Verschwinden des Verschwindens. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

282 282 294 303 315

Schlußbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

327

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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VORBEMERKUNG

Die vorliegende Arbeit entspricht im wesentlichen meiner Habilitationsschrift, die im Wintersemester 2006/07 von der Philosophischen Fakultät I der Universität Regensburg angenommen worden ist. Für zahlreiche Anregungen und hilfreiche Gespräche danke ich meinen Regensburger Kollegen und Freunden, allen voran Stefan Schick, M. A. Herrn Professor Dr. Dr. h. c. Werner Beierwaltes sowie Herrn Professor Dr. Theo Kobusch sei ganz herzlich für die freundliche Übernahme von Gutachten gedankt. Dank auch dem Verlag Felix Meiner, und hier insbesondere Herrn Marcel SimonGadhof, für die bewährte unkomplizierte Betreuung dieser Arbeit. Besonders bedankt sei auch Herr Professor Dr. Menso Folkerts für die freundliche Erlaubnis, aus seiner im Erscheinen befindlichen kritischen Edition der »Scripta mathematica« des Cusanus zitieren zu dürfen. Der Generosität der Meister-Eckhart-Stiftung und ihres Vorsitzenden, Herrn Professor Dr. Georg Steer, verdanke ich eine große finanzielle Unterstützung bei der Drucklegung dieses Buches. Die wichtigste Dankesschuld aber möchte ich in einer Form abgelten, die freilich nur ein dürres äußeres Zeichen für innere Verbundenheit ist: Herrn Professor Dr. Rolf Schönberger, meinem verehrten Lehrer und Mentor, sei dieses Buch gewidmet. Regensburg, im November 2008

Stephan Grotz

Viele Dinge sind in einem Ding. (B. Brecht, Die Horatier und die Kuriatier) And in this change is my invention spent – Three themes in one … (W. Shakespeare, Sonnet CV)

EINLEITUNG

Die vorliegende Arbeit setzt sich mit drei Denkern auseinander: Meister Eckhart, Nicolaus Cusanus und Hegel. Originalität kann sie dabei in einem mehrfachen Sinn nicht für sich beanspruchen. Weder harrten diese drei Autoren bislang ihrer Entdeckung durch die zünftige Forschung, noch gehört ihr gegenseitiges Verhältnis zum unbetretenen Terrain der Philosophiegeschichtsschreibung. Insbesondere die intensive Beschäftigung des Cusanus mit Eckhart ist reich belegt und längst schon dokumentiert. Vor allem aber ist bereits des öfteren eindringlich demonstriert worden, daß jene drei Autoren weitaus mehr miteinander verbindet als solch faktisch belegbare Berührungspunkte. Der Impuls zu diesem eher systematisch angelegten Brückenschlag verdankte sich dabei hauptsächlich einem Interesse an Eckhart und Cusanus. Für die einschlägige Hegel-Forschung hingegen spielt der ›Blick zurück‹ auf Cusanus und Eckhart in der Regel kaum eine nennenswerte Rolle.1 Auch wenn daher eine Perspektive, die eine Linie von Eckhart über Cusanus hin zu Hegel zieht, durchaus befruchtende Sichtweisen für die Hegel-Interpretation zu bieten hat, so wird sie doch überwiegend als eine rein mediävistische Angelegenheit wahrgenommen und von der Hegel-Forschung tendenziell marginalisiert. Dies liegt aber wohl nicht allein an der schlichten Tatsache, daß ein Vergleich von Eckhart, Cusanus und Hegel eben auch mediävistische Kenntnisse und Interessen voraussetzt, die in der Hegel-Forschung nicht gerade weit verbreitet sind. Zur Marginalisierung dieser Vergleichsperspektive trägt nicht minder bei, daß oftmals die antizipatorische Kraft der beiden mittelalterlichen Denker für die Hegelsche Philosophie zu hoch eingeschätzt wird und dadurch die Gefahr einer Vereinnahmung Hegels für das vorschnelle und nivellierende Konstrukt einer philosophia perennis droht. Stimmen, die vor dieser Gefahr warnen, wurden und werden denn auch immer wieder laut.2 1 Diese ›Vernachlässigung‹ von Eckhart und Cusanus in der Hegel-Forschung liegt sicherlich zu einem guten Teil darin begründet, daß Hegel nie mehr als eine sporadische Kenntnis von Eckhart und Cusanus gewann. Darüber kann auch nicht die Tatsache hinwegtäuschen, daß Hegel (dank Hamanns Vermittlung) der Terminus »coincidentia oppositorum« geläufig war. Eine geringe Aussagekraft hat zudem das in der Eckhart-Literatur gerne zitierte Diktum »Da haben wir es ja, was wir wollen«, das Hegel gegenüber Franz v. Baader geäußert hat, nachdem dieser ihm aus Eckhart vorgelesen hatte. Denn v. Baader schweigt sich darüber aus, was genau Hegel an Eckhart zu haben glaubte. 2 Um hier nur zwei Beispiele zu nennen: Wohl nicht ohne Anlaß schrieb etwa H.-G. Gadamer anläßlich einer Cusanus-Tagung den dort versammelten Forschern ins Stammbuch: »Es ist wie eine unausrottbare Voreingenommenheit, daß uns das Cusanische Denken hegelisch wiedertönt« (Gadamer, »Epilog«, in: MFCG 11 [1975], 276). Auf derselben Tagung bemerkte K. Meinhardt in der Dis-

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Einleitung

Doch welche Interpretationsmaxime läßt sich aus solchen Warnungen ableiten? Sollte man Eckhart und Cusanus am besten nicht mit Hegel vergleichen, wenn man ihnen gerecht werden will? Darf man sie allenfalls dann miteinander vergleichen, wenn auch ihre Unterschiede gebührend zum Ausdruck kommen? Aber wo genau liegen diese Unterschiede und welches Gewicht gebührt ihnen? Es gibt also Anlaß genug zu der Nachfrage, wie es denn mit etwaigen Unterschieden zwischen diesen drei Autoren bestellt ist. Ein Vergleich jedoch, der sich die Herausarbeitung von Unterschieden zum hauptsächlichen Ziel setzt, nimmt sich geradezu Selbstverständliches vor, wenn er damit nicht gar seinen eigenen Sinn und Zweck verfehlt. Denn offenbar dient ein Vergleich vornehmlich dazu, im Ungleichen eine Gemeinsamkeit zu entdecken und so das auf den ersten Blick irreduzible Ungleiche als gleich zu erweisen. Von daher darf ein Vergleich um so mehr Originalität und »Witz« für sich beanspruchen, je mehr er »das Verhältnis der Ähnlichkeit, d. h. teilweise Gleichheit, unter größere Ungleichheit versteckt« findet.3 Einem solchen gewitzten Vergleich gegenüber scheint nichts selbstverständlicher und uninteressanter zu sein, als daß man auf der ›Gegebenheit‹ bestimmter Gedanken beharrt, die für einen – noch dazu einen sogenannt großen – Denker typisch sind und mit dessen Eigennamen verbunden werden. Aber was genau an diesen Gedanken kann als einschlägig für Eckhart, Cusanus oder Hegel gelten? Handelt es sich bei solch typischen Gedanken in Wirklichkeit nicht eher doch um Nuancen innerhalb weit verzweigter Kontexte, in denen diese Denker verortet werden können: innerhalb der deutschen Dominikanerschule, des Deutschen Idealismus oder eines Denken des Einen? Bei dieser Frage hilft wohl kaum ein antipathischer Reflex weiter, der diese drei Autoren isoliert und nun zu eigenständigen Kraftgenies des Denkens stilisiert, an denen die Fortschritte in der Philosophie ablesbar werden. Daß denkerische Originalität kaum eine Frage der splendid isolation ist, wird wohl keinen Leser von Eckhart, Cusanus oder Hegel überraschen. Angesichts dieses irritierenden Wechselspiels zwischen Kontextgebundenheit und Selbständigkeit eines Denkens bietet es sich an, die systematischen Unterschiede an einem Gedanken festzumachen, an dem sich die systematische Verwandtschaft dieser drei Denker mit am deutlichsten gezeigt hat und der gleichwohl als typisch für einen jeden von ihnen gelten kann: am Gedanken der Negation des Absoluten. Alle drei verbindet eine Fragestellung, die sie mit aller Intensität entfalten: Welche Negationen sind dem Absoluten überhaupt zu eigen und angemessen? Diese Frage hat

kussion von J. Stallmachs Vortrag »Geist als Einheit und Andersheit«, es sei »jetzt eigentlich einmal ein Buch fällig über den Unterschied zwischen Cusanus und Hegel« (MFCG 11 [1975], 120). 3 Jean Paul, Vorschule der Ästhetik § 43, in: ders., Sämtliche Werke I/5, hg. von N. Miller, München 51987, 171/32–34.

Einleitung

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durchaus ihre Berechtigung, insofern diejenigen Negationen, die das Absolute selbst kennzeichnen sollen, nicht von derselben Art sein können, wie sie für das aus ihm Gewordene kennzeichnend ist. Denn sonst wäre etwa das Verhältnis zwischen dem Absoluten und dem Endlichen durch dieselbe Art von Gegensätzlichkeit zu bestimmen, wie sie für den Bereich des Endlichen bestimmend ist. Das Absolute würde sich vom Endlichen auf genau dieselbe Weise unterscheiden, wie sich dieses Endliche untereinander unterscheidet. Eine Beantwortung der Frage, welche Negationen das Absolute kennzeichnen, hängt demnach entschieden davon ab, daß die Zuschreibung von Negationen an das Absolute nicht zur Negation des Absoluten, zur Verkennung seiner Natur und seines Bezuges auf das aus ihm Gewordene, führt. Für die Frage, welchen Negationscharakter Negationen ›im‹ Absoluten haben, liegt daher wohl als erste Antwort nahe, daß diese Negationen des Absoluten selbst absolut sein müssen. Was aber heißt dies? Worin besteht genau der absolut negative Charakter dieser Negationen? Der Ausgangspunkt der folgenden Überlegungen ist diese einheitliche Frage nach den Negationen des Absoluten. Gezeigt werden soll, was diese drei Denker jeweils aus dieser Fragestellung machen: Sie gewinnen dieser einheitlichen Fragestellung ganz eigentümliche Facetten ab. Hierzu setzt jedes der folgenden Kapitel mit einem spezifischen Problem ein, in dem jene Fragestellung jeweils unverkennbar präsent ist. In Eckharts Fall ist dies das von ihm intensiv durchdachte Problem der Ununterschiedenheit, durch die sich Gott von allem Endlichen, Distinkten unterscheidet. Das Cusanus-Kapitel rückt den Gedanken der Koinzidenz in den Mittelpunkt, die als der Ineinsfall von Gegensätzen eben diese Gegensätze negiert. Der Abschnitt zu Hegel konzentriert sich auf das Problem des absoluten Anfangs der Wissenschaft, der jeder Bestimmung und Vermittlung durch das ihm Folgende enthoben ist. Für diese drei spezifischen Problemlagen (Ununterschiedenheit – Koinzidenz – Anfang) wird die Frage nach dem hier obwaltenden Negationscharakter insofern maßgebend, als diese Probleme nicht ohne die Bewußthaltung jener Frage angemessen bewältigt werden können. Ununterschiedenheit, Koinzidenz und logischer Anfang sind nicht verstehbar ohne die Beantwortung der Frage, welche Art von Negation die Ununterschiedenheit Gottes, den absoluten Ineinsfall von Gegensätzen und den absoluten Anfang auszeichnet. Mit der Beantwortung dieser Frage beschreiten diese drei Denker aber durchaus verschiedene und weitreichende Wege innerhalb eines einheitlichen Fragehorizontes: Eckhart führt dies zum Konzept einer (insbesondere auch ›lebensmeisterlich‹ oder ethisch relevanten) affirmativen Gleich-Gültigkeit, Cusanus zur Begründung der Andersheit und Gegensätzlichkeit des Endlichen in der absoluten Koinzidenz Gottes, Hegel zur immanenten Bewegung der Begriffe im logischen Anfang. Eckhart, Cusanus und Hegel kommen somit in der Frage nach den Negationen des Absoluten nicht zu demselben Ergebnis, sondern bewegen sich innerhalb desselben Fragehorizontes auseinander. Die Fragestellung wird, so ließe sich sagen, im

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Einleitung

Verlauf ihres philosophiegeschichtlichen Ganges in sich differenziert – und d. h.: aspektreicher unter Hintansetzung bereits gewonnener Aspekte. Daher geht es im folgenden auch um keine Erfolgs- oder Verfallsgeschichte im Umgang mit dem Gedanken der Negation ›im‹ Absoluten. Beide Male wäre dies eine Entwicklung, die − wenn auch unter jeweils gegensätzlichen Vorzeichen − ›von Eckhart zu Hegel‹ führen würde und bei der Cusanus als »Pförtner der Neuzeit« die goldene Mitte hielte. Zugespitzt gesagt: Es geht nicht um die Verleihung des ersten Preises an denjenigen Denker, der die »Wacht am Nein« (O. Marquard) des Absoluten denkerisch am besten bewältigt hat. Die denkerische Bewältigung eines Problems ist, fast überflüssig zu sagen, stets mit einem bestimmten Zugriff auf dieses Problem verbunden. Je entschiedener oder markanter dieser Zugriff erfolgt, desto mehr besteht die Chance, daß jenem Problem wirklich neue Facetten abgewonnen werden können. Neues entsteht dort, wo ein alter Gedanke gleichsam in den Sog eines intensiven Denkens gerät und damit produktiv anverwandelt, also eben auch umgestaltet wird. Daher bieten auch alte Gedanken immer wieder Neues: Sie sind erneuerbar – und erschöpfen sich nicht in der Alternative, daß eine bestimmte Gegenwart sie in ihrer vergangenen Form restauriert oder nur mehr als historische zur Kenntnis nimmt. Gerade die lange Geschichte von Erneuerungen, die ein philosophischer Gedanke hinter sich hat, zeigt, wie wenig er ein Instrument ist, auf dem sich, je nach Standpunkt, die ewig alten oder gar keine Weisen mehr spielen lassen. Nichts scheint daher vorschneller zu sein als das geläufige (und beinahe einem Denkverbot gleichkommende) Verdikt, daß ›man heutzutage nicht mehr so denken könne wie einst‹. Diesem Verdikt liegt zumeist eine simplifizierende Vorstellung über dieses ›Einst‹ zugrunde. Natürlich wird heute niemand mehr so denken wie einst. Aber das liegt nicht daran, daß ein Gedanke von einst ›einfach so‹ vergangen ist und als Denkinstrument nicht mehr taugt. Das ›Einst‹ dieses Gedankens ist viel zu facettenreich, als daß eine bestimmte Gegenwart über seine Vergangenheit endgültig entscheiden könnte. Auch die Renaissance eines philosophischen Gedankens verdankt sich daher kaum seiner immergleichen Wiederholung – mit der er sich dann irgendwann überlebt hat –, sondern seiner produktiven Wiederbelebung. In dieser Wiederbelebung hat er sein Nachleben, das allein sein Überleben sichert. Die eben skizzierte Problemstellung erschwert denn auch deren eindeutige Bestimmung als historisch oder als systematisch. Wenn diese Arbeit verschiedenen, historisch wirklich gewordenen Möglichkeiten nachgeht, wie ein spekulativer Gedanke in Anspruch genommen werden kann, so ist sie nicht an philosophiehistorischen Filiationen einer bestimmten Gedankenfigur interessiert. Gleichwohl bieten die nachfolgenden Untersuchungen keine systematisch erschöpfende Analyse des Problems ›der‹ absoluten Negation. Hierfür müßte erst einmal nachgewiesen sein, daß die drei hier behandelten Denker den Raum, in dem dieses Problem verhandelt wer-

Einleitung

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den kann, auch vollständig ausfüllen. Ein Surrogat für solch eine systematische Vollständigkeit könnte also doch die ständige Berufung auf historische Quellen sein, aus denen ein philosophischer Gedanke schöpft. Allerdings ist dieser Gedanke auch dann nicht hinreichend durchdacht, wenn alle oder nahezu alle seine Quellen namhaft gemacht sind. So läßt sich denn auch kein philosophischer Gedanke vollkommen in Historie auflösen. Er wäre sonst nichts weiter als ein faktisches Vorkommnis und damit von vornherein künftiger Schnee von gestern. Es ist ein historistischer Fehlschluß, von einem Gedanken, der Geschichte hat, darauf zu schließen, er sei damit zwangsläufig Geschichte. Dagegen ist, wie bereits angedeutet, die Konzentration dieser Arbeit auf das Nachleben eines Gedankens von der Überzeugung getragen, daß dieser Gedanke von neuerlichen Inanspruchnahmen lebt und nur durch diese überlebt. Die Arbeit versucht daher, jeder dieser Inanspruchnahmen ihr Eigenrecht zu belassen, ohne einen Bauchladen voller unverbindlicher Theorieangebote zu offerieren. Sie hätte ihr Ziel erreicht, wenn es ihr gelänge, drei in der Philosophiegeschichte angestellte Überlegungen zum Problem der absoluten Negation so zu Darstellung zu bringen, daß sie zur systematischen Klärung dieses Problems beitragen. Systematik ohne Historie ist blind, wenn sie meint, von den in der Denkgeschichte aufbewahrten Möglichkeiten absehen zu müssen, um einen konsistenten Gedanken entwickeln zu können. Historie ohne Systematik ist leer, wenn sie meint, einen Gedanken geschichtlich nur herleiten zu müssen, um dessen ›Bedeutsamkeit‹ konservieren zu können. Weder die eine noch die andere Herangehensweise macht einen philosophischen Gedanken im doppelten Sinn haltbarer.

I. MEISTER ECKHART

Meister Eckharts Werk war wiederholt Gegenstand interpretatorischer Vereinnahmungen und Fehden. Man kann und mag dies beklagen.1 Allerdings immunisiert eine solche Klage nicht schon gegen die Gefahr, daß nun auch die eigene Interpretation ein weiteres Beispiel der Vereinnahmung (für wen auch immer) abgibt oder daß sie Eckharts Werk als Zankapfel (wofür auch immer) instrumentalisiert. Die Intention der folgenden Bemerkungen ist es deshalb nicht, Meister Eckhart wieder einmal aus irgendwelchen interpretatorischen Verkrustungen und Überspinnungen zu befreien; vielmehr möchten sie ohne »Schaum vor dem Mund oder Tränen in den Augen«2 an bisher Geleistetes anknüpfen. Ob daher dieses Eckhart-Kapitel allein dadurch, daß es »sich eben nur in die Kette der Deutungsversuche« einreihen möchte, auch schon seine »Relativität« eingestehen und als »gescheitert« gelten muß,3 ist eine Frage, die getrost beiseite gesetzt werden kann: Selbst ein kritischer Bezug auf bisherige Forschungen relativiert diese durchaus nicht, da sie noch als ›Absetzungspunkte‹ essentiell für die Gewinnung und Konturierung des eigenen Standpunktes sind. Insofern pocht die vorliegende Eckhart-Deutung auch nicht auf eine selbstgenügsame und bezugslose Ursprünglichkeit ihrer Sicht als dem vermeintlichen Antidot gegen eine ihr drohende Relativität.4 Die Leitfrage für das Folgende wird sein, welcher Stellenwert dem Begriff der Negation – und zwar nicht nur im Sinne eines sprachlichen Operators, sondern auch Als eines der prominentesten Beispiele hierfür kann das bekannte Buch von Kurt Ruh gelten, das in seinem Vorwort Klage führt über »so verschiedene unvereinbare Eckhart-›Bilder‹«, zumal sich in Eckharts Werk »für alles Belege finden« ließen (K. Ruh, Meister Eckhart. Theologe, Prediger, Mystiker, München 21989, 9). 2 So charakterisiert der Kunsthistoriker Erwin Panofsky in einer brieflichen Äußerung den Interpretationsduktus eines Kollegen: »he writes either with foam on his mouth, or with tears in his eyes«. (Brief vom 29.05.1937 an A. H. Barr, in: E. Panofsky, Korrespondenz, Bd. II: 1937 bis 1949, hg. von D. Wuttke, Wiesbaden 2003, 39.) 3 B. Mojsisch, Meister Eckhart. Analogie, Univozität und Einheit, Hamburg 1983, 4. 4 Fraglich ist zudem, ob sprachlich und vor allem sachlich viel gewonnen ist, wenn die »Adäquatheit des Zugangs« zu Eckhart darin bestehen soll, »die Rücksichten aufzudecken, denen ein Denken explizit oder unausgesprochen verpflichtet ist, wobei noch gewußt wird, daß das Nachdenken der Rücksichten selbst wieder eine Rücksicht darstellt, sich jetzt aber nicht wieder als Gegenüber der aufzudeckenden Rücksichten im Sinne einer relevanteren Rücksicht etabliert, sondern allein darin sein Recht beansprucht, Entdecken der Rücksichten zu sein, und zwar unter der Rücksicht, sich selbst so zu berücksichtigen, daß im Aufdecken von Rücksichten die eigenen Rücksichten auch erst gewonnen werden.« (Mojsisch, Meister Eckhart [wie Anm. 3], 4.) Angesichts solcher äußerst rücksichtsvollen Maßnahmen erscheint selbst der − nicht gerade unter Positivismusverdacht stehende − Ruf »Zu den Sachen selbst!« als wohltuend naiv. 1

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I. Meister Eckhart

und vor allem in metaphysischer Hinsicht als Andersheit oder Unterschiedenheit – in Eckharts Einheitsdenken zukommt. Nun ist Eckhart innerhalb der mittelalterlichen oder gar europäischen Denkgeschichte gewiß nicht der erste, der es über dem Denken des Einen mit dem Problem der Negation zu tun bekommt. Für eine Hinsicht auf den Stellenwert der Negation innerhalb von Eckharts Werk ist aber zunächst nicht das ›Woher‹ und ›Wohin‹ dieses Problems lohnend,5 sondern erst einmal ein Blick in Eckharts Werk; zumal es so scheint, als habe »Eckhart den Begriff des Nichts bewußt gebraucht, ohne ihn freilich zu thematisieren«.6 Der erste Abschnitt widmet sich der radikalsten Differenz, die sich nach Eckhart denken läßt − derjenigen zwischen Gott und seiner Schöpfung. Insofern aber für Eckhart diese Differenz auf Gottes Ununterschiedenheit beruht, hat dies auch Konsequenzen für den Negationscharakter dieser Ununterschiedenheit Gottes. Der zweite Abschnitt geht dann der Frage nach, wie sich der Bezug des Menschen auf Gott und die Welt nach diesem Urbild von Ununterschiedenheit gestaltet. Der dritte Abschnitt schließlich beleuchtet den Status, den Eckhart der Relation selbst zumißt. Im Relationsbegriff Eckharts scheinen nämlich die beiden viel behandelten Theoriestücke ›Univozität‹ und ›Analogie‹ als besondere Ausprägungen der Relation gleichgültig zu werden.

1. Der Negationscharakter der Ununterschiedenheit Bekanntlich denkt Eckhart die Einheit Gottes als derart exklusiv gegenüber allen anderen, endlichen Formen von Einheit, daß von ihr jede Andersheit bzw. jeder Unterschied ausgeschlossen ist. Gottes Einheit ist für Eckhart daher gleichbedeutend mit seiner Ununterschiedenheit: »Deo autem nihil est alterum, utpote indistinctum«.7 Aber eben dieser Ausschluß von jeglicher Andersheit, diese absolute InFür eine solche Perspektive siehe etwa die beiden weit ausgreifenden Arbeiten von W. Hübener, »Die Logik der Negation als ontologisches Erkenntnismittel«, in: Positionen der Negativität, hg. von H. Weinrich, München 1975, 105−140; sowie »Scientia de Aliquo et Nihilo. Die historischen Voraussetzungen von Leibniz’ Ontologiebegriff«, in: Denken im Schatten des Nihilismus (FS W. Weischedel), hg. von A. Schwan, Darmstadt 1975, 34−54. (Beide Arbeiten sind wieder abgedruckt in: W.H., Zum Geist der Prämoderne, Würzburg 1985, 52−83; 84−100.) 6 B. Mojsisch, »Nichts und Negation. Meister Eckhart und Nikolaus von Kues«, in: Historia Philosophiae Medii Aevi. Studien zur Geschichte der Philosophie des Mittelalters, hg. von B. Mojsisch und O. Pluta, Amsterdam/Philadelphia 1991, II 675−693; hier 685. − Zum »Nichts« bei Eckhart vgl. neuerdings auch U. Kern, »Gottes Sein ist mein Leben«. Philosophische Brocken bei Meister Eckhart, Berlin/New York 2003, 137−211 (dort 139, Anm. 16 mit weiteren Literaturangaben). 7 in. Sap. n. 52 (LW II 379,3). Siehe etwa auch in Ex. n. 104 (LW II 106,1); n. 107 (LW II 107,8); in Sap. n. 144 (LW II 482,4); n. 155 (LW II 491,9 f.); n. 282 (LW II 614,13); in Ioh. n. 99 (LW III 85,13); Sermo II/1 n. 7 (LW IV 9,9); Sermo IV/2 n. 28 (LW IV 27,10 f.); Sermo X n. 103 (LW IV 98,10); Sermo XLIV/1 n. 438 (LW IV 368,4 f.). 5

1. Der Negationscharakter der Ununterschiedenheit

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Distinktion unterscheidet Gott zugleich radikal von allem Endlichen, das als Endlich-Bestimmtes immer auch anderes neben sich hat: »omne creatum, eo quod creatum, distinctum est, et per consequens alterum omni creato, utpote omni distincto.«8 Mehr noch, als einzigartiger hebt sich dieser Unterschied zwischen Gottes Einheit und den endlichen Formen von Einheit gegen die mannigfachen Unterschiede des Endlichen untereinander ab: plus distinguitur indistinctum a distincto quam quaelibet duo distincta ab invicem. Verbi gratia: plus distat non coloratum a colorato quam duo colorata ab invicem. Sed de natura dei est indistinctio, de natura et ratione creati distinctio. Ergo deus est distinctissimus ab omni et quolibet creato.9 Nun legt das Beispiel, mit dem Eckhart hier das Verhältnis von indistinctum und distinctum illustriert, die Annahme nahe, daß es Eckhart um eine Stufung von Andersheit oder Unterschiedenheit zu tun ist. Offensichtlich läßt sich nämlich der konträre Gegensatz zwischen zwei bestimmten Dingen, die sich etwa im Hinblick auf ihre Farbigkeit unterscheiden, zum kontradiktorischen Gegensatz zwischen dem Farbigen als solchen und dem Nicht-Farbigen steigern. Offenbar ist daher das Verhältnis zwischen der Unterschiedenheit der Schöpfung und Gottes Ununterschiedenheit als kontradiktorischer Gegensatz zu fassen.10 Sobald also Un- oder NichtUnterschiedenheit im formalen Sinne des einen, kontradiktorischen Gegensatzes zur mannigfachen konträren Unterschiedenheit des Kreatürlichen im Spiel ist, scheint dieser Gegensatz und damit sein Negationscharakter noch schärfer zu sein als bei einem Unterschied, der sich einer inhaltlich spezifizierbaren Unterschiedlichkeit, beispielsweise in der Farbigkeit, verdankt.

in. Sap. n. 52 (LW II 379, 1 f.) in Sap. n. 154 (LW II 489, 9–12); ähnlich auch in Ex. n. 113 (LW II 110,7–13). – Zum Problemkreis ›Unterschied durch Ununterschiedenheit‹ haben sich in unterschiedlicher Weise etwa geäußert: H. Hof, Scintilla animae. Eine Studie zu einem Grundbegriff in Meister Eckharts Philosophie mit besonderer Berücksichtigung des Verhältnisses der Eckhartschen Philosophie zur neuplatonischen und thomistischen Anschauung, Lund/Bonn 1952, 23 ff. J. Kopper, Die Metaphysik Meister Eckharts, Saarbrücken 1955, 48 ff. V. Lossky, Théologie négative et connaissance de dieu chez Maître Eckhart, Paris 1960, 261 ff. W. Beierwaltes, Platonismus und Idealismus, Frankfurt a. M. 1972, 39 ff., 61 ff.; ders., Identität und Differenz, Frankfurt a. M. 1980, 97 ff. G. von Bredow, Platonismus im Mittelalter, Freiburg 1972, 66 ff. Mojsisch, Meister Eckhart (wie Anm. 3), 88 ff. R. Hauke, Trinität und Denken. Die Unterscheidung der Einheit von Mensch und Gott bei Meister Eckhart, Frankfurt a. M. (u. a.) 1986, 44 ff. R. Manstetten, Esse est Deus. Meister Eckharts christologische Versöhnung von Philosophie und Religion und ihre Ursprünge in der Tradition des Abendlandes, Freiburg/München 1993, v.a. 214 ff. W. Goris, Einheit als Prinzip und Ziel. Versuch über die Einheitsmetaphysik des Opus tripartitum Meister Eckharts, Leiden (u. a.) 1997, 218 ff. 10 So etwa Hauke, Trinität und Denken (wie Anm. 9), 44: »Der konträre Gegensatz zwischen Unterschiedenem wird übertroffen vom kontradiktorischen Gegensatz zwischen Unterschiedenem und Ununterschiedenem.« 8 9

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1.1 Ununterschiedenheit und Negatio negationis In dieser Perspektive unterscheidet sich also Gott von seiner Schöpfung aufgrund seiner Ununterschiedenheit,11 wobei diese Ununterschiedenheit einen kontradiktorischen Gegensatz zur kreatürlichen Unterschiedenheit bezeichnet. Damit scheint jedoch diese Ununterschiedenheit nur einen weiteren, inhaltlich spezifizierten Aspekt darzustellen, unter dem sich Gott und seine Schöpfung vergleichend aufeinander beziehen lassen.12 Es wäre dann der Aspekt, sich von anderem zu unterscheiden, in dem Gott und seine Schöpfung grundsätzlich übereinkämen. Über dieser grundsätzlichen Gemeinsamkeit tritt der jeweilige Negationscharakter dieses SichUnterscheidens als modale Abschattung in den Hintergrund: »[D]enn das Geschaffene unterscheidet sich deswegen nicht vom Göttlichen, weil auch das Göttliche sich unterscheidet. Allerdings unterscheidet sich das Göttliche aufgrund seiner Ununterschiedenheit, während das Geschaffene sich aufgrund seiner Unterschiedenheit vom Ununterschiedenen unterscheidet.«13 Wenn sich demnach das absolut Ununterschiedene zwar immerhin aufgrund seiner Ununterschiedenheit, aber doch genauso wie das kreatürlich Unterschiedene unterscheiden würde, dann negierte zwar die Ununterschiedenheit als der Ausschluß von Vielheit das ›Daß‹ jeglicher Vielheit für und in Gott. Der formale Charakter dieser Negation würde sich jedoch nicht vom Negationscharakter unterscheiden, der für das Geschaffene kennzeichnend ist. Gottes Negation der Vielheit und die Negation der Ununterschiedenheit durch die Verschiedenheit des Geschaffenen kämen nebeneinander zu stehen. Ununterschiedenheit in diesem Sinne – als ein Ausschluß von Unterschiedenheit, der sich negativ, und sei es eben kontradiktorisch, auf diese Unterschiedenheit oder Vielheit bezieht – ist dann nicht mehr vorweg ein Signum der Göttlichkeit: creatura suo modo indistinctione distinguitur. Est enim indivisa in se, divisa ab aliis. Unde quo magis indivisa fuerit in se sive minus divisa, tanto magis est divisa ab aliis; et e contrario, quo magis ab aliis distinguitur, minus in se distinguitur. Primum per causam, secundum per signum.14

in Sap. n. 154 (LW II 490,7 f.): Deus autem indistinctum quoddam est quod sua indistinctione distinguitur. 12 So etwa Hauke, Trinität und Denken (wie Anm. 9), 46: »Von ›indistinctione distinctus‹ zu sprechen bezeichnet einen Aspekt«. Dem ließen sich unschwer weitere, inhaltlich spezifizierte Kontradiktionen an die Seite stellen, etwa in Sap. n. 282 (LW II 614,11): hoc et hoc omne sive quodlibet est creatum, deus autem increatus; in Sap. n. 39 (LW II 360,4 f.): hoc ipso, quod creaturae sunt multae, distinctae et inaequales, sequitur deus est indistinctus, non multus nec inaequalis. 13 Goris, Einheit als Prinzip und Ziel (wie Anm. 9), 226. 14 Sermo XXX/2 n. 317 (LW IV 278, 8–11). 11

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Mit anderen Worten: Je höher die intrinsische Ununterschiedenheit des Geschaffenen ist, desto mehr hat dies seine extrinsische Unterschiedenheit gegenüber anderem zur Folge (per causam); und umgekehrt: je mehr die Hinsichten werden, unter denen sich eine Kreatur von anderem absetzen läßt, desto mehr deutet dies (per signum) darauf hin, daß sie in höherem Grade in sich einheitlich (magis indivisa in se sive minus divisa) ist. Intrinsische Ununterschiedenheit ist hier der Grund (causa) für die Unterschiedenheit eines kreatürlichen Etwas gegenüber anderem. Insofern es stets ein Etwas ist, ist sein Etwas-Sein daher stets und zugleich Etwas-Nicht-Sein. Gilt dies nun auch für Gott? Ist seine Ununterschiedenheit in gleicher Weise Grund für seine Unterschiedenheit vom Geschaffenen? Gälte dies für Eckhart, dann zeichnete sich Gott in seiner Unterschiedenheit vom Geschaffenen zunächst und zuvor durch eine intrinsische Ununterschiedenheit aus: »Das Ununterschiedene, das sich durch Ununterschiedenheit unterscheidet, unterscheidet sich jedoch nicht von sich selbst, sofern es sich allein durch Ununterschiedenheit unterscheidet. Das Ununterschiedene ist somit von sich als vom Ununterschiedenen ununterschieden«.15 Gott wäre demnach zwar in sich ununterschieden und würde sich dadurch von allen Kreaturen unterscheiden Er wäre jedoch noch »nicht Ununterschiedenes schlechthin«.16 Um aber schlechthin ununterschieden sein und damit »seinem eigenen Anspruch« gerecht werden zu können, müßte Gott dann auch diese seine Andersheit gegenüber den Kreaturen – und d. h. zugleich: seine intrinsische Ununterschiedenheit – erst einmal aufheben, negieren. In dieser Perspektive könnte Gottes Ununterschiedenheit erst dann zu selbst sich kommen, wenn Gott als das in sich Ununterschiedene »sich auch von sich selbst unterscheidet und dennoch es selbst als Ununterschiedenes bleibt. Dieses Sich-von-sich-selbst-Unterscheiden ist nur möglich durch Unterschiedenheit.«17 Diese Selbst-Unterscheidung Gottes von seiner intrinsischen Ununterschiedenheit soll sich nun offensichtlich in Form einer Selbstapplikation auf eben diese Unterscheidung negativ zurückbeziehen: (1) Gottes negierender Selbst-Bezug auf seine Mojsisch, Meister Eckhart (wie Anm. 3), 90; Hervorh. StG. – Siehe auch Beierwaltes, Platonismus und Idealismus (wie Anm. 9), 61: »Das in sich differenzlose Sein Gottes (in se indistinctissimus) setzt jedoch im schöpferischen ›Überwallen‹ allererst Unterschiedenes (den Unterschied als Seiendes und im Seienden) und damit den Unterschied zu sich selbst […]. Darin zeigt sich seine Differenz vom Gegründeten; es differenziert nicht sich selbst, sondern das Seiende.« 16 Vgl. Mojsisch, Meister Eckhart (wie Anm. 3), 90: »Das Ununterschiedene ist aber nicht Ununterschiedenes schlechthin, wenn es nur insofern Ununterschiedenes ist, als es sich vom Unterschiedenen, und zwar durch seine Ununterschiedenheit, unterscheidet.« 17 Mojsisch, Meister Eckhart (wie Anm. 3), 90; Hervorh. StG. − Mojsisch entwickelt seine Lesart anhand von in Sap. n. 154 (LW II 490,4−10), einer Stelle, deren Schwierigkeiten auch Goris, Einheit als Prinzip und Ziel (wie Anm. 9), 224 ff. zu einer »Textkorrektur« veranlaßt hat und die weiter unten behandelt werden soll. Für den bisher entwickelten Zusammenhang ist zunächst nur die Frage entscheidend, welchen Stellenwert und Charakter die These von der Selbst-Unterscheidung des Ununterschiedenen der Negation zuspricht. 15

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intrinsische Ununterschiedenheit, die sich distinkt gegenüber der Schöpfung hält und verhält, hebt diese Ununterschiedenheit − genauer: die in dieser intrinsischen Ununterschiedenheit implizierte Andersheit gegenüber der Schöpfung − auf. (2) Die solchermaßen von Andersheit gereinigte Ununterschiedenheit negiert dann ihrerseits jene Selbstunterscheidung Gottes, welche eine Differenz in Gott setzte. Diese zweite Unterscheidung wäre demnach eine gegenüber dem Selbst-Unterschied, sie wäre Negation der Unterschiedenheit, mit der sich Gott von sich selbst unterscheidet. Das Absolute wäre also erst dann das schlechthin Ununterschiedene, wenn es auch noch dieses Sich-von-sich-selbst-Unterscheiden negieren würde: Nur so »wird es es selbst als Ununterschiedenes.«18 Der Unterschied in der Ununterschiedenheit hätte demnach eine konstitutive, die schlechthinnige oder absolute Ununterschiedenheit Gottes erst ermöglichende Funktion.19 Es wäre dann die Unterschiedenheit, durch die sich Gottes Ununterschiedenheit eigentlich erst konstituiert. Gottes Unterschiedenheit aufgrund seiner Ununterschiedenheit wäre zu denken als eine Spielart des doppelt negierenden Selbst-Bezuges: Gott negiert seine intrinsische Ununterschiedenheit so, daß zunächst deren Differenz zum Geschaffenen aufgehoben wird, auf daß dann jede Andersheit in und für Gott verneint wird. So verstanden, resultierte aus der Negatio Negationis bzw. aus diesem Sich-Unterscheiden von der Unterschiedenheit erst Gottes schlechthinnige Ununterschiedenheit. Nach dieser Auffassung bliebe in der Negatio negationis also durchaus ein kon-

Mojsisch, Meister Eckhart (wie Anm. 3), 90; Hervorh. StG. − Mojsisch formuliert diesen Zusammenhang etwas verklausuliert so: »Je mehr sich das Ununterschiedene aber von sich selbst durch Unterschiedenheit unterscheidet, umso mehr unterscheidet es sich von sich selbst als einem solchen, das sich von sich selbst durch Ununterschiedenheit unterscheidet, da sich das Ununterschiedene eben nur durch Ununterschiedenheit unterscheidet, umso mehr wird es es selbst als Ununterschiedenes.« Bezeichnenderweise spricht Mojsisch an anderer Stelle dann auch von einer »Prozessualität im Ungeschaffenen« als dem »Zentrum des Denkens Eckharts« (»Nichts und Negation« [wie Anm. 6], 683). − Im engen Anschluß an Mojsisch glaubt N. Winkler, daß Eckhart »die Negation als strukturierendes Prinzip in die Gottesbestimmung« aufnimmt. Denn, so Winkler weiter, »die Selbstvermittlung [Gottes] erheischt Selbstdistanzierung und zugleich Aufhebung der Selbstdistanzierung in einem. Dann aber ist ein solcher Gott nicht länger als starre, ursächliche Substanz zu begreifen, sondern als ein Gott, der im Selbstbezug eigentlich erst zu dem wird, was er sein soll« (N. Winkler, Meister Eckhart zur Einführung, Hamburg 1997, 42; Hervorh. StG). Abgesehen von der Frage, ob Eckhart die innerwie außertrinitarischen Relationen tatsächlich als Selbstdistanzierung denkt, so scheint vor allem die These vom ›werdenden Gott‹ dem Denken Eckharts nicht gerecht zu werden: Das Erste ist − und wird nicht − reich an sich selbst (primum est dives per se), wie Eckhart immer wieder unter Berufung auf die prop. XX des »Liber de Causis« betont. Daher kommt für Eckhart auch keine »absolute Negativität Gottes« in Frage, mit der dann die »Nichtbezüglichkeit seiner vollendet selbstbezüglichen Einheit« (ebd. 59) zum Ausdruck kommt. 19 Vgl. Mojsisch, Meister Eckhart (wie Anm. 3), 92: »Das Ununterschiedene erträgt es nicht nur, sich sogar von sich selbst zu unterscheiden, es erfordert vielmehr Unterschied überhaupt.« 18

1. Der Negationscharakter der Ununterschiedenheit

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stitutiver Negationscharakter erhalten − und dies entgegen solchen Eckhartischen Formulierungen wie: Nulla ergo negatio deo congruit: ›se ipsum negare non potest‹, Tim 2.20 ipsi [sc. deo] nulla privatio aut negatio convenit, sed propria est sibi, et sibi soli, negatio negationis, quae est medulla et apex purissimae affirmationis, secundum illud: ›ego sum qui sum‹, Exodi 3, sicut ibidem plene exposui, sed ›nec se ipsum negare potest‹, Tim. 2. Negaret autem se ipsum esse, si vel ipsi aliquid deesset vel ipsum alicui deesset.21 In diesen Sätzen scheint Eckhart gerade nicht nur einen negativen Bezug Gottes auf eine Andersheit oder Unterschiedenheit im Auge zu haben, die allein auf der sachhaltigen Ebene der negierten ›Objekte‹ oder Momente anzusiedeln wäre. Intendiert ist mit solchen Aussagen offensichtlich auch und vor allem ein Vorbehalt gegenüber einem jeglichen negierenden Charakter in und für Gott. Insbesondere die zuletzt angeführte Stelle bietet dafür ein bemerkenswertes Beispiel, insofern Eckhart dort Ex. 3,14 »ego sum qui sum« – seine biblische Paradestelle für die Negatio negationis – mit 2 Tim. 2,13 auf bezeichnende Weise engführt: (1) Zunächst schließt Eckhart von Gott jede Privation oder Negation auf der sachhaltigen Ebene aus: »ipsi [sc. deo] nulla privatio aut negatio convenit«. Anders gesagt: Eckhart schließt von Gott all das aus, was der Sache nach Negatives oder Privatives impliziert oder ist – also etwa, so könnte man ganz nach traditionellem Verständnis anführen, das Vermögen zu sündigen.22 (2) In diesem Sinne kann Gott die Verneinung oder der Ausschluß von allem, was der Sache nach Negatives und Privatives meint oder ist, zugesprochen werden: »propria est sibi, et sibi soli, negatio negationis«. (3) Dieser objektbezogene Ausschluß von Negativem und Privativem aus Gott wird dann mit Verweis auf Ex. 3,14 als »medulla et apex purissimae affirmationis« apostrophiert. In dieser Perspektive meint die reine Affirmation immer noch den Ausschluß von Negativem durch Gott; genauer: in dieser Perspektive behauptet Eckhart offenbar von Gott, er schließe die Negation, d. h. der Sache nach Negatives, von sich aus (negatio negativi). (4) Diese seine aus Ex. 3,14 abgeleitete Behauptung über Gottes Negation des Negativen überbietet Eckhart aber nochmals, indem er nun der Negatio negationis als der »medulla et apex purissimae affirmationis« mit 2 Tim. 2,13 auch jeglichen negierenden Charakter abspricht: »sed nec se ipsum negare potest«. Äußerst bezeichnend ist dabei die kleine, aber entscheidende Akzentverschienung, die Eckhart gegenüber dem Text der Vulgata – »negare se ipsum non potest« (›er kann sich selbst nicht verleugnen‹) – vornimmt: »sed nec se ipsum negare potest«. Eckhart gewinnt mit dieser

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in Ex. n. 74 (LW II 78,1 f.). in Ioh. n. 207 (LW III 175,5−10). Vgl. etwa Thomas von Aquin, De potentia dei, q. 1 a. 6 c.

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Akzentverschiebung einen Sinn aus dem biblischen Wort, der der zunächst behaupteten Verneinung sachhaltiger Negationen durch Gott nun auch den Akt des Negierens abspricht: Gott kann nicht nur nicht sich selbst verneinen (negare se ipsum non potest) – damit wäre nur gesagt, dass Gott zwar nicht sich, doch aber Anderes verneinen kann. Eckhart meint hier aber offensichtlich mehr: Gott selbst kann überhaupt nicht verneinen (sed nec se ipsum negare potest). Anders gesagt: Eckhart geht nicht nur davon aus, daß Gott eine sachhaltige Negation oder Negativität für sich nicht zuläßt, d. h. verneint, sondern er schließt vielmehr von Gott jeden Akt des Negierens − d. h. jede negative Bezugnahme auf etwas − von vornherein aus.23 Gott braucht daher nicht etwas zu verneinen, was in sich nichts ist (z. B. die Vielheit) oder bloß als Moment an ihm selbst (z. B. das alius von Gottsohn24) zu begreifen wäre. Hätte Gott in diesem Sinne etwas zu verneinen, so wäre dies ein Anzeichen dafür, daß neben und außer ihm etwas zu stehen käme, das dann auch verneint werden könnte oder gar müßte. Eine Verneinung in oder durch Gott wäre dann Anzeichen seines Mangels. Wenn also Gott einen solchen Mangel aufwiese (und dazu ist nach der obigen Deutung wohl auch die zunächst nicht-schlechthinnige Ununterschiedenheit Gottes zu zählen), würde − ja, müßte − Gott sich selbst bzw. etwas an ihm selbst verneinen.25 Siehe z. B. auch in Eccl. n. 60 (LW II 289,5 f.): in ipso deo nullum prorsus locum habet negatio; est enim ›qui est‹ et ›unus est‹, quod est negatio negationis. Wenn demnach ›die Verneinung in Gott schlechterdings keinen Platz hat‹, so ist hier mit »negatio negationis« nicht nur der Ausschluß von sachhaltig Negativem, sondern auch eines jeglichen negierenden Aktes gemeint. − Diese Frage nach dem Negationscharakter der Negatio negationis scheint mir auch in U. Kerns jüngstem Buch nicht genügend beantwortet zu sein. Innerhalb seiner breiten Darstellung des Nichts bei Eckhart schreibt Kern dort: »Die negatio negationis als ausschließliches Datum Gottes ist abgrundtief von jeder negatio geschieden. Gott als ipsum esse ›kann sich selbst nicht verneinen (nec se ipsum negare potest), 2. Tim. 2,13‹ [= in Ioh. n. 207; LW III 175,7 f.]. Negatio und negatio negationis sind durch die fundamentale Differenz zwischen distinguierter Schöpfung und dem einen Gott […] unüberbrückbar voneinander getrennt. Die negatio negationis dei ist in keinster Weise Negation, sondern vielmehr reinste Affirmation« (Kern, »Gottes Sein ist mein Leben« [wie Anm. 5], 180 f.). Wie aber ist es zu verstehen, daß Gottes Negatio negationis »in keinster Weise Negation« ist, wenn durch sie zugleich eine unüberbrückbare, abgrundtiefe oder fundamentale Differenz gesetzt wird? 24 Vgl. vorläufig etwa in Ioh. n. 7 (LW III 8,8 f.): Filius est enim qui fit alius in persona, non aliud in natura. 25 Nebenbei bemerkt, erschöpft diese Akzentuierung, die Eckhart hier am biblischen Wort von 2 Tim. 2,13 vornimmt, bei weitem nicht die Nuancen, die er diesem Wort sonst noch angedeihen läßt. »Se ipsum negare non potest« heißt für Eckhart etwa auch: (1) Gott kann sich selbst nicht verneinen, d. h. er muß sein absolutes Sein nicht einschränken oder negieren, um erst dadurch Anderes setzen oder sein lassen zu können: Nulla ergo negatio deo congruit: ‹se ipsum negare non potest‹, Tim. 2. Esse non potest negare esse se ipsum [!] esse: »nihil se ipsum deserit« (in Ex. n. 74; LW II 78,1−3). (2) Gott kann sich daher keinem verweigern oder versagen, wie er auch nichts verweigern kann (in Ex. n. 74; LW II 78,3: Propter quod etiam nulli se negare potest […]. Iterum etiam nihil negare potest). Würde Gott als das absolute Sein einem (Anderem) sich verweigern oder etwas versagen, so wäre erstens Gott selbst etwas versagt (aliquid negatum esset); es gäbe zweitens Anderes, was Gott versagt bliebe, und drittens Anderes, dem Gott etwas verweigern müßte: Sicut ipsi esse nihil negatum est, sic 23

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1.2 Selbstunterscheidung oder Ununterscheidbarkeit? Nun stützt sich die These von der Selbst-Unterscheidung des Ununterschiedenen auf eine der bekanntesten Passagen Eckharts, in der er auf komplexe Weise die gleichzeitige Unterschiedenheit und Ununterschiedenheit Gottes von seiner Schöpfung (»nihil tam distinctum a […] creato, sicut deus, et nihil tam indistinctum«26) thematisiert und argumentativ reflektiert. In formaler Hinsicht baut Eckhart diesen Gedanken so auf, daß er zunächst drei Argumente für die Unterschiedenheit Gottes von seiner Schöpfung anführt und diesen wiederum drei Argumente für die Ununterschiedenheit Gottes und seiner Schöpfung folgen läßt.27 Innerhalb dieses Gedankenganges ist es nun vor allem das dritte, abschließende Argument für die Unterschiedenheit Gottes von seiner Schöpfung, das jene These von der Selbst-Unterscheidung des Ununterschiedenen untermauern soll28 und das zugleich eine alternative Deutung zu dieser These hervorgebracht hat.29 Dieses dritte Argument läßt sich in vier Schritte gliedern: Tertio sic: [1.] omne quod indistinctione distinguitur, quanto est indistinctius, tanto est distinctius; distinguitur enim ipsa indistinctione. [2.] Et e converso, quanto distinctius, tanto indistinctius, quia distinctione sua distinguitur ab indistincto.

et ipsum esse nulli se negat − ›se ipsum negare non potest‹ − et nihil negat (in Ex. n. 74; LW II 78,6−8). (3) Angesichts dieser mannigfachen Nuancen, die Eckhart dem negare in 2 Tim. 2,13 entnimmt (›verneinen‹, ›sich verweigern‹, ,versagt sein‹), sei als unausgewiesene Behauptung zumindest vermerkt, daß Eckharts Engführung der negatio negationis mit 2 Tim. 2,13 sich in seinem deutschen Terminus versagen des versagennes (Pr. 21; DW I 361,13) widerspiegelt. Insofern Eckhart Gott nicht nur als Ausschluß von sachhaltig Negativem (negatio negativi) denkt, sondern diesen Ausschluß auch nicht als veneinenden Charakter denkt (sed nec negare potest), bleibt Gott als dem versagen des versagennes auch der Akt des Verneinens versagt: nec se ipsum negare potest. (Daß Eckhart versagen im Sinne von ›versagt sein‹ gebraucht, vgl. Pr. 79; DW III 366,2: daz ist allen crêatûren versaget.) Der deutsche Terminus hält sich also aufgrund des Verbalsubstantivs versagen unentschieden zwischen negatio und negare; er changiert zwischen negatio negati, negatio negandi und deo negatum est (se) negare. Damit soll aber ausdrücklich nicht behauptet sein, daß Eckhart ›der‹ Volkssprache einen »Mehrwert« gegenüber seinem Latein zudiktiert. Vielmehr bündelt hier allenfalls ein deutscher Terminus (unter Ausnutzung von im Deutschen gegebenen grammatischen Möglichkeiten) etwas, was auch die entsprechend lateinischen Formulierungen auf äußerst komplexe und adäquate Weise zur Sprache bringen. 26 in Sap. n. 154 (LW II 489,7 f.). 27 in Sap. n. 155 (LW II 490,11 f.): Rursus vero et hoc notandum quod nihil tam unum et indistinctum quam deus et omne creatum. Ratio est triplex, ut prius in opposito [sc. quod deus est distinctissimus ab omni et quolibet creato; vgl. in Sap. n. 154 (LW II 489,12)]. 28 Siehe Mojsisch, Meister Eckhart (wie Anm. 3), 88−92. 29 Für diese alternative Lesart des Eckhartischen Arguments siehe Goris, Einheit als Prinzip und Ziel (wie Anm. 9), 225 ff.

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[3.] Igitur quanto distinctius, tanto indistinctius; et quanto indistinctius, tanto distinctius, ut prius. [4.] Deus autem indistinctum quoddam est quod sua indistinctione distinguitur […]. Est enim pelagus infinitae substantiae et per consequens indistinctae […].30 Einigkeit dürfte zunächst darin bestehen, daß die beiden ersten Gedankenschritte Eckharts augenscheinlich parallel gebaut sind: Sie spannen jeweils eine proportionale Abhängigkeit zwischen Ununterschiedenheit und Unterschiedenheit auf (nach dem Muster: ›je mehr A, desto mehr B‹). Für diese beiden Proportionen wird dann jeweils eine Begründung angegeben: »distinguitur enim …«; »quia … distinguitur«. Das Verhältnis zwischen diesen beiden Proportionen scheint Eckhart zudem als gleichwertig, da umkehrbar aufzufassen: »Je ununterschiedener, desto unterschiedener ist es.« − »Und umgekehrt (et e converso): Je unterschiedener, desto ununterschiedener ist es.« Eckharts erster Gedankenschritt gilt nun »allem, was sich durch Ununterschiedenheit unterscheidet« (omne quod indistinctione distinguitur); von diesem gilt: Je ununterschiedener es ist, desto unterschiedener ist es (quanto est indistinctius, tanto est distinctius). Hierbei fällt auf, daß Eckhart es unterläßt, diese Unterschiedenheit des Ununterschiedenen eindeutig in ihrem negativen Bezug zu bestimmen: Wovon sich jenes Ununterschiedene unterscheiden soll, wird hier offengelassen. Denkbar sind hier immerhin zwei Möglichkeiten: Entweder unterscheidet sich all das, was ununterschieden ist, von anderem (ab aliis) oder aber von allem Unterschiedenen (ab omni distincto). Diese Alternative wiederum wirft die Frage auf, wer eigentlich als Subjekt dieser Aussagen in Frage kommt, wer also mit »omne quod indistinctione distinguitur« gemeint ist: Ist hier Gott allein oder ist damit auch, ja vielleicht nur das Geschaffene gemeint? Wenn nun gemeint sein sollte, daß sich alles Ununterschiedene von anderem unterscheidet, dann wird hier wohl zunächst die intrinsische Ununterschiedenheit des Geschaffenen und mithin seine Differenz zu anderem zur Sprache gebracht: es unterscheidet sich ja gerade durch Ununterschiedenheit in sich (distinguitur enim ipsa indistinctione) von allem anderen, ebenfalls in sich Ununterschiedenen.31 in Sap. n. 155 (LW II 490,4−10). Ich folge hier Goris, Einheit als Prinzip und Ziel (wie Anm. 9), 224 f. in der Aufgliederung des Eckhartischen Gedankengangs. Anders als Goris nehme ich allerdings die beiden zuletzt zitierten Sätze als einen vierten Schritt hinzu. 31 Diese Differenz gegen über anderem aufgrund von intrinsischer Ununterschiedenheit scheint aber auch für Gott zu gelten; vgl. Sermo IV/1 n. 28 (LW IV 28,5 f.): Deus est in se indistinctissimus secundum naturam ipsius, utpote vere unus et propriissime et ab aliis distinctissimus. Es ist aber vielleicht nicht bloß eine Überstrapazierung des Wortlautes dieser Stelle, wenn die Superlative indistinctissimus bzw. distinctissimus mich zunächst zögern lassen, das komparativische Verhältnis im Sapientia-Kommentar quanto est indistinctius, tanto est distinctius vorbehaltlos auf einen Unterschied 30

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Genausowenig kann aber ausgeschlossen werden, daß hier Gott, und nur er allein, gemeint sein muß, der durch seine Ununterschiedenheit gegenüber allem kreatürlich Unterschiedenen sich eben auch von diesem unterscheidet. Es besteht aber noch eine weitere Möglichkeit: Da, wie Eckhart an anderer Stelle seines Sapientia-Kommentars formuliert, »Gott ununterschieden ist, und die (menschliche) Seele es liebt, ununterschieden zu sein, d. h. eins zu sein und zu werden mit Gott«,32 kann der erste Schritt in Eckharts Argument durchaus auch einen Gedanken darstellen, der eine »pura, devota et utilis veritas, valens ad informationem morum, ad contemptum mundi, ad amorem dei et ipsum solum amandum«33 enthält. Je mehr also die Seele durch Ununterschiedenheit unterschieden ist vom Unterschiedenen − gegenüber dem »hoc et hoc«, von dem ja gilt: »distinctum est et distinctionem nominat et sapit«34 −, umso mehr ist sie abgeschieden (distinctius). Erst mit dieser Ununterschiedenheit gegenüber allem »hoc et hoc« ist die Seele abgeschieden: »distinguitur enim ipsa indistinctione«.35 Was nun den Negationscharakter angeht, der mit jenen Formen eines Unterschiedes durch Ununterschiedenheit verbunden ist, so kann wohl nur unsere erste Lesart diesen eindeutig für sich beanspruchen: Nur die Kreatur, die in sich ununterschieden und dadurch von anderem unterschieden ist, negiert auch anderes. Für diese intrinsische Ununterschiedenheit ist Negation konstitutiv. Dagegen scheint der Negationscharakter im Falle von Gottes Ununterschiedenheit bzw. der Ununterschiedenheit der abgeschiedenen Seele von grundsätzlich anderer Art zu sein: Ununterschiedenheit gegenüber dem Unterschiedenen negiert zuvor und zunächst nichts – weder (etwas an) sich selbst noch anderes. Mit anderen Worten: Daß Gott bzw. die abgeschiedene Seele gegenüber dem kreatürlich Unterschiedenen ununterschieden sind, meint daher weder ihre (pantheistische) Ununterscheidbarkeit vom kreatürlich Unterschiedenen, welche mittels der Selbst-Negation ihres intrinsischen Ununter-

Gottes aufgrund seiner Ununterschiedenheit in sich zu übertragen: Gott nähme dann den höchsten Grad innerhalb der Reihe von allem Unterschiedenen ein, das sich durch intrinsische Ununterschiedenheit gegenüber anderem absetzt. 32 in Sap. n. 282 (LW II 614,13−615,1): Deus autem indistinctus est, et anima amat indistingui, id est unum esse et fieri cum deo. 33 Proc. Col. I n. 150 (LW V 304,5−7). 34 in Sap. n. 282 (LW II 615,1 f.). 35 Weder Mojsisch noch Goris erwägen diese Alternativen, vielmehr steht für sie offenbar von vornherein fest, daß Gott allein es ist, der »in der Aussage (1) als Subjekt auftritt« (Goris, Einheit als Prinzip und Ziel [wie Anm. 9], 226). Diese Festlegung hat aber weitreichende Konsequenzen für die Deutung des Eckhartischen Gedankens. Akzeptiert man aber diese Festlegung nicht, so kann nicht nur die Komplexität des Eckhartischen Gedankens erfaßt, sondern auch, so scheint mir, allererst die Diskrepanz von Goris’ und Mojsischs Interpretation verständlich gemacht werden. Anders gesagt: Daß die Komplexität von Eckharts Gedanken Grund für die Diskrepanz jener Interpretationen ist, liegt nicht daran, daß irgendeine Schwerverständlichkeit von Eckharts Gedankengang den Scharfsinn jener Interpreten überforderte, sondern vielmehr daran, daß Eckharts Gedankengang in einem essentiellen Sinn mehrdeutig lesbar ist. Weiteres dazu im Anschluß.

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schieden-Seins oder Selbst-Seins erreicht werden könnte; noch meint dies eine Negation oder Aufhebung des kreatürlich Unterschiedenen durch die Ununterschiedenheit Gottes bzw. der abgeschiedenen Seele. In dieser absoluten Affirmation liegt keine Negation, nicht einmal in der Form, daß die Aufhebung von bzw. ein negierender Bezug auf Differenz oder Negativität konstitutiv wäre für eine derartige Ununterschiedenheit oder absolute Affirmation.36 Es ist jedoch vor allem der zweite Schritt in Eckharts Gedankengang, der zu interpretatorischen Differenzen geführt hat. Am wenigsten Anlaß zu Problemen bietet hierbei wohl der Beginn dieses zweiten Schrittes, der die anfangs festgestellte proportionale Abhängigkeit der Unterschiedenheit von der Ununterschiedenheit umkehrt: »Und umgekehrt: Je unterschiedener, desto ununterschiedener (ist alles, was sich durch Ununterschiedenheit unterscheidet)«.37 Die eigentlichen Verständnisschwierigkeiten und interpretatorischen Differenzen beginnen erst mit der Begründung, die Eckhart hier für die proportionale Abhängigkeit der Ununterschiedenheit von der Unterschiedenheit liefert: »Je unterschiedener, desto ununterschiedener (ist alles, was sich durch Ununterschiedenheit unterscheidet); denn es unterscheidet sich durch seine Unterschiedenheit vom Ununterschiedenen (quia distinctione sua distinguitur ab indistincto).« Dafür also, daß alles, was sich durch Ununterschiedenheit unterscheidet, sich eben auch unterscheiden kann, soll nun auf einmal seine Unterschiedenheit vom Ununterschiedenen den Grund abgeben. Daß der Negationscharakter für das hier geltend gemachte Unterscheiden des Ununterschiedenen offensichtlich eine konstitutive Rolle spielt, scheint der springende Punkt für die interpretatorischen Divergenzen zu sein. Bezieht man nämlich jene Umkehrung genau wie den ersten Gedankenschritt einsinnig auf Gott, dann unterscheidet sich Gott als das Ununterschiedene »durch seine Unterschiedenheit sogar von sich selbst als vom Ununterschiedenen«38. Genau umgekehrt präsentierte sich

Vgl. dazu vorläufig etwa Beierwaltes, Identität und Differenz (wie Anm. 9), 103: »Die Gemeinsamkeit Gottes mit dem Seienden oder die durch dessen eigene Wesens-Einheit im Akt des Gründens aufgehobene [!] Differenz zu ihm, die höchstmögliche Annäherung an das Seiende also ist seine Differenz.« Hätte demnach Gott im Akt des Gründens eine Differenz zum Seienden allererst aufzuheben oder zu negieren? So verstanden, wäre wohl dieser Akt des Gründens eine Aufhebung von Differenz − eine Aufhebung, die erst Gottes Schöpfungsakt zu etwas Differentem, etwa gegenüber allen anderen Formen des Hervorbringens (factiones), ›macht‹. Schöpfung wäre nach Eckhart dann zu denken zunächst als eine Art factio im Sinne einer Setzung von anderem Sein; der Unterschied zu einer ›gewöhnlichen‹ factio bestünde dann in einer gleichzeitigen Aufhebung eben dieser Setzung. Der Schöpfergott wäre dann das Eine, »das kein Anderes (sich gegenüber) hat, weil es selbst das von Allen durch absolute Negativität Verschiedene ist« (ebd. 99 mit Anm. 16; Hervorh. StG). 37 Es sei daran erinnert, daß Subjekt dieser Umkehrung immer noch das von Eckhart unbestimmt gelassene »omne quod indistinctione distinguitur« ist. 38 Mojsisch, Meister Eckhart (wie Anm. 3), 90; Hervorh. StG. Kursiviert ist hier die Ergänzung, die Mojsisch gegenüber dem Eckhartischen Wortlaut vornimmt: »distinctione sua distinguitur ab indistincto.« 36

1. Der Negationscharakter der Ununterschiedenheit

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nach dieser Deutung die Situation im ersten Schritt: Dort unterscheidet sich Gott durch ›bloße‹, nicht-schlechthinnige Ununterschiedenheit noch nicht von sich selbst, sondern ›nur‹ gegenüber dem kreatürlichen Unterschiedenen. Diese Deutung ignoriert zunächst die Tatsache, daß es sich bei all diesen Aussagen Eckharts um Argumente für die Unterschiedenheit Gottes von seiner Schöpfung, nicht aber um Bemerkungen über innertrinitarische Verhältnisse handelt.39 Mit dieser Deutung ist aber ein noch gravierenderes Problem verbunden: Dieses besteht in ihrer undifferenzierten, da unterschiedslosen Anwendung des Negationsbegriffes auf die Ununterschiedenheit Gottes und auf die Ununterschiedenheit des Geschaffenen. Denn Gott hätte seine Ununterschiedenheit deswegen zu negieren, weil diese sich zunächst so verhielte oder strukturiert wäre wie die intrinsische Ununterschiedenheit des Geschaffenen: als eine Ununterschiedenheit, die einen Unterschied zu etwas Bestimmten – und sei es zum kreatürlich Unterschiedenen insgesamt – impliziert.40 Eine andere Lesart von Eckharts zweitem Gedankeschritt stößt sich nun gerade an dem Negationscharakter, den Eckhart hier offensichtlich für »alles, was sich durch Ununterschiedenheit unterscheidet«, behauptet: »Denn es unterscheidet sich ja durch seine Unterschiedenheit vom Ununterschiedenen.« Dieses Unbehagen wird zum Anlaß für eine »Textkorrektur«: Diese Feststellung ist der Ansatzpunkt für Goris’ Kritik an Mojsischs Deutung. Vgl. dazu Goris, Einheit als Prinzip und Ziel (wie Anm. 9), 226: »Es scheint mir, daß das Verhältnis von Einheit und Unterschied in der Trinität nicht mit diesem Gegensatz [von Gott und seiner Schöpfung] gleichgesetzt wird oder gleichgesetzt werden sollte.« 40 Vgl. nochmals Mojsisch Rede davon, daß das Ununterschiedene »aber nicht Ununterschiedenes schlechthin [ist], wenn es nur insofern Ununterschiedenes ist, als es sich vom Unterschiedenen, und zwar durch seine Ununterschiedenheit, unterscheidet« (Meister Eckhart [wie Anm. 3], 90; Hervorh. StG). Ununterschiedenheit (indistinctio) wäre dann abstrakte und leere Unbestimmtheit gegenüber allem Bestimmten, die es für Gott noch aufzuheben gälte (mittels der Selbst-Negation seiner ›noch‹ unbestimmten Ununterschiedenheit). Der Unterschied Gottes zu seiner Schöpfung und zu ihrer Bestimmtheit liegt jedoch nicht darin, daß Gottes Ununterschiedenheit zunächst jene leere und abstrakte Unbestimmtheit gegenüber der Bestimmtheit seiner Schöpfung wäre, sondern gerade darin, daß Gott als Ununterschiedener omnia in omnibus, d. h. gleich-gülig liebender – oder metaphysisch ausgedrückt: einheitsstiftender – Bezug zu allem, ist: dic quomodo deus est unum, quia unum cuiuslibet, indivisus a quolibet, indistinctus; amor enim nunquam deserit. Secus de quolibet creato quod est distinctum a quolibet, et ideo non facit unum, non unit, sed potius elongat sive dividit a deo, ab uno. Quomodo enim non-unum, duo aut multum facerent unum? (Sermo XLIV/1 n. 438; LW IV 368,4–8). Eckharts zuletzt zitierte Frage ist durchaus auch lesbar als Skepsis gegenüber einer absoluten Negation im ununterschiedenen Einen – gesetzt den Fall, er hätte jemals so etwas im Auge gehabt. Wie nämlich sollte sich das, was sich als Ununterschiedenes zunächst und zuvor als distinkt gegenüber dem Bestimmten zeigt, jemals vereinigen, d. h. zum schlechthin Ununterschiedenen aufheben können? Etwa dadurch, daß für Eckhart der Eine Gott »sich in den [bestimmten, kreatürlichen] Einheiten mit sich selbst vermittelt«? Dann droht freilich als ›Ergebnis‹ dieser Selbstvermittlung Gottes eine schlechte Unendlichkeit: »Da die Einheit [Gottes] sich aber nur in der Unendlichkeit der [geschaffenen, numerischen] Einheiten erschöpft, erschöpft sie sich einzig in der Unabschließbarkeit ihrer eigenen Prozessualität« (Mojsisch, op. cit. 91; Hervorh. StG). 39

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»Und umgekehrt: je mehr etwas unterschieden ist, umso mehr ist es ununterschieden, da es durch seine Unterschiedenheit nicht vom Ununterschiedenen unterschieden ist« – wir würden also indistinguitur statt distinguitur lesen. […] Denn erst indem etwas aufgrund seiner Unterschiedenheit indistinguitur [also: ununterschieden ist], ergibt sich, daß etwas umso mehr ununterschieden ist, je mehr es unterschieden ist.41 Mit dieser Emendation hätte auch diese Lesart die Umkehrung, die Eckhart mit seinem zweiten Schritt vornimmt, gerettet, wenn auch in anderer Weise als die erste Lesart. Nach diesem Deutungsansatz scheint es sich bei der Umkehrung um einen Perspektivenwechsel zu handeln, den Eckhart beim Übergang von seinem ersten zum zweiten Schritt vornimmt. War nämlich im ersten Schritt von Gott die Rede, dessen Unterschiedenheit auf seiner Ununterschiedenheit beruht, so spricht der zweite Schritt nun vom Geschaffenen, dessen Ununterschiedenheit gegenüber Gott eben auf seiner Unterschiedenheit beruht: »Versteht man das Geschaffene als Subjekt einer korrigierten Aussage (2), so ist gemeint, daß das Geschaffene sich aufgrund seiner Unterschiedenheit nicht vom Göttlichen unterscheidet.«42 Auch für diesen Deutungsansatz scheint der Aspekt der Unterschiedenheit die konstitutive Rolle für die Ununterschiedenheit von Gott und seiner Schöpfung zu spielen. Diesmal aber ist es nicht Gottes noch unbestimmte Ununterschiedenheit, die Gott seinerseits negieren muß, um schlechthin ununterschieden zu sein oder besser: zu werden. Diesmal soll die Ununterschiedenheit von Gott und Schöpfung gerade darin liegen, daß beide sich gleichermaßen unterscheiden: »Das Geschöpf, das sich vom Ununterschiedenen unterscheidet, kann aufgrund seiner Unterschiedenheit nicht mehr vom Ununterschiedenen, das aufgrund seiner Ununterschiedenheit unterschieden ist, unterschieden werden«.43 Diese Ununterschiedenheit von Gott und seiner Schöpfung meint also ihre Ununterscheidbarkeit (indiscernibilitas), die sich in einem gemeinsamen Merkmal von Gott und seiner Schöpfung manifestiert. Beiden eignet eine Unterschiedenheit, bei der der jeweilige Negationscharakter dieser ihrer Unterschiedenheit nicht mehr ins Gewicht fällt. Mit jener »Textkorrektur« verwandelt sich jedoch das von Eckhart gesuchte Argument für die Unterschiedenheit Gottes von seiner Schöpfung in eines für ihre Ununterschiedenheit (oder eher für ihre Ununterscheidbarkeit). Mehr noch: Diese »Textkorrektur« führt sich selbst ad absurdum, wenn sie ihren offen eingestandenen

41 Goris, Einheit als Prinzip und Ziel (wie Anm. 9), 226. – Von sekundärem Belang erscheint mir, daß Goris’ Konjektur indistinguitur in textphilologischer Hinsicht als nicht unproblematisch erscheinen könnte angesichts der Tatsache, daß Eckhart das ungewöhnliche Wort indistinguitur nur an zwei Stellen seines Werkes gebraucht. Vgl. in Sap. n. 282 (LW II 614,13); sowie ebd. n. 155 (LW II 491,6 f.). 42 Goris, Einheit als Prinzip und Ziel (wie Anm. 9), 226. 43 Goris, Einheit als Prinzip und Ziel (wie Anm. 9), 227.

1. Der Negationscharakter der Ununterschiedenheit

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»Nachteil« darin erblickt, daß Eckharts zweiter Schritt »das entscheidende Argument für die Ununterschiedenheit von Gott und Geschöpf, nämlich, daß beide sich wechselweise unterscheiden, nicht anführt.«44 Diese Textverbesserung konstatiert bei Eckhart ein argumentatives Defizit, das allein sie heraufbeschworen hat. Dem gegenüber kann zunächst festgehalten werden: Auch Eckharts zweiter Gedankenschritt gilt »allem, durch Ununterschiedenheit unterschieden ist« (omne quod indistinctione distinguitur). Nach wie vor aber hält sich Eckhart bedeckt, wer oder was damit genau gemeint sein könnte und wovon sich »all das, was durch Ununterschiedenheit unterschieden ist«, unterscheidet. Unterscheidet sich dieses nun vom anderem (ab aliis), so wäre wiederum die intrinsische Ununterschiedenheit des Geschaffenen gemeint: »Je unterschiedener (von anderem), desto ununterschiedener ist es (in sich).« Die nachfolgende, problematische Begründung würde dann den Gegensatz zwischen solch einer intrinsischen Ununterschiedenheit, durch die jedes Geschaffene für jedes andere Geschaffene ein anderes ist, und Gottes Ununterschiedenheit herausstreichen: »Je unterschiedener (von anderem), desto ununterschiedener ist es (in sich); denn durch diese seine Unterschiedenheit (d. h. seine intrinsische Ununterschiedenheit, durch seine Vereinzelung gegenüber anderem Einzelnen) unterscheidet es sich vom Ununterschiedenen.« Mit »dinstinctione sua distinguitur« wäre eine spezifische Unterschiedenheit aufgrund von Ununterschiedenheit gemeint: die spezifische Unterschiedenheit des geschaffenen Einzelnen, das sich aufgrund seiner intrinsischen Ununterschiedenheit von Gott als dem Ununterschiedenen unterscheidet. So gesehen, besteht der Unterschied des in sich ununterschiedenen Geschaffenen zur Ununterschiedenheit Gottes darin, »daß es dessen ›indistinctum-sein‹ nicht von sich selbst her eigentümlich oder als ›Eigenes‹ aufnimmt, […] so daß die Ununterschiedenheit Gottes zum Seienden nur dessen ›Sache‹ ist«.45 Dies wiederum bedeutet, daß die intrinsische Ununterschiedenheit des Geschaffenen eine Negativität auszeichnet, die Gottes Ununterschiedenheit − selbst im Sinne ihrer Verneinung von Andersheit (negatio negationis) − nicht zugesprochen werden kann.46 Ebd. Beierwaltes, Identität und Differenz (wie Anm. 9), 103. 46 Dagegen etwa Beierwaltes, Platonismus im Christentum, Frankfurt a. M. 1998, 112: »Denn als das Eine ist [Gott] gerade nicht Etwas, sondern von ihm selbst her die Negation oder Ausschluß von allem Etwas, von allem Bestimmten und damit abgegrenzt- und abgrenzend-Negativen«; sowie ebd., 114: »Indem [Gott] in dem für ihn ureigensten [!] Akt des Negierens alles Negative in sich negiert oder aufhebt, ist er das Sein selbst, welches sich gerade als (absolute) Negation des Negativen von allem Anderen unterscheidet. Diese Form der auf ihn selbst bezogenen ›Negatio‹ ist seine ›distinctio‹ zu Allem […].« − Wie mir scheint, liegt in jenem »Als das Eine ist Gott von ihm selbst her die Negation des Negativen« bzw. in der Rede von der Negation als dem ›ureigensten Akt Gottes‹ das entscheidende interpretatorische Problem, das gerade in Eckharts Schöpfungsbegriff virulent wird. Der schöpferische Bezug Gottes zum Endlichen wäre nach Eckhart dann wohl zu denken als die »Negativität Gottes gegen das Negative in der Kreatur« (F. von Baader, Vorlesungen und Erläuterungen zu Jacob Böhmes Lehre, ed. J. Hamberger, SW XIII, Leipzig 1855, 62 f.). Dem gegenüber sei vorgreifend 44 45

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I. Meister Eckhart

Es ist jedoch nicht ausgemacht, daß die in Eckharts zweitem Schritt genannte Ununterschiedenheit nur den intrinsischen Aspekt des in sich ununterschiedenen Einzelnen meinen muß: Denn wenn sich etwas durch seine, ihm eigene Ununterschiedenheit als je Einzelnes gerade von Gott als dem Einen und Ununterschiedenen unterscheidet, so wächst seine Ununterschiedenheit mit Gott um so mehr, als es eben seine Unterschiedenheit von seiner intrinsischen Ununterschiedenheit oder Vereinzelung ›erreicht‹: »Je unterschiedener (von seiner intrinsischen Ununterschiedenheit oder Vereinzelung), desto ununterschiedener ist es (von Gott); denn durch seine (d. h. ihm eigene) Unterschiedenheit (als Vereinzeltes) unterscheidet es sich vom Ununterschiedenen.« 1.3 Resümee Eckharts Gedankengang in diesem dritten Argument scheint also folgender zu sein: (1) »omne quod indistinctione distinguitur, quanto est indistinctius, tanto est distinctius; distinguitur enim ipsa indistinctione«: Alles, was durch Ununterschiedenheit unterschieden ist, von dem gilt: Je ununterschiedener es ist, umso mehr ist es unterschieden. Diese erste Proportion legt offensichtlich den Akzent auf Unterscheidung. Von nachgeordnetem Interesse ist hier, ob die Unterscheidung eines Einzeldinges gemeint ist, welches sich dank seiner intrinsischen Ununterschiedenheit von anderen Einzeldingen unterscheidet, oder ob diese Unterscheidung einen Gegensatz zur Verschiedenheit überhaupt markiert. Denn in beiden Fällen handelt es sich um Unterscheidung und Abscheidung, der es um ein Selbst-Sein geht, welches zumindest keine inneren Differenzen mehr kennt. Insofern aber dieser erste Schritt Eckharts eine Unterschiedenheit oder Abscheidung von allem Anderen und von aller Andersheit ins Auge faßt, kann es immerhin noch so erscheinen, als stünde dieser erste Schritt »im Dienst eines wenn auch sehr verfeinerten Egoismus«47.

angedeutet: Schöpfung stellt für Eckhart offensichtlich eine affirmative ›Relation‹ dar, deren terminus ad quem nicht nur »nach dem Schatten des Nichts schmeckt« (in Ioh. n. 20; LW III 17,10 f.: sapit umbram nihili), sondern reines Nichts ist. Schöpfung versteht sich demnach als ein Bezug, bei dem ein Relatum sozusagen ausfällt. Daß das Folgen für den Charakter (ratio ipsius relationis) als auch das Sein (ipsum esse relationis) dieser Relation hat, ist evident. Mehr noch: Das Geschaffene steht dann nicht als ein »quid modicum« in einer Relation zu Gott, sondern ist Relation zu Gott und ist damit nichts − nicht nur in sich selbst, sondern auch gegenüber Gott: Weder geht die Relation (wie die anderen Akzidentien) in die Substanz Gottes über, noch fügt sie als ein solchermaßen ›Selbständiges‹ dem Sein Gottes etwas hinzu. Gott muß daher auch keinen verneinenden Bezug zu dieser Relation ›entwickeln‹. 47 So bezeichnet J. Koch (»Meister Eckhart. Versuch eines Gesamtbildes«, in: Kleine Schriften, Roma 1973, I 201−238; hier 235) trefflich die Konsequenz einer Richtung der Eckhart-Interpretation, die in Eckharts Frömmigkeitsideal eine »Selbstvernichtung« im Sinne einer »Ratifikation der Tatsache« erblickt, »daß das menschliche Ich ein Nichts ist, unum purum nihil, wie Eckhart angelegentlich

1. Der Negationscharakter der Ununterschiedenheit

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Ununterschiedenheit wäre demnach als eine Bezugsform zu denken, die mittels einer Unterschiedenheit von allem anderen Unterschiedenen eine völlige Abscheidung von allem Geschöpflichen anstrebt. Das Ziel jenes »quanto indistinctius, tanto distinctius« läge dann im wahren Selbst-Sein des solchermaßen von der Welt Abgeschiedenen. Das geschaffene »hoc et hoc« wäre nur mehr Objekt bloß negierender

und immer wieder versichert. Was überhaupt ist, ist Gott, alles andere ist nichts. ›Selbstvernichtung‹ ist damit kein Akt der Selbstzerstörung, sondern Anerkennung der Tatsache, daß ›das Sein Gott‹ […] und creaturae nihileitas [….] eine Selbstverständlichkeit ist« (Haas, »›… das Persönliche und Eigene verleugnen…‹. Mystische vernichtigkeit vnd verworffenheit sein selbs im Geiste Meister Eckharts«, in: ders., Mystik als Aussage. Erfahrungs-, Denk- und Redeformen christlicher Mystik, Frankfurt a. M. 1996, 310−335; hier 311 f.). Die entscheidende und ungelöste Frage hierbei ist aber, wie oder in welcher Form diese ›selbstverständliche Tatsache‹ nach Eckhart anzuerkennen ist. Wenn also für Haas gilt: »Ziel der Selbsterkenntnis und Ziel aller ›destruktiven‹ Selbstbemühungen bei Meister Eckhart ist also nie das ens hoc et hoc der irdischen Pilgerschaft (esse formale) − all das ist als ein ›reines Nichts‹ zu erkennen« (Haas, op. cit. 327), dann scheint der spezifische Negationscharakter dieses (An-)Erkennens von Haas nicht eigens reflektiert zu werden, zumal er Selbstvernichtung gerade nicht mit Selbstzerstörung gleichsetzt, aber doch weiterhin allzu unterbestimmt von einer »negativierenden Destruktion personal-individueller Existenz« (ebd. 324) spricht. Gälte es also doch einen negativen Bezug zu allem zu entwickeln? Bestünde also die Gottförmigkeit des Menschen in einem, alles andere ›negativierenden‹ Selbst-Bezug, »der in der Erkenntnis seiner Endlichkeit seine Begrenztheit überwindet und sich der Negativität, dem Tod und dem Leiden preisgibt«? (N. Largier, »Intellekttheorie, Hermeneutik und Allegorie: Subjekt und Subjektivität bei Meister Eckhart«, in: Geschichte und Vorgeschichte der modernen Subjektivität, hg. von R. L. Fetz u. a., Berlin/New York 1998, I 460−486; hier 479.) Gottförmigkeit nach Eckhart wäre dann in der Tat »nur als das Leben des Märtyrers denkbar, der in Schmerz und Tod die Ekstase findet« (ebd.). − Einen Schritt weiter zu gehen scheint Goris, wenn er nun Eckhart selbst einen »gewissen ›Egoismus‹ in seinem Werk« attestiert: »Vor allem da, wo nicht die Bezogenheit zum Geschaffenen, sondern die reine Unbezogenheit zum Maß menschlicher Vollkommenheit wird, verdiente eine Ethik − zumal eine christliche Ethik − diese pejorative Qualifizierung« (Goris, »Der Mensch im Kreislauf des Seins. Vom ›Neuplatonismus‹ zur ›Subjektivität‹ bei Meister Eckhart«, in: Selbst − Singularität − Subjektivität, hg. von Th. Kobusch u. a., Amsterdam/Philadelphia 2002, 185−201; hier 196). »Allerdings«, so Goris weiter, »bin ich der Meinung, daß der ›Egoismus‹, diese unerträgliche Loslösung, die in der Abgeschiedenheit alle Bande mit dem Geschaffenen betrifft, auf einer zweiten, theoretischen Ebene kompensiert wird. Hier ist das Leitbild nicht das Absolute, sondern die Erlösung in Christo« (ebd.). Abgesehen von der Frage, ob für Eckhart ein ›kompensatorischer Denkstil‹ charakteristisch ist, ist es nicht von vornherein ausgemacht, daß Eckhart den absoluten Charakter Gottes »zutiefst [als] Unbezogenheit, hier dem Geschaffenen gegenüber« (ebd. 188), denkt. Zwar steht der absolute Gott nicht auf eine Weise in Beziehung zum Geschaffenen, wie dieses in Beziehung zueinander steht. Damit ist aber über den negativen Charakter von Gottes ›Unbezogenheit‹ nur in dem Sinne entschieden, daß ›Unbezogenheit‹ hier bloß die negative Kehrseite eines Bezuges zwischen zwei selbständigen Relata meint: »Das Wesentliche Gottes zeigt sich nicht durch Schöpfung, Inkarnation, oder eine sonstige Hinneigung zum Geschaffenen, sondern gerade in seiner Beziehungslosigkeit allem anderen gegenüber« (ebd. 187). Eckhart denkt aber sowohl die innertrinitarische als auch die schöpferische Relation als eine, die zwar nicht das Wesen Gottes tangiert, die sich aber zugleich nicht bloß als ein nachträgliches oder nachgeordnetes Akzidenz an Gott konstituiert. Zum Problemkomplex der Abgeschiedenheit siehe M. Enders, »Abgeschiedenheit des Geistes − höchste ›Tugend‹ des Menschen und fundamentale Seinsweise Gottes. Eine Interpretation von Meister Eckharts Traktat ›Von abegescheidenheit‹«, in: Theologie und Philosophie 71 (1996), 63−87.

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Abscheidung oder eines reinen contemptus mundi, der dem Zweck dient, ein eigentliches Selbst-Sein zu erlangen, wie es Gott eigentümlich zu sein scheint. Anders gesagt: Es wäre dies eine ὁμοίωσις ϑεῷ, die in Gott das Urbild einer absoluten Unbezogenheit erblickt. Eckharts erster Schritt gälte dann sogar noch für das »Ego« Gottes in »Ego sum qui sum«, das, wie Eckhart hervorhebt, als Ausdruck der Unterscheidung (discretivum pronomen) zu verstehen ist:48 Gottes »Ego«, verstanden als Ununterschiedenheit in sich, träte selbst noch in dieses proportionale Verhältnis des »quanto indistinctius, tanto distinctius« ein. Je ununterschiedener Gottes »Ego« in sich wäre, desto mehr bezöge es sich negativ auf die Schöpfung, desto mehr wäre – oder besser: würde – es die Differenz.49 (2) »Et e converso, quanto distinctius, tanto indistinctius, quia distinctione sua distinguitur ab indistincto.« Dieser zweite Schritt ist nun in der Tat eine begründete Umkehr des ersten Schrittes, für den der Weg zu einer Ununterschiedenheit ausschließlich über die radikale Abkehr von allem Geschöpflichen führt. Dieser zweite Schritt besagt dann: Je massiver die Abkehr oder negierende Unterscheidung vom kreatürlichen Unterschiedenen ausfällt, desto mehr wächst die Gefahr, daß ein solchermaßen ununterschiedenes, aus allem Unterschiedenen sich herausnehmendes Selbst-Sein zunimmt − und damit die Differenz zu Gottes Ununterschiedenheit. Denn gerade diese Unterschiedenheit aufgrund von intrinsischer Ununterschiedenheit steht im Gegensatz zu Gott als dem Ununterschiedenen, da alles, was sich durch seine − d. h. sich auf sich selbst konzentrierende − Ununterschiedenheit unterscheidet, eben nicht absolut ununterschieden ist: »quia distinctione sua distinguitur ab indistincto«. Selbst die Abscheidung vom Unterschiedenen im Sinne des Geschaffenen ist noch Unterschied von Gott als dem Ununterschiedenen. Die von Eckhart im ersten Schritt geforderte Ununterschiedenheit als der Unterschiedenheit von allem kreatürlich Unterschiedenen scheint damit, nach dem zweiten Schritt, nicht mehr dessen Negierung zu bedeuten. Was heißt aber dann ›Unterschiedenheit von allem kreatürlich Unterschiedenen‹? Wie ist diese zu ›verwirklichen‹? Welches spezifische Weltverhältnis ist nach Eckhart hierzu erforderlich? Eine ›mittelalterliche‹ Verleugnung der Welt oder eine ›neuzeitliche‹ Hinwendung zu ihr? Schreit also die Wahrheit für Eckhart eher auf den Straßen (clamitat in plateis), oder sollte sie besser doch im

Vgl. in Ex. n. 14 (LW II 20,2). So etwa Haas, »›… das Persönliche und Eigene verleugnen…‹« (wie Anm. 47), 311: »Grund dieser Exklusivität des göttlichen Ichs, das ein geschöpfliches nicht zuläßt, ist seine Einheit« (Hervorh. StG). Der Akt der Schöpfung wäre demnach reine Negation, die ein geschöpfliches Ich nicht zuläßt. Daraus jedoch, daß die Kreaturen – selbst im Hinblick auf ihr Geschaffensein – Nichts sind (vgl. z. B. prol. op. prop. n. 22; LW I/1 53,7 f.: omnia sunt nihil, etiam facta), folgt noch nicht unmittelbar, daß auch dieser Schöpfungsakt einen Verneinungscharakter in sich birgt. 48 49

1. Der Negationscharakter der Ununterschiedenheit

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Dunkeln (melius in obscuro) gesucht werden?50 Oder gibt es für Eckhart einen dritten Weg zu dem von ihm gesuchten rechten Bezug zu allem?51 (3) »Igitur quanto distinctius, tanto indistinctius; et quanto indistinctius, tanto distinctius, ut prius.« Dieser dritte Schritt bietet offenbar eine Zusammenfassung der beiden ersten Schritte, wenn er die Umkehrbarkeit und mithin Gleichwertigkeit beider Proportionen betont. Merkwürdig ist allerdings, daß Eckhart sein Resümee (»igitur«) mit dem zweiten Schritt beginnt: »quanto distinctius, tanto indistinctius«. Eckharts zweiter Schritt hatte aber die Gefahr thematisiert, daß eine negierende Abscheidung von der Welt die eigene Ununterschiedenheit − die Konzentration auf das Selbst-Sein − zwar zu steigern vermag, doch zugleich den Unterschied zu Gottes Ununterschiedenheit vergrößert (»quia distinctione sua [a distincto] distinguitur ab indistincto«). Gefordert ist demnach eine Ununterschiedenheit gegenüber allem kreatürlich Unterschiedenen, welche dieses nicht einfach negiert. Solch ein Bezug, der sich zu allem ununterschieden verhält und gerade nicht negiert, meint daher eine gleich-gültig affirmative Bezugsform auf alles und jedes. Je bestimmter (distinctius), je mehr auf das Einzelne gerichtet dieser Bezug ist, desto gleich-gültiger soll er sein:

Vgl. Nicolaus Cusanus, de apic. theor. n. 5,9−12 (h XII 120). Von ähnlichen Fragestellungen ausgehend, entwickelt J. Kreuzer (Gestalten mittelalterlicher Philosophie. Augustinus, Eriugena, Eckhart, Tauler, Nikolaus von Kues, München 2000, bes. 107−115) anhand seiner Deutung von Pr. 86 »Intravit Iesus in quoddam castellum« (DW III 481−503) Eckharts »Denkmotiv der notwendigen Umkehr zur Endlichkeit individueller Existenz, das die Bejahung des mundus sensibilis einschließt« (ebd. 108). Kreuzer setzt hierbei den Akzent auf eine Eckhartische »Grundstruktur der ›Sorge‹ als lebensmeisterliches Praxisgebot«, wobei »Sorge als Praxisgebot besagt, Transzendenz nicht jenseits der Bedingungen der Endlichkeit zu suchen« (ebd. 109). Zwar negiere Eckhart mit diesem Postulat der Hinwendung zur Endlichkeit nicht schlichtweg einen neuplatonisch inspirierten »Aufstieg zu einem transkreatürlich Einen« (ebd. 108), sondern nur »die Entgegensetzung von Transzendenz und eigener Endlichkeit. Wozu [Eckharts Postulat] mahnt, ist die praktisch vollzogene Erkenntnis der Einheit von Transzendenz und Endlichkeit in der je eigenen, endlichen Lebenszeit« (ebd. 111). Fraglich ist allerdings, ob Eckhart tatsächlich eine solche Aufwertung der zeitlichen Existenz zu einem exklusiven Schauplatz intendiert, wo jene Einheit von Transzendenz und Endlichkeit denkerisch vollzogen werden kann: Dies setzte wohl für Eckhart einen gewissen Selbststand, ein quid modicum des Geschaffenen voraus. Dem steht jedoch der Charakter der Kreatur als unum purum nihil entgegen: non dico quod [creaturae] sint quid modicum vel aliquid, sed quod sint purum nihil (Proc. Col. I n. 75; LW V 317,14 f.). Gerade von der Erkenntnis dieses Charakters hängt es aber für Eckhart in entschiedenem Maße ab, daß − und wie − sich dann der rechte Weltbezug und Gottesbezug ›entwickeln‹ kann. Als ein erstes Indiz für die zentrale Stellung, die der Satz »omnes creaturae sunt unum purum nihil« für Eckhart hat, kann gelten, daß er in seiner »prozessualen Responsio« (Sturlese) nicht nur an diesem Satz festhält, sondern dessen unbedachte Leugnung für blanke Blasphemie erachtet: Dicendum quod hoc [sc. quod omnes creaturae sunt unum purum nihil] pura, devota et utilis veritas est, valens ad informationem morum, ad contemptum mundi, ad amorem dei et ipsum solum amandum. Huius autem oppositum sentire error est imperitiae et sine dubio periculosa haeresis, si temere defendatur (Proc. Col. I n. 150; LW V 304,5−8; Hervorh. StG). Vgl. auch Proc. Col. II n. 28 (LW V 324,16): Hoc negare est ignorare et deum blasphemare; sowie ebd. n. 107 (LW V 344,5 f.): Dicendum quod hoc negare est deum blasphemare et ipsum abnegare; ebd. n. 153 (LW V 354,9): Dicere mundum […] esse quid modicum, manifesta blasphemia est. 50 51

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»quanto distinctius, tanto indistinctius«. Es ist dies eine Hinwendung zur Welt, die das kreatürliche Einzelne anerkennt − jedoch nicht als Einzelnes im Gegensatz zu anderem Einzelnen erkennt, sondern im Lichte des Einen. Es ist dies weder ein Gleich- oder Ununterscheidbar-Werden mit der Welt, noch eine Abscheidung von dieser ›zugunsten‹ des Einen − eine Abscheidung, die dadurch ein ›direktes‹ Gleichwerden mit Gott intendiert. Gerade dieser Ununterschiedenheit als dem gleich-gültig sich hinwendenden Bezug zu allem wächst dann eine Differenz zu: »quanto indistinctius, tanto distinctius«. Diese Differenz liegt aber in der Bezugsform zur Welt, wogegen ein bloßer contemptus mundi dem Abbruch aller Beziehungen gleichkäme. Anders gesagt: Gesucht wird nicht die eine Hinsichtnahme auf das Geschaffene, welche alle anderen, besonderen Hinsichtnahmen ersetzen könnte, sondern die Hinsichtnahme in allen besonderen Hinsichtnahmen. Je ununterschiedener − das meint: je gleich-gültiger und hinsichtsloser − die spezifische Hinsichtnahme und Hinwendung zu allem ist, desto unterschiedener ist eben diese Hinsichtnahme von einer spezifischen Hinsichtnahme. Die ›Auflösung‹ von Hinsichtnahmen meint daher nicht ihre bloße Negierung, aber ebensowenig ein bloß affirmatives Sich-Verlieren an diese besonderen Hinsichtnahmen. Damit schließt sich der Kreis zum ersten Schritt des »quanto indistinctius, tanto distinctius«, wobei die Bezugsform der Ununterschiedenheit selbst einen bloß negativen Charakter verloren hat. Die ›eigentliche‹ Ununterschiedenheit liegt nicht mehr in der entschiedenen Abkehr von wem oder was auch immer: Je ununterschiedener die einzelne Hinsichtnahme ist, desto unterschiedener ist sie von einer Hinsichtnahme auf Einzelnes. Eine solche ununterschiedene Hinsichtnahme stellt daher nicht nur eine Relation dar, die sich nicht mehr auf einzelne, voneinander unterschiedene Relata ausrichtet, sondern auch und vor allem eine Relation, deren relationaler Charakter bzw. deren Bezugnahme selbst nicht mehr von einer Differenz zwischen zwei Relata geprägt ist. Es ist dies ein erster Hinweis darauf, in welchem Sinne das Geschaffene für Eckhart »ein reines Nichts« ist. Egal, welches davon man sich in einer einzelnen Hinsichtnahme vornimmt − die geforderte Hinsichtslosigkeit besteht nicht nur in der Erkenntnis, daß alles Geschaffene ohne das Eine gleichermaßen nichts in sich selbst ist, und man daher jede Beziehung zu etwas, was in sich solch ein Nichtiges ist, besser abbrechen sollte. Die Hinsichtslosigkeit auf das Geschaffene besteht vielmehr in der Erkenntnis, daß das Sein jedes einzelnen Geschaffenen ausnahmslos, d. h. in gleichgültiger Weise, ›analogische‹ Bezogenheit auf das Eine ist.52 Das Geschaffene ist also

Treffend bemerkt daher Schönberger, Relation als Vergleich. Die Relationstheorie des Johannes Buridan im Kontext seines Denkens und der Scholastik, Leiden (u. a.) 1994, 123: »[Die Schöpfung] ist ein Nichts im Verhältnis zu Gott, weil sie selbst nicht anderes ist als das Verhältnis zu Gott.« – Ausführlicher zum Problem der Relation unten im Abschnitt 3. 52

1. Der Negationscharakter der Ununterschiedenheit

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nicht das Nichts im Gegensatz zu Gott, das dann gleichsam »als ein Vakuum neben Gott«53 zu stehen käme, sondern nichts gegenüber Gottes Sein: In seiner ausschließlichen Relationalität fügt es Gottes Sein weder etwas hinzu, noch geht es in seine Substanz über. Wenn daher das Geschaffene »selbst in seiner Verschiedenheit von Gott, d. h. in seinem Außerhalb, als Nichts zu fassen«54 ist, dann meint dies nicht nur, daß das Sein der geschaffenen Dinge nun im Gegenzug als ein ›Insein‹ in Gott vorzustellen ist,55 sondern auch und vor allem, daß das kreatürliche Sein in seiner Abhängigkeit von Gott »außer dieser Abhängigkeit nichts ist«56 − oder besser noch: nichts als diese Abhängigkeit ist.57 (4) Die ersten drei Schritte bringen proportionale Verhältnisse von unverkennbar universaler Tragweite zur Sprache, insofern sie Aussagen über »omne quod indistinctione distinguitur« treffen. In Eckharts viertem Schritt hingegen ist von keiner Proportion mehr die Rede; er gilt jetzt allein Gott: »Deus autem indistinctum quoddam est quod sua indistinctione distinguitur […]. Est enim pelagus infinitae substantiae et per consequens indistinctae.« Dieser vierte Schritt schließt offenbar zunächst Gott an die anderen Formen von Ununterschiedenem an: Wie alle endlichen Formen des Ununterschiedenen scheint nun auch Gott ›ein Ununterschiedenes‹ oder ›etwas Ununterschiedenes‹ (indistinctum quoddam) zu sein. Zugleich aber spricht die Fortführung des Satzes von Gott als »einem Ununterschiedenem, das sich durch seine Ununterschiedenheit unterscheidet« (sua indistinctione distinguitur). Es scheint also nicht die im ersten Schritt benannte und im allgemeinen verbliebene »ipsa indistinctio« zu sein, welche Gott und die ihm vorbehaltene Ununterschiedenheit auszeichnet. Im Gegenteil: Bereits der zweite Schritt hatte Eckhart dazu geführt, daß eine bestimmte, kreatürliche Art von intrinsischer Ununterschiedenheit, die einen Unterschied zu anderem impliziert, sich unterscheidet vom demjenigen Ununterschiedenen, das Gott ist (distinctione sua distinguitur ab indistincto). Anders gesagt: Bloße Ununterschiedenheit als solche, gleichsam an ihr selbst betrachtet, ist noch kein Kriterium oder Prädikat für Gottes Unterschiedenheit aufgrund seiner Ununterschiedenheit. Erst dieser vierte Schritt öffnet sich daher der Differenz von Gott und seiner Schöpfung, indem er (unter Berufung auf Johannes Damascenus) auch den Grund 53 H. Wackerzapp, Der Einfluß Meister Eckharts auf die ersten philosophischen Schriften des Nikolaus von Kues (1440–1450), Münster 1962, 66. 54 Wackerzapp, Der Einfluß Meister Eckharts (wie Anm. 53), 66. 55 Vgl. Wackerzapp, Der Einfluß Meister Eckharts (wie Anm. 53), 61: »Ein Verhältnis [des Geschaffenen] zum Sein ist nicht als ›Außerhalbsein‹, sondern nur als ›Insein‹ möglich. Eckhart spricht diesen Sachverhalt über sein ganzes Werk hin […] aus.« 56 Wackerzapp, Der Einfluß Meister Eckharts (wie Anm. 53), 65. 57 Für Mojsisch hingegen besitzt das reine Sein Gottes »einen Gegensatz, nämlich das Nichts als solches« (»Nichts und Negation« [wie Anm. 6], 680). Sofern aber die Schöpfung als das reine Nichts begriffen wird, das als ein Relatum in ein gegensätzliches Verhältnis zu Gott eintritt, wird ihr ein Eigenwert zudiktiert, den sie als Nichts für Eckhart offensichtlich nicht hat.

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für die allein Gott vorbehaltene Ununterschiedenheit benennt: »Est enim [deus] pelagus infinitae substantiae et per consequens indistinctae«. Es ist hier also die Fülle des Seins (pelagus infinitae substantiae), die hier Gottes Ununterschiedenheit ›erklärt‹: Weder muß sich die ununterschiedene Fülle des Seins erst in Form einer Selbstnegation einschränken, um Anderes als sie selbst setzen, d. h. sein lassen, zu können; noch muß sie dieses Andere dann auch negieren, um dadurch ihre Reinheit bewahren zu können. Angesichts dieser vielfältigen Nuancen, die der Begriff der indistinctio bzw. des indistinctum in diesem Gedankengang Eckharts hat, ist es fraglich, ob hier der Begriff des Seins durch den Begriff des Ununterschiedenen expliziert bzw. aufgeschlossen wird. Eher schon wird umgekehrt der von Anfang an mehrdeutig gelassene Begriff des Ununterschiedenen durch den Gedanken einer Seinsfülle, die absolute Affirmation ist, sukzessive von seinen Einschränkungen befreit. Einheit im Sinne von Ununterschiedenheit oder negatio negationis meint dann angesichts von Gott nicht bloß: »alterum omni creato, utpote omni distincto«58 − dies gilt ja auch und vor allem für die Ununterschiedenheit des Geschaffenen, d. h. für die »›negatio negationis‹ in einem, wörtlich gedachten, relativen Sinne«.59 In einem absoluten, Gott vorbehaltenen Sinn meint daher »negatio negationis« nicht nur »die Negation des Negativen«,60 sondern auch und vor allem den Ausschluß eines negierenden Bezuges auf etwas, das als ein in sich Selbständiges neben und außer Gott gelten könnte. Damit, so ließe sich sagen, unterliegt der Begriff der ununterschiedenen Einheit im Sinne einer relativen Negatio negationis seinerseits einer purifizierenden Negatio negationis: Der Negatio negationis oder der ununterschiedenen Einheit im absoluten Sinne spricht Eckhart den negierenden Bezug auf etwas ab, weil sie Fülle des Sein ist. Aufs Ganze gesehen, gibt es demnach zwei unterschiedliche Modi von Ununterschiedenheit: einerseits Ununterschiedenheit, für die ein negierender Bezug auf anderes wesentlich und konstitutiv ist; andererseits Ununterschiedenheit, die einen solchen Bezug nicht kennt. Das Verhältnis zwischen diesen beiden Modi von Ununterschiedenheit ist daher auch nicht von einer wechselseitigen und gleichrangigen Differenz geprägt. Wenn daher Gottes Ununterschiedenheit keinen negierenden Bezug auf das Geschaffene kennt, dann meint dies nicht einfach, daß dies eine Relation wäre, die zwischen zwei Relata keine Differenzen mehr zuläßt (und also die beiden Relata faktisch ununterscheidbar werden läßt); es meint vielmehr, daß diese Relation selbst keine Differenz zwischen zwei eigenständigen Relata aufspannt und somit den negativen Charakter einer Differenz von vornherein übersteigt. Anders gesagt: Affirmative Ununterschiedenheit ist eine Relation, die keine reale Differenz zu einem

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in. Sap. n. 52 (LW II 379,1 f.); dort vom Geschaffenen gesagt! Beierwaltes, Platonismus im Christentum (wie Anm. 46), 114. Ebd.

2. Affirmative Gleich-Gültigkeit

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Etwas aufspannt. Die Behauptung, daß »eine Relation, bei der ein relatum das Nichts ist, […] selbst nichts« ist,61 gälte daher für Eckhart nur, wenn er die Relation als Bezug zwischen zwei eigenständigen Relata denken würde. Dies gilt jedoch, wie sich noch zeigen soll, weder für Gottes innertrinitarischen noch für seinen extratrinitarischen Bezug. 2. Affirmative Gleich-Gültigkeit Wenn nun Eckhart des öfteren in seinem Werk diese Gleichsetzung von unum und indistinctum vornimmt, so hat der Eckhart-Leser den jeweiligen Kontext, in dem diese Gleichsetzung steht, möglichst genau zu berücksichtigen, um hierauf entscheiden zu können, ob Eckhart jeweils von einer kreatürlichen oder von Gottes Ununterschiedenheit spricht. Dieser interpretatorisch selbstverständlichen Sorgfaltspflicht kommt allerdings an mehr als nur einer vereinzelten Stelle ein intrikates Problem in die Quere, das die Divergenz vieler Eckhart-Interpretationen zwar nicht legitimiert, aber doch verständlich macht. Es ist dies das Problem, daß Eckhart zuweilen − und dann zumeist in äußerst kunstvoll mehrdeutigen Formulierungen − offenläßt, ob er hier eindeutig von einer kreatürlichen oder eben von Gottes Ununterschiedenheit spricht: Est igitur sciendum quod li unum idem est quod indistinctum. Omnia enim distincta sunt duo vel plura, indistincta vero omnia sunt unum.62 Auf den ersten Blick bestimmt hier Eckhart eindeutig mit einer propositio universalis den grundsätzlichen Einheitscharakter für alle kreatürlichen Dinge. Dann gilt: Im Hinblick auf seinen extrinsischen Bezug zu anderem ist »alles, was unterschieden ist, zwei oder mehreres«, jedoch im Hinblick auf seine intrinsische Verfaßtheit ist »alles, was ununterschieden ist, eines«.63 Eckhart fährt jedoch unmittelbar fort:

Mojsisch, »Nichts und Negation« (wie Anm. 6), 683; dort Anm. 27. in Sap. n. 144 (LW II 482,4 f.). − Die dem Satz »li unum idem est quod indistinctum« beigegebene Anmerkung der Kohlhammer-Ausgabe verweist auf: in Ioh. n. 562 und zitiert diese Parallelstelle mit: »Ipsum vero unum ex sui proprietate indistinctionem [!] indicat. Est enim unum in se indistinctum«. Tatsächlich lautet jedoch die Stelle im Johannes-Kommentar: »Ipsum vero unum ex sui proprietate distinctionem [!] indicat. Est enim unum in se indistinctum, distinctum ab aliis« (in Ioh. n. 562; LW III 489,6 f.). Es kann dies ein bloßes Versehen der Herausgeber sein, insofern bei Erscheinen des Faszikels des Sapientia-Kommentars (im April 1966) der entsprechende Faszikel des Johannes-Kommentars (ausgegeben im November 1978) noch in Bearbeitung war. Diese Abweichung kann aber ebensogut darauf zurückzuführen sein, daß zuwenig Rücksicht darauf genommen wurde, daß ein und dieselbe Gedankenfigur Eckharts bereits in sich mehrdeutig ist und dementsprechend von Eckhart in verschiedenen Kontexten anders gebraucht werden kann. 63 So die entsprechende Übersetzung dieser Stelle in der Kohlhammer-Ausgabe. 61 62

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Rursus de natura dei est indistinctio, tum quia infinitus, tum quia non determinatus ad terminos et limites alicuius generum sive entium. De natura vero creati est esse determinatum et limitatum hoc ipso quod creatum est […].64 In diesen Sätzen behält Eckhart die Ununterschiedenheit nun gerade dem Wesen Gottes als dem unendlichen und uneingeschränkten Sein vor, und dies im Gegensatz zum endlichen und eingeschränkten Sein der Kreaturen, das als endliches Sein mitnichten ununterschieden gegenüber anderem ist. Ein Widerspruch also? Denn eben noch hatte Eckhart für die Einheit eben dieses eingeschränkten Seins der Kreaturen deren Ununterschiedenheit angeführt: »Alles, was ununterschieden ist, ist eines« − und gleichwohl gilt: Angesichts von Gottes Ununterschiedenheit, die von seinem unendlichen und uneingeschränkten Sein herrührt, ist keine Kreatur in ihrem endlichen und eingeschränkten Sein ununterschieden.

2.1 Unmittelbarkeit und Negation der Mittel Es scheint nun tatsächlich so zu sein, daß Eckhart hier diesen Widerspruch nicht auflöst; vielmehr läßt er diese Sätze kommentarlos aufeinander folgen. Und so liegt die Versuchung nahe, in dieser Passage ein weiteres Beispiel für eine typisch Eckhartische Gedankenform zu sehen, welche sich in der Eckhart-Forschung großer Beliebtheit erfreut, und dies ungeachtet des tiefen Grabens, den der Streit um die vermeintliche oder tatsächliche Mystik Meister Eckharts aufgerissen hat.65 in Sap. n.144 (LW II 482,5−8). Der teilweise heftig geführte Streit um den mystischen Charakter von Eckharts Denken hat sich in letzter Zeit etwas beruhigt, was nicht zuletzt ein Anzeichen dafür sein dürfte, daß sich gewissermaßen ein Effekt des Leerlaufs bei der Repetition der Argumente eingestellt hat. − Erinnert sei hier nur an die bekannten einschlägigen Beiträge von: K. Flasch, »Die Intention Meister Eckharts«, in: Sprache und Begriff (FS B. Liebrucks), hg. v. H. Röttges, Meisenheim 1974, 292–318; Flasch, »Meister Eckhart und die ›Deutsche Mystik‹. Zur Kritik eines historiographischen Schemas«, in: Die Philosophie im 14. und 15. Jahrhundert, hg. v. O. Pluta, Amsterdam 1986, 439–463; Flasch, »Meister Eckhart – Versuch, ihn aus dem mystischen Strom zu retten«, in: Gnosis und Mystik in der Geschichte der Philosophie, hg. v. P. Koslowski, Zürich/München 1988, 94–110; Mojsisch, Meister Eckhart (wie Anm. 3), 11 ff.; Mojsisch, »›Dieses Ich‹. Meister Eckharts Ich-Konzeption«, in: Sein – Reflexion – Freiheit. Aspekte der Philosophie Johann Gottlieb Fichtes, hg. von Ch. Asmuth, Amsterdam/Philadelphia 1997, 239– 252. Ruh, Meister Eckhart (wie Anm. 1), 188 ff.; Ruh, Geschichte der abendländischen Mystik, Bd. 3: Die Mystik des deutschen Predigerordens und ihre Grundlegung durch die Hochscholastik, München 1996, 227 ff. Ferner sei verwiesen auf die zahlreichen Studien von A. M. Haas, die sich speziell der Mystik Meister Eckharts widmen und die in mehreren (Sammel-)Bänden vorliegen: Nim dîn selbes war. Studien zur Lehre von der Selbsterkenntnis bei Meister Eckhart, Johannes Tauler und Heinrich Seuse, Freiburg/CH 1971, 15 ff. Sermo mysticus. Studien zur Theologie und Sprache der deutschen Mystik, Freiburg/CH 1979, 186 ff. Geistliches Mittelalter, Freiburg/CH 1984, 193 ff.; 215 ff. Gottleiden − Gottlieben. Zur volksprachlichen Mystik im Mittelalter, Frankfurt a. M. 1989, 45 ff.; 172 ff. Mystik als Aussage (wie Anm. 47), 310 ff.; 336 ff. 64 65

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Gemeint ist die paradoxale Struktur vieler Eckhartischer Aussagen, insofern sie kontradiktorisch Widersprüchliches in einen einzigen Gedanken zusammenzwingen.66 Auf unsere Stelle übertragen hieße dies: Alle Kreatur ist ununterschieden, und sie ist dies in einem paradoxalen Zugleich eben nicht. Es ist aber nicht nur die Widersprüchlichkeit einzelner Sätze innerhalb dieses Gedankenganges, der diesen paradox erscheinen läßt. Augenfällig ist auch und vielmehr, daß der Satz »indistincta vero omnia sunt unum« die Mitte einnimmt zwischen Eckharts propositio universalis über die allgemein gültige Ununterschiedenheit von allem Einheitlichen und seiner nachfolgenden These von der alleinigen Ununterschiedenheit Gottes. Eben diese Mittelstellung verleiht dem Satz einen merkwürdig changierenden Charakter. Von daher scheint es, daß dieser eine Satz ›Als Ununterschiedenes ist alles eines‹ in sich doppeldeutig ist und also nicht bloß ein Glied innerhalb eines Gedankens darstellt, in den auf paradoxe Weise ein anderes, dazu widersprüchliches Glied verflochten ist. Dieser Perspektivenwechsel in ein und derselben Formulierung bedingt aber einen unmittelbaren Umschlag ihres Sinnes, der als die Mitte des Gedankens − und zwar ohne jede metasprachliche Vermittlung durch Eckhart − ›umkippt‹. Der Satz »indistincta vero omnia sunt unum« hat dann einen, wenn man so sagen darf, in sich ununterschiedenen Sinn, einen Sinn also, der sich gleich-gültig gegenüber zwei Lesarten verhält und der eben nicht auf paradoxe Weise die eine Lesart gegen die andere Lesart ausspielt und dann doch beide zusammenzwingt: »(Im Hinblick auf seine intrinsische Ungeteiltheit) ist alles, was ununterschieden ist, (jeweils) eines« − »Als Ununterschiedenes (gegenüber allem Einzelnen) ist alles Eines«. In seiner Auslegung von Sap. 18,14 »Cum enim quietum silentium contineret omnia«67 verknüpft Eckhart nun genau dieses Motiv von Mitte, Unvermitteltheit und der Ununterschiedenheit des Vielen im Einen. Unter Ausnutzung der Doppeldeutigkeit von medium als ›das Mittlere/die Mitte‹ und ›das Mittel‹ entwickelt Eckhart auch und vor allem die Frage nach den Bedingungen für die Einung der menschlichen Seele mit Gott: Es muß nach der hier ausgelegten Perikope »tiefes Schweigen

Dazu J. Zapf, Die Funktion der Paradoxie im Denken und im sprachlichen Ausdruck bei Meister Eckhart, phil. Diss., Köln 1966. Insbesondere A. Haas hat immer wieder die Paradoxie als »eine adäquate, wenn nicht [als] die angemessenste Denk- und Sprachform der Mystik« herauszustellen versucht (vgl. Haas, Mystik als Aussage [wie Anm. 47], 124). Ähnlich auch schon J. Quint, »Mystik und Sprache. Ihr Verhältnis zueinander, insbesondere in der spekulativen Mystik Meister Eckeharts«, in: Altdeutsche und altniederländische Mystik, hg. von K. Ruh, Darmstadt 1964, 113–151; hier 150. − Im Hinblick auf das »unum als indistinctum« spricht auch Mojsisch, wenngleich aus einer ganz anderen Perspektive, ebenfalls von einer »objektive[n] Paradoxaltheroie als Fundamentaltheorie«. Dazu Mojsisch, Meister Eckhart (wie Anm. 3), 86−110. 67 Vgl. in Sap nn.279−285 (LW II 611−619). 66

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alles umfangen«.68 Für Eckhart heißt dies: Das Schweigen hat das ›Alles‹ zu umfangen, denn: »›Alles‹ meint soviel wie ›Zahl‹ und ›Vielheit‹. Und dies ist ja Abfall vom Einen (casus ab uno). ›Gott aber ist Einer‹ [Gal. 3,20]. Es schweigt aber und ruht jede Zahl und Vielheit in der Einheit und im Einen.«69 Soll also die menschliche Seele eins werden mit Gott, so hat auch für sie Vielheit und Unterschiedenheit zu schweigen, wie im Einen die Vielheit schweigt.70 Wie ist dies zu verstehen? Wie ›gelingt‹ es der Seele, daß für sie die Vielheit »schweigt«? Eckharts Antwort läßt zunächst keinen Zweifel. Es ist ein positiver Bezug, die »Liebe« zum Ununterschiedenen und zur Ununterschiedenheit, die im Gegenzug Ablehnung oder »Hass« gegen das Unterschiedene und die Unterschiedenheit bedeutet: omne amans indistinctum et indistinctionem odit tam distinctum quam distinctionem. Deus autem indistinctus est, et anima amat indistingui, id est unum esse et fieri cum deo. Hoc autem et hoc quodlibet distinctum est et distinctionem nominat et sapit.71 Mit dieser Antwort scheint alles darauf hinzudeuten, daß es Eckhart hier um die Beseitigung der Hemmnisse zu tun ist, welche die Einung der Seele mit Gott verhindern. Dies ist vor allem die Unterschiedenheit des Geschaffenen im zweifachen Sinne: seine Unterschiedenheit von Gott, die ihrerseits herrührt von der Distinktheit der Kreaturen untereinander. Die Beseitigung der letzteren Distinktheit, des »hoc et hoc distinctum«, läßt, so scheint es, auf die Beseitigung der Distinktheit zwischen Mensch und Gott hoffen. Die Liebe zum Ununterschiedenen kann daher offensichtlich erreicht werden mittels der Abscheidung vom »hoc et hoc«: durch einen negierenden Bezug auf dessen Charakter der distinkten Vielheit oder in Form eines ἄφελε πάντα. Dies ist allerdings nicht die letzte Antwort Eckharts. Vielmehr darf nach Eckhart die Liebe zum Ununterschiedenen, das Gott ist, sich nicht einmal eines Mittels bedienen: »Unde si amat medium aut etiam videt medium, nec amat deum nec deum videt«.72 Zur Stützung seiner These greift Eckhart hier auf eine Textvariante des liturgischen Offiziums zurück und verschiebt damit den Akzent von ›Alle Vielheit muß schweigen‹ zu ›Jedes Mittel und jede Vermittlung muß schweigen‹: in Sap. n. 281 (LW II 613,6 f.): oportet quod quies et silentium contineat omnia ad hoc, ut deus verbum in mentem veniat per gratiam et filius nascitur in anima. Vgl. ebd. n. 283 (LW II 615,10 f.): ad hoc, ut deus filius in nobis nascatur, in mentem veniens, oportet quietum silentium continere omnia. 69 in Sap. n. 281 (LW II 613,8–10): […] quia li omnia importat numerum sive multitudinem. Haec enim sunt casus ab uno. ›Deus autem unus est‹. Silet autem et quiescit omnis numerus et multitudo unitate et in uno. 70 in Sap. n. 282 (LW II 614,3 f.): silet animae hoc et hoc creatum et distinctum. Ubi notandum quod hoc necessarium est animae quae debet ipsum deum accipere […]. 71 in Sap. n. 282 (LW II 614,12–615,2). 72 in Sap. n. 284 (LW II 616,14–617,1). 68

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Sciendum autem quod ecclesia in officio sic tenet: »dum medium silentium tenerent omnia«. Et secundum hoc sciendum quod in adventu filii in mentem opportet quod omne medium sileat. Natura enim medii repugnat unioni, quam anima appetit cum deo et in deo.73 Für die Einung der Seele mit Gott und in Gott bedarf es demnach einer Mittel-losigkeit, da diese Einung mit dem ununterschiedenen Einen keine vermittelnd hergestellte »Vereinigung aus …« darstellt. Es hat also für die Seele nicht nur der Vielheitscharakter des Geschaffenen zu schweigen (silet animae hoc et hoc creatum et distinctum).74 Verbliebe es für Eckhart dabei, daß nur dieser Vielheitscharakter des Geschaffenen für die Seele zu schweigen hätte, dann könnte die Einung mit Gott auch in Form einer Abstraktionsleistung erbracht werden, wie sie bereits den Wahrnehmungsakt und erst recht den Denkakt kennzeichnet.75 Das ununterschiedene Eine wäre dann im Einzelnen oder durch das Einzelne hindurch zu ›sehen‹, und zwar dadurch, daß das hoc et hoc distinctum nur akzidentell in den Blick kommen müßte – eben nicht als Einzelnes, sondern als Ausprägung, Gleichnis oder Einzelfall des Einen. Eine solche Abstraktionsleistung stünde dann aber immer noch in einer Zweck-Mittel-Relation: Die Seele müßte sich darauf besinnen, ›mit nichts etwas gemein zu haben‹, damit sie in jedem Einzelnen das Eine erblicken könnte − genauso wie sie auch nichts mit dem einzelnen Farbigen gemein haben darf, um das Farbige als solches wahrnehmen zu können.76 Wie gesagt, muß jedoch nach Eckhart auch jedes Mittel schweigen (in adventu filii in mentem opportet quod omne medium sileat). Was heißt dies wiederum? Heißt das,

in Sap. n. 284 (LW II 616,5−8). Vgl. oben Anm. 70. 75 in Sap. n. 282 (LW II 615,7−9): Exemplum praemissorum est quod coloratum absolute et simpliciter, formaliter et per se est obiectum visus. Hoc autem et hoc coloratum quodlibet est omnino per accidens oculo vel visui. − Vgl. vorläufig etwa auch in Ioh. n. 318 (LW III 265,13−266,1): Intellectus autem abstrahit ab hic et nunc et secundum genus suum nulli nihil habens commune, impermixtus est, separatus est. 76 Weiteres zu Eckharts Verständnis dieser Aristotelischen Gedankenfigur des »nulli nihil habens commune« unten in Abschnitt 3. – Mit dem eben Dargelegten hängt wesentlich zusammen, daß Eckhart stets den imago-Charakter des Geschaffenen bestreitet: Non enim quidquam creatum est imago [dei], sed ad imaginem creati sunt angelus et homo (Proc. Col. I n. 142; LW V 301,1 f.). Siehe etwa auch ebd. n. 137 (LW V 299,1–3): Filium quidem suum unigenitum quem genuit, qui est imago, vestivit se ipsum, ut esset increatus, immensus, qualis et pater; hominem autem, utpote creatum, [deus] fecit ad imaginem, non imaginem, et ›vestivit‹ non se ipso, sed ›secundum se‹ ipsum [Eccl. 17,1–2]. Eckhart versteht demnach unter ad imaginem factum nicht die ›unähnliche Ähnlichkeit des Menschen‹ insofern dieser ›nach dem Bilde Gottes geschaffen ist‹. Geschaffen-Sein bedeutet für Eckhart vielmehr ein bloßes ›Sein auf … ‹ (esse ad) – auf das Bild hin, das Christus ist. Diese (in der berühmten Pr. 9 entwickelte) ›Beiworthaftigkeit‹ des Geschaffenen ist daher auch nicht mehr zu denken als ein direktes Gleichwerden mit Gott: Homo non debet esse similis deo, sed unum cum deo (Proc. Col. II n. 3; LW V 319,5). Ausführlicher dazu unten in Abschnitt 3. 73 74

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daß »jeder Gedanke an ein Mittel (ratio medii) abgetan, weichen, zum Schweigen und zur Ruhe gebracht werden muß, auf daß die Seele in Gott Ruhe finde«?77 Wäre also anstatt eines »Gedankens an ein Mittel« ein unmittelbarer (Gottes-)Gedanke, gar in mystischer Schau, zu fassen? Eckhart hat hier wohl zugleich mehr und weniger im Auge − weniger, insofern hier nicht ein unmittelbarer und direkter Bezug zum Einen intendiert ist; mehr, insofern jeder Gedanke an ein Mittel nicht einfach zum Zweck eines unmittelbaren Bezuges zum Einen annihiliert werden kann, sondern dieser Gedanke selbst allererst seinen Charakter als Mittel (ratio medii) ablegen muß. Anders gesagt: Selbst wenn der Gedanke an ein Mittel bzw. ein zweckgerichtetes Denken negiert wird zu dem Zweck, die Einheit mit dem ununterschiedenen Einen zu erlangen oder zumindest vorzubereiten, dann wird die Negation dieses Vermittlungscharakters dabei wiederum als Mittel und das Eine als Zweck dieser Negation instrumentalisiert. Wie aber kann dann ein Mittel seines vermittelnden, zweckgerichteten Charakters »entkleidet« (exuere) werden, wenn ein unmittelbarer Bezug auf das Eine nicht erreichbar ist mittels einer zielgerichteten Negation aller Mittel und ihres vermittelnden Charakters? Der Gerechte als Gerechter liebt die Gerechtigkeit selbst unmittelbar, ohne jedes Mittel (nullo medio); ja die Gerechtigkeit ist vielmehr die Mitte selbst (medium ipsum), durch deren Mitte-Sein (quo mediante) die Seele des Gerechten alles liebt, was sie liebt, sogar sich selbst. Wenn sie daher ein Mittel liebt oder sieht, so liebt sie weder Gott noch sieht sie ihn.78 Dieses Beispiel vom Gerechten, das Eckhart sonst mit Vorliebe für seine ›Analogielehre‹ verwendet und das an dieser Stelle das geforderte ›Schweigen aller Mittel‹ (opportet quod omne medium sileat) illustriert, schließt hier ausdrücklich nicht den affirmativen Bezug der gerechten Seele auf alles, was sie liebt, ja nicht einmal den liebenden Bezug auf sich selbst, aus: »amat anima iusti omne quod amat, etiam se ipsam«.79 Dieser affirmative Bezug ist allerdings das ›Resultat‹ des unmittelbaren Mitte-Seins der Gerechtigkeit selbst. Sie ist als die Mitte (medium ipsum) zu erkennen,

So die Übersetzung der Kohlhammer-Ausgabe für in Sap. n. 285 (LW II 618,4 f.): Oportet ergo exuere, cedere, silere et quiescere ipsam rationem medii ad hoc, quod anima in deo quiescat. 78 in Sap. n. 284 (LW II 616,14–617,1): iustus, inquantum iustus, ipsam iustitiam amat immediate, nullo medio; quin immo iustitia est medium ipsum, quo mediante amat anima iusti omne quod amat, etiam se ipsam. Unde si amat medium aut etiam videt medium, nec amat deum nec deum videt. − Meine Übersetzung weicht hier von der Kohlhammer-Ausgabe ab, da diese die Doppeldeutigkeit von medium als ›Mittel‹ und ›Mitte‹ beinahe durchgehend ignoriert. 79 Zu Eckharts Verständnis der Selbstliebe siehe auch O. Langer, »Sich lâzen, sîn selbes vernihten. Negation und ›Ich-Theorie‹ bei Meister Eckhart«, in: Deutsche Mystik im abendländischen Zusammenhang, hg. von W. Haug und W. Schneider-Lastin, Tübingen 2000, 317−346; hier 325 f. 77

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die als ununterschiedene Mitte (quo mediante) jede Fremd- und Eigenliebe zurechtrückt und im radikalen Sinne vergleichgültigt. Gerecht-sein meint hier also eine aequalitas oder Gleich-Gültigkeit, die sich in ihrer Vergleichgültigung aller Hinsichtnahmen nicht nonchalant aus allem herausnimmt und heraushält, sondern die rechte Bezugsform auf den Einen Gott darstellt: Debet anima iusta esse apud deum et iuxta eum, recte aequaliter nec infra nec supra. Qui sunt illi, qui sic sunt aequales?80 Wenn Eckhart hier fragt, was denn eine gerechte Seele ausmacht, wenn sie in einer solchen aequalitas bei und neben Gott steht, so scheint er zunächst wiederum den Akzent auf eine Purifikation, auf ihr ›Frei-sein von …‹ zu legen: Qui sunt illi qui non habent similitudinem, in quibus non est aliqua imago nec aliqua forma, illi sunt omnes deo similes.81 Mit nichts Gleichheit zu haben, form- und bilderlos zu sein, bedeutet offensichtlich, Gott gleich (deo similis) zu sein, da »dessen Sein und Wesen unvergleichlich ist [d. h. in keinem Verhältnis der Gleichheit mit etwas steht] und in dem weder Bild noch Form ist«82. ›Dem zu gleichen, der nichts gleicht‹ scheint hier das paradox formulierbare Ziel zu sein – und doch ist damit keine positive Bestimmung, geschweige denn eine ›Handlungsmaxime‹ für die gerechte Seele erbracht. Denn worin denn genau dieses ›Freisein von …‹ bzw. diese Bilder- und Formlosigkeit bestehen soll, welcher Negationscharakter damit überhaupt verbunden sein soll, ist an dieser Stelle noch nicht gesagt. Anders formuliert: Daß die Seele bilder- und formlos sein muß, wenn sie recte aequaliter bei und neben Gott stehen soll, ist unbestritten. Wie sich aber nach Eckhart eine solche Bilder- und Formlosigkeit und damit jenes recte aequaliter ›einstellt‹ bzw. ›ergibt‹, bleibt noch offen.

80 Proc. Col. II n. 93 (LW V 340,9 f.) = Pr. 6 (DW I 107,3–5): Alsô sol diu gerehte sêle glîch bî gote sîn und bî neben gote, rehte glîch, noch unden noch oben. Wer sint die alsô glîch sint? 81 Proc. Col. II n. 93 (LW V 340,11 f.) = Pr. 6 (DW I 107,5): Di niht glîch sint, die sint aleine gote glîch. – Das glîch der deutschen Predigt 6 wird also in diesem Eckhart zur Last gelegten Artikel sowohl mit aequalis als auch mit similis wiedergegeben. Gerade diese übersetzerische Differenzierung des deutschen glîch bietet Eckhart dann die Gelegenheit, die geforderte Gleichheit ›mit‹ Gott (similitudo) als hinsichtslose Gleich-Gültigkeit (aequalitas) zu explizieren. (Ich zitiere daher die Passagen aus dieser Predigt 6 im folgenden nach ihrer lateinischen Wiedergabe und veweise in den Anmerkungen auf das deutsche ›Original‹.) 82 Proc. Col. II n. 93 (LW V 340,12 f.): quia esse dei non est simile, essentia dei non est similis, et in eo nec est imago nec forma (= Pr. 6 [DW I 107,6]: Götlich wesen enist niht glîch, in im enist noch bilde noch forme.)

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2.2 Gleichheit ›mit‹ Gott Bevor Eckhart darauf näher eingeht, beschreibt er die ›Folgen‹, sobald die Seele als bilder- und formlose und somit im Modus der aequalitas bei Gott »steht«: »Animae, quae sic stat aequaliter, illi dat pater aequaliter et nihil retinet quod non det ei.«83 Zunächst meint hier die aequalitas offensichtlich eine Bezugsform der Seele, die ausschließlich auf Gott ausgerichtet ist – ein »stare aequaliter apud et iuxta deum«. Eckharts nächster Satz jedoch löst sogleich den exklusiv auf Gott bezogenen Charakter jener aequalitas auf: Quidquid pater habet, hoc dat ei aequaliter, si ipsa stat aequaliter et non sit plus sibi ipsi quam alteri, et ipsa non debet sibi esse propinquior quam alteri. Suum proprium honorem et suam propriam utilitatem et quidquid suum est, illud non debet ipsa magis desiderare nec curare quam unius extranei. Quidquid est cuiuscumque, hoc non debet ei esse alienum nec distans, sive sit bonum sive malum.84 Will daher die Seele recte aequaliter bei Gott stehen, so hat sie sich ihrerseits in den Bezügen, in denen sie steht, als aequaliter zu erweisen, d. h. sich in ein gleich-gültiges Verhältnis zu sich selbst und zu den Dingen zu bringen. Insofern das »aequaliter stare« der Seele bei Gott zugleich ihr »aequaliter stare« bei den Dingen ist, scheint demnach dieses »aequaliter stare« der Seele eine Bezugsform zu meinen, die selbst Gott nicht ›bevorzugt‹.85 Anders gesagt: Eckharts Formel vom »aequaliter stare« 83 Proc. Col. II n. 93 (LW V 340,13 f.) = Pr. 6 (DW I 107,6 f.): Die sêlen, die alsô glîch sint, den gibet der vater glîch und entheltet in nihtes niht vor. 84 Proc. Col. II n. 93 (LW V 340,13–19; Hervorh. StG) = Pr. 6 (DW I 107,8−12): Swaz der vater geleisten mac, daz gibet er dirre sêle glîch, jâ ob si glîch stât ir selber niht mêr dan einem andern, und si sol ir selber niht næher sîn dan einem andern. Ir eigen êre, ir nuz und swaz ir ist, des ensol si niht mêr begern noch ahten dan eines vremden. Swaz iemannes ist, daz sol ir weder sîn vremde noch verre, ez sî bœse oder guot. 85 Diese Vergleichgültigung, die selbst vor dem Gottesbezug der Seele nicht Halt macht, dürfte auch jene Passage aus der bekannten ›Armutspredigt‹ motivieren, wo Eckhart Gott darum bittet, »daz er mich ledic mache gotes« (Pr. 52; DW II 502,6; die entsprechende anonyme lateinische Übersetzung lautet: »ut [deus] me liberum faciat a deo« vgl. DW II 520,125 f.). Eine (auf G. Steers Neuedition fußende) Interpretation dieser Predigt hat K. Flasch in: Lectura Eckhardi I, hg. von L. Sturlese/G. Steer, Stuttgart (u. a.) 1998, 164–199, vorgelegt. Flasch liest hier quît satt ledic (vgl. ebd. 178,1 und das beigegebene Stemma dieser Predigt). Vgl. auch ders., »Converti ut imago − Rückkher als Bild. Eine Studie zur Theorie des Intellekts bei Dietrich von Freiberg und Meister Eckhart«, in: Freiburger Zeitschrift für Philosophie und Theologie 45 (1998), 130−150; hier 144 ff. − Ähnliche Formulierungen des Gedankens finden sich etwa auch in Pr. 12 (DW I 196,6 f.): Daz hœhste und daz næhste, das der mensche gelâzen mac, daz ist, daz er got durch got [!] lâze. Wenn also Flasch für die ›Armutspredigt‹ festhält, Eckhart predige hier, »daß er keinen Gott mehr hat«, und zwar zunächst in der »Form, daß der Arme keine Willensintention mehr auf Gott richtet« (Lectura Eckhardi I 187), dann ist dies dahingehend zu präzisieren, daß der Arme in der Vergleichgültigung seiner Bezüge keine bevorzugte Willensintention auf Gott mehr kennt. Zu Pr. 12 und 52 haben sich etwa unterschiedlich geäußert: Mojsisch, »›Dynamik der Vernunft‹ bei Dietrich von Freiberg und Meister Eckhart«, in: Abendländische Mystik im

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vergleichgültigt ihrerseits die Bezugsformen der Seele – sie benimmt einerseits dem Bezug auf Gott den Charakter der Besonderheit im Sinne einer aus allen anderen Bezugsformen herausgenommenen Exklusivität, wie sie andererseits dem Bezug auf das Geschaffene die Besonderheit im Sinne einer bloßen Vereinzelung benimmt. Eine solche Art von Gleichheit ›mit‹ Gott tastet daher die Bezüge, in denen die gerechte Seele steht, nicht an. Vielmehr radikalisiert sie diese Bezüge der Seele so, daß nicht mehr die eigenen Präferenzen der Seele den Ausgangspunkt für ihren ›Bezug auf …‹ bilden können: »Ir eigen êre, ir nuz und swaz ir ist, des ensol si [sc. diu sêle] niht mêr begern noch ahten dan eines vremden«86 Erforderlich ist demnach zunächst, in allen Bezügen die Prävalenz der eigenen Belange außer Kraft zu setzen. Diesen Gedanken faßt Eckhart dann in der prägnanten Formulierung zusammen: »Alliu minne dirre werlt ist gebûwen ûf eigenminne. Hætest dû die gelâzen, sô hætest dû al die werlt gelâzen.«87 Die Umkehrung dieses Satzes scheint allerdings nicht ohne weiteres zu gelten: Wer bloß in einem contemptus mundi von der Welt abläßt, muß noch nicht unbedingt von der »eigenminne« gelassen, geschweige denn auch schon die Nächstenliebe verwirklicht haben.88 Vielmehr gilt: Wer von der Welt lassen will, darf nichts und niemanden verachten.89 Eckhart geht es also sicherlich um die Aufhebung dieser dem eigenen Selbst verpflichteten Prävalenzen und insofern um eine Aufhebung von ›lieb und leid‹ als den Wertmaßstäben, die einen Unterschied in den eigenen Hinsichtnahmen erst ermöglichen.90 Dies, so könnte man mit Eckhart sagen, »ist wol war in einem sinne«.91 Denn diese Aufhebung der eigenen Präferenzen läßt sich immerhin noch in einem negativierenden Sinne als Nonchalance gegenüber dem eigenen Selbst verstehen, das wie etwas völlig Fernstehendes behandelt und so im buchstäblichen Sinne verfremdet werden muß:

Mittelalter, hg. von K. Ruh, Stuttgart 1986, 135−144; sowie Langer, »Sich lâzen, sîn selbes vernihten« (wie Anm. 79), 326 ff. 86 Pr. 6 (DW I 107,10 f.) = Proc. Col. II n. 93 (LW V 340,16−18): Suum proprium honorem et suam propriam utilitatem et quidquid suum est, illud non debet ipsa [sc. anima] magis desiderare nec curare quam unius extranei. 87 Pr. 6 (DW I 107,13–109,1). 88 Vgl. RdU (DW V 194,5 f.): lieze ein mensche ein künicrîche oder alle die werlt und behielte sich selber, sô enhæte er nihtes gelâzen. 89 Vgl. dazu etwa Sermo XXII n. 214 (LW IV 199,3 f.): Humilis autem actus est: / »spernere mundum, spernere nullum […]«. Verwirklichte Demut, wie Eckhart sie hier unter Berufung auf einen Vers von Malachias von Armagh versteht, hat also mit bloß negativierender Weltverachtung nichts zu tun. 90 Vgl. dazu etwa R. Schönberger, »Wer sind ›grobe liute‹? Eckharts Reflexion des Verstehens«, in: Meister Eckhart. Lebensstationen – Redesituationen, hg. von K. Jacobi, Berlin 1997, 239–259; hier 256 f.: »In die vollkommene Entsprechung, Gleichheit mit Gott gelangt der Mensch erst, wenn er die Dinge ›als gleich‹ nimmt, den Unterschied von ›lieb und leid‹ aufhebt.« 91 Pr. 52 (DW II 498,6).

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Der mensche, der alsô stât in gotes minne, sol sîn selbes tôt sîn und allen geschaffenen dingen, daz er sîn selbes als wênic ahtende sî als eines über tûsent mîle. Der mensche blîbet in der glîcheit [= aequalitas] und blîbet in der einicheit.92 Ununterschiedene aequalitas könnte demnach als eine äquilibrale Form von Einheit zu verstehen sein, die kein Mehr und Minder kennt93 und die sich dieser Unterscheidung eben dadurch widersetzt, daß sie ihre Unbekümmertheit gegenüber einem ihr völlig Fernstehenden zum Vorbild nimmt für ihren Selbstbezug und damit überhaupt nichts mehr – weder sich noch anderes – anerkennt. Diese Negierung der eigenen Wertmaßstäbe hätte zur Folge, daß sich das eigene Selbst willentlich einen Status zuschreibt, den etwas Fernstehendes ohnehin schon hat. Eckharts Forderung nach aequalitas macht jedoch nicht bei einer derartigen Selbstverfremdung der Seele Halt, bei der die Seele zu sich selbst auf Distanz geht, sich verneint oder und damit die »eigenminne« außer Kraft setzt. Vielmehr ist die Außer-Kraft-Setzung der Eigenliebe allenfalls die Vorstufe dafür, daß die Seele dann auch Fremdes und Anderes wie etwas Eigenes erkennt und anerkennt. Erst mit dieser Nächsten- und Feindesliebe ist offenbar die Negation jeden Unterschiedes – als gleich-gültige oder ununterschiedene Affirmation jeden Unterschiedes – erreicht: »Swaz iemannes ist, daz sol ir weder sîn vremde noch verre, ez sî bœse oder guot.«94 Dieses in der Nächstenliebe beschlossene »weder sîn vremde noch verre, ez sî bœse oder guot« kennt nicht mehr die Negativität des »sîn selbes als wênic ahtende als eines über tûsent mîle«, welches den Anderen genausowenig wie das eigene Selbst affirmiert.95 Wie Eckhart den Negationscharakter in diesem affirmativen Konzept von aequalitas verstanden wissen will, zeigt sich in seiner prozessualen Responsio, wo er die

92 Pr. 12 (DW I 201,9–11) = Proc. Col. I n. 65 (LW V 221,17–22): Iste homo qui stat in amore, ille debet esse sibi ipsi mortuus et omnibus rebus creatis sic, quod ita parum curet de se sicut de uno, qui est ultra mille miliaria. Iste homo est in aequalitate [= glîcheit] et manet in unitate. 93 Vgl. z. B. in Ioh. n. 728 (LW III 636,12 f.): In uno autem non est minus et plus. 94 Pr. 6 (DW I 107,11 f.) = Proc. Col. II. n. 93 (LW V 340,18 f.): Quidquid est cuiuscumque, hoc non debet ei esse alienum nec distans, sive sit bonum sive malum. 95 Vgl. auch Pr. 4 (DW I 67,5–8) = Proc. Col. I n. 66 (LW V 221,1–6): homo debet diligere proximum suum sicut se ipsum, non solum, sicut rudes dicunt, quod diligat eum ad idem bonum, sed omni modo et ita intense debet eum diligere sicut se ipsum (Hervorh. StG). Das Ms. Soest 33, fol. 51 ra schreibt zwar eindeutig »debet deum diligere sicut se ipsum« (vgl. das Faksimile LW V 453), was sachlich nicht von der Hand zu weisen ist: Nächstenliebe ist für Eckhart, richtig verstanden, unmittelbar Gottesliebe. In erster Linie jedoch scheint Eckhart hier die rechte Weise des liebenden Bezuges auf den Nächsten im Blick zu haben, zumal er hier einigen rudes ein falsches Verständnis von Nächstenliebe vorwirft. Eindeutig auf den Nächsten bezogen ist die Parallelstelle: Proc. Col. II n. 104 (LW V 343,14–17); dort heißt es: […] debet eos ita intense diligere sicut se ipsum per omnem modum. Für Eckharts Gleichsetzung des gleich-gültig affirmierenden Bezuges mit dem Bezug auf den Einen Gott siehe etwa auch in Ioh. n. 290 (LW III 242,6–8): Diligit enim habens caritatem in nullo minus proximum quam se ipsum, diligit siquidem unum deum in omnibus et omnia in ipso.

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eben behandelte Passage aus Predigt 6 nochmals expliziert durch ihre Engführung mit dem biblischen Gebot der Nächstenliebe: Constat enim quod amans deum oportet quod [1.] abneget semet ipsum, tollat quod suum est, [2.] diligat proximum sicut se ipsum, [3.] sit conformis divinae voluntati, ut omne quod deus vult et ipse velit et aequaliter hoc et hoc. Nam si inaequaliter, iam non solum deum nec dei voluntatem nec deum in omnibus nec omnia in deo vult.96 Die Selbstverleugnung oder Aufhebung des Eigenen (1) markiert hier die Vorstufe für die Nächstenliebe (2), die erst in der Ausschlußlosigkeit und Gleich-gültigkeit ihres Wollens (aequaliter velle hoc et hoc) unmittelbar die Gleichförmigkeit mit Gottes Willen darstellt (3). Anders gesagt: Was im Akt der Selbstverleugnung negiert wird, ist der Negationscharakter, der in jedem Willensakt als einer prävalenten BeProc. Col. II n. 93 (LW V 340,20−24). − Das biblische Gebot der Nächstenliebe als die radikal affirmative Form von aequalitas ist in Eckharts Responsio durchgehend präsent und vielfältig verflochten mit seinen anderen, teilweise inkriminierten Grundthesen, etwa von der Nichtigkeit des Geschaffenen. Vgl. z. B. Proc. Col. I n. 145 (LW V 301,13−302,9); Proc. Col. II n. 69 (LW V 335,12−17); n. 72 (LW V 336,5−14). Allerdings könnte es so scheinen, daß Eckhart gerade hier, in einer Verteidigungsschrift, unter Zuhilfenahme eines unumstößlichen Theologumenon, wie es das biblische Gebot der Nächstenliebe ist, strategisch vorgeht, um so die Orthodoxie seiner Philosophie oder zumindest ihre Anschlußfähigkeit daran unter Beweis zu stellen. Dies würde aber bedeuten, daß Eckhart die Radikalität seiner Philosophie absichtlich durch ›theologisierende Argumente‹ verschleiert, in dem vollen Bewußtsein um die Gefährlichkeit seiner Philosophie, sobald diese ohne biblisch-theologische Rückendeckung auf einen Rezipienten stößt, welcher von seiner eigenen Ungeübtheit im Denken auf die Heterodoxie Eckharts schließt. Allerdings hält Eckhart seinen Widersachern nicht nur eine mangelnde Auffassungsgabe (ruditas), sondern zugleich auch Unfrömmigkeit (impietas) vor, so daß nun Eckharts eigener Anspruch auf Wahrheit nicht nur sein philosophisches Denken, sondern auch seine Theologie umfaßt (vgl. Proc. Col. I n. 86; LW V 279,11−13: manifeste concludo veritatem omnium illorum, quae ex libris meis et dictis obiciuntur, concludo etiam ruditatem et impietatem contradicentium, secundum illud Prov. 8[,7]: ›veritatem meditabitur guttur meum‹ quantum ad primum, ›et labia mea detestabuntur impium‹, quantum ad secundum). Ob hierbei Philosophie die Basis für Eckharts Theologie darstellt oder umgekehrt, ist eine müßige Frage, zumal Eckharts Konzept der affirmativen Gleich-gültigkeit der Hinsichtnahmen auch die eigenen philosophischen und theologischen Hinsichtnahmen mit einbegreift. Daher erschwert Eckharts Engführung des biblischen Gebotes der Nächstenliebe mit seinem Konzept der affirmativen Gleich-Gültigkeit (aequalitas) eine interpretatorische Grenzziehung, die von vornherein weiß, wo und wie sich bei Eckhart ›noch‹ Theologisches bzw. ›schon‹ philosophisch Verwertbares zeigt, das dann in Reinform herauspräpariert werden kann. Verkennt man also die Reichweite dieses Konzeptes von aequalitas, so ist es dann ein Leichtes, einer Eckhart-Deutung sogleich ein »theologisierendes Argument« (Mojsisch, »Nichts und Negation« [wie Anm. 6], 680 mit Anm. 18) bzw. einen weltanschaulichen Dogmatismus zu unterstellen, der nicht zum philosophischen Kern von Eckharts Denken vordringt. Gerade Eckharts Konzept der aequalitas als der gleich-gültig affirmativen Hinsichtnahme auf alles verunmöglicht die interpretatorische Herauslösung eines bestimmten − z. B. des philosophischen oder mystischen − Aspekts aus Eckharts Werk, welcher sich dann als der zentrale gegen andere, marginale Aspekte ausspielen läßt. 96

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zugnahme auf etwas impliziert ist. Diese Negation erfolgt aber nicht durch einen im eigenen Selbst gründenden Willensakt zweiten Grades, der nun zu seinem Inhalt hätte, nicht mehr inaequaliter zu wollen. Der eigene Wille müßte dann nämlich wollen, nicht mehr zu wollen. Keine Präferenzen mehr zu haben, wäre dann die Präferenz eines solchen Willens.97 Diese Form der Selbstaufhebung des eigenen Willens – eine Negierung der Negativität des Willens, ein Wollen des Nichtwollens – ist aber noch kein ununterschieden-affirmativer Bezug auf das Geschaffene. Die affirmative Ausschlußlosigkeit der Nächstenliebe schließt dagegen alles ein, was Inhalt des Willens werden kann. Sie ersetzt also nicht einfach das von Präferenzen geprägte ›etwas wollen‹ durch ein ›nichts wollen‹, das kein Wollen mehr sein will. Eine Annihilation des Wollens, das wesentlich in der Präferenz des »hoc« vor dem »illud« und damit in der Anerkennung eines Unterschiedes von »hoc« und »illud« besteht,98 sichert daher nicht vorweg eine Gleichförmigkeit mit Gottes Willen. Anders gesagt: ›Nichts zu wollen‹ wäre nur dann als eine Gleichförmigkeit mit Gottes Willen zu verstehen, wenn auch Gott selbst nichts wollte und er auf diese Weise einer Präferenz in seinem Wollen zuvorkäme. In diesem Fall wäre es dann tatsächlich besser, nichts zu wollen, als überhaupt zu wollen. Insofern aber Gott aequaliter will, besteht die Gleichförmigkeit der Seele mit Gott in ihrem gleich-gültigen Wollen: Dieses Wollen erst ist die aequalitas apud deum et iuxta eum, in der die Seele »weder ihren Willen noch ihr Sein verliert«.99 Vgl. auch Flasch zu Pr. 52: »Aber wie soll ich das Wollen einstellen, ohne eben dies zu wollen?« (Lectura Eckhardi, I 187.) 98 Vgl. Pr. 12 (DW I 195, 9–11) = Proc. Col. I n. 67 (LW V 222,12 f.): Et est naturale plus diligere unum hominem quam alium. 99 Vgl. Pr. 80 (DW III 387,2–5): Alsô geschihet der sêle: als sie got in sich ziuhet, sô wirt si gewandelt in got, alsô daz diu sêle götlich wirt und got niht sêle. Dâ verliuset diu sêle irn namen und ir kraft und niht irn willen und niht ir sîn. Dâ blîbet diu sêle an gote, als got an im selber blîbet. Siehe ad loc. auch E. Zum Brunn/A. de Libera, Maître Eckhart. Métaphysique du verbe et théologie négative, Paris 1984, 44 ff. – W. Haug bemerkt in seiner Interpretation zu Pr. 63 ›got ist mynne‹ (in Lectura Eckhardi I, 202–217; hier 217): »Lieben unter der Voraussetzung des glîch-Seins meint, daß wir das Liebenswerte am Geschaffenen nicht deshalb lieben, weil sich darin – platonistisch – ein Abglanz des Göttlichen zeigen würde, sondern weil dieses Liebenswerte, richtig verstanden, Gott selbst ist […]«. Abgesehen davon, daß Haug hier offenbar mit einem recht simplifizierten Begriff von »platonistisch« operiert, so ist es angesichts von Eckharts Konzept der aequalitas insbesondere fraglich, ob »Eckhart nirgendwo sonst [als in dieser Predigt 63] die Schöpfung so sehr verherrlicht, indem er sie ganz von der Liebe, die Gott ist, durchdrungen sein läßt, um sie dann als Weg zu Gott dermaßen radikal zu verwerfen« (ebd. 216). Wie bisher gezeigt, ist jedoch für die aequalitas als gleich-gültige Affirmation das Geschaffene weder ein Gegenstand, der um seiner selbst willen, d. h. jenseits von Gott, in den Blick rückt, noch ist es ein Mittel, über das man zu einem jenseitigen Gott gelangt. Daher gibt es für Eckhart weder einen ›Weg zu‹ Gott, der erst über das Geschaffene hinaus führen muß, noch einen Weg, der nun im Geschaffenen Gott findet. Vielmehr muß in allem Geschaffenen der Eine Gott und zugleich alles Geschaffene in Gott geliebt werden (Proc. Col. I n. 145; LW V 302,6: unum ama[re] deum in omnibus et omnia in deo). Wer also Gott hinter oder über dem Geschaffenen sucht und also Gott gerade nicht in allem liebt, findet ihn ebensowenig, wie wenn er ihn bloß im Geschaffenen liebt, 97

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Noch ist allerdings die Frage unbeantwortet, worin denn Eckhart den eigentlichen Grund dafür erblickt, daß eine Selbstverleugnung allenfalls die Vorstufe für den gleichgültig-affirmativen Bezug auf alles abgeben kann. Warum also hat die von Eckhart so oft wiederholte Aufforderung zur Verleugnung des eigenen Ich einen untergeordneten Stellenwert? In seiner Auseinandersetzung mit 2 Kor. 2,12 »scio hominem in Christo« interessiert Eckhart vor allem die sprachliche Tatsache, daß das »ego« in diesem biblischen Vers nicht eigens (mit »ego scio«) zum Ausdruck gebracht wird. Obgleich hier die explizite Verwendung von »ego« grammatisch nicht unbedingt erforderlich ist, so gibt es für Eckhart doch Gründe, in dieser Auslassung von »ego« mehr zu sehen als eine im Lateinischen übliche verkürzte Redeweise: Eckhart begreift diese Auslassung offensichtlich als ein sachlich gerechtfertigtes Verschweigen von »ego«.100 Ein Grund für dieses Verschweigen ist nach Eckhart nun der, daß wir der Welt und uns absterben sollen: »li ›ego‹ non exprimitur, quia debemus mori mundo, nobis, abnegare nos ipsos: ›vivo ego, iam non ego‹; ›non videbit me homo et vivet‹.«101 Die sprachliche Auslassung von »ego« begreift Eckhart demnach als eine Art von ›de nobis ipsis silemus‹, als eine Aufforderung zur Preisgabe der Ich-Zentriertheit, die alles andere vom eigenen Selbst her und auf dieses hin in Betracht zieht. Meint aber diese Preisgabe, daß das eigene Ich − wenn nicht physisch, so doch auf eine andere, ohne dieses auch in Gott zu lieben. Verwirklichte aequalitas besteht daher nicht in der Lösung der Frage, welchem ›Bezugsobjekt‹ sie den Vorzug geben sollte − ob nun Gott oder dem Geschaffenen −, sondern sie besteht in der rechten Weise dieses Bezuges selbst: Das Eine kommt nur in den Blick unter Hintanstellung der Frage, wer zu lieben sei. Anders gesagt: Gottesliebe ist aequalitas, die kein Mehr und Weniger, auch nicht in der Liebe zu Gott, kennt. Wenngleich daher aequalitas die Frage nach dem ihr eigenen Bezugsobjekt negiert oder hintanstellt, so ist sie doch keine Aufhebung von Bezüglichkeit überhaupt; vielmehr verwirklicht sie auf ihre Art eine superabundatia affirmationis. − Wenn übrigens für Haug »diese Predigt [63] in überraschender Weise aus dem gewohnten Rahmen« (Lectura Eckhardi I, 213) fällt, so befindet er sich insofern in bemerkenswerter Übereinstimmung mit Flasch, als auch dieser in seiner unmittelbar vorangehenden Interpretation der ›Armutspredigt‹ konstatiert: »Die Gnadentheologie der Pr. 52 oder sagen wir besser: ihre Perspektive ist nicht die anderer Werke Eckharts« (ebd. 196). Wenn also eine Lectura Eckhardi sich zu Recht an konkreten Texten Eckharts erproben muß, so mutet es doch befremdlich an, wenn eine solche Lectura nun beinahe in jedem einzelnen Textstück Eckharts »nova et rara« entdeckt. Ob ein solches atomisierendes Vorgehen tatsächlich dem perhorreszierten »Einfluß theoretischer Vorgriffe« (Flasch) in der Eckhart-Interpretation den Garaus macht, darf bezweifelt werden: Auch die minutiöse Konstatierung von kleinsten Abweichungen, die Eckhart in diesem oder jenem Text vornimmt, setzt ein Vorverständnis darüber voraus, was bei Eckhart als normal oder typisch zu gelten hat. 100 Genau spiegelverkehrt verhält sich der Fall, wenn Eckhart darauf hinweist, daß »ego« in einem biblischen Vers − so vor allem in Ex 3,14 »Ego sum qui sum« − explizit verwendet wird, obgleich dies grammatikalisch nicht notwendig wäre. Hier hat die explizite Nennung von »ego« für Eckhart die Funktion, die reine Substanz Gottes anzuzeigen: Li ego pronomen est primae personae. Discretivum pronomen meram substantiam significat: meram, inquam, sine omni accidente, sine omni alieno, substantiam sine qualitate, sine forma hac et illa, sine hoc et illo. Haec autem deo et ipsi soli congruunt, qui est super accidens, super speciem, super genus. Ipsi, inquam, soli (in Ex. n. 14; LW II 20,3−7). 101 Sermo XXII n. 213 (LW IV 198,13–199,1).

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bestimmte Weise − zu verneinen ist, wie dies auch in dem dazu angeführten biblischen Wort »vivo ego, iam non ego« (Gal. 2,20) anzuklingen scheint? Diese Stelle wäre durchaus in diesem Sinne lesbar, wenn Eckhart nicht solgeich festhielte: «Nota etiam quod li ›ego‹ meram substantiam significat, et nihilominus ipsum oportet abnegare.«102 Eckhart weist hier eigens darauf hin (nota etiam quod), daß »ego« sich auch in der Bedeutung von »mera substantia« verstehen läßt und selbst dann noch (nihilominus) zu verneinen ist. Warum also ist das »ego«, selbst im Sinne dieses reinen selbständigen Seins, das seiner Ich-Zentriertheit und der Welt abgestorben ist, zu verneinen? Selbstbescheidung als Heilmittel gegen den amor sui reicht für Eckhart offenbar nicht aus. Insofern nämlich wir es sind, die wir uns selbst und die Welt zu verneinen haben, ist in dieser Verneinung gleichwohl ein Selbststand des negierenden Ichs impliziert, das in Differenz tritt zu dem negierten Inhalt, der in diesem Fall nicht nur die Welt, sondern auch das eigene Selbst ist. Die Kraft der Selbst-Negation scheint demnach für Eckhart von begrenzter Tragweite zu sein, sofern diese auf dem eigenen Selbst als dem Agens dieser Negation beruht. Selbstverleugnung ist daher keine wie auch immer geartete Selbstaufhebung, die vom Ich gesteuert würde, sondern Aufhebung der negierenden Tätigkeit des Ichs, mittels derer es sich aus den Bezügen, in denen es steht, herausnimmt. Der Modus dieser negierenden Bezugsform ist also entscheidend. Gleichsam verdichtet zeigt sich diese Konstellation in dem Vers, den Eckhart im unmittelbaren Anschluß zitiert: »spernere mundum, spernere nullum, spernere sese, / spernere se sperni«.103 Weltverachtung (spernere mundum), so wird hier gesagt, darf nicht zur Verachtung von allem und jedem führen (spernere nullum). Ebenso ist die Selbstverachtung (spernere sese) als solche offensichtlich nicht der Gipfelpunkt jener Verachtung, da der Vers fortfährt: »spernere se sperni«. Nun gibt die passive Konstruktion dieses letzten Satzes – ›zu verachten, daß man verachtet wird‹ – das Agens derjenigen Verachtung, die dem eigenen Selbst gilt, nicht an. Damit erhält dieser Satz einen mehrdeutigen Sinn. Das eine Mal versteht sich der Satz als Aufforderung, daß man der Verachtung oder gar Anfeindung, die dem Ich von anderen entgegengebracht wird, mit Nichtbeachtung begegnen soll.104 Das andere Mal jedoch fordert dieser Satz zu einer Geringschätzung der zunächst eingeforderten Selbstverachtung (spernere sese) auf: zur Verachtung dessen, daß man sich selbst verachtet. Sermo XXII n. 213 (LW IV 199,1 f.); Hervorh. StG. Sermo XXII n. 214 (LW IV 199,4 f.). 104 Als biblischer Hintergrund dieser Lesart ist denkbar die apostolische Aufforderung Christi an seine Jünger: »Wo man euch nicht aufnimmt, da geht fort von jener Stadt und schüttelt den Staub von euren Füßen als Zeichen gegen sie.« Vgl. dazu Mt. 10,14 f.; Mk. 6,11; Luk. 9,5. – Bemerkenswert in diesem Zusammenhang ist auch, daß Eckhart, soweit ich sehe, diesem biblischen Diktum Christi keine gesonderte Auslegung gewidmet hat. 102 103

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Für die letztere Lesart spricht insbesondere, daß mit ihr der gesamte Vers einen streng parallel gebauten Gedanken erkennen läßt: Das jeweils direkte Objekt der Verachtung – die Welt (spernere mundum) und das eigene Ich (spernere sese) – wird in eine Bewegung miteinbezogen, die den negativierenden Charakter jenes Weltund dann auch des Ich-Bezuges sukzessive außer Kraft setzt (spernere nullum − spernere se sperni). Wie nämlich die Verachtung der Welt gerade nicht die negativierende Geringschätzung von irgend etwas in der Welt zum Ziel hat, so läuft auch jene Selbstverachtung nicht einfach auf eine bloße Geringschätzung des eigenen Selbst hinaus. Eine solche negativierende Bezugsform brächte wohl eine Konzentration auf das jeweils zu Negierende mit sich, die diesem nicht angemessen ist. Eckhart kommt es also in erster Linie nicht auf die direkte Negation von Ich und Welt an, sondern auf die rechte Bezugsform zu ihnen. Insofern ist es auch eine bestimmte Form der Verachtung oder Negierung des Selbst, die zum Grund für eine affirmative Hinwendung zur Welt wird: Richtig verstandene Selbstverachtung meint eine Selbstlosigkeit, der es nicht mehr ausschließlich um das eigene Selbst − und sei es in Form einer auf sich selbst konzentrierten Negation − zu tun ist. Und so ist zwar Selbstverleugnung oder Selbstverneinung die notwendige Voraussetzung für eine selbstlose Hinwendung zur Welt. Diese selbstlose Hinwendung zeichnet sich aber mitnichten durch eine Verneinung aller Bezüge aus, die dem eigenen Selbst zu einer »unberührbaren« Bezugslosigkeit und so zu einer vermeintlich reinen Substantialität (mera substantia) verhilft.105 Wenn überhaupt beim Geschaffenen von seiner reinen Substantialität die Rede sein kann, dann doch nur im Sinne eines relationalen ›Seins bzw. Stehens bei und neben Gott‹ (stare apud et iuxta deum). Reine Substanz ist für Eckhart nicht gleichbedeutend mit Bezugslosigkeit schlechthin; im Gegenteil: reine Substanz ist nur denkbar als ununterschiedener, gleich-gültig affirmativer Bezug.

2.3 Das notwendige Eine Diesen gleich-gültig affirmativen Bezug hat Eckhart wohl im Auge, wenn er in seiner berühmten Predigt 86 »Intravit Iesus in quoddam castellum«106 das interpretatorische Gewicht auf die Gestalt der aktiv-besorgten Martha legt. Dadurch bringt Eckhart ganz offensichtlich einen Akzent in die hier ausgelegte Perikope (Luk. 10,38−42) hinein, der auf den ersten Blick nicht mit ihrem Wortlaut zu vereinbaren ist. Es sieht sogar so aus, als ob Eckharts Sympathie in dieser Predigt eindeutig Martha als der Vertreterin der Vita activa gilt und daß er ihr gegenüber Maria abwertet, die nach traditionellem Verständnis die Vita contemplativa verkörpert. Damit scheint sich 105 106

Weiteres zu Eckharts Gegenüberstellung von »unberührt« und »gleich-gültig« siehe unten, 71 ff. Pr. 86 (DW III 481−492).

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Eckhart über das biblische Zeugnis einfach hinwegzusetzen, dem zufolge doch Maria »den besseren Teil erwählt hat« (Luk. 10,42: Maria optimam partem elegit).107 Was nun Eckhart an der Martha-Gestalt interessiert, ist offenbar eine Bezugsform zur Welt, die sich nicht sogleich in die Alternative von Weltflucht und Weltbejahung einspannen läßt und die damit auch keinen strikten Gegensatz zwischen Martha und Maria aufmacht. Zugespitzt gesagt, gilt Eckharts vorrangiges Interesse in dieser Predigt nicht, wie so oft hervorgehoben wurde, dem Verhältnis von Vita activa und Vita contemplativa, sondern zunächst der Martha-Gestalt. Eckharts ›Umdeutung‹ der biblischen Vorlage ist daher auch nicht von dem Wunsch bestimmt, jenem Verhältnis eine neue Gewichtung zu geben, welche der Vita activa endlich zu ihrem Recht als einem eigenständigen Weg zu Gott verhilft.108 Eckharts Konzentration auf die Martha-Gestalt scheint vielmehr auf die Bedingungen abzuzielen, unter denen die Vita activa einen − vernunfterhellten − Weg zu Gott abgeben kann: »Danne ist er [sc. der mensche] in redelîcher genüegede, sô liep und leit der crêatûre daz oberste wipfelîn [der sêle] niht geneigen enmac her abe.«109 So spricht etwa Haas von einer »außerordentliche[n] Umdeutung des Maria-Martha-Modells im Sinne einer extremen Bevorzugung der Martha durch Meister Eckhart« (A. M. Haas, »Die Beurteilung der Vita contemplativa und activa in der Dominikanermystik des 14. Jahrhunderts«, in: ders., Gottleiden – Gottlieben [wie Anm. 65], 97–108; hier 102). Siehe auch ders., Meister Eckhart als normative Gestalt geistlichen Lebens, Einsiedeln 1979, 70 ff. (mit weiteren Literaturangaben). Ebenso ist nach Kurt Ruh die Predigt 86 »völlig auf Martha ausgerichtet […], was dem Wortlaut und dem Sinn des Evangelientextes widerspricht. Merkwürdigerweise bleibt diese Abweichung unbegründet« (K. Ruh, »Maria und Martha bei Johannes von Sterngassen und Meister Eckhart«, in: Magister et amicus [FS K. Gärtner], hg. von V. Bok und F. Shaw, [Wien] 2003, 669−676; hier 673). Dieser communis opinio schließt sich neuerdings auch K. Flasch mit aller Verve an: »Manchmal stellt der ›Exeget‹ Eckhart die Aussage der Bibel geradezu auf den Kopf. Dafür gibt es viele Belege, zum Beispiel die deutsche Predigt Jesus intravit in quoddam castellum […]. Der Jesus des Evangeliums stellt mit unbezweifelbarer Deutlichkeit Maria über Martha: Sie hat den besseren Teil erwählt. Aber Eckhart nimmt sich die Freiheit, die Rangfolge umzukehren, und erteilt Martha den Vorrang« (K. Flasch, Meister Eckhart. Die Geburt der »deutschen Mystik« aus dem Geist der arabischen Philosophie, München 2006, 20). Alle interpretatorischen Versuche, »Eckharts radikale Umdeutung […] abzuschwächen«, ignorieren für Flasch daher »das historische Phänomen« von Eckharts Umdeutung (ebd., 21). 108 Der sachliche Grund für Eckharts ›Umdeutung‹ der biblischen Vorlage scheint mir daher nicht in psychologischen Kategorien beschreibbar zu sein: »In dieser Predigt [86] über Maria und Martha […] kommt in besonderer Weise etwas Menschliches und Gütiges bei Meister Eckhart zum Ausdruck, er scheint hier innerlich sehr frei zu sein, er spricht heiter, entspannt, humorvoll und in gewisser Großzügigkeit, was schon seine Abwandlung der Evangelienstelle zeigt, über die seine Predigt gehalten ist und mit der er in überlegener Weise spielt« (T. Beckmann, Studien zur Bestimmung des Lebens in Meister Eckharts deutschen Predigten, Frankfurt a. M./Bern 1982, 152). Von jener »Abwandlung der Evangelienstelle« mag sich zwar auf Eckharts interpretatorische »Großzügigkeit« und eine damit verbundene psychische Disposition − also etwa auf seine ›unverkrampfte Sicht der Dinge‹ − schließen lassen. Die gewichtigere Frage indes scheint mir zu sein, aus welchen Gründen Eckhart überhaupt zu einer solchen Sicht kommt. 109 Pr. 86 (DW III 482,11 f.). Massive Zweifel an der Echtheit dieser Predigt sind nun gerade damit begründet worden, daß Eckharts freier Umgang mit der biblischen Vorlage »bis zum Gegenteil des Ursinns − bis zur Verherrlichung Marthas auf Kosten Marias« (O. Karrer) führe und daß dies eine für 107

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Was also die Martha-Gestalt nach Predigt 86 zunächst auszeichnet, ist eine Bezugsform, die die Welt affirmiert, ohne in diesem Weltbezug aufzugehen. Diese weltzugewandte Bezugsform entdeckt Eckhart vor allem in dem auf Martha gemünzten Diktum Christi »solicita es«/»dû bist sorcsam« (Luk. 10,41), das in Eckhart Augen von Marthas ›Stehen bei den Dingen‹ spricht: Dâ von sprach er [sc. Kristus]: ›dû [sc. Marthâ] bist sorcsam‹, und meinte: dû stâst bî den dingen, und diu dinc enstânt niht in dir; und die stânt mit sorgen, die âne Eckhart untypische Bevorzugung der Vita activa vor der Vita contemplativa erkennen lasse. So lautet etwa Kurt Ruhs buchstäblich letztes Wort zur Maria-Martha-Predigt: »Das unablässige Martha-Lob auf Kosten der Maria widerspricht so sehr dem Evangelientext, wie man es Eckhart nicht zumuten darf. Vollends die zahlreichen Ungereimtheiten, die Unverständlichkeit vieler Aussagen und der niveaulose Schluß lassen keinen Zweifel mehr zu, daß ein[en] solche[n] Text der Meister nicht geschrieben haben kann« (Ruh, »Maria und Martha« [wie Anm. 107], 674). In diesem Sinne haben sich etwa auch geäußert: S. Hummler, »Sprache als Medium der mystischen Erfahrung. Über das Verhältnis von Aktion, Kontemplation und Sprache in Eckharts Interpretation von Lk 10,38«, in: Festschrift für Walter Haug und Burghart Wachinger, hg. von J. Janota, Tübingen 1992, I 363−387; G. Stachel, »Stammt Predigt 86 Intravit Iesus in quoddam castellum von Meister Eckhart?«, in: ZfdA 125 (1996), 392−403; sowie ders., »Die Predigt über vita activa und contemplativa (Martha-Maria-Predigt; Q 86) stammt nicht von Eckhart«, in: ders., Meister Eckhart. Beiträge zur Diskussion seiner Mystik, Würzburg 1998, 49−59. − Allerdings ist weder Eckharts freier Umgang gerade mit diesem biblischen Text noch seine (Um-)Deutung des biblisch verbürgten Martha-Tadels so exzeptionell, wie von jenen Interpreten behauptet. So ist insbesondere D. Mieth der diesbezüglichen vor-eckhartischen Exegese von Luk. 10,38 ff. (bei Aelred von Rievaulx, Albertus Magnus u. a.) nachgegangen. Vgl. dazu v. a. Mieth, Die Einheit von Vita activa und Vita contemplativa in den deutschen Traktaten Meister Eckharts und bei Johannes Tauler, Regensburg 1969, 29 ff.; sowie M. Wehrli-Jones, »Maria und Martha in der religiösen Frauenbewegung«, in: Abendländische Mystik im Mittelalter (wie Anm. 85), 354–367; bes. 361 ff. (zu Eckharts Pr. 86). Neuerdings hat Mieth seine Sicht der Dinge nochmals verteidigt in Lectura Eckhardi II, hg. von G. Steer/L. Sturlese, Stuttgart 2003, 156−175 (mit ausführlichen Literaturangaben). – Innerhalb von Eckharts Werk bietet Pr. 2 (DW I 24−45) insofern eine strikte Parallele zur Pr. 86, als Eckhart hier ebenfalls von Luk. 10,38 ff. Intravit Iesus in quoddam castellum et mulier quaedam, Martha nomine, excepit illum ausgeht und sich dabei einen massiven übersetzerischen Eingriff in den biblischen Wortlaut erlaubt: Die als »mulier quaedam« apostrophierte Martha verwandelt Eckhart zwar ohne unmittelbare Evidenz, doch aber aus von ihm als notwendig erachteten Gründen in seiner deutschen Reformulierung zu einer »juncvrouwen, diu ein wîp was«. (DW I 24,5 f.). Denn, so Eckhart, »ez muoz von nôt sîn, daz si [= Marthâ als wîp] ein juncvrouwe was, der mensche, von der Jêsus wart empfangen« (ebd. 24,7 f.). Kein Wunder also, daß auch dieser Umgang Eckharts mit dem biblischen Text die Interpreten stutzig gemacht hat und sie zu Qualifikationen wie »eigenwillige Übersetzung« (Largier) oder »erstaunliche Veränderung« (Ruh) greifen ließ. Vgl. N. Largier, »Repräsentation und Negativität. Meister Eckharts Kritik als Dekonstruktion«, in: Contemplata aliis tradere. Studien zum Verhältnis von Literatur und Spritualität, hg. von C. Brinker et al., Bern (u. a.) 1995, 371−390; hier 374; sowie Ruh, Geschichte der abendländischen Mystik (wie Anm. 65), 333. Den genau kalkulierten Sinn und Zweck von Eckharts ›Ergänzung‹ der Lukas-Stelle in Pr. 2 habe ich ein Stück weit zu erhellen versucht in »Zwei Sprachen und das Eine Wort. Zur Identität von Meister Eckharts Werk«, in: Vivarium 41 (2003), 47−83; hier 62 ff. Zu diesen beiden Predigten Eckharts vgl. v. a. M. de Gandillac, »Deux figures eckhartiennes de Marthe«, in: Métaphysique, histoire de la philosophie (FS F. Brunner), Neuchâtel 1981, 119–134; sowie neuerdings unter dem Aspekt eines »Ethos der Nicht-Unterscheidung«: G. Faden, »Meister Eckharts Dialektik«, in: Bochumer Jahrbuch für Antike und Mittelalter 8 (2003), 87−107; hier 95 f.

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hindernisse stânt in allem irm gewerbe. Die stânt âne hindernisse, die alliu iriu werk rihtent ordenlîche nâch dem bilde des êwigen liehtes; und diu liute stânt bî den dingen und niht ín den dingen. Sie stânt vil nâhe und enhânt es niht minner, dan ob sie stüenden dort oben an dem umberinge der êwicheit.110 Offensichtlich kommt es Eckhart hier auf die nähere Kennzeichnung dieses ›Stehens bei…‹ an, da er auf seine Formel von Marthas besorgtem ›Stehen bei den Dingen‹ eine Reihe weiterer Bestimmungen folgen läßt, die über das individuelle Verhalten Marthas hinaus verallgemeinerbare Aussagen treffen. ›Sorgsam zu sein‹ meint demnach, daß man ›bei Dingen steht‹, ohne daß diese Dinge ›in‹ dem solchermaßen Sorgsamen ›stehen‹, dort gleichsam Fuß fassen können. Erst solch ein Stehen bei den Dingen, das sich weder auf die Dinge um ihrer selbst willen einläßt noch sich von ihnen abwendet und damit die Alternative ›Weltbejahung oder Weltflucht‹ nicht (mehr) kennt, ist in seinem Tun (gewerbe) unbehindert − »ungehindert von allen dingen«, wie es an anderer Stelle der Predigt heißt.111 Solchermaßen ungehindert steht hinwieder, wer seine Werke in rechter Weise (ordenlîche) nach dem Vorbild des ewigen Lichtes einrichtet; »und diu liute stânt«, wie Eckhart nochmals ausdrücklich erklärt, »bî den dingen und niht ín den dingen«. Dieses richtig verstandene Verhältnis zu den Dingen, welches Eckhart − in Abhebung von einem Stehen in den Dingen − als ein Stehen bei ihnen bezeichnet, ist dabei entscheidend geprägt von der ›Vorbildfunktion‹, die das ewige Licht für ein solches Stehen offensichtlich hat. Diese ›Vorbildfunktion‹ besteht aber darin, daß das ewige Licht über den Wechsel und den Unterschied von Tag und Nacht erhaben ist: Und dâ ›sint die tage übel‹ [Eph. 5,16], daz verstât alsô: tac bewîset naht. Enwære kein naht, sô enwære und hieze es ouch nit tac, wan ez wære allez éin lieht; und daz meinte Paulus, wan ein liehtez leben ist alze keine, bî dem noch iht vinsternisse gesîn mac, daz einen hêrlîchen geiste bewîlet und beschatewet êwiger sælde.112 Von »Übel« sind hier für Eckhart offenbar nicht »die Tage« als solche − und damit auch nicht einfach der zeitliche Charakter des Geschaffenen. Vielmehr ist es der Unterschied und Gegensatz von Tag und Nacht, von Hell und Dunkel, der einem lichten, in dem Einen Licht stehenden Leben (liehtez leben) entgegensteht. Es ist nun offensichtlich diese Konstellation, die den Weg vorgibt, wie die Zeitlichkeit, die doch hier als ein grundlegendes Konstituens des Erschaffenen namhaft gemacht wird, überwunden werden kann: Eine Überwindung der Zeit (die zît lœsen113) kann keinesfalls ein Überspringen der Zeitlichkeit meinen. Vielmehr sind wir nach 110 111 112 113

Pr. Pr. Pr. Pr.

86 (DW III 485,2−8). 86 (DW III 489,6). 86 (DW III 485,15−19). 86 (DW III 485,14).

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Eckhart »in die Zeit gestellt, damit wir durch vernunfterhelltes Tun in der Zeit Gott näher kommen und gleicher (glîcher) werden.«114 Heißt das aber für Eckhart, daß man sich nicht nur »von jeglicher Bindung an die«, sondern auch noch »von der Nähe zu den Kreaturen lösen« muß?115 Dagegen spricht offensichtlich, daß Eckhart ein Stehen bei den Dingen ausdrücklich als ein Stehen âne hindernisse begreift: »Die stânt âne hindernisse […]; und diu liute stânt bî den dingen und niht ín den dingen.«116 Als ein »Werk und Tun in der Zeit« ist dieses Stehen bei den Dingen aber auch insofern âne hindernisse, als es kein Hindernis für die »ewige Seligkeit« darstellt.117 Daher ist ein Stehen bei den Dingen gleichwertig mit einem Stehen am Horizont der Ewigkeit (umberinc der êwicheit), welcher über allen Dingen und unter Gott (ob allen dingen und under gote) anzusiedeln ist.118 Nicht die Dinge oder die Zeitlichkeit als solche, sondern ein bestimmtes Verhältnis ihnen gegenüber verhindert also nach Eckhart, »daß man ohne Unterlaß mit der

Pr. 86 (DW III 485,11−13): Wan dar umbe sîn wir gesetzet in die zît, daz wir von zîtlîchem vernünftigen gewerbe gote næher und glîcher werden. − Einen ähnlichen Gedanken formuliert etwa Pr. 32 (DW II 134,5 f.). 115 So lautet Quints übersetzerische Ergänzung zu dem zuletzt zitierten Satz Eckharts: »Denn dazu sind wir in die Zeit gestellt, daß wir durch vernunfterhelltes Wirken in der Zeit Gott näher kommen und ähnlicher werden « (DW III 594). Nach diesem Verständnis würde also Eckhart die unmittelbar zuvor getroffene Unterscheidung zwischen einem ›Stehen bei den Dingen‹ und einem ›Stehen in den Dingen‹ wieder zunichte machen, da beide Modi des Stehens gleichermaßen ein Hindernis auf dem Weg zu Gott darstellen würden. Zur Lösung solcher ›Widersprüche‹ hat sich in der Eckhart-Literatur mittlerweile die Rede von Eckharts ›Perspektivismus‹ eingebürgert, nach der »es dem Meister des Perspektivismus, der Eckhart nun einmal ist, nichts ausmacht, seine Äußerungen zu korrigieren und zugleich zu behaupten, daß er weiterhin dasselbe im Blick habe« (Mieth ad Pr. 86, in: Lectura Eckhardi, II 171). Bevor man sich an unserer Stelle zu einer ›perspektivischen‹ Auflösung entschließt, sollte jedoch zunächst geprüft werden, ob hier ein solcher Widerspruch Eckharts überhaupt vorliegt. 116 Pr. 86 (DW III 485,4−6). 117 Pr. 86 (DW III 485,8 f.): werk und gewerbe in der zît, und daz enminnert niht êwige sælde. 118 Pr. 86 (DW III 486,5). − Die Formulierung »umberinc der êwicheit« bzw. »am umberinge der êwicheit« gebraucht Eckhart sechsmal in dieser Predigt (DW III 485,7; 486,5; 486,10; 486,19; 487,12; 489,2). Daß diese Wendung in Eckharts Werk sonst nicht belegt ist, gilt Ruh als ein weiteres Indiz dafür, daß diese Predigt nicht von Eckhart stammen kann; vgl. ders., »Maria und Martha« (wie Anm. 107), 673 mit Anm. 14. Mag diese Formulierung Eckhart sonst fremd sein, so ist sie dies der Sache nach keineswegs, da es sich hierbei um eine allzu offensichtliche Anspielung auf die prop. II des »Liber de Causis« handelt; dort heißt es: Esse vero quod est post aeternitatem et supra tempus est anima, quoniam est in horizonte aeternitatis inferius et supra tempus (Liber de Causis, prop. II 22 Schönfeld 6). Dieser Grenzcharakter »post aeternitatem et supra tempus«, der die menschliche Seele (und nicht die Weltseele, wie im »Liber de Causis« gemeint,) auszeichnet, macht eine eindeutige bzw. exklusive Konzentration auf das Zeitliche oder auf die Ewigkeit für Eckhart hinfällig. Anders: Es geht Eckhart hier weder um eine Hinwendung zum Zeitlichen auf Kosten der Ewigkeit noch um eine Hinwendung zur Ewigkeit auf Kosten des Zeitlichen, sondern um die Frage nach der − angemessenen − Konzentration auf die Ewigkeit innnerhalb der Zeit. Dies wiederum ist ein Gedanke, der Eckhart auch sonst durchaus nicht fremd ist; vgl. etwa Pr. 32 (DW II 133, 1 ff.). 114

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Vernunft aufsteigen kann in Gott« − und das meint hier: daß man »nicht nach bildhafter Unterschiedlichkeit [aufsteigt], sondern vielmehr in vernunftgeprägter, lebensvoller Wahrheit«.119 Den Grund aber, warum es erforderlich ist, »ganz nahe bei« − und eben nicht in − den Dingen zu stehen, sieht Eckhart darin, daß alles Geschaffene den Charakter des Mittels, das sich sozusagen zwischen Gott und die Seele schiebt, nicht abzulegen vermag: ›Vil nâhe [bî den dingen]‹, spriche ich [= Eckhart], wan alle crêatûren die mittelnt. Mittel ist zwîfalt. Einez ist, âne daz ich in got niht komen enmac: daz ist werk und gewerbe in der zît, und daz enminnert niht êwige sælde. Werk ist, sô man sich üebet von ûzen an werken der tugende; aber gewerbe ist, sô man sich mit redelîcher bescheidenheit üebet von innen. Daz ander mittel daz ist: blôz sîn des selben.120 Die hier eingeforderte Nähe zu den geschaffenen Dingen stellt für Eckhart offensichtlich weder einen Widerspruch noch eine andere Perspektive gegenüber dem Vermittlungscharakter eben dieser geschaffenen Dinge dar, welchen es ja gerade zu überwinden gilt.121 »Werk und Wirken in der Zeit« sind also geradezu ein notwendiges Mittel, »ohne das ich nicht zu Gott gelangen kann«. Ein Umgang mit den Dingen ist unausweichlich, ja notwendig. Allerdings ist eine solchermaßen verstandene Vita activa nur die eine Seite der Medaille, da ja Eckhart noch von einem »anderen Mittel«, das zu Gott führt, spricht: Dieses andere Mittel besteht darin, sich bei jenem »Werk und Wirken in der Zeit« als einem Mittel oder Weg zu Gott eben auch von diesem Mittel unbeeinflußt zu halten (blôz sîn des selben). Es ist dies kein Perspektivenwechsel, der von einem ersten, noch als unzureichend befundenen Mittel auf ein anderes Mittel übergeht, welches zwar als besser im Vergleich zum ersten Mittel − als weniger ›instrumentell‹ − gelten könnte, aber eben doch ein Mittel bleiben würde.

Pr. 86 (DW III 485,14 f.): ›Die zît lœsen‹ [Eph. 5,16] ist, daz man âne underlâz mit vernünfticheit ûfgâ in got, niht nâch bildelîcher underscheidenheit, mêr: mit vernünftiger lebelîcher wâhrheit. 120 Pr. 86 (DW III 485,7−11). 121 Mit seiner Übersetzung liest Quint in den Eckhartischen Satz − »›Vil nâhe [bî den dingen]‹, spriche ich, wan alle crêatûren die mittelnt« − wiederum den Widerspruch hinein, demzufolge weder ein Stehen bei den Dingen noch ein Stehen in den Dingen sich vom Vermittlungscharakter der Dinge zu lösen vermag: »›Ganz nahe‹, sage ich [sc. Eckhart], denn alle Kreaturen ›mitteln‹ « (DW III 594). Zwar vermögen weder die Dinge von sich aus ihren Vermittlungscharakter abzulegen, noch vermag jenes Stehen bei den Dingen deren Vermittlungscharakter einfach aus der Welt schaffen bzw. negieren. Gleichwohl vermag ein Stehen bei den Dingen unter bestimmten Voraussetzungen eine Bezugsform zu realisieren, die jenen Vermittlungscharakter nicht zur Geltung kommen läßt. Und es sind, wie sich noch zeigen soll, diese besagten Voraussetzungen, denen Eckharts Aufmerksamkeit in dieser Predigt gilt. 119

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Aus diesem Grund macht Eckhart im weiteren Verlauf der Predigt auch keinerlei Anstalten, jenes ›Stehen bei …‹ bzw. jene Nähe als ein zu überwindendes Mittel wieder zu relativieren. Im Gegenteil: Ein Stehen »bei der Sorge, nicht aber in der Sorge« bleibt für Eckhart weiterhin »genauso edel wie irgendein Sich-in-Gott-Versenken; denn es bringt ebenso nahe [zu Gott] wie das Höchste (oberste), das uns zuteil werden kann, ausgenommen allein die Schau Gottes in [seiner] reinen Natur«.122 Und wie zur Bekräftigung fährt Eckhart fort: Dâ von sprichet er [sc. Kristus]: ›dû stâst bî den dingen und bî der sorge‹ und meinet, daz si [sc. Marthâ] was wol mit den nidern sinnen betrüebet und bekümbert, wan si niht alsô verwenet stuont in geistes süeze. Si stuont bî den dingen, niht in den dingen; si stuont sunder und ez sunder.123 Ein Stehen bei den Dingen ist demnach kein Stehen in den Dingen − aber ebensowenig ein schwärmerisch-verzärteltes Stehen in geistigem Hochgefühl (in geistes süeze), das sich in reiner Unbezogenheit abseits von den Dingen hält.124 Eine solche Nähe, die bei den Dingen und bei der Sorge (um diese Dinge) steht, wird also durch eben diese Dinge und diese Sorge um die Dinge nicht in ihrem Selbststand beeinträchtigt oder behindert: »si [sc. Marthâ] stuont sunder und ez [sc. diu dinge] sunder«.125 Genausowenig aber steht diese Nähe in einem Gegensatz zur Nähe bei Gott, denn jene Nähe bei den Dingen »vüeget als nâhe als daz oberste, daz

122 Pr. 86 (DW III 488,7−10): […] diu liebe Marthâ und mit ir alle gotes vriunde stânt mít der sorge, niht ín der sorge, und dâ ist daz zîtlich werk als edel als dehein vüegen in got; wan ez vüeget als nâhe als daz oberste, daz uns werden mac, âne aleine got sehen in blôzer natûre. 123 Pr. 86 (DW III 488,10−13); Hervorh. StG. 124 Insofern scheint mir Beckmann den Gehalt von Eckharts Formel vom »Stehen bei den Dingen« zumindest etwas unscharf zu reformulieren: »›Bei den Dingen sein‹ bedeutet für ihn [sc. Eckhart]: die Nähe zu den Dingen soll eine maximale sein, dies aber dennoch nicht im Sinne einer Beziehung zu ihnen, nicht im Sinne eines Bezogenseins auf sie« (Beckmann, Studien zur Bestimmung des Lebens [wie Anm. 108], 149). Nicht eigens reflektiert wird hier, wie diese maximale Nähe bei den Dingen zugleich als Unbezogenheit genau zu denken ist: Eckhart selbst bleibt in dieser Predigt ja nicht bei der bloßen Konstatierung stehen, daß jenes ›Stehen bei…‹ zugleich eine Unbezogenheit, ein sunder und sunder meint. Im Gegenteil, es scheint ihm gerade auf die nähere Kennzeichnung eben dieser Bezugsform zu den Dingen anzukommen. 125 Fraglich ist also, ob der Terminus ›Stehen bei ….‹ in Predigt 86 ausschließlich als Metapher der Empfänglichkeit für Gott zu verstehen ist, wie etwa Mieth in: Lectura Eckhardi II 171, hervorhebt. Mieth zieht als Parallele Pr. 55 (DW II 575−585) heran, wo Eckhart sagt, »daß er verschieden über ›Sitzen‹ − als Haltung der Demut − und über ›Stehen‹ gepredigt hat: ›ich [sc. Eckhart] habe gelegentlich gesagt: ein Mensch, der stünde, wäre Gottes empfänglicher‹ [DW II 581,2]. Das ›Stehen‹ steht hier gleichsam für die Durchlässigkeit für Gott. Ähnlich wie in Predigt 86 gehört [in Predigt 55] zum Stehen die Nähe zu Gott.« Mir scheint jedoch nicht von der Hand zu weisen zu sein, daß die Formel vom ›unbehinderten Stehen bei den Dingen‹ in der Predigt 86 auch eine Selbständigkeit oder Substantialität – ein weselîche stân (vgl. DW III 489,7) – meint, das innerhalb der Zeit erst mit einem gleichgültigen Bezug zu den Dingen und zu Gott zu seiner Vollendung kommt.

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uns werden mac«.126 Daß diese Nähe bei den Dingen kein Hindernis für die Nähe zu Gott markiert, zeigt vor allem Eckharts doppelsinnige Verwendung von ›næhste‹ bzw. ,allernæchste‹ im Sinne von ›das Äußerste/Höchste‹ und von ›das Nächste‹ − ein Doppelsinn, der den meisten Interpreten bzw. Übersetzern dieser Predigt entgangen sein dürfte.127 Gleich zu Anfang der Predigt macht Eckhart drei Merkmale für Marthas gastfreundlichen Dienst an Christus namhaft: Neben der hohen Würde des Gastes ist es einerseits ihr gereiftes Alter (ein hêrlich alter) und »ein wol güebeter grunt ûf daz allernæhste« − ein »bis zum Allerhöchsten gut geübter (Seelen-)Grund« also, der allererst Marthas Tätigsein Halt und Begründung zugleich gibt.128 Zum anderen aber eignet ihr »ein wîsiu verstantnisse, diu daz ûzer werk wol gerihten kunde in daz allernæhste, daz minne gebiutet«.129 Offensichtlich hebt Eckhart hier sowohl auf den Grund wie auch auf die Ausrichtung von Marthas Tätigsein ab. Und im letzteren Fall scheint nun nicht das »allernæhste« im Sinne des »Allerhöchsten« gemeint zu sein, worauf Marthas »weise Besonnenheit« ihr äußeres Werk richten läßt.130 Die Rede ist hier vielmehr vom erforderlichen Allernächsten, worauf sich tätige Liebe in einem »ûzer werk« richtet: vom Dienst am Nächsten, der in diesem Fall Gottsohn selbst − und damit durchhaus »das Allerhöchste« − ist. Ebensowenig scheint diese ›besonnene‹ Ausrichtung der tätigen Liebe »in daz allernæhste« einen exklusiven Gottesbezug zu befördern. Eckhart hebt nämlich im weiteren Verlauf der Predigt − und zwar gleich im Anschluß an seine Formel vom ›Stehen bei den Dingen und bei der Sorge‹ − drei Merkmale hervor, die »in unsern werken« unerläßlich sind: »daz man würke ordenlîche und redelîche und wizzentlîche«.131 Als »ordenlîche« bezeichnet Eckhart ein Tätigsein, »daz in allen orten antwürtet dem næhsten«.132 Meint aber Eckhart damit ein Tätigsein, das »in allen Punk-

Pr. 86 (DW III 488,9). Überhaupt verwendet diese Predigt 86 dreizehnmal ›nâhe‹ in adverbialen, adjektivischen bzw. substantivischen Abwandlungen − so oft wie keine andere Predigt Eckharts. Auffällig ist zudem das gedrängte Auftreten dieses Wortfeldes in vier Passagen der Predigt. Im einzelnen sind dies: (a) DW III 481,11; 482,1. − (b) 483,6; 483,8. − (c) 485,6; 485,7; 485,12; 486,16. − (d) 488,9; 488,16; 488,18; 489,15; 490,2. 128 Pr. 86 (DW III 481,10−12): Marthen zugen ouch driu dinc, diu sie tâten umbegân und dienen dem lieben Kristô. Daz eine was ein hêrlich alter und ein wol geüebeter grunt ûf daz allernæhste; dâ von dûhte sie, daz niemanne daz werk als wol ze tuonne wære als ir. 129 Pr. 86 (DW III 481,12−482,2). 130 Dagegen bemerkt Quint lapidar zu seiner Übersetzung: »Die Bedeutung von allernæhste ist ›auf das Allerhöchste‹.« (DW III 493, Anm. 5). Dem sind, soweit ich sehe, alle Interpreten von Pr. 86 gefolgt. Siehe z. B. Haas, »Die Beurteilung der Vita contemplativa« (wie Anm. 107), 103: »eine weise Besonnenheit, die das äußere Wirken recht auszurichten wußte auf das Höchste, das die Liebe gebietet«; Mieth, Lectura Eckhardi II 141. 131 Pr. 86 (DW III 488,14 f.). 132 Pr. 86 (DW III 488,15 f.). 126 127

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ten« (Quint) oder »in jeder Hinsicht« (Mieth) »dem Höchsten entspricht«?133 Wie aber ist eine solche Entsprechung gemäß dieser Lesart zu denken? Mit welcher spezifischen Hinsicht bzw. an welchem Punkt wäre das Vollständigkeitsmerkmal für eine derartige Entsprechung mit dem Höchsten erbracht?134 Das zweite Merkmal »redelîche« trifft nach Eckhart auf ein Tätigsein zu, »daz man in der zît niht bezzers enbekenne«.135 Will aber Eckhart tatsächlich, wie prominente Übersetzer und Interpreten wollen, hier dasjenige Tätigsein als »redelîche«, als vernunfterhellt oder einsichtig bezeichnen, »über das hinaus man zur Zeit nichts Besseres kennt«?136 Kann solch ein »redelîches« Tätigsein, das eher dem momentanen Mangel an einsichtsvolleren Alternativen als einer prinzipiell unüberbietbaren Einsicht entspringt, dann noch das dritte Merkmal eines »wizzentlîchen«, eines weisen oder besonnenen Wirkens erfüllen, welches »die lebensvolle Wahrheit mit ihrer beglückenden Gegenwart in [seinen] guten Werken verspüren läßt«?137 Zunächst soll hier nur festgehalten sein, daß Eckhart ein Tätigsein, welches jene drei Merkmale erfüllt, ausdrücklich als gleichwertig erachtet gegenüber »aller der So Quints Übersetzung: »Das nenne ich [sc. Eckhart] ›ordentlich‹, was in allen Punkten dem Höchsten entspricht« (DW III 596); bei Mieth heißt es: »Dem spreche ich ›Ordnung‹ zu, was in jeder Hinsicht dem Höchsten entspricht« (Lectura Eckhardi II 149). 134 Verblüffenderweise verweist Quint (DW III 500, Anm. 37) für diesen Satz (»Dem spriche ich ordenlîche, daz in allen orten antwürtet dem næhsten«) auf Sermo XII/2 n. 134 (LW IV 126,4 f.): ›et antiebit faciem tuam iustitia tua‹ [Is. 58,8], inquantum [iustitia] ordinat ad proximum − obwohl es sich bei diesem »ordinare ad proximum« solange nicht um eine Parallelstelle zu »antwürtet dem næhsten« handeln kann, als man das »næhste« aus Pr. 86 im Sinne von »das Höchste« versteht. Daß es im lateinischen Sermo eindeutig um die Ausrichtung des barmherzigen Handelns auf den Nächsten (proximum) geht, zeigt der unmittelbare Anschluß: »Hoc [sc. ordinare ad proximum] enim est iustitiae. Signanter hoc dictum est, scilicet ut misericordia sit iusta, dans unicuique quod suum est« (Sermo XII/2 n. 134; LW IV 126,5 f.). Barmherzigkeit als Tat des Gerechten steht daher in einem gleich-gültigen Bezug zum Nächsten, wenn sie einem jeden das Seine gibt. Kurzum: Allein schon Quints völlig plausibler Verweis auf die Passage aus Sermo XII/2 erhebt Einspruch gegen sein falsches Verständnis von »antwürtet dem næhsten«. 135 Pr. 86 (DW III 488,16). 136 So Quint (DW III 596) und, in wörtlicher Übereinstimmung mit Quint, Mieth (Lectura Eckhardi II 149). Vgl. etwa auch Haas, »Die Beurteilung der Vita contemplativa« (wie Anm. 108), 106 ad loc.: »vernünftig, d. h. orientiert auf das im Augenblick Beste«. 137 Pr. 86 (DW III 488,17 f.): Sô spriche ich dem wizzentlîche, daz man bevinde lebelîcher wârheit mit lustiger gegenwürticheit in guoten werken. – Zwar hat auch Mieth neuderdings bemerkt, daß an dieser Predigt-Stelle »[d]ie Bedeutung des ›nehsten‹ schillert zwischen dem ›Höchsten‹, dem ›Nächsten‹ und dem ›Nächstliegenden‹«. Allerdings geht es Eckhart, so Mieth, hier »um das Nächstliegende, das Angemessene, das man zur Zeit für das Beste hält […]. Vernünftigkeit entspricht also der Gewissenhaftigkeit in des Wortes urspünglicher Bedeutung: nach bestem Wissen und Gewissen« (Mieth, Meister Eckhart. Mystik und Lebenskunst, Düsseldorf 2004, 175). Ob Eckhart jedoch mit »Vernünftigkeit« eine solche »Gewissenhaftigkeit« im Blick hat, die zwar durch die Ursprünglichkeit ihrer Wortbedeutung geadelt sein mag, jedoch unter der Kautel des zeitlich Vorläufigen steht, ist mehr als fraglich: Die Dignität dieser ursprünglichen Wortbedeutung ist noch lange kein Garant dafür, daß mit ihr auch schon eine Erkenntnisform getroffen ist, mit der man – innerhalb der Zeit, in die der Mensch gestellt ist, – »niht bezzers enbekenne« und die also der Sache nach unüberbietbar ist. 133

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lust Mârien Magdalênen in der wüeste«, da es »ebenso nahe [an Gott] bringt und ebenso förderlich ist« wie eine weltabgeschiedene, kontemplative Lebensform.138 Eckhart verbindet mit dieser ausdrücklichen Gleichwertigkeit der Vita activa also gerade nicht deren Aufwertung gegenüber der Vita contemplativa. Dies wird auch im unmittelbaren Anschluß deutlich. Eckhart deutet nämlich das ursprünglich als Tadel für Marthas Geschäftigkeit zu verstehende Diktum Christi − »unum est necessarium. Maria optimam partem elegit, quae non auferetur ab ea« (Luk. 10,42) − als eine Verweigerung. Mit seinem Hinweis auf das notwendige Eine reagiert Christus in Eckharts Augen auf das besorgte Ansinnen Marthas, Christus möge Maria in einen so wesentlichen Stand bringen, wie er ihr, Martha, zu eigen sei: Nû sprichet Kristus: ›du bist betrüebet umbe vil‹, niht umbe einez. Daz ist: sô si liuter einvaltic stât âne allen gewerp, hin ûf gerihtet an den umberinc der êwicheit, sô wirt si betrüebet, sô si von sache gemittelt wirt, daz si niht enmac stân mit luste dort oben. Der mensche wirt betrüebet in der sache, der dâ versinket und stât bî der sorge. Aber Marthâ stuont in hêrlîcher, wol gevestenter tugent und in einem vrîen gemüete, ungehindert von allen dingen. Dâ von begehrte si, daz ir swester in daz selbe gesetzet würde, wan si sach, daz si niht weselîche stount. Ez war ein hêrlîcher grunt, ûz dem si begerte, daz si stüende in allem dem, daz dâ gehœret ze êwiger sælde. Dâ von sprichet Kristus: ›eines ist nôt‹.139 Wenn hier Christus bemerkt, daß Martha »um vieles betrübt ist«, dann heißt dies für Eckhart zunächst, daß auch Martha in ihrem »lauter-einfaltigen« Stehen im Horizont der Ewigkeit »betrübt« wird (sô wirt si betrüebet): Auch Martha wird von Etwas »gemittelt«, das ihre Aufmerksamkeit von dem Einen ablenkt und auf Anderes neben dem Einen hinlenkt.140 138 Pr. 86 (DW III 488,18 f.): Swâ disiu driu dinc [sc. »daz man würke ordenlîche und redelîche und wizzentlîche«] sint, diu vüegent als nâhe und sint als nütze als aller der lust Mârien Magdalênen in der wüeste. − Die Wendung »vüegent als nâhe« ist eine unmittelbare Wiederholung aus DW III 488,9, wo Eckhart dem Stehen bei den Dingen und bei der Sorge ebenfalls diese Gleichwertigkeit in der Nähe zu Gott zuspricht. Quint (DW III 500 Anm. 38) hat wohl als einer der ersten darauf hingewiesen, daß Eckhart mit dem Motiv der Maria Magdalena in der Wüste ein Motiv aus der »Legenda aurea« seines Ordensbruders Jacobus de Voragine aufgenommen hat. 139 Pr. 86 (DW III 489,1−9). 140 Als Subjekt des Satzes »sô si liuter einvaltic stât […], sô wirt si betrüebet, sô si von sache gemittelt wirt, daz si niht enmac […]« fungiert demnach Martha. Dies ergibt sich aus der unmittelbar zuvor erfolgten Anrede Christi an Martha »›du bist betrüebet umbe vil‹, niht umbe einez«, deren Gehalt Eckhart dann sogleich expliziert mit: »daz ist: sô si liuter einvaltic stât […], sô wirt si betrüebet« usw. − Wenn Quint hier übersetzt: »Nun sagt Christus: ›Du bist betrübt um vieles, nicht um Eines‹. Das will besagen: Wenn eine Seele [!] lauter einfaltig ohne alles Wirken […] steht, dann wird sie ›betrübt‹ […]« (DW III 596), so erscheint dies völlig aus der Luft gegriffen, zumal von ›einer Seele‹ − noch dazu in so verallgemeinerter Form − in dieser Passage überhaupt nicht die Rede ist. Beckmann insinuiert in seiner Auslegung, daß diese Passage Maria gilt und leitet daraus allgemeine Reflexionen folgender Art ab: »Was Martha im Gegensatz zu Maria bereits gelernt hat, ist es, inmitten der Welt ledig und frei von

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Zwar steht Martha, so Eckhart hier, unbehindert von allen Dingen.141 Doch scheint ihr von schwesterlicher Sorge getragenes Begehren an Christus, Maria möge in denselben Stand gelangen wie sie selbst, eben diese »sache« zu sein, von der Martha »betrüebet« und »gemittelt wirt«. Eckhart betont denn auch nochmals den »hêrlîchen grunt« Marthas, um dann aber diesen »grunt« zugleich als diejenige Instanz namhaft zu machen, die Martha in ihrer Sorge um Marias »êwige sælde« zu einem solchen Begehren veranlaßt.142 Es ist also nach Eckharts Verständnis diese schwesterliche, »in einem vrîen gemüete« geäußerte Sorge, der Christus nun begegnet und über die er sich hier äußert: »Dâ von sprichet Kristus: ›eines ist nôt‹.«143 Dem folgt ein kurzer Hinweis Eckharts auf dieses Eine, unter dem Gott zu verstehen ist und das allem Geschaffenen notwendig ist; »denn zöge Gott das Seine an sich, so würde alles Geschaffene zunichte. Entzöge Gott das Seine aus der Seele Christi, wo sie eins ist mit der ewigen [trinitarischen] Person, so bliebe Christus bloßes Geschaffenes«.144 Gemeint ist damit offensichtlich der gleich-gültig affirmative, Eine Bezug Gottes auf Gottsohn und seine Schöpfung. Als der Eine kennt Gott keinen schöpferischen Bezug neben einem anderen, innnertrinitarischen Bezug. Daraufhin kontrastiert Eckhart abermals diese Notwendigkeit des Einen mit Marthas Sorge um ihre Schwester: Marthâ vorhte, daz ir swester behaftete in dem luste und in der süeze, und begerte, daz si würde als si. Dâ von sprach Kristus, als ob er spræche: gehap dich wol,

den Dingen zu sein. […] Anders dagegen verhält es sich mit Maria, die erst noch aus sich und ihrer Selbstbefangenheit heraus gehen, die in gewisser Weise erst noch den Härten des Lebens ausgesetzt werden muß. Meister Eckhart begründet dies in seiner Predigt mit den Worten: ›Sô si liuter einvaltic stât âne allen gewerp, hin ûf gerihtet an dem umberinc der êwicheit, sô wirt si betrüebet, sô si von sache gemittelt wirt, daz si niht enmac stân mit luste dort oben.‹ Was Eckhart hier sagen will, ist dem Sinne nach etwa so zu umschreiben: wer nicht gelernt hat[,] gegen die Dinge des Lebens gefestigt zu sein, wer nicht gelernt hat, sich gegen hindernde Zwischenfälle zu wappnen, ist plötzlichen Störungen preisgegeben, er wird durch ihr Eintreten aufgebracht und gehindert, so daß er nicht ›mit Lust dort oben stehen kann‹« (Beckmann, Studien zur Bestimmung des Lebens [wie Anm. 108], 147 f.). Sowohl Quint als auch Beckmann übersehen, daß es Eckhart in dieser Passage nicht um Hindernisse und Zwischenfälle von allerlei Art − durch »die Dinge des Lebens« − geht, sondern um die Frage nach dem prinzipiellen Grund, der ein ungetrübtes Stehen am Umring der Ewigkeit verhindert: Es ist dies die mangelnde Einsicht in das »Eine, das nottut« − und von dieser mangelnden Einsicht ist, wie sich gleich zeigen soll, nach Eckharts Verständnis selbst Martha nicht ganz ausgenommen: »›du bist betrüebet umbe vil‹, niht umbe einez«. 141 Pr. 86 (DW III 489,5 f.): Aber Marthâ stuont in hêrlîcher, wol gevestenter tugent und in einem vrîen gemüete, ungehindert von allen dingen. 142 Pr. 86 (DW III 489,7 f.): Ez war ein hêrlîcher grunt, ûz dem si [sc. Marthâ] begerte, daz sie [sc. Marîâ] stüende in allem dem, daz dâ gehœret ze êwiger sælde. 143 Pr. 86 (DW III 489,8 f.). 144 Pr. 86 (DW III 489,9–12): Daz ist daz eine, daz ist got. Daz ist nôt allen crêatûren; wan, züge got daz sîne an sich, alle crêatûren würden ze nihte. Züge got das sîne abe der sêle Kristî, dâ ir geist geeiniget ist an die êwige persône, Kristus blibe blôze crêatûre.

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Marthâ, ›sie hat den bêsten teil erwelt‹; diz soll ir [nit] abegân. Daz næhste, daz crêatûre werden mac, daz sol ir werden: si sol sælic werden alz dû.145 Nach Eckhart begegnet Christus der Sorge und dem Wunsch Marthas mit eben jenem Diktum »eines ist nôt«. Es ist also Marthas schwesterliche Sorge, die nach Eckhart Christus dazu veranlaßt, Martha auf das notwendige Eine hinzuweisen. Und zwar spricht Christus von dem Einen, »als ob er sagen würde: ›Sei beruhigt, Martha, sie [sc. Maria] hat den besten Teil erwählt; dieses wird ihr nicht abgehen (diz soll ir nit abegân)‹«. Christi Hinweis auf das notwendige Eine ist demnach zwar nicht als ein grundsätzlicher Martha-Tadel zu verstehen, der (wie in der biblischen Vorlage) Marthas Vita activa als solcher gelten würde. Doch aber gilt dieser Hinweis auf das notwendige Eine Martha, die in diesem Tätigsein nicht ganz im Einen steht, da sie mit ihrer Besorgnis um Maria in den Dingen der Schwester − also einer ihr von Natur aus nahestehenden Person − steht und eben dadurch »gemittelt« wird. Eben diesen Gedanken greift Eckhart im weiteren Verlauf der Predigt nochmals auf: Nû sprichet Kristus: ›umbe vil [!] sorge wirst du betrüebet‹. Marthâ was sô weselich, daz sie ir gewerp niht enhinderte; werk und gewerp leit[e]te sie ze êwiger sælde. Si wart wol etwaz gemittelt: ez stuiret wol edeliu natûre und stæter vlîz und vor genante tugende.146 Sofern also Martha ein weseliches sîn auszeichnet, stellt auch ihr Tätigsein keinen prinzipiellen Hinderungsgrund für die »ewige Seligkeit« dar; vielmehr leiten sie »werk und gewerp« dorthin. Daß also »werk und gewerp« unter dieser Voraussetzung ein gangbarer Weg sind und bleiben, wird von Eckhart keineswegs in Abrede gestellt. Zugleich aber kennt Marthas Tätigsein eine noch von Vielheit gezeichnete Sorge: ihre Sorge um die eigene Schwester, von der sie betrübt und daher »wohl etwas gemittelt« wird, und dies, obwohl Marthas schwesterliche Sorge hehre Motive kennt: »ez stuiret wol edeliu natûre und stæter vlîz und vor genante tugende«.147 Pr. 86 (DW III 489,12−16). − Meine Lesart »diz soll ir nit abegân« stützt sich nach Ausweis von Quints kritischem Apparat (DW III 489) auf den Textzeugen G5 dieser Predigt. Zur sachlichen Begründung siehe im unmittelbaren Anschluß. 146 Pr. 86 (DW III 491,6−9). 147 Im Übrigen herrscht bei den Übersetzern und Interpreten große Uneinigkeit über den Sinn des Satzes »Si wart wol etwaz gemittelt: ez stuiret wol edeliu natûre und stæter vlîz und vor genante tugende«. Mieth bezieht »si« sinnvollerweise auf Martha, übergeht dann aber den einschränkenden Sinn von ›gemittelt werden‹: »Werk und Geschäftigkeit führten sie zur ewigen Seligkeit. Sie wurde wohl gefördert durch bestimmte Mittel: eine hohe Veranlagung, beständige Übung und bereits genannte Tugenden« (Lectura Eckhardi II 153). Unplaubsibel erscheint hier insbesondere die uneingeschränkt positive Wiedergabe von »wohl etwaz gemittelt sîn« mit ›gefördert werden durch bestimmte Mittel‹, zumal ja Eckhart im Vorangehenden das »mitteln« als Grundzug des Geschaffenen namhaft macht (DW III 485,7: alle creatûren die mittelnt) und er daher das ›Betrübt-Werden‹ als ein ›Gemittelt-Werden‹ durch 145

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Die Antwort Christi auf Marthas Bitte ist denn auch nicht so zu verstehen, »daß er ihr damit sagen wollte, Maria werde schließlich auch wie sie«.148 Für dieses (traditionelle) Deutungsmuster hat also die Antwort Christi die Funktion, Martha in ihrer Sorge um die in weltabgewandter Kontemplation befangene Schwester zu vertrösten auf eine bessere Zukunft: »Sei beruhigt, Martha, ›sie hat den besten Teil erwählt‹. Dies hier wird sich bei ihr verlieren.«149

Kreatürliches faßt (DW III 489,3: sô wirt si betrüebet, sô si von sache gemittelt wirt). − Quint bewahrt dagegen den einschränkend-adversativen Sinn von »Si wart wol etwaz gemittelt«, bezieht »si« allerdings auf die unmittelbar voragehende »êwige sælde«: »[Marthas] Werk und Wirken führten sie zur ewigen Seligkeit hin. Die ward wohl etwas ›mittelbar‹ ; aber eine adelige Natur und steter Fleiß und Tugenden im vorgenannten Sinne sind doch förderlich« (DW III 598). Zwar trifft Quint zunächst den Kerngedanken, daß ein ›Gemittelt-Werden‹ auf eine Beschränkung oder ein Hindernis hindeutet, verwischt dann allerdings auch wieder diesen Gedanken, indem er nun den Vermittlungscharakter als förderlich erklärt. − Kreuzer, Gestalten mittelalterlicher Philosophie (wie Anm. 51), 115 bezieht das »si« auf Martha, sieht auch in ihrem ›Gemittelt-Werden‹ eine Beschränkung ihrer gelebten Vernünftigkeit. Worin aber für Eckhart denn nun genau Marthas ›gemittelte‹ Beschränkung besteht, scheint mir Kreuzer allzu summarisch als instrumentelle Befangenheit zu fassen: »Das Verhalten, das Eckhart an Martha typisiert, hat noch ein ›Warum‹, es ist ›etwas gemittelt‹: in ihm wird gelebte Vernünftigkeit als Mittel zu einem Zweck gedacht und damit instrumentalisiert.« 148 Largier II 741. Vgl. auch ebd. 744: »Eckhart deutet hier die Antwort Christi in eigener Weise. Er versteht sie so, daß Christus Martha mit seinem Satz mitteilt, Maria habe das bessere Teil erwählt und werde deshalb (in Zukunft) so werden, wie es Martha bereits sei. Auf dieser Deutung bauen denn auch die folgenden Ausführungen zu Maria und Martha auf« (Hervorh. StG). 149 So Quint DW III 597. Quints Eliminierung des »nit« in »diz soll ir nit abegân« hat für einen breiten Forschungskonsens gesorgt: Vgl. etwa nur Mieth (Lectura Eckhardi II 149): »dies (ihr Mangel) wird sich verlieren«; sowie Kreuzer, Gestalten mittelalterlicher Philosophie (wie Anm. 51), 114 f. mit Anm. 115: »Nicht dieser ›beste Teil‹ soll verloren werden, sondern das Geistesgefühl, das ihn einer zu geistloser Immanenz abgewerteten Endlichkeit entgegensetzt: ›diz (daz Marîâ behaftete in dem luste und in der süeze) sol ir abegân‹.« Zuletzt auch Ruh, »Maria und Martha« (wie Anm. 107), 673: »Wenn Christus ihr [sc. Martha] versicherte, ›sie [sc. Maria] hat den besten Teil erwählt‹, meinte er, der jetzige Zustand würde sich verlieren.« Ruh bemerkt allerdings dazu: »Eine sehr merkwürdige Auslegung des Textes« (ebd.; dort Anm. 15), läßt aber keinen Zweifel daran, daß diese Lesart des biblischen Textes dem apokryphen Autor der Pr. 86 anzulasten ist. − Für Quints Lesart »diz soll ir abegân« spricht auf den ersten Blick der Anfang der Predigt, wo Eckhart insbesondere den tröstenden Charakter von Jesus’ Antwort an Martha hervorhebt: Dô antwurte ir Kristus und sprach: ›Marthâ, Marthâ, dû bist sorcsam, dû wirst betrüebet umbe vil. Des einen ist nôt. Marîâ hât den besten teil erwelt, der ir niemer enmac benomen werden‹. Diz wort ensprach Kristus niht ze Marthen in einer strâfenden wîse, mer: er antwurte ir und gap ir trôst, daz Marîâ werden sölte als si begerte (Pr. 86; DW III 483,17−20). Der Tost liegt demnach darin, »daß Maria so werden soll, wie Martha es begehrt«. Allerdings läßt sich Eckhart an dieser Stelle − noch − nicht darüber aus, wie Christus dann dieses Begehren Marthas tatsächlich erfüllt. Und so besteht die verheißene Erfüllung von Marthas Begehren denn auch nicht darin, daß Maria zu guter Letzt auch noch so werden wird, wie Martha bereits ist, und daß sich infolgedessen bei Maria noch ein bestimmtes Verhalten legen werde, sondern in Christi Hinweis auf das Eine, das Martha ebenso selig wie Maria macht. Kurzum: Das Begehren Marthas, »daz si [sc. Marîâ] würde als si« (Pr. 86; DW III 489, 13), erfüllt Christus mit dem Hinweis: Daz næhste, daz crêatûre werden mac, daz sol ir [sc. Marîen] werden: si sol sælic werden alz dû [sc. Marthâ]. − Zum Motiv des ›selig machenden Einen‹ (BgT; DW V 41,21) vgl. Beierwaltes, Platonismus im Christentum (wie Anm. 46), 100 ff.

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Nach Eckhart will also Christus Marthas schwesterliche Sorge nicht einfach beruhigen mit einem Hinweis auf Marias Zukunft, der ein Ende ihres weltabgewandten Verhaltens in Aussicht stellt (diz soll ir abegân). Ginge es für Eckhart in dieser Bibelstelle nur um eine Vertröstungsstrategie, dann bräuchte es für einen solchen Trost nicht diesen – von Eckhart doch so hervorgehobenen – Hinweis auf die Notwendigkeit des Einen, mit dem Christus auf Marthas Sorge reagiert: »du bist betrüebet umbe vil, niht umbe einez«. Es geht daher Eckhart nicht darum, zu zeigen, daß Martha sich grundlos, d. h. zu viel Sorgen macht, sondern vielmehr darum, daß selbst diese – aus einem noch so »vrîen gemüete« und in »wol gevestenter tugent« geäußerte – Sorge um einen nahestehenden Angehörigen am Einen vorbeigeht. Denn Marthas Sorge hat ja die Erkenntnis eines ungleich verteilten Maßes an »êwiger sælde« bzw. an einem »weselîchen stân« zur Grundlage – eine Erkenntnis, die in Martha den Wunsch nach Gleichheit im Sinne eines Ausgleichs jenes von ihr entdeckten Mehr und Minder an »weselîchem stân« aufkommen läßt. Und so gilt zwar für Eckhart: »Marthâ bekante baz Marîen, dan Marîâ Marthen, wan si lange und wol gelebet hâte; wan leben gibet daz edelste bekennen.«150 Allerdings ist es dann auch diese bessere, lebenszugewandte Erkenntnis Marthas, die sie erst zur Feststellung der Ungleichheit beider Schwestern führt und die ihren Wunsch nach Ausgleich, nach mehr »weselîchem stân« der Schwester, aufkommen läßt.151 Ein solches Mehr und Minder kennt jedoch nach Eckhart das Eine, das Gott ist, von vornherein und grundsätzlich nicht.152 Daher auch Eckharts Hinweis auf das für alles Geschaffene notwendige Eine, das es eben auch in dieser seiner Notwendigkeit einzusehen gilt. Insofern nämlich das Eine, wie Eckhart hervorhebt, für alles Geschaffene wesensmäßig notwendig ist, so wird dieses Eine auch Maria nicht abgehen können: Dieses Eine ist der beste – wohlgemerkt: nicht der bessere! – Teil, den Maria erwählt hat und der ihr notwendigerweise nicht abgehen kann.153

Pr. 86; DW III 482,17–19. Vgl. nochmals Pr. 86 (DW III 489,6 f.;13): Dâ von begehrte si [sc. Marthâ], daz ir swester in daz selbe gesetzet würde, wan si sach, daz si niht weselîche stount. […] si begerte, daz si [sc. Marîâ] stüende in allem dem, daz dâ gehœret ze êwiger sælde. […] Marthâ […] begerte, daz si [sc. Marîâ] würde als si. 152 Vgl. z. B. in Ioh. n. 728 (LW III 636,10−13): In uno autem nec gradus est nec ordo. Qui ergo diligit deum plus quam proximum, bene quidem, sed nondum perfecte [diligit], quia nec deum in proximo nec proximum in deo diligit. Nam si sic diligeret, utique id ipsum et unum diligeret. In uno autem non est minus et plus, ut dictum est, Matth. 10: ›qui amat‹ ›plus‹, ›non est me dignus‹. Wer demnach seine Gottes- und Nächstenliebe in irgendeiner Hinsicht gewichtet – und sei es durch den von tätiger Nächstenliebe getragenen Wunsch nach mehr »sælde« für die eigene Schwester –, ist weder Christus würdig, noch hat er die vollkommene Nächstenliebe erreicht. Siehe etwa auch in Ex. n. 90 (LW II 93,11 f.); n. 91 (LW II 94,14 f.), in Sap. n. 75 (LW II 407,3); in Ioh. n. 208 (LW III 176,1); n. 290 (LW III 242,8); n. 389 (LW III 332,10 f.). 153 Meine Lesart »sie hat den besten teil erwelt‹; diz soll ir nit abegân« (Pr. 86; DW III 489,14 f.) versteht sich also als Eckharts übersetzerische Fortführung der Lukasstelle 10,42 »Maria optimam 150 151

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Auch Maria steht demnach im Einen, wenn auch anders und mit anderen Gefährdungen als Martha: Sie soll ebenso selig werden wie Martha − und nicht einfach so werden wie Martha. Anders gesagt: Der Trost in Christus’ Diktum »Eines ist nôt« besteht in dem Hinweis, daß beide − Martha und Maria − gleichermaßen im Einen stehen, insofern das Eine beiden notwendig ist für ihr Sein und ihre Seligkeit. Diese tröstliche Erinnerung an den notwendigen, unwandelbaren Bezug des Einen auf alles Geschaffene beinhaltet aber zugleich die Ermahnung zur Einsicht in diesen gleich-gültigen Bezug des Einen, insofern beide Frauen jene Einsicht in ihrem Verhalten noch nicht vollkommen realisiert haben: Es ist diese mangelnde Einsicht, in der Maria und Martha einander gleichkommen. Daher wird Maria auch nicht zu guter Letzt eine Martha oder wie Martha, sondern die in ihrer geistigen Verzückung schwelgende Maria ist zunächst eine Martha oder wie Martha, ehe sie die wahre Maria wird: »Marîâ was ê Martha, ê sie Marîâ würde.«154 Gerade dieser Satz − wonach Maria in ihrer Verzückung zunächst Martha ist, also mit Marthas ›Stehen bei den Dingen‹ gleichgesetzt wird, bevor sie zur reifen Maria wird − hat denn auch vor allem diejenigen Interpreten frappiert, welche in Marias geistiger Wonne ein Übergangsstadium sehen, das dereinst »ir abegân« soll und das Martha mit ihrem besorgten ›Stehen bei den Dingen‹ bereits überwunden hat.155

partem elegit, quae non auferetur ab ea«. Eckharts ›Umdeutung‹ von Luk. 10,42 liegt einzig darin, daß er den Superlativ »optimam partem« mit dem unmittelbar zuvor genannten »unum necessarium« identifiziert. Diese Identifikation ist allerdings alles andere als außergewöhnlich für Eckhart. Vgl. etwa nur in Ioh. n. 371 (LW III 316,1–4); n. 604 (LW III 526,13–527,3); in Eccl. n. 20 (LW II 248,1–9); besonders aber in Sap. n. 271 (LW II 601,5–11): Haec enim est proprietas divinorum […], quod in minimo habetur maximum, »quodlibet in quolibet«, unde ibi maius et minus, multum et paucum locum non habent. Ad hoc est illud Luc.10: ›Maria optimam partem elegit‹. Pars enim ibi optimum est. […] Hoc ipso enim quod cadit ab uno, quia multum est, et a simplici, quia magnum est, cadit a bono quod cum uno convertitur, iam non est divinum. ›Deus enim unus est‹ [Gal. 3,20]. 154 Pr. 86 (DW III 491,9). 155 Dementsprechend »klingt« für Quint »diese Aussage zum mindesten widersprüchlich, denn es wird jedenfalls nicht o. w. klar, wieso Maria, als sie noch zu Füßen des Herrn saß, Martha war, d. h. sich noch auf der Stufe der Martha befand, von der doch vorher und nachher […] ausdrücklich betont wird, daß sie jedenfalls jetzt die Wesenhafte und zur Reife tätigen Lebens Gediehene ist, die Maria […] erst nach der Auferstehung des Herrn werden soll. […] M. a. W. die Ausführungen über Maria […] bleiben problematisch« (DW III 502, Anm. 50). − Largier II 747 ad loc. vermutet, »daß Eckhart die mit dem Namen Maria gegebenen Möglichkeiten ausschöpft und zuerst die Gottesmutter meint, die ja eigentlich − an dem wesene − die Verwirklichung der Martha ist, insofern sie Gott gebiert.« Abgesehen davon, daß es kein Indiz für ein Namensspiel an dieser Stelle gibt, so spricht bereits der Wortlaut von »Marîâ was ê Martha, ê sie Marîâ würde« gegen diese Vermutung: Die Verwirklichung der noch unvollkommenen Maria ist nicht Martha, sondern die vollkommene Maria. Daher läßt sich auch nicht »zu Recht sagen, daß die zu Füßen Christi sitzende Maria […] erst Martha werden mußte, um schließlich wesenhaft Maria zu werden und den Sohn in sich zu gebären« (ebd.; Hervorh. StG).

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2.4 Vita activa oder contemplativa? Spätestens an dieser Stelle rächt sich sozusagen ein teleologisches Deutungsmuster, das Marias und Marthas Verhalten direkt miteinander vergleicht und daher die Erfüllung von Marias Vita contemplativa in Marthas »Stehen bei den Dingen« sieht. Es ist also mehr als fraglich, ob Eckharts Augenmerk einer Einheit aus Vita activa und Vita contemplativa gilt, die in Form eines ,sowohl − als auch‹ letztlich im Ideal einer ›theoria cum praxi‹ gipfeln würde. Wenn es denn Eckhart um einen Königsweg zu Gott geht, dann liegt dieser nicht einfach in einem ›auch lebensmeisterlich‹ erfüllten Bios theoretikos, sondern in der Verwirklichung des Einen »in der zît«. Andernfalls jedoch, d. h. wenn das Gebot tatsächlich lautete, daß Maria wie Martha werden soll, bedeutete dies die notwendige Ergänzung einer bloß kontemplativen Lebensform durch Praxis: Handeln – und nicht das Eine – wäre dann nach Eckhart dasjenige, was ›nottut‹.156 Gegen eine selbstgefällige geistige Verzückung hilft daher nicht einfach das engagierte »Handeln aus dem Glauben«157 oder die »Rückkehr zur eigenen Endlichkeit«158, sondern die notwendige Erkenntnis des Einen, die allein eine lebensvolle Wahrheit zeitigen kann: Eine Befangenheit in weltabgewandter Kontemplation verhindert diese Erkenntnis ebenso, wie sie durch Marthas sorgenvolle und besondere Hinsicht auf die Schwester gefährdet wird.159 So stehen nach Quint Maria und Martha für »zwei einander zugeordnete, sich gegenseitig ergänzende, ja, sich durchdringende Verhaltensformen auf dem Wege zur Geburt des Gerechten aus dem ewigen Grunde der Gerechtigkeit« (DW III 495, Anm. 23; Hervorh. StG). – Trotz Divergenzen im Detail sieht auch Mieth das Ziel der Predigt 86 in »Eckharts Aufwertung des konkreten Engagements in der Figur der Martha«, insofern mit »der Gesinnung allein […] nichts anzufangen« sei, »wenn sie nicht durch die Tat beweiskräftig ist. Nicht an den Worten, sondern an den Taten erkennt man den Menschen« (Mieth, Meister Eckhart. Mystik und Lebenskunst [wie Anm. 137], 171 f.). Dementsprechend geht es nach Mieth in dieser Predigt um die Einheit von Vita contemplativa und activa als der Vermittlung dieser beiden Momente – in Mieths Nomenklatur: um ein theozentrisches »Christsein«, das ein sozial tätiges »Menschsein« notwendig mit einschließt: »Christsein muß als Verpflichtung zum Menschsein begriffen werden, nicht als ein Überbau des Menschseins, in dem dieses [sc. das Menschsein] verkümmert. Eine Lösung des ›sowohl – als auch‹, des Christ und Mensch zugleich, enthält immer noch Züge dieses Überbaus« (ebd. 173). Wenn Mieth hier aus theologischer Perspektive die Unabdingbarkeit des engagierten Handelns für einen fruchtbaren Glauben geltend macht, so macht jedenfalls Eckhart nicht hierbei Halt, insofern es ihm um die systematischen Bedingungen geht, unter denen ein solches engagiertes Handeln dem Einen, das Gott ist, überhaupt angemessen ist. Daher geht es Eckhart nicht bloß um die Aufwertung eines Weltbezuges ›aus dem Glauben heraus‹, sondern – weit radikaler noch – um die Vergleichgültigung aller Bezüge. Anders gesagt: Eckharts Predigt zielt nicht auf die Synthese eines reinen Gottesbezuges mit der »Humanität« (Mieth) ethisch verantwortungsvollen Handelns; sie zielt vielmehr auf die gleich-gültige Affirmation aller differenten Bezüge. 157 Mieth, Meister Eckhart. Mystik und Lebenskunst (wie Anm. 137), 173. 158 Kreuzer, Gestalten mittelalterlicher Philosophie (wie Anm. 51), 113. 159 Insofern ist auch die − von Quint abgelehnte − Lesart von Pfeiffer nicht auszuschließen, nach der »Maria, als sie zu den Füßen des Herrn saß, nicht Maria war. Sie war es wohl dem Namen nach, 156

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Die Schlußpassagen der Predigt widmen sich denn auch den Bedingungen für eine Vita activa, die nicht nur bei den Dingen, sondern auch im Einen steht. Daher stellt Marthas »Stehen bei den Dingen« eine notwendige, aber keineswegs eine hinreichende Voraussetzung für die ›Nähe bei Gott‹ dar.160 Eine recht verstandene Vita activa, die bei und nicht in den Dingen steht, meint zwar keine weltabgewandte Bezugslosigkeit. Doch ebensowenig meint sie eine Negierung von Unterschieden − oder besser noch: sie meint auch nicht den noch so frommen und in gefestigter Tugend geäußerten Wunsch nach Aufhebung von Differenzen oder Ungleichheit. Eine recht verstandene Vita activa meint vielmehr den von der Einsicht ins Eine getragenen, affirmativ gleich-gültigen Bezug auf Gott und die Schöpfung. Erst eine solche gleich-gültige Affirmation steht dann auch im Lichte des Einen: »wan, swer dâ würket in dem liehte, der gât ûf in got, vrî und blôz alles mittels: sîn lieht ist sîn gewerbe, und sîn gewerbe ist sîn lieht.«161 Daß es bei dieser gleich-gültigen Affirmation letzten Endes eben nicht um eine Bezugsform geht, die bei all ihrer Nähe zu Dingen dann doch bestimmt ist von einer ihr zugrundeliegenden Bezugslosigkeit und Interesselosigkeit gegenüber den Dingen, wird vor allem ersichtlich an Eckharts Reflexionen auf eine gleichbleibende Nähe. Eine derartige Nähe setzt Eckhart denn auch in eine signifikante Opposition zu einer stoischen Unberührbarkeit durch Freude und Leid: Der redelîche wille daz ist, daz man die vüeze setze in alliu diu werk Jesû Kristî und der heiligen, daz ist; daz man glîche schicke wort, wandel und gewerp, an daz næhste geordent. […] Nû sprechent unser guoten liute, man sül alsô volkomen sie war es aber nicht im Hinblick auf ihr geistiges Tun (an des geistes werke)« (Pr. 86; DW III 491,9−11). Quint hingegen entscheidet sich für »si enwaz es aber niht an dem wesene« mit der Begründung, daß Martha zuvor als wesentlich bezeichnet wird und daher an dieser Stelle »über Maria gesagt wird, daß die dem Wesen nach […] noch nicht die (echte, vollendete) Maria war« (DW III 503, Anm. 50). Quints Lesart insinuiert hier wiederum eine direkte Korrelierbarkeit von Maria und Martha unter dem entwicklungsgeschichtlichen Aspekt von Unvollkommenheit und Vollendung. Pfeiffers Lesart benennt hingegen den prinzipiellen Grund, warum Marias Kontemplation unvollkommen ist: Es ist Marias Mangel an Einsicht. Nicht eine Verringerung geistigen Tuns durch mehr Praxis, sondern geradezu ein Mehr an geistigem Tun − die Erkenntnis der Notwendigkeit des Einen − ist zunächst erforderlich, um dann auch im Lichte des Einen handeln zu können. 160 Daß ein ›Stehen bei den Dingen‹ als eine notwendige Voraussetzung für die ›Nähe bei Gott‹ zu verstehen ist, zeigen insbesondere die wiederholten Formulierungen, mit denen Eckhart stets den Eigenwert, nicht aber die Höherwertigkeit oder gar den absoluten Wert von Marthas Verhalten betont. Vgl. etwa Pr. 86 (DW III 485,1 f.): dô er [sc. Kristus] sprach Marthâ, dô bewîsete er, allez, daz dâ hœret ze êwiger sælde, daz ir des niht enbræste; ebd. (DW III 485,6 f.): Sie stânt vil nâhe [bî den dingen] und enhânt es niht minner, dan ob sie stüenden dort oben an dem umberinge der êwicheit; ebd. (DW III 488,9): wan ez [sc. daz zîtlich werk] vüeget als nâhe als daz oberste, daz uns werden mac; ebd., (DW III 488,18 f.): Swâ disiu driu dinc [sc. daz man würke ordenlîche und redelîche und wizzentlîche] sint, diu vüegent als nâhe und sint als nütze als aller der lust Mârien Magdalênen in der wüeste. 161 Pr. 86 (DW III 486,1 f.).

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werden, daz uns kein liep bewegen müge und daz man unberüerlich sî von liebe und leide. Sie tuont im unrehte.162 Die tätige Nachfolge Christi und der Heiligen zeichnet sich demnach durch einen vernunfterhellten (redelîchen) Willen aus, der sich auf »das næhste« richtet und der bei dieser Nähe den Modus der glîcheit aufweist. Solch ein willentlicher Bezug, dessen Vernunftgeprägtheit sich mit seiner glîcheit in allen Wechselfällen und Differenzen zeigt, hat nichts zu tun mit einem Bezug auf die Dinge, welcher stets unter dem Vorbehalt der Revidierbarkeit steht: Ein vernunfterhelltes (redelîches) Tun, »daz man in der zît niht besserz enbekenne«,163 ist unvereinbar mit einem situationsabhängigen Tun, welches »man zur Zeit für das Beste hält«164 bzw. welches »besonnen im Rahmen des gerade Möglichen«165 zu Werke geht und zu einer anderen Zeit durch ein anderes, noch vernünftigeres Verhalten überboten werden kann. Vernunfterhellt ist ein glîcher Wille vielmehr in dem prononcierten und unüberbietbaren Sinne, »daß man innerhalb der Zeit nichts Besseres erkennt« − innerhalb der Zeit, in die wir ja nach Eckhart »gestellt sind, damit wir durch vernunftgeprägtes Tun in der Zeit (von zîtlichem vernünftigen gewerbe) Gott näher kommen und gleicher (glîcher) werden.«166 Diese Gleichheit ›mit‹ Gott erfordert daher ein vernunftgeprägtes Tun, das selbst Gleichheit so verwirklicht, wie Gott als der Eine kein Mehr und Minder kennt: Die Gleichheit mit Gott liegt in einem ununterschieden − d. h. gleich-gültig − affirmativen Bezug zu Gott und der Schöpfung. Affirmativ ist diese Gleich-Gültigkeit für Eckhart nun insofern, als mit ihr gerade keine Unberührtheit »von liebe und leide« verbunden sein soll. Gleich-Gültigkeit hat insofern auch nichts zu tun mit einer Negation oder Abtötung dieser verschiedenen Gefühlsregungen des Schmerzes und des Wohlempfindens: Dâ von spriche ich, daz heilige nie enwart noch niemer erkriegen mac, pîne entuo im wê und liep entuo im wol.167 Pr. 86 (DW III 489,21−490,11); Hervorh. StG. – Vor solch einer falsch verstandenen glîcheit, die eine affirmative Gleich-Gültigkeit (aequalitas) mit Nonchalance und Interesselosigkeit verwechselt, warnt Eckhart immer wieder; z. B. RdU, 6 (DW V 203, 5–9): Und – als ich mêr gesprochen hân – als man saget von glîcheit, sô enmeinet man niht, daz man alliu werk glîch sül ahten oder alle stete oder alle liute. Daz wære gar unreht, wan ez ist ein bezzer werk beten wan spinnen und ein edelriu stat diu kirche dan diu strâze. Aber dû solt in den werken ein glîchez gemüete haben und ein glîchez getriuwen und eine glîche minne ze dînem gote. Vgl. dazu neuerdings F. Löser, »Was sind Meister Eckhart deutsche Straßburger Predigten?«, in: Meister-Eckhart-Jahrbuch 2 (2008), 37–63, hier 49 f. 163 Vgl. Pr. 86 (DW III 488,16): Sô spriche ich [= Eckhart] dem redlîche, daz man in der zît niht besserz enbekenne. 164 Mieth, Meister Eckhart. Mystik und Lebenskunst (wie Anm. 137), 175. 165 So Quint in seiner Einleitung zu Pr. 86 (DW III 480). 166 Pr. 86 (DW III 485,11−13): Wan dar umbe sîn wir gesetzet in die zît, daz wir von zîtlichem vernünftigen gewerbe gote næher und glîcher werden. 167 Pr. 86 (DW III 490,16 f.). 162

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Daz ein pînlich gedœne mînen ôren als lustic sî als ein süezez seitenspil, daz erkriege ich niemer.168 Unumgänglich ist diese Differenz von »peinsam« und »wohltuend« allerdings nicht in dem Sinne, daß diese Differenz für den Menschen naturgegeben ist und daher als etwas Unvermeidliches hinzunehmen ist. Eckhart konstatiert hier also nicht einfach eine Naturnotwendigkeit, in die sich selbst noch Heilige qua ihrer menschlichen Natur fügen müssen. Ebensowenig aber fungiert Eckharts Hinweis auf die unumgängliche Berührbarkeit für Freude und Leid als ein sittliches Postulat, wonach die ›humanen‹ Regungen des Gefühls und Mitgefühls dazu da sind, um der Lebensferne einer »sich bebrütenden Persönlichkeit« (Hegel) entgegenzuwirken, die in kontemplativer, gottergebener Ataraxie ihr Glück wähnt und es daher am Engagement für ihre Mitmenschen fehlen läßt.169 Eckharts Hinweis auf die unumgängliche Differenz von »peinsam« und »wohltuend« scheint vielmehr zunächst die affirmative Anerkennung einer Ordnung einzufordern, die darin besteht, daß »man in allen Lagen (in allen orten) dem Nächstliegenden entspricht«.170 Diese Anerkennung dient allerdings, wie gesagt, weder einem ›secundum naturam vivere‹ noch ausschließlich der Beförderung der Humanität. Denn was Eckhart bei dieser Anerkennung von differenten Gefühlsregungen zugleich auch einfordert, ist ein Gleichmut, der im Idealfall − »aufgrund von großer Liebe und Gnade« − diese Differenz nicht negiert oder aus der Welt wissen will, sondern der die Anerkennung dieser Differenz nochmals affirmativ überbietet. Und so ist etwa ein (womöglich zu Unrecht) zugefügtes Leid nicht bloß unberührt, d. h. mit innerlicher Distanz, hinzunehmen, sondern in gleicher Weise wie eine Wohltat anzunehmen. Anders gesagt: Dieses zugefügte Leid ist weder als Wohltat zu affirmieren – Leid bleibt Leid –, noch kann dieses Leid mittels einer unberührt-distanzierenden Negation übersprungen werden. Wohl aber muß es als Leid anerkannt und unterschiedslos − glîch – affirmiert werden: Dâ von spriche ich, daz heilige nie enwart noch niemer erkriegen mac, pîne entuo im wê und liep entuo im wol. Daz beschihet etwenne von liebe und minne und von gnâde: der kæme und spræche, er wære ein ketzer oder wie man wölte, sô der

Pr. 86 (DW III 491,19 f.). In diesem Sinne etwa Mieth, Meister Eckhart. Mystik und Lebenskunst (wie Anm. 137), 172: »Wer Gott im Blick hat, hat oft keinen Blick mehr für sich selbst, für seine Lage, für seine Schwächen – geschweige denn für die anderen […]. [D]ie ›Humanität ohne Gott‹ ist daher, wie Eckhart bemerkt, ethisch scharfsichtiger, sie erkennt genauer und handelt gründlicher, sie wird dem Menschen gerechter als der reine Gottesdienst der Heiligen. Die Heiligen werden daher für Eckhart, wie er am Schluß der Predigt noch einmal einschärft, erst durch ihr Engagement zu Heiligen.« 170 Pr. 86 (DW III 488,15 f.): Dem spriche ich ordenlîche, daz in allen orten antwürtet dem næhsten. 168 169

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mensche mit der gnâde übergozzen wære, sô stüende er wol glîch in liebe und in leide.171 Aber selbst wenn solch ein radikaler Gleichmut nicht gnadenhaft verliehen ist, so ist doch ein »einfaltiger« Wille für Eckhart unerläßlich, um auch bei »Peinigungen des Herzens« in der Einheit von Gottes liebeerfülltem Willen (in einicheit gotes allerliebesten willen) stehen zu können: Aber daz wirt heiligen wol, daz in nihtes niht her ûz von gote gewegen mac, wirt joch daz herze gepînget, ob der mensche in der gnâde niht enist, daz doch der wille einvalticlîche bestâ in gote, alsô sprechende: ›herre, ich dir und dû mir‹. Swaz dar în vellet, daz enhindert niht êwige sælde, alle die wîle ez niht envellet in daz oberste wipfelîn des geistes dort oben, dâ ez stât in einicheit gotes allerliebesten willen.172 Wenn nun auch Martha »gepînget« wird von der Sorge um ihre Schwester, so ist zwar ihr Berührtwerden durch die Sorge nicht vorweg ein Hinderungsgrund für ihr »lûter einvaltic stân« im Horizont der Ewigkeit.173 Doch aber ist dieses ›Stehen im Horizont der Ewigkeit‹ der Gefährdung des Gemittelt- und Betrübtwerdens ausgesetzt, insofern Martha Christus um die Erfüllung ihres Willens bzw. des von ihr als gut Erachteten bittet.174 Demgegenüber erfordert das »einvalticlîche bestân« des Willens in Gott erst noch einen gleich-gültig affirmativen Willensakt: »herre, ich dir und dû mir«. Diese affirmative Gleich-Gültigkeit des Willens verhindert es dann auch, daß jeder aktuelle Willensinhalt, dem eine bestimmte Präferenz zugrundeliegt, in den obersten Seelenwipfel hineingelangt. Denn letzterer ist es, der »in der Einheit von Gottes liebeerfülltem Willen (in einicheit gotes allerliebesten willen) steht«.175 171 Pr. 86 (DW III 490,16−19). Daß Eckhart diesen ›Idealfall‹ eines gnadenhaft verliehenen Gleichmutes, eines glîch stân in liebe und in leide, ausgerechnet mit einem Beispiel illustriert, bei dem der Vorwurf der Ketzerei das auslösende Moment für ein solches glîch stân abgibt, ist zumindest merkwürdig − obgleich es keinerlei Anhaltspunkte dafür gibt, daß diese Stelle autobiographisch getönt wäre und mit Eckharts eigenem Prozeß in Verbindung steht. Wie dem auch sei, so hat jedenfalls m. W. das hier beispielhaft entworfene Szenario keine Parallele in Eckharts Werk. 172 Pr. 86 (DW III 491,1−5). 173 Vgl. Pr. 86 (DW III 489,1 f.). 174 Auch Marthas Sorge ist daher nicht völlig frei von einer »großen Verkehrtheit des menschlichen Herzens« (magna cordis humani perversitas), die nach Eckhart besteht in einem »velle voluntatem dei conformari nostrae voluntati et ad ipsam [nostram] voluntatem reflecti, et non nostram magis ad illam [sc. voluntatem dei] reflectari« (in Ioh. n. 605; LW III 528,1–3). Vom wahrhaft Bittenden oder Betenden (vere orans) gilt daher nach Eckhart: ut nihil plus unum quodlibet velit quam alterum nec quidquam velit penitus sibi et proximo nisi deum, nisi dei voluntatem (Sermo XIII n. 148; LW IV 139,6−8). 175 Quint übersetzt diese Stelle folgendermaßen: »Was immer einen befällt, das behindert nicht die ewige Seligkeit, solange es nicht den obersten Wipfel des Geistes befällt dort

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Es geht an dieser Stelle also um einen gleich-gültig affirmierenden Willensakt, der es sozusagen in der Folge verhindert, daß die Einheit des Willens mit Gottes liebeerfülltem Willen durch einen bestimmten, von Präferenzen geprägten Willensakt ›gemittelt‹ wird. Gottes allerliebester wille ist daher nicht »allerliebst« (Quint), sondern das Urbild eines gleich-gültig affirmativen, von absolut unterschiedsloser Liebe erfüllten Bezuges. Erst wenn diese affirmative Gleich-Gültigkeit des Willens erreicht ist, sô gibet got ein anderz in der sêle grunt, daz ist: ein êwiger wille mit lieplîchem [!] gebote des heiligen geistes. Danne sprichet diu sêle: ›herre, sprich in mich, daz dîn êwiger wille sî‹. Sô si alsus genouc ist dem, als wir hie vor gesprochen hân, gevellet es danne gote wol, sô sprichet der liebe vater sîn êwigez wort in die sêle.176

oben, wo er mit Gottes allerliebstem Willen vereint ist« (DW III 598). Quints Übersetzung von »swaz dar în vellet« mit »was immer einen (solchen Menschen) befällt« mag seine Berechtigung haben, sofern man an die Sorge denkt, von der der Mensch befallen wird. Sie evoziert aber spätestens dann die leicht mißverständliche Konnotation einer invasiven Schädigung, wenn er auch noch von einem immerhin möglichen ›Befall‹ des obersten Seelenwipfels spricht. Der Sinn jener Passage scheint aber der zu sein: Steht der Wille einfaltig, d. h. gleich-gültig, in Gott, dann tangiert all das, »swaz dar în vellet«, d. h. was in den Willen gelangen und also Gegenstand des Willens werden mag, nicht die ewige Seligkeit, weil es nicht in den obersten Seelengipfel will: »Was dahinein will, behindert nicht die ewige Seligkeit, zumal es dann (alle die wîle) nicht in den obersten Seelenwipfel will«. »Alle die wîle« scheint hier also nicht nur in temporalem Sinn »solange als«, sondern auch im kausalen Sinn gebraucht zu sein. 176 Pr. 86 (DWI III 490,3−6). − Das »fiat volutas tua« des Paternoster versteht Eckhart denn auch nicht als eine Einwilligung in Gottes Willen, insofern dieser einfach stoisch hinzunehmen wäre, sondern als die Bitte um die Gabe einer gleich-gültigen Affirmation dessen, was Gottes Wille ist: Rogamus ergo, ut voluntas dei sic placeat, sic sapiat in adversis, in tristibus, sicut in laetis et prosperis, in minimis sicut in maximis, secundum […] Luc. 10: ›Maria optimam partem elegit‹: ›partem‹ ait [sc. evangelista] et ›optimam‹, quia in parte est totum et optimum (in Ioh. n. 604; LW III 526,15–527,3; Hervorh. StG). In sachlichem Zusammenhang damit steht auch eine prominente ›Umdeutung‹ Eckharts, die er jenem »fiat voluntas tua« angedeihen läßt: Statt es im herkömmlichen, gottergebenen Sinne von »Dein Wille geschehe« zu verstehen, deutet Eckhart das »fiat voluntas tua« buchstäblich als »der Wille werde Dein«, d. h. als eine Aufforderung, den menschlichen Willen dem göttlichen Willen gleich werden zu lassen: Ich saz gester an einer stat, dô sprach ich ein wörtelîn, daz stât in dem pater noster und sprichet: ›dîn wille der werde!‹ Mer: ez wære bezzer: ›werde wille dîn!‹; daz mîn wille sîn wille werde, daz ich er werde: daz meinet daz pater noster (Pr. 30; DW II 99,1−3). Wie aber der Wille des Menschen dann auch tatsächlich zu Gottes Willen werden kann, zeigt Eckhart im Verlauf dieser Predigt dadurch, daß er sein Verständnis von »fiat voluntas tua« mit der hier ausgelegten Perikope 2 Tim. 4,5 »in omnibus labora« engführt. Dieses »Arbeite in allen Dingen!« hat dabei für Eckhart drei Bedeutungsvalenzen, die sukzessive je verschiedene Weisen eines gleich-gültig affirmativen Bezuges zur Sprache bringen: (1) Zunächst muß für das Verhältnis zu allen Dingen derjenige Bezug maßgebend werden, wie Gott selbst sich zu den Dingen – und zu sich selbst – verhält. Als der Eine ist Gott nicht Mehr mit den Dingen als ohne die Dinge, wie auch Gottvater mit Gottsohn nicht Mehr ist als Gottsohn ohne den Vater. Da Gottes inner- und extratrinitarischer Bezug kein Mehr und Minder kennt, ist ein solcher Bezug auch für den menschlichen Bezug zu den Dingen maßgebend: Gott ist gleich-gültig in allen Dingen zu nehmen: Daz wort: ›arbeite in allen dingen!‹, […] daz ist: nim got in allen dingen!, wan got ist in allen dingen. […] Die liute wænent, daz sie mê haben, sô sie diu dinc hânt

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Eckhart geht es also nicht um die ›passiv‹-geduldige Hinnahme von zugefügtem Leid, sondern um die gleich-gültige Affirmation der Differenz von »peinsam« und »wohltuend«. Dies zeigt auch sein letztes Beispiel in dieser Predigt, das offensichtlich illustrieren soll, wie diese Gleichmut sich nun angesichts von Wohltuendem zu verhalten hat:

mit gote, dan ob sie got hæten âne diu dinc. Aber dem ist unreht, wan alliu dinc mit gote enist niht mê dan got aleine; und swer daz wânde, der den sun hæte und den vater mit im, daz er mêr hæte, dan ob er den sun hæte âne den vater, dem wære unreht (Pr. 30; DW II 100,7−101,6). (2) Dieser gleich-gültige Bezug zu den Dingen als der recht verstandene Bezug zu Gott ist allerdings nicht bloß in dem negativen Sinn gleichgültig oder ›bedeutungslos‹, daß er unter Absehung der Dinge nur Gott im Auge hat, sondern er ist zugleich affirmativer, liebender Bezug auf Gott wie auf den Nächsten: Der ander sin ist: […] ›minne got obe allen dingen und dînen næhsten als dich selben!‹ (3) Als gleich-gültig affirmativer Bezug umfaßt er aber nun nicht nur die Gottes- und Nächstenliebe, sondern jeden willentlichen Bezug auf die Dinge. Gott ist nicht nur in allen Dingen ›abstraktiv‹ zu erfassen (nim got in allen dingen), sondern in allen Dingen gleich-gültig zu lieben (glîche ze minnene): Der dritte sin […], daz ist: minne gote in allen dingen glîche!, daz ist: minne got als gerne in armout als in rîchtoume und habe in als liep in siechtuome als gesuntheit; habe in als liep in bekorunge als âne bekorunge und als liep in lîdenne als âne lîden (Pr. 30; DW II 105,5−106,3). − »Daz mîn wille sîn wille werde, daz ich er werde«, meint daher nicht nur eine willentliche Übereignung des Ichs an Gott, die in einem negativierenden Sinne ›von allem Eigenen abläßt‹, es aufhebt oder auflöst (Pr. 30; DW II 107,4−108,1: lege abe allez, daz dîn ist, und eigene dich gote). Eine solche Aufhebung des Eigenen, also auch diejenige des eigenen Willen ist zwar Voraussetzung für eine Einwilligung in all das, was Gottes Wille ist. Eckhart geht es aber offensichtlich um mehr, insofern bei dieser Übereignung an Gott dieser selbst dem Menschen so zu eigen wird, wie Gott sich selbst eigen ist − erst dann »ist er dir Gott, wie er sich selbst Gott ist, nicht weniger«: »so wirt got dîn eigen, als er sin selbes eigen ist, und er ist dir got, als er im selben got ist, und niht minner« (Pr. 30; DW II 108,1 f.). Dies meint aber nicht mehr bloß die Einwilligung des menschlichen Willens in das von Gott Gewollte, sondern eine Identität des Wollens, eine Ein-willigkeit mit Gott, in der der Mensch »sô einwillic mit gote [ist], daz er allez daz wil, daz got will und in der wîse, sô ez got wil« (BgT; DW V 22,5 f.; Hervorh. StG). In der Weise zu wollen, wie Gott will, meint aber einen gleich-gültig affirmativen Bezug: »Nunc autem vere amans deum in omnibus amat et accipit deum, omnia accipit ut a deo volita, cuius voluntas […] tanta est, quia eadem est in unoquolibet sicut in altero, in minimo sicut in maximo, in uno sicut in omnibus, in malis sicut in bonis, sicut in adversis sic in prosperis, in amaro sicut in dulcissimo« (Sermo VI/4 n. 68; LW IV 66,5–10). – »Daß mein Wille Gottes Wille werde und daß Ich Er [=Gott] werde«, meint daher auch keine »radikalisierende Überbietung«, so als ob hier Eckhart »die Identität von Ich und Gott« gegen eine Identität »von Einzelwille und Gottes Wille« ausspielen bzw. die »universale Identität [von Ich und Gott] gegenüber der nur partiellen [Identität des Willens]« aufwerten würde (S. Köbele, »Primo aspectu monstruosa. Schriftauslegung bei Meister Eckhart«, in: ZfdA 122 [1993], 62−81; hier 72). Es geht Eckhart nicht um die jeweilige Einwilligung in das von Gott jeweils Gewollte und damit nicht um irgendeine partielle Identität oder eine Art Konkordanz der Willensinhalte, sondern um die prinzipielle Identität des Wollens mit Gott: um die Ein-Willigkeit. Wenn denn schon Eckhart hier etwas ›radikalisiert‹, dann den menschlichen Willen zur Instanz eines gleich-gültig affirmativen Bezuges, der nicht einfach nur »dieses und jenes« nicht will, sondern eben »dieses und jenes gleichgültig (indifferenter) und ununterschieden (indistincte), dieses nicht mehr als jenes« will (in Ioh. n. 613; LW III 535,5 f.). Somit kann angesichts der Predigt 30 keine Rede davon sein, daß »das sinntragende Wort (voluntas) […] am Ende« von Eckharts ›Umdeutung‹ des fiat voluntas tua »eliminiert« ist (Köbele, op. cit. 72).

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Daz ein pînlich gedœne mînen ôren als lustic sî als ein süezez seitenspil, daz erkriege ich niemer. Aber daz sol man haben, daz ein redelich gotgeformter wille blôz stande alles natiurlîchen lustes, swenne ez [sc. allen natiurlîchen luste] bescheidenheit aneschouwet, daz si dem willen gebiete, sich abe ze kêrenne, und der wille spreche: ich tuon ez gerne. Sêhet, dâ würde kriec ze luste; wan, swaz der mensche mit grôzer arbeit muoz erstrîten, daz wirt im ein herzenvröude, und danne wirt ez vruhtbære.177 Die Anerkennung von differenten Bezügen − und d. h. hier: die Anerkennung der natürlichen Präferenz des Angenehmen vor dem Unangenehmen − verbindet Eckhart an dieser Stelle mit der Lossagung von einem natürlichen Lustempfinden, das (in Eckharts Beispiel) der Wohlklang eines Saitenspiels auslöst. Diese Abwendung stellt aber nicht einfach eine Negation oder Verdrängung der natürlichen Lust dar. Vielmehr ist diese Abwendung selbst als eine bewußt vollzogene Affirmation zu verstehen. Gefordert ist also, »daß ein vernunftgeprägter gottförmiger Wille bloß stehe angesichts der natürlichen Lust, so daß, wenn die Einsicht es [d. h. dieses natürliche Lustempfinden] wahrnimmt und dem Willen dann gebietet, daß er sich abwende, der Wille dann sagt: ›Ich tue es gerne‹.«178 Der Kampf (kriec) richtet sich daher nicht lustfeindlich gegen jeden lustbesetzten Bezug auf Angenehmes überhaupt, sondern gegen den natürlichen Vorzug des Angenehmen vor dem Unangenehmen. Allerdings soll auch noch der Kampf gegen diesen Vorzugscharakter getragen sein von dem bewußt affirmativen Einverständnis in diese Lossagung: »ich tuon ez gerne«. Ein letztes Mal in dieser Predigt ist die Negation umfangen von der Affirmation: »Sêhet, dâ würde kriec ze luste«. Diese »Lust« besteht aber nun nicht einfach darin, daß die mit großer Anstrengung erkämpfte, willentliche Entsagung oder Selbstüberwindung ein Gefühl der Befriedigung nach sich zieht und bei diesem schönen Gefühl selbstgenügsam stehen bleibt. Vielmehr ist mit jener »Lust« auch eine Fruchtbarkeit verbunden: »Swaz der

Pr. 86 (DW III 491,19−492,4). Quints Übersetzung dieser Stelle geht am Sinn dieser Passage völlig vorbei: »Daß ein peinsames Gedröhn meinen Ohren so wohltuend sei wie ein süßes Saitenspiel, das werde ich niemals erreichen. Darüber aber soll man verfügen, daß ein besonnener gottgeformter Wille sich lossage von aller natürlichen Lust, und, wenn dann die Einsicht es wahrnimmt, sie dem Willen gebiete, sich davon abzuwenden, und der Wille dann sage: ›Ich tu es gern!‹ Seht, da würde Kampf zur Lust; denn, was der Mensch mit großer Anstrengung erkämpfen muß, das wird ihm zur Herzensfreude, und dann wird es fruchtbringend« (DW III 598). Wenn also nach Eckhart ein natürliches Schmerz- und Lustempfinden unvermeidbar ist, wenn aber ein vernunftgeprägter Wille eine Entsagung zu erbringen hat, so kann Eckhart hier doch nicht meinen, daß es einer willentlichen und vernunftgeleiteten Anstrengung bedarf, um sich von einem unangenehmen Gedröhn abzuwenden. Die Vermeidung von Unangenehmen oder von Unlust ist vielmehr für den Menschen natürlich und geht daher ohne großen inneren Kampf vonstatten, so daß nur die Abwendung von einer naturgebenen Präferenz mit großer Anstrengung verbunden ist. 177 178

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mensche mit grôzer arbeit muoz erstrîten, daz wirt im ein herzenvröude, und danne wirt ez vruhtbære.« Allerdings geht es Eckhart hier in erster Linie nicht um eine Fruchtbarkeit, die ihre Erfüllung nun in einem segensreichen Wirken für den Mitmenschen findet, sondern um eine vernunftgeleitete Erfüllung, um eine »redelîchiu genüegede, daz ist nâch dem geiste«.179 Diese ist dann erreicht, wenn »liep und leit der crêatûre daz oberste wipfelîn [des geistes] niht geneigen mac her abe.«180 Erst wenn die Seele dieser Gleich-Gültigkeit genügt, dann wird sie fruchtbar, d. h. erst dann »sprichet der liebe vater sîn êwigez wort in die sêle«: Erst dann tritt Christus in jenes castellum oder bûrgelin der Seele. Eckharts Predigt 86 beschwört also nicht das Ideal einer kontemplativen Lebensform, die sich erst noch selbst überwinden und auf ›das Leben‹ einlassen muß, um schließlich fruchtbar zu werden im Dienst am Nächsten. Sondern sie geht den Bedingungen für eine aequalitas im Sinne einer affirmativen Gleich-Gültigkeit nach. Denn diese ist die Voraussetzung dafür, daß in allem Denken und Handeln Gott als der Eine affirmative Bezug fruchtbar wird: »Daz aber got vruhtbærlich in im [sc. dem mensche] werde, daz ist bezzer«.181 Die letzten Sätze dieser Predigt sind denn auch nicht so zu verstehen, daß Maria erst noch zu leben lernen muß, um dann auch mit ihrem tätigen Dienst an den Jüngern beginnen und fruchtbringend handeln zu können. Allgemeiner gesagt: Die Heiligen müssen nicht zu engagiert Handelnden werden, um dann auch zu wirklich Heiligen werden zu können.182 Vielmehr gilt nach Eckhart das Umgekehrte: Die Heiligen müssen erst zu Heiligen werden, um dann auch tugendhaft wirken zu können: »Sô die heiligen ze heiligen werdent, danne allerêrst vâhent si ane, tugende ze würkenne«.183 Für ein tugendhaftes Leben und Handeln muß daher zuallererst der Wille durch Einsicht geformt werden, da ein »tugendhaftes Leben an drei Punkten hängt, die den Willen betreffen«.184 Der erste, »sinnenhafte« Wille verlangt dabei nach Belehrung durch wahre Lehrer. Der zweite, »vernunftgeprägte« Wille besteht in der gleich-gültigen Affirmation des Nächstliegenden, in der die Nachfolge Christi und der Heiligen besteht.185 Jedoch erst wenn man eben dies vollbracht hat, »daz man glîche schik-

Pr. 86 (DW III 482,8). Pr. 86 (DW III 482,11 f.). 181 Pr. 2 (DW I 27,3); Hervorh. StG. Vgl. auch in Ioh. n. 130 (LW III 112,4–6): quamdiu dissimiles sumus deo et adhuc parturimur, ut formetur in nobis Christus, Gal. 4, inquieti sumus et turbamur erga plurima cum Martha, Luc. 10. 182 Vgl. nochmals Mieth, Meister Eckhart. Mystik und Lebenskunst (wie Anm. 137), 172: »Die Heiligen werden daher für Eckhart, wie er am Schluß der Predigt noch einmal einschärft, erst durch ihr Engagement zu Heiligen.« 183 Pr. 86 (DW III 492,11 f.); Hervorh. StG. 184 Pr. 86 (DW III 489,17): Nû nemet der lêre der tugend. Tugenthaft leben hât drî puncte an willen. 185 Vgl. Pr. 86 (DW III 489,20−490,2): Der sinnelîche wille gebuitet lêre, daz man hœre wâre lêrære. Der redelîche wille, daz ist, daz man die vüeze setze in alliu diu werk Jêsû Kristî und der hei179 180

2. Affirmative Gleich-Gültigkeit

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ke wort, wandel und gewerp, an daz næhste geordent«,186 kann der dritte, »ewige« Wille mit der Empfängnis des Heiligen Geistes und seines »liebevollen Gebotes« verliehen werden: So dîz allez volbrâht wirt, sô gibet got ein anderz in der sêle grunt, daz ist: ein êwiger wille mit lieplîchem gebote des heiligen geistes. Danne sprichet diu sêle: ›herre, sprich in mich, daz dîn êwiger wille sî‹.187 So empfangen nach Eckhart auch die Jünger zuerst den Hl. Geist − und damit einen »ewigen Willen« −, bevor sie tugendhaft zu wirken beginnen: »Nâch der zît, dô die jünger enpfiengen den heiligen geist, dô viengen sie êrste ane, tugenden ze würkenne«.188 Und so ist auch die zu Füßen von Christus sitzende Maria zuallererst eine Lernende − aufgrund ihres »sinnenhaften Willens«; danach aber empfängt sie den Heiligen Geist – und einen »ewigen Willen«: ‹Marîâ saz bî den vüezen unsers herren und hôrte sîniu wort‹ und lernete, wan si allerêrst ze schoule was gesetzet [und lernete leben]. Aber dar nâch, dô sie gelernete und Kristus ze himel gevuor und si den heiligen geist enpfienc, dô vienc si allerêrst ane ze dienenne und vour über mer und predigete und lêrte und wart ein dienærinne und ein wescherinne der jünger.189 Daß also Maria nicht als Lernende »bei den Füßen des Herrn« sitzen bleibt, sondern dann auch ihre »vüeze setzt in alliu diu werk Jêsû Kristî und der heiligen«, resultiert nicht aus ihrer Entwicklung zu einer lebensnahen und aktiven Person, aus ihrem Gang durch die ›Schule des Lebens‹. Vielmehr hat dies ursächlich mit einem gleichgültig affirmativen Willen zu tun. Ein solcher Wille ist erst die hinreichende Bedingung dafür, daß weder eine Nähe zu den Dingen des Lebens die Nähe zu Gott, noch eine Nähe zu Gott die Nähe zu den Dingen des Lebens verbauen kann: quia natura divinitatits hoc est et hoc exigit quod non uno aliquo modo, sed nec in modo nec in una hora vel tempore sive quandoque delectemur in ipsa, sed in omnibus et in omnibus aequaliter, semper et semper aequaliter.190

ligen, daz ist: daz man glîche schicke wort, wandel und gewerp, an daz næhste geordent. − Dagegen faßt etwa V. Leppin (mit Quint) die zuletzt zitierte Wendung »an daz næhste geordent« als eine exklusive Ausrichtung des vernunftgeprägten Willens auf »das Höchste«, d. h. auf Gott. Siehe V. Leppin, »Die Komposition von Meister Eckharts Maria-Martha-Predigt«, in: Zeitschrift für Theologie und Kirche 94 (1997), 69−83; hier 80. 186 Pr. 86 (DW III 490,1 f.) ); Hervorh. StG. 187 Pr. 86 (DW III 490,2−5). 188 Pr. 86 (DW III 492,6 f.). 189 Pr. 86 (DW III 492,7−11). Nach meiner Lesart ist also das (im Zitat kursivierte) »und lernete leben« mit einer Gruppe von Textzeugen, die Quint unter »α« zusammengefaßt hat, zu athetieren. 190 Sermo XV/2 n. 162 (LW IV 153,8−10).

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I. Meister Eckhart

3. Absolutes Sein und Relation Wie im Vorigen bereits öfters erwähnt wurde, wiegt Gottes Bezug zu den geschaffenen Dingen nicht mehr als seine Unbezogenheit, da Gottes Bezug zur Schöpfung seinem Einen Sein nichts hinzufügt und diesem gegenüber gleich-gültig ist. Dieser Umstand betrifft allerdings nicht nur die einzelnen Relata, insofern diese in Gott gleich, ja Gott selbst sind.191 Gleich-gültig ist auch die Relation selbst in ihrem kategorialen Charakter (ratio praedicamentalis ipsius relationis) gegenüber der Substanz Gottes. Anders als die übrigen akzidentellen Kategorien geht daher die Relation ›in‹ Gott nicht in Gottes Substanz über: »omne genus accidentis transit in substantiam in deo praeter relationem.«192 Die Schwierigkeit besteht hierbei zunächst darin, daß mit dieser Nicht-Inhärenz oder ›Selbständigkeit‹ der Relation ›neben‹ der Substanz die Einheit des reinen Seins offensichtlich gefährdet ist. Denn wenn es keinen Unterschied in Gottes Substanz gibt und wenn allein Gottes Substanz die Grundlage seines Seins und Wirkens ist, dann muß angesichts dieses Einen Seins die Substanz die »einzige Kategorie in Gott« darstellen: Ex praemissis ubi dictum est quod deus est et operatur omnia sua substantia, patet quod in deo est unicum praedicamentum, scilicet substantia, qua est, qua potens est, qua sapiens est, qua bonus est et huiusmodi, quae in creaturis pertinent ad praedicamenta novem accidentis.193 Dann aber, so Eckhart, bleibt noch die Frage offen (restat quaestio), quomodo Augustinus, Boethius, sancti et doctores concorditer dicunt in divinis esse duo praedicamenta, substantiae scilicet et relationis.194 Eckhart, der nach einem weit verbreiteten Urteil ein volles Bewußtsein um die »nova et rara« seiner Auslegungen hat und daher auch kaum eine Konfrontation mit einem »ut communiter exponitur«195 scheut, scheint hier jedoch auf den ersten Blick merkwürdig zu zögern, wenn er die von einer geballten Tradition untermauerte, einhellige Ansicht über die zwei Kategorien in Gott (in divinis) geradezu hermeneutisch auf ihren Sinn befragt: »restat quaestio quodmodo dicunt in divinis esse duo praedica-

Vgl. z. B. Pr. 9 (DW I 148,1−3): In gote sind aller dinge bilde glîch; aber sie sint unglîcher dinge bilde. Der hœhste engel und diu sêle und diu mücke hânt ein glîch bilde in gote; Pr. 12 (DW I 199, 6): Nû sint alliu dinc glîch in gote und sint got selber; Pr 3. (DW I 56,8): swaz in gote ist, daz ist got. 192 in Ex. n. 64 (LW II 69,7 f.). Vgl. auch ebd. n. 72 (LW II 74,12 f.). 193 in Ex. n. 62 (LW II 66,14–65,3). 194 in Ex. n. 62 (LW II 65,4 f.). 195 Siehe dafür etwa nur in Eccl. n. 58 (LW II 286,14). 191

3. Absolutes Sein und Relation

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menta«. Wie versteht also Eckhart die ›Tatsache‹, daß es angesichts des Einen Gottes zwei Kategorien ›gibt‹?

3.1 Relation als Akzidenz? Das sachliche Problem liegt hier offenbar darin, daß sämtliche Akzidentien oder Prädikate Gottes bei ihrem ›Übergang‹ in die göttliche Substanz in ein Identitätsverhältnis zur Substanz treten196 − mit Ausnahme eben der Relation, die nicht ihrerseits in eine Identitätsrelation zweiten Grades eintreten kann. Ihrem kategorialen Charakter nach (ratio praedicamentalis) stellt die Relation daher auch kein Akzidens dar, das der Substanz inhäriert: »Relatio autem quamvis sit accidens, non tamen significat per modum accidentis, quia non modum inhaerentis subiecto sive substantiae.«197 Die Relation tritt damit offenbar dem substantiellen Sein gegenüber, bleibt »gleichsam draußen« stehen und bestehen: »hoc solum genus praedicamenti relationis non transit in substantiam in divinis, sed manet quasi foris stans«.198 Heißt dies aber für Eckhart, daß die innertrinitarische und die extratrinitarische Relation gleichermaßen der Einen Substanz Gottes äußerlich sind und in ihr nicht Fuß fassen? Damit hätten aber sowohl Gottes Bezug auf das Geschaffene als auch die Dreiheit der Personen nur »von außen«, also nur von Seiten des Geschaffenen her, ein reales Fundament.199 196 Eckhart nimmt dafür etwa ein Diktum von Bernhard von Clairvaux in Anspruch: Bernardus V De Consideratione sic dicit: »si bonum, si magnum, si beatum, si sapientem vel quidquid tale de deo dixeris, in hoc verbo instauratur quod ›est‹. Nempe hoc est ei esse, quod haec omnia esse« (in Ex. n. 18; LW II 24,10−12). 197 in Ex. n. 63 (LW II 67,9−11). 198 in Ex. n. 65 (LW II 70,2 f.). 199 Diese interpretatorische Konsequenz zieht offenbar Manstetten, wenn er schreibt: »Denn im Wesen Gottes, dem Sein selbst, gibt es keine Relationen, da es in ihm, insofern es nichts als Sein ist, schlechterdings keine Unterscheidungen, also auch keine unterschiedene Relate, geben kann« (Manstetten, Esse est Deus [wie Anm. 9], 211). Eine Relation in Gottes absolutem Sein und damit die Trinität der göttlichen Personen wird daher für Manstetten »von außen veranlaßt« (ebd. 222): »Die innertrinitarischen Unterscheidungen sind zwar nicht davon abhängig, daß jemand außerhalb erkennt; aber als Unterscheidbare werden Vater, Sohn und Geist, deren Unterscheidbarkeit in Gott verborgen ist, erst offenbar, wenn jemand von außen sich auf Gott richtet und sie tatsächlich unterscheidet. Daß jemand von außen erkennt, trägt also erst die Unterscheidung in die Einheit des zuvor verborgenen Unterschiedenen und bringt damit das Moment der Relation real ins Spiel. Die reale Beziehung der unterschiedenen Momente untereinander ist also nicht in Gott, sondern verdankt sich in der Tat einer vorgängigen Beziehung von außen auf die eine Substanz, denn nur diese vorgängige Beziehung ist es, die in ihrem Wesen [d. h. im Wesen der Substanz] Unterscheidungen setzt. Das bedeutet aber auch: Damit, was in Gott als Potential verborgen ist, offenbar werde als das, was es ist, bedarf Gott eines ›außerhalb‹« (ebd. 222 f.). Nach dieser Lesart ist also die trinitarische Relation in Gott durch eine »vorgängige« geistige Relation der Geschöpfe auf Gott bedingt, insofern ein denkerischer Bezug ›von außerhalb‹ die in Gott verborgene Unterscheidbarkeit von der Möglichkeit in eine

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I. Meister Eckhart

Beides verneint Eckhart jedoch ausdrücklich: Einerseits ist das Geschaffene ein pures Nichts und damit kein eigenständiges Relatum, welches von sich aus in einen Bezug zu Gott treten könnte.200 Andererseits gilt für Eckhart angesichts der innertrinitarischen Relation ganz traditionell: »non est relatio rationis tantum, sed rei«.201 Was aber meint dies wiederum? Ist Gottes Wesen zumindest von den außertrinitarischen Relationen unberührt zu denken, da das Geschaffene ein reines Nichts ist und »eine Relation, bei der ein relatum das Nichts ist, […] selbst nichts«202 ist? In diesem Fall verbietet es der nichtige Charakter des Geschaffenen, die Relation zur Schöpfung als wesentlich für Gott zu denken. Diese Relation wäre dem Wesen Gottes äußerlich und nachgeordnet, da Gottes Wesen selbst »zutiefst [von] Unbezogenheit« gekennzeichnet wäre.203 Was nun Eckharts inkriminierte These von der Nichtigkeit der Geschöpfe − »alle crêatûren sint ein lûter niht«204 / »omnes creaturae sunt unum purum nihil«205 − angeht, so dürfte unbestritten sein, daß sie für Eckhart den Status eines Grundsatzes hat, den er auch in seiner sog. Rechtfertigungsschrift weder einzuschränken noch gar

– bloß geistige, gedachte – Wirklichkeit überführt. Für Eckhart ist es jedoch völlig ausgeschlossen, daß es angesichts von Gott in irgendeiner Weise ein unausgeschöpftes Potential und damit in irgendeiner Form eine Bedürftigkeit geben könnte; die Belegstellen für die »sufficientia« und den »actus purus« von Gottes Sein und Denken sind Legion in Eckharts Werk; vgl. z. B. nur in Ex .20 (LW II 26,1 f.): Hoc autem, puta egere alio et non sufficere sibimet, alienum est prorsus ab essentia dei. »Primum enim dives est per se«. Dazu insbesondere auch W. Beierwaltes, »Primum dives est per se. Meister Eckhart und der Liber de Causis«, in: On Proclus and his Influence in Medieval Philosophy, hg.v. E.P. Bos und P.A. Meyer, Leiden (u. a.) 1992; 141−169. – Kritik an Manstettens Darstellung von Eckharts ›Relationstheorie‹ übt bereits Goris, Einheit als Prinzip und Ziel (wie Anm. 9), 238 ff. 200 Eine Bezugsform, die sich ›von außen her‹ auf Gott richtet (vgl. Anm. 199), kann es für Eckhart daher stricto sensu nicht geben, da in einem solchen Bezug bereits eine Differenz (distinctio) in Anspruch genommen wird, die sich zwischen zwei eigenständigen Relata etabliert: Qui enim duo vel distinctionem videt, deum non videt (in Ex. n. 58; LW II 65,4 f.; vgl. auch die dort in Anm. 5 verzeichneten Parallelstellen). 201 in Ioh. n. 34 (LW III 28,1) = Thomas v. Aquin, STh I q. 28 a. 1 ad 4. Siehe auch in Ex. n. 72 (LW II 75,1 f.). 202 Mojsisch, »Nichts und Negation« (wie Anm. 6), 683; dort Anm. 27. 203 Goris, »Der Mensch im Kreislauf des Seins« (wie Anm. 47), 188. Vgl. ebd. 187: »Das Wesentliche Gottes zeigt sich nicht durch Schöpfung, Inkarnation, oder eine sonstige Hinneigung zum Geschaffenen, sondern gerade in seiner Beziehungslosigkeit allem anderen gegenüber.« Bereits J. Koch hat sich in diesem Sinne geäußert: Auch wenn »Eckhart nicht die Lehre von der allerheiligsten Dreifaltigkeit geleugnet« habe, so lasse sich doch »ein Kernpunkt der Eckhartschen Gotteslehre« in den Satz fassen: »Die Relationen sind gegenüber dem göttlichen Wesen etwas Äußerliches.« (»Meister Eckhart und die jüdische Religionsphilosophie des Mittelalters«, in: ders., Kleine Schriften [wie Anm. 47], I 349−365; hier 363 f.). Siehe auch ders., »Meister Eckhart«, in: ebd., I 226. In diesem Sinne etwa auch M. Nambara, »Die Idee des absoluten Nichts in der deutschen Mystik und ihre Entsprechungen im Buddhismus«, in: Archiv für Begriffsgeschichte 6 (1960), 143−277; hier 152. 204 Pr. 4 (DW I 69,8). Siehe auch Pr. 5 a (DW I 80,12 f.); Pr. 15 (DW I 248,2 f.); Pr. 29 (DW II 88,7). 205 Siehe oben Anm. 51.

3. Absolutes Sein und Relation

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zurückzunehmen gedenkt. Daß aber diese These für Eckhart »einer spekulativen Begründung weder fähig noch bedürftig war«, läßt sich wohl nicht mit Recht behaupten.206 Im Gegenteil, mit dieser These sieht Eckhart sowohl Gott in seinem Schöpfertum als auch das Geschaffene in seinem Geschaffensein gerade gewahrt: »omnes creaturae sunt nihil in se ipsis«. Hoc negare est ignorare et deum blasphemare; si quominus, deus non esset creator nec creatura esset creata. Creatio enim ex nihilo, non sic factio.207 Gälte also dieser Satz nicht, so wäre Schöpfung eine Hervorbringung (factio) wie andere auch. Das Hervorgebrachte hätte eine Selbständigkeit, da es aus Anderem gefertigt wird und dann auch etwas Anderes ist als das Hervorbringende.208 Hätte demnach »aliquod esse quantumcumque modicum sine deo« Bestand, so wäre Gott nicht Schöpfer und damit auch nicht die Ursache von allem (causa omnium). Vielmehr hätte ein Sein außerhalb und unabhängig von Gott Bestand − also ohne ihn (esse sine deo).209 Sowohl die absolute Einheit Gottes wäre geleugnet als auch der von Grund auf abhängige Charakter der Schöpfung, da diese in ihrem Sein ein Eigenrecht hätte und daher gott-los wäre, ein »aliquod esse sine deo«. Die absolute Nichtigkeit der Schöpfung hat also für Eckhart ihren Grund in dem einzigartigen Charakter der creatio, die kein selbständiges, in sich bestehendes Relatum oder Resultat ›außerhalb‹ ihrer selbst kennt. Das Nichts, aus dem und welches das Geschaffene ist, faßt Eckhart daher auch nicht als ein Vakuum, das außerhalb von Gott anzusiedeln wäre.210 206 Faden, »Meister Eckharts Dialektik« (wie Anm. 109), 88. – Insofern nach Faden Eckharts These von der absoluten Nichtigkeit der Schöpfung »offenbar ein Axiom« darstellt, »nötigt« dieser axiomatische Charakter Faden dann sogar »zu der heuristischen Maxime, daß eine Auslegung, die das Denken dieses Autors [sc. Eckharts] begreiflich und glaubhaft macht, danebentrifft« (ebd.). So gar nicht begreiflich und glaubhaft scheint Fadens Maxime allein schon angesichts der Tatsache, daß er den unableitbaren, einer weiteren Begründung enthobenen Charakter eines Axioms (vgl. etwa Aristoteles, An. Post. I 2; 72 a 14 ff.) mit der schlichten Unbegreifbarkeit eines Axioms gleichsetzt. 207 Proc. Col. II n. 27/28 (LW V 324,15−18). 208 Vgl. etwa auch prol. gen. n. 17 (LW I 161,3–10): notandum quod omne quod deus creat, operatur et agit, in se ipso operatur et agit. […] Secus est de aliis artificibus. Domificator enim domum facit extra se, tum quia extra ipsum sunt entia alia, tum quia ligna et lapides, in quibus est domus et fit, non habent esse nec ab artifice nec in ipso, sed ab alio et in alio. 209 Proc. Col. II n. 107 (LW V 344,5−7): Si enim creatura habet aliquod esse quantumcumque modicum sine deo, tunc deus non esset causa omnium. Praeterea, creatura non esset creata. Creatio enim est acceptio esse ex nihilo. − Vgl. etwa auch prol. gen. n. 12 (LW I 157,12 f.): Igitur si esse est aliud quam deus, res poterunt esse sine deo; et sic deus non est prima causa, sed nec causa rebus quod sint. 210 Vgl. prol gen. n. 17 (LW I 161,10–12): Non ergo falso imaginandum est quasi deus proiecerit creaturas vel creavit extra se in quodam inifinto seu vacuo. – Insofern Schöpfung nicht die Hervorbringung (factio) von Anderem und unter Zuhilfenahme von Anderem meint, insofern sie also keine Relation zwischen zwei distinkten Relata aufspannt, kann für Eckhart nicht gelten: »Wer ein ›lauteres Nichts‹ geschaffen hat, der hat eben nichts geschaffen« (Faden, »Meister Eckharts Dialektik« [wie Anm. 109], 90). Es gilt vielmehr das schiere Gegenteil: Wer aus dem Nichts das lautere Nichts geschaffen hat, der hat eben geschaffen – und nicht bloß etwas Anderes hervorgebracht. Siehe auch Haas,

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I. Meister Eckhart

Versteht man also solch einschlägige Sätze Eckharts, wie z. B. »extra deum, utpote extra esse, nihil est«,211 »infinitum enim est, extra quod nihil est«,212 in der Weise, daß außerhalb von Gott das Nichts im Sinne der Schöpfung ist, dann wird das Nichts zu einem quasi-substantiellen oppositum hypostasiert. Dieses oppositum muß dann in seiner Andersheit aufgehoben werden, wenn denn Gottes Einheit gewahrt bleiben soll. Damit wird jedoch der Schöpfung als dem Nichts außerhalb von Gott ein Eigengewicht zudiktiert, das sie für Eckhart offensichtlich nicht hat. Das reine Nichts der Schöpfung ist daher nicht faßbar als ein eigenständiges Gegengewicht (oppositum) zu Gottes reinem Sein.213 Wenn es aber kein eigenständiges Sein – und d. h. für Eckhart: überhaupt kein Sein – außerhalb von Gott gibt, dann muß das Sein der Schöpfung offenbar als ein Insein in Gott gedacht werden.214 Allerdings hätte dies zur Konsequenz, daß die Gottleiden (wie Anm. 65), 177: »Aus Nichts geschaffen sind die Dinge als Nichts geschaffen.« Was das relationstheoretisch besagt, bleibt bei Haas allerdings völlig außer Betracht. 211 Prol gen. n. 20 (LW I 164,8). Siehe auch in Sap. n. 7 (LW II 328,8 f.); n. 122 (LW II 459,2−4); in Ioh. n. 215 (LW III 181,1−4); n. 614 (LW III 536,11 f.); Sermo VI/4 n. 72 (LW IV 70,2 f.); Sermo XXIII n. 220 (LW IV 206,7); n. 222 (LW IV 207,11); Sermo XXVIII/2 n. 288 (LW IV 258,12). 212 in Ex. n. 49 (LW II 52,15) n. 104 (LW II 105,10 f.); in Sap. n. 146 ( LW II 484,3); Proc. Col. II n. 107 (LW V 344,13 f.). 213 Dagegen geht Mojsisch davon aus, daß Eckhart »das Nichtsein allein [!] als Außerhalb-desSeins, als kontradiktorische[n] Gegensatz zum Sein, betrachtet« (Meister Eckhart [wie Anm. 3], 43). Mojsisch entfaltet »am Beispiel seiner [sc. Eckharts] Gedanken über das Nichts die unabweisbare Kohärenz einer geschlossenen Systematik« (ders., Nichts und Negation« [wie Anm. 6], 681), bei der eine Kaskade von Negationen die konstitutive Rolle spielt: (1) »Das Geschaffene als solches ist ein reines Nichts und insofern Gegensatz zum reinen Sein« (ebd.). (2) Da aber Gottes reines Sein und das reine Nichts der Schöpfung in einer symmetrischen Relation des Gegensatzes stehen, ist nun auch das reine Sein Gottes »nur es selbst, indem es sich von seinem Gegensatz unterscheidet« (ebd., 679). Das heißt für Mojsisch: Auch das reine Sein ist seinerseits ein Nichts, und zwar nichts von allem ist, was geschaffen ist: »Das reine Sein ist ein Nichts, insofern dem Geschaffenen, selbst sofern es als Geschaffenes ist, entgegen« (ebd., 681). (3) Aber auch im Sinne dieses ›Nichts von allem‹ ist das reine Sein keineswegs nichts in sich selbst. Denn die Instanz des Einen negiert seinerseits das reine Sein als das Nichts von allem und hebt es in sich auf: »Das Eine ist schließlich ein Nichts gegenüber dem reinen Sein, da im Einen das reine Sein das Eine selbst ist, das Eine als Grund oder Fundament des Seins von diesem Sein auch verschieden ist, wie auch das Sein als Sein vom Einen verschieden ist« (ebd.). Indem nach dieser Lesart das Eine den Gegensatz zwischen dem reinen Sein und dem Geschaffenen – und d. h. deren gegenseitige Negation – aufhebt, iteriert sich derselbe Gegensatz auf einer höheren Ebene: zwischen dem Einen und dem reinen Sein. Selbst noch das absolut Eine durchzieht dann ein immanentes Begründungsgefälle: »Eine Instanz überragt sogar das reine Sein: das Eine (einvaltic ein). Eckhart nennt dieses ein Nichts; gegenüber der Nichtheit des Seins ist das Eine ein Nichts dieses Seins, somit ein Nichts der Nichtheit – und dennoch ein Etwas« (ebd., 680 f.). Gerade für die letzte Wendung »und dennoch ein Etwas« nimmt Mojsisch einen bekannten Satz aus Pr. 72 in Anspruch: »Got ist ein nit, und got ist ein iht« (DW III 223,1 f.). Allerdings ist dieser Satz in textphilologischer Hinsicht alles andere als gesichert, da »iht« sich in den Hss. gar nicht findet, sondern nur im Basler Taulerdruck. Daß die Konjektur »iht« vor allem auch sachlich nicht gerechtfertigt ist, habe ich zu zeigen versucht in »Zwei Sprachen und das Eine Wort« (wie Anm. 109), 55 f. mit Anm. 30. 214 So Wackerzapp, Der Einfluß Meister Eckharts (wie Anm. 53), 65: »Worin aber liegt die Eckhart eigentümliche Charakterisierung des Nichts der Kreatur? […] Der entscheidende Gedanke ist, daß

3. Absolutes Sein und Relation

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Kategorie der Substanz bzw. der Seinsbegriff »göttliches und geschaffenes Sein indistinkt«215 umfaßt. Um Gottes Sein rein zu halten, bräuchte es dann eine weitere Instanz, die für eine reinliche Scheidung zwischen dem Sein Gottes und seiner Schöpfung sorgt: den Begriff des Einen (unum).216 Die Frage ist jedoch, ob mit diesem Interpretationsansatz das erreicht ist, was Eckhart nach seinen eigenen Worten erreichen will: dem Geschaffenen nicht das Sein zu nehmen oder sein Sein zu zerstören, sondern ihm allererst Halt ›in‹ Gott zu geben.217 Eckhart lehnt nämlich von vornherein die Vorstellung ab, daß für das Geschaffene eine seinsmäßige Inklusivität, also dessen »inesse« in Gott kennzeichnend ist. Denn dies würde bedeuten, daß das Sein des Geschaffenen in Gottes Substanz übergeht und damit von Gottes Sein indistinkt umfaßt wird. Tatsächlich jedoch schließt für Eckhart Gottes Sein die Schöpfung weder ein noch aus, da der nichtige Charakter der Schöpfung keine Hinzufügung zum absoluten Sein Gottes erbringt. In Anbetracht einer Inklusivität oder Exklusivität verhält sich Gottes Sein gleich-gültig − d. h. ununterschieden − gegenüber dem Nichts der Schöpfung.218 Eckhart die Abhängigkeit von Gott als Insein auffaßt.« − Ähnlich etwa auch Kopper, Die Metaphysik Meister Eckharts (wie Anm. 9), 61: »Die Seinsstruktur des Seienden kann nicht mehr an der Einheit des göttlichen Seins gemessen werden, sondern sie muß ganz in der Einheit des göttlichen Seins aufgehen.« 215 Goris, Einheit als Prinzip und Ziel (wie Anm. 9), 376. 216 Eine der Generalthesen von Goris’ Buch »Einheit als Prinzip und Ziel« lautet, daß bei Eckhart das Unum im Sinne der Negatio negationis als »Operator der Gottesattribution« fungiert und daß damit »das Eine in der exklusiven Gottesattribution dem Seienden eine gewisse Begründung entgegenbringt […]. Der Seinsbegriff umfaßt göttliches und geschaffenes Sein indistinkt. Eine Unterscheidung im Seinsbegriff wird erst durch den Begriff des Einen realisiert. […] Wie alle transcendentia drückt das Eine einen Seinsmodus aus, der vom Seienden noch nicht gesagt wird, und zwar den modus reiner Selbstidentität. Diese Seinsexplikation bezeichnet konkret eine Seinsrestriktion, nämlich die Einengung auf das göttliche Sein« (Einheit als Prinzip und Ziel, 376 f.). Vgl. etwa auch ders., »Ontologie oder Henologie? Zur Einheitsmetaphysik Meister Eckharts«, in: Miscellanea Mediaevalia 26 (1998), 694−703; hier 700: »Der Seinsbegriff bringt aus sich selbst den Unterschied [Gottes] zum Geschaffenen nicht zum Ausdruck, denn das Sein bezeichnet das Göttliche unter Einschluß des Geschaffenen, die Fülle des Seins. Der Einheitsbegriff aber bezeichnet das Göttliche unter Ausschluß des Geschaffenen.« − Bereits Mojsisch hatte wiederholt im »unum bei Eckhart« den »Grund des Seins« festzumachen versucht; vgl. etwa ders., Meister Eckhart (wie Anm. 3), 84 ff. oder neuerdings ders., »Perfectiones spirituales − Meister Eckharts Theorie der geistigen Vollkommenheiten. Mit possibilitätsphilosophischen Reflexionen«, in: Die Logik des Transzendentalen (FS J. A. Aertsen), hg. von M. Pickavé, Berlin/New York 2003, 511−524; hier 518 (mit Anm. 58). Eine kritische Replik auf Mojsischs Deutung bietet J. Aertsen, »Ontology and Henology in Medieval Philosophy (Thomas Aquinas, Master Eckhart and Berthold of Moosburg)«, in: On Proclus and his Influence in Medieval Philosophy (wie Anm. 199), 120−140; hier 139. 217 Prol. op. prop. n. 15 (LW I 176,6 f.): non tollimus rebus esse nec esse rerum destruimus, sed statuimus. So auch in Sap. n. 260 (LW II 591,12 f.): non destruimus esse rerum, sed constituimus. 218 Daß Gottes Sein ununterschieden (indistinctum) ist, meint also nicht eine inklusive Ununterscheidbarkeit oder Indifferenz von göttlichem und geschaffenem Sein, sondern daß Gottes Sein gegenüber der Frage nach seiner Inklusivität oder Exklusivität gleich-gültig ist: Ich sprach etwenne und ist ouch wâr: der alle die werlt næme mit gote, der enhæte niht mê, dan ob er got aleine hæte (Pr. 4;

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Und so verwahrt sich Eckhart in seiner prozessualen »Responsio« gegen ein Verständnis eines ihm zu Last gelegten Satzes, wonach Gott und das Geschaffene seinsmäßig ununterscheidbar in Gott zusammenfallen: Tricesimus articulus sic ait: »Vivere meum est esse dei, vel vita mea est essentia dei, quiditas dei quiditas mea.« [= Pr. 6 (DW I 106,1−3): Gotes wesen ist mîn leben. Ist mîn leben gotes wesen, sô muoz daz gotes sîn mîn sîn und gotes isticheit mîn isticheit.] Dicendum quod falsum est et error, sicut sonat. Verum quidem est, devotum et morale quod hominis iusti, inquantum iustus, totum esse est ab esse dei, analogice tamen. Constat enim quod nemo iustus est nisi a iustitita, sicut nec albus nisi ab albedine […].219 Anstatt also das Geschaffene so zu denken, daß es als Relatum auf irgendeine Weise in einer Relation zu Gottes Sein steht − ob nun von Gottes Sein umfangen oder ausgeschlossen −, faßt Eckhart das Geschaffene vielmehr als durch und durch relational: als ein »totum esse ab esse dei«. Mit diesem »totum esse ab esse dei« ist daher nicht bloß gemeint, daß das Geschaffene in seinem Bestand oder seinem Sein sich ganz dem Sein Gottes verdankt und daß es insofern − aufgrund dieser Abhängigkeit von Gott − stets in seinem Bestand gefährdet ist.220 Gemeint ist vielmehr, daß das Geschaffene ausschließlich als Relation bestimmbar ist: Relationalität ist das einzige Kriterium für das geschaffene Sein.221 DW I 70,3 f. = Proc. Col. II n. 107; LW V 344, 2−4). Daher deuten auch solche Wendungen wie »totus intra, totus foris« (in Gen. I n. 61; LW I 228,4; vgl. auch in Eccl. n. 54; LW II 282,13−283,4) bzw. Eckharts Rede von Gottes gleichzeitigem In- und Übersein (z. B. Pr. 9; DW I 143,1−4) nicht auf eine dialektische Unruhe Gottes hin, die zwischen ›Gott selbst‹ und einem ›Außerhalb von ihm‹ oszilliert und die für ein solches Oszillieren zumindest zwei Momente benötigt, sondern eher darauf, daß eine Relation ›in‹ Gott als irreduzibel gegenüber seiner Substanz zu denken ist. Von einem »intra« und »foris« kann nur gesprochen werden aufgrund einer Relation; unberührt davon bleibt Gott in seinem Sein ganz (totus), was er ist. 219 Proc. Col. II n. 91/92 (LW V 340,1−5). 220 So etwa M. P. Schirpenbach, Wirklichkeit als Beziehung. Das strukturontologische Schema der Termini generales im Opus Tripartitum Meister Eckharts, Münster 2004, 75: »Jede res creata hat für Eckhart eine gleichsam gefährdete, in Frage stehende Existenz, da ihr die uneingeschränkte Seinsaffirmation abgeht. […] Der Wirklichkeitsstatus der gesamten Welt ist − wenn man diese nicht auf Gott hin betrachtet − in sich ungefestigt und durchgängig von der Vernichtung − ganz im wörtlichen Sinne − bedroht.« 221 Das Verhältnis zwischen dem Geschaffenen und Gottes Sein kann also nicht als ein Verhältnis der Inhärenz gedacht werden, und insofern hat das Geschaffene auch nicht ein Sein mit Gott bzw. das Sein Gottes zu seiner Grundlage (subiectum). Schöpfung ist daher auch nicht als ein akzidentelles Verhältnis zu begreifen; das Fundierungsverhältnis ist ein anderes. Daher gilt vom Geschaffenen eben nicht wie von den Akzidentien: omne accidens subiecto et in subiecto habet unum esse cum subiecto et ipsum esse subiecti, etiam si mille essent accidentia. Ipsorum esse enim est inesse, subiceto scilicet. Et iterum ipsorum esse est in esse subiecto. Non enim habent aliud esse nisi in ipso esse subiecti sui (in Ex. n. 65; LW II 69,9−13). Sein hat das Geschaffene nicht in Gott, sondern ausschließlich als rela-

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Diese ausschließliche Relationalität des geschaffenen Seins sieht Eckhart nun auch in einem biblischen Wort angesprochen, insofern dieses davon spricht, daß das Geschaffene von Gott zehrt und sich ständig nach ihm verzehrt: ›Wer von mir zehrt, verzehrt sich weiter‹ (Eccl. 24,29: »Qui edunt me, adhuc esuirunt«). − Zunächst jedoch scheint Eckhart dieses biblische Wort in Anspruch zu nehmen, um gerade das Sein des Geschaffenen in seiner Abhängigkeit von Gott zu kennzeichnen: Et sic semper edit [sc. omne ens creatum], ut productum est et creatum, semper tamen esurit, quia semper ex se non est, sed ab alio [sc. a deo].222 Anhand des im biblischen Vers genannten »Zehrens« (edere) und »Hungerns« (esurire) macht Eckhart hier offenbar zwei Aspekte namhaft, die sich am Seinscharakter des Geschaffenen unterscheiden lassen: Demnach läßt sich immerhin von einem Sein der geschaffenen Dinge reden, insofern dieses ihr Sein sich Gott verdankt und von Gott zehrt: »edunt, quia sunt«.223 Zugleich aber ist eben dieser Umstand, daß das geschaffene Sein unablässig von Gott zehrt, dafür verantwortlich, daß dieses geschaffene Sein nicht unabhängig von Gott gedacht werden kann und daher genausogut auch als Hunger oder als ein Sich-Verzehren nach dem göttlichen Sein (esurire) bestimmbar ist: »esuriunt, quia ab alio sunt«.224 Geschaffenes Sein hat demnach keinen Bestand in sich selbst und ist insofern vom Nichts durchwirkt, als es keinen Halt in und an sich selbst hat. Diese intrinsische Nichtigkeit des Geschaffenen wird, so scheint es, von seinem unablässigen Bezug auf Gottes Sein zurückgedrängt oder überlagert.225 Allerdings bleibt Eckhart nicht dabei stehen, daß am Nichts, welches das Geschaffene in sich selbst ist, immer auch noch dessen Sein im Sinne seiner Beziehung auf Gottes Sein zu berücksichtigen ist: Ex praemissis patet quod qui edunt deum, adhuc esuriunt. Patet etiam quod non propter hoc esuriunt, quia non fastidiunt, ut communiter exponitur, sed e converso ideo non fastidiunt, quia esuriunt et quia esurire est ipsum edere. Qui ergo edit, edendo esurit, quia esuriem edit, et quantum edit, tantum esurit. Nihil in his tionales auf Gott hin, da die Relation keinen Unterschied in Gottes Sein hineinträgt: ratio relationis, quae est genus, cum non sit esse, quia nec inesse […], non distinguit esse et essentiam (in Ex. n. 71; LW II 73,15−17). 222 in Eccl. n. 53 (LW II 282,5 f.). 223 in Eccl. n. 53 (LW II 282,11 f.). 224 in Eccl. n. 53 (LW II 282,12). 225 Nach dieser Lesart liegt der »Kerngedanke« darin, »dass einerseits kein Geschaffenes Sein in sich hat und somit zwischen dem Sein in Gott und dem Nichts in dem Geschaffenen kein gemeinsames Maß bestehen kann, dass andererseits dem Geschaffenen dennoch durch dessen Beziehung zum Sein in Gott gewissermaßen Sein zukommt« (Schirpenbach, Wirklichkeit als Beziehung [wie Anm. 220], 214). Siehe z. B. auch Haas, Meister Eckhart als normative Gestalt (wie Anm. 107), 46: »Das Geschöpf ist in seinen [sc. Eckharts] Augen nur, insofern es von Gott Sein erhält.«

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maius et minus, prius aut posterius. Et hoc est quod hic dicitur: qui edunt me, adhuc esuriunt. Edendo enim esurit et esuriendo edit et esurire sive esuriem esurit.226 Skeptisch zeigt sich Eckhart hier gegenüber einer gängigen Auslegung von »Qui edunt me, adhuc esuriunt«, welche das andauernde Sich-Verzehren des Geschaffenen nach Gott hauptsächlich mit dem Ausbleiben eines Überdrusses begründet: ›Wer von Gott zehrt, tut dies, ohne daß er davon genug bekommt‹.227 Was Eckhart an dieser Deutung stört, ist offensichtlich der negative Charakter, der dann mit einem solchen Streben verbunden ist. Die Unablässigkeit des geschöpflichen Strebens nach Gott wäre nämlich gekennzeichnet durch das stetige Ausbleiben seiner Erfüllung, der Bezug der Schöpfung auf Gott begründet in ihrem Seinsmangel. Dem ständigen Seinsmangel, welcher die Strebensbewegung des Geschaffenen in Gang hält, korrespondierte eine andauernde Bedrohung des geschaffenen Seins, da dieses in einem Bezug vollständiger Abhängigkeit steht. Vor allem aber läßt sich nach Eckhart das, was dieses geschöpfliche Streben als solches kennzeichnet, nicht darnach bestimmen, was es nicht erreicht. Gott wäre dann angesichts dieses Strebens gleichsam eine in unendliche Ferne gerückte Leerstelle − »dasjenige, was man nicht erlangt« (id quod non est habitum).228 Das Streben nach Gott wäre daher nicht bloß eine unveräußerliche Eigenschaft am Geschaffenen selbst. Dessen Relation auf Gott wurzelte sogar in der Seinsstruktur − dem Seinsmangel − des Geschaffenen selbst. Die Relation des Geschaffenen auf Gott erhielte somit ein Fundament im Geschaffenen selbst, insofern von ihm diese Strebensbewegung auf Gott hin ihren Ausgang nähme.229 in Eccl. n. 58 (LW II 286,3−287,4). Im weiteren Verlauf macht Eckhart dann diese »übliche Auslegung« mit einem Thomas-Zitat namhaft: sitis, esuries vel desiderium sive appetitus dupliciter accipiuntur: »uno modo secundum quod important appetitum rei non habitae; alio modo secundum quod important exclusionem fastidii« [= Thomas von Aquin, STh I-II q. 33 a. 2]. Cavendum est ergo, ne putetur hoc ultimum, scilicet exclusio fastidii, esse principale et per prius. Sic enim multi accipiunt et secundum hoc grosse exponunt quod hic dicitur: qui edunt me, adhuc esuirunt, quasi sine fastidio edant (in Eccl. n. 60; LW II 288,7−289,1). − Eckhart opponiert also zunächst dagegen, daß nach jener Deutung »Durst«, »Hunger« − oder allgemeiner: ein »Verlangen« oder »Streben« − hier eine Bezugsform meinen, die sich nach ihrer Nicht-Erfüllung bemißt. 228 Und so sieht Eckhart das Wesen jenes »Hungers« auch nicht mit der ersten Thomasischen Bedeutungsvalenz als »Verlangen nach einer Sache, die man noch nicht erlangt hat« (appetitus rei non habitae) hinreichend bestimmt: cum esuries est et dicitur »appetitus rei non habitae«, id quod est appetitus sive esuries non est, videlicet formaliter, id quod est ex eo quod non est habitum: hoc einm sola negatio est sive privatio et est materiale (in Eccl. n. 61 ; LW II 289,8−10). 229 Im Johannes-Kommentar konfrontiert Eckhart zwei biblische Stellen miteinander, die auf den ersten Blick geradezu Widersprüchliches über eine Erfüllung des kreatürlichen Strebens nach Gott behaupten: einerseits Joh. 4,13, wo Christus die Erfüllung des geschöpflichen Strebens verheißt: »qui autem biberit ex aqua quam ego dabo ei, non sitiet in aeternum«; und andererseits eben Eccl. 24,29, wo die göttliche Weisheit (als Sprecherin dieses Satzes) anscheinend die Nicht-Erfüllung des geschöpfli226 227

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Für Eckhart ist daher dieses Streben, d. h. der Bezug des Geschaffenen auf Gott, so zu fassen, daß dieses Streben bzw. dieser Bezug selbst die Form der Erfüllung für das Geschaffene ist: »esurire est ipsum edere«. Und eben weil dieses Streben selbst immer schon ein erfülltes, da ein von Gott bejahtes Streben ist (appetitus affirmatus) − sich also keinem Seinsmangel, sondern Gott verdankt −, stellt sich in Folge davon auch kein Überdruß ein: »ideo non fastidiunt, quia esuriunt et quia esurire est ipsum edere«.230 Dieses Streben des Geschaffenen auf Gott hin ist also seine Erfüllung. Geschaffensein ist nicht mehr, aber auch nicht weniger als dieses Streben auf Gott hin: »quantum edit, tantum esurit. Nihil in his maius et minus, prius aut posterius.«231 Wenn nun Eckhart das Geschaffene als durch und durch relational faßt und dabei diese Relation als von Gott stets schon bejahte und als erfüllte − als appetitus affirmatus − denkt, dann weist dies darauf hin, daß Eckhart die Relation, die den Seinsmodus des Geschaffenen darstellt, in einem mehrfachen Sinn als irreduzibel denkt: Die extratrinitarische Relation kann nicht zurückgeführt werden auf ein substantielles Sein des Erschaffenen, an dem diese Relation in Form eines Seinsmangels auftritt, welcher nie behoben wird und daher das Streben des Geschaffenen nach dem Sein aufrecht erhält. Insofern ist diese Relation unabhängig von der Existenz oder NichtExistenz, d. h. von einem kontingenten Sein des Geschaffenen als ihrem Träger. Gälte diese Unabhängigkeit nicht, dann wäre die Seinsdefizienz oder Fragilität des Gechen Strebens behauptet: »Qui edunt me, adhuc esuriunt et qui bibunt me, adhuc sitiunt«. Diesen Widerspruch löst Eckhart nun dadurch, daß für ihn die beiden biblischen Worte eine je andere Form der Strebensbewegung zum Ausdruck bringen, die jedoch der Sache nach identisch sind: Einerseits ist dies eine Strebensbewegung, die vom Strebenden ausgeht und zum erstrebten Gegenstand hinführt und die nach Joh. 4,13 in Ewigkeit − also immer schon, zeitenthoben und nicht irgendwann einmal − erfüllt ist: sciendum igitur quod appetitus habet motum quendam ad appetibile obiectum suum, qui est desiderium proprie nondum adepti, et quantum ad hoc dicitur hic [Ioh. 4,13] quod bibens non sitiet in aeternum (in Ioh. n. 375; LW III 319,6−9). Andererseits aber handelt es sich nach Eckhart bei Eccl. 24,29 um eine Strebensbewegung, die nicht vom Strebenden selbst ausgeht, sondern von erstrebten Gegenstand ausgeht und erhalten wird, und die allein schon in der ›Tatsache‹, daß es sie ›überhaupt gibt‹, ihre volle Erfüllung (plena satietas) findet: Est autem et motus quidam appetitus non iam ad appetibile, sed ab ipso, in quo constitit beatitudo et plena satietas, quo sine intermissione obiectum movet appetitum gignens se ipsum et infundens se illi semper gignens, semper genitum […]. Et de hoc dicitur Eccl. 24: ›qui bibunt me, adhuc sitiunt‹ (in Ioh. n. 375; LW III 319,9−13). Nach Eckharts Deutung verbindet also beide biblische Stellen nicht die Frage, ob das geschöpfliche Streben nach Gottes Sein überhaupt sein Ziel jemals erreicht. Entscheidend ist für Eckhart hier vielmehr die ›Tatsache‹ dieses Strebens selbst, welches insofern schon erfüllt ist, als diese Relation auf Gott allein von Gott herrührt. 230 in Eccl. n. 58 (LW II 286,15). − Siehe auch ebd. n. 61 (LW II 289,10−290,1): Sed id quod est esuries formaliter est appetitus affirmatus, radix et causa quam consequitur exclusio fastidii […]. Der formale Wesensgehalt des geschöpflichen Strebens (esuries) nach Gott meint daher nicht bloß ein im Geschaffenen verankertes »positives Verlangen« (so die deutsche Wiedergabe von »appetitus affirmatus« in der Kohlhammer-Ausgabe), sondern ein bejahtes, erfülltes Streben im doppelten Sinne: Erfüllt ist dieses Streben allein dadurch, daß es selbst von Gott bejaht ist. 231 in Ex. n. 58 (LW II 287,1 f.).

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schaffenen ein konstitutives Moment an dieser extratinitarischen Relation. Anders gesagt: Schöpfung als die Relation Gottes auf die Welt wäre dann meßbar und bestimmbar anhand der ontologischen Verfaßtheit − der Nichtigkeit − der Welt.232 Dieser irreduzible Charakter der Relation gegenüber dem Sein ihres Trägers dürfte nun auch der sachliche Grund dafür sein, daß Eckhart »eine Unterscheidung von zwei Momenten im Relationsbegriff«233 trifft: Sciendum igitur quod »in relatione sunt duo: respectus scilicet relationis quo refertur ad alterum, et in hoc constitit praedicamentalis ratio ipsius relationis«. Est etiam in relatione considerare »ipsum esse relationis« […].234 Diese Unterscheidung trifft Eckhart jedoch nicht neutral gegenüber den hierbei unterschiedenen Momenten. Er löst vielmehr den kategorialen Gehalt, also das, was die Relation wesentlich kennzeichnet, von der Frage nach ihrem Sein in einem Träger und läßt dabei diese Frage in den Hintergrund treten. Für die Bestimmung des Wesensgehaltes der Relation wird damit die Frage nach ihrer seinsmäßigen Verankerung in einem Träger (subiectum) buchstäblich gegenstandslos: »[relatio] ut sic nihil positive est in subiecto«.235 Zwar ist die Fundierung der Relation in einem Träger nicht in dem Sinne kontingent, daß die Relation für ihren Träger äußerlich oder unwesentlich wäre. Doch aber bleibt für »die Bezüglichkeit an sich selbst als dem Wesensgehalt der Relation«236 das Sein oder Nicht-Sein ihres Trägers gleich-gültig: Relatio igitur secundum genus suum et secundum id, quod est relatio, non ponit aliquid prorsus in subiecto nec dicit aliquod esse nec inesse, sed id quod est ex altero et ad alterum est, ibi oritur, ibi moritur […]. 237 Wenn nun Eckhart das Geschaffene als ein Bezogensein (respectus) auf Gott bestimmt, wenn er aber zugleich diese Bezüglichkeit an sich selbst, also den Wesensgehalt dieser Relation, unter das Vorzeichen des Seins stellt − denn Gott als das Sein ist der terminus, von woher und wonach sich diese Relation des Geschaffenen bestimmt −, dann erübrigt es sich umso mehr, diese Relation und ihr Sein im Geschaffenen zu fundieren, das als Träger dieses Bezuges in Frage kommen könnte. Sein, verstanden als das dieser Relation eigene Sein, ist daher unabhängig vom Geschaffenen als einem Träger dieser Relation; dieses relationale Sein kann nicht reduziert werden auf ein substantielles Sein des Geschaffenen. Für Eckhart gilt vielmehr umgekehrt: prima radix bonitatis est in relatione et ordine in deum (in Ioh. n. 647; LW III 562,11 f.) − wobei diese relatio Gott selbst ist. 233 Schönberger, Relation als Vergleich (wie. Anm. 52), 119 f. 234 in Ex. n. 65 (LW II 68,4−6). 235 in Ex. n. 64 (LW II 68,11 f.). 236 Schönberger, Relation als Vergleich (wie Anm. 52), 120. 237 in Ex. n. 64 (LW II 68,8−10). Ähnlich etwa auch in Ioh. n. 452 (LW III 361,4 f.). 232

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Dies wiederum meint aber nicht, daß das Geschaffene kein substantielles Sein kennt und daher Nichts in sich selbst ist, sobald man es nur einmal für sich gesondert, also jenseits dieser seiner Relationalität, betrachtet. Für eine solche Perspektive, die die Relationalität vom Geschaffenen selbst trennt, erhielte die Nichtigkeit des Geschaffenen eine konstitutive Rolle für die Bestimmung des Relationscharakters des Geschaffenen: Die Relation auf Gott wäre nichts am Geschaffenen, weil das Geschaffene an sich selbst nichts ist. Geschaffensein oder Kreatürlichkeit gründete dann in der Nichtigkeit des Geschaffenen als dem unterscheidenden Merkmal.238 Zudem wäre das Nichts der Bestimmungsgrund selbst noch für Gottes Sein, insofern Gottes Relation auf seine Schöpfung in diesem Nichts terminieren würde: »quod [deus omnibus] daret et influeret, esset nihil«.239 Als dieses Nichts wäre die Schöpfung dem Machtbereich Gottes entzogen, insofern Gott keine Macht über das Nichts hat: »[deus] non potest nihil«.240 Wenn also Eckhart von einem kontradiktorischen Gegensatz zwischen dem Sein und dem Nichts spricht,241 dann folgt aus dieser Korrelation keine inhaltliche oder formale Bestimmung für das göttliche Sein. Der Terminus des »Nichts« hat keine − auch keine negative − Begründungsfunktion für das göttliche Sein und stellt daher auch kein »negatives Kriterium für den absoluten Gültigkeitsanspruch des Seins«242 dar. Das Nichts kann also nicht als ein Moment am Geschaffenen isoliert werden, denn für diese Erkenntnis des Nichts gilt: »Cognoscere autem nihil est nihil cognoscere et non cognoscere.«243 Ein Satz wie »praeter esse et sine esse omnia sunt nihil, etiam facta«244 meint daher nicht, daß die Dinge über ihr Geschaffensein, über diese Relationalität hinaus, weiter charakterisiert und erkannt werden können − eben als das Nichts, »so daß das Geschaffene als Geschaffenes von der Beziehung nicht einmal tangiert wird, da es aufgrund äußerster Distanz zum Absoluten Nichtigkeit ist«.245 Im Gegenteil: Eben als Geschaffenes wird das Geschaffene aus dieser Relationalität

Vgl. Wackerzapp, Der Einfluß Meister Eckharts (wie Anm. 53), 64: »Sieht man, um diese [sc. die Kreatürlichkeit] in den Griff zu bekommen, von Gott ab, so bleibt nichts übrig. Das Nichts erscheint also als das unterscheidende Merkmal des Kreatürlichen.« 239 prol. op. prop. n. 22 (LW I 179,1 f.). 240 in Ex. n. 30 (LW II 36,16). 241 Vgl. etwa in Sap. n. 255 (LW II 587,6): Nihil enim tam adversum, nihil tam contradictorium, quam ens et non ens, esse et nihil. Siehe auch ebd. n. 221 (LW II 557,7 f.): Hoc enim, puta nihil, oppositum est directe contradictorie ipsi esse. 242 Mojsisch, Meister Eckhart (wie Anm. 3), 43 f. Mojsisch zitiert hier zustimmend H. Ebeling, Meister Eckharts Mystik. Studien zu den Geisteskämpfen um die Wende des 13. Jahrhunderts, Stuttgart 1941, 72: »Aber das Nichts ist weder Privation noch Negation des göttlichen Seins, sondern rein konstitutiver, konstruktiver, peripherischer Gegensatz mit der Absicht, die totale Einheit und Universalität des göttlichen Seins negativ zu begründen und zu bejahen.« 243 in Sap. n. 221 (LW II 557,5 f.). 244 prol. op. prop. n. 22 (LW I 178,16). 245 Mojsisch, Meister Eckhart (wie Anm. 3), 56. 238

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nicht entlassen, da es nichts weiter als eben diese Relationalität ist. Eckharts Erkenntnisziel bei der kontradiktorischen Gegenüberstellung von Gottes Sein und dem Nichts des Geschaffenen liegt daher nicht in dem Hinweis auf die Nichtigkeit des Geschaffenen, das ohne Gott Nichts ist und mithin alles Gott verdankt, sondern darin, wie dieses Nichts zu denken ist: Das Kriterium für die Nichtigkeit des Geschaffenen liegt in seiner ausschließlichen, irreduziblen Relationalität. Geschaffenheit, verstanden als diese irreduzible Relationalität, kann nicht auf ein Nichts, das das Geschaffene an sich selbst wäre, zurückgeführt werden. Insofern ist das Nichts des Geschaffenen auch kein unveräußerliches Moment an der und damit kein Kriterium für die Beziehung ›zwischen‹ Gott und seiner Schöpfung. Bezeichnend in diesem Zusammenhang ist nun, daß Eckhart den Bestimmungsgrund (ratio) dafür, was ›erschaffbar‹ bzw. ›Erschaffbarkeit‹ ist oder meint, im Sein sieht: Ratio creabilitatis est esse, secundum illud: ›Prima rerum creatarum est esse‹. Unde res producta a deo, quamvis sit ens, vivens et intelligens, ratione tamen solius esse est creabilis.246 Unde dicit auctor De causis: »prima rerum creatarum est esse«. Unde statim cum venimus ad esse, venimus ad creaturam. Esse ergo habet primo rationem creabilis.247 Eckharts Einlassungen dieser Art wurden bereits des öfteren so verstanden, daß Eckhart − zumal im Verein mit seiner scheinbar vereinseitigenden Lesart der prop. IV des »Liber de Causis«, die das Sein zum ersten Produkt der Schöpfung erkläre − das Sein »restriktiv als dem Geschöpf eigentümlich«248 auffaßt. Im Gegenzug könne Eckhart dann Gott ganz auf eine »seinslose Intellektualität« zuschneiden, die »ihren Halt nicht in einem ihr zugrundeliegenden oder mit ihr identischen Sein besitzt, sondern in sich selbst«.249 in Sap. n. 24 (LW II 344,5−7). Qu. Par. I n. 4 (LW V 41,4−7). 248 Mojsisch, Meister Eckhart (wie Anm. 3), 32. 249 Ebd. 40. – Diesem von Martin Grabmann inaugurierten Interpretationsschema (Neuaufgefundene Pariser Quaestionen Meister Eckharts und ihre Stellung in seinem geistigen Entwicklungsgange, München 1927, 48 ff.) sind zahlreiche Interpreten gefolgt, so etwa B. Peters, Der Gottesbegriff Meister Eckharts. Ein Beitrag zur Bestimmung der Methode der Eckhartinterpretation, Hamburg 1936, 19: »Eckhart trennt mit allem Nachdruck und mit aller Schärfe die Begriffe Gott und Kreatur, Erkennen und Sein voneinander.« Erinnert sei hier auch an R. Imbach, Deus est intelligere. Das Verhältnis von Sein und Denken in seiner Bedeutung für das Gottesverständnis bei Thomas von Aquin und in den Pariser Quaestionen Meister Eckharts, Freiburg/CH 1976, bes. 150 ff. Imbach kommt zu dem Schluß, daß Eckhart in der 1. Pariser Quästio, »esse und ens allein als Bezeichnung des Verursachten verwendet« (ebd. 169). Auch nach K. Albert beschränkt Eckhart in seinen Pariser Quästionen den Seinsbegriff »in auffälliger Weise auf das Sein der Geschöpfe« (K. Albert, Meister Eckharts These vom Sein. Untersuchungen zur Metaphysik des Opus tripartitum, Kastellaun 1976, 76). Siehe etwa auch 246 247

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Was aber Eckhart in den oben angeführten Sätzen augenscheinlich behauptet, ist zunächst nur dies: Die Erschaffbarkeit des Erschaffenen, also das, was das Geschaffene in seinem grundsätzlichen Wesenzug als Geschaffenes auszeichnet − nämlich die Tatsache, daß es überhaupt erschaffen und erschaffbar ist −, hat grundlegend mit dem Sein zu tun: »res producta a deo ratione solius esse est creabilis«. Damit ist jedoch nicht schon behauptet, daß dem Geschaffenen auch das Sein eigentümlich ist, daß also das Sein als das proprium des Geschaffenen gelten kann bzw. das Sein als der grundlegende Wesenzug dem Geschaffenen vorbehalten ist. Eckhart sagt vielmehr: »Unde statim cum venimus ad esse, venimus ad creaturam. Esse ergo habet primo rationem creabilis.« Der Sinn dieses Satzes lautet also nicht: ›Sobald wir beim Geschaffenen sind, sind wir auch schon beim Sein (und nicht mehr bei einem seinsfreien göttlichen Intellekt). Denn das Sein hat vor allem den Wesenszug an sich, daß es geschaffen ist (ratio creati).‹ Der Satz meint vielmehr: ›Sobald wir das Sein in Betracht ziehen, ist stets auch schon das Geschaffene in Betracht gezogen. Denn dem Sein eignet zunächst und zuvor der Grund für das Erschaffbare, für die Erschaffbarkeit der Dinge (ratio creabilis bzw. creabilitaitis).‹ Eckharts Formulierung würde sonst wohl lauten: »statim cum venimus ad creaturam, venimus ad esse. Creatura enim habet primo rationem essendi.« Es wäre dann zunächst und zuvor das Geschaffene, das den Wesenszug des Seins an sich hätte. Eckhart behauptet aber gerade das Gegenteil: Das, was das Geschaffene als solches, in seiner grundsätzlichen Erschaffbarkeit, auszeichnet, hat zunächst und zuvor mit dem Sein zu tun. Es ist das Sein, das allererst den Grund dafür in sich trägt, daß das Erschaffene auch erschaffen werden kann: »Esse ergo habet primo rationem creabilis.« Der Grund für die Erschaffbarkeit des Erschaffenen liegt also im Sein, und in ihm liegt auch der Grund dafür, daß dem Geschaffenen das Sein nicht eigentüm-

W. Schüßler, »Gott − Sein oder Denken? Zur Problematik der Bestimmung göttlicher Wirklichkeit in den Quaestiones parisienses Meister Eckharts von 1302/03«, in: Transzendenz (FS K. Kremer), hg. von L. Honnefelder und W. Schüßler, Paderborn (u. a.) 1992, 163−181; hier 167 f.: »Das Sein wird so ganz mit dem Geschöpflichen gleichgesetzt, woraus für Eckhart folgt, daß Gott intellectus und intelligere ist«; sowie Goris, »Dietrich von Freiberg und Meister Eckhart über das Gute«, in: Dietrich von Freiberg. Neue Perspektiven seiner Philosophie, Theologie und Naturwissenschaft, hg. von K.-H. Kandler u. a., Amsterdam/Philadelphia 1999,169−188; hier 187. Neuerdings auch Schirpenbach, Wirklichkeit als Beziehung (wie Anm. 220), 203: »In diesen Abhandlungen [sc. den Pariser Quästionen] versteht Eckhart das Sein als das konkrete Sein der Dinge, wie es ihren Formen inhärent ist. Von der Radikalitiät seines Denkens der Transzendenz Gottes her kann er einen solchen Seinsbegriff auf Gott nicht anwenden.« − Eckharts anderslautende Einlassungen zur prop. IV des »Liber de Causis« − etwa in Gen. I n. 141 (LW I 295,1): in De Causis dicitur quod »prima rerum creatarum est esse«, id est secundum unum intellectum quod esse est prima causa rerum creatarum et creationis − gelten einer solchen Lesart dann bloß noch als ein argumentum e contrario dafür, daß Eckhart sich seiner »selektiven Interpretationstechnik« sehr wohl bewußt sei, die den Seinsbegriff dem Geschaffenen vorbehält und aus Gottes reiner Intellektualität ausschließt. Vgl. etwa Mojsisch, Meister Eckhart (wie Anm. 3), 32; sowie im Anschluß daran Schüßler, op. cit., 168.

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lich ist. Daher ist das, was das Geschaffene grundlegend und in erster Linie auszeichnet, nicht sein Sein. Das Sein selbst (ipsum esse) kommt dem Geschaffenen als Geschaffenem (ipsa facta) nicht von Haus aus zu. Allenfalls nachträglich kann das Sein des Geschaffenen als ›sein‹ Sein bezeichnet werden: »ipsis factis ipsum esse post conveniat«.250 Diese Folgerung, daß das Sein selbst dem Geschaffenen nachträglich zukommt, zieht Eckhart bekanntlich aus seinem Verständnis von Joh. 1, 3 »omnia per ipsum facta sunt«.251 Bereits des öfteren hervorgehoben wurde dabei die Eigenwilligkeit oder gar die konstruierte Gesuchtheit von Eckharts Lesart, die den kopulativen Gebrauch von Sein in »omnia per ipsum facta sunt« in einen absoluten Gebrauch überführt: »omnia per ipsum facta sunt«.252 Will Eckhart aber damit sagen: »Alles, was durch Gott geschaffen wird, ist dann in der Folge auch, so daß dem Geschaffenen seinerseits dann auch Sein zukommt (ut ipsis factis ipsum esse post conveniat)«? So verstanden, unterscheidet sich dieser angeblich radikal innovative Sinn, den Eckharts Lesart Joh. 1, 3 verleiht, dann nicht mehr allzu sehr von der üblichen Lesart »Alles ist durch ihn geworden«: Alles ist durch Gott hervorgebracht (›omnia per ipsum facta sunt‹) und tritt infolge dieser Hervorbringung durch Gott auch ins Sein (›omnia per ipsum facta sunt ‹) − wie bei jeder anderen Hervorbringung eben auch. Das Sein des Hervorgebrachten oder Verursachten wird somit zum ersten Resultat seiner Hervorbringung durch Gott (so, als ob Eckhart sagen würde: »ergo creatura habet primo rationem essendi«). Dies könnte Eckhart dann unschwer der von ihm zurechtgestutzten prop. IV des »Liber de Causis« entnehmen: ›Das Erste, was mit den Dingen hervorgebracht wird ist, ist ihr Sein‹ (Prima rerum creatarum est esse). Eckhart geht es aber nicht um die Zuordnung des Seinsbegriffes zu dem im Schöpfungsakt Hervorgebrachten und folglich auch nicht um einen Seinsbegriff, der auf das Geschaffene restringiert ist. Vielmehr geht es ihm um die Kennzeichnung des einzigartigen Charakters, den eine Hervorbringung im Schöpfungsakt hat: Das, was Schöpfung und Erschaffbarkeit − und nicht etwa das Geschaffene selbst − kennzeichnet (ratio creabilitatis), ist das Sein selbst. Die Nachträglichkeit des Seins für das

250 Qu. Par. I n. 4 (LW V 41,5 f.). Gerade die von Eckhart hier betonte Nachträglichkeit (post convenire) des Seins selbst für das Geschaffene − die Nachträglichkeit seines Seins − scheint mir in denjenigen Deutungsansätzen völlig marginalisiert, für die Eckhart ausschließlich dem Geschaffenen das Sein als eigentümlich zuspricht. Es ist daher auch diese Nachträglichkeit, d. h. ein »post convenire« des Seins selbst, nicht aber das Sein selbst, das Eckhart von Gott ausschließt; indem vielmehr Gott sein Sein ist, ist er auch etwas Höheres als das kreatürlich Seiende (altius ente), nicht aber etwas Höheres als das Sein (altius esse): Sic etiam dico quod deus non convenit esse nec est ens, sed aliquid altius ente (Qu. Par. I n. 12; LW V 47,14 f.). 251 Qu. Par. I n. 4 (LW V 41,4−6): ›omnia per ipsum facta sunt‹, ut sic legatur: ›omina per ipsum facta sunt‹, ut ipsis factis ipsum esse post conveniat. 252 So erscheint etwa Schüßler (»Gott − Sein oder Denken?« [wie Anm. 249], 167) Eckharts Verständnis von Joh. 1,4 »nun doch als zu konstruiert«.

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Geschaffene selbst schließt dagegen dessen eigenes − sein − Sein geradezu aus: Das Sein ist kein proprium des Geschaffenen. Die Bestimmung dessen, was ›erschaffbar‹ ist und meint, erfolgt für Eckhart ausschließlich nach der Maßgabe des Seins selbst als dem Grund für die Erschaffbarkeit der Dinge. Der erste Bestimmungsgrund (ratio) für die geschaffenen Dinge, d. h. für ihre Erschaffbarkeit − und nicht für ihre übliche Hervorgebrachtheit −, ist daher das Sein: »Ratio creabilitatis est esse, secundum illud: ›prima [ratio] rerum creatarum est esse‹.«253 Folglich hat auch das Sein den Bestimmungsgrund für die Erschaffbarkeit der Dinge (ratio creabilis) an sich, den Bestimmungsgrund dafür also, daß nur im Hinblick auf das Sein etwas als geschaffen und nicht bloß als hervorgebracht gelten kann: »Esse ergo habet primo rationem creabilis.« Jede anderweitige, übliche Hervorbringung setzt daher an dem dabei Hervorgebrachten schon diesen Grund seiner Erschaffbarkeit − das Sein selbst − voraus: licet a causis aliis secundis res aliae producantur sive fiant, omnia tamen et singula, sive a natura sive ab arte producta, immediate ab ipso deo solo habent esse sive quod sunt, ut sit ordo talis litterae: omnia facta per ipsum sunt. Unde sequitur: sine ipso factum est nihil, id est omne factum a quocumque sine ipso est nihil.254 Durch Gott − das Sein selbst − ›sind‹ die Dinge nicht nur in irgendeinem nachträglichen, abgeleiteten oder abgeschwächten Sinn. Die Dinge sind vielmehr nur als geschaffene. »Alles, was auf natürlichem oder künstlichem Wege hervorgebracht wird, ist nur durch Gott«; oder: »Alles ist − als durch ihn geschaffen« (omnia facta per ipsum sunt). Sein und Geschaffen-Sein − und d. h. ein ausschließlich relationales Sein − sind im kreatürlichen Bereich identisch: »est de ratione entis quod sit causatum«.255 Ohne Berücksichtigung dieses kreatürlichen, relationalen Charakters der Dinge ist alles, was auf anderweitige Weise hervorgebracht wird, nichts: »omne factum a quocumque sine ipso est nihil«. Auch in diesem Sinne ist die Relation des Geschaffenen auf Gott hin, der kreatürliche Charakter der Dinge, irreduzibel gegenüber allen anderen Arten seiner Hervorbringung.256 Das Sein selbst als der Grund für die Geschaffenheit der Dinge tritt daher nicht nachträglich an den Dingen auf, sondern ist »früher als alles in den Dingen« (prius omnibus in rebus). Die Nachträglichkeit des Seins für das Geschaffene selbst (ipsa facta), der vollständige Mangel an eigenem Sein oder die Nichtigkeit der Geschöpfe, in Sap. n. 24 (LW II 344,5 f.). in Ioh. n. 53 (LW III 44,9−13). 255 Qu. Par. I n. 10 (LW V 46,4 f.). 256 Siehe dazu auch Sermo IV/1 n. 27 (LW IV 27,6 f.): ›omnia‹, etiam facta per artem, ›per ipsum sunt et sine ipso‹, non in ipso ›factum est nihil‹. In Gott gründet daher alles Verursachen und jede Hervorbringung: in deitate […] nec causa nec efficiens est, sed ratio causandi et efficiendi, secundum illud Eph. 3: ›ex quo omnis paternitas in caelo et in terra‹ (Sermo XXV n. 252; LW IV 231,6−8). 253 254

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ist die Kehrseite davon, daß der Grund für ihre Erschaffbarkeit − das Sein selbst − im Geschaffenen früher ist als alles andere: Non enim ipsum esse et quae cum ipso convertibiliter idem sunt, superveniunt rebus tamquam posteriora, sed sunt priora omnibus in rebus. Ipsum enim esse non accipit quod sit in aliquo nec ab aliquo nec per aliquid, nec advenit nec supervenit alicui, sed praevenit et prius est omnium.257 Eckhart identifiziert also das Sein mit dem Schöpfungsbegriff, d. h. mit dem Grund für die grundsätzliche Erschaffbarkeit des Erschaffenen (ratio creabilis), nicht aber das Geschaffene mit dem Sein als dem proprium des Geschaffenen (ratio creati). Zwar ist es unbestreitbar, daß Eckhart bereits in der 1. Pariser Quästio »Sein und Geschaffen-Sein identifiziert«.258 Allerdings ist tut er dies nicht zu dem Zweck, um nun das Geschaffene selbst mit dem Sein selbst zu identifizieren, sondern um den Grund seiner Erschaffbarkeit mit dem Sein selbst zu identifizieren. Nicht das Geschaffene als solches, sondern seine Erschaffbarkeit fällt unter den Seinsbegriff.259 Eben dies kommt auch in Eckharts Äußerungen über das Sein der Relation zum Ausdruck: Das Sein der Relation − und d. h. hier: das Sein der Kreatur − ist nicht ihr Sein (suum esse). ›Ihr‹ Sein ist gekennzeichnet durch das Nicht-Sein ihres, d. h. eines eigenen Seins. Das ihr zugehörige bzw. das für sie charakteristische Sein (sibi esse) ist ein ihr nicht zugehöriges Sein (non sibi esse):

prol. gen. n. 8 (LW I 152,15−153,4). Mojsisch, Meister Eckhart (wie Anm. 3), 32. 259 Insofern Gott der Schöpfer, also der Grund für das Erschaffbare (ratio creabilis bzw. creabilitatis) ist, ist er das Sein. Insofern er aber selbst nicht erschaffbar ist, es also auch keinen Grund für seine Erschaffbarkeit gibt, fällt er nicht unter den Seinsbegriff als dem Grund für das Erschaffbare: Et ideo deus, qui est creator et non creabilis, est intellectus et intelligere et non ens vel esse (Qu. Par. I n. 4; LW V 41,13 f.). Dieser vielzitierte Satz spricht also den Grund für Gottes Schöpfertum, für die Erschaffbarkeit der Dinge, und zugleich für Gottes Unerschaffenheit an: Gottes Sein, das selbst nicht unter den Seinsbegriff fällt. (Eben dieses unerschaffene Sein Gottes sieht Eckhart unmittelbar zuvor in Eccl.24,14 angesprochen: »ab initio et ante saecula creata sum« [Qu. Par. I n. 4; LW V 41,13], was für Eckhart nichts anderes heißt als: ante saecula creata sum sive antequam crearentur saecula, ego sum, siclicet sapientia increata, deus verbum dei [in Ioh. n. 490; LW III 422,10 f.].) Diese Ungeschaffenheit von Gottes Sein hat aber keinen Grund in etwas Anderem − also auch nicht in einem seinsfreien Intellekt, der neben (praeter) und über Gottes Sein zu stehen käme. (Seinsfrei ist ›bereits‹ das Sein des Schöpfergottes selbst, insofern es keinen Grund für seine Erschaffbarkeit gibt.) Der Grund für Gottes Ungeschaffenheit liegt weder im Sein noch im Intellekt allein, sondern darin, daß es angesichts von Gott keine Differenz von Sein und Denken gibt. Intellektualtität als solche ist daher für Eckhart noch kein Kriterium dafür, daß etwas (aliquod) als ungeschaffen gelten kann: Si vero in ipso [sc. in aliquo] est intellectus, quaero utrum in ipso sit aliquod esse praeter intelligere aut non. Si non, iam habeo quod sit unum, simplex, et iterum quod est increabile, primum et similia, et est deus (Sermo XXIX n. 301; LW IV 267,13−268,3). Die zuletzt zitierten Sätze bezeichnet J. Caputo zutreffend als »[Eckhart’s] procedure for identifying God and distinguishing him from creatures« (J. D. Caputo, »The Nothingness of the Intellect in Meister Eckhart’s ›Parisian Questions‹«, in: The Thomist 39 [1975], 85−115; hier 88). 257 258

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Relationi autem suum esse est non suum esse, sibi esse est non sibi, sed alterius, ad alterum, et alteri esse.260 Cum enim homo […] accipit totum suum esse se toto a solo deo, obiecto, sibi est esse non sibi esse, sed deo esse.261 Als Relation verwirklicht sich ein solches Sein daher nicht einfach in der Absehung von einem eigenen Sein (suum esse) − dazu müßte die Relation allererst ein eigenes Sein aufweisen, von dem dann auch abgesehen werden kann; zum eigenen, relationalen Sein kommt sie erst durch ihren Bezug auf das oppositum. In dieser Ausrichtung auf … erfüllt sich ihr eigenes Sein als Relation bzw. als Kreatur. Nicht in der Negation eines substantiellen Seins, sondern in der Affirmation des relationalen Bezuges liegt das proprium des relationalen Seins: relativum proprium habet et suum non sibi esse nec ad se, sed sibi non esse, alii esse et alius esse et ad alterum esse. Propter quod quo magis non suum, tanto magis suum, et quo magis suum, tanto minus suum; sibi enim esse et suum esse est sibi non esse, sed alius esse.262 Demnach weist ein relativum, also das, was sich durch einen relationalen Charakter auszeichnet, die Eigentümlichkeit (proprium) auf, nicht auf sich selbst bezogen zu sein (non esse ad se): »relativum habet proprium et suum non sibi esse nec esse ad se«. Anders: Das Eigentümliche bzw. das eigene Sein eines relativum wird nicht einfach freigelegt oder verwirklicht im reflexiven Bezug auf sich selbst − und sei es in einem negierenden Bezug auf sich selbst. Noch in dieser Selbst-Negation dreht sich alles um das eigene Selbst − und damit nicht um das wahre Selbst des relativum, das in der Relation auf Anderes besteht: »sibi enim esse et suum esse est sibi non esse, sed alius esse«. Je mehr sich also alles auf das eigene Selbst bezieht, desto weniger geht es um das wahre − relationale − Selbst des relativum: »quo magis suum, tanto minus suum«. Erforderlich ist ein Mehr an Relationalität − ein affirmatives ›Aussein‹ auf das oppositum −, das erst ein Mehr an eigenem, eben relationalem Sein ›erbringt‹.263 in Eccl. n. 4 (LW II 233,1−3). in Ioh. n. 107 (LW III 92,9−11). 262 in Ioh. n. 425 (LW III 360,9−12). 263 Paradigmatisch angezeigt sieht Eckhart dies etwa im Gebot der Feindesliebe (Mt. 5,44: »diligite inimicos vestros«). Hier bleibt der Bezug auf das oppositum kein bloß formaler, insofern das oppositum in diesem besonderen Fall zugleich opponens ist. Das Eigene stößt im Feind in besonderer Weise an seine Grenzen − in Form einer ihm entgegengebrachten Negation. Insofern ist Feindesliebe, d. h. die affirmative Beziehung auf den opponens, bei dem mit der aktiven Negation des Eigenen zu rechnen ist, auch in besonderer Weise die Erfüllung der Relationalität. ›Feind‹ nennt Eckhart dabei nicht nur den Kontrahenten im eigentlichen Sinne, sondern auch und vor allem das, was der Mensch als ihm zugehörig (domesticum), als sein Eigentümliches (proprium) und als sein Eigen (suum) betrachtet und ihn daher abhält von dem, was ihm in Wahrheit zu eigen ist − ein affirmatives relationales Sein. Wie dem äußeren Feind so ist auch diesem inneren Feind daher nicht mit dessen Negation zu 260 261

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Wie beim Verhältnis von »indistinctum« und »distinctum« sind auch hier proportionale Verhältnisse ausschlaggebend: »quo magis non suum, tanto magis suum, et quo magis suum, tanto minus suum«. Die Relationalität, die das Geschaffene ist, unterliegt selbst einem Verhältnis des ›je − desto‹. Dies deutet darauf hin, daß reine Relationalität, d. h. hier: Relationalität, die einem ›je − desto‹ enthoben ist, im kreatürlichen Bereich nicht verwirklicht werden kann, sondern dem Ungeschaffenen vorbehalten ist. Damit eröffnet sich das vielbesprochene Problem der sog. ›Intellekttheorie‹ Eckharts, insofern der − menschliche − Intellekt diejenige Instanz ist, die in besonderer Weise von dieser relationalen Struktur des »suum esse est non suum esse« gekennzeichnet ist.264

3.2 Intellekt und Negation In Anlehnung an Aristoteles faßt Eckhart das dem menschlichen Intellekt eigene oder eigentümliche Sein als das aktuell sich vollziehende Erkennen: »intelligere in intellectu hominum [est] esse, […] quia intelligere intellectui ut sic est esse, sicut ›vivere viventibus est esse‹.«265 Für den Intellekt als solchen, jenseits von seinem geistigen Tätigsein, heißt dies: Er weist nichts − auch kein Sein − an sich auf, das ihm zu eigen wäre bzw. das als das Seinige gelten könnte: »Unde [intellectus] nihil sui, nihil suum habet, antequam intelligat«;266 »intellectus, in quantum huiusmodi, non est aliquod ens begegnen, sondern dieser Feind kann nur überwunden werden durch Liebe als dem affirmativen relationalen Sein: Quanto enim quid magis domesticum et proprium homini et suum, tanto minus suum et plus sibi inimicum; Iob 7: ›posuisti me contrarium tibi, et factus sum mihimet sibi gravis‹. Propter quod hortatur salvator dicens: ›diligite inimicos vestros‹, Matth. 5. Ab inimico, a non meo accipio et invenio bonum (in Ioh. n. 428; LW III 364,10−14). 264 Eckharts spezifischer Beitrag zur ›Intellekttheorie‹ wird vor allem im Zusammenhang mit seiner Zugehörigkeit zur sog. »deutschen Dominikanerschule« diskutiert, und zwar insbesondere von Autoren, die ihrerseits als Vertreter einer Schule − der sog. ›Bochumer Schule‹ − verstanden werden. Ironischerweise zeigen sich diese Vertreter allergisch gegenüber einer solchen schulmäßigen Klassifizierung, die sie selbst für Eckhart keineswegs ausschließen. − Kritisch gegenüber der intellekttheoretischen Eckhart-Deutung der ›Bochumer Schule‹ hat sich, neben A. M. Haas oder O. Langer, vor allem N. Largier geäußert, zuletzt in seiner Untersuchung »Negativität, Möglichkeit, Freiheit. Zur Differenz zwischen der Philosophie Dietrichs von Freiberg und Eckharts von Hochheim«, in: Dietrich von Freiberg (wie Anm. 249), 149−168. Siehe auch ders., »›intellectus in deum ascensus‹. Intellekttheoretische Auseinandersetzungen in Texten der deutschen Mystik«, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 69 (1995), 423−471; bes. 437 ff.; ders., »Meister Eckhart. Perspektiven der Forschung, 1980−1993«, in: Zeitschrift für deutsche Philologie 114 (1995), 29−98; hier v. a. 42 ff; sowie ders., »Recent Work on Meister Eckhart. Positions, Problems, New Perspectives, 1990−1997«, in: Recherches de théologie et philosophie médiévales 65 (1998), 147−167; bes. 158 ff. − Eine Replik auf Largiers Sicht bietet etwa Flasch, »Converti ut imago« (wie Anm. 85), v.a. 141 ff. 265 in Ioh. n. 140 (LW III 118,10−12). 266 in Ioh. n. 100 (LW III 86,15 f.). Ähnlich auch in Ioh. n. 141 (LW III 118,10 f.): nihil est, antequam intelligat.

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nec habet aliquod esse«.267 Daher tritt das Erkennen nicht am Intellekt als einem substantiellen Etwas auf, es findet sein Sein nicht an einem Träger vor. Es ist denn auch nicht der Intellekt, der seiner Tätigkeit des Erkennens Sein verleiht.268 Das Sein des Intellekts besteht vielmehr umgekehrt nur als und im Erkennen. Das Sein des Intellekts ist nicht an ihm selbst bestimmbar, sondern nur von seiner operatio her. Nun mag zwar das Sein des Intellekts im Erkennen zu seiner Erfüllung und damit gleichsam zu sich selber kommen. Doch das Erkennen ist trotzdem nicht sein Sein (suum esse). Das dem menschlichen Intellekt eigene Sein erfüllt sich nicht in einem selbständigen Sein-für-sich, in einem tätigen Zusichkommen, sondern in einem relationalen Sein. So läßt sich zwar zu Recht sagen, daß Eckhart »das Sein des menschlichen Intellekts durch seine erkennende Tätigkeit begründet sein läßt«.269 Wenn aber Eckhart diese erkennende Tätigkeit zugleich als ein durch und durch relationales Sein, als ein »totum […] esse ad aliud«,270 bestimmt, dann hat dies nichts mit einer Selbstkonstitution des menschlichen Intellekts zu tun. Erkennen als die Tätigkeit des Intellekts ist daher nicht »die Begründung seines Seins«.271 Das den menschlichen Intellekt kennzeichnende »agere sive operari« ist nicht einfach sein Sein schlechthin. Das Sein des Intellekts besteht vielmehr in einem relationalen Sein auf Anderes hin, in und von dem her der Intellekt sein Sein empfängt.272 Daher geht es Eckhart in erster Linie auch nicht um eine rein negative Bestimmung dessen, was der Intellekt in sich selbst, als solcher, ist. Eine Bestimmung, die im Nichts das entscheidende Kriterium für den Intellekt erblickt, erfolgt noch im negativen Bezug auf ein Sein der Dinge.273 Qu. Par. II n. 7 (LW V 53,1 f.). Qu. Par. II n. 7 (LW V 53,2−4): Ergo [intellectus] non dabit ipsi intelligere, quod sit aliquod ens, quia operatio non habet magis esse quam operans, immo minus.− Siehe auch ebd. n. 2 (LW V 50, 4 f.): Si igitur intellectus, in quantum intellectus, nihil est, et per consequens nec intelligere est aliquod esse. 269 K. Flasch, »Einleitung«, in: Dietrich von Freiberg, Schriften zur Intellekttheorie, hg. von B. Mojsisch, Hamburg 1977, XXI. 270 Sermo XIV/2 n. 152 (LW IV 144,7). 271 So Flasch, »Einleitung« (wie Anm. 269), XIII; Hervorh. StG. 272 So gilt für den menschlichen Intellekt: suum esse sive sibi esse est accipere esse; für Gott hingegen gilt: deo esse est dare esse, quia universaliter ipsi [sc. deo] agere sive operari est esse (in Gen. I n. 146; LW I 299,4−6). 273 Nicht eine »unbegrenzte Offenheit« (Kern) oder eine »vollkommene Leere« (Largier) sind daher die entscheidenden Bestimmungen für Eckharts Intellekt-Begriff, insofern sich der Intellekt darin gerade nicht von den sensitiven Vermögen, etwa dem Gesichtssinn, unterscheidet, sondern mit ihnen übereinkommt: Auch das Auge muß vollkommen farblos sein, um für das Sichtbare empfänglich (capax visibilis) zu sein. Vgl. zu dieser aristotelisierenden Parallele des Seh- und des Denkvermögens etwa Qu. Par. I n. 12 (LW V 47,15–48,2); Qu. Par. II n. 2 (LW V 50,1–4); in Gen II n. 31 (LW I 500,10 f.); in Ex. n. 125 (LW II 117,2 f.); in Ioh. n. 100 (LW III 86,10–16); n. 241 (LW III 202,4–6); n. 396 (LW III 337,4–6); Sermo VIII n. 93 (LW IV 88,6 f.); Sermo XXXVIII n. 384 (LW IV 329,16); Sermo LIV/2 n. 531 (LW IV 447,8 f.); Pr. 12 (DW I 201,2 f.); BgT (DW V 28,9–12). – Vgl. dagegen Largier, »Negativität, Möglichkeit, Freiheit« (wie Anm. 264), 151 f.: »Eckhart entwirft […] eine Theorie des Intellekts und der Einheit mit Gott, die primär von der Anaxagoreisch-Aristotelischen Vorstellung der Leerheit und Unbestimmtheit des Intellekts ausgeht. […] Was den Intellekt zum Ort der Freiheit 267 268

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Nicht die pure Seinslosigkeit des Intellekts, also nicht seine Unvermischtheit (impermixtum), Bestimmungslosigkeit, Leere oder die Nacktheit einer tabula rasa274 sind die hier entscheidende Kriterien. Die Seins- und Bestimmungslosigkeit des Intellekts als solchen bildet vielmehr den Ausgangspunkt für die Bestimmung des Intellekts durch Relationalität, in der sich seine Seinsweise (suum esse) erfüllt. Anders gesagt: Erkennen (intelligere) als die Seinsweise des Intellekts ist zwar kein Etwas, kein bestimmtes Sein (aliquod esse) – doch ebensowenig einfach Nichts.275 Diesen Gedanken von der Relationalität als der Seinsweise des Intellekts bringt Eckhart auch in jenem berühmt-berüchtigten Satz zum Ausdruck, wonach das Sein der Relation ein vollkommen geistiges ist: »Relatio autem totum suum esse habet ab anima«.276 Der Akzent dieser Aussage liegt allerdings nicht darauf, daß die Relation zwischen den extramentalen Dingen bzw. zwischen den Dingen und dem Intellekt von der menschlichen Seele konstituiert wird. Die Relation wäre sonst ein bloß gedachtes ens rationis ohne ein fundamentum in re, ihr Wirklichkeitscharakter mtihin nicht von realer, sondern geistiger Natur. Eckhart fährt nämlich fort: »et [relatio] ut sic est praedicamentum reale«.277 Meint dies aber wiederum, daß die Relation in der Seele ihren Ursprung hat und solchermaßen (ut sic), d. h. als eine dem menschlichen Denken entsprungene Seinsform, dann auch real ist, also die Wirklichkeit der Dinge bestimmt oder konstituiert? Angesichts von Eckharts Wirklichkeitsbegriff, wonach diese − zumal als geschaffene − ein purum nihil ist, ist es freilich nur schwer vorstellund der Einung mit Gott macht, ist […] die vollkommene Leere, ja das Nicht-Sein […]. Erst in der Negativität schlechthin, der vollkommenen Offenheit konvergiert der Intellekt schließlich mit der Gottheit«. Vgl. auch U. Kern, »Erkennen als Erkennen Gottes. Epistemologische Aspekte der Intellekttheorie Meister Eckharts«, in: Scientia und Ars im Hochmittelalter, hg. von I. Craemer-Ruegenberg und A. Speer, Berlin/New York 1994, 569–585; hier 572: »Das reine intelligere [!] als reines Nichts führt in unbegrenzte Dimensionen. Das Feld des unbegrenzten Erkennens ist offen.« Zwar bestimmt Eckhart den Intellekt als Nichts. Daraus folgt aber für Eckhart weder, daß nun auch das intelligere als solches ein reines Nichts ist, sondern höchstens, daß das intelligere kein bestimmtes Sein (aliquod esse) ist; noch folgt daraus, daß eine vollkommene Negatitvität das Paradigma ist, unter dem die Einung von göttlichem und menschlichem Intellekt steht. Weiteres dazu im Anschluß. 274 Vgl. in Gen. II n. 32 (LW I 501,2 f.). 275 Daß sich für Eckhart die Bestimmung des Intellekts in seinem relationalen Sein erfüllt, ist auch daran ersichtlich, wie er ein Aristotelisches Adagium aus »De anima« in diesem Sinne akzentuiert: Eckhart spricht zuweilen ganz wie Aristoteles davon, daß der Intellekt nichts von dem Seiendem ist, bevor er erkennt (intellectus possibilis nihil est in actu de numero entium antequam intelligit ea; De an. III 4; 429 a 24: [νοῦς] οὐϑέν ἐστιν ἐνεργείᾳ τῶν ὄντων πρὶν νοεῖν); vgl. dazu oben Anm. 266. Zuweilen aber spricht Eckhart auch davon, daß der Intellekt nichts von allem ist, damit er alles erkennt. Vgl. z. B. in Ioh. n. 100 (LW III 86,14 f.): intellectus nihil est omnium, ut intelligat omnia; in Ioh. n. 241 (LW III 202,5 f.): intellectus nihil est eorum quae intelligit […] ad hoc, ut intelligat omnia. Diese letztere Aussage bestimmt den Intellekt nicht nur als solchen, d. h.: nicht nur vor seinem aktuellen Erkennen als abgesondert (separatus) und unvermischt (impermixtus) gegenüber allem Seienden, sondern sieht gerade seine Bestimmung im Erkennen (intelligere), d. h. in einem relationalen Sein. 276 Qu. Par. I n. 4 (LW V 40,12 f.). 277 ebd. (LW V 40,13).

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bar, daß Eckhart in diesem Satz einer »seinsstiftenden Tätigkeit des menschlichen Denkens«278 das Wort redet. Mit diesem Satz will Eckhart wohl vielmehr eine Antwort auf die folgende Frage geben: Worauf trifft die Relation als solche (ut sic), d. h. die Bezüglichkeit an sich selbst, als ein reales Prädikament zu, wenn das Sein der Relation ein vollkommen geistiges ist? So verstanden, meint dieser Satz dann: Relationalität ist ein reales Prädikament für die Tätigkeit des Intellekts, insofern diese Tätigkeit − das Erkennen selbst (intelligere) − die Seinsweise des Intellekts ausmacht: sein Sein ist nicht sein Sein.279 Daß nun der menschliche Intellekt eben nicht seinsstiftend ist, d. h. weder sein Sein noch das Sein der Dinge konstituiert, sondern gleichsam ›arm an sich selbst‹ ist, erklärt sich für Eckhart gerade aus dem relationalen Charakter des Denkens. Dieser relationale Charakter des Intellekts bestimmt sich daher in erster Linie nicht aus seiner Abstraktionsleistung, d. h. aus seinem Vermögen, die Dinge sich geistig anverwandeln zu können. Denn bei einer solchen geistigen Anverwandlung treten Erkennen und Sein in einen Gegensatz zueinander, der hierbei dadurch überwunden wird, daß der Intellekt ein dingliches Sein negiert, von dem das Erkennen seinen Ausgang nimmt.280 Die Abgesondertheit und Unvermischtheit des Intellekts, d. h. sein Merk278 K. Flasch, »Kennt die mittelalterliche Philosophie die konstitutive Funktion des menschlichen Denkens? Eine Untersuchung zu Dietrich von Freiberg«, in: Kant-Studien 63 (1972), 182−206; hier 185. 279 Flasch konzentriert sich in seiner Studie (siehe Anm. 278) auf Dietrichs Lehre vom Ursprung der Kategorien im menschlichen Denken. In den Schlußpassagen rückt er dann Eckharts erste Pariser Quästio in die Nachfolge von Dietrichs Intellekttheorie, wozu ihm auch jener Satz Eckharts als Beleg der Abhängigkeit Eckharts von Dietrich dient: »Relatio autem totum suum esse habet ab anima et ut sic est praedicamentum reale. Dieser Satz ist ein Affront gegen die thomistische Relationstheorie; er [ent]hält in Eckhartscher Zuspitzung Dietrichs Lehre vom Ursprung der Kategorien« (ebd. 206). Allerdings kommt es Flasch nicht bloß auf den Nachweis der Abhängigkeit Eckharts von Dietrich an, sondern vor allem darauf, daß »Eckharts Pariser These in dem Sinne sekundär ist, daß sie die Ergebnisse, die Dietrich bei der philosophischen Erörterung des Kategorienproblems und damit des menschlichen Denkens erreicht hat, in die spekulative Theologie überträgt. Wir haben vor Eckhart bereits die ausgeführtere, immanent-philosophische Theorie von der wesenhaften Produktivität des menschlichen Intellekts. […] Am Ursprung der neuzeitlichen Philosophie steht Philosophie, nicht Mystik« (ebd. 206). Problematisch hieran scheint mir nicht die von Flasch so betonte, »immanent-philosophische« Genese der neuzeitlichen Subjektivitäts-Philosophie, sondern vielmehr die Tatsache, daß bei Flasch im Vagen verbleibt, was jener Satz bei Eckhart denn nun genau besagen bzw. worin denn seine »Zuspitzung« eigentlich bestehen soll. Mit dieser »Zuspitzung« kann wohl nicht die Transposition »in die spekulative Theologie« gemeint sein, da Eckhart hier zunächst einmal von der »anima«, der menschlichen Seele also, spricht. Unklar bleibt hier, ob für Flasch auch Eckharts Satz von einer »wesenhaften Produktivität des menschlichen Intellekts« spricht. Insofern hat Flaschs Behandlung dieses Eckhartischen Satzes sein eigenes, ein Jahr zuvor geäußertes Diktum noch nicht hinfällig gemacht: »Relatio autem totum suum esse habet ab anima et ut sic est praedicamentum reale. Was diese These relationstheoretisch, religionsphilosophisch und ideengeschichtlich bedeutet, ist bis heute nicht zutagegetreten« (Flasch, Zur Rehabilitierung der Relation. Die Theorie der Beziehung bei Johannes Eriugena, Frankfurt a. M. 1971, 20). 280 Qu. Par. I n. 8 (LW V 44,11 f.): scientia nostra est causata a rebus. Et ideo […] nostra scientia cad[i]t sub ente, a quo causatur. Siehe auch Qu. Par. II n. 10 (LW V 54,4 f.): Cum igitur nostrum intelligere ab ente causetur, descendit ab ente et per consequens tendit in non-ens nec esse habet.

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mal, daß er »mit nichts etwas gemein hat« (nulli nihil habet commune),281 erlaubt es zwar, daß er der Negativität und Besonderheit eines dinglichen »hoc et hoc« mit der Negation derselben zu begegnen vermag. Diese Freiheit des Intellekts vom Sein ist dann aber nurmehr die Funktion seines Vermögens, das dingliche Sein in seiner Besonderheit negieren zu können; seine Freiheit wäre beschränkt auf die Negation des tatsächlich Bestehenden.282 Bisher ist jedoch noch keine positive Bestimmung für das Sein und das Wesen des Intellekts erbracht. Wenn sich aber das Sein des Intellekts wesentlich von seiner Tä281 Vgl. Aristoteles, De an. III 4; 429 b 23 f.: [νοῦς] μηϑενὶ μηϑὲν ἔχει κοινόν. Siehe dazu etwa in Ioh. n. 318 (LW III 265, 13 – 266,1): intellectus autem abstrahit ab hic et nunc et secundum genus suum nulli nihil habet commune, impermixtus est, separatus est. 282 Insofern der Intellekt das jeweils Gedachte seines bestimmten Seinsgehaltes gewissermaßen entkleidet, sich also das Gedachte geistig anverwandelt, geht auch das Gedachte als solches in der Seele in ein Nicht-Sein über: Ens ergo in anima, ut in anima, non habet rationem entis et ut sic vadit ad oppositum ipsius esse. […] Quae ergo ad intellectum pertinent, inquantum huiusmodi, sunt non-entia. Intelligimus enim, quod deus non posset facere, ut intelligens ignem non intelligendo eius calorem (Qu. Par. I n. 7; LW V 43,13−44,8). Zu dieser Stelle bemerkt Caputo, »The Nothingness of Intellect« (wie Anm. 259), 104 f.: »This is to argue that the intellect is free from the conditions of being, that it is free to negate being as it, to envisage other possibilities, to make a disposition of things which does not or even cannot exist. Mind is not confined to being but can instead transcend it, modify it, reshape it. […] To think is to negate, to transcend.« Caputo geht offensichtlich davon aus, daß Eckhart hier die Seinslosigkeit von Denkinhalten im Auge hat, deren reale Existenz sogar Gottes Schöpfungsvermögen überfordern würde: »Intelligimus enim, quod deus non posset facere, ut intelligens ignem non intelligendo eius calorem«. Nach Caputo spricht Eckhart hier also von bestimmten Gegenständen des Denkens, bei denen ein Widerspruch − ein Feuer ohne Hitze − sehr wohl denkbar ist, den real bestehen zu lassen jedoch nicht einmal Gott möglich ist. Eckharts Beispielsatz hätte dann den Sinn von: »intelligimus id quod deus non potest producere in esse«. Caputo übersetzt denn auch diesen Satz Eckharts mit: »For we are able to understand something which God is not able to make, as in the case of one who understands fire without having attended to its heat« (ebd. 104). Wenn es aber um die Denkbarkeit von real Unmöglichem und insofern um die Seinslosigkeit von Denkinhalten geht, dann bleibt offen, ob (und wie) diese Konstellation eines zwar denkbaren, aber real unmöglichen Sachverhaltes auf Gottes Denken zu übertragen ist. Hieße das dann, daß auch Gott etwas real unmöglich ist, was ihm nicht denkunmöglich ist, daß also Gott denken kann, was sein tatsächliches Schöpfungsvermögen übersteigt und insofern seinslos bleibt? Daher scheint es Eckhart an dieser Stelle nicht um bestimmte Inhalte des menschlichen Denkens zu gehen, die sich als ›bloß‹ denkbare in Widerspruch sowohl zum Sein der Schöpfung als auch zum Schöpfungsvermögen Gottes setzen. Es ist vor allem der Akt des menschlichen Denkens selbst, der in einem bestimmtem Widerspruch zu Gottes Denken steht: »intelligimus quod deus non posset facere«. Wir denken nämlich − was Gott eben nicht tun könnte − ein Feuer ohne Hitze nicht bloß in dem Sinne, daß wir beim gedachten Feuer von dessen Hitze abstrahieren, sie also geistig außer Acht lassen können, sondern auch und vor allem in dem Sinne, daß mit unserem Denken des Feuers nicht auch schon dessen reales Heißsein er-dacht ist. Genau diese Differenz zwischen bloß gedachtem Feuer und einem tatsächlichen Feuer, das heiß ist, kann es im göttlichen Denken selbst nicht geben: »deus tamen non posset facere quod esset ignis et quod non calefaceret« (Qu. Par. I n. 7; LW V 44,8 f.). Ein Sein des Feuers ohne eine ›Wärmeleistung‹ (calefacere) zu schaffen, ist Gott deshalb nicht möglich, weil es ihm unmöglich ist, ein hitzefreies Feuer ›bloß‹ zu denken. Gott denkt vielmehr in einem intensiv-aktiven Sinne das Feuer als heißes: »dicere sive concipere quippiam est illud producere sive facere« (in Gen. II n. 47; LW II 515,3 f.). Ausführlicher dazu Vf., »Meister Eckharts Pariser Quaestio I: Sein oder Nichtsein – ist das hier die Frage?«, in: Freiburger Zeitschrift für Philosophie und Theologie 49 (2002), 370–398; hier 387 ff.

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tigkeit des Erkennens her bestimmt, dann kann der Intellekt nicht vorweg durch ein intrinsisches Vermögen zur Negation bestimmt werden, sondern ausschließlich durch sein Formalobjekt, da dem aktuell erkennenden Intellekt »nichts so innerlich ist wie sein Objekt«.283 Eckhart nimmt daher jenes Aristotelische Adagium »nulli nihil habens commune« auch noch in einem anderen Sinne in Anspruch: Der Intellekt »hat mit dem Nichts nichts gemein« (cum nihilo nihil habet commune).284 Eckharts Formel »cum nihilo nihil commune« / »mit dem nihte niht gemeine« meint zunächst, daß der Gegenstand (obiectum), nach dem sich das Denken als Denken bestimmt, nicht das Nichts ist. Gegenstand des Denkens ist daher auch nicht das »hoc et hoc« der Kreatur, das es erst noch in seiner Bestimmtheit aufzuheben gilt, sondern das absolute Sein als solches (ens nudum simpliciter et absolute).285 Auf das Sein selbst kann sich der Intellekt beziehen, nicht weil er in sich Nichts ist und ein kreatürliches Sein im Erkenntnisakt zu negieren, d. h. seiner Negativität anzugleichen vermag, sondern weil der Intellekt alles umfaßt, also in der ihm eigenen Ununterschiedenheit »quodammodo omnia«286 ist: intellectus enim, inquantum intellectus, est similitudo totius entis, in se continens universitatem entium, non hoc aut hoc cum praecisione. Unde eius obiectum est ens absolute, non hoc aut illud tantum.287 in Ioh. n. 682 (LW III 597,3 f.): [intellectui] nihil tam intraneum quam obiectum actu. Für die deutsche Formulierung »mit dem nihte niht gemeine« siehe etwa Pr. 11 (DW I 182,9−11); Pr. 12 (DW I 197,8−10); VeM (DW V 116,1−6). − Auffallend ist dabei, daß Eckhart dieses »cum nihilo nihil habet commune« nicht allein zur Bestimmung des menschlichen Intellekts heranzieht, sondern auch für Gottes reines Sein und Denken beansprucht; so z. B. in Sap. n. 223 (LW II 558,9): Ipse [sc. deus] enim cum nihilo nihil habet commune et se toto est esse; in Ioh. n. 38 (LW III 32,11 f.): intellectus purus, in quo non sit aliud esse quam intelligere, cum nihilo nihil habens commune. Dies deutet darauf hin, daß es Eckhart nicht um eine Strukturbestimmung des menschlichen Intellekts geht, die als solche ein eigenes Interesse für sich beanspruchen könnte, sondern darum, was diese Strukturbestimmung für den menschlichen Intellekt im Hinblick auf Gott besagt: »Es kann nur um den einen ›Gegenstand‹ gehen, zu dem der Intellekt ohnehin schon in einem ursprünglichen Verhältnis steht. Dies aber ist eine Relation, die sich nicht mehr eindeutig und vollständig als theoretisches Verhältnis fassen läßt« (R. Schönberger, »Intellectus in actu est intellectum in actu. Der Aristotelische Begriff der Einheit der Erkenntnis im Mittelalter«, in: Pensées de l’ »Un« dans l’histoire de la philosophie [FS W. Beierwaltes], ed. J.-M. Narbonne et A. Reckermann, Paris 2003, 143−179; hier 179). Die Bestimmung des menschlichen Intellekts erfolgt also nicht um ihrer selbst willen, aus theoretischer Neugierde, sondern sozusagen um des Intellekts willen. Eckharts Verständigung darüber, was der Intellekt ist, hat denn auch den Charakter einer Aufforderung, mit dem Nichts nichts gemeinsam haben zu sollen. Mit dieser Aufforderung allein ist jedoch noch nichts darüber gesagt, wie oder in welcher Form sich denn diese − vernunftgeprägte − Enthaltung vom Nichts gestalten soll. Dieser Frage gehen die folgenden Bemerkungen nach. 285 Vgl. etwa in Ioh. n. 677 (LW 591,6): Obiectum autem intelllectus proprie est ens nudum simpliciter et absolute […]. 286 Eckhart rekurriert mehrmals auf dieses Aristotelische Diktum (De an. III 8; 431 b 21), z. B.: in Gen. I n. 15 (LW I 270,12 f.); in Ioh. n. 610 (LW III 532,11); in Sap. n. 186 (LW II 523,1); Pr. 3 (DW I 49,4−50,1); Pr. 21 (DW I 370,2). 287 in Gen. I n. 115 (LW I 272,3–6). 283 284

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Bemerkenswert ist hierbei, daß Eckhart den Gegenstand (obiectum) des Intellekts mit dem »ens absolute« identifiziert, dieses Sein aber gerade nicht mit einem abstrakten Sein gleichsetzt, welches von aller Bestimmtheit abgeschieden worden ist (hoc et hoc cum praesisione).288 Wenn also der Intellekt als solcher (intellectus inquantum intellectus) sich auf das absolute Sein bezieht, dann erkennt er zwar das absolute Sein nicht im einzelnen »hoc aut illud«. Damit ist aber noch nicht gesagt, daß der Intellekt das Einzelne zu überspringen bzw. von ihm zu abstrahieren hat, um zum Sein selbst zu gelangen. Denn die Abkehr vom einzelnen und vereinzelten »hoc aut illud« garantiert keinen direkten, unmittelbaren Zugang zum absoluten Sein, eben weil diese Abkehr einen vermittelnden Charakter besitzt, d. h. als Mittel zu einem bestimmten Zweck eingesetzt wird. Daß der Intellekt »mit dem Nichts nichts« gemein hat, meint daher auch, daß er nicht erst noch das »hoc aut illud« in seiner Negativität oder Bestimmtheit zu negieren hat, um dann endlich zu seinem eigentlichen Objekt − dem Sein selbst − vordringen zu können. Nicht seine negative Kraft zur Abstraktion vom »hoc aut hoc«, sondern sein gleich-gültig affirmativer Bezug auf die »universitas entium« ist das entscheidende Merkmal des Intellekts. Wenn also der menschliche Intellekt ununterschieden, »auf gewisse Weise alles ist« (quodammodo omnia), heißt dies nicht, daß der Mensch alles zugleich in einer Weise erkennen kann. Vielmehr muß er je Eines, Bestimmtes erkennen − selbst noch in dem Gottesgedanken, der Gott als das Sein selbst denkt. Denkt der Mensch das Sein selbst als einen, bestimmten Gedanken, dann ist eben das Sein selbst nicht gedacht, sondern allenfalls ein reines, von Besonderungen freies Sein (purum esse).289 In diesem Sinne ist dem menschlichen Intellekt die Erkenntnis von Gottes Sein nicht na-

288 Die Kohlhammer-Ausgabe scheint mir den Sinn des Gesagten nicht zu treffen, wenn sie die Wendung »hoc aut hoc cum praecisione« als »dieses und jenes mit Ausschluß (der andern)« wiedergibt (LW I 272). Eckhart verwendet hier den Terminus »cum praecisione« ganz offensichtlich in dem Sinn, wie er auch Thomas in »De ente et essentia« geläufig ist. Vgl. z. B. noch Thomas, De CVIII articulis, q. 16 (Ed. Leon. XLII, 282): esse potest dupliciter accipi, simpliciter et absolute, […] vel cum praecsione, id est nullo addito. 289 Die Reinheit des Seins (puritas essendi) ist daher für Eckhart stets solange eine vorläufige Gottesbezeichnung, als mit ihr nur der negative Charakter des bloßen ›Freiseins von …‹ verbunden wird. Dementsprechend ist es insbesondere auch die tautologische Wiederholung (repetitio) in »Ego sum qui sum« (Ex. 3,14), die für Eckhart eine nur negativ zu verstehende Reinheit des göttlichen Seins übersteigt und mithin die affirmative Fülle des Seins signalisiert: Ait autem [sc. deus]: ›sum qui sum‹, tum quia ipse est plenitudo esse et plenum esse, tum quia ipse nihil aliud est nisi purum esse. Concluditur igitur quod affirmatio […] deo proprie convenit (in Ex. n. 74; LW II 77,1−4). Siehe auch ebd. n. 15 (LW II 21,7 f.): notandum quod repetitio, quod bis ait [sc. deus]: sum qui sum, puritatem affirmationis excluso omni negativo ab ipso deo indicat. Reine Bejahung (puritas affirmationis) ist daher auch nicht nur als Ausschluß von Negativem (Besonderem, Bestimmten etc.) zu verstehen. Mit ihr wäre sonst nichts anderes gemeint als eine Abstraktionsleistung, die alle Bestimmtheit negiert.

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turhaft, aufgrund seines Abstraktionsvermögens, gegeben. Gottes Sein ist kein Inhalt des menschlichen Denkens, der via negationis oder via abstractionis erfaßt wird.290 Eckhart weist nun wiederholt darauf hin, daß allein der Intellekt die Fähigkeit hat, Gott nicht nur unter der Hülle der Gutheit, der Wahrheit oder eben auch des Seins − als gut, wahr oder seiend − zu erkennen, sondern ihn »blôz« aufzunehmen: vernünfticheit zihet gote daz vel der güete abe und nimet in blôz, dâ er enkleidet ist von güete und von wesene und von allen namen.291 Hülle bleibt der Terminus des Seins, solange man Gottes Sein dadurch als absolut zu denken versucht, daß man das Sein des Geschaffenen und seine mit ihm verbundene Relation auf Gott als unwesentlich erkennt. Wollte man vermittels einer Negation des geschöpflichen Seins Gottes Sein als absolut erkennen, dann hätte dies sowohl eine Marginalisierung der Relation in Gott als auch eine Marginalisierung derjenigen Relation, die das Geschaffene ist, zur Folge. Gottes Sein als das ganz andere, unbezogene und unvergleichliche Sein wäre nur durch die Negation eines geschöpflichen Seins zu erreichen, das für eine solche Negation eben auch vorauszusetzen ist.292 Zu

290 Vgl. dazu W. Wackernagel, Ymagine denudari. Éthique de l’image et métaphysique de l’abstraction chez Maître Eckhart, Paris 1991, 154 ff. − Zuweilen scheint Eckhart aber doch davon auszugehen, daß dem menschlichen Intellekt die Erkenntnis Gottes, d. h. des Seins selbst, auch naturhaft gegeben ist, insofern Gott als das Resultat eines Abstraktionsprozesses von allem Kreatürlichem gleichsam übrigbleibt: nu leg ab das vnd das; das denn da beleibet, das ist luter got (Pr. 64; DW III 78,5 f.). Eckhart bettet jedoch dieses (Augustinus entlehnte) Diktum in eine Beispielssequenz, die gerade den Charakter dieser Aufhebung, des »leg ab das vun das«/«tolle hoc et illud« näher thematisiert. Am Beispiel eines Bildes, das auf eine Wand gemalt ist, demonstriert Eckhart, daß der Bildcharakter dieses Bildes solange nicht zur Geltung kommt, gleichsam übertüncht wird, als das Bild und sein Träger − die Wand − als eine Einheit verstanden werden, also das Sein des Bildes als eines an der Wand aufgefaßt wird: der ain bilde malet an ain wand, so ist die wand ain enthalt des bildes. wer nu mynnet das bilde an der wand, der mynnet die wand dar mitte; der die wand danne näme, der näme och das bild dannan (ebd. 78,6−8). Es geht Eckhart daher um eine Abstraktion, die nicht einfach die Wand als Träger und, damit ineins, das Bild negiert, sondern die das Bild in seinem relationalem Sein als Bild freisetzt: nun nemet dannen die wand, also das das bilde beleibe, so ist das bild sein selbs enthalt; wer dénn mynnet das bilde, der mynnet ain lauter bilde. (ebd. 78,8−10). Nicht die gänzliche Annihilation des »hoc et illud« und des mit ihm verbundenen Bezuges auf Gott ist daher anzustreben, sondern die Einsicht in das durch und durch relationale Sein, den lauteren Bildcharakter des »hoc et illud« − die Einsicht, daß sein enhalt in seinem Bildcharakter besteht. Um Gott rein (lauter) lieben zu können, ist daher ein affirmativer Bezug auf das erforderlich, was am Geschaffenen liebenswert ist: sein relationales Sein oder sein reiner Bildcharakter. Wer diesen liebt und nicht das Geschaffene, an dem dieser Bezug dann nur noch eine nachgeordnete Rolle spielt, der liebt rein Gott: nun mynnet alles, was mynneclich ist, vnd nit, an dem es mynneclich schinet, so mynnest du lauter got (ebd. 78,10 f.). 291 Pr. 9 (DW I 162,6−8). Siehe auch ebd. 153,4 f.; sowie Pr. 7 (DW I 122,5 f.); Sermo XI/2 n. 120 (LW IV 114,3−6). 292 Eine via negationis bleibt für Eckhart denn auch so lange kein gangbarer Weg, als nicht die Bedingungen für die Möglichkeit dieser Negation erkannt sind. Ein kreatürliches Sein zu negieren vermag der Intellekt deshalb, weil er immer schon auf das göttliche Sein selbst bezogen ist: Wan ein kraft ist in der sêle, diu ist gescheiden von nihte, wan si enhât niht gemeine mit deheinen dingen; wan niht enist in

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Gott kommt der Intellekt daher nicht dadurch, daß er sich hinwegsetzt über ein gegebenes, unwesentliches Sein der Dinge, sondern durch die Einsicht in den relationalen Charakter, welcher das Geschaffene und damit ihn selbst prägt: Deus enim ut deus non est nec sapit nec invenitur nisi in intellectuali natura, ubi imago dei est capax dei, cuius totum est esse ad aliud.293 Die Einsicht in die eigene Nichtigkeit − daß der menschliche Intellekt Gott weder kraft seiner Negativität, also nicht via negationis, als abstrakten Gegenstand zu erfassen vermag, noch daß seine Relationalität auf Gott in ihm selbst als dem Träger dieses Gottesbezuges gründet − ist daher die Auszeichnung des Intellekts; »capax dei« ist der Intellekt nicht dadurch, daß er sich neben anderen Denkgegenständen auch noch auf Gott erkennend beziehen kann, sondern nur aufgrund seiner Fähigkeit einzusehen, was er an sich ist: Bild oder »totum esse ad aliud«. Von daher rührt auch Eckharts Aufforderung, daß sich die menschliche Seele diese Nichtigkeit zu ihrem eigenen Heil einzugestehen hat. Die Seele soll mit dem Nichts das Nichts gemeinsam haben: [anima] habeat cum nihilo commune nihil, id est communicet cum nihilo, ut sit nihil, ut ex ipsa et in ipsa operetur deus, cui proprium [!] est ex nihilo agere et salvare.294

der kraft [d]an got aleine: der liuhet blôz in die kraft (Pr. 46; DW II 382,8−10). Entsprechend gilt für Eckhart dann auch: Sic enim quanto de ineffabili plus quis fatur, minus fatur de ineffabili in quantum ineffabile, ut ait Augustinus I De doctrina christiana. Sic iterum qui negat tempus, ponit tempus, ut ait commentator, quia negare tempus est in tempore (in Ex. n. 117; LW II 112,12−15). 293 Sermo XIV/2 n. 152 (LW IV 144,6 f.). 294 Sermo XXXI n. 324 (LW IV 283,11−13). Der menschlichen Seele ist es demnach nicht zu eigen, daß sie seinsstiftend aus dem Nichts wirkt, sondern daß sie Einsicht in ihre Nichtigkeit, ihren relationalen Charakter zu gewinnen vermag. Diese Einsicht ist Voraussetzung dafür, daß Gott in ihr wirken kann. Ein »würken in unwesene«, welches für den menschlichen Intellekt charakteristisch ist, betrifft dagegen nur seine imaginative Kraft, die von einem vorgegebenen Sein unabhängig ist. Die Einbildungskraft kann daher Dinge in sich hervorbringen, die nicht gegenwärtig sind, wie etwa die Vorstellung einer Rose im Winter. Insofern vermag auch die Seele »wunder in irm natiurlîchen liehte; si ist sô kreftic, si scheidet, daz ein ist. Viur und hitze ist ein; vellet ez in vernunft, si scheidet ez« (Pr. 43; DW II 328,7−9). Angesichts dieser negativen Kraft zur Abstraktion ist der menschliche Intellekt jedoch nicht gleichzusetzen mit der Seinsmächtigkeit der göttlichen Intellekts: Der Intellekt wird nicht dadurch zu einem göttlichen, unerschaffbaren Intellekt ›im‹ Menschen, daß er ein extramentales Sein (esse praeter intellectum, iuxta intellectum) im Denken aufhebt und sich anverwandelt. Die abstraktive Kraft des Scheidens folgt (volget) daher allenfalls Gottes seinsstiftendem »würken in unwesene«: Disiu kraft [in der sêle] bildet in sich diu dinc, diu niht gegenwertic ensint, daz ich diu dinc als wol bekenne, als ob ich sie sæhe mit den ougen, und noch baz − ich gedenke wol eine rôsen in dem winter − und mit dirre kraft würket diu sêle in unwesene und volget gote, der in unwesene würket (Pr. 9; DW I 151,9−12).

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Wenn aber die Seele mit dem Nichts das Nichts gemeinsam haben soll, heißt dies für Eckhart auch, daß ihr dann auch kein negierendes Vermögen mehr zu eigen sein kann. Nicht dadurch, daß menschliches Denken in einem selbstreflexiven Akt auch noch »sich selbst negiert« und von sich selbst absieht, setzt es gleichsam mechanisch die Fülle des göttlichen Seins frei.295 Für den menschlichen Intellekt bedarf es vielmehr einer Einsicht in das, was Grund seiner Nichtigkeit ist − sein Bezogensein auf die Fülle des Seins: [anima] nihil habeat commune cum nihilo, eo quod in ipsa sit plenitudo totius esse.296

3.3 Einheit und Relation Wenn also die erste und letzte Bestimmung der menschlichen Seele in ihrem Bezug auf Gottes Sein liegt, so ist auch Gott selbst nicht in dem Sinne als absolut zu denken, daß die Relation ihm äußerlich ist bzw. daß er als der Eine den Bezug auf seine Schöpfung verneint.297 Vielmehr ist Gottes Bezug auf seine Schöpfung sein absolutes Sein, das nicht eingeschränkt wird durch die Relationen, in denen es steht:

Nach Largier (»Negativität, Möglichkeit, Freiheit« [wie Anm. 264], 162 f.) will Eckhart die »Vernunft […] in einer Weise untergraben, die ihr den Grund unter den Füßen entzieht, da der Grund als Fülle der Möglichkeit immer ein Anderes ist, mit dem die Vernunft nur eins wird, wo sie sich selbst negiert«. Wie aber sollte die menschliche Vernunft sich selbst negieren können, wenn nicht durch eine ihr eigene Tätigkeit oder Kraft zur Scheidung? Selbstnegation durchbricht daher nicht, wie Largier meint, die Selbstkonstitution des menschlichen Intellekts, sondern ist geradezu ein notwendiges Konstituens für Selbstbewußtsein. Darauf hat immer wieder B. Mojsisch in seinen Arbeiten insistiert, so z. B. in »Nichts und Negation« (wie Anm. 6), 681 ff. Fraglich ist allerdings, ob Eckhart an einer solchen Selbstkonstitution des menschlichen Geistes überhaupt gelegen ist. 296 Sermo XXXI n. 324 (LW IV 283,15−284,1). Vgl. auch in Ioh. n. 677 (LW 591,6–11): Obiectum autem intelllectus proprie est ens nudum simpliciter et absolute, prius, simplicius et praestantius non solum bono, sed et vero et uno; verum enim non est obiectum intellectus, sed potius consequens intellectum, cum sit adaequatio rei et intellectus. Patet ergo, quod nudam dei substantiam, plenitudinem esse, quae est nostra beatitudo, deus scilicet, consistit, invenitur, accipitur, attingitur et hauritur per intellectum. − Die Erkenntnis Gottes als des Seins ist daher keine adaequatio, d. h. keine geistige Anverwandlung eines extramentalen Gegenstandes. Insofern begleitet für Eckhart die beatitudo, die unverhüllte Schau Gottes, auch nicht ein selbstreflexiver Akt des menschlichen Intellekts, in dem erkennt, daß er Gott unverhüllt erkennt. Dieser selbstreflexive Akt hätte nicht Gott allein, sondern etwas neben Gott − eben jenen Akt des Erkennens − zum Gegenstand. Der Intellekt würde sich zu seiner Schau als dem Anderen seiner selbst in ein differentes, negatives Verhältnis setzen und damit die Einung mit Gott ›gefährden‹. Zu Eckharts Auseinandersetzung mit anderen Auffassungen der beatitudo vgl. etwa Goris, Einheit als Prinzip und Ziel (wie Anm. 9), 366 ff. 297 Vgl. z. B. Sermo VI n. 55 (LW IV 55,1 f.): dei natura, esse et vita subsistit in se communicando et se ipsum se totum dando. Siehe auch Pr. 9 (DW I 149,9−12). 295

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daz leste, daz des wesens aller minnest treit, daz heizet relatio, daz ist glîch in gote dem aller grœsten, daz des wesens allermeist hât.298 Glîch ist die Relation gegenüber Gottes Sein, insofern sie Gott dem Sein nach nichts hinzufügt – sie ist ja »minime ens«299 – und sie gleichwohl nicht in Gottes Substanz übergeht. Weder in ihrem Seinsgehalt geht die Relation über das reine Sein Gottes hinaus noch in ihrem kategorialen Charakter, gerade weil dieser ihr Charakter (ratio praedicamentalis) nicht den »modus accidentis sive inhaerentis« aufweist. 300 Gottes absolutes Sein wird demnach nicht eingeschränkt durch Verhältnisse, in denen es steht. Schöpfung ist für Eckhart denn auch keine contractio im Sinne einer Selbst-Einschränkung Gottes. Der terminus »Negatio negationis« meint deshalb auch, daß Gottes Bezug auf seine Schöpfung als dem Nichts in seinem relationalen Charakter nicht durch Differenz oder Negation geprägt ist. Gottes creatives Denken gestaltet sich nicht als ein »esse ad aliud«, das Anderes setzt oder als Anderes auch sein läßt, um dieses Andere in die absolute Einheit zugleich wieder aufzuheben. Das Geschaffene ist für Gott nicht das Andere seiner selbst oder ein unveräußerliches Moment, das in einer Relation zu Gott steht und daher diese Relation wesentlich mit konstituiert.301

Pr. 9 (DW I 147,6–8). Die Erläuterung »daz heizet relatio« bietet nur der Basler Taulerdruck, »gehört aber« nach Quint »unbedingt in den Text«. Siehe dazu die Parallelstellen in DW I 148 (dort Anm. 2). 299 in Ex. n. 54 (LW II 59,13). Vgl. etwa auch in Ex. n. 64 (LW II 68,5 ff.); n. 71 (LW II 73,15 ff.); Qu. Par. I n. 4 (LW V 40,12 ff.). 300 Vgl. auch in Ex. n. 64 (LW II 68,11): »ut sic nihil positive est [relatio] in subiceto et nomen relationis hoc solum et illo modo significat et ipsa sola relatio inter novem praedicamenta«. Die diesem Satz beigegebene Übersetzung der Kohlhammer-Ausgabe gibt insbesondere das »illo modo significat« stark verklausuliert wieder, insofern nach ihr »das Wort ›Beziehung‹ das Bezogensein und diesem entsprechend bezeichnet«. Der Sinn ist aber offensichtlich der, daß das Wort »Relation« kein akzidentelles »inesse« anzeigt, der kategoriale Charakter einer Relation mithin auch nicht als ein akzidenteller gefaßt werden bzw. nicht auf das Sein der Substanz zurückgeführt werden kann. 301 Nach Mojsisch hingegen »denkt Eckhart den Menschen, insofern er Gerechter als Gerechter oder Bild als Bild ist, als integratives Moment« in der Selbstvermittlung Gottes, ja als »Moment, durch das diese Prozesse überhaupt erst möglich werden« (Mojsisch, Meister Eckhart [wie Anm. 3], 81). Als Ausweis für diese These dient Mojsisch vor allem ein Diktum Eckharts, wonach Gottvater und Gottsohn »sich gegenseitig setzen« (mutuo se ponunt): Pater enim et filius opponuntur relative: inquantum opponuntur, distinguuntur, sed inquantum relative, mutuo se ponunt (in Ioh. n. 197; LW III 166, 10−12). Nicht unähnlich der Heideggerschen Übersetzungstechnik erschleicht sich hier, wie ich meine, die wörtliche (von der Kohlhammer-Ausgabe inaugurierte) Übersetzung von »mutuo se ponere« mit »sich gegenseitig setzen« eine ›idealisitische‹ Bedeutungsvalenz, die dem Eckhartischen Original fremd ist. Was sich gegenseitig ›setzt‹, muß sich dann auch gegenseitig ›aufheben‹, sich negativ auf das Andere seiner selbst beziehen, um sich in die absolute Einheit zu vermitteln − was weder für Gottvater, geschweige denn für Gottsohn gelten kann: In diese absolute Einheit vermittelt, müßte Gottsohn denn auch vom Vater als dem Anderen seiner selbst schweigen, ihn er-innert oder aufgehoben haben. Eckhart kommt es jedoch hier − d. h. innerhalb seiner Auslegung von Joh. 1,18 »unigenitus, qui est in sinu patris, ipse ennaravit« − gerade auf die Irreduzibilität der Relation von Gottvater 298

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Die Nichtigkeit oder das Nicht-Sein des Geschaffenen entschärft Eckhart daher nicht durch einen Begriff des »Anderen«, bei dem sich sozusagen eine Negation für Gott insofern lohnen würde, als dieser Begriff eine Gleichrangigkeit im Sinne einer welchselseitigen Negation impliziert. Anders verhält es sich dagegen bei dem, formal gesehen, kontradiktorischen Gegensatz von »Sein« und »Nichts«, insofern Gott für Eckhart das Nichts nicht aktiv, nicht erst noch vermittels einer Negation, ›aus‹ sich ausschließen muß. Dahingehend sind denn etwa auch Aussagen Eckharts darüber zu verstehen, daß Gott keine Macht über das Nichts hat,302 daß er nicht ins »hoc et hoc« des Geschaffenen vordringt (non ingrediens), sondern gleichsam draußen (quasi foris stans) stehenbleibt.303 Wie die Relation ›in‹ Gott nicht in seine Substanz übergeht, sondern »gleichsam draußen stehenbleibt«,304 so verhält sie sich auch angesichts des »hoc et hoc«. Dies tut sie aber, weil sie weder der göttlichen Substanz ein Sein hinzufügt noch dem Geschaffenen ein irgendwie geartetes substantielles Sein verleiht.305

und Gottsohn gegenüber ihrer absoluten Einheit an. Gottsohn kündet daher sowohl vom beziehungslos Einen als auch von der Relation auf den Vater: ennarrat enim [filius] omne quod est absolutum et unum in divinis, et omne quod est distinctionis et relationis, quae duo praedicamenta, substantia scilicet et relatio, sola in divinis admittuntur (in Ioh. n. 198; LW III 167,8−10). Diese vom amor bzw. vom (con)nexus getragene Relation (vgl. z. B. in Ioh. n. 513; LW III 444,9−11) gefährdet die göttliche Einheit nicht in der Weise, daß mit ihr eine Bewegung der Aufhebung beschrieben werden müßte. 302 in Ex. n. 30 (LW II 36,16): non potest nihil. 303 in Sap. n. 293 (LW II 629,4−7): Sed quia »omnis multitudo uno participat« et firmatur negatio in affirmatione, privatio in habitu, falsum in vero, malum in bono, talibus deus etsi non proprie insistat, oportet tamen quod assistat quasi foris stans, utpote non igrediens quod quid est eorum. 304 Vgl. oben Anm. 198. 305 Soweit ich sehe, bezeichnet Eckhart daher das Geschaffene nicht als das »Andere« (aliud) zu Gottes Sein. Bei der Sohnschaft per adoptionem geht es Eckhart denn auch nicht um ein aliud fieri, d. h. um ein Aufgehen in Gottes Sein durch Negation eines ›eigenen‹, kreatürlichen Seins. Deshalb wohl quittiert Eckhart den ihm zur Last gelegten Artikel »homo divinus fit nihil aliud quam quod deus est« (Proc. Col. II n. 35; LW V 326,5 f. = Pr. 12; DW I 149,7 f.: Dirre mensch […] enwirt kein anderz, dan daz got selber ist«) mit: »falsum est et error«. Nichts Anderes der göttlichen Substanz nach zu sein, gilt nur für Gottsohn. Der homo divinus wird nicht der Substanz nach wie Gott oder Gott, da dies der Umwandlung eines geschöpflichen Seins ins göttliche Sein bedürfte. Für diesen Fall läßt sich aber mit Eckhart die (rhetorische) Frage stellen, wie sich aus zwei Substanzen dann noch die Eine, absolute Substanz vereinigen ließe: Quomodo enim non-unum, duo aut multum facerent unum? (Sermo XLIV/1 n. 438; LW IV 368,7 f.). Sohnschaft meint für Eckhart vielmehr ein alius fieri: Filius dicitur, qui fit alius, non aliud (Proc. Col. II n. 10; LW V 320,14). Dies wiederum meint einen reinen, liebenden Bezug auf Gottes Sein − filius autem a philos, qui est amor, dicitur (Proc. Col. II n. 10; LW V 320,10 f.) −, eine Relation also, die Gottes Sein nichts hinzufügt und gleichwohl nicht in die Substanz Gottes übergeht. Sohnschaft als reiner Bezug kann daher auch nicht mehr eine Unzahl von Sohnschaften meinen, die sich auf den Einen Vater beziehen. Der Geburt von Gottsohn ›in mir‹ geht daher nicht nur eine Ununterschiedenheit von ›mir‹ und Gottsohn einher, sondern auch eine affirmative, ausschlußlose Gleich-Gültigkeit dieser Geburt ›in‹ allen Menschen: filius in me genitus ipse est filius sine omni distinctione naturae cum patre, ipse unus sine omni divisione indistinctus, non alius in me et alius in alio homine. Item indistinctus a me et indivisus [a me] sive separatus, quasi non sit in me. Ipse enim in omnibus et ubique est, utpote deus [.] Hanc puto esse veram et sanam fidem Christianam (Proc. Col. II n. 131; LW V 296,3−7). Die Inkarnation Christi, d. h. seine Annahme (assumptio)

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Wenn nun Gottes Bezug auf seine Schöpfung nichts Anderes setzt, in diesem Sinne keine Differenz zwischen zwei Relata aufspannt, wenn aber dieser Bezug selbst zugleich auch nicht einfach Nichts ist, sondern sich gleich-gültig gegenüber Gottes Substanz hält und verhält, so kann Eckhart das Verhältnis von Gott und seiner Schöpfung als einen affirmativen Bezug Gottes auf sich selbst fassen: deus se ipsum amat in omnibus et omnia in se ipso et propter se ipsum solum, […] hinc est quod amat quemlibet unum sicut alium aequaliter et unum sicut omnes et quemlibet unum sicut et quantum se ipsum. Ratio est, quia unum est quod amat et in se et in omnibus. Hinc est quod ipse Ioh. 15 ait: ›diligite invicem, sicut dilexi vos‹, id est me in omnibus et omnia in me, nihil extra aut praeter me, vel ›sicut dilexi vos‹, id est quilibet quemlibet sicut se ipsum. Ipse enim se ipsum solum amat in nobis, quantum a primum sensum; et nos amat tamquam se ipsum, quantum ad secundum sensum.306 Indem Gott allein sich (solum se ipsum) in den Menschen liebt und er zugleich die Menschen so liebt wie sich selbst (tamquam se ipsum), ist Gottes liebender Selbstbezug weder ein exklusiver, der das Geschaffene als das Nichts ›übersieht‹, noch ein inklusiver, der alles Geschaffene pantheistisch-ununterscheidbar so liebt wie sich selbst. Es geht hier also nicht bloß um ein paradoxales Zugleich von Exklusivität und Inklusivität der göttlichen Liebe, welche sich nach dem jeweiligen Objekt dieser Liebe bemißt (Gott liebt exklusiv nur sich − Gott liebt inklusiv alles), sondern um die

der menschlichen Natur, die univok und gleich-gültig (univoce et aequaliter) allen Menschen zuteil ist, ist daher auch das Signum für ihre ununterschiedene, gleich-gültige Annahme als Sohn (adoptio et filiatio): Assumendo igitur ipsam naturam [humanam] in ipso [sc. Christo] et per ipsum contulit gratiam filiationis et adoptionis omnibus hominibus, mihi, tibi et cuilibet participantibus univoce et aequaliter ipsam naturam (Proc. Col. II n. 65; LW V 333,10−13). Insofern jedoch Christus allein die rationale Natur des Menschen angenommen hat, meint Eckhart mit seiner Aufforderung zum ›Menschsein‹ die Mobilisierung der geistigen Kräfte: esto homo, vive secundum rationem, secundum spiritum (ebd. n. 66; LW V 333,18). Um Sohn Gottes zu werden, bedarf es nämlich der Einsicht, oder besser: der geistigen und lebensvollen Realisierung (perceptio), daß − und wie − Sohnschaft eine der menschlichen Natur verliehene Gnade (gratia humanae naturae collata) ist: Vis ergo verbum caro factum habitare in te, filius dei fieri, gratiam humanae naturae collatam percipere, esto homo, vive secundum rationem, secundum spiritum (ebd. n. 66; LW V 333,16−18). ›Nächstenliebe‹ meint daher für Eckhart nicht bloß den engagierten, ›lebensnahen‹ Dienst am Nächsten, sondern den vernunftgeprägten, d. h. gleich-gültig affirmativen Bezug auf das, was Christus selbst affirmativ angenommen hat − die menschliche Natur: Diligas eos [sc. proximos], quia homines sunt; nam et tu homo es (ebd. n. 69; LW V 335,17). Homo sive natura humana tibi communis est cum omni homine. Deus ipse communis est omnibus. […] Ama ergo [proximum], quia homo est, quod commune est (ebd. n. 72; LW V 336,6 f./14). »Sohn werden« oder »secundum rationem vivere« heißt also, einen gleich-gültig affirmativen Bezug zu realisieren und damit »genau dem Verhältnis [zu entsprechen], das auch Gott zu den Dingen einnimmt« (R. Schönberger, »Predigt 10: ›In diebus suis deus placuit‹«, in: Lectura Eckhardi II [wie Anm. 109], 53−87; hier 87). 306 in Sap. n. 258 (LW II 590,5−12).

3. Absolutes Sein und Relation

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Vergleichgültigung dieser Relata, d. h. um eine Vergleichgültigung von »sich« und von »alles«: Weder liebt Gott nur sich vermittels eines Ausschlusses des Geschaffenen; noch ist bei seinem liebenden Bezug auf alles Geschaffene eine Negation des Unterschiedes zwischen Gott und seiner Schöpfung vonnöten, damit Gott in allem dann auch wirklich nur sich selbst lieben kann. Diese Vergleichgültigung der Relate hat ihren Grund darin, daß Gottes liebender ›Bezug auf …‹ selbst nur einer ist, dessen Urbild der liebende Bezug von Gottvater auf Gottsohn ist. Anders gesagt: Gott bezieht sich nicht neben seinem innertrinitarischen Bezug auch noch nach außen auf seine Schöpfung. Dies verdeutlicht Eckhart etwa in Predigt 10 dadurch, daß er die biblisch verbürgten Worte bei der Taufe Christi am Jordan − »Tu es filius dilectus meus« − in ihren drei evangelischen Varianten unkommentiert nebeneinanderstellt und ihnen allein schon dadurch einen gleichgültigen Sinn abgewinnt: Nû schrîbet ein êwangeliste: ›diz ist mîn lieber sun, in dem ich mir wol behage‹. Nû schrîbet der ander êwangeliste: ›diz ist mîn lieber sun, in dem mir alliu dinc behagen‹. Nû schrîbet der dritte êwangeliste: ›diz ist mîn lieber sun, in dem ich mir selber behage‹.307 Eckhart präsentiert hier die Differenzen im biblischen Wortlaut, »ohne sie im einzelnen verfolgen zu wollen«.308 Dies aber hat seinen Grund darin, daß es Eckhart auch gar nicht um die Differenzen als solche und um die konkordante Vermittlung ihres Sinnes geht, sondern darum, daß in allen drei Stellen gleich-gültig der Eine, affirmative Bezug selbst zur Sprache kommt, der Gottvater zu eigen ist: (1) Gott hat Gefallen an seinem Sohn (Mk. 1,11); (2) Gott hat im Sohn Gefallen an allen Dingen (Lk. 3,22); (3) Gott hat im Sohn Gefallen an sich selbst (Mt. 3,17). Im weiteren Verlauf dieser Predigt scheint Eckharts Interesse allerdings nur der Lukas-Stelle zu gelten, die Eckhart hier als die mittlere der drei angeführten Evangelien-Worte anführt und in die er zudem das Gefallen Gottes an allen Dingen hineinliest.309 Dementsprechend sieht es so aus, als wolle Eckhart hier vornehmlich die vermittelnde Rolle betonen, die Gottsohn für den Vater und seinen liebenden Bezug

Pr. 10 (DW I 168,9−12). Eckhart bezieht sich hier auf: (1) Marc. 1,11: tu es Filius meus dilectus, in te complacui; (2) Luk. 3,22: hic est Filius meus dilectus in te complacuit mihi; (3) Matth. 3,17: hic est Filius meus dilectus in quo mihi conplacui. − Die Lukas-Stelle liest Eckhart allerdings in dem Sinne, »daß auch die Dinge, von denen im [Lukas-]Text gar nicht die Rede ist, Gott nur im Sohne gefallen« (Schönberger, »Predigt 10: ›In diebus suis deus placuit‹« [wie Anm. 305], 82). 308 Schönberger, »Predigt 10: ›In diebus suis deus placuit‹« (wie Anm. 305), 81. 309 Quint moniert daher in seiner kritischen Ausgabe dieser Predigt, daß Eckhart das Lukas-Zitat an zweiter Stelle anführt; richtiger wäre vielmehr gewesen, Lukas an dritter und letzter Stelle zu zitieren, da Eckharts nachfolgende Ausführungen direkt eben an das Lukas-Zitat anknüpfen; vgl. DW I 168 f. (dort Anm. 2). 307

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I. Meister Eckhart

auf die Dinge spielt.310 Wie Gottvater ›Zugang‹ zum Geschaffen nur in − d. h. nur vermittels von − Gottsohn hat, so gelangt die Schöpfung nur vermittels des Sohnes zum Vater. Daher dann auch Eckharts Aufforderung: »Nû sol der mensche alsô leben, daz er ein sî mit dem eingebornen sune und daz er der eingeborne sun sî.«311 Eckhart scheint es aber nicht nur um diese ›Vermittlungsleistung‹ Christi zu gehen, sondern um die Herausstellung des Einen Bezuges, der sowohl die innertrinitarischen wie die extratrinitarischen Verhältnisse kennzeichnet: Selbst wenn es bereits ›in‹ Gott tausend Personen gäbe, wäre es nur Ein Bezug, an dem die Einheit liegt.312 A fortiori gilt dies für das geschaffene, jeweilige ›Ich‹ als einer extratrinitarischen Person.313 Zugespitzt gesagt, liegt es also nicht an Gottsohn als einem spezifischen Relatum, daß Gott gleich-gültig Gefallen am Sohn, an den Dingen und an sich selbst hat, sondern an diesem Bezug selbst, welcher dem Vater eignet. Diese Relation selbst ist der Grund der Einheit (und nicht Grund für eine nachträgliche Vereinigung) von Gottsohn und dem homo divinus. Daher spricht Eckhart auch dem Einen die relationale Kraft zur innertrinitarischen Zeugung und zur extratrinitarischen Erschaffung zu: »ipsi uni competit ex sui ratione et proprietate esse primum productivum et patrem totius divinitatis et creaturarum«.314 Im Gegenzug heißt dies für Eckhart: »in divinis habemus esse sive essentiam nec gignentem nec genitum«;315 »in divinis esse sive essentia non gignit nec gignitur«.316 Dieser Umstand scheint nun dafür zu sprechen, daß der Begriff des Einen diejenige Instanz ist, die zum göttlichen Sein noch hinzukommen muß, damit dieses Sein in seinem vollen Begriffsumfang, d. h. auch in seinem seinsstiftenden Bezug, verständlich wird:

So heißt es in unmittelbarem Anschluß an die drei biblischen Zitate: Allez, daz got gevellet, daz gevellet im in sînem eingebornen sune; allez, daz got minnet, daz minnet er in sînem eingebornen sune (Pr. 10; DW I 168,12−169,2). 311 Pr. 10 (DW I 169,2 f.). 312 Pr. 10 (DW I 173,5 f.): Wæren dâ [sc. in gote] tûsent persônen, sô enwære doch dâ niht dan einicheit. 313 Zu Recht betont daher Schönberger ad loc., »daß die Trinitätslehre Eckharts nicht die trinitarische Konstellation als solche verständlich zu machen sucht, sondern das Verhältnis aus der personalen Differenzierung und der Einheit der Wesensnatur als solcher denkt. Die Einheit wird also nicht durch die Art dieser Personen gestiftet, sondern durch die strukturelle Konstellation. Daher der provozierende kontrafaktische Hinweis auf mögliche tausend Personen« (Schönberger, »Predigt 10: ›In diebus suis deus placuit‹« [wie Anm. 305], 86). Diese strukturelle Konstellation ist aber wesentlich gebunden an die Art und den Charakter, den die Relation ›in‹ Gott aufweist. 314 in Ioh. n. 513 (LW III 444,3−5). 315 in Ioh. n. 513 (LW III 444,12). 316 in Ioh. n. 516 (LW III 447,1). Siehe auch ebd. n. 562 (LW III 489,5 f.). 310

3. Absolutes Sein und Relation

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potentia generandi non est essentia absolute, sed essentia cum relatione;317 ipsa essentia sive esse sub ratione sive proprietatis unius et paternitatis redundat germinando, spirando, creando in omne ens, tam creatum quam increatum.318 Gottes Sein als solches ist daher, so scheint es, durch eine »Sterilität«319 gekennzeichnet, das erst mit der Hinzufügung des Einheitsbegriffes sich gewissermaßen belebt, da das Sein als solches »stumm, bewegungslos, begriffslos«320 bzw. in sich »unerkennbar und unsagbar«321 bleibt. Behoben würde mit dieser Hinzufügung ein Mangel, der dem Seinsbegriff ursprünglich anhaftet und dem in sachlicher Hinsicht ein per se relationsloses (absolutum), unbestimmtes oder bestimmungsloses (indeterminatum) Sein Gottes entspricht.322 Die Negatio negationis, die mit dem Einheitsbegriff zum Ausdruck kommt, wäre eine intrinsische, am göttlichen Sein vollzogene Negation, insofern sich Gottes Sein von selbst nicht aus seinem negativen Charakter der Relations- und Bestimmungslosigkeit zu befreien vermag. Die Ununterschiedenheit im Sinne der Bestimmungslosigkeit des göttlichen Seins würde fortbestimmt zur differentia specifica Gottes gegenüber dem Geschaffenen. Erst dank des hinzukommenden Einheitsbegriffes könnte sich Gottes Ununterschiedenheit dann auch unterscheiden. Die Negation, die das Eine an das Sein heranträgt (addit),323 wäre demnach als eine sachhaltige Negation am Sein selbst zu verstehen; »der konkrete Inhalt der Hinzufügung des Einen zum Seienden«324 bestünde, so gesehen, darin, daß das Eine das Sein gegen die Vielheit abgrenzt bzw. von ihm die Vielheit ausschließt. Damit jedoch würde diese Hinzufügung eine begriffliche Differenz von unum und esse − eine Differenz »secundum rationem« − zur Voraussetzung haben, was Eckhart gerade verneint.

in Eccl. n. 11 (LW II 241,2 f.). in Ioh. n. 516 (LW III 447,2−4). − Prima facie ist also der Seinsbegriff »aus sich selbst heraus nicht in der Lage, die vollständige Affirmation des von ihm bezeichneten Sachverhalts leisten zu können. Er ist zwar der zentrale Grundbegriff [bei Eckhart], in seiner Funktion aber in sich mit der Schwäche behaftet, nicht alles, was in dem von ihm bezeichneten Sachverhalt enthalten ist, aussagen zu können« (Schirpenbach, Wirklichkeit als Beziehung [wie Anm. 220], 227 f.). 319 Goris, Einheit als Prinzip und Ziel (wie Anm. 9), 377. 320 Mojsisch, »Nichts und Negation« (wie Anm. 6), 686. 321 Goris, Einheit als Prinzip und Ziel (wie Anm. 9), 378. 322 in Ioh. n. 512 (LW III 443,8−10): Esse autem, tum quia ad intus et essentiam respicit, tum quia absolutum et indeterminatum, nullius productionis principium est secundum sui rationem. Ab indistincto enim et indeterminato nihil procedit. − Hierzu bemerkt Goris: »Wichtig ist in dieser Feststellung die Charakterisierung des Seins als unbestimmt und ununterschieden« (Einheit als Prinzip und Ziel [wie Anm. 9], 296). Wichtig ist aber auch, daß Ununterschiedenheit (indistinctio) hier mit Unbestimmtheit oder Bestimmungslosigkeit (indeterminatio) gleichgesetzt wird. 323 Vgl. in Sap. n. 148 (LW II 486,2 f.): li unum nihil addit super esse, nec secundum rationem quidem, sed secundum solam negationem. 324 Goris, Einheit als Prinzip und Ziel (wie Anm. 9), 377; Hervorh. StG. 317 318

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I. Meister Eckhart

Ebensowenig aber handelt es sich hier um eine »begriffliche Hinzufügung des Einen zum Sein, […] welche eine reale Identität voraussetzt«.325 Die Hinzufügung des Einen wäre von ausschließlich begrifflicher Relevanz, d. h. sie hätte den Status des bloßen Gedachtseins, der die seinsmäßige Identität von unum und esse unangetastet läßt. Der begrifflichen Priorität des Einen vor dem Sein − der Ergänzungsbedürftigkeit des Seinsbegriffes − stünde die reale Priorität des Seins vor dem Einen gegenüber, da das Sein selbst ›noch‹ keine Differenzen kennt.326 Damit aber wäre Gott selbst durch Differenzen gekennzeichnet: (a) zum einen durch die Differenz von Sein und Denken, insofern das unum als das begriffliche Prius dem zunächst bestimmungslosen Sein Gottes dazu verhilft, sich zum relationalen − zum trinitarischen und dann auch zum creativen − Sein fortzubestimmen oder aufzuschließen; (b) zum anderen durch die Differenz von Substanz und Akzidens, insofern das unum als seinsmäßig unselbständiger Begriff zum Sein selbst ›hinzukommt‹.327 Wie ist es aber dann zu verstehen, daß der Begriff des Einen dem Sein »secundum solam negationem« etwas hinzufügt? Wem gilt und von welcher Art ist diese einzige Negation des Einen, wenn sie nicht für und an Gottes Sein eine kreatürliche Vielheit negiert?328 Der negierende Charakter des Einen ist dann nicht so zu verstehen, daß er das Sein Gottes expliziert oder aufschließt zu einem relationalen Sein, sondern vielmehr so, daß er das Verhältnis des Einen zum göttlichen Sein selbst thematisiert: Das Eine tritt nicht als ein Prädikament in ein identisches Verhältnis zu Gottes Sein, Goris, Einheit als Prinzip und Ziel (wie Anm. 9), 296. Einerseits kann dann von Gottes Sein selbst gelten: »Nur in seinem Inbegriff in der Gleichsetzung mit Gott ist der Seinsbegriff formal erfassbar, bedarf er keiner weiteren Explikation mehr und lässt sie neben sich auch nicht zu« (Schirpenbach, Wirklichkeit als Beziehung [wie Anm. 220], 228); andererseits handelt es sich dann »bei unum um einen Begriff, der über sich selbst hinausweist. Eckhart kann nicht vom Einen sprechen, ohne damit das Einssein zu meinen« (ebd. 229). 327 Wer also eine begriffliche Priorität des Einen vor dem Sein für Eckhart behauptet, prolongiert damit nicht nur eine Differenz von Denken und Sein, wie sie für das Geschaffene kennzeichnend ist, auf Gottes Sein und Denken, sondern erkauft auch diese begriffliche Priorität des Einen mit seiner seinsmäßigen Posteriorität. Der ›Gegenstand‹ einer solchermaßen verstandenen, vom Einen vollbrachten Negatio negationis ist das (dabei stets schon vorausgesetzte) Sein, ob nun das bestimmte, von Vielheit gekennzeichnete Sein des Geschaffenen oder das gänzlich unbestimmte Sein Gottes. Das Eine fungiert nurmehr als »Operator« (Goris) bei der Explikation des Seinsbegriffes. 328 in Ioh. n. 513 (444,1−3): Unum vero, quod inter praedicta quattuor [sc. esse, unum, bonum, verum] immediatius se habet ad esse, et primo et minimo determinat ipsum, propter hoc ut primum determinatum est et esse determinans contra multum […]. Siehe dazu Goris ad loc.: »In demselben Akt, worin das Eine als determinatum das Sein gegen das Viele abgrenzt (determinans), wird die Vielheit erst konstituiert« (Goris, Einheit als Prinzip und Ziel, 297). Nach dieser Lesart schließt das Eine als Negatio Negationis Vielheit für göttliche Sein aus, indem es zugleich Vielheit am Sein ausschließt, also die Vielheit als das Andere seiner selbst creativ vom Sein ausgrenzt. Erst vermittelt über die Negatio negationis des Einen tritt dann das Sein Gottes der geschaffenen Vielheit gegenüber; erst indem sich das Sein als das Eine in negative Beziehung zur Vielheit setzt, Vielheit ›aus sich entläßt‹, entzieht es sich dieser Vielheit, ›wird‹ es gewissermaßen zum Einen Sein. 325 326

3. Absolutes Sein und Relation

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sondern ermöglicht den Übergang der anderen Pädikamente − wie etwa der Quantität, der Qualität oder des Ortes − in Gottes Sein.329 Denn diejenigen Prädikamente, die in die Substanz Gottes übergehen, stehen eben bei diesem Übergang in einer Relation der Einheit zu Gottes Sein. Insofern betrifft die Negationsleistung des Einen zunächst und zuvor die Andersheit dieser transzendentalen Begriffe (termini generales) ›in‹ Gott − und nicht das Sein selbst. Der Einheitsbegriff negiert für Gottes Sein die Andersheit dieser Prädikamente als Prädikamente, also nicht nur diese Prädikamente in ihrer vielheitlichen Ausprägung als einzelne bona, vera etc.330 Eben dies gilt nun nicht für die Relation ›in‹ Gott. Angesichts von Gottes Sein verliert sie nicht den ihr eigenen kategorialen, d. h. ihren relationalen Charakter (genus praedicamenti). Insofern negiert die Relation als Relation ihren Übergang in die Substanz, da sie nicht ihrerseits in einem Verhältnis der substantiellen Einheit − eines »inesse per modum accidentis et inhaerentis« − zu Gottes Sein steht und sie daher von vornherein keine kategoriale Bestimmung des göttlichen Seins erbringt.331 Daher negiert die Relation nichts am Sein Gottes, ebensowenig wie sie in Form eines Übergangs (transitus) ins göttliche Sein aufgehoben werden muß.332 Insofern hält sich die Relation gleich-gültig neben der Substanz als »primum genus praedicamenti«. Die »nodosa quaestio«, ob nun der Substanz oder der Relation der Vorrang ›in‹ Gott gebührt,333 beantwortet Eckhart mit ihrer Gleich-Gültigkeit: Vgl. unten Anm. 330. − Inwiefern die Kategorie des Ortes in Gottes Substanz übergeht, Gott also ›das Wo‹ (τὸ ποῦ) ist, expliziert Eckhart etwa anhand seiner komplexen und ausführlichen Auslegung von Joh. 1,38 »Rabbi, ubi habitas?«. Die zunächst ganz unverfänglich gemeinte Frage der beiden ersten Jünger an Christus, wo der denn wohne, deutet Eckhart dabei als einen Aussagesatz − ut sit sensus: rabbi, tu habitas ubi, quasi diceret: tu es ubi et locus omnium (in Ioh. n. 199; LW III 168,2 f.). 330 Vgl. in Ex. n. 68 (LW II 72,7−10): »scientia, bonitas et huiusmodi, quae sunt in aliis generibus« accidentium, [in divinis] non dividuntur contra substantiam, quia ipsorum genera transeunt in substantiam, ratione quorum generum distinguebantur contra substantiam, ita quod substantia est ipsis loco omnium illorum generum. − So verlieren etwa »verum« und »bonum« angesichts der Substanz Gottes ihren kategorialen Charakter (genus), sie fügen daher auch keinen Aspekt hinzu, der vom Sein Gottes so noch nicht gesagt wird. Daher kann Eckhart unter Berufung auf Augustinus auch sagen: got ist wise âne wîsheit, guot âne güete, gewaltic âne gewalt (Pr. 9; DW I 147,1 f.). Siehe etwa auch Sermo XVIII n. 812 (LW IV 171,8 f.): [deus] est magnus sine quantitate, bonus sine qualitate. Alle perfectiones, die sich von Gott aussagen lassen (z. B. Barmherzigkeit, Milde oder Weisheit), wiegen daher angesichts von Gottes Sein nicht mehr als ihr jeweiliges Gegenteil: non plus sunt nec perfectiores sunt quam horum opposita (in Ex. n. 44; LW II 48,12 f.). Damit ist jedoch keine Koinzidenz der Gegensätze ›in‹ Gottes Sein angezeigt, sondern für die perfectiones der Verlust ihres kategorialen Charakters, so daß eine von Gott affirmierte perfectio de facto keine größere Bestimmungsleistung erbringt als ihre entsprechende Negation: [perfectiones] nihil ponunt in deo nec sunt (ebd. 48,17−49,1). 331 in Ex. n. 63 (LW II 67,9−11): Relatio autem quamvis sit accidens, non tamen significat per modum accidentis, quia non modum inhaerentis, subiecto sive substantiae. 332 in Ex. n. 71 (LW II 73,15 ff.): ratio relationis, quae est genus, cum sit non esse, quia nec inesse, […] non distinguit esse nec essentiam. 333 Vgl. in Eccl. n. 11 (LW II 241,3 f.). 329

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Dico ergo quod relatio, quamvis dicatur minime ens, tamen [est] aeque primum genus praedicamenti sicut ipsa substantia.334 Daß sich der kategoriale Charakter der Relation gleich-gültig neben der Substanz erhält, meint dann, daß das Sein Gottes von vornherein − und nicht ›auch noch‹ oder ›eigentlich‹ − als unüberbietbar relational zu verstehen ist. Die Relation in Gott ist ebenso real, wie das Sein Gottes relational ist. Dagegen stehen alle anderen Prädikamente wie bonum, verum etc. als Relata in einer Relation des Übergangs (transitus). Dieser Übergang ins substantielle Sein Gottes ist jedoch kein vermittelter, da das Sein selbst unmittelbar relational ist. Auch wenn also das Eine zunächst nur die Andersheit der Prädikamente (z. B. die bonitas oder veritas in ihrem qualitativen Charakter) zu verneinen scheint und daher für ihren Übergang in die Substanz verantwortlich ist, so verneint das Eine nicht minder den negativen Charakter eben dieses Übergangs. Das Eine hebt nichts ins göttliche Sein auf, sondern signalisiert die Unmittelbarkeit von Substanz und Relation in Gott. Gott ›bleibt‹ gut ohne Güte, bzw. ohne dadurch qualitativ bestimmt zu sein, eben weil es an dieser Relation nichts aufzuheben gilt. Das unum verneint nicht wie im Falle der anderen Prädikamente die kategoriale Andersheit von Substanz und Relation, eben weil der kategoriale Gehalt der Relation keine Bestimmung des Seins erbringt. Anders: Es gibt nichts an der Relation, was verneint werden müßte, da das göttliche Sein nicht Gefahr läuft, von der Relation bestimmt zu werden. Als »Kern und Gipfel des Seins«335 verneint das unum den verneinenden, differenten Charakter von Substanz und Relation ›in‹ Gott. Die kategoriale Gleich-Gültigkeit von Substanz und Relation gefährdet nicht die absolute Einheit, sondern ist deren Signum.336

in Ex. n. 54 (LW II 59,12−14). in Sap. n. 148 (LW II 486,3 f.): [unum] se tenet immediatissime ad esse, quin immo significat puritatem et medullam sive apicem ipsius esse, quam nec li esse significat. 336 Im Blick auf das Gesagte scheint mir E. Tugendhats jüngst unternommener Versuch mißlungen, der Mystik bzw. einem bestimmten Typus von Mystik, eine abstrakte, »theoretische Reduktion der Vielheit der Dinge« anzulasten (E. Tugendhat, Egozentrizität und Mystik. Eine anthropologische Studie, München 2003, 127). Diese reduktionistische Negation der Vielheit der Dinge eignet nach Tugendhat insbesondere »westlichen Mystiken […], die sich nicht oder nicht nur theologisch, sondern ontologisch oder henologisch verstehen« (ebd., 126 f.). Kronzeuge hierfür ist Meister Eckharts »Mystik eines absoluten Seins«. Indem Eckharts Seinsbegriff nichts anderes sei als die abstrakte »Idee einer […] letzten Realität jenseits der Vielheit der Dinge«, entkomme Eckharts Seinsbegriff auch nicht »der Vorstellung, eine Substanz zu sein« (ebd., 126). Wenn sich zudem dieses substantiale, reine Sein mittels der Absehung von aller Vielheit etabliere, bleibe nurmehr die sinnlose »Rede von einem Sein, das nur Sein ist, oder von Einem, das nur Eines ist« (ebd., 126). Wenn denn Eckhart ein Mystiker sein sollte, dann sicherlich nicht in dem von Tugendhat hier »etwas holzschnittartig« (ebd., 125) unterstellten Sinn. 334 335

Ü BERLEITUNG

Der systematische Schwerpunkt der vorangegangenen Überlegungen lag auf dem Problem, was in Eckharts Augen eine Negation überhaupt zu einer absoluten macht. Dieses Problem wird insbesondere augenfällig in Eckharts Verwendung des Terminus ›Negatio negationis‹. Mit diesem Terminus scheint eine – wenn auch zeitfreie – Operation namhaft gemacht zu sein, die ein positives Resultat erbringt. In dieser Perspektive meint dann absolute Negation die Aufhebung aller Negativität in reine Positivität. Doch selbst wenn Gott diese Operation nicht bloß neben anderen Tätigkeiten vollzieht, sondern Negatio negationis ist, bleibt die Frage, wie die Negativität des Endlichen durch diese Operation überhaupt aufkommen kann. Denn die Negativität des Endlichen, seine Bestimmtheit und Andersheit, wird in einer Negatio negationis aufgehoben, nicht generiert. Daß Eckhart die Frage nach dem »Woher« der Negativität des Endlichen nicht thematisiert, kann nun daran liegen, daß er die Negativität des Endlichen einfach voraussetzt, an der sich ›dann‹ deren Negation vollzieht. Es kann aber auch daran liegen, daß für ihn die Negativität des Endlichen nicht das direkte und primäre ›Negationsziel‹ einer absoluten Negation ist. In die Richtung der letzteren Möglichkeit weisen vor allem zwei Bedenken, die eine Deutung, der zufolge die Eckhartische Negatio negationis vornehmlich als Negation von Negativem zu verstehen ist, nur schwer ausräumen kann: Zum einen gälte die absolute Negation einem Objekt, dem ein – zumindest vorläufiges, dann aber zu negierendes – Eigenrecht zugestanden wird, das es aber als ein »purum nihil« von Haus aus nicht haben kann. Infolge dieses negativen Bezuges wüchse also dem zu Negierenden allererst eine Bedeutung zu, die es als ein an sich Nichtiges nicht haben kann. Eine Negation von Negativem hat aber erst dann Aussicht auf Erfolg, wenn dieses zu negierende Negative selbst ein »quid modicum« ist und kein reines Nichts. – Zum anderen wäre der relationale Charakter (ratio relationis), der sich in dieser Negation von Negativem manifestiert, kaum von einer herkömmlichen Negation unterschieden, die etwas verneint. Sie wäre dies allenfalls durch den spezifischen Umstand, daß sich hier die Negation gegen Negatives richtet, welches freilich mit einem »quid modicum« auftritt (also z. B. gegen die Verschiedenheit und Vielheit der Dinge). Der relationale Charakter dieser Negation, d. h. ihr Negationscharakter, bleibt bei solch einer Negation von Negativem unverändert: Die Negatio negationis verliert hier ihren negierenden Bezug auf … gerade nicht. Gegenüber diesem kritischen Befund versuchte das Eckhart-Kapitel Folgendes aufzuzeigen: 1. Die Relation tritt für Eckhart nicht – und schon gar nicht nachträg-

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lich – an einer Substanz auf. Weder Gott noch der »homo divinus« haben sich in einen negativen Bezug zu etwas Anderem zu setzen. 2. Die absolute Negation kann nicht objektbezogen gedacht werden; als absolute bestimmt oder konstituiert sie sich nicht durch bestimmte Objekte. 3. Die absolute Negation betrifft daher den relationalen Charakter der Negation selbst. Nicht irgendwelchen Objekten wird via negationis ein vorgängig negativer Charakter benommen, sondern einem negierenden Bezug auf sie. Gleichsam als Leitmotiv stand dafür der Terminus der »affirmativen Gleich-Gültigkeit« ein. Mit dieser Wortprägung sollte aber keine tiefsinnelnde Bindestrichphilosophie inauguriert werden. Diese Wortprägung fungiert vielmehr als behelfsmäßiger Ausdruck für Eckharts Konzept der aequalitas bzw. glîcheit. Gemeint ist damit eine Bezugsform, die sich gleich zu den Dingen verhält, ohne daß damit eine Gleichheit mit den Dingen behauptet wäre. Diese Form von Gleichheit macht sich nicht mit der Vielheit der Dinge gemein und doch negiert sie diese Vielheit nicht. Aequalitas affirmiert also die Vielheit, ohne in ihr aufzugehen: Sie ist »bei den Dingen« (Pr. 86), indem sie die Dinge unterschiedslos affirmiert. Sie negiert den unterschiedlichen Bezug auf die Dinge, nicht deren Verschiedenheit: »Aber dû solt glich ston; nit die ding, sonder du solt glich ston in den dingen«.1 Die Begründung für dieses lebensmeisterliche Konzept der aequalitas findet sich in Eckharts subtilen Reflexionen auf den Begriff des reinen Seins: Reines Sein bzw. wahre Substanzialität ist für Eckhart keine Sache der Bezugslosigkeit. In der Frage nach dem reinen Sein ist die Alternative zwischen einer völligen Bezugsfreiheit und einem akzidentellen Eingebundensein in mannigfache Bezüge offensichtlich keine erschöpfende. Reines Sein erhält sich nicht rein durch die direkte Negation von Vielheit. Mit dieser Negation hielte es sich vielmehr von Vielheit nur fern. Reines Sein ist daher solches, an dem die Relation nicht als Akzidens auftritt, das aber zugleich nicht dank dieser Relation »auf ein Anderes hinstrebt« (tendit in alterum).2 Diese traditionelle Unterscheidung an der Kategorie der Relation – zwischen ihrem Seinscharakter (inesse) und ihrem kategorialen Gehalt (esse ad) – liefert Eckhart allerdings nicht zwei Gesichtspunkte, die unabhängig voneinander zu betrachten sind. So ist zwar die Relation ihrem Seinsgehalt nach minime ens. Sie vermag daher gleichsam außerhalb der Substanz zu stehen (quasi foris stans), weil sie der

Vgl. F. Löser, »Was sind Meister Eckharts deutsche Straßburger Predigten?«, in: Meister-Eckhart-Jahrbuch 2 (2008), 37–63, hier 50. In seiner prozessualen »Responsio« macht Eckhart den affirmativen Charakter dieser Bezugsform insbesondere anhand des biblischen Gebotes des Nächstenliebe deutlich. Nächstenliebe ist, recht verstanden, Liebe zu Gott. Gott im Nächsten zu lieben meint keine Suche nach dem göttlichen Funken in diesem oder jenem Menschen; sie meint unterschiedlose Bejahung des Nächsten und damit Negation eines unterschiedlichen Bezuges auf die Mitmenschen. Dies ist alles andere als eine interesselose Gleichgültigkeit gegenüber dem Nächsten. 2 Thomas von Aquin, STh I q. 28 a. 2 c. 1

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Substanz keinen weiteren Seinsgehalt hinzufügt. Insofern liefert die Relation keinen Bestimmungsgrund für die reine Substanz und muß daher, im Gegensatz zu den anderen Akzidentien, auch nicht in diese übergehen. Andererseits liefert die Relation aufgrund ihres kategorialen Gehaltes – der Bezüglichkeit auf ein oppositum – den Distinktionsgrund für eine Substanz. Mit diesem oppositum steht und fällt der kategoriale Gehalt der Relation (ibi oritur, ibi moritur). Durch die Relation wird also das reine Sein in seiner Substantialität nicht beeinträchtigt, es kann aber zugleich nicht in der Bezüglichkeit auf verschiedene opposita aufgehen. Diejenige Relation, die das reine Sein kennzeichnet, muß daher selbst eine reine, absolut Eine sein. Dies kann sie nur dadurch sein, daß sich ihr relationaler Charakter (esse ad) selbst durch eine aequalitas auszeichnet. Diese gleich-gültige Relationalität des reinen Seins negiert damit nicht einfach die Distinktheit von Gott und Welt – immerhin handelt sich hier um eine Relation. Die gleich-gültige Relationalität des reinen Seins negiert vielmehr den Umstand, daß seiner Distinktheit eine Bezugsform entspricht, die selbst von Verschiedenheit geprägt wäre. Der absolute Unterschied zwischen Gottes reinem Sein zum ens hoc et hoc liegt an der hier obwaltenden Bezugsform, die das Gepräge affirmativer Ununterschiedenheit oder Gleich-Gültigkeit hat. Eckharts Denken wird demnach nicht von Negationen beherrscht, insofern unter ›Negation‹ ein negativer Bezug auf Anderes, seinerseits Negatives verstanden wird, der sich an diesem Negativen abarbeitet (negatio negativi). Die Gott allein zukommende Bezugsform ist vielmehr reine Affirmation (purissma affirmatio), eine Bezugsform also, die jeglichen negativen Aspekt an ihrem relationalen Charakter – und nicht etwa an ihren opposita – getilgt hat. Der Kern und Gipfel (medulla et apex) der reinen Affirmation liegt in der Verneinung ihrer verneinenden, Differenzen setzenden Bezugsform. Die Bezugsform der reinen Affirmation verneint von vornherein eine ihr zukommende Andersheit oder Differenz. Sie muß nicht erst noch eine Andersheit verneinen, die dem zukommt, worauf sie sich bezieht. Bereits in diesem ununterschieden affirmativen Bezug auf verschiedene opposita wird sozusagen im vorhinein deren negativer Charakter der Bestimmtheit und Vielheit gleichgültig. Für diesen Bezug als solchen mögen die opposita konstitutiv sein; die Art des Bezuges auf sie hängt jedoch nicht von ihrem negativen Charakter ab. Die Art des Bezuges auf die verschiedenen opposita hinge nur dann von diesen ab, wenn deren Negativität ausschlaggebend für den Bezug auf sie wäre. Eckharts Denken konzentriert sich demnach auf den einen Bezug der absoluten Einheit auf die Vielheit bzw. auf den einen Bezug Gottes auf die Welt. Beide ›Bezugsglieder‹ stehen sich dabei nicht so gegenüber, daß das eine die Negation des Anderen wäre. Dies liegt daran, daß für Eckhart die absolute Einheit einen einheitlichen, ununterschiedenen Bezug auf Vielheit hat und somit Vielheit nicht als solche, sozusagen direkt negieren muß. Damit ist zwar die Bezugsform des Einen, reinen Seins auf

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Vielheit einsichtig gemacht, nicht aber die Herkunft der Vielheit als Vielheit begründet. Eine solche Begründung läßt sich für Eckhart offensichtlich auch gar nicht geben. Ein Indiz dafür ist etwa die rekurrente, drastische Charakterisierung der Vielheit als »casus ab uno«. Daß Eckharts Interesse nicht der Vielheit als Vielheit gilt, zeigt sich nicht zuletzt daran, daß ihm an einer disziplinären Scheidung der divina, moralia und naturalia, in denen womöglich je eigene Prinzipien und Argumentationsformen gelten, nicht gelegen ist. Für Cusanus wird die Begründung der Vielheit aus der absoluten Einheit zu einem Kernproblem seines Denkens. Davon zeugt insbesondere der Gedanke der absoluten Koinzidenz der Gegensätze, nicht weniger aber dessen Strahlkraft in so verschiedene disziplinäre Bereiche wie etwa die Kosmologie oder das mathematische Problem der Kreisquadratur. Cusanus geht es dabei aber nicht einfach um die Ausweitung eines ursprünglich theologischen Konzepts, das er dann unter veränderten Bedingungen und mit Modifikationen auch auf andere Sachgebiete anwenden würde. Vielmehr verbindet Cusanus mit dem Koinzidenzgedanken von vornherein den Anspruch, diese Bereiche als je eigene und damit in ihrer Andersheit begründen zu können. Dies soll nun gezeigt werden.

II. NICOLAUS CUSANUS

Die Frage nach dem neuzeitlichen Charakter des Cusanischen Denkens eröffnet ein Feld, auf dem sich die einschlägige Forschung der letzten Jahrzehnte in größter Uneinigkeit präsentiert. Angesichts dieser Uneinigkeit wurde die Jagd auf diesem Feld immer wieder für vollkommen fruchtlos erklärt. Doch selbst der Grund und der Charakter dieser Fruchtlosigkeit sind nicht unumstritten geblieben. Nach Ansicht einiger Interpreten ist dieses Forschungsfeld für ein Verständnis des Cusanus deswegen unergiebig, weil jene Frage als solche prinzipiell keine Entscheidung zuläßt.1 Andere Interpreten plädieren dagegen entschieden für die Brachlegung dieses Feldes, da die Frage, ob ein an neuzeitlichen Kategorien orientiertes Deutungsmuster dem Selbstverständnis des Nikolaus von Kues überhaupt gerecht wird, eindeutig negativ zu beantworten ist.2 Eine solche negative Antwort erfordert in der Regel den umständlichen Umweg, im kritischen Durchgang gewichtiger Cusanus-Deutungen erst einmal sagen zu müssen, wie Cusanus nicht interpretiert werden kann oder darf, ohne daß dem auf weite Strecken eine positive Antwort entgegengebracht wird. Darunter leidet nicht nur die Darstellungsökonomie, wenn der Entwicklung der ›eigentlichen‹ These weitläufige Forschungsberichte als Kotrastfolie vorangehen. Problematisch ist ein solches Vorgehen insbesondere dadurch, daß es als Maßstab für die Auswahl und kritische Darstellung komplexer Cusanus-Deutungen das Cusanische Selbstverständnis in Anschlag bringt. Dieses Selbstverständnis muß dabei als ein archimedischer Punkt herhalten, der ein adäquates Verständnis von Cusanus erst (wieder) ermöglicht. Nimmt man jedoch das Selbstverständnis eines Autors zum hermeneuti-

So ist es etwa nach I. Bocken eine »nicht ganz unberechtigte Behauptung«, daß das wiederholte Aufkommen dieser Frage »eher auf ihre prinzipielle Unbeantwortbarkeit − und damit auch auf ihre Sinnlosigkeit − hinweist, als daß sie uns etwas über die eigentliche Absicht des alten Philosophen [d. i. Cusanus] lehrt« (Bocken, »Konjekturalität und Subjektivität. Einige Anmerkungen zur Position der Geistphilosophie des Nicolaus Cusanus in der neuzeitlichen Philosophiegeschichte«, in: Nicolaus Cusanus. Perspektiven seiner Geistphilosophie, hg. von K. Reinhardt und H. Schwaetzer, Regensburg 2003, 51−63; hier 51). 2 Einen massiven Generalangriff auf die vorherrschenden »Interpretationstendenzen in der Cusanus-Forschung« hat H. Benz unternommen: Individualität und Subjektivität. Interpretationstendenzen in der Cusanus-Forschung und das Selbstverständnis des Nikolaus von Kues, Münster 1999. Siehe auch neuerdings ders., »Nikolaus von Kues: Wegbereiter neuzeitlicher Denkweise oder kritischer Interpret traditioneller philosophisch-theologischer Konzeptionen?«, in: Herbst des Mittelalters? Fragen zur Bewertung des 14. und 15. Jahrhunderts, hg. von J. A. Aertsen und M. Pickavé, Berlin/New York 2004, 371−392. 1

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II. Nicolaus Cusanus

schen ›Nullpunkt‹ seiner jeweiligen Interpretation, dann gilt zunächst auch hier »ein trockenes Versichern gerade soviel als ein anderes« (Hegel).3 Solch eine Skepsis gegenüber dem Ansinnen, der selbstvergessenen Eigendynamik modernistischer oder aktualisierender Deutungsansätze einmal ›das‹ Selbstverständnis des Cusanus entgegenzuhalten, bedeutet nicht gleich »eine ganz unangemessene Ausschweifung jenes historischen Vergnügens […], alles, wenn nicht schon immer, doch wenigstens möglichst früh dagewesen sein zu lassen«.4 Denn auch bei dieser »Ausschweifung« ist vorderhand nicht einzusehen, warum ausgerechnet mit Cusanus bereits die ›Frühe‹ des neuzeitlichen Denkens erreicht sein soll und nicht erst mit Meister Eckhart, dem Areopagiten oder gar mit Proklos, deren ›Einfluß‹ sich Cusanus als Leser ihrer Schriften aussetzt. Versteht sich daher die Aktualität eines philosophischen Gedankens aus seiner Kompatibilität mit dem kontingenten, beliebig weit ausgreifenden Standpunkt eines Interpreten, so scheint dies nur die Kehrseite derjenigen Bemühungen zu sein, welche die Aktualität dieses Gedankens aus dem Nachweis seiner Perennierung innerhalb einer bestimmten, mittlerweile aber vielleicht fremd gewordenen Tradition ableiten. Beide Lesarten der Wirkungsmächtigkeit eines Gedankens − gewissermaßen dessen in die Vergangenheit bzw. in die jeweilige Gegenwart verlängerte ›Schon‹-Zeit (›schon vor Cusanus‹ bzw. ›schon bei Cusanus‹) − sichern diesem Gedanken nicht vorab seine Relevanz über das Interesse des einzelnen Interpreten bzw. über diese Tradition hinaus. Wenn also das folgende Cusanus-Kapitel, dem Leitgedanken dieser Arbeit folgend, sich auf den Status der Negation innerhalb einiger Cusanischer Grundgedanken konzentriert, so soll damit auch ein möglicher Bezugsrahmen dafür erprobt werden, was Aktualität eines Gedankens heißen kann. Aktuell − im Sinne von wirklich − ist, so scheint mir, ein Gedanke insbesondere dann, wenn er etwas sehen läßt, 3 Insofern führt Benz ein Schattengefecht gegen die Cusanus-Forschung angesichts seines Pauschalvorwurfs, diese sei in modernen Kriterien befangen und marginalisiere weithin das Cusanische Selbstverständnis, das mit der von Cusanus so betonten Abhängigkeit des menschlichen vom göttlichen Geist steht und fällt. Zum einen schließt nämlich diese grundsätzliche Abhängigkeit keineswegs eine differenzierte Sicht des Cusaners auf den Stellenwert des menschlichen Geistes aus, sondern fordert sie geradezu heraus − wofür die Vielfalt anspruchsvoller Deutungen gerade als ein positives Indiz gelten kann. Klärungsbedürftig ist nicht diese Abhängigkeit als solche, sondern es sind die Konsequenzen, die sich für Cusanus daraus ergeben. (Benz‹ Arbeit scheint mir daher ihrerseits eher ein weiteres Exempel für das mit dieser Deutungsvielfalt indizierte Problem zu sein, als daß sie dieses Problem handstreichartig − eben mit dem Nachweis der Abhängigkeit des menschlichen vom göttlichen Geist − zum Verschwinden bringen kann.) − Zum anderen bietet die Berufung auf das Selbstverständnis des Cusanus kein interpretatorisches fundamentum inconcussum, weil gerade auch dieses Selbstverständnis »in der energischen Abfolge« (Flasch) seiner Wandlungen zum Gegenstand eines legitimen Deutungsinteresses werden kann, wie dies etwa in den jüngsten Cusanus-Monographien von K. Flasch mit allem Nachdruck geschehen ist. Vgl. dazu insbes. K. Flasch, Nikolaus von Kues. Geschichte einer Entwicklung. Vorlesungen zur Einführung in seine Philosophie, Frankfurt a. M. 1998. 4 H. Blumenberg, Aspekte der Epochenschwelle: Cusaner und Nolaner, Frankfurt a. M. 1976, 58.

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was so noch nicht und zugleich in der Folge so nicht mehr gedacht worden ist. Daraus folgt allerdings nicht unmittelbar, daß dieser Gedanke seinerzeit aktuell-›fortschrittlich‹ war und daß nun der Zugang eines zeitgenössischen Interpreten sich darauf beschränken sollte, die »gewesene Lebendigkeit«5 dieses Gedankens darzustellen und somit »Gewesenes einfach sein [zu] lassen«.6 Denn Kontur gewinnt ein Gedanke, eben als Gedanke, nicht so sehr durch eine Beschreibung, die ihn als eine vergangene Begebenheit in bunten Farben schildert, sondern viel eher, wenn es gelingt, ihn als einen Komplex mit durchaus verschiedenen – Eckhartischen, Cusanischen oder Hegelischen – Facetten in den Blick zu bekommen. Auch damit muß nicht schon gesagt sein, daß Tradition sich einer Reihe sogenannter produktiver Mißverständnisse verdankt, bei der ein Gedanke, aus einer »Angst vor Einfluß« geboren, stets den anderen zu verdrängen versucht.7 Vor allem aber ist damit nicht behauptet, gerade ein Denken des Einen könne nur eine »blockhaft-identisch imaginierte« Form des Weiterlebens besitzen, bei der ein einzelner Denker zu einem bloß illustrativen Beispiel für eben diese Tradition verkommt.8

Flasch, Nikolaus von Kues (wie Anm. 3), 649 (im Original kursiv). Flasch, Nikolaus von Kues (wie Anm. 3), 656. 7 Zu dieser ›Einflußangst‹ siehe das (v. a. in den Literaturwissenschaften vieldiskutierte) Buch von H. Bloom, The Anxiety of Influence. A Theory of Poetry, New York 1973 (dt. Einflußangst. Eine Theorie der Dichtung, Basel [u. a.] 1995). 8 Das Zitat in: Flasch, Nikolaus von Kues (wie Anm. 3), 649 (im Original kursiv). − Auf die Gefahr hin, die Rezeptionsanweisungen zu verfehlen, die Flasch für die Leser seiner Bücher mit zunehmender Intensität parat hält, so scheint es mir doch etwas zu hoch gegriffen zu sein, wenn Flasch zahlreichen Cusanus-Interpretationen eine pseudo-aktualisierende »Technokratie über das Gewesene« attestiert, bzw. eine weit verbreitete interpretatorische Unfähigkeit, »Gewesenes einfach sein [zu] lassen«, und wenn er dann in dieser Unfähigkeit einen »Herrschaftsgestus« am Werke sieht, der »die Industriegesellschaft zunehmend charakterisiert« (ebd. 656). Aneignung scheint mir jedoch das notwendige (oder, je nach Sichtweise, unumgängliche) Signum einer jeden Interpretation zu sein und nicht erst einem Herrschaftsgestus ›der‹ − noch dazu in schrillem kulturkritischen Ton gebrandmarkten − Industriegesellschaft zu entspringen. Bereits weder Eckhart noch Cusanus hätten sich wohl dazu verstanden, »Gewesenes einfach sein [zu] lassen« (worauf Flasch selbst, zumindest im Falle von Eckhart, immer wieder insistiert hat). A fortiori scheint mir nun auch eine an Sachfragen orientierte Interpretation, die bewußt historische Distanz zu ihrem jeweiligen Gegenstand hält, sich nicht mit der Protokollierung des »Gewesenen« begnügen zu können − womit sich auch Flasch selbst nicht begnügt, sondern einen eigenständigen philosophischen Ansatz verbindet. In diesem Fall allerdings sind Nachfragen an Flaschs philosophiehistorisches Konzept nicht nur legitim, sondern auch geboten. Neuerdings hat dies V. Hösle mit aller polemischen Schärfe getan: »Wenn Flasch erklären würde, sein Buch sei ein rein historisches und er habe zu den Sachfragen, wie sie sich heute stellen, nichts zu sagen, wäre das völlig in Ordnung und ehrenhaft. Aber Flaschs Polemik gegen eine sachorientierte Philosophie kommt selbst mit einem philosophischen Anspruch daher, der unbegründet ist« (V. Hösle, »Wie soll man Philosophiehistorie treiben? Kritische Bemerkungen zu Kurt Flaschs philosophiehistorischer Methodologie«, in: Philosophisches Jahrbuch 111 [2004], 140−147; hier 145). Zu Hösles Vorwürfen hat sich Flasch mittlerweile kurz geäußert. Vgl. »Epochenbegriffe und Historisierung. Ein Gespräch mit Kurt Flasch«, in: Internationale Zeitschrift für Philosophie 2004,2, 193−209; hier 204 f. 5 6

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II. Nicolaus Cusanus

Der folgende erste Abschnitt exponiert ein Problem, das bereits mehrfach und aus verschiedenen Perspektiven namhaft gemacht wurde. Gemeint ist damit ein − offenbar auch von Cusanus selbst registrierter − Mangel am Koinzidenzbegriff, der unmittelbar mit dessen Negationscharakter zusammenhängt. Als Negation von Gegensätzen verstanden, ist dieser Begriff anscheinend nicht in der Lage, das absolute − über jeder Affirmation und Negation stehende − Eine adäquat zu erfassen. Daß ein solches Manko Folgen für den Status und die Reichweite des Koinzidenzbegriffes innerhalb der Cusanischen Philosophie hätte, ist offensichtlich. Der zweite Abschnitt soll daher klären, ob und wie Cusanus den Ineinsfall von Gegensätzen als deren Negation denkt. Von da aus geht der dritte Abschnitt dann der Frage nach, warum Cusanus das Absolute gerade als Koinzidenz faßt: Mit dem Koinzidenzbegriff kann Cusanus den Grund für die Andersheit und Gegensätzlichkeit des Endlichen denken.

1. Koinzidenz als Problem Koinzidenz oder Ineinsfall der Gegensätze ist bekanntlich einer der Gedanken, den Cusanus von seinem ersten großen philosophischen Werk über die »docta ignorantia« bis hin zu seinen späten Schriften mit aller Intensität verfolgt.9 Insbesondere seit Josef Kochs Entdeckung, daß der Koinzidenzgedanke, wie ihn »De docta ignorantia« präsentiert, eine Korrektur in Cusanus’ zweiter großer Schrift »De coniecturis« erfährt, ist dieser Gedanke in seinem Facettenreichtum, aber auch in seiner Problematik zu Tage getreten.10 Diese Problematik schlägt sich insbesondere in der FraEinen konzisen Überblick über »coincidentia oppositorum« in den verschiedenen Cusanischen Schriften bietet Flasch, Die Metaphysik des Einen bei Nikolaus von Kues. Problemgeschichtliche Stellung und systematische Bedeutung, Leiden 1973, 179−217. Siehe auch ders., »Nikolaus von Kues: Die Idee der Koinzidenz«, in: J. Speck (Hg.), Grundprobleme der großen Philosophen. Philosophie des Altertums und des Mittelalters, Göttingen 1972, 221−261. Vgl. auch die monographische Darstellung von M. Thiemel, Coincidentia: Begriff, Ideengeschichte und Funktion bei Nikolaus von Kues, Aachen 2000. Thiemel verspricht sich von seinen EDV-gestützten, statistischen Erhebungen zum Wortfeld ›Koinzidenz‹ in den Cusanischen Schriften »für die gesamte Forschungsdiskussion neue Impulse und entscheidende Hinweise« (ebd. 79). Ob Thiemel tatsächlich solche Hinweise gelingen, ist sehr fraglich, da seine Untersuchung schließlich zu solchen Ergebnissen führt wie: »Der adäquate Terminus für ›coincidentia‹ ist Koinzidenz«; »Nikolaus von Kues widmet der Koinzidenz kein eigenes Werk oder eine Werkgruppe«; »Die Traditionen der Trinitätsspekulation und des Nominalismus sind zentrale Angelpunkte der Koinzidenzauffassung des Nikolaus von Kues«; »Im Habitus der docta ignorantia kann sie [sc. die Koinzidenz] mit Hilfe der coniecturae als die Grenze der philosophisch-theologischen Erkenntnis erreicht werden« (ebd. 189 f.). Derartige Impulse scheinen »für die gesamte Forschungsdiskussion« weder neu, geschweige denn in irgendeinem Sinn ›anstößig‹ zu sein. − Neuere Beiträge zur Koinzidenz sind zusammengefaßt in dem Tagungsband: M. Alvarez Gómez/J. M. André (ed.), Coincidencia de opuestos y concordia. Los caminos del pensamiento en Nicolás de Cusa, Salamanca 2002. 10 Der entsprechende Passus findet sich in de coni. I 6; n. 24,16−18 (h III 30) und lautet: Nam in ante expositis De docta ignorantia memor sum saepe de deo me intellectualiter locutum per contra9

1. Koinzidenz als Problem

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ge nieder, was jene Selbstkorrektur des Cusanus denn nun für den Koinzidenzbegriff als solchen zu besagen hat. Dazu seien zwei Antworten der Cusanus-Forschung skizziert, die, wie mir scheint, in paradigmatischer Weise die Spannweite des damit angezeigten Sachproblems vor Augen führen können.11

1.1 Koinzidenz und negative Theologie Nach Ansicht von Kurt Flasch bleibt zwar der »Grundgedanke der cusanischen Koinzidenzlehre« durch alle seine Wandlungen hindurch »klar«, während seine Extension, d. h. hier: die Art und Weise, wie und wofür Cusanus diesen Grundgedanken dann zur Anwendung bringt, »eine Reihe divergenter philosophischer Aussagen

dictoriorum copulationem in unitate simplici. − Nach Auffassung der meisten Interpreten besteht die hier explizit gemachte Selbstkritik vornehmlich darin, daß Cusanus in seinem ersten philosophischen Werk des öfteren (saepe) die Koinzidenz der kontradiktorischen Gegensätze als ihre innere Vereinbarkeit bzw. als ihr ruhiges Nebeneinander in Gott (per contradictoriorum copulationem in unitate simplici) verstanden habe, »d. h. also in der Weise, daß er einander widersprechende Aussagen über Gott in der einfachen Einheit kopulativ (durch das Wörtchen ›und‹) verbunden habe« (J. Koch, Die Ars coniecturalis des Nikolaus von Kues, Köln/Opladen 1956, 43). 11 Es geht mir im folgenden nicht darum, diese beiden Antworten von K. Flasch und K. Jacobi nun pauschal als verfehlt zu denunzieren, sondern darum, anhand dieser beiden Positionen das sachhaltige Problem des Cusanischen Koinzidenzgedankens zu exponieren. Ihr paradigmatischer Charakter für die nachstehenden Überlegungen besteht daher weder darin, daß jene beiden Antworten die einzig ›bedeutenden‹ Darstellungen des Cusanischen Koinzidenzbegriffes wären, noch darin, daß sie Extrempositionen vertreten, deren Vermittlung die nachstehenden Überlegungen sich dann zum interpretatorischen Ziel setzen könnten. Vielmehr gehen beide Arbeiten gleichermaßen vom problematischen Charakter des Cusanischen Koinzidenzgedankens aus, ziehen daraus jedoch unterschiedliche Konsequenzen, die für ein Verständnis der Koinzidenzgedankens nicht so leicht übergangen werden können. Zudem ist ein Vergleich von Flasch und Jacobi reizvoll, weil beide Autoren offenbar keine Notiz voneinander nehmen konnten. (Jacobis 1969 erschienene Arbeit war 1967, Flaschs 1973 publizierte Schrift 1968 abgeschlossen.) − Insbesondere Jacobis Cusanus-Deutung steht in der Kritik wegen ihrer schülerhaften, da unkritischen Aneignung der umstrittenen strukturontologischen Thesen, die sein Lehrer H. Rombach auch zu Cusanus vertreten hat. Vgl. dazu etwa M. Alvarez Gómez’ Rezension von Jacobi in: MFCG 8 (1970), 255−267; hier 266: Rombach komme bei Jacobi »über viele Seiten hinweg mehr zur Sprache […] als Cusanus selbst«. Benz, Individualität und Subjektivität (wie Anm. 2), 75; dort Anm. 133 bemüht sogar das Namenregister von Jacobis Buch, um festzustellen, daß dort »Rombach 42mal aufgeführt ist«. Diese Spielart akademischer Sippenhaft(ung) mag zwar ein bequemes Instrument für die Einschätzung einer ›Forschungsposition‹ abgeben (die man unschwer auch für Benz selbst abgeben könnte, sobald man in seinem Personenregister die Einträge zu seinen eigenen Lehrern R. Haubst, K. Kremer und J. Stallmach zu zählen beginnt). Eine ernsthafte Auseinandersetzung mit Jacobis Thesen zu Cusanus kann sich jedoch nicht nur auf seine durchaus kritikwürdigen, da pauschalen Aussagen über ›den‹ Thomismus, ›die‹ neuzeitliche Philosophie usw. beschränken. Daher ist auch mit der Auflistung von 17 Mängeln, wie sie Benz dann der Jacobi-Rezension von Alvarez Gómez entnimmt, kein endgültiges Urteil gesprochen. Vgl. dazu Benz, op. cit. 85 f.; dort Anm. 160.

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II. Nicolaus Cusanus

umschließt«.12 Diese Vieldeutigkeit von »Koinzidenz« vermag eine Interpretation »genetisch auszugleichen«, sofern sie Gründe für die immanente Weiterentwicklung dieses Begriffs anzuzeigen vermag.13 Mit »De coniecturis« setzt dementsprechend »kein radikaler Umbruch zu De docta ignorantia«, sondern »eine weiterführende Klärung der Koinzidenzlehre« ein.14 Hierbei scheinen vor allem zwei Momente die Weiterentwicklung des Koinzidenzgedankens zu bestimmen: (a) Einerseits verschärft Cusanus im Verlauf seines Denkens den Negationscharakter von Koinzidenz in einer Weise, daß der Koinzidenzgedanke sich zugleich negativ gegen sich selbst wendet, sich also selbst aufhebt: Koinzidenz schließt nicht nur jeden Gegensatz von Gott aus, sondern auch den Zusammenfall der Gegensätze selbst. Gottes absolute Einheit umfaßt dann nicht nur jede, auch kontradiktorische Form von Gegensätzlichkeit in einem kopulativen ›sowohl − als auch‹. Als diese ›kopulative Koinzidenz‹ der Gegensätze transzendiert die absolute Einheit zugleich die Koinzidenz oder den Zusammenfall selbst. Indem nämlich jede Form von Gegensatz ihren gegensätzlichen Charakter in Gott verliert, indem hier »der Begriff des Gegensatzes seines Sinnes beraubt wird« bzw. hier »nichts mehr ist, was zusammenfallen könnte«,15 ist jener kopulative Zusammenfall schon transzendiert. Sobald also im Koinzidenzgedanken die Gegensätzlichkeit der Gegensätze negiert wird, ist auch schon ihr Zusammenfall denkend überschritten. »Denn die Erkenntnis der Koinzidenz ist das Hinaussein über die Koinzidenz.«16 (b) Diese zunächst nur aporetisch anmutende Selbstaufhebung des Koinzidenzgedankens ist jedoch andererseits eine notwendige, »ja die entscheidende Phase«17 der Cusanischen Philosophie, da sie eine »entscheidende Ausweitung des Koinzidenzdenkens«18 zu einer universalen, also nicht mehr allein auf Theologie eingeschränkten

12 Flasch, Die Metaphysik des Einen (wie Anm. 9), 219. »Koinzidenz« kann nach Flasch meinen: (1.) das Proprium der absoluten Einheit Gottes; (2.) das Proprium des menschlichen Intellekts, wobei dann die absolute Einheit über der Koinzidenz zu stehen kommt; (3.) das Resultat, das aus der Verlängerung der innerweltlichen Gegensätze zu ihrem rein gedanklichen Extrem folgt; (4.) das Prinzip von Gegensätzlichkeit überhaupt, insofern in jedem empirisch vorkommenden Gegensatzglied die Anwesenheit des entsprechenden anderen Gliedes anzutreffen ist. 13 Flasch, Die Metaphysik des Einen (wie Anm. 9), 219. − Auch in seinem zweiten Cusanus-Buch sieht Flasch in der »Selbstkritik des Cusanus an der Koinzidenzlehre von De docta ignorantia […] eines der stärksten Argumente für eine genetische Betrachtung der Cusanischen Philosophie« (Flasch, Nikolaus von Kues [wie Anm. 3], 158). Freilich bleibt dies für Flasch nur ein Argument, da Cusanus mit »Neuerungen bis zuletzt« aufwarte. Vgl. ebd. 634 ff. 14 Flasch, Die Metaphysik des Einen (wie Anm. 9), 184. 15 Flasch, op. cit., 220. 16 Ebd., 220. – Vgl. auch ebd., 203: »Denn wo die Widersprüche gleichzeitig gedacht werden, da ist der sie Denkende und sein Inhalt über sie hinaus. Das gilt für die absolute Einheit ebenso wie für den, der sie denkt.« 17 Ebd., 220. 18 Flasch, Nikolaus von Kues (wie Anm. 3), 164.

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Betrachtungsweise mit sich bringt.19 Denken bringt sich im und als Koinzidenzdenken nicht einfach selbst zum Erliegen, indem es auf die Aufhebung aller Gegensätze angesichts von einem bestimmten ›Denkgegenstand‹ – nämlich Gott – hinarbeitet. Es führt also nicht zu einem bloßen ignoramus für diesen ›Gegenstand‹; vielmehr führt es sich, in einer Selbstreflexion oder Belehrung über sich selbst, in seinen Grund zurück, da »das Scheitern des endlichen Begriffs« – also auch eines klaren und distinkten Begriffs von Gott – »seinerseits gewußt, d. h. in Begriffen gewußt« wird.20 Cusanus wird sich damit immer mehr der grundlegenden Negativität der menschlichen Vernunft bewußt, die kontradiktorische Widersprüche nur denken kann, weil diese in der Vernunft immer schon aufgehoben, als Widersprüche negiert sind.21 Menschliche Vernunft hat also nur einen Zugang zu Gott, wenn sie sich auf ihren koinzidentalen, negativen Anfangsgrund besinnt. Insofern Koinzidenz ein negatives Verhältnis des Prinzips zu dem von ihn Gegründeten besagt − das Prinzip von Gegensätzlichkeit ist selbst nicht von Gegensätzen bestimmt, ebenso wie etwa das Prinzip des Warmen nicht warm ist22 −, so muß auch der menschliche Geist (mens humana) selbst eine Koinzidenz darstellen, also »über alle Gegensätze hinaus sein«, wenn »wir sinnvoll vom Zusammenfall der contraria und contradictoria in der unendlichen Einheit sprechen sollen«.23 Cusanus behält daher die Koinzidenz nicht allein Gott

Vor Flasch hat bereits Hans Blumenberg auf die positive Funktion der »Selbstaufhebung« angesichts des »cusanischen Kunstgriffs der coincidentia oppositorum« hingewiesen: »Vorstellung und Sprache reflektieren sich vom Grenzwert ihrer Selbstaufhebung her; aber dies ist nicht mehr ein Akt mittelalterlicher Demut, nicht mehr das sacrificium intellectus angesichts der Mysterien des Glaubens, sondern ein quasi-experimentelles Verfahren ständig neuer Erkundung der Grenze zur Transzendenz.« Der Koinzidenzgedanke bedeutet daher »nicht einen Wissensstatus, sondern eine Praxis, eine Methode, einen Weg zu einem bestimmten Verhalten. [Er zieht] die Anschauung in einen Prozeß hinein, in dem sie zunächst den sprachlichen Anweisungen zu folgen vermag, z. B. den Radius eines beliebigen Kreises zu verdoppeln und dann immer weiter vergrößert zu denken. Aber an einem bestimmten Punkt geht die Anweisung in das nicht mehr Vollziehbare über, z. B. den Radius des Kreises als den größtmöglichen bzw. als unendlichen zu denken, wobei die mit der Vergrößerung des Radius abnehmende Krümmung des Kreises sich der Geraden bis zur Identität nähert und damit Kreisradius und Kreisumfang zusammenfallen. Worauf es ankommt, ist, die Transzendenz als Grenze des theoretischen Vollzugs und eo ipso als Forderung heterogener Vollzugsmodi ›erfahrbar‹ zu machen« (Blumenberg, Aspekte der Epochenschwelle [wie Anm. 4], 42) Fast wortgleiche Formulierungen finden sich bereits in Blumenbergs »Paradigmen zu einer Metaphorologie«, in: Archiv für Begriffsgeschichte 6 (1960), 7–142; hier 132 ff. 20 Flasch, Die Metaphysik des Einen (wie Anm. 9), 231. 21 Entsprechend ist es für Flasch eine nur schwer zu widerlegende »Überlegung des Cusanus, die Widersprüche müßten auf dem Grund des Verstandes eins sein, bevor wir sie als unvereinbar auseinanderhalten. Noch um sie auseinanderhalten zu können, müssen wir sie mit der gemeinsamen Bestimmung ›Kontradiktorisch‹ qualifizieren, also vereinen« (ebd. 313). 22 Vgl. De ber. 28; n. 46,4−12 (h XI/1 53). 23 Flasch, Die Metaphysik des Einen (wie Anm. 9), 203. »Eine Koinzidenz«, so Flasch weiter, »nur als Privileg des actus purus könnte von uns weder gewußt noch ausgesprochen werden. Dies wußte 19

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vor, sondern entdeckt sie mit zunehmender Deutlichkeit und Bewußtheit auch als konstitutiv für das menschliche Denken selbst.24 Mit dieser Ausweitung des Koinzidenzgedankens, der gar nicht dem absoluten Einen als einem bestimmten ›Gegenstand‹ vorbehalten werden kann, sondern der auch den Ermöglichungsgrund für das menschliche Denken und all seine Inhalte – also auch für den Gottesgedanken – darstellen muß, steigt für Cusanus die Erkenntniszuversicht. Richtig – d. h. für Cusanus dann auch: durch den »Beryll« – besehen,25 ist die absolute Einheit nicht nur jenseits von allem, sondern zugleich in allem anzutreffen; sie ist unübersehbar, »gerade insofern, als von ihr affirmative und negative Aussagen zugleich gelten«.26 »Die Koinzidenz findet sich also in allem, nur bemerken wir sie nicht immer.«27 Gegenüber einer rein negativen Theologie, die das absolute Eine nur als den deus absconditus bzw. als das ganz Andere ausgrenzt, besteht daher die Koinzidenzlehre auf der Notwendigkeit, »das Zugleich von positiver und negativer Theologie begreiflich zu machen«.28 Allerdings scheint dann eben jene unhintergehbare Negativität des menschlichen Denkens auch der Grund dafür zu sein, daß Cusanus das absolute Eine immer wieder und bis zuletzt »über die methodisch erzielte Koinzidenz«29 hinausrückt, daß ihm also die Verwirklichung seines programmatischen Zieles − die koinzidentale Vereinigung von »Position und Negation in der philosophischen Gotteslehre« − »nicht recht« gelingt.30 Der Sache nach stellt die negative Theologie für Cusanus weiterhin das vorrangige und nicht, wie mit der Koinzidenzlehre beabsichtigt, ein integrales Moment seiner philosophischen Gotteslehre dar. Cusanus’ eigentümliches

Cusanus von Anfang an. Nur trat es deutlicher hervor mit der Entfaltung seiner Metaphysik der mens humana […]«. 24 Im Koinzidenzgedanken »findet« also »der Denkende erst sich selbst und erfaßt nun, daß er die Koinzidenz nur denken konnte, weil er selbst Koinzidenz ist. Was de facto der erste Schritt war, erweist sich systematisch gesehen als der zweite. Wer über seine Erkenntnis des unum als maximum pariter et minimum nachdenkt, erfaßt dann, daß er der absoluten Einheit nicht gegenübersteht, wenn er sie als das denkt, cui nihil opponitur. Er sieht, daß die sonst richtige Trennung von erkennendem Subjekt, wissenschaftlicher Methode und zu erkennendem Objekt irreführt« (Flasch, Die Metaphysik des Einen [wie Anm. 9], 223). 25 Auf die gleichnamige Schrift des Cusanus konzentriert sich Flasch in seinem dritten CusanusBuch: Nicolaus Cusanus, München 2001. 26 Flasch, Die Metaphysik des Einen (wie Anm. 9), 228. 27 Flasch, op. cit. 229. 28 Flasch, op. cit. 318. 29 Flasch, op. cit. 224. 30 Flasch, op. cit. 318. − Vgl. etwa auch ebd. 332: »Der Verstand ist als unitas uniens eine vorzügliche Repräsentation des Einen, aber dies erfaßt nur, […] wer sieht, wie weit der produktive Verstand von der Erfassung der Einen noch entfernt ist. Der Verstand ist der Widerspruch, kraft des Einen zu vereinen und doch nur durch die Ausschließung des Einen er selbst zu sein. Noch paradoxer: Er ist der Widerspruch, kraft jene[s] Widerspruchs die Region der Widerspruchsfreiheit zu konstituieren.«

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Schwanken in der Frage, ob nun das Eine die koinzidentale »Einheit von Einheit und Vielheit« oder eben »nichts als das Eine« jenseits dieser Koinzidenz ist,31 macht sich auch und vor allem dadurch bemerkbar, daß Cusanus sich nicht zu einer terminologischen Klarheit durchringen kann: »Koinzidenz« meint sowohl die völlige Gegensatzlosigkeit angesichts des absoluten Einen als auch die Kompatibilität der Gegensätze angesichts der Vernunft und ihrer Inhalte.32 Zwar liegt Absicht darin, diese Kompatibilität der Gegensätze in der menschlichen Vernunft »genauso zu beschreiben wie die ›Koinzidenz‹ in der unendlichen Einheit«.33 Denn Cusanus ist ja auch daran gelegen, die »Gemeinsamkeit« des menschlichen Geistes und der absoluten Einheit Gottes »in der Übergegenständlichkeit und Gegensatzüberlegenheit«34 herauszustreichen. Diese Gemeinsamkeit oder Kompatibilität von Gott und menschlicher Vernunft in ihrer »Gegensatzüberlegenheit« trifft gleichwohl nicht diejenige Gegensatzlosigkeit, wie sie nur Gott selbst als dem absolut Einen zukommt – ansonsten würde sich die Koinzidenz in die pantheistische Ununterscheidbarkeit von menschlicher Vernunft und Gott verflüchtigen. Cusanus’ sachlich gebotene Ausweitung der Koinzidenz vom Gottesgedanken auf das menschliche Denken reißt daher zugleich den Graben auf, den sie zu überbrücken sucht. Der Koinzidenzgedanke treibt aus sich eine Differenz von Gott und menschlicher Vernunft hervor, die »jenseits der gewöhnlichen Differenz von Identität und Differenz zu suchen«35 ist – und das kann wohl nur heißen: eine absolute Differenz Gottes, die auch nicht durch jene Identität oder Gemeinsamkeit von Gott und menschlicher Vernunft beeinträchtigt wird. Dieser absoluten Differenz Gottes »steht die Identität nicht gegenüber«, sie kann aber auch durch den Koinzidenzgedanken nicht mehr aufgefangen werden.36

Flasch, op. cit. 328. Flasch, op. cit. 225: »Um terminologisch Klarheit zu schaffen (die sich bei Cusanus nicht findet), könnte man den Terminus ›Koinzidenz‹ für die absolute Einheit reservieren (was Cusanus nicht getan hat); bei der Vernunft und ihren Inhalten hätte man von Kompatibilität der Gegensätze zu sprechen, während auf den niederen Stufen die Gegensätze in ›Konkurrenz‹ treten«. 33 Flasch, op. cit 227. 34 Ebd., 226. 35 Ebd., 227. 36 Ebd., 227. – Diese in seinem ersten Cusanus-Buch diagnostizierte systematische Spannung zwischen einer Koinzidenz von Gott und menschlicher Vernunft einerseits und der diese Koinzidenz transzendierenden Einheit Gottes andererseits nimmt in Flaschs nachfolgenden Cusanus-Studien keinen prominenten Platz mehr ein; dort konzentriert sich Flasch vornehmlich auf eine werkgenetische Analyse, die das Cusanische Denken als ein work in progress hervortreten lassen soll: »Denn sein [d. i. Cusanus’] Weg zur Leichtigkeit der schweren Dinge war gerade nicht ›leicht‹« (Flasch, Nikolaus von Kues [wie Anm. 3], 644). 31 32

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1.2 Koinzidenz und Kosmologie Während für Flasch das Programm und die Ausführung der Cusanischen Koinzidenzlehre in einer systematischen und letztlich auch ungelösten Spannung stehen, der Koinzidenzgedanke also den Vorrang der negativen Theologie de facto nicht einzudämmen vermag, wendet sich in der Deutung von Klaus Jacobi jene Selbstkorrektur des Cusanus in »De coniecturis« von vornherein gegen »das Grundproblem, das in der Koinzidenzformel liegt«. Insofern nämlich der Ineinsfall der Gegensätze für die absolute Einheit Gottes eigentümlich sein soll, ist diese absolute Einheit noch »aus der Dimension der Differenz heraus konzipiert […], auch wenn sie als deren ›Darüber-hinaus‹ benannt wird«.37 Der Koinzidenzgedanke ist demnach sachlich insofern ergänzungsbedürftig, als er allein nicht »die absolute Identität vor aller Differenz in sich selbst, in ihrem Absolutsein«38 einsichtig machen kann. Anders gesagt: Der Cusanische Koinzidenzgedanke ist aus einer aszendierenden Perspektive vom Geschaffenem her auf Gott hin entwickelt, so daß das »Wort ›Koinzidenz‹ und alle seine Weiterbildungen und nachträglichen Korrekturen […] nur die eine Perspektive der Cusanischen Philosophie bezeichnen, die Perspektive des transzendentalen Rückgangs von der Andersheit und Gegensätzlichkeit in deren Aufgehobensein in der ursprünglichen Einheit«.39 Der sachliche Mangel an dieser aszendierenden »Gangart« liegt nun für Jacobi offensichtlich darin, daß eine endliche Negation endlicher Gegensätze zwar diese Gegensätze überschreitet, indem sie ihren Zusammenfall oder ihr Aufgehobensein ›für‹ Gott denkt. Ein solchermaßen doppelt negativ, da in Abstoßung vom endlich Seienden konzipierter Ineinsfall reicht jedoch nicht an die absolute Identität von Gottes Sein heran, da »nur solches Sein negiert werden kann, das überhaupt der Negation zugänglich ist«.40 Dies ist aber das bestimmte, endliche Sein, in dem jene doppelte Negation dann auch befangen bleibt. Gottes absolute Identität hingegen liegt vor dem Gegensatz von Affirmation und Negation und damit über dem Ineinsfall

K. Jacobi, Die Methode der Cusanischen Philosophie, Freiburg/München 1969, 254. − Das sachliche »Ungenügen« des Koinzidenzgedankens formuliert Jacobi auch folgendermaßen: »Die Formel der ›coincidentia oppositorum‹ fordert zwar vom Denkenden den ›transcensus‹ über alle Gegensätze, aber das Ziel dieses ›transcensus‹ ist selbst noch im Vorblick von den Gegensätzen her benannt«; dementsprechend ist Cusanus »in der kurz nach ›De docta ingnorantia‹ entstandenen Schrift ›De coniecturis‹ […] bemüht, noch über den Ausdruck ›coincidentia oppositorum‹ hinauszugelangen« (ebd. 251; Hervorh. StG). 38 Jacobi, Die Methode (wie Anm. 37), 254. 39 Jacobi, Die Methode (wie Anm. 37), 254. »Die Apriorität der absoluten Einheit«, so Jacobi weiter, »wird zwar [von Cusanus] gesehen, aber die Umkehr des philosophischen Denkens, in welchem dieses sich und alles von dieser Apriorität her versteht, den absoluten Anfang also zum Anfang des Denkens macht, ist hier nicht vollzogen.« 40 Jacobi, Die Methode (wie Anm. 37), 156. 37

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der Gegensätze, so daß eine dem endlichen Bereich entsprungene und diesem Bereich verhaftete doppelte Negation nicht vor jenen Gegensatz gelangen kann. Da also die Negation endlicher Gegensätze, wie sie mit der Koinzidenzformel zum Ausdruck kommt, aus sich selbst heraus die Differenz zur absoluten Einheit Gottes nicht zu überschreiten vermag, ergänzt Cusanus seine Überlegungen um eine »deszendierende […] Perspektive, welche Gott zum Anfang der Philosophie zu machen und das Weltlich-Seiende von Gott her zu verstehen versucht«.41 In dieser Perspektive stellt denn auch die Verschiedenheit des endlich Seienden keinen falschen Ausgangspunkt für ein letztlich unerreichbares Ziel, für ihre Aufhebung in die absolute Einheit, dar. Vielmehr ist diese Verschiedenheit stets schon in die absolute Einheit zurückgebunden. Damit ist aber die »Gegensätzlichkeit des verschiedenen Seienden gegeneinander […] kein Negativum« mehr gegenüber der absoluten Identität Gottes, welches es aufzuheben gälte; vielmehr ist diese kreatürliche »Differenz [als] der Erscheinungsmodus der Identität, die Vielheit [als] Auseinanderfaltung der absoluten Einfaltung« zu begreifen.42 Differenz ist nicht einfach das Signum der Vielheit gegenüber der absoluten Einheit, sondern zugleich und zuvor deren Ausdrucksform. Je größer daher »die Vielfalt und Variationsbreite der einzelnen Seienden ist, desto deutlicher wird, was alles die Identität ohne jede Entgegensetzung in sich enthält«.43 So mag zwar der Koinzidenzgedanke, für sich allein genommen, nicht unmittelbar für die adäquate Fassung des Gottesgedankens hinreichen, da er nach dem Maß des Differenten gedacht ist: Die aszendierend-koinzidentale Aufhebung von Differentem erscheint angesichts des absoluten und uneingeschränkten Einen, das vor aller Differenz liegt, als eine nachträgliche Veranstaltung, die selbst noch in der Aufhebung von Gegensätzen der Negativität nicht entkommt, also den Stellenwert der Differenz verabsolutiert.44 Wohl aber sichert der Koinzidenzgedanke einer erforschenden Hinwendung zur Welt und zum Einzelseienden ihr regionales Eigenrecht, insofern er ihr erst erlaubt, das Einzelseiende unverkürzt, d. h. vor allem: seinen Bezug auf die Totalität oder allumfassende Einheit des Universums, zu denken. Im

41 Jacobi, op. cit. 258. − Nach Jacobi wäre es allerdings falsch, diese Ergänzung »als Meinungsänderung des Cusaners zu verstehen: beide Gangarten oder Perspektiven gehören in der cusanischen Philosophie notwendig zusammen« (ebd.). 42 Jacobi, op. cit. 257. Es sind dann nach Jacobi die Benennungen des Cusanus für Gott, wie etwa das im »Dialogus de genesi« entwickelte »idem ipsum«, die »über die Formel ›coincidentia oppositorum‹ der ›Docta ignorantia‹ hinaus[gehen], indem sie Gott in sich selbst zu bezeichnen versuch[en]« (ebd. 258). 43 Jacobi, op. cit. 257. 44 Im Sinne der »Einheit vor aller Differenz« kann Gott deshalb »nicht als Synthesis oder als − gewissermaßen nachträgliche − Einigung des Entgegengesetzten benannt werden. Der Ausdruck ›coincidentia contradictoriorum‹ erreicht nicht, was er selbst fordert, wenn er als Antwort auf unser Fragen, was Gott sei, aufgefaßt wird« (Jacobi, Die Methode [wie Anm. 37], 252).

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Lichte des Koinzidenzgedankens präsentiert sich jedes Einzelne als eine Konzentration des universalen Ganzen auf sich,45 so daß diese Form der Koinzidenz von Einzelnem und Universum dem Differenzcharakter des Einzelnen gerecht zu werden vermag: seiner Differenz als eingeschränkter Identität. Die Differenz, die das endliche Sein auszeichnet, »ist nicht die Differenz gegenüber der Identität, sondern die Differenzierung der Identität.«46 ›Innerweltlich‹ begegnendes Einzelnes ist dabei »nicht isoliert als in sich seiende Substanz«47 innerhalb eines Universums verstanden, sondern je als »das Ganze an einer Stelle des Ganzen«.48 Das Universum selbst ist die Einheit in der Vielheit des endlichen Seienden − also weder die Einheit außer oder neben der Vielheit der einzelnen Dinge noch die absolute, uneingeschränkte Einheit vor aller Vielheit.49 Und so gibt sich das Universum in seiner »Mittlerrolle«50 zwischen Gott und dem einzelnen Seienden zu erkennen: »Die absolute Einheit vor aller Vielheit, die absolute Identität erschafft nicht unmittelbar die Vielheit und Differenz, sondern die Einheit aller Vielheit, die Totalität. Diese ist ontologisch vor der Vielheit, ontisch aber nur in der Vielheit voneinander differenter Singularitäten.«51 Diese Art von Homogenisierung der ontologischen Struktur des Universums leitet nicht nur den forschenden Blick dazu an, das Einzelne im Lichte der universalen Einheit − in seiner jeweiligen Einschränkung (contractio) der universalen Einheit bzw. als koinzidentale Verschränkung von Identität und Differenz − zu sehen. Sie leitet zugleich dazu an, die Andersheit der einzelnen Dinge als ein relationales Sein ohne substantielles Eigenrecht zu sehen.52 Das meint keinen Aspektwechsel in der Vgl. Jacobi, Die Methode (wie Anm. 37), 276. Jacobi, op. cit. 274. 47 Ebd., 276. 48 Ebd., 276. Jacobi greift hier auf eine Formulierung zurück aus H. Rombach, Substanz, System, Struktur. Die Ontologie des Funktionalismus und der philosophische Hintergrund der modernen Wissenschaft, Freiburg/München 1965, I 231. Zustimmend zitiert auch von Th. Leinkauf, »Die Bestimmung des Einzelseienden durch die Begriffe contractio, singularitas und aequalitas bei Nicolaus Cusanus«, in: Archiv für Begriffsgeschichte 37 (1994), 180−211; hier 192. 49 Vgl. Jacobi, Die Methode (wie Anm. 37), 268: »Das Universum […] hat kein anderes außer und neben sich, an dem es begrenzt wäre«; sowie ebd., 273: Die Einheit des Universums ist »nicht die Einheit vor aller Vielheit − das ist Gott −, sondern Einheit aller Vielheit, ›contracta unitas‹.« Letztere Wendung ist eine Anspielung auf docta ign. I 2; n. 6 (h I 7,19). 50 Jacobi, Die Methode (wie Anm. 37), 276. 51 Jacobi, op. cit. 275. 52 Vgl. Jacobi, Die Methode (wie Anm. 37), 269: »Erst die im Lichte der Identitätsontologie entworfene Differenzontologie erkennt das Sein der Dinge als ›Sein von‹ (›abesse‹) und als ›Anderssein‹.« − Mit »abesse« spielt Jacobi auf sein Zitat aus docta ign. II 3; n. 110 (h I 71,18) an: eius [sc. rei creatae] esse est abesse. Vgl. Jacobi, Die Methode (wie Anm. 37), 262; dort Anm. 110. Geschaffenes Sein versteht sich in diesem Sinne als relationales substanz-loses Sein: als abesse. Tatsächlich lautet die Stelle in der Editio maior jedoch: eius esse est ab esse − also: ›das geschöpfliche Sein ist oder stammt vom – göttlichen – Sein‹. (In diesem Sinne hat die Pariser Ausgabe von 1514: eius esse est a maximi esse; vgl. p I, fol. XV r.) Bereits Wackerzapp hat das »ab esse« der Editio maior als »sinnentstellend« abgelehnt (vgl. ders., Der 45 46

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Betrachtung vom Besonderen weg und hin zum Allgemeinen, sondern ist als Aufforderung zu verstehen, im Einzelnen selbst als dem »Moment die Wahrheit des Ganzen aufzusuchen«.53 Solche Art der Konzentration auf das Einzelne, aber nicht Vereinzelte versteht sich als eine »Phänomenologie«, »als Sichtbarwerdung des Absoluten« dann und nur dann, »wenn sie Ontologie des Universums ist«.54 Nun geht zwar diese im Dienste einer »Phänomenologie« des Absoluten stehende Ontologie »über die unmittelbare Hinnahme dieses Faktisch-Seienden hinaus; sie thematisiert das Andere als Anderes, und sie thematisiert so das Nicht-Andere, ohne das das Andere nicht wäre, was es ist.«55 In den Blick dieser Ontologie kommt das absolute Nicht-Andere dabei allerdings »nicht als Gegenstand ihres Fragens − so aufgefaßt würde es nach dem Maß des Anderen gedacht −[,] sondern als Grund der Möglichkeit allen Fragens.«56 Der Koinzidenzgedanke reicht dann gerade eben noch hin für die Klärung des Stellenwertes des Einzelnen ›im‹ Universum. Cusanus’ selbstbewußte Rede von den »prius inaudita«57 bzw. den »supra philosophorum communem viam rara«58 betrifft dann in der Tat ausschließlich seine Kosmologie: Einheit − im geschaffenen, kosmischen Bereich − ist Andersheit.59 Diese ungenaue, da von Andersheit wesentlich bestimmte Einheit ist Signum der Vergleichbarkeit, Meßbarkeit, Verhältnismäßigkeit alles endlich Seienden − aber mehr auch nicht. Anders gesagt: Die universale Einheit der Vielheit ist der Ermöglichungsgrund für die ausnahmslose und durchgängige Meßbarkeit von allem, nicht aber für den einen Maßstab oder für die eine Hinsicht − z. B. für das maximale Maß der absolut bewegungsfreien Ruhe −, worauf sich alles beziehen ließe.60 Relationalität als einheitsstiftende Struktur des Universums hat in sich keinen Fixpunkt; Halt findet sie nur in einem ihr absolut transzendenten Fixpunkt: »Substantial in sich ist nur Gott, die absolute Identität vor und über aller Andersheit. Und nur dann ist das Seiende in sich, wenn es in seiner absoluten Wahrheit und Washeit, in Gott ist.«61 Wenn nun das

Einfluß Meister Eckharts auf die ersten philosophischen Schriften des Nikolaus von Kues, Münster 1962, 67 mit Anm. 92.). Mittlerweile liest die Editio minor ebenfalls: euis esse est abesse (H 15b, 28,9). 53 Jacobi, Die Methode (wie Anm. 37), 278. 54 Jacobi, op. cit. 278. 55 Ebd., 263. 56 Ebd., 263; Hervorh. StG. 57 docta ign. II 11; n. 156 (h I 99,15). 58 docta ign. III ep. auct.; n. 264 (h I 163,17). 59 Vgl. docta ign. II 4; n. 115 (h I 74,18 f.): identitas universi est in diversitate sicut unitas in pluralitate. 60 Vgl. Jacobi, Die Methode (wie Anm. 37), 290: »In dieser Struktur von Andersheit und Gegensätzlichkeit und Bezüglichkeit kann es unmöglich an irgendeiner Stelle einen Fixpunkt absoluter Art geben, sei es einen Punkt der ›genauen Gleichheit‹, sei es ein ›maximum‹ oder ein ›minimum simpliciter‹. […] In der Dimension der Andersheit kann es keine Stelle geben, an der die Andersheit einfach negiert ist.« 61 Jacobi, Die Methode (wie Anm. 37), 306.

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vergleichende Forschen innerhalb seines Gegenstandsbereiches Verzicht leistet auf eine Suche nach Gott als der »quiditas absoluta«, dann bedeutet dies nicht einfach einen selbstherrlichen Ausschluß »metaphysische[r] und theologische[r] Fragen«62 aus seinem Fragehorizont. Dieser Verzicht ist nicht minder von der Einsicht geprägt, daß die Bedingung für einen derartigen Ausschluß, ja für die Ausschließbarkeit überhaupt das Absolute selbst ist: Nicht die Verendlichung des Absoluten, sondern der Erhalt seines absoluten Charakters ist das Ziel Cusanischen Denkens.63 Daher reicht zwar der Koinzidenzgedanke in der aszendierenden Perspektive, von welcher seine Konzeption als Gottesbegriff bestimmt ist, nicht an die absolute Einheit vor aller Gegensätzlichkeit heran. In der deszendierenden Perspektive, die in »Docta ignorantia« im großen Ganzen vorherrscht,64 gewinnt der Koinzidenzgedanke gleichwohl für die Betrachtung des Einzelseienden an eigentümlichem Gewicht: »Wer erforschen will, wie Gott alles in allem ist und wie alles in Gott seine eigene absolute Wahrheit hat, muß seine Aufmerksamkeit auf die universale Ganzheit richten«.65 Daher ist es auch das 2. Buch der »Docta ignorantia«, in dem wie kaum in einem anderen Cusanischen Text der Koinzidenzgedanke auf das Universum Anwendung findet. Wir wohnen hier nicht der Geburt der exakten Naturwissenschaften aus dem Geist theologischer Spekulation bei, sondern der Verlagerung eines spekulativen Gedankens auf eine ihm gemäße − um nicht zu sagen: ihm gemäßere − Dimension.66 Ebd., 306. Vgl. ebd., 306: »Zwar ist spekulativ gesehen alles, was ist, Erscheinung Gottes; aber der Erscheinungssinn läßt sich nicht empirisch beobachten und nicht rational begreifen und feststellen. Gott ist der Sich-Offenbarende, er ist das Sein aller Erscheinungen, aber er ist nicht Phänomen. Nur wenn die rationale Funktionenwissenschaft als solche auf die metaphysische Wesensfrage verzichtet, wird der Raum frei für die intellektual-identitätsontologische Frage nach der ›quiditas absoluta‹.« 64 Vgl. Jacobi, op. cit. 258: »In ›Docta ignorantia‹ galt das I. Buch dem ›maximum absolutum‹, Gott, das II. Buch dem ›maximum contractum‹, dem Universum und seiner Innenstruktur. Es herrschte also dort […] insgesamt die deszendierende Gangart vor«. Daß das Universum in der Folge dann »lange Zeit keine Rolle im cusanischen Denken mehr [spielt,] […] hängt mit der Akzentverlagerung auf die aszendierende Perspektive im cusanischen Denken zusammen« (ebd. 266). 65 Jacobi, Die Methode (wie Anm. 37), 276. 66 Zwar betont Jacobi, daß innerhalb der »Dimension« des Endlich-Seienden »die rationale Forschung ganz und gar im Recht ist und […] sie nicht durch ein höheres intellektuales Wissen überholt werden kann« (Jacobi, Die Methode [wie Anm. 37], 268; im Original kursiv). Daraus folgt für Jacobi gleichwohl kein schlechthin unabhängiges Eigenrecht der ›rationalen‹ Forschung. Im Recht ist diese rationale Wissenschaft, nur solange sie darum weiß, »daß sie sich nicht selbst in dieses Recht eingesetzt hat« (ebd. 269). Deshalb entspricht die rationale, d. h. »die vergleichende, Proportionen aufweisende Forschung […] ihrem Objekt gerade dann, wenn sie weiß, daß sie die genaue Warhheit nicht erreicht; deshalb nämlich, weil ihr Objektbereich die Dimension des ›Mehr und Minder‹ ist, in der es ›genaue Übereinstimmung‹ [praecisa aequalitas: docta ign. II 1; n. 91;h I 61,10] nicht geben kann« (ebd. 268 f.). − Eben diese metaphysisch begründete Ungenauigkeit hatte bereits H. Blumenberg in seinem 1966 erstmals erschienenen Buch »Die Legitimität der Neuzeit« mit zum Ausgangspunkt für seine Ansicht gemacht, daß Cusanus »gerade als spekulativer Metaphysiker der astronomische Re62 63

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Diese Verlagerung erweist sich jedoch als in sich »ambivalent«67 und birgt daher die Gefahr in sich, daß sich in letzter Konsequenz eine funktional ausgerichtete, vergleichende Wissenschaft von ihrem spekulativen Fundament verselbständigen kann. Eine derartige Herauslösung der rational vorgehenden Funktionswissenschaft aus einer spekulativ begründenden Substanzmetaphysik begünstigt eine »unmetaphysische, eigenständige Wissenschaft«, die sich, »einmal etabliert, in sich selbst versteifen und isolieren [kann]. Es scheint, daß dieses Geschick dem Cusanischen Gedanken des Funktionalismus historisch weitgehend widerfahren ist.«68 Wenn Cusanus alle vergleichende Wissenschaft »als endliches Wissen der endlichen Erscheinungen und als Phänomenologie der Identitätsontologie zugehörig«69 begreift, verkehrt sich der Cusanische Ansatz in sein Gegenteil, sobald sich dieses endliche Wissen absolut setzt in der Überzeugung, »daß nicht ist, was wissenschaftlich nicht erforschbar ist«.70 Für Cusanus dagegen gilt nach Jacobi von Anfang an: »Funktionalität schließt Substantialität nicht aus, wenn der substantiale, absolute Sinn nicht in derselben Dimension wie der relative, funktionale Sinn gesucht wird.«71 former nicht einmal im Ansatz sein« kann (Blumenberg, Aspekte der Epochenschwelle [wie Anm. 4], 58). Insbesondere Cusanus’ »Stellarisierung der Erde« (ebd. 68) deutet, wie Blumenberg zeigt, nicht zwangsläufig darauf hin, daß Cusanus »die kopernikanische Wende als theoretisches Ereignis […] vorweggenommen«, geschweige denn »auch nur geahnt« habe (ebd. 32). Selbst noch Cusanus’ Überlegungen zur Erdrotation setzen »die Erklärungsleistung des aristotelisch-ptolemäischen Systems« (ebd. 60) nicht außer Kraft, sondern sind »Folgerungen aus metaphysischen Prämissen der [cusanischen] Kosmologie« (ebd.). Blumenberg löst hier einen Gedanken ein, der sich etwa auch bei O. Spengler als eher beiläufige Äußerung findet: »Der schon von Nicolaus Cusanus und Lionardo vorbereitete Gedanke, daß die Erde nur ein Stern unter Sternen sei, verträgt sich mit dem ptolemäischen System so gut wie mit dem kopernikanischen« (Spengler, Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte, München 1990, 93). Zum »Protagonisten einer wissenschaftsfreundlichen Wende im philosophischen und theologischen Denken«, zu dem ihn neuerdings A. Gierer wieder einmal stilisiert, läßt sich Cusanus wohl nicht machen. Vgl. A. Gierer, Eriugena, al-Kindi, Nikolaus von Kues – Protagonisten einer wissenschaftsfreundlichen Wende im philosophischen und theologischen Denken, Leipzig 1999, 43 ff. Zum Verhältnis von »Exaktheit und Mutmaßungscharakter der Erkenntnis« bei Cusanus vgl. auch den ausgewogenen Artikel gleichen Titels von H. Meinhardt in: Nikolaus von Kues. Einführung in sein philosophisches Denken, hg. von K. Jacobi, Freiburg/München 1979, 101−120. Zu diesem Problemkreis siehe auch den jüngst erschienenen Tagungsband: K. Reinhardt/H. Schwaetzer (Hgg.), Nikolaus von Kues − Vordenker moderner Naturwissenschaft?, Regensburg 2003 . 67 Jacobi, Die Methode (wie Anm. 37), 308. 68 Jacobi, op. cit. 307. 69 Ebd., 308; Hervorh. StG. 70 Ebd., 308. 71 Ebd., 308. − Allein schon dieses Schlußplädoyer Jacobis ist kaum vereinbar mit dem Diktum von Benz, der Cusanus-Forschung − und darunter zählt für Benz explizit auch Jacobi − gehe es »mit auffällig weiter Verbreitung und starker Intensität« um eine Auflösung »der cusanische[n] ›Weltontologie‹ […] in einen relativistischen Funktionalismus« (Benz, Individualität und Subjektivität [wie Anm. 2], 96 f.). In jüngster Zeit hat den Benz seinen holzschnittartigen Vorwurf wiederholt: »Heinrich Rombach und Klaus Jacobi vertreten diese Theorie der Ablehnung des Seinsbegriffes und eines für Cusanus’ Welt- und Wissenschaftsverständnis zentralen Funktionalismus« (Benz, »Nikolaus von

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1.3 Resümee Nach diesen beiden Deutungen fordert Cusanus dem Koinzidenzgedanken also zu viel bzw. zu wenig ab. Zu wenig, da Cusanus mit dem Koinzidenzbegriff zwar den methodischen Anspruch verbindet, die problematische Vormachtstellung der negativen Theologie und damit eine bloß negierende Ausgrenzung des absoluten Einen aus dem endlichen Bereich einschränken zu können: Die strikte Unbezogenheit des absoluten Einen kann angemessen erst gedacht werden, wenn diese Unbezogenheit des Einen mit seinem inner- und extratrinitarischen Selbstaufschluß koinzidiert. Die Koinzidenz von Unbezogenheit und Bezogenheit ›im‹ Einen ist der Ermöglichungsgrund seiner Denkbarkeit für ein endliches Wissen. Faktisch jedoch behält für Cusanus die negative Theologie den Vorrang, da Cusanus’ Ausweitung der Koinzidenzlehre auf das menschliche Denken am Koinzidenzgedanken das Mißverhältnis zwischen seinem anvisierten Inhalt − dem Einen − und seinem methodischen Verfahren offenlegt: »die Nicht-Identität des Einen mit dem Geist«.72 Der denkerisch dem Einen angemessene Gedanke der Koinzidenz von Unbezogenheit und Bezogenheit erweist sich als vorläufig angesichts des absolut Einen. Das menschliche Denken sieht sich im Verfahren der Koinzidenz dem Einen als dem Inhalt eben dieses Verfahrens nicht gewachsen. Der Cusanische Koinzidenzgedanke krankt also daran, »daß er das philosophische Prinzip der radikalen theologia negativa nicht radikal genug überwand«.73 Die letztlich ungebrochene Vorherrschaft der negativen Theologie »erzwingt [es], daß dieser Gedanke sich als vorläufig eingestehe,

Kues: Wegbereiter oder kritischer Interpret?« [wie Anm. 2], 373). Jacobi attestiert jedoch dem Cusanischen Denken geradezu Gegenteiliges: daß es spekulativ zusammendenkt, was, historisch gesehen, erst nach Cusanus auseinandertritt: den Substanzbegriff und den Funktionsbegriff. Cusanus ist in Jacobis Deutung nicht der Vorreiter eines relativistischen Funktionalismus, sondern eine der gewichtigsten Bastionen gegen diesen. Die Aktualität oder Neuzeitlichkeit des Cusaners liegt für Jacobi gerade in diesem vorneuzeitlichen ›Einspruch‹ gegen einen verabsolutierten Funktionalismus: »Die cusanische Theorie der zwei ontologischen Dimensionen birgt, wenn sie genau gedacht und streng durchgehalten wird, den Ansatz zur Lösung der in ihrer Folge aufgetretenen Probleme« (Jacobi, Die Methode [wie Anm. 37], 308). − Um es nochmals zu betonen: Mir geht es nicht um die ›Ehrenrettung‹ einer bestimmten Cusanus-Deutung, sondern um die Exposition eines Sachproblems anhand von Jacobis Deutung, also vor allem um die Frage nach der Geltung und dem Negationscharakter der Koinzidenz. Angesichts dieses Sachproblems erscheint mir die Anknüpfung an bestimmte, nicht von vornherein ›sympathische‹ − und d. h.: nicht bedingungslos rezipierbare − Cusanus-Deutungen erfolgversprechender zu sein als ein dezidiert antipathischer Reflex gegenüber einer summarisch vorgestellten ›Interpretationstendenz‹. Ein solcher Umgang mit der Deutungsgeschichte des Cusanus braucht diese dann nur noch unter dem Paradigma ›modernistisch − dem Selbstverständnis des Cusanus verpflichtet‹ zu rubrizieren, da Sachthemen wie die ›docta ignorantia‹ bzw. ›coincidentia oppositorum‹ für eine solche Perspektive »ohnehin bereits nahezu erschöpfend« behandelt sind (Benz, Individualität und Subjektivität [wie Anm. 2], 19 mit Anm. 57). 72 Flasch, Die Metaphysik des Einen (wie Anm. 9), 327. 73 Flasch, op. cit. 324 f.

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was er seiner Natur nicht sein kann, denn er sagt doch, daß die unendliche Einheit in sich selbst, nicht nur für uns bezüglich sei«.74 In der Deutung von Flasch verlangt also Cusanus dem Koinzidenzgedanken letztlich zu wenig ab, da dieser vor der Negativität einer Metaphysik des reinen, bezugslosen Einen kapituliert, obwohl er dies ›eigentlich‹ nicht müßte, ja gar nicht dürfte. ›Eigentlich‹ braucht also der Koinzidenzgedanke gar nicht vor den Behauptungen der negativen Theologie zu kapitulieren, da diese zwangsläufig in ein stillschweigend akzeptiertes Nebeneinander von negativer und positiver Theologie führen oder aber ins völlige Schweigen; »denn entweder sagt man nur so, daß die positiven Aussagen über das Unendliche nicht gelten, während man sie hinter dem Rücken doch festhält, oder man macht Ernst mit der Negation und hat dann wirklich nichts mehr in der Hand, so daß nicht die Negation wahrer wäre als die Position, sondern das Schweigen«.75 Dagegen sieht Cusanus nach Jacobis Darstellung spätestens in »De coniecturis« ein, daß er dem Koinzidenzgedanken zu viel abverlangt: Entgegen seiner ursprünglichen Intention kann der Koinzidenzgedanke das Eine nicht erfassen, da er aus einer endlich-negierenden Perspektive konzipiert ist. Für einen adäquaten Begriff des Einen vor und über allen Gegensätzen muß der Koinzidenzgedanke daher ergänzt werden um eine deszendierende Perspektive, die das Eine nicht bloß als die »Wurzel« in den Blick bekommt, auf die sich selbst noch kontradiktorische Gegensätze als ihrem gemeinsamen Ursprung zurückführen lassen, sondern als dasjenige, was als absolute Einfachheit vor dieser wurzelhaften Gleichursprünglichkeit der Gegensät-

Flasch, op. cit. 325. J. Hirschberger, »Das Prinzip der Inkommensurabilität bei Nikolaus von Kues«, in: MFCG 11 (1975), 39−54; hier 40 f. − Die in der negativen Theologie angezeigten philosophischen Sachprobleme sieht Flasch vor allem durch die neuplatonischen, und d. h. vor allem Plotinischen, Vorgaben bestimmt: »Plotins Problem liegt nicht darin, wie er den Pantheismus vermeiden kann, sondern darin, wie er mit der Unbezüglichkeit und Prädikatlosigkeit des Einen die Bestimmungen vereinen kann, die es auf die Welt beziehen und ohne die auch die Lehre von seiner Abgesondertheit sinnlos würde« (Flasch, Die Metaphysik des Einen [wie Anm. 9], 124). Einen »Zwiespalt zwischen Plotins tatsächlichem Vorgehen und seinem methodischen Programm« sieht nun Flasch vornehmlich darin, daß die relationalen Bestimmungen des Einen programmatisch »die Wahrheit über das Eine« sein sollen und faktisch doch nur »unsere vielheitlichen Zurechtlegungen« sein können: Letztere sind nur »Wahrheit für uns − und das, obwohl Plotin sonst klarstellt, daß Wahrheit immer nur Wahrheit der Sache an sich sein muß« (ebd. 125). Dies beschädigt letztlich »den strengen Anspruch des Denkens, das Denken des Wirklichen zu sein. Oder plotinnäher ausgedrückt: Das Denken ist zwar immer das der Wirklichkeit, aber nicht ebenso das der Überwirklichkeit, welche ἕν heißt« (ebd. 125). Nicht die Alternative zwischen der radikalen Unbezogenheit des Einen und seiner Relationalität ist also das Problem, das Plotin ungelöst hinterläßt, sondern »die Art der Verbindung beider« Theoriestücke: »Sie beruht auf einer schwer nachzuvollziehenden Distinktion von Sätzen, die über das Eine an sich, und von solchen, die über das Eine für uns gelten« (ebd. 127). Als weitere geschichtliche Stationen bei der Abarbeitung dieses Sachproblems bis hin zu Cusanus zieht Flasch Dionysios, Eriugena, Anselm und Eckhart heran. Vgl. dazu ebd. 133−152. 74 75

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ze liegt.76 Cusanus weitet also das Koinzidenzprinzip im Sinne einer Formel über das ›innere Sein Gottes‹ nicht einfach aus zu einem ›allgemeinen, das Sein überhaupt betreffenden Prinzip‹. Vielmehr wendet Cusanus das Koinzidenzprinzip auf ›das innere Sein Gottes‹ überhaupt nicht mehr an, sondern schränkt es auf ein ›allgemeines, das Sein überhaupt betreffendes Prinzip‹ ein.77 Im Koinzidenzdenken erkennen wir nicht Gott, wie er in sich ist, sondern erfassen intellectualiter den Grund der rational-vergleichend vorgehenden Wissenschaft. Obgleich sich also der Koinzidenzgedanke in der aszendierenden Perspektive nicht direkt fruchtbar machen läßt für ein Denken des absoluten Einen, so vermag er doch vorzudringen bis zu einer ursprünglichen Einheit der Vielheit, mit der sich dann eine durchgängige Struktur des Einzelnen adäquat erkennen läßt. Diese im Koinzidenzgedanken namhaft gemachte, strikte Trennung des Unendlichen vom Endlichen führt dazu, daß alles Endliche oder Einzelseiende »auf Einen Generalnenner«78 gebracht werden kann: Die Individualität der endlichen Erscheinungen beruht darauf, daß sie sich stets in gleichartiger, nie jedoch in genau gleicher Weise (praecise) zum Absoluten verhalten. Alles Endliche, Einzelne steht gleich − und das meint zunächst: gleichermaßen unendlich − weit vom Absoluten entfernt und damit gleichermaßen in keinem proportionalen Verhältnis zu ihm. Fundamentale Andersheit ist nicht nur das allumfassende Signum für den Bezug des Endlichen zum Absoluten, sondern auch für seinen Bezug untereinander. Der unendliche Abstand des Vielen vom absoluten Einen ermöglicht es, die Andersheit des Endlichen als eine durchgängig gleichwertige − und damit als eine innerhalb der einen Region des Universums vergleichbare − in den Blick zu bekommen.79 Meßbarkeit oder Vergleichbarkeit des Einzelnen meint keine Aufhebung oder Negation der Differenz auf Eines hin, sondern Sichtbarmachung der koinzidentalen Struktur des Einzelnen.

de deo absc. n. 10,9 f. (h IV 8): Nam non est radix contradictionis deus, sed est ipsa simplicitas ante omnem radicem. 77 Für diese Formulierungen vgl. J. Stallmach, »Das Absolute und die Dialektik bei Cusanus im Vergleich zu Hegel«, in: Nicolò Cusano agli inizi del mondo moderno, Firenze 1970, 241−255; 251, dort Anm. 52. in Auseinandersetzung mit J. Ritters bekanntem Forschungsbericht »Die Stellung des Nicolaus von Cues in der Philosophiegeschichte. Grundsätzliche Probleme der neueren CusanusForschung«, in: Deutsche Blätter für Philosophie 13 (1939/40), 111–155. – Anders als für Jacobi bildet für Stallmach die Koinzidenz »die Scheidewand zwischen dem Endlichen, in dem sich Gegensätze unaufhebbar gegenüberstehen, […] und dem Absoluten, das aller Entgegensetzung, aber auch noch dem Zusammenfall entrückt ist« (Stallmach, op. cit. 251). Koinzidenz hat demnach nur eine protreptische Funktion für den jenseits der Koinzidenz angesiedelten ›Gottesgedanken‹, nicht aber eine die Universalität der Welt aufschließende Funktion. 78 E. Hoffmann, Cusanus-Studien I: Das Universum des Nikolaus von Cues, Heidelberg 1930, 12. 79 Vgl. Jacobi, Die Methode (wie Anm. 37), 286: »Cusanus denkt die Gegensätzlichkeit der Seienden gegeneinander als allseitig-wechselseitige. Gegensätzlichkeit wird zum durchgängigen Seinscharakter all dessen, was in der Welt ist.« 76

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Im Akt des Vergleichens wird Einheit nur sichtbar in der Andersheit des jeweiligen Einzelnen. Auf ihr Ganzes gesehen unterscheiden sich die Dinge also gerade darin nicht, daß sie voneinander unterschieden sind. Die durchgängige Andersheit der Welt selbst wird daher als deren universale Einheit begreifbar.80 Wo aber Vielheit oder Differenz mit Einheit koinzidiert, Vielheit also universale Einheit ist und meint, da herrscht Relationalität. Anders gesagt: Relationalität als die Seinweise der Dinge ist ihre Einheit in der Vielheit ihrer Bezüge. Die Relation »bezeichnet nicht mehr etwas ›an‹ einem Seienden, sondern jedes Seiende ist überhaupt erst im Bezug«.81 Koinzidenz, wie sie im Einzelseienden anzutreffen ist, meint daher auch keine Zusammensetzung (compositio) eines substantialen Seins mit einem relationalen Nicht-Sein.82 Das endlich Seiende ist in dem, was es jeweils ist, nicht bloß ›auch noch‹ oder ›zugleich‹ als das Andere eines Anderen zu begreifen, sondern das, was das Seiende jeweils für sich ist, ist das Andere eines Anderen (alteri aliud).83 Vgl. auch Hoffmann, Das Universum (wie Anm. 78), 20: »Das immer ›Andere‹ (Welt) kann nur gedacht werden als das in dieser Andersheit immer Selbige«: als Universum. − Der universelle Charakter des Einzelnen liegt demnach nicht in seinem Ineinsfall mit dem All oder Universum: Eine solche aktuale Ununterscheidbarkeit des Einzelnen vom All höbe eben den Charakter seiner singularitas auf; »andernfalls könnte es nicht verschiedene Einzelne, sondern nur ein Seiendes geben« (Jacobi, Die Methode [wie Anm. 37], 296). Universell ist das Einzelne vielmehr aufgrund seiner Gleichheit mit ›allem Anderen‹, welches von singularitas geprägt ist − dies ermöglicht eben seine prinzipiell endlose Vergleichbarkeit. 81 Jacobi, Die Methode (wie Anm. 37), 276. 82 Vgl. docta ign. II 2; n. 100 (h I 66,11 f.): Nec tamen [creatura] potest esse ab esse et non-esse composita. 83 Vgl. etwa auch P. Kampits, »Substanz und Relation bei Nicolaus Cusanus«, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 30 (1976), 31−50; hier 46 f.: »Das, was etwas ist, wird nicht am Wesen und an den Eigenschaften abgelesen, am ›etwas‹ wird nicht ein Sein-in-sich und ein Sein-am-Anderen unterscheidbar, sondern es wird nur in der Relation zu Anderen […] zum ›id quod est‹.« Nach dieser Deutung ist Endlichseiendes nicht als in sich seiende Entität zu begreifen, »welche Differenz an ihr oder in ihrem Gefolge hat« (Beierwaltes, Identität und Differenz, Frankfurt a. M. 1980, 118). Die Identität des Einzelnen besteht vielmehr in seiner irreduziblen Andersheit, da sich im Einzelnen Identität und Differenz verschränken. Am Endlichseienden sind also nicht zwei verschiedene Aspekte – ein Identitäts- und in Folge dazu ein Differenz-Aspekt – auseinanderzuhalten, wonach ein jedes Seiende als ein jeweils mit sich Identisches auch noch den Aspekt an sich hat, ein jeweils Anderes gegenüber anderem Endlichen zu sein. Ansonsten fände die Selbstidentität des Einzelnen in seiner Andersheit gegenüber Anderem ihre extrinsische Grenze (›A ist nur A, indem es non-A von sich ausschließt‹). Differenz wäre ein nachgeordneter Aspekt am Einzelnen, der sich im Vergleichen aufheben ließe. Vergleichen (comparatio) wäre nurmehr Angleichen (assimilatio), d. h. Aufhebung der nachgeordneten Differenz oder Andersheit in eine übergeordnete Einheit (z. B. in Form der Aufhebung der nachgeordenten differentia specifica ins Genus). Es käme immer nur auf den höheren Aspekt an, in dem sich zunächst Divergentes vereinen ließe. Damit wäre aber der Vergleichbarkeit des Endlichen bereits innerhalb des kosmischen Bereichs ein Ende gesetzt – zumindest unter dem einheitlichen Aspekt, daß alles Endliche innerhalb des Universums als pluritas in unitate angesiedelt ist. Stellt aber Differenz eine inrinisische und nicht-reduzierbare Größe des Endlichen dar, dann besteht alles Vergleichen gerade in der Sichtbarmachung dieser Differenz. Die unabschließbare, d. h. ›schlecht‹ oder 80

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Cusanus sucht also den Koinzidenzbegriff zunächst dort zu verankern, wo er eigentlich nicht hingehört: in der Dimension der substantialen Einheit Gottes vor allen Gegensätzen. Sobald Cusanus dieses »Ungenügen« einsieht, macht er aus der Not dieser Einsicht eine Tugend − die Tugend einer Philosophie, die dem Einzelnen und der forschenden Hinwendung zu ihm ein regionales Eigenrecht einräumt. Damit aber auch dieses Eigenrecht in seiner regionalen Beschränktheit eingesehen werden kann, muß der von einer aszendierenden Gangart geprägte Koinzidenzgedanke in methodischer Hinsicht selbst noch koinzidieren mit einer deszendierenden Gangart, die Gott über den Ineinsfall der Gegensätze erhebt. Demnach scheint der Cusanische Koinzidenzbegriff mit einer Differenz belastet zu sein, die zwischen seinem Gegenstand und seinem methodischen Anspruch waltet. Der methodische Aspekt zeigt sich hierbei offenbar als das weitertreibende Moment in der Koinzidenzlehre, und zwar nach zwei Seiten: in Richtung einer Geistmetaphysik und in Richtung einer Erkenntnis des universalen Charakters des Einzelnen. Im letzteren Fall beschränkt sich Koinzidenz als Methode auf den endlichen Bereich als den ihr gemäßen Bereich, indem hier Koinzidenz als Verfahren zu ihren Gegenständen auf gleicher Augenhöhe steht; im ersteren Fall sucht Koinzidenz als Methode ihren eigentlichen Gegenstand − das Absolute − adäquat, d. h. geistphilosophisch, einzuholen. Koinzidenz als die Spiegelung des unendlichen Einen im Endlichen hat dann nicht so sehr im Universum ihren Ort, sondern im menschlichen Geist (mens).84 2. Negation und Ineinsfall der Gegensätze Die von Cusanus wiederholt vorgetragene »regula doctae ignorantiae« − daß es nämlich ›zwischen‹ dem Unendlichen und Endlichen kein proportionales Verhältnis gibt85 − spräche demnach nicht bloß von zwei gesonderten Gegenständen der Er-

privativ unendliche Vergleichbarkeit des Endlichen beruht auf der Gleichursprünglichkeit oder Koinzidenz von Identität und Differenz ›im‹ Endlichen. Je mehr etwas gemessen wird, also mit anderem verglichen wird, desto mehr zeigt es sich als »das, was es ist«: in seiner Andersheit. In diesem Sinne ist das Andere tatsächlich ›nichts anderes als das Andere‹; die Andersheit ist seine Identität. Der Umstand, daß mit dieser Vergleichung und Messung nie die präzise »quiditas« des Einzelnen erreicht wird, bildet für den Cusanischen Idiota dann einen »Anreiz zur Präzisierung« des Messens, bei der durchaus ein »Erkenntnisfortschritt« zu verzeichnen ist (Flasch, Nikolaus von Kues [wie Anm. 3], 323). 84 Vgl. dazu Flasch, Die Metaphysik des Einen (wie Anm. 9), 167. 85 Vgl. docta ign. I 3; n. 9 (h I 8,20 f.). Ausdrücklich als »regula« apostrophiert wird dieser Satz in: de ven. sap. 26; n. 79,1−3 (h XII 76). Desweiteren vgl. etwa: docta ign. II 2; n. 102 (h I 67,10 f.). apol. doct. ign. n. 27 (h II 18,26 f.); ebd. n. 47 (h II 32,7 f.). de fil. dei 4; n. 72,31 f. (h IV 54). de vis. dei 23; n. 101,7 f. (h VI 79). de pace fidei I; n. 5,2 (h VII 7). ep. ad Ioannem de Segobia (h VII 98,10 f.). compl. theol. n. 13,14−16 (h X/2a 76). de princ. n. 38,9 f. (h X/2b 53). Sermo III n. 11,9 f. (h XVI 48). Sermo IV n. 34,39 f. (h XVI 71). Sermo XXII n. 32,5 f. (h XVI 351).

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kenntnis: einerseits vom Unendlichen, das dem menschlichen, endlichen Geist schlichtweg verschlossen bleibt, andererseits vom Endlichen, auf das sich unser Geist dann mit um so verzweifelterer Hartnäckigkeit beschränkt. Denn Cusanus behauptet offensichtlich mehr: Das Unendliche als solches ist unerkennbar, weil es sich allen proportional faßbaren Verhältnisbestimmungen entzieht (aufugit): »infinitum ut infinitum, cum omnem proportionem aufugiat, ignotum est.«86 Das Unendliche als ein Erkenntnisgegenstand beschert daher gerade nicht einen ›jener gelegentlichen Mißerfolge‹, die dem menschlichen Denken in seinem Streben nach Erkenntnis unvermeidlich unterlaufen, wenn es in unverhältnismäßiger oder disproportionaler Weise etwas wissen will, worüber es unter den gegebenen Umständen kein Wissen erlangen kann.87 Bereits diese Einsicht in die Unerkennbarkeit des Unendlichen verkörpert deshalb eine »docta ignorantia«: Die »regula« gibt Auskunft über die Verfaßtheit des Unerkennbarkeit und ineins damit über den Grund dieser Unerkennbarkeit. Das Unendliche kennt in sich keine Proportion und ist daher auch nicht vermittels einer Proportion ›von außen‹ zugänglich, ist in diesem Sinne also auch kein wissbarer Gegenstand. Cusanus’ »regula« beschränkt sich bewußt auf die wissbaren Gegenstände, indem sie sich zugleich darüber bewußt ist, daß die Methode der vergleichenden Verhältnisbestimmung (comparativa proportio) eben nur diesen Gegenständen adäquat ist. Der »belehrten Unwissenheit« vom Unendlichen tritt ein »belehrtes Wissen« vom Endlichen gegenüber. Wir haben es hier mit einer Vorgehensweise zu tun, die sich methodisch im Klaren darüber ist, bei welchen Gegenständen sie eine comparativa docta ign. I 1; n. 3 (h I 6,1 f.). Vgl. docta ign. I 1; n. 2 (h I 5,6–10): »Ein gelegentlicher Mißerfolg ist dem Zufall zuzuschreiben, wenn z. B. eine Erkrankung den Geschmack oder eine vorgefaßte Meinung das Denken irreleitet« (Übs. nach H 15a, 7). Mißerfolg bei einem natürlichen Streben stellt sich demnach ein, wenn aufgrund bestimmter Umstände (etwa bei einer Verschnupfung) das Streben und das angestrebte Ziel (im Beispiel: das Schmecken von etwas) in einer Unverhältnismäßigkeit oder Disproportion zueinander stehen. Stünde das Streben des Endlichen nach einem Wissen vom Unendlichen und das Unendliche selbst in einer solchen Disproportion, dann wären nur die gegebenen Umstände – gewissermaßen die Verschnupfung des endlichen Intellekts als dessen natürliches Handicap – zu beklagen, über deren Herkunft man keine weiter begründbare Auskunft geben könnte. − Auch noch in seiner späten Schrift über die »Jagd nach Weisheit« (und dort auf dem Feld der »docta ignorantia«) wird Cusanus es gerade als das natürliche, wesensmäßige Verlangen (naturale desiderium) bezeichnen, wenn der Intellekt Gott so zu denken verlangt, daß dieser jeden Begriff und alle Wissbarkeit übersteigt: Mira res! Intellectus scire desiderat; non tamen hoc naturale desiderium eius ad sciendum quiditatem dei sui est sibi conatum, sed ad sciendum deum suum tam magnum, quod magnitudinis eius nullus est finis; hinc omni conceptu et scibili maior. Non enim contentaretur de se ipso intellectus, si similitudo foret tam parvi et imperfecti creatoris, qui maior esse posset et perfectior (de ven. sap. 12; n. 32,10−15; h XII 32 f.). Daß Gott ›nicht gedacht‹ werden kann, ist demnach für Cusanus kein fideistisches Axiom, das mit der natürlich gegebenen Schwäche und Begrenztheit des menschlichen Intellekts hadert, sondern reflektierter Ausdruck davon, daß Gott erst als Undenkbarer auch gedacht wird und der Intellekt sich selbst eben dies auch schuldig ist, von Gott ›so groß zu denken‹. Siehe dazu auch die nächste Anm. 86 87

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proportio zur Anwendung bringen kann und bei welchen nicht. Daß also die Cusanische »regula« nicht bloß negativ über die Grenze des Wissens und des Wissbaren, sondern auch positiv über den Charakter dieses Wissens und Wissbaren befindet, hängt offensichtlich damit zusammen, daß Cusanus für die Bestimmung des Verhältnisses von Gott und Geschaffenem vom Begriff der proportio ausgeht: Die Verneinung einer Proportion von Unendlichem und Endlichem sagt daher nicht nur etwas über diese beiden, a-proportionalen ›Glieder‹ − z. B. ihre Unvergleichbarkeit, ihre absolute Geschiedenheit voneinander − aus, sondern sie sagt auch etwas über den Relationscharakter dieser A-Proportion.88

2.1 Koinzidenz und Proportion »Proportio« besagt nun für Cusanus zunächst Übereinstimmung angesichts eines bestimmten Einen und ineins damit Andersheit: »proportio […] convenientiam in aliquo uno simul et alteritatem [dicit]«.89 Gemeint ist damit wohl nicht »Überein-

88 Dagegen geht etwa H. Schwaetzer davon aus, daß die Cusanische Regel − »ex se manifestum est inifiniti ad finitum proportionem non esse« (docta ign. I 3; n. 9; h I 8,20 f.) − meint, »die Disproportionalität [!] des Unendlichen zum Endlichen sei evident« (Schwaetzer, Aequalitas. Erkenntnistheoretische und soziale Implikationen eines christologischen Begriffs bei Nikolaus von Kues. Eine Studie zu seiner Schrift De aequalitate, Hildesheim [u. a.] 2000, 37). Schwaetzer versteht dabei unter ›Evidenz‹ anscheinend so etwas wie ›keiner weiteren Reflexion mehr bedürftig oder zugänglich‹, da er fortfährt: »Dieser Satz [über die ›Disproportionalität‹] ist insofern von Bedeutung, als die Unerkennbarkeit des letzten Ursprungs auf eine gleichfalls unerkennbare Voraussetzung zurückgeführt wird. Denn die Evidenz des Axioms ist bereits ein Glauben, kein Wissen« (ebd.; Hervorh. StG). Cusanus scheint aber mit seiner »regula« gerade das Gegenteil zu intendieren: Sie konstatiert nicht bloß die nicht weiter reflektierbare und eben ›gläubig‹ hinzunehmende ›Evidenz‹, daß das unerkennbare Unendliche unter den gegebenen, endlichen Umständen eben nicht erkennbar ist, sondern sie zeigt in ihrer Rede von der A-Proportionalität auch an, wie und warum etwas gewußt bzw. nicht gewußt wird. Cusanus’ »regula« hat daher auch keinen ›axiomatischen‹ Charakter, der die Unerkennbarkeit Gottes zu einer Evidenz im Sinne einer unerkennbaren Voraussetzung zurechtzimmert, sondern ist reflektierter Ausdruck auch des Wissens im Nicht-Wissen von Gott. 89 docta ign. I 1; n.3 (h I 6,2 f.). – Zum Cusanischen Proportionsbegriff vgl. die monographische Darstellung von W. Schulze, Zahl, Proportion, Analogie. Eine Untersuchung zur Metaphysik und Wissenschaftshaltung des Nikolaus von Kues, Münster 1978. Schulzes Ausführungen scheinen mir jedoch wenig Erhellendes »zum Proportionsbegriff bei Cusanus« (ebd. 24; Hervorh. StG) beizutragen, da er den proportio-Begriff vorzugsweise als äquivalent zur Analogie behandelt, obwohl er mehrfach betont, daß Cusanus »bewußt das Wort analogia« (ebd. 7) vermeide bzw. »dem Wort analogia […] tunlichst aus dem Wege« (ebd. 35) gehe. Wenn er zudem feststellt, »daß proportio und analogia nicht dasselbe sind, der Bogen bei analogia vielmehr weiter gespannt ist« (ebd. 39), so macht er damit selbst die Crux seines methodischen Ansatzes bei der Analogie namhaft. Überspitzt gesagt, ist Schulzes methodischer Ansatz bei der Analogie weniger der Problemlage bei Cusanus verpflichtet als einer damals aktuellen Diskussion, die insbesondere zwischen R. Haubst und J. Hirschberger um den Status der analogia entis bei Cusanus geführt wurde. Vgl. dazu etwa R. Haubst, »Nikolaus von Kues und die Analogia entis«, in: Die Metaphysik im Mittelalter. Ihr Ursprung und ihre Bedeutung, hg. von P.

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stimmung in einem Punkt (in aliquo uno) und zugleich Verschiedenheit« − in einem anderen Punkt.90 Vielmehr faßt Cusanus die Einheit eines »aliquod unum« relational, genauer: als Relation von proportionaler Art. Ein proportionales Verhältnis besagt aber nicht einfach, daß zwischen Dingen eine Übereinstimmung in mehreren Punkten oder Hinsichten herrscht, die von Andersheit in anderen Punkten oder Hinsichten begleitet wird. Dies träfe genausogut auf eine Ähnlichkeitsbeziehung zu. Vielmehr kommt in einer proportionalen Relationsform die Übereinstimmung nur als oder in Andersheit zum Vorschein: Andersheit läßt sich hier nicht reduzieren oder ausklammern. Daher läßt sich ein proportionales Verhältnis nicht steigern, läßt sich etwas nicht noch ›proportionaler‹ machen in seinem Verhältnis zu Anderem, so wie dies etwa bei einer Ähnlichkeitsbeziehung der Fall sein kann. Hier kann etwas einem Anderen immer ähnlicher werden bzw. es ähnelt einem Anderen mehr als einem Dritten − es gibt hier also ein jeweiliges Mehr und Weniger an Hinsichten der Übereinstimmung.91 Wilpert, Berlin 1963, 686–695; sowie J. Hirschberger, »Das Prinzip der Inkommensurabilität bei Nikolaus von Kues« (wie Anm. 75). Siehe dazu etwa auch Jacobi, Die Methode (wie Anm. 37), 214 ff. 90 So die Übersetzung in H 15a, 9. − Dupré übersetzt m. E. etwas deutlicher: »die Verhältnisbeziehung [besagt] in einem bestimmten Punkt zugleich Übereinstimmung und Anderssein« (Dupré I, 197). 91 Cusanus spricht im unmittelbaren Zusammenhang mit der A-Porportionalität des Unendlichen und Endlichen auch von der Ähnlichkeitsbeziehung, die eben ein graduelles Mehr oder Weniger an Übereinstimmung und Andersheit zuläßt: Et quoniam aequalitatem reperimus gradualem, ut unum aequalius uni sit quam alteri secundum convenientiam et differentiam genericam, specificam, localem, influentialem, temporalem cum similibus: patet non posse aut duo aut plura adeo similia et aequalia reperiri, quin adhuc in infinitum similiora esse possint (docta ign. I 3; n. 9; h I 9,3−8). Daß Cusanus hier von einer ins Unendliche steigerbaren Ähnlichkeit spricht, hat seinen Grund, so scheint mir, darin, daß für Cusanus die Ähnlichkeitsbeziehungen unter dem Endlichseienden in der Proportionalität alles Endlichen fundiert sind: Die temporale Übereinstimmung zweier Entitäten kann zwar immer noch Andersheit unter dem anderen, weiteren Gesichtspunkt ihrer generischen spezifischen, numerischen, lokalen Andersheit meinen. Jedoch verhalten sich Genus, Spezies und Numerus per se nicht proportional zueinander, sondern stehen eher in einem graduellen Verhältnis von Bestimmtheit. Vorderhand ist daher nicht einzusehen, warum nicht irgend einmal ein ausreichender Grad der Ähnlichkeit zweier Entitäten erreicht werden sollte, an dem die anderen Aspekte der Unähnlichkeit nicht mehr ins Gewicht fallen, weil es eben ›bloß andere‹ Aspekte sind. Solch ein ausreichender Ähnlichkeitsgrad ist jedoch von vornherein ausgeschlossen, wenn die Einheit eines endlichen Etwas von proportionaler Natur ist, d. h. als irreduzible Andersheit in der Übereinstimmung gefaßt wird. Exakte Gleichheit (aequalitas praecisa) als Ähnlichkeit in allen Hinsichten kann es hier nicht geben aufgrund der proportionalen Verfaßtheit alles Endlichen. Ansonsten würde gelten: »Vom Mehr oder Weniger her gedacht, in dem das Vergleichen sich hält, stellt sich die Gleichheit als das Maximum der Angleichung dar. Das Maximum […] wird also aus dem im Mehr oder Weniger sich bewegenden vergleichenden Begriff gewonnen« (K. H. Volkmann-Schluck, Nicolaus Cusanus. Die Philosophie im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit, Frankfurt a. M. 1947, 12). – Erst auf diesem Hintergrund scheint der Begriff der ›exakten‹ − und nicht bloß einer zur Bestimmung von ›x‹ ausreichenden − Gleichheit bzw. die Unmöglichkeit derselben sein besonderes Gewicht zu bekommen. Exaktheit (praecisio) ist ebensowenig ein methodisches Ideal für die Bestimmung des Endlichen, wie die faktische Unmöglichkeit von Exaktheit innerhalb des Endlichen eine »Resignationsformel« (Blumenberg) darstellt. Exaktheit ist vielmehr eine Kategorie, die für das Verhältnis des Unendlichen zum Endlichen bestim-

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Cusanus geht es also offensichtlich um den relationalen Charakter einer proportio. Proportion als Relationsform meint ein koinzidentales Zugleich von Übereinstimmung und Andersheit: ungenaue Gleichheit, deren Ungenauigkeit nicht graduell, etwa durch präzisere Näherungswerte, eingrenzbar ist, sondern strukturell unaufhebbar ist. (Gemeint ist also nicht: Zwischen zwei verglichenen Endlichseidenen gibt es eine Relation der Übereinstimmung in einem oder mehreren Punkten und daneben eine Relation der Andersheit, die als Störfaktor genaue Übereinstimmung in allen Hinsichten ›noch‹ verhindert oder einschränkt.) Die Einheit alles Endlichen liegt aber nun darin, daß es ein dieser proportionalen Relationsform unterworfenes Relatum ist. Nur im proportionalen Vergleich werden die Dinge sichtbar und auch gewußt, und zwar nicht ›direkt‹ oder genau (praecise) als sie selbst, sondern als das jeweils Andere eines mit ihnen übereinstimmenden Anderen. Die Einheit des Endlichen liegt daher auch nicht im Nebeneinander von Selbstidentität, der genauen Übereinstimmung oder der Gleichheit mit sich selbst und von Differenz zu Anderem. Nicht worin etwas mit sich selbst und anderem übereinkommt, ist das Entscheidende an der Proportion, sondern, daß eben dieses ›Worin‹ der Übereinstimmung zugleich Andersheit ist und zu verstehen gibt. Das Größer- und Kleiner-Sein (maius−minus bzw. excedens−excessum) als die Seinweise des Endlichen meint dann: Das Endliche ist nie genau es selbst, gerade weil seine proportionale Vergleichbarkeit mit anderem Endlichen – seine Andersheit in der Übereinstimmung – irreduzibel ist. Wäre diese Andersheit in der Übereinstimmung aufhebbar in ein Maximum an übereinstimmenden Gesichtspunkten, käme dies einem Minimum an divergenten Hinsichten gleich. Ein so gedachtes maximal Übereinstimmendes wäre nicht mehr der Vergleichbarkeit zugänglich, ja nicht einmal mehr in seiner Übereinstimmung qualifizierbar: Die Vergleichbarkeit wäre an einem bestimmten Punkt negiert zugunsten einer Ununterscheidbarkeit (indiscernibilitas) des Verglichenen. Alles Endlichseiende käme letztlich bloß noch darin überein, eben ein solches Endliches zu sein, dessen Andersheit in anderen, eher akzidentellen Hinsichten marginalisiert oder minimalisiert werden könnte. Cusanus’ Maxime lautet daher nicht, »daß im genauen Sinne nichts vergleichbar ist«.92 ›Vergleichbarkeit‹ hat für ihn vielmehr den genauen Sinn, daß sie ungenaue Gleichheit, d. h. Andersheit in der Übereinstimmung, zum Vorschein kommen läßt. Eben deshalb ist für Cusanus alles Endliche vergleichbar − mehr aber auch nicht: Es läßt sich eben nur vergleichen. Der Sinn und Zweck des Vergleichens und Messens liegt nicht in der Aufhebung von Ungenauigkeit, sondern in der Herausstellung der Ungenauigkeit oder Andersheit der Dinge, in der sie für den menschlichen Geist das sind, was sie

mend ist. Cusanus begreift denn auch das Verhältnis von Gott und Geschaffenem nicht als eines der unähnlichen Ähnlichkeit, sondern als eines der A-Proportion oder Exaktheit. 92 Flasch, Nikolaus von Kues (wie Anm. 3), 108.

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sind. Im Akt des Vergleichens kommt nicht eine grundlegende Einheit des Verglichenen zum Vorschein, die hinter der augenfälligen Andersheit der Dinge versteckt wäre, sondern die Einheit des Endlichen in seiner irreduziblen Andersheit.93

93 Daher erfüllt sich etwa auch der Zweck der Cusanischen »Versuche mit der Waage«, also die bessere Bestimmung des Gewogenen, in der zahlenmäßigen Erfassung der Differenz des Gemessenen. Es geht nicht um die durchgängige Transformation aller Qualitäten oder Washeiten in quantifizierbare, womöglich noch an einem Maßstab messbare Größen, sondern um die indirekte Bestimmung dieser Qualitäten anhand ihrer jeweils quantifizierbaren Differenz; wiegbar und messbar sind allein die jeweils bestimmbaren Unterschiede in der Qualität. Es trifft daher zu, »daß Cusanus nie direkt die Qualitäten, sondern in erster Linie die Qualitätsunterschiede (differentiae) untersuchen will. Sie allein glaubt er zahlenmäßig erfassen zu können und zu müssen, denn die Sinne trügen. Die Waage soll ihm als Instrument dienen, diese Täuschung durch die Sinne zu überwinden, weil sie besonders gut Qualitätsunterschiede in Zahlen wiederzugeben gestattet« (F. Nagel, Nicolaus Cusanus und die Entstehung der exakten Wissenschaften, Münster 1984, 84). Und so ist für den Idiota etwa auch der Lebensgeist (spiritus) in dem, was er ist, nur in der Differenz von ›lebendig‹ und ›tot‹, also nur anhand der Differenz der Meßwerte zugänglich, die am lebendigen und dann am toten Körper erhoben werden (vgl. de stat. exper. n. 183,12−17; h V 234). Gemessen wird letztlich nur, was an den Gegensätzen, z. B. von ›krank‹ − ›gesund‹, ›langsam‹ − ›schnell‹ usw., zum Vorschein kommt. Die Quantifizierbarkeit ist Mittel zum Zweck der Offenlegung der Qualitätsunterschiede. Im Vordergrund des Interesses bei den »Versuchen mit der Waage« steht also nicht die einheitliche Quantifizierbarkeit von allem und jedem, die ihrem begeisterten Furor freien Lauf läßt und über ihr Ziel hinausschießt, weil ihr die »Beschränkung […] auf tatsächlich quantifizierbare Phänomene« (Nagel, op. cit., 84 f.) abhanden gekommen ist. Gerade die vielfältigen und teilweise phantastischen Erwägungen des Idiota, was einer Messung unterworfen werden könnte, signalisieren daher nicht den »prinzipiellen Mangel«, daß Cusanus nicht »auf den Gedanken kommt, eine Maßeinheit festzulegen«, und es daher »immer nur bei ad hoc zu bestimmenden relativen Messungen« bleibt (A. Zimmermann, »›Belehrte Unwissenheit‹ als Ziel der Naturforschung«, in: Nikolaus von Kues. Einführung in sein philosophisches Denken, hg. von K. Jacobi, Freiburg/München 1979, 121–137; hier 136). In der quantifizierenden Messung durch den menschlichen Geist wird vielmehr der durchgängige, aber nicht einheitlich darstellbare proportio-Charakter des Endlichen offengelegt. Der zunächst bloß naiv anmutende Optimismus des Idiota in Sachen einer durchgängigen Meßbarkeit ist daher auch nicht bloß einem »bestimmten Stand der Technik« des Wiegens (Flasch, op. cit. 328) geschuldet, sondern entspringt dem Cusanischen Begriff der proportio, wie ihn bereits »De docta ignorantia« entwickelt: Wie die Erde für Cusanus kein proportional erfaßbarer Teil innerhalb des Universums ist, der absolut an einer genau bestimmten Stelle lokalisierbar wäre, so gilt dies auch für die Teile eines Lebewesen. Und so ist zwar ›die‹ Hand als solche kein direkt quantifizierbarer Bestandteil ›des‹ Menschen, wohl aber steht ihr jeweiliges Gewicht zum jeweiligen Gesamtgewicht des menschlichen Körpers in einem proportionalen, messbaren Verhältnis: Neque est terra pars proportionalis seu aliquota mundi. Nam cum mundus non habeat nec maximum nec minimum, neque habet medium neque partes aliquotas, sicut nec homo nec animal; nam manus non est pars aliquota hominis, licet pondus eius ad corpus videatur proportionem habere (docta ign. II 12; n. 164; h I 104,21−105,2). Für das Hand-Beispiel siehe auch ebd. n. 170 (h I 108,1−4). Ich kann daher auch nicht sehen, daß die Schrift über die Versuche mit der Waage »wie ein erratischer Block in der cusanischen Landschaft« (Flasch, op. cit. 318) bzw. »vereinzelt im Ganzen der Werkes des Cusaners« (ebd. 325) steht. Vgl. auch Flasch, Nikolaus von Kues in seiner Zeit. Ein Essay, Stuttgart 2004, 51: »[D]ie Schrift über die Naturforschung [= De staticis experimentis] steht im Werk des Cusanus eher isoliert.« Für eine integrative Deutung von »De staticis experimentis« plädiert neuerdings auch H. Schwaetzer, »Die intellektuelle Anschauung als methodisches Prinzip einer naturwissenschaftlichen ›scientia aenigmatica‹. Anmerkungen zur Konzeption von Wissenschaft bei Cusanus und Prolegomena eines systematischen Bezugs zum Deutschen Idealismus«, in: MFCG 29 (2005), 247−261; hier 248 ff.

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Innerhalb dieses vergleichenden, den proportionalen Verhältnissen nachgehenden Forschens verschränken sich Endlichkeit und Unendlichkeit in charakteristischer Weise. In proportionale Beziehung gesetzt werden kann immer nur Endliches − dies aber in unendlicher Weise und Mannigfaltigkeit. Und so ist etwa die aufsteigende Reihe der natürlichen Zahlen für Cusanus ins privativ Unendliche fortsetzbar, da man immer nur zu einer momentan, d. h. während des Zählvorgangs (ascensus in numeris), größten Zahl gelangen kann, ja gelangen muß. Beim Zählen schreitet man von einer finiten Zahl zur nächsten finiten Zahl fort, die die momentan größte Zahl ist und mithin als die aktuell größte Zahl im Zählvorgang erreicht wird. Diese mag zwar momentan die aktuell größte Zahl innerhalb der Zahlenreihe sein. Sie ist aber nicht die schlechthin größte Zahl, angesichts von der es keine größere Zahl mehr gibt und mit der die Zahlenreihe ihren tatsächlichen Abschluß fände: Si igitur ascendendo in numeris devenitur actu ad maximum, quoniam finitus est numerus: non devenitur ad maximum, quo maior esse non possit, quoniam hic [sc. numerus] foret infinitus.94 Diese schlechthin größte Zahl wäre ebenso unendlich oder indiskret als Zahl (numerus infinitus), wie die aufsteigende Reihe der natürlichen Zahlen endlich, begrenzbar wäre − beides für Cusanus ein Ding der Unmöglichkeit.95 Die im momentanen Zählen aktuelle Begrenztheit des Aufstiegs bzw. die Abfolge distinkter Zahlenwerte geht einher mit der potentiellen Unbegrenztheit der aufsteigenden Reihe der Zahlen: Quare manifestum est ascensum numeri esse finitum actu et illum [sc. numerum] in potentia fore ad alium [sc. numerum].96 docta ign.; I 5 n. 13 (h I 12,9−12). − Für »De docta ignorantia« trifft daher wohl kaum zu, daß Cusanus hier, »solange er sich mit der Zahl beschäftigt, nicht in der Lage [ist], weiter zu kommen als zu der Einsicht, daß man ›nicht ins Unendliche weitergehen kann‹« (I. Bocken, »Die Zahl als Grundlage der Bedeutung bei Nikolaus von Kues«, in: MFCG 29 [2005], 201−220; hier 210). Cusanus behauptet an dieser Stelle vielmehr, daß ein aktuelles Maximum mit dem momentan höchsten diskreten Zahlenwert erreichbar ist, nicht aber, daß die aufsteigende Zahlenreihe aktuell mit einem schlechthinnigen numerus infinitus abschließbar wäre. Einen parallelen Gedanken, und zwar im Zusammenhang mit der »regula«, formuliert etwa auch docta ign. I 3; n. 9 (h I 8,21−9,1): est et ex hoc [sc. ex regula doctae ignorantiae] clarissimum, quod, ubi est reperire excedens et excessum, non deveniri ad maximum simpliciter, cum excedentia et excessa finita sint. Vgl. etwa auch de mente 9; n. 119,10−12 (h V 174): Sic etiam mentis consideratione multitudo non habet finem, quae tamen actu terminata est; ebd. 15 n. 157,5 (h V 213): Neque aliquis numerus potest mentis numerandi virtutem evacare. 95 Käme man innerhalb der Zahlenreihe tatsächlich auf eine letzte, unendliche Zahl, so würden in diesem numerus infinitus der distinkte Wert aller Zahlen ununterscheidbar: Binarius enim non esset minor centenario in numero infinito, si per ascensum ad ipsum [numerum infinitum] actu possit deveniri, sicut nec linea infinita ex infinitis bipedalibus esset minor linea infinita ex infinitis quadrupedalibus lineis (docta ign. II 1; n. 96; h I 64,7−10). 96 docta ign. I 5; n. 13 (h I 12,12 f.). − Für die Unbegrenztheit der aufsteigenden Zahlenreihe vgl. etwa auch De dato patris lum. n. 105,5 f. (h IV 78): [numerus] non habet finem, cum sit non dabilis numerus, ultra quem alius dabilis non existat (Hervorh. StG); de coni. I 10; n. 50,8 f. (h III 52): Nam 94

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Die aktuelle Begrenztheit oder Diskretheit der Zahlen und die potentiell unendliche Überbietbarkeit der Zahlenwerte innerhalb der aufsteigenden Reihe der natürlichen Zahlen spiegelt die Verschränkung von Wirklichkeit und Möglichkeit wieder: Die aktuelle Begrenztheit oder Diskretheit der endlichen, natürlichen Zahlen iteriert sich potentiell unendlich in den verschiedenen Zahlenwerten. Die Gleichheit oder Übereinstimmung aller natürlichen Zahlen als Zahlen kommt damit nur in der irreduziblen Verschiedenheit ihrer Zahlenwerte zum Vorschein: in der Einzahl der Eins genauso wie in der Zweizahl der Zwei, der Dreizahl der Drei usw. Das proportionale Verhältnis stellt sich in der aufsteigenden Zahlenreihe dar als die unabschließbare Iteration diskreter Zahlen. Die Unabschließbarkeit dieser Iteration ist der irreduziblen Andersheit des jeweiligen Zahlenwertes geschuldet. Die gleichmäßige Iteration beruht hingegen auf der Diskretheit der natürlichen Zahlen, durch die sie sich allesamt und gleichermaßen als ganze, natürliche Zahlen präsentieren.97 Daß nun die Einheit sowohl die Diskretheit als auch die gleichmäßig-proportionale Iteration der natürlichen Zahlen ermöglicht, verdeutlicht Cusanus anhand des Abstiegs (descensus) in der Reihe der natürlichen Zahlen, bei dem, zunächst merkwürdig genug, nun doch tatsächlich ein Minimum erreicht werden kann.98 Denn si quocumque dato numero dabilis est maior, simul scitur nullum numerum infinitum atque nullum datum [numerum] maximum (Hervorh. StG). Weder kann demnach eine Zahl als Zahl unendlich oder indiskret sein (»nullum numerum infinitum«), noch ist die Zahlenreihe abschließbar mit einer auffindbaren größten Zahl (»nullum datum numerum maximum«). Siehe auch unten Anm. 121. 97 Die Iteration einheitlicher, diskreter Zahlen ist daher Signum für die Macht (potentia) oder Kraft (virtus) der absoluten Einheit, die sich in keinem noch so großen Zahlenwert erschöpft bzw. zur Ruhe kommt: Nullus enim est numerus, in quo unitatis potentia quiescat (de coni. I 5; n. 18; h III 23,2 f.). Gleichwohl ist die Unabschließbarkeit der Zahlenreihe nicht in demselben Sinn unendlich wie absolute Einheit, da sich die aufsteigende Zahlenreihe, für sich genommen, in die schlechte Unendlichkeit verliert, sie insofern unausgeschöpfte Möglichkeit (possibilitas fluctuans: docta ign. I 11; n. 31; h I 22,24) bleibt. Daß aber auf eine bestimmte Zahl unentwegt (absque statu) eine weitere Zahl folgen kann, die Zahlenreihe sich also nicht einfach ins unbestimmt Unendliche verflüchtigt, liegt an der unerschöpflichen Kraft des Einen allein (unius potentia inexhauribilis): Cum itaque omni dabili numero per unitatis virtutem maior [numerus] absque statu haberi possit, per solius unius potentiam inexhauribilem constat omnipotentem eam esse (de coni. I 5; n. 18,3−6; h III 23 f.). Auch angesichts der Zahlenreihe gilt von der absoluten Einheit, daß sie alles ist, was sie sein kann, und zugleich alles ist, was sein kann: omne id, quod esse potest (docta ign. I 4; n. 11; h I 10,12). Für die Rekurrenz dieser Formulierung im Cusanischen Werk siehe comp. n. 45,7 (h XI/3 34) sowie die beigegebene Anmerkung. Zur Deutung dieser Formulierung siehe den bekannten Aufsatz von P. Wilpert, »Das Problem der coincidentia oppositorum in der Philosophie des Nikolaus von Cues«, in: Humanismus, Mystik und Kunst in der Welt des Mittelalters, hg. von J. Koch, Leiden/Köln 1953, 39–55. Kritisch dazu etwa Flasch; Die Metaphysik des Einen (wie Anm. 9) 168 ff.; sowie ders., Nikolaus von Kues (wie Anm. 3), 523 f. Siehe auch St. Meier-Oeser, »Potentia vs. Possibilitas? Posse! Zur cusanischen Konzeption der Möglichkeit«, in: Potentialität und Possibilität. Modalaussagen in der Geschichte der Metaphysik, hg. von Th. Buchheim (u. a.), Stuttgart/Bad Cannstatt 2001, 237−253; hier 242 f. 98 Eine potentiell ins Unendliche fortsetzbare Reihe ganzer negativer Zahlen kommt für Cusanus offensichtlich nicht in Betracht. Wie es scheint, hätte jedoch die Annahme einer solchen unendlichen Fortsetzbarkeit das Cusanus hier beschäftigende Problem nicht tangiert. Wie sich gleich noch zeigen

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anders als bei der sich ins Unendliche fortsetzenden aufsteigenden Zahlenreihe ist es für Cusanus undenkbar, daß ein beliebig kleiner Zahlenwert (quicumque parvus numerus)99 durch einen noch kleineren Zahlenwert immer weiter unterboten werden kann. Wenn es nämlich tatsächlich bei der absteigenden Reihe der natürlichen Zahlen einen immer noch kleineren Zahlenwert gäbe – so wie es bei der aufsteigenden Zahlenreihe einen immer noch größeren Zahlenwert geben kann –, dann »bleibt«, so Cusanus, »immer noch dasselbe Problem bestehen« (adhuc idem).100 Dieses Problem besteht nun für Cusanus offensichtlich darin, daß eine bloß ins potentiell Unendliche fortgehende Abfolge von Zahlenwerten den Zahlcharakter (der natürlichen Zahlen) nicht verständlich machen kann. Eine sich ins Unendliche fortsetzende Zahlenreihe allein garantiert weder eine »discretio« an den Dingen noch, bei den Zahlen selbst, einen »ordo«, eine »pluralitas«, ein proportionales »excedens et excessum« − geschweige denn ihren Zahlcharakter als solchen.101 Für die Diskretheit der natürlichen Zahlen, mit der ihr Zahlencharakter steht und fällt, bedarf es also mehr als einer Reihe ständig unterschiedlicher Zahlenwerte, welche sich potentiell ins Unendliche fortsetzen läßt. Anders: Die bloße Verschiedenheit der Zahlenwerte würde sich ins Unbestimmte verflüchtigen, wenn es keinen Bezugspunkt gäbe, der diese Verschiedenheit als eine proportionale verständlich macht. Es geht hier also um einen Bezugspunkt, der nicht nur die jeweilige Einheit der Zahlen jenseits ihrer verschiedenen Wertigkeit (als Drei, Vier oder Zehn) zu fassen vermag, sondern auch und vor allem die Verschiedenheit der Zahlenwerte als deren Einheit.102 Der gesuchte Bezugspunkt muß also von der Art sein, daß er die unendliche soll, läßt sich die Diskretheit und der »ordo« einer Reihe von Zahlen für Cusanus nicht vermittels ihrer potentiell unendlichen Fortsetzbarkeit begreifen. 99 Vgl. docta ign. I 5; n. 13 (h I 12,14). 100 docta ign. I 5; n. 13 (h I 12,13−16): Et si in descensu pariter se numerus haberet, ut dato quocumque parvo numero actu, quod tunc per subtractionem semper dabilis esset minor [numerus] sicut in ascensu per additionem maior [numerus semper dabilis est], − adhuc idem. Die stark verkürzte Satzklausel »adhuc idem« übersetzt die Editio minor in freier Ergänzung mit: »… (dann) hätten wir dieselbe Konsequenz wie vorher bei der Annahme einer unendlichen Zahl« (H 15a, 21). 101 docta ign. I 5; n. 13 (h I 12,16−18): quoniam nulla rerum discretio foret, neque ordo neque pluralitas neque excedens et excessum in numeris reperiretur, immo non esset numerus. 102 So bilden etwa auch ein Tier und ein Sandhaufen jenseits ihrer Verschiedenheit eine jeweilige Einheit − allerdings ohne daß diese beiden Einheiten vorweg in einem proportionalen Verhältnis zueinander stünden, ohne daß also ihre Verschiedenheit als einheitliche fassbar wäre. Vielmehr ist bereits der Aspekt ihrer jeweiligen Einheit in sich differenziert (organische Einheit vs. Konglomerat). Dies aber läßt sich von den Gliedern einer Proportion nicht sagen: daß ein Glied eine höhere oder intensivere Form von Einheit besitzt als das andere. Werden daher das Tier und der Sandhaufen in ein proportionales und mithin meßbares Verhältnis zueinander gesetzt, so zeigt sich in ihrer gewichtsmäßigen oder größenmäßigen Verschiedenheit nicht auch noch eine höhere Einheit, sondern ihre irreduzible Verschiedenheit als Einheit. Die Zahl Drei als Zahl weist daher auch keine geringere Intensität an Einheitlichkeit auf als die Zahl Eins: Die Zahl Drei als Zahl ist nicht einfach nur eine Akkumulation von mehreren ›Einsen‹. Vgl. dazu etwa de coni. I 2; n. 8,8−13 (h III 13): Sed numerus »ex se compositus« est; ternarius enim ex tribus combinatis compositus concipi debet. Alioquin ternarius

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Fortsetzbarkeit der Zahlenreihe gerade nicht aufhebt oder negiert; zugleich aber muß er der Garant dafür sein, daß sich das unendliche Fortschreiten der Zahlenreihe nicht einfach ins Unbestimmte verläuft.103 Und so folgert Cusanus: »necessarium est in numero ad minimum deveniri, quo minus esse nequit, uti est unitas«.104 Einheit im Sinne dieses unhintergehbaren Minimums ist das grundlegende Moment für die Diskretheit der natürlichen Zahlen und für das unendliche Fortschreiten von zahlenmäßigen Einheiten. Einheit als dieses schlechthin Kleinste (minimum simpliciter)105 ist daher auch keine Zahl mehr;106 sie steht demnach auch nicht in einer Proportion innerhalb der natürlichen Zahlenreihe, sondern ist Grund (principium) der proportionalen Zahlenverhältnisse. Wenn sich aber Einheit als absolutes Minimum a-proportional zur natürlichen Zahlenreihe verhält, dann heißt dies, daß das Verhältnis dieser Einheit gegenüber den bestimmten Zahlenwerten (der Eins, der Zwei, der Drei usw.) kein Mehr und Weniger kennt: Diese Einheit ist und wird auch nicht größer oder kleiner angesichts von einem bestimmten Zahlenwert. Demnach bleibt diese Einheit genau sie selbst, sie ist nicht zu vervielfältigen (multiplicabilis)107 − auch nicht ›innerhalb‹ der Reihe verschiedener Zahlenwerte. Sie steht daher auch in keinem Gegensatz zur Zahlenreihe, welche als etwas Anderes gegenüber ihr selbst zu begreifen wäre: »Est igitur unitas absoluta, cui nihil opponitur, ipsa absoluta maximitas, quae est Deus benedictus.«108 Gerade der Umstand, daß die Einheit im Sinne des Ursprungs (principium) − und nicht bloß des Anfangs − der Zahlenreihe nicht zu vervielfältigen ist, deutet darauf hin, daß Cusanus hier unter der Einheit als dem unhintergehbaren Minimum nicht

non magis esset, quam si seorsum parietem, seorsum tectum fundamentumque domus fingeres et formam domus concipere velles. Oportet igitur non seorsum, sed composite simul ipsum [sc. ternarium] imaginari, nec tunc aliud erit trium combinatio quam ternarius. 103 Genau dieses Problem, daß ein unhintergehbarer maximaler bzw. minimaler ›Ruhepunkt‹ innerhalb einer Größenordnung nicht erreichbar ist und daß sich dabei gleichwohl nicht alles ins Unbestimmte verlieren darf, scheint mir auch der folgende Satz auszusprechen: Igitur omne dabile maius est minimo et minus maximo, absque eo quod hic processus currat in infinitum (de coni. I 10; n. 50,14 f.; h III 53). Die Übersetzung der Editio minor trifft daher wohl kaum den Sinn des hier Gesagten: »So ist alles, was es geben kann, größer als das Kleinste und kleiner als das Größte, aber ohne daß dieses Fortschreiten ins Unendliche weiterliefe« (H 17, 57). Sehr wohl ist für Cusanus bei proportionalen Größen, so etwa bei der Zahlenreihe, »ein Fortschreiten ins Unendliche« möglich – es ist geradezu deren Signum. Gleichwohl darf sich ein derartiges Fortschreiten (hic processus) nicht ins Unbestimmte verlaufen (absque eo quod currat in infinitum). 104 docta ign. I 5; n. 13 (h I 12,19 f.). 105 docta ign. I 5; n. 13 (h I 12,21). 106 docta ign. I 5; n. 14 (h I 12,23−25): Non potest autem unitas numerus esse, quoniam numerus excedens admittens nequaquam simpliciter minimum nec maximum esse potest; sed est principium omnis numeri, quia minimum. Und nochmals ebd. (h I 12,28): Non potest igitur ipsa [unitas] numerus fieri. 107 docta ign. I 5; n. 14 (h I 12,27). 108 docta ign. I 5; n. 14 (h I 12,25 f.).

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die Zahl Eins versteht, sondern die absolute Einheit Gottes.109 Die Zahl Eins hingegen ist nicht absolutes Minimum jenseits der Zahlenreihe, sondern aktuelles Minimum innerhalb der natürlichen Zahlenreihe, so daß die Verschiedenwertigkeit der Zahlen durch die Addition der Zahl Eins bedingt ist.110 Die Einheit einer Zahl als Zahl besteht dagegen nicht in der Akkumulation des bestimmten Zahlenwertes ›Eins‹. Im Beispiel gesprochen: Die 132758-malige Addition der Zahl Eins ist noch nicht die Zahl 132758; diese Addition drückt vielmehr den Zahlenwert von 132758 aus.111 Dadurch aber, daß die absolute Einheit gegenüber einem jeden Zahlenwert kein Mehr und Weniger kennt, sich also genau gleich verhält, ist sie das genaueste Urbild (praecissimum exemplar) einer jeden Zahl. Aufgrund ihres absolut präzisen, a-proportionalen Verhältnisses gegenüber jedem bestimmten Zahlenwert (forma numeSo schon J. Ritter, Docta ignorantia. Die Theorie des Nichtwissens bei Nicolaus Cusanus, Leipzig/Berlin 1927, 51: »Daß hier nicht die Eins als Zahlwert gemeint ist, sondern die ›monas‹, die in allen Zahlen jenseits von aller endlichen, d. h. relativen Setzung die Zahleinheit ausmacht, ist klar, wenn auch die Eins als aktualer Anfang der Zahlenreihe diesen Begriff der Einsheit ausspricht, indem mit ihr die Zählung überhaupt erst gesetzt ist.« Auch Hösle bemerkt zurecht, daß »für Cusanus nur natürliche Zahlen, die größer als eins sind, Zahlen sind: Die Monas ist für Cusanus keine Zahl, in ihr manifestiert sich die ontologische Kategorie der Einheit […]› auf nicht zahlhafte Weise‹« (V. Hösle, »Platonismus und Antiplatonismus in Nicolaus Cusanus’ Philosophie der Mathematik«, in: ders., Philosophiegeschichte und objektiver Idealismus, München 1996, 101−128; hier 109). 110 Vgl. dazu etwa de sap. I; n. 5,13−20 (h V 9 f.): Idiota: […] Per quae autem discretio? Nonne per unum numeratur? Orator: Quomodo? Idiota: Nonne unum est unum semel, et duo est unum bis, et tria unum ter, et sic deinceps? Orator: Ita est. Idiota: Per unum igitur fit omnis numerus? Orator: Ita videtur. 111 Zum Cusanischen Beispiel der Zahlenreihe bemerkt dagegen J. E. Hofmann in seiner »Einführung« zu H 11, XVII: »Als kleinstmögliche Zahl muß die Eins angesehen werden; denn sie läßt sich nicht weiter vermindern. Daher ist sie die schlechthin kleinste unter den Zahlen und muß mit der größtmöglichen Zahl, die als unendliche nicht benannt werden kann, zusammenfallen. Sie ist Ursprung aller Zahlen, aber noch nicht selbst Zahl« (Hervorh. StG). − Jenes Beispiel veranlaßt auch G. von Bredow dazu, vom absoluten Minimum ein quantitatives Minimum abzusetzen, »von dem aus sich ein Kontinuum spannt bis hin zum quantitativen Maximum«. Von eben diesem quantitativen Minimum − also von der Zahl Eins und nicht von der absoluten Einheit − sei dann auch im Cusanischen Beispiel die Rede: »Die Eins ist die kleinstmögliche Zahl; als Zahl gesehen steht sie am Anfang als Minimum. Weil die Eins aber in Wahrheit Prinzip von Zahl überhaupt und insofern selbst nicht Zahl ist, sondern Einheit schlechthin, ist sie eigentlich Maximum. Es ist freilich etwas verwirrend, wie Nikolaus hier gleich zur absoluten Größtheit ›absoluta maximitas, quae est Deus benedictus‹ springt« (»Die Bedeutung des Minimum in der Coincidentia oppositorum«, in: dies., Im Gespräch mit Nikolaus von Kues. Gesammelte Aufsätze 1948–1993, hg. von H. Schnarr, Münster 1995, 41−49; hier 46). Nicht einzusehen ist allerdings, inwiefern die Zahl Eins als der Anfang der Reihe natürlicher Zahlen, d. h. als das quantitative Minimum innerhalb einer Skala, wie sie jene Zahlenreihe darstellt, zugleich ein Mimimum darstellen soll, das als ein der Zahlenreihe enthobenes »Prinzip von Zahl überhaupt« fungieren und dann auch noch »Einheit schlechthin« oder »eigentlich Maximum« sein kann. Cusanus kommt es hier jedoch gerade darauf an zu zeigen, daß und wie dieses transzendente Eine zugleich innerhalb der potentiell unendlichen Zahlenreihe für jede Zahl deren Diskretheit ermöglicht und d. h.: ihren Charakter als (natürliche) Zahl konstituiert. Vgl. etwa auch de coni. I 5; n. 17,9−11 (h III 22): Unitas quidem – gemeint ist hier die divina unitas – nec binarius [numerus] nec ternarius est atque ita deinceps, quamvis omnia ea sit, quae sunt ternarius, quaternarius et reliqui numeri. 109

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rorum), z. B. gegenüber der Zwei (dualitas) oder der Zehn (denaritas), ist die absolute Einheit − und zwar von diesem Zahlenwert aus betrachtet! − nicht größer oder kleiner als eben dieser Zahlenwert: Deinde si hic [= qui se elevat altissimo intellectu super omnem oppositionem] ad formam numerorum se converteret, dualitatem aut denaritatem considerando, et reverteretur tunc ad vim actualem unitatis, ipse videret formam illam, quae ponitur esse vis actualis unitatis, praecissimum exemplar dualitatis, sic etiam denaritatis et alterius cuiuscumque numeri numerabilis. Hoc enim ageret infinitas formae illius, quae vis dicitur unitatis, quod, dum ad dualitatem respicis, forma illa non potest esse nec maior nec minor forma dualitatis, cuius est praecissimum exemplar.112 Die praecisio der absoluten Einheit liegt demnach nicht in ihrer formalen Ununterscheidbarkeit oder Deckungsgleichheit mit der Zwei oder der Zehn. Vielmehr liegt ihre praecisio darin, daß sie als die unendliche Form (infinitas formae) jeden Zahlenwert (forma numerorum) übersteigt und daher die Kraft (vis unitatis) besitzt, einen einheitsstiftenden Bezug zu jeder distinkten Zahl aufrecht zu erhalten. Wenn nun für Cusanus die absolute Einheit das schlechthin Kleinste ist, das mit dem Größten zusammenfällt (minimum simpliciter, quod cum maximo coincidit),113 dann zeigt diese Koinzidenz nicht nur eine intrinsische Gegensatzlosigkeit der »unitas absoluta« an, die als das absolut Kleinste unmöglich in einem Gegensatz, also auch in keinem Gegensatz zum absoluten Maximum, stehen kann. Sondern diese Koinzidenz ist auch und vor allem Ausdruck der A-Proportionalität der »unitas absoluta« gegenüber dem, was seinerseits in proportionalen Verhältnissen steht.114 Diese A-Proportionalität der absoluten Einheit deutet also nicht einfach nur auf eine Bezugslosigkeit oder »unendliche Distanz zwischen Gott und Geschöpf«115 hin, sondern meint eine Bezugsform, bei der die Bezugslosigkeit selbst nicht in einem Gegensatz zur Relationalität steht. Das Cusanische Beispiel der Zahlenreihe ist demnach erstens eine ausgezeichnete »manuductio«116 für den proportio-Begriff, zumal für Cusanus gilt: Proportio vero cum convenientiam in aliquo uno simul et alteritatem dicat, absque numero intelligi nequit. Numerus ergo omnia proportionabilia includit. Non est igitur numerus in quantitate tantum, qui proportionem efficit, sed in

de sap. I; n. 24,7−15 (h V 51); Hervorh. StG. docta ign. I 5; n. 13 (h I 12,21). 114 docta ign. I 5; n. 14 (h I 12,24 f.): [unitas] est principium omnis numeri, quia minimum; est finis omnis numeri, quia maximum. 115 G. von Bredow, »Die Bedeutung des Minimum« (wie Anm. 111), 47. »Denn«, so von Bredow mit Cusanus weiter, »›es gibt keine Proportion zwischen dem Unendlichen und dem Endlichen‹.« 116 Vgl. docta ign. I 2; n. 8 (h I 8,12−14). 112 113

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omnibus, quae quovismodo substantialiter et accidentaliter convenire possunt ac differre.117 Zum zweiten aber führt jenes Beispiel »zu der Erkenntnis hin, daß dem unbenennbaren Gott die absolute Einheit ziemlich nahekommt (propius convenire)«.118 (a) Neben der jeweiligen Andersheit ihres Zahlwertes verbindet die Zahlen nicht ›auch noch‹ − also nicht unter dem anderen Gesichtspunkt der Konvergenz − ihre jeweilige Einheit als ganze, natürliche Zahlen. Vielmehr zeigt sich im Zählvorgang, wie die Einheit sich in die verschiedenen Zahlenwerte entfaltet und zugleich die zahlenmäßige Verschiedenwertigkeit sich in die Einheit der einzelnen, diskreten Zahlen einfaltet: dum numeras, in coincidentiam complicationis et explicationis ratio pergit; numerando enim unitatem explicas et pluralitatem in numeri alicuius unitatem complicas.119 Der proportionale »ordo« der natürlichen Zahlen besteht daher im jeweils koinzidentalen Zugleich der Übereinstimmung einer Zahl mit und ihrer Andersheit gegenüber allen anderen Zahlen.120 Die Vielheit oder die Andersheit, die im numerischen Wert einer natürlichen Zahl zum Ausdruck kommt, und ihre Einheit als Zahl lassen sich nicht als zwei verschiedene Gesichtspunkte an dieser Zahl voneinander sondern; vielmehr konstituiert das koinzidentale Zugleich von Einheit und Vielheit eine Zahl als Zahl.121 (b) Demgegenüber läßt die absolute Einheit selbst kein proportionales Mehr und Weniger zu. Die absolute Einheit weist daher kein koinzidentales Zugleich von Konvergenz und Divergenz gegenüber Anderem, etwa der Zahlenreihe, auf. Der Zusam-

docta ign. I 1; n. 3 (h I 6,2−7). docta ign. I 5; n. 14 (h I 12,29 f.): Vide per numerum ad hoc nos deductos, ut intelligamus innominabili deo unitatem absolutam propius convenire […]. 119 de coni. II 1; n. 79,1−3 (h III 77). 120 Insofern läßt sich auch nicht sagen, eine bestimmte Zahl (z. B. die Eins) ähnle einer anderen Zahl (etwa der Zwei) mehr als einer dritten Zahl (z. B. der Zehn), was ihre Einheitlichkeit als diskrete Zahlen und die Verschiedenheit ihres Zahlenwertes anbelangt. 121 Vgl. dazu de mente 6; n. 91,1−3 (h V 135): Immo dum in numero non nisi unitatem conspicio, video numeri incompositam compositionem et simplicitatis et compositionis sive unitatis et multitudinis coincidentiam. Siehe etwa auch de princ. n. 32,3−6 (h X/2b 44): si enim unitatem numeri a numero separatam consideras, monas est et non est numerus, sed principium numeri, si multitudinem ab unitate desertam consideras, infinitas quaedam est. Numerus igitur ex unitate et multitudine tamquam finito et infinito constitui videtur. − Eine isolierte Betrachtung des Einheits- und Vielheitsaspektes an der Zahl führt demnach beide Male über die Zahl hinaus: einerseits zur Einheit (monas) als dem Ursprung der Zahlenreihe, andererseits zu einer bloßen Vielheit, die ohne die Einheit sich ins Unbestimmte verlieren würde. Diese bloße Vielheit bzw. dieser numerus infinitus liefe, wie schon »de docta ignorantia« betont, auf das Nicht-Sein der Zahl hinaus: In idem enim redit numerum infinitum esse et minime esse (docta ign. I 5; n. 13; h I 12,8 f.). 117 118

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menfall von Maximum und Minimum ›in‹ der absoluten Einheit gestaltet sich daher auch nicht auf eine Weise, wie sie für das koinzidentale Zugleich eines proportionalen Relatums charakteristisch ist. Anders: Der Zusammenfall von Maximum und Minimum ›im‹ absolut Einen negiert die Gegensätzlichkeit der beiden Momente nicht in dem Sinne, daß dort beide Momente unter einem höheren Gesichtspunkt − im Hinblick auf ihren superlativischen Charakter − vereinbar sind oder konvergieren. Denn wenn von einer proportionalen Relation gilt: »convenientiam in aliquo uno simul et alteritatem [dicit]«,122 dann müßte auch von der absoluten Einheit gelten: ›Einheit meint bei einem bestimmten Einen (in aliquo uno), nämlich angesichts von Gott, das unhintergehbare Maximum und ineins damit das unhintergehbare Minimum (unitas maximum in aliquo uno simul et minimum dicit)‹. Insofern hat auch nicht das Maximum die Präponderanz vor dem Minimum, so, als ob zunächst und zuvor dem Maximum von seinem Begriff her, also bereits als dem Maximum, der Charakter des Höchsten und Unüberbietbaren zukommen würde. In dieser Perspektive fände sich diese Unüberbietbarkeit dann auch beim Minimum als dem negativen Maximalbegriff, da beide als Maximalbegriffe einen superlativischen Charakter aufweisen.123 Der superlativische Charakter des absoluten Maximum ist daher auch nicht jener höhere Gesichtspunkt, in dem das Minimum und Maximum übereinkommen und der dann die Funktion hätte, eine im Begriff des Minimum implizierte Negation zu absorbieren oder zu negieren.124 Die Koinzidenz des absoluten Maximum mit dem absoluten Minimum meint demnach keine Negation oder Einklammerung des negativen Gehaltes, den das Minimum als »hinzutretende Bestimmung«125 mit sich bringt. Koinzidenz im absolut Einen stellt also keine Konkordanz in einer bestimmten höheren Hinsicht dar, die mittels einer Negation von unterschiedlichen, in dieser höheren Hinsicht jedoch marginalen Divergenzen zustande kommt. Allerdings scheint Cusanus die Koinzidenz von absolutem Maximum und Minimum nun doch als deren Konvergenz im Superlativischen zu begreifen, wenn er zur Verdeutlichung des koinzidentalen Charakters das absolute Maximum und Minimum zu quantitativen Größen − zur maxima quantitas und minima quantitas − kontrahiert: 122 123

docta ign. I 1; n. 3 (h I 6,2 f.). docta ign. I 4; n. 11 (h I 10,21 f.): Ita enim maximum est superlativus sicut minimum superlati-

vus. Vgl. dagegen von Bredow, »Die Bedeutung des Minimum« (wie Anm. 111), 49: »[D]as Minimum hat als solches gar keinen Gehalt, den man schauen könnte. Das gilt freilich nicht für das [quantitative] Minimum, das den geringsten Grad bezeichnet, wohl aber für das Minimum absolutum, welches für sich allein genommen − ohne Koinzidenz mit dem Maximum absolutum − nichts wäre! […] Bei der Coincidentia oppositorum der Gotteslehre unterscheidet sich das Maximum absolutum vo[m] Minimum absolutum durch seinen positiven Gehalt.« 125 G. von Bredow, »Die Bedeutung des Minimum« (wie Anm. 111), 47; sowie 49. 124

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Et hoc tibi clarius fit, si ad quantitatem maximum et minimum contrahis. Maxima enim quantitas est maxime magna; minima quantitas est maxime parva. Absolve igitur a quantitate maximum et minimum subtrahendo intellectualiter magnum et parvum, et clare conspicis maximum et minimum coincidere.126 Demnach ist es für ein Verständnis der Koinzidenz erforderlich, das absolute Maximum und Minimum auch wieder vom quantitativen Charakter zu befreien (absolvere), also geistig vom ›Groß und Klein‹ abzuheben. Was aber ist mit einer solchen Gedankenoperation, die das absolute Maximum und Minimum zu quantitativen Größen einschränkt und dann wieder entschränkt, gewonnen? Löst Cusanus hierbei tatsächlich »von diesen beiden Quantitäten die Bestimmungen ›Größtes‹ und ›Kleinstes‹ ab«, so daß von ihnen dann »nur der reine Superlativ übrig« bleibt?127 Zwar setzt Cusanus das zu quantitativen Maximalgrößen kontrahierte Maximum und Minimum gleich (als maxime magna bzw. maxime parva) − doch dies nur, um hierauf das absolute Maximum und Minimum vom Größenbegriff als solchen (quantitas) fernzuhalten: Nicht die Bestimmungen ›Größtes‹ und ›Kleinstes‹ werden also abgezogen, sondern ihr quantitativer Charakter (subtrahendo magnum et parvum). Diese Herausnahme aus einer Größenordnung intendiert aber eine Entschränkung oder Absolut-Setzung des Maximum und Minimum und nicht nur die Herausschälung eines (womöglich noch quantitativ zu verstehenden) Superlativs als gemeinsamen Restbestand. Daher gibt es auch keinen kontinuierlichen Übergang von einer Größenordnung, welche eine aktuell größte und kleinste »quantitas« kennt, zur koinzidentalen Einheit von Maximum absolutum und Minimum absolutum. Mithin ist auch die Illustrations- oder gar Beweiskraft solcher Gedankenexperimente, welche mit quantitativen Größen operieren, begrenzt.128

docta ign. I 4; n. 11 (h I 10,17−21). F.-B. Stammkötter, »›Hic homo parum curat de dictis Aristotelis‹. Der Streit zwischen Johannes Wenck von Herrenberg und Nikolaus von Kues um die Gültigkeit des Satzes vom zu vermeidenden Widerspruch«, in: Herbst des Mittelalters? (wie Anm. 2), 433−444; hier 438. 128 Dagegen ist es etwa nach J. Stallmach die Funktion der Cusanischen Beispiele für Koinzidenz, »einsichtig zu machen, daß gegensätzliche Eigenschaften, wenn sie bis zum Äußersten ihrer Möglichkeiten anwachsen, schließlich ineinsfallen […]. Das Ineinsfallen ergibt sich immer est dann, wenn es bei diesem Anwachsen kein Mehr oder Minder mehr gibt, sondern das Maximum oder Minimum erreicht ist. Da es aber im Endlichen, mag etwas noch so groß oder noch so klein sein, immer noch ein mehr und minder gibt, kann das absolute Maximum und absolute Minimum nur im Unendlichen liegen« (Stallmach, Ineinsfall der Gegensätze und Weisheit des Nicht-Wissens. Grundzüge der Philosophie des Nikolaus von Kues, Münster 1989, 15; Hervorh. StG). Wie aber soll sich bei einem maximalen »Anwachsen« von Größen die Schlußfolgerung ergeben, daß »das absolute Maximum und absolute Minimum nur im Unendlichen liegen« kann, wenn der Ineinsfall gerade nicht über ein »Anwachsen« bestimmter Größen zu beweisen oder gar faktisch zu erreichen ist? Die Cusanischen Beispiele können also gar nicht die Koinzidenz von absolutem Maximum und Minimum veranschaulichen. Gleichwohl verbleiben diese Beispiele nicht im Bereich einer vagen ›Analogie‹ (so auch Flasch, Nikolaus von Kues [wie Anm. 3], 98). Nun unterliegen sämtliche mathematischen und geometrischen Beispiele für die Koinzidenz einer quantitati126 127

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Das Cusanische Gedankenexperiment der Einschränkung und der nachfolgenden Entschränkung beider Maximalbegriffe zielt also nicht einfach auf die Gleichwertig-

ven Einschränkung: omnia mathematicalia [sunt] finita et aliter etiam imaginari [nequunt] (docta ign. I 12; n. 33; h I 24,16 f.). Daher müssen sie auch wieder von ihrem quantitativen Charakter entschränkt werden, so daß erst dann eine Einsicht in den Koinzidenzbegriff auch möglich wird (vgl. ebd. Z. 21−23). Ihr Vergleichspotential eröffnen die Beispiele daher erst mit dieser ihrer Entschränkung: Sie sind Aufweis für die A-Proportionalität des koinzidentalen Unendlichen und des Endlichen, was nur dann gelingt, wenn sich anhand von ihnen ein anderer, intellektualer Erkenntnismodus einstellt. Ein Fortschritt ins Unendliche als solcher kann nicht − auch nicht beispielhaft oder annäherungsweise − vermitteln, was genau absolute Koinzidenz ist. Anhand dieser Beispiele gilt es also intellectualiter einzusehen, daß ein rationaliter vorgehendes Fortschreiten ins Unendliche (z. B. das ›Anwachsen-Lassen‹ eines Kreisbogens) kein epistemisches oder bloß illustratives Mittel ist, wodurch man auch schon sogleich zum absoluten Maximum bzw. Minimum selbst gelangen könnte: Adverte igitur quoniam solo intellectu supra rationem concipere te oportet, ut asseras progressione in infinitum simul et ad maximum minimumve deveniri non posse (de coni. I 10; n. 50,1−3; h III 52). Meine Lesart des Satzes folgt hier der Editio maior, die sich gegen den »codicum omnium consensus« (Sigle: Σ) entscheidet und die Akkusativ-Endung »progressionem« athetiert: […] ut asseras progressione[m] in infinitum simul et ad maximum minimumve deveniri non posse. Die syntaktische Konstruktion des AcI mit einem Subjektwechsel von »progressionem (non posse)« zu einem »deveniri non posse« wäre, selbst für das Cusanische Latein, wohl doch allzu inkonzinn. Angeboten hätten sich wohl eher andere Formulierungen wie etwa: »ut asseras progredi in infinitum simul et ad maximum minimumve deveniri non posse«. Entscheidend ist aber: Wie auch immer Cusanus formuliert haben könnte − ob nun inkonzinn mit »progessionem« oder ›besser‹ konzinn mit »progredi« –, so wäre der Sinn des Gesagten derselbe, und dieser wäre kaum mit Cusanischem Gedankengut vereinbar. Cusanus geht nämlich gerade nicht davon aus, daß es unmöglich sei, ins Unendliche fortzuschreiten und zugleich bei diesem Progress ein »wirklich Größtes oder Kleinstes« zu erreichen (in diesem Sinne die Übs. von H 17, 57). Vgl. dafür das oben, 144 ff. zur Zahlenreihe Ausgeführte; sowie etwa de ven. sap. 26; n. 79,1−3 (h XII 76): in recipientibus magis et minus numquam devenitur ad maximum simpliciter vel minimum simpliciter, licet bene ad actu maximum et minimum. − Neuerdings zitiert etwa auch I. Bocken den eben besprochenen Satz aus de coni. I 10, allerdings ohne die Athetierung »progressione[m]« der Editio maior kenntlich zu machen und auf die damit verbundenen Verständnisschwierigkeiten einzugehen. Vgl. Bocken, »Die Zahl als Grundlage der Bedeutung« (wie Anm. 94), 207 mit Anm. 16. Ein anderes Verständnis dieses Satzes präsentiert Flasch, Die Metaphysik des Einen (wie Anm. 3), 334 mit Anm. 1. Er versteht unter »progressio in infinitum« ein Zugehen auf »die wahre, die unendliche Einheit«. Der Sinn des Cusanischen Satzes liegt für Flasch dann in der Möglichkeit der Einsicht und Behauptung, »es gebe ein Fortgehen zum [!] Unendlichen und man könne ein [!] tatsächliches Größtes und Kleinstes niemals antreffen« − darin also, »daß wir niemals actu ein [!] Unendliches antreffen und daß wir ständig auf die Erkenntnis des [!] unzugänglichen Unendlichen zugehen«. Insofern hier also ein ›progressionem in infinitum posse‹ mit einem ›ad maximum minimumve deveniri non posse‹ verbunden sein soll, verschärft Flaschs Deutung die syntaktische Inkonzinnität der Cusanischen Formulierung dermaßen, daß auch der daraus extrapolierte Sachgehalt nurmehr geringe Explikationskraft für den Cusanischen Satz besitzt. Was nämlich soll es etwa besagen, wenn Flasch aus dem Cusanischen ›ad maximum minimumve deveniri non potest‹ folgert, daß wir »actu niemals ein Unendliches antreffen«? Wenn damit gemeint ist, »man könne ein tatsächliches Größtes und Kleinstes niemals antreffen«, dann widerspricht Flaschs Deutung hier Cusanus, der so etwas (etwa beim prinzipiell unendlich fortsetzbaren Zählvorgang) für durchaus möglich hält. Oder meint Flasch hier eher doch, daß wir niemals das Unendliche im Sinne »der wahren, der unendlichen Einheit« in der endlichen Wirklichkeit antreffen? Dies aber wäre nur eine erkenntnistheoretische Platitüde, derzufolge wir das unzugängliche Unendliche zwar niemals in der Wirklichkeit antreffen, auf dessen Erkenntnis wir aber gleichwohl zugehen müssen, selbst wenn wir nur zu einer solchen Aussage über das unerkennbare Unendliche kommen wollen.

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keit von Maximum und Minimum als Superlativen. Zur Koinzidenz gehört daher auch mehr als eine Konvergenz oder ein consensus im Superlativischen.129 Koinzidenz als ›Merkmal‹ für die einer quantitativen Größenordnung enthobene absolute Quantität oder maximitas ist vielmehr auch und vor allem geprägt von einem Verhältnis des »non magis«: Igitur absoluta quantitas non est magis maxima quam minima, quoniam in ipsa minimum est maximum coincidenter.130 Dieses »non magis« meint also nicht nur eine superlativische Unüberbietbarkeit der Maximitas, die kein ›plus ultra‹ mehr kennt, sondern insbesondere ein einzigartiges Verhältnis der Gleichheit (aequalitas): Die absolute Quantität oder Maximitas ist − nicht nur im Gegensatz zu allem anderen und für sich isoliert betrachtet − »nicht mehr« die größte als die kleinste, sondern sie kennt auch gegenüber allem, was einer Größenordnung unterliegt, kein ›Größer‹ oder ›Kleiner‹. Eine Einsicht in die Maximitas, wie sie in sich selbst (in se) ist, kann nicht gewonnen werden ohne Rücksicht auf das gegensatzfreie Verhältnis der Maximitas gegenüber allem, was einer Größenordnung unterliegt. Koinzidenz oder Gegensatzfreiheit ist daher keine differentia specifica, die das Absolute in einen eindeutigen Gegensatz zum Endlichen treten läßt.131 Dagegen Stammkötter, »›Hic homo parum curat‹« (wie Anm. 127), 438: »Der Superlativ des Größten ist nicht stärker als der Superlativ des Kleinsten; das Kleinste koinzidiert als Superlativ mit dem Größten« (Hervorh. StG). Vgl. auch H. Schnarr, Modi essendi. Interpretationen zu den Schriften De docta ignorantia, De coniceturis und De venatione sapientiae von Nikolaus von Kues, Münster 1973, 10: »Maximum und Minimum sind als extreme Begriffe zu verstehen. […] Sieht man von der Quantität ab − und das muß man mit Nikolaus von Kues − so bleiben nur noch die Grenzbegriffe. Es bleibt der Superlativ von beiden übrig.« − Übereinstimmung in einem Merkmal schließt jedoch Andersheit nicht kategorisch aus: So sind etwa das aktuell größte und kleinste Lebewesen auf der Erde durchaus konvergent, was ihre extreme größenmäßige Position innerhalb des Reichs des Lebendigen anbelangt; gleichwohl kann keine Rede davon sein, daß sie als zwei superlativische oder extreme Formen ineinsfallen. Insofern scheinen mir auch die kritischen Erwägungen Hösles am Cusanischen Begriff der absoluten Koinzidenz von Maximum und Minimum vorbeizugehen: »[Cusanus’] Argument ist, daß das Minimum das maximal Kleinste ist – beide Extreme kommen darin überein, daß sie Extreme sind. Natürlich beweist dieses Argument nicht das, was es nach Cusanus beweisen soll; auch wenn beide Extreme etwas gemeinsam haben, impliziert dies doch nicht, daß sie identisch sind« (Hösle, »Platonismus und Antiplatonismus« [wie Anm. 109], 118; Hervorh. StG). Gegen Hösle läßt sich sagen: ›Natürlich‹ macht auch Cusanus die »inakzeptable Identifizierung des Absoluten mit dem quantitativ Unendlichen« (Hösle, op. cit. 262; dort Anm. 63) nicht mit. 130 docta ign. I 4; n. 11 (h I 10,22−24). − Bemerkenswert ist, daß die Editio minor offenbar Cusanus’ Rede von einer absoluten Quantität mittels von Anführungszeichen als uneigentliche verstanden wissen will: Igitur absoluta ›quantitas‹ est non magis maxima quam minima … (H 15a, 16,25 f.). In einigen Mss. findet sich im Cusanischen Text oder auch als Marginalie der erläuternde Zusatz: absoluta quantitas scil. Maximitas; bzw.: quantitas scil. maximitas absoluta. Vgl. dazu den Apparat der Editio maior ad loc. 131 Vgl. de sap. II; n. 41,1−8 (h V 74): Absolve igitur maximitatem a maxime parvo et minime magno, ut ipsam maximitatem intuearis in se, non in parvo aut magno contractam, et videbis absolutam maximitatem sic ante magnum et parvum, ita quod non potest maior aut minor, sed est maximum, in quo 129

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2.2 Absolute und kopulative Koinzidenz Koinzidenz meint nicht bloß eine Gegensatzfreiheit, bei der zwei gegensätzliche Momente miteinander unter einem bestimmten Aspekt vermittelt und damit vereinbar werden. Der Sinn von Koinzidenz ist daher noch nicht hinreichend erfaßt, wenn Gegensätzliches durch seine Konjunktion, in Form eines verbindenden ›sowohl − als auch‹, negiert wird. Für eine adäquate Explikation dessen, was koinzidentale Gegensatzfreiheit meint, ist nach Cusanus zugleich eine disjunktiv verfahrende Negation von Gegensätzen (in Form eines trennenden ›weder − noch‹) unabdingbar: Improportionabiliter simplicior est negatio oppositorum disiunctive ac copulative quam eorum copulatio.132 Kopulativ verbunden werden sollen demnach nicht die beiden gegensätzlichen Momente (coplulatio oppositorum), sondern die beiden hier namhaft gemachten Modi von Gegensatz-Negation: die disjunktiv und kopulativ verfahrende Negation von Gegensätzlichem (negatio oppositorum disiunctive ac copulative).133 Eben dieses intendiert Cusanus der Sache nach, wenn er behauptet, Gott stehe als das absolute Maximum so »supra omnem oppositionem«,134 daß er alles, was in einen Begriff gefaßt werden und was sein kann, nicht mehr ist als er dies nicht ist: Omne id quod concipitur esse non magis est [sc. maximum absolutum] quam non est. Et omne id quod concipitur non esse non magis est quam non est. Sed ita est hoc quod est omnia et ita omnia quod nullum est; et ita maxime hoc, quod est minime ipsum.135 Die Versuchung liegt allerdings nahe, dieses »non magis quam« einsinnig als ein kopulatives ›ebensosehr A wie non-A‹ zu verstehen. Im obigen Beispiel gesprochen: Gott ist das Sein nicht in höherem Maß als das Nicht-Sein; er ist damit beides ebensosehr oder in ›gleichem Maß‹: Sein und Nicht-Sein zugleich. In dieser Perspektive negiert das »non magis quam« eine Disjunktion von (kontradiktorischen) Gegensatzgliedern. Gott ist ebensosehr Sein wie Nicht-Sein, insofern er die Disjunktion ›entweder ist er oder er ist nicht‹ von sich ausschließt. Es dürfte dieser einsinnig als Konjunktion auslegbare Sinn von »non magis« sein, der Cusanus zu der ›Selbstkritik‹ veranlaßt hat, er habe seiner Erinnerung nach in coincidit minimum. Quare hoc tale maximum ut est absolutum exemplar non potest esse cuicumque dabili exemplato maius aut minus. Id autem, quod non est nec maius nec minus, vocamus aequale. 132 De coni. I 6; n. 24,4−6 (h III 31). 133 Vgl. auch de coni. I 5; n. 21,9 f. (h III 27): Absolutior igitur veritatis existit conceptus, qui ambo abicit opposita, disiunctive simul et copulative (Hervorh. StG). Weiteres dazu im Anschluß. 134 docta ign. I 4; n. 12 (h I 10,27). 135 docta ign. I 4; n. 12 (h I 11,3−7).

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»De docta ignorantia« des öfteren so von Gott gesprochen, als ob sich in der absoluten Einheit kontradiktorisch Entgegengesetztes (contradictoria) miteinander verbinden ließe: Nam in ante expositis D e d o c t a i g n o r a n t i a memor sum saepe de deo me intellectualiter locutum per contradictoriorum copulationem in unitate simplici.136 Was Cusanus hier bemängelt, ist wohl die einsinnige Konzentration auf einen Negationstypus, der dasjenige, was in (kontradiktorischem) Gegensatz zueinander steht, in einer Weise negiert, daß es miteinander vereinbar wird. In diesem Sinne könnte etwa folgende Stelle aus »De docta ignorantia« verstanden werden: Opportet enim in divinis simplici conceptu, quantum hoc possibile est, complecti contradictoria, ista [sc. contradictoria] antecedenter praeveniendo.137 Ein Problem liegt hier allerdings in dem »antecedenter praeveniendo«. Wie nämlich läßt sich kontradiktorisch Entgegengesetztes so zusammenbringen (complecti), daß man jenem Entgegengesetzten auch schon »im Vorgriff voraus« ist? Die Lösung dieses Problems besteht für Cusanus zunächst darin, zu zeigen, daß dasjenige, was in einer kopulativen Negation als Kontradiktorisches ›zu Grunde geht‹, seinerseits nur einen weiteren, höheren Widerspruch implizieren würde: Koinzidenz wäre immer noch ein bloßer Gegenbegriff zur Disjunktion von kontradiktorisch Entgegengesetztem − einsinnig als negativ zu verstehende oppositio oppositorum. Cusanus scheint daher im weiteren Verlauf seines Werkes daran gelegen zu sein, die im »non magis« implizierten Negationstypen der kopulativen und disjunktiven Gegensatz-Negation − auch in ihrem Verhältnis zueinander − zu explizieren. Der koinzidentale Sinn von »non magis« erschöpft sich deshalb nicht in der kopulativ verfahrenden Negation eines disjunktiven ›entweder − oder‹: Von Gott ist nicht einfach nur ausgeschlossen, daß er disjunktiv entweder das Sein oder das Nicht-Sein ist, und er daher kopulativ beides zugleich − ebensosehr Sein wie Nicht-Sein − sein muß. Anders: Das koinzidentale »non magis« meint nicht einfach nur die kopulativ verfahrende Negation einer Disjunktion, welche zu einer äquilibral-kopulativen Ineinssetzung der beiden disjunktiven Momente führt (›Gott ist nicht: entweder Sein oder Nicht-Sein, sondern Gott ist: sowohl Sein als auch Nicht-Sein‹).138 de coni. I 6; n. 24,16−18 (h III 30). docta ign. I 19; n. 57 (h I 38,22 f.); Hervorh. StG. – Daß eben diese Stelle ein einsinnig kopulatives Verständnis von Koinzidenz begünstigen kann, zeigt z. B. die Bemerkung von Schulze ad loc.: »Was in der Welt als in die Zweiheit (dualitas) und Vielheit (pluralitas) entfaltet und entlassen wird, findet sich im Absoluten in integrierender Einheit wieder« (Schulze, Zahl, Proportion, Analogie [wie Anm. 89], 43; Hervorh. StG). ›Koinzidenz‹ drückt dann dementsprechend einen »Gedanke[n] der Versöhnung der Gegensätze in der absoluten Einheit« aus (ebd. 44). 138 Man könnte hier von einem größeren Skopus der kopulativ verfahrenden Negation sprechen, insofern sie die Disjunktion von A und non-A als solche verneint: ¬ (a ∨ ¬ a). Kraft dieses kopulativen Negationstypus gilt also nicht: A oder non-A, sondern: A und zugleich non-A, bzw. formalisiert: a ∧ ¬ a. 136 137

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Der koinzidentale Sinn von »non magis est quam non est« ist daher auch: Gott ist das Sein und das Nicht-Sein ›in gleichem Maß‹ nicht. Er ist genausowenig das Sein wie das Nicht-Sein, so daß also beide Gegensatzglieder von ihm ausgeschlossen sind: Er ist weder das Sein noch das Nicht-Sein. Der Skopus dieser Negation scheint zunächst ein kleinerer zu sein, da er sich offenbar nur auf die beiden kontradiktorischen Glieder konzentriert: ¬ a ∧ ¬ (¬ a). Damit wäre jedoch nur die Kopulation der beiden kontradiktorischen Glieder ex negativo bekräftigt oder bestätigt: ¬ a ∧ a. Gott wäre zugleich das Sein und das Nicht-Sein, weil er nicht bloß eines der beiden Glieder − entweder das Sein oder das Nicht-Sein − sein kann, in diesem Sinne also weder das Sein noch das Nicht-Sein für sich allein ist: ¬ (a ∨ ¬ a). Cusanus geht es jedoch in erster Linie um den hier angewendeten Negationstypus, und dieser soll nun gerade die Kopulation der kontradiktorischen Glieder verneinen: Wenn von Gott auch gilt, daß er nicht das Sein ist, aber ebensowenig das Nicht-Sein ist, dann lassen sich diese beiden kontradiktorischen Glieder nicht mehr einfach nur in eine Konjunktion zum Zwecke ihrer Koinzidenz bringen. Dieser Negationstypus verneint demnach eine Kopulation der beiden Glieder ›Sein‹ und ›Nicht-Sein‹: ¬ (a ∧ ¬ a). Insofern dieser Negationstypus eine einsinnige Kopulation von Gegensätzen verneint, stellt er eine disjunktiv verfahrende Negation von Gegensätzen dar (negatio oppositorum disiunctive). Insofern gilt dann von Gott nicht: er ist und zugleich ist er nicht (nec est et non est). Das meint: Gott ist weder das Sein noch das Nicht-Sein. Daß von Gott gesagt werden kann: ›weder ist er noch ist er nicht‹, liegt hier daran, daß von Gott auch ein disjunktiver Negationstypus gelten muß, der eine ›einfache‹ Konjunktion von (kontradiktorischen) Gegensätzen verneint. Gott ist weder Sein noch Nicht-Sein, weil hier von ihm nicht gilt bzw. negiert wird, daß er ist und zugleich nicht ist. Auf die Frage nach dem Sein Gottes kann deshalb geantwortet werden: quod ipse [sc. deus] nec est nec non est, atque quod nec est et non est.139

139 de coni. I 5; n. 21,11 f. (h III 27 f.). − Die Rekonstruktion dieser Passage aus »De coniecturis« scheint mir etwa bei Senger mißglückt zu sein, da er übersieht, daß es in der Formel »nec est et non est« die Konjunktion »est et non est« ist, die verneint wird. Senger spricht angesichts dieser Formel dagegen von einem »kopulativ[en], koinzidentelle[n] Gebrauch von Oppositionsbegriffen« (H. G. Senger, »Die Sprache der Metaphysik«, in: Nikolaus von Kues. Einführung in sein philosophisches Denken, hg. von K. Jacobi, Freiburg/München 1979, 74−100; hier 93). Kritik an Senger übt bereits B. Mojsisch, »Nichts und Negation. Meister Eckhart und Nikolaus von Kues«, in: Historia Philosophiae Medii Aevi. Studien zur Geschichte der Philosophie des Mittelalters, hg. von B. Mojsisch und O. Pluta, Amsterdam/Philadelphia 1991, Bd. II, 675−693; hier 688 mit Anm. 43. Mittlerweile hat Senger diese Kritik Mojsischs als »undifferenzierte[s] Pauschalurteil« zurückgewiesen im Postscriptum anläßlich des Wiederabdrucks seines Aufsatzes in: H. G. Senger, Ludus sapientiae. Studien zum Werke und zur Wirkungsgeschichte des Nikolaus von Kues, Leiden (u. a.) 2002, 63−87; hier 87.

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Wenn jedoch mit diesem disjunktiven Negationstypus eine einsinnige Kopulation von Entgegengesetztem negiert wird, dann scheint durch die Hintertüre doch wieder eine herkömmliche Disjunktion von Gegensatzgliedern ihre Gültigkeit für den Koinzidenzbegriff zu erlangen. Wenn nämlich von Gott eine Konjunktion von Sein und Nicht-Sein nicht gilt, dann heißt dies doch offenbar, daß er (in dem ganz herkömmlichen, auch auf das Endliche zutreffenden Sinn eines ›tertium non datur‹) entweder ist oder eben nicht ist. Diese Konsequenz scheint nun Cusanus in »De docta ignorantia« offensichtlich zu ziehen: Maxime verum est ipsum maximum simpliciter [a] esse vel [b] non esse vel [c] esse et non esse vel [d] nec esse nec non esse.140 Mit diesen vier Sätzen sieht hier Cusanus alle Möglichkeiten abgedeckt, Gott als das schlechthin Größte zu denken und auszusagen: »et plura nec dici nec cogitari possunt«.141 Die beiden zuletzt angeführten Aussagen (c) und (d) entsprechen dabei dem kopulativ verfahrenden Negationstyp − ›Gott ist und ist zugleich nicht‹ (est et non est) − bzw. dem disjunktiv verfahrenden Negationstyp − ›weder ist Gott noch ist er nicht‹ (nec est nec non est). Beide Negationstypen zusammen reichen bereits hin für das, was Cusanus dann in »De coniecturis« explizit einfordert: die Entwicklung eines »absolutior veritatis conceptus, qui ambo abicit opposita, disiunctive simul et copulative«.142 Bilden demnach die beiden einfachen und offenbar kontradiktorischen Aussagen (a) und (b) − daß nämlich Gott ist oder nicht ist (est vel non est) − noch Vorstufen, die für Cusanus nach »De docta ignorantia« keine Geltung mehr haben? Augenscheinlich geht Cusanus jedoch auch weiterhin davon aus, daß solche kontradiktorischen Aussagen von Gott möglich sind, sofern der Akt ihres Aussprechens berücksichtigt wird: Gentilis: Sic igitur deo non conveniret esse? Christianus: Recte dicis. Gentilis: Est ergo nihil. Christianus: Non est nihil neque non est, neque est et non est, sed est fons et origo omnium principiorum essendi et non-essendi. Gentilis: Est deus fons omnium principiorum essendi et non-essendi? Christianus: Non. Gentilis: Iam statim hoc dixisti. Christianus: Verum dixi, quando dixi, et nunc verum dico, quando nego.143 docta ign. I 6; n. 16 (h I 14,7−9). Die Interpunktion dieses Satzes folgt hier der Editio minor (H 15a, 24,8−10). 141 docta ign. I 6; n. 16 (h I 14,9 f.). 142 Vgl. de coni. I 5; n. 21,9 f. (h III 27); Hervorh. StG. 143 de deo abs. n. 11,1−9 (h IV 8). − Bereits Flasch (Die Metaphysik des Einen [wie Anm. 9], 183 mit Anm. 2) verweist im Zusammenhang mit Cusanus’ Selbstkritik in »De coniecturis« I 6 auf die eben zitierte Stelle. Flasch behauptet zwar, daß diese Stelle aus »De deo abscondito« jene Selbstkritik exemplifiziere, führt dies jedoch nicht weiter aus. 140

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Die einsinnig folgernden, ja eigentlich nur das vom Christen Gesagte wiederholenden Aussagen des heidnischen Gesprächspartners − »est ergo (deus) nihil« bzw. »est deus fons omnium principiorum« − werden hier sogleich konterkariert mit ihrer Kontradiktion: »non est nihil« bzw. »non (est deus fons)«. Wahr sind diese Aussagen als solche zum Zeitpunkt ihrer Aussage (verum dixi, quando dixi, et nunc verum dico, quando nego). Ihre ›eigentliche‹ Gültigkeit erweisen diese Aussagen nicht erst in einer retrospektiven Zusammenschau, die beide Aussagen in ihrem ›sowohl − als auch‹ noch zusammendenken müßte. Beide Aussagen über Gott bleiben auch als kontradiktorische wahr, sofern man ihr Verhältnis des »non magis« berücksichtigt: nicht nur ihre Gleichwertigkeit gegeneinander, sondern auch ihre Gleichwertigkeit als Kontradiktionen gegenüber einer Konjunktion von kontradiktorischen Gliedern. Insofern die kopulative Aufhebung von kontradiktorischen Gegensatzgliedern ›nicht mehr‹ wiegt als die Kontradiktion, stellt diese kopulative Aufhebung kein Allheilmittel dafür dar, daß mit ihr die Endlichkeit des Denkens und Sprechens nun endlich in ein »divinaliter loqui« überführt werden kann.144 Im Zusammenhang mit seiner Selbstkritik in »De coniecturis« betont Cusanus in der Tat, daß erst ein »divinaliter loqui« die angemessene Weise ist, in der man über die koinzidentale Einheit sprechen kann: de coni. I 6; n. 24,4 (h III 31). Solch eine Sprechweise über die koinzidentale Einheit läßt sich aber offenbar nur dann erfolgreich praktizieren, »wenn man ihren Standpunkt eingenommen hat« (Mojsisch, »Nichts und Negation« [wie Anm. 139], 690). Nach Mojsisch gelingt Cusanus jedenfalls ein solches »Sprechen aus dem Standpunkt der absoluten mentalen Einheit heraus« (ebd. 691) − dies allerdings ausgerechnet in einem Buch über Mutmaßungen, »die höchstens ein intellectualiter, nicht aber ein divinaliter loqui sollten erlauben können« (ebd. 691). Über dem geglückten Versuch eines solchen, auf gleicher Augenhöhe wie das Absolute stehenden »divinaliter loqui« scheint dann Cusanus glattweg »vergessen zu haben, daß er über ›Mutmaßungen‹ schrieb« (ebd. 691). Diese unglückliche Themaverfehlung fällt nach Mojsisch aber nicht weiter ins Gewicht, da Cusanus in »De coniecturis« mit der neuartigen »Theorie einer translogisch bzw. translogisch-transkonjekutral konzipierten Negation« (ebd. 691) aufwarte. Cusanus begreift hierbei die göttliche Einheit als reine oder absolute Negation: als »die Negation der Disjunktion von Affirmation und Negation« und zugleich als »die Negation der Kopulation von Affirmation und Negation« (ebd. 688). Translogischen Charakter sollen diese Negationen dadurch haben, daß sie sich ihrer logischen Auflösung widersetzen: »Die translogische Negation von ›ist oder ist nicht‹ läßt sich nicht in ein logisches [!] ›ist und ist nicht‹ verkehren, sondern in das translogische ›weder ist noch ist nicht‹; die translogische Negation von ›ist und ist nicht‹ läßt sich nicht in ein logisches ›ist oder ist nicht‹ verkehren, sondern bleibt das translogische ›nicht: ist und ist nicht‹« (ebd. 691). Was Mojsisch hier genau unter ›Translogik‹ bzw. ›Logik‹ versteht, bleibt (auch wegen der Knappheit seiner Ausführungen) weitgehend implizit. Zumindest aber ist ersichtlich, daß ›Translogik‹ sich via negationis auf Kosten der ›Logik‹ etabliert, wobei jene translogische Negation sowohl (a) die Konjunktion ›ist und ist nicht‹ als auch (b) die Disjunktion ›ist oder ist nicht‹ ausschließt. Allerdings bezieht sich der logische Charakter des translogisch Ausgeschlossenen auf eine jeweils andere Instanz: (a) Die Negation der Konjunktion »a ∧ ¬ a« richtet sich gegen einen ›logisch‹, d. h. nach den Maßstäben der Vernunft (intellectus) konzipierten Begriff von Koinzidenz, da sonst die Koinzidenz nur auf eine »kompatible Konkordanz« (ebd. 688) von kontradiktorisch Entgegengesetztem hinauslaufen würde; (b) die Negation der Disjunktion »a ∨ ¬ a« richtet sich aber gegen die ›logischen‹, d. h. allein für den endlichen Bereich gültigen Trennungen des Verstandes (ratio), welcher »sich des Prinzips des zu vermeidenden Widerspruchs bedient« (ebd. 688) und der daher kontradiktorisch Entgegengesetztes strikt auseinanderhält. Die Translogik dieser beiden Nega144

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An dieser Stelle wird wohl deutlich, was die Einschränkung des kopulativ verfahrenden Negationstyps durch den disjunktiv verfahrenden Negationstyps bezwecken soll: Für sich allein betrachtet, etabliert der kopulativ verfahrende Negationstyp die Koinzidenz als einen Gegensatz zur Bestimmtheit, Andersheit oder Gegensätzlichkeit der endlichen Begriffe (oppositio oppositorum). Wenn nun diese kopulativ verfahrende Negation von Gegensätzen ihrerseits negiert wird (›nicht: ist und ist nicht‹), dann ist damit nicht bloß ein weiterer Gegensatz zur Konjunktion der Gegensätze erbracht. Es geht nicht um ein bloßes, der negativen Theologie gehorchendes ›weder A noch non-A‹, das nun anstatt des kopulativen ›sowohl A als auch non-A‹ gelten soll. Vielmehr negiert der disjunktiv verfahrende Negationstyp den negativen Charakter, der die Konjunktion »a ∧ ¬ a« gegenüber einer rationaliter ›logischen‹ Disjunktion von kontradiktorischen Gliedern (a ∨ ¬ a) auszeichnet. Die kopulative In-

tionen hat demnach einen jeweils anderen Charakter: (a) Die Negation der Konjunktion »a ∧ ¬ a« übersteigt einen intellectualiter gefaßten Koinzidenzbegriff, während (b) die Negation der Disjunktion »a ∨ ¬ a« allenfalls den rationaliter gültigen Satz vom ausgeschlossenen Dritten hinter sich läßt. Translogik ist hier nicht gleich Translogik. Und so geht es Cusanus nicht um Negationen durch die verschiedenen mentalen Instanzen hindurch, da diese Negationen nicht schon dadurch im absoluten Sinne ›translogisch‹ sind, daß sie sich flächendeckend gegen all diese mentalen Instanzen kehren. Im Vordergrund von Cusanus’ Interesse steht vielmehr die adäquate Fassung eines Begriffes von Koinzidenz, deren absolute Gegensatzfreiheit − auch und vor allem gegenüber jenen mentalen Instanzen − expliziert werden soll. Hierfür verwirft Cusanus gerade nicht einen kopulativ gefaßten Begriff von Koinzidenz als schlichtweg unbrauchbar; es geht ihm vielmehr um die Ergänzung des kopulativ verfahrenden Negationstyps durch den disjunktiven Negationstyp: um einen Koinzidenzbegriff, der in der negatio oppositorum disiunctive simul et copulative Kontur gewinnen soll. Die kopulativ und disjunktiv gefaßte Koinzidenz verhält sich dann nicht einfach mehr nur negativ − als ›bloße‹ oppositio oppositorum − gegenüber einer ›rational-logischen‹ Disjunktion, welche dem ›tertium non datur‹ gehorcht. − Im Übrigen: Wäre Cusanus ein translogisches »divinaliter loqui« tatsächlich mittels einer absoluten Negation geglückt, so wäre dieses Glück wohl nicht von langer Dauer gewesen. Dann hätte Cusanus nämlich nach »De coniecturis« selbst in dieser ›absoluten Negation‹ keinen gangbaren Weg mehr gesehen, um die Unsagbarkeit und Undenkbarkeit des Einen in ein »divinaliter loqui« aufzuheben: Tunc vides contradictoria negari ab ipso [sc. a deo], ut [1.] neque sit neque non sit [2.] neque sit et non sit [3.] neque sit vel non sit; sed omnes istae locutiones ipsum non attingunt, quia omnia dicibilia antecedit (de princ. n. 19,14−16; h X/2b 27). Angesichts einer in »De coniecturis« erreichten Sprechweise ›aus der absoluten mentalen Einheit heraus‹ muten solche Sätze dann eher wie ein larmoyanter Rückfall in die radikal negative Theologie an: omnes istae locutiones ipsum [sc. deum] non attingunt. Inwiefern aber berühren all diese genannten Aussagemöglichkeiten (omnes istae locutiones) Gott nicht? Berühren sie ihn in ihrer Gesamtheit nicht? Oder ist es nur eine jede von ihnen als einzelne? Nach dem hier von Cusanus Gesagten können zumindest die contradictoria in der Weise von Gott negiert werden, daß einsichtig wird: deus omnia dicibilia antecedit. Diese Transzendierung des Aussagbaren (dicibilia) basiert jedoch auf einem doppeldeutigen ›non magis‹: An Gott reichen weder (1.) eine disjunktiv verfahrende Negation (quod neque sit neque non sit) noch (2.) eine kopulativ verfahrende Negation (quod sit et non sit) noch (3.) eine herkömmliche Disjunktion (quod sit vel non sit) heran. Mit diesem ›non magis‹ sind nicht nur gleichermaßen alle drei Aussagemöglichkeiten (M) ausgeschlossen: ¬ M1 ∧ ¬ M 2 ∧ ¬ M 3. Ausgeschlossen ist zugleich auch ihre Disjunktion: ¬ (M 1 ∨ M 2 ∨ M 3). Insofern gelten alle drei locutiones gleichermaßen, da keine einzelne von ihnen alleine gilt.

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differenz von Gegensätzen (a ∧ ¬ a) steht nicht mehr in einer Differenz zu einer herkömmlichen Disjunktion von Gegensätzen (a ∨ ¬ a). In dieser Logik der Negation zeigt sich Gott als »ante differentiam indifferentiae et differentiae«.145 Gleichwohl bleibt eine Disjunktion von kontradiktorisch Entgegengesetztem auch für Gott angemessen, solange bewußt gehalten wird, daß sie weder für sich allein genommen gelten noch einfach durch eine kopulativ verfahrende Negation überwunden werden kann. ›Koinzidenz‹ verweist demnach nicht bloß auf eine Negation von gegensätzlichen Momenten, die im Absoluten koinzidieren sollen. Als ein exklusiver Terminus für das, was da im Absoluten geschieht oder prozediert, bliebe der Koinzidenzbegriff mit Aporien behaftet, solange eben nur die ›dort‹ koinzidierenden Momente betrachtet werden. Es gibt dann im Augenblick der Aufhebung ihrer Gegensätzlichkeit tatsächlich nichts mehr, was zusammenfallen könnte.146 Den sachlichen Gehalt von ›Koinzidenz‹ entfaltet Cusanus daher auch und vor allem mit Hilfe von zwei Negationstypen, deren Zugleich − als »negatio oppositorum disiunctive ac copulative« − den absoluten Sinn von ›Koinzidenz‹ ersichtlich machen soll. Es stellt sich also zunächst das Verhältnis der beiden Negationstypen als ein ›non magis‹ dar. Dieses Verhältnis hat aber eine sachaufschließende Funktion für den Gehalt der Koinzidenz, insofern dieser Gehalt selbst ein ›non magis‹ meint. Von Gott divinaliter zu reden, meint dann nicht, eine Denk- und Sprachstufe erreicht zu

de ven. sap. 13; n. 35,8 (h XII 35). Vgl. nochmals Flasch, Die Metaphysik des Einen (wie Anm. 9), 220: »Man muß sich einmal fragen, was ›Zusammenfall der Gegensätze‹ bedeuten soll dort, wo der Begriff des Gegensatzes seines Sinnes beraubt wird, wo also nichts mehr ist, was zusammenfallen könnte. Diese Frage wird zu einer vernichtenden Kritik an der cusanischen Koinzidenzlehre, wenn man sie als eine Theorie über die innergöttlichen Gegensätze ansieht. Da es in Gott keine Gegensätze gibt, hat auch die Rede von ihrem Zusammenfall keinen Sinn, es sei denn den banalen, daß es keine Gegensätze gibt« (Hervorh. StG). Nach Flasch entgeht man diesem Problem auch nicht mit der interpretatorischen Konsequenz, daß die coincidentia oppositorum in letzter Instanz auf Gott selbst gar nicht zutreffen kann, weil Gott ›eigentlich‹ sogar über dem Zusammenfall der Gegensätze steht. Die Koinzidenz wäre dann »nur das Letzte, was unsere Vernunft in ihrem Hindenken zu Gott gerade noch zu erreichen vermag« (J. Stallmach, »Zusammenfall der Gegensätze. Das Prinzip der Dialektik bei Nikolaus von Kues«, in: MFCG 1 [1961], 52−75, hier 69; vgl. auch ders., »Der ›Zusammenfall der Gegensätze‹ und der unendliche Gott«, in: Nikolaus von Kues. Einführung in sein philosophisches Denken, hg. von K. Jacobi, Freiburg/München 1979, 56−73, hier 70). Wäre aber der Koinzidenzbegriff tatsächlich eine solche, »bloß subjektive Hilfskonstruktion«, dann wäre nach Flasch die selbstbescheidene Frage angebracht, »ob die Vernunft etwas anderes als Gott denkt, wenn sie die Koinzidenz denkt, ob sie nur ihr Hindenken zu Gott denkt, und ob nicht vielmehr diese Erkenntnis das Letzte ist, was zu erreichen ist« (Flasch, op. cit. 173 f. mit Anm. 2). Flasch hingegen sieht im menschlichen Denken den »Ort der Koinzidenz […], an dem sich das absolute Eine in seinem An-sich auf die Weise des Menschen zeigt« (ebd. 173). Gleichwohl zeigt sich hierbei das ›An-sich‹ des Einen eben nur auf die Weise des Menschen. Zwingt dies dann Cusanus zum ›Rückfall‹ in die radikal negative Theologie, um diesem ›An-sich‹ Gottes gerecht zu werden? Auch in dieser Deutung gälte dann für den Cusanischen Koinzidenzbegriff das Diktum Goethes: »Wer das erste Knopfloch verfehlt, kommt mit dem Zuknöpfen nicht zu Rande« (WA I 42/2, 225). 145 146

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haben, die ein rationaliter und intellectualiter vorgehendes Reden über Gott − also: sowohl kontradiktorische Aussagen wie auch die Kopulation von kontradiktorischen Gegensätzen − negierend aufgehoben hat.147 Ebensowenig aber ist diese Form des divinaliter loqui nur ein besonderer Glücksmoment im endlichen Denken, insofern der Mensch, aufs Ganze gesehen, »gar nicht nur divinaliter von Gott reden« kann, sondern notgedrungen »immer zugleich intellectualiter und rationaliter vorgehen« muß und so sich mit diesen »vorläufigen Stufen der Erkenntnis des Einen« in der Regel zu begnügen hat.148 Mit dem Terminus ›divinaliter‹ verknüpft Cusanus vielmehr eine Explikationsform: ein »divinaliter explicare«,149 das, in Eckharts Worten gesprochen, einen »modus aptissimus loquendi de divinis«150 ermöglichen soll. Die Adäquatheit dieser Explikationsform sieht Cusanus aber mit jenen beiden Negationstypen, der »negatio oppositorum disiunctive ac copulative«, garantiert, und dies deswegen, weil mit beiden Negationstypen eine Einfachheit auf eine Weise erreicht wird, die proportionalen Verhältnissen eher entkommt als die bloß kopulativ verfahrende Negation von Gegensätzen: »Improportionabiliter simplicior est negatio oppositorum disiunctive ac copulative quam eorum copulatio.«151 In der absoluten Einheit besteht nicht nur ruhig mit- und nebeneinander, was sonst − im Vergleich zur absoluten Einheit − in Gegensatz zueinander steht. Damit bliebe nicht nur die Koinzidenz aus der Dimension der Differenz heraus konzipiert und vergleichend auf diese Dimension bezogen,152 sondern es wäre insbesondere auch nicht geklärt, wieso die absolut koinzidentale Einheit der Grund für die Gegensätzlichkeit der Gegensätze sein kann. Von jener Explikationsform, die sich der beiden Negationstypen bedient, verspricht sich daher Cusanus die Explikationsleistung, die absolute Einheit nicht nur als gegensatzfrei in sich, sondern zugleich auch als gegensatzfrei gegenüber der Gegensätzlichkeit der Gegensätze verständlich zu machen. Gedacht hatte Cusanus diese Gegensatzfreiheit Gottes gegenüber der Gegensätzlichkeit der Gegensätze freilich auch schon in »De docta ignorantia«. Er hatte sie dort aber vor allem in ihren sachlichen Konsequenzen expliziert, so etwa anhand des Verhältnisses von Gott zu den partes universi. Hierbei bedeutet Gottes Gegensatzfreiheit gegenüber der Andersheit und Gegensätzlichkeit des Geschaffenen nicht Vgl. dagegen Flasch, Nikolaus von Kues (wie Anm. 3), 161: »Divinaliter − das wäre radikale Negation. Sie negiert die Verstandesverteilung der Gegensätze ebenso wie deren Vernunftverbindung, wenn sie von der absoluten Einheit redet. Und rückwärtsgewandt stellt Cusanus [in De coniecturis] klar: In De docta ignorantia ging ich in der Negation nicht weit genug. Ich habe von Gott nur intellectualiter, nicht divinaliter gesprochen.« 148 Flasch, Die Metaphysik des Einen (wie Anm. 9), 220. 149 Vgl. de coni. I 6; n. 24,4 (h III 31). 150 in Eccl. n. 63 (LW II 293,3). 151 De coni. I 6; n. 24,4−6 (h III 31). 152 Vgl. dazu oben, 128 ff. (Jacobis Deutung). 147

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einfach, daß Gott identisch wäre mit einem bestimmten Gestirn bzw. mit diesem zusammenfiele: »Deus autem non est in sole sol et in luna luna«.153 Damit, daß Gott nicht mit Sonne oder Mond ineinsfällt, ist gleichwohl nicht gesagt, Gott müsse nun als das Andere gegenüber Sonne und Mond im Gegensatz zu diesen stehen. Gemeint ist vielmehr, daß Gott gegensatzfrei das ist, was die Sonne als Sonne bzw. der Mond als Mond ist: »sed [deus est] id, quod est sol et luna, sine pluralitate et diversitate«.154 Cusanus’ Rede davon, daß Gott »das ist, was Sonne und Mond sind«, läuft aber hier nicht nur darauf hinaus, daß Sonne und Mond in Gott nur Gott sind − »sine pluralitate et diversitate«. Die Gegensatzfreiheit betrifft hier nicht die Seinweise der Dinge in Gott, sondern das Verhältnis Gottes zum je einzelnen ›Was‹ des Geschaffenen. Dieses ›Was‹ von Sonne und Mond zeigt sich aber, formal gesehen, in ihrer NichtAndersheit und damit in ihrer Gegensätzlichkeit zueinander: Die Sonne ist nichts anderes als die Sonne und damit ein Anderes gegenüber dem Mond, der seinerseits nichts anderes ist als der Mond. Gott ist es also, der gegensatzfrei das absolute ›Was‹ oder die Nicht-Andersheit von Sonne und Mond und daher auch die Gegensätzlichkeit von Mond und Sonne ist: ut quidditas absoluta rei non est res ipsa, ita [quidditas] contracta non est aliud quam ipsa.155 Zugespitzt könnte man sagen: Der Begriff der Koinzidenz zeigt sich hier in seinen sachlichen Konsequenzen – so etwa für die Cusanische ›Kosmologie‹ –, ist aber selbst noch nicht hinreichend expliziert. Dies leistet erst die Explikationsform, die sich der beiden Negationstypen bedient. Daraus ergeben sich zwar keine veränderten sachlichen Konsequenzen für den Koinzidenzbegriff. Wohl aber erlaubt es diese Explikationsform, daß Cusanus den Koinzidenzbegriff dann auch in anderen Termini − so etwa im Terminus des »non aliud« − einfalten kann: Ideo etsi deus nominetur non aliud, quia ipse est non aliud ab alio quocumque − sed propterea non est idem cum aliquo. Sicut enim [deus] non est aliud a caelo, ita non est idem cum caelo. Habent igitur omnia ut non alia quam sunt, quia deus ipsa diffinit, et ab ipso non aliud habent non aliud in specie generare, sed sibi simile efficere.156

docta ign. II 4; n. 115 (h I 74,20 f.). docta ign. II 4; n. 115 (h I 74,21). 155 docta ign. II 4; n. 115 (h I 74,15 f.). Als das ›absolute Was‹ oder das ›Nicht-Andere‹ ist Gott nicht die res ipsa, wohl aber konstituiert er als das ›Nicht-Andere‹ deren kontraktes ›Was‹ bzw. deren Nicht-Andersheit. 156 de ven. sap. 14; n. 41,3−8 (h XII 40). – Konsequenterweise besetzt der Koinzidenzbegriff in »De venatione sapientiae« auch kein eigenes Feld (campus). 153 154

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Die Verneinung der Andersheit Gottes gegenüber einem bestimmten Geschaffenen (deus non est aliud a caelo) bedeutet keine kopulativ verfahrende Negation des Gegensatzes ›Ungeschaffenes – Geschaffenes‹ und demnach auch keinen einsinnigen Zusammenfall von Gott mit dem Geschaffenen, so daß dann Gott auch der Himmel wäre. Vielmehr ist (1.) Gott der Himmel − »non est aliud a caelo«. Gleichermaßen aber ist (2.) Gott nicht der Himmel − »non est idem cum caelo«. Daher ist (3.) Gott genauso der Himmel, wie er nicht der Himmel ist: Himmel und zugleich nicht Himmel − »sicut deus non est aliud a caelo, ita non est idem cum caelo«. Und schließlich (4.): Genausowenig wie Gott nicht der Himmel ist, so ist er genausowenig der Himmel; weder gilt von Gott, daß er nicht der Himmel ist, noch gilt von ihm, daß er der Himmel ist − »sicut non est aliud a caelo, ita non est idem cum caelo«. Dieses Zusammenspiel von Kontradiktion (1. und 2.), kopulativer (3.) und disjunktiver (4.) Negation der Gegensätze entfaltet also den Koinzidenzbegriff in den Terminus des non aliud: als Gottes Gegensatzfreiheit oder Nicht-Andersheit gegenüber der Andersheit des Anderen.157 Damit ist aber auch der Grund dafür benannt, daß alles Endliche jeweils es selbst ist und im Gegensatz zueinander steht (omnia non alia quam sunt): Jedes Einzelne (E1, E2, E3 usw.) ist nichts anderes als eben dieses Einzelne und damit nichts anderes als ein jeweils Anderes (E1 vs. E2 vs. E3 usw.). Als das Nicht-Andere ist Gott aber die Nicht-Andersheit oder das ›Was‹ des Anderen, ohne daß Gott mit dem, was jeweils anderes ist, einfach ununterscheidbar zusammenfiele.158 Der Sinn solcher Cusanischen Formeln für die Koinzidenz, wie z. B. »oppositorum oppositio sine oppositione«,159 »alteritas sine alteritate«160 oder »contradictio sine contradictione«,161 erschließt sich daher vornehmlich über diese beiden Negationstypen: Als »oppositio oppositorum« negiert die absolute Einheit nicht bloß Gegensätzliches für sich, sondern steht als »oppositio sine oppositione« auch in keinem Gegensatz zur Gegensätzlichkeit des Gegensätzlichen. Ein gegensatzfreies Verhältnis zur Gegensätzlichkeit von differenten Gliedern hat also die absolut koinzidentale Einheit nicht in dem ›konservativen‹ Sinn, daß sie diese Gegensätzlichkeit der Gegensätze auf sich beruhen ließe, an sie nicht heranreichen oder gar von dieser als dem Anderen ihrer selbst zurückweichen würde.162 Vgl. auch. ebd. n. 41,11 f. (h XII 40): li non aliud non opponitur li aliud. Für eine ausführlichere Diskussion dieser Problematik siehe unten Abschnitt 3.3. 159 Vgl. de non aliud 19 (h XIII 47,9 f.). 160 de vis. Dei 13; n. 54,1 f. (h VI 46). 161 de vis. Dei 13; n. 54,2 f. (h VI 46). Vgl. dazu insbesondere W. Beierwaltes, »Deus Oppositio oppositorum (Nikolaus Cusanus, De visione dei XIII)«, in: Salzburger Jahrbuch für Philosophie 8 (1964), 175−185. 162 Vgl. dagegen Schulze, Zahl, Proportion, Analogie (wie Anm. 89), 47: »Das, was die Koinzidenz geradezu auszeichnet, ist das Belassen der Differenz (aufgehobene Einheit der opposita im Übergegensätzlichen) und nicht ihr Zum-verschwinden-Bringen.« Einen Schritt weiter scheint E. Fräntzki 157 158

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2.3 Koinzidenz und Kreisquadratur Demnach mag zwar der sachliche Gehalt des Koinzidenzbegriffes paradox oder ›translogisch‹ anmuten, solange Cusanus vornehmlich die sachlichen – theologischen, kosmologischen und nicht zuletzt christologischen – Konsequenzen der Koinzidenzlehre entwickelt. Cusanus reflektiert in »De docta ignorantia« nicht oder nur kaum auf den methodischen Aspekt, wie der Koinzidenzbegriff am besten zu entwickeln oder gar zu veranschaulichen ist, sondern eher auf den sachlichen Aspekt, was überhaupt aus dem Koinzidenzbegriff zu gewinnen ist. Cusanus’ mathematische bzw. geometrische Überlegungen dienen hier denn auch eher dem Nachweis, welche Konsequenzen sich aus der absoluten Koinzidenz etwa für mathematisch oder geometrisch beschreibbare Größenordnungen ergeben, − und weniger als beispielhafte Veranschaulichungen für den Koinzidenzbegriff selbst.163 Denn nicht die Maximierung von endlichen Größen macht die Koinzidenz verständlich, vielmehr

(Nikolaus von Kues und das Problem der absoluten Subjektivität, Meisenheim 1972) zu gehen, wenn er gerade in diesem ›Belassen der Differenz‹ das Problem der Cusanischen Philosophie sieht, an dem diese letztlich scheitert. Insofern nämlich Cusanus die Differenz von Endlichem und Unendlichem »wie selbstverständlich« (ebd. 155) bzw. »fraglos« hinnehme (ebd. 162), rächt sich diese unreflektierte Voraussetzung in letzter Instanz an Cusanus’ Begriff des Absoluten: Das Absolute, als Inbegriff oder Totalität des Seienden konzipiert, reicht nicht mehr an das Seiende, Endliche, Defizitäre heran, da letzteres dem Absoluten »eine unaufhebbare Negation« entgegensetzt, welche den Totalitätsanspruch des Absoluten desavouiert (ebd. 171). Indem also Cusanus »die Differenz nicht hinreichend« (ebd. 170) durchdacht habe, bleibe bei Cusanus der alles umgreifende Negationscharakter des Absoluten hinter seinen Möglichkeiten zurück. Dazu ist vorläufig zu sagen: Zwar bringt die absolute Koinzidenz des Einen die Gegensätzlichkeit des Endlichen nicht zum Verschwinden, insofern sie sich nicht einsinnig negativ − nicht als bloßer Gegenbegriff − zur Gegensätzlichkeit der Gegensätze verhält. Damit beläßt sie jedoch nicht einfach die Differenz als ein ›Gegenüber‹ zu ihr selbst. Vielmehr läßt die absolut koinzidentale Einheit aufgrund ihres Verhältnisses des ›non magis‹ die Gegensätzlichkeit des Gegensätzlichen erst sein. Vgl. dazu vorerst de non aliud 5 (h XIII 11,21−26): Ipsum enim ›non aliud‹ adaequatissima ratio est discretioque et mensura omnium, quae sunt, ut sint; et quae non sunt, quod non sint; et quae possunt esse, quod esse possint; et quae sic sunt, ut sic sint; et quae moventur, ut moveantur; et quae stant, ut stent; et quae vivunt, ut vivent; et quae intelligunt, ut intelligant, et euismodi omnia (Hervorh. StG). Weiteres dazu unten in Abschnitt 3.3. 163 Cusanus fordert selbst für den rechten Gebrauch seiner beispielhaften »manuductiones«, daß man ihren veranschaulichenden Charakter hinter sich lasse (liquere sensibilia): Exemplaribus etiam manuductionibus necesse est transcendenter uti, liquendo sensibilia, ut ad intellectualitatem simplicem expedite lector ascendat (docta ign. I 2; n. 8; h I 8,12−14). Eine Erwartungshaltung hingegen, die von diesen Beispielen eine Veranschaulichung des Koinzidenzbegriffes erhofft, sieht sich enttäuscht und daher nur die »Belastung«, die »die mathematico-theologischen Ausführungen von De docta ignorantia darstellen. Sie dienen heute [!] nicht mehr der Einführung; sie erschweren den Zugang. Cusanus konnte seine Philosophie 1450« − also nach »De docta ignorantia« − »auch ohne sie darstellen« (Flasch, Nikolaus von Kues [wie Anm. 3], 273). Schon damals dienten jedoch die Beispiele, wie gleich gezeigt werden soll, nicht der Einführung, wenn man darunter so etwas wie einen leichten, anschaulichen Zugang zur Koinzidenzproblematik versteht.

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erklärt sich aus der Koinzidenz die unendliche Maximierbarkeit von endlichen Größen.164 So bewegt sich etwa ein immer stärker gedehnter Kreisbogen auf die Gerade hin, er koinzidiert aber gerade nicht mit der Geraden. Dieser Kreisbogen könnte also zur Geraden werden, ohne daß er tatsächlich eine Gerade wird. Diese Spannung zwischen einer möglichen, ›tendentiellen‹ Erreichbarkeit und einer faktischen Unerreichbarkeit ist aber nicht erklärbar ohne den Koinzidenzbegriff: »ea, quae sunt in potentia finiti, est actu infinitum«.165 Die Koinzidenz als die Wirklichkeit des Unendlichen ist der Bestimmungsgrund für die immanente Tendenz von endlichen Größen zu ihrer Koinzidenz und für die reale Unmöglichkeit ihrer Erfüllung. Daß den endlichen Größen nicht real möglich ist, was sich an ihnen gleichwohl als eine immanente Tendenz zeigt, erklärt sich daher zunächst aus dem »Prinzip der zu vermeidenden Koinzidenz von Kontradiktorischem«.166 Die Frage ist aber, was genau aus diesem Prinzip für die mathematische Errechnung real ›ungenauer‹ Verhältnisse folgt. Mit diesem Prinzip der ausgeschlossenen Koinzidenz ist die aktuelle Beschränkung (an)erkannt, die einer mathematischen Bestimmung, etwa der Errechnung der Gleichheit von Kreisbogen und Linie, auferlegt ist. Aus dem Prinzip der zu vermeidenden Koinzidenz folgt daher nur, daß bei der mathematischen Errechnung des Verhältnisses von Kreisbogen und Linie keine genaue Gleichheit erreichbar ist. Ist aber damit für Cusanus gesagt, es sei der bloße »Verzicht auf Exaktheit«, der nach Anneliese Maiers bekanntem Diktum »allein eine exakte Naturwissenschaft möglich macht«?167 Mit diesem Prinzip der ausgeschlossenen Koinzidenz scheint für Cusanus nun nicht die immanente Tendenz oder das Streben zweier geometrischer Gebilde nach ihrer Koinzidenz oder genauen Gleichheit erklärt, geschweige denn aus der Welt geschafft. Denn wenn die Koinzidenz dieser Gebilde als mathematisch haltlos, als ein bloß »symbolisch-mathematische[s] Phantasiegebilde«168 entlarvt werden könnVgl. dagegen Flasch, Nikolaus von Kues (wie Anm. 3), 171: In »De docta ignorantia« habe Cusanus »die geometrischen Figuren ins Unendliche [zerdehnt], so daß unendlicher Kreis und unendliches Dreieck identisch wurden, also die Mathematik verlassen war« (Hervorh. StG). Cusanus instrumentalisiert jedoch nicht die Mathematik für theologische Belange – für einen Beweis der absoluten Koinzidenz more geometrico –, sondern es werden umgekehrt geometrische und mathematische Unendlichkeitsphänomene durch den Koinzidenzbegriff erschlossen. Näheres dazu im Anschluß. 165 docta ign. I 13; n. 36 (h I 27,18 f.). 166 de coni. II 2; n. 81,15 f. (h III 79): principium vitandae coincidentiae contradictionis. Vgl. auch die dort unmittelbar zuvor angeführten mathematischen und geometrischen Phänomene, deren rational, d. h. proportional unmögliche Erfassung Cusanus mit diesem Prinzip erklärt: ebd. n. 81,7−15 (h III 79). 167 A. Maier, Metaphysische Hintergründe der spätscholastischen Naturphilosophie, Roma 1955, 402; Hervorh. StG. 168 J. Uebinger, »Die mathematischen Schriften des Nik. Cusanus«, in: Philosophisches Jahrbuch 9 (1896), 54−66; hier 59. 164

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te, wäre für Cusanus die genaue Gleichheit zweier geometrischer Größen (z. B. von Kreisbogen und Gerade) auch kein ernsthaft mathematisches Problem mehr: Das bloße Faktum, daß eine genaue Gleichheit von Kreisbogen und Linie nicht berechnet werden kann, machte alle mathematischen Überlegungen hinfällig, wie das Verhältnis von Kreisbogen und Linie errechnet werden kann. Das Verhältnis dieser beiden geometrischen Größen wäre bereits dadurch hinreichend bestimmt, daß ein schuldiger Kandidat für ihre mathematisch nicht berechenbare Gleichheit benannt wird und dieser dann auch »inner-geometrisch ausgeschlossen werden muß – die Koinzidenz«.169 Alle mathematischen Bemühungen um die Rektifikation des Kreisbogens stünden unter dem resignativen Vorzeichen, sich aus guten Gründen – aufgrund der zu vermeidenden Koinzidenz – ins Unvermeidliche fügen zu müssen und sich die Möglichkeit einer mathematisch hinreichenden Darstellung ›nicht-exakter‹ Verhältnisse versagen zu müssen. Mit dem kategorischen Ausschluß des Koinzidenzbegriffes würde sich die Mathematik daher selbst um die ihr eigenen Möglichkeiten – der mathematisch exakten Darstellung ›nicht-exakter‹ Phänomene – bringen: Nicht in der prinzipiellen Ungenauigkeit oder Ungleichheit zweier geometrischer Größen liegt die mathematische Herausforderung, sondern darin, wie überhaupt ihre Gleichheit mathematisch hinreichend bestimmt werden kann.170 Flasch, Nikolaus von Kues (wie Anm. 3) 174. Auch für Uebinger hat die Einführung des Prinzips von der ausgeschlossenen Koinzidenz in die Mathematik zur Folge, daß Cusanus den Koinzidenzbegriff nicht mehr als den »Leitstern in der Mathematik« betrachtet. Der Ausschluß der Koinzidenz bilde demzufolge »die einzige Grundlage zum Beweise mathematischer Sätze« (J. Uebinger, »Die mathematischen Schriften des Nik. Cusanus«, in: Philosophisches Jahrbuch 8 [1895], 301−317; hier 308 f.). 170 Genau dieses hier spezifisch mathematische Problem, unter welchen Voraussetzungen die adäquate Erfassung nicht exakt fassbarer Verhältnisse steht, hatte Cusanus zuvor schon in »De docta ignorantia« ins Prinzipielle gewendet mit der Frage, unter welchen Bedingungen ein adäquates Erkennen der nicht exakt wissbaren Wahrheit überhaupt steht. Auch hier würde sich der menschliche Intellekt um die ihm eigenen Möglichkeiten bringen, wenn er einfach nur auf dem Ausschluß der Erkennbarkeit der Wahrheit insistierte. Die Herausforderung für den Intellekt besteht vielmehr darin, daß er angesichts seiner Unmöglichkeit, die Wahrheit genau erfassen zu können, in der Näherung das ihm adäquate Verhältnis zur Wahrheit sehen (lernen) muß. Der hierbei verwendete Vergleich des Verhältnisses von Intellekt und Wahrheit mit demjenigen von Vieleck und Kreis charakterisiert daher die Koinzidenz nicht als einen Hinderungsgrund, sondern als den Ermöglichungsgrund für diese Einsicht: Intellectus igitur, qui non est veritas, numquam veritatem adeo praecise comprehendit, quin per infinitum praecisius comprehendi possit, habens se ad veritatem sicut polygonia ad circulum, quae quanto inscripta plurium angulorum fuerit, tanto similior circulo, numquam tamen efficitur aequalis, etiam si angulos in infinitum multiplicaverit, nisi in identitatem cum circulo se resolvat (docta ign. I 3; n. 10; h I 9,14−20). Der Koinzidenzbegriff ermöglicht also nicht die ›Einsicht‹, daß es überhaupt kein rationales Verhältnis zwischen Intellekt und Wahrheit bzw. zwischen Vieleck und Kreis gibt, sondern die adäquate Einsicht, daß dieses Verhältnis als ein ungenaues zu verstehen ist. Nicht, daß wir gar nichts von der Wahrheit wissen, ist die Lehre, die wir aus der Einsicht in unsere Unwissenheit zu ziehen haben, sondern daß wir von der Wahrheit nur auf bestimmte Weise wissen: et quanto in hac ignorantia profundius docti fuerimus, tanto magis ipsam accedimus veritatem (ebd. Z. 26−28). Vgl. dazu etwa auch D. F. Duclow, »Gregor of Nyssa and Nicholas of Cusa: Infinity, Anthropology and 169

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II. Nicolaus Cusanus

Aus diesem Grund ist die auch Quadratur des Kreises für Cusanus gar nicht als Problem verständlich ohne den Koinzidenzbegriff.171 Die Kreisquadratur kann gar nicht als ein mathematisches Problem begriffen werden, ohne daß eingesehen wird, was dieses mathematische Problem erst ermöglicht: die dem Quadrat immanente Tendenz, ein Kreis werden – also mit dem Kreis koinzidieren – zu ›können‹. Die versuchsweise oder hypothetische Behauptung der Koinzidenz von Quadrat und Kreis eröffnet daher allererst die Einsicht in das, was angesichts geometrischer Größen überhaupt behauptet werden kann und was nicht: Temptavi ego aliquando affirmans quadraturam circuli diametri et circumferentiae per rationem circuli proportionem inattingibilem atque inadmissibiliem propter iam dictam coincidentiam vitandam et statim quid geometrice affirmandum quidve negandum vidi.172 the via negativa«, in: The Downside Review 92 (1974), 102−108; hier 105; sowie M. Böhlandt, »Vollendung und Anfang. Zur Genese der Schrift De mathematica perfectione«, in: MFCG 29 (2005), 3−40; hier 19. 171 Zur Kreisquadratur bei Cusanus vgl. etwa Nagel, Nicolaus Cusanus (wie Anm. 93), 61 ff.; sowie neuerdings J.-M. Counet, Mathématiques et dialectique chez Nicolas de Cuse, Paris 2000, 257 ff. und M. Böhlandt, Wege ins Unendliche. Die Quadratur des Kreises bei Nikolaus von Kues, Augsburg/München 2002. 172 de coni. II 2; n. 82,1−6 (h III 79). Als ›Varianten‹ angegeben sind hier die beiden Fassungen, die Cusanus selbst dem Text hat angedeihen lassen; die Worte »quadraturam circuli per rationem« hat also Cusanus nachmals durch »diametri et circumferentiae circuli proportionem« ersetzt. Nach meinem Verständnis ließe sich der Satz etwa so übersetzen: ›Ich habe einmal eine proportional faßbare Beziehung zwischen Kreisdurchmesser und Umfang [die Quadratur des Kreises] versuchsweise behauptet (temptavi affirmans), welche [mittels des Verstandes (per rationem)] aufgrund der eben angeführten Vermeidung der Koinzidenz weder erreichbar noch zulässig ist, und habe dabei sogleich gesehen, was in der Geometrie behauptet werden kann und was nicht.‹ Das »per rationem« ist also zu »inattingibilem atque inadmissibiliem…« zu ziehen. Für meine Lesart spricht, daß Cusanus ein paar Zeilen weiter wiederum eine Änderung in seinem Text vornimmt und dort nur die Wendung »quadratura circuli« durch »haec proportio [sc. diametri et circumferentiae circuli]« ersetzt: de coni. II 2; n. 82,8−11 (h III 80). Cusanus’ Problem ist also nicht, daß für die ratio ›eigentlich‹ unzulässig ist, was bei einer Kreisquadratur bzw. bei einer proportionalen Verhältnisbestimmung von Kreisdurchmesser und Umfang versucht wird. Denn die Mathematik verzichtet gerade nicht auf ein Erfassen von ›Unendlichkeitsphänomenen‹ wie der Kreisquadratur. Cusanus’ mathematisches Problem besteht daher darin, wie eine Kreisquadratur bzw. eine solche Verhältnisbestimmung dennoch zu erreichen ist, obwohl sie zunächst ›unzulässig‹ erscheint. Zu diesem Zweck affirmiert Cusanus hypothetisch jene Verhältnisbestimmung bzw. die Kreisquadratur. Die Möglichkeit einer Kreisquadratur kann nicht einfach geleugnet werden, damit sie dann mathematisch angegangen werden kann. − Uebinger versteht den Satz dagegen so: »Wer das methodische Princip, ein Zusammentreffen [von Gegensätzen] zu vermeiden, stets im Auge behält, sieht auch augenblicklich, was er in der Geometrie behaupten darf, beziehungsweise was er verneinen muß« (Uebinger, »Die mathematischen Schriften« [wie Anm. 169], 309). Die versuchsweise koinzidentelle Behauptung der Kreisquadratur schränkt jedoch dieses Prinzip wieder ein. Dadurch erst eröffnet sich für Cusanus die Einsicht in das, worin mathematische Aussagen über geometrische ›Unendlichkeitsphänomene‹ prinzipiell fundiert sind: im Ausschluß und zugleich in der Annahme der Koinzidenz. Weiteres dazu im Anschluß.

2. Negation und Ineinsfall der Gegensätze

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Cusanus sagt hier also nicht, er habe einst noch (aliquando) an die proportional berechenbare Kreisquadratur wirklich geglaubt und sich in diesem Glauben an der Quadratur versucht, inzwischen habe er jedoch ihre Unmöglichkeit einsehen müssen. Cusanus behauptet hier vielmehr, daß für eine mathematisch hinreichende Darstellung der Kreisquadratur die Behauptung einer Koinzidenz, zumindest hypothetisch, aufrecht erhalten werden muß, um sich an ihr überhaupt mathematisch versuchen zu können.173 Daß eine Kreisquadratur aktuell unmöglich ist, ergibt sich aus dem Prinzip von der auszuschließenden Koinzidenz, insofern letztere für quantitativ erfaßbare Größen nicht gilt. Gleichwohl erschließt der Koinzidenzbegriff dieses zunächst ›rein‹ mathematisch anmutende Problem überhaupt erst als Problem, da die Kreisquadratur im Sinne einer Näherung von Kreis und Quadrat nur durch den Koinzidenzbegriff verständlich wird.174 Das Postulat einer näherungsweisen Gleichheit von Kreis und Quadrat tritt demnach nicht − gewissermaßen als δεύτερος πλοῡς − an die Stelle ihrer absoluten Gleichheit oder Koinzidenz, welche mathematisch ausgeschlossen ist.175 Intendierte Cusanus einzig und allein den Ausschluß des Koinzidenzbegriffes aus der Mathematik und Geometrie, dann wären seine wiederholten − und wiederholt mißlungenen − Versuche der Kreisquadratur als rührende Versuche eines »ewig Unbelehrbaren« abzutun, der sich trotz besserer Einsicht um die unerreichbare Quadratur des Zirkels bemüht.176 Zum hypothetischen Charakter von Koinzidenzbehauptungen siehe auch M. de Gandillac, Nikolaus von Cues. Studien zu seiner Philosophie und philosophischen Weltanschauung, Düsseldorf 1953, 202 ff. − Nach Flasch hingegen »vollzieht [Cusanus hier] − wieder einmal − eine Selbstkorrektur. Er erklärt, früher habe er einmal geglaubt, die Kreisquadratur per rationem, durch Verstandesverfahren [und d. h. für Flasch: mathematisch], beweisen zu können, dann aber habe er begriffen, daß die Natur des Verstandes sie ausschließe« (Flasch, Nikolaus von Kues [wie Anm. 3], 173). Flasch entwikkelt sein Verständnis dieses Cusanischen Satzes mit Hilfe von dessen adversativer Zuspitzung, welche allein schon in sprachlicher Hinsicht nicht überzeugt (»Ich habe mich früher einmal an der Quadratur versucht, … sah aber dann« für: »temptavi aliquando affirmans … et statim vidi«). Siehe dafür Flasch, op. cit. 173 f. mit Anm. 303. 174 Der Begriff der Annäherung schließt also für Cusanus den Koinzidenzbegriff – die präzise oder wahre Gleichheit von Kreis und Quadrat – nicht aus, sondern setzt ihn vielmehr unabdingbar voraus. Vgl. dazu auch Hösle, »Platonismus und Antiplatonismus« (wie Anm. 109), 117: »Der bloße Gedanke der Annäherung ist in der Tat philosophisch unbefriedigend, da er nicht zu erklären vermag, wie wir wissen können, daß wir uns der Wahrheit nähern, wenn wir keine Kenntnis der Wahrheit haben. Wie ist es möglich zu behaupten, daß wir uns der Wahrheit nähern und uns nicht von ihr entfernen, wenn uns die Wahrheit vollständig unbekannt ist?« 175 Vgl. dagegen Böhlandt, Wege ins Unendliche (wie Anm. 171), 66. 176 Vgl. dazu J. E. Hofmann, »Sinn und Bedeutung der wichtigsten mathematischen Schriften des Nikolaus von Kues«, in: Nicolò Cusano agli inizi del mondo moderno (wie Anm. 77), 385−398; hier 396. − Wenig gewonnen scheint mir auch mit der Annahme, daß Cusanus in seinen mathematischen Schriften dem Koinzidenzbegriff die neue Bedeutungsvalenz eines »Zusammentreffverfahrens« verleiht. Vgl. dazu Uebinger, »Die mathematischen Schriften« (wie Anm. 168), 60; sowie im Anschluß daran Flasch, Nikolaus von Kues (wie Anm. 3), 172. Zumindest merkwürdig mutet es an, wenn Cusanus 173

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II. Nicolaus Cusanus

Die Koinzidenz im Sinne der absoluten oder genauen Gleichheit von Quadrat und Kreis schließt Cusanus also bewußt aus; sie ist für geometrische Gebilde mathematisch nicht berechenbar: »In der mathematischen Wissenschaft ist jeder Satz, aus dem die genaue Gleichheit von Kreis und Quadrat erfolgt, unmöglich.«177 Gleichwohl folgt für Cusanus daraus nicht, daß die Kreisquadratur überhaupt kein Gegenstand der Mathematik mehr sein kann: Zu einem gegebenen Kreis läßt sich ein Quadrat angeben, das zwar größer ist als der Kreis, jedoch nicht um einen rationalen Bruchteil [pars aliquota] des Quadrats. Und zu einem gegebenen Quadrat läßt sich ein kleinerer Kreis angeben, der jedoch nicht um einen rationalen Bruchteil des Kreises kleiner ist. Daraus folgt: Zu einem gegebenen Kreis läßt sich ein größeres Quadrat geben − größer jedoch nicht um einen rationalen Bruchteil. Und zu jedem so gegebenen Quadrat läßt sich ein anderes Quadrat geben, das dem Kreis näher kommt, aber keines, das ihm genau gleicht kommt, und keines, das um einen rationalen Bruchteil kleiner ist als der Kreis. Gleiches gilt für den umgekehrten Fall [daß also zu einem gegebenen Quadrat ein kleinerer Kreis angegeben werden kann, welcher jedoch nicht um einen rationalen Bruchteil kleiner ist als das Quadrat].178 Für einen bestimmten Kreis läßt sich demnach ein bestimmtes, größeres Quadrat mathematisch bestimmen, das weder dem Kreis genau gleich kommt noch durch ein Quadrat unterboten werden kann, welches um einen rationalen Bruchteil kleiner wäre als jenes erste Quadrat und das daher dem Kreis auf proportional bestimmbare für jenes »neue Verfahren« ausgerechnet einen von ihm bereits intensiv durchdachten Terminus verwenden sollte − zumal dann tatsächlich zwischen zwei Verwendungsweisen ein und desselben Begriffs »ein himmelweiter Unterschied« (Uebinger, op. cit. 60) bestehen würde, dessen äquivoken Charakter Cusanus selbst nicht explizit macht. Wenn denn schon das Ziel von Cusanus’ mathematischen Überlegungen in einer »reinliche[n] Scheidung von Mathematik und Philosophie« (Flasch, op. cit. 172) bestehen sollte, dann wäre dieser Intention mit solch einem − schlecht ›koinzidentalen‹ − Begriffswirrwarr wenig gedient. Kritisch gegenüber Flaschs These von einer allmählich schärferen Trennung von Mathematik und Philosophie bei Cusanus sind: J. Inthorn/M. Reder, Philosophie und Mathematik bei Cusanus. Eine Verhältnisbestimmung von dialektischem und binärem Denken, Trier 2005, 32 mit Anm. 59. 177 De circuli quadratura. n. 25, 8–10 (h XX, 60): Omnis enim propositio in mathematicis, per quam sequitur praecisa aequalitas circuli et quadrati, est impossibilis. Übs. nach H 11, 49. – Diese Schrift ist von Raymond Klibansky wiederentdeckt worden. Siehe dazu auch H. Liebmann, »Über drei neuaufgefundene mathematische Schriften des Nikolaus von Cues und ihre Bedeutung«, in: Forschungen und Fortschritte 5 (1929), 261: »Wie kaum eine andere mathematische Schrift läßt diese die Gedankenentwicklung des Cusanus, die philosophische Deutung und Bindung mathematischer Probleme, erkennen.« 178 De circuli quadratura. n. 9, 1–8 (h XX, 54): dato circulo [poest] dari quadratum, quod etsi fuerit maius circulo, non tamen aliqua parte aliquota eius, scilicet quadrati; et dato quadrato potest dari circulus minor eo, non tamen minor parte aliquota circuli. Et consequenter ex hoc habetur, quod licet dato circulo posset dari quadratum maius, non tamen parte aliquota eius maius; et quod quocumque quadrato tali dato adhuc possit dari aliud praecisius circulo, licet nullum praecisissimum, et nullum minus circulo parte aliquota eius, ita et a converso. Übs. nach H 11, 40 (mit leichten Veränderungen).

2. Negation und Ineinsfall der Gegensätze

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Weise näher käme als jenes erste Quadrat. Größer als der Kreis ist jenes erste Quadrat nicht mehr in einem proportionalen Sinne. Ein solches Quadrat, das nicht mehr proportional unterboten werden kann, stellt daher ein aktuelles Maximum an Gleichheit von Kreis und Quadrat dar. Diese Gleichheit des Quadrats mit dem Kreis beruht darauf, daß sie nicht mehr einem Vergleich zugänglich ist, bei dem sich ja eine proportionale Differenz von Quadrat und Kreis feststellen lassen müßte.179 Diese Gleichheit stellt demnach jenen Indifferenzpunkt dar, wo das Quadrat »auch nicht um den kleinsten angebbaren Bruchteil [pars aliquota] des Quadrats und des Kreises größer oder kleiner ist als der Kreis«.180 Mit diesem Indifferenzpunkt ist zwar eine Gleichheit von Quadrat und Kreis behauptet, welche sich nicht mehr mittels eines proportionalen Vergleichs, mit Hilfe von rationalen Bruchteilen, dementieren läßt. Damit ist jedoch noch nicht die Differenz von Quadrat und Kreis als solche dementiert: Es bleibt bei diesen geometrischen Figuren weiterhin ein prinzipiell irreduzibles ›Größer und Kleiner‹ bestehen − und damit eine prinzipielle Vergleichbarkeit von Kreis und Quadrat: Zu einem Quadrat, das um keinen Bruchteil mehr größer ist als der Kreis, läßt sich immer noch »ein anderes Quadrat angeben, das dem Kreis näher kommt«. Kreis und Quadrat bleiben vergleichbar – koinzidieren also nicht –, auch wenn sie nicht mehr proportional miteinander verglichen werden können, diese ihre aktuelle Unvergleichbarkeit also auf eine Koinzidenz ›hinausläuft‹. Das mathematisch berechenbare Ende einer proportionalen Vergleichbarkeit oder Differenz von Kreis und Quadrat ist daher nicht einfach gleichbedeutend mit dem Erreichen einer absoluten A-Proportionalität, wie sie das absolut koinzidentale Eine auszeichnet.181 Gleichheit im Sinne jener Indifferenz, die ein proportionales, in Bruchteilen darstellbares Verhältnis unterläuft, ist daher nicht identisch mit der absoluten, schlechthin a-proportionalen Gleichheit oder Koinzidenz, welche überhaupt kein ›Größer und Kleiner‹ mehr kennt. Der proportio-Charakter alles Endlichen, sein durchgängiges ›Größer- und Kleiner-Sein‹, ist daher auch nicht mit der mathematischen Errechnung eines Indifferenzpunktes zu überwinden.182 Vgl. dafür das oben, 142 ff. Ausgeführte; sowie De circuli quadratura n. 11, 3 f. (h XX, 54): Omne enim maius aut est parte aliquota aut sui aut alterius, cui comparatur, maius (Übs. nach H 11, 41: »Jedes Größere ist nämlich größer um einen Bruchteil seiner selbst oder der anderen Größe, mit dem es verglichen wird«). 180 Übs. nach H 11, 41. Vgl. De circuli quadratura n. 11, 4–6 (h XX, 54): Sed cum quadratum, quod datur, neque minima dabili parte aut quadrati aut circuli est circulo aut maius aut minus, hoc vocarunt aequale. 181 So auch M. Folkerts, »Die Quellen und die Bedeutung der mathematischen Werke des Nikolaus von Kues«, in: MFCG 28 (2003), 291−332; hier 314: »Cusanus unterscheidet zwischen der absoluten Gleichheit und einer Gleichheit, die einen Unterschied läßt, der kleiner als ein noch so geringer rationaler Bruchteil ist.« 182 Man kann daher wohl kaum behaupten, daß noch zur Abfassungszeit von »De docta ignorantia« Cusanus »die Möglichkeit einer Kreisquadratur ablehnt«, er aber dann in seinen mathematischen Schriften zu der »neuen These« gelangt: »Im Bereich der Ratio […] und damit im Bereich der Mathe179

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II. Nicolaus Cusanus

Gleichwohl steht die absolute Koinzidenz nicht im Gegensatz zu jener Indifferenz. Wäre nämlich für die mathematische Berechnung des Verhältnisses von Kreisund Quadratfläche einzig die Negation der Koinzidenz bzw. der absoluten Gleichheit von Quadrat und Kreis erforderlich, dann wäre nur mehr die bloße Feststellung einer Differenz oder Ungleichheit von Kreis und Quadrat mathematisch möglich. Jeder Gedanke an eine mathematisch adäquat darstellbare – d. h. näherungsweise – Quadratur des Kreises wäre von vornherein verschwendet. Die mathematisch adäquat darstellbare Gleichheit von Kreis und Quadrat läuft jedoch für Cusanus darauf hinaus, daß Kreis und Quadrat nach dieser mathematischen Prozedur weder miteinander vergleichbar noch unvergleichbar sein können – also: sowohl miteinander koinzidieren als auch nicht koinzidieren. Die gleichzeitige Affirmation und Negation ihrer Koinzidenz ist daher für Cusanus der einzige Weg, mathematische ›Unendlichkeitsphänomene‹ wie die Kreisquadratur adäquat in den Blick zu bekommen: Mathematische Sätze sind aus dem Grund richtig, weil andernfalls die Kreisquadratur folgen würde, und ebenso aus dem Grund, weil andernfalls folgen würde, daß der Kreis nicht quadriert werden kann. Aus der Behauptung und Verneinung der Kreisquadratur können also alle mathematischen Sätze als richtig nachgewiesen werden.183 Auch hier geht es also Cusanus darum, was angesichts des Problems der Kreisquadratur mathematisch ›behauptet werden kann und was nicht‹ − und mithin darum, matik ist eine Ausstreckung der gekrümmten Linie und damit auch eine Umwandlung des Kreises in ein Rechteck möglich, die keine rational aufweisbare Differenz zwischen den Strecken oder Flächen mehr aufweist« (P. Wilpert, »Kontinuum oder Quantensprung bei Nikolaus von Kues«, in: Wissenschaft und Weltbild 16 [1963], 102−112; hier 104). Neu wäre diese These nur, wenn Cusanus in »De docta ignorantia« tatsächlich behauptet hätte, daß innerhalb eines infiniten Progresses kein aktuelles Maximum (in diesem Fall: kein aktuelles, proportional errechenbares Maximum der Gleichheit von Quadrat und Kreis) erreichbar ist. Cusanus gesteht denn auch der ratio nicht nachträglich zu, was er ihr in seinem ersten philosophischen Hauptwerk noch abspräche. Wenn dagegen Wilpert als Indiz für Cusanus’ Wandlung in der Frage nach der Kreisquadratur ihre beispielhafte Erwähnung in docta ign. III 1 heranzieht, so blendet er dabei den Kontext aus, in dem dieses Beispiel steht. Was nämlich Cusanus hier anhand des Verhältnisses von Kreis und Quadrat exemplifiziert, ist die prinzipielle Unmöglichkeit einer genauen Gleichheit (aequalitas praecisa) bzw. eines kontinuierlichen oder stetigen Übergangs der Quadrates in den Kreis. Damit ist aber noch nicht die Möglichkeit in Abrede gestellt, ein aktuelles Maximum an Flächengleichheit proportional zu errechnen: […] ut numquam aequalitatem praecisam attingit; sicut quadratum inscriptum circulo transit ad magnitudinem circumscripti de quadrato, quod est minus circulo, ad quadratum circulo maius, absque hoc quod umquam perveniat ad aequale sibi […] (docta ign. III 1; n. 188; h I 122,9−12). Eine proportionale Berechenbarkeit der Flächengleichheit steht hier also gar nicht in Rede, geschweige denn in Abrede. 183 Übersetzung nach H 11, 159 (Hervorh. StG). Vgl. De cesarea circuli quadratura, n. 18, 3–7 (h XX, 176): Subtiliter advertens ostendet propositiones mathematicas veras ex eo, quia alias sequeretur circuli quadratura, et similiter ex eo, quia alias sequeretur circulum non posse quadrari. Unde ex affirmatione et negatione quadraturae circuli possunt omnes propositiones mathematicae vere ostendi.

2. Negation und Ineinsfall der Gegensätze

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»die Kraft der Lehre von den Koinzidenzen (ars coincidentiarum) ersichtlich werden zu lassen, mit der man in jedem Bereich (in omni facultate) das Dunkel durchdringt«.184 Die gleichzeitige Affirmation und Negation einer Kreisquadratur steckt für Cusanus den Fragehorizont ab, in dem die Kreisquadratur als ein mathematisches Problem angegangen werden kann und in dem sich die mathematischen Sätze als richtig – als ihren Gegenständen angemessen – erweisen.185 Die Cusanische Regel »finiti ad infinitum nulla proportio« besagt dann für mathematische Unendlichkeitsphänomene wie die Kreisquadratur: Ihre mathematische Berechnung muß über proportional angebbare Verhältnisse hinausführen, ohne daß es dabei jemals zu einer a-proportionalen oder genauen Gleichheit von Kreis und Quadrat kommen kann. Als Resultat dieses Abschnittes kann somit festgehalten werden: Sowohl die proportionale Un184 Quadratura circuli (entst. wohl 1453; zu dieser Datierung siehe Nagel, Nicolaus Cusanus [wie Anm. 93], 70 ff.). Ich zitiere hier nach dem Druck in: n 5−9; hier 9: Haec sic maxime scipserim, ut videatur potentia artis coincidentiarum, per quam in omni facultate occulta penetrantur. (Der spätere Druck dieser Schrift in b 1091−1095; hier 1095 hat irrtümlicherweise: Haec si [!] maxime scripserim […].) Auch diese Schrift verfolgt also den Zweck, das Problem der Kreisquadratur so zur Darstellung zu bringen, daß in diesem ›rein‹ mathematischen Problem der nicht-mathematische Koinzidenzgedanke zur Entfaltung kommt. − Für den pluralischen Gebrauch von »coincidentia« in den mathematischen Schriften verweist Böhlandt (»Vollendung und Anfang« [wie Anm. 170], 28) auf den Beginn von »De mathematica perfectione« (entst. Ende 1458), und zwar in der Fassung des Pariser Druckes von 1514. Böhlandt zitiert jedoch aus dieser Edition derart entstellend, daß das Zitierte schlichtweg unverständlich wird: »Mathemathica perfectione qua mitto co[n]scripti, quatenus virtutem coincidentiaru[m] experimento ignotarum hactenus in theologicis inquisitionibus com[m]endare« (ebd.; die eckigen Klammern stammen von Böhlandt). In der Pariser Edition steht jedoch, wenn die Abbreviaturen des Druckes ausgeschrieben werden: Mathematicam perfectionem quam mitto conscripsi quatenus virtutem coincidentiarum experimento ignotarum hactenus in theologicis inquisitionibus commendarem (de math. perf.; p II-2, fol. CI r). Auch die Übersetzung dieses Satzes in H 11, 160 erscheint mir problematisch: »[Ich habe] die Mathematische Vollendung die ich Euch hiermit sende, zusammengeschrieben, um so die Stärke der Koinzidenzen durch einen Versuch mit bisher Unbekanntem [= experimento ignotarum hactenus!] auch für theologische Untersuchungen zu empfehlen«. Der Satz müßte auf Deutsch wohl eher so lauten: »Die ›Vollendung der Mathematik‹, die ich übersende, habe ich verfaßt, um mit einem (mathematischen) Versuch die Kraft der Koinzidenzen (virtus coincidentiarum), welche bislang in den theologischen Untersuchungen unbekannt waren (ignotarum hactenus), herauszustreichen«. Das Ziel dieser Schrift ist es also, die Strahlkraft des theologisch bislang – d. h. vor den Cusanischen Schriften – ungekannten Koinzidenzbegriffes auch bis in die Mathematik hinein aufzuzeigen; oder in Cusanus’ eigenen Worten: Intentio est ex oppositorum coincidentia mathematicam venari perfectionem (de math. perf., p II-2, fol. CI r; vgl. dazu etwa auch H. Löb, Die Bedeutung der Mathematik für die Erkenntnislehre des Nikolaus von Kues, Berlin 1907, 61 f.). Daher kann wohl kaum behauptet werden, hier werde »[d]as Koinzidenzprinzip der Theologie […] den mathematischen Koinzidenzen also gewissermaßen gegenübergestellt, die so eine prinzipielle Eigenständigkeit erhalten, die man schon fast axiomatisch nennen möchte « (Böhlandt, op. cit. 28). 185 Zu einem ähnlichen Schluß gelangt auch Böhlandt, Wege ins Unendliche (wie Anm. 171), 121: »Es sind nicht die spezifischen, problemorientierten Antworten, sondern die grundlegenden Fragen zum Wesen des Endlichen und Unendlichen, die die Bedeutung des cusanischen Quadraturversuche ausmachen.« Die prinzipielle Möglichkeit zu diesen Fragen aber erweist sich nach dem gerade Ausgeführten als eine sachliche Konsequenz des Koinzidenzbegriffes.

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II. Nicolaus Cusanus

endlichkeit der diskreten, natürlichen Zahlen als auch die kontinuierliche Unendlichkeit geometrischer Größen zehren von der absoluten Koinzidenz, an deren Form von Unendlichkeit sie nicht heranreichen.186

3. Endlichkeit und Negation der Koinzidenz Weder die ›Zerdehnung‹ von geometrischen Figuren ins Unendliche noch die mathematischen Versuche einer Kreisquadratur sind also für Cusanus ein Mittel, womit er die absolute Koinzidenz erschöpfend erklären oder zumindest in einer − nämlich in mathematischer − Hinsicht präzisieren könnte: Der Ineinsfall von unendlichem Dreieck und unendlichem Kreis beweist oder illustriert den Koinzidenzbegriff ebensowenig, wie dies Cusanus’ »erstaunlich gute Näherung für π«187 tut. Vielmehr geht es Cusanus beide Male darum, die Zerdehnbarkeit geometrischer Figuren bzw. ihre mathematische Berechenbarkeit als sachliche Konsequenzen aus dem Koinzidenzbegriff begreifbar zu machen: Sowohl die nicht proportional ausdrückbaren Verhältnisse im Bereich des Geometrie als auch der Status und die Reichweite mathema-

Fragwürdig erscheint mir daher auch die These, für Cusanus sei zwar das »Unendliche im Sinne des Absoluten […] etwas grundsätzlich Anderes als das Unendliche in der Mathematik«, diese beiden Unendlichkeitsbergriffe seien jedoch »durch Proportionalität miteinander verbunden« − und insofern sei auch »für die Vernunft durch ein Proporzdenken ein Zugang zum Absoluten möglich« (Inthorn/Reder, Philosophie und Mathematik bei Cusanus [wie Anm. 176], 13 f.). Inthorns und Reders Proportionsbegriff orientiert sich offenbar weniger an seiner Verwendung bei Cusanus, sondern meint eher eine Komplementarität zweier gleichgewichtiger »Denkformen« (ebd. 29), welche das Werk des Cusanus auszeichne: einerseits eine philosophisch-theologische oder »dialektische« und andererseits eine mathematische oder »binäre« Denkform. Für Cusanus wären demnach »[m]athematische Aussagen […] aufgrund des Proporzdenkens auch auf die unendliche Einheit übertragbar und damit sicherlich mehr als untergeordnete illustrative Beispiele« (ebd. 27). Abgesehen von der Frage, ob die Rede von einem »Proporzdenken« hier angebracht ist, so scheint doch Cusanus mit seiner »regula« von der A-Proportionalität ›zwischen‹ Unendlichem und Endlichem nicht bloß die schlichte Abhängigkeit des Endlichen vom Unendlichen zu konstatieren, sondern auch und vor allem aufzeigen zu wollen, daß und wie das Endliche als Endliches durch eben die Koinzidenz oder A-Proportionalität erst konstituiert wird. Die Mathematik dient daher in der Tat nicht »zur Illustration eines eigentlich rein philosophischen oder theologischen Gedankens« (ebd. 26), vielmehr dient der Koinzidenzbegriff Cusanus auch dazu, die Richtigkeit oder den hinreichenden Charakter von mathematischen Sätzen einsichtig werden zu lassen. Kurzum: Der philosophische Koinzidenzgedanke läßt sich zwar nicht durch mathematische Überlegungen illustrieren, doch aber für diese fruchtbar machen. Damit verkommt die Mathematik weder zu einer ancilla theologiae, noch gewinnt sie einen solitären Charakter innerhalb des Cusanischen Denkens. In diesem Sinne bereits Jacobi, Die Methode (wie Anm. 37), 206 f. mit Anm. 111. Jacobi führt allerdings seine Bemerkung, daß es Cusanus um »die Fruchtbarkeit des Koinzidenzgedankens für die Lösung mathematischer Probleme« gehe, nicht weiter aus. 187 Hofmann, »Sinn und Bedeutung der wichtigsten mathematischen Schriften des Nikolaus von Kues« (wie Anm. 176), 388. 186

3. Endlichkeit und Negation der Koinzidenz

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tischer Sätze sind für Cusanus nicht erklärbar ohne eine Inanspruchnahme dieses Begriffs.188 Gleichwohl entwirft Cusanus mit dieser Inanspruchnahme des Koinzidenzbegriffes kein »Programm der Unerkennbarkeit Gottes«,189 dessen strikte Durchführbarkeit Cusanus mehr und mehr unmöglich wird und das ihn daher zu Änderungen in diesem »Programm«, so vor allem zu einer deutlicher ausgearbeiteten Metaphysik des endlichen Geistes, zwingt. Vielmehr zeigt Cusanus, daß es möglich ist, auch den zunächst nur paradox erscheinenden Sachgehalt von Koinzidenz für sich zu explizieren: Die sachliche Exposition dessen, was mit ›Koinzidenz‹ gemeint ist, ist hierbei von einer Logik des Negierens durchzogen und gesteuert – und dies nicht nur behelfsmäßig oder beiläufig. Mit dieser Logik des Negierens kapituliert Cusanus nicht doch noch vor einer radikal negativen Theologie. Gerade diese Logik des Negierens mündet nämlich nicht in eine »Zurückweisung sowohl der positiven wie der negativen Aussagen«, deren Anzeichen es sein soll, daß eine negative Theologie Proklischen Zuschnitts für Cusanus zunehmend an Attraktivität gewinnt.190 Der Umstand, daß Cusanus mit dieser Logik des Negierens eine rein negative Theologie überbieten kann, hat offensichtlich mit der Vieldeutigkeit der disjunktiv verfahrenden Negation von Gegensätzen zu tun. Dieser Negationstyp schließt nämlich nicht nur radikal beide Glieder eines Gegensatzes von Gott aus, dem gemäß dann nur mehr gelten dürfte: ›Gott ist nicht A, er ist aber auch nicht non-A‹, bzw. formalisiert: ¬ a ∧ ¬ (¬ a). Gleichzeitig negiert dieser Typus auch die einsinnige Kopulation von Gegensatzgliedern: ¬ (a ∧ ¬ a). Indem also dieser disjunktive NegatiZu Beginn des zweiten Buches von »De docta ignorantia« charakterisiert Cusanus denn auch einige im ersten Buch behandelten Themenbereiche nochmals als sachliche Konsequenzen, die aus dem Koinzidenzbegriff gewonnen werden können (correlaria ex nostro principio); dort heißt es etwa: Si consequenter hanc regulam [sc. doctae ignorantiae] mathematicae adaptes in geometricis figuris, aequalitatem actu impossibilem vides et nullam rem cum alia in figura praecise posse concordare nec in magnitudine. Et quamvis regulae verae sint in sua ratione datae figurae aequalem [sc. figuram] describere, in actu tamen aequalitas impossibilis est in diversis (docta ign. II 1; n. 92; h I 61,22−26). Weder leugnet hier Cusanus die geometrische Konstruierbarkeit von nicht-proportionalen und doch flächengleichen Gebilden, noch affirmiert er ihre tatsächlich genaue Gleichheit. Diese hier diagnostizierte Spannung zwischen einer durchaus möglichen, tendentiellen Gleichheit und der Unmöglichkeit einer tatsächlich genauen Gleichheit liefert auch den Ansatzpunkt in seinen mathematischen Schriften. 189 Flasch, Die Metaphysik des Einen (wie Anm. 9), 173. 190 Flasch, Die Metaphysik des Einen (wie Anm. 9), 221: »Daß in De coni. die Zurückweisung sowohl der positiven wie negativen Aussagen die höchste Stufe des Erkennens sein soll, zeigt die intensive Einwirkung der negativen Theologie. Das ist der Geist des Proklos.« – Vgl. dagegen die ausgewogenen, da auch differenzierenden Ausführungen zum Verhältnis von Cusanus und Proklos bei Beierwaltes, »Cusanus und Proklos. Zum neuplatonischen Ursprung des non aliud«, in: Nicolò Cusano agli inizi del mondo moderno (wie Anm. 77), 137−140; Identität und Differenz (wie Anm. 83), 153 f.; Platonismus im Christentum, Frankfurt a. M. 1998, 142 ff.; sowie neuerdings ders., »Nicolaus Cusanus: Innovation durch Einsicht in die Überlieferung – paradigmatisch gezeigt an seinem Denken des Einen«, in: Herbst des Mitelalters? (wie Anm. 2), 351–370; hier 362. 188

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onstypus eine kopulativ verfahrende Negation nicht schlechthin negiert, sondern nur ihren schlechthinnigen Geltungsanspruch für koinzidentelle Gottesaussagen, sorgt er dafür, daß sich die koinzidentelle Konjunktion von Gegensätzen nicht einfach gegen die ›herkömmliche‹ Kontradiktion von Gegensatzgliedern ausspielen läßt. Damit aber bleiben sowohl positive wie negative Gottesaussagen möglich, dies freilich nicht auf Kosten der Kopulation.

3.1 Koinzidenz als Gassenhauer? Der Grund, den Sachgehalt von Koinzidenz in einer Logik des Negierens einmal für sich zu explizieren, sind nicht veränderte sachliche Konsequenzen, die Cusanus aus der Koinzidenzlehre zieht. Diese Explikation dient vielmehr der methodischen Bestätigung oder Vergewisserung der Konsequenzen, die Cusanus bereits aus der Koinzidenzlehre in »De docta ignorantia« gezogen hat. Diese methodischen Erwägungen zeitigen bei Cusanus daher wohl auch keine »Entwicklung vom Dunkel zum Licht«, die ihn »von der Unbegreiflichkeit zur Allfaßbarkeit« Gottes führt.191 Wenn aber nun für den Cusanus der Idiota-Dialoge die Wahrheit auf den Straßen schreit, heißt das dann nicht: »Die Wahrheit ist beseligend, und sie ist leicht zu finden«?192 Verheißt die Laienphilosophie nicht doch ein »Ende des Sich-Quälens« mit fruchtloser und freudloser Buchweisheit und Lektüre?193 Allerdings macht es einen stutzig, wenn der Cusanische Idiota sein erkenntnisoptimistisches Programm des ›sapere aude‹ nun seinerseits ausgerechnet unter eine – biblische – Buchweisheit stellt.194 Vor allem aber: Wenn die Wahrheit bzw. die göttliche Weisheit auf den Straßen Flasch, Nikolaus von Kues (wie Anm. 3), 39. Entsprechend unterteilt sich Flaschs CusanusBuch, welches »die Geschichte einer Entwicklung« nachzeichnen will, in die beiden Hauptteile »Erste Einsichten − ›Eher im Dunkeln‹« und »Südliches Licht − ›Die Wahrheit schreit auf den Straßen‹«. Für diese entwicklungsgeschichtliche Einteilung steht bei Flasch jene bekannte Cusanische Selbstcharakteristik aus »De apice theoriae« ein: Putabam ego [= Cusanus] aliquando ipsam [sc. veritatem] in obscuro melius reperiri. Magnae potentiae veritas est, in qua posse ipsum valde lucet. Clamitat enim in plateis, sicut in libello De idiota legisti (de ap. theor. n. 5,9−12; h XII 120). − Merkwürdig bleibt Flaschs genetische Erklärung seiner eigenen genetischen Cusanus-Interpretation: »[E]ine systematisch völlig einhellige Gesamtposition zu dem Problem der negativen Theologie hat Cusanus nicht vorgelegt, und sie läßt sich auch nicht entwickeln. Ich habe dies früher versucht, bin gescheitert und nahm dies als einen der Indikatoren, der eine genetische Entwicklung nahelegt« (Flasch, op. cit. 403). Seine Abkehr von einem gescheiterten, systematischen Unterfangen und seine Hinwendung zu einer genetischen Betrachtungsweise scheint Flasch als geradezu zwangsläufig anzusehen − so, als ob das Scheitern (s)eines systematischen Ansatzes jede künftige systematische Herangehensweise an Cusanus von vornherein obsolet machte. 192 Flasch, Nikolaus von Kues (wie Anm. 3), 255. 193 Ebd. 194 Prov. 1, 20 f.: »sapientia foris praedicat, in plateis dat suam vocem: in capite turbarum clamitat […]«. − Auch nach Schwaetzer ist es Zweck dieser biblischen Anspielung, daß »der Wert des Selbst191

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»schreit«, dann verhält sie sich dabei alles andere als marktschreierisch. Ihr Rufen auf den Straßen besagt nämlich nach den Worten des Idiota, daß sie selbst in der höchsten Höhe ihre Heimstatt hat und gerade nicht auf den Gassen zuhause ist: »sapientia foris« clamat »in plateis«, et est clamor eius, quoniam ipsa habitat »in altissimis«.195 tibi dixi sapientiam clamare »in plateis«, et clamor eius est ipsam »in altissimis« habitare […].196 Jenes Rufen der Weisheit ist demnach als ein Aufruf zu verstehen, sie dort zu suchen, wo sie wohnt: Hunc clamorem sapientiae in plateis transfer in altissima, ubi sapientia habitat.197 Die Suche nach der Weisheit vernachlässigt nicht das offen zu Tage Liegende zugunsten der Arcana, aber sie stürzt sich auch nicht unbesehen in den Trubel des Marktplatzes.198 Die Suche nach der Weisheit besteht denn auch in der Reflexion auf das Alltägliche und Selbstverständliche, wie es etwa die Tätigkeiten des Wiegens und Messens, aber auch des Fragens und Denkens sind. Doch läßt sich dabei auch Gott finden, wenn der menschliche Geist sein eigenes Denken bedenkt?

denkens durch selbständige Beobachtung […] gegenüber dem Autoritätsglauben hervorgehoben wird« (H. Schwaetzer, »Coincidentia oppositorum in der metaphysischen Erzeugung des Kreises. Johannes Keplers Lösung eines cusanischen Problems«, in: Freiburger Zeitschrift für Philosophie und Theologie 46 [1999], 184−213; hier 187). 195 de sap. I; n. 3,11 f. (h V 6). 196 de sap. I; n. 5,3 f. (h V 8). − Cusanus verschmilzt hier cento-artig seine Anspielung auf Prov. 1, 20 mit Eccl. 24, 7: »Ego [= sapientia] in altissimis habitavi«. Gerade die zuletzt genannte biblische Anspielung des Cusanus marginalisiert Flasch geradezu vollkommen. Vollkommen ist diese Marginalisierung nicht nur in dem Sinne, daß Flasch Cusanus’ Weiterführung des biblischen Satzes fast vollständig unterschlägt, sondern auch in dem Sinne, daß Flasch mit dieser ›Unterschlagung‹ Cusanus als einen nimmermüden, sich ständig neu erschaffenden Geist in beeindruckend vollendeter Weise präsentieren kann. Cusanus’ ständige Entwicklung, sein Offen-Sein für Neues wird zum Schema des Vollendeten. 197 de sap I; n. 7,1 f. (h V 12) 198 Der konkrete Ort, an dem das Gespräch über die Weisheit seinen Ausgang nimmt − ein direkt am Forum Romanum gelegener Barbiersalon (apotheca tonsoris) −, scheint denn auch nicht zufällig gewählt, ist also keineswegs »nur Staffage« (Flasch, Nikolaus von Kues [wie Anm. 3], 253); es ist dies ein Ort, an dem die beiden Gesprächspartner Distanz zum Marktgeschehen halten und es zugleich nicht aus den Augen verlieren: Et intrantes locum [sc. Idiota et Orator] aspectum in forum vertentes sic exorditus est IDIOTA sermonem […] (de sap. I; n. 5,1 f.; h V 8; Hervorh. StG). Wiederaufgenommen wird das Gespräch dann allerdings melius in obscuro: »in der Nähe des Tempels der Ewigkeit«, wohin der Idiota sich zurückgezogen hat (vgl. de sap. II; n. 28,5; h V 58). Auch in »De mente« treffen der Redner und der Philosoph den Idiota wieder »in der Nähe des Tempels der Ewigkeit« an, und auch dort wieder melius in obscuro: an einem im Tiefpaterre gelegenen Ort (subterraneus quidam locellus). Vgl. de mente 1; n. 56,2 f. (h V 88).

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In der Tat scheint dem so zu sein, wenn Gott als der »Begriff der Begriffe«199 und als der »absolute Begriff«200 gefaßt wird und wenn dieser Begriff sich dadurch auszeichnen sollte, daß er das ist, worin die verschiedenen, einzelnen Begriffe des menschlichen Geistes übereinkommen: Der absolute Begriff wäre dasjenige, was alle endlichen Begriffe »noch gemeinsam haben«.201 Alle (auch konträre und kontradiktorische) Begriffe kommen nämlich ausnahmslos in dem allumfassenden Merkmal überein, daß sie Begriffe sind. Als der »Begriff der Begriffe« wäre Gott dann zu denken als »[d]ieses Allumfassende des Begriffseins«.202 Nach dieser Deutung steht Gott als der herausgelöste oder absolute Begriff den Einzelbegriffen offensichtlich in der Weise gegenüber, daß Gott die Konvergenz aller Begriffe unter dem Gesichtspunkt darstellt, den alle diese Begriffe »noch« – gerade noch als ihren kleinsten gemeinsamen Nenner bzw. auch noch über ihre Divergenz hinaus – »gemeinsam haben«: ihr Sein als Begriff. In seinem Verhältnis zu den endlichen Begriffen wäre der absolute Begriff geprägt von einer Divergenz und Konvergenz zugleich: Es wäre dies ein proportionales Verhältnis, das umso näher an den »absolutus conceptus« heranführt, je mehr die bestimmten Begriffe in ihrer Allgemeinheit gedacht werden, je mehr man also von der Bestimmtheit dieser Begriffe absieht; »herausgelöst aus den Gegensätzen unserer Begriffe« wäre der absolute Be-

de sap. II; n. 34,3 (h V 66): conceptionum conceptus. de sap. II; n. 34,12 (h V 66): absolutus conceptus. 201 Flasch, Nikolaus von Kues in seiner Zeit (wie Anm. 93), 57; Hervorh. StG. 202 Vgl. ebd.: »Die Bestimmung A ist nicht die Bestimmung B. Denke nun, was diese entgegenstehenden Begriffe noch gemeinsam haben. Sie sind beide Begriffe. Dann erfaßt du das Begriffsein gegensätzlicher Begriffe. Das Begriffsein der Begriffe umfaßt alle Begriffe, nicht nur A und B. Dieses Allumfassende des Begriffseins nenne ich: Gott. Denn das Begriffsein der Begriffe ist in allen Einzelbegriffen, geht aber in keinem auf. Wir können ihn nicht festlegen. Es ist das, dem nichts gegenübersteht. Er ist herausgelöst aus den Gegensätzen unserer Begriffe.« – Einen ähnlichen Gedanken extrapoliert etwa auch Schwaetzer aus dem Kosmographen-Beispiel in: comp. 8; nn.22−24; (h XI/3 17–20). Dort erkenne der Kosmograph bei der Verfertigung seiner Weltkarte, »daß alle Begriffe gemeinsam haben, daß sie Begriffe sind, und er entdeckt auf diese Weise den Begriff des Begriffs. Alle Begriffe erweisen sich so als Spezifikationen des einen universalen Begriffs« (Schwaetzer, »Die intellektuelle Anschauung« [wie Anm. 93], 259). Cusanus spricht nun aber unmittelbar zuvor davon, daß die selbstreflexive Wendung des menschlichen Geistes auf sich selbst als die Zeugung des inneren Wortes zu verstehen ist: conceptio autem, qua mens se ipsam concipit, est verbum a mente genitum, scilicet sui ipsius cognitio (comp. 7; n. 20,11–13; h XI/3 16). Bildet nun der Geist einen Begriff von Gott als dem Former aller Dinge (formator omnium: ebd. n. 21,1; h XI/3 16) so wie von sich selbst, dann heißt das, daß er keinen Begriff von sich und von Gott im Sinne eines generisch abhebbaren Merkmals (›Begriffsein‹) bildet, sondern die Bildung der Begriffe selbst betrachtet. Die Zeugung des geistigen Wortes als die Bildung von Begriffen in der selbstreflexiven Wendung ist hier also entscheidend, nicht die Reflexion auf den allgemeinen Charakter aller spezifisch gebildeten Begriffe bzw. mentalen Produkte. Damit ist eine Strukturanalogie zur innertrinitarischen Zeugung des ewigen Wortes namhaft gemacht, jedoch nicht unmittelbar ein bestimmter Gottesbegriff gewonnen. Cusanus steht hier ganz offensichtlich in einer Tradition, wie sie sich vor allem anhand der patristischen und mittelalterlichen Deutungsgeschichte des Johannes-Prologs verfolgen ließe. 199 200

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griff dadurch, daß er die Vereinzelung oder Bestimmtheit unserer Begriffe übersteigt als das sie umfassende und verbindende Merkmal.203 Cusanus scheint es aber nicht auf ein solches Verhältnis des Besonderen zum es übersteigenden und umgreifenden Allgemeinen anzukommen. Das Verhältnis, wie der absolute Begriff in jedem einzelnen Begriff ist, wird nicht seinerseits in Begriffen gewußt. Begriffen wird nach den Worten des Idiota vielmehr, daß in jedem Begriff der unbegreifbare Begriff ist.204 Ein Sekundärreflexion, die das allgemeine Begriffsein aller Begriffe ins Auge faßt, erfaßt damit noch nicht den absoluten Begriff. Ein Begriff vom Begriff nähert sich dem Unbegreifbaren,205 nicht dem allgemeinen »Begriffsein« aller Begriffe als einem Synonym für Gott. Und so ist und bleibt Gott »die absolute Unbegreifbarkeit selbst«.206 Diese absolute Unbegreifbarkeit Gottes tritt allerdings nicht seiner Begreifbarkeit gegenüber, so daß Gott für den menschlichen Geist nun doch die absolute Schwierigkeit selbst wäre.207

Vgl. auch Flasch, Nikolaus von Kues (wie Anm. 3), 258 f.: »Wenn du weißt, was ›Begriff‹ heißt, hast du einen Begriff von Gott, du mußt ihn nur noch ablösen vom Dies und Das. Dann hast du den absoluten Begriff erkannt, und das ist Gott. Gott ist der Begriff der Begriffe, conceptionum conceptus, oder er ist der conceptus absolutus.« − Für die zuletzt genannte Cusanische Formulierung gelangt Flasch zu der Überzeugung, »hier [= de sap. II; n. 34,12; h V 67], im Munde des Laiendenkers, komme zum ersten Mal der Ausdruck ›absoluter Begriff‹ als Gottesname vor« (Flasch, op. cit. 259). Genau genommen ist es allerdings nicht der (von Flasch mit Sympathie als autoritätskritischer »Selbstdenker« gezeichnete) Idiota, der diesen Ausdruck zum ersten Mal innerhalb des Dialogs über die Weisheit verwendet, sondern der Orator, den Flasch hier dem »armen Nicht-Studierten« als »hohen Kanzleibeamten […], Diplomaten und steinreichen Mann«, aber auch als »aufgeblasenen Gelehrten« (Flasch, op. cit. 253) gegenüberstellt: de sap. II; n. 34,6 f. (h V 67). − Zuzustimmen ist Flasch, wenn er hier auf die Unhaltbarkeit einer communis opinio, »der Terminus ›absoluter Begriff‹ stamme erst von Hegel« (Flasch, op. cit. 259), hinweist. In diesem Zusammenhang bleibt aber völlig im Unklaren, ob (und gegebenenfalls wie) sich der Cusanische conceptus absolutus – in der hier von Flasch vorgelegten Deutung – von Hegels »absolutem Begriff« sachlich unterscheidet. Ob für Hegel ein augustinisch inspiriertes »Tolle hoc et illud« hinreicht für die Bestimmung des absoluten Begriffs, wird sich noch zeigen müssen. Flasch selbst jedenfalls findet bereits an der Augustinischen Formel Mißfallen: Tolle hoc et illud vide ipsum bonum, si potes: ita Deum videbis, non alio bono bonum, sed bonum omnis boni (De trin. VIII 3,4; CCSL 50, 271 Mountain). Wenn wir demnach »nur die Einschränkungen wegzulassen [brauchen], um das Gute selbst, d. h. Gott, zu erkennen«, dann muß man sich nach Flasch »fragen, wieso man überhaupt etwas sieht, wenn man alles Einzelne wegläßt«, da man schwerlich »auf der von Licht überströmten Szene noch irgend etwas sehen kann« (Flasch, Augustin. Einführung in sein Denken, Stuttgart 1980, 302; 304). 204 de sap. II; n. 28,16 f. (h V 59): Audisti, quomodo in omni conceptu concipitur inconceptibilis [conceptus]. (Für die dem Cusanischen Latein eigentümliche Verwendung von ›quomodo‹ im Sinne von ›quod‹ vgl. etwa J. Koch, »Über eine aus der nächsten Umgebung des Nikolaus von Kues stammende Handschrift der Trierer Stadtbibliothek«, in: ders., Kleine Schriften, Roma 1973, I 575–598; hier 587.) 205 de sap. II; n. 28,17 (h V 59): Accedit igitur conceptus de conceptu ad inconceptilibem [conceptum]. 206 de sap. II; n. 32,1 f. (h V 63): ipsa incomprehensibilitas absoluta. 207 de sap. II; n. 30,14 f. (h V 61 f.): nequaquam convenit deo, quod sit ipsa infinita difficultas. 203

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Das ist zwar alles andere als ein resignativer Ton. Ob allerdings Cusanus damit einen »neuen Akzent« setzt, der zu dem zuversichtlichen Jubelruf »Gott ist die Leichtigkeit, nicht die Schwere!«208 Anlaß geben könnte, scheint fraglich. Weicht also bei Cusanus eine (in der Sprache psychologischer Einfühlung beschreibbare) Verzagtheit oder Resignation allmählich einer Zuversicht, welche sich dann in jenem philosophischen Stoßseufzer Luft verschafft?209 Nach den Worten des Idiota gilt es zunächst einzusehen, daß Gott die absolute Leichtigkeit für das menschliche Erkennen nur dann ist, sofern diese mit seiner absoluten Unbegreifbarkeit zusammenfällt.210 Es geht hier also nicht bloß um eine Erfahrung, die der menschliche Geist mit sich selbst macht und deren Ergebnis dann lautete: Der menschliche Geist tut sich nicht nur schwer mit Gott, sondern (gottlob!) zugleich auch leicht. Hätte der menschliche Geist ein ambivalentes, von Undurchschaubarkeit und Klarheit gekennzeichnetes Verhältnis zu Gott als einem Gegenstand menschlicher Erkenntnis, dann prägte die Koinzidenz im Sinne einer Konjunktion von Schwer und Leicht zuallererst »unsere menschliche Erfahrung von Erkenntnis«.211 Koinzidenz wäre das protokollierbare Resultat einer Selbsterfahrung des menschlichen Geistes, aber noch lange kein Garant dafür, daß wir mit dieser Selbsterfahrung Gott als die absolute Koinzidenz von Leicht und Schwer adäquat, in einem hinreichenden Sinne, gedacht haben. Wenn daher der Cusanische Idiota ein Programm hat, dann wohl dieses: Der menschliche Geist hat – nicht sich selbst, sondern Gott als die Koinzidenz von Schwer und Leicht allererst adäquat, d. h. »in einer Weise« zu denken, »die an der Weise der absoluten Genauigkeit teilhat«. In dieser nüchternen, weder Resignation auslösenden noch leicht zu nehmenden, ›Denk-Aufgabe‹ liegt die sufficientia − die auferlegte Beschränkung und zugleich die Erfüllung − für den menschlichen Geist:

Flasch, Nikolaus von Kues (wie Anm. 3), 258. Der von Flasch so betonte Ausruf »O miranda facilitas difficilium!« (de sap. II; n. 45,1; h V 77) ist der Dialogfigur des Orator in den Mund gelegt, ist also ein stilisierter, durch die Dialogform vermittelter Ausdruck – und keine unmittelbare Bekundung der philosophischen Gefühlslage des Autors, welcher kurz zuvor die Leichtigkeit des Schweren oder Undurchschaubaren für sich entdeckt hat. Andernfalls müßten sämtliche Aussagen des Orator – auch seine Rückfragen an den Idiota und seine situativen Verständnisschwierigkeiten – ein unmittelbares Abbild von Cusanus’ geistiger Situation darstellen. Der Dialog wäre nur mehr lesbar als ein Protokoll, in dem Cusanus seine geistige Entwicklung – die verschlungenen Wege seines Denkens – dokumentiert. Wenn denn schon Cusanus mit seinen Idiota-Dialogen »einen Schritt auf eine reichere Dialogform hin« (Flasch, Nikolaus von Kues [wie Anm. 3], 253) getan haben soll, dann kann der in dieser Artikulationsform beschlossene Reichtum wohl kaum in der Darstellung dessen liegen, was sich auch in den schlichten Ausruf »Gott ist die Leichtigkeit, nicht die Schwere!« hätte bringen lassen. 210 Vgl. de sap. II; n. 32,4 f. (h V 63): absolutam facilitatem coincidere cum absoluta incomprehensibilitate. 211 Flasch, Nikolaus von Kues (wie Anm. 3), 258. 208 209

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Et haec est »sufficientia nostra«, quam »ex deo« habemus, scientes inattingibilem praecisionem non posse per nos attingi nisi modo aliquo absolutae praecisionis modum participante.212 Wie aber ist dieser hinreichende Modus von Genauigkeit in der Gotteserkenntnis zu erreichen? Genügt bereits die Feststellung, daß eine Aussage oder Frage, die angesichts von Gott formulierbar ist, leicht fällt, als Kriterium für ihre Angemessenheit oder Genauigkeit? Die Leichtigkeit positiver Aussagen mag durchaus ihre Berechtigung haben – »insofern wir einräumen, daß über Gott irgend etwas in bejahendem Sinne gesagt werden kann«.213 Der Grund für die Leichtigkeit, auch positive Aussagen über Gott treffen zu können, ist aber mit der Feststellung eben dieser Leichtigkeit noch nicht benannt, geschweige denn einsichtig gemacht. In dieser Leichtigkeit, die zuversichtlich ihre Fragen und Aussagen angesichts von Gott formuliert, erschöpft sich daher keineswegs die hier intendierte Genauigkeit menschlichen Denkens und Redens von Gott: Est deinde consideratio de deo, ut sibi nec positio nec ablatio convenit, sed prout est supra omnem positionem et ablationem. Et tunc responsio est negans affirmationem et negationem et copulationem. Ut, cum quaereretur an deus sit, secundum positionem respondendum ex praesupposito, scilicet eum esse et hoc ipsam absolutam praesuppositam entitatem. Secundum ablationem vero respondendum eum non esse, cum illa via ineffabili nihil conveniat omnium, quae dici possunt. Sed secundum quod est supra omnem positionem et ablationem respondendum eum nec esse, absolutam scilicet entitatem, nec non esse nec utrumque simul, sed supra.214 Auch hier, d. h. für den Cusanischen Idiota, folgt aus der Zurückweisung positiver wie negativer Aussagen (deo nec positio nec ablatio convenit) keineswegs die schlichte Ungültigkeit von ›einfach‹ affirmativen und negierenden Gottesaussagen. Jede der hier genannten Antworten auf die Frage, ob Gott ist − und nicht nur die ›einfach‹ positive Antwort, daß Gott ist − bestimmt sich in ihrer Genauigkeit nach der absoluten Antwort, welche unendlich genau ist.215 Diese absolute Genauigkeit aber, die Gott selbst ist, ist nur Eine216 und kennt daher keine graduellen Abstufungen der Übereinstimmung mit einzelnen − setzenden (deus est), wegnehmenden (deus non est), kopulativen (deus est et non est) oder disjunktiven (deus nec est nec non est) − Typen von Antworde sap. II; n. 31,15−18 (h V 63). Zur Doppeldeutigkeit der biblisch inspirierten sufficientia vgl. die Anmerkung ad loc. in H 1, 128. 213 de sap. II; n. 32,10 f. (h V 64): prout de deo admittimus aliqua affirmative dici posse. 214 de sap. II; n. 32,14− 24 (h V 65); Hervorh. StG. 215 Vgl. de sap. II; n. 31,8−10 (h V 62): Omnis enim responsio participat de absoluta responsione, quae est infinite praecisa. 216 de sap. II; n. 31,8 (h V 62): cum praecisio non sit nisi una et infinita, quae est deus. 212

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ten. Auch hier ist Gott so als »supra omnem positionem et ablationem« zu denken, daß er weder ist (nec est) noch nicht ist (nec non est) noch beides kopulativ zugleich ist (nec utrumque simul bzw. nec est et non est): Gott ist nicht; genausowenig ist er aber einfach nicht: ¬ a ∧ ¬ (¬ a); und genausowenig ist er beides, Sein und Nichtsein, einfach zugleich: ¬ (a ∧ ¬ a). Keine dieser drei Aussagemöglichkeiten – also: weder A1 »deus est« noch A2 »deus non est« noch A3 »deus est et non est« – gilt. Und dies deswegen, weil keine exklusiv gilt oder genauer ist als die andere. Es gilt also nicht nur: ¬ A1 ∧ ¬ A2 ∧ ¬ A3, sondern zugleich auch: ¬ (A1 ∨ A2 ∨ A3).217 Kraft dieser Logik einer kopulativ und disjunktiv verfahrenden Negation findet die Schwierigkeit oder Unzugänglichkeit Gottes ihre hinreichende Bestimmung (sufficientia difficilium) in der leichten, auch dem menschlichen Geist zugänglichen Art und Weise, wie »über Gott wahrere Sätze gebildet werden können«.218 Diese Logik der Negation eskamotiert dabei nicht die Unbegreifbarkeit Gottes bzw. bestimmte, für diese Unbegreifbarkeit charakteristische Satztypen aus dem Gottesgedanken, weil die schwere Zugänglichkeit Gottes dem menschlichen Geist von vornherein alle Zuversicht auf eine Gotteserkenntnis nehmen könnte. Diese Logik der Negation ist vielmehr die adäquate »Weise, die an die absolute Leichtigkeit näher herankommt und unser Zureichen (sufficientia nostra) ist, weil wir eine andere Weise, die leichter und zugleich wahrer wäre, nicht erreichen können«.219

3.2 Koinzidenz und Kontraktion Entscheidend an der absolut koinzidentalen Einheit ist ihr a-proportionaler Charakter gegenüber allem, was einer Proportion unterliegt. Die Cusanische »regula« negiert demnach zwischen Unendlichem und Endlichem zwar ein proportionales Verhältnis (nulla proportio), jedoch kein Verhältnis schlechthin (nulla relatio):

Nach Auffassung von Schwaetzer hingegen meint der Cusanische Idiota hier, »weder Verneinung noch Bejahung noch deren Verknüpfung würden das Gewünschte aussagen, sondern dieses liege darüber. Daraus folgt, daß Gott absolute Richtigkeit, Genauigkeit etc. ist und keinerlei ›Mehr oder Weniger‹ zuläßt« (Schwaetzer, »Coincidentia oppositorum« [wie Anm. 194], 190 f.). Aus dieser vielfachen Unmöglichkeit oder Ungenauigkeit einer Gottesaussage wird jedoch nicht einfach die absolute Richtigkeit Gottes gefolgert, sondern umgekehrt bestimmt sich aus der absoluten Genauigkeit Gottes, die kein Mehr und Minder an Genauigkeit zuläßt, das ›Wie‹ der Richtigkeit und Leichtigkeit aller dieser Aussagen: Sie gelten alle zugleich, weil keine von ihnen alleine als die genauere gilt. 218 de sap. II; n. 33,3 f. (h V 66): sufficientiam difficilium in facilitatem modi de deo propositiones veriores formandi redigisti. Mit diesem Satz faßt der Orator die Ausführungen des Idiota zu dem gesuchten »modus absolutae praecisionis modum participans« (vgl. Anm. 212) zusammen. 219 de sap. II; n. 31,19−21 (h V 63): iam dictus modus plus accedit ad facilitatem absolutam et est sufficientia nostra, quia alium [sc. modum], qui sit simul facilior et verior, attingere nequimus (Hervorh. StG). 217

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Der Satz: Infiniti ad finitum proportionem non esse, oder: Finiti ad infinitum nulla est proportio negiert nicht den Bezug der Dimension des Un-Endlichen zu der des Endlichen, der schon durch den Konstitutionsakt des Ursprungs selbst und die partizipative Rückkehr des Seienden gegeben ist, sondern die Vergleichbarkeit beider.220 Was besagt aber diese Unvergleichbarkeit für die Relation selbst und nicht nur für das, was in dieser Relation steht? Wenn zwischen Unendlichem und Endlichem kein proportionales Verhältnis und somit keine Vergleichbarkeit herrscht, heißt das dann, daß die Rede von einem a-proportionalen Verhältnis vornehmlich eine irreduzible Andersheit zum Ausdruck bringt? Wenn jedoch A-Proportionalität den Ausschluß eines Mehr oder Minder an Andersheit und Übereinstimmung signalisieren soll, dann kann dieser Ausschluß nicht nur für das koinzidentale Maximum bzw. Minimum als dem einen Relatum − für die absolute Einheit − gelten, sondern muß auch für die Bezugsform selbst gelten, welche das koinzidentale Maximum gegenüber dem Anderen auszeichnet. Der Ausschluß einer graduellen Stufung ist daher auch das Signum für die Relation zwischen dem Unendlichen und Endlichen, nicht nur ein spezifisches Charakteristikum des Absoluten selbst: Das a-proportionale Verhältnis meint dann gleichbleibende Ferne und Nähe des a-proportional Einen zu dem, was seinerseits in proportionalen Verhältnissen steht. Absoluter, a-proportionaler Unterschied ist daher non plus differentia quam concordantia: gleichermaßen Unterschied wie Übereinstimmung.221 Der Ausschluß einer »aequalitas praecisa« aus dem Bereich des Finiten bzw. eine irreduzible Andersheit in diesem Bereich meint daher auch nicht, daß Gott mit seinem genau gleichen Verhältnis auf das Endliche durch Letzteres eingeschränkt wäre oder sich selbst einschränken würde.222 220 Beierwaltes, Identität und Differenz (wie Anm. 83), 109 f. Ähnlich ders., Platonismus im Christentum (wie Anm. 190), 146. Siehe auch Stallmach, »Der Mensch zwischen Wissen und Nicht-Wissen. Beitrag zum Motiv der docta ignorantia im Denken des Nikolaus von Kues«, in: ders., Suche nach dem Einen. Gesammelte Abhandlungen zur Problemgeschichte der Metaphysik, hg. von N. Fischer, Bonn 1982, 83−97; hier 87 f.: »Jedes rational bestimmbare Verhältnis, jede verstandesmäßig greifbare Beziehung soll offenbar ausgeschlossen sein, nicht aber überhaupt jegliche Bezogenheit. Denn das würde bedeuten, daß es das Unendliche für das menschliche Wissen überhaupt nicht gäbe, d. h. daß es vom menschlichen Standpunkt aus überhaupt nicht, auch nicht in seiner Unbegreifbarkeit, gesichtet werden könnte.« 221 Vgl. de coni. II 3; n. 87,6 f. (h III 84): ipsam infinitam [sc. differentiam] non plus differentiam quam concordantiam esse. Vgl. auch E. Cassirer, Individuum und Kosmos in der Philosophie der Renaissance, Leipzig/Berlin 1927, 27: »Jedes […] natürliche Sein ist daher, wenn wir es mit dem göttlichen Ursprung des Seins vergleichen, dem Ursprung gleich fern und gleich nah.« 222 docta ign. II 1; n. 91 (h I 61,9−11): Hinc in prioribus [sc. dictis] ostendimus praecisam aequalitatem solum deo convenire. Ex quo sequitur omnia dabilia praeter ipsum differre. Auch wenn Gott allein die genaue Gleichheit zukommt und diese daher im endlichen Bereich ausgeschlossen ist, so heißt das noch nicht, daß Gleichheit auch in der extratrinitarischen Bezugsform Gottes ausgeschlossen

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Warum aber spricht Cusanus in seiner »regula« von einer A-Proportion, anstatt hier gleich von aequalitas zu reden? Der Grund scheint folgender zu sein: Es geht Cusanus um ein Verhalten zum Geschaffenen, das sich nicht wie bei Eckhart um eine affirmative Gleich-Gültigkeit gegenüber Gott und der Welt bemüht, sondern das in der Eigenwertigkeit proportionaler Verhältnisse keine Beschränkung der absoluten Einheit sieht. Proportionale Verhältnisse im Bereich des Endlichen spielen bei Eckhart keine Rolle, vielmehr fordert Eckhart von vornherein eine a-proportionale Affirmation oder Liebe ein, die Gott und die Welt gleich-gültig betrifft. Der proportionale Charakter bzw. die durchgängige Andersheit des Endlichen versteht sich bei

wäre. Es geht nicht um eine Gleichheit Gottes mit seiner Schöpfung, sondern um seinen gleichen, präzisen Bezug auf sie, welcher der Grund für die durchgängige Ungleichheit oder Andersheit der Dinge ist. − Nach Schwaetzer wird an dieser Stelle »noch einmal die erkenntnistheoretische wie trinitarische Dimension von aequalitas aus dem ersten Buch [von »De docta ignorantia«] resümiert. In der Welt gebe es keine präzise aequalitas; diese komme nur Gott zu.« Aus dem Letzteren folgert Schwaetzer nun: »Der Vordersatz ist erkenntnistheoretisch, der Nachsatz trinitarisch. Mit dieser Verhältnisbestimmung ist der Stand der Überlegungen zutreffend zusammengefaßt« (Schwaetzer, Aequalitas [wie Anm. 88], 41). Allerdings trägt diese Differenzierung ›erkenntnistheoretisch‹ vs. ›trinitarisch‹ hier nur wenig zur Klärung des aequalitas-Begriffes bei, zumal sie Schwaetzer nur zu der Feststellung dient, daß diese beiden ›Ebenen‹ sich in »De docta ignorantia« noch »übergangslos und unreflektiert« (ebd.) vermischen. Die Exklusivität der aequalitas Gottes hat jedoch nicht nur innertrinitarische Relevanz; Cusanus’ Formulierung »praecisa aequalitas solum deo convenit« ist daher auch kein ›trinitarischer Satz‹ − genausowenig wie die Wendung »omnia dabilia praeter deum differunt« einen ›erkenntnistheoretischen Satz‹ darstellt. Der Bereich der Trinität ist also mit dem Aequalitas-Begriff von vornherein überschritten. Daß Gleichheit vielmehr der Grund für eine Verschiedenheit in der Einheit ist, zeigt Cusanus in einer Passage, die Schwaetzer unverständlich bleibt: Aequalitas vero essendi est, quod in re neque plus neque minus est; nihil ultra, nihil infra. Si enim in re magis est, monstruosum est; si minus est, nec est (docta ign. I 8; n. 22; h I 17,9−12). Schwaetzer bemerkt hierzu: »Die Gleichheit des Seins hat kein mehr und minder; das ist bekannt. Dieser Sachverhalt wird jetzt aber unvermittelt auf eine res angewendet. Eine Sache, die zu viel hat, ist monströs; eine, die zu wenig hat, ist erst gar nicht. Zu viel oder zu wenig − wovon? Von sich selbst? Und wenn ja, was ist ›sich selbst‹? Auf alle diese Fragen gibt Cusanus keine Antwort« (Schwaetzer, op. cit. 40). Auf diese Fragen gibt Cusanus in der Tat keine Antwort, weil sie eben nicht die seinigen sind. Cusanus fragt hier vielmehr nach der − ewigen, trinitarischen und natürlichen − Zeugung (generatio), in der sich die Verschiedenheit von Zeugendem und Gezeugtem als eine Konsequenz der unveränderlichen Einheit zeigt. Und so zeigt sich etwa eine seinsmäßige Gleichheit (aequalitas essendi) in der Zeugung als die Wiederholung der Einheit bzw. als die Vervielfältigung derselben Natur (unitatis repetitio vel eiusdem naturae multiplicatio), ohne daß bei dieser Zeugung die Einheit oder Natur von Zeugendem und Gezeugtem dem Sein nach weniger oder mehr werden kann: Wäre bei einem gezeugten, also seinsmäßig gleichen Etwas ein seinsmäßiges Defizit anzutreffen, wäre es nicht das, was es ist − eben dieses gezeugte Etwas. Wäre bei ihm ein seinsmäßiges Plus anzutreffen, widerspäche dies seinem Charakter als einem natürlich Gezeugtem (monstruosum). Jedes natürlich gezeugte Lebewesen bleibt in seinen spezifischen und generischen Grenzen, allenfalls ein raptus könnte etwa den Menschen über seine Sinnennatur zu einem reinen Geistwesen erheben: vgl. docta ign. III 1; n. 187 (h I 121,11 ff.). Kurzum, bereits bei der natürlichen Zeugung bleibt die Einheit oder Natur sich gleich und läßt doch Gleiches entstehen: sie zeugt sich fort. Die Einheit negiert nicht sich selbst, auf daß dann Anderes entstehe, sondern die Einheit zeugt die Gleichheit.

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Cusanus als eine Konsequenz aus dem a-proportional Einen und nicht wie bei Eckhart als ein bodenloser Fall vom Einen ins Nichts (casus ab uno).223 Der »hoc et hoc«-Charakter der Einzelnen ist für Cusanus denn auch kein »purum nihil«, sondern verdankt sich einer Bezugsform, die Cusanus als »contractio« benennt: »Contractio dicit ad aliquid, ut ad essendum hoc vel illud«.224 Der Begriff der »contractio« scheint dabei keine Bezugsform zu intendieren, mit der sich Gott in seiner Absolutheit unmittelbar einschränkte oder negierte bzw. durch Anderes eingeschränkt würde.225 Wäre »contractio« bzw. das, was sich einer »contractio« verdankt, einsinnig zu verstehen als »das Gegenteil von absolut«,226 so brächte »Kontraktion« eine hinzutretende (Fort-)Bestimmung des Absoluten zum Ausdruck: dessen »Verschränkung zu etwas, zu einer Seinsbestimmung von diesem oder jenem«.227 Auch ›im‹ Kontrahierten bleibt jedoch das Absolute inkontrakt oder absolut: »quia [absolutum maximum] est absolute in eo, quod est contractum«.228 Diese inkontrakte Anwesenheit des koinzidentalen Absoluten im Kontrakten bedeutet nicht dessen Koinzidenz mit dem Kontrakten, wohl aber die Anwesenheit von Koinzidenz im Kontrakten. Koinzidenz kommt auch dem Endlichen zu, gemäß der Cusanischen These: »Was dem Absoluten in absoluter Weise unüberbietbar zu-

Für den »casus ab uno« bei Eckhart vgl. etwa in Gen. I n. 88 (LW I 246,8); in Gen. II n. 74 (LW I 539,10); in Ex. n. 141 (LW II 128,10); in Sap. n. 271 (LW II 601,9 f.); n. 281 (LW II 613,9); in Ioh. n. 114 (LW III 100,5); n. 526 (LW III 456,10). − Gebraucht Cusanus diese Formulierung, dann versieht er sie etwa mit dem charakteristischen Zusatz »absque proportione«: infinitus et aeternus mundus cad[i]t absque proportione ab absoluta infinitate et aeternitate et unum ab unitate (docta ign. II 4; n. 114; h I 73,24−26). Andersheit als Abfall vom Einen ist kein bodenloser Fall ins Nichts, sondern in keiner Proportion ausdrückbar. Letzteres heißt für Cusanus aber auch, daß Andersheit nur in der Einheit − als ein kopulatives Zugleich (constrictio) von Einheit und Andersheit − auftritt: Sic ergo, cum harmoniae causas scrutaris, reperies alteritatem non aliter quam in unitate. Quoniam autem alteritas est casus ab unitate, harmonia est unitatis et alteritatis constrictio (de coni. II 2; n. 83,1−3; h III 80). 224 docta ign. II 4; n. 116 (h I 75,12 f.). − Um Mißverständnissen vorzubeugen, sei bemerkt, daß hier keineswegs die zentrale Bedeutung des Terminus ›aequalitas‹ für Cusanus in Abrede gestellt werden soll. (Paradigmatisch für den grundlegenden Charakter dieses Begriffs bei Cusanus: Beierwaltes, Denken des Einen. Studien zur neuplatonischen Philosophie und ihrer Wirkungsgeschichte, Frankfurt a. M. 1985, 368 ff.) Wohl aber gehen die folgenden Bemerkungen davon aus, daß Cusanus durch die a-proportionale Fassung des Aequalitas-Begriffes ein Problem schärfer beleuchtet, als dies Eckhart tut: Er fragt danach, wie Gott als der Eine auch Grund für die irreduzible Verschiedenheit oder Proportionalität alles Endlichen sein kann. 225 Vgl. dagegen Leinkauf, »Die Bestimmung des Einzelseienden« (wie Anm. 48), 189: »Ist Gott die Einheit vor aller Vielheit, so ist das Universum die Allheit aller Vielheit − schränkt, als maximum contractum, das inkontrakte Wesen Gottes unmittelbar ein − und das Einzelseiende die faktische und kontrahierte Einheit der Einheit des Universums.« 226 G. Schneider, Gott – das Nichtandere. Untersuchungen zum metaphysischen Grunde bei Nikolaus von Kues, Münster 1970, 90; Hervorh. StG. 227 Ebd. 228 docta ign. II 4; n. 116 (h I 75,10 f.). 223

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kommt, kommt auch dem Kontrakten auf kontrakte Weise zu«.229 Wenn denn schon »contractio« eine Restriktion gegenüber der absoluten Koinzidenz besagen soll, dann nicht nur in Form eines restriktiven Ausschlusses der absoluten Koinzidenz aus dem Endlichen, sondern auch und vor allem in Form eines Einschlusses von kontradiktorischen Bestimmungen im Endlichen. »Contractio« meint daher offenbar so etwas wie eine koinzidentale Präsenz von kontradiktorischen Gegensätzen im Eingeschränkten. Auch die »contractio« ist eine Einfaltung230 − eine Einfaltung von kontradiktorischen Gegensätzen im Endlichen. Im Endlich-Kontrakten entfaltet sich die absolute Koinzidenz zu einem kopulativen Zugleich von kontradiktorischen Gegensätzen, ohne daß sie sich selbst in dieses Zugleich entfalten oder mit ihm sich vermischen würde (absque permixtionem): Sed contracta unitas, quae est unum universum, licet sit unum maximum, cum sit contractum, non est a pluralitate absolutum, licet sit nisi unum maximum. Quare quamvis est maxime unum, est tamen eius unitas per pluralitatem contracta, sicut infinitas per finitatem, simplicitas per compositionem, aeternitas per successionem, necessitas per possibilitatem, et ita de reliquis, quasi absoluta necessitas absque permixtionem se communicet et in eius opposito contracte terminetur.231 Die Einheit des Alls wird demnach nicht in dem Sinne durch die Vielheit restringiert, daß die Vielheit die Einheit des Alls direkt negieren oder ausschließen würde: Das All ist zwar nicht von Vielheit frei (non a pluralitate absolutum), doch bleibt es gleichwohl ein Größtes (non est nisi unum maximum). Im Falle des Universums wird nicht die Einheit durch die Vielheit desavouiert, sondern die Einheit wird zu einem koinzidentalen Zugleich von Einheit und Vielheit eingeschränkt: Das All ist sowohl Einheit als auch Vielheit, bzw. Einheit als Vielheit232 – nicht aber: weder Einheit noch Vielheit, wie es die absolute Koinzidenz ist. Die Vielheit tritt nicht zur Einheit des Alls als eine weitere Bestimmung hinzu, sondern die absolute Koinzidenz entfaltet sich im Kontrakten zu einer kopulativen Koinzidenz von kontradiktorischen Gedocta ign. II 4; n. 112 (h I 73,4−7): Igitur quae in primo libro de absoluto maximo nobis nota facta sunt, illa, ut absoluto absolute maxime conveniunt, contracto contracte convenire affirmamus. − Die Editio minor (H 15b, 30,13 f.) entscheidet sich mit dem Florentiner Codex (und gegen die handschriftliche Vulgata) für die Lesart: illa ut absoluta absoluto maxime conveniunt, contracto contracte convenire affirmamus (»so wie es als Absolutes dem Absoluten in unbedingter Weise zukommt, [kommt es] dem Eingeschränkten in eingeschränkter Weise [zu]«). Der Sache nach scheint es Cusanus hier eher darauf anzukommen, daß das, was dem Unendlichen zukommt, genauso dem Endlichen zukommt, wenn auch in einer ihm entsprechenden Weise (absoluto absolute − contracto contracte), und nicht so sehr darauf, daß etwas (nur) als Absolutes in unbedingter Weise dem Absoluten zukommt. Nicht das, was dem Endlichen (durch das Unendliche) zukommt, ist eingeschränkt, sondern die Art des Zukommens. 230 Vgl. dazu etwa docta ign. II 6; n. 124 (h I 79,20−22): Prima absoluta unitas omnia complicat absolute, prima contracta [unitas] omnia [complicat] contracte (Hervorh. StG). 231 docta ign. II 4; n. 114 (h I 73,27–74,4). 232 docta ign. II 4; n. 115 (h I 74,18 f.): unitas in pluralitate. 229

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gensätzen. Die Einfaltung oder Kopulation kontradiktorischer Gegensätze im Kontrakten ist die Ausfaltung der absoluten Koinzidenz. »Contractio«, so ließe sich sagen, ist ausgefaltete Einfaltung von Gegensätzen. »In diesem Kontraktionsbegriff ist die kosmologische Bedeutung des Koinzidenzbegriffs gegeben.«233 Die absolute Koinzidenz wird im Kontrakten zugleich negiert und affirmiert. Negiert wird sie, insofern das Kontrakte eine irreduzible Andersheit im kopulativen Zugleich von Einheit und Vielheit aufweist. Affirmiert wird sie, insofern die absolute Koinzidenz auch, aber nicht nur ein kopulatives Zugleich von kontradiktorischen Gegensätzen meint. Die absolute Koinzidenz bleibt daher auch in dieser Ausfaltung ›zu‹ einer kopulativen Koinzidenz vor dieser Ausfaltung. Cusanus illustriert diese Verschränkung von kontradiktorischen Gegensätzen in einem kontrakten Etwas anhand eines hypothetischen Beispiels, was unweigerlich Eckharts Verwendung eben dieses Beispiels in Erinnerung ruft: Angenommen, die Qualität der Weiße (albedo) hätte ein absolutes Sein – wonach bemißt sich dann der kontrakte Charakter dessen, was aufgrund der Weißheit weiß ist? In etwas aktuell Weißem bemißt sich, so Cusanus, dessen »contractio« danach, daß in ihm die Weiße durch die Nicht-Weiße (per non-albedinem) beschränkt ist (terminatur) und insofern dieses konkret Weiße auch die Nicht-Weiße in sich einfaltet: Ac si albedo haberet in se esse absolutum sine abstractione nostri intellectus, a qua album esset contracte album: tunc albedo per non-albedinem in actu albo terminatur, ut hoc sit album per albedinem, quod absque ea [sc. absque non-albedine] album non esset.234 Wenn also angesichts von einem bestimmten weißen Etwas die Weiße (albedo) sich mit ihrem kontradiktorischen Gegenteil (non-albedo) verschränkt und wenn ohne diese Verschränkung das kontrakt Weiße nicht ist, was es ist, dann indiziert dies eine Ritter, Docta ignorantia (wie Anm. 109), 61. docta ign. II 4; n. 114 (h I 74,4−8). − Die Übersetzung dieses Satzes in der Editio minor (H 15b, 33) scheint mir den Sinn des Gesagten nicht zu treffen: »Hätte die Weiße in sich absolutes Sein ohne die Abstraktionsleistung unseres Geistes, dank deren das Weiße ein eingeschränkterweise Weißes wäre, so wird die Weiße durch die Nichtweiße im tatsächlich Weißen begrenzt, so daß das kraft der Weiße weiß ist, was ohne sie [gemeint ist hier wohl: ohne die Weiße] nicht weiß wäre.« Nach diesem Verständnis kommt die letzte Wendung des Satzes, wonach dasjenige kraft der Weiße weiß ist, was ohne die Weiße nicht weiß wäre, einer redundant tautologischen Formulierung nahe. Ich übersetze daher so: »Gesetzt, die Weiße hätte in sich absolutes Sein jenseits der Abstraktion unseres Verstandes und etwas Weißes wäre aufgrund der Weiße ein eingeschränkt Weißes, dann wird die Weiße durch die Nicht-Weiße in dem tatsächlich Weißen beschränkt, so daß dadurch [hoc als Ablativ] das Weiße sich der Weißheit verdankt, daß es ohne sie (ohne die Nicht-Weiße) nicht weiß wäre.« Bereits Wackerzapp versteht jenen Cusanischen Satz ganz im Sinne der späteren Editio minor, meint aber, die »verklausulierte Formulierung, die durch den Zusammenhang bedingt ist, […] übergehen« zu können. Denn sehe man hier von der umständlichen Ausdrucksweise ab, dann sei es »nicht zu verkennen, daß Nikolaus das Beispiel Eckharts zu Ende denkt« (Wackerzapp, Der Einfluß Meister Eckharts [wie Anm. 52], 63). Weiteres dazu im unmittelbaren Anschluß. 233 234

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irreduzible Andersheit dieses kontrakt Weißen − und zwar in erster Linie gegenüber anderem, kontrahiertem Weißen, welches etwa ein intensiveres Weiß aufzubieten hat. Wenn sich also etwas Weißes der Verschränkung von Weißheit und Nicht-Weißheit verdankt, steht es vor allem im proportionalen Verhältnis zu anderem Weißen, da hier mit ein und derselben Hinsicht (der Weißheit) eine irreduzible Andersheit in der Übereinstimmung zum Tragen kommt. Kontrahiert wird also nicht die Eine Weißheit zu einem Weißen, welches seinerseits als eine Instanz vorzustellen wäre, die nun die Weißheit in ihrem absoluten Sein negieren würde. Kontraktion meint vielmehr den Aufschluß eines koinzidentalen Charakters von gegensätzlichen Bestimmungen, wie er für das Endliche konstitutiv ist: als kopulative Koinzidenz von Gegensätzen. Dieser Form von Koinzidenz verdankt sich die durchgängige Andersheit und Einheit der Welt.235 Für Eckhart hingegen gibt es neben und außerhalb der Weiße nichts, was weiß ist. Die Weiße wäre für ihn nicht mehr Weiße, gäbe es neben ihr und außerhalb von ihr etwas Weißes. Insofern ist das einzelne Weiße nichts, sein Sein erfüllt sich vielmehr in seinem bloßen verweisenden Bezug auf die Weiße: hoc nomen ›albus‹ solum quidem qualitatem significat sicut albedo […].236 Sicut si aliquid esset album praeter aut extra albedinem, albedo non esset albedo, siquidem albedine omnia sunt alba, sic quod non est in esse, sed praeter aut extra esse, nihil est. Quomodo enim aut esset aut aliquid esset praeter esse vel sine esse aut non in esse?237 Bei Eckhart steht also das Beispiel von Weißem und Weiße von vornherein in einem anderen Fragehorizont als bei Cusanus: im Kontext seiner sog. ›Analogielehre‹.238

235 Flasch spricht in diesem Zusammenhang von einer »weltliche[n] Koexistenz der Gegensätze, die in reiner, in idealer Gestalt nur im Unendlichen vorkommen und dort koinzidieren« (Flasch, Nikolaus von Kues [wie Anm. 3], 100). ›Koexistenz der Gegensätze‹ klingt allerdings nach einer Zusammensetzung der Welt aus Gegensätzen, was Cusanus jedoch nicht unproblematisch erscheint: Videtur igitur [creatura] neque esse, per hoc quod descendit ab esse, neque non esse, quia est ante nihil, neque compositum ex illis. […] Et igitur non potest creatura ut creatura dici una, quia descendit ab unitate, neque plura, quia eius esse est ab uno, neque ambo copulative (docta ign. II 2; n. 100; h I 66,12−14; 19−21). Im übrigen finden sich die eben zitierten Sätze in einem Kapitel, das einen unverkennbar aporetischen Charakter trägt: Dominierend sind hier Fragesätze wie »Quis potest intelligere«, »Quis est igitur, qui intelligere queat«, »Quis ista intelligere potest« usw. Dies ist kein Wunder, geht es Cusanus doch zunächst einmal um die Feststellung, daß das geschaffene Sein vom Sein des Ersten »inintelligibiliter« abhängt. Cusanus formuliert hier also das Problem, das er dann mit den Begriffen der »complicatio«, »explicatio« und »contractio« einer Lösung zuführen wird. 236 in Ex. n. 63 (LW II 67,13 f.). Siehe auch prol op. prop. n. 2 (LW I 166,6). 237 Sermo IV/1 n. 23 (LW IV 24,11−15). 238 Ausführlicher dazu Verf., »Zwei Sprachen und das Eine Wort. Zur Identität von Meister Eckharts Werk«, in: Vivarium 41 (2003), 47−83, hier 68 ff.

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Daß das Weiße ohne die Weißheit bzw. das Geschaffene ohne das Sein nichts ist, indiziert für Eckhart nicht bloß ein schöpfungstheologisches Abhängigkeitsverhältnis in dem Sinne, daß für das Sein des Geschaffenen das göttliche Sein unabdingbar ist. Denn das Sein der Welt ist für Eckhart in jedem Augenblick, also auch nach der Erschaffung der Welt, uneingeschränkt nichtig. Die Welt hat niemals ein selbständiges Sein und damit überhaupt kein Sein, ihr Sein ist vielmehr immer schon bloßer Bezug auf das göttliche Sein. Daher ist auch die erschaffene Welt ›außerhalb‹ des göttlichen Seins ein reines Nichts, weil sie eben bloßer, uneingeschränkter Bezug auf das göttliche Sein ist. Als dieser Bezug auf Gott ist aber die Welt ewig. Sowohl als ungeschaffene ›in‹ Gott wie auch als geschaffene ›außerhalb‹ von Gott ist die Welt ab aeterno: von Ewigkeit an und vom Ewigen her. Es gibt für Eckhart keinen Zeitpunkt, an dem die Welt nicht ist. Denn die Welt ist für ihn nichts als dieser – auch in zeitlicher Hinsicht – uneingeschränkte Bezug auf das göttliche Sein. Das Sein der Welt ab aeterno ist ihr ewig relationales Sein auf das göttliche Sein hin: nec modo, mundo scilicet creato, aliquid extra ipsum [sc. deum] et praeter ipsum est. Quomodo enim esset quippiam praeter esse? Adhuc autem […] dicendum est […] quod mundus semper fuit. Non enim fuit tempus, in quo non esset mundus sive quando non esset mundus. […] concedi potest quod mundus fuit ab aeterno.239 in Ioh. n. 215 f. (LW III 181,3−7). − Diesen Passus aus Eckharts Johannes-Kommentar versieht Cusanus in seinem Exemplar von Eckharts Werken (cod. cus. 21) mit der Marginalie »cave«, welche wohl alles andere als marginal für das Verhältnis dieser beiden Denker ist. Vgl. in Ioh. n. 216 (LW III 181 mit der beigegebenen Anm. 2), sowie Acta Ech. n. 4 (LW V 612,4 f.). Siehe auch St. Frost, Nikolaus von Kues und Meister Eckhart. Rezeption im Spiegel der Marginalien zum Opus tripartitum Meister Eckharts, Münster 2006, 242 (dort als Marg. 113 gezählt). Dies ist die einzige Randnotiz des Cusanus, mit der er sich explizit von einem – verurteilten – Eckhartischen Gedanken distanziert. Dieses »cave« bezieht sich dabei nicht, so scheint mir, auf Eckharts Behauptung der Ewigkeit der Welt; auch für Cusanus ist ja das Universum ewig: aeternitas per successionem contracta (vgl. oben Anm. 231). Das Cusanische »cave« bezieht sich daher eher auf die Begründung, die Eckhart hier für die Ewigkeit der Welt gibt: Ewig ist für Eckhart die Welt, weil sie in einem uneingeschränkten Sinne nichts neben und außerhalb des göttlichen Seins ist, sondern nur bloßer Bezug auf Gott ist. Dagegen ist für Cusanus die Welt nur eingeschränkt ewig, weil sich in ihr Ewigkeit und Nicht-Ewigkeit bzw. Sukzession zu einer kopulativen Koinzidenz verschränken. An dieser Stelle trennen sich also die Wege von Eckharts Analogiekonzept und Cusanus’ Koinzidenzprinzip. Zu Cusanus’ »cave« siehe auch R. Haubst, »Nikolaus von Kues als Interpret und Verteidiger Meister Eckharts«, in: Freiheit und Gelassenheit. Meister Eckhart heute, hg. von U. Kern, München/Mainz 1980, 75–96, hier 84 f. mit Anm. 68. Neuerdings zieht Frost in Zweifel, ob dieses »cave« tatsächlich von Cusanus stammt, zumal für sie unklar bleibt, »welche Funktion es hat« (Frost, op. cit. 87; vgl. ebd. 54 mit Anm. 281). Zur Diskussion um dieses »cave« siehe auch M. Grabmann, »Neue Eckhartforschungen im Lichte neuer Eckhartfunde. Bemerkungen zu O. Karrers und G. Thérys O. P. Eckhartarbeiten«, in: Divus Thomas 5 (1927), 74–96; hier 83; sowie die Replik von O. Karrer, »Neue Eckehart-Forschungen. Antikritische Fortführung des früheren Berichtes«, in: Literarische Berichte aus dem Gebiete der Philosophie 13/14 (1927), 20–36; hier 24 ff. – Insbesondere in seinem Brixener Sermo 216 von 1456 »Ubi est qui natus est rex Judaeorum?« (h XIX 82−96) greift Cusanus auf den Passus in Eckharts Johannes-Kommentar zurück. 239

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Für Cusanus ist also das Universum das eingeschränkt Größte, das durchgängig eine Verschränkung von kontradiktorischen Gegensätzen aufweist.240 Von daher ist es fraglich, ob sich diese »contractio« auf die Gegensatztypen der Kontradiktion und Kontrarietät beziehen läßt: »Gott […] eint apriorisch die kontradiktorischen Gegensätze − das Universum geht den kontrakten, also den konträren Gegensätzen voraus«.241 Diese These, wonach das universale Eine den konträren Gegensatz im Sinne eines kontrakten Typus von Gegensätzlichkeit umfaßt, scheint dabei Cusanus’ eigene Worte für sich reklamieren zu können: Ita pariformiter mundus sive universum est contractum maximum atque unum, opposita praeveniens contracta, ut sunt contraria.242 Meint Cusanus also doch, daß das Universum als das kontrakt Eine »den kontrakten Gegensätzen, wie es die konträren sind, vorangeht«?243 Nun indiziert aber dieser Cusanische Satz eine ›Gleichförmigkeit‹ (pariformiter). Worin aber diese besteht, wird aus dem unmittelbar vorangehenden Satz deutlich: In quo [sc. in deo] omnia sunt sine pluralitate ipsum maximum absolutum, simplicissime, indistincte.244 Vom Universum gilt daher pariformiter: in quo [sc. in universo] omnia sine pluralitate sunt ipsum maximum contractum cum contracta simplicitate et indistinctione.245 Auch dort behauptet Cusanus mit Eckhart das Ewig-Sein (semper fuisse) der Welt, welches sich dem Ewigen verdankt (esse ab aeterno): Et dici potest, quod, quia Deus est ipsum aeternum, ut ab eo est tempus et sic mundus temporalis est et fuit semper et ab aeterno, scilicet [a] Deo, etiam fuit semper, id est omni tempore, immo numquam fuit verum dicere, quod non fuit (n.23,8−13; h XIX 92 f.). Anders als für Eckhart ist jedoch für Cusanus das »semper fuisse« der Welt zugleich nicht ewig (aeternum): et [li] fuit ipsum est ab aeterno, sed non est aeternum, quia tempus (ebd. Z.15 f.). Das ›Immer-Gewesen-Sein‹ der Welt stößt demnach an keine zeitliche Grenze, ist also kontrakte Ewigkeit bzw. Zeit ohne zeitliche Grenze. Für Eckhart hingegen versteht sich das »aeternum«-Sein der Welt aus seinem Analogiekonzept: Prima aeternitas in modo significandi se habet ad aeternum sicut ›quo est‹ ad ›quod quid est‹. Sed ›quo est‹ deo est proprium, ›quod quid est‹ proprium creaturae« (in Ex. n. 85; LW II 89,1−3). Vgl. dazu Verf. »Zwei Sprachen und das Eine Wort« (wie Anm. 238), 74 mit Anm. 106. Zum Brixener Sermo 216 siehe auch W. Beierwaltes, »Das Verhältnis von Philosophie und Theologie bei Nicolaus Cusanus«, in: MFCG 28 (2001), 65−102; hier 87 ff. 240 Vgl. nochmals docta ign. II 4; n. 114 (h I 73,30–74,4): est tamen eius [sc. universi] unitas per pluralitatem contracta, sicut infinitas per finitatem, simplicitas per compositionem, aeternitas per successionem, necessitas per possibilitatem. 241 Jacobi, Die Methode (wie Anm. 37), 271; im Original kursiv. 242 docta ign. II 4; n. 113 (h I 73,14–16). 243 So Jacobi, Die Methode (wie Anm. 37), 282 bzw. 291. In diesem Sinne auch Dupré I 339; sowie H 15b, 33. 244 docta ign. II 4; n. 113 (h I 73,12–14). 245 docta ign. II 4; n. 113 (h I 73,18–20).

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Auch das Universum geht also den Gegensätzen in Einfachheit und Ununterschiedenheit voran, dies allerdings in kontrakter Weise. Die jeweilige Art und Weise, wie Gott bzw. das Universum den Gegensätzen vorangeht, ist demnach entscheidend. Die Gleichförmigkeit von Gott und der Welt besagt daher nicht, daß für Gott und für das Universum ganz bestimmte Gegensätze kompatibel wären. Es sind nicht verschiedene Gegensatztypen, die jeweils miteinander vereinbar sind: in Gott kontradiktorische Gegensätze, im Universum dagegen ›bloß‹ konträre Gegensätze. Vielmehr ist diese ›Kompatibilität‹ von Gegensätzen überhaupt jeweils eine andere – absolute Einheit ist nicht kontrakte Einheit, oder: absolute Koinzidenz ist nicht kopulative Koinzidenz. Auch das Universum geht den Gegensätzen in ihrer Gegensätzlichkeit voran (opposita praeveniens, ut sunt contraria). Dieses Vorangehen bzw. diese Einheit von Gegensätzen ist aber kontrakt bzw. von begrenzter Tragweite. Daß es also eingeschränkte Gegensätze sind, denen das Universum vorangeht (opposita praeveniens contracta), meint nicht, daß es sich hier um einen ›milderen‹ Typus von Gegensatz handeln würde, der für das Universum als kontrakte Einheit gerade noch zu bewältigen wäre. Der kontrakte Charakter dieser Gegensätze besteht vielmehr darin, daß sie noch so vereint werden können, daß ihr kopulatives Zugleich gedacht werden kann. Im Falle der absoluten Einheit oder Koinzidenz hingegen sind Gegensätze nicht miteinander verschränkt und daher auch nicht mehr als ein kopulatives Zugleich denkbar. Als dieses koinzidentale Zugleich von Gegensätzen ist das Universum die Mitte (medium) dieser Gegensätze, während Gott als »die absolute Größtheit und Einheit dem Verschiedenen und Gegensätzlichen, so etwa dem kontradiktorisch Entgegengesetzten, zuvorkommt und es eint, ohne dessen Mitte zu sein«.246 Dem Universum diktiert Cusanus daher wohl kaum die viel besprochene »Mittlerfunktion« zwischen Gott und dem Einzelnen zu, es soll also wohl keine vermittelnde Instanz zwischen Gott und dem einzelnen Geschaffenen darstellen.247 Wenn Cusanus also sagt:

docta ign. II 4; n. 113 (h I 73,8–11): Deus est absoluta maximitas atque unitas, absolute differentia atque distantia praevenit et unit, uti sunt contradictoria, quorum [sc. deus] non est medium. Gemeint ist hier also wohl nicht (im Anschluß an Aristoteles, Anal. post. I 2; 72 a 12 f.), daß es zwischen kontradiktorischen Gliedern »kein Mittleres« (H 15b, 31) bzw. keinen »Übergang« (Dupré I 339) gibt, sondern daß Gott die Gegensätze in absoluter Weise so eint (absolute unit), daß er kein Mittleres zwischen diesen Gegensätzen bzw. kein Drittes gegenüber diesen contradictoria darstellt. In Gott verschränken sich die Gegensätze nicht zu einem kopulativen Zugleich. 247 Vgl. F. Fiorentino, Il risorgimento filosofico nel Quattrocento, Napoli 1885, 129: »L’Universo sta in mezzo tra Iddio, e le singole creature.« Siehe auch N. Herold, Menschliche Perspektive und Wahrheit. Zur Deutung der Subjektivität in den philosophischen Schriften des Nikolaus von Kues, Münster 1975, 19; Jacobi, Die Methode (wie Anm. 37), 274 ff. (Abschn. »Das Universum als ontologische Vermittlung«), dort im engen Anschluß an Rombach, Substanz, Struktur, System (wie Anm. 48), I 175 ff. Leinkauf, »Die Bestimmung des Einzelseienden« (wie Anm. 48), 188; sowie Benz, Individualität (wie Anm. 2), 159 und neuerdings A. Moritz, Explizite Komplikationen. Der radikale Holismus des 246

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Deus, qui est unitas simplicissima, existendo in uno universo est quasi ex consequenti mediante universo in omnibus, et pluralitas rerum mediante uno universo in Deo248 meint dies dann, daß »die absolute Identität […] nicht unmittelbar die Vielfalt und Differenz, sondern die Einheit aller Vielheit, die Totalität«249 erschafft? Wieso aber tritt dann für Cusanus alles Seiende (omnia entia) zugleich mit dem Universum (simul cum universo) ins Sein?250 Hat das Universum zwar einen ontologischen oder formalen Vorrang gegenüber dem Einzelnen, nicht aber einen ontischen oder materialen? Ist das Universum als »der göttliche Weltplan«251 zwar nicht ablösbar vom Einzelnen, doch aber als Plan oder »ordo« diesem Einzelnen vorgängig? Worin liegt dann dieser »ordo«-Charakter? Sed ordo habet, ut absoluta unitas videatur quasi primam contractam complicare, ut per eius medium alia omnia.252 Besteht also dieser »ordo« darin, daß die absolute Einheit die erste eingeschränkte Einheit, d. h. das Universum, umgreift, um vermittels des Universums (per eius medium) auch alles andere (alia omnia), welches vom Universum umfaßt wird, mit einzubegreifen?253 Braucht also die absolute Einheit nur die ›Totalität‹ des Universums zu umfassen, um damit mittelbar der ›Vielfalt und Differenz‹ des Einzelnen habhaft zu werden? Anstatt hier allerdings das Bild einer zwiebelförmigen Umschließung (complecti) zu evozieren, spricht Cusanus zunächst einmal von »Einfaltung« (complicare).254 Wenn daher die absolute Einheit die erste kontrakte Einheit, d. h. das kontrakt Größte, einfaltet, dann scheint sie dies zu tun, insofern und weil auch die erste kontrakte Einheit ihrerseits eine Mitte (medium) für anderes ist. Durch ihr ›Mitte-Sein‹ (per Nikolaus von Kues, Münster 2006, 59 f. Vgl. auch Wilperts Anmerkung in H 12, 172 f. Kritisch gegenüber dem Vermittlungsgedanken: Ritter, Docta ignorantia (wie Anm. 109), 63 f. 248 docta ign. II 4; n. 116 (I 75,16−18). 249 Jacobi, Die Methode (wie Anm. 37), 275. 250 Vgl. docta ign. II 4; n. 116 (h I 74,28–75,2). Omnia entia, quae sunt partes universi, sine quibus universum – cum sit contractum – unum, totum, et perfectum esse non potest, simul [!] cum universo in esse prodierunt. Anders als Jacobi und Rombach erwähnt Leinkauf immerhin diesen Satz. Vgl. Leinkauf, »Die Bestimmung des Einzelseienden« (wie Anm. 48), 190 mit Anm. 32. 251 Jacobi, Die Methode (wie Anm. 37), 275. 252 docta ign. II 6; n. 124 (h I 79,22 f.). 253 In diesem Sinne übersetzt die Editio minor: »Die Ordnung bringt es aber mit sich, daß die absolute Einheit gleichsam die erste eingeschränkte Einheit zu umgreifen scheint, um durch sie alles andere zu umgreifen« (H 15b, 45). 254 Das »complicare« im eben angeführten Satz (vgl. Anm. 252) ist zwar eine Konjektur der Editio maior aus dem »explicare« der Hss., aber durch den unmittelbaren Kontext, der durchgehend »complicare« verwendet, durchaus gerechtfertigt. Zu dieser Konjektur siehe auch Klibanskys Anmerkung in H 15c, 227.

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eius medium) faltet die erste kontrakte Einheit wiederum anderes − die zweite kontrakte oder generische Einheit − ein, und diese wiederum durch ihr ›Mitte-Sein‹ (eius medio) die dritte kontrakte, artspezifische Einheit. Diese artspezifische Einheit faltet als die letzte allgemeine Einheit (ultima universalis unitas) alle Einzelwesen (particularia) einer Spezies ein: et contracta prima [unitas] videatur secundam contractam [unitatem] complicare, et eius medio tertiam contractam [complicare]; et secunda contracta [unitas videtur complicare] tertiam contractam [unitatem], quae est ultima universalis unitas et quarta a prima [sc. ab absoluta unitate], ut eius medio [sc. medio tertiae unitatis] in particulare deveniat.255 Der Cusanische Terminus »medium« meint hier keine »Vermittlung«, sondern, wie schon bei Eckhart, ein »Mitte-Sein«.256 Im Terminus »medium« findet Cusanus also einen Begriff, der nicht die disparate Vielfalt des Einzelnen (der Einzelwesen, der einzelnen Spezies, der einzelnen Gattungen, der einzelnen Kategorien) umspannt und unter einem immer allgemeineren und einheitlicheren Aspekt vermittelt, sondern der als ein koinzidentales Zugleich die Einheit und die Vielheit der jeweils in ihm eingefalteten Bestimmungen begründet. Der »ordo« des Universums ist zu verstehen als eine graduelle Ausfaltung von ›Mitten‹ oder kopulativen Koinzidenzen, in die ihrerseits wiederum andere ›Mitten‹ eingefaltet sind. Die absolute Einheit oder Koinzidenz ist daher »complicatio complicationum«257 nicht deshalb, weil sie der allgemeinste oder ›einheitlichste‹ Nenner docta ign. II 6; n. 124 (h I 79,23–27). – Im unmittelbaren Anschluß korreliert Cusanus diese drei kontrakten Einheiten von allgemeiner Tragweite den zehn Kategorien, den Gattungen und den Spezies: Est igitur universum quasi decem generalissimorum universitas, et deinde genera, deinde species. Et ita universalia sunt illa secundum gradus suos, quae ordine quodam naturae gradatim ante rem, quae actu ipsa contrahit, existunt. Et quoniam universum est contractum, tunc non reperitur nisi in generibus explicatum, et genera non reperiuntur nisi in speciebus. individua vero sunt actu, in quibus sunt contracte universa (ebd.; h I 80,1–7). Siehe dazu etwa auch Koch, Die Ars coniecturalis (wie Anm. 10), 31 f. 256 Für Eckharts Verwendung von »medium« siehe oben, 41 ff. – Bereits H. Blumenberg hat bei Cusanus »die Umbesetzung der Mitte« registriert, welche »jetzt nicht mehr bloßer Bezugspunkt einer Ordnungsskala zu sein hat, sondern der substantielle Quellpunkt der ontologischen Standhaltigkeit und Dignitiät des Ganzen« (Blumenberg, Aspekte der Epochenschwelle [wie Anm. 4], 65). Blumenberg geht bei seinen Überlegungen vom Terminus der ›Weltmitte‹ (centrum) aus, der nicht mehr »durch die träge Erdmasse« besetzt wird, sondern der »metaphysisch und nicht mehr kosmologisch akzentuiert« ist (ebd. 64): Gott sei nun die Mitte der Welt. Daß bei Cusanus der Mitte dieser Charakter als Quellpunkt zukommt, liegt, so wollen meine Ausführungen zeigen, daran, daß Cusanus die Mitte (medium) als eine Form von Einfaltung oder Koinzidenz faßt. Anders gesagt: Entscheidend für den hier besprochenen Zusammenhang ist nicht die – auch schon bei Eckhart bemerkbare – Umbesetzung der Mitte als solche, sondern der spezifische Charakter, den diese Umbesetzung bei Cusanus hat. Neben und vor Blumenberg hat auch R. Haubst auf den Cusanischen Begriff von »medium« im Sinne eines »›In-der-Mitte-seins‹ Gottes« aufmerksam gemacht. Vgl. Haubst, Das Bild des Einen und Dreieinen Gottes in der Welt nach Nikolaus von Kues, Trier 1952, 85 bzw. 95. 257 de mente 4; n. 74,19 f. (h V 114); sowie de ludo gl. II; n. 86,12 (h IX 105). 255

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ist, auf den sich alles Verschiedene bringen läßt, sondern deshalb, weil sie die absolute Kraft zur Begründung der Vielheit ist. Innerhalb des Universums aber will die Vielheit nicht bloß transzendiert werden auf eine jeweils allgemeinere Einheit hin, die die Vielheit ›auch noch‹ ist. Im Gegenteil: Vielheit muß als Vielheit in der Einheit erkannt werden. Vielheit hat ›bereits‹ als Vielheit – und nicht erst jenseits ihrer selbst – ihre Einheit. Und dies deswegen, weil jede Einheit als kontrakte Einheit (unitas per pluralitatem contractam) die Einheit und Vielheit des in ihr Eingefalteten ist.258 Das Universum eint als die Mitte der Genera deren Einheit und Vielheit derart, daß es seinerseits nicht aus Einheit und Vielheit zusammensetzt ist. Als universale Einheit ist es nicht auch noch die Vielheit der Genera. Das Universum umfaßt daher weder die Vielheit der Genera noch verliert es sich einfach in die generischen Differenzen. Vielmehr ist das Universum die Einheit und Differenz der Genera als Genera. Als die erste kontrakte Einheit oder Mitte findet sich das Universum daher nur als ausgefaltetes in den Gattungen: »Et quoniam universum est contractum, tunc non reperitur nisi in generibus explicatum.«259 Die kopulative Koinzidenz von Einheit und Vielheit im Universum meint also mehr als nur eine Zusammensetzung (compositio), welche die beiden Gegensatzglieder ›Einheit‹ und ›Vielheit‹ umfaßt und die sich dann in eben diese verschiedenen Aspekte auch wieder analysieren läßt: in eine universale, umfassende Einheit und in eine generische Vielheit des Ganzen. Dementsprechend ist etwa auch eine generische Einheit die Mitte der in ihr eingefalteten artspezifischen Bestimmungen, insofern sie die durchgängige Korrelierbarkeit jener spezifischen Bestimmungen untereinander – ihr Mit- und Gegeneinander – gestattet. Keine dieser Artbestimmungen hat ihre Mitte in sich selbst, da jede dieser artbildenden Bestimmungen jener generischen Einheit gleich nah und gleich fern steht. Im Beispiel gesprochen, ist die Spezies ›Mensch‹ nicht mehr und nicht weniger generisch als ›Lebewesen‹ bestimmt als die Spezies ›Löwe‹. Dieses a-proportionale Verhältnis einer generischen Bestimmung zu ihren artspezifischen Bestimmungen schließt Unmittelbarkeit nicht aus, sondern ein. Eine generische Einheit findet sich

Für Koch, Die Ars coniecturalis (wie Anm. 10), 32 hingegen ist die »ganze Konzeption« dieses Abschnittes »wesentlich scholastisch orientiert«. Es handle sich hierbei um die »Lehre von den ›allgemeinen Einheiten‹«, die nichts mit »Einheitsmetaphysik« zu tun habe. Bekanntlich steht bei Koch der Terminus ›Einheitsmetaphysik‹ für eine »Metaphysik von oben«; diese »geht von der absoluten Einheit als dem Erstgegebenen aus und steigt von da zum Verständnis der Welt herab« (ebd. 23). Nichts anderes aber tut Cusanus in diesem Abschnitt: Er zeigt, wie die absolute Koinzidenz sich wieder findet in den kopulativen Koinzidenzen der kontrakten Einheiten. Für das Verständnis der Welt bzw. des Universums ist der Koinzidenzbegriff unabdingbar. Cusanus denkt, so scheint mir, bereits hier, was etwa Flasch erst für »De coniecturis« geltend macht: »Die Koinzidenz wird eine universale Betrachtungsweise […]. Dadurch wird sie anschaulich. Auch in der sinnlichen Welt entspricht ihr etwas. Sie wird − unter Bedingungen − darstellbar, welthaft erfahrbar, sinnlich. Das heißt: Es gibt Koinzidenzphänomene« (Flasch, Nikolaus von Kues [wie Anm. 3], 163). 259 docta ign. II 6; n. 124 (h I 80,4 f.). 258

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nur in den Spezies: »genera non reperiuntur nisi in speciebus«.260 Die vielfältigen Artbestimmungen treten nicht innerhalb oder im Horizont einer allgemeineren, generischen Einheit auf, sondern die generische Einheit tritt nur innerhalb dieser Artbestimmungen als deren Mitte auf. Die generische Einheit bestimmt nicht sich fort zu artbildenden Einheiten, sondern ist als Mitte der unmittelbare Grund der artbildenden Einheiten und ihrer gegenseitigen Korrelierbarkeit. Korrelate setzen sich für Cusanus daher nicht nur logisch gegenseitig voraus, sondern sind nur in ihrer Korrelation oder verbindenden Mitte wirklich das, was sie sind: »Nam correlationes non sunt subsistentes per se nisi copulate«.261 Die Wirklichkeit der Korrelate gründet in der sie tragenden und verbindenden Korrelation oder Mitte, die keines der Korrelate ist und die gleichwohl nicht einfach jenseits dieser Korrelate angesiedelt ist. Diese Korrelation selbst ist eine Instanz, die nicht zwei verschiedene, artspezifische Korrelate unter deren höherem, generischem Einheitsaspekt zusammenbringt, sondern die allererst die Differenz dieser Korrelate aufspannt oder entfaltet. Die ›Einschränkung‹ (contractio), die eine generische Einheit in einer bestimmten artbildenden Bestimmung erfährt, besteht nicht in deren inhaltlicher Zuspitzung, also nicht darin, daß z. B. die generische Bestimmung ›Lebewesen‹ sich in einem bestimmten Fall zu der artspezifischen Bestimmung ›Mensch‹ oder ›Löwe‹ verengt. Vielmehr besteht die »contractio« eines Genus in den Spezies darin, daß die generische Bestimmung als die Mitte in den vielfältigen artspezifische Bestimmungen deren differenten Bezug auf andere, artbildenden Bestimmungen eröffnet.262 docta ign. II 6; n. 124 (h I 80,5 f.). docta ign. II 7; n. 128 (h I 82,10 f.). 262 Was Cusanus hier im Begriff »medium« zu fassen sucht, scheint er in seinem Spätwerk »De possest« anhand des Wortes »IN« explizieren zu wollen. Das »IN« ist innerstes Wesen von allem, und zwar in Form einer kopulativen Koinzidenz von Gegensätzen bzw. einer gleichzeitigen Bejahung und Verneinung, die Cusanus bereits auf der literalen Ebene von »IN« (I = ita; N = non) angezeigt sieht: IN in suo simpliccissimo significato complicat simul affirmationem et negationem, quasi I sit ita et N sit non, quae in IN connectantur (de poss. n. 55,23−25; h XI/2 67). Ein Einblick (intuitio) in das, was jedes Einzelne jeweils in sich ist, ist ohne die bereits erfolgte Inanspruchnahme des »IN« nicht möglich. Sowohl jeder einzelne Verstehensakt als auch das darin jeweils Verstandene – das Einzelne, wie es in sich ist – gründen im »IN«. Das »IN« zeigt sich als der einheitliche Grund eines jedes Einzelnen und zugleich als der Grund für die Differenz des Einzelnen: Nam omnia quae nominari possunt nihil nisi IN in se continent. Dum enim intueor in substantiam, video ipsum IN substantiatum, si in caelum caelestiatum, si in locum locatum, si in quantum quantificatum, si in quale qualificatum, et ita de omnibus quae dici possunt. Quare in termino terminatum, in fine finitum, in altero alteratum (ebd. Z. 2−8; h XII/2 66). Insofern sich das »IN« oder die kopulative Koinzidenz von Gegensätzen als der Wesenskern in allem zeigt und daher die Differenz zum unmittelbaren Wesenskern von allem gehört, faltet das »IN« nicht einfach sich zu dem dabei entfalteten Einzelnen bzw. zu niedriger stehenden Einheiten aus, sondern faltet sich auch in weitere Einfaltungen aus. Anders gesagt: Die Zunahme der Andersheit in niedrigeren Einheiten bedeutet nicht einfach eine Negation der kopulativen Koinzidenz oder einen Ausschluß des »IN« aus jenen niedrigeren Einheiten. Wenn daher etwa das Universum als kopulative Koinzidenz sich nur in den Genera entfaltet findet (universum non reperitur nisi in generibus explicatum), faltet es in den Genera als Genera wiederum ein weiteres »IN« bzw. weitere 260 261

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Von daher scheint auch die Alternative zwischen Substanzen, in deren Gefolge sich dann − auch hierarchische − Relationen einstellen, und einem Beziehungsgeflecht, in dem diese Substanzen zu egalitären Bezugsknotenpunkten transformiert werden, für Cusanus keine wirkliche Alternative zu sein: Daß »jedes Seiende […] überhaut erst im Bezug ist«,263 meint nicht, daß es sich einzig und allein einem universalen Geflecht »des negativen und des positiven Bezuges auf alle ›Anderen‹« verdankt.264 Vielmehr gründen die Relationalität und die Substantialität des Einzelnen in einer Mitte, die das Einzelne selbst nicht ist und die doch das Einzelne als Einzelnes erst verständlich macht. Auch wenn daher für Cusanus nur das jeweils Einzelne wirklich ist,265 so ist doch das Universum als das kontrakte ›Was‹ seiner einzelnen ›Bestandteile‹ deren Wirklichkeit, ohne daß dabei das Universum mit diesen Bestandteilen ununterscheidbar zusammenfällt: universum non est in sole nec in luna, sed in ipsis est id quod sunt contracte.266 [quidditas] contracta non est aliud quam [res] ipsa.267 Weder zieht sich das Universum im jeweils Einzelnen in je anderer Weise zu einer disparaten Vielheit zusammen, noch zieht es das Einzelne zu einer höheren Einheit zusammen − und sei es nur auf den einen Generalnenner, daß es immer nur Anderes in der Welt gibt und damit »die Gegensätzlichkeit des Seienden gegeneinander zum durchgängigen Seinscharakter all dessen [wird], was in der Welt ist«.268 Das ›Was‹ des Einzelnen ist also nicht einfach der universale, über es hinausweisende Aspekt seiner bloßen Andersheit. Das Universum als die erste kontrakte Einheit oder Größtheit ist nicht nur verantwortlich für den durchgängigen und insofern umfassenden Differenzaspekt des jeweils Einzelnen. Wenn also Cusanus sagt: »identitas universi est in diversitate sicut unitas in pluralitate«, dann meint dies nicht bloß,

Einfaltungen – die Genera als Einfaltung der artbildenden Bestimmungen – aus. Angesichts dieser fortgesetzten Ausfaltung von Einfaltungen wäre es töricht, das »IN« mit Gottes absoluter Koinzidenz gleichsetzen zu wollen: Sed qui per ipsum IN maiestatem dei intrare nititur, ut perscrutator opprimitur a gloria (ebd. n. 56,11 f.; h XII/2 67 f.). Denn auch als Einfaltung von Affirmation und Negation zeigt das »IN« bereits eine Ausfaltung. In den drei Linien des Buchstabens »N« hat bereits die einfache Linie des Buchstabens »I« sich selbst entfaltet: in N enim est I explicatum (ebd. n. 54,18; h XI/2 65). Das meint: Die absolute Affirmation (»I« = ita) hat sich im »IN« bereits zu einem koinzidentalen Zugleich von Affirmation (»I« = ita) und Negation (»N« = non) entfaltet. Kopulative Koinzidenz oder Einfaltung von Gegensätzen ist bereits Ausfaltung (explicatio) der absoluten Koinzidenz. 263 Jacobi, Die Methode (wie Anm. 37), 276; Hervorh. StG. 264 Jacobi, Die Methode (wie Anm. 37), 276. 265 docta ign. II 6; n. 125 (h I 80,10 f.): Solum enim singulare actu est, in quo universalia sunt contracte ipsum. 266 docta ign. II 4; n. 115 (h I 74,11 f.). 267 docta ign. II 4; n. 115 (h I 74,16). 268 Jacobi, Die Methode (wie Anm. 37), 286.

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daß die Einheit des Universums an der Andersheit und Vielfalt des Einzelnen liegt oder durch sie bedingt ist.269 Das Universum ist auch die Einheit inmitten dieser Vielfalt und Andersheit, insofern die Einheit gegenüber der Andersheit des immer Anderen irreduzibel ist. Die Andersheit des Einzelnen zerfällt nicht in ein vielfältiges Gegeneinander des Einzelnen, sondern bleibt in ein Miteinander eingebunden. So bilden etwa Sonne und Mond nicht einfach nur ein bloßes Gegeneinander, weil das Universum sich in ihnen kontrahieren würde zu Sonne und Mond, es also nur in der Sonne Sonne bzw. im Monde Mond wäre. Sonne und Mond bilden auch und gerade ein Miteinander, weil das Universum die kontrakte Einfaltung oder die kopulative Koinzidenz von allem ist: Unde universum, licet non sit nec sol nec luna, est tamen in sole sol et in luna luna.270 Cusanus meint hier wohl nicht, daß das All, »obwohl es weder Sonne noch Mond ist, dennoch in der Sonne Sonne und im Monde Mond« ist.271 Denn Cusanus sagt ja nicht: »universum, licet sit nec sol nec luna, est tamen in sole sol et in luna luna«.272 Vielmehr schließt Cusanus vom Universum gerade die disjunktive Negation aus, daß es weder Sonne noch Mond sei. Das Universum ist nicht: weder Sonne noch Mond; bzw. es ist nicht: nicht Sonne und auch nicht Mond: ¬ (¬ S ∧ ¬ M). Wenn also für Cusanus das Universum nicht das absolute ›Nichts von allem‹ ist (¬ A ∧ ¬ B ∧ ¬ C usw.), meint diese Negation einer Disjunktion wohl eine kopulative Koinzidenz: Das Universum ist sowohl Sonne als auch Mond − und trotzdem in der Sonne Sonne und im Mond Mond. Das Universum ist die Verschränkung von Einheit und Andersheit in allem.273 docta ign. II 4; n. 115 (h I 74,18 f.). – Die Editio minor versteht den Satz in dem Sinne, daß »die Identität des Alls nur in Verschiedenheit besteht wie die Einheit in Vielheit« (H 15b, 35; Hervorh. StG). Auch nach diesem Verständnis wäre die Einheit des Universums ausschließlich durch die Vielheit des Einzelnen bedingt. 270 docta ign. II 4; n. 115 (h I 74,19 f.); Hervorh. StG. 271 So die Übersetzung in H 15b, 35; Hervorh. StG. 272 Cusanus verwendet die Formulierung »non … nec … nec« freilich auch im Sinne der einfachen disjunktiven Negation ›weder − noch‹. Vgl. dafür etwa nur: docta ign. II 12; n. 164 (h I 104,22 f.): Nam cum mundus non habeat nec maximum nec minimum […]; de non aliud; prop. 7 (h XIII 61,25 f.): subtracto ipso ›non aliud‹ non remanet nec aliud, nec nihil; de sap. II; n. 41,7 f. (h V 74): Id autem, quod non est nec maius nec minus, vocamus aequale. (Für letztere Formulierung existiert allerdings die hs. Variante »quod nec est maius nec minus«; vgl. den App. ad loc. in h V 74). Entscheidend aber ist, daß Cusanus diese Wendung nicht einheitlich gebraucht: primum omnium principium, quod sive ab alio sive a nihilo aliud esse non potest (de non aliud 4; h XIII 10,12 f.); konsequenterweise müßte hier sonst stehen: »nec ab alio nec a nihilo aliud esse non potest«. Kurzum: Die hier herangezogene Passage »licet non sit nec sol nec luna« scheint mir durchaus in ihrem Kontext lesbar als Verneinung einer disjunktiven Negation (›es gilt nicht: weder − noch‹). 273 Insofern das Universum, als kopulative Koinzidenz verstanden, sowohl Sonne als auch Mond ist, ist es weder in der Sonne noch im Mond: universum non est in sole nec in luna (docta ign. II 4; 269

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Weder reduziert sich die Andersheit des Einzelnen auf eine vorläufige Bestimmung des Einzelnen, die in eine ihr übergeordnete und allumfassende Einheit auflösbar wäre. Noch reduziert sich die Einheit darauf, daß sie zum durchgängigen Merkmal an der Vielheit wird, mithin nicht darauf, daß nun die Andersheit das bestimmende Moment an der Totalität wäre. Mit Cusanus ließe sich vielmehr sagen: Die Einheit des Universums wird nicht schlechthin in der Andersheit »aufgesaugt«.274

n. 115; h I 74,11). Vielmehr ist das Universum in der Sonne Sonne und im Mond Mond. Hingegen gilt von Gott als dem absoluten ›Was‹ jedes Einzelnen diese Disjunktion gerade nicht: Deus, cum sit immensus, non est nec in sole nec in luna (ebd. Z.9 f.). Gott ist nicht (wie das Universum): weder in der Sonne noch im Mond, da er nicht (wie das Universum) in der Sonne Sonne und nicht im Mond Mond ist: Deus autem non est in sole sol et in luna luna (ebd. Z.20 f.). Kurzum, es geht nicht darum, daß Gott und Universum gleichermaßen nicht im Einzelnen aufgehen, also beide Male weder in der Sonne noch im Mond sind, sondern um die unterschiedliche Art und Weise ihres ›Inseins‹ im Einzelnen: Das Universum ist weder in der Sonne noch im Mond (non in sole nec in luna), weil es als Verschränkung (contractio) oder kopulative Koinzidenz sich in jedem Einzelnen als dieses Einzelne wiederfindet und das Einzelne als eine jeweils verschiedene Ausprägung von kopulativer Einheit und Vielheit verständlich macht. Gott hingegen ist nicht in der Sonne Sonne und im Mond Mond und so findet er sich auch nicht als Verschränkung (contractio) oder kopulative Koinzidenz im Einzelnen wieder. Gott ist weder Sonne noch Mond (sondern Gott), weil er eben nicht weder in der Sonne noch im Mond ist (non est nec in sole nec in luna), sondern ›dort‹ er selbst ist. Gott ist daher nicht, wie etwa Pätzold meint, »auch einzelnes im einzelnen« (D. Pätzold, Einheit und Andersheit. Die Bedeutung kategorialer Neubildungen in der Philosophie des Cusanus, Köln 1981, 50). 274 Vgl. de coni. II 10; n. 47,9–11 (h III 50): Ostendit autem ‹t›ibi P figura omnia in mundo dabilia hoc differenter se habere; aliter quidem in uno absorpta est unitas in alteritate aut e converso, aliter in alio secundum plus atque minus. Propter quod ad maximum aut minimum simpliciter non devenietur. Cusanus sagt hier also, daß es auch Dinge in der Welt (in mundo dabilia) gibt, wo die Einheit in der Andersheit ›aufgesaugt‹ (absorpta) ist, nicht aber, daß in der Welt überhaupt die Einheit von der Andersheit aufgesaugt ist. – Im übrigen veranschaulicht die hier genannte »figura P«, d. h. »paradigmatica«, auf buchstäblich paradigmatische Weise »das Ineinander und Aufeinanderzu von Einheit und Andersheit im ganzen Universum« (Koch, Die Ars coniecturalis [wie Anm. 10], 28). Die zweidimensionale Zeichnung dieser Figur P (vgl. h III 46) – zwei flächengleiche, ineinander geschobene Dreiecke, deren Spitze jeweils die Basis des anderen Dreiecks berührt – ist dabei von Cusanus als dreidimensional gedacht: als zwei »gleich große, einander durchdringende Pyramiden, deren Spitzen die Grundfläche der anderen berühren« (Koch, op. cit. 28). Beide Pyramiden umfassen dabei jeweils einen Raum, der nicht völlig frei ist von dem Raum, den die andere Pyramide umschließt. Der jeweils von der einen Pyramide umfangene Raum ist ›im‹ Raum, den die andere Pyramide umschreibt, anwesend. Es geht also zunächst nicht um den Raum, den beide Pyramiden jeweils miteinander teilen bzw. ausschneiden, sondern darum, daß im gesamten Raum, der von der einen Pyramide umfaßt wird, auch die andere Pyramide sozusagen im Raum steht − daß also die eine Pyramide jeweils von der anderen ›umfangen und aufgesaugt wird‹ (capitur et absorbetur: de coni. II 9; n. 118,4; h III 114). Wenn hierbei die eine Pyramide für Einheit (unitas) steht und die andere für Andersheit (alteritas), so mag zwar die Pyramide der Einheit in der Pyramide der Andersheit bzw. umgekehrt die Pyramide der Andersheit in der Pyramide der Einheit einen jeweils verschiedenen, ja sogar proportional bestimmbaren ›Raum‹ einnehmen. Die Einheit ›in‹ der Andersheit bzw. die Andersheit ›in‹ der Einheit kennt also durchaus proportionale Abstufungen. Daß aber die Einheit überhaupt Raum greift in der Andersheit bzw. die Andersheit in der Einheit, setzt voraus, daß beide sich stets durchdringen. Eben dies signalisiert das Universum als das kontrakt Größte: Mag die Einheit noch so sehr überwiegen, mag sie noch so sehr von der Andersheit ›aufgesaugt‹ sein – es gibt hier stets einen, wenn auch noch so eingeschränkten oder kontrak-

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Nicht erst in »De coniecturis«, sondern bereits in »De docta ignorantia« kennt und expliziert Cusanus also einen Stufenbau der Coincidentia oppositorum.275 Cusanus hat denn auch nicht irgendwelche »ordo-Phantasien«276 zurückzunehmen, son-dern er ist sich bereits in seinem ersten Hauptwerk sehr wohl bewußt, daß der universale »ordo« als eine Ausfaltung von einfaltenden Einheiten oder Mitten zu begreifen ist.277 Insofern bilden auch die vier, in docta ign. II 6 angeführten kontrakten Einheiten (Universum, Kategorien, Genera, Spezies) keineswegs bloß eine jeten Raum, den das Universum als das koinzidentale Zugleich von Einheit und Andersheit besetzt. Innerhalb der »figura P« bildet also das Universum die räumliche Schnittmenge aus beiden Pyramiden und besetzt als diese Schnittmenge stets die räumliche Mitte in der umfangenden Pyramide. (Augenfällig würde dies bei einem senkrechten Querschnitt der »figura P«: Schneidet man die Pyramiden an einer beliebigen Stelle quer durch, so ergibt sich jeweils ein Quadrat, in dessen Mitte sich wiederum ein Quadrat angeben läßt, welches den von beiden Pyramiden durchschnittenen Raum markiert. Auch wenn sich also mit jedem neuerlichen Querschnitt das proportionale Verhältnis zwischen diesen beiden Quadraten ändert, so sind doch stets beide Quadrate stets innenzentriert.) – Dort jedoch, wo es in der Einheit keinen Raum mehr gibt für die Andersheit, wo also das absolute Maximum an Einheit erreicht ist, befindet sich die Grenze des Universums. Und umgekehrt: Erst dort, wo es in der Andersheit keinen Raum mehr gibt für die Einheit, wo also das absolute Maximum an Andersheit erreicht ist, befindet sich die Grenze des Universums. Im Bild der »figura P« gesprochen: In dem einen Punkt, wo jeweils die Spitze der einen Pyramide die Grundfläche der anderen Pyramide berührt, bleibt buchstäblich kein Raum mehr für ein koinzidentales Zugleich von Einheit und Andersheit; an diesem einen Punkt ist die absolute Einheit bzw. die absolute Andersheit angesiedelt. Die »figura P« scheint mir daher nicht »zwischen Gott und dem Nichts« (Koch, op. cit, 28 mit Anm. 31) angesiedelt zu sein, sondern zwischen Gott und Gott: Gott ist nicht nur die absolute Einheit, in der kein Raum mehr ist für die Andersheit in der Einheit, sondern er ist zugleich die absolute Andersheit, in der kein Raum mehr ist für die Einheit in der Andersheit. Als »singularissimus« (de ven. sap. 12; n. 65,17 f.; h XII 63) ist Gott die absolute Koinzidenz bzw. das absolute Maximum und Minimum von Einheit und Andersheit. Genau diesen Gedanken intendiert wohl auch die Lichtspekulation, die Cusanus mit der »figura P« ebenfalls verbindet: Adverte quoniam deus, qui est unitas, est quasi basis lucis; basis vero tenebrae ut nihil. Inter deum autem et nihil coniectamur omnem cadere creaturam (de coni. II 9; n. 42,1−3; h III 46). Demnach stehen sich hier Licht und Dunkelheit als die beiden Pyramiden-Basen offensichtlich so gegenüber, daß zwischen sie die gesamte Schöpfung fällt. Allerdings tut sich hier nicht einfach ein Gegensatz zwischen Gott als der absoluten Fülle des Lichts und dem Nichts als dem absoluten Mangel an Licht auf. Vielmehr ist die Schöpfung insgesamt so zwischen diese beiden Basen eingespannt, daß sie niemals das absolute Maximum und Minimum an Licht bzw. an Finsternis erreicht: Innerhalb der Schöpfung gibt es ist nichts, das völlig frei von Finsternis (expers tenebrae) wäre, und zugleich gibt es in ihr kein absolutes Nichts oder Minimum an Licht (non in ea nihil luminis): de coni. II 9; n. 42,3−6 (h III 46 f.). Finsternis, als absolutes Minimum gedacht, ist keine maximale Privation von Licht, sondern koinzidiert mit der absoluten Fülle des Lichts. Die Schöpfung fällt (cadit) daher zwischen die absolute Lichtfülle und die absolute Finsternis, weil in Gott jeder Gegensatz in absoluter Weise zusammenfällt (coincidit): Non enim aliud est dicere ›Deus, qui est ipsa maximitas absoluta, est lux,‹ quam ita ›Deus est maxime lux, quod est minime lux‹ (docta ign. I 4; n. 12; h I 11,7−9). 275 Siehe dagegen etwa Schnarr, Modi essendi (wie Anm. 129), 60 f. 276 Flasch, Nikolaus von Kues (wie Anm. 3), 160. 277 ›Innerhalb‹ des Universums faltet keine Einheit das universale Zugleich von Einheit und Andersheit so aus, daß sie nicht wiederum als eine einfaltende Einheit begriffen werden könnte. Im Bild der Figur P aus »De coniecturis« gesprochen: Es ist bei dieser Figur P kein Querschnitt denkbar, der nicht eine Fläche aufwiese, die, wenn auch noch so klein, von beiden Pyramiden ausgeschnitten wird.

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weils »objektive, naturhaft vorgegebene Einheits-Instanz wie bei den Aristotelikern«; ebensowenig sind aber diese Einheiten dann »ab De coniecturis […] Einteilungen, die der Geist schafft«.278 Nun spricht Cusanus in der Tat davon, daß der menschliche Geist (mens) die zehn allgemeinsten Gattungen als die ersten Prinzipien bildet (facit).279 Das Problem allerdings, welches Cusanus in diesem Zusammenhang beschäftigt, ist keineswegs die schlichte Behauptung, daß der Geist diese Einteilungen von universaler Reichweite schafft, sondern vielmehr, wie der Geist diese Einteilungen hervorbringt. Cusanus geht hier zunächst in gut aristotelischer Manier vor: Unser Geist kann z. B. das ›Was‹, das ein Lebewesen ist (natura, quae est animal), in verschiedener Weise bedenken. Er kann einmal dieses ›Was‹ (natura) als ein noch völlig unspezifiziertes Etwas denken, welches in der Art der Materie (materiae modo) weitere Bestimmungen zuläßt. Und so kann der Geist dieses Etwas auch noch im Hinblick auf dessen Belebtheit (animalitas), d. h. unter der hinzukommenden formalen Bestimmung denken, daß dieses Etwas belebt ist: Hanc naturam, quae est animal, inspicito. Nam eam [sc. naturam] mens comprehendit aliquando ut genus est, tunc enim quasi confuse et informiter animalis naturam considerat materiae modo; aliquando [mens comprehendit naturam] ut significatur per nomen ›animalitas‹, et tunc modo formae.280 Sofern aber der Geist hier jeweils zwei verschiedene, separate Hinsichten auf ein und denselben Gegenstand und damit zwei verschiedene Begriffe (notiones) von unterschiedlichem Bestimmtheitsgrad entwickelt, bleiben diese beiden Begriffe Abstraktionen oder entia rationis, Distinktionen also, die der Verstand (ratio) auseinanderhält. Diese Abstraktionen sind jedoch für Cusanus nicht einfach nur eigenständige geistige Produkte ohne fundamentun in re. Und dies deswegen, weil der Realitätsgehalt der beiden Begriffe gerade einer Verbindung (connexio) entspringt. Diese Verbindung wird jedoch nicht durch den Geist konstituiert oder erzeugt, sondern umgekehrt konstituiert diese Verbindung erst alle geistige und extramentale Wirklichkeit. Abstraktionen sind daher Entfaltungen der geistigen und extramentalen Wirklichkeit. Die mentale und extramentale Wirklichkeit selbst zeigt sich erst im Lichte dieser Verbindung: als ein kopulatives Zugleich. Flasch, Nikolaus von Kues (wie Anm. 3), 145. Flasch verweist an dieser Stelle (ebd. mit Anm. 250) nicht auf »De coniecturis« selbst, sondern auf de mente 11; n. 135−136 (h V 188 f.). Er hätte aber genausogut auf »De docta ignorantia« verweisen können, wo Cusanus ebenfalls von einem ›Herstellen‹ (fabricare) der Allgemeinbegriffe durch den menschlichen Intellekt spricht. Vgl. docta ign. II 6; n. 126 (h I 81,1−3). Siehe auch ebd. I 5; n. 14 (h I 13,6 f.). 279 Vgl. de mente 11; n. 135,1−3 (h V 188): Neque te moveat, quod, cum mens faciat decem genera generalissima prima principia, quod tunc illa generalissima nullum genus commune habent […]. 280 de mente 11; n. 134, 2−6 (h V 187 f.). 278

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Erst wenn also diese Verbindung von Form und Materie bzw. von Genus und Spezies eigens in den Blick rückt, zeigen sich die verschiedenen Hinsichten als ein und derselbe Gedanke (una et eadem notio) und das in diesem einen Gedanken Erkannte als ein und dieselbe Substanz (una et eadem substantia): aliquando [mens comprehendit naturam] modo compositi ex illo genere et differentiis ei advenientibus, et tunc, ut in mente est, dicitur esse in conexione, ita ut illa materia et illa forma vel potius illa similitudo materiae et illa similitudo formae et illud modo compositi consideratum sit una et eadem notio et unaque et eadem substantia.281 Das konkrete compositum verdankt sich demnach ebensowenig dem Hinzukommen weiterer Bestimmungen, wie die Erkenntnis der Wirklichkeit nicht der Akkumulation verschiedener Hinsichtnahmen entspringt. Weder werden die innerweltlichen Dinge nach einem rein geistigen Ordnungsschema klassifiziert, noch entnimmt der Geist diese Klassifikationen einer objektiven, naturhaft vorgegebenen Realität. Anders: Weder ist der Geist das Maß für die Dinge, noch sind die Dinge das Maß für den Geist. Vielmehr ist das Maß für beide die kopulative Koinzidenz, da beide nichts anderes als diese Koinzidenz sind. Der Geist entfaltet daher nicht nur »die Universalien, die in ihm verschränkt sind«,282 sondern er entfaltet sie zugleich auf seine Weise so, wie sie sich im kontrakten Einzelnen verschränken.283 In seinen Abstraktionen faltet der Geist Hinsichtnahmen aus, die nur als Einfaltungen − als ein koinzidentales Zugleich von Materie und Form, von Möglichkeit und Wirklichkeit, von Genus und Spezies usw. − Wirklichkeit haben. Das Problem besteht also nicht darin, daß der Geist sich mit seinen begrifflichen Abstraktionen de mente 11; n. 134,6−11 (h V 188); Hervorh. StG. Herold, Menschliche Perspektive (wie Anm. 247), 67. 283 Vgl. docta ign. II 6; n. 126 (h I 80,27–29): cuius [sc. intellectus] intelligere, cum non sit esse clarius et altius, apprehendit universalium contractionem in se et in aliis (Hervorh. StG). Im Gegensatz zur Editio maior athetiert die Editio minor das gut bezeugte »non« ohne ersichtlichen Grund (vgl. H 15b, 46,24 f.). Der Intellekt begreift also die Verschränkung (contractio) der allgemeinen Bestimmungen (universalia) im Einzelnen nicht in einer höheren oder expliziteren Weise, als sie im extramentalen Seienden vorliegen. In dieser seiner Verschränkung übertrifft der Intellekt die extramentale Wirklichkeit gerade nicht. Vielmehr verschränkt sich das Allgemeine auch im Intellekt auf seine Weise. Im Intellekt sind die universalen Bestimmungen nichts als Intellekt: Nihil enim [intellectus] intelligere potest, quod non sit iam in ipso contracte ipsum (docta ign. II 6, n. 126; h I 81,10 f.). Die Allgemeinbestimmungen sind im Intellekt auf seine Weise − intellectualiter − miteinander verschränkt: cum [universalia] non sint ibi nisi intellectus et ita intellectualiter contracte (docta ign. II 6, n. 126; h I 80,26 f.) Insofern ist die Behauptung von Flasch unzutreffend: »Dieses Wort [sc. intellectualiter] kommt in De docta ignorantia nicht vor. Der gesamte Aufbau von De coniecturis spiegelt sich hingegen in diesem Wort, auch der Wandel in der Konzeption der Koinzidenz« (Flasch, Nikolaus von Kues [wie Anm. 3], 152). Überspitzt gesagt, kann für Flasch das Wort »intellectualiter« in »De docta ignorantia« auch gar nicht vorkommen, weil es dort nicht vorkommen darf, da bereits sein bloßes Vorkommen einen »Wandel in der Konzeption der Koinzidenz« signalisieren muß. 281 282

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von der Wirklichkeit entfernt (und er daher in seiner Abstraktionstätigkeit den singularia ontologisch nachgeordnet wäre284), sondern darin, daß die Separation von einzelnen Hinsichtnahmen ihn von der Wirklichkeit entfernt.285 Die bloße Entwicklung verschiedener Hinsichtnahmen, die der unabdingbaren ›Perspektivität‹ des menschlichen Denkens geschuldet sind, gehen an der Wirklichkeit vorbei, solange nicht der Grund dieser seiner Perspektivität in den Blick rückt. Die begrifflichen Abstraktionen hat der Geist also nicht einfach als die seinigen, d. h. als Bestimmungen, die seiner Wirklichkeit entsprechen, zu erkennen, sondern er hat zunächst ihren verbindenden Grund bzw. ihr kopulatives Zugleich als wirklichkeitskonstituierend zu denken. Insofern hat der Geist zu erkennen, was seine Wirklichkeit und diejenige des Universums konstituiert: die Einfaltung als die verbindende Mitte der Ausfaltung.286 Daher kennzeichnet Cusanus das Universum und seine Teile als vom »Geist der Verbindung« (spiritus connexionis) beherrscht und durchdrungen; das All ist dieser geschaffene spiritus connexionis: Hic igitur spiritus creatus [sc. spiritus connexionis] est spiritus, sine quo nihil est unum aut subsistere potest, sed totus iste mundus et omnia, quae in eo sunt, per ipsum spiritum, qui replet orbem terrarum, naturaliter id sunt connexive, quod sunt, ut potentia per eius medium sit in actu et actus eius medio in potentia. Et hic est motus amorosae connexionis omnium ad unitatem, ut sit omnium unum universum.287

So etwa Benz, Individualität und Subjektivität (wie Anm. 2), 160 ff. Von daher sind auch die ›Versuche mit der Waage‹ nicht als die Separierung einer einzelnen und unifizierenden Hinsichtnahme zu verstehen, also nicht als eine durchgängige Quantifizierung, die alles und jedes auf seinen Größenaspekt reduziert. Vielmehr geht es bei der Tätigkeit des Wiegens und Messens um die Sichtbarmachung der Andersheit in der Einheit: um die kopulative Koinzidenz von Andersheit und Einheit. Vgl. dazu oben Anm. 93. 286 Wenn Cusanus daher sagt: Quae quidem abstractio est ens rationis, quoniam absolutum esse eis [sc. abstractionibus] convenire non potest (docta ign. II 6; n. 125; h I 80,22 f.) – so meint dieses »absolutum esse« auch: Ein absolutes Sein kann den Abstraktionen des menschlichen Geistes, d. h. den Hinsichtnahmen der ratio auf das Einzelne unter einem allgemeinen Gesichtspunkt, deshalb nicht zukommen, weil diese kein eigenständiges Sein haben gegenüber dem verbindenden oder koinzidentalen Grund, dem sich die Wirklichkeit des Geistes und des Universums verdankt: Abstraktionen lösen daher diesen koinzidentalen Grund der Wirklichkeit auf in einer einzelnen, wenngleich verallgemeinerbaren Hinsichtnahme. Sobald sich aber eine einzelne Hinsichtnahme absolut setzt, geht sie an diesem Grund vorbei: So geht etwa die Aussage, daß alles Endliche vereinbar sei unter dem durchgängigen Aspekt seiner irreduziblen Andersheit, genauso fehl wie die Aussage, daß die Andersheit alles Endlichen in den gemeinsamen Aspekt seiner universalen Einheit aufgehoben werden könnte. Das Universum ist weder verallgemeinerbare Einheit noch verallgemeinerbare Andersheit. Absolutes, die Wirklichkeit konstituierendes Sein kann daher nur dem zukommen, der alle Hinsichtnahmen in sich vereinigt und übersteigt: Universale enim penitus absolutum est deus (ebd. Z. 23 f.). 287 docta ign. II 10; n. 154 (h I 98,14−19). 284 285

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Alles hängt demnach nicht nur irgendwie, auf unbestimmte Weise mit allem zusammen, sondern alles ist, was es (je) ist, nur in einer Verbindung (omnia id sunt connexive, quod sunt). Die Wirklichkeit des Einzelnen konstituiert sich nicht aus Materie und Form und daher auch nicht durch oder mittels ihrer Verbindung. Die Verbindung kommt also nicht als ein Drittes zum jeweils miteinander Verbundenen hinzu. Vielmehr ist sie die Mitte (medium), aufgrund von der sich etwa Materie und Form bzw. Möglichkeit und Wirklichkeit überhaupt erst aufeinander zu bewegen können (und zugleich geistig, abstraktiv auseinanderhalten lassen). Diese ›zentripetale‹ Bewegung von Möglichkeit und Wirklichkeit ist die verbindende Mitte (medium connexionis), die jedem Einzelnen seine je eigene, irreduzible Einheit verleiht und die zugleich jedes Einzelne als Ausfaltung des universalen »Geistes der Verbindung« verständlich macht.288 Die Wirklichkeit des Einzelnen ist nicht das Resultat bzw. der wirklich gewordene Ausschnitt aus einem universalen Möglichkeitsspektrum, sondern sie ist stets ein eingeschränktes und verschränktes Zugleich von Wirklichkeit und Möglichkeit. Im Einzelnen sind diese universalen Bestimmungen nicht mehrere (plura), sondern ohne Vielheit (sine pluralitate) dieses Einzelne selbst.289 Die koinzidentale Wirklichkeit der Einzelnen steht in keinem Gegensatz zur koinzidentalen Einheit des Universums. Dieser − erst einmal zu erkennende − eine Geist der Verbindung als Grund der Wirklichkeit zieht sich durch das gesamte All und seine einzelnen Teile hindurch und erhält sich daher auch in seinen verschiedenen und verschiedensten Verschränkungen von opposita als deren Ermöglichungsgrund: »Est igitur hic spiritus per totum universum et singulas eius partes diffusus et contractus«.290

Vgl. docta ign. II 10; n. 152 (h I 97,24 f.): Qui motus est medium connexionis potentiae et actus. – Diese Bewegung ist also nicht als ein »Mittel der Verknüpfung von Potenz und Akt« (H 15b, 81) zu verstehen, sondern als »die verbindende Mitte von Potenz und Akt« (Haubst, Das Bild des Einen und Dreieinen Gottes [wie Anm. 256], 122). 289 docta ign. II 5; n. 117 (h I 76,16 f.): Non sunt igitur plura in quolibet [singulari] actu, sed omnia sine pluralitate sunt id ipsum. 290 docta ign. II 10; n. 153 (h I 97,27 f.). − An diesen Gedanken, daß der Geist der Verbindung, der das gesamte Universum und seine Teile verbindet und auseinanderhält, nicht nur geistig erkennbar, sondern selbst von geistiger Natur ist, scheint mir Cusanus in de coni. I 4 anzuknüpfen. Denn dort faßt er das universale Ordnungsgefüge bis zur letzten Stufe der körperhaften Welt als Manifestationen der »mens ipsa«, also als Einheiten, die selbst von geistiger Natur sind. Selbst die ›äußersten‹ Kontraktionen sind vom Geist (mens) durchdrungen, eben weil der Geist auch noch mit der nicht-geistigen, körperhaften Region verschränkt und dort nicht einfach negiert ist. Der Geist ist es, der alles auseinanderhält, indem er es verbindet (distinguit pariterque conectit). Der universale »ordo« ist daher gekennzeichnet von einer gegenstrebigen Bewegung des Abstieges und Aufstieges, in deren Mitte der Geist steht: divina atque absoluta unitate gradatim in intelligentia et ratione descendente et contracta sensibili [unitate] per rationem in intelligentia ascendente mens omnia distingu[i]t pariterque conect[i]t (de coni. I 4; n. 16,6−9; h III 21). Ob Cusanus in de coni. I 4 eine neue Theorie entwickelt, die ihn dann sogar in eine »Sackgasse« oder auf einen »Holzweg« führt (Flasch, Nikolaus von Kues [wie Anm. 3], 288

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In der »Möglichkeit, Wirklichkeit und beider Verbindung« sieht Cusanus zwar »gleichberechtigte Seinsprinzipien«,291 so daß von daher »alles in einer gewissen Einheit der Dreieinheit« besteht.292 Diese Einheit der Dreieinheit, die das Universum konstituiert, hat der menschliche Geist nicht erst einzufalten, er muß also etwa nicht die Korrelate »Möglichkeit« und »Wirklichkeit« nachträglich in Beziehung zueinander setzen.293 Im Gegenteil: Der Geist faltet diese Korrelate aus in begrifflichen Hinsichtnahmen, weil er selbst begriffliche Einfaltung dieser Hinsichtnahmen ist. Den »ordo« des Universums erkennt der menschliche Geist nicht, weil er diesem nachgeordnet ist, sondern weil er selbst diesen universalen »ordo« in sich und auf seine Weise − intellectualiter bzw. notionaliter − aufweist oder einfaltet: Der Geist ist »notionum universitas«.294 Geist und Universum sind daher je auf ihre Weise Abbilder der absoluten Einfaltung aller Einfaltungen. Anders als im Universum ist freilich dieser »ordo« im Geist als einer Instanz eingefaltet, so daß der Geist das universale Ordnungsgefüge zu ›überblicken‹ vermag, ohne deshalb gänzlich außerhalb von ihm zu stehen.295 3.3 Das Nichtandere und das Andere Demnach kennt der universale »ordo« ein graduelles Mehr und Weniger von Kontraktionen oder ausgefalteten Einfaltungen. Dieser »ordo« meint dabei eine stufenweise Entfaltung der Einheit in die Andersheit, ohne daß dabei die Einheit sich in die 154), scheint mir daher fraglich: Weder ist dieser Ansatz »eigentümlich und neu« (ebd.), noch stellt er eine problematische Variante des Koinzidenzgedankens dar. 291 Schnarr, Modi essendi (wie Anm. 129), 39. 292 docta ign. II 10; n. 155 (h I 99,6 f.): omnia sunt in quadam unitate trinitatis. 293 So etwa Schnarr, Modi essendi (wie Anm. 129), 39. »Von Möglichkeit, Wirklichkeit oder Verbindung zu reden, hat nur Sinn, wenn man sie zueinander in Beziehung setzt.« Abgesehen von der Frage, wie man sich genauerhin eine In-Bezug-Setzung von »Möglichkeit, Wirklichkeit oder Verbindung« zu denken hätte, so liegt Cusanus’ Problem nicht darin, daß Korrelate erst noch in Bezug zueinander gesetzt werden müssen, um Korrelate zu sein. Vielmehr geht es Cusanus darum, daß diese Korrelate ihren korrelativen Charakter einer Mitte oder Verbindung verdanken, die auch der menschliche Geist aufweisen muß, um diese Korrelate als Korrelate denken, d. h. entfalten, zu können. 294 de mente 3; n. 72,6 (h V 109). Vgl. etwa auch de mente 5; n. 81,6−10 (h V 123): Unde quia mens est quoddam divinum semen sua vi complicans omnium rerum exemplaria notionaliter, tunc a deo, a quo hunc vim habet, eo ipso, quod [mens] esse recipit, est simul et in convenienti terra locatum, ubi fructum facere posset et ex se rerum universitatem notionaliter explicare (Hervorh. StG). 295 Insofern der Geist als eine Instanz den universalen »ordo« einfaltet, ist er das einfachste aller Abbilder der göttlichen Einfaltung: Sic volo mentem esse imaginem divinae mentis simplicissimam inter omnes imagines divinae complicationis (de mente 4; n. 74, 16 f.; h V 113). − Auch wenn im eigentlichen Sinne (proprie) allein der Geist das Abbild der göttlichen Einfaltung ist und die extramentalen Dinge dagegen eher als Ausfaltungen (explicationes) denn als Abbilder (imagines) der göttlichen Einfachheit zu verstehen sind, so sind gleichwohl alle Dinge in verschiedener Weise Abbilder der göttlichen Einfaltung. Denn auch in die nicht-geistigen Regionen dringt die Leuchtkraft der »mens ipsa«: Philosophus: Videtur, quod sola mens sit dei imago. Idiota: Proprie ita est, quoniam omnia, quae post mentem sunt, non sunt dei imago nisi inquantum in ipsis mens ipsa relucet (de mente 4; n. 76,1−3; h V 116).

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pure Andersheit verliert Damit tritt jedoch der das Universum kennzeichnende »ordo«-Gedanke nicht dem Gedanken einer ›Homogenisierung‹ des Universums gegenüber, geschweige denn, daß Cusanus den »ordo«-Gedanken ersetzen würde durch ein egalitäres System von Relationen.296 Eher schon wird dieser »ordo« dadurch möglich und verständlich, daß sich in allen graduellen Abstufungen als deren Mitte (medium) die kopulative Koinzidenz von Einheit und Andersheit, von Möglichkeit und Wirklichkeit wiederfindet.297 Für Cusanus wird damit die Frage nach einer lokalisierbaren Weltmitte (centrum) obsolet, da das Universum als koinzidentale Mitte (medium) in jedem Einzelnen − eben dieses Einzelne selbst ist. Alles ›Partikuläre‹ versteht sich gleichermaßen als eine Kontraktion, welche gegensätzliche Bestimmungen (wie z. B. Einheit und Andersheit, Möglichkeit und Wirklichkeit, Ruhe und Bewegung) in sich ›zusammenzieht‹ und vereint. Daher ist die Mitte des Universums nicht zu lokalisieren. Das Universum hat keinen in sich ruhenden und unbeweglichen Mittelpunkt (centrum fixum et immobile),298 weil das Universum selbst als die koinzidentale Mitte (medium) von opposita in allem ist. Der Mittelpunkt des Universums (centrum) ist nirgendwo lokalisierbar, da das Universum als Mitte (medium) überall ist. Wenn daher in jedem Einzelnen die Glieder eines Gegensatzes zugleich auftreten, so kann es im Universum auch keinen Punkt absoluter Ruhe geben, welcher diesem kopulativen Zugleich von Gegensätzen enthoben wäre. Ruhe und Bewegung fallen innerhalb des Universums so zusammen, daß hier Ruhe nicht ohne Bewegung, d. h. nur ineins mit Bewegung, denkbar ist. Im Universum kann das, was sich in Ruhe befindet, unmöglich frei von jeder Bewegung sein.299 Wenn sich also in jedem Einzelnen die Glieder eines Gegensatzes (wie z. B. Ruhe − Bewegung) stets so miteinander verschränken, daß jedes Einzelne nur als ein kopulatives Zugleich von Gegensatzgliedern denkbar ist, dann schränken sich diese

Vgl. dagegen Rombach, Substanz, System, Struktur (wie Anm. 48), I 229: »Ordnung ist nachträglich, ist sinnvoll nur als ›Einordnen‹ von Dingen. […] Das System setzt nichts voraus und läßt nichts zu, das für sich selbst sein könnte.« − Bei Flasch macht sich ein Schwanken in dieser Frage bemerkbar: Einerseits diagnostiziert Flasch bei Cusanus »eine Ent-Hierarchisierung des Kosmos« (Flasch, Nikolaus von Kues [wie Anm. 3], 100). Andererseits sollte man von einer »Beseitigung der Hierarchien […] bei Cusanus nicht reden« (ebd. 159 f.). Vielmehr »warnen uns« die unübersehbaren »Einteilungen und Hierarchisierungen […] vor einer modernisierenden Demokratisierung des Cusanus« (ebd. 607). 297 Vgl. docta ign. II 11; n. 156 (h I 99,16−21): Scimus […] universum trinum esse; et nihil universorum esse, quod non sit unum ex potentia, actu et connexionis motu; et nullum horum sine alio absolute subsistere posse, ita quod necessario illa [tria] in omnibus sunt diversissimos gradus adeo differenter, quod nulla duo [entia] in universo per omnia aequalia esse possunt simpliciter. 298 Vgl. docta ign. II 11; n. 156 (h I 99,21–100,3): machinam mundanam habere aut istam terram sensibilem aut aërem vel ignem vel aliquid quodcumque pro centro fixo et immobili […] est impossibile. 299 docta ign. II 11; n. 157 (h I 100,15 f.): motu omni carere non potest. 296

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Gegensatzglieder in jedem Einzelnen zugleich auf eine mannigfach abgestufte Weise gegenseitig ein: Mag angesichts von einem bestimmten Einzelnen ein Gegensatzglied das andere Glied noch so sehr einschränken – im Beispiel gesprochen: mag in einem bestimmten Etwas die Ruhe noch so sehr das Übergewicht vor der Bewegung haben –, so wird hier doch niemals das eine Gegensatzglied zu einem reinen Gegensatzglied (purum oppositum) werden und das andere Gegensatzglied ausschließen können. Ansonsten würde nicht nur jenes andere Glied ausgeschlossen, sondern auch der Gegensatz (von Ruhe und Bewegung) als solcher desavouiert. Ein reines Gegensatzglied stünde nicht mehr im Gegensatz zu seinem Korrelat, sondern würde mit diesem in genau gleicher Weise (praecise aequaliter), d. h. absolut, zusammenfallen: Quoniam in oppositis excedens et excessum reperimus, ut in simplici et composito, abstracto et concreto, formali et materiali, corruptibili et incorruptibili et ceteris: hinc ad alterum purum oppositorum non devenitur, aut in quo [opposita] concurrant praecise aequaliter. Omnia igitur ex oppositis sunt in gradus diversitate, habendo de uno [opposito] plus, de alio minus, sortiendo naturam unius oppositorum per victoriam unius supra aliud.300 Die Verschiedenheit des Einzelnen untereinander verdankt sich also dem jeweiligen Kräfteverhältnis von Gegensatzgliedern, insofern dieses Verhältnis in jedem Einzelnen graduell verschieden ausgeprägt ist: als ein jeweiliges ›Mehr und Minder‹, in dem beide Gegensatzglieder dort zueinander stehen. Gleichwohl desavouiert diese Verschiedenheit des Einzelnen nicht die Korrelation dieser Gegensatzglieder, also den Gegensatz selbst. Im Gegenteil: Jedes individuell ausgeprägte Kräfteverhältnis von Gegensatzgliedern affirmiert noch deren Miteinander. Die universal gültige, intrinsische Verschränkung von opposita in jedem Einzelnen ermöglicht dessen extrinsische Gegensätzlichkeit zu jedem anderen Einzelnen. »Die Entgegengesetztheit des Endlich-Seienden ist nach Cusanus immer eine nur komparativische, niemals aber eine schlechthinnige«301 − und zwar deswegen, weil die Entgegengesetztheit des EndlichSeienden in der durchgängigen Verschränkung von Gegensatzgliedern gründet, welche sich in allem Endlich-Seienden findet. Das proportionale Mehr und Minder, als das sich Gegensatzglieder in jedem Einzelnen gegenseitig einschränken, verdankt sich ihrer a-proportionalen Verschränkung in jedem Einzelnen. Der universale »ordo« verdankt sich der ›homogenen‹ Verschränkung von Gegensatzgliedern in jedem Einzelnen.302 docta ign. II 1; n. 95 (63,10–17). Jacobi, Die Methode (wie Anm. 37), 287. 302 Insofern ist auch das Verhältnis zwischen dem Universum und seinen einzelnen Teilen nicht als ein proportionales bestimmbar: Neque est terra ipsa pars proportionalis seu aliquota mundi (docta ign. II 12; n. 164; h I 104,21 f.). Da nämlich das Universum eine kopulative − und d. h. eingeschränkte − Koinzidenz von Gegensätzen meint, findet sich eben diese kopulative Koinzidenz von Gegensätzen 300 301

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Wenn also Cusanus sagt, daß das Einzelne das Universum kontrahiert,303 dann heißt dies nicht, daß das Einzelne etwas am oder im Universum von sich ausschließen würde, sondern daß das Einzelne das Universum als eine kopulative Verschränkung von Einheit und Vielheit in sich einschließt und je anders ›gewichtet‹. Präsent ist das Universum in jedem Einzelnen als a-proportionale Mitte. ›So und nicht anders‹ bzw. ›identisch mit sich selbst‹ ist ein endliches Etwas nicht dadurch, daß es anderes Endliches von sich ausschließt, sondern dadurch, daß es die Andersheit als das Korrelat der Einheit in sich einschließt und je anders gewichtet. Erst dadurch vermag ein jedes Einzelne »mit jedem und mit keinem übereinzustimmen, sich von jedem und von keinem zu unterscheiden«.304 Die intrinsische Verschränkung von Gegensatzgliedern weist jedes Einzelne auf – darin kommt jedes Einzelne mit jedem anderen Einzelnen überein und unterscheidet sich gerade nicht (cum omni concordat – ab nullo differt). Die Wirklichkeit eines jeden Einzelnen ist immer auch Möglichkeit. Und so ist etwa die Ruhe eines bestimmten Etwas nie eine vollendete oder maximale, und dies nicht einfach nur im Vergleich zu einem anderen Endlichen. Letzte-

in je unterschiedlicher Ausfaltung, als ein jeweiliges Mehr und Minder, in dem die Glieder eines Gegensatzes zueinander stehen, wieder. − Im übrigen scheint von daher der Vorwurf nicht gerechtfertigt, »Cusanisches Allheitsdenken […] unterlieg[e] mit seinem Relationsbegriff, der im Rahmen der Proportion gedacht ist, den Bestimmungen von Größe und Grad« (N. Winkler, »Amphibolien des cusanischen All-Einheitsdenkens − Zwischen Restitution der Metaphysik und Aufbruch in die Dialektik (Zur Problemstruktur eines durch Koinzidenz begründeten platonischen Monismus)«, in: Historia Philosophiae Medii Aevi [wie Anm. 139], Bd. II, 1065−1082; hier 1078). Denn bei der Applikation des Koinzidenzgedankens auf das Universum geht es sozusagen nicht einfach um die Ordinal-Frage, »inwiefern etwas mehr oder weniger anders ist, d. h. in welchem Grade es die Einheit repräsentiert« (ebd.). Insofern nämlich jedes Einzelne opposita verschränkt oder in sich vereinigt, mithin Andersheit immer ein wesentliches, intrinsisches Konstituens seiner Einheit ist, läßt sich nicht sagen, daß das Einzelne »seine Negation nicht an sich hat, sondern außerhalb seiner in Gestalt des Anderssein« (ebd. 1079). »[D]ie wichtigste Eigenschaft« des Einzelnen ist für Cusanus daher nicht »die des identischen Selbstbezuges« (ebd. 1082) − dafür müßte das Einzelne erst einmal genaue Gleichheit mit sich selbst, und d. h. ein unüberbietbares Maximum an Einheit aufweisen, welche mit minimaler Einheit bzw. maximaler Andersheit absolut koinzidiert. Andersheit stellt sich für Cusanus denn auch keineswegs nur als eine »kontingente Bestimmung« oder »mangelhafte Einheit« dar, da sehr wohl in jedem Einzelnen »die Einheit in Andersheit und die Andersheit in Einheit übergehen kann«, was also mitnichten »allein im Absoluten möglich ist« (ebd. 1079). Der Mangel des Einzelnen besteht in seiner kopulativen Koinzidenz von opposita, d. h. in deren Übergang, während ›in‹ Gott nichts überzugehen braucht: Gott ist die absolute Koinzidenz vor jeder Koinzidenz (ultra coincidentiam contradictoriorum: de vis. dei 10; n. 38,3; h VI 35). Die kopulative Koinzidenz ist die Paradiesmauer (murus paradisi), die den Ort umgibt, an dem Gott in absoluter Koinzidenz wohnt: Nam nunc et tunc […] occurrunt in muro, qui circumdat locum, ubi habitas in coincidentia. Coincidit enim nunc et tunc in circulo muri paradisi. Tu vero, deus meus, ultra nunc et tunc existis et loqueris, qui es aeternitas absoluta (ebd. n. 42,15−19; h VI 38; Hervorh. StG). 303 Vgl. docta ign. II 5; n. 118 (h I 76,18 f.): Non est autem universum nisi contracte in rebus, et omnis res actu existens contrahit universa, ut sint actu id quod est. 304 Vgl. de coni. II 3; n. 88,9−17 (h III 85): Omne igitur sensibile, hoc aliquid singulariter existens, cum omni et nullo concordat, ab omni et nullo differt.

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res mag zwar etwas mehr Ruhe aufweisen als das erstere, aber doch wiederum keine absolute oder maximale Ruhe, die frei wäre von jeder Bewegung. Eben deshalb erfreut sich auch alles seiner Singularität:305 Jedes Einzelne ›gewichtet‹ je eigens die durchgängige kopulative Koinzidenz von opposita, ohne dadurch je diese kopulative Koinzidenz von Gegensatzgliedern negieren zu können. Jedes Einzelne kontrahiert diese universale Kopulation von opposita: es negiert sie in Form einer je spezifischen Gewichtung − und affirmiert sie zugleich noch in dieser Gewichtung. Die »comparativa inquisitio«, die an jedem Einzelnen eine irreduzible Andersheit in der Einheit − d. h. eine jeweils eigene Gewichtung der kopulativen Koinzidenz − feststellt, schreibt buchstäblich diese Freude des Einzelnen an seiner Singularität fest.306 Diese kopulative Verschränkung von opposita in allem Endlichen scheint Cusanus auch im Auge zu haben, wenn er die Schöpfung als eine Angleichung (assimilatio) bzw. als ein Rufen des Nicht-Selbigen (non-idem) ins Selbige (idem) bezeichnet: Vocat igitur idem non-idem in idem. Et quia idem est immultiplicabile et per nonidem inattingibile, non-idem surgit in conversione ad idem. Et sic reperitur [sc. idem] in assimilatione, ut − cum absoluta entitas, quae est idem absolutum, vocat non-ens ad idem − tunc (quia non-ens non potest attingere immultiplicabilem absolutam entitatem) reperitur non-ens surrexisse in conversione ad absolutam entitatem, hoc est in assimilatione ipsius idem. Assimilatio autem dicit quandam coincidentiam descensus ipsius idem ad non-idem et ascensus non-idem ad idem. Potest igitur creatio seu genesis dici ipsa assimilatio entitatis absolutae, quia ipsa, quia idem, identificando vocat nihil aut non-ens ad se.307

Vgl. docta ign. III 1; n. 188 (h I 122,4 f.): nihil [est] in universo, quod non gaudeat quadam singularitate. Siehe auch de ven. sap. 22; n. 65,21−23 (h XII 63): Gaudet igitur unumquodque de sua singularitate, quae tanta in ipso est, quod non est plurificabilis, sicut nec in deo nec mundo nec angelis. 306 Cusanus denkt daher »die Gegensätzlichkeit der Seienden gegeneinander« nicht einfach nur als eine »allseitig-wechselseitige« (Jacobi, Die Methode [wie Anm. 37], 286; im Original kursiv). Diese ›allseitig-wechselseitige‹ Relationalität des Endlich-Seienden ersetzt daher auch nicht dessen Substantialität; die Relationalität wird nicht zum ›substantialen Seinsmodus‹ alles Endlichen. Vgl. dagegen etwa Leinkauf, »Die Bestimmung« (wie Anm. 48), 186 mit Anm. 16: »[Alles Endliche] steht nicht in völliger Gleichheit mit sich selbst, denn sein Selbst-Sein ist im Universum notwendig bestimmt durch das Anders-Sein von Anderem« (Hervorh. StG). Angesichts seiner intrinsischen Verschränkung von (konträren und kontradiktorischen) Korrelaten steht zwar jedes endlich Seiende »nicht in völliger Gleichheit« zu sich selbst. Das »Selbst-Sein« eines jeden Endlichen ist jedoch eben diese, je unterschiedlich gewichtete Verschränkung von opposita. Das Endlich-Seiende schränkt daher nicht einfach nur sich gegenseitig ein, sondern kontrahiert zunächst und zuvor in sich die kopulative Koinzidenz von (konträren und kontradiktorischen) Korrelaten. Kurzum: Die allseitig-wechselseitige Relationalität alles Endlich-Seienden ist eine Folge − und nicht der Grund − der Verschränkung von opposita in jedem Einzelnen. 307 de gen. n. 149,8−18 (h IV 109). 305

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Wenn demnach das Selbige (idem) das Nicht-Selbige (non-idem) zu sich ruft und sich angleicht, dann scheint das »idem absolutum« auf den ersten Blick nur für den Aspekt der Identität und Einheit am Geschaffenen verantwortlich zu sein. Die Andersheit oder Nicht-Selbigkeit (non-idem) des Einzelnen verdankt sich dann aber keiner positiven, sondern einer kontingenten Ursache.308 »Resultat« dieses Identifikationsaktes wäre dann »Identität im Zusammenhang von Identitäten, welche die Differenz an ihr oder in ihrem Gefolge hat«.309 In dieser Perspektive kann zwar die creative Entfaltung des »idem absolutum«, d. h. »seine Wirkung ›nach außen‹ nur als Selbig-Machen gedacht werden«.310 Dann aber wäre dieses creative Selbig-Machen zu verstehen als »Angleichung oder Aneignung« von Nicht-Identischem an das bzw. durch das Identische − und d. h.: als Aufhebung von Andersheit. Creative Angleichung (assimilatio) wäre zu denken als Negation oder Aufhebung des ›zuvor‹ durch Selbsteinschränkung bzw. Selbst-Negation des Absoluten gesetzten »non-idem«.311 In dieser Perspektive wäre also die Angleichung des »non-idem« ans »idem« als eine stets schon aufgehobene Diversifikation des Selbigen zu verstehen. Wie aber soll sonst »das Identifizieren des ›ipsum idem‹ gedacht werden? Eine Vermehrung oder Vervielfältigung seiner selbst ist nicht denkbar, wenn anders das Selbe Absolut-Selbes ist«.312 Beläßt es Cusanus hier bei »Umschreibungen, die das Problem im Halbdunkel lassen«?313 Diesen Gedanken problematisiert Cusanus etwa in docta ign. II 2; n. 99 (h I 65,27−66,6). Weiteres dazu im Anschluß. 309 Beierwaltes, Identität und Differenz (wie Anm. 83), 118; Hervorh. StG. 310 Beierwaltes, »Deus Oppositio oppositorum« (wie Anm. 161), 183. 311 Vgl. Beierwaltes, Identität und Differenz (wie Anm. 83), 119: »Das Selbig-Machen versteht Cusanus ganz allgemein als Angleichung oder Aneignung. […] Das Sehen sieht, indem es NichtGesehenes (Nicht-Identisches) verifiziert, oder: der Akt des Erkennens besteht darin, daß er NichtErkanntes (Nicht-Identisches) auflöst oder aufhebt und es so im Begriff sich selbst angleicht, d. h. mit sich selbst identifiziert. Analoges gilt für den creativen Akt des Prinzips; durch ihn erweist es sich als der Seiendes aus Nichts setzende und das Gesetzte auf sich selbst beziehende (finale) Grund in Einem.« − Zur Selbsteinschränkung Gottes vgl. ders., »Deus oppositio oppositorum« (wie Anm. 161), 182: »In dieser Entfaltung des ursprunghaft mit sich selbst einigen, unendlichen Seins in das endliche, begrenzte und mannigfaltige Sein der Gegensätze ›zieht‹ sich Gott in jedes bestimmt seiende Etwas, in jedes von Anderem unterschiedene Bestimmte und deshalb Gegensätzliche ›zusammen‹ (contractio), so daß Welt die Kontraktion Gottes ist.« 312 Jacobi, Die Methode (wie Anm. 37), 256. 313 Jacobi, op. cit. 256. − »Die Frage, wie Gott Seiendes aus sich ersieht,« erfährt daher nach Jacobi »weder hier noch irgendwo sonst in der cusanischen Philosophie eine Lösung« (ebd.). In ähnlicher Weise bezeichnet es auch Hösle als »eines der größten Probleme der Philosophie des Cusaners im allgemeinen […], daß er die Quelle der Differenz nicht zu erklären vermag. Es kann nicht ernsthaft bestritten werden, daß seine gewöhnliche Antwort, sie stamme aus der Kontingenz, die wir von »De Docta Ignorantia« [II 2; n. 99; h I 65 f.] zu »De Ludo Globi« [II; n. 81; h IX 99 f.] finden, mehr Verzicht auf eine Lösung als eine Lösung ist: Denn woher stammt die Kontingenz?« (Hösle, »Platonismus und Antiplatonismus« [wie Anm. 109], 110 f.) Auch die Antwort, »daß Einheit und Andersheit (Vielheit) in Gott koinzidieren«, ist für Hösle keine befriedigende Auskunft − »denn dann stellt sich die Frage: Was führte zu ihrer Trennung?« (Hösle, op. cit. 259; dort Anm. 37.) Hösles Frage setzt 308

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Versteht sich jedoch die Welt selbst als kopulative Verschränkung von opposita, dann besteht die Angleichung (assimilatio) nicht in der verselbigenden, identifizierenden Aufhebung des »non-idem«, sondern in der Angleichung des Endlichen an die absolute Koinzidenz von »idem« und »non-idem«. Insofern findet sich das absolut Selbige in Angleichung (reperitur in assimilatione) nicht allein darin, daß das »non-idem« sich dem »idem« angleicht, sondern zugleich darin, daß das »idem« sich dem »non-idem« angleicht. Anders: Bei dieser Identifikation oder Angleichung (assimilatio) verschränken sich das »idem« und »non-idem« in einem kopulativen Zugleich. Es gleicht sich also nicht das »non-idem« dem »idem« an, sondern es gleichen sich beide einander an in einem kopulativen Zugleich. Dieses kopulative Zugleich meint eine Art von Koinzidenz (quaedam coincidentia), bei der sich der Abstieg (descensus) des »idem« zum »non-idem« und der Aufstieg (ascensus) des »non-idem« zum »idem« gegenseitig durchdringen. Das »idem absolutum« braucht demnach nicht ein zuvor gesetztes »non-idem« als das Andere seiner selbst aufzuheben, weil es selbst absolute Koinzidenz von Identität und Andersheit und daher ›auch‹ unüberbietbare Andersheit ist. Der assimilative Charakter des Endlichen − seine »dei similitudo« − liegt in seinem koinzidentalen Charakter, in dem Gegensatzglieder zu einem kopulativen Zugleich verbunden sind. Als diese kopulative Koinzidenz von Gegensatzgliedern vollzieht (gerit) alles Endliche ineins (simul) jene »dei similitudo«: video super alia mirabile, in quo omnia simul dei similitudinem gerere probabis. Dionysius recte dicebat de deo simul opposita debere affirmari et negari. Ita, si te ad universa convertis, pariformiter comperies. Nam cum sint singularia, sunt pariter similia, quia singularia, et dissimilia, quia singularia; ‹neque similia, quia singularia›, neque dissimilia, quia singularia. Sic de eodem et diverso, aequali et inaequali, singulari et plurali, uno et multis, pari et impari, differentia et concordantia, et similibus, licet hoc absurdum videatur philosophis principio ›quodlibet est vel non est‹ etiam in theologicis inhaerentibus.314 Demnach liegt die »dei similitudo« jedes Einzelnen nicht darin, daß es − ähnlich wie Gott − jeweils Singularität oder Selbst-Identität und in Folge davon auch den Ausschluß von Andersheit anzeigen würde, sondern darin, »daß − wie auf [Gott] selbst − auf die Einzigartigkeit des Einzelnen gegensätzliche Prädikate zugleich zutreffen«.315

allerdings bereits voraus, daß Cusanus Einheit und Vielheit als getrennte oder zumindest als trennbare Aspekte am Einzelnen, Endlichen behandelt. 314 de ven. sap. 22; n. 67,1−10 (h XII 65). 315 Beierwaltes, »Nicolaus Cusanus: Innovation durch Einsicht in die Überlieferung« (wie Anm. 190), 366.

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Die für Cusanus so charakteristischen Formulierungen, wie z. B. »calidum [nititur] calefacere, frigidum frigefacere«,316 sind deshalb nicht als tautologische Festsschreibungen zu verstehen, die jeweils einen beliebigen Identifikationsakt bzw. eine identifizierende Aneignung des jeweiligen Gegenteils zum Ausdruck bringen: »calidum non-calidum ad sui identiatem vocat et frigidum non-frigidum ad suam vocat identitatem«.317 Vielmehr deutet die Parallelität dieser Identifikationsakte auf einen Vollzug hin, der »pariter similis et dissimilis« verläuft. Die Andersheit ist in all diesen Identifikationsakten ein unveräußerliches Konstituens: Singularitas igitur omnia singularizat, specialitas specializat, generalitas generalizat, universalitas universalizat. Omnia enim universalia, generalia atque specialia in te Iuliano iulianizant, ut harmonia in luto lutinizat, in cithara citharizat, et ita de reliquis. Neque in alio ut in te possibile est.318 Die Andersheit eines Einzelnen ist daher stets und gleichermaßen Nicht-Andersheit − nicht nur Nicht-Andersheit in sich selbst, sondern auch gegenüber jedem anderen Einzelnen: »[singularia] sunt pariter similia, quia singularia, et dissimilia, quia singularia«. Alle Einzeldinge ähneln einander nicht, sind also jeweils andere, da sie alle eben Einzeldinge sind. Gleichermaßen (pariter) aber sind alle Einzeldinge einander ähnlich, also nicht anders, da sie eben alle Einzeldinge sind. Dementsprechend hätte auch der Satz »aliud est non aliud quam aliud«319 einen zweifachen Sinn: Ein je anderes, einzelnes Etwas ist nichts anderes als eben dieses je andere, einzelne Etwas, d. h. es ist in sich selbst nichts anderes.320 Und zugleich: Das Andere, d. h. das Einzelne überhaupt, ist nichts anderes ist als eben dieses Andere, Einzelne überhaupt. Selbst in seiner singulären, jeweiligen Andersheit ist das Einzelne, aufs Ganze gesehen, kein Anderes. Insofern bleibt die Andersheit kein äußerliches Charakteristikum, welches die Einzeldinge voneinander abgrenzt und welches sich dann in das ebenso äußerliche und verallgemeinerbare Einheitsmerkmal zusammenfassen ließe, daß alle Einzeldinge untereinander zwar anders, in sich selbst aber nicht

de gen. n. 152,12 f. (h IV 111). Siehe auch ebd. n. 149,6 f. (h IV 108): intellectus intelligit, visus vidit, calor calefacit, et ita de omnibus. 317 de gen. n. 152,13 f. (h IV 111). 318 de coni. II 3; n. 89,9−13 (h III 86). Bemerkenswert ist hier die Parallelität von aufsteigenden Identifikationsakten, die vom »singularizare« über das »specializare« und »generalizare« bis hin zum »universalizare« führen. Dieser Aufstieg wird zugleich konterkariert durch einen Abstieg, der im »singularizare« eines Einzelseienden − hier beispielhaft im »iulianizare« − seinen Abschluß findet. 319 Vgl. de non aliud 2 (h XIII 6,7 f.): Aliud cum sit non aliud quam aliud, utique ›non aliud‹ praesupponit, sine quo non foret aliud. 320 Vgl. Schneider, Gott − der Nichtandere (wie Anm. 226), 112 mit Anm. 34: »Jedes Etwas ist das Nichtandere seiner selbst bzw. nichts anderes als es selbst.« Siehe auch ebd., 123: »[Ü]berall erweist sich das Je-Andere in sich zuvor als ein Nicht-anderes zufolge seiner nur ihm eigenen Wesensbestimmtheit. In der Identität mit sich selbst hat das je-andere Was seinen urtümlichen Bestand« (Hervorh. StG). 316

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anders sind. Nicht der Umstand, daß ein Endliches zwar im Hinblick auf jedes einzelne Endliche stets ein anderes, jedoch im Hinblick auf sich selbst stets nichts anderes ist, ist der Grundzug des Endlichen, sondern die kopulative Koinzidenz von Einheit und Andersheit: Auch noch in seiner extrinsischen Andersheit ist das Endliche nicht anders; auch noch in seiner intrinsischen Nicht-Andersheit ist das Endliche anders. Nicht-Andersheit (Einheit) und Andersheit lassen sich nicht nur nicht aufeinander reduzieren, sondern auch nicht auf verschiedene Aspekte am Einzelnen − auf eine intrinsische Nicht-Andersheit und eine extrinsische Andersheit − reduzieren. Das »non aliud« geht daher nicht in der Funktion auf, daß es die formalste oder allgemeinste sprachliche Bedingung dafür ist, wie ein einzelnes A zu bestimmen oder zu ›definieren‹ ist (›A ist nichts anderes als A, und seine Wirksamkeit besteht in nichts anderem als darin, non-A zu A zu machen‹). Das »non aliud« ist kein Operator einer tautologischen ›Definition‹ (»A est non aliud quam A«), mit der sich immer wieder je Verschiedenes identifizieren – und d. h. hier: unter den verbindenden Aspekt seiner intrinsischen Nicht-Andersheit bringen läßt. Die Formel »non aliud quam« ist kein Definitionsmuster, in das sich alles unterschiedslos integrieren läßt; sie ist daher auch ist nicht Ausdruck einer Definitionswut, die »uns heute nicht selbstverständlich« vorkommt.321 Flasch, Nikolaus von Kues (wie Anm. 3), 557. − Diese generelle Anwendbarkeit des »non aliud quam« auf alles und jedes ist immer wieder vermerkt worden, zumeist unter Hinweis auf seinen unbefriedigenden Status als Definition. Vgl. z. B. Fräntzki, Nikolaus von Kues (wie Anm. 162), 121: »Es erweist sich ja, daß das non-aliud schlechthin auf alles und jedes anwendbar ist. Dabei ist es gleichgültig, ob etwas ist, war oder sein wird, ob es möglich oder unmöglich oder einfach gar nicht ist. Solange etwas irgendwie sprachlich gefaßt werden kann, läßt sich das ›nichts anderes‹ auf es anwenden. […]. Allerdings wird nun niemand behaupten wollen, daß diese aus dem sprachlichen Ausdruck als solchem sich ergebende Funktion der Anwendbarkeit auf alles und jedes auch schon irgendwie irgend etwas definiere.« Angesichts dieser universellen Anwendbarkeit halten daher manche Interpreten eine Übersetzung von »(li) non aliud« mit ›das Nichtandere« für verfehlt, da hier die Funktion des »non aliud« als sprachlicher Operator nicht genügend zu Tage tritt: »Der Begriff heißt wörtlich ›nicht anderes‹, ›das Nicht-anderes‹ oder ›das Nicht-andere‹ (non aliud), darf aber nicht so wörtlich übersetzt werden, da er sich für Nicolaus primär über Formulierungen wie: ›Caelum est non aliud quam caelum‹, erschließt; die entsprechende Redewendung lautet im Deutschen aber nicht: ›Der Himmel ist nicht anderes als der Himmel‹, sondern: ›Der Himmel ist nichts anderes als der Himmel‹. Der vom Cusanus neu eingeführte Gottesbegriff ist dementsprechend mit ›nichts anderes‹ oder ›das Nichts-anderes‹ oder ›das Nichts-andere‹ zu übersetzen« (M. von Perger, »›Nichts anderes‹ − ein Fund des Cusanus auf der Namenssuche für das erste Prinzip aller Dinge«, in: Internationale Zeitschrift für Philosophie 2/2004, 114−139; hier 124 f.). Allein schon in philologischer Hinsicht scheint mir dieser Vorschlag eine problematische Restriktion des Sinnes von »non aliud« mit sich zu bringen. Fraglich ist nämlich, ob die Wendung »non aliud« bereits im Lateinischen dem deutschen ›nichts anderes‹ entspricht. Wie v. Perger selbst bemerkt, »wird im Dialog neben ›non aliud quam …‹ (wörtlich: nicht anderes als …‹) auch der Ausdruck ›nihil aliud quam …‹ verwendet, der genau [!] dem deutschen ›nichts anderes als …‹ entspricht« (v. Perger, op. cit. 125; dort Anm. 19 mit Verweis auf de non aliud 4; h XIII 10,6). Wenn Cusanus mit seinem Gottesbegriff also ›das Nichts-anderes‹ hätte zum Ausdruck bringen wollen, dann hätte er dies im Lateinischen auch genau so ausdrücken können: ›(li) nihil aliud‹. Warum also sollte Cusanus diese sprachliche ›Ungenauigkeit‹ mit dem Terminus »non aliud« in Kauf nehmen, wenn sich für das Intendierte der genauere Terminus »nihil 321

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Das »non aliud« stellt also nicht einfach »eine formale Bedingung jedes Gegenstandes« dar, welche sich genausogut als die intrinsische Selbst-Identität und Einheit eines jedes Gegenstandes verstehen ließe.322 Eben diese Gleichsetzung scheint für Cusanus fragwürdig zu werden: Offenbar meint für ihn das »non aliud« nicht schlichtweg einen Ausschluß oder eine Negation von Andersheit und damit auch nicht schlichtweg die negativ gefaßte Kehrseite von Identität oder Einheit. Vielmehr hat das »non aliud« offensichtlich einen Vorrang vor dem Identitätsbegriff. Insofern sind Identität (idem) und Nicht-Andersheit (non aliud) keine deckungsgleiche und austauschbare Begriffe: Qualitercumque autem dixeris, cum id ipsum, quod dicis, non aliud sit quam idem ipsum, patet ›non aliud‹ simplicius et prius esse.323 Wie auch immer man demnach etwas (und sei es etwas über Gott) zum Ausdruck bringt − das damit zum Ausdruck Gebrachte oder Gemeinte ist seinerseits nichts anderes als eben dieses selbst (id ipsum, quod dicis, non aliud est quam idem ipsum): es ist zunächst nichts anderes als dieses in dieser sprachlichen Form zum Ausdruck Gebrachte.324 aliud« anbietet? Von der deutschen Wendung »nichts anderes als …« läßt sich demnach nicht einfach rückschließen auf den Sinn des Cusanischen »non aliud«, zumal Cusanus öfters auch die Wendung »non aliud est ab …« (›ist nicht ein Anderes gegenüber …‹) gebraucht: Deus autem, quia non aliud est ab alio, non est aliud (de non aliud 6; h XIII 14,13 f.). Vgl. ebd. (h XIII 14,32 f.): caelum [est] ab ipso ›non aliud‹ ab aliquo. Im übrigen ist v. Pergers Vorschlag alles andere als neu. Vgl. etwa S. Dangelmayr, Gotteserkenntnis und Gottesbegriff in den philosophischen Schriften des Nikolaus von Kues, Meisenheim/Glan 1969, 245 f.: »Wenn man genau sein wollte, dann dürfte man auch nicht übersetzen: das Nichtandere, wie es allgemein gebräuchlich ist, sondern man müßte dieses ›nichts anderes‹ so nehmen, wie es ist, und dann einfach den Artikel davorsetzen, um es so zu substantivieren.« Dementsprechend ist für Dangelmayr »das non aliud ganz einfach die Isolierung und Substantivierung einer sprachlichen Funktion, das ›nichts anderes‹ ist nichts anderes als die losgelöste und zum Substantiv erhobene Formel für das definierende Festlegen, das mittels dieser Formel erfolgt.« Das »Non aliud« als ein Gottesbegriff ist jedoch mehr als »das Nichts-anderes«, mehr als nur ein metasprachlicher Ausdruck für eine sprachliche Operation. (Sonst ließe sich genausogut sagen, daß der Cusanische Gottesbegriff der aequalitas als metasprachlicher Ausdruck für das Gleichheitszeichen »=« fungiere, insofern dieses in jeder Identitätsaussage vom Typ »A = B‹ stets schon in Anspruch genommen wird.) 322 So Wilperts Anmerkung in H 12, 113: »Das Nicht-anders-sein oder das-Mit-sich-selbst-identisch-sein ist eine formale Bedingung jedes Gegenstandes und kann insofern als allgemeinste Aussage von jedem Gegenstand gelten.« − Würde Cusanus hier mit dem »non aliud« tatsächlich »ein formales Element der Gegenständlichkeit zum bestimmenden Faktor aller Gegenstände« machen, dann wäre der ›non aliud‹-Gedanke in der Tat »gequält und unbefriedigend« (ebd.). Mit einer tautologischen ›Definition‹, die jedes Etwas seiner intrinsischen Nicht-Andersheit oder Selbst-Identität versichert, wäre niemandem geholfen. 323 de non aliud 4 (h XIII 9,4−6). − Siehe auch de ven. sap. 14; n. 41,1−3 (h XII 40): Advertas autem, quomodo li non aliud non significat tantum sicut li idem. Sed cum idem sit non aliud quam idem, non aliud ipsum [sc. li idem] et omnia, quae nominari possunt, praecedit. 324 Das in Worte oder Gedanken Gefaßte hat daher nicht stets und unmittelbar das »idem ipsum« − das Identische selbst oder Gott − zu seinem Gehalt, sondern sein jeweiliger Gehalt ist eben dieser selbst,

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Das »non aliud« zeigt sich hierbei in seiner größeren Einfachheit und in seinem Vorrang, da jedes Wort und jeder Gedanke dieses »non aliud« für seinen spezifischen Inhalt bereits voraussetzt, ohne daß das »non aliud« mit diesem Inhalt identisch wäre. Das »non aliud« ist die absolute Washeit (quiditas absoluta) dessen, was jeweils als ein Nicht-Anderes bestimmt werden kann. Als die absolute Washeit ist die NichtAndersheit − das »ipsum non aliud« − in all diesen Bestimmungen vom Typ ›A est non aliud quam A‹ keine andere. Die Definitionsleistung des »non aliud« besteht daher nicht darin, daß es das, was als ein jeweils Nicht-Anderes bestimmt wird, begrifflich entfalten und damit von allem anderem begrifflich absetzen würde. Das »non aliud« berührt also das durch es ›Definierte‹ nicht inhaltlich, nicht in seinem kontrakten washeitlichen Gehalt, und läßt eben dadurch in der jeweiligen Nicht-Andersheit des ›Definierten‹ die durchgängige Nicht-Andersheit sehen. Die Andersheit, die mit der durchgängigen Anwendbarkeit des »non aliud« (›A ist nichts anderes als A‹, ›B nichts anderes als B‹ usw.) zum Vorschein kommt, steht in keinem eindeutigen Gegensatz zur Nicht-Andersheit. Das jeweils und immer wieder nur als Nicht-Anderes ›Definierte‹ ist anders und zugleich nicht anders.325 Das »non aliud« ist der Grund für die jeweilige Andersheit in der durchgängigen Nicht-Andersheit und für die jeweilige Nicht-Andersheit in der durchgängigen Andersheit. Erst in dieser Verschränkung von Andersheit und Nicht-Andersheit wird das jeweils Nicht-Andere auch inhaltlich bestimmbar: Das jeweils Nicht-Andere schränkt in sich selbst die Nicht-Andersheit ein; es ist noch in seiner Nicht-Andersheit anders, ohne daß es die Nicht-Andersheit jemals negieren könnte.326 Daher ist Nicht-Andersheit keine bloß formale Rahmenbedingung, mit der sich formelhaft die jeweils intrinsische Nicht-Andersheit von A und dann auch dessen extrinsische Andersheit gegenüber B, C, D usw. festschreiben läßt. Heißt das aber nun, daß die Prävalenz des »non aliud« vor allen anderen Begriffen eine »stärkere Betonung der Negativität«327 indiziert, da anscheinend im »non aliud« weil er kein anderer ist. Wilperts Übersetzung des eben zitierten Satzes aus »De non aliud« (h XIII 9,4−6) scheint mit daher nicht den Sinn zu treffen: »Welchen Ausdruck du auch immer wählen magst, deine Worte meinen nichts anderes als eben das Identische selbst. Daraus erhellt die größere Einfachheit und der Vorrang, den die Bezeichnung des ›Nichtanderen‹ besitzt« (H 12,10; Hervorh. StG). 325 Vgl. dazu etwa de non aliud 8 (h XIII 17,4−6): Dei sive ipsius ›non aliud‹ quidditas ab aliqua quidditate non est alia, sed in omni alia quidditate ipsum ›non aliud‹ est ipsa non alia. In jeder, jeweils anderen Washeit (in omni alia quidditate) ist das »non aliud« diese Washeit selbst und keine andere. Die Washeiten sind je anders bzw. nichts anderes als je sie selbst − und zugleich untereinander nicht anders, da das Nichtandere selbst in ihnen allen nicht anders wird. 326 Mit dem »non aliud« ist daher nicht sogleich (non primum) jedes Wort oder jeder Gedanke in seinem spezifischen Inhalt bestimmt und benannt; das »non aliud« ist nicht identisch mit diesem jeweils anderen Gehalt eines Wortes oder Gedankens: omnia, quae dici aut cogitari possunt, ideo non primum sunt per ›non aliud‹ significatum, quia ea omnia a suis oppositis alia sunt (de non aliud 6; h XIII 14,11−13). 327 Dangelmayr, Gotteserkenntnis und Gottesbegriff (wie Anm. 321), 231.

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die Verneinung das sprachlich und sachlich bestimmende Moment darstellt? Bringt also der Begriff des »non aliud« den Ausschluß jeder Andersheit oder Differenz explizit zum Ausdruck, welchen etwa der Begriff des »unum« nur impliziert? Für Cusanus jedenfalls erschließt sich der Einheitsbegriff zunächst durch das »non aliud« und nicht umgekehrt: Quamvis unum propinquum admodum ad ›non aliud‹ videatur, quando quidem omne aut unum dicatur aut non aliud, ita quod unum quasi ›non aliud‹ appareat, nihilominus tamen unum, cum nihil aliud quam unum sit, aliud est ab ipso ›non aliud‹. Igitur ›non aliud‹ est simplicius uno, cum [unum] ab ipso ›non aliud‹ habeat, quod sit unum; et non e converso.328 Einheit sieht zwar nach Nicht-Andersheit aus (unum quasi ›non aliud‹ apparet), sie scheint also in konzeptueller Hinsicht mit Nicht-Andersheit konvertibel zu sein bzw. nichts anderes zu meinen als: Nicht-Andersheit. Gleichwohl ist Einheit etwas anderes gegenüber der Nicht-Andersheit (unum aliud est ab ipso ›non aliud‹). Der Einheitsbegriff ist und besagt demnach mitnichten nichts anderes als: ›Nicht-Andersheit‹. Einheit besagt zwar auch Nicht-Andersheit (und zwar: die Nicht-Andersheit der Einheit, sowie deren Andersheit gegenüber der Nicht-Einheit oder Vielheit). Einheit ist jedoch nicht identisch mit der Nicht-Andersheit.329 Worin liegt aber der Unterschied von »unum« und »non aliud«? Liegt dieser im modus dicendi, in dem die Termini ›Einheit‹ und ›Nicht-Andersheit‹ auf verschiedene Weise dasselbe zum Ausdruck bringen? Sagt ›Einheit‹ dasselbe positiv, was mit ›Nicht-Andersheit‹ negativ zum Ausdruck kommt? Verdankt sich also der unhintergehbare Charakter des »non aliud« seinem Negationscharakter? Dies scheint Cusanus aber gerade auszuschließen. Denn der Hinderungsgrund dafür, daß der Einheitsbegriff (unum) wegweisend werden kann für die Benennung des ersten Grundes oder Prinzips von allem, liegt eben an dem negativen, ausschließenden Charakter, den die Nicht-Andersheit im Einheitsbegriff aufweist: Tamen, cum unum sit aliud ab non uno, nequaquam dirigit in primum omnium principium, quod sive ab alio sive a nihilo aliud esse non potest, quod item nulli est contrarium.330 Weil Einheit Anderes von sich ausschließt, also selbst ein Anderes gegenüber Anderem (ab alio aliud) ist und damit einen Gegensatz aufmacht zu dem, was nicht eines (non unum) ist, ist dieser negative Charakter von Nicht-Andersheit konstitutiv für de non aliud 4 (h XIII 10,3−8). In oder mit der Einheit kommt das »non aliud« zwar zum Vorschein (cernitur), dieses erschöpft sich allerdings nicht im Einheitsbegriff: nam in unitate, quae indistinctionem a se dicit et ab alio distinctionem, profecto ›non aliud‹ cernitur (de non aliud 5; h XIII 12,10−12). 330 de non aliud 4 (h XIII 10,11–13). 328 329

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den Einheitsbegriff. Das »unum« negiert das »non unum«, insofern es das »non unum« als sein Anderes von sich ausschließt. Eben diese Negation weist das »non aliud« selbst nicht auf: Das »non aliud« läßt sich also nicht auf die im Einheitsbegriff gemeinte intrinsische Nicht-Andersheit reduzieren; vielmehr ist die Einheit Ausdruck von Nicht-Andersheit, welche sich in diesem Ausdruck keineswegs erschöpft. Das »non aliud« selbst meint demnach keine Nicht-Andersheit, wie sie für den Einheitsbegriff konstitutiv ist: als Ausschluß oder Negation von Andersheit. Daher sind das »non aliud« und das »aliud« auch nicht in ihrem Negationscharakter einander gleichgestellt.331 Für das »non aliud« im Sinne des ersten Prinzips von allem hat nach Cusanus vielmehr zu gelten: »ab alio sive ab nihilo aliud esse non potest«.332 Der Ausschluß von Andersheit – ein ›ab alio aliud esse‹ – scheint deshalb für Cusanus kein Kriterium dafür zu sein, daß das »non aliud« vor oder über jeder Andersheit zu stehen kommt.333 Der gründende Charakter des »non aliud« für die Andersheit (des Endlichen) kann nicht in der Negation bzw. in einem Ausschluß des »aliud« liegen.334 Das Andere als das Andere ist für Cusanus denn auch nicht das ›non non-aliud‹; vielmehr verdankt das »aliud« dem »non aliud«, daß es nichts anderes (non aliud quam) als das »aliud« ist. Das Andere ist nichts anderes als (non aliud quam) das Andere, weil das »non aliud« selbst kein Anderes gegenüber (non aliud ab) dem Anderen ist. Einfaltung der Andersheit (aliud) im »non aliud« wäre ansonsten zu verstehen als Negation der zu entfaltenden Andersheit; und Entfaltung der Andersheit wäre dementsprechend zu verstehen als Negation dieser negierenden Einfaltung von Andersheit bzw. als Negation des »non aliud«.335 Mit Fräntzki ließe sich ansonsten sagen, daß »›trotz‹ der Totalität des Nichtanderen von diesem her auf das Andere zu eine Differenz bestehen bleibt. Sie ergibt sich aber auch umgekehrt − also vom Anderem her auf das Nichtandere zu« (Fräntzki, Nikolaus von Kues [wie Anm. 162], 157). 332 Siehe etwa auch de non aliud 22 (h XIII 52,20 f.): ›non aliud‹ ipsum ab alio aliud non posse; sowie ebd., prop.18 (h XIII 64,27−29): Oportet enim omne aliud ab alio esse aliud, cum solum ›non aliud‹ sit non aliud ab omni alio. 333 Vgl. Beierwaltes, Identität und Differenz (wie Anm. 83), 114: »Non-aliud, als in sich seiendes Prinzip gedacht, ist zunächst nicht das Andere oder nichts Anderes; es ist der Ausschluß jeder Andersheit, Verschiedenheit oder Differenz aus sich selbst; das Nicht-Andere ist also vor dem Bereich jeder Andersheit.« Siehe auch ders., »Das Verhältnis von Philosophie und Theologie bei Nicolaus Cusanus« (wie Anm. 239), 86. 334 Hingegen etwa E. A. Wyller, »Zum Begriff des ›non aliud‹ bei Cusanus«, in: Nicolò Cusano agli inizi del mondo moderno (wie Anm. 77), 419–443; hier 420: »Im Satze ›non aliud non aliud est quam non aliud‹ bestimmt [das] Definien[s] non aliud sich selbst ohne Tautologie, da [es] sich zugleich gegen etwas, was [es] nicht ist, nämlich aliud, abgrenzt.« − Grenzte das »non aliud« tatsächlich sich gegen etwas ab, was es nicht ist, so wäre erstens das »non aliud« mitnichten »omne id, quod esse potest«, und zweitens würde sein Status als Prinzip von allem hinfällig, der für Cusanus gerade in seinem »ab alio aliud esse non potest« liegt. 335 Vgl. Beierwaltes, »Deus Oppositio oppositorum« (wie Anm. 161), 178: »[Gott] ist also Grund und Ursprung aller Entfaltung, zugleich aber die Negation des Entfalteten, kraft seiner einfaltenden, aufhebenden Einheit.« Einfaltung wäre demnach Aufhebung oder Negation des Entfalteten, Entfaltung wäre ausfaltende Aufhebung dieser einfaltenden Aufhebung. 331

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Daß Gott das Nichtandere (non aliud) selbst ist, besagt daher für Cusanus offenbar noch anderes als das Diktum Eckharts, wonach in Gott kein Anderes ist (in deo non est aliud).336 Anders als für Cusanus ist für Eckhart kraft dieses Ausschlusses der Andersheit aus Gottes absoluter Einheit die Andersheit oder Vielheit in sich selbst ein ›reines Nichts‹, konnotiert mit Abfall (casus), Fremdheit oder Ferne (alienum) und Sünde (peccatum).337 Anders als Eckhart geht es Cusanus darum, die Andersheit nicht nur als Abfall vom Nicht-Anderen bzw. dem absolut Einen zu begreifen, sondern im »non aliud« selbst den Grund für Andersheit zu denken. Dadurch daß Cusanus im Terminus »(li) non aliud« den zweistelligen Prädikator »aliud« absolut setzt, faltet er sozusagen in diesem einen Terminus zwei Bedeutungsvalenzen des »aliud« ein: Als das »non aliud« ist Gott nichts anderes als (non aliud quam) das »non aliud«. Damit ist aber keine schlichte Selbst-Identität des »non aliud« angezeigt, die das Andere, ebenfalls mit sich selbst Identische von sich ausschließen würde.338 Im Gegenteil: Das »non aliud« ist weder ein Anderes etwa gegenüber (non aliud a) dem Himmel noch identisch mit (non idem cum) dem Himmel.339 Vgl. Eckhart, Sermo XXIX n. 304 (LW IV 270,7 f.): In deo enim non est aliud. Dieses Diktum Eckharts gilt zahlreichen Interpreten als sachlicher Anknüpfungspunkt für den Cusanischen ›non aliud‹Gedanken. Vgl. etwa nur Wackerzapp, Der Einfluß Meister Eckharts (wie Anm. 52), 164 mit Anm. 170. Beierwaltes, Identität und Differenz (wie Anm. 83), 114 mit Anm. 41; ders., Platonismus im Christentum (wie Anm. 190), 163 mit Anm. 94. B. Mojsisch, Meister Eckhart. Analogie, Univozität und Einheit, Hamburg 1983, 92 mit Anm. 40. Kritisch gegenüber dieser Verbindung zwischen Eckharts Diktum und dem Cusanischen »non aliud«: Wyller, »Zum Begriff des ›non aliud‹ bei Cusanus« (wie Anm. 334), 438. 337 Vgl. z. B. nur Eckhart, in Ioh. n. 114 (LW III 100,2−5): Multitudo enim, offensa et adversatrix unius, semper peccatum est naturae vel moris, Psalmus: ›propitiaberis pecato meo: multum est enim‹. Multum quidem est omne peccatum in se ipso, etiam si semel fiat, eo quod multum est casus ab uno (Hervorh StG). Eckhart deutet hier also Ps. 24,11: ›Verzeih mir meine Sünde: denn sie ist viel‹ um zu: ›Jede einzelne Sünde ist wesensmäßig − in sich selbst − Vielheit, da sie Abfall vom Einen ist‹. Der Vielheit und Andersheit anheimzufallen, ist demnach für Eckhart Sünde, die bestenfalls zu beheben ist durch den Abfall von der Vielheit: Cadere autem a divisione, numero et malo non habet rationem mali, sed potius boni (in Gen. II n. 74; LW I 539,13 f.). 338 Gerade in der ›trinitarischen Formel‹− »non aliud non est aliud quam non aliud« (de non aliud 1; h XIII 4,29 f.) − zeigt sich, wie wenig das »non aliud quam« als ein sprachlicher Operator zu verstehen ist, der das jeweils in die Formel Eingesetzte einfach seiner Selbst-Identität versichert. Das »non aliud« selbst wäre sonst nur ein weiterer konkreter Fall der definitorischen Funktion »A non est aliud quam A«. Die Selbstdefinition des »non aliud« wäre eine Definition wie jede andere. In dieser Formel definiert sich das »non aliud« daher gerade nicht auf die Weise, »daß es alle Bestimmungen von sich abhält« (J. Halfwassen, »Hegels Auseinandersetzung mit dem Absoluten der negativen Theologie«, in: Der Begriff als die Wahrheit. Zum Anspruch der Hegelschen ›Subjektiven Logik‹, hg. von A. F. Koch u. a., Paderborn 2003, 31–47; hier 46; Hervorh. StG). Es geht also nicht darum, daß das »non aliud« sich »kraft der ihm selbst immanenten Negativität, durch die es alle Bestimmungen von sich abhält, selbst bestimmt« (ebd.; Hervorh. StG). Definiert würde das »non aliud« durch den Ausschluß von Andersheit – und damit durch Andersheit gegenüber der Andersheit. 339 Vgl. de ven. sap. 14; n. 41,3−6 (h XII 40): Ideo etsi deus nominetur non aliud, quia ipse est non aliud ab alio quocumque − sed propterea non est idem cum aliquo. Sicut enim [deus] non est aliud a caelo, ita non est idem cum caelo. Die Formulierung »deus non est idem cum caelo« meint nicht einfach ein »deus est aliud quam caelum«: Wenn Gott nicht identisch ist mit dem Himmel, dann ist er 336

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II. Nicolaus Cusanus

Insofern Gott als das »non aliud« kein Anderes gegenüber dem Himmel ist, kann erst der Himmel nichts anderes als (non aliud quam) der Himmel sein. Das »non aliud« selbst findet sich in jedem Anderen, insofern dieses nichts anderes ist als eben dieses Andere. Das Cusanische »non aliud« besagt also in erster Linie keine gleichzeitige Differenz und Identität von Gott und dem Geschaffenen bzw. keine gleichzeitige Immanenz und Transzendenz Gottes: ›Gott ist sowohl mit dem Geschaffenen identisch als auch von ihm verschieden‹. Das Cusanische »non aliud« besagt vielmehr, daß Gott gleichermaßen der Grund für die Nichtandersheit und Andersheit des Geschaffenen ist: Als das Nichtandere ist Gott das Andere des Anderen (aliud ipsius aliud) – nicht das Andere gegenüber dem Anderen (aliud ab alio), sondern der die Andersheit des Anderen begründende Grund.340 Wenn also das Nichtandere nicht das Andere selbst ist bzw. nicht mit diesem identisch ist (›non aliud‹ non est ipsum aliud), dann schließt das Nichtandere keineswegs das Andere von sich aus, sondern es ist das, was das Andere zum Anderen macht. Wie das »non aliud« das

nicht einfach anders bzw. Anderes als der Himmel. Gott hat den Himmel nicht als ein Anderes von sich selbst auszuschließen, zumal Gott gegenüber dem Anderen eben kein Anderes ist. Nicht-Andersheit gegenüber dem Anderen besagt somit nicht: sowohl Identität als auch Andersheit, sondern: weder Identität noch Andersheit. − Damit hängt wohl zusammen, daß Cusanus in seinen mathematischen Schriften den Zwischenwertsatz bevorzugt in einer disjunktiv verfahrenden Negation wiedergibt: hoc censendum est esse aequale, quod nec maius nec minus esse convincitur (quadr. circ.; zit. nach: n 5 bzw. b 1091; Hervorh. StG). Für diese Formulierung siehe etwa auch: de geometr. transm. 2 (p II-2, fol. XLV r). de math. compl.; praefatio (p II-2, fol. LX r); ebd. prop. 7 (p II-2, fol. LXI v). Deutsche Übs. in: H 11, 21 f.; 58; 72; 77 (dort als »Satz 6« angeführt). J. E. Hofmann bemerkt hierzu: »Immer stärker schiebt sich die indirekte Schlußweise (was weder größer noch kleiner ist, muß gleich sein) in den Vordergrund und verdrängt die direkte Schlußweise vermittels des Zwischenwertsatzes (was größer und kleiner ist, muß gleich sein). Im indirekten Schluß sieht der CUSANER geradezu dasjenige, was der coincidentia oppsitorum auf mathematischem Gebiete entspricht« (H 11, XXXI). Der direkte Schluß (›wenn etwas größer und kleiner sein kann, dann kann es auch gleich sein oder gleich werden‹) würde einen kontinuierlichen Übergang behaupten; »dann muß es ein zum Kreis flächengleiches Quadrat geben, weil das dem Kreis umbeschriebene Quadrat größer und das ihm einbeschriebene kleiner als der Kreis ist« (Folkerts, »Die Quellen und die Bedeutung des mathematischen Werke« [wie Anm. 181], 314). Dagegen behauptet Cusanus zunächst nur: Id autem, quod non est nec maius nec minus, vocamus aequale (de sap. II; n. 41,7 f.; h V 74). Gemeint sein kann mit diesem »nec maius nec minus« eine Indifferenz, welche sowohl eine Gleichheit als auch eine Nicht-Gleichheit von Kreis und Quadrat behauptet und daher durchaus nicht mit absoluter, genauer Gleichheit (aequalitas praecisa) identisch ist (vgl. dazu oben, 170 f.). Doch auch die absolute Gleichheit ist von einem »nec maius nec minus« gekennzeichnet, und zwar in dem Sinne, daß von ihr Größenverhältnisse überhaupt nicht gelten. Im »nec maius nec minus« denkt also Cusanus sowohl die mathematisch unmögliche Angabe von Größenverhältnissen (d. h. für Cusanus: die unmögliche Angabe von rationalen Bruchteilen) als auch die Dementierung von Größenverhältnissen überhaupt zusammen: Das ›weder − noch‹ signalisiert sowohl die kopulative als auch die absolute Koinzidenz von Gleichheit und Nicht-Gleichheit. Es ist daher fraglich, ob Cusanus in seinen mathematischen Schriften tatsächlich »nur ganz allgemeine und unklare Vorstellungen von der anzuwendenden Schlußtechnik« (so Hofmann in: H 11, XXXI) hat. 340 Vgl. Beierwaltes, Platonismus im Christentum (wie Anm. 190) 164 f.

3. Endlichkeit und Negation der Koinzidenz

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Nichtandere ›im‹ jeweils Nichtanderen ist, so ist es auch das Andere ›im‹ jeweils Anderen (aliud aliorum): Qui videt, quomodo ›non aliud‹, quod est aliud ipsius aliud, non est ipsum aliud, ille videt aliud ipsius aliud, quod est aliud aliorum. […] ›non aliud‹, quod est aliud ipsius aliud, […] ab ipso [alio] non est aliud, sed in ipso [alio] ipsum.341 Demgegenüber scheint der Eckhartische Gedanke des »deus sua indistinctione dinstinguitur« zugleich weniger und mehr zu besagen: weniger, insofern »indistinctio« einen gleich-gültig affirmativen Bezug Gottes auf sich und seine Schöpfung besagt und daher nicht den Grund benennt auch für die Andersheit des Endlichen. Eckharts Gedanke der »indistinctio« impliziert vielmehr die Nichtigkeit des Endlichen, d. h. dessen reine, von Gott gleich-gültig affirmierte Relationalität auf Gott hin. Im Gegensatz zum Cusanischen »non aliud« ist der Eckhartischen »indistinctio« nicht der Grund für die dem Geschaffenen immanente Andersheit zu entnehmen. Eben deshalb besagt die Eckhartische »indistinctio« zugleich mehr als das Cusanische »non aliud«: Sie ist ebensogut Aufforderung zur affirmativen Gleich-gültigkeit, die es auch in der Endlichkeit zu realisieren gilt. Es geht Eckhart um eine bedingungslose GleichGültigkeit, die kein Interesse am Wiegen und Abwägen des Verschiedenen hat, ja die selbst zwischen einem »spernere mundum« und einem »spernere nullum«342 keine erst abzuwägende Alternative erblickt. Im »non aliud« ist Andersheit nicht negiert oder ausgeschlossen als eine NichtAndersheit, die intrinsische Selbst-Identität meint. Andersheit scheint für Cusanus vielmehr erst dann in ihren Grund zurückgeführt, wenn sie mit Nichtandersheit absolut koinzidiert. Andersheit ist im »non aliud« beschlossen als Andersheit ohne Andersheit. Das »non aliud« ist − bereits seiner sprachlichen Form nach − genausogut es selbst (non aliud quam non aliud) wie auch Andersheit ohne Andersheit (aliud sine alio).343 Wenn daher Cusanus vom Anderen spricht, »welches ohne das Andere das Nichtandere wäre«,344 dann ist für die ›Etablierung‹ des Nichtanderen kein Verschwinden des Anderen vonnöten. Aus einem ›das Andere minus das Andere‹ (sub-

de non aliud; prop. 18 (h XIII 64,17−19). Vgl. oben, 52 f. 343 Siehe auch de vis dei 17; n. 75,1 f. (h VI 60): Unde pluralitas, quae in te deo meo per me videtur, est alteritas sine alteritate, quia est alteritas quae identitas. − Die Wendung »alteritas sine alteritate« markiert also kein Nullsummenspiel, bei dem Andersheit auf Identität hinausläuft oder sich zugunsten von Identität aufhebt (alteritas quae identitas). Andersheit, die Identität ist, wirkt auch auf den Begriff der Identität zurück: Andersheit ist hier so Andersheit, daß sie Identität ist; und umgekehrt: Identität ist hier so Identität, daß sie Andersheit ist. Identität ist hier also nicht einfach Identität ohne Andersheit, sondern sie ist Andersheit ohne Andersheit − Andersheit, die keine Andersheit gegenüber einem Anderen (aliud ab alio) ist. Für diese Gedankenfigur vgl. ebd. n. 73,6−8 (h VI 59 f.): Pluralitas igitur […] est ita pluralitas quod unitas, et unitas est ita unitas, quod pluralitas. 344 de non aliud 8 (h XIII 17,7): aliud quod sine alio ›non aliud‹ foret. 341 342

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II. Nicolaus Cusanus

tracto alio) ergibt sich nicht ›das Nichtandere‹ (non aliud). Im Gegenteil: Das Andere als Anderes fügt dem »non aliud« selbst nichts hinzu, es bedarf daher auch keiner ›Subtraktion‹, die das Andere zugunsten des »non aliud« zum Verschwinden bringt. Ebensowenig aber fügt das »non aliud« dem Anderen etwas hinzu, also auch keinen Identitätsaspekt, welcher über die Andersheit des Anderen hinausginge. Daher kann sich das Andere ohne das »non aliud« auch nicht als Anderes halten: »subtracto ipso ›non aliud‹ non remanet nec aliud, nec nihil, cum non aliud sit nihil ipsius nihil«.345 Aus diesem Grund kann Cusanus auch sagen, daß Gott die Andersheit nicht erschafft.346 Daraus folgt aber nicht sogleich, daß sich Andersheit beim ›Schöpfungsvorgang‹ einfach so nebenbei (contingenter) ergibt oder einstellt.347 Denn Gott erschafft auch keine Einheit ohne Andersheit, welche letztere dann irgendwie zum Geschaffenen hinzukommt. Vielmehr erschafft Gott das Endliche als Anderes: Caelum enim non est terra, licet verum sit caelum esse caelum et terram terram. Si igitur quaesio alteritatem, quae neque in te neque extra te est, ubi reperiam? Et si non est, quomodo terra est alia craetura quam caelum? Nam sine alteritate non potest hoc concipi.348 Wenn daher Gott weder Andersheit noch Einheit ohne Andersheit erschafft und er zugleich der Grund von allem Endlichem, Anderem ist, dann kann Gott nicht bloß als Einheit ohne Andersheit gedacht werden: Diese exklusive, ausschließende ›Einheit ohne Andersheit‹ erklärt weder, woher die Andersheit des Endlichen stammt, noch erklärt sie, woher die Negation ›in‹ jener Einheit, die ohne Andersheit sein soll, stammt. Als das »non aliud« muß Gott daher auch und vor allem als Andersheit ohne Andersheit gedacht werden: Andersheit ist kein eigenständiges Seinsprinzip, das bei der 345 de non aliud; prop. 7 (h XIII 61,25 f.). Vgl. auch ebd. 4 (h XIII 10,26−28): ita ›non aliud‹ ante omnia, quod ex hiis, quae post ipsum videntur, nullis abesse possit, si quidem etiam sint contradictoria. 346 So z. B. de ludo gl. II; n. 81,5 f. (h IX 99). 347 Zu diesem Verständnis von »contingenter« siehe etwa M. Thomas, »Zum Ursprung der Andersheit (Alteritas). Ein Problem im cusanischen Denken«, in: MFCG 22 (1995), 55−67; hier 56 f. Vgl. auch K. Bormann, »Zur Lehre des Nikolaus von Kues von der ›Andersheit‹ und deren Quellen«, in: MFCG 10 (1973), 130−137. 348 de vis. dei 14; n. 58,8−11 (h VI 49). − M. Thomas bemerkt hierzu treffend: »Einerseits soll und kann die Andersheit überhaupt nicht in sich sein, andererseits scheint die Existenz von andersartigen Kreaturen ihre Wirklichkeit zu postulieren« (Thomas, »Zum Ursprung der Andersheit« [wie Anm. 347], 61). Die Lösung, die Thomas selbst für dieses Problem anbietet, scheint mir allerdings das Problem nur noch einmal zu beschreiben: »Die Andersheit von nichtgöttlichem Seienden gegenüber Gott beruht einzig darauf, daß dieses nicht mehr die ursprüngliche Vollkommenheit und Seinsfülle Gottes zu sein vermag« (ebd. 64; im Original gesperrt; Hervorh. StG). Warum aber vermag das endliche Sein »nicht mehr« die göttliche Seinsfülle zu sein? Man müßte darauf wohl antworten: eben nur aufgrund seiner Andersheit. Dann aber beruht die Andersheit des endlichen Seins nicht auf diesem ›nicht mehr die Seinsfülle Gottes sein‹, sondern besteht darin.

3. Endlichkeit und Negation der Koinzidenz

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Erschaffung von endlichen Einheiten noch hinzukommt. Das heißt aber: Andersheit liegt weder ›innerhalb‹ noch ›außerhalb‹ von Gott gesondert vor. Insofern erschafft Gott die kopulative Koinzidenz von Einheit und Andersheit: Einheit als Andersheit; und d. h. zugleich: Andersheit als Einheit. Die Andersheit tritt nicht ›von außen‹ hinzu, sondern entfaltet sich aus der absoluten in die kopulative Koinzidenz von Einheit und Andersheit. Im Terminus »non aliud« faltet Cusanus somit jene Logik der Negation ein, mit der er den Begriff der absoluten Koinzidenz selbst entfaltet hatte.349 Das Nichtandere steht in keinem Gegensatz zum Anderen (est non aliud ab alio); daher gilt vom »non aliud« erstens nicht die Disjunktion: ¬ A ∨ A. Diese Nichtandersheit gegenüber dem Anderen meint aber keinen Ineinsfall des Nichtanderen mit dem Anderen (non est idem cum alio); daher gilt vom »non aliud« zweitens nicht das kopulative Zugleich: ¬ A ∧ A. Wenn also beide Möglichkeiten, das »non aliud« als es selbst zu denken, ausgeschlossen sind − wenn also vom »non aliud« erstens gilt: ¬ (¬ A ∨ A); und zweitens: ¬ (¬ A ∧ A) −, dann ist damit eine Negation der Disjunktion und Kopulation von »non aliud« und »aliud« angezeigt. Das »non aliud« selbst meint weder eine Disjunktion vom Anderen (ein Anderssein gegenüber dem Anderen) noch eine Kopulation mit dem Anderen (ein Nicht-Anderssein als das Andere): ¬ D ∧ ¬ K. Dieses ›weder − noch‹ markiert jedoch nicht einfach den Schlußpunkt einer radikal negativen Theologie, die in einem »nihil omnium« gipfelt, sondern es hält ineins damit die gleichzeitige Gültigkeit jener Disjunktion und Kopulation offen: ¬ (D ∨ K). Die Unmöglichkeit, daß das Nichtandere nichts anderes ist als das Andere, schließt nicht aus, daß das Nichtandere gegenüber dem Anderen kein Anderes ist. Vielmehr Vgl. dafür das oben, 155 ff. Ausgeführte. − Wenn hier die Cusanischen Termini »explicatio« und »complicatio« auf den Cusanischen Terminus »non aliud« selbst angewendet werden, so hat dies seinen Anhalt bei Cusanus selbst: Seine Ausführungen über das Maximum als Einfaltung und Ausfaltung im 2. Buch von docta ign. versteht Cusanus ihrerseits als Entfaltung (explicatio) dessen, was bereits im ersten Teil dieses Werkes eingefaltet (complicatum) ist: Nihil dici aut cogitari potest de veritate investigabili, quod in prima parte [sc. huius operis] non sit complicatum (docta ign. II 3; n. 105; h I 69,4 f.). A. Moritz scheint mir dagegen das Cusanische Reflexionsniveau zu unterbieten, wenn er meint, Cusanus wolle hier mittels einer »profanen Anwendung« des complicatio-explicatio-Schemas auf den eigenen Text nur die Widerspruchsfreiheit zwischen dem ersten und dem zweiten Buch von docta ign. betonen (Moritz, Explizite Komplikationen [wie Anm. 247], 46). ›Complicatio‹ meint für Cusanus nicht einfach Widerspruchsfreiheit oder »Exklusion von Gegensätzen« (ebd., 47). Mit diesem Terminus sucht Cusanus vielmehr den Grund der Widerspruchsfreiheit des Widersprüchlichen zu denken und diesen Grund auch für seinen eigenen Text zu reklamieren. Kurzum: Cusanus behauptet nicht, daß alles Folgende bereits im ersten Buch von docta ign. impliziert ist und nur noch expliziert zu werden braucht, sondern daß der Text von docta ign. die im ersten Buch behandelte absolute Koinzidenz in die kopulative Koinzidenz des Universums entfaltet. Für diese Entfaltung der absoluten in die kopulative Koinzidenz kann aber schwerlich ein anspruchsloser oder »profaner Begriff« von Widerspruchsfreiheit im Sinne einer abstrakten »Exklusion von Gegensätzen« in Anspruch genommen werden. 349

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II. Nicolaus Cusanus

ist das »non aliud‹ im Anderen das Andere. Und umgekehrt: Daß das Nichtandere gegenüber dem Anderen kein Anderes ist, verdankt sich nicht dem Ausschluß der Möglichkeit, daß das Nichtandere nichts anderes ist als das Andere. Vielmehr ist das »non aliud« im Nicht-Anderen das Nichtandere. Die im Terminus »non aliud« angezeigte absolute Koinzidenz von Nichtandersheit und Andersheit ist »contradictio sine contradictione«350 − also weder Negation noch Affirmation des Widerspruchs (contradictio). Diese absolute Koinzidenz ist durchzogen von einer austarierten Logik der Negation, die alle Aussagemöglichkeiten − demnach auch Kontradiktionen wie »alteritas sine alteritate« − offenhält und begründet. Einheit ist dann absolute Einheit, nicht nur wenn sie Nichtandersheit bzw. Einheit ohne Andersheit ist, sondern wenn sie Andersheit ohne Andersheit ist, d. h. wenn sie Andersheit ist, ohne Andersheit gegenüber etwas Anderem zu sein: sicut alteritas in unitate est sine alteritate, quia unitas, sic contradictio in infinitate est sine contradictione, quia infinitas. Infinitas est ipsa simplicitas, contradictio sine alteratione non est. Alteritas autem in simplicitate sine alteratione est, quia ipsa simplicitas. Omnia enim, quae dicuntur de absoluta simpliciate, coincidunt cum ipsa, quia ibi habere est esse. Oppositio oppositorum est oppositio sine oppositione, sicut finis finitorum est finis sine fine.351 Als diese »oppositio oppositorum sine oppositione« meint das »non aliud« daher in erster Linie wohl keine »Gegensätzlichkeit (im Sinne von Andersheit oder Verschiedenheit) zu allem Gegensätzlichen, ohne selbst Gegensatz zu sein«.352 Es ließe sich eher sagen: Die Formel »oppositio oppositorum sine oppositione« indiziert eine Gegensätzlichkeit, die nicht ihrerseits in einem Gegensatz zur Gegensätzlichkeit von opposita steht. Die »oppositio oppositorum« verneint nicht die Gegensätzlichkeit des Gegensätzlichen, sondern begründet diese; sie ist nicht Gegensatz zum Gegensätzlichen, sondern die Gegensätzlichkeit des Gegensätzlichen. Das »non aliud« macht daher auch keinen Gegensatz zwischen sich und dem »aliud« namhaft, insofern sich an jedem der beiden Gegensatzglieder die Eigenschaft bemerkbar macht, jeweils nichts anderes ist als es selbst (non aliud quam) zu sein. Dieser Gegensatz zwischen dem »non aliud« und dem »aliud« könnte wieder aufgehoben werden, da das »non aliud« zugleich noch die Bedeutungsvalenz bzw. die Eigenschaft hat, kein Anderes gegenüber dem Anderen (non aliud ab alio) zu sein. Vielmehr indiziert der Terminus »non aliud« die absolute Koinzidenz, die die Gegensätzlichkeit von opposita in sich einfaltet und daher nicht bloß ihren Gegensatz zur Gegensätzlichkeit zum Ausdruck bringt. Das »non aliud« markierte sonst einen

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de vis. dei 13; n. 53,17 (h VI 46); de non aliud 19 (h XIII 47,4 f.). de vis. dei 13; n. 54,1−8 (h VI 46). Beierwaltes, »Deus Oppositio oppositorum« (wie Anm. 161), 179; Hervorh. StG.

3. Endlichkeit und Negation der Koinzidenz

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Ausschluß von aller Gegensätzlichkeit aus sich selbst (non aliud = nulla oppositio sive alteritas in ipso ›non aliud‹) und ineins damit einen Ausschluß seiner selbst von aller Gegensätzlichkeit (non aliud = oppositio oppositionum sive alteritas ab oppositione). Das »non aliud« wäre von keiner Gegensätzlichkeit bestimmt – und bestimmte gerade dadurch sich selbst gegenüber aller Gegensätzlichkeit. Der Gedanke der »oppositio sine oppositione« meint daher wohl kaum ein kopulatives Zugleich von Gegensatzlosigkeit und Gegensätzlichkeit zu etwas, also keine Gegensatzlosigkeit, die zugleich im bestimmten Gegensatz zur Gegensätzlichkeit steht. Vielmehr meint dieser Gedanke offenbar eine Gegensatzlosigkeit, die ohne Gegensatz zur Gegensätzlichkeit ist und bleibt und die damit erst die Gegensätzlichkeit des Gegensätzlichen selbst zu begründen vermag. Als das »non aliud« ist Gott die Gegensätzlichkeit des Gegensätzlichen (oppositio oppositorum), wie er »omnium quidditatum quidditas« ist.353 Das »non aliud« impliziert also nicht sowohl Gegensatzlosigkeit als auch Gegensätzlichkeit, sondern es meint weder eine Gegensatzlosigkeit noch eine Gegensätzlichkeit. Koinzidenz ist kein Paradoxon, in dem sich beliebige kontradiktorische Verhältnisbestimmungen kopulativ zusammenspannen lassen: Gegensätzlichkeit und Gegensatzlosigkeit; Andersheit und Nichtandersheit. Vielmehr geht es Cusanus von vornherein darum, solch eine kopulative Koinzidenz in ihrer Beschränktheit einsichtig zu machen: Solange Koinzidenz zur Kontradiktion in Widerspruch steht, ist der Koinzidenz schlimmstenfalls ein ›translogischer‹ oder ›paradoxer‹ Charakter, bestenfalls eine regionale Geltung zugestanden, von der nicht ganz klar ist, ob und wie sie den logischen Bereich des ausgeschlossenen Dritten überhaupt zu konstituieren vermag. Genau diesen Widerspruch von Kontradiktion und kopulativer Koinzidenz sucht Cusanus für den Begriff der absoluten Koinzidenz zu überwinden mittels einer Logik der Negation: Absolute Koinzidenz meint weder eine Disjunktion noch eine Konjunktion kontradiktorischer Gegensätze − und ermöglicht eben dadurch sowohl deren Disjunktion als auch Konjunktion. Ebensowenig wie der Cusanische Koinzidenzbegriff auf eine radikal negative Theologie hinausläuft, deren apophatisches ›Weder − noch‹ alle Denk- und Aussagemöglichkeiten desavouiert, ebensowenig ist dieser Begriff, um Hegels bissiges Diktum zu verwenden, »die Gosse, worin alle die Widersprüche zusammenlaufen«.

Vgl. de non aliud 22 (h XIII 53,27). − Siehe etwa auch ebd. prop. 4 (h XIII 61,14−18): Qui videt ipsum ›non aliud‹ principium definire, cum principium sit non aliud quam principium, ipsum ›non aliud‹ videt principium esse principii, sic ipsum quoque videt medium medii, finem finis et nomen nominis et ens entis et non-ens non-entis atque ita de omnibus et singulis, quae dici possunt aut cogitari. 353

Ü BERLEITUNG

Anders als bei Eckhart dient bei Cusanus die absolute Negation nicht der Überwindung von Vielheit, sondern deren Begründung. Die absolute Negation von Vielheit und Andersheit hat hier nicht die Gestalt eines gleich-gültig affirmativen Bezuges, der jedes unterschiedliche Bezogensein auf die Vielheit der Dinge hinter sich gelassen hat, sondern beschreibt einen Bezug, der die jeweilige Singularität und Nicht-Andersheit der Einzeldinge allererst begründet. Die Vielheit und die jeweilige Andersheit alles Endlichen erhält dadurch einen irreduziblen Charakter. Am eindruckvollsten legt der Cusanische Begriff der proportio davon Zeugnis ab, da sich mit ihm die Verschiedenheit der Dinge als verschiedene Spielarten der koinzidentalen Verschränkung von Einheit und Vielheit fassen lassen. Dies gilt z. B. für die Reihe der natürlichen Zahlen ebenso wie für die Wiege- und Meßexperimente des Idiota. Den gesamten Kosmos durchzieht eine proportional faßbare Koinzidenz von Einheit und Vielheit, wodurch die proportio zu einem stabilisierenden, da nicht steigerungsfähigen Faktor wird. Alles Endliche ist proportional verfaßt, dies aber nicht in verschiedenen Abstufungen von Proportionalität.1 Die koinzidentale Verschränkung von Einheit und Vielheit meint also mehr als nur die Negation von Gegensätzen bzw. von Andersheit. Die jeweilige Nicht-Andersheit eines Einzeldinges ist kein exklusives Merkmal für den Ausschluß von Andersheit aus diesem Einzelding und damit für seine Einheit oder Selbstidentität. Einheit ist damit kein herausragender Aspekt am »non-aliud«, was sich an der ausnahmslosen Anwendbarkeit der Formel »x est non aliud quam x« zeigt: Einheit kommt nur in der (im privativen Sinn) unendlich wiederholbaren Anwendung des »non aliud quam« zum Vorschein. Die Einheit alles Endlichen besteht im durchgängigen Nicht-Anderssein der Einzeldinge. In seinem jeweiligen Nicht-Anderssein ist jedes Einzelding gerade kein eindeutig Anderes gegenüber einem anderen Einzelding und bleibt somit in proportionale Verhältnisse eingebettet. Diese durchgängige Einheit des »non aliud quam« negiert die Verschiedenheit alles Endlichen gerade nicht und stellt in eins damit die Einheit des Universums sicher. Das »non-aliud« ist daher nicht primär als Einheit im Sinne des Ausschlusses von Andersheit beschreib-

Proportionen lassen zwar verschiedene Zahlenwerte zu, ohne daß sich jedoch das proportionale Verhältnis als solches dabei ändert. So ist etwa der numerische Wert von 120 höher als derjenige von 60, und dieser wiederum höher als derjenige von 40. Mag auch die jeweilige Proportion einen anderen numerischen Wert haben (2 : 1 bzw. 3 : 2), so ist doch keines der beiden Verhältnisse ›proportionaler‹ gegenüber der jeweils anderen Proportion. 1

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Überleitung

bar. Ansonsten wäre die Andersheit nur eine Folgeerscheinung von Einheit, die dem nachträglichen Bezug einer Einheit auf andere Einheiten entspringt. Die Einheit alles Endlichen liegt also nicht jenseits seiner Andersheit, sondern in dieser beschlossen. Einheit und Andersheit sind keine differenzierbaren Aspekte, von denen derjenige der Einheit den primären und positiven (im Sinne eines Ausschlusses von Andersheit) darstellt. Vielmehr bringt das Konzept der kopulativen Koinzidenz es mit sich, daß eine bestimmte Verschränkung von Einheit und Andersheit in einer proportional ausdrückbaren Beziehung steht zu einer anderen Verschränkung von Einheit und Andersheit. Und so versteht Cusanus etwa die Reihe der natürlichen Zahlen als die Ausfaltung der Einheit in Andersheit, d. h. in den jeweiligen numerischen Wert einer bestimmten Zahl, und zugleich als die Einfaltung der Andersheit in die Einheit aller Zahlen als Zahlen. Dieses proportionale Fortschreiten der Zahlen legt die prinzipiell unabschließbaren Verhältnisse ein und desselben Verhältnisses – der koinzidentalen Verschränkung von Einheit und Andersheit – offen. Gottes absolute Koinzidenz hingegen denkt Cusanus als ein Verhältnis von Verhältnissen. Dies meint zunächst, daß Gott nicht in einem proportionalen Verhältnis zu dem von ihm Erschaffenen steht und daß somit die Konjunktion von Gegensätzen nicht hinreicht für die Beschreibung der absoluten Koinzidenz. Für eine adäquate Erfassung der absoluten Koinzidenz ist daher die Negation der kopulativen Koinzidenz erforderlich, und zwar so, daß diese Negation keinen eindeutigen Ausschluß der kopulativen aus der absoluten Koinzidenz erbringt. Der Grund dafür, daß für Cusanus hier die Negation der kopulativen Koinzidenz unumgänglich wird, liegt nun darin, daß diese Koinzidenz als Negation von Gegensätzen verstanden werden kann und damit ihrerseits in einem Gegensatz zum ausgeschlossenen Dritten steht: A ∧ ¬ A ⇔ ¬ (A ∨ ¬ A). Die gesuchte Einschränkung der kopulativen Koinzidenz findet Cusanus in der disjunktiven Negation von Gegensätzen (»weder A noch non-A«). Mit dieser Negationsform stellt sich in Bezug auf die kopulative Koinzidenz von Gegensätzen eine Doppeldeutigkeit ein, die mit dem Skopus dieser Negation zusammenhängt und die sich Cusanus für seine Zwecke zunutze macht: Der Skopus dieser disjunktiven Negation kann sich das eine Mal auf die Konjunktion als solche richten, das andere Mal aber auf die Glieder dieser Konjunktion. 1. Und so kann jenes »weder A noch non-A« zum einen in dem Sinne aufgefaßt werden, daß die absolute Koinzidenz eben kein »sowohl A als auch non-A« meint und die Konjunktion von Gegensätzen verneint: A │ ¬ A ⇔ ¬ (A ∧ ¬ A). Aus dieser Negation kann allerdings nicht einfach folgen, daß die disjunktive Negation von Gegensätzen nun ihrerseits in einen Gegensatz zur Konjunktion von Gegensätzen tritt. Wenn nämlich gälte, daß die absolute Koinzidenz kein Zugleich von A und non-A mehr zuläßt, dann fiele die absolute Koinzidenz mit der Disjunktion von Gegensätzen zusammen: ¬ (A ∧ ¬ A) ⇔ A ∨ ¬ A.

Überleitung

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2. Der Grund dafür, daß die absolute Koinzidenz gerade nicht in einen Gegensatz zur Konjunktion von Gegensätzen tritt, liegt an der zweiten Verständnismöglichkeit einer disjunktiven Negation von Gegensätzen. »Weder A noch non-A« meint zum anderen »sowohl nicht A als auch nicht non-A«: ¬ A ∧ ¬ (¬ A) ⇔ ¬ A ∧ A. Mit Hilfe der disjunktiven Negation von Gegensätzen bleibt die kopulative Koinzidenz, welche Gegensätzliches miteinander konjungiert, in der absoluten Koinzidenz gewahrt und wird zugleich negiert. Absolute Koinzidenz ist demnach in dem Sinne als Ausschluß von Andersheit zu verstehen, daß sie einen Gegensatz von Verhältnissen – der Konjunktion und der Disjunktion von Gegensätzlichem – negiert. Absolute Koinzidenz schließt nicht nur Anderes, Negatives aus sich aus, sondern die Andersheit der beiden Relationstypen, in denen zwei gegensätzliche Glieder stehen können (A ∧ ¬ A bzw. A ∨ ¬ A). Das absolute »non aliud« integriert diese Gegensatzrelationen in Form der »alteritas sine alteritate« und begründet damit Andersheit, nicht weil es das Verhältnis der Andersheit negiert, sondern weil es kein Anderes gegenüber bestimmten Verhältnissen, also auch nicht gegenüber der Disjunktion von Gegensätzlichem ist. Der Cusanische Koinzidenzgedanke verfolgt somit keine hegelisch anmutende Spielart einer selbstbezüglichen Negation, die sich im negativen Bezug auf sich selbst von sich selbst unterscheidet. Vielmehr intendiert die Cusanische Logik der Negation angesichts verschiedener Formen der Relation von Gegensätzlichem eine Gegensatzfreiheit dieser Relationen im Absoluten. Die folgenden Bemerkungen zu Hegel konzentrieren sich auf das Problem des absoluten Anfangs, wie er in der Logik des reinen Seins zur Darstellung kommt. Diesem absoluten Anfang kommt die Aufgabe zu, den dialektischen Prozeß der Begriffsbewegung in Gang zu bringen. Aber nicht nur dies: Der Anfang muß so konzipiert sein, daß aus ihm nicht ein Ergebnis resultiert, mit dem der Prozeß der logischen Gedankenbestimmungen sogleich wieder zum Erliegen kommt. Zu zeigen ist also, wie dieser Prozeß überhaupt in Gang kommt, nicht minder aber, wie er sich erhält. Prima facie ist dafür die logische Kategorie des Werdens prädisponiert, denn auch der logische Prozeß kann zumindest als ein Werden beschrieben werden, das ein Ergebnis erbringt. In seiner Logik des reinen Seins präsentiert Hegel allerdings das »Werden« als die dritte Kategorie und damit, so scheint es, als ein seinerseits Gewordenes, das aus dem wechselseitigen Übergang von Sein und Nichts resultiert. Es ist nun offensichtlich, daß diese Konstellation einer petitio principii gleichkommt: Die logische Kategorie »Werden« resultiert ihrerseits aus einem Werdeprozeß, für den diese logische Kategorie zwar nicht explizit, doch aber ›in Wahrheit‹ von vornherein in Anspruch genommen wird. Dieses Manko des logischen Anfangs ist aber nur so lange eines, als der Anfang selbst als ein Werdeprozeß vorgestellt wird. Für Hegel wird jedoch das Nichts nicht aus dem Sein, ebensowenig wird aber das

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Überleitung

Sein aus dem Nichts. Was »Werden« meint, ist daher erst aus der Struktur des logischen Anfangs zu erschließen und nicht umgekehrt der Anfang aus einem zum voraus gesetzten Begriff von Werden. Dies wiederum meint, daß die Wahrheit des logischen Anfangs nicht einfach mit der Kategorie »Werden« terminologisch auf einen Nenner gebracht ist. Die Kategorie »Werden« muß vielmehr so konzipiert sein, daß sie die Struktur des Anfangs aufnimmt und erhält. Diese Struktur erbringt kein positives Resultat, welches unter dem Terminus »Werden« rubriziert werden könnte, sondern sie kulminiert in der ominösen Formel vom »Verschwinden des Verschwindens«. Der logische Anfang ist damit von einem Verschwinden beherrscht, das sich im und als Verschwinden erhält. Den logischen Anfang denkt Hegel als das »Bleiben eben des Verschwindens«.2 Dadurch erst ist gesichert, daß der logische Anfang nicht bloß vorläufig bzw. zunächst einmal Anfang ist und dann, im Fortschreiten der logischen Gedankenbestimmungen, aufhört, Anfang zu sein. Diese etwas unorthodoxe These, der zufolge nicht das »Werden«, sondern das »Verschwinden des Verschwindens« den Kulminationspunkt der Logik des reinen Seins bildet, erfordert zunächst eine Auseinandersetzung mit einigen anders und ähnlich gelagerten Deutungen des »Logik«-Anfanges. Entgegen seinem ersten Anschein intendiert das folgende Hegel-Kapitel allerdings kein Stück immanenter Hegel-Exegese, das für Außenstehende nur mehr den Charakter eines »konsequenten Wörterschauspiels« (Jean Paul) besitzen kann. Der Horizont dieses Hegel-Kapitels ist das sachliche Problem der absoluten Negation, welches hier in der Frage auftritt, ob und wie das reine Sein selbst als selbstbezügliche Negation zu denken ist, und welches hier in der Formel »Verschwinden des Verschwindens« seine Lösung findet.

2

Enz. § 261, Zusatz (WW 9, 59).

III. HEGEL

Das Problem sowohl des Anfangs als auch des Anfangens ist bei Hegel derart intrikat, daß für den Anfang der »Wissenschaft der Logik« gerne die Rede von seiner »Sonderstellung«1 oder von einem »Sonderfall«2 in Anspruch genommen wird.3 Gesteht man dem Anfang der Hegelschen »Logik« eine derartige Sonderrolle zu, dann sieht sich dieser Befund offensichtlich mit zwei Problemfeldern konfrontiert, die wesentlich miteinander zu tun haben. Zum einen nötigt jene Besonderheit des Anfangs zu einer ganz besonderen interpretatorischen Aufmerksamkeit, die in erster Linie dem Problem nachzugehen hat, wie es denn um dem Anfangscharakter des »Logik«-Anfanges selbst bestellt ist: Handelt es sich hierbei tatsächlich um einen »durch kein anderes bestimmte[n] Anfang«,4 der mit dem einfachsten Gedanken ›Sein‹ einsetzt und von dem alle Einfälle der äußeren Reflexion ferngehalten werden können? Ist der absolute Anfang überhaupt einer Rekonstruktion zugänglich oder sind die zahlreichen diesbezüglichen Versuche der Hegel-Deutung von vornherein zum Scheitern verurteilt? Doch selbst wenn eine solche Rekonstruktion der internen Struktur des Anfangs gelingt, ist zum anderen noch nicht ausgemacht, inwiefern der Anfang der »Logik« auch Anfang für das Nachfolgende sein kann: Welche Art von Begründung vermag der Anfang für das aus ihm Entwickelte überhaupt zu leisten, wenn der Anfang selbst keine Reflexionsbestimmung, also auch nicht seinen gründenden Charakter, voraussetzen kann? Diese beiden Problemkreise − einerseits den sozusagen intrinsischen, keiner Fremdbestimmung zugänglichen und andererseits den relationalen Charakter des Anfangs − hat die Hegel-Interpretation zu Recht mit dem Gedanken der Negation in Verbindung gebracht, ja im Gedanken der Negation verbunden: Als unbestimmt unmittelbarer muß der logische Anfang zugleich »von selbst zu anderen Gedanken«5 führen, wenn er denn ein absoluter sein soll.

Th. Kesselring, »Voraussetzungen und dialektische Struktur des Anfangs der Hegelschen Logik«, in: Das Problem der Dialektik, hg. von D. Wandschneider, Bonn 1997, 90−113; hier 90. 2 H.-G. Gadamer, »Die Idee der Hegelschen Logik«, in: ders., Hegels Dialektik. Fünf hermeneutische Studien, Tübingen 1971, 49−69; hier 60. 3 Vgl. dazu etwa auch M. Theunissen, Sein und Schein. Die kritische Funktion der Hegelschen Logik, Frankfurt a. M. 1978, 130 f. 4 H. F. Fulda, »Über den spekulativen Anfang«, in: Subjektivität und Metaphysik (FS W. Cramer), hg. von D. Henrich und H. Wagner, Frankfurt a. M. 1966, 109−127; hier 121. 5 Fulda, »Über den spekulativen Anfang« (wie Anm. 4), 121; Hervorh. StG. 1

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III. Hegel

In einem ersten Schritt sollen nun drei etablierte Deutungsansätze der modernen Hegel-Forschung diskutiert werden, die den Anfang der Hegelschen »Logik« in je anderer Weise mit dem Gedanken der Negation verknüpfen. Die folgenden Bemerkungen dienen dabei der Exposition der Frage, was sich aus dem Problem des Anfangs für den Hegelschen Gedanken der Negation gewinnen läßt. Im übrigen scheint mir das Problem des logischen Anfangs ein langsameres Vorgehen zu erfordern, und dies nicht nur aufgrund der erheblichen Verständnisschwierigkeiten, die der Anfang der Hegelschen »Logik« bietet, sondern auch angesichts der angebotenen Lösungsvorschläge. Denn offenbar ist der faktische Ausgang der »Logik« von der Kategorie ›Sein‹ argumentativ derart instabil und in einer Bewegung des Übergangs befangen, daß die im eigentlichen Sinne erste, anfängliche Kategorie offenbar mit dem ›Werden‹ erreicht ist, das diese Bewegung zumindest terminologisch auf den Punkt bringt und an dem ein argumentativ ausweisbares Denken ansetzen kann.6 Interpretatorische Siebenmeilenstiefel sind also für den Beginn der Hegelschen »Logik« um so weniger angebracht, als Hegel dort entscheidende Weichenstellungen für sein gesamtes Unternehmen vornimmt.7

6 Bekanntlich stellt für H.-G. Gadamer der Begriff des Werdens den ersten überzeugenden und einem Verständnis zugänglichen Gedanken der »Logik« dar, als dessen analytische Momente das Sein und das Nichts zu behandeln sind. Erst »im vollen und reinen Inhalt des Begriffs ›Werden‹« sind auch Sein und Nichts als unterschiedene Momente faßbar. Vgl. dazu Gadamer, »Die Idee der Hegelschen Logik« (wie Anm.2), 60 f. Gadamers Präferenz des Werdens hat ihren Vorläufer in Heidegger: »Womit fängt Hegels eigentliche Philosophie, die ›Logik‹, an? Mit dem ›Werden‹ – es ist ›Grund‹; nicht etwa das ›Sein‹, dieses ist Ausgang!« (M. Heidegger, Hegel. 1. Die Negativität (1938/39); 2. Erläuterung der »Einleitung« zu Hegels »Phänomenologie des Geistes« (1942), hg. von I. Schüßler, Frankfurt a. M. 1993, 12. Vgl. auch ebd., 16; 52; sowie ders., Sein und Zeit § 82, Tübingen 192006, 430 ff.). An dieser Einschätzung hat sich bis heute wenig geändert. Vgl. dazu etwa T. Spies, Die Negativität des Absoluten. Hegel und das Problem der Gottesbeweise, Marburg 2006, 90: »Der erste eigentliche Begriff der Wissenschaft ist das Werden als ›Einheit des Seins und Nichts‹.« 7 Hegel warnt zwar in der Vorrede zur zweiten Ausgabe seiner »Logik« vor der falsch verstandenen »Gründlichkeit« eines interpretatorischen Vorgehens, »den Anfang, als den Grund, worauf alles gebaut sey, vor Allem aus [also: zu allererst] zu untersuchen, ja nicht weiter zu gehen, als bis er sich fest erwiesen hat« (WdL, GW 21, 19/7−9). Damit empfiehlt Hegel dem Leser jedoch nicht zur »Erleichterung für das Denkgeschäft« (ebd., 19/11), den Anfang möglichst schnell hinter sich zu bringen und sich auf das ihm Folgende zu konzentrieren. Im Gegenteil: Als »das Einfache, das Einfachste selbst« erleichtert der Anfang sein vorschnelles »Abthun« (ebd., 19/13 f.), das sich dann umso mehr im Recht sieht, »alles noch folgende zu verwerfen« (ebd. 19/10). Gerade die viel kritisierten »ersten Begriffe oder Sätze der Logik, das Seyn und Ni c hts und das We r de n,« (ebd., 19/4 f.) sieht Hegel der »Bewußtlosigkeit« und dem »Grund-Mißverständniß« ausgesetzt, »bey einer Kategorie, die betrachtet wird, e t w as A n de r es zu denken und nicht diese Kategorie selbst« (ebd., 18/34−37). Dies heißt zugleich, daß man es sich mit dem logischen Anfang eben doch nicht zu einfach machen darf: Es gilt ja den Anfang selbst zu denken und keine »andere[n] Denkbestimmungen und Begriffe« (ebd. 19/1). − Über die zeitgenössische Kritik am »Logik«-Anfang unterrichtet ausführlich B. Burkhardt, Hegels »Wissenschaft der Logik« im Spannungsfeld der Kritik. Historische und systematische Untersuchungen zur Diskussion um Funktion und Leistungsfähigkeit von Hegels »Wissenschaft der Logik« bis 1831, Hildesheim (u. a.) 1993.

1. Das Problem des Anfangs

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1. Das Problem des Anfangs 1.1 Diskrepanz von Anfang an: ›Sein‹ als ›Nichts‹ Für den ersten der erwähnten Deutungsansätze läßt sich paradigmatisch anhand der anfänglichen logischen Kategorie ›Sein‹ zeigen, daß und wie von Anbeginn der Hegelschen »Logik« jede logische Kategorie »(mit Ausnahme der Abschlußbestimmung) eine semantisch-pragmatische Diskrepanz«8 impliziert. Allgemein gesprochen, beruht diese Diskrepanz darauf, daß jede Kategorie ihrem semantischen Gehalt nach einen Anspruch erhebt, hinter dem sie als Kategorie offensichtlich zurückbleibt. Für jede Kategorie ist der Mangel kennzeichnend, daß sie in Wahrheit mehr bedeutet, als es zunächst den Anschein hat. Dieser, wenn man so sagen kann, semantische ›Mehrwert‹ einer Kategorie läßt sich nur aufdecken und explizieren mittels der Verwendung von weiteren Kategorien. Die Einführung weiterer, anderer Kategorien mag zunächst nicht durch jene erste Kategorie selbst fundiert sein, sie kann mithin als das Ergebnis einer äußerlichen Reflexion erscheinen. Eigentlich jedoch muß diese Einführung weiterer Kategorien dem Mangel geschuldet sein, den jene erstere Kategorie an sich selbst aufweist − nämlich (noch) nicht dasjenige zu sein, was sie ihrem Anspruch nach explizit behauptet. Jener Mangel ist daher kein bloßer Selbstwiderspruch einer logischen Kategorie, der unaufhebbar in sich selbst verharrt, sondern er markiert geradezu einen Überschuß an Bedeutung, dem freilich der Mangel anhaftet, noch nicht explizit, ›gesetzt‹ worden zu sein. Gerade auch die anfängliche Kategorie ›Sein‹ muß diesen Mangel in einem eminenten Maß an sich aufweisen, welcher den logischen Anfang dann über sich selbst hinaustreiben kann. Jene semantisch-pragmatische Diskrepanz ist nun von einzelnen Forschern verschieden benannt und beleuchtet worden: Im Rückgriff auf die Fassung der Seinslogik von 1812/13 spricht W. Wieland von einer »Diskrepanz besonderer Art«, die sich zeigt, sobald der Versuch unternommen wird, die logische Kategorie ›Sein‹ mittels eines Satzurteils zu bestimmen.9 Ein derartiger Versuch, dem vollkommen unbestimmten Sein ein Prädikat zuzusprechen, muß jedoch notwendig fehlschlagen. Hegels Formulierung »Das Seyn ist Nichts«10 ist geradezu das − augenscheinlich in einer

D. Wandschneider, »Zur Struktur dialektischer Begriffsbestimmung«, in: Das Problem der Dialektik, hg. von D. Wandschneider, Bonn 1997, 114−169; hier 116. 9 W. Wieland, »Bemerkungen zum Anfang von Hegels Logik« [1973], in: Seminar: Dialektik in der Philosophie Hegels, hg. von R.-P. Horstmann, Frankfurt a. M. 21989, 194−212; hier 196. – Wieland bezieht sich hier vornehmlich auf eine Passage aus der »Logik« von 1812/13, die sich innerhalb der 2. Anmerkung zur Logik des reinen Seins findet (GW 11, 50–54). Diese Passage hat Hegel in die »Logik« von 1832 nicht wieder aufgenommen. 10 WdL (GW 11, 54/4). 8

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III. Hegel

Satzform ratifizierte − Resultat des Versuchs, über das vollkommen unbestimmte ›Sein‹ eine bestimmte und bestimmende Aussage zu treffen. Jenes ›Nichts‹ stellt dabei »nur scheinbar ein gewöhnliches Prädikatsnomen« dar; vielmehr weist es »auf die Tatsache hin, daß ein echtes Prädikat oder ein echtes Prädikatsnomen [für ›Sein‹] nicht gefunden werden kann«.11 Indem hier »Nichts« das Sein nicht einfach prädiziert oder bestimmt, sondern »nur eine Leerstelle« markiert, »ist man aber zur zweiten Kategorie gekommen, nämlich eben zur Kategorie des Nichts«.12 Es bleibt also bei der Bestimmung von ›Sein‹ buchstäblich ›Nichts‹ übrig, das seinerseits nicht mehr als ein bestimmendes Prädikat für ›Sein‹ fungieren kann. Die zweite Kategorie ›Nichts‹ entspringt bei diesem Verfahren genau genommen nicht unmittelbar aus der ersten Kategorie ›Sein‹. Vielmehr ist sie ein Resultat, das über die mißlungenen Bestimmungsversuche von ›Sein‹ vermittelt ist. Der »Impuls« zur Einführung einer weiteren Kategorie, d. h. des Nichts, entspringt daher nicht der Kategorie ›Sein‹ selbst, sondern kommt »gleichsam von außen«.13 Damit ist der logische Anfang zwar nicht »in strenger Weise hergeleitet« − wie sollte er dies auch, wenn er denn absoluter Anfang sein soll. Doch aber ist der logische Anfang »als solcher plausibel gemacht«.14 So wird nach Wieland verständlich, daß Hegel »mit der satzlosen Erwähnung der ersten Kategorie« beginnen muß.15 Verständlich wird aber dieser satzlose Beginn mit ›Sein‹ einzig unter der pragmatischen Voraussetzung, daß man tatsächlich den − in der Folge aussichtslosen − »Versuch einer Bestimmung des reinen Seins unternommen hat. Erst aus dem Resultat dieses Versuches bietet sich dem systematischen Fortgang die Kategorie des Nichts an«.16 Wenn Hegel einen solchen Bestimmungsversuch unternimmt, wendet er hier-

Wieland, »Bemerkungen zum Anfang von Hegels Logik« (wie Anm. 9), 195. Ebd. 13 Ebd. − Vgl. auch WdL (GW 11, 50/29−32): »Das Seyn selbst ist das Unbestimmte; es hat also keine Beziehung auf anderes; es scheint daher, daß von d ie s e m A nfa ng nicht weiter for tge ga n g en werden könne, nemlich aus ihm selbst, ohne daß von aussen etwas Fremdes daran geknüpft werde.« 14 Wieland, »Bemerkungen zum Anfang von Hegels Logik« (wie Anm. 9), 198. 15 Ebd., 199. − Hegel beginnt denn auch das erste Kapitel des ersten Abschnittes seiner »Lehre vom Sein« mit dem berühmten Anakoluth: »Sey n, r ei ne s Se yn , − ohne alle weitere Bestimmung« (WdL; GW 11, 43/20). Diesen satzlosen Beginn behält Hegel bekanntlich auch in der überarbeiteten Auflage seiner »Logik« von 1832 bei (WdL; GW 21, 68/29). Einzig den Haupttext zur Logik des reinen Seins hat Hegel in jener zweiten Ausgabe unverändert gelassen, während er die Anmerkungen zum Haupttext »gründlich überarbeitet« hat (D. Henrich, »Anfang und Methode der Logik« in: ders., Hegel im Kontext, Frankfurt a. M. 31981, 73−94; hier 91). Für eine Gegenüberstellung des ersten Abschnittes der Seinslogik in den beiden Auflagen vgl. etwa C.-A. Scheier, »Die Negation im Dasein. Zum systematischen Ort eines methodischen Terminus in Hegels Wissenschaft der Logik«, in: Hegels Seinslogik. Interpretationen und Perspektiven, hg. von A. Arndt und Ch. Iber, Berlin 2000, 202−214; hier 209 (tabellarischer Überblick). 16 Wieland, »Bemerkungen zum Anfang von Hegels Logik« (wie Anm. 9), 201. 11 12

1. Das Problem des Anfangs

233

bei ein »Exhaustionsverfahren«17 an, das jenen Anfang mit der satzlosen Behauptung von ›Sein‹ gewinnt aus einer stufenweisen Reduktion der prädikativen Satzstruktur vom Typus ›Das Sein ist …‹.18 Dieses Verfahren kann nach Wieland aufzeigen, daß die Kategorie des Seins etwas anderes ist, als sie bezeichnet − und etwas anderes, als sie meint, wenn man von ihr Gebrauch macht oder sie gar thematisiert. Man meint etwas Unbestimmtes und Ununterschiedenes; aber man bestimmt und unterscheidet es allein schon dadurch, daß man darüber Aussagen macht, gleichgültig ob man diesen Erfolg will oder nicht. Der Aufweis der Diskrepanz reicht also hin, den Fortgang zu erzwingen.19 Der Versuch einer Bestimmung der ersten Kategorie ›Sein‹ scheint demnach gleichermaßen unumgänglich wie unangemessen für jenes Unterfangen, welches mit ›Sein‹ den Anfang der Wissenschaft macht. Denn das alleinige Ziel, weswegen dieser Bestimmungsversuch überhaupt betrieben wird, besteht in seiner Falsifikation; die Demonstration seiner Unangemessenheit ist unumgänglich, weil nur diese Demonstration eine Überbeanspruchung des Anfangs verhindern kann: Hegel hat, so scheint es, mit jenem »Exhaustionsverfahren« bereits vorab denjenigen Interpreten den Wind aus den Segeln genommen, welche der anfänglichen Kategorie ›Sein‹ für gewöhnlich und »illegitimerweise ein zu hohes Maß an begrifflicher Differenzierung« unterstellen.20 Ein bestimmender Umgang mit dem logischen Anfang und der unbestimmte und unbestimmbare logische Anfang selbst zeigen sich somit als diskrepant. Allerdings wird diese Diskrepanz zu Beginn der »Logik« pragmatisch − eben mittels eines beWieland, »Bemerkungen zum Anfang von Hegels Logik« (wie Anm. 9), 198; 200. Hegel exerziert dieses Verfahren bekanntlich in vier Schritten durch (vgl. GW 11, 52/9−39): (a) Im Satz »Das Sein ist das Absolute« verfehlt die Verschiedenheit von Satzsubjekt und Prädikatsnomen das intentionale Korrelat dieses Satzes, d. h. die auszusagende Ununterschiedenheit von ›Sein‹. Diese Verschiedenheit bleibt auch dann erhalten, wenn (b) das Prädikatsnomen »das Absolute« durch das tautologische Prädikat »das Sein« ersetzt wird, ja selbst wenn (c) auf ein Prädikatsnomen ganz verzichtet wird (»Sein ist«). Wie rudimentär ein Satz über ›Sein‹ auch ausfällt, stets bleibt mit der formalen Satzstruktur, in der Subjekt und Prädikat auseinandergehalten werden können, »eine Differenz bestehen, deren Nichtexistenz gerade ausgesagt werden soll« (Wieland, »Bemerkungen zum Anfang von Hegels Logik« [wie Anm. 9], 198). Mithin muß (d) völlig auf die Form eines Behauptungssatzes verzichtet werden: Es bleibt nurmehr die bloße Erwähnung von ›Sein‹ – »satzlos ohne Behauptung oder Prädikat« (WdL; GW 11, 52/33 f.). Kesselring spricht angesichts von diesem Verfahren zu Recht von einer »Schrumpfungsbewegung des prädikativen bzw. des reinen Existenzsatzes zum bloßen Satzsubjekt (›Sein‹)« (Kesselring, »Voraussetzungen und dialektische Struktur des Anfangs« [wie Anm. 1], 110; dort Anm. 27). 19 Wieland, »Bemerkungen zum Anfang von Hegels Logik« (wie Anm. 9), 201. 20 Wieland, »Bemerkungen zum Anfang von Hegels Logik« (wie Anm. 9), 194. »Die eigentliche Gefahr«, so Wieland weiter, »liegt für den Interpreten immer darin, zuviel hinter dem Begriff des Seins zu suchen. […] Es kommt also darauf an, das zu denken, von dem gleichsam kraft Definition schon gilt, daß in ihm nichts zu denken sei.« 17 18

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III. Hegel

stimmenden Umgangs mit ›Sein‹ − aufgewiesen, ohne daß bei diesem Aufweis »die Diskrepanz als solche und die Notwendigkeit ihrer Aufhebung erklärt werden kann«.21 Warum also diese Diskrepanz überhaupt aufgezeigt werden muß, warum ihre Aufhebung notwendig ist und letztere einen Fortgang von ›Sein‹ zu ›Nichts‹ zu einem notwendigen macht, erklärt sich für Wieland denn auch nicht aus dem Anfang selbst, sondern einzig »vom systematischen Endziel der Logik her«: aus demjenigen Begriff, »der selbst das ist, was er meint«,22 und mit dem erst jene semantisch-pragmatische Diskrepanz verschwunden ist.23 In dieser Perspektive präsentiert sich die Hegelsche »Logik« als die geordnete, systematische Suche nach diesem absoluten Begriff.24 Dadurch aber wird die Hegelsche »Logik« zu einem »Unternehmen des endlichen Geistes«, der eine hermeneutische Absicht verfolgt: Es wird jede einzelne logische Kategorie daraufhin befragt, ob es sich bei ihr um die Definition des Absoluten handelt. Zu diesem Zweck macht Hegel die hypothetische Annahme, daß es sich bei der jeweils in Betracht gezogenen Kategorie tatsächlich um die Definition des Absoluten handelt.25 Damit erreicht Hegel Zweierlei: (a) Zum einen bestätigt sich immer wieder von neuem Hegels Skepsis gegenüber der Ansicht, »daß das Absolute in einer Definition zu erfassen wäre, und daß es demzufolge eine ›richtige‹ Definition des Absoluten geben müßte«.26 Der Fortgang von einer Kategorie zur anderen wird dadurch erzwungen, daß zwar eine befragte Kategorie die Bedingung nicht erfüllt, Definition des Absoluten zu sein, daß aber damit noch nicht die Frage erledigt ist, ob denn nun die nächste Kategorie diese Bedingung erfüllt. Diese immer wieder neu einsetzende Befragung der logischen Kategorien auf ihren Absolutheitsanspruch hin hält »die Beziehung aller logischen Kategorien auf das Absolute«27 aufrecht – und negiert gleichzeitig diesen Absolutheitsanspruch aller endlichen Kategorien immer wieder. (b) Gerade indem diese Befragung aller endlichen Kategorien nach ihrem Absolutheitsanspruch eben diesen Anspruch negiert, kann die »Absolutheitshypothese« zum anderen »gefahrlos«28 benutzt werden. Sie bleibt stets eine vorläufige »AbsolutEbd., 201. Ebd., 202. 23 Vgl. ebd. 199 f.: »Dieser Begriff wird bekanntlich erst am Ende der Logik, nämlich in der Kategorie der ›absoluten Idee‹, erreicht. Erst hier haben wir den Begriff vor uns, der in seinem intentionalen Korrelat nicht mehr unterschieden werden kann, weil er mit ihm zusammenfällt.« 24 Dies zeigt sich für Wieland insbesondere daran, daß Hegel »zwar nicht den Begriff des Absoluten an den systematischen Anfang der Begriffsbildung stellt, wohl aber von dort her das Kriterium gewinnt, das die Einsicht in das Ungenügen der einzelnen Kategorien vermittelt. Der Fortgang wird durch die auf jeder Stufe in anderer Weise entwickelte Einsicht erzwungen, daß die jeweilige Kategorie noch nicht die adäquate Darstellung des Absoluten gibt« (ebd., 203). 25 Wieland bezeichnet dies als »Absolutheitshypothese«; vgl. unten Anm. 29. 26 Ebd., 205. 27 Ebd., 207. 28 Ebd., 205. 21 22

1. Das Problem des Anfangs

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heitshypothese«, die ja ›eigentlich‹ nur zum Zweck ihrer Falsifikation aufgestellt wird.29 Diese Befragung negiert also den Absolutheitsanspruch der jeweils befragten logischen Kategorie, um dann, nach getaner Arbeit, sich selbst wieder ins Spiel zu bringen. Es war eben nur eine hypothetisch gestellte Frage für eine bestimmte Kategorie mit dem Zweck von deren Falsifikation. Die Tätigkeit der Befragung wird selbst nicht falsch, sie hat sich bloß an den falschen Kandidaten gewandt. Dieser pragmatische Umgang mit den logischen Kategorien, der an ihnen ihre Kritikfähigkeit und Kritikbedürftigkeit, d. h. ihre Unwesentlichkeit und Unwahrheit, aufzeigt, erinnert nicht bloß von fern an das, was Hegel selbst in seiner »Phänomenologie« für das skeptische Selbstbewußtsein geltend macht: »Sein Thun und seine Worte widersprechen sich immer«.30 Dieses skeptische Selbstbewußtsein »spricht die Nichtigkeit des Sehens, Hörens, und so fort aus, und es sieht, hört, und sofort, selbst«.31 Ebenso befindet hier der endliche Geist über die Endlichkeit der einzelnen logischen Kategorien, und dieses sein Sprechen bleibt selbst endlich: Auf die Endlichkeit ist Verlaß. Nach Wieland kann daher auch nicht »an einigen simplen Tatsachen« vorübergegangen werden, »über die man allzu leicht hinwegsieht: Hegels ›Wissenschaft der Logik‹ ist ein Buch, das in einer bestimmten Sprache einer bestimmten Zeit geschrieben worden ist. Vor allem ist es ein Buch, in dem mit Hilfe von in eben jener Sprache formulierten Sätzen bestimmte Behauptungen mit dem Anspruch auf Wahrheit aufgestellt werden«.32 Selbst wenn Hegels »Logik« deutliche Vorbehalte gegen »die gewöhnliche Form des Satzes« zu erkennen gibt, da diese nicht in der Lage ist, »die eigentliche, nämlich die spekulative Wahrheit auszudrücken«, so bleibt nach Wieland doch die Tatsache bestehen, »daß sich Hegel nach wie vor, und zwar auch in der Logik, stets der Form des Satzes bedient, dessen Sphäre er weder verlassen kann noch will – von der einzigen Ausnahme des Anfangs der Logik abgesehen«.33 Allerdings ist selbst dieser exzeptionelle Charakter des »Logik«-Anfanges gar nicht so exzeptionell, wie von Wieland angenommen. Denn der pragmatische Gegensatz zwischen einer satzhaften Bestimmung und einer satzlosen Erwähnung von ›Sein‹ reicht nicht schon hin, daß durch ihn jegliche Bestimmungsleistung vom Anfang ferngehalten werden könnte. Im Gegenteil: Jener satzlose, bloß erwähnende Beginn mit » Seyn, reines Seyn, − ohne alle weitere Bestimmung« kommt gerade Vgl. ebd., 206: »Jeder einschlägige Begriff wird unter der Voraussetzung betrachtet, adäquater Ausdruck des Absoluten zu sein. Doch es scheint, als würde diese Voraussetzung einzig zum Zwecke ihrer Falsifikation eingeführt. So wird auf diese Weise immer nur gezeigt, daß es sich bei den in Betracht gezogenen Kategorien um endliche Kategorien handelt. Die Absolutheitshypothese hat hier die Funktion, die Endlichkeit des Endlichen aufzuweisen.« 30 PhG (GW 9, 121/12 f.). 31 PhG (GW 9, 121/10 f.). 32 Wieland, »Bemerkungen zum Anfang von Hegels Logik« (wie Anm. 9), 204. 33 Ebd., 204. 29

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III. Hegel

dadurch zustande, daß »die Bestimmung ›ohne alle weitere Bestimmung‹ (und diese Bestimmung ist das Ergebnis einer subjektiven Denkleistung!) ins Sein hineinprojiziert wird«.34 Was Wieland zu Beginn der »Logik« anhand der Kategorie ›Sein‹ aufdeckt − nämlich einen »Gegensatz von semantischer Betrachtung einerseits und pragmatischer Betrachtung andererseits«35 −, wiederholt sich für ihn offenbar im großen Ganzen.36 Es handelt sich also um eine ständige Bewußt-Werdung der Endlichkeit aller Kategorien, zugleich allerdings um eine Bewußt-Werdung, die das Absolute gerade auf sich beruhen läßt. Das Absolute bleibt in dieser Deutung das Andere des endlichen Geistes, welches er bespricht und welchem er zugleich in dieser Form der Besprechung gar nicht gerecht werden kann. Die Situation am Anfang der Hegelschen »Logik« scheint somit derjenigen einer naiv negativen Theologie zu gleichen: Die aus endlicher Perspektive gestellte Frage, ob ein bestimmter Begriff adäquater Ausdruck oder hinreichende Bestimmung des Absoluten ist, kann immer nur verneint werden; die Suche nach einem adäquaten Begriff des Absoluten ist genauso vergeblich, wie diese Suche stets von neuem wiederholbar ist.37

34 Kesselring, »Voraussetzungen und dialektische Struktur des Anfangs der Hegelschen Logik« (wie Anm. 1), 99. − Nach Theunissen übersieht Wieland, zumindest bei dem von ihm herangezogenen Text aus der »Logik« von 1812/13, die wesentlich »kritische Funktion der Hegelschen Logik« (so der Untertitel von Theunissens bekanntem Buch). Daher bemerke Wieland auch nicht, daß Hegel, indem er immer weiter schrumpfende Bestimmungsversuche von ›Sein‹ anstellt, ein solches Vorgehen zugleich kritisch darstellt: »Thema ist in der Erstausgabe [der ›Logik‹] nicht das reine oder leere Sein selber, jedenfalls nicht in dem von Wieland angenommenen Sinne, das heißt so, als würde es in der Absicht auf Affirmation behandelt, sondern die ›Behauptung des reinen Seyns‹ […] − eine Behauptung, von der Hegel eine kritische Darstellung gibt« (Theunissen, Sein und Schein [wie Anm. 3], 128). 35 Wieland, »Bemerkungen zum Anfang von Hegels Logik« (wie Anm. 9), 199. 36 Vgl. ebd. 203: »Die Konkretisierung des Nachweises der Nichtabsolutheit der einzelnen Kategorien nimmt auf jeder Stufe [der ›Logik‹] eine jeweils andere Gestalt an. In unserem Fall, nämlich im Hinblick auf die Kategorie des reinen, unbestimmbaren Seins, geschah dies bekanntlich in Gestalt des Nachweises, daß diese Kategorie etwas anderes ist, als sie meint.« Dazu bemerkt V. Hösle, Hegels System. Der Idealismus der Subjektivität und das Problem der Intersubjektivität, Hamburg 21998, 200: »Nach Wieland sind alle Widersprüche in Hegels Logik letzterer Art«. 37 Zwar ist Wieland weit davon entfernt, »den äußeren Gang und den Aufbau der ›Logik‹ nur als Resultat einer nachträglichen didaktischen Reflexion [zu] betrachten« (Wieland, »Bemerkungen zum Anfang von Hegels Logik« [wie Anm. 9], 202). Gleichwohl bleiben für ihn Gang und Aufbau der Hegelschen »Logik« das Resultat einer »Rekonstruktion«, die sämtlichen, von Anfang an gebrauchten logischen Kategorien nach und nach ihren systematischen Platz zuweist. Vgl. ebd., 202 f. Es ließe sich demnach sagen, daß der Gebrauch der einzelnen Kategorien im Verlauf der »Logik« zunehmend reflektierter wird, indem Hegel diesen stets schon unsystematisch verwendeten Kategorien den ihnen gebührenden Platz innerhalb einer logischen Ordnung zuweist. Der Leser der »Logik« weiß also nach der Platzzuweisung von einer bestimmten logischen Kategorie Zweierlei: (a) Zum einen wird klar, warum diese Kategorie an dieser bestimmten systematischen Stelle steht: In diese Kategorie sind bereits gesetzte, reflektierte Bestimmungen eingegangen, die nun mit ihrem semantischen Gehalt vereinbar sind. (b) Zum anderen aber wird ersichtlich, daß diese Kategorie immer noch nicht das Absolute aussagt, sobald man sie nun als Ausdruck für das Absolute verwendet. Es verschwindet also stets eine semantisch-prag-

1. Das Problem des Anfangs

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Das ›Sein‹ scheidet bei dieser Prozedur, ebenso wie alle anderen endlichen Kategorien, als geeigneter Kandidat aus, adäquater Ausdruck des Absoluten zu sein. Absoluten Charakter hat der logische Anfang mit ›Sein‹ dann nur mehr aus dem Grund, weil das anfängliche ›Sein‹ überhaupt keine Bestimmung zuläßt, unter die es fällt. Mit diesem Prozedere scheint allerdings wenig gewonnen, da ein solchermaßen negierendes oder abstrahierendes Verfahren von der Endlichkeit ausgeht und immer wieder nur in diese zurückfällt. In der zweiten Auflage seiner »Logik« hat Hegel ein solches in sich kreisendes, negierendes Vorgehen sarkastisch karikiert. Eine abstrahierende Reflexion geht vom Endlichen als dem zu Negierenden aus, um nach der Negation aller Bestimmtheit zum ›Sein selbst‹ zu gelangen: das Resultat der Abstraction von allem Seyenden ist zunächst abstractes Seyn, S e y n überhaupt; wie im kosmologischen Beweise vom Daseyn Gottes aus dem zufälligen Seyn der Welt, über welches sich darin erhoben wird, noch das S e y n mit hinaufgebracht, das Seyn zum u n e n d l i c h e n Seyn bestimmt wird.38 Von einem solchermaßen als unendlich bestimmten Sein kann freilich weiter abstrahiert werden. Denn dieses ›Sein selbst‹ ist im Gegensatz zu allem bestimmt Seienden − Nichts oder (in traditioneller Nomenklatur) nihil omnium entium: Es k a n n aber allerdings auch von diesem reinen Seyn abstrahirt, das Seyn noch zu dem Allem, wovon bereits abstrahirt worden, geschlagen werden; dann bleibt Nichts.39 Wenn man nun »im Style jenes Könnens fortfahren«40 will, dann kann – so Hegel mit unverhohlener Ironie – »Gottlob!« auch dieses gegen das Sein bestimmte und aus diesem entnommene Nichts seinerseits einer nochmaligen Negation unterworfen und mittels einer abstractio abstracti zum Sein ›fortbestimmt‹ werden: es kann nemlich (Gottlob!) auch von Nichts abstrahirt werden (wie denn auch die Schöpfung der Welt eine Abstraction vom Nichts ist) und dann bleibt nicht Nichts, denn eben von diesem wird abstrahirt, sondern man ist so wieder im Seyn angekommen. 41 matische Diskrepanz in bestimmter Hinsicht − man weiß nun, in welchem Sinn eine bestimmte entwikkelte Kategorie zu gebrauchen ist (z. B. ›Werden‹ als Aufhebung von ›Sein‹ und ›Nichts‹, ›Dasein‹ als Aufhebung von ›Werden‹). Mit dem Verschwinden dieser Diskrepanz ist jedoch eine semantisch-pragmatische Diskrepanz in anderer Hinsicht noch nicht aus der Welt geschafft − man weiß immer noch nicht, ob jene entwickelte Kategorie als Bestimmung des Absoluten zu gebrauchen ist. 38 WdL (GW 21, 87/7−11). 39 WdL (GW 21, 87/11−13). 40 WdL (GW 21, 87/14 f.). 41 WdL (GW 21, 87/15−18).

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III. Hegel

Auch dieses Sein, in dem man so wieder angekommen ist, ist ein ›anfängliches‹ Sein – nur ist dies das bestimmte Sein oder Dasein, von eben dem jenes »Können«, d. h. jenes der Endlichkeit verschriebene, »äusserliche Spiel des Abstrahirens«,42 seinen Anfang nahm.43 Bei Wieland findet dies seine Entsprechung in der Ansicht, daß Hegel für den absoluten Anfang »nach einem Ausdruck der natürlichen Sprache [sucht], dessen Semantik die von der logischen Analyse erarbeiteten Merkmale« − also die Merkmale der Unbestimmtheit und der Unvermitteltheit − »von Hause aus enthält«.44 Bei dieser Suche »bietet sich« nach Wieland gerade »der Name ›Sein‹ an«.45 Der Beginn der »Logik« mit dem Namen ›Sein‹ bietet sich allerdings nicht so sehr von Haus aus an, sondern ist Resultat einer vorgängigen logischen Analyse bzw. einer »besonderen Reflexion«,46 die aufzeigt, daß für den logischen Anfang von allen »sachhaltigen Bestimmungen«47 abzusehen ist. Erst aufgrund dieser besonderen Reflexion läßt sich nach Wieland »die Funktion des absoluten Anfangs verstehen […]: WdL (GW 21, 87/18). Nebenbei bemerkt, sieht Wandschneider in dieser deutlich kritisch, ja parodistisch gefärbten Passage Hegels dessen eigene Begründung bzw. ein von Hegel befürwortetes »Plausibilitätsargument« dafür, daß mit ›Sein‹ und nicht mit ›Nichts‹ der Anfang der Wissenschaft gemacht werden muß. Dementsprechend erteilt Wandschneider den eben zitierten Ausführungen Hegels die Rüge: »Dies ist eher ein Bonmot als eine Begründung« – welche Rüge (gottlob!) zumindest an dieser Stelle nicht nötig ist. Vgl. dazu Wandschneider, »Zur Struktur dialektischer Begriffsbestimmung« (wie Anm. 8), 119 f. − Ebenso rennt etwa Tugendhats Kritik am »Logik«-Anfang bei Hegel offene Türen ein: Nach Tugendhat wird der Leser zu Beginn der Logik »aufgefordert, das, was noch zu denken ist, nachdem er alle Vermittlung aufgehoben hat (wenn dann noch etwas zu denken ist), ›das reine Sein‹ zu nennen« (E. Tugendhat, »Das Sein und das Nichts«, in: Durchblicke. Martin Heidegger zum 80. Geburtstag, hg. von V. Klostermann, Frankfurt a. M. 1970, 132–161; hier 147). Gefordert ist demnach zunächst »die ›intellektuelle Anschauung‹ irgendeines abstrakten Wasgehaltes […]. Jeder solche angeschaute Inhalt, ob sinnlich oder intellektuell, ist ein bestimmter und von anderen Inhalten unterschiedener. Man ›hebe‹ nun (wenn man kann) diese Unterschiedenheit ›auf‹ und abstrahiere von dieser und jeder Bestimmtheit. Was man dann übrig behält (falls man etwas übrig behält), ist ›das reine Sein‹« (ebd., 147 f.). Tugendhats eigenes »verkürztes intuitives Verfahren« (ebd., 147), mit dem er den »Logik«Anfang nachzeichnet, liefert denn auch eher ein weiteres Beispiel für das, was Hegel bereits selbst spöttisch kritisiert, als eine kritische Darstellung des »Logik«-Anfanges. Denn für Hegel gilt: Gesetzt, man kann von jeglicher Bestimmtheit abstrahieren, dann bleibt mitnichten das ›reine Sein‹ übrig – »im Style jenes Könnens« läßt sich vielmehr munter weiter abstrahieren, also auch noch von diesem ›reinen Sein‹ selbst. Ein abstrahierendes, jegliche Bestimmtheit und Unterschiedenheit aufhebendes Verfahren, das dabei zu einem residualen ›reinen Sein‹ gelangt, ist daher für Hegel weder eine Aufhebung − eine solche Abstraktion gelangt vielmehr zuletzt wieder dorthin, wovon sie ihren Ausgang nimmt; noch hat die anfängliche Kategorie ›Sein‹ für Hegel einfach den Charakter einer »vorgestellten S e l b s tä ndi g ke it « (GW 21, 92/25), bei der sich die Frage stellt, ob denn bei ihr noch etwas zu denken ist. Auch in Theunissens Augen wirft Tugendhat daher »Hegel vor, wogegen dieser fast an allen Fronten kämpfte« (Theunissen, Schein und Sein [wie Anm. 3], 97). 44 Wieland, »Bemerkungen zum Anfang von Hegels Logik« (wie Anm. 9), 207 f.; Hervorh. StG. 45 Ebd., 207. 46 Ebd., 209. 47 Ebd., 209. 42 43

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er kann immer nur genannt werden, doch läßt er sich, insofern er absoluter Anfang ist, niemals bestimmen«.48 Seine bloße Benennung mit ›Sein‹ beläßt zwar dem Anfang seine Unbestimmtheit, gleichwohl ist diese Benennung vermittelt durch die sachhaltige Bestimmung, daß der Anfang absoluter, unvermittelter Anfang sein soll. Hegel nimmt hier zwar »keine willkürliche terminologische Fixierung«49 des Anfangs vor, da er in Wielands Augen diese benennende Fixierung des Anfangs mit dem Terminus ›Sein‹ durchaus plausibilisiert. Der Fortgang resultiert allerdings daraus, daß ›Sein‹ als ein Ausdruck der natürlichen (!) Sprache jenen semantisch-pragmatischen Widerspruch einfach zuläßt: Die Negation von ›Sein‹, die den Fortgang zu ›Nichts‹ erzwingt, entzündet sich dann an der keineswegs willkürlichen, doch aber an der terminologischen Fixierung dessen, was eigentlich, d. h. nach dem intentionalen Gehalt von ›Sein‹, ein »amorphe[s], aller systematischen Ordnung vorhergehende[s] Gebilde«50 sein müßte. Unter diesem Vorzeichen könnte allerdings der Anfang unschwer auch mit ›Nichts‹ gemacht werden, da ›Nichts‹ der Sache nach ebenfalls ein vollkommen unbestimmbarer Begriff ist. Wielands Deutung erklärt denn auch nicht, warum Hegel den Anfang, obgleich dieser unbestimmtes und ununterschiedenes Einerlei zu sein scheint, ausgerechnet mit dem Terminus ›Sein‹ belegt und warum er dies »in der festen Überzeugung« tut, »daß die ›einfache Unmittelbarkeit‹ in ihrem ›wahren Ausdrucke‹ nur Sein und sonst nichts sei«.51 Wielands Erklärungsdefizit rührt wohl von daher, daß Hegel in Wielands Deutung mit jenem »Exhaustionsverfahren« zwar einzelne, unangemessene Bestimmungen von »Sein« zurückweist, nicht aber die Tätigkeit des reflektierenden, vergegenständlichenden Bestimmens überhaupt vom logischen Anfang fernhält. Nach Wielands Auffassung reicht die Bestimmungsleistung des endlichen Geistes vielmehr noch bis dorthin, »wo es nichts mehr zu erklären gibt als eben diese Unerklärlichkeit«52 des Anfangs. Die bloße, d. h. satzlose Benennung des Anfangs mit ›Sein‹ ist sozusagen die ultima explicatio eines »vergegenständlichenden Seinsdenkens«.53 Die Einheit der beiden gegensätzlichen Kategorien des Seins und des Nichts bestünde also darin, daß die eine Kategorie gewissermaßen den Inhalt der anderen Kategorie repräsentiert. ›Nichts‹ ist dann gerade noch dasjenige, was am ›Sein‹ begriffen werden kann: dessen Unbegreifbarkeit. In dieser Form die Unaussagbarkeit des Anfangs

Ebd., 210. Ebd., 207. 50 Ebd., 207. 51 Theunissen, Schein und Sein (wie Anm. 3), 112. − Theunissens Hegel-Zitat bezieht sich auf WdL (GW 21, 55/28 f.): »In ihrem wahren Ausdrucke ist daher diese unbestimmte Unmittelbarkeit das r e i n e S e yn.« 52 Wieland, »Bemerkungen zum Anfang von Hegels Logik« (wie Anm. 9), 210. 53 Theunissen, Sein und Schein (wie Anm. 3), 128. 48 49

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III. Hegel

auszusagen und seine Undenkbarkeit zu denken, heißt nichts anderes, als den Anfang eben doch als etwas Aussagbares und Denkbares zu behandeln. Die anfängliche Kategorie ›Sein‹ scheint damit nur das Merkmal, um nicht zu sagen: die Bestimmtheit an sich zu haben, unbestimmt zu sein. Gerade diese Form der Unbestimmtheit von ›Sein‹, welche aller Bestimmtheit entgegengesetzt ist und die sich daher zugleich in dieser Entgegensetzung bestimmt, läßt sich aber noch explizieren und aussprechen mittels der Kategorie ›Nichts‹: Eben diese U n b e s t i m m t h e i t ist aber das, was die Bestimmtheit desselben [sc. des Seyns] ausmacht; denn die Bestimmtheit ist der Unbestimmtheit entgegengesetzt; sie ist somit als Entgegengesetztes selbst das Bestimmte, oder Negative, und zwar das reine, ganz abstract Negative. Diese Unbestimmtheit oder abstracte Negation, welche so das Seyn an ihm selbst hat, ist es, was die innere wie die äussere Reflexion ausspricht, indem sie es dem Nichts gleich setzt, es für ein leeres Gedankending, für Nichts erklärt.54 Bei einem solchen Verfahren wird also das ›Sein‹ als ›Nichts‹ erklärt, und zwar in einer ganz bestimmten, nämlich semantischen oder inhaltlichen Hinsicht: Das ›Sein‹ bleibt zwar wie alle anderen Termini ein Terminus, doch ist es im Gegensatz zu diesen (oder zumindest zu den meisten) Termini ein bestimmter Terminus mit unbestimmter Bedeutung. Geht man so vor, dann markiert der absolute Anfang eine Leerstelle, und zwar im Hinblick auf das, was in ihm gedacht werden soll. ›Sein‹ wäre dann ein Gedanke, der zwar einen unerfüllten, leeren Gedankeninhalt besitzt, der aber doch weiterhin ein Gedanke bleibt.55 ›Sein‹ wäre also zu verstehen als ein Gedanke von Nichts und wäre in dieser inhaltlichen Hinsicht ein gedachtes Nichts. Das Wort ›Nichts‹ brächte seinerseits als ein sprachliches Nullzeichen den Inhalt des Gedankens ›Sein‹ adäquat zum Ausdruck.56

WdL (GW 21, 86/1−7). Eben dagegen meldet Hegel Bedenken an: »Wollte man etwa sagen, Sein und Nichts seien doch beide Gedanken und der Gedanke somit das beiden Gemeinschaftliche, so würde dabei übersehen, daß das Sein nicht ein besonderer, bestimmter Gedanke, sondern vielmehr der noch ganz unbestimmte und eben deswillen vom Nichts nicht zu unterscheidende Gedanke ist« (Enz. § 87 Zusatz; WW 8, 187). Das anfängliche ›Sein‹ ist damit nicht bloß ein bestimmter Gedanke, »von dem gleichsam kraft Definition schon gilt, daß in ihm nichts zu denken sei« (Wieland, »Bemerkungen zum Anfang von Hegels Logik« [wie Anm. 9], 194; Hervorh. StG). Die gänzliche Unbestimmtheit von ›Sein‹ betrifft ebensowohl dessen Status als Gedanke. 56 Exemplifizieren läßt sich ein derart inhaltsloser Inhalt etwa anhand eines Wortes, mit dem zwar keine lexikalische Bedeutung verbunden werden kann und das gleichwohl nicht einfach eine sinnlose Abfolge von Buchstaben oder phonetischen Lauten darstellt. Bei einem solchen Wort handelt es sich eben nicht um ein Signans, das überhaupt kein Signatum besitzt, sondern um ein Signans mit einem Null-Signatum bzw. mit einer unerfüllten Bedeutung. Ein solches Wort bedeutet ›nichts‹, hat ›nichts‹ zu seinem Inhalt – und bleibt gleichwohl ein Wort. In diesem Zusammenhang ist auch an Carnaps berühmten Beispielsatz »Piroten kalurieren elatisch« zu erinnern, der sehr wohl als Wortreihe, ja als 54 55

1. Das Problem des Anfangs

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Als dieses ›Nichts‹ wäre ›Sein‹ ein privativ bestimmter Gedanke, da mit diesem Gedanken zwar kein bestimmter Inhalt verbunden ist, dieser Gedanke sich aber immerhin noch als leer oder inhaltslos bestimmen läßt.57 Dieser Gedanke hätte also als Gedanke durchaus einen »inhaltslosen Inhalt«, was mitnichten sogleich und sofort einen – noch dazu unauflösbaren – Widerspruch darstellt.58 Gesteuert wird aber ein solches Vorgehen von der abstrahierenden Tätigkeit selbst, die erst jene semantisch-pragmatische Divergenz zwischen einem Terminus und seiner Verwendung hervorbringt und die diese Divergenz mittels von Hinsichtnahmen als »eine metalogische Pseudoparadoxie«59 dann auch wieder zum Verschwinden bringt: Das ›Sein‹ signalisiert hierbei zunächst die Abstraktion von aller Bestimmtheit, an der jeglicher bestimmender Umgang mit dem ›Sein‹ scheitert. Das ›Sein‹ kann daher nur behandelt werden als ein Null-Gedanke, und zwar so, daß der hinzukommende Terminus ›Nichts‹ die adäquate Hinsicht auf den Inhalt von ›Sein‹ und dann auch einen adäquaten Umgang mit ›Sein‹ erlaubt. Diese inhaltliche Explikation von ›Sein‹ als ›Nichts‹ bestimmt das ›Sein‹, ohne daß sie de facto in einen herkömmlich

Satz erkennbar ist, ohne daß dafür »die Bedeutung der Wörter […] bekannt zu sein« braucht (R. Carnap, Logische Syntax der Sprache, Wien 21968, 2). In diesem Satz besitzen die einzelnen Wörter ebenfalls einen im privativen Sinne inhaltslosen Inhalt. 57 So etwa auch Gadamer, »Die Idee der Hegelschen Logik« (wie Anm. 2), 61: »›Leer‹ heißt nicht, daß etwas nicht ist, sondern daß da etwas ist, das das nicht enthält, was da eigentlich sein sollte, etwas, dem das, was es sein kann, abgeht«. 58 Vgl. dagegen Tugendhat, »Das Sein und das Nichts« (wie Anm. 43), 148, dort Anm. 16: »Also ein inhaltloser Inhalt? Ist das nicht ein Widerspruch? Gewiß. Der Vorwurf trifft jedoch nicht die Interpretation, sondern das Interpretierte.« Eine derartige Explikation des inhaltslosen Inhalts von ›Sein‹ ist also nicht gleich ein Widerspruch, in den Hegel sich verstrickt. Ebensowenig besitzt aber die Bestimmung von ›Sein‹ als unbestimmter oder leerer Gedanke »die Struktur einer Antinomie« (so Kesselring, »Voraussetzungen und dialektische Struktur des Anfangs der Hegelschen Logik« [wie Anm. 1], 98). Denn die Bestimmung von ›Sein‹ als ›Nichts‹ sagt eben nicht einfach »etwas Bestimmtes darüber« (ebd., 99), sondern sie besagt höchstens, daß es nichts Bestimmtes über ›Sein‹ zu sagen gibt. Problematisch erscheint mir daher Kesselrings Rekonstruktion dieser Antinomie: »Entweder ist Sein unbestimmt, dann ist es aber falsch, daß es irgendwie (und sei es auch als unbestimmt) bestimmt ist. Oder Sein ist bestimmt, dann ist es aber falsch, es als unbestimmt bestimmen zu wollen« (ebd., 99). Ist mit diesem antinomischen ›Entweder − Oder‹ des Vordersatzes, aus dem sich dann jeweils die Falschheit des Nachsatzes bestimmt, tatsächlich der bestimmende Charakter jener Unbestimmtheits-Bestimmung getroffen? Denn die Bestimmung von ›Sein‹ als unbestimmt, d. h. hier: als ›Nichts‹, ist keine herkömmliche, sondern streicht sich zugleich als Bestimmung durch. Falsch wäre diese Bestimmung erst, wenn sie dies nicht täte, wenn sie also eine Bestimmung erbrächte, so wie jede andere Bestimmung von ›Sein‹ auch. Die Unbestimmtheits-Bestimmung erhält sich aber dadurch ihren bestimmenden Charakter, daß sie sich als herkömmliche Bestimmung negiert. Als Nicht-Bestimmung ist sie die adäquate Bestimmung, weil sie den Inhalt von ›Sein‹ als Null-Gedanken erfaßt. Wielands Deutung hat daher das Verdienst, daß sie zu Recht Skepsis gegen eine vorschnelle ›Antinomisierung‹ der Unbestimmtheits-Bestimmung von ›Sein‹ anmeldet. Das Problem an Wieland Deutung besteht aber darin, daß sie die Differenz von Sein und Nichts vorschnell zum Verschwinden bringt: ›Nichts‹ zeigt sich hier als der semantische Aspekt am ›Sein‹, sobald ›Sein‹ als ein Terminus verwendet wird. 59 Wieland, »Bemerkungen zum Anfang von Hegels Logik« (wie Anm. 9), 197.

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bestimmenden Umgang mit ›Sein‹ zurückfällt. »Die Unbestimmtheit des Seins ist gerade als solche eine Bestimmung besonderer Art.«60 Die Diskrepanz zwischen einem bestimmenden Zugriff auf das ›Sein‹ und dem an sich unbestimmbaren ›Sein‹ verschwindet vermittels einer ›Seins‹-Bestimmung, die der Unbestimmbarkeit von ›Sein‹ Rechnung trägt.

1.2 Die anfängliche Andersheit: ›Sein‹ und ›Nichtsein‹ Problematisch an Wielands Deutung ist also das Abhängigkeitsverhältnis, in dem der logische Anfang zur abstrahierenden Tätigkeit steht. Diese Tätigkeit ist sowohl für die Erzeugung jener semantisch-pragmatischen Divergenz als auch für deren Verschwinden verantwortlich. Im kritischen Anschluß an Wieland bemüht sich daher D. Wandschneiders Rekonstruktion der Dialektik von ›Sein‹ und ›Nichts‹ darum, jene Diskrepanz in der Semantik von ›Sein‹ und ›Nichts‹ selbst zu verankern und hierbei eine ›echte‹ Antinomie aufzuzeigen, die den Gegensatz von ›Sein‹ und ›Nichts‹ nicht vorschnell mittels von Hinsichtnahmen zum Verschwinden bringt. Denn ohne eine »ursprüngliche Entgegensetzung« von ›Sein‹ und ›Nichts‹, so Wandschneiders durchaus berechtigte Überzeugung, »kann es zu dem ›Fortgang‹ offenbar garnicht erst kommen«.61 Und so ist zwar Hegels »suggestives« Argument, »daß ›Sein‹ aufgrund seiner Bestimmungslosigkeit gleichbedeutend mit ›Nichts‹ sei«,62 nicht gleich von der Hand zu weisen. Gleichwohl heißt dies nicht, daß nun die »Logik« mit einer Synonymie oder Bedeutungsgleichheit von ›Sein‹ und ›Nichts‹ beginnen würde. Vielmehr ergibt sich der entscheidende Unterschied und mithin die Rangfolge der beiden Kategorien »aus dem einfachen Gedanken, daß die Negation letztlich nur als Negation eines vorausgesetzten Positiven sinnvoll ist. Der Sinn von non-A setzt den von A voraus. Das Negative ist insofern immer schon ein Vermitteltes«.63 Die semantische Identität von ›Sein‹ und ›Nichts‹ geht einher mit ihrer irreduziblen Differenz. Die erste Kategorie bringt einen »primär positiven ›Sinn von Sein‹« zum Ausdruck, während die negative »Kategorie des Nichts […] die des Seins schon voraussetzt«.64 Ebd., 203. Wandschneider, »Zur Struktur dialektischer Begriffsbestimmung« (wie Anm. 8), 120; dort Anm. 16. 62 Ebd., 118. 63 Ebd., 120. − Nach Wandschneider gilt daher: »Die erste Kategorie kann nicht ein Negatives sein, denn so wäre sie schon ein Vermitteltes« (ebd.). 64 Ebd., 120. – Aufgrund dieses Umstandes, daß ein negativer Terminus stets gewissermaßen einen terminus a quo negandum voraussetzt, sieht sich Wandschneider bei seiner Rekonstruktion des »Logik«-Anfanges dazu berechtigt, den Hegelschen Terminus ›Nichts‹ durch ›Nichtsein‹ zu ersetzen. Wandschneider beruft sich für diese Ersetzung offensichtlich auf die Passage: »Wollte man es für 60 61

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Diese gleichzeitige Identität und Differenz, d. h. die antinomische Struktur, von Sein und Nichts läßt sich explizieren in Form von »Gegensatzbestimmungen, die komplementär zusammengehören«.65 Mit diesem komplementären Gegensatz von ›Sein‹ und ›Nichts‹ ist eine Bezugsform namhaft gemacht, die mittels einer bestimmten Negation die beiden Relata miteinander verbindet.66 Somit kann die Negationsform in diesem komplementären Gegensatz keinen kontradiktorischen Charakter haben. Denn bei der Kontradiktion ›A vs. non-A‹ würde der Ausschluß von ›non-A‹ aus ›A‹ zu weit reichen, also das gesamte logische Universum betreffen. Beide Relata wären nurmehr über eine rein formale, abstrakte Negation miteinander verbunden.67 Ebensowenig aber handelt es sich hier um die Form eines konträren Ausschlusses. Denn diese Negationsform ist nicht trennscharf genug, da sie Zwischenstufen von unbestimmter Anzahl bei den beiden konträren Relata erlaubt.68 So basiert für Wandschneider der komplementäre Gegensatz von ›Sein‹ und ›Nichts‹ auf einer Negation in bestimmter Hinsicht. Denn die Bedeutung des Begriffes ›Sein‹ kann zunächst mittels seines negierten Gegen-Begriffes ›Nichtsein‹ zum Ausdruck. d. h. in einer Gleichung expliziert werden. Mithin zeigt sich ›Sein‹ als bedeutungsgleich oder semantisch äquivalent mit ›nicht-Nichtsein‹; in Wandschneiders Schematisierung: (1) ›S‹ = ›nicht-N‹.69 Der komplementäre Gegensatz von ›Sein‹ und ›Nichts‹ gründet demnach offenbar in der Negation jener Gleichsetzung von ›Sein‹ mit seinem negierten Gegen-Begriff ›Nichtsein‹. Daher gilt für Wandschneider »jedenfalls auch: ›S‹ ist nicht semantisch äquivalent ›N‹«.70 Mit anderen Worten: Aus der Bedeutungsgleichheit von ›Sein‹ mit

richtiger halten, daß statt des Nichts dem Seyn das Ni c htse y n entgegengesetzt würde, so wäre in Rücksicht auf das Resultat nichts dawider zu haben, denn im Nichts e yn ist die Beziehung auf das S e y n enthalten« (WdL; GW 21, 70/8−10). 65 Wandschneider, »Zur Struktur dialektischer Begriffsbestimmung« (wie Anm. 8), 121 (im Original kursiv). 66 Vgl. ebd., 121: »Entscheidend […] ist in diesem Zusammenhang Hegels Begriff der bestimmten Negation.« 67 In Wandschneiders Beispiel (vgl. ebd., 121) gesprochen: Bei der kontradiktorischen Negation von »rot« schließt das negierte Relatum »nicht-rot« nicht nur die restliche Palette des Farbspektrums ein, sondern auch sämtliche andere Gegenstände des logischen Universums, also etwa auch Primzahlen, Gerechtigkeitsbegriffe etc. 68 Wiederum in Wandschneiders Beispiel (vgl. ebd., 121) gesprochen: Der konträre Gegensatz von Schwarz und Weiß schließt verschiedene Abstufungen von Grautönen ein. 69 Vgl. ebd., 121. – Im Folgenden übernehme ich Wandschneiders Abkürzungen: ›S‹ steht für ›Sein‹, ›N‹ für ›Nichtsein‹ und ›=‹ für ›ist semantisch äquivalent‹. 70 Ebd., 121.

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III. Hegel

›nicht-Nichtsein‹ folgt auch eine semantische Ungleichheit von ›Sein‹ und ›Nichtsein‹. Dies ist jedoch nicht die einzige Folge. Denn die Ungleichheit auf der Bedeutungsebene, d. h. das nicht-äquivalent-Sein von ›Sein‹ und ›Nichtsein‹, wird begleitet von einer Entsprechung auf der Eigenschaftsebene: ›Sein‹ zeigt sich nämlich seinerseits als ein Fall von ›Nichtsein‹, insofern ›Sein‹ angesichts seiner semantischen Ungleichheit mit ›Nichtsein‹ gerade »diejenige Eigenschaft besitzt, die der Bedeutung des Begriffs von [›Nichtsein‹] entspricht«;71 in Wandschneiders Kurzform: (2) ›S‹ ist ›N‹-entsprechend.72 Dieses Verhältnis von ›Sein‹ und ›Nichtssein‹ läßt sich für Wandschneider »Platonisch auch so formulieren«, daß der Begriff ›Sein‹ »an der Idee ›N‹ teilhat«.73 Der Begriff ›Sein‹ repräsentiert als Begriff selbst einen Fall von ›Nichtsein‹, insofern der Begriff ›Sein‹ nicht der Begriff ›Nichtsein‹ ist und von ihm daher die Eigenschaft des Nichtseins prädiziert werden kann.74 Die Bedeutung von ›Sein‹ konstituiert sich also wesentlich über ein Nicht-Sein, nämlich dadurch, daß ›Sein‹ − als ein Begriff mit einer Bedeutung − nicht schlechthin Es Selbst ist, sondern auch von anderen Begriffen mit anderen Bedeutungen verschieden, d. h. ihnen nicht semantisch äquivalent ist. Die Bedeutung eines Begriffes hängt insofern von seinem Sein als Begriff ab. Auch der Begriff ›Sein‹ muß daher sein, um eine Bedeutung zu haben. Daher muß auch dem Begriff ›Sein‹ selbst »gerade diejenige Eigenschaft zugesprochen werden […], die der Bedeutung des Begriffs ›S‹ entspricht«.75 Wenn also ›Sein‹ sogar selbst ›S‹-entsprechend ist, dann fällt ›Sein‹ zugleich nicht unter den Begriff des Nichtseins. Wenn nach Wandschneider gilt: ›S‹ ist ›N‹-entsprechend bzw. ›S‹ hat die Eigenschaft ›N‹ (da ›S‹ = ›nicht-N‹), dann gilt auch: (3) ›S‹ ist nicht ›N‹-entsprechend.76

Ebd., 121. – Bezeichnenderweise schematisiert Wandschneider, der sonst große Sympathien für formalisierte Abkürzungen zeigt, diesen seinen Gedankenschritt nicht, also auch nicht etwa in der Form ›S 7 N‹. Weiteres dazu im Verlauf. 72 Ebd., 121. 73 Ebd., 122. 74 Mit dieser Platonischen συμπλοκὴ τῶν εἰδῶν (vgl. Platon, Soph. 259 E) ist nach Wandschneider »in der Tat ein für eine Theorie der Dialektik sehr wesentlicher Punkt getroffen« (Wandschneider, »Zur Struktur dialektischer Begriffsbestimmung« [wie Anm. 8], 123, dort Anm. 22). 75 Ebd,. 122 76 Ebd., 122; Hervorh. StG. 71

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Aufgrund des in (3) zum Ausdruck gebrachten »ist nicht« muß aber die Kategorie ›Sein‹ wiederum als ›N‹-entsprechend klassifiziert werden. Dieser ständige Wechsel der kontradiktorischen Prädikate − der Wechsel von »›N‹-entsprechend« und »nicht ›N‹-entsprechend« − macht also »eine antinomische Prädikationsstruktur sichtbar«.77 Denn genau dadurch, daß die Kategorie ›Sein‹ eben ›Nichtsein‹ nicht ist, gewinnt sie selbst einen negativen Aspekt, nämlich die Eigenschaft […], die entgegengesetzte Kategorie nicht zu sein, und ist damit ›Nichtsein‹-entsprechend. Wird freilich dieser negative Aspekt von ›Sein‹ kategorisiert, gewinnt er im Handumdrehen wiederum positiven Charakter. Denn ›Sein‹ ist dadurch in Entsprechung mit ›Nichtsein‹, und ›Entsprechung‹ ist etwas Positives. Indem die Kategorie ›Sein‹ also ›Nichtsein‹-entsprechend ist, gewinnt sie nun einen ›Sein‹-entsprechenden Aspekt. Aber das heißt, im Sinn der Entgegensetzung von ›Sein‹ und ›Nichtsein‹: Sie ist nicht ›Nichtsein‹-entsprechend. Aufgrund dieses ›ist nicht‹ ist sie wiederum ›Nichtsein‹-entsprechend usf.78 Die Kategorie ›Nichtsein‹ ist demnach der Dreh- und Angelpunkt bei diesem »wechselseitigen Auftreten positiver und negativer Entsprechungseigenschaften der Kategorie ›Sein‹«.79 Denn die Kategorie ›Nichtsein‹ fungiert hier nicht nur als semantische Kontrastfolie zu ›Sein‹, sondern erfüllt insbesondere auch die Funktion, daß sie diejenige Eigenschaft am ›Sein‹, die diesen Begriff mit seinem Gegenbegriff ›Nichtsein‹ verbindet, als eine positive Entsprechungseigenschaft hervorkehrt. Dadurch verändert sich die Semantik von ›Nichtsein‹ auf entscheidende Weise, da ›Nichtsein‹ keinen eindeutig negativen Charakter mehr hat. Der Begriff ›Nichtsein‹ ist nicht mehr nur durch die Eigenschaft des Negativen oder der Entgegensetzung gekennzeichnet, in Wandschneiders Nomenklatur: ›N‹ ist nicht mehr bloß ›N-entsprechend‹.Vielmehr besteht die Bedeutung des Begriffes ›Nichtsein‹ darin, daß er nicht mehr von jener Eigenschaft des Negativen, die von ihm prädiziert werden kann, bestimmt ist: (4) ›N‹ = ›nicht-›N‹-entsprechend‹.80 Mit diesem vierten Schritt entpuppt sich die Kategorie ›Nichtsein‹ als ein antinomischer Begriff, der die »Form einer selbstbezüglichen Negation«81 bzw. eine »Bezie-

77 78 79 80 81

Ebd., 122. Ebd., 126. Ebd., 126. Ebd., 122. Ebd., 126.

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hung des Negativen auf sich selbst«82 indiziert. Mit diesem antinomischen Begriff ist nach Wandschneider der Grund der Dialektik von ›Sein‹ und ›Nichts‹ erschlossen. Denn aus ihm läßt sich der semantisch-dialektische Widerspruch, d. h. der semantische Gegensatz und zugleich die semantische Äquivalenz, von ›Sein‹ und ›Nichts‹ unschwer entwickeln. Indem nämlich die Kategorie ›Nichtsein‹ kein eindeutiger Fall von Negativität ist, sie mithin ihrerseits nicht einfach die Eigenschaft von ›Nichtsein‹ besitzt, stellt sie ihrer Bedeutung nach ein ›Nicht-Nichtsein‹ dar und ist damit semantisch äquivalent mit ›Sein‹. Der antinomische Begriff von ›Nichtsein‹ (4) führt also schließlich zu der Bedeutungsäquivalenz von ›Sein‹ und ›Nichtsein‹: (5) ›S‹ = ›N‹.83 Damit ist aus der anfänglich behaupteten semantischen Äquivalenz von ›Sein‹ und ›nicht-Nichtsein‹ (1) die gleichermaßen gültige Gegenposition, die Bedeutungsgleichheit von ›Sein‹ und ›Nichtsein‹ (5), entwickelt. Nach Wandschneider ist also der »Logik«-Anfang folgendermaßen zu rekonstruieren: Am Anfang steht die grundlegende Entgegensetzung von ›Sein‹ und ›Nichtsein‹. Diese Entgegensetzung dient dem Zweck, »den positiven Sinn von ›Sein‹ als solchen ausdrücklich zu machen durch Abhebung gegen das, was ›Sein‹ nicht bedeutet«.84 Bei dieser Entgegensetzung läßt sich an der Kategorie ›Sein‹ eine Eigenschaft beobachten, »die man von ihr aussagen kann«, die sie jedoch nicht »selbst aussagt, d. h. bedeutet«.85 Mit jenem Gegensatzverhältnis von Sein und Nichtsein kommt ein Merkmal an der Kategorie ›Sein‹ zum Vorschein, das sich an dieser Kategorie selbst − und nicht an ihrer lexikalischen Bedeutung − zu erkennen gibt: ›Sein‹ als die Gegen-Kategorie zu ›Nichtsein‹ hat selbst einen negativen Aspekt, da ›Sein‹ »eben nicht die Kategorie ›Nichtsein‹ ist«.86 So greift die Bedeutung des Gegenbegriffes ›Nichtsein‹ auf den Begriff ›Sein‹ und seine Eigenschaft über. In dieser negativen Eigenschaft, im Anderssein, entspricht die Kategorie ›Sein‹ der Kategorie ›Nichtsein‹, womit »zugleich eine positive Eigenschaftsbestimmung der Kategorie ›Sein‹«87 erbracht ist.

WdL (GW 12, 246/27 f.; im Original gesperrt); zit. von Wandschneider »Zur Struktur dialektischer Begriffsbestimmung« (wie Anm. 8), 126. 83 Ebd., 123. 84 Ebd., 137. 85 Ebd., 125. 86 Ebd., 137. 87 Ebd., 137. 82

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Dieses Anderssein »schlägt gleichsam auf die Bedeutungsebene durch«.88 Denn ›Sein‹ ist gerade dadurch, daß es ›N‹-entsprechend ist, es selbst, d. h. ›S‹-entsprechend. Nur durch die Übernahme der Eigenschaft seines Gegenbegriffes kommt die Bedeutung von ›Sein‹ zum Vorschein, ohne daß ›Sein‹ damit einfach mit seinem Gegenbegriff ›Nichtsein‹ zusammenfallen würde. ›Sein‹ verhält sich damit gegensätzlich und zugleich äquivalent zu ›Nichtsein‹.89 Somit kann die Bedeutung von ›Sein‹ nicht mehr eindeutig mittels der Entgegensetzung zu ›Nichtsein‹ zum Vorschein gebracht werden. »Die strikte Entgegensetzung von ›Sein‹ und ›Nichtsein‹ erweist sich als mangelhaft«,90 weil sie das Verhältnis beider Begriffe zu naiv oder zu einfach bestimmt. »Die Einseitigkeit ihrer strikten Entgegensetzung ist in der Weise zu korrigieren, daß sie auch als bedeutungsäquivalent zu fassen sind.«91 ›Nichtsein‹ als ein antinomischer Begriff hat hierbei die Bedeutung − besser gesagt: die methodische Bedeutung oder Funktion −, dieses antinomische Verhältnis von ›Sein‹ und ›Nichtsein‹ sichtbar zu machen. Der Terminus ›Nichtsein‹ indiziert also eine antinomische Verhältnisbestimmung von ›Sein‹ und ›Nichtsein‹: Ihre Relation ist als eine Negation oder Gegensätzlichkeit zu denken, die sich zugleich selbst negiert.92 Die prädizierende Tätigkeit, die dem Begriff ›Sein‹ abwechselnd die kontradiktorischen Eigenschaften ›N‹-entsprechend bzw. ›S‹-entsprechend zuspricht, entpuppt sich als die notwendige Folge jener antinomischen Relation zwischen ›Sein‹ und ›Nichts‹. Diese Relation liegt also jener prädizierenden Tätigkeit zugrunde. Diese prädizierende Tätigkeit selbst negiert nicht einfach ein vorgegebenes Positives, etwa einen ersten Begriff ›Sein‹. Es handelt sich dabei vielmehr um eine antinomische Tätigkeit, d. h. um eine selbstbezügliche Negationsform − insofern nämlich »jede vollzogene Prädikation eine neue, kontradiktorisch entegegengesetzte Prädikation induziert«, insofern also »jede Prädikation durch sich selbst […] Bedingung der entgegengesetzten Prädikation ist«.93

Ebd., 134. Das Verhältnis von ›Sein‹ und ›Nichtsein‹ klassifiziert Wandschneider (mit einem Diktum Henrichs) daher nicht bloß als eine »Einheit Entgegengesetzter«, sondern als die »Einheit ihrer Einheit und ihrer Differenz«. Vgl. Henrich, »Hegels Logik der Reflexion«, in: ders., Hegel im Kontext (wie Anm. 15), 95−156; hier 98; zit. von Wandschneider »Zur Struktur dialektischer Begriffsbestimmung« (wie Anm. 8), 138; dort Anm. 52. 90 Ebd., 137. 91 Ebd., 138. 92 Die Relation von ›Sein‹ und ›Nichtsein‹ besteht also nicht in einer Verknüpfung von gegensätzlichen Begriffen, sondern in einer Verknüpfung von antinomischen »Begriffsverhältnissen (Gegensatz und Äquivalenz)« (ebd., 136 f.). 93 Ebd., 127. Insofern hat für Wandschneider diese Relation den Charakter absoluter Negativität: »›Absolut‹ ist die Negativität«, so Wandschneider, »hier insofern, als sie nicht mehr ein vorausgesetztes Positives negiert, sondern, von diesem abgelöst − ›absolutus‹ − ›Beziehung des Negativen auf sich selbst‹ ist« (ebd., 126). 88 89

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III. Hegel

Gerade dadurch aber, daß hier die ständig ineinander umschlagenden, kontradiktorischen Prädikate von ›Sein‹ die Anerkennung ihrer Äquivalenz erzwingen, zeigt sich: ›Sein‹ besitzt aufgrund seines antinomischen Verhältnisses zu ›Nichtsein‹ selbst eine antinomische, in sich ambivalente Bedeutung, die den Fortgang zu einer synthetischen Kategorie erzwingt, mit der eine neue Bedeutung verbunden ist. Im vorliegenden Fall ergibt sich für diese synthetische Kategorie die Bedeutung: ›Sein, das gleichermaßen Nichtsein ist‹.94 So bestechend Wandschneiders Rekonstruktion auf den ersten Blick erscheint, so ist sie doch mit mehreren schwerwiegenden Problemen und Konsequenzen behaftet: Der Anfang − oder besser noch: das Anfangen − der »Logik« mit einer strikten Entgegensetzung von ›Sein‹ und ›Nichtsein‹, bekommt in dieser Deutung unverkennbar propädeutische Züge. Denn diese Entgegensetzung basiert zunächst auf dem schlichten und »einfachen Gedanken, daß die Negation letztlich nur als Negation eines vorausgesetzten Positiven sinnvoll ist«.95 ›Nichtsein‹ ermöglicht demnach erst die Entgegensetzung von ›Sein‹ und ›Nichtsein‹, indem es gewissermaßen erst im nachhinein in Gegensatz zum (scheinbar unmittelbar gegebenen) ›Sein‹ tritt. Diese so gedachte, einfache Entgegensetzung von ›Sein‹ und ›Nichtsein‹ läßt sich jedoch nicht in dieser Form aufrecht erhalten, da sie in eine komplexere Verhältnisbestimmung von ›Sein‹ und ›Nichtsein‹ überführt werden kann und auch muß. Hierbei ist im gegensätzlichen Verhältnis von ›Sein‹ und ›Nichtsein‹ von vornherein etwas impliziert, was in diesem anfänglichen Stadium »noch nicht mitepxliziert ist«.96 Diese Explikation des noch Impliziten gelingt nun durch eine Platonisch inspirierte Hinsichtnahme, die am ›Sein‹ selbst dessen Bedeutung und dessen »Eigenschaften« unterscheidet. Wandschneiders Rekonstruktion selbst setzt hierzu nicht mit einem unvermittelt positiven Sinn von Sein ein, zu dem dann der negative Gegenbegriff ›Nichtsein‹ hinzutritt, sondern sie expliziert die Bedeutung von ›Sein‹ zunächst ex negativo mit: (1) »S = nicht-N«. Damit zeigt sich der Bedeutungsaspekt von ›Sein‹ schon an dieser Stelle »mit Negativität kontaminiert«,97 und zwar in der Form einer Negation der Negation eines vorausgesetzten Positiven. Diese Form der doppelten Negation bleibt allerdings dem semantischen Gehalt von ›Sein‹ weitgehend äußerlich, weil diese Negationsform jenen semantischen Gehalt nicht tangiert oder verändert. Formal Vgl. ebd., 138: »Das hier als ›Sein‹ Benannte ist entgegengesetzt zu ›Nichtsein‹, und durch das ›gleichermaßen‹ ist bestimmt, daß dieses ›Sein‹ ebenso ›Nichtsein‹ und diesem insofern auch äquivalent ist. [Damit ist] so etwas wie eine neue Seinsart charakterisiert, nämlich eine solche, die gleichermaßen Sein und Nichtsein ist.« 95 Ebd., 120. 96 Ebd., 138. 97 Ebd., 121. 94

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zeigt sich dies etwa daran, daß die Negation in der Gleichung ›Sein = nicht-nichtSein‹ sich ganz auf der einen Seite der Gleichung konzentriert.98 Daraus folgt nun sicherlich: ›Sein ist semantisch nicht äquivalent mit Nichtsein‹ oder (à la Wandschneider formalisiert) ›S 7 N‹.99 Die semantische Gleichwertigkeit von ›Sein‹ und ›Nichtsein‹ muß also grundsätzlich verneint werden. Zugleich jedoch kann diese semantische Äquivalenz nicht schlechthin verneint werden. Denn wenn aus ›Sein = nicht-nicht-Sein‹ folgen soll: ›Sein 7 nicht-Sein‹, dann verschiebt sich hier die Negation gewissermaßen in Richtung des Gleichheitszeichens. Die gedoppelte Negation entzerrt sich gleichsam und greift auf die semantische Ebene von ›Sein‹ über: ›Sein‹ hat eine Bedeutung, der das Merkmal eines semantischen Nichtseins zukommt. Mit dieser Verschiebung der Negation wird aber ein Aspektwechsel möglich: Diese Negation oder dieses ›Nichtsein‹, kann nun als eine intrinsische Eigenschaft für die Bedeutung von ›Sein‹ selbst namhaft gemacht werden: (2) ›S ist Nentsprechend‹. ›Nichtsein‹ markiert dann einen wesentlichen Aspekt an der Bedeutung von ›Sein‹. Für die Explikation der Bedeutung von ›Sein‹ muß notwendig ein Bedeutungsmerkmal in Anspruch genommen werden, das in ihrem Gegenbegriff ›Nichtsein‹ fundiert und durch ihn vermittelt ist.100 Es dürfte bereits klar geworden sein, daß ›Sein 7 nicht-Sein‹ weit mehr und anderes bedeutet als ›Sein = nicht-nicht-Sein‹.101 Denn mit der Verschiebung der Negation gehört nun das Bedeutungsmerkmal ›N-entsprechend‹ konstitutiv zur Bedeutung von ›Sein‹. Anders gesagt: Die Bedeutung von ›Sein‹ tritt in ein Entsprechungsverhältnis zur Bedeutung von ›Nichtsein‹. Gleichwohl darf die Bedeutung von ›Sein‹ nicht in diesem Bedeutungsmerkmal ›N-entsprechend‹ aufgehen: Der Inhalt von ›Sein‹ wäre ansonsten, wie in Wielands Deutung, mit ›Nichtsein‹ bzw. mit ›Nichts‹ identifizierbar. Es kann also nicht unmittelbar folgen: ›S = N‹. Damit diese uner-

98 Die Negation ist hier also »als doppelte Negation eines vorausgesetzten Positiven und so einfach als Rückkehr zu diesem verstanden« (ebd., 135). Demnach besitzt diese Spielart einer Negation der Negation noch keinen selbstbezüglichen Charakter; es handelt sich eher um eine Negation eines negierten Positiven (negatio negati). Vgl. dazu etwa auch Henrich, »Formen der Negation in Hegels Logik«, in: Seminar: Dialektik in der Philosophie Hegels, hg. von R.-P. Horstmann, Frankfurt a. M. 21989, 213−229; hier 219 f. Ähnlich auch ders., »Hegels Grundoperation. Eine Einleitung in die ›Wissenschaft der Logik‹«, in: Der Idealismus und seine Gegenwart, hg. von U. Guzzoni u. a., Hamburg 1976, 208−230; hier 215: »Die Verdoppelung der Negation bedeutet in diesem Falle also im strikten Sinne gar nicht Selbstreferenz, sondern nur Anwendung einer Negation zweiter Stufe auf eine Negation in der ersten.« 99 Wie bereits angedeutet, führt Wandschneider für diesen Fall gerade keine Formalisierung durch. 100 Der Von Wandschneider durchgehend gebrauchte Terminus ›Eigenschaft‹ ist also hier wohl im Sinne von ›Bedeutungsmerkmal‹ zu verstehen: Die Bedeutung von ›Sein‹ ist selbst ein Fall von – semantischem – ›Nichtsein‹, und zwar dadurch, daß sie das Bedeutungsmerkmal aufweist, semantisch nicht gleichwertig mit Nichtsein‹ zu sein. 101 Vgl. dagegen Wandschneider, »Zur Struktur dialektischer Begriffsbestimmung« (wie Anm. 8), 121; dort Anm. 20.

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wünschte Folgerung − ein bloße Synonymie von ›Sein‹ und ›Nichtsein‹ − nicht eintritt, ist wiederum ein Aspektwechsel nötig: Zunächst brachte Wandschneiders Satz (2) ›S ist N-entsprechend‹ ein Bedeutungsmerkmal von ›Sein‹ zum Ausdruck: ›S ist N-entsprechend‹, weil gilt: ›Sein 7 nicht-Sein‹. Nun aber wird das ›ist‹ in jenem Satz (2) als Existenzaussage verstanden, welche, so Wandschneider, »ein Sein«102 zum Ausdruck bringt: ›Sein ist Nichtsein-entsprechend‹. Im Fokus steht damit das Sein der Kategorie ›Sein‹. Die Kategorie ›Sein‹ hat nun als Kategorie das Merkmal oder die Eigenschaft, daß sie ist und in dieser Hinsicht der Kategorie ›Nichtsein‹ entspricht. An der Kategorie ›Sein‹ tritt damit ihre Eigenschaft, ›N-entsprechend‹ zu sein, auf zwei Ebenen auf: Zum einen besitzt sie das Bedeutungsmerkmal, ›N-entsprechend‹ zu sein; und zum anderen weist ›Sein‹ das Merkmal auf, ebenso wie ›Nichtsein‹ eine Kategorie zu sein. Präsentierte sich die Kategorie ›Sein‹ angesichts ihrer Bedeutung als ein Fall von Nichtsein bzw. von semantischer Gegensätzlichkeit (›Sein 7 nichtSein‹), so präsentiert sie sich nun, in der zweiten Hinsicht, als ein Fall von Sein bzw. von ontologischer Äquivalenz: Im Hinblick auf ihren Status als Kategorie entspricht die Kategorie ›Sein‹ der Kategorie ›Nichtsein‹. Insofern gilt dann auch: »Sein ist Seinentsprechend«.103 In der von Wandschneider bevorzugten Platonischen Terminologie gesprochen, hätte ›Sein‹ demzufolge an einer Idee ›Sein‹ teil. Diese Form von Selbstteilhabe scheint jedoch keine strikte und daher auch nicht mit einem inneren Widerspruch oder einer Antinomie behaftet zu sein. Denn hier wird für die Kategorie ›Sein‹ − ebenso wie für die Kategorie ›Nichtsein‹ − ein Seinsbegriff in Anspruch genommen, mit dessen Hilfe sich ›Sein‹ und ›Nichtsein‹ als gleichwertige Kategorien bestimmen lassen. Auf den ersten Blick scheinen also beide Kategorien gegenseitig Teil an sich selbst und an ihrem Gegenbegriff zu haben. ›Nichtsein‹ und ›Sein‹ haben teil am ›Sein‹; sowie: ›Sein‹ und ›Nichtsein‹ haben teil am ›Nichtsein‹. Tatsächlich jedoch haben beide Kategorien an einer dritten Idee von ›Sein‹ teil, die die Eigenschaften der Äquivalenz und Gegensätzlichkeit in sich vereint: Beide Kategorien fallen als Kategorien unter den Begriff des bestimmten Seins. Beide Kategorien fallen unter ein Sein, das für sie gleichermaßen gilt oder bestimmend ist. Und beide Kategorien unterscheiden sich voneinander, weil beide Kategorie durch ihren gegenseitigen Ausschluß je für sich einen Fall von bestimmtem Sein darstellen. Wenn also der Kategorie ›Sein‹ sowohl das Prädikat ›N-entsprechend‹ (Satz 2) als auch das Prädikat »nicht-N-entsprechend« (Satz 3) beigelegt werden kann, dann kommt hier mitnichten »eine antinomische Prädikationsstruktur«104 zum Vorschein. Denn zum Nachweis ihres antinomi-

102 103 104

Ebd., 122. Vgl. ebd., 122. Ebd., 122 (im Original kursiv).

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schen Charakters müßten diese beiden Prädikate in ein und derselben Hinsicht für ›Sein‹ geltend gemacht werden können, was de facto allerdings nicht geschieht. Vielmehr wird zum einem die Bedeutung von ›Sein‹ so expliziert, daß vermittels der Negation einer semantischen Äquivalenz (›Sein 7 nicht-Sein‹) eben diese Negation zu einem wesentlichen Bedeutungsaspekt von ›Sein‹ gerät: Die Bedeutung von ›Sein‹ ist durch ihr bestimmtes Nichtsein vermittelt, insofern ›Sein‹ nicht die Bedeutung von ›Nichtsein‹ hat. Beide Bedeutungen sind gleichermaßen ihre je andere Bedeutung nicht; sie schließen sich gegenseitig aus. Um sich aber gegenseitig ausschließen zu können, müssen sie in bestimmter Hinsicht − eben als Bedeutungen − aufeinander bezogen bleiben. Genau diese Konstellation tritt zum anderen hervor, sobald ›Sein‹ als Kategorie in Betracht gezogen wird. Denn wenn ›Sein‹ als Kategorie ›Sentsprechend‹ ist, dann gilt auch hier nicht ohne weiteres, daß die Kategorie ›Sein‹ keine Entsprechung zu ›Nichtsein‹ hat (›Sein ist nicht Nichtsein-entsprechend‹). Im Gegenteil: Als Kategorie hat Sein am ›Nichtsein‹ Teil; im Hinblick auf ihr Sein ist auch die Kategorie ›Sein‹ wiederum ein Fall von Nichtsein: Die Kategorie ›Sein‹ hat ihrerseits ein Sein, das bestimmt ist gegen das Sein der Kategorie ›Nichtsein‹.105 Wir haben es hier also nicht mit einer antinomischen Prädikationsstruktur zu tun, die »gleichsam auf die Bedeutungsebene durch[schlägt]«.106 Vielmehr präsentiert sich hier ein und derselbe Sachverhalt der Andersheit, der sich auf zwei verschiedenen Ebenen iteriert: Die Kategorie ›Sein‹ konstituiert sich als mit sich selbst identisch durch den Ausschluß eines Anderen, das gleichwohl in dieser Negation auf sie bezogen bleibt: durch den Ausschluß ihrer entsprechenden Gegen-Kategorie ›Nichtsein‹.107 Die Kategorie ›Sein‹ präsentiert sich als das Andere ihres – d. h. eines ihr entsprechenden – Anderen, aber eben nicht als das Andere ihrer selbst. In Cusani-

Den Begriff der semantischen Äquivalenz faßt daher Wandschneider von vornherein sehr eng als Negation des kontradiktorischen Gegenteils – was sicherlich nicht den Begriff der semantischen Äquivalenz erschöpft. (Dementsprechend wäre etwa auch der semantische Gehalt von »Ehemann« mittels der semantischen Gleichung so zu explizieren: »Ehemann = nicht-nicht-verheirateter Mann«. Daher gälte dann auch: »Ehemann 7 nicht-verheirateter Mann«. Davon unberührt läßt sich die Bedeutung von »Ehemann« auch in der Gleichung »Ehemann = Gatte« explizieren.) Worauf es Wandschneider hier offensichtlich ankommt, ist ein besonderer Umstand, der sich wohl nur an den Begriffen ›Sein‹ und ›Nichtsein‹ so zeigt: Das Verhältnis dieser beiden Begriffe zueinander kann mit eben den Merkmalen der Äquivalenz (›Sein‹) und Gegensätzlichkeit (›Nichtsein‹) beschrieben werden, die auch für das Verhältnis ihrer Bedeutungen zueinander bestimmend sind. Die Verhältnisse auf beiden Ebenen − auf der semantischen wie auf der kategorialen Ebene − entsprechen sich also. 106 Vgl. ebd., 137. 107 Vgl. ebd., 144: »Entscheidend […] ist somit der Tatbestand, daß ›Sein‹ eben nicht ›Nichtsein‹ ist (und umgekehrt ›Nichtsein‹ nicht ›Sein‹ ist), oder anders gesagt: daß das Sein der Kategorie ›Sein‹ ebenso Nichtsein der Kategorie ›Nichtsein‹ ist (und umgekehrt daß Sein von ›Nichtsein‹ ebenso Nichtsein von ›Sein‹ ist)«. 105

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scher Terminologie: ›Sein‹ ist hier nichts anderes als (non aliud quam) es selbst, gerade weil es ein Anderes gegenüber einem Anderem (aliud ab alio) bleibt.108 Genau dieses Verhältnis der bestimmten Andersheit kommt auch auf der Ebene der Bedeutungen von ›Sein‹ und Nichtsein‹ zur Geltung. Insofern besitzt das Verhältnis von ›Sein‹ und ›Nichtsein‹ durchaus einen selbstbezüglichen Charakter: Das von Äquivalenz und zugleich von Gegensätzlichkeit geprägte Verhältnis zwischen den Kategorien ›Sein‹ und ›Nichtsein‹ findet sich auf einer anderen Ebene wieder: im Verhältnis der beiden Bedeutungen von ›Sein‹ und ›Nichtsein‹. Was also für das Verhältnis der beiden Kategorien ›Sein‹ und ›Nichtsein‹ gilt, das gilt auch entsprechend für das Verhältnis ihrer Bedeutungen. Beide Ebenen sind gleichermaßen von der Bezugsform der Andersheit geprägt, oder in Wandschneiders Diktion: sie sind »von vornherein mit Negativität kontaminiert«.109 Eine derartige Gleichzeitigkeit von kontradiktorischen Verhältnisbestimmungen (›N-entsprechend‹; ›nicht-N-entsprechend‹), die sich auf zwei verschiedenen Ebenen wiederholen und dort jeweils verschiedene Hinsichten markieren, erbringt jedoch noch keinen negativen Selbstbezug bzw. keine Antinomie: ›Sein‹ konstituiert sich nicht durch einen negativen Bezug auf sich selbst, sondern durch den gegenseitigen Ausschluß zweier komplementärer Kategorien und ihrer Bedeutungen.110 Vgl. dazu D. Henrich, »Hegels Logik der Reflexion. Neue Fassung«, in: Die Wissenschaft der Logik und die Logik der Reflexion, hg. von D. Henrich, Bonn 1978, 203−324; hier 262: »Andersheit ist […] eine zweistellige Relation. Man braucht zwei Unterscheidbare, um sagen zu können, daß etwas ein Anderes ist. Etwas ist eben immer nur anders als etwas Anderes. Nach den Verwendungsregeln von Andersheit als zweistellige Relation ist es auch legitim und leicht, den Term ›anders‹ zweimal zu gebrauchen. Etwas ist anders als das andere Etwas. Und da es selbst gegenüber diesem anderen Etwas ein Anderes ist [= aliud ab alio!], ist es eben das Andere seines Anderen. Diese Rede hat eine ganz geläufige Bedeutung; es gibt keinen Grund, von ihr zu spekulativen Entwicklungen von der hegelischen Art überzugehen« (Hervorh. StG). 109 Wandschneider »Zur Struktur dialektischer Begriffsbestimmung« (wie Anm. 8), 122. 110 Genau an diesem Punkt wird die Problematik sichtbar, wenn Wandschneider für die Rekonstruktion eines antinomischen oder selbstbezüglich negativen Verhältnisses zwischen ›Sein‹ und ›Nichts‹ auf den Terminus ›Entsprechung‹ rekurriert und diesen Terminus zudem mit dem Platonischen Gedanken der Teilhabe identifiziert. Ein Entsprechungsverhältnis ist nicht einfach »etwas Positives« (ebd., 126), vielmehr kann dieses Verhältnis seinerseits in einen Differenz- und Identitätsaspekt (das ›Worin‹ der Entsprechung) aufgespalten werden. So ist es kein Wunder, daß Wandschneider das Konzept einer Selbstteilhabe eines Begriffes an sich selbst (»S ist S-entsprechend«) für »sinnvoll« hält (vgl. ebd., 123; dort Anm. 22). Denn der Umstand, daß die Kategorie ›Sein‹ ihrerseits einem Sein entspricht, läßt verschiedene Aspekte zu: Der semantische Aspekt von ›Sein‹ kann von dem Aspekt unterschieden werden, daß ›Sein‹ auch noch eine Kategorie ist. Der Identitätsaspekt liegt darin, daß beide Ebenen – d. h. sowohl die Bedeutung ›Sein‹ als auch die Kategorie ›Sein‹ − gleichermaßen »mit Nichtsein kontaminiert« sind. Die Kategorie ›Sein‹ wird hier also nicht durch Teilhabe an ihrer Bedeutung zu dem, was sie ist. Vielmehr fällt für Wandschneider die Kategorie ›Sein‹ als Kategorie unter einen Seinsbegriff, der seine Entsprechung auf der Bedeutungsebene hat: In der Entgegensetzung zu seinem entsprechend negativen Begriff ›Nichtsein‹ entpuppt sich ›Sein‹ als eine bestimmte Kategorie mit einer bestimmten Bedeutung. Das Sein der Kategorie ›Sein‹ kann daher auch nicht an ihrer Bedeutung der völligen Bestimmungslosigkeit teilhaben. ›Sein‹ negiert damit auch nicht seine 108

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Die wahre Bedeutung der Kategorien ›Sein‹ und ›Nichtsein‹ besteht also darin, daß sie im Verhältnis der Andersheit zueinander stehen und daß sie dies, recht besehen, auch in ihren jeweiligen Bedeutungen zu erkennen geben. Aufgrund dieses Verhältnisses der Andersheit besitzen daher für Wandschneider die Kategorien »Sein‹ und ›Nichtsein‹ die Struktur von bestimmtem Sein oder von Dasein: »Die Kategorien ›Sein‹ und ›Nichtsein‹ sind selbst schon ein Beispiel von etwas, dem Sein und gleichermaßen Nichtsein als Eigenschaft zukommt, d. h. sie repräsentieren selber schon ein Dasein.«111 Diese wahre Bedeutung ist den lexikalischen Bedeutungen ›Sein‹ und ›Nichtsein‹ jedoch nicht direkt abzulesen, sondern kommt erst durch ei-

Unbestimmtheit als Kategorie, die sich negativ auf alle Bestimmtheit bezieht. − Im übrigen ist Platon bei seiner Entwicklung der συμπλοκὴ τῶν εἰδῶν streng darauf bedacht, die Bedeutungsebene nicht mit der Eigenschaftsebene eines Begriffes zu konfundieren. Gerade weil der Teilhabe-Begriff ein Verhältnis der Identität und der Differenz impliziert, ermöglicht er auch eine differenzierende Hinsichtnahme: So zeigt etwa die Aussage »Das Nichtseiende ist seiend« eine Teilhabe des Begriffs »Nichtseiend« am Eidos des Seins und der Identität an; der Begriff »Nichtseiend« kann daher als ein einheitliche Begriffsgestalt unter das viele Seiende gerechnet werden (Soph. 258 C: ἐνάριϑμον τῶν πολλῶν ὄντων εἶδος ἕν). Erst aufgrund dieser seiner Teilhabe konstituiert sich für den Begriff »Nichtseiend« auch dessen Bedeutung als eine einheitliche. (Genau darauf kommt es ja Platon im »Sophistes« an: Nichtseiendes kann sehr wohl gedacht und ausgesagt werden. Damit ist auch die Möglichkeit gegeben, eine Aussage von Nichtseiendem überhaupt als falsche Aussage (λόγος) – und nicht bloß als sinnlosen Laut (φϑόγγος) – zu klassifizieren: Eine falsche Aussage ist dann zwar eine Aussage, als Aussage seiend, aber das damit Bedeutete ist nichtseiend.) Die Aussage »Das Nichtseiende ist nichtseiend« meint daher: Der Begriff »Nichtseiend« hat die Bedeutung »Nichtseiend«, indem er gerade nicht das Eidos des Sein und der Identität ist, nur sondern nur als Begriff an ihnen teilhat und insofern seiend und mit sich selbst identisch ist. Das Eidos des Seins und der Identität gehen jedoch nicht in die Bedeutung von »Nichtseiend« ein. Zutreffend spricht daher Düsing von einer »Hinsichtenunterscheidung« bei Platon: »Das ›ist‹ in der jeweiligen Aussage bedeutet: ›hat teil an …‹. […] Das ›ist nicht‹ in der jeweiligen negativen Aussage bedeutet: bildet keinen inhaltlichen Bedeutungsbestandteil« (K. Düsing, »Dialektikmodelle. Platons ›Sophistes‹ sowie Hegels und Heideggers Umdeutungen«, in: Das Problem der Dialektik, hg. von D. Wandschneider, Bonn 1997, 4−18; hier 8). Genau diese Hinsichtenunterscheidung nimmt auch Wandschneider bei seinem zentralen, angeblich antinomischen Begriff »N = nichtN-entsprechend« vor. Denn die Bedeutung von ›Nichtsein‹ konstituiert sich für Wandschneider dadurch, daß ›Nichtsein‹ nicht-N-entsprechend ist: Insofern also die Bedeutung von ›Nichtsein‹ nicht-N-entsprechend ist, hat sie am ›nicht-Nichtsein‹, d. h. am ›Sein‹ teil. Die Bedeutung ›Nichtsein‹ hat also ein Sein, ist jedoch nicht selbst ›nicht-Nichtsein‹ oder ›Sein‹ (sondern ›nicht-Nichtsein-entsprechend‹). Qua dieser Teilhabe geht also ›Sein‹ gar nicht als inhaltlicher Bedeutungsbestandteil in die Bedeutung von ›Nichtsein‹ ein. Für die Rekonstruktion eines antinomischen Verhältnisses zwischen ›Sein‹ und ›Nichts‹ scheint demnach der Platonische Begriff der Teilhabe ungeeignet zu sein, da dieser Begriff die Gleichzeitigkeit von Identität und Differenz in verschiedenen Hinsichten zuläßt und so »den Widerspruch [vermeidet], was für einen Vergleich mit Hegels Dialektik von fundamentaler Bedeutung ist« (Düsing, Hegel und die Geschichte der Philosophie, Darmstadt 1983, 82). – Um Mißverständnissen vorzubeugen: Im Vorigen ging es mir nicht um Hegels Verständnis der Platonischen Dialektik (die er auf seine eigene, eben Hegelische Weise versteht oder, wenn man so will, verzeichnet), sondern um die Konsequenzen, die sich aus Wandschneiders Inanspruchnahme der Platonischen Methexis für seine Rekonstruktion des »Logik«-Anfanges ergeben. 111 Wandschneider »Zur Struktur dialektischer Begriffsbestimmung« (wie Anm. 8), 144.

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nen Aspektwechsel zum Vorschein, der auf die Eigenschaften des wechselseitigen Verhältnisses von ›Sein‹ und ›Nichtsein‹ fokussiert. ›Sein‹ und ›Nichtsein‹ sagen also je für sich weniger, als sie in ihrem Zusammenspiel meinen. Dieser explikatorische Mangel ist erst mit der Kategorie des bestimmten Sein oder des ›Daseins‹ semantisch behoben: Mit dieser Kategorie kann die Verhältnisbestimmung von ›Sein‹ und ›Nichtsein‹ terminologisch fixiert werden.112 »Dasein« ist daher für Wandschneider diejenige Kategorie, die eigentlich auf die anfänglichen Kategorien ›Sein‹ und ›Nichts‹ folgen müßte. Und so sieht sich Wandschneider zu einem Schritt von großer Tragweite veranlaßt: Die in Hegels »Logik« unmittelbar auf ›Sein‹ und ›Nichts‹ folgende »Kategorie ›Werden‹ [ist] an dieser Stelle fallenzulassen«.113 Das Beweisziel, daß der Anfang der Hegelschen »Logik« von absoluter Negativität, d. h. von einer selbstbezüglichen Negation durchzogen ist, scheint also nicht erreichbar zu sein, zumindest nicht mit der Methode und den Mitteln, die Wandschneider anwendet. Das liegt sicherlich zunächst daran, daß Wandschneider hier, wie er selbst betont, »eine von Hegel gänzlich abweichende Argumentationsstrategie«114

112 Vgl. ebd., 144: »In der Dialektik der Gegensatzbestimmungen zeigt sich damit auf der Eigenschaftsebene bereits ein Vorschein der erst noch zu bildenden synthetischen Struktur; die synthetische Kategorie [sc. ›Dasein‹] ist deren Realisierung auf der semantischen Ebene.« 113 Ebd., 140. Zwar konzediert Wandschneider: »Sicher sind ›Sein‹ und ›Nichtsein‹ in irgendeiner Weise auch in der Bestimmung ›Werden‹ enthalten. Wenn etwas wird, geht es von einem Nichtsein in ein Sein über.« Für die Bestimmung ›Werden‹ ist jedoch der Begriff des bestimmten Seins schon vorauszusetzen: »Aber was hier übergeht, ist nicht mehr Sein überhaupt, sondern ein schon bestimmtes Sein, aus dem es herkommt, und ein bestimmtes Nichtsein, in das es übergeht. Und es ist zudem ein Übergehen und nicht die bloße Verbindung von ›Sein‹ und ›Nichtsein‹ (als entgegengesetzt und äquivalent), also eine viel reichere Struktur als die an dieser Stelle geforderte Synthese von ›Sein‹ und ›Nichtsein‹« (ebd., 141 f.). Hierzu sei nur Dreierlei angemerkt: (1.) Der Begriff des Werdens scheint hier ganz auf den Begriff des Anderswerdens (alteratio) eingeengt zu sein. Ulricis Hegel-Kritik zustimmend, sieht Wandschneider daher im Begriff des Werdens »die Vermittelung des Seyns mit dem Andersseyn« (H. Ulrici, Über Princip und Methode der Hegelschen Philosophie. Ein Beitr. zur Kritik derselben, Halle 1841, 90 f.; zit von. Wandschneider, a. a. O., 140; dort Anm. 44). Werden setzte demnach ein bestimmtes Sein voraus, an dem es sich vollzieht, und nicht wie in Hegels »Logik« die Kategorie des Daseins die Kategorie des einfachen Werdens, das die gedoppelte Bestimmung ›Entstehen‹ und ›Vergehen‹ aufweist (vgl. WdL; GW 21, 93/7 ff.). (2.) Dem Umstand, daß damit der systematische Stellenwert von ›Werden‹ unklar wird, kann mit dem bloßen ›Fallenlassen‹ dieser Kategorie – deren Einführung zudem mit dem Hinweis auf Hegels »eher dubiose Argumentation« (ebd., 141) abgetan wird – überhaupt nicht zureichend entgegnet werden. Denn wenn die Kategorie ›Werden‹ nicht den ihr von Hegel zugewiesenen systematischen Platz vor ›Dasein‹ haben kann, so ist damit noch nicht geklärt, welchen Platz diese Kategorie denn nun nach ›Dasein‹ einnehmen soll. Mit der trockenen Versicherung, in der Kategorie ›Werden‹ seien Sein und Nichtsein »in irgendeiner Weise auch« enthalten, ist es nicht schon getan. (3.) Wenn die synthetische Kategorie ›Dasein‹ tatsächlich nur in einer bloßen »Verbindung« von Sein und Nichtsein bestehen sollte, dann ist damit einer selbstbezüglichen Negation, zumindest am »Logik«-Anfang, das Todesurteil gesprochen: Dasein oder bestimmtes Sein ist dann ein Sein, das auch Nichtsein ist, insofern es nämlich sein Negatum von sich selbst ausschließt (negatio sui negati). 114 Ebd., 125.

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verfolgt. Ein solches Vorgehen wäre wohl nicht allzu problematisch, wenn Wandschneider für Hegels Vorgehen am Anfang der »Logik« Begründungen (nach)liefern würde, die dieser nicht gibt oder nicht für erwähnenswert hält.115 Mit der Entgegensetzung von Sein und Nichtsein schafft Wandschneider jedoch eine völlig andere Ausgangssituation als am Anfang der »Logik«, wodurch das Verhältnis von ›Sein‹ und ›Nichts‹ und damit auch der Charakter des »Logik«-Anfanges tiefgreifend verändert wird. Mit der Ersetzung der Hegelschen Kategorie ›Nichts‹ durch ›Nichtsein‹ steht und fällt Wandschneiders Argumentation. Jedenfalls wäre sie so nicht möglich, wenn anstelle der Negation ›Nichtsein‹ die Kategorie ›Nichts‹, wie bei Hegel, eingeführt worden wäre […]. Denn ›Sein‹ ist zwar nicht ›Nichtsein‹, aber es ist jedenfalls nicht nichts. Deutlich wird der Unterschied in der Wahl der Negation von ›Sein‹ auch im Hinblick auf die synthetische Kategorie: Wäre ›Dasein‹ bestimmt als ›Sein, das zugleich Nichts ist‹, so wäre damit eine strikte Inkompatibilität der Momente gegeben, d. h. die Syntheseforderung wäre so nicht mehr erfüllbar. Ein Sein kann zwar, wie dargelegt, als ein bestimmtes Sein zugleich ein Nichtsein sein, nämlich Nichtsein von anderem bestimmten Sein; aber es kann nicht zugleich nichts sein (= überhaupt nicht sein). […] In der Tat werden ›Sein‹ und ›Nichtsein‹ kompatibel, sobald es bestimmtes Sein gibt, das als solches zwar Sein, aber in einer bestimmten anderen Hinsicht auch Nichtsein ist. ›Nichtsein‹ ist dann prädikativ verwendet im Sinne eines ›Nichtsein von etwas‹. Stünde hingegen dem Sein ›nichts‹ gegenüber, so gäbe es nur Sein, ohne alle Weiterungen. Mit der Kategorie ›Nichts‹ wäre der Prozeß dialektischer Fortbestimmung abgeschnitten und auf den Anfang zurückgeworfen.116 Hier zeigt sich deutlich: Die anfänglichen Kategorien ›Sein‹ und ›Nichts‹ sind von der späteren Kategorie ›Dasein‹ her verstanden und bereits durch diese vermittelt; ›Nichts‹ kann so von vornherein keine andere Bestimmung haben als die des prädikativen ›Nichtsein von etwas‹: Diesem Etwas kommt es zu, in bestimmter Hinsicht anders zu sein als ein anderes Etwas. Zwar gehen auch für Hegel ›Sein‹ und ›Nichts‹ als Momente in die Kategorie ›Dasein‹ ein. Dort haben sie jedoch eine andere Bestimmung, weil ›Dasein‹ eine anders bestimmte Einheit von ›Sein‹ und ›Nichts‹ darstellt: Seyn und Nichts sind dasselbe; d a r u m w e i l s i e d a s s e l b e s i n d , s i n d s i e n i c h t m e h r S e y n u n d N i c h t s , und haben eine verschiedene Bestimmung; Dies liegt durchaus auch in Wandschneiders Intention, wenn er etwa bestimmte methodische und gedankliche Schritte Hegels einsichtig zu machen versucht, die »bei ihm [sc. bei Hegel] aber nicht begründet« werden bzw. sich »wohl weniger klar ausgedrückt finden« (ebd., 123 mit Anm. 22). 116 Ebd., 142. 115

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im Werden waren sie Entstehen und Vergehen; im Dasein als einer anders bestimmten Einheit sind sie wieder anders bestimmte Momente. Diese Einheit bleibt nun ihre Grundlage, aus der sie nicht mehr zur abstracten Bedeutung von Seyn und Nichts heraustreten.117 Die Negation ist demnach in der Kategorie ›Dasein‹ bereits auf eine andere Weise eingebunden als das anfängliche ›Nichts‹ im reinen ›Sein‹. Dasein ist die Einheit von Etwas und Anderem, und zwar so, daß es als bestimmtes Sein oder ein qualitativ bestimmtes Etwas »nicht nur gegen ein Anderes, sondern an ihm schlechthin negativ bestimmt«118 ist. In Wandschneiders Deutung hingegen findet keine immanente Entwicklung von ›Sein‹ zu ›Etwas‹, welches das Andere seiner selbst ist, statt. Vielmehr ist die Überführung von ›Sein‹ und ›Nichts‹ in die synthetische Kategorie ›Dasein‹ dem Umstand geschuldet, daß in das Verhältnis von ›Sein‹ und ›Nichts‹ stets schon implizite Vorannahmen eingegangen sind: Das Verhältnis von ›Sein‹ und ›Nichtsein‹ meint »jedenfalls nicht reines Sein oder Nichtsein, sondern ein durch Sein modifiziertes Nichtsein oder ein durch Nichtsein modifiziertes Sein, eben ein ›Dasein‹.«119 Diese Modifikation ergibt sich jedoch nicht daraus, daß sie durch das anfängliche, widersprüchliche Verhältnis von ›Sein‹ und ›Nichts‹ selbst erzwungen wird. Die Modifikation besteht hier darin, daß jenes Verhältnis in einen bloß expliziteren Modus überführt wird. ›Begriffsentwicklung‹ kann daher für Wandschneider »nur heißen: Explikation der für diese Begriffsentwicklung selbst immer schon vorausgesetzten logisch-semantischen Mittel«.120 Für die Kategorien ›Sein‹ und ›Nichtsein‹ und ihr Verhältnis zueinander kann jedenfalls eine solche, stets schon vorauszusetzende »Bedingung der Möglichkeit«121 namhaft gemacht werden: die Kategorie ›Dasein‹. Mit dieser Kategorie sind allerdings Voraussetzungen eingeholt, die doch nur die von Wandschneider im vorhinein gesetzten sind, da sie allesamt durch die Ersetzung des ›Nichts‹ durch ›Nichtsein‹ bedingt sind.122

WdL (GW 21, 95/18−23). − Mit diesen Sätzen beschließt Hegel bekanntlich das Kapitel über das reine Sein. 118 WdL (GW 21, 96,5 f.). 119 Wandschneider, a.a.O., 145. 120 Ebd., 158. 121 Ebd., 145 (im Original kursiv). 122 Wandschneider betont zwar die Notwendigkeit »eines geregelten, stringenten Explikationsverfahrens«, für das es zuvor »herauszufinden [gilt], was an einer bestimmten Stelle der Begriffsentwicklung notwendig präsupponiert […] ist« (ebd., 143). Bei dieser Suche ist jedoch »eine Auswahl aus der Fülle impliziter Präsuppositionen einer Kategorie« unumgänglich: Es gilt eine für den »jeweils erreichten Entwicklungsstand […] spezifische Hinsicht« zu entwickeln. Abgesehen von der Frage, ob für den spekulativen Anfang selbst überhaupt eine spezifische Hinsicht charakteristisch ist, scheint Wandschneiders Explikationsverfahren folgendes Problem nach sich zu ziehen: Einmal angenommen, es gäbe tatsächlich eine spezifische Hinsicht, die die notwendigen, aber impliziten Vorausset117

1. Das Problem des Anfangs

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Der »Logik«-Anfang ist zudem nicht wirklich durch eine Antinomie gekennzeichnet, wenn sich die Antinomie von ›Sein‹ und ›Nichtsein‹ als ein »Scheinwiderspruch« herausstellt: Das anfängliche Verhältnis von ›Sein‹ und ›Nichts‹ läßt sich »argumentationsunschädlich« 123 unter verschiedenen Hinsichten betrachten, welche dann die Kategorie ›Dasein‹ bündelt, die ihrerseits eine weitere Kategorie – die der ›Bestimmtheit‹ – zu ihrer Voraussetzung hat. Die absolute Differenz und Identität von ›Sein‹ und ›Nichtsein‹ war von Anfang an gar nicht so strikt gemeint, da ein prädikativ verstehbares ›Nichtsein von etwas‹ einen Fremdbezug von Etwas auf sein je anderes Etwas ermöglicht. Nach Wandschneider ist zwar das negativ selbstbezügliche »Sichvonsichselbstunterscheiden […] wenn auch nicht das ganze Uhrwerk selbst, so doch die Unruhe«124 bei der dialektischen Begriffsentwicklung. In seiner Rekonstruktion des »Logik«-Anfanges ist jedoch das Ticken dieser Unruh nicht mehr zu vernehmen. Die eingangs postulierte Entgegensetzung zweier komplementärer Begriffe (›Sein‹/›Nichtsein‹) führt Wandschneider zu dem Schluß, »daß die ›Logik‹ möglicherweise keinen Anfang hat. ›Sein‹ und ›Nichtsein‹ wären vielmehr als Dissoziationsprodukte einer vorausgehenden Kategorie zu begreifen, die ihrerseits ›Vorgänger‹ hätte«.125 Ist aber die ›anfängliche‹ Entgegensetzung von Sein und Nichtsein ihrerseits als das Produkt einer Dissoziation zu verstehen, ist also auch sie »durch vorhergehende Kategorien prinzipiiert«,126 dann kann die Negation ›Nichtsein‹ gar nicht durch die erste Kategorie ›Sein‹ prinzipiiert sein.127 Für den Anfang der »Logik« je-

zungen für den Anfang der Begriffsentwicklung entdeckt, dann kann sich die besagte Hinsicht nur den nachfolgenden Kategorien verdanken, da nur in diesen Kategorien jene Voraussetzungen thematisch oder explizit gemacht sind: Die Entwicklung der Kategorien erklärt sich dann ausschließlich rückläufig und nicht aus sich selbst. Durch diese spezifische Hinsichtnahme auf die nachfolgenden Kategorien wird also das logisch Frühere aus dem entwicklungsgeschichtlich Späteren entwickelt. Für den spekulativen Anfang heißt dies: Die Kategorien ›Sein‹ und ›Nichts‹ werden aus der Kategorie ›Dasein‹, welche die Bedingung ihrer Möglichkeit ist, entwickelt und nicht umgekehrt. Nur unter der Voraussetzung der Kategorie ›Dasein‹ kann es sich bei ›Sein‹ um »eine sinnvolle Kategorie« (ebd., 143) handeln. Das anfängliche, reine Sein modifiziert nicht sich im Gang des Denkens zu einem »durch Nichtsein modifizierten Sein«; vielmehr ist hier das reine Sein von Anfang an schon als »ein durch Nichtsein modifiziertes Sein« begriffen, wenn auch noch nicht ausreichend als ein solches expliziert. Damit wäre aber die völlige Unbestimmtheit des reinen Seins nurmehr bloße Unterbestimmheit bzw. nurmehr ein Mangel an Explizitheit. 123 Ebd., 134 (das Zitierte im Original kursiv). 124 Ulrici, Über Princip und Methode der Hegelschen Philosophie (wie Anm. 113), 63; zit. von Wandschneider, a.a.O., 135. 125 Ebd., 149. − Wie diese vorausgehende Kategorie genauerhin in ihrem Verhältnis zum faktischen »Logik«-Anfang zu denken wäre, läßt Wandschneider offen. Es beläßt es bei Andeutungen über die zyklische, in sich zurücklaufende Struktur der gesamten »Logik«. 126 Ebd., 158; Hervorh. StG. 127 Vgl. ebd., 158, wo Wandschneider »von der gehaltleersten Kategorie des ›Seins‹ […] und der durch sie prinzipiierten Negation ›Nichtsein‹« spricht.

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III. Hegel

denfalls gelingt dann kein echter »Aufweis von Prinzipiierungszusammenhängen«128 mehr: Es kann immer bloß im nachhinein sichtbar gemacht werden, welchen implikativen Bedingungen dasjenige Gegensatzverhältnis unterliegt, in dem ›Sein‹ und ›Nichtsein‹ bereits stehen. Aus dem »Logik«-Anfang selbst ist damit die Negation jedenfalls nicht erklärt.129

1.3 Der Anfang und die autonome Negation Wenn also die Negation ein unveräußerliches Konstituens für die immanente Begriffsentwicklung darstellen soll, dann kann die Negation nicht an einem bestimmten Punkt der Begriffsentwicklung von außen einfallen, um dann in einem bestimmten Stadium auch wieder eskamotiert zu werden. So kommt bereits die Negation eines vorausgesetzten »A« diesem »A« nachträglich zu, da diese Negation jenes »A« zu ihrer Voraussetzung hat, sie also ohne das, was sie negiert bzw. worauf sie sich richtet, nicht gedacht werden kann. Die nochmalige Anwendung der Negation auf das negierte »A« führt dabei zu keinem anderem Resultat als zur Wiederherstellung des ursprünglich vorausgesetzten »A«. Die zweite Negation jener ersten Negation, die sich an »A« vollzogen hat, schließt so »non-A« von »A« aus. Eine derartig verdoppelte Negation ist also offensichtlich noch keine »Quelle eines immanenten logischen Fortschrittes«.130 Denn für ihren ersten Schritt – für die ›einfache‹ Negation von »A« – hat sie »A« zu ihrer Voraussetzung, das sie negiert und das als terminus ad quem durchaus von eben der Negation selbst verschieden ist. Bei ihrem zweiten Schritt – der Negation von »non-A« – kehrt sie zu ihrer Ausgangsvoraussetzung »A« zurück. Damit führt diese Selbstaufhebung der Negation ein Resultat herbei, das ihr und dem sie extern bleibt. Äußerlich bleibt dieses Verhältnis von Negation und ihrem Negatum hier deswegen, weil die doppelt negierende Ebd., 158. Das Problem an Wandschneiders Rekonstruktion des »Logik«-Anfanges ist also nicht einfach, daß sie ihn in äußerlicher Reflexion nachzeichnet und damit per se schon verzeichnen würde, sondern daß sie das, was am »Logik«-Anfang erst noch einer Erklärung bedürfte, bereits für die eigene Erklärung in Anspruch nimmt. Wenn Wandschneider nämlich die Gegensatzbestimmungen von ›Sein‹ und ›Nichtsein‹ »von vornherein als dichotom-ausschließend − eben als komplementär − charakterisiert« (ebd., 136), dann kehrt er damit das Verhältnis von Interpretation und Interpretandum um: Jene Gegensatzbestimmungen sind ein Interpretament, aus dem dann die (gar nicht so) antinomischen Prädikationsstrukturen (N-entsprechend; S-entsprechend) folgen. Das »Schwierige« und Interpretationsbedürftige »an der Dialektik von Sein und Nichts« ist jedoch, daß Sein und Nichts erst einmal als »different gedacht werden müssen« (Hösle, Hegels System [wie Anm. 36], 199; dort Anm. 81): Wie also tritt Sein in ein Gegensatzverhältnis zu Nichts, ohne daß ein solches Verhältnis für beide Kategorien bereits vorausgesetzt würde? Wie ist hier Negation zu denken, wenn sie nicht als Bestimmung an den beiden Kategorien auftritt? 130 Henrich, »Hegels Grundoperation« (wie Anm. 98), 215; Hervorh. StG. 128 129

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Operation nichts an »A« verändert und weil die Negation als solche bei dieser Operation unverändert aufrecht erhalten wird. Das Resultat »A«, von dem »non-A« ausgeschlossen wurde, »bleibt kraft dieses Ausschlusses mit sich allein zurück. […] Die Negation selber ist dabei aber ganz ohne Selbstbeziehung.«131 Die Negation negiert hier also nicht sich, sondern bekräftigt den extrinsischen Ausschluß von »non-A« aus »A«.132 Für ihren ersten Schritt hat also diese verdoppelte Negation ein ihr externes Anderes zur Voraussetzung, was ihr im zweiten Schritt einen immanenten, aus ihr selbst kommenden Fortgang zu Anderem verwehrt. Als Quelle eines immanenten Fortschrittes muß daher die gedoppelte Negation so gedacht werden: Für ihren ersten Schritt darf sie keine ihr externe Voraussetzung bzw. keinen Fremdbezug aufweisen, und doch muß doch sie im zweiten Schritt aus sich selbst einen solchen Bezug auf Anderes hervorbringen. Das Resultat dieser doppelten Negation kann also nicht der Ausschluß von Anderem, sondern nur das Andere ihrer selbst sein.133 Die Selbstaufhebung der doppelten Negation muß also von der Art sein, daß aus eben dieser Selbstaufhebung ein anderer, ›fortgeschrittener Zustand‹ resultiert. Aus der Perspektive dieses fortgeschrittenen Zustandes gesehen, muß die Selbstaufhe-

Henrich, »Formen der Negation in Hegels Logik« (wie Anm. 98), 223. Vgl. dazu auch Ch. Iber, Metaphysik absoluter Relationalität. Eine Studie zu den beiden ersten Kapiteln von Hegels Wesenslogik, Berlin/New York 1990, 224 ff. 133 Wenn ich im folgenden Wendungen wie »muß gedacht werden«, »muß so konzipiert sein, daß …« gebrauche, dann scheint es mir hierzu kein schlagender Einwand zu sein, daß solche Wendungen eine »äußere Reflexion« indizieren, »die die Immanenz der Selbstbewegung vollends zerbricht« (K. Utz, Die Notwendigkeit des Zufalls. Hegels spekulative Dialektik in der »Wissenschaft der Logik«, Paderborn u. a., 2001, 81; dort Anm. 21). Auch wenn Hegel alle Einfälle der äußeren Reflexion vom logischen Anfang ferngehalten wissen will, so heißt das nicht sogleich, daß dieser Anfang für Hegel das Resultat eines gedanken-losen Intuitus ist, den er auch von jedem ›einsichtigen‹ Leser abverlangt. Der von Hegel eingeforderte Entschluß zum reinen Denken (vgl. WdL; GW 21, 56/8 f.) ist daher auch nicht gleichzusetzen mit einer willentlichen Kenosis des Denkens, von nun ab (an) nichts mehr zu denken. Reines Denken erhält man eben nicht »ganz einfach dadurch, daß man alle (konkret-inhaltlichen) Voraussetzungen und Einfälle aus dem Denken verbannt« (Utz, a.a.O., 31) − und daß man dann bloß noch zuzusehen braucht, was ›passiert‹. Die Gewißheit, daß bei einer solchen Abstraktion immerhin noch die unmittelbare Selbstgewißheit des Denkens übrigbleibt, scheint denn auch nicht so unerschütterlich, wie von Utz angenommen. Wenn es nach Utz nicht »recht einsichtig [!] sein« soll, weshalb man vermittelnden Gründen gegen diese unmittelbare Selbstgewißheit des Denkens »mehr Evidenz zutrauen sollte als der unmittelbaren [Versicherung] der eigenen Selbstgewißheit im Denken« (Utz, a.a.O., 47), dann muß es entweder auch für diese Einsicht einen vermittelnden Grund geben; oder aber es gilt hier »ein trockenes Versichern […] gerade soviel als ein anderes« (PhG; GW 9, 55/23 f.). Was den logischen Anfang betrifft, so zeigt sich Hegel jedenfalls skeptisch gegenüber »dem Bedürfnisse, daß das Er s t e Wahre ein bekanntes und noch mehr ein unmi tte l ba r ge wi s se s se y « (WdL; GW 21, 62/24 f.). Kurzum: Die Klärung von Strukturen der immanenten Selbstbewegung, die auch der »Logik«-Anfang besitzen muß, setzt dem Anfang keine ihn begründenden Bedingungen, sondern erklärt, welche sachlichen Bedingungen der Anfang in sich selbst tragen muß, um auch immanent selbstbewegter Anfang sein zu können. 131 132

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bung so konzipiert sein, daß die doppelte Negation in sich einen logischen Mangel aufweist, den sie noch in und vermittels ihrer Selbstaufhebung behebt. Die Selbstaufhebung der Negation muß der unmittelbare Grund für diesen logischen Mangel und zugleich vermittelnder Grund für dessen Aufhebung sein.134 Einer solchen selbstbezüglichen, autonomen Negationsform hat D. Henrich bekanntlich den viel bewunderten und viel gescholtenen Status einer »Grundoperation« zugebilligt, die Hegel »mit unreflektierter Subtilität und Virtuosität« praktiziert, aber nie »in aller Klarheit«135 dargelegt oder gar begründet habe. Mit dieser selbstbezüglichen Negationsform verfügt die Hegelsche »Logik« über »einen konstruktiven Grundgedanken, der sich nachvollziehen läßt«.136 Wenn demnach die autonome, strikt selbstbezügliche Negation mit sich selbst beginnt (und sich nicht an etwas Anderem, erst noch zu Negierendem vollzieht), dann agiert sie von vornherein sozusagen am Rande ihres logischen Zusammenbruchs: Sie besitzt zugleich und in derselben Hinsicht den Charakter von Unmittelbarkeit und Vermitteltheit. Unmittelbarkeit besitzt die autonome Negation dadurch, daß sie unabhängig, ohne die Voraussetzung eines weiteren Gedankens gedacht werden kann: Die strikt selbstbezügliche Negation »impliziert keine Beziehung auf Anderes, sondern nur Beziehung auf sich«.137 Genau darin liegt aber zugleich ihr vermittelter Charakter: Auch wenn sie nicht auf Anderes bezogen ist, so bleibt sie doch immerhin auf sich selbst bezogen. Sie ist »in sich different, verschieden, wenngleich von sich selber«.138 Eben als diese unmittelbare Selbstbeziehung ist sie vermittelte Beziehung auf sich. Die Selbstnegation negiert immerhin noch sich selbst. Damit sind die Weichen dafür gestellt, wie das Resultat auszusehen hat: Aus der selbstbezüglichen Negation, die sich als Negation verneint, geht zunächst »ein logischer Zustand hervor, der nur dadurch beschrieben werden kann, daß er derjenige ist, in dem Negation ganz entfallen ist«.139 Auf den ersten Blick ist jedoch mit diesem Resultat − ›gar keine Negation‹ − das anfängliche »logische Gebilde aus reiner Negation verschwunden«; das Resultat scheint allzu früh »die ganze Entwicklung zu beenden«.140 Allerdings wäre es eine Unterbestimmung, wenn man diesem Resultat nun einen schlichtweg affirmativen Charakter zuschreiben würde; vielmehr hat die-

Der »Fortgang« ist denn auch für Hegel »nicht eine Art von Ue be r fl uß; er wäre diß, wenn das Anfangende in Wahrheit schon das Absolute wäre« (WdL; GW 12, 241/6−8). Ein Überschuß im logischen Anfang, der von der Art ist, daß die Kategorie ›Sein‹ mehr impliziert oder präsupponiert, als sie sagt, wäre nur ein explikativer Mangel, den es sukzessive zu beheben gilt. 135 Henrich, »Hegels Logik der Reflexion. Neue Fassung« (wie Anm. 108), 263. 136 Henrich, »Hegels Grundoperation« (wie Anm. 98), 213. 137 Ebd., 216. 138 Ebd., 216. 139 Ebd., 217. 140 Ebd., 217. 134

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ses Resultat einen eminent negativen Charakter, insofern es »das Nichtsein jeder negativen Beziehung«141 meint. Das ›affirmative‹ Resultat verdankt noch eben diesen seinen Charakter jener ersten autonomen Negation. Nicht nur dies: es ist wiederum doppelte Negation. Es ist vermittelt durch die autonome selbstbezügliche Negation und daher von ihr verschieden (Entfall von Negation überhaupt); und zugleich reproduziert es die doppelt negative Struktur (Nichtsein von Negation).142 Entscheidend »in der Dimension letzter Begründung«143 ist also, daß die Selbstbeziehung hier nur eine negative sein kann, da diese nicht der ›einfach‹ negativen Beziehung, d. h. dem Ausschluß von Andersheit, gegenübertritt. Die autonome Selbstnegation tritt nicht in einen Gegensatz zu ihrem Anderen, das ihr Resultat ist. Hier etabliert oder bekräftigt sich also kein affirmativer Selbstbezug bzw. keine ›ruhige Einheit mit sich‹, die durch den Ausschluß bzw. durch die Negation von Andersheit Anderes von sich abscheidet. Die absolute Negation steht in keinem Gegensatz zur Andersheit, welche ja ihr Resultat ist. Vielmehr wird hier Andersheit als das Resultat in die Struktur der negativen Selbstbeziehung integriert: als das Andere ihrer selbst.144 Freilich sind damit bei weitem nicht alle Probleme gelöst. Henrich sieht diese Probleme, die sich bei seiner Rekonstruktion ergeben, sehr wohl: »Die Aufgaben, in die sie nun gerät, sind sehr verwickelt.«145 Henrich läßt sie aber nach kurzen Andeutungen auf sich beruhen mit dem Hinweis, »daß Hegel selber nirgends […] begonnen« habe, sie zu lösen. Das sei auch kein Wunder, da Hegel selbst sich nicht einmal über »die ersten Schritte seiner Grundoperation«146 im Klaren gewesen sei. Es mutet allerdings etwas seltsam an, daß Henrich, der Hegel gerade bei diesen ersten Schritten

Ebd, 217. Henrich rekapituliert dies so: »Die volle Beschreibung ihrer Selbstbeziehung muß demgemäß so lauten: Die Negation macht den Anfang. Somit negiert sie sich selber. Damit entfällt sie aber, und so ist sie, in ihrem Selbstbezug, der negativ ist, auf ihr Gegenteil bezogen. Im strikten Sinne innerhalb ihres Selbstbezuges kann dieses Verhältnis zu Anderem nur dann gehalten sein, wenn das Andere wiederum sie selber ist. Das heißt aber: Das Gegenteil der autonomen doppelten Negation muß selber auch doppelte Negation sein. Die doppelte Negation kann als Selbstbeziehung nur gedacht werden, wenn sie zweimal gedacht wird« (ebd., 219). 143 Ebd., 222. 144 So kommt Henrich zu dem ersten Ergebnis: »Die Selbstbeziehung ist allein die der Negation. Gibt es etwas, worauf die absolute Negativität relativ ist, so ist es die Relativität der in ihr gedachten Differenz zu sich selber, und zwar in Beziehung auf ihre eigene Einheit mit sich selbst. Wendet man dieses Ergebnis ins Metaphysische, so wäre zu sagen, daß das, was für die Tradition die innere Einheit des Göttlichen Wesens war, für Hegel nur als die Selbstgenügsamkeit im Prozeß des Absoluten zu denken ist. Die theologische Opposition gegen sein System wäre also vermutlich noch schärfer ausgefallen, wenn dessen logisches Zentrum [d. h. Hegels ‚Grundoperation‘] deutlicher sichtbar geworden wäre« (ebd., 222). 145 Ebd., 223. 146 Ebd., 223. 141 142

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III. Hegel

seiner »Grundoperation« klärend zu Hilfe eilt, nun die Konsequenzen derselben ausgerechnet deshalb nicht weiter klärt, weil auch Hegel dies nicht getan hat. Zugespitzt gesagt: Wenn Henrich hier die hermeneutische Maxime verfolgt, Hegel besser verstehen zu wollen, als dieser sich selbst verstanden hat, dann sollte dieses bessere Verständnis von Hegel nicht aus dem Grund Halt machen, weil Hegel selbst kein zureichendes Verständnis von seiner Grundoperation hatte. Eines dieser Probleme ist nun: Wenn die autonome Negation und ihr Resultat (d. h. das Nichtsein jeder Negation) gleichermaßen eine Form von doppelter Negation darstellen, dann droht das Resultat von seiner Voraussetzung, von der anfänglichen autonomen Negation, ununterscheidbar zu werden. Kann also das Resultat überhaupt noch das Andere der autonomen Negation sein? Es steht damit wiederum kein Geringeres als der Fortgang der logischen Entwicklung auf dem Spiel, da eine Entwicklung zumindest zwei verschiedene Stadien voraussetzt, die zudem in einem Verhältnis der »Subordination«147 zueinander stehen müssen. War zunächst der Fortgang bedroht durch den völligen Ausfall jeder Negation, da im Ergebnis der autonomen Negation das logische Gebilde aus reiner Negation verschwunden war, so ist hier nun der Fortgang dadurch bedroht, daß das Ergebnis die anfängliche doppelte Negation reproduziert und daher von seiner Voraussetzung nicht mehr unterscheidbar ist.148 Um also auch diesen frühzeitigen Abbruch der immanenten Entwicklung zu verhindern, muß zunächst angenommen werden, daß die resultative doppelte Negation nicht (mehr) autonome, strikt selbstbezügliche doppelte Negation sein kann.149 Dann aber »muß man sich immer noch fragen, in welchem Sinne die zweite doppelte Negation sich selber negiert«.150 Es stellt sich die Konsequenz ein: Die zweite doppelte Negation kann nicht ausschließlich sich negieren, sondern sie muß zugleich noch Anderes, eben die autonome, strikt selbstbezügliche Negation negieren: Das Resultat muß auch die Beseitigung einer negativen Bezugsform mit sich bringen, die es nicht (mehr) ist. Im Resultat der autonomen Negation findet sich daher auch die »klassische doppelte Negation«,151 insofern das Resultat eine Negation erbringt, die über sich hinausgreift und sich auf ihre Voraussetzung (d. h. die anfänglich autonome

Ebd., 223. Vgl. ebd., 222: »Wenn von beidem, der Negation und ihrem Anderen, gesagt wird, daß sie vollkommen gleich, daß sie sogar identisch sind, so entfällt damit anscheinend auch die Möglichkeit, überhaupt noch von einem Anderen der autonomen Negation zu sprechen. Von einem solchen Anderen muß aber gesprochen werden können. Denn es wurde postuliert, daß die doppelte Negation ein Resultat hat.« 149 Dies deutet sich in Henrichs bereits oben (Anm. 142) zitiertem Satz an: »Das Gegenteil der autonomen doppelten Negation muß selber auch doppelte Negation sein« (ebd., 219; Hervorh. StG). 150 Ebd., 223. 151 Ebd., 223. 147 148

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Negation) richtet. Das Resultat ist also Negation der strikt selbstbezüglichen Negation. Damit ist zwar das Resultat nicht mehr selbstermächtigte, unmittelbare Negation ihrer selbst, sondern vermittelte Negation der Negation. Doch zugleich wird auch das Resultat wieder zu einer Negation der Negation, wenngleich unter veränderten Vorzeichen. War es zunächst ein unmittelbar mit sich selbst anfangender negativer Selbstbezug, der durch seine Selbstaufhebung zu Anderem führt, so ist es nun dieses Andere, das wiederum durch einen negativen Selbstbezug gekennzeichnet ist. Dieser zweite Selbstbezug greift jedoch über sich selbst hinaus, gerade indem er die negativ selbstbezügliche Struktur reproduziert. Das Resultat changiert also zwischen den beiden Typen doppelter Negation: zwischen einer strikt selbstbezüglichen und einer klassischen doppelten Negation, die sich noch auf anderes richtet als auf sich selbst. Im Resultat selbst ist »eine klassische doppelte Negation von einer autonomen zu unterscheiden«.152 Das Resultat ist demnach nicht einfach identisch mit sich selbst, weil es bloß die anfängliche autonome Negation von sich ausschließen würde. Im Gegenteil: Denn auch dann noch negiert die resultative doppelte Negation sich selbst; sie negiert sich selbst und Anderes. Das Resultat scheint ein instabiles Produkt zu sein, insofern hier zugleich zwei Typen von doppelter Negation auftreten, deren Bezug zueinander zudem nicht klar ist.153 Gibt es überhaupt ein vermittelndes Drittes, also eine Beziehung zwischen beiden Typen? Henrich jedenfalls ist skeptisch, ob die weitere Entwicklung von Hegels Grundoperation noch allein aus dem Gedanken der doppelten Negation durchgeführt werden kann. Den folgenden Problemen ist daher, so seine Vermutung, »mit dem Potential einer weiteren logischen Entwicklung des Gedankens der doppelten Negation gar nicht beizukommen«.154 Henrich zufolge findet sich die »beste Darlegung« dieser Hegelschen Grundoperation in der Mitte der »Logik«, also am Anfang der Wesenslogik. Hier tritt sie in vollständig ausgebildeter Form in Erscheinung.155 Von einer Grundoperation darf aber erwartet werden, daß von ihr alle Teile der »Logik«, also auch der logische Anfang, durchdrungen sind. In welcher Gestalt ist also diese Grundoperation im logischen Anfang zu finden? Läßt sie sich überhaupt dort ausmachen? Im Prinzip gilt dies nach Henrich durchaus: Wenn gezeigt werden könnte, daß sie [sc. die ›Grundoperation‹] schon von den elementarsten aller möglichen Gedanken erzwungen wird, würde die Konstruktion, die sie rein für sich genommen sicherlich darstellt, in den umgreifenden Zusammenhang alles überhaupt Denkbaren aufgegangen sein. Was zunächst ein frei152 153 154 155

Ebd., 223. Vgl. ebd., 223: »Doch was ist ihre Beziehung zueinander?« Ebd., 223. Ebd., 223.

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III. Hegel

es Konstruieren zu einem theoretischen Zweck zu sein schien, hätte sich als die geheime innere Konstruktion alles möglichen Denkens erwiesen. Die beste Vorschlag, die »Logik des Seins« zu verstehen, wird ihr diese Aufgabe zuschreiben.156 Dies heißt für Henrich allerdings nicht sogleich, daß der logische Anfang nun auch selbst einen klaren Fall von autonomer, selbstbezüglicher Negation abgibt. Dem steht bereits Hegels Ansicht entgegen, daß mit dem einfachsten Gedanken der Anfang gemacht werden muß, und »die autonome Negation ist sicherlich nicht der einfachste Gedanke, der überhaupt denkbar ist«.157 Eine Reduktion von Komplexität scheint also das Gebot des logischen Anfangs zu sein. Die autonome Negation kann daher im Anfang, wenn überhaupt, nur in rudimentärer Form vorliegen. Entsprechend sind die dort entwickelten Gedanken »als Vorformen der autonomen Negation«158 zu verstehen. Und so schreibt Henrich der Seinslogik eine ganz bestimmte Aufgabe zu: Sie hat Gedanken zu entwickeln, »von denen zu zeigen ist, daß sie notwendig unvollständig und unbestimmt sind, so lange sie nicht in den Gedanken der autonomen Negation übersetzt worden sind«.159 Das Ziel der Seinslogik liegt somit in dem Aufweis, daß »die Operation mit der autonomen Negation nicht nur notwendig in sich« − also notwendig im Hinblick auf ihre interne Struktur − ist, sondern daß sie »auch notwendig zu vollziehen ist«.160 Die Notwendigkeit eben dieses Vollzugs ergibt jedoch sich erst dadurch, daß sie als ein Resultat aus der Seinslogik gewonnen und gerade nicht aus der internen Struktur der autonomen Negation selbst hergeleitet wird. So unabweisbar und zwingend die interne Struktur jener Operation sein mag, die Unumgänglichkeit ihrer Durchführung kann nicht vorausgesetzt werden, sondern ist erst einmal zu entwickeln. Wenn die Seinslogik diesem Nachweis dient, dann muß jedoch die in ihr niedergelegte »logische Entwicklung hin zur autonomen Negation«161 eben dieses ihr Ziel schon voraussetzen. Die autonome Negation fungiert hier gleichsam als regulative Idee, die überhaupt den seinslogischen Fortgang zu ihr hin ermöglicht. Die Seinslogik gewinnt so einen propädeutischen Charakter: Sie hat eine »vorher rein konstruktiv entwickelte[e]« Operation – die autonome Negation – zu ihrer Voraussetzung, und dies, obwohl eigentlich diese Operation für die programmatisch voraussetzungslosen Gedanken der Seinslogik noch gar nicht in Anspruch genommen werden dürfte.162 Ebd., 225. Ebd., 225. 158 Ebd., 225. 159 Ebd., 225. 160 Ebd., 225. 161 Ebd., 226. 162 Henrich hegt also den »Verdacht, daß die logische Entwicklung hin zur autonomen Negation nicht einleuchtend zu machen ist, wenn man sie nicht auch schon voraussetzt und sich solcher Argu156 157

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Henrichs Deutung hat beträchtliche Konsequenzen für den Gesamtcharakter der Hegelschen »Logik«. Denn anstatt einen von Anfang an zwingenden »Nachvollzug der Grundkonstruktion unserer Gedanken« zu bieten, etabliert Hegels »Logik« eine im vorhinein entworfene »freie Konstruktion«: die selbstbezügliche Negation als die alles beherrschende Grundoperation.163 Während diese Grundoperation der eigentlich stabilisierende Faktor der »Logik« ist, erbringen Hegels Ausführungen, die zu dieser Grundoperation hinführen sollen und die jener Grundoperation dann nachfolgen, jedoch keine zwingend abgeleitete »Sequenz der Begriffe«. Weder die seinslogische Abfolge jener Begriffe, die zur Grundoperation hinführt, noch die Abfolge jener Begriffe, die dann »die autonome Negation beschreiben sollen«, kann als eine »analytische Ableitung beschrieben werden«.164 »Jedenfalls läßt sich kein deduktiver Apparat erkennen, der diese Sequenzen sichern könnte.«165 Zu diesem systematischen Zentrum der »Logik« führen daher auch viele denkbare Wege hin und auch wieder weg. Jedenfalls weisen die von Hegel verschiedentlich gewählten, konkreten Wege einen geradezu experimentellen Charakter auf.166 Als das Ergebnis eines solchen Experimentes, wie der Gedanke der autonomen Negation auf unabweisbare Weise eingeführt werden kann, kann nun auch der faktische »Logik«-Anfang gelten; er ist unverkennbar bereits auf die zwingende Einführung der autonomen Negation hin konzipiert: An den Anfang der Logik hat Hegel zwei Terme gestellt, von denen er meint, daß sie die einfachsten Gedanken überhaupt bezeichnen: »Sein« und »Nichts«. Mit Sein und Nichts als den klassischen Themen der Ontologie haben sie aber weit weniger zu tun, als diese Worte glauben machen. Hegel behauptet die Ununterschiedenheit der beiden. In der Perspektive der Theorie von der autonomen Negation könnten sie sich leicht enthüllen als der noch ganz unbestimmte Gedanke der reinen Selbstbeziehung, der hier »Sein« heißt, und der ebenso unbestimmte Gedanke reiner Negation, der hier den Namen »Nichts« hat. Von ihnen würde

mente bedient, die nur zur Verfügung stehen, nachdem man sie vorher rein konstruktiv entwickelt hat. Die Gedanken, welche der Grundoperation mit der Negation folgen, sind natürlicherweise und nach dem Programm der Logik legitim auf dieser Voraussetzung begründet. Für die Gedanken der ›Logik des Seins‹ dürfte sie aber nicht in Anspruch genommen werden« (ebd., 226). 163 Ebd., 226. − Der Gedanke der autonomen Negation hat demnach »seinen Ursprung offenbar in dem konstruktiven Willen eines Theoretikers [d. i. Hegels]«. Hegels Konstrukt hat denn auch nicht »als Selbstdarstellung einer objektiven Vernunft zu gelten« (Henrich, »Formen der Negation in Hegels Logik« [wie Anm. 98], 226). 164 Henrich, »Hegels Grundoperation« (wie Anm. 98), 226. 165 Ebd., 227. 166 Ein Indiz dafür ist nach Henrich, »daß Hegel selbst in den zahlreichen Entwürfen und Vorlesungen zur Logik mit ganz verschiedenen Anordnungen in einer Weise experimentiert hat, die bei einem deduktiven Verfahren kaum vorzustellen wäre« (ebd., 227).

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dann in der Explikation der autonomen Negation gezeigt werden, daß sie tatsächlich nicht voneinander ablösbar sind und daß sie jeweils nur zusammen mit dem, was zuvor ihr Gegenteil zu sein schien, einen haltbaren Gedanken ausmachen.167 Im Lichte der autonomen Negation erweisen sich »Sein« und »Nichts« sozusagen als deren beide Komponenten. ›Sein‹ ist dabei von vornherein als reine Selbstbeziehung bzw. als ›Beziehung nur auf sich‹ gefaßt.168 Warum aber Hegel den anfänglichen Gedanken ›Sein‹ ausgerechnet als reinen Selbstbezug faßt, kann nach Henrich nicht zureichend aus diesem Gedanken selbst verstanden werden. Denn wäre ›Sein‹ im Sinne reiner Selbstbeziehung tatsächlich »der erste und ursprüngliche Gedanke der Logik«,169 dann müßte sich dieser Gedanke zunächst auch unabhängig vom Gedanken der reinen Negation (d. h. von ›Nichts‹) denken lassen. Als der eigentlich grundlegende Gedanke der Logik wäre ›Sein‹ dann die Voraussetzung dafür, »daß der Gedanke einer Negativität überhaupt eingeführt werden kann, die absolut und das heißt selbstbezüglich ist«.170 Nun gibt zwar der einfachste Gedanke ›Sein‹ im Sinne einer ›Beziehung nur auf sich‹ den Gedanken derjenigen doppelten Negation her, welche »den Ausschluß von einer Andersheit zur Folge hat«;171 die Negation selbst bleibt hier jedoch ohne Selbstbezug, sie negiert nur die Beziehbarkeit von ›Sein‹ auf Anderes. In diesem Sinne ist ›Sein‹ unmittelbare, nur auf sich selbst bezogene Unbestimmtheit: ›Sein‹ bezieht sich nur auf sich selbst, indem es zugleich Andersheit von sich ausschließt oder negiert. Jedoch ist dieses Zugleich »von Sein und substantivierter Negation [sc. von ›Nichts‹], welche den folgenden Gedanken der Bestimmtheit ausmacht, […] für sich noch kein spekulativ-dialektischer Gedanke«.172 Denn von sich selbst her ermöglicht ›Sein‹ den Gedanken eines negativen Selbstbezuges bzw. einer selbstbezüglichen doppelten Negation gerade nicht. Der Grund also, warum Hegel ›Sein‹ als reine Selbstbeziehung faßt, liegt nicht darin, daß damit die absolut voraussetzungslose bzw. elementarste Bestimmung überhaupt erbracht wäre, sondern darin, daß sich der Gedanke der reinen Selbstbeziehung – und nur dieser Gedanke – dazu eignet, dann auch »mit Strukturen der selbstbezüglichen Negation identifiziert zu werden«.173 Anders gesagt: Der Term ›Sein‹ ist von Anfang an »schon mit Rücksicht auf eine Ebd., 226. Vgl. auch Henrich, »Formen der Negation in Hegels Logik« (wie Anm. 98), 225: »Beziehung nur auf sich, also reine Selbstbeziehung, definiert aber nach Hegel das, was das Wort ›Sein‹ und was ganz allgemein ›Unmittelbarkeit‹ heißt.« 169 Ebd., 225. 170 Ebd., 226. 171 Ebd., 229 (dort Anm. 9). 172 Ebd., 220. 173 Ebd., 226; Hervorh. StG. 167 168

1. Das Problem des Anfangs

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Negation gebildet, die verdoppelte und die selbstbezüglich verdoppelte werden kann«.174 Hegels anfängliche Behauptung der Ununterschiedenheit von ›Sein‹ und ›Nichts‹ ist deshalb auch strategisch sinnvoll, weil sie eine ganz bestimmte Absicht verfolgt. Diese Behauptung erlaubt nämlich − und darauf zielt Hegel nach Henrich eigentlich ab − die »Kombination beider Typen der doppelten Negation«:175 einerseits der klassischen, nach ›außen‹ gerichteten (d. h. Andersheit ausschließenden) und andererseits der selbstbezüglichen, nach ›innen‹ gerichteten doppelten Negation. Erst diese Kombination beider Typen ergibt einen, wenn man so will, vollgültigen spekulativ-dialektischen Gedanken: Es ist dies der Gedanke, daß die klassische zweifache Negation als der Ausschluß von extrinsischer Andersheit zwar ohne jeden Selbstbezug beim Negieren bleibt, dabei aber ein reines Insichsein oder Fürsichsein etabliert. Was auf diese Weise Andersheit von sich ausschließt, hat zunächst selbst den Charakter der Differenz oder Andersheit gegenüber aller Andersheit. Für die absolute Andersheit muß daher zugleich gewährleistet sein, daß ihre Differenz kein ›Außen‹ mehr kennt: Andersheit oder Negation muß daher in die Selbstbeziehung integriert − und d. h.: sie muß selbstbezüglich werden. Der Ausschluß von Andersheit kann hier nur so vor sich gehen, daß auch noch der Ausschluß von extrinsischer Andersheit ausgeschlossen wird. Dies gelingt erst einer Form von doppelter Negation, die sich auf sich selbst bezieht, deren Anderes sie selbst ist. Erst dann sind Selbstbeziehung und negative Beziehung in eins gedacht, und zwar nicht als zwei verschiedene Aspekte an einer Sache, die auch terminologisch (als ›Sein‹ und ›Nichts‹) auseinandergehalten werden können, sondern als »ein und derselbe Sachverhalt«.176 Im logischen Anfang ist dies alles jedoch noch nicht expliziert, ja kann auch gar nicht explizit sein. Und dies nicht einfach nur deshalb, weil es dort allenfalls implizit vorkommen darf, sondern vor allem deswegen, weil sich nach Henrich der Anfang der »Logik« grundsätzlich nicht, auch nicht im Nachhinein, analysieren läßt. Diejenigen Ausdrücke, die Hegel zur Charakterisierung des anfänglichen ›Sein‹ heranzieht, haben denn auch nur eine Aufgabe: den Anfang als »ein Nichtanalysierbares«177 herauszustellen. Insbesondere gilt dies für zwei Ausdrücke, »durch die der Begriff ›Sein‹ als solcher gedacht zu sein scheint: ›unbestimmte Unmittelbarkeit‹ und ›Gleichheit nur mit sich‹.«178 In beiden Fällen trägt Hegel einen Reflexionsausdruck – d. h. ›Unmittelbarkeit‹ bzw. ›Gleichheit‹ – an das ›Sein‹ heran, um sogleich dessen Reflexionscharakter aufzuheben.

174 175 176 177 178

Ebd., 226; Hervorh. StG. Ebd., 224. Ebd., 220. WdL (GW 21, 62/9 f.); zit. in: Henrich, »Anfang und Methode der Logik« (wie Anm. 15), 87. Ebd., 85.

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III. Hegel

Als Reflexionsausdruck meint nun ›Unmittelbarkeit‹ die Negation von Vermittlung, sie kann also eigentlich nur vermittels des letzteren Begriffs gedacht werden.179 So denkt Hegel die anfängliche Unmittelbarkeit, die Unmittelbarkeit von ›Sein‹, allerdings nicht. Vielmehr deklariert er am »Logik«-Anfang die Unmittelbarkeit von ›Sein‹ zu einer unbestimmten. Nach Henrichs Auffassung kann Hegel damit »nur zeigen wollen, daß ›Sein‹ »anders zu denken ist als die Unmittelbarkeit des Wesens«.180 Indem aber Hegel hier, am Anfang, vom Term ›Unmittelbarkeit‹ den Reflexionscharakter fernzuhalten versucht, verschleiert er den Umstand, daß der Gedanke der Unmittelbarkeit seinen Ursprung in der Logik der Reflexion hat.181 Als unbestimmte Unmittelbarkeit soll also ›Sein‹ eine externe Differenz gegen alle Vermittlung markieren; Unmittelbarkeit meint hier »Vermittlungslosigkeit schlechthin«182 oder bare »Beziehungslosigkeit«.183 Dem anfänglichen ›Sein‹ bleibt somit eine reflexionslose Unmittelbarkeit beschieden, an der zugleich eine abstrakte, indifferente Negation ›hervorbricht‹: die Negation von jeder Form der Vermittlung. ›Sein‹ hat hier allenfalls den Charakter einer Selbstbeziehung in dem Sinne, daß es sich abstrakt oder pauschal jeder Beziehung auf Anderes verweigert. Bei einer solchen völligen Beziehungslosigkeit richtet sich demnach die Negation − noch nicht − gegen sich selbst. Die abstrakte, unmittelbar am ›Sein‹ hervortretende Negation jeder Beziehung ist noch nicht zur selbstbezüglichen Negation geworden. ›Sein‹ hat noch nicht den Charakter derjenigen Unmittelbarkeit, die bereits mit sich selbst vermittelt ist und die den Gedanken der Negation von Vermittlung in sich einbezogen hat.184 Als diese unbestimmte Unmittelbarkeit verneint ›Sein‹ pauschal die Gleichheit mit Anderem und meint somit die schiere Ungleichheit gegenüber Anderem. Gleichheit ist aber ein Aspekt an der Beziehung von Verschiedenem, d. h. das ›Worin‹ des Über179 Vgl. ebd., 85: »So ist Unmittelbarkeit die Negation von Vermittlung und als solche selbst vermittelt und bestimmt durch diesen Begriff.« Henrich beruft sich für dieses Verständnis von ›Unmittelbarkeit‹ auf den Anfang der Wesenslogik. Siehe ebd.; dort Anm. 9. 180 Ebd., 85. 181 Vgl. ebd., 85: »Unbestimmte Unmittelbarkeit ist also ein Ausdruck, der den Ursprung des Gedankens der Unmittelbarkeit in der Logik der Reflexion verstellt und in sein Gegenteil verkehrt.« 182 Henrich, »Hegels Logik der Reflexion« (wie Anm. 89), 110. 183 Ebd., 111. 184 Henrich nimmt daher eine Bedeutungsverschiebung beim Term ›Unmittelbarkeit‹ an, die sich im Fortgang der Seins- zur Wesenslogik vollzieht. Die Unmittelbarkeit von ›Sein‹ ist zunächst unbestimmte, Vermittlung einfach oder pauschal negierende Unmittelbarkeit − d. h. zugleich: noch nicht selbstbezüglich negative, Vermittlung einschließende Unmittelbarkeit: »Aus der ursprünglichen Bedeutung scheidet aus, daß Unmittelbarkeit stets der Vermittlung indifferent entgegengesetzt ist. Es wird durch eine andere Bestimmung ersetzt: Unmittelbarkeit ist ein Charakter suisuffizienter Vermittlung, ein Charakter der Selbstbeziehung« (Henrich, »Hegels Logik der Reflexion« [wie Anm. 89], 111). Dem Nachweis, daß diese Bedeutungsverschiebung »wohl motiviert« ist, dient Henrichs bekannte Studie zu Hegels Logik der Reflexion. Vgl. auch ders, »Hegels Logik der Reflexion. Neue Fassung« (wie Anm. 108), 246–248.

1. Das Problem des Anfangs

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einkommens zweier verschiedener Relate. »Gleichheit kann also nur ausgesagt werden mit Beziehung auf Anderes, das zudem Verschiedenes ist.«185 Von solch einer Beziehung auf Anderes muß jedoch bei derjenigen Gleichheit, die das anfängliche ›Sein‹ kennzeichnet, abgesehen werden. »Angedeutet« findet Henrich diese strikte Negation von Gleichheit, welche sich zwischen zwei verschiedenen Relata etabliert, darin, daß Hegel angesichts des Seins »von einer Gleichheit nur mit sich selbst spricht«.186 Auch hier bleibt der Gedanke der Negation noch unvermittelt; es bleibt bei einer schlechthinnigen Negation von Gleichheit, die unmittelbar die radikale Ungleichheit gegen Anderes meint. Gerade der negative Charakter des logischen Anfangs wirft in der Form, wie ihn Henrich nachzeichnet, erhebliche Probleme auf. Die beiden Ausdrücke ›Unmittelbarkeit‹ und ›Gleichheit‹ sollen ihren Reflexionscharakter offenkundig dadurch verlieren, daß Hegel mit ihnen am »Logik«-Anfang eine indifferente und insofern unbestimmte Negation von Vermittlung bzw. Gleichheit mit Anderem verbindet (›unbestimmte Unmittelbarkeit‹; ›Gleichheit nur mit sich selbst‹). Eine solche Negation bleibt zwar unbestimmt in Bezug auf das, was sie negiert, da sie unterschiedslos alle Gleichheit und Vermittlung negiert. Sie bleibt aber als Negation gerade nicht unbestimmt. Sie negiert zwar alle Vermittlung und Gleichheit, aber sie negiert eben nicht alle Ungleichheit und Unvermitteltheit überhaupt. Nach Henrich gilt vielmehr für den »Logik«-Anfang: »Unmittelbares ist gleich nur mit sich selbst, frei von Andersheit oder Ungleichheit gegen Anderes. Und in diesem Sinne hat die Rede von der Unmittelbarkeit den Terminus ›Sein‹ einführen helfen.«187 Für Hegel hingegen, dies sei hier schon angemerkt, bleibt es jedoch von Anfang an nicht bei einer Unmittelbarkeit von ›Sein‹, die als ›Gleichheit nur mit sich selbst‹ unmittelbar auch Ungleichheit gegen Anderes wäre: S e y n , r e i n e s S e y n − ohne alle weitere Bestimmung. In seiner unbestimmten Unmittelbarkeit ist es nur sich selbst gleich, und auch nicht ungleich gegen anderes, hat keine Verschiedenheit innerhalb seiner, noch nach Aussen. Durch irgend eine Bestimmung oder Inhalt, der in ihm unterschieden, oder wodurch es als unterschieden von einem andern gesetzt würde, würde es nicht in seiner Reinheit festgehalten.188 Die Reinheit von ›Sein‹ kann also keine − und sei es noch so indifferente oder abstrakte − Negation von Gleichheit mit Anderem meinen; ›Gleichheit mit sich selbst‹ ist nicht einfach gleichzusetzen mit einer pauschalen ›Ungleichheit gegen Anderes‹;

185 186 187 188

Henrich, »Anfang und Methode der Logik« (wie Anm. 15), 86. Ebd., 86. Henrich, »Hegels Logik der Reflexion« (wie Anm. 89), 111; Hervorh. StG. WdL (GW 21, 68/19−69/3); kursive Hervorh. StG.

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III. Hegel

sie schließt diese Ungleichheit gegen Anderes vielmehr aus. Ebenso schließt Hegels Charakterisierung von ›Sein‹ als unbestimmte Unmittelbarkeit gerade einen negativen Bezug auf Vermittlung, gegen die die Unmittelbarkeit abgesetzt werden könnte, aus. Schon am Beginn der Seinslogik (und nicht erst in der Wesenslogik) dürfte es also nicht zur Bedeutung von Unmittelbarkeit gehören, daß sie »der Vermittlung indifferent entgegengesetzt ist«.189 In Henrichs Deutung versucht also Hegel mit einer Negation der Reflexionsbestimmungen (›unbestimmte Unmittelbarkeit‹, ›Gleichheit nur mit sich selbst‹) den logischen Anfang »von Strukturen der Reflexion«190 vollkommen frei zu halten. Der logische Anfang muß genau vor denjenigen Reflexionen geschützt werden, durch die er zugleich charakterisiert wird.191 Der abstrakten Negation, die den Anfang kennzeichnet und die für seine Freiheit von Reflexionsstrukturen verantwortlich ist, ist daher auch mit einer abstrakten Negation zu begegnen. Dies heißt aber für Henrich nichts anderes, als daß »die Natur des ›reinen Seins‹ nur via negationis in den Blick gebracht werden kann«.192 Vermittels von Negationen faßbar ist der Anfang dabei in zweierlei Hinsichten, die aufs engste miteinander zusammenhängen: Via negationis faßbar ist der Anfang sowohl (a) für sich allein betrachtet als auch (b) von dem ihm Folgenden her gesehen. (a) Der Anfang selbst ist keiner Bestimmung zugänglich. Jeder Versuch, etwa die Beziehung, d. h. das unmittelbare Übergehen von ›Sein‹ und ›Nichts‹ näher bestimmen zu wollen, »führt mit Notwendigkeit dahin, daß ihr anfänglicher Charakter zerstört wird«.193 Allerdings kann Hegel den Anfang auch nicht einfach nur durch das »Aussprechen der Wörter Sein und Nichts« namhaft machen, also ohne jeden »Vorgriff auf noch nicht abgeleitete Bestimmungen« und ohne Rücksicht auf die daraus resultierenden »Schwierigkeiten des Verstehens«.194 So bleibt Hegel am Anfang der »Logik« nichts anderes übrig, als »über das einfache Sagen des Anfangs hinaus […] die Einwürfe zu entkräften, die dem einfachen Vollzug dieses ›unanalysierbaren‹ Gedankens entgegenstehen. Nirgends ist die Aufforderung zum reinen Denken, das die Natur des Zusehens hat, so unentbehrlich wie hier«.195 Gefragt ist

Vgl. Anm. 184. Henrich, »Anfang und Methode der Logik« (wie Anm. 15), 86. 191 Vgl. ebd., 87: »Es ist besonders wichtig, den Anfang vor solchen Reflexionen zu schützen. Denn einerseits muß er zwar durch Reflexionsausdrücke charakterisiert werden, andererseits ist er aber doch − nach Hegels eigenen Worten − in seiner ›einfachen, unerfüllten Unmittelbarkeit ein Nichtanalysierbares.‹« 192 Ebd., 86. 193 Ebd., 92. 194 Ebd., 90. 195 Ebd., 90. 189 190

1. Das Problem des Anfangs

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hier also in erster Linie kein »tätiges Folgern«, sondern die »passive Einstellung« des Zusehens.196 Wenn also Hegel zur Charakterisierung des Anfangs noch unabgeleitete Reflexionsausdrücke einführt, dann scheint er sich damit bewußt auf den naiven Standpunkt der äußeren Reflexion zu stellen, um dadurch zu demonstrieren, daß jeder Versuch, den nicht analysierbaren Anfang doch noch zu bestimmen, an diesem abprallt.197 Die Verwendung von Reflexionsausdrücken am logischen Anfang hätte dann eine wesentlich kritische oder apagogische Funktion: Ihre Negation hätte eine eingangs nur bittweise eingeforderte Nichtanalysierbarkeit des Anfangs zu erhärten.198 In dieser Perspektive muß es am Anfang bei einem ›einfachen Sagen‹ und bei einem passiv ›zusehenden‹ Denken bleiben, das zwar auch Zugeständnisse an die äußere Reflexion bzw. an die Verstehbarkeit des Anfangs macht, aber nur, um diese in der Folge zu destruieren. Damit ist aber kein positiver Beweis dafür erbracht, daß am »Logik«-Anfang tatsächlich ein unmittelbarer Übergang von ›Sein‹ und ›Nichts‹ ineinander erfolgt.199 (b) Hegel führt am Anfang Reflexionsbestimmungen ein, die im folgenden dann auch expliziert und auseinander entwickelt werden sollen. Insofern bleibt der Anfang auf die ihm nachfolgenden Explikationen bezogen. Am Anfang werden solche Ausdrücke verwendet und zurückgewiesen, die dann vor allem in der Logik der Reflexionsbestimmungen expliziert werden. Die Reflexionsausdrücke, mit denen am Anfang operiert wird, werden dort thematisch.200 Genauer gesagt: Thematisch wird für Henrich die Operation mit diesen Ausdrücken in Form jener Grundoperation. Damit ist bei diesen Begriffen zwar das ›Wie‹ ihrer Verwendung geklärt, aber nicht ihre Verwendung aus dem Anfang selbst abgeleitet und legitimiert. Die Operation mit der autonomen Negation bleibt autonom auch gegenüber dem logischen Anfang, weil der Anfang die Operation selbst, d. h. die Durchführung der autonomen Negation, nicht in ihrer Notwendigkeit zu begründen vermag.

Henrich, »Hegels Grundoperation« (wie Anm. 98), 227. Einen solchen Einstieg praktiziert Hegel in der »Phänomenologie des Geistes« mit der Einnahme des naiven Standpunktes der sinnlichen Gewißheit, um letztere so weit zu destruieren, bis dem Bewußtsein »in der Dialektik der sinnlichen Gewißheit das Hören und Sehen u.s.w. vergangen« ist (PdG; GW 9, 82/4 f.). Allerdings geht es am Anfang der »Phänomenologie« um die Aufdeckung einer unhaltbaren Form von unmittelbarer Gewißheit, während der Anfang der »Logik« in Henrichs Deutung von unhaltbaren Formen der vermittelnden Reflexion freigehalten werden soll. 198 Dagegen hat Hegel bekanntlich Vorbehalte: »Weder ist jener Anfang etwas willkührliches und nur einstweilen angenommenes, noch ein als willkührlich erscheinendes und bittweise vorausgesetztes, von dem sich aber doch in der Folge zeige, daß man recht gethan habe, es zum Anfange zu machen« (WdL; GW 21, 58/21−24). 199 Vgl. Henrich, »Anfang und Methode der Logik« (wie Anm. 15), 88. 200 Vgl. dazu auch Theunissen, Schein und Sein (wie Anm. 3), 27. 196 197

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III. Hegel

Im Gegenzug bleibt der Anfang auch nach dieser Thematisierung der Grundoperation von irreduzibler Unmittelbarkeit. Der logische Anfang kann zwar in reichere Strukturen überführt werden, »die für die Reflexion einsichtiger sind«,201 und insofern kann er einem Verständnis durchaus zugänglich gemacht werden. Was damit verständlich gemacht wird, ist allerdings nur, daß die Unmittelbarkeit der anfänglichen Bestimmungen nicht aufgehoben und »durch jene Strukturen niemals zureichend interpretiert werden«202 kann. Allenfalls läßt sich hier »die Einsicht in die Notwendigkeit eines Anfangs von unaufhebbarer Unmittelbarkeit begründen«.203 Insofern kann auch die autonome Negation ihre explikative Kraft nicht für den logischen Anfang entfalten. »Es ist deshalb auch nicht zulässig, in irgendeinem späteren Kapitel der Logik ihr ›eigentliches‹ Zentrum oder den Motor ihres Prozesses zu suchen.«204 Eben weil der Anfang »das Gegenteil einer Konstruktion« ist, er sich also nach Henrichs Auffassung jeder Konstruktion entziehen muß,205 tritt der konstruktive, ja konstruierte Charakter der autonomen Negation um so deutlicher hervor. Die von Henrich so betonte Unmittelbarkeit des Anfangs ist offenbar die unvermeidbare Kehrseite zur Autonomie jener Grundoperation. Deren mangelnde explikative Kraft, die nicht über »die Entwicklung ihrer unmittelbaren Implikationen«206 hinausreicht, geschweige denn an die Unmittelbarkeit des Anfangs heranreicht, scheint der Preis für ihre Autonomie zu sein. Die vollkommene, nur via negativa zu fassende Andersheit des Anfangs, seine völlige Freiheit von Strukturen der Reflexion, nötigt zu einem anderen Anfang am Beginn der Wesenslogik. Problematisch ist demnach Henrichs Deutung nicht aus dem Grund, weil sie übersehen würde, daß die autonome Negation für den logischen Anfang eine zu komplexe Operation ist und daher vom Anfang eigentlich fernzuhalten ist. Vielmehr rekonstruiert sie eine in sich geschlossene Operation mit zwingenden Folgen, die von vornherein vom Anfang ferngehalten wird und daher auch in keine nachvollziehbare Verbindung zum Anfang gebracht werden kann. Diese Not ihrer mangelnden Anschlußfähigkeit an den Anfang macht Henrich zu einer Tugend, indem er den logischen Anfang zu einer gleichsam exempten, reflexionslosen Zone erklärt, die in keiner ›zwingenden Sequenz‹ zur autonomen Negation hinführt. Selbst als eine ›Vorform‹ der autonomen Negation scheint der logische Anfang beide Typen von doppelter Negation derart unmittelbar zu kombinieren, daß das ›Wie‹ dieser Kombination im Anfang – nicht einmal nachträglich – entfaltet oder gar als ein linearer Prozeß einsichtig gemacht werden kann. 201 202 203 204 205 206

Henrich, »Anfang und Methode der Logik« (wie Anm. 15), 93. Ebd., 93. Ebd., 93. Ebd., 93. Ebd., 89. Henrich, »Hegels Grundoperation« (wie Anm. 98), 227.

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1.4 Resümee Zusammenfassend läßt sich also sagen, daß sich das Problem des »Logik«-Anfanges wohl kaum einer Lösung zuführen läßt, solange man den Gedanken der Negation in irgendeiner Weise von außen an ihn heranträgt. Zwar trägt ein solches Verfahren dem grundsätzlichen Umstand Rechnung, daß es für den Anfang den Gedanken der Negation braucht, wenn denn vom Anfang überhaupt ein Fortgang möglich sein soll. Damit ist jedoch noch nicht die Frage beantwortet, ob jener Gedanke im Anfang selbst verortet werden kann, ob also die Struktur des Anfangs von sich aus einen Fortgang zuläßt. (A) Der sicherlich ›zärtlichste‹ und negationslogisch unaufwendigste Umgang mit dem Anfang bringt den Gedanken der Negation in Gestalt einer ›semantisch-pragmatischen‹ Diskrepanz an den Anfang heran. Mit dieser Diskrepanz kommt ein Widerspruch zum Vorschein, der nicht ausschließlich auf der Inhaltsebene eines Begriffes angesiedelt ist, sondern der zwischen dem expliziten Inhalt und der Form eines Begriffes besteht.207 In dieser widersprüchlichen Struktur unterscheidet sich jedoch die anfängliche Kategorie ›Sein‹ offenbar nicht von den ihr folgenden Kategorien, insbesondere nicht von der zweiten Kategorie ›Nichts‹. Die Frage, warum ausgerechnet mit ›Sein‹ der Anfang zu machen ist, ist mit diesem Verfahren nicht zu beantworten. (Sie wäre dies nur, wenn nachgewiesen werden könnte, daß ausschließlich das ›Sein‹ derjenige Begriff sein muß, bei dem Form und Inhalt eine unüberbietbare Diskrepanz aufweisen. Was aber wäre der Maßstab für die Bemessung einer solchen unüberbietbaren Diskrepanz?) So nimmt dieses Deutungsmuster den logischen Anfang mit ›Sein‹ als gegeben hin und sieht dann zu, wie sich dieser Widerspruch im konkreten Einzelfall manifestiert. Diese Interpretation affirmiert Hegels These vom nichtanalysierbaren Charakter des Anfangs nur zu dem Zweck, um mit ihr zu brechen: Sie pflegt am logischen Anfang ein Zusehen, das eilends zusieht, daß es dort auch einen auflösbaren Widerspruch findet. Jedenfalls läßt sich dann an der anfänglichen Kategorie ›Sein‹ zeigen, daß sie ihrer Form nach gar nicht dasjenige ist, was sie zu sein behauptet: ein bestimmter Begriff mit einer bestimmten Bedeutung. Form und Inhalt kommen bei dieser Kategorie nicht zur Deckung. Denn ihrem Inhalt nach soll die Kategorie ›Sein‹ die völlige Unbestimmtheit oder Differenzlosigkeit zum Ausdruck bringen. Sie vermag dies aber Siehe dazu etwa Hösle, Hegels System (wie Anm. 36), 198: »Der Terminus ›pragmatisch‹ ist in diesem Zusammenhang nicht in dem speziellen Sinne gemeint, in dem ihn die Sprechakttheorie verwendet; ›pragmatisch‹ heiße vielmehr ein Widerspruch genau dann, wenn er nicht auf Inhaltsebene besteht bzw. nicht durch Deduktion aus dem explizit Gesagten zu erzielen ist, sondern wenn er zwischen dem durch die Form (eines Begriffs bzw. eines Urteils) immer schon Implizierten und dem ausdrücklich Behaupteten besteht und nur in der Reflexion auf derartige Präsuppositionen zugänglich ist.« 207

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nur in Form einer bestimmten Bedeutung. Unbestimmtheit oder Differenzlosigkeit ist also der anvisierte, bestimmte Inhalt, der die Kategorie ›Sein‹ als der ursprünglichste Gedanke von allen anderen Begriffen abhebt. Gerade dadurch verfehlt sie aber ihr Ziel: In die formale Gestalt eines bestimmten Terminus läßt sich völlige Unbestimmtheit nicht zwingen. Daher ist ›Sein‹ der Sache nach nicht die Unbestimmtheit, die es qua seiner formalen Gestalt als Terminus zu sein intendiert. Die Kategorie ›Sein‹ changiert zwischen einer reinen Form, die ohne Bedeutung ist bzw. die ihre Bedeutung nicht zu fassen bekommt, und einer Bedeutung, die ohne Form bleibt und die der Sache nach ein »amorphe[s] Gebilde«208 ist. Beide Aspekte sind nicht zur Dekkung zu bringen, solange ›Sein‹ für sich allein betrachtet wird. Die Kategorie ›Sein‹ ist in sich widersprüchlich und mithin unwahr, da sich ihr amorpher Inhalt gegen seine Form und ihre Form sich gegen ihren amorphen Inhalt richtet. Erst derjenige Begriff, der die Kongruenz seiner Form mit dem in ihr Gedachten erreicht, kann im emphatischen Sinne als wahr gelten, da erst in diesem Begriff der Widerspruch, d. h. die Diskrepanz zwischen seinem intentionalen Aussagegehalt und seiner Aussageform selbst aufgelöst ist.209 Mit Einführung der zweiten Kategorie ›Nichts‹ läßt sich nun diese Diskrepanz in der Kategorie ›Sein‹ aufheben: ›Nichts‹ trifft den inhaltlichen Aspekt von ›Sein‹ gerade dadurch, daß es das ›Sein‹ nicht in herkömmlicher Weise bestimmt, also eine konkrete Bestimmbarkeit von ›Sein‹ explizit negiert und damit die noch unausdrückliche Voraussetzung expliziert, wie mit ›Sein‹ als einem Terminus überhaupt umzugehen ist: Der sachliche Gehalt von ›Sein‹ als leerer Gedanke verweist auf ›Nichts‹. Im Gegenzug macht die Kategorie ›Nichts‹ das ›Sein‹ als einen Terminus der besonderen Art − gewissermaßen als ›Nicht-Terminus‹ oder ›Un-Begriff‹ − kenntlich. ›Sein‹ und ›Nichts‹ setzen sich gegenseitig voraus; keine der beiden Kategorien ist ohne die andere denkbar. Damit verweisen sie schon implizit auf ihre Einheit, die sich erst »auf einer höheren Ebene«210 manifestiert, d. h. in einer synthetischen Kategorie explizit wird. Nicht das ›Nichts‹ ist also die Wahrheit von ›Sein‹, weil es dessen Unwahrheit

Wieland, »Bemerkungen zum Anfang von Hegels Logik« (wie Anm. 9), 207. Nebenbei bemerkt ist in dieser Deutung durchaus ein korrespondenztheoretischer Wahrheitsbegriff aufrechterhalten. Zwar etabliert sich Wahrheit im Falle dieses Begriffes nicht als eine Übereinstimmung zwischen einem Gegenstand und unserer Vorstellung − diese wird von Hegel gerne als ›Richtigkeit‹ bezeichnet −, doch aber als eine Übereinstimmung oder Kongruenz zwischen dem Aussagegehalt eines Begriffes und seiner Verwendung als Begriff. Wieland zufolge bleibt denn auch hier der »Wahrheitsbegriff an der traditionellen Adäquatheitsvorstellung orientiert: in solchen Fällen geht es um Übereinstimmung zwischen dem, was ein Begriff ist, und dem was er meint. Die ständige Diskrepanz zwischen beiden in den Kategorien motiviert den Fortgang der Logik. In diesem Sinne findet jede Stufe der Begriffentwicklung ihre im angezeigten Sinn verstandene Wahrheit in der jeweilig nächsten Stufe« (Wieland »Bemerkungen zum Anfang von Hegels Logik« [wie Anm. 9], 211; dort Anm. 5). Anders dagegen etwa Hösle, Hegels System (wie Anm. 36), 200 f. 210 Hösle, Hegels System (wie Anm. 36), 175. 208 209

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negieren würde. ›Nichts‹ ist vielmehr als ein inhaltliches Implikat von ›Sein‹ zu begreifen, und zwar als ein Implikat, das zurückwirkt auf die Form von ›Sein‹. ›Werden‹ als dritte Kategorie ist nun diese erste Kongruenz von Form und Inhalt, die am ›Sein‹ selbst vergebens gesucht wurde. Die anfänglich am ›Sein‹ diagnostizierte Diskrepanz von Form und Inhalt löst sich in der Kategorie ›Werden‹ auf, die als die synthetische Einheit von ›Sein und ›Nichts‹ beide Kategorien auseinanderhält und in ihrer Entgegensetzung vereint. In dieser dritten Kategorie ist der Widerspruch getilgt, indem ›Sein‹ sich nun zum ersten Mal auch der Form nach als das zeigt, was es bedeutet: nicht mehr als ein nicht in den Griff zu bekommender Begriff mit vollkommen unbestimmter Bedeutung, sondern als Moment im ›Werden‹. Grundlegend ist für dieses Deutungsmuster also die Diskrepanz von Form und Inhalt. Diese Diskrepanz ist aber nur einer Reflexion zugänglich, die diese beiden Aspekte (etwa an der Kategorie ›Sein‹) auseinanderhält, vergleichend aufeinander bezieht und dabei ihre Diskrepanz feststellt. Dann zeigt sich am ›Sein‹, daß sich hier Form und Inhalt noch unvermittelt gegenüberstehen und erst unter Aufbietung einer zweiten Kategorie miteinander vermittelt werden können. Von reiner Unmittelbarkeit des Anfangs kann nach diesem Deutungsmuster keine Rede mehr sein, allenfalls von Unmittelbarkeit im Sinne einer vollkommenen, keiner Vermittlung mehr bedürftigen Deckungsgleichheit von Form und Inhalt, von der allerdings der logische Anfang noch meilenweit entfernt ist. Daher muß der Anfang, nachdem die Reflexion einen formal-inhaltlichen Widerspruch am ›Sein‹ entdeckt hat, erst noch einem positiven Resultat zugeführt werden. Dieses ist erreicht mit der synthetischen Kategorie ›Werden‹, die die gegensätzlichen Bestimmungen ›Sein‹ und ›Nichts‹ als Einheit in sich begreift.211 Genau dieser Kulminationspunkt, an dem eine synthetische Kategorie die Auflösung oder Tilgung eines Widerspruchs erbringt, ist zugleich der neuralgische Punkt dieses Interpretationsansatzes. Hat man nämlich solch eine synthetische Kategorie gewonnen, dann ist der Fortgang zur nächsten synthetischen Kategorie äußerst problematisch, da die Möglichkeit zu diesem Fortgang auf einem weiteren formal-inhaltlichen Widerspruch, und zwar bei der eben gewonnenen synthetischen Katego211 In Hegelscher Nomenklatur ausgedrückt: Das anfänglich »dialektische oder negativ-vernünftige« Verfahren (das zuständig für die Entdeckung des Widerspruchs ist) hat erst noch zu einer »spekulativen oder positiv-vernünftigen« Konzeption zu führen (die zuständig für die Aufhebung des Widerspruchs ist). Vgl. dazu Hösle, Hegels System (wie Anm. 36), 179. − Negativ-vernünftige Dialektik und positiv-vernünftige Spekulation sind hier aber als aufeinander folgende Teile oder Schritte einer logischen Prozedur verstanden: Dialektik kulminiert in Spekulation. Für Hegel hingegen »machen« Dialektik und Spekulation »keine […] The ile der Logik aus, sondern sind Mome nt e […] jedes Begriffes oder jedes Wahren überhaupt« (Enz. § 79; GW 20, 118/17−19). Die Sonderung des Dialektischen vom Spekulativen erfolgt unter den Prämissen der Verständigkeit. Sie können zwar »dadurch abgesondert auseinander gehalten werden, aber so werden sie nicht in Wahrheit betrachtet« (ebd., Z. 20 f.).

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rie, beruhen muß. Hat eine synthetische Kategorie einen bestimmten Widerspruch aufgehoben, dann kann sie ihrerseits, wenn sie nicht gerade die Abschlußbestimmung der »Logik« ist, »natürlich nicht völlig ohne Widersprüche«212 bleiben. Diese Widersprüche müssen jedoch erst wieder gesucht werden, d. h. die synthetische Kategorie muß wieder zu einer »thetischen […] weiterexpliziert« werden, »in der dann erst ein Widerspruch aufgezeigt wird«.213 Nur die Reflexion auf weitere Ausprägungen der formal-inhaltlichen Diskrepanz kann dem vom Stillstand bedrohten logischen Fortgang wieder auf die Beine helfen. Ausgenommen hiervon ist die Kategorie des Werdens; sie ist die einzige synthetische Kategorie der »Logik«, die von sich aus auf einem Selbstwiderspruch beruht214 − was wohl heißt: Die Kategorie ›Werden‹ zeichnet eine noch aufzulösende Diskrepanz zwischen ihrem Aussagegehalt und ihrer terminologisch fixierten Form aus. Mittels einer ›seienden‹ Aussageform sagt sie ein ›Werden‹ aus. Wie ›Sein‹ und ›Nichts‹ bricht auch ›Werden‹ als Terminus in sich zusammen, weil es nicht mit seinem intendierten Aussagegehalt Schritt halten kann. (B) Ab dem ›Werden‹ verändert sich jedoch die Szenerie der »Logik«. Von nun ab haben wir es mit Kategorien zu tun, die die Negation in Form der Bestimmtheit gegenüber den anderen Kategorien enthalten.215 Negativität tritt nicht mehr in der flüchtigen Gestalt des abstrakten Nichts auf, das auch den terminologischen Status von ›Sein‹, ›Nichts‹ und ›Werden‹ wesentlich affiziert, sondern an einer bestimmten Kategorie. Negativität ist nun in Positivität eingebunden: Insbesondere ab dem ›Dasein‹ sind Sein und Negativität die Momente einer jeden Kategorie.216 Dies erlaubt es, nun auch die drei anfänglichen Ausdrücke ›Sein‹, ›Nichts‹ und ›Werden‹ als bestimmte Kategorien und d. h. ebenfalls als Formen solch einer eingebundenen Negativität zu behandeln. Diejenige Methode, die einen gesicherten, d. h. einen methodologisch homogenen Fortgang ermöglicht, hat bereits an den Kategorien vor dem ›Dasein‹ diejenige Negativität zu entdecken, die die Kategorien ab dem ›Dasein‹ auszeichnet. Dies gelingt ihr, indem sie den Form-Inhalt-Gegensatz auf den logischen Anfang zurückprojiziert: Auch wenn das reine, absolut unbestimmte ›Sein‹ kein Anderes gegenüber sich selbst hat, sondern unmittelbar identisch und verschieden von ›Nichts‹ ist, so kann immerhin die Form bzw. die kategoriale Gestalt von ›Sein‹ noch als das Andere ihres Inhalts gefaßt werden. Damit tritt innerhalb aller logischen KaHösle, Hegels System (wie Anm. 36), 173; dort Anm. 33. Ebd., 188; dort Anm. 61. 214 Vgl. ebd. 215 Vgl. ebd., 195: »Ohnehin enthält jede Kategorie ab dem Werden, schon insofern sie bestimmt ist, eine Negation; es ist ihr konstitutiv, ihr Gegenbegriff nicht zu sein, der somit implizit zu ihr dazugehört; ihn abzuhandeln stellt nur ihre Explikation dar.« 216 Vgl. ebd., 195; dort Anm. 73. 212 213

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tegorien Negativität auf, insofern jede Kategorie ihrer Form nach nicht das ist, was sie ihrer Bedeutung nach zu sein beansprucht. Was jedoch nach einer selbstbezüglichen, da immanenten Negation aussieht, ist in Wahrheit eine von außen herangetragene Hinsichtenunterscheidung, die für jede einzelne Kategorie vorgenommen wird. Möglich wird diese Unterscheidung erst aufgrund des Form-Inhalt-Gegensatzes, also dadurch, daß insbesondere auch die drei anfänglichen Ausdrücke wie objektivierbare Denkgegenstände behandelt werden, an denen sich dann dieser Gegensatz ›zeigt‹. Es ist also aus dieser Deutungsperspektive ein nur konsequenter, weiterer Schritt, die Kategorie des Werdens einfach fallenzulassen und die Ausdrücke ›Sein‹ und ›Nichts‹ nun gleich direkt von der Kategorie ›Dasein‹ her zu explizieren. ›Sein‹ und ›Nichts‹ (das zum ›Nichtsein‹ deklariert wird) zeigen sich dann als noch unartikulierte Vorformen von ›Dasein‹, die für ihren komplementären Gegensatz eine grundlegende Gemeinsamkeit, nämlich formale Entsprechungseigenschaften, voraussetzen. Die Gegensätzlichkeit von ›Sein‹ und ›Nichtsein‹ ist nur möglich auf einer gemeinsamen Basis: Antinomien werden hier nicht aus dem jeweiligen Inhalt der Kategorien deduziert, sondern auf der Ebene ihrer formalen Eigenschaften gesucht. Insofern ›Sein‹ für seine Gegensätzlichkeit zu ›Nichtsein‹ bereits die formale Eigenschaft seines Gegenbegriffes voraussetzt, insofern also ›Sein‹ Nichtsein-entsprechend ist, vereinigt ›Sein‹ als Kategorie in sich Sein und Nichtsein: Die Kategorie ›Sein‹ ist nur dadurch sie selbst, daß sie die Kategorie ›Nichtsein‹ nicht ist. ›Sein‹ birgt in sich von Anfang an eine Negativität, die für die formale Bestimmtheit einer Kategorie kennzeichnend ist. Daß dies Auswirkungen für die Bedeutung von ›Sein‹ hat, ist evident: ›Sein‹ ist nicht nur eine bestimmte Kategorie, sondern bedeutet ja auch ein ›Sein‹. So wird, wenn ›Sein‹ eine bestimmte Kategorie ist, dann auch ihre Bedeutung ›Sein‹ eine bestimmte sein. Nur bringt sie das am logischen Anfang noch unbeholfen, d. h. noch allzu implizit zum Ausdruck.217 Diese Unbeholfenheit zeigt sich nach Wandschneider darin, daß ›Sein‹ am logischen Anfang radikal mit ›Nichts‹ identifiziert wird, also gar keine Bedeutung zu haben scheint. Das Problem liegt also für Wandschneider darin, daß ›Sein‹ aufgrund seiner völlig unbestimmten, leeren Bedeutung mit ›Nichts‹ bedeutungsgleich sein soll. (Vgl. dazu Wandschneider »Zur Struktur dialektischer Begriffsbestimmung« [wie Anm. 8], 117 f.) Als bedeutungsgleich oder synonym lassen sich aber zwei Ausdrücke nur aufgrund ihrer Bedeutung klassifizieren. Semantische Gleichheit aufgrund von semantisch völliger Leere ist also ein Unding. Denn ein völlig leerer Ausdruck ohne jegliche Bedeutung gleicht überhaupt keinem anderen bedeutungsvollen Ausdruck; er hat ja überhaut keine Bedeutung, ja nicht einmal die Bedeutung, ›noch‹ keine bestimmte Bedeutung zu haben. ›Sein‹ hat daher auch nicht den Charakter eines allgemeinen oder generischen Begriffes, der eine Bedeutung hätte, die bloß noch unbestimmt ist gegen seine spezifischen Ausprägungen. Anders gesagt: Die Bedeutung von ›Sein‹ ist nicht nur in einer bestimmten, sondern in jeglicher Hinsicht unbestimmt. Daher ist auch die Kategorie der Gleichheit ist hier vollkommen fehl am Platz: ›Sein‹ gleicht nicht allen anderen Ausdrücken darin, daß es zwar wie alle Ausdrücke eine Bedeutung hätte, daß aber diese Bedeutung im Gegensatz zu den meisten Ausdrücken noch unbestimmt wäre. Daher unterscheidet sich der leere 217

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III. Hegel

Entdeckt wird eine parallel – sowohl auf der formalen als auch auf der inhaltlichen Ebene – verlaufende ›Kontamination‹ des einen Begriffs durch den anderen. Genau diese Parallelisierbarkeit scheint auch das Einzigartige am ›Sein‹ zu sein: Denn das, was sich beim ›Sein‹ auf formaler Ebene zeigt – daß das Sein einer Kategorie X zugleich ihr Nichtsein der Kategorie Y impliziert –, findet sich bei Kategorie ›Sein‹ auch auf der inhaltlichen Ebene wieder. Für ›Sein‹ ist es konstitutiv, sein Gegenbegriff nicht zu sein, der somit implizit zu ihm dazugehört; dies gilt sowohl auf der formalen als auch auf der inhaltlichen Ebene: Das anfänglich völlig unbestimmte ›Sein‹ meint in Wahrheit eine bestimmte Kategorie mit einer entsprechend bestimmten Bedeutung: bestimmtes Sein oder ›Dasein‹. Wie aber bereits der Platonische »Sophistes« zeigt, eignet diese Form-Inhalt-Entsprechung nicht exklusiv den beiden Begriffen ›Sein‹ und ›Nichtsein‹: Identität und Differenz (Andersheit), Ruhe und Bewegung (Werden) zeigen sich als die Implikate eines solchermaßen verstandenen Seins. So kann etwa der Begriff der Bewegung oder des Werdens nur sein, wenn er in sich seinen Gegenbegriff aufnimmt, also ein Moment der Ruhe oder des Seins aufweist: Auch für den Begriff ›Bewegung‹ bzw. ›Werden‹ ist eine stabile, in sich ›ruhende‹ Bedeutung und formale Gestalt anzusetzen. Nicht umsonst legt sich Platon nicht auf einen ersten, ursprünglichen Begriff fest, sondern entfaltet ein Geflecht von fünf μέγιστα γένη, die wechselseitig aneinander teilhaben und sich insofern als gleichrangig erweisen.218 Spätestens an dieser Stelle läßt sich der Anfangscharakter des »Logik«-Anfangs nicht mehr aufrecht erhalten: ›Sein‹ und ›Nichtsein‹ als das erste Gegensatzpaar der »Logik« zeigen sich als das Dissoziationsprodukt einer ihnen vorangehenden und sie begründenden Einheit.219 Genau dieser interpretatorische Befund indiziert jedoch das Problem, das eigentlich gelöst werden müßte: Welche logische Instanz ist überhaupt für das Aufkommen von Negativität – d. h. hier: für die Gegensätzlichkeit von ›Sein‹

Ausdruck ›Sein‹ auch nicht in bestimmter Hinsicht von einem anderen, nicht einmal von einem anderen leeren Ausdruck. Es bleibt bei der abstrakten Negation, daß sich dieser leere Begriff radikal von allen anderen Begriffen unterscheidet, ihnen in nichts gleicht. Der Vergleichbarkeit von ›Sein‹ ist jede Basis entzogen. Wenn es aber überhaupt kein Worin des Gleichens und des Unterschiedes gibt, dann gibt es auch keinen Grund für die Verschiedenheit zweier leerer Ausdrücke. ›Sein‹ und ›Nichts‹ können nicht auseinandergehalten werden, weil es keine Hinsicht gibt, worin sie sich gleichen. Dafür müßten sie erst einmal eine (wenn auch noch so unbestimmte) Bedeutung haben. Gleichheit und Gegensatz von ›Sein‹ und ›Nichts‹ müssen daher so gefaßt werden, daß Sein und Negativität für diese beiden Ausdrücke denselben Stellenwert haben: Dieser Stellenwert zeigt sich, wenn sowohl die Bedeutung als auch der formale Charakter von ›Sein‹ zugleich ein ›Nichtsein‹ impliziert; und umgekehrt: wenn sowohl die Bedeutung als auch der formale Charakter von ›Nichtsein‹ zugleich ein ›Sein‹ impliziert. Auch die Bedeutung von ›Nichtsein‹ und mithin der Begriff ›Nichtsein‹ muß ein Sein haben. 218 Vgl. Wandschneiders Hinweis darauf, daß sich bei den »Kategorien ›verschieden‹ und ›gleich‹ ebenfalls eine […] Struktur sichtbar machen« ließe, die der von Sein und Nichtsein entspricht (Wandschneider »Zur Struktur dialektischer Begriffsbestimmung« [wie Anm. 8], 134; dort Anm. 41). 219 Vgl. oben, S. 257 f.

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und ›Nichtsein‹ – am »Logik«-Anfang verantwortlich? Die Negativität kann in dieser Perspektive auch im ersten Gegensatzpaar der »Logik« nicht einfach als gegeben hingenommen werden, sondern muß noch vor den faktischen Anfang der »Logik« verlagert werden.220 (C) Das Konzept der autonomen Negation bricht mit dieser Hinsichtenunterscheidung, die der Form-Inhalt-Gegensatz zuläßt, von Grund auf.221 Der Grund dafür ist, daß eine teleologische Deutung des Anfangs zu einseitig auf »die Bewegung, die von ihm ausgeht«, fixiert ist.222 Der Anfang wäre verstanden aus einem ihm transzendenten Ziel, er wäre also »als Anfang vom Fortgang aus bestimmt, durch ihn ›vermittelt‹«.223 Damit aber würde sich der Anfangscharakter des logischen Anfangs auf die Funktion reduzieren, daß er erst noch einsichtiger, einem Verständnis zugänglicher gemacht werden muß, als er dies für sich genommen ist. Die irreduzible Nichtanalysierbarkeit des Anfangs verwandelte sich in die mangelnde Explizitheit oder Unerschlossenheit seiner Voraussetzungen. Dagegen versucht das Konzept der autonomen Negation, dem logischen Anfang den Charakter einer Unmittelbarkeit und Einfachheit zu belassen: Der Anfang kann nicht zureichend mittels von Reflexion erschlossen werden, weil er selbst frei von Strukturen der Reflexion ist. Erst in 220 Diese Verlagerung des Anfangs in einen Anfang vor dem faktischen »Logik«-Anfang scheint mir die Kehrseite derjenigen Interpretation zu sein, die den Abschluß der Hegelschen »Logik« – zumindest in der uns vorliegenden Form – für offen hält: »Woher wissen wir, ob wir in der Kategorienentwicklung zu einem Abschluß gekommen sind?« (Hösle, Hegels System [wie Anm. 36], 196.) Denn angesichts der negativ-vernünftig oder dialektisch verfahrenden Methode, die an jeder Kategorie einen Form-Inhalt-Widerspruch nachweist, »können wir nie sicher sein, daß die als absolut fungierende letzte Bestimmung wirklich die letzte ist« (ebd.). Um hier sicher zu gehen, müßte erst einmal positiv bewiesen werden können, »daß die höchste Bestimmung der Logik jedem Widerspruch enthoben wäre« (ebd., 197). Voraussetzung für dieses positive Resultat ist aber wiederum nur ein negative: daß man nämlich »keinen Widerspruch übersehen [hätte] – und wer wollte das schon beanspruchen?« (Ebd., 196.) In der Tat kann sich die interpretatorische Ausrichtung am Form-Inhalt-Gegensatz nie sicher sein, ob sie den vollkommen unhintergehbaren Gegensatz (d. h. die maximal widersprüchliche und insofern erste logische Kategorie) bzw. den vollkommen geschlichteten Gegensatz (d. h. die jedem Widerspruch enthobene und insofern letzte Kategorie) nun gefunden hat oder nicht. Selbstbescheidung ist in diesem Fall durchaus angebracht, da »der endlichen Vernunft angemessen« (ebd., 197). Nicht analysierbar oder deduzierbar bleibt hier die konkrete Anzahl der geglückten Versuche, die die Hegelsche Kategorienentwicklung vor dem Hintergrund des Form-Inhalt-Gegensatzes erfolgreich weiterschreiben oder in ihren einzelnen Schritten verfeinern. Jedenfalls mutet dem gegenüber die Zahl 77, die Hegel selbst als Richtwert für mögliche Umarbeitungen seiner »Logik« angegeben hat, als zu unbescheiden-optimistisch an (vgl. WdL; GW 21, 20/1−8). Vielleicht liegt aber diese Unbescheidenheit Hegels in der Natur der Sache, um die es ihm am Anfang der »Logik« geht. Jedenfalls scheint sich Hegels Zahlenangabe nicht auf eine schlechte Unendlichkeit zu beziehen, die für den Form-InhaltGegensatz konstitutiv ist: Bei diesem Widerspruch gibt es unabsehbar viele konkrete Abstufungen; es ist nicht einmal abzusehen, in welcher Kategorie er sein absolutes Minimum oder Maximum erreicht. 221 Zu Henrichs Kritik am Form-Inhalt-Gegensatz als einem Interpretationsmodell für den logischen Anfang siehe »Anfang und Methode der Logik« (wie Anm. 15), 87 f. 222 Henrich, »Anfang und Methode der Logik« (wie Anm. 15), 93; dort Anm. 25. 223 Gadamer, »Die Idee der Hegelschen Logik« (wie Anm. 2), 59.

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dieser Perspektive, so scheint es, zeigt sich der logische Anfang »als eigentlicher Anfang auf unmittelbare Weise«.224 Die autonome Negation meint einen Typus von Negation, der keine andere Hinsicht kennt als die auf sich selbst. Da also die autonome Negation nichts anderes negiert als sich selbst, entfaltet die Negation hier keinen Gegensatz bzw. keine Diskrepanz zwischen zwei verschiedenen Aspekten an einer logischen Kategorie. Die strikt selbstbezügliche Negation hat nun sicherlich den sachlichen Vorteil, daß sie mit sich selbst anfängt und daher den Gedanken der Negation bereits in sich birgt: Der Gedanke der Negation muß hier nicht erst noch als ein vermittelndes Moment beigebracht werden. Dagegen erfordert ein rein affirmativer Selbstbezug noch einen weiteren Gedanken, welchen dieser affirmative Selbstbezug nicht von sich aus hergibt: den Ausschluß bzw. die Negation von extrinsischer und intrinsischer Andersheit. Das Problem dabei ist aber nicht, daß auch bei einem affirmativen Selbstbezug eine intrinsische Differenz zweier unterscheidbarer Relata gedacht werden muß, und zwar eine Differenz, welche zugleich negiert wird. Das Problem ist vielmehr, daß diese Differenz und deren Aufhebung eben diesem affirmativen Selbstbezug nicht entspringen kann. Daher kann nicht gefolgert werden, »daß der Gedanke der Selbstbeziehung dem der Negation gegenüber primär und eigentlich derjenige ist, mit dem die Konstruktion zu beginnen wäre.«225 Im Gegenteil: Negativität im Sinne einer Selbstdissoziation, eines Sich-von-sich-Scheidens mag zwar grundsätzlich für jeden Selbstbezug konstitutiv sein. Erst aber die negative Selbstbeziehung negiert nicht mehr eine vorausgesetzte intrinsische Andersheit oder Differenz. Die selbstbezügliche Negation meint daher keine Aufhebung einer ursprünglichen Dissoziation oder einer Entäußerung, die sie gleichsam rückgängig zu machen hat. Indem die autonome Negation sich gegen sich selbst richtet, bringt sie vielmehr durch diese ihre Selbstaufhebung Andersheit erst hervor: Andersheit ist das Resultat ihres Selbstbezuges. Die autonome Negation setzt nicht bei einer Selbstdissoziation an, sondern erbringt diese erst: »Das Gegenteil der autonomen doppelten Negation muß selber auch doppelte Negation sein. Die doppelte Negation kann als Selbstbeziehung nur gedacht werden, wenn sie zweimal gedacht wird.«226 WdL (GW 21, 54/8). Henrich, »Hegels Grundoperation« (wie Anm. 98), 221 f. 226 Ebd., 219. − Die autonome Negation meint also offenbar keine ursprüngliche Tätigkeit des Scheidens, die sich dann »in der Aufhebung des Scheidens« vollendet (so Theunissen, Schein und Sein [wie Anm. 3], 175). Die Bewegung der autonomen Negation mündet nicht in einer versöhnenden Rückkehr aus einer ursprünglichen Entäußerung; eher entfaltet sich die autonome Negation dadurch, daß sie sich zunächst gegen sich selbst kehrt, um sich dadurch von sich selber unterscheiden zu können. Insofern scheint mir Theunissens Rekonstruktion der Negation als einer Tätigkeit des Scheidens nicht den Kern der Henrich’schen autonomen Negation zu treffen. Vgl. dazu Theunissen, Schein und Sein (wie Anm. 3), v. a. 175−179. 224 225

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Auch wenn »der Weg von der Autonomisierung der Negation bis zur zweifach doppelten Negation zwingend ausgewiesen«227 scheint, so bleibt doch die Crux am Gedanken der autonomen Negation ihr eigener Anfang: »Die Negation macht den Anfang. Somit negiert sie sich selber.«228 Denn eben dieser ihr »erster Schritt« – d. h. die autonomisierte, nur auf sich selber bezogene Negation – »stand ihr frei«.229 Nichts am Gedanken der autonomen Negation verbürgt schon die Notwendigkeit ihres Vollzuges, mit der sich erst »der Gebrauch der autonomen Negation rechtfertigen«230 ließe. Daher kann mit der autonomen Negation auch nicht der logische Anfang gemacht werden. Sie besitzt nicht nur eine zu komplexe Struktur, um der Einfachheit des Anfangs genügen zu können, sondern sie ist insbesondere auch in der Notwendigkeit ihrer Durchführung unausgewiesen. Wenn aber mit ihr nicht der logische Anfang gemacht werden kann, dann muß sie an anderer Stelle auftauchen, um wenigstens den Status eines konstruktiven Prinzips für die »Logik« aufrecht zu erhalten.231 Der interpretatorische Befund, daß Hegel selbst keinen Begriff von seiner und für seine autonome Negation entwickelt hat, daß er also weder explizit auf diesen Negationstypus reflektiert noch gar eine eigene logische Kategorie für ihn reserviert, bleibt daher zutiefst zweideutig gegenüber dem logischen Anfang. So mag sich zwar die autonome Negation der Sache nach als das alles beherrschende operative Prinzip ausweisen lassen. Ihr »Anfangen als solches dagegen bleibt als ein Subjectives in dem Sinne einer zufälligen Art und Weise, den Vortrag einzuleiten, unbeachtet und gleichgültig«; somit bleibt die Frage, woher die autonome Negation ihren notwendig anfänglichen Charakter, d. h. die Unumgänglichkeit ihres Vollzuges als Grundoperation erhält, zunächst »unbedeutend gegen das Bedürfniß des Princips, als in welchem allein das Interesse der Sache zu liegen scheint«.232 Zu dieser Gleichgültigkeit in Sachen des Anfangens selbst hat die autonome Negation offenbar allen Grund: Denn als das sachliche Prinzip der »Logik«, als deren »theoretischer Nukleus«233 wird sie erst in der Mitte der »Logik« thematisch, wo nicht mehr ein bloß ›passives‹ Zusehen,

Henrich, »Hegels Grundoperation« (wie Anm. 98), 227. Ebd., 219. 229 Ebd., 227. 230 Ebd., 228. 231 Vgl. ebd., 228: »Die autonome Negation bot Hegel Aussicht auf eine konstruktive Theorie aus einem einzigen Prinzip.« 232 WdL (GW 21, 53/15−19). Der Ursprung des Gedankens der autonomen Negation, sein ›Anfangen als solches‹ bleibt denn auch für Henrich ein ›Subjectives‹: Er liegt im »konstruktiven Willen« Hegels (Henrich, »Formen der Negation in Hegels Logik« [wie Anm. 98], 226). Mithin ist auch der »Gebrauch der autonomen Negation […] Hegel ganz allein eigen« (Henrich, »Hegels Grundoperation« [wie Anm. 98], 228; Hervorh. StG). 233 Henrich, »Hegels Grundoperation« (wie Anm. 98), 227. 227 228

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sondern ein »tätiges Folgern«234 gefragt ist, um jenen »konstruktiven Grundgedanken, der sich nachvollziehen läßt«,235 ans Licht zu heben. Das Problem, wie sich ihr Anfangen als notwendig rechtfertigen läßt, schiebt daher die autonome Negation an den Anfang der »Logik« ab. Die autonome Negation ist zwar als eine in sich zwingende Abfolge von Gedanken ausgewiesen, ihr geht jedoch die Unmittelbarkeit des Anfangens ab. Umgekehrt wird dem logischen Anfang die Aufgabe des unmittelbaren und keiner Reflexion zugänglichen Anfangens zudiktiert. Das Anfangen selbst läßt sich hier nur via negationis, mittels der Abwehr von Einfällen der Reflexion, rechtfertigen. Der logische Anfang kann demnach den Gedanken der autonomen Negation nicht aus sich heraus mit einem positiven Beweis stützen oder gar erzwingen. Dem logischen Anfang mag zwar die Unmittelbarkeit des Anfangens eignen, er ist aber nicht als eine Operation ausweisbar, deren gedankliche Abfolge sich durch tätiges Folgern als zwingend rekonstruieren ließe.236 Im Lichte der autonomen Negation ist sogar der konkrete Beginn mit ›Sein‹, d. h. hier: mit dem unbestimmten Gedanken reiner Selbstbeziehung, alles andere als gesichert. Höchstens wird im Nachhinein klar, daß dieser Gedanke tatsächlich noch der Ergänzung um den Gedanken der reinen Negation bedarf, um in die Dimension letzter Begründungen vorstoßen zu können. Ganz schemenhaft zeichnet sich in Form der Ununterscheidbarkeit von ›Sein‹ und ›Nichts‹ die Zusammengehörigkeit von reinem Selbstbezug und reiner Negation ab. Insofern aber diese Zusammengehörigkeit von ›Sein‹ und ›Nichts‹ »für sich noch kein spekulativ-dialektischer Gedanke«237 ist, geht dem Anfang in der unmittelbaren Ununterscheidbarkeit von ›Sein‹ und ›Nichts‹ offenkundig noch jede spekulative Kraft ab.

2. Der absolute Anfang und seine Negationen 2.1 Der Anfang und die Negation der Reflexion Ein interpretatorischer Umgang mit dem Anfang der »Logik« scheint also vor einer mehr schlechten als rechten Alternative zu stehen: Entweder fügt sich der Interpret von Anfang an in den vorläufigen, aber unumgänglichen Gebrauch von Reflexions-

Ebd., 227. Ebd., 213. 236 So auch Gadamer, »Die Idee der Hegelschen Logik« (wie Anm. 2) 59 f.: »Auch wenn es überzeugend ist, daß man Werden nicht denken kann, ohne daß man Sein und Nichts zugleich denkt, ist es doch gar nicht überzeugend, daß man umgekehrt, wenn man Sein denkt, das Nichts ist, Werden denken muß. Hier wird ein Übergang behauptet, dem die Einsichtigkeit offenkundig fehlt, die man als dialektische Notwendigkeit anerkennt.« 237 Henrich, »Formen der Negation in Hegels Logik« (wie Anm. 98), 220. 234 235

2. Der absolute Anfang und seine Negationen

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bestimmungen, und zwar im vollen Bewußtsein, daß diese noch unreflektiert, d. h. unabgeleitet, sind. Oder der Interpret macht von ihnen höchstens Gebrauch, um sie von der reinen Unmittelbarkeit des Anfangs, die sich allen Formen der vermittelnden Reflexion entzieht, fernzuhalten. Nun scheint in der Tat die Operation mit Reflexionsbestimmungen unhintergehbar zu sein: Selbst eine Untersuchung des reinen Denkens, das von seinen Inhalten abstrahiert hat, kann nicht anders als im und mit dem Denken erfolgen. Mit dem reinen Denken beginnen zu wollen, bevor man überhaupt denkt, erinnert an den »weise[n] Vorsatz jenes Scholasticus, schwimmen zu lernen, ehe er sich ins Wasser wage«. 238 Hier hilft offenbar nur der Sprung ins kalte Wasser: der Entschluß zum Vollzug des reinen Denkens. Wenn aber jedes Denken stets schon, und sei es noch so implizit, von Reflexionsbestimmungen Gebrauch machen muß, dann ist deren strenge Deduktion aus einem logischen Anfang kaum mehr möglich. Höchstens ist hier noch eine nachträgliche Verständigung darüber möglich, daß und wie diese Reflexionsbestimmungen auch am logischen Anfang gebraucht werden. Dadurch aber, daß ausnahmslos alle Stadien der logischen Begriffsentwicklung der Reflexion zugänglich sind, ändert auch und gerade der logische Anfang nichts am Reflexionscharakter der Reflexionsbestimmungen; er bleibt für sie vielmehr zugänglich. Der logische Anfang hat nicht die negative Kraft, sich den Reflexionen zu entziehen. Seine negative Kraft beschränkt sich darauf, die in ihn bereits eingegangenen Voraussetzungen nicht explizit zu machen und mithin in unwahren Schein zu hüllen. Es ist daher kein Wunder, wenn eine andere Deutungsperspektive gerade die Nichtanalysierbarkeit des Anfangs betont, durch die dieser der Zudringlichkeit der äußeren Reflexion erfolgreich widerstehen kann. Das »Besondere von ›Sein‹ und ›Nichts‹« besteht dann darin, daß sie »nur im negierenden Vorgriff auf erst später explizierte Begriffe bestimmt werden können«.239 Dem logischen Anfang selbst wird damit, so scheint es, eine ungleich größere Kraft zur Negation zugestanden. Jedoch der Schein trügt: Der Anfang muß vielmehr vor den Einfällen der äußeren, vermittelnden Reflexion – und zwar durch sie selbst – geschützt werden, da der Anfang offenbar noch ganz abstrakt jede Vermittlung negiert, sich also auch nicht argumentativ vor ihr schützen kann. Diese Schutzmaßnahme für den Anfang, d. h. die Negation von Reflexionsbestimmungen, ist also ihrerseits ein reflexiver Akt, der sich auf und gegen sich selbst richtet. In dieser Perspektive aber ist das »Seyn das Anfangende, als durch Vermittlung, und zwar durch sie, welche zugleich Aufheben ihrer selbst ist, entstanden, dargestellt«.240 Enz. § 10 Anm. (GW 20, 50/27 f.). Theunissen, Schein und Sein (wie Anm. 3), 131. 240 WdL (GW21, 56/3 f.); Hervorh. StG. − Sowohl Theunissen als auch Kesselring messen der eben zitierten Passage eine zentrale Bedeutung zu. Vgl. dazu Theunissen, Schein und Sein (wie Anm. 3), 113; Kesselring, »Voraussetzungen und dialektische Struktur des Anfangs der Hegelschen Logik« (wie 238 239

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Wenn also die Reflexion auf ihren Akt des vermittelnden Reflektierens reflektiert und sich in diesem Reflexionsakt zweiter Ordnung von ihren abstrahierenden Reflexionsakten distanziert, so ändert auch in diesem Fall der logische Anfang nichts am Reflexionscharakter der an ihn herangetragenen Reflexion. Der Anfang bleibt vielmehr kraft eines negierenden Reflexionsaktes, der sich selbst von ihm ausschließt, Anm. 1), 96. Für beide Interpreten ist der logische Anfang grundlegend dadurch gekennzeichnet, daß das Denken hier von seiner abstrahierenden Tätigkeit abstrahiert. Uneins sind sich beide Autoren allerdings darin, welche Funktion nun diese Abstraktion von der abstrahierenden Tätigkeit erfüllt. Diese Uneinigkeit liegt offenbar an der doppeldeutigen Weise, in der beide Autoren den Gedanken der Abstraktion vom abstrahierenden Denken aufnehmen. Versteht man die Abstraktion, wie dies Theunissen offenbar tut, in dem Sinne, daß ein abstrahierender Umgang mit dem anfänglichen ›Sein‹ eben diese seine abstrahierende Tätigkeit übersieht, also von ihr unbewußt absieht, dann erfüllt der logische Anfang eine wesentlich kritische Funktion: Dargestellt wird hier, daß das Denken »den Schein, in dem es anfangs ganz und gar befangen ist«, noch nicht durchschaut, daß es sich also aus der »Bewußtlosigkeit« über seine abstrahierende Aktivität erst noch herausarbeiten muß (Theunissen, op. cit., 115). Eben weil am logischen Anfang eine kritische Darstellung gegeben werden soll, »darf« dann »auch das in der Logik tätige Denken die von jeglicher Bestimmtheit absehende Abstraktion, deren Resultat das ›rein Sein‹ ist, nur in äußerer Reflexion zur Sprache bringen« (ebd., 114). Ein Sprechen in äußerer Reflexion ist am logischen Anfang demnach nicht nur als ein unvermeidlicher Mangel in Kauf zu nehmen, sondern ist zum Zweck der kritischen Darstellung geradezu erforderlich. Das Denken hat dann die Möglichkeit, sich in der Folge kritisch auf sich zu besinnen und sich dabei klar zu werden, wie bewußtlos es eigentlich am Anfang verfahren ist. Im übrigen findet sich die von Theunissen herangezogene Passage aus der »Logik« in dem vorbereitenden Abschnitt »Womit muß der Anfang der Wissenschaft gemacht werden?«, also nicht am Anfang der Seinlsogik selbst. Hegel erwägt in diesem Abschnitt die verschiedenen Dilemmata, in die die äußere Reflexion kommt, wenn sie den Anfang zu denken versucht. (Vgl. dazu die scharfsinnige Darstellung dieses Abschnittes bei M. Wolff, »Die ›Momente‹ des Logischen und der ›Anfang‹ der Logik Hegels«, in: Skeptizismus und spekulatives Denken in der Philosophie Hegels, hg. von H. F. Fulda und R.-P. Horstmann, Stuttgart 1996, 226−246; hier 240 ff.). Wenn aber der logische Anfang selbst gedacht werden soll, dann reichen diese kritischen Erwägungen der Verstandeslogik offenbar nicht mehr aus. − Für Kesselring erfüllt daher die Abstraktion von der abstrahierenden Reflexion keine kritische Funktion; vielmehr gelingt es erst der Abstraktion von der abstrahierenden Reflexion, »das anfangende Denken aus dessen eigener Perspektive nachzuvollziehen« (Kesselring, op. cit., 96; dort Anm. 11). Gemeint ist also eine bewußte Abstraktion, die ihren abstrahierenden Umgang mit dem ›Sein‹ negiert oder aufhebt, weil erst dann »von jeder Bestimmung des Seins überhaupt abgesehen« ist (ebd., 97). Denkt man hingegen das ›Sein‹, »ohne von der eigenen Denkleistung abzublenden, bestimmt man es, und sei es auch als unbestimmt« (ebd.). Allerdings ist damit ein gravierendes Problem nicht behoben: Die Abstraktion des Denkens von sich selbst bleibt eine denkerische Leistung oder Tätigkeit. Das meint zunächst, daß auch durch »noch so virtuose Abstraktionen« von der abstrahierenden Denkleistung »nicht hinter das Denken selbst zurückzugelangen ist« (ebd.). Nicht einmal zum Zwecke des logischen Anfangs im Sinne eines denkerischen ›Nullpunktes‹ vermag das Denken »über den eigenen Schatten zu springen« (ebd.). Diese Unhintergehbarkeit des Denkens ist dann keine spezifisch problematische »Voraussetzung der Logik innerhalb der Logik« mehr, »sondern geradezu eine anthropologische Prämisse« (ebd., 107). Dies kann nun wiederum heißen, daß auf diese Weise, d. h. mit der in sich kreisenden Bewegung des Abstrahierens, an den logischen Anfang gar nicht heranzukommen ist: Drehund Angelpunkt dieser in sich kreisenden Abstraktion bleibt ja in dieser Perspektive die äußere Reflexion. Sie setzt bei sich selbst an, um sich von ihrer eigenen abstrahierenden Tätigkeit zu distanzieren, – und reproduziert damit eben den Akt des äußeren Reflektierens gegenüber sich selbst. Nicht das Denken ist dann unhintergehbar, sondern die äußere Reflexion wähnt sich unhintergehbar, weil sie unentwegt ihre abstrahierende Tätigkeit fortzusetzen vermag. Weiteres dazu im Anschluß.

2. Der absolute Anfang und seine Negationen

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mit sich allein zurück. Der Anfang erweist sich hier nur deshalb als reflexionslos, weil die Reflexion nicht einmal dann an ihn heranzukommen vermag, wenn sie sich von ihrer abstrahierenden Tätigkeit distanziert (und nicht bloß einzelne Denkbestimmungen von ihm fernhält). Auch einer »Abstraktion des Denkens von sich selbst« gelingt es daher nicht, den logischen Anfang »aus dessen eigener Perspektive nachzuvollziehen«.241 Noch in ihrer Selbstaufhebung reproduziert die Reflexion vielmehr ihre eigene, äußerliche Perspektive auf das anfängliche ›Sein‹. In Hegels eigenen Worten: Die Darstellung des ›Seins‹ als Anfang gelingt der Selbstaufhebung der Vermittlung hier nur unter »der Voraussetzung des reinen Wissens als Resultats des endlichen Wissens, des Bewußtseyns«.242 Die Selbstaufhebung der Vermittlung als das reine Wissen ist ihrerseits vermitteltes Resultat, das sich einstellt, sobald das endliche, vermittelnd vorgehende Wissen oder Bewußtsein zu sich selbst auf Distanz geht und zum reinen Wissen ›wird‹. Aber eben diese Distanzierung des endlichen Wissens von sich selbst läßt sich dem endlichen Wissen vermitteln: Es weiß noch um diese seine Selbstdistanzierung, da es sie selbst betreibt.243 Kesselring »Voraussetzungen und dialektische Struktur des Anfangs der Hegelschen Logik« (wie Anm. 1), 96 dort Anm. 11. 242 WdL (GW 21, 56/4 f.); Hervorh. StG. 243 Nebenbei bemerkt, scheint mir das Problem der Selbstnegation des endlichen Wissens, das diese Negation betreibt, ein erhellendes Licht auf das viel diskutierte Verhältnis zwischen der »Phänomenologie« und der »Logik« zu werfen: Logisch kann der Anfang für Hegel nur sein, indem er »im Element des frey für sich seyenden Denkens, im rei ne n Wi s se n gemacht werden soll« (GW 21, 54/28 f.). Der Darstellung und Rechtfertigung, daß »das Bewußtseyn den B e gr if f der Wissenschaft, d. i. das reine Wissen, zum Resultate hat« (ebd., 54/32 f.), widmet sich die »Phänomenologie«. Drehund Angelpunkt ist hierbei das endliche Bewußtsein: Die »Hervorbringung« des reinen Wissens erfolgt »durch das Bewußtseyn, dem sich seine eignen Gestalten alle [in das reine Wissen] als in die Wahrheit auflösen« (ebd., 32/29−31). Das endliche Bewußtsein durchläuft »alle Formen des Verh ä l t n i ss e s d e s B e w u ßt se yn s z um O b ject e« (ebd., 32/25 f.) und erhebt sich zuletzt »auf den Standpunkt des reinen Wissens, auf welchem der Unterschied des Subjectiven und Objectiven verschwunden ist« (ebd., 63/8−10). Das so gewonnene reine Wissen benimmt dem endlichen Bewußtsein zwar »seine beschränkte Bedeutung, an einem Objecte seinen unüberwindlichen Gegensatz zu haben« (ebd., 64/8 f.): Das »über sich hinausgewachsene, […] zum reinen oder ›absoluten‹ Wissen geläuterte Bewußtsein bezieht sich auf Anderes so, daß es sich darin auf sich selbst bezieht« (Theunissen, Schein und Sein [wie Anm. 3], 106). Aber auch dann noch bleibt das endliche Bewußtsein darin befangen, daß sein »Object die perennierende Bestimmung eines Ande r n« (GW 21, 64/13 f.) für es hat und erhält. Insofern hat das endliche Bewußtsein »den Gegensatz des Bewußtseins« noch nicht »in der Wahrheit überwunden«, sondern bleibt »noch in der Erscheinung befangen« (ebd., 64/15 f.). Der logische Anfang tritt für das endliche Bewußtsein, das sich selbst zum reinen Wissen aufgehoben hat, in Erscheinung als das »Resultat auf vermittelte […] Weise« (ebd., 54/7 f.), d. h. als das Resultat der Selbstnegation des endlichen Bewußtseins, das zwar alle Formen eines äußerlichen Gegenstandbezuges aufgelöst und in sich vermittelt hat, das aber nicht alle Bezüglichkeit hinter sich gelassen hat. Aber eben darum hat der logische Anfang die perennierende Bestimmung, für das reine Wissen dessen Anderes zu sein: Das sich zum reinen Wissen emporsteigernde Bewußtsein sieht sich am Ende dieses Prozesses vor den logischen Anfang gestellt, bleibt ihm insofern äußerlich. Als unmittelbarer muß der logische Anfang aber diese Andersheit gegenüber dem reinen Wissen abschütteln. Der Anfang kann kein Gegenstand bzw. kein Inhalt des reinen Wissens, sondern muß »leeres Denken« sein (vgl. ebd., 241

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III. Hegel

Es ist und bleibt also die Reflexion selbst, die das »äusserliche Spiel des Abstrahirens«244 weiter betreibt, auch wenn sie nun von ihrer bestimmenden Tätigkeit absieht und nicht mehr bloß von ihren bestimmten Denkinhalten. Bereits diese letztere Abstraktionsbewegung, die ihren Ausgang nimmt von bestimmten Denkinhalten, beschreibt Hegel als eine in sich kreisende Bewegung, welche alle Denkinhalte in sich hineinzieht, nur nicht die Abstraktion selbst.245 So kann im Ausgang vom endlichen, bestimmten Sein mittels einer Reihe von fortgesetzten Abstraktionen dieses endliche Sein zunächst zum abstrakten oder unendlichen Sein überhaupt hinaufgesteigert werden. Dieses abstrakt gegen das endliche Sein abgesetzte, unendliche Sein kann dann ebenfalls einer Abstraktion unterworfen werden, um dadurch gegen alles Sein, wovon abstrahiert wurde, abgesetzt zu werden; es wird so zum Nichts. Schließlich kann nochmals von diesem abstrakten, gegen alles Sein abgesetzten Nichts abstrahiert werden, womit man schließlich wieder im endlichen, bestimmten Sein angekommen ist. In genau der gleichen Weise läßt sich auch im Ausgang von der abstrahierenden Reflexion, welche das ›Sein‹ als unbestimmt bestimmt, mittels einer Reihe von fortgesetzten Abstraktionen diese erste abstrahierende Reflexion zunächst zum abstrakten oder reinen Wissen überhaupt hinaufsteigern.246 Von diesem reinem Wissen kann jedoch abermals abstrahiert werden: Das Denken befindet darüber, daß es selbst es war, das von sich selbst abstrahiert hat und so zum reinen Wissen geworden ist. Indem das Denken darüber befindet, setzt es sich in Distanz zum reinen Wissen; es abstrahiert vom reinen Wissen, um es als Resultat seiner eigenen Abstraktionsbewegung festzuhalten. Damit setzt sich das Denken wiederum nur abstrahierend in Be-

59/18−22). In ihm muß der Prozeß der Aufhebung von Andersheit (welchen das Bewußtsein durchlaufen hat) so gegenwärtig sein, daß hier Nicht-Andersheit oder Unterschiedslosigkeit keinen intrinsischen oder extrinsischen Unterschied markiert. Das ›Sein‹ ist in seiner Nicht-Andersheit nicht gegen Anderes bestimmt. Reine Unmittelbarkeit eignet dem logischen Anfang dadurch, daß hier die ›Beziehung auf sich selbst‹ keine Andersheit gegenüber Anderem, keine negative Beziehung auf Anderes meint. Aus diesem Grund kommen der Anfang der »Logik« und derjenige der »Phänomenologie« nicht darin überein, daß beide Anfänge dem Schein von Unmittelbarkeit ausgesetzt wären (so Theunissen, Schein und Sein [wie Anm. 3], 106). Die Logik setzt nicht mit einer naiven Unmittelbarkeit vom Kaliber der sinnlichen Gewißheit ein. Während dort »das Diese« derjenige Gegenstand ist, an den sich das Bewußtsein zuerst und unmittelbar klammert und der dem Bewußtsein das kurze, da vermeintliche Hochgefühl des unmittelbaren Wissens beschert, eignet dem logischen Anfang diese Form von scheinhafter Unmittelbarkeit nicht mehr: Weder besitzt das anfängliche ›Sein‹ wie »das Diese« irgendeine Art von scheinhafter Gegenständlichkeit, noch bemüht sich der logische Anfang um einen Gegenstandsbezug, der wie die sinnliche Gewißheit vermeintlich ohne Denken auskommen kann. 244 WdL (GW 21, 87/18). 245 Vgl. dazu auch die Bemerkungen oben, 221 ff. 246 Vgl. WdL (GW 21, 56/29−57/2): »Wie das re i ne Wissen nichts heißen soll als das Wissen als solches, ganz abstract, so soll auch reines Seyn nichts heißen, als das Seyn überhaupt; Se yn , sonst nichts, ohne alle weitere Erfüllung und Bestimmung.«

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ziehung zum reinen Wissen. Kurzum: Man ist so wieder bei der abstrahierenden äußeren Reflexion angekommen. Der logische Anfang spottet dieser List der Selbstaufhebung der abstrahierenden Tätigkeit, die keine Selbstaufhebung ist, sondern vielmehr eine stets erneut abstrahierende Selbstdistanzierung der Reflexion von ihrer abstrahierenden Tätigkeit. Damit aber bleibt hier die Negation selber, mit der das abstrahierende Denken von sich selbst abstrahiert, ganz ohne Selbstbeziehung: Der negative Charakter der Abstraktion selbst wird hier eben nicht negiert. Auch wenn die Reflexion glaubt, durch die Negation ihrer vermittelnden Tätigkeit unmittelbar an den logischen Anfang herangekommen zu sein, erhält sich eine derart in sich kreisende und verbleibende Reflexion mit und in ihrer abstrahierenden Negation weiter aufrecht. Damit sieht sich die Reflexion »in den Stand gesetzt, alle ihre annullierten Rechte in der Praxis auszuüben«.247 Die Negation dient dem Erhalt des abstrahierenden Denkens – wie auch im dazu analogen Fall das wortreiche Reden über das Unsagbare sich selbst eben durch und in diesem Reden aufrecht erhält: Es negiert seine eigene Möglichkeit, über das Unaussagbare etwas auszusagen, um sich eben dadurch die Möglichkeit zu bewahren, über das Unaussagbare zu reden. Für den logischen Anfang perhorresziert Hegel daher gerade nicht die Reflexion als eine bloß äußerliche. Eine solche abstrakte, da »gewaltsamste Zurückweisung des Vermittelns und der beweisenden, äußerlichen Reflexion«248 vom logischen Anfang führte nur dazu, daß die Reflexion, eingehegt in einen ihr zugewiesenen Bereich, um so ungestörter ihrem Geschäft des Abstrahierens nachgehen könnte. Diese Zärtlichkeit in Gestalt ihrer gewaltsamen, abstrakten Negation erweist Hegel den Einfällen der äußeren Reflexion nicht.249 − Ebensowenig aber fühlt sich Hegel bemüßigt, nun H. Heine, Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland, in: Sämtliche Schriften, hg. von K. Briegleb, München 1974, V, 531. 248 WdL (GW 21, 65/1 f.). 249 Dies scheint mir auch der Grund zu sein, warum Hegel bei seiner Darstellung des logischen Anfangs gerade nicht auf Reflexionsausdrücke verzichtet, sondern umgekehrt auf eine vollkommen abstrakte, d. h. bloße Benennung des Anfangs, die ohne weitere erklärende Worte auszukommen versucht: »schon indem die Wissenschaft mit dem rein Einfachen, hiemit dem Allgemeinsten und Leersten, anfangen muß, ließe der Vortrag nur eben diese selbst ganz einfachen Ausdrücke des Einfachen ohne allen weitern Zusatz irgend eines Wortes zu; − was der Sache nach Statt finden dürfte, wären negirende Reflexionen, die das abzuhalten und zu entfernen sich bemühten, was sonst die Vorstellung und ein ungeregeltes Denken einmischen könnte« (WdL; GW 21, 13−18; Hervorh. StG). Problematisch ist demnach eine solche thetische Benennung des Anfangs ohne jeden erläutenden Zusatz nicht deswegen, weil sie zu wenig Rücksicht auf ihre Verständlichkeit nehmen würde (so Henrich, »Anfang und Methode der Logik« [wie Anm. 15], 90). Problematisch ist für Hegel vielmehr das abstrakte Verhältnis, in das sich eine solche abstrakte Darstellung nolens volens zur Reflexion setzt: Noch der angestrengte Verzicht auf Reflexionsausdrücke bei der sprachlichen Darstellung des logischen Anfangs würde nicht der Sache des Anfangs dienen, eben weil die sprachliche Ausgrenzung von Reflexionsausdrücken die Strukturen der negierenden Reflexion reproduziert, diese Ausgrenzung also ihrerseits in abstrakter Negation vor sich geht. 247

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III. Hegel

im Einzelnen »allen solchen Einfällen, eben weil sie ausser der Sache liegen, begegnen zu wollen«.250 Denn allein schon die »Bemühung sie abzuwehren«,251 würde der Reflexion subkutan die Kraft zugestehen, »in den einfachen immanenten Gang der Entwicklung«252 verändernd eingreifen zu können. Weder die abstrakte noch eine ins Detail gehende Abwehr der Reflexion vom logischen Anfang bewahrt diesen in seiner Einfachheit und Reinheit, sondern sie bewahrt vielmehr die äußere Reflexion vor ihrem Zugrundegehen. So beruht die via negationis erfolgende Ausgrenzung der Reflexion vom logischen Anfang letztlich auf einem »ängstlichen, unvollendeten Standpunkt«.253 Dieser Standpunkt gesteht sowohl dem anfänglichen ›Sein‹ als auch der Reflexion jeweils einen residualen und irreduziblen Bereich seiner Nichtanalysierbarkeit bzw. ihrer ungeheuren Macht des Scheidens zu.254 Der logische Anfang muß demnach von einer tiefgreifenderen Transformation der vermittelnden Reflexion und ihrer Resultate gekennzeichnet sein und nicht bloß durch deren einseitige Anerkennung oder Negation. Denn die einseitige Negation oder Abstraktion von der abstrahierenden Tätigkeit läuft auf deren einseitige Affirmation hinaus, weil sich hier die Negation immer wieder nur in Form einer reflexi-

WdL (GW 21, 18/21 f.). WdL (GW 21, 18/19 f.). 252 WdL (GW 21, 18/18 f.). 253 WdL (GW 21, 35/17 f.). 254 Auch wenn es also der Reflexion nicht gelingt, durch die Abstraktion von ihrer abstahierenden Tätigkeit unmittelbar an den Anfang selbst heranzukommen, so scheint hier doch noch eine Alternative denkbar: Anstatt sich in einem reflexiven Akt von sich selbst zu distanzieren, könnte die Reflexion ihre abstrahierende Tätigkeit ganz einstellen, gleichsam als Ratifizierung der faktischen Unmöglichkeit, das anfängliche ›Sein‹ in irgendeiner Weise denken zu können. Aber auch das scheint keine Lösung zu sein: Abgesehen davon, daß Hegel angesichts des anfänglichen ›Seins‹ nicht zur Einstellung des Denkens überhaupt auffordert, sondern dort immerhin ein »leeres Denken« ausmacht, erscheint der bewußte Verzicht auf ein Denken auch nicht als das »richtige Verfahren, Sein zu denken« (Kesselring, »Voraussetzungen und dialektische Struktur des Anfangs der Hegelschen Logik« [wie Anm. 1], 99). Denn wonach bemißt sich die ›Richtigkeit‹ eines solchen völligen Verzichts auf Reflexion, wenn nicht nach der Reflexion selbst? Wäre der Anfang radikal unsagbar und unvermittelbar, dann gäbe es nicht einmal einen einsehbaren Grund, von der bewußten Verweigerung der Reflexion Gebrauch zu machen. Denn es gäbe auch kein Bewußtsein davon, daß der Anfang sich aller Reflexion entzieht. Die Möglichkeit, den logischen Anfang überhaupt zu denken, scheint mir daher nicht in der Alternative aufzugehen, die zwischen einem bestimmenden Denken über das ›Sein‹ und einem bewußten Verzicht auf ein solches bestimmendes Denken besteht und vor die sich die Reflexion gestellt sieht. Auf diese Weise nimmt die Reflexion gerade nicht einen »Widerspruch auf sich« (so Kesselring, op. cit., 99), an dem sie als Reflexion scheitern würde. Sie erhält sich vielmehr als Reflexion in diesem Widerspruch, weil diese beiden Möglichkeiten die ihr eigenen sind, sich vor ihrem Scheitern am logischen Anfang zu schützen: Wenn schon eine Bestimmung des ›Seins‹ aus reflexiver Distanz keinen Erfolg hat, dann ist es immer noch besser, gar nicht mehr zu denken als eine unwahre Bestimmung denken. Die ›intrinsische‹ Nichtanalysierbarkeit des logischen Anfangs ›bestätigt‹ sich dann nur in reflexiver Distanz, durch seine faktische Nichtanalyse. Die Aufgabe oder Preisgabe des Denkens angesichts des logischen Anfangs ist hier die Aufgabe oder Anforderung, die sich das Denken selbst stellt und die es meistert. 250 251

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ven Distanzierung von sich selbst ins Spiel bringen läßt. Reflexionslos kann also das ›Sein‹ nicht aus dem Grunde sein, weil das ›Sein‹ nach »dem geläufigen Gegensatze von Gedanken oder Begriff und Seyn […] einen eigenen vom Gedanken selbst unabhängigen Grund habe«.255 Als vom Gedanken selbst unabhängig, als reflexionslos erscheint das ›Sein‹ vielmehr nur in der Perspektive der äußeren Reflexion, die sich als das Andere des ›Seins‹ weiß, indem sie das ›Sein‹ als bloß Abstraktes von sich fernhält. Damit aber wäre ›Sein‹ »schon gesetzt als mit einer Negation behaftet«;256 behaftet mit der Negation von Bestimmtheit, der Negation von Vermittelbarkeit, der Negation von Reflexion. Auf diese Weise aber läßt sich für Hegel die Einfachheit und Unmittelbarkeit des logischen Anfangs nicht gewinnen: Es g i b t deswegen auch, es sey in der Wi r k l i c h k e i t oder im G e d a n k e n , kein so Einfaches und so Abstractes, wie man es sich gewöhnlich vorstellt. Solches Einfache ist eine bloße M e y n u n g , die allein in der Bewußtlosigkeit dessen, was in der That vorhanden ist, ihren Grund hat.257 Was am logischen Anfang in der Tat vorhanden ist, was es dort ›gibt‹, ist für Hegel kein bloß abstrakt einfaches Denken oder Sein, sondern »an sich die concrete Totalität, aber die noch nicht gesetzt, noch nicht für sich ist«.258 Denken und Sein müssen am logischen Anfang nicht erst durch eine Negation ihrer Differenz zueinander finden, sondern erst einmal auseinandertreten.259 Mit dieser Kennzeichnung des Anfangs als konkrete Totalität erhebt Hegel aber wohl kaum den Anspruch, daß der Anfang nun so etwas wäre wie das logische Universum in der Nußschale, in der alles noch Folgende »in nuce, d. h. in unausgefalteter Form, vorgebildet« wäre.260 Der logische Anfang repräsentiert insofern auch nicht die WdL (GW 12, 240/2−5). WdL (GW 12, 240/33 f.). 257 WdL (GW 12, 240/34−37). 258 WdL (GW 12, 240/30 f.). 259 Für den logischen Anfang gilt daher a fortiori, was jüngst Ch. Halbig im Zusammenhang mit der Kategorie des Erkennens namhaft gemacht hat: daß nämlich »Hegel nicht die […] Strategie verfolgt, zunächst einen Dualismus von Subjektivität und Objektivität zu akzeptieren, um dann zu fragen, wie die Kluft zwischen den beiden Gliedern überbrückt werden kann – ein Problem, das nur dann lösbar scheint, wenn sich das eine Glied auf das andere reduzieren ließe« (Ch. Halbig, »Das ›Erkennen als solches‹. Überlegungen zur Grundstruktur von Hegels Epistemologie«, in: Hegels Erbe, hg. von Ch. Halbig, M. Quante und L. Siep, Frankfurt a. M. 2004, 138–163; hier 159). 260 Kesselring, »Voraussetzungen und dialektische Struktur des Anfangs« (wie Anm. 1), 93; dort Anm. 7. Da der Begriff der konkreten Totalität in Kesselrings Augen gleichbedeutend ist mit einer Präformation des Ganzen en miniature, erscheint ihm die Inanspruchnahme dieses Begriffs am logischen Anfang als »ebenso unsinnig wie die im 17. und 18. Jahrhundert vertretene Präformationstheorie, wonach der Mensch bereits in der Samenzelle in allen seinen Teilen vorgebildet sein sollte« (ebd.). Für Kesselring folgt daraus, daß der Begriff der konkreten Totalität innerhalb der Logik des reinen Seins keinen Platz hat; die »Deutung der Kategorie Sein als keimhaft angelegte konkrete Totalität 255 256

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»Logik« im Miniaturformat, deren alle weiteren »Bestimmungen und Entwicklungen nur bestimmtere und reichere Definitionen«261 des absoluten Anfangs wären. Als komprimiertes Ganzes verstanden, wäre der logische Anfang in der Tat dann »ein Concretes, ein in sich verschiedene Bestimmungen Enthaltendes«.262 Der Anfang enthielte bereits eine »Beziehung innerhalb seiner selbst«,263 deren Relata dann zum Gegenstand eines »analytischen Verfahrens« gemacht werden könnten, und damit zum Gegenstand »eines der Sache selbst äußerlichen, in das Subject fallenden, Thuns«.264 Der äußerliche und subjektive und Charakter eines solchen Tuns zeigt sich für Hegel daran, daß zum einen nicht vorab schon gesichert ist, welche Bestimmungen der konkrete Anfang überhaupt in sich einfaltet: »Welche Bestimmungen herausgebracht werden, hängt von dem ab, was jeder in seiner unmittelbaren zufälligen Vorstellung vorfindet.«265 Nicht nur die Gegebenheit des Anfangs als solche wäre eine zufällig vorgefundene, sondern auch das, was im Anfang gegeben ist. Zum anderen aber »fehlt, wenn ein Concretes zum Anfange gemacht wird, der Beweis, dessen die Verbindung der im Concreten enthaltenen Bestimmungen bedarf«.266 Aus der Apostrophierung des Anfangs als konkrete Totalität folgt daher nicht automatisch, daß das, was im einfachen Anfang konkresziert, dort nur in Form einer Gleichzeitigkeit, eines Zusammenfalles, mithin »in unmittelbarer Vereinigung«267 oder als »ununterschiedene Einheit«268 vorhanden sein kann. Insofern läßt sich der Anfang auch nicht als »die Einheit von Seyn und Nichts« bestimmen bzw. als »Nichtseyn, das zugleich Seyn, und Seyn, das zugleich Nichtseyn ist«.269 Auf diese Weise, mit dem Ineinsfall verschiedener oder gar gegensätzlicher Bestimmungen im logischen Anfang, wäre zwar dessen Einfachheit Rechnung getragen. Unmittelbarkeit besäße der Anfang hier dadurch, daß sich in ihm die sich gegenseitig vermittelnden Bestimmungen aufgehoben haben. Diese ununterschiedene, koinzidentale Einheit des logischen Anfangs wäre dadurch jedoch eine »einfachgekann also − wenn überhaupt − bestenfalls im Rückblick legitimiert werden« (ebd., 93.). − Ähnlich etwa auch Theunissen, Schein und Sein (wie Anm. 3), 403: »Denn wenn das reine Sein, so wie die Logik mit ihm anfängt, gar keine Beziehung innerhalb seiner selbst enthält, dann darf es auch kein an sich Konkretes sein, als das es interne Differenzen in unentwickelter Form umfassen müßte.« 261 WdL (GW 21, 61/1 f.). 262 WdL (GW 21, 65/3). 263 WdL (GW 21, 62/4 f.). 264 WdL (GW 21, 62/1 f.). 265 WdL (GW21, 61/21 f.). 266 WdL (GW 21, 65/9−11.); Hervorh. StG. 267 WdL (GW 21, 60/25 f.). 268 WdL (GW 21, 60/26); im Original gesperrt. 269 WdL (GW 21, 60/16−18); Hervorh. StG. − Vgl. auch ebd., 62/7−9: »Aber der Anfang soll nicht selbst schon ein erstes un d ein anderes sein; ein solches das ein Erstes u nd ein Anderes in sich ist, enthält bereits ein Fortgegangenseyn.«

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wordene«,270 eben weil sie sich der Negation oder der Aufhebung der Unterschiedenheit ihrer Momente verdankt. Der logische Anfang wäre dasjenige, was sich, ex post betrachtet, noch nicht in die in ihm eingefalteten Momente entfaltet hat. Das unmittelbare, ununterschiedene Vorhandensein gegensätzlicher Bestimmungen im einfach gewordenen Anfang wäre die Kehrseite davon, daß sich diese Bestimmungen im Nachhinein durch die Negation ihrer Ununterschiedenheit analysieren, buchstäblich entwickeln lassen. Die analysierende Aufhebung des im Anfang vorhandenen Zusammenfalls von gegensätzlichen Bestimmungen hätte nur für sich einen Ausgangspunkt gefunden, bei dem es gleichgültig wäre, von welcher Bestimmung die Entwicklung des Anfangs ihren Ausgang nehmen würde: Die Reihenfolge der aus dem Anfang extrapolierten Bestimmungen (z. B. ›Sein‹ und ›Nichtsein‹) wäre beliebig, wenn diese Bestimmungen im Anfang ununterschieden, in Form eines äquilibralen Zugleichs, vorlägen. Für Hegel scheint dies kein gangbarer Weg zu sein. Eine derartige koinzidentale Bestimmung des logischen Anfangs in Form der Analyse seiner in ihm enthaltenen Momente bleibt für ihn buchstäblich irreal: Die Analyse des Anfangs gäbe somit den Begriff der Einheit des Seyns und des Nichtseyns − oder in reflectirterer Form, der Einheit des Unterschieden- und Nichtunterschiedenseyns, – oder der Identität der Identität und Nichtidentität. Dieser Begriff könnte als die erste, reinste, d. i. abstracteste, Definition des Absoluten angesehen werden; – wie er diß in der That seyn würde, wenn es überhaupt um die Form von Definitionen und um den Namen des Absoluten zu thun wäre.271 Der logische Anfang kann also keine ununterschiedene Einheit von prinzipiell unterscheidbaren, analysierbaren Bestimmungen und Verhältnisbestimmungen (von Sein und Nichtsein; von Identität und Nichtidentität; von Unterschiedensein und Ununterschiedensein) darstellen, wobei diese Einheit selbst ein koinzidentales Zugleich wäre, das den vermittelnden Charakter dieser Bestimmungen aufgehoben hat.272 WdL (GW 21, 62/6); Hervorh. StG. WdL (GW 21, 60/27–32); Hervorh. StG. 272 Wäre also die Unbestimmtheit des logischen Anfangs als Negation oder Aufhebung von Bestimmtheit zu fassen, so kann dies auf zweierlei Weise verstanden werden. Beide Verständnisweisen kommen darin überein, daß sie gleichermaßen ex post die Negation auf den Anfang zurückprojizieren, d. h. daß sie die Unbestimmtheit des Anfangs als einen Gegensatz zu den ihm folgenden Bestimmungen sehen: Die Unbestimmtheit des logischen Anfangs ließe sich somit kennzeichnen (a) als totaler Mangel an Bestimmtheit und zugleich (b) als koinzidentale − alle Bestimmungen zwar einschließende, aber noch nicht entfaltende − Fülle von Bestimmtheit: (a) In »ihrer Isoliertheit als bloßer Anfang betrachtet«, wäre die Unbestimmtheit von ›Sein‹ einerseits »als ein Fehlen von Bestimmungen, als Mangel an Gehalt und damit privativ zu verstehen« (J. Halfwassen, Hegel und der 270 271

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Daß der Anfang ein »Nichtanalysierbares« ist, betrifft also einerseits die Unmöglichkeit, daß hier unterscheidbare Relata (also etwa ›Sein‹ und ›Nichtsein‹) aus ihrer anfänglich ununterschiedenen Einheit herauspräparierbar sind: »Was den Anfang macht, der Anfang selbst, ist daher als ein Nichtanalysirbares, in seiner einfachen unerfüllten Unmittelbarkeit, also als Seyn, als das ganz Leere zu nehmen.«273 Andererseits aber kann die hier namhaft gemachte Nichtanalysierbarkeit des Anfangs kein Befund der äußeren Reflexion über den Anfang sein. Einfache Unmittelbarkeit ist nicht schon dadurch erreicht, daß jede Beziehung und Vermittlung vom Anfang auf dem Wege der abstrakten Negation ferngehalten wird. Die einfache, unbestimmte Unmittelbarkeit des logischen Anfangs meint demnach weder eine abstrakte Negation, die dem Anfang von außen jede Bezüglichkeit und Vermittlung überhaupt abspricht; noch meint sie eine interne Aufhebung von gegensätzlichen Verhältnisbestimmungen bzw. ihren Ineinsfall ›im‹ Anfang. Wie ist aber dann Hegels Behauptung von der unbestimmten Unmittelbarkeit des Anfangs zu verstehen? Wenn der Anfang nicht einfach als bare Unvermitteltheit, aber auch nicht einfach als Vermittlung von intrinsischen Momenten zu fassen ist, der Anfang also weder Unvermitteltheit noch Vermittlung meinen kann, dann ist immerhin denkbar, daß der Anfang sowohl unvermittelt als auch vermittelt ist. Auch für den logischen Anfang würde dann gelten, daß es Nichts g i b t , nichts im Himmel oder in der Natur oder im Geiste oder wo es sey, was nicht ebenso Unmittelbarkeit enthält, als die Vermittlung, so daß sich diese beyden Bestimmungen als u n g e t r e n n t und u n t r e n n b a r und jener Gegensatz als ein Nichtiges zeigt.274 Dann würde die konkrete Totalität, die der Anfang doch sein soll, die Vermittlung so in sich einbinden, daß hier Unmittelbarkeit nicht mehr gegen Vermitteltheit bestimmt werden kann. In diesem Fall aber hätten wir es mit einer konkreszierenden spätantike Neuplatonismus. Untersuchungen zur Metaphysik des Einen und des Nous in Hegels spekulativer und geschichtlicher Deutung, Bonn 1999, 288). − (b) Andererseits, vom »Ende der Logik her gesehen«, enthielte das anfängliche ›Sein‹ »bereits die gesamte Abfolge der Kategorien […] in unentfalteter Einfachheit in sich« und wäre »so betrachtet nicht mehr privative, hyletische Bestimmungslosigkeit und Leere, sondern in einfachster Einheit eingefaltete Fülle«; es gliche »dem Keim, der sich von selbst her bis zur Blüte entfaltet und diese darum auf unentfaltete Weise bereits selbst ist« (ebd., 288). In beiden Perspektiven zeigt sich der logische Anfang daher als ein keimhaftes ›NochNicht‹: Die Fülle des logischen Anfangs wäre ihrerseits privativ, als Mangel an Entfaltetheit, zu verstehen. In Wahrheit wäre der logische Anfang dann gar nicht die reine Leere, sondern eine Leere, die ihre Bestimmung bereits hat und dann auch findet in der ihr folgenden Erfüllung; ebensowenig wäre der Anfang aber die reine Fülle oder ›Totalität an sich‹, sondern eine Fülle, der die Bestimmtheit, die Entfaltung noch abgeht. 273 WdL (GW 21, 62/9−11). 274 WdL (GW 21, 54/13−17). Vgl. z. B. auch die Vorlesungen über die Beweise vom Dasein Gottes, 3. Vorl. (WW 17, 367).

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Einheit bzw. einem Ineinsfall von Vermittlung und Unmittelbarkeit zu tun, deren Konjunktion im Anfang jedoch wiederum erst eines Beweises bedürfte: Für den logischen Anfang müßte sich bereits zeigen lassen, daß sich hier der Ineinsfall von Vermittlung und Unmittelbarkeit gegen den nichtigen Gegensatz von Vermittlung und Unmittelbarkeit behauptet.275 Wird der Anfang hingegen so gefaßt, daß er weder vermittelt noch unvermittelt ist, dann erübrigt sich ein Beweis für die Verbindung oder Konjunktion von Unvermitteltheit und Vermittlung ›im‹ logischen Anfang. Denn wenn der Anfang weder vermittelt noch unvermittelt ist, dann verneint dieses ›weder − noch‹ nicht nur pauschal die Disjunktion, der zufolge der Anfang entweder unvermittelt oder vermittelt sein muß: Wenn der Anfang der Anfang weder unvermittelt noch vermittelt ist, dann ist er gleichermaßen nicht unvermittelt und nicht vermittelt (¬ U ∧ ¬ V). Es entfällt hier also die Möglichkeit, den Anfang entweder als unvermittelt oder als vermittelt zu fassen: ¬ (U ∨ V). In seiner subtilen Studie versucht M. Wolff anhand des Abschnittes »Womit muß der Anfang der Wissenschaft gemacht werden?« nachzuweisen, daß Hegel dort die Notwendigkeit des logischen Anfangs mittels »der Verwandlung eines negativen Dilemmas in ein positives (konstruktives) Dilemma« demonstriert (Wolff, »Die ›Momente‹ des Logischen und der ›Anfang‹ der Logik Hegels« [wie Anm. 240], 240). Ausgangspunkt sei Hegels Feststellung, daß der »Anfang der Philosophie […] entweder ein Ve r m i t t e lt es oder Unmi t t el ba res seyn« muß (WdL, GW 21, 53/5 f.). Das negative Dilemma komme in Hegels kurzem Hinweis zur Sprache, es sei »leicht zu zeigen, daß [der Anfang] weder das Eine noch das Andere seyn könne« (ebd., 53/7): Weder kann der Anfang als Anfang durch ihm vorangehende Vorüberlegungen vermittelt sein, noch kann seine Notwendigkeit ohne diese vermittelnden Überlegungen überhaupt eingesehen werden. Aus diesem negativen Dilemma ergibt sich nach Wolff die unbefriedigende Konsequenz, daß es überhaupt keinen logischen Anfang geben kann. Diese Schlußfolgerung wird, wie Wolff allerdings zugibt, im Hegelschen Text »nicht ausdrücklich gezogen, sondern dem Leser überlassen« (Wolff, op. cit., 241). Hegel verwandle jedoch dieses Dilemma in ein positives, indem er den Anfang sowohl als vermittelt als auch als unvermittelt faßt. Die Notwendigkeit, den Anfang in Form der Konjunktion »sowohl vermittelt als auch unvermittelt« zu fassen, ergibt sich also daraus, daß der logische Anfang nicht auf die eine oder andere Weise gemacht werden kann, der Anfang also nicht der Disjunktion ›entweder vermittelt oder vermittelt‹ anheim gestellt sein kann, daß aber Vermittlung und Unvermitteltheit vom Anfang auch nicht pauschal oder abstrakt ferngehalten werden können. Im ›sowohl – als auch‹ findet diejenige erste »Weise des Anfangens« (WdL, GW 21, 53/8), die vor der Disjunktion ›entweder vermittelt oder unvermittelt‹ steht, ihre Lösung. Einzig die Konjunktion scheint die anfängliche Disjunktion (›entweder unvermittelt oder vermittelt‹) konstruktiv überwinden zu können: Die Konjunktion negiert im Gegensatz zur negierten Disjunktion (›weder vermittelt noch unvermittelt‹) nicht pauschal die anfängliche Disjunktion, sondern sie negiert sie vielmehr bestimmt: Der Anfang muß sowohl vermittelt als auch unvermittelt sein, weil weder gelten kann, daß der Anfang entweder unvermittelt oder vermittelt ist, noch gelten kann, daß der Anfang weder unvermittelt noch vermittelt ist. – Zwei Punkte scheinen mir an Wolffs Deutung problematisch zu sein: (1.) Wolffs Lösung der Anfangsproblematik in der Konjunktion »sowohl vermittelt als auch unvermittelt« ist ihrerseits vermittelt durch die Abwehr des negativen Dilemmas; die Entwicklung des positiven Dilemmas setzt das negative Dilemma mit seiner unerwünschten Konsequenz voraus, daß es überhaupt keinen Anfang geben kann. (2.) Es ist fraglich, ob das negative Dilemma tatsächlich nur zu der Schlußfolgerung führt, daß es keinen Anfang geben kann, wenn dieser weder unvermittelt noch vermittelt ist. 275

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III. Hegel

Dieses ›weder − noch‹ verneint aber zugleich die Konjunktion von Unvermitteltheit und Vermittlung im logischen Anfang. Wenn der Anfang weder unvermittelt noch vermittelt ist, dann kann er nicht unvermittelt und zugleich vermittelt sein. Es entfällt hier also die Möglichkeit, den Anfang sowohl als unvermittelt als auch als vermittelt zu fassen: ¬ (U ∧ V). Weder kann vom Anfang gesagt werden, daß er unvermittelt oder vermittelt sein muß, noch kann von ihm gesagt werden, daß er unvermittelt und zugleich vermittelt sein muß. Die unbestimmte Unmittelbarkeit des logischen Anfangs meint demnach keine konkreszierende Einheit von Unvermitteltheit und Vermittlung, die im Gegensatz zu deren Disjunktion stünde. ›Unbestimmte Unmittelbarkeit‹ bedeutet vielmehr eine abstrakte Negation des negativen Verhältnisses, in dem Konjunktion und Disjunktion zueinander stehen: Die Konjunktion und die Disjunktion von Unvermitteltheit und Vermittlung sind hier keine einander ausschließenden Weisen des Anfangens und fallen gleichwohl nicht zusammen. Der Bezug der logischen Anfangs zur Vermittlung bzw. zur vermittelnden Reflexion ist demnach weder von einer Disjunktion geprägt (›entweder vermittelt oder unvermittelt‹); noch ist er gekennzeichnet durch den Zusammenfall mit der vermittelnden Reflexion (›sowohl vermittelt als auch unvermittelt‹). Das Verhältnis des logischen Anfangs zur vermittelnden Reflexion ist in dem Sinne unbestimmt, daß im logischen Anfang Unvermitteltheit und Vermittlung weder aufeinander bezogen noch nicht aufeinander bezogen sind. Gerade auch im Hinblick auf das Verhältnis von Unmittelbarkeit und Vermittlung ist der logische Anfang bloßes »Ansichseyn ohne Fürsichseyn«.276

2.2 ›Sein‹ als Gleichheit ohne Gleiches Die anfängliche Kategorie ›Sein‹ verkörpert offenbar genau diese Struktur eines ›weder − noch‹. Das »[r]eflexionslose Seyn […], wie es unmittelbar nur an ihm selber ist«,277 zeigt sich nämlich nicht daran, daß es einfach »nur sich selbst gleich«278 wäre. Denn eine solche exklusive Selbstgleichheit oder Identität von ›Sein‹ ließe sich immerhin noch bestimmen als Ungleichheit oder Differenz gegen Anderes, also auch gegenüber dem Denken. Daher impliziert diese reflexionslose Selbstgleichheit von ›Sein‹ nach Hegel keine Ungleichheit oder Differenz gegen Anderes: In seiner unbestimmten Unmittelbarkeit ist es [sc. das Seyn] nur sich selbst gleich, und auch nicht ungleich gegen anderes, hat keine Verschiedenheit innerhalb seiner, noch nach Aussen. Durch irgend eine Bestimmung oder Inhalt, der in ihm unter276 277 278

WdL (GW 11, 240/39−241/1). WdL (GW 21, 68/5 f.). WdL (GW 21, 68/20).

2. Der absolute Anfang und seine Negationen

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schieden, oder wodurch es als unterschieden von einem andern gesetzt würde, würde es nicht in seiner Reinheit festgehalten. Es ist die reine Unbestimmtheit und Leere.279 Daß demnach das Sein »nur sich selbst gleich, und auch nicht ungleich gegen anderes« ist, heißt aber nicht sogleich: ›Sein‹ ist sowohl mit sich als auch mit Anderem gleich. Das reine ›Sein‹ wäre ansonsten in Wahrheit oder im eigentlichen Sinne zu verstehen als der kopulative Ineinsfall von ›Sein‹ mit seinem Anderen. Für einen solchen Ineinsfall des ›Sein‹ mit seinem Gegenteil scheint aber das allererste, in der Seinslogik überhaupt erzielte »Resultat, daß Seyn und Nichts dasselbe ist«, zu sprechen.280 Es ist allerdings fraglich, ob Hegel in dieser Selbigkeit oder Einheit von ›Sein‹ und ›Nichts‹ überhaupt dasjenige Resultat erblickt, mit dem das anfängliche Verhältnis von ›Sein‹ und ›Nichts‹ seine wahre Bestimmung erfährt. Für Hegel ist dieses Resultat vielmehr eine geläufige Binsenweisheit, die zwar auf den ersten Blick »dem sogenannten gesunden Menschenverstande«281 widerspricht, weil es »paradox scheint«.282 Es scheint aber eben nur so: Vielmehr wäre es, so Hegel, ein Leichtes, »diese Einheit von Seyn und Nichts, in jedem Beyspiele, in jedem Wirklichen oder Gedanken aufzuzeigen«:283 Jedes Wirkliche und jeder Gedanke sind, indem sie Anderes – ein anderer Gedanke, ein anderes Wirkliches – nicht sind, eben durch dieses Andere auch schon vermittelt und nur durch dieses verständlich. Eben dieses Wirkliche oder eben dieser Gedanke bestehen nur, indem sie zugleich Anderes nicht sind und durch dieses vermittelt sind. Es handelt sich also bei dieser Einheit von ›Sein‹ und ›Nichts‹ um kein Arcanum der spekulativen Wissenschaft, sondern geradezu um eine »im Himmel und auf Erden« offen zu Tage liegende Selbstverständlichkeit: Es muß dasselbe, was oben von der Unmittelbarkeit und Vermittlung (welche letztere eine Beziehung aufein a n d e r, damit N e g a t i o n enthält), vom S e y n und N i c h t s gesagt werden, d a ß e s n i r g e n d i m H i m m e l u n d a u f E rden etwas gebe, was nicht beides, Seyn und Nichts, in sich enth i e l t e .284 Eben dieser Umstand, daß der logische Anfang beides, sowohl Sein als auch Nichts bzw. sowohl Unmittelbarkeit als auch Vermittlung, in sich enthielte, trifft aber nach Hegel nicht zu: WdL (GW 21, 68/19−69/4). WdL (GW 21, 71/18). So setzt auch der Abschnitt »C. Werden« mit dem Satz ein: »Das reine Seyn und das reine Nichts ist also dasselbe« (WdL; GW 21, 69/24; im Original gesperrt). 281 WdL (GW 21, 71/22). 282 WdL (GW 21, 71/18 f.). 283 WdL (GW 21, 71/24−26). 284 WdL (GW 21, 71/26−29). 279 280

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III. Hegel

Freylich, da hiebey von e i n e m i r g e n d E t w a s und Wi r k l i c h e m die Rede seyn wird, so sind darin jene Bestimmungen nicht mehr in der vollkommenen Unwahrheit, in der sie als Seyn und Nichts sind, vorhanden, sondern in einer weitern Bestimmung […].285 Der Ineinsfall oder die ununterschiedene Einheit von ›Sein‹ und ›Nichts‹ ist schon über den logischen Anfang, ja sogar über die Kategorie ›Werden‹ hinaus, da dieser Ineinsfall ein ›Dasein‹ bzw. ein ›irgend Etwas‹ kennzeichnet. Der Ineinsfall von ›Sein‹ und ›Nichts‹ im ›Dasein‹ begegnet der vollkommenen Unwahrheit, in der sich das Verhältnis von ›Sein‹ und ›Nichts‹ am Anfang präsentiert, bereits nicht mehr auf derselben Augenhöhe. Der Modus, in dem sich ›Sein‹ und ›Nichts‹ am logischen Anfang in Wahrheit zueinander verhalten und der sich dann als ›Werden‹ manifestiert, ist nicht die konkreszierende Einheit zweier verschiedener Bestimmungen: Das reine Seyn und das reine Nichts ist also dasselbe. Was die Wahrheit ist, ist weder das Seyn noch das Nichts, sondern daß das Seyn in Nichts, und das Nichts in Seyn, − nicht übergeht −, sondern übergegangen ist. Aber eben so sehr ist die Wahrheit nicht ihre Ununterschiedenheit, sondern daß sie nicht dasselbe, daß sie absolut unterschieden, aber eben so ungetrennt und untrennbar sind, und unmittelbar jedes in seinem Gegentheil verschwindet.286 Wenn demnach die Wahrheit weder das Sein noch das Nichts ist, dann meint dies erstens die Ununterschiedenheit von Sein und Nichts und zweitens »ebenso sehr nicht ihre Ununterschiedenheit«. Weder lassen sich ›Sein‹ und ›Nichts‹ in einer Disjunktion auseinanderhalten noch in einer Konjunktion zusammenspannen. Das ›weder − noch‹ verneint sowohl die Disjunktion (Unterschiedenheit) als auch die Konjunktion (Ununterschiedenheit) sowie deren negatives Verhältnis zueinander. Der Gegensatz von ›Sein‹ und ›Nichts‹ kann sich im logischen Anfang nicht einmal als ein nichtiger bzw. als noch nicht vorhandener zeigen, weil hier Ununterschiedenheit noch keine Differenz zur Unterschiedenheit markiert. Genau dies scheint auch der Grund zu sein, warum das ›Sein‹ und nicht das ›Nichts‹ die erste logische Kategorie bildet. Wie das ›Sein‹ ist das ›Nichts‹ zwar »einfache Gleichheit mit sich selbst, vollkommene Leerheit, Bestimmungs- und Inhaltslosigkeit; Ununterschiedenheit in ihm selbst«.287 Im Gegensatz zu ›Sein‹ gilt aber von ›Nichts‹ gerade nicht, daß es »nicht ungleich gegen anderes«, also ununterschieden gegenüber Anderem wäre. Das ›Nichts‹ ist vielmehr die absolute Ungleichheit, die an der Ununterschiedenheit des ›Seins‹ selbst unmittelbar hervortritt, und zwar WdL (GW 21, 71/30−33). WdL (GW 21, 69/24 f.); Hervorh. StG. Aus Gründen der Übersichtlichkeit wurde in diesem Zitat auf die Sperrungen des Originals verzichtet. 287 WdL (GW 21, 69/11 f.). 285 286

2. Der absolute Anfang und seine Negationen

297

deswegen, weil die Ununterschiedenheit von ›Sein‹ nicht gegen seine Unterschiedenheit bestimmt ist. Die reflexionslose ›Gleichheit nur mit sich selbst‹ meint demnach erstens keinen Selbstbezug des reinen Seins auf sich selbst, der gegen Anderes bestimmt wäre oder dieses ausschließen würde. Aber ebensowenig meint diese reflexionslose ›Gleichheit nur mit sich selbst‹ zweitens, daß hier die Ununterschiedenheit von ›Sein‹ die Ununterschiedenheit von Anderem in sich integrieren würde: Daß das Sein »nicht ungleich gegen anderes« ist, heißt nicht, daß es nun sich mit sich selbst und mit allem Anderen gleich wäre. In ihm fallen nicht Selbst- und Fremdbezug unterschiedslos oder gleichgültig zusammen. Das Andere des Seins ist noch nicht das Andere seiner selbst, nicht das Andere, das in einen Selbstbezug von ›Sein‹ integriert wäre. Das ›Nichts‹ ist noch nicht in eine Positivität des Seins, d. h. in ein Sein eingebunden, welches zugleich schon das Andere seiner selbst wäre. Am Anfang steht keine Identität oder Einheit von ›Sein‹ und ›Nichts‹. Eine derartige Einheit drückt für Hegel allenfalls eine ganz a b s t r a c t e Diesselbigkeit aus und lautet umso härter und auffallender, je mehr die, von welchen sie ausgesprochen wird, sich schlechthin unterschieden zeigen.288 Wenn hier also überhaupt von Implikaten gesprochen werden kann, dann impliziert die absolute Unterschiedenheit (Gleichheit nur mit sich) eben keine Ungleichheit oder Differenz gegenüber Anderem. Diese Ununterschiedenheit gegenüber Anderem impliziert aber ebensowenig die Gleichheit mit Anderem, da das ›Sein‹ gar kein Anderes, ja nicht einmal sich selbst zum Anderen hat. Indem also das Sein überhaupt kein Anderes, auch kein Anderes innerhalb seiner selbst hat, mit dem es gleich sein könnte und von dem es sich unterscheiden könnte, schließt hier die ›Gleichheit mit sich selbst‹ nicht die unterschiedslose Gleichheit mit allem und jedem, sondern die absolute Ungleichheit gegen sich selbst ein. Es gibt kein ›Worin‹ der Gleichheit, in dem das Sein sich intrinsisch als gleich mit sich selbst oder extrinsisch als gleich mit einem Anderem zeigen könnte, da es keinen internen und externen Maßstab für eine solche ›Gleichheit mit …‹ gibt. Die absolute Gleichheit des Seins etabliert sich nicht durch unterschiedlose Gleichheit seiner selbst mit Anderem, sondern einzig und allein als absoluter Unterschied zu sich selbst, als absolute Nicht-Gleichheit mit sich selbst. Weder negiert die Selbstgleichheit von ›Sein‹ Andersheit so, daß das Sein alles Andere als ungleich von sich ausschließt; noch negiert diese Selbstgleichheit Andersheit so, daß das Sein alles Andere als gleich mit sich selbst einschließt.

288

WdL (GW 21, 79/4−6).

298

III. Hegel

Das anfängliche ›Sein‹ richtet sich demnach von vornherein nicht auf Anderes, dem es gleicht oder nicht gleicht. Gleichheit und Ungleichheit sind keine Bezüge, in denen das ›Sein‹ als ein Relatum steht und sich vermittelt. Dadurch daß ›Sein‹ weder exklusiv mit sich noch koinzidentell mit Anderem gleich ist, negiert es jede Relation der ›Gleichheit mit …‹. Somit negiert das Sein auch die Gleichheit mit sich selbst.289 Als gleich ›mit‹ sich selbst ist das Sein absolut ›von‹ sich unterschieden oder ungleich ›gegen‹ sich. Daher kann das Sein mit dem Nichts ›identifiziert‹ werden, insofern das Sein absolut ungleich gegen sich selber ist. Aber diese Unterschiedenheit des Seins von sich selbst bzw. seine Identität mit Nichts ist ebenso zu verneinen, und dies nicht deshalb, weil das Sein nur mit sich (und mit nichts Anderem sonst) gleich wäre, sondern weil es überhaupt nicht in einer Relation der ›Gleichheit mit …‹ bzw. der ›Ungleichheit gegen …‹ steht.290 Hegels Verwendung der Relationsausdrücke »gleich mit …« und »nicht ungleich gegen …« am logischen Anfang hat also keinen vorläufigen oder unumgänglichen Charakter, der Zugeständnisse an die äußere Reflexion macht. Der Sache nach ist der Anfang selbst vielmehr ein Relationsbegriff, doch aber so, daß er als absoluter Anfang nicht auf Anderes bezogen und durch es vermittelt sein kann. Dementsprechend kann der Anfang nur als Relation ohne Relata gekennzeichnet werden. Er ist keine Relation zwischen zwei unmittelbar gleichen und ungleichen Gliedern (›Sein‹ und ›Nichts‹). Eben diese Kennzeichnung ist wohl intendiert, wenn das anfängliche Sein bezugslose Gleichheit, d. h. Gleichheit ohne jedes ›mit‹, ist. Das Sein ist als eine Relation namhaft gemacht, die sich in dem Sinne auf Nichts bezieht, daß sie kein Relatum, also auch nicht das Nichts zu ihrem Relatum hat. Das Sein bezieht sich also nicht auf das Nichts, weil es selbst kein Relatum ist. Gleichwohl bezieht es sich ›auf Nichts‹, weil es reine Relation ist. Das anfängliche Sein ist weder vermittelt, da es kein Glied innerhalb einer Relation ist; noch ist es unvermittelt, da es immerhin Relation ist. Als reine Relation ohne Relata schließt das anfängliche Sein kein Relatum aus, weil diese reine Relation noch kein Relatum impliziert oder einfaltet.291

289 Man könnte auch sagen: Verhindert wird diese Selbstbeziehung von Sein, seine Gleichheit mit sich selbst, dadurch, daß das Sein nicht ungleich gegen Anderes ist. Das Sein ist nicht ›nach innen‹ mit sich vermittelt, weil es auch nicht ›nach außen‹ vermittelt ist, also nicht einfach gleich mit allem Anderem ist. 290 Insofern läßt sich auch nicht sagen, daß das anfängliche Charakteristikum von ›Sein‹, nämlich seine »Bestimmungslosigkeit mit Selbstbeziehung, auch mit der elementarsten, schlechterdings unverträglich« ist (Theunissen, Schein und Sein [wie Anm. 3], 402). Denn das ›Sein‹ steht von vornherein nicht in einer Beziehung, auch nicht in der Gleichheitsbeziehung mit sich. Es gibt im und am Sein keine ›Relation auf …‹: Weder ist das ›Sein‹ ein Konkretes, das in sich differenzierte Momente umfaßt, noch ist das Sein durch äußere Differenzen zu etwas charakterisierbar. 291 Für eine Interpretation des »Logik«-Anfangs als »Relationalität ohne jedes Relat« siehe auch die sehr komprimierten Ausführungen von B. Tuschling, »Necessarium est idem simul esse et non

2. Der absolute Anfang und seine Negationen

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Der logische Anfang hat also nicht seinerseits seinen Anfang im Sein, welches sich dann auf das ihm folgende ›Nichts‹ bezieht. Der logische Anfang fängt nicht mit einem bestimmten Sein an, er ist kein werdendes Etwas, das Hegel mit ›Sein‹ benennt. Es geht Hegel mitnichten »um das Anfangen von etwas, um die Logik des Anfangens von etwas«.292 Hegels Frage, womit der Anfang der Wissenschaft gemacht werden muß, ist keine Frage nach dem ursprünglichsten oder anfänglichsten Denkgegenstand293 und seiner weiteren Entwicklung, sondern in erster Linie die Frage danach, wie ein absoluter, unmittelbarer Anfang überhaupt gelingt. Anfang kann der absolute Anfang nur dann sein, wenn er Relation ist; absolut kann er nur sein, wenn er nicht in Relation zu etwas steht. Streng genommen ist der logische Anfang daher auch nicht von der Tätigkeit eines denkerischen Anfangens unterscheidbar: Weder ist der logische Anfang schon gemacht, sobald nur einmal der erste Gegenstand des Denkens benannt ist; noch ist er schon dadurch gemacht, daß man nur einmal anfängt, rein zu denken. Die Unmittelbarkeit des logischen Anfangs und des denkenden Anfangens erfordert daher offenbar nicht die Reduktion der vermittelnden Denktätigkeit auf ein Minimum. Das am Beginn der Seinslogik eingeforderte »reine, leere Anschauen esse. Zu Hegels Revision der Grundlagen von Logik und Metaphysik«, in: Logik und Geschichte in Hegels System, hg. von H.-Ch. Lucas und G. Planty-Bonjour, Stuttgart/Bad Canstatt 1989, 199−226; hier bes. 200−202. − Siehe etwa auch R.-E. Schulz-Seitz, »›Sein‹ in Hegels Logik: ›Einfache Beziehung auf sich selbst‹«, in: Wirklichkeit und Reflexion (FS Walter Schulz), hg. von H. Fahrenbach, Pfullingen 1973, 365−383. Schulz-Seitz nimmt für den logischen Anfang »eine, paradox ausgedrückt, nullstellige Beziehung« (ebd., 366) an. Eine solche Beziehung ohne Relate wäre denn auch »die einfachste Beziehung, die sich überhaupt denken läßt«; und »so müßte sie am Anfang der Logik stehen, denn mit der einfachsten Beziehung muß der Anfang der Wissenschaft gemacht werden« (ebd., 367). Allerdings bleibt Schulz-Seitz die Erklärung schuldig, wie denn der logische Anfang überhaupt mit einer Beziehung gemacht werden kann, die keine Relata kennt und daher auch keinen denkerischen Bezug auf sie zuläßt. Schulz-Seitz versucht daher, die Beziehungslosigkeit von ›Sein‹ als eine rudimentäre Form von Selbstbeziehung oder »einfache Gleichheit mit sich« zu verstehen: »Jedoch ›Beziehungsloses‹ ist das ›Sein‹ nicht im Gegensatz zur einfachen Beziehung auf sich‹, sondern als sie. […] Und genau so, wie die Ruhe nicht gegen die Bewegung bestimmt ist, sondern selber das erste, einfachste Stadium der Bewegung ist − Bewegung mit der Geschwindigkeit 0 − und doch zugleich Bewegungslosigkeit ist, so auch die erste Beziehung, die Beziehung auf sich, die das Sein ist. In ihr ist der Unterschied von Beziehung und Bezogenem = 0. Darum sinkt sie zur einfachen Gleichheit mit sich zusammen« (ebd., 369). Damit aber würde die anfängliche Gleichheit von Sein aus einer ihr vorgängigen Annullierung resultieren. Zudem wäre das Resultat, mit dem der Unterschied von Beziehung und Bezogenem annulliert ist, gerade keine Gleichheit mit sich oder gar nur mit sich, sondern »einfachgewordene« (WdL; GW 21, 62/6) Koinzidenz, die unbestimmt alle möglichen Relata in sich einfaltet. 292 H. Wagner, »Hegels Lehre vom Anfang der Wissenschaft«, in: ders., Kritische Philosophie. Systematische und historische Abhandlungen, hg. von K. Bärthlein und W. Flach, Würzburg 1980, 355–361; hier 360. Hegel erschleicht sich also den Anfang mit ›Sein‹ nicht dadurch, »daß der Anfang der Logik […] mit der Logik des Anfangens von etwas identisch gesetzt wird« (ebd.). 293 Zu diesem Problem siehe etwa auch A. Graeser, »Bemerkungen zur Beschreibung des Anfangenden in Hegels Logik«, in: Freiburger Zeitschrift für Philosophie und Theologie 32 (1985), 439– 454.

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III. Hegel

selbst« bzw. »leere Denken«294 ist insofern auch kein »Grenzfall von Kognitivität«,295 die mit ihren Kognitionen möglichst an sich hält. Dasjenige Denken, das dem anfänglichen Sein als reiner Relation begegnet, kann sich nicht dadurch zu diesem in ein adäquates Verhältnis setzen, daß es anfangs, am Beginn der Seinslogik, möglichst wenig oder, besser noch, (an) nichts denkt, wenn es das Sein denken soll. Was es mit einem solchen leeren Denken auf sich hat, das sich ungetrübt von jedem bestimmten Gedanken halten und erhalten will, verdeutlicht Hegel »unter dem Bilde des reinen Lichts, als die Klarheit ungetrübten Sehens«: In der That aber, wenn man auch diß Sehen sich genauer vorstellt, so kann man leicht gewahr werden, daß man in der absoluten Klarheit so viel und so wenig sieht, als in der absoluten Finsterniß, daß das eine Sehen genau so gut als das andere, reines Sehen, Sehen von Nichts ist. Reines Licht und reine Finsterniß sind zwey Leeren, welche dasselbe sind.296 Zwar sind die beiden Akte des Sehens − einmal im Medium der absoluten Finsternis, einmal im Medium des reinen Lichtes − ›objektiv‹ ununterscheidbar, weil beide Male (sowohl in der Finsternis als auch im reinen Licht) Nichts oder kein Etwas gesehen wird. Aber aus der Tatsache, daß man hier Nichts bzw. nichts Bestimmtes sieht, folgt noch nicht, daß man überhaupt nicht sieht.297 Und doch ist hier kein Kriterium vorhanden, anhand von dem sich feststellen ließe, daß man überhaupt sieht, man sich also bereits sehend in der Finsternis vorfindet. ›Gesehen‹ wird hier nämlich das Medium selbst, in dem üblicherweise etwas ins Licht tritt oder in der Finsternis verschwindet. Das anfänglich leere Denken bezeichnet kein Stadium, wo es absolut finster oder hell wird oder bereits geworden ist und man weiterhin angestrengt mit offenen Augen in die Dunkelheit oder Helle starrt. Nicht nur die optischen Gegenstände sind hier nicht mehr zu unterscheiden, sondern auch der Akt des Sehens ist nicht zu unterscheiden vom Akt des Nicht-Sehens: Man sieht in der absoluten Klarheit nicht nur so Vieles und so Weniges wie in der absoluten Finsternis, sondern man sieht auch beide Male »so viel und so wenig«: Man sieht hier ebensogut und ebensowenig wie man nicht sieht. Ein Sehen, das in absoluter Helle oder Dunkelheit nichts sieht, sieht nicht weiterhin, nur leider Gottes

WdL (GW 2, 69/5 f.). A. F. Koch, »Sein − Nichts − Werden«, in: Hegels Seinslogik. Interpretationen und Perspektiven, hg. von A. Arndt und Ch. Iber, Berlin 2000, 140−157; hier 148 (Hervorh. StG). 296 WdL (GW 21, 80/15−19); Hervorh. StG. 297 Vgl. dazu Koch, »Sein − Nichts − Werden« (wie Anm. 295), 148: »Wer die Sehkraft in totaler Finsternis ausübt, ist in einer anderen Lage als ein Blinder oder als ein Schlafender. Er findet sich, immerhin, nichts sehend, in unterschiedsloser Nacht. (Daß es ihm in ungetrübter Helle nicht besser ginge, weist auf die Verwandtschaft des reinen Seins und des Nichts.) Das leere Denken oder Anschauen ist wie jenes Sehen noch ein Grenzfall von Kognitivität.« 294 295

2. Der absolute Anfang und seine Negationen

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in diesem speziellen Fall nichts Bestimmtes (mehr). Sondern dieses Sehen ist weder ein Sehen noch kein Sehen. Der relationale Charakter des ›Sehens von …‹, oder weniger metaphorisch: der relationale Charakter des leeren Denkens und des absolut gleichen Seins wird nicht unverändert aufrecht erhalten und das jeweilige Korrelat als eine Leerstelle verbucht: als Sehen oder Denken von Nichts; als Gleichheit mit Nichts. Nahe läge sofort die Karikatur einer solchen Beziehung: Gleichheit mit Nichts, Denken von Nichts wäre ein fluidaler Bezug auf nichts Bestimmtes; leeres Denken wäre ebenso ein gedankenverlorenes Sich-Treibenlassen, wie das absolut gleiche Sein die unterschiedslose Nacht der All-Einheit wäre, in der alle Kühe schwarz sind. Allerdings zieht Hegel auch nicht einfach die Konsequenz, daß eine Relation, bei der ein Relatum das Nichts ist, ihrerseits schlichtweg nichtig ist. Die Folge davon wäre nämlich, daß der Bestand einer Relation vom Bestehen ihrer Relata abhängig wäre. Der Anfang als ›Relation auf …‹ würde mit demjenigen stehen und fallen, wovon er Anfang ist. Mit dem anfänglichen Denken und Sein wäre es bereits zu Ende, bevor sie überhaupt recht begonnen hätten: Die Gleichheit des Seins, das sich auf Nichts bezieht, bzw. das Denken, das sich auf Nichts bezieht, wären überhaupt kein Denken und keine Gleichheit. Der Bezug selbst, welchen Gleichheit und Denken darstellen, wäre hier ein nichtiger.298 Der logische Anfang ließe sich nicht kennzeichnen als eine »Bewegung des unmittelbaren Verschwindens des einen in dem anderen«.299 Vorhanden wäre am logischen Anfang keine Bewegung des Verschwindens ineinander, sondern ein bloßer, einseitiger Übergang von Sein und Denken ins Nichts: Anzuschauen wäre dann nicht nur ein Vergehen von Sein und Denken, ihr Werden zu Nichts oder Zunichte-Werden. Vielmehr wäre auch dieses ihr Werden selbst − der Bezug von Denken und Sein auf Nichts − von vornherein völlig nichtig. Weder erhält sich also der relationale Charakter bei derjenigen Beziehung, die sich auf das Nichts richtet; noch wird die Relation selbst in diesem Bezug auf das Nichts nun ihrerseits einfach nichtig. Vielmehr transformiert das Nichts als das leere Relatum den relationalen Charakter derjenigen Beziehung, die sich ›auf‹ Nichts richtet: Eine solche Beziehung vermittelt sich nicht mit dem Nichts und ist gleichwohl nicht nichtig. Unbestimmte Unmittelbarkeit, die nicht gegen Vermittlung bestimmt ist, scheint nur faßbar zu sein als reine Relation ohne jedes Relatum. Insofern kann He-

Diese Konsequenz zieht etwa G. Movia, »Über den Anfang der Hegelschen Logik«, in: G. W. F. Hegel. Wissenschaft der Logik, hg. von A. F. Koch und F. Schick, Berlin 2002, 11−26; hier 16: »Zweifellos ist auch die Gleichheit mit sich eine Beziehung, doch Hegel negiert die Konsequenz, die sich aus dieser Beziehung ergibt, nämlich die Ungleichheit in Bezug auf anderes, die Beziehung zu anderem, und zeigt so, daß der Begriff der Beziehung dem logischen Anfang unangemessen ist« (Hervorh. StG). 299 WdL (GW 21, 69/30). 298

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III. Hegel

gel auch sagen, daß sowohl der Unterschied als auch die Identität ›zwischen‹ Sein und Nichts in der Leere oder Bestimmungslosigkeit besteht: Nichts ist somit dieselbe Bestimmung oder vielmehr Bestimmungslosigkeit, und damit überhaupt dasselbe, was das reine Seyn ist.300 Ihr Unterschied ist daher völlig leer, jedes der beiden ist auf gleiche Weise das Unbestimmte.301 Zwar ist das, worin sich Sein und Nichts unterscheiden, völlig leer. Das heißt aber nicht, daß es nun die vollkommene Unbestimmbarkeit ihres Unterschiedes wäre, worin Sein und Nichts sich gerade als selbig zeigen. Aus der Unmöglichkeit, anzugeben, worin der Unterschied von Sein und Nichts besteht, folgt nicht, daß sie als identisch bestimmt werden können (identitas indiscernibilium) und daß es mithin überhaupt keinen Unterschied mehr gibt. Und umgekehrt: Aus der Unmöglichkeit, anzugeben, worin die Identität von Sein und Nichts besteht, folgt nicht, daß sie als unterschieden bestimmt werden können und daß es mithin überhaupt keine Identität mehr gibt. Sein und Nichts verhalten sich nicht identisch und zugleich different zueinander. Dafür müßte nämlich angegeben werden können, worin hier jeweils ihre Identität und Differenz besteht und worin hier der Bezug von Identität und Differenz liegt. Ein Zugleich von bestimmungsloser Identität und bestimmungsloser Differenz ist nicht einmal als ein Zugleich, als die Identität von Identität und Nichtidentität namhaft zu machen. Am logischen Anfang sind Sein und Nichts weder different noch identisch, da weder eine Differenz noch eine Identität zwischen ihnen besteht. Wenn also für Hegel das ›Nichts‹ am Sein hervorbricht,302 dann ist das Nichts nicht schon implizit im Sein vorhanden aufgrund einer anfänglichen, ›totalitären‹ Gleichheit des Seins mit allem und jedem, und damit auch mit dem ›Nichts‹. Es bedürfte dann einer zusätzlichen Begründung, warum ausgerechnet das Nichts hervorgeht und sich abscheidet aus dieser ununterschiedenen Gleichheit des Seins mit allem. Vorhanden ist das Nichts vielmehr in der absoluten Selbst-Gleichheit des Seins, welche unmittelbar absolute Ungleichheit gegen sich selbst ist. Das Nichts negiert abstrakt jeden vermittelnden Bezug des absolut gleichen Seins auf ein Relatum. Das Nichts setzt sich aber nicht in eine negative Beziehung zum Sein, es negiert nicht das Sein als sein Relatum.303 Anders gesagt: Das Nichts negiert seine Gleichheit und UnWdL (GW 21, 69/18 f.). WdL (GW 21, 79/22 f.). 302 Vgl. WdL (GW 21, 86/11 f.). 303 Negierte das Nichts das Sein als sein Relatum, dann wäre das Nichts schon nicht mehr »in seiner unbestimmten Einfachheit« (WdL; GW 21, 70/7) genommen. Das Nichts wäre schon das dem Sein »entgegengesetzte Nichts« (ebd., 70/6). In dieser Relation der Entgegensetzung wäre das Nichts »ein bestimmtes Nichts« (ebd., 70/6 f.), das gegen das Sein bestimmt wäre und das Sein bestimmen würde. 300 301

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gleichheit mit dem Sein, eben weil es den vermittelten Bezug des Seins auf ein Relatum verneint. Das hervorbrechende Nichts bestätigt oder affirmiert die absolute, unmittelbare Gleichheit des Seins, da es nicht am Sein dessen reine Relationalität verneinen kann. Das Nichts verschwindet seinerseits in der Gleichheit des Seins, weil es nicht dessen Gleichheit, d. h. dessen relationalen Charakter, negiert. Umgekehrt verschwindet das Sein im Nichts, weil es sich nicht zum Nichts in Beziehung setzt.

2.3 Verschwinden und Werden Das Sein ist demnach kein »Substrat, an dem der Uebergang geschieht«,304 kein Substrat also, das allmählich, im Verlauf der Seinslogik, zwischen sich und dem Nichts als dem Anderen seiner selbst zu oszillieren beginnt. Vielmehr ist es von vornherein völlige Entäußerung seiner selbst, da es nicht einmal in einer vermittelten Beziehung der Gleichheit zu sich selbst steht. Das Sein hat nicht sein Gegenteil an sich selbst, sondern es verschwindet oder verliert sich vollkommen in seinem ›Gegenteil‹, das es selbst ist. Dieses Verschwinden, der Übergang ›von‹ Sein ›zu‹ Nichts, ist daher, wie gesagt, kein Vergehen. Denn das Sein ist kein Relatum, das zu Nichts als seinem Gegenteil oder Anderem wird. Wäre das Sein ein Relatum, an dem sich ein Werdeprozeß vollzieht, dann ließe sich hier genausogut sagen: Aus Sein wird, entsteht also Nichts. Denn bereits in einem herkömmlichen Sinne kann man dort nicht von einem Vergehen sprechen, wo aus Etwas nichts entsteht. Aber ebensowenig läßt sich von einem Entstehen reden, wenn aus Etwas nichts wird. Weder vergeht offenbar das Sein zu Nichts, noch entsteht aus dem Sein das Nichts.305 In diesem Zusammenhang steht offenbar auch Hegels Vorbehalt gegen einen »der Sätze, denen in der Metaphysik große Bedeutung zugeschrieben wurde«306 – gegen den Satz ›ex nihilo nihil fit‹. Denn dieser Satz wäre ein durchaus berechtigter Einwand, wenn Hegel tatsächlich das ›Werden‹ als den gleichzeitigen Übergang von Sein

WdL (GW 21, 70/27 f.). Insofern scheint mir Hegel das anfängliche Verhältnis von Sein und Nichts nicht »kinetisch« auszulegen, wenn er dieses Verhältnis nun als ›Werden‹ faßt. Zumindest tut er dies nicht in dem Sinn, daß er hier das anfänglich leere Verhältnis von Sein und Nichts gleichsam dynamisieren würde, d. h. als ein Werden von Sein zu Nichts (Vergehen) bzw. als ein Werden von Nichts zu Sein, als ein InsSein-Gelangen (Entstehen) fassen würde. Im einfachen ›Werden‹ als der Bewegung des unmittelbaren Verschwindens findet eben kein ›Werden von − zu‹, kein »Übergehen von a nach b bzw. umgekehrt« statt (Koch, »Sein − Nichts − Werden« [wie Anm. 295], 149). Vielmehr muß gesagt werden, daß die Kategorie ›Werden‹ so viel und so wenig als Vergehen wie als Entstehen klassifiziert werden kann. Das einfache Werden, welches Hegel als ein Übergegangensein apostrophiert, ist daher auch nicht als eine besonders schnelle, sozusagen instantane Art des Übergehens von einem Relatum ins andere zu verstehen. Vgl. dagegen Koch, a. a.O.,152. 306 WdL (GW 21, 70/31−71/1). 304 305

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zu Nichts und von Nichts zu Sein verstehen würde. Bereits als eine »gehaltlose Tavtologie«307 stellt nämlich dieser Satz in Abrede, daß das Nichts irgendetwas zu seinem Resultat haben könnte: Aus dem Nichts kann überhaupt nichts, d. h. gar kein Etwas entstehen (›ex nihilo fit non aliquid‹). Die Behauptung eines Resultates ist völlig sinnlos, weil Nichts Nichts ist und nicht in etwas Anderes als es selbst übergehen kann, also auch nicht das Sein zu seinem Resultat haben kann. Recht besehen, enthält aber dieser Satz noch mehr als die Leugnung irgendeines Resultates aus dem Nichts: Er stellt jegliches Werden aus dem Nichts in Abrede (›ex nihilo non fit aliquid‹). Aus dem Nichts wird nicht nur kein Etwas, sondern es wird hier überhaupt nichts. Wenn man also die in diesem Satz ausgesprochene Behauptung eines Werdens ernst nimmt, d. h. wenn das We r d e n wirkliche Bedeutung darin [sc. in diesen Satz] haben sollte, so ist vielmehr, indem nur N i c h t s aus N i c h t s w i r d , in der That kein Werden darin vorhanden, denn Nichts bleibt darin Nichts. Das Werden enthält, daß Nichts nicht Nichts bleibe, sondern in sein Anderes, in das Seyn übergehe.308 Der Satz »ex nihilo nihil fit« verneint in Hegels Deutung nicht nur ein Resultat, das aus dem Nichts hervorgehen könnte, sondern stellt auch ein Werden überhaupt in Abrede: Nicht nur ist das ›Sein‹ der falsche Kandidat, um ein Resultat aus dem Nichts abgeben zu können, sondern auch ›Werden‹ ist der falsche Kandidat, um irgendeinen Übergang von Nichts zu … benennen zu können. Anhand des Satzes »ex nihilo nihil fit« demonstriert Hegel also offenbar ein bestimmtes Verständnis von ›Werden‹: Werden impliziert gemeinhin eine Relation des Überganges von etwas sowie ein Relatum, auf das dieser Übergang hinausläuft. So verstanden, enthält ›Werden‹ immer, daß Etwas in sein Anderes übergehe. Dieser Begriff von ›Werden‹ trifft jedoch offensichtlich nicht das, was Hegel unter seiner dritten logischen Kategorie, dem ›Werden‹, verstanden wissen will. Der dem Satz »ex nihilo nihil fit« zugrundegelegte Begriff eines ›Werdens von Etwas zu seinem Anderen‹ kann daher auch nicht als Einwand gegen die logische Kategorie ›Werden‹ geltend gemacht werden: Diese Kategorie meint keinen Prozeß, der sich an den beiden ersten logischen Kategorien ›Sein‹ und ›Nichts‹ vollzieht und sich daher auch ›von außen‹ an ihnen beobachten oder feststellen läßt. Ein solches, seinem eigenen nahe kommendes Verständnis von ›Werden‹, das gerade einen Übergang ›von − zu‹ negiert, deutet sich für Hegel im christlichen Schöpfungsbegriff an. Diesem Begriff ist es zu verdanken, daß die »vornehmlich christliche Metaphysik den Satz, aus Nichts werde Nichts, verwarf« und »einen Uebergang von

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WdL (GW 21, 71/1). WdL (GW 21, 71/2−5).

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Nichts in Seyn [behauptete]«.309 Schöpfung ist ein Werden aus dem Nichts, bei dem die Möglichkeit verneint wird, es gebe hierbei etwas, aus dem die Welt entsteht. Creatio ex nihilo meint daher auch: ›non ex aliquo fit creatura‹. Verneint wird mit »ex nihilo« gerade ein ursächlicher Bezug zwischen dem Nichts und dem Sein des Erschaffenen.310 Das Nichts ist kein Substrat, aus dem das geschaffene Sein hervorgeht. Insofern also der Schöpfungsbegriff ein Verhältnis zwischen Sein und Nichts in Abrede stellt, d. h. für das Erschaffen-Werden einen Übergang ›von − zu‹ leugnet, trifft dieser Begriff nach Hegel durchaus einen »Punkt […], worin Seyn und Nichts zusammentreffen, und ihre Unterschiedenheit verschwindet«.311 Das Sein der Welt und das Nichts, ›aus‹ dem sie kommt, sind in kein Verhältnis zu bringen; das erschaffene Sein ist vielmehr als es selbst nichtig. So wichtig für Hegel dieses Verschwinden der Unterschiedenheit von Sein und Nichts ist, das im christlichen Schöpfungsbegriff zum Tragen kommt, so wenig ist für ihn mit diesem Verschwinden bereits das Entscheidende getroffen. Denn der mit der Schöpfung unmittelbar erfolgende Übergang ›von‹ Nichts ›ins‹ Sein erbringt zwar die Aufhebung jenes Unterschiedes im Erschaffenen: Das Erschaffene läßt eben nicht das Nichts schlichtweg hinter sich, sobald es einmal geworden, d. h. ins Sein gelangt ist. Im Gegenteil: Dem Erschaffenen kommt das Sein sozusagen nur leihweise zu, und es entwindet sich daher niemals der Möglichkeit, wieder zu zunichte zu werden bzw. ›ins‹ Nichts zurückzukehren. Diese Einheit oder Selbigkeit von Sein und Nichts, die der Schöpfungsbegriff dem Endlichen zuspricht, zieht jedoch für Hegel eine problematische Konsequenz nach sich: Seyn und Nichtseyn ist dasselbe; a l s o ist es dasselbe, ob ich bin oder nicht bin, ob dieses Haus ist oder nicht ist, ob diese hundert Thaler in meinem Vermögenszustand sind oder nicht. − Dieser Schluß oder Anwendung jenes Satzes verändert dessen Sinn vollkommen. Der Satz enthält die reinen Abstractionen des Seyns und des Nichts; die Anwendung aber macht ein bestimmtes Seyn und bestimmtes Nichts daraus.312 Zwar mag es für das einzelne Endliche nicht gleichgültig sein, ob es ist (existiert) oder nicht. Aufs Ganze gesehen, ihrem Begriff nach, beinhaltet aber die erschaffene End-

WdL (GW 21, 71/5−7). Vgl. dafür etwa nur Thomas von Aquin, De potentia q. 3 a. 1 ad 7 (mit Rekurs auf Anselm, Monologion VIII). 311 WdL (GW 21, 71/9 f.). 312 WdL (GW 21, 72/25−29). 309 310

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lichkeit gerade nicht ihr Sein, sondern vielmehr die gleichgültige, »leere Möglichkeit«,313 zu sein oder eben nicht zu sein.314 Sein ist damit »keine Inhaltsbestimmung«315 des Endlichen. Das Sein läßt sich nicht aus dem Begriff des Endlichen ›herausklauben‹, eben weil das Endliche als solches gleichgültige oder indifferente Einheit von Sein und Nichts ist. Für das Endliche als derjenigen Einheit, in der der Gegensatz von Sein und Nichts verschwunden ist, ist es dann auch ein verschwindender Unterschied, ob es ist oder nicht ist. Für den Status des Endlichen als Endlichen ist es in der That gleichgültig, zu seyn oder nicht zu seyn; es liegt in ihm kein Unterschied des Seyns oder Nichtseyns, dieser Unterschied berührt ihn gar nicht […]. Ein Unterschied muß erst anderswoher kommen.316 Das geschaffene, endliche Sein ist demnach erstens die gleichgültige Einheit von Sein und Nichts, und zwar deshalb, weil das geschaffene Sein in keinem Verhältnis zum Nichts steht, ›aus‹ dem es geworden ist. Diese seine Gleichgültigkeit isoliert aber zweitens das Endliche als solches gegenüber dem Sein als solchem: Das Sein als solches ist kein reales Prädikat der Endlichkeit, da das Endliche seinem Begriff nach nur die bloße Möglichkeit hat, zu sein. Als die Einheit, die (aufgrund ihrer Herkunft ›aus‹ dem Nichts) Sein und Nichtsein in sich vereinigt, ist damit das endliche, bestimmte Sein gegen das Sein als solches bestimmt. Dies heißt aber: Sein und Nichts sind hiermit »in die Sphäre des Daseyns versetzt«, an welchem Sein und Nichts dann als Werden im Sinne der »Veränderung« auftreten.317 Das »abstracte Seyn und Nichts [sind] in ein bestimmtes Seyn und Nichts, in ein Daseyn, verwandelt.«318 ›Werden‹ ist dann nurmehr die Folge des ›aus‹ dem Nichts geschaffenen und ›im‹ Nichts verbleibenden, endlichen Seins oder Daseins.319 WdL (GW 21, 76/31). Vgl. auch die Vorlesungen über die Beweise vom Dasein Gottes, 13. Vorl. (WW 17, 463): »Das Zufällige, Endliche wird als ein Seiendes angesprochen, aber die Bestimmung desselben ist vielmehr, ein Ende zu haben, zu fallen, ein Sein zu sein, das nur den Wert einer Möglichkeit hat, ebensogut ist als nicht ist.« 315 WdL /GW 21, 73/25). 316 WdL (GW 21, 74/1−4). 317 WdL (GW 21, 74/27 f.). 318 WdL (GW 21, 75/4 f.). 319 Daher kann Hegel dem Satz ›ex nihilo nihil fit‹ durchaus auch etwas abgewinnen; er verwirft ihn also nicht einfach pauschal: »Seine eigentliche Wichtigkeit hat der Satz: Aus Ni c h ts w ir d N i c h t s , N ic h t s is t eb en N icht s, durch seinen Gegensatz gegen das Wer de n überhaupt und damit auch gegen die Erschaffung der Welt aus dem Nichts« (WdL; GW 21, 71/10−12). Für Hegel versteht sich also jener Satz nicht bloß als ein pauschaler Einspruch gegen jedes Werden in Verbindung mit dem Nichts. Seine eigentliche Wichtigkeit gewinnt dieser Satz durch seinen Einspruch gegen ein schöpfungstheologisch verstandenes Werden des Endlichen aus dem Nichts. Insofern weist dieser Satz für Hegel auf die Crux des Begriffes einer ›creatio ex nihilo‹ hin: Das Nichts geht hierbei in das erschaffene, endliche Sein ein und bildet dort einen unveräußerlichen Bestandteil von dessen 313 314

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Für Hegel tut sich hier ein abstrakter Gegensatz zwischen dem absolutem Sein und dem endlichem Sein auf: zwischen einer Endlichkeit, die das Nichts und das Sein so in sich integriert, daß sie das ›reine‹ Sein abstrakt von sich ausschließt, und einer Unendlichkeit, die diesen Ausschluß des Seins bzw. den Einschluß des Nichts abstrakt verneint. Es ist die D e f i n i t i o n d e r e n d l i c h e n D i n g e , daß in ihnen Begriff und Seyn verschieden, Begriff und Realität, Seele und Leib, trennbar, sie damit vergänglich und sterblich sind; die abstracte [!] Definition Gottes ist dagegen eben diß, daß sein Begriff und sein Seyn u n g e t r e n n t und u n t r e n n b a r sind.320 Als ungetrenntes ›Beisammen‹ von Sein und Nichts ist das endliche Sein gerade vom ›reinen Sein als solchem‹ abtrennbar: Das Endliche ist nicht sein Sein, eben kein absolutes Sein. Das Endliche kann sich erst dadurch gegen das eigene Sein gleichgültig verhalten, daß dieses endliche Sein im eigentlichen Sinne Werden ist, d. h. mit Nichtsein durchsetzt ist. Die gleichgültige Selbigkeit von Sein und Nichts im Dasein führt zum abstrakten Ausschluß bzw. der Verabsolutierung eines ›reinen‹ Seins.321

Sein. Das Nichts, aus dem das Erschaffene hervorgeht, wird ebenso wie das Sein zu einem Moment des erschaffenen Endlichen. Das Sein des Endlichen kann daher besser als ein ›Werden‹, in welches das Sein und Nichts als Momente integriert sind, deklariert werden. Erst am endlichen Sein zeigt sich dann in der Folge das Werden als die integrale Einheit von Sein und Nichts. Damit müßte aber die Abfolge der logischen Kategorien ›Werden‹ und ›Dasein‹ genau anders herum konzipiert werden als in der »Logik«: ›Werden‹ müßte aus dem ›Dasein‹ entwickelt werden. Für Hegel entwickelt sich aber das ›Werden‹ gerade nicht aus dem ›Dasein‹, eben weil sich auch das ›Dasein‹ nicht direkt aus dem ›Nichts‹ entwickelt. Der Satz ›ex nihilo nihil fit‹ bleibt für Hegel daher insofern in seinem Recht, als er die Abfolge von ›Nichts‹ zu ›Dasein‹ bestreitet. Weiteres dazu im Anschluß. 320 WdL (GW 21, 77/4−7). 321 In dieser Perspektive scheint mir auch erklärbar zu sein, warum Hegel gleich in seiner ersten Anmerkung zur Logik des reinen Seins jene merkwürdige Zusammenstellung vornimmt, die dann diese Anmerkung fast vollständig ausfüllt: einerseits die Kritik am Satz ›ex nihilo nihil fit‹ und andererseits die Epikritik von Kants Kritik des ontologischen Gottesbeweises anhand von dessen »populäre[m] Beyspiel« (WdL, GW 21, 76/27) der 100 Taler. Sowohl jener Lehrsatz als auch Kants Beispiel der 100 Taler laufen für Hegel offenbar auf einen Begriff des Endlichen als der äquilibralen Gleichgültigkeit von und gegen Sein und Nichts hinaus: auf eine Einheit von Sein und Nichts, die sich gegen das Sein als eines ihrer intrinsischen Momente gleichgültig verhält. Sowohl bei einem Werden von Etwas zu seinem Anderen (das jener Lehrsatz ›ex nihilo nihil fit‹ zu seiner Grundlage hat) als auch bei dem reinen – oder besser: »isolirt betrachteten« (WdL; GW 21, 74/1) – Begriffsinhalt »100 Taler« läßt sich das Sein und das Nichts genausogut und genausowenig einzeln ›herausklauben‹, weil sich sowohl ein werdendes Etwas als auch jener Begriffsinhalt buchstäblich neutral zu Sein und Nichts verhalten, d. h. keines der beiden je für sich ist: Der bloße Begriffsinhalt »100 Taler« ist weder notwendig schon in meiner Tasche noch muß er bloß in meinen Gedanken verbleiben; 100 Taler können sich – müssen sich aber nicht – in meiner Tasche befinden. So verstanden, läge die allererste theoretische und praktische Bürgerpflicht darin, diese äquilibrale Einheit oder Gleichgültigkeit von Nichts und Sein im »be s ond er n en dlich en Seyn« erst einmal anzuerkennen. Sobald man einmal ein adäquates − nämlich gleichgültiges, nonchalantes − Verhältnis zu dieser äquilibralen Einheit von Sein und Nichts im Endlichen eingenommen hat, eröffnet sich damit der direkte Weg zum ›reinen‹

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III. Hegel

Für Hegel entwickelt sich also nicht aus dem anfänglichen ›Sein‹ das ›Nichts‹, so, als ob diese beiden Kategorien dank einer ihnen gemeinsamen Bestimmungslosigkeit eine ununterschiedene Einheit bilden würden. Das Resultat, das sich aus diesem anfänglich ununterschiedenen, nicht analysierbaren Verhältnis von Sein und Nichts ergäbe, wäre das ruhige Beisammen sowohl von Sein als auch von Nichts im ›Dasein‹, welches bestimmtes Sein und bestimmtes Nichts, also zugleich »Seyn und die Negation desselben«322 ist. Als bestimmtes Nichts, als ›Nichtsein von Etwas‹ träte das Nichts bereits auf, »wie es im Werden ist«:323 als Nicht-mehr-Sein oder Noch-nichtSein von Etwas. Das Nichts wäre der Grund für die Entwicklung bzw. die Veränderbarkeit eines jeden Daseins, insofern dieses Dasein (als bestimmtes Sein) selbst immer schon das Nichts in Form eines bestimmten Nichtseins in sich birgt. Demnach müßte der »Logik«-Anfang von ›Sein‹ und ›Nichts‹ erst über das ›Dasein‹ und dann zum ›Werden‹ führen. Für Hegel folgt aber gerade nicht das ›Dasein‹ auf ›Nichts‹. Die Kategorie ›Dasein‹ hat vielmehr, wenn man so sagen kann, eine logische Vorgeschichte: eben das ›Werden‹. Werden ist für Hegel logisch ursprünglicher als Dasein. Wenn für Hegel das Dasein dem Werden unterworfen ist, dann nicht in dem Sinne, daß das Werden ein Merkmal wäre, welches das Dasein an sich hat. Für diese Vorgeschichte ist aber zunächst einmal die Frage zu beantworten, warum Hegel den Kategorien ›Sein‹ und ›Nichts‹ ausgerechnet die Kategorie ›Werden‹ folgen läßt, wenn am logischen Anfang weder das Sein zunichte wird noch aus ihm das Nichts entsteht. Die Hegelsche Kategorie ›Werden‹ scheint ja weder ein Vergehen noch ein Entstehen von Sein und von Nichts zu meinen. Wie kann aber dann das Sein »in seiner ganz abstracten Allgemeinheit«. Das nonchalante Verhältnis gegenüber dem Sein oder Nichtsein des Endlichen erhofft sich den Durchbruch zum reinen Sein. Diese so gewonnene ›reine‹ Sein ist jedoch für Hegel in Wahrheit nur das statuarische Gegenbild zum Endlichen, insofern dieses ›reine‹ Sein jede Einheit mit dem Nichts – und damit jedes Werden – abstrakt von sich ausschließt: »Die Zurückweisung vom b e so n dern endl ic he n Seyn zum Seyn als solchen in seiner ganz abstracten Allgemeinheit ist wie als die allererste theoretische so auch sogar praktische Foderung anzusehen. Wenn nämlich ein Aufhebens von den hundert Thalern gemacht wird, daß es in meinem Vermögenszustand einen Unterschied mache, ob ich sie ha be oder ni c ht, noch mehr ob Ich sey oder nicht, ob Anderes sey oder nicht, so kann […] daran erinnert werden, daß der Mensch sich zu dieser abstracten Allgemeinheit in seiner Gesinnung erheben soll, in welcher es ihm in der That gleichgültig sey, ob die hundert Thaler, sie mögen ein quantitatives Verhältniß zu seinem Vermögenszustand haben, welches sie wollen, seyen oder ob sie nicht seyen, ebenso sehr als es ihm gleichgültig sey, ob er sey oder nicht, d. i. im endlichen Leben sey oder nicht (denn ein Zustand, bestimmtes Seyn ist gemeint) u.s.f. − selbst si fractus illabatur orbis, impavidum ferient ruinae, hat ein Römer gesagt, und der Christ soll sich noch mehr in dieser Gleichgültigkeit befinden« (WdL; GW 21, 76/10−23). Worauf es also Hegel hier offensichtlich ankommt, ist das Wechselverhältnis zwischen der mit dem Nichts verquickten Endlichkeit des bestimmten Seins und der abstrakten Unbestimmtheit eines reinen Seins: Das reine Sein hat mit dem Nichts nichts zu tun; es ist abstrakter »Ausschluß der Negation« (Enz. § 36 Anm.; WW 8, 105). Vielmehr hat das endliche Sein mit dem Nichts zu tun und ist insofern dem Werden unterworfen. 322 WdL (GW 21, 70/10 f.). 323 WdL (GW 21, 70/11 f.).

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›Werden‹ die Wahrheit von Sein und Nichts sein, wenn weder das Sein zu Nichts wird, noch das Nichts zu Sein wird, noch diese beiden zu ›Werden‹ werden? Zunächst kann wohl gesagt werden: Werden oder Übergehen ist in dem Sinne völlig unverhältnismäßig, daß es ohne jedes Verhältnis geschieht, also nicht am Sein oder am Nichts auftritt: Es ist daher unzulässig, weiters bestimmte Vermittlungen hier anzuwenden, und Seyn und Nichts in irgend einem Verhältnisse zu fassen, − jenes Uebergehen ist noch kein Verhältniß. […] Die Art der Beziehung kann nicht weiter bestimmt seyn, ohne daß zugleich die bezogenen S e i t e n weiter bestimmt würden.324 Der Grund dafür, daß die Art der Beziehung und damit auch die darin stehenden Relata nicht weiter bestimmt werden können, liegt offensichtlich darin, daß Sein kein Relatum ist, sondern reine Relation, der gegenüber kein bestimmendes Verhältnis möglich ist. Das Verschwinden des Seins im Nichts negiert daher nicht den Schein der Einseitigkeit von Sein. Um nämlich überhaupt einseitig sein zu können, müßte das Sein zuvor schon als Relatum in einer Relation stehen können und diese Relation sich zumindest nachträglich offenbar machen lassen. Es müßte dann nurmehr das dem Sein zugehörige Relatum aufgefunden werden, um ihm den Schein seiner Einseitigkeit zu benehmen. Dem anfänglichen Sein eignet jedoch nicht der Schein vollkommener Unbezogenheit und Eigenständigkeit, welche sich durch den Nachweis beheben ließe, daß dieses vermeintlich selbständige Sein sich in Wahrheit auf sein Gegenteil bezieht und umgekehrt. Sein und Nichts stützen sich nicht gegenseitig, indem sie ihre Einseitigkeit aufgeben und zu dem werden, was sie ›eigentlich‹ schon von vornherein waren: Relata in einer Beziehung. Allein das Sein ist bereits kein Relatum, das in einem Verhältnis zu seinem Anderem, zum Nichts, steht. Das anfängliche Sein ist vielmehr reine Relation ohne Relatum.325 Den logischen Anfang kennzeichnet demnach nicht der Schein einer vermeintlich unvermittelten, in Wahrheit aber vermittelbaren Selbständigkeit von Sein. Vielmehr besteht der Schein des logischen Anfangs in jedweder Art von Verhältnismäßigkeit − darin also, daß das Sein auf irgend etwas, und sei es negativ, beziehbar wäre, daß es am Sein überhaupt etwas zu vermitteln gäbe. Der Schein oder die Unwahrheit des An-

WdL (GW 21, 90/13; 17−19). Dementsprechend geht es nach Hegel am logischen Anfang »zunächst nicht um die Form der Entgegensetzung, d. i. zugleich der Be zie hung « von Sein und Nichts, »sondern um die abstracte, unmittelbare Negation, das Nichts rein für sich, die beziehungslose Verneinung« (WdL; GW 21, 70/12−14). Das ›Sein‹ wird nicht mittels der Aufbietung der weiteren Kategorie ›Nichts‹ einem vermittelnden Denken zugänglicher Das ›Nichts‹ ratifiziert allenfalls die Unverhältnismäßigkeit der reinen Relation, die das Sein ist: Unvermittelte Gleichheit, d. h. Gleichheit ohne jedes ›mit …‹, ist unvermittelte Ungleichheit, Ungleichheit ohne jedes ›gegen …‹. 324 325

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fangs liegt also in der Gleichheit des Seins mit sich selbst, und dies nicht deswegen, weil das Sein noch anderes braucht, um dann auch wahrhaft mit sich selbst vermittelt sein und aus der Unwahrheit treten zu können, sondern weil es am logischen Anfang gar kein ›mit sich selbst‹, keine Selbstbeziehung gibt. So notwendig der Anfang mit der reinen Relation gemacht werden muß – sie allein scheint eine unvermittelte Einfachheit verbürgen zu können, die nicht gegen die Vermittlung bestimmt ist –, so notwendig ist die Unwahrheit dieses Anfangs. Denn die reine Relation, die das anfängliche Sein ist, kann sich gar nicht als sie selbst zeigen, da sie sich gar nicht zu etwas in Bezug setzen läßt: Als reine Relation bleibt das Sein beziehungslos. Ihr einziger Weg, sich zu zeigen oder darzustellen, besteht darin, zu verschwinden. Der verschwindenden reinen Relation eignet noch kein reflexiver Schein, in dem das anfängliche Sein sich in seinem Gegenteil als dem Anderen seiner selbst spiegeln könnte. Was also ›Sein‹ oder reine Relation in Wahrheit ist, zeigt sich zunächst nur als ihr Verschwinden. Hierbei kann jedoch das Sein nicht im Nichts als seinem Relatum verschwinden. Wohinein also das Sein verschwindet, ist kein Anderes gegenüber ihm selbst, da die reine Relation, die das anfängliche Sein ist, kein ›Gegenüber‹ – auch nicht innerhalb ihrer selbst – kennt. Der anfängliche Schein, daß es am Sein überhaupt etwas zu vermitteln gäbe, löst sich daher auch nicht in einer unmittelbaren oder koinzidentalen Einheit von Sein und Nichts auf. Das Verschwinden der reinen Relation fördert also keinen Zustand zu Tage, in dem Relationalität überhaupt entfallen oder negiert wäre zugunsten einer Koinzidenz. Die reine Relation kann sich nicht gegen sich selbst wenden, da sie überhaupt nicht in eine Beziehung zu etwas treten kann. Daraus also, daß das Sein sich vollkommen entäußert und unmittelbar ›im‹ Nichts verschwindet, folgt nicht sogleich, daß das Sein mit dem Nichts zusammenfällt und sich nun aus Sein und Nichts unmittelbar eine Einheit bildet, in der wiederum Sein und Nichts schlechterdings verschwunden wären. Im ›Werden‹ käme es sonst zum Zusammenfall von Sein und Nichts – und d. h.: zu einer Annullierung eines bereits vorhandenen Verhältnisses zwischen Sein und Nichts. Der logische Anfang wäre zusammengesunken in ein Äquilibrium von Sein und Nichts, deren beiderseitiges Übergehen in dieser Einheit dann ebenfalls annulliert wäre. Im ›Werden‹ heben sich Sein und Nichts also »nicht gegenseitig, nicht das eine äusserlich das andere auf«.326 Die Wahrheit des Anfangs wäre ansonsten ein bloßes Verschwinden sowohl von Sein und Nichts als auch ihres Übergehens in eine ununterschiedene Einheit. Im ›Werden‹ als der dritten Kategorie gäbe es gar nichts mehr, was ineinander übergehen oder verschwinden könnte. Ein Verschwinden käme im ›Werden selbst‹ erst gar nicht auf, es wäre abstrakt negiert.327

WdL (GW 21, 93/16). Wenn daher Hegel sagt, Sein und Nichts »bestehen nicht für sich, sondern sind nur im Werden, in diesem Dritten« (WdL; GW 21, 81/2), dann ist dieses Werden seinerseits kein bestehendes Drittes, 326 327

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Beide alternativen Möglichkeiten, von den Kategorien ›Sein‹ und ›Nichts‹ zum ›Werden‹ zu gelangen, scheiden also offenbar aus: Weder kann ein bloß vermeintlich unvermitteltes Sein zu guter Letzt doch noch in einen Bezug zum Nichts treten und so mit diesem vermittelt werden; noch läßt sich das unvermittelte Sein in eine unmittelbare Einheit mit dem ebenso unvermittelten Nichts überführen. So oder so ist bereits ein Verhältnis zwischen Sein und Nichts vorausgesetzt: entweder als ihr noch zu entdeckendes oder als ihr noch zu negierendes Fundament. Wenn also die anfänglich reine Relation des Seins kein Relatum kennt, anhand von dem sich seine ›Gleichheit mit …‹ bemessen ließe, und wenn sich die reine Relation nur in ihrem Verschwinden darstellen kann, dann kann sich dabei nur eine Relation etablieren, die die anfängliche Unverhältnismäßigkeit von Sein und Nichts anerkennt und dabei fortschreibt: »als Bewegung des unmittelbaren Verschwindens des einen in dem andern«.328 Das ›Werden‹ ist damit seinerseits ein Relationsbegriff, der den Schein einer Verhältnismäßigkeit zwischen Sein und Nichts offenlegt. Insofern ist mit dem ›Werden‹ immer noch keine Relation etabliert, innerhalb von der das Sein und das Nichts nun ihren festen Platz einnehmen würden und wodurch sie in eine einsinnige Beziehung zueinander treten könnten. Das ›Werden‹ bestimmt nicht die bezogenen Seiten näher − die es am logischen Anfang noch nicht gibt −, sondern die reine Relation, die keine Relata aufweist. Diese Bestimmung der reinen Relation kann also kein Verhältnis zu Tage fördern, das zwischen den beiden ersten Kategorien besteht. Das heißt aber nicht, daß Sein und Nichts als bestimmende Momente ins ›Werden‹ eingehen, etwa weil sie nicht selbständig je für sich, sondern nur zusammen als Einheit bestehen könnten. Ginge es nur um die Einheit von Sein und Nichts, die in der ihnen nachfolgenden Kategorie ausdrücklich wird, stünde hierfür auch die Kategorie ›Dasein‹ zur Verfügung – die Kategorie ›Werden‹ wäre damit überflüssig. Für Hegel liegen aber Sein und Nichts sowohl als ›Dasein‹ wie auch als ›Werden‹ in einer jeweils »anders bestimmten Einheit«329 vor. Erst als eine charakteristische Form der Einheit von Sein und Nichts erhält die Kategorie ›Werden‹ ihre Berechtigung. Als die Einheit von Sein und Nichts bewahrt daher das ›Werden‹ zunächst einmal die anfängliche Unverhältnismäßigkeit von Sein und Nichts: Mit dem ›Werden‹, das die anfänglich reine Relation des Seins als eine Bewegung des Verschwindens bestimmt, treten zwar Sein und Nichts zum ersten Mal als Relata auseinander, doch in dem Sein und Nichts nun eine »einseitige oder abstracte Einheit« (ebd., 79/10) bilden würden: ›Werden‹ ist keine »Einheit, welche vom Seyn und Nichts abstrahirt« (ebd., 92/21). − Hegels kryptische Wendung vom »Verschwinden des Verschwindens« (WdL; GW 21, 93/24) impliziert daher zumindest, daß mit der Kategorie ›Werden‹ ein Verschwinden überhaupt erst einmal namhaft gemacht sein muß, damit dann auch dieses Verschwinden verschwinden kann. 328 WdL (GW 21, 69/30). 329 WdL (GW 21, 95/21).

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aber so, daß die Form und Richtung ihres Bezuges aufeinander nicht von diesen Relata her, vom Sein oder vom Nichts her, zu bestimmen ist. Was da woraus wird bzw. wohinein übergeht − ob nun das Sein ins Nichts oder das Nichts ins Sein −, bleibt auch in der logischen Kategorie ›Werden‹ unentschieden, da sich das Werden nicht zwischen diesen beiden Kategorien abspielt.330 Die Kategorie ›Werden‹ hat daher auch nicht den eindeutigen Richtungssinn, der einer fortschreitenden Entwicklung innewohnt und durch den sich die beiden ersten Kategorien als verschiedene Stadien eines Entwicklungsprozesses − in Form eines ›von A zu B‹ − auseinanderhalten lassen. Mit einer γένεσις εἰς οὐσίαν ist der logischen Kategorie des Werdens nicht beizukommen: ›Sein‹ wird nicht zu Nichts, und beide werden nicht zu ›Werden‹. Die Kategorie ›Werden‹ ist nicht das Resultat eines Entstehensprozesses, kein Etwas, das aus einem anderen Etwas geworden ist.331 Mit dem ›Werden‹ ist die Wahrheit der anfänglichen Unverhältnismäßigkeit von Sein und Nichts nicht einfach schal geworden. Das ›Werden‹ übergeht daher auch nicht diese Unverhältnismäßigkeit von Sein und Nichts zugunsten ihrer einfachen und bezugslosen Einheit in einem Dritten. Das Werden ist noch nicht »die zur ruhigen Einfachheit gewordene Einheit des Seyns und Nichts«.332 Sein und Nichts sind nicht das ›Werden‹, sofern unter ›Werden‹ ein äquilibraler »Mittelzustand (Zustand ist hier ein unpassender, barbarischer Ausdruck) zwischen Seyn und Nichtseyn«333 verstanden wird. Vielmehr manifestiert sich die Einheit von Sein und Nichts im Werden als gedoppelte: als » zwey solche Einheiten, deren jede selbst Einheit des Seyns und Nichts ist«.334 ›Werden‹ ist keine Einheit, die sowohl Sein als auch Nichtsein umfaßt, insofern zu allem, was wird, unabdingbar ein Sein gehört, das zugleich auch Nichtsein ist. ›Werden‹ meint vielmehr die Einheit von gegenläufigen Verhältnisbestimmungen: Das Werden ist auf diese Weise in gedoppelter Bestimmung; in der einen ist das Nichts als unmittelbar, d. i. sie ist anfangend vom Nichts, das sich auf das Seyn bezieht, das heißt, in dasselbe übergeht; in der andern ist das Seyn als unmittelbar,

330 Für Hegel meint zwar »Ueb e rg ehe n […] dasselbe als Werden«; allerdings hat der Terminus ›Übergehen‹ die irreführende Konnotation, daß »die beyden, von denen einem zu andern übergegangen wird, mehr als aussereinander ruhend und das Uebergehen als zwi s c he n ihnen geschehend vorgestellt [!] wird« (WdL; GW 21, 80/28−30). 331 So schon Gadamer, »Die Idee der Hegelschen Logik« (wie Anm. 2), 60: »Alles Werden ist ein Werden von etwas, das dann durch sein Gewordensein ›da ist‹. Das ist die alte Weisheit, die schon Plato im Philebos formuliert als die γεγεννημένη οὐσία bzw. γένεσις εἰς οὐσίαν. Es liegt im Sinne des Werdens selbst, daß es seine Bestimmtheit in dem findet, was da am Ende geworden ist. ›Werden‹ führt also auf ›Dasein‹. Ganz anders ist es aber mit dem Übergang von Sein und Nichts in Werden.« 332 WdL (GW 21, 94/5 f.); Hervorh. StG. 333 WdL (GW 21, 92/3 f.). 334 WdL (GW 21, 93/2 f.).

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d. i. sie ist anfangend vom Seyn, das in das Nichts übergeht, − E n t s t e h e n und Ve r g e h e n .335 Als diese Einheit der gegenläufigen Verhältnisbestimmungen ›Entstehen‹ und ›Vergehen‹ bringt das ›Werden‹ die anfängliche Unverhältnismäßigkeit, in der das Sein und das Nichts zueinander stehen, auf den Punkt. Das meint zunächst: Die Kategorie ›Werden‹ umfaßt nicht die beiden Aspekte ›Entstehen‹ und ›Vergehen‹, die sich als zwei spezifische Formen an einem generisch zu verstehenden ›Werden überhaupt‹ unterscheiden lassen.336 Der logische Anfang setzt nicht ein mit einem Vorgang des Vergehens, bei dem das Sein zu Nichts wird und der andererseits, d. h. vom Nichts aus gesehen, genausogut als ein Entstehen, als der Übergang von Nichts ins Sein, betrachtet werden kann. Dies wäre nur eine Hinsichtenunterscheidung, die allein davon abhängt, von welchem Relatum aus man die Brücke zum anderen Relat schlägt. Am logischen Anfang hätte man in diesem Fall eine ganz diffus und allgemein gehaltene Zustandsveränderung von zwei Kategorien festgestellt, für die sich der Name ›Werden‹ anbietet. Diese diffuse Zustandsveränderung ließe sich dann zumindest dahingehend erhellen, daß an ihr zwei verschiedene Richtungen unterscheidbar werden, sobald man einmal die beiden Relata in den Blick nimmt: einerseits, vom Sein aus gesehen, ein Vergehen (als der Übergang von Sein zu Nichts) und andererseits, vom Nichts aus gesehen, ein Entstehen (als der Übergang von Nichts zu Sein). Wäre das ›Werden‹ ein Übergang, der wechselweise am Sein und Nichts auftritt, dann wäre das Werden ein bloßes Verschwundensein, eine im Ansatz erstickte Bewegung, bei der sich zwei antagonistische Bewegungsrichtungen gegenseitig die Waage halten und in ihrer Bewegung blockieren − ein Vergehen, das sogleich durch ein Entstehen, und ein Entstehen, das sogleich durch ein Vergehen zunichte wird. Die Bewegung des gegenseitigen Verschwindens von Sein und Nichts ineinander wäre dank verschiedener Hinsichten, die an das Sein und Nichts herangetragen werden und ihnen insofern äußerlich bleiben, verschwunden oder annihiliert: Als ein solches Verschwinden zweier Relata ineinander verstanden, wäre das ›Werden‹ von vornherein nicht als Werden kategorisierbar. Entstehen und Vergehen lassen sich demnach nicht am Werden auseinanderhalten als zwei spezifische, untergeordnete Modi von ein und derselben Bezugsform, die das Sein und das Nichts miteinander verbindet. Vielmehr bestimmt das Werden die Einheit von Sein und Nichts so, daß es die Unverhältnismäßigkeit von Sein und

WdL (GW 21, 93/7−10). Insofern stellt die dritte logische Kategorie ›Werden‹ keinen allgemeinen Begriff dar, unter den all das fällt, »was allem bestimmten Werden (Entstehen, Vergehen) gemeinsam ist« (Tuschling, »Necessarium est idem simul esse et non esse« [wie Anm. 291], 205; dort Anm. 7). 335 336

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III. Hegel

Nichts als einen in sich gegenläufigen Übergang von zwei Verhältnisbestimmungen ineinander kennzeichnet – als ein ›Entstehen‹ und ›Vergehen‹, das jeweils das andere an ihm selbst ist: Beyde [sc. Entstehen und Vergehen] sind dasselbe, Werden, und auch als diese so unterschiedenen Richtungen durchdringen und paralysiren sie sich gegenseitig. Die eine ist Ve r g e h e n ; Seyn geht in Nichts über, aber Nichts ist eben so sehr das Gegentheil seiner selbst, Uebergehen in Seyn, Entstehen. Diß Entstehen ist die andere Richtung; Nichts geht in Seyn über, aber Seyn hebt ebensosehr sich selbst auf und ist vielmehr das Uebergehen in Nichts, ist Vergehen. – Sie heben sich nicht gegenseitig, nicht das eine äusserlich das andere auf, sondern jedes hebt sich an sich selbst auf und ist an ihm selber das Gegentheil seiner.337 Im Werden zeigt sich das Sein nicht als Sein, und d. h.: eben nicht als ›gleich nur mit sich selbst‹ − das Sein ginge sonst nicht über. Ebensowenig aber zeigt es sich als nicht ungleich gegen das ›Nichts‹ − das Sein wäre sonst längst übergegangen in die koinzidentelle Einheit mit dem Nichts. Hier wird also nicht eine Ungleichheit des Seins gegen sich selbst − sein Übergehen ins Nichts − erkauft durch die Gleichheit des Seins mit dem Nichts, durch sein immer schon vollzogenes Übergegangensein ins Nichts. In anderen Worten: Sein und Nichts sind nur in diesem ihrem Verschwinden oder Übergehen; im ›Werden‹ sind das Sein und das Nichts »nur als verschwindende«.338 Sein und Nichts bestehen demnach nicht schon vor ihrem Verschwinden, denn in diesem Fall wären sie ›noch‹ bestimmte, aufeinander beziehbare Größen. Sie sind aber auch nicht nach ihrem Verschwinden, denn in diesem Fall hätten sie ihr Übergehen oder Verschwinden bereits hinter sich gelassen, wären als Verschwindende ›bereits‹ verschwunden. Ihre Wahrheit wäre das Verschwundensein, das annihilierte Verschwinden: eben kein Verschwinden oder Übergehen (mehr).339

WdL (GW 21, 93/11−17). WdL (GW 21, 93/22); Hervorh. StG. 339 Wohl aus diesem Grund kategorisiert Hegel das unmittelbare Übergehen des Seins in Nichts und umgekehrt als ein präsentisches ›Werden‹, als »Bewegung des Verschwindens« − und nicht nur als ein ›Verschwinden‹ im Sinne eines perfektischen Übergegangenseins. Wenn ›Werden‹ die Wahrheit von Sein und Nichts ist, dann zugleich so, daß es »weder das Seyn noch das Nichts« ist (WdL; GW 21, 69/24), daß also zugleich ihr immer schon vollzogener Zusammenfall, in dem sie und ihr Übergehen verschwunden wären, verneint ist. Die koinzidentelle Uununterschiedenheit von Sein und Nichts, ihr Übergangensein im Werden ist sozusagen nur die halbe Wahrheit; denn »eben so sehr ist die Wahrheit nicht ihre Ununterschiedenheit, sondern daß sie n ic h t da ss e lb e , daß sie a b s ol u t u n t e rs c hie de n « sind (WdL; GW 21, 69/26−28). 337 338

2. Der absolute Anfang und seine Negationen

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2.4 Verschwinden des Verschwindens Als das Gegenteil seiner selbst wird Sein nicht sogleich mit Nichts identisch. Vielmehr ist das Sein das »Uebergehen in Nichts«, ohne daß hierbei das Sein zu Nichts werden kann, da das Nichts ebensogut »das Gegentheil seiner selbst, Uebergehen in Seyn« ist. Auch das Nichts wird nicht zu Sein, da das letztere »Uebergehen in Nichts« ist. Weder ist der logische Anfang also ein Vergangen-, d. h. ein Übergegangensein von Sein ins Nichts – dies wäre kein Anfang; noch ist der Anfang ein Entstandensein aus dem Nichts – dies wäre kein Sein, sondern endliches Dasein, bei dem das »Nichtseyn in die einfache Einheit mit dem Seyn aufgenommen ist«.340 Das den logischen Anfang kennzeichnende Verschwinden meint also weder das Vergangensein noch das Entstandensein von Sein. Mit dem Werden kommt der Anfang zum keinem perfektivischen Abschluß. ›Werden‹ ist eine in sich rückläufige Bewegung, kein Fortschreiten, das den logischen Anfang als ein überwundenes Stadium hinter sich gelassen hat. Die Wahrheit des logischen Anfangs ist kein Vergangensein, sondern Vergehen, das an ihm selbst Entstehen ist. Dem eben Gesagten scheint jedoch Hegels Diktum entgegenzustehen: Das Werden ist das Verschwinden von Seyn in Nichts und das von Nichts in Seyn und das Verschwinden von Seyn und Nichts überhaupt […].341 Was aber Hegel mit diesem »Verschwinden überhaupt« wohl anzeigen will, ist die Unverhältnismäßigkeit beider ›Relate‹ und eben keine Annullierung ihrer Unterschiedenheit, die zu ihrem bereits vollzogenen Verschwundensein geführt hat. Denn das Werden beruht, so Hegel im unmittelbaren Anschluß, »zugleich auf dem Unterschiede derselben [sc. von Seyn und Nichts]«.342 Der Übergang ist kein ›perfekter‹: Als Verschwindende sind das Sein und das Nichts nicht schon verschwunden und zur Kategorie ›Werden‹ geworden. Wenn das Werden »das Verschwinden von Seyn und Nichts überhaupt« ist, dann geht es nicht um eine Annihilation von Sein und Nichts im Werden. Sein und Nichts erhalten sich vielmehr im Werden, als Übergehen, das keinen Abschluß kennt, eben weil hier nicht Etwas zu etwas Anderem geworden ist. Den Übergang des Seins zeichnet ein Vergehen aus, das nicht abgeschlossen ist, sondern das im doppelten Wortsinn erst im Verschwinden begriffen ist. Und umgekehrt: Den Übergang des Nichts zeichnet ein Entstehen aus, das nicht abgeschlossen ist, sondern das im doppelten Wortsinn erst im Entstehen begriffen ist.

340 341 342

WdL (GW 21, 97/11 f.). WdL (GW 21, 93/26−28); Hervorh. StG. WdL (GW 21, 93/28).

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III. Hegel

Das »Verschwinden des Werdens, oder Verschwinden des Verschwindens selbst«343 ist daher auch kein Nullsummenspiel. Die Bewegung des Verschwindens hebt sich nicht schon dadurch von selbst auf, daß ein rastloses Hin und Her zweier Relata sich zugleich – und d. h. unter einer anderen, vermittelnden Hinsicht – als ein Kräftegleichgewicht ihrer verschiedenen Bewegungsrichtungen darstellt. Am logischen Anfang emergiert nicht urplötzlich die hektische Betriebsamkeit einer haltlosen Unruhe des Übergehens, weil sich Sein und Nichts nun einmal leider nicht strikt auseinanderhalten lassen. Ebensowenig kommt diese Unruhe urplötzlich zum Erliegen, weil sich diese Art von Unruhe glücklicherweise als eine Bewegung herausstellt, die nicht vom Fleck kommt und daher die Geschwindigkeit 0 besitzt. Das Verschwinden des Verschwindens ist nicht dessen Annullierung; aus ihm resultiert zwar ein »Verschwundenseyn, aber nicht als Nichts«.344 Das Verschwinden gehört nicht der Vergangenheit an, es ist nicht ›einfach so‹ wieder vergangen. Für die Aufhebung des Verschwindens oder des Werdens gilt vielmehr: »Was sich aufhebt, wird dadurch nicht zu Nichts.«345 Wenn also das Sein und Nichts im Werden verschwinden – sie ›dort‹ also gerade nicht verschwunden sind, sondern als verschwindende, als Einheit zweier gegenläufiger Verhältnisbestimmungen (Vergehen/Entstehen) bestehen –, dann muß in der Folge auch der Schein einer in Aspekte aufteilbaren Verhältnismäßigkeit jener Verhältnisbestimmungen verschwinden. Das heißt aber: Auch das Verschwundensein des Werdens – welches sich zunächst darstellt als das ruhige Äquilibrium jener sich gegenseitig negierenden Verhältnisbestimmungen – muß verschwinden.346 Doch vorerst erscheint es so, daß in der Kategorie des Werdens sich das darin Aufgehobene (Sein und Nichts) vermittelt als das Verhältnis zweier unterscheidbarer Bewegungsrichtungen des Verschwindens, die sich jedoch aufgrund ihrer Gegenläufigkeit »paralysiren«. Diese Paralyse ist die Aufhebung des Werdens und damit Aufhebung der Vermittlung, die »die Form von einem Unmittelbaren«347 annimmt. Von diesem Unmittelbaren läßt sich sagen: »Seine Vermittlung, das Werden, liegt WdL (GW 21, 93/23 f.). WdL (GW 21, 94/3). 345 WdL (GW 21, 94/15); Hervorh. StG. 346 Denn daß das »Werden selbst ein Verschwinden sey, sich verneine« – also nicht nur ein Verschwinden von Sein und Nichts, sondern ein Verschwinden ist, das selbst einem Verschwinden unterliegt –, ist nach Hegels Aussage zwar durchaus »eine der Bestimmungen [der] Logik selbst, aber immer auch nur di e e in e, – und damit für einseitig erklärte« (Repliken. Zweiter Artikel; GW 16, 240/6–9). Diese Einseitigkeit scheint dann zu bestehen, wenn man das Verschwinden als einen Übergang ins Nichts und damit als eine buchstäbliche Annihilation des Übergehens selbst faßt. Zwei Spielarten des Gedankens sind hier möglich: (1.) Was in Nichts – d. h. in nichts Anderes – übergeht, geht gar nicht erst über: Es kommt also überhaupt nicht zu einem Verschwinden. (2.) Was in das Nichts übergegangen ist, demzufolge zunichte geworden ist, geht dann auch nicht mehr über: Das Verschwinden gehört ›bereits‹ der Vergangenheit an. 347 WdL (GW 21, 97/4 f.). 343 344

2. Der absolute Anfang und seine Negationen

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hinter ihm.«348 Ein so verstandenes Verschwinden – eine Beendigung – des Verschwindens produziert jedoch den äußerlichen Schein der Ruhe, in der sich das Verhältnis von Sein und Nichts nun als ein gefestigtes Beieinander, als eine kopulative Koinzidenz darstellt. Das »Daseyn erscheint daher als ein erstes, von dem ausgegangen werde«349 – und nicht wenige Interpreten haben sich an diesem Erscheinen von ›Dasein‹, dem beruhigenden Zutage-Treten einer ruhigen Einheit von Sein und Nichts orientiert. Gleichwohl erhält sich das Verschwinden oder Übergehen gerade dadurch, daß es selbst verschwindet: als Vergehen, das an ihm selbst das Entstehen – von Vergehen ist. Das ›Werden‹ zerstört sich als Kategorie, aber eben dadurch, daß es die von ihm zur Darstellung gebrachte Bestimmung – das Verschwinden – prolongiert. In anderen Worten: Hegels Formel vom »Verschwinden des Verschwindens« ist doppelbödig. Denn zunächst versteht sich das »Aufheben des Werdens«350 als ein Verschwinden, das dem Werden oder dem Verschwinden selbst ein Ende macht. Die Selbstbezüglichkeit des Verschwindens ist hier objektbezogen gedacht, insofern das Verschwinden sich selbst zum Gegenstand hat und damit sein eigenes Verschwinden vorantreibt. Das Verschwinden wird hier in thematischer Hinsicht relevant für die Kategorie ›Werden‹. Die Formel »Verschwinden des Werdens, oder Verschwinden des Verschwindens selbst« basiert insofern auf einem Genitivus obiectivus.351 Es geht aber hier nicht bloß um eine Prozedur, die das Verschwinden, d. h. die Kategorie ›Werden‹, als ein bestimmtes Stadium der »Logik« nun seinerseits einem Verschwinden unterwirft und so hinter sich läßt. Denn wie ausgeführt, geht es Hegel von vornherein um das ›Wie‹ bzw. um den Charakter dieses Verschwindens, der nicht von den Bestimmungen ablösbar ist, die sich bei der thematischen Entwicklung der Kategorie ›Werden‹ ergeben: ›Werden‹ zeigt sich als ein Vergehen, das an ihm selbst ein Entstehen ist. Insofern steht hier nicht einsinnig die Negation des Verschwindens (gen. obi.), die Annihilation seines ›Daß‹ im Vordergrund.

WdL (GW 21, 97/5). WdL (GW 21, 97/6); Hervorh. StG. 350 So die Überschrift, unter der sich die Hegelsche Formel vom »Verschwinden des Verschwindens« findet. 351 Gestützt wird diese Lesart durch den unmittelbaren Kontext: »Seyn und Nichts sind in ihm [sc. im Werden] nur als verschwindende; aber das Werden als solches ist nur durch die Verschiedenheit derselben. Ihr Verschwinden ist daher Verschwinden des Werdens, oder Verschwinden des Verschwindens selbst« (WdL; GW 21, 93/21–24). Diese Passage ließe sich dann etwa so reformulieren: ›Der Unterschied von Sein und Nichts, der für ihr Übergehen erforderlich ist, zergeht im ›Werden‹, weil sie dort nur als ineinander verschwindende sind. Dieses Verschwinden ineinander zerstört aber genau die Grundlage, die für ihr Verschwinden nötig ist: ihre Unterschiedenheit. Das Verschwinden von Sein und Nichts läßt also das Werden bzw. das Verschwinden selbst verschwinden oder aufhören.‹ – Zur Bedeutungsnuance von ›aufheben‹ im Sinne von ›aufhören lassen‹ oder ›ein Ende machen‹ vgl. WdL (GW 21, 94/20). 348 349

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III. Hegel

Die Hegelsche Formel wird dann lesbar als Genitivus subiectivus: Wenn nämlich das Verschwinden von Sein und Nichts ein Vergehen (den Übergang von Sein in Nichts) meint, das an ihm selbst ein Entstehen (der Übergang von Nichts in Sein) ist, dann ist damit der Modus dieses Verschwindens – das Verschwinden des Verschwindens (gen. subi.) – fortbestimmt: Ein Vergehen, das an ihm selbst Entstehen ist, läßt nicht schlichtweg Etwas verschwinden, und sei es die logische Kategorie ›Werden‹ (= ›das Verschwinden selbst‹). Vielmehr bestimmt dieser Modus, in dem die Kategorie ›Werden‹ verschwindet, den Werdenscharakter im Sinne des logischen Prozesses: das Werden der logischen Kategorien auseinander. Um das Werden im Sinne des logischen Prozesses ist es nicht schon dadurch geschehen, daß sich die logische Kategorie ›Werden‹ sozusagen auf thematischer Ebene erledigt hat. Mit dem Verschwinden der Kategorie ›Werden‹ wird das Werden in der Bewegung der Begriffe aufgehoben oder aufbewahrt. Insofern ist hier die Selbstbezüglichkeit des Verschwindens zugleich methodenbezogen gedacht. Im Sinne eines Genitivus obiectivus versteht sich also das »Verschwinden des Verschwindens« als Verschwinden, das auf die logische Kategorie des ›Werdens‹ appliziert wird. Das Verschwinden gilt hier dem Verschwinden, als das sich die logische Kategorie ›Werden‹ gezeigt hat. Das Verschwinden wird nun auch für die Kategorie ›Werden‹ thematisch, so wie dies zuvor schon für die Kategorien ›Sein‹ und ›Nichts‹ geschehen ist. Im Sinne eines Genitivus subiectivus dagegen, mit dem »Verschwinden des Verschwindens«, rückt der Modus dieses Verschwindens in den Mittelpunkt. Bei diesem »Verschwinden des Verschwindens« geht es nicht nur um die Negation bzw. das Verschwinden-Lassen des Verschwindens (gen. obi.) auf der thematisch-kategorialen Ebene, um eine Negation also, die hier nun auch dem Verschwinden selbst zuteil wird. Der negative Selbstbezug bei diesem »Verschwinden des Verschwindens« richtet sich nicht bloß gegen Etwas, das in diesem besonderen Fall das Verschwinden selbst ist.352 Der negative Selbstbezug im »Verschwinden des Verschwindens« verdankt sich also nicht der Alternative, daß sich das Verschwinden entweder auf etwas Anderes als es selbst anwenden läßt oder eben auf sich selbst: Das eine Mal gälte das Verschwinden zunächst nur den beiden ersten Kategorien ›Sein‹ und ›Nichts‹, wodurch Henrichs These von der selbstbezüglichen Negation als der Hegelschen Grundoperation geht davon aus, daß jede, also auch die selbstbezügliche Negation etwas negiert. Somit kann gesagt werden: »Die Negation, welche die Negation negiert, negiert sich« (Henrich, »Hegels Grundoperation« [wie Anm. 98], 216). Auf unseren Zusammenhang übertragen, ließe sich das so formulieren: ›Das Verschwinden, welches das Verschwinden negiert, negiert etwas – nämlich sich als das Verschwinden.‹ – Insofern bleibt auch die autonome Negation eine Spielart der klassischen doppelten Negation. Daher scheint mir etwa R. Schäfers Kritik an Henrichs These offene Türen einzurennen: »[A]uch die Negation der Negation ist Negation von etwas, nämlich von sich selbst« (R. Schäfer, Die Dialektik und ihre besonderen Formen in Hegels Logik, Hamburg 2001, 280; dort Anm. 129). 352

2. Der absolute Anfang und seine Negationen

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ihrer Selbständigkeit ein Ende bereitet wird. Das andere Mal aber gälte das Verschwinden dann auch diesem Verschwinden selbst. In diesem Fall unterschieden sich diese beiden Formen der Negation bloß in ihrem jeweils negierten Objekt, nicht aber im Modus des Negierens, in ihrem negativen Bezug. Das Entscheidende an der selbstbezüglichen Negation, wie sie in Hegels Formel vom »Verschwinden des Verschwindens« zum Ausdruck kommt, ist jedoch ihr Negationscharakter. Diesen negativen Selbstbezug zeichnet daher auch nicht das perfektische ›Entfallensein‹ jeglicher Negation aus, sobald die Negation in Form eines Verschwinden-Lassens sich einmal gegen sich selbst gerichtet hat.353 Dieses gänzliche Entfallensein des Verschwindens gilt allenfalls auf thematischer Ebene, also im Hinblick auf das, was negiert worden und damit verschwunden ist. Für den logischen Anfang hieße dies sonst, daß nach dem »Verschwinden des Verschwindens« ein logischer Zustand eintritt, der sich nur mittels einer abstrakten Negation der Negation kennzeichnen läßt: Dasein als »die zur ruhigen Einfachheit gewordene Einheit des Seyns und Nichts«354 wäre nichts anderes mehr als eben dieses gänzliche Verschwundensein des Verschwindens. Dasein hätte sein Sein in einem perfektischen oder vollendeten Negiertsein des Verschwindens. Damit hätte sich diese ruhige Einfachheit jedoch der negativen Bestimmung des Verschwindens entwunden. Für die das ›Dasein‹ kennzeichnende Ruhe gäbe es kein Verschwinden mehr; sie könnte also ihrerseits nicht mehr von sich aus in eine Bewegung des Verschwindens geraten. Was also aus dem ›Werden‹ resultiert, ist nicht als das Nichtsein des Verschwindens klassifizierbar. Vielmehr muß das ruhige Dasein als das vermittelte Resultat des ›Werdens‹ auch » die Bestimmtheit aus der es herkommt, noch an sich«355 haben: das Verschwinden.356 Vgl. dazu Henrich, »Hegels Grundoperation« [wie Anm. 98], 216 f.: »Es tritt also aus der Selbstbeziehung der Negation ein logischer Zustand hervor, der nur dadurch beschrieben werden kann, daß er derjenige ist, in dem Negation ganz entfallen ist« (Hervorh. StG). Kritisch dazu etwa Theunissen, Schein und Sein (wie Anm. 3), 377: »Eine Negation, die sich selber so negiert, daß sie sich verneint, entfällt nach Hegel nicht einfach, sondern ist im Gegenteil erst als negierte vorhanden, und diese ihre Vorhandenheit ist die Unmittelbarkeit, die im Katalog der Schein-Begriffe unter dem Titel ›Schein‹ auftaucht.« Was Theunissen hier für den Anfang der Begriffslogik festhält, gilt, so scheint mir, genauso für das »Verschwinden des Verschwindens«: Auch das Verschwinden entfällt nicht einfach durch seinen negativen Selbstbezug, sondern das Verschwinden selbst ist nur in seinem Verschwinden. Das Verschwinden ist als Verschwinden vorhanden. Der Schein besteht hier darin, daß das Verschwinden sein wahres Sein zunächst nur in seinem perfektischen Negiertsein – in der Unmittelbarkeit von ›Dasein‹ – hat. 354 WdL (GW 21, 94/5 f.). 355 WdL (GW 21, 94/17 f.). 356 Das Resultat der Selbstaufhebung des Verschwindens kann demnach nicht in abstrakter Negation – als bloßes Verschwundensein oder Entfallensein von Verschwinden – bestimmt werden. Aus dem negativen Selbstbezug des Verschwindens ergibt sich also kein logischer Zustand, der sich nur als ein Nichtsein oder Nicht-mehr-Sein dessen begreifen läßt, was negiert worden ist. Mit Hegel gesprochen, wäre dieses Resultat »nur ein Rückfall in die eine der schon aufgehobenen Bestimmungen« 353

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III. Hegel

Am logischen Anfang ist demnach bereits die thematische Negation von etwas – das Verschwinden oder Übergehen von einer Kategorie in die andere – an das operative ›Wie‹ dieser Negation, an die Weise des Verschwindens oder Übergehens, gekoppelt. Nirgends kommt dies so deutlich zum Ausdruck wie in Hegels Formel vom »Verschwinden des Verschwindens«, in der die Logik der reinen Seins offensichtlich kulminiert: Das Verschwinden vollzieht sich nicht nur an den Kategorien ›Sein‹, ›Nichts‹ und ›Werden‹, sondern diese Kategorien sind dieses Verschwinden: Vergehen, das an ihm selbst Entstehen ist. Dies scheint die Erbmasse des ersten Kreises der Logik zu sein, der die Bewegung von der Kategorie ›Sein‹ zur Kategorie ›Dasein‹ abschreitet.357

WdL (GW 21, 94/4) – in das abstrakte Nichtsein von Verschwinden oder in das ›Verschwundensein als Nichts‹. Insofern kann für den negativen Selbstbezug, den das Verschwinden des Verschwindens auszeichnet, nicht gelten: »Auch das noch, was als das Andere der Negation beim Verschwinden der auf sich bezogenen Negation eintrat, soll selber doppelte Negation sein« (Henrich, »Hegels Grundoperation« [wie Anm. 98], 222). Denn dann läßt sich zu Recht fragen, wie »sich dann der Unterschied zwischen beiden überhaupt noch behaupten« läßt (ebd.) – eine Frage, die Henrich nur aufwirft, aber nicht löst (vgl. ebd., 223). Erst dadurch also, daß in der selbstbezüglichen Negation Etwas negiert worden ist – eben die Negation –, ist dann auch das Resultat selbst als doppelte Negation begreifbar: als Negation der Negation (gen. obi.), als ein Entfallen- oder Verschwundensein, welches die Negation selbst betrifft. Die selbstbezügliche Negation führt also zur thematischen Negation der Negation (gen. obi.), zum Entfallensein von jeder Negation, und zwar deswegen, weil Henrichs These von der selbstbezüglich negativen Grundoperation ausschließlich objektivbezogen gedacht ist, d. h. sich bloß an dem orientiert, wem die Negation hier jeweils gilt. Als Grundoperation müßte sie aber die Notwendigkeit ihres Vollzuges – ihre methodische Notwendigkeit – mit sich bringen. Genau das vermag nach Henrich weder die Seinslogik noch ein in ihr folgendes Stadium der »Logik« in einer »zwingenden Sequenz« vorzuführen. Die von Henrich herausgearbeitete Grundoperation vermag daher äußerst aufschlußreich für Hegels grundlegende Gedankenfigur einer negativen Selbstbezüglichkeit zu sein. Als Grundoperation aber kann sie stricto sensu nicht gelten, solange ihr die operative Notwendigkeit, der methodisch notwendige Modus ihres Vollzuges abgeht. Denn diese methodische Notwendigkeit ist nicht allein klärbar durch den konzentrierten Blick auf das, was in jener Grundoperation negiert wird. 357 Insofern läuft die Logik des reinen Seins nicht auf »die Genesis des ›Werdens‹ – das Werden der Kategorie ›Werden‹« hinaus (Schulz-Seitz, »›Sein‹ in Hegels Logik« [wie Anm. 291], 383). Denn es ist nicht die »Hervorbringung der Kategorie ›Werden‹«, mit der die Logik des reinen Seins ihren »folgerichtigen Abschluß« erhält (ebd.). Gezeigt wird also nicht einfach, daß der Terminus ›Werden‹ das explizit macht, was an sich oder implizit bereits »von Anfang an im Gange war: das Werden« (ebd.). Ginge es einzig um die Hervorbringung der Kategorie ›Werden‹, dann wäre damit nur thematisch auf einen Nenner oder Begriff gebracht, daß der logische Anfang einen Prozeßcharakter hat. In den Blick käme dabei gar nicht das ›Wie‹ dieses Prozesses – daß nämlich dieses prozeßhafte Werden ein Vergehen oder Verschwinden ist, das an ihm selbst Entstehen ist. Das Werden im Sinne der Hervorbringung der Kategorie ›Werden‹ ist daher erst mit der Bestimmung »Verschwinden des Verschwindens« begriffen, weil diese Bestimmung auch für die Kategorie ›Werden‹ gilt. Auch die Kategorie ›Werden‹ unterliegt dieser Bestimmung: einem Vergehen, das an ihm selbst Entstehen ist. Der logische Anfang ist erst dann auf den Begriff gebracht, wenn das Prozedere des Verschwindens im Anfang eingeht in das ihm Folgende. Es ist eine unzureichende Feststellung, daß der logische Anfang und womöglich nur der Anfang von der Unruhe des ›Werdens‹ beherrscht wird, die nach der Logik des reinen Seins verschwunden ist.

2. Der absolute Anfang und seine Negationen

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Das Verschwinden mag also auf der thematisch-kategorialen Ebene – mit dem Verschwinden der Kategorie ›Werden‹ – ein Ende finden. Jedoch ist diese Bewegung des Verschwindens aufbewahrt in der ruhigen Einheit von Sein und Nichts. Das ›objektiv‹ positive Resultat dieses Verschwindens – die Ruhe des ›Daseins‹ nach der selbstzerstörerischen Unruhe des ›Werdens‹ – ist daher einseitig. Mit der Ruhe des ›Daseins‹ ist es bald dahin, sie verschwindet, weil auch sie auf einem Verschwinden des Verschwindens basiert, das in sie eingegangen ist. Die anfänglich negative Verhältnisbestimmung von Sein und Nichts – ihr anfänglich unverhältnismäßiger und insofern unbestimmter Bezug oder Übergehen ineinander – wird also nicht so negiert und überwunden, daß sich diese Unverhältnismäßigkeit von Sein und Nichts in Wahrheit als eine Einheit herausstellt: eben als ›Werden‹, das sich wiederum in zwei gegensätzliche oder gegenläufige Verhältnisbestimmungen, in ›Vergehen‹ und ›Entstehen‹, ausdifferenzieren läßt:. Negiert wäre damit der zunächst unbestimmte Übergang von Sein und Nichts in Form der Gleichwertigkeit ihres jeweiligen Übergehens: als das »Gleichgewicht, worein sich Entstehen und Vergehen setzen«.358 Dieses Gleichgewicht zweier gegenläufiger Formen des Übergehens wäre aber seinerseits zu verstehen als die Negation von Übergehen überhaupt: »eben so [als] ruhige Einheit«.359 Das bewegungshafte Übergehen präsentierte sich somit als ein Übergegangensein, jenes hätte sich in diesem erledigt und beruhigt. In dieser Perspektive hätte man es also mit zwei Stufen einer klassischen Negation der Negation zu tun. Zunächst wird die Unverhältnismäßigkeit von Sein und Nichts negiert: Die Unverhältnismäßigkeit zeigt sich dann als Einheit zweier gegenläufiger Verhältnisbestimmungen. Der unbestimmte Übergang von Sein und Nichts wird bestimmt als gegenläufiges Vergehen und Entstehen (Negation des unbestimmten Verhältnisses). Die Wahrheit des unbestimmten Verhältnisses von Sein und Nichts ist die Gegenläufigkeit zweier Verhältnisse. Ihr anfänglich unbestimmtes Verhältnis präsentiert sich nun als ein bestimmtes, gegenläufiges Verhältnis von Verhältnissen. Eben dieses Verhältnis von Verhältnissen wird in einem zweiten Schritt negiert: Die beiden gegenläufigen Verhältnisbestimmungen heben sich auf in ein ruhiges Äquilibrium, und zwar weil diese ihre Gegenläufigkeit sich innerhalb jener Einheit, dem ›Werden‹, auflöst (gegenseitige Negation der gegenläufigen Verhältnisbestimmungen). Annulliert ist damit die Gegenläufigkeit von Entstehen und Vergehen innerhalb derjenigen Einheit, die ›Dasein‹ heißt. Beide gegensätzlichen Verhältnisbestimmungen vermitteln oder heben sich auf in ein Sein als der »Bestimmung des Ganzen«.360 Anders gesagt: Es resultiert ein Sein, welches durch das Nichtsein jenes

358 359 360

WdL (GW 21, 93/20). WdL (GW 21, 93/21). WdL (GW 21, 94/7).

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III. Hegel

internen, im ›Werden‹ bestehenden Gegensatzes gekennzeichnet ist. Dieses Sein hat das Nichtsein jenes Gegensatzes in sich aufgenommen. Der im ›Dasein‹ zur Ruhe gekommene interne Gegensatz, der im ›Werden‹ noch bestanden hatte, ermöglicht die – vermittelte – Unmittelbarkeit des ›Daseins‹. Eben diese seine Unmittelbarkeit, welche durch die Negation jener gegenläufigen Verhältnisbestimmungen zustande kam und vermittelt ist, macht aber die Bestimmtheit des ›Daseins‹ aus. Die Unmittelbarkeit des ›Daseins‹ setzt eine Grenze nach ›außen‹, »gegen ein Anderes«.361 Das N i c h t s e y n so in das Seyn aufgenommen, daß das concrete Ganze in der Form des Seyns, der Unmittelbarkeit ist, macht die B e s t i m m t h e i t als solche aus.362 Damit kehrt aber nicht endgültige Ruhe ein nach einem unentschiedenen Oszillieren zweier Relate, das sich durch die Blockade ihrer gegensinnigen Bewegungsrichtung erledigt hat. Vielmehr taucht das ›Werden‹ − als Vergehen, das an ihm selbst Entstehen ist − in der folgenden Kategorie ›Dasein‹ wieder auf: Das Nichts wird sich »an ihm hervorthun«, und zwar gegen jene Bestimmung ›Sein‹.363 Auch hier wird wieder der Schein einer Verhältnismäßigkeit zunichte werden: In diesem Fall ist es die beruhigte, zur Unmittelbarkeit fortbestimmte Einheit von Sein und Nichts im Dasein. Als Etwas ist das Dasein »nicht nur gegen ein Anderes, sondern an ihm schlechthin negativ bestimmt«.364 Wenn Hegel das Werden gerade als ein Vergehen faßt, das an ihm selbst Entstehen ist, dann ist damit nicht gemeint, daß jedes Entstehen zugleich von einem Vergehen begleitet wird, so wie etwa das Entstehen der Frucht das Vergehen der Blüte nach sich zieht. So verstanden, wäre der logische Anfang nur ein Stadium unter vielen und ließe sich beliebig nach hinten zurück verlagern (wie etwa auch der Blüte die Knospe vorangeht). Eine einsinnige Bewegung des Entstehens fordert den Tribut des Vergehens des jeweils Vorangegangenen. Der logische Anfang ist also nicht dadurch bestimmt, daß er ein mangelhaftes und durch diesen Mangel bestimmtes Stadium ist, welches aufgrund seines privativen Charakters verschwinden muß und dies auch kann. Wir haben es hier nicht mit einer ins Logische gewendeten mors mystica zu tun, die den logischen Anfang unter die Maxime eines »Stirb und Werde!« stellt. Dazu bräuchte es erst einmal ein Substrat, an dem sich Vergehen und Entstehen vollziehen könnten. Für Hegel ist dagegen offensichtlich der anfängliche Charakter des logischen Anfangs und damit das Anfangen selbst das Problem. Denn die Frage, womit der An-

361 362 363 364

WdL (GW 21, 96/4). WdL (GW 21, 97/12–14). WdL (GW 21, 97/8). WdL (GW 21, 96/5 f.).

2. Der absolute Anfang und seine Negationen

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fang gemacht werden muß, setzt schon einen Begriff von einem ›Anfang-Machen‹ voraus. Daß der Anfang nicht mit einem Etwas gemacht werden kann, heißt für Hegel jedoch nicht, daß mit nichts oder gar mit dem Nichts der Anfang gemacht werden müßte. Hegels Bemerkung, der logische Anfang sei unmittelbar, in seinem reinen Daß, zu nehmen, meint daher wohl nichts anderes, als daß der Anfang Relation ist, die selbst kein Etwas ist und die sich zugleich nicht zwischen zwei Relata etabliert. Die »Logik« beginnt daher streng genommen nicht mit dem Sein im Sinne eines Relatum, von dem der logische Prozeß seinen Ausgang nimmt und zu Anderem führt. Der logische Anfang kann also nicht schon dadurch gemacht werden, daß er unbesehen mit dem Sein als einem Relatum einsetzt. Im logischen Anfang muß vielmehr schon das Sein selbst dieses ›Daß‹ des Anfangens sein. Daher ist Hegel offenbar daran gelegen, das anfängliche Sein als reine Relation zu charakterisieren: als Selbstgleichheit, die gerade nicht ungleich gegen Anderes ist.365 Diese reine Relation setzt sich damit nicht in ein bestimmtes oder bestimmbares Verhältnis zu etwas – auch nicht zu sich selbst. Die Gleichheit des Seins nur mit sich selbst ist daher an ihr selbst Ungleichheit: Als diese Selbst-Gleichheit ist der Selbstbezug von Sein »rein sein Andersseyn«.366 Das Sein steht nicht »in Beziehung auf sein Andersseyn«;367 das Sein steht also nicht »als Beziehung auf sich gegen seine Beziehung auf Anderes«.368 Die Gleichheit des Seins mit sich selbst etabliert sich hier nicht »gegen seine Ungleichheit«.369 Gleichheit ist hier vielmehr »rein«, an ihr selbst Ungleichheit – bezugsloses, unvermitteltes Anderssein, das nicht in eine koinzidentale Einheit mit der Gleichheit aufgehoben werden kann. Sein als »Gleichheit mit sich« geht in Nichts oder in seine Ungleichheit über, es fällt aber bei diesem Übergang nicht mit dem Nichts oder mit seiner Ungleichheit zusammen. Das Verschwinden von Sein und Nichts ineinander ist somit kein abgeschlossenes. Daher wird auch weder das Sein zu Nichts, noch das Nichts zu Sein. Das Werden findet nicht zwischen dem Sein und dem Nichts statt. Die Kategorie »Werden« meint demnach keine Veränderung von Sein und Nichts, kein »bereits concret gewordenes Werden«,370 mit dem ein bestimmtes Sein zu seinem bestimm365 Erst dann also, wenn das Sein ausschließlich als dasjenige in den Blick kommt, womit angefangen wird oder werden soll, kommt auch die Schwierigkeit seiner washeitlichen Charakterisierung auf: Unbestimmtheit wird dann zur abstrakten Bestimmung dessen, was ›Sein‹ ist. Diese Schwierigkeit kann nicht dadurch behoben werden, daß die abstrahierende Reflexion in einem weiteren reflexiven Akt von sich selbst abstrahiert, um durch diese ihre Selbstnegation das reine Sein als ihren Gegenstand zu gewinnen. Vgl. dazu oben, 282 ff. 366 WdL (GW 21, 106/29). 367 WdL (GW 21, 106/28). 368 WdL (GW 21, 107/2). 369 WdL (GW 21, 107/2 f.). 370 WdL (GW 21, 104/14 f.).

324

III. Hegel

ten Nichtsein oder seinem Anderssein gelangt. Als die Wahrheit von Sein und Nichts bringt die Kategorie »Werden« vielmehr die anfängliche Unverhältnismäßigkeit von Sein und Nichts – die Gleichheit, die an ihr selbst Ungleichheit ist – zur Darstellung und mithin nicht zum Verschwinden. Die Wahrheit des Anfangs ist daher »weder das Seyn, noch das Nichts«.371 Der Anfang ist in Wahrheit nicht eines der beiden Relata und zugleich ist er nicht beide zugleich. Beide Verhältnisse – das koinzidentale Ineinander und das disjunktive Auseinander von Sein und Nichts – sind nicht harmonisierbar in einer Einheit, die die Konjunktion und die Disjunktion von Sein und Nichts als ein ruhiges Beieinander umfaßt. Daher sind Sein und Nichts als Momente des Werdens nur in Form zweier sich durchdringender, gegenläufiger Verhältnisse darstellbar. Mit der Kategorie »Werden« erfolgt somit auch keine Negation des Gegensatzes jener beiden Verhältnisse (disjunktives Auseinander und koinzidentales Ineinander), sondern deren Darstellung: Das Verschwinden von Sein und Nichts ineinander zeigt sich als Vergehen, das an ihm selbst das »Gegentheil seiner«372 – also Entstehen – ist. Diese Darstellung zweier sich durchdringender, gegenläufiger Verhältnisse führt aber zum Verschwinden des Werdens als Kategorie, weil die Kategorie »Werden« selbst den Gegensatz jener Verhältnisbestimmungen nicht harmonisiert oder temperiert und so zum Verschwinden bringt. Mit dem Verschwinden der Kategorie »Werden« ist die Bestimmung ›Verschwinden‹ daher gerade nicht verschwunden. Die Kategorie ›Dasein‹ ist vielmehr nur ein erster Ruhepunkt, der das Verschwinden als Bestimmtheit in sich aufgenommen hat und der das ›Werden‹ als Kategorie beerbt. Das Verschwinden des Verschwindens ist somit weit »mehr als ein bloßes Zurücknehmen und äusseres Wieder-Weglassen«373 des Verschwindens. Das Verschwinden des Verschwindens führt zu keinem Zustand, mit dem das Verschwinden ganz entfallen und damit nichtig geworden wäre. Die Selbstabschaffung des Verschwindens wäre sonst nur eine Negation der Negation. Deren Resultat wäre die ruhige, bewegungslose Einheit von Sein und Nichts: Das Verschwinden unterläge einem Vergehen, das kein Entstehen mehr kennt – es wäre bloß vergangen. Ebensowenig aber führt das Verschwinden des Verschwindens in einen Zustand, in dem sich das Verschwinden unverändert erhält. Das Verschwinden des Verschwindens ist daher auch keine Negation der Negation, die sich in diesem Negieren einfach prolongiert. Der negative Selbstbezug, wie er in Hegels Wendung vom Verschwinden des Verschwindens zum Vorschein kommt, ist daher keine Frage einer Beibehaltung oder des Vergehens (des Entfallenseins) von Negation. Das Verschwinden des Verschwindens entpuppt sich vielmehr als eine selbstbezügliche

371 372 373

WdL (GW 21, 69/25). WdL (GW 21, 93/17). WdL (GW 21, 103/3 f.).

2. Der absolute Anfang und seine Negationen

325

Negation: als ihre Negation oder als ihr Vergehen, das an sich selbst Entstehen – die Negation des Vergehens – ist. Dieser negative Selbstbezug ist aber das Resultat des logischen Anfangs. Vom logischen Anfang selbst kann somit nicht gelten: »Die Negation macht den Anfang«374 – und es läßt sich durchaus einsehen, warum dies so ist. Mit einer selbstbezüglichen Negation, die in einem ersten Schritt nur sich selbst negiert, kann also gar nicht der logische Anfang gemacht werden. Sie stößt daher auch nicht in die »Dimension letzter Begründung«375 vor. Denn eine selbstbezügliche Negation setzt voraus, daß sie so zu sich selbst in Beziehung treten kann wie zu jedem anderen, ihr externen Gegenstand auch: daß sie etwas negiert. Erst damit läßt sich das Ergebnis eines negativen Selbstbezuges auch als die Elimination von jeder Negation klassifizieren, welche dann der Vergangenheit angehört. Das Verschwinden der Negation wäre objektivierbar als ein Verschwinden, das der Negation selbst gilt. Diese Elimination könnte jedoch unschwer wiederum ›zurückgenommen‹ oder ›äußerlich wieder weggelassen‹ werden durch einen Perspektivenwechsel: Das perfektische Entfallensein von Negation (Negation der Negation) wäre dann auch zu verstehen als ihr präsentisches Nichtsein – und d. h. als neuerliches Dasein von Negation (Negation der Negation). Es reicht also nicht aus zu sagen, daß eine Relation, die die Negation offensichtlich ist, zu sich selbst in eine Beziehung tritt, ohne zu erklären, wie es überhaupt zu dieser Beziehung auf eine Beziehung kommen soll. Die Negation fängt daher nicht unmittelbar, in einem frei gesetzten ersten Schritt mit sich selbst an. Denn für diese ihre Selbstvermittlung muß sie bereits einen Bezug des ›Anfangens mit …‹ in Anspruch nehmen, in dem sie stehen und in dem sie dann auch mit sich selbst den Anfang machen kann. Ein Selbstbezug, auch ein negativer Selbstbezug ist kein absoluter Anfang, da er bereits ein Anfangen oder ein Anfang-Machen voraussetzt, dem auch ein Selbstbezug unterliegt. Sein Anfangen, das Anfangen selbst bleibt hierbei unerklärlich und unklärbar. Dem absoluten Anfang eignet keine unmittelbar anfangende Vermittlung mit sich selber; in ihm koinzidieren nicht Vermittlung und Unmittelbarkeit. Für Hegel ist daher der absolute Anfang kein Anfang, der mit etwas – auch nicht mit sich selbst – beginnt. Vielmehr ist der absolute Anfang als ein Bezug ohne jedes ›womit‹, nur als reine Relation zu machen, die eben keinen Selbstbezug meint, sondern eine Gleichheit mit sich selbst, die an ihr selbst Ungleichheit gegen sich selber ist. In der reinen Relation vermitteln sich nicht die Koinzidenz und die Disjunktion zweier Relata. Erst damit wird für Hegel die selbstbezügliche Negation in ihrer methodischen Notwendigkeit – d. h. im Blick auf ihr Werden – einsichtig und nachvollziehbar. 374 375

Henrich, »Hegels Grundoperation« (wie Anm. 98), 227. Ebd., 222.

326

III. Hegel

Negative Selbstbeziehung, der negative Bezug auf einen negativen Bezug, bliebe sonst in der Tat allein schon innerhalb der »Logik« ein zwar nachvollziehbarer, aber nicht notwendig nachzuvollziehender Gedanke. Wenn denn die Hegelsche »Logik« eine Grundoperation besitzt, so wird sie wohl erst verständlich im Blick auf den logischen Anfang. Wäre sie als Operation im logischen Anfang bloß schemenhaft vorweggenommen und nicht grundgelegt, so würde einer der nachfolgenden Abschnitte der »Logik«, wie etwa der Anfang der Wesenslogik, zum Methodenkapitel, das erst dann seine Einsichten preisgeben kann, wenn die Dämmerung der Seinslogik hereingebrochen ist. Auch in methodischer Hinsicht gehört der logische Anfang nicht der Vergangenheit an.

SCHLUSSBEMERKUNG

Der Gang der voranstehenden Untersuchungen zeichnete keinen Fortschritt im Denken nach. Drei Konzepte der absoluten Negation sollten daher auch nicht so aufeinander bezogen werden, daß deren geschichtliche Abfolge eine Figur der gegenseitigen Überbietung beschreibt. Wenn man nämlich das zeitliche Nacheinander dieser Konzepte als ein Fortschreiten im qualitativen Sinn faßt, dann wird die Frage nach dem Maßstab für diesen Fortschritt unumgänglich. Für einen spekulativen Gedanken wie den der absoluten Negation kann dieser Maßstab keiner sein, der von außen an diesen Gedanken herangetragen wird. Als Maßstab kommt hier also wohl nur das Denken selber in Frage. Fortschritt eines Gedankens heißt dann aber nicht, daß im Laufe der Zeit der aufgewendete Scharfsinn zunimmt, den man einem bestimmten Gegenstand des Denkens angedeihen läßt. Fortschritt eines Gedankens meint dann vielmehr, daß das Denken zu sich selber kommt, indem es sich an diesem Gedanken abarbeitet. Die Frage also, wodurch ein spekulativer Gedanke seinen Abschluß findet, läßt sich hier nur noch so beantworten, daß sich in der geschichtlichen Entfaltung dieses Gedankens die Struktur von Denken überhaupt spiegelt.1 Als Alternative zu solch einer kühnen, geschichtsphilosophisch aufgeladenen Konstruktion bietet sich ein Vorgehen an, das den Gedanken der absoluten Negation im Hinblick auf seinen absoluten Charakter ›sachgemäßer‹ zu behandeln versucht: als ein Thema in verschiedenen historischen Einkleidungen. Denn wenn es das Absolute nicht im Plural – auch nicht in Form von Momenten des Absoluten – gibt, so gilt dies offenbar auch für die ihm entsprechende Negation. Die Hauptaufgabe bestünde hier in dem Nachweis, daß der Gedanke der absoluten Negation mutatis mutandis derselbe bleibt und nach Art eines Staffellaufs weitergereicht wird. Nimmt man seinen absoluten Charakter ernst, dann kann dieser Gedanke streng genommen keine oder allenfalls in akzidenteller Hinsicht eine Geschichte haben: die Geschichte seiner Filiationen. Eines ist jedoch die Frage, woher Eckhart, Cusanus oder Hegel das Konzept der absoluten Negation haben, ein anderes, nach der Reichweite und systematischen Funktion zu fragen, die dieses Konzept bei den drei Denkern jeweils besitzt. In der

Jüngst hat G. Hindrichs den ontologischen Gottesbeweis in seiner Abfolge von Anselm bis Schelling als eine solche Aufklärung des Denkens über sich selbst zu fassen versucht. Vgl. G. Hindrichs, Das Absolute und das Subjekt. Untersuchungen zum Verhältnis von Metaphysik und Nachmetaphysik, Frankfurt a. M. 2008. 1

328

Schlussbemerkung

letztgenannten Perspektive ist es keineswegs ausgeschlossen, daß sich ein Gedanke durch seine vielfältigen Inanspruchnahmen anreichert. Gleichwohl führt diese Anreicherung eines Gedankens hier nicht zu einer bloßen Akkumulation von Aspekten. Denn innerhalb verschiedener Fragehorizonte treten bestimmte Aspekte mit diesem Gedanken in den Vordergrund, die ihrerseits bereits gewonnene Einsichten wieder in den Hintergrund treten lassen. Eben deswegen lohnt es auch, verschiedene Ausformungen dieses Gedankens gegeneinander zu halten, ohne diese Ausformungen auf einen (allzu) allgemeinen Nenner zu reduzieren. Der Gedanke der absoluten Negation gewinnt so nicht bloß eine historische Tiefendimension, sondern insbesondere auch in systematischer Hinsicht an Kontur. * Mit Absicht differenzierte das Eckhart-Kapitel den Lesemeister nicht vom Lebemeister. Denn eine derjenigen Fragen, die in Eckharts Augen für die menschliche Lebenspraxis unumgänglich sind, ist diejenige, wie der Vielheit als dem Inbegriff des an sich Nichtigen zu begegnen ist. Diese Frage ist aber für Eckhart nicht ablösbar von derjenigen, wie sich Einheit verwirklichen läßt. Maßgebend hierfür wird die theoretische Einsicht, daß Einheit, geschweige denn absolute Einheit nicht geradewegs die Negation der Vielheit und des Nichtigen sein kann. In Eckharts Konzept der Einheit als der Negatio negationis bildet daher die Verneinung alles Negativen auch nicht das entscheidende Moment. Denn eine solche Verneinung setzte voraus, daß das durch Vielheit gekennzeichnete Endliche selbst etwas wäre, was überhaupt verneint werden kann und soll. Eben das bestreitet Eckhart: Das Erschaffene ist ein purum nihil, an dem auch nichts verneint zu werden braucht. Wenn also Eckhart die absolute Einheit als Negatio negationis faßt, dann kann der negative Bezug der absoluten Einheit nicht bestimmten Gegenständen gelten – sie wäre sonst nicht absolut. Die Negatio negationis, als absolute Negation verstanden, betrifft vielmehr den relationalen Charakter oder die Bezugsform des Absoluten selbst. Dies meint: Es geht Eckhart um einen Begriff von Einheit, die ein absolut gleiches, affirmatives Verhältnis zu allem Verschiedenen aufweist, da nur dieses Verhältnis einen jeweils unterschiedlichen, anderen Bezug auf das unterschiedliche Einzelseiende negiert. Genau diese Grundstruktur einer absoluten Negation prägt auch Eckharts lebensmeisterliche Erwägungen. Das richtige Verhältnis zur Welt besteht für Eckhart nicht in einer Weltverachtung, die alle Beziehungen zum Endlichen abbricht, um so alles Negative zu negieren. Das rechte Verhältnis gestaltet sich vielmehr als eine unterschiedlose, affirmative Hinwendung zum Endlichen, die nicht nach eigenem Gutdünken bestimmte Dinge bevorzugt oder vermeidet.

Schlussbemerkung

329

Mit der Negatio negationis steht also bei Eckhart eine Form von absoluter Negation zur Debatte, die durchaus einen selbstbezüglichen Charakter hat. Die Negation gilt hier nicht bestimmten Gegenständen, sondern dem negativen Charakter, der den bestimmten Bezug auf einen bestimmten Gegenstand begleiten könnte. Im Zentrum des Cusanus-Kapitels stand der Begriff der coincidentia oppositorum. Versteht man diesen Begriff so, daß er für das Absolute die Konjunktion von gegensätzlichen Relaten und damit die Negation ihrer Disjunktion anzeigt,2 dann ergibt sich folgendes Problem: Da im Endlichen niemals Gegensätzliches zusammenfällt, bringt sich der Zusammenfall von Gegensätzlichem im Absoluten nun seinerseits offensichtlich in einen Gegensatz zum Endlichen. Damit ist jedoch nicht der Zusammenfall aller Gegensätze im Absoluten erreicht. Das Problem spitzt sich so auf die Frage zu, wie Cusanus es einsichtig machen kann, daß die absolute Koinzidenz auch diesen Gegensatz zwischen der Konjunktion und Disjunktion von Gegensätzlichem negiert. Der Hauptgedanke war dabei, daß erst die Negation des Gegensatzes zwischen der Konjunktion und der Disjunktion von Gegensätzlichem auch jene Disjunktion in die absolute Koinzidenz integriert. Damit wird für Cusanus verständlich, daß Gott die Disjunktion von Gegensätzen, wie sie für den Bereich des Endlichen konstitutiv ist, auch begründet. In Gestalt der Koinzidenz zeigt sich die absolute Negation als eine Negation von einander ausschließenden Relationstypen, in denen die Glieder eines Gegensatzes stehen können – und also nicht als eine Negation von Relaten, die in einer bestimmten Gegensatzrelation zueinander stehen. Das zentrale Problem, mit dem es der Anfang der Hegelschen »Logik« zu tun hat, besteht nicht in der Suche nach derjenigen logischen Kategorie, mit der der absolute Anfang gemacht werden muß und mit der dann auch eine Bewegung der logischen Kategorien einsetzen kann. Die Hauptaufgabe des logischen Anfangs besteht vielmehr darin, erst einmal einen Begriff vom Werden der Kategorien zu gewinnen. Die logische Kategorie ›Werden‹ bringt daher nicht nachträglich einen Werdeprozeß zum Ausdruck, der sich zwar unausdrücklich, aber faktisch bereits zwischen den ersten beiden Kategorien abgespielt hat. Andernfalls wäre der logische Anfang von einem im vorhinein gesetzten Werden beherrscht, das zwar im nachhinein namhaft, dessen Charakter aber gar nicht einsichtig gemacht werden kann. Wie das Nichts ›aus‹ dem Sein werden soll bzw. geworden ist und umgekehrt, bliebe dann Hegels Geheimnis. Die dritte logische Kategorie muß daher auf den Begriff bringen, was sich ›zwischen‹ den beiden ersten Kategorien, in ihrem gegenseitigen Übergehen,

Die Konjunktion von Gegensätzlichem meint also, daß die im endlichen Bereich geltende Disjunktion – entweder ist etwas A oder non-A – negiert wird und daß somit gilt: Das Absolute ist sowohl A als auch non-A. 2

330

Schlussbemerkung

abspielt: Der Übergang von Sein zu Nichts stellt sich dar als ein Vergehen, das an ihm selbst Entstehen, also Übergang von Nichts ins Sein, ist. Der gegenseitige Übergang von Sein und Nichts ist aber dadurch zu erklären, daß Sein als Relation der absoluten Gleichheit bestimmt wird: als Gleichheit, bei der kein Relatum gedacht werden könnte, das mit Sein in eine Gleichheitsbeziehung tritt. Die erste logische Kategorie ist demnach keine Instanz, die in eine Relation der ›Gleichheit mit …‹ eintreten könnte. Vielmehr ist die absolute Gleichheit dadurch gekennzeichnet, daß sie gar kein ›mit‹ besitzt und sich daher gegen sich selber kehrt. Absolute Gleichheit kann dann nämlich nicht bloß keine Ungleichheit mit sich selbst meinen, sondern auch keine Gleichheit mit sich selbst. Der logische Anfang besteht demnach in einem Selbstbezug, der so gefaßt ist, daß er einen grundlegend negativen Charakter besitzt. Das Konzept der absoluten Negation nimmt hier die Gestalt einer Negation an, die selbstbezüglich ist, die sich mithin selbst negiert und eo ipso als Negation erhält. Absolute Negation ist hier »eben die Negation, welche sich selbst negiert«.3 In der Logik des reinen Seins kommt dies nirgendwo deutlicher zum Ausdruck als in der Formel vom »Verschwinden des Verschwindens«: Der logische Anfang steht im Zeichen eines Verschwindens, das sich im und als Verschwinden erhält. Damit ist gesichert, daß der absolute Anfang mit der Bewegung der Begriffe nicht einfach verschwindet, sondern in dieser Bewegung aufbewahrt bleibt; »dieses scheinbare Ende, der Übergang der lebendigen Dialektik in die tote Ruhe des Resultates ist selbst der Anfang wieder nur dieser lebendigen Dialektik.«4

3 4

Vorlesungen über die Beweise vom Dasein Gottes (WW 17, 446). Ebd.

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PERSONENREGISTER

In das Register wurden nur Autoren von zitierten Texten aufgenommen, also keine Herausgeber von Sammelbänden oder Texteditionen.

Aelred von Rievaulx 55 Aertsen, Jan A. 83 Albert, Karl 90 Albertus Magnus 55 Alvarez Gómez, Mariano 122 f. André, Joao M. 122 Anselm von Canterbury 135, 305, 327 Aristoteles 81, 96–98, 101 f., 191 Augustinus 78, 103 f., 113 Baader, Franz von 11, 31 Beckmann, Till 54, 59, 62 f. Beierwaltes, Werner 19, 21, 28, 31, 38, 65, 80, 137, 164, 175, 183, 185, 190, 209 f., 216–218, 222 Benz, Hubert 119 f., 123, 133 f., 191, 202 Bloom, Harold 121 Blumenberg, Hans 120, 125, 132 f., 141, 193 Bocken, Inigo 119, 144, 153 Böhlandt, Marco 168 f., 173 Bormann, Karl 220 Bredow, Gerda von 19, 148 f., 151 Burkhardt, Bernd 230 Cassirer, Ernst 183 Caputo, John 94, 100 Carnap, Rudolf 240 f. Counet, Jean-Michel 168

Dangelmayr, Siegfried 213 f. Dionysius Areopagita 135 Duclow, Donald F. 167 Düsing, Klaus 253 Ebeling, Hans 89 Enders, Markus 33 Eriugena 135 Faden, Gerhard 55, 81 Fiorentino, Francesco 191 Flasch, Kurt 40, 46, 50 f., 54, 96 f., 99, 120–128, 134 f., 138, 142 f., 145, 152 f., 158, 161 f., 165–167, 169 f., 175–180, 188, 194, 199–201, 203, 205, 212 Folkerts, Menso 171, 218 Fräntzki, Ekkehard 164, 212, 216 Frost, Stefanie 189 Fulda, Hans F. 229 Gadamer, Hans-Georg 11, 229 f., 241, 279, 282, 312 Gandillac, Maurice de 55, 169 Gierer, Alfred 133 Goethe 161 Goris, Wouter 19–21, 25–27, 29 f., 33, 80, 83,, 91, 105, 111 f. Grabmann, Martin 90, 189 Graeser, Andreas 299

352

Personenregister

Haas, Alois M. 33 f., 40 f., 54, 60 f., 81 f., 85, 96 Halbig, Christoph 289 Halfwassen, Jens 217, 291 Hamann, Johann Georg 11 Haubst, Rudolf 123, 140, 189, 193, 203 Haug, Walter 50 f. Hauke, Rainer 19 f. Heidegger, Martin 106, 230 Heine, Heinrich 287 Henrich, Dieter 232, 247, 249, 252, 258–272, 279–282, 287, 318–320, 325 Herold, Norbert 191, 201 Hindrichs, Gunnar 327 Hirschberger, Johannes 135, 140 f. Hof, Hans 19 Hoffmann, Ernst 136 f. Hofmann, Joseph E. 148, 169 f., 174, 218 Hösle, Vittorio 121, 148, 154, 169, 209, 236, 258, 273–276, 279 Hübener, Wolfgang 18 Hummler, Sabine 55 Iber, Christian 259 Inthorn, Julia 170, 174 Imbach, Ruedi 90 Jacobi, Klaus 123, 128–137, 141, 143, 162, 174, 190–192, 196, 208 f. Jean Paul 12, 228 Kampits, Peter 137 Karrer, Otto 54, 189 Kern, Udo 18, 24, 97 f. Kesselring, Thomas 229, 233, 236, 241, 283–285, 288 f. Klibansky, Raymond 170, 192 Koch, Anton Friedrich 300, 303

Koch, Josef 32, 80, 122 f., 179, 193 f., 198 f. Köbele, Susanne 74 Kopper, Joachim 19, 83 Kremer, Klaus 123 Kreuzer, Johann 35, 65, 68 Langer, Otto 44, 47, 96 Largier, Niklaus 33, 55, 65, 67, 96 f., 105 Leinkauf, Thomas 130, 185, 192, 208 Leppin, Volker 77 Libera, Alain de 50 Liebmann, Heinrich 170 Löb, Hermann 173 Löser, Freimut 70, 116 Lossky, Vladimir 19 Maier, Anneliese 166 Manstetten, Reiner 19, 79 f. Meier-Oeser, Stephan 145 Meinhardt, Helmut 11, 133 Mieth, Dietmar 55, 57, 59–61. 64 f., 68, 70 f., 76 Mojsisch, Burkhard 17–19, 21 f., 25, 27–29, 37–41, 46, 49, 80, 82 f., 89–91, 94, 105 f., 111, 157, 159, 217 Moritz, Arne 191, 221 Movia, Giancarlo 301 Nagel, Fritz 143, 168, 173 Nambara, Minoru 80 Pätzoldt, Detlev 198 Panofsky, Erwin 17 Perger, Mischa von 212 f. Peters, Barthold 90 Pfeiffer, Franz 68 f. Platon 244, 248, 250, 252 f., 278, 312

Personenregister

Quint, Josef 41, 57 f., 60–65, 67–70, 72 f., 75 –77, 106, 109 Ritter, Joachim 136, 148, 187, 192 Reder, Michael 170, 174 Reinhardt, Klaus 133 Rombach, Heinrich 123, 130, 133, 191 f., 205 Ruh, Kurt 17, 40 f., 54 f., 57, 65 Schäfer, Rainer 318 Scheier, Claus-Arthur 232 Schirpenbach, Meik Peter 84 f., 91, 111 f. Schnarr, Hermann 154, 199, 204 Schneider, Gerhard 185, 211 Schönberger, Rolf 36, 47, 88, 101, 108– 110 Schulz-Seitz, Ruth-Eva 299, 320 Schulze, Werner 140, 156, 164 Schüßler, Walter 91 f. Schwaetzer, Harald 140. 143, 176, 178, 182, 184 Senger, Hans Gerhard 157 Spengler, Oswald 133 Spies, Thorsten 230 Stachel, Günter 55 Stallmach, Josef 12, 123, 136, 152, 161, 183 Stammkötter, Franz-Bernhard 152, 154 Theunissen, Michael 229, 236, 238 f., 271, 280, 283–286, 290, 298, 319

353

Thiemel, Markus 122 Thomas von Aquin 80, 86, 102, 116, 305 Thomas, Michael 220 Tugendhat, Ernst 114, 238, 241 Tuschling, Burkhard 298, 311 Uebinger, Johannes 166–170 Ulrici, Hermann 254, 257 Utz, Konrad 259 Volkmann-Schluck, Karl Heinz 141 Wackernagel, Wolfgang 103 Wackerzapp, Heinrich 37, 82, 89, 130, 187, 217 Wagner, Hans 299 Wandschneider, Dieter 229, 231, 238, 242–258, 277 f. Wehrli-Jones, Martha 55 Wieland, Wolfgang 231–236, 238–242, 249, 274 Wilpert, Paul 145, 172, 192, 213 f. Winkler, Norbert 22, 207 Wolff, Michael 284, 293 Wyller, Egil A. 216 f. Zapf, Josef 41 Zimmermann, Albert 143 Zum Brunn, Émilie 50