Meister Eckhart in Erfurt 9783110193893, 9783110185836

Meister Eckhart spent some twenty years in the Dominican convent in Erfurt, first as prior and then as first provincial

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Meister Eckhart in Erfurt
 9783110193893, 9783110185836

Table of contents :
Frontmatter
Inhaltsverzeichnis
Zwischen Erfurt und Paris: Eckharts Projekt im Kontext.
Meister Eckharts deutsche reden und predigten in seiner Erfurter Zeit
Meister Eckhart in Bewegung. Das mittelalterliche Erfurt als Wirkungszentrum der Dominikaner im Licht neuerer Funde
Ordensstudium und theologische Profilbildung. Die Studia generalia in Erfurt und Paris an der Wende vom 13. zum 14. Jahrhundert
Theophilus von Stotternheim OP und der zornige Petrus - ein Erscheinungsbericht aus dem Erfurter Dominikanerkloster aus der Zeit Meister Eckharts
Die ,Rede der underscheidunge‘ als Dokument dominikanischer Spiritualität
sich erbilden. Überlegungen zur Semantik der Habitualisierung in den ,Rede der underscheidunge‘ Meister Eckharts
Les ,Entretiens spirituels‘, creuset de l’oeuvre d’Eckhart
„Der Mensch sollte werden ein Gott Suchender.“ Zum Verständnis des Menschen in Eckharts ,Rede der underscheidunge‘
Eckharts Auseinandersetzung mit der thomasischen Kontritionslehre in den ,Reden der Unterweisung‘
Der ,Systematiker‘ Eckhart
Eckharts intellektuelle Mystik
Lesemeistermetaphysik - Lebemeistermetaphysik. Zur Einheit der Philosophie Meister Eckharts
Zwischen Einheitsmetaphysik und Einheitshermeneutik: Eckharts Maimonides-Lektüre und das Datierungsproblem des ,Opus tripartitum‘
Die Freiheit des Denkens. Meister Eckhart und die Pariser Tradition
Kontextualisierung als Interpretation. Gottesgeburt und speculatio im ,Paradisus anime intelligentis‘
Isticheit nach Meister Eckhart. Wege und Irrwege eines philosophischen Terminus
gelâzenheit und abegescheidenheit - zur Verwurzelung beider Theoreme im theologischen Denken Meister Eckharts
„nos filii dei sumus analogice.“ Die Analogielehre Meister Eckharts in der Verteidigungsschrift
Hat es ein Corpus der deutschen Predigten Meister Eckharts gegeben? Liturgische Beobachtungen zu aktuellen philosophiehistorischen Fragen
Deutsche Bibelzitate in den Predigten Meister Eckharts
„Man möhte wunder tuon mit worten“ (Predigt 18). Zum Umgang Meister Eckharts mit Wörtern in seinen deutschen Predigten
Gott ist die Ruhe und der Friede.
Johannes Scotus Eriugena deutsch redivivus: Translations of the ,Vox spiritualis aquilae‘ in Relation to Art and Mysticism at the Time of Meister Eckhart
The Problem of Mystical Union in Eckhart, Seuse, and Tauler
The Reception of Meister Eckhart: Mysticism, Philosophy and Theology in Henry of Friemar (the Elder) and Jordanus of Quedlinburg
Unbekannter Eckhart oder unbekannter Ruusbroec? Zum augustinistischen Kontext der Meister-Eckhart-Rezeption im 15. Jahrhundert
Backmatter

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Meister Eckhart in Erfurt



Miscellanea Mediaevalia Veröffentlichungen des Thomas-Instituts der Universität zu Köln Herausgegeben von Andreas Speer

Band 32

Meister Eckhart in Erfurt

Walter de Gruyter · Berlin · New York

Meister Eckhart in Erfurt

Herausgegeben von Andreas Speer und Lydia Wegener

Walter de Gruyter · Berlin · New York

ISSN 0544-4128 ISBN-13: 978-3-11-018583-6 ISBN-10: 3-11-018583-0 Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. ” Copyright 2005 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, D-10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Einbandentwurf: Christopher Schneider, Berlin Satz: META Systems GmbH, Wustermark Druck und buchbinderische Verarbeitung: Hubert & Co GmbH, Göttingen

Inhaltsverzeichnis

Inhaltsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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I. Kontext Erfurt Andreas Speer (Köln) Zwischen Erfurt und Paris: Eckharts Projekt im Kontext. Mit einer Bibelauslegung zu Sap. 7, 7-10 und Joh. 1, 11-13 . . . . . . . . . . . . Georg Steer (Eichstätt) Meister Eckharts deutsche reden und predigten in seiner Erfurter Zeit . Freimut Lˆser (Augsburg) Meister Eckhart in Bewegung. Das mittelalterliche Erfurt als Wirkungszentrum der Dominikaner im Licht neuerer Funde . . . . . . . . . . . . Helmut G. Walther ( Jena) Ordensstudium und theologische Profilbildung. Die Studia generalia in Erfurt und Paris an der Wende vom 13. zum 14. Jahrhundert . . . . . Gunther Felkel ( Jena) Theophilus von Stotternheim OP und der zornige Petrus - ein Erscheinungsbericht aus dem Erfurter Dominikanerkloster aus der Zeit Meister Eckharts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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II. Die Erfurter ,Rede‘ Walter Senner OP (Paris) Die ,Rede der underscheidunge‘ als Dokument dominikanischer Spiritualität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Burkhard Hasebrink (Freiburg i. Br.) sich erbilden. Überlegungen zur Semantik der Habitualisierung in den ,Rede der underscheidunge‘ Meister Eckharts . . . . . . . . . . . . . . . Marie-Anne Vannier (Metz) Les ,Entretiens spirituels‘, creuset de l’œuvre d’Eckhart . . . . . . . . . Udo Kern (Rostock) „Der Mensch sollte werden ein Gott Suchender.“ Zum Verständnis des Menschen in Eckharts ,Rede der underscheidunge‘ . . . . . . . . . .

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Inhaltsverzeichnis

Mika Matsuda (Kyoto) Eckharts Auseinandersetzung mit der thomasischen Kontritionslehre in den ,Reden der Unterweisung‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178

III. Systematik und Einheit Jan A. Aertsen (Köln) Der ,Systematiker‘ Eckhart . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 Karl Albert (Wuppertal) Eckharts intellektuelle Mystik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231 Theo Kobusch (Bonn) Lesemeistermetaphysik - Lebemeistermetaphysik. Zur Einheit der Philosophie Meister Eckharts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 Yossef Schwartz (Tel Aviv) Zwischen Einheitsmetaphysik und Einheitshermeneutik: Eckharts Maimonides-Lektüre und das Datierungsproblem des ,Opus tripartitum‘ 259

IV. Spekulation und Begriff Wouter Goris (Köln/Amsterdam) Die Freiheit des Denkens. Meister Eckhart und die Pariser Tradition Niklaus Largier (Berkeley) Kontextualisierung als Interpretation. Gottesgeburt und speculatio im ,Paradisus anime intelligentis‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Alessandra Beccarisi (Lecce) Isticheit nach Meister Eckhart. Wege und Irrwege eines philosophischen Terminus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erik Alexander Panzig (Leipzig) gelaˆzenheit und abegescheidenheit - zur Verwurzelung beider Theoreme im theologischen Denken Meister Eckharts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Angela Schiffhauer (Köln) „nos filii dei sumus analogice.“ Die Analogielehre Meister Eckharts in der Verteidigungsschrift . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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V. Die deutschen Predigten Loris Sturlese (Lecce) Hat es ein Corpus der deutschen Predigten Meister Eckharts gegeben? Liturgische Beobachtungen zu aktuellen philosophiehistorischen Fragen 393

Inhaltsverzeichnis

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Nadia Bray (Lecce) Deutsche Bibelzitate in den Predigten Meister Eckharts . . . . . . . . . 409 Dagmar Gottschall (Lecce) „Man möhte wunder tuon mit worten“ (Predigt 18). Zum Umgang Meister Eckharts mit Wörtern in seinen deutschen Predigten . . . . . . . . . . . 427 Markus Enders (Freiburg i. Br.) Gott ist die Ruhe und der Friede. Eine kontextbezogene Interpretation der Predigten 7 (,Populi eius qui in te est, misereberis‘) und 60 (,In omnibus requiem quaesivi‘) des Meister Eckhart . . . . . . . . . . . . . . 450

VI. Rezeption und Mystik Jeffrey F. Hamburger (Cambridge, Mass.) Johannes Scotus Eriugena deutsch redivivus: Translations of the ,Vox spiritualis aquilae‘ in Relation to Art and Mysticism at the Time of Meister Eckhart . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bernard McGinn (Chicago) The Problem of Mystical Union in Eckhart, Seuse, and Tauler . . . . Jeremiah Hackett (South Carolina) The Reception of Meister Eckhart: Mysticism, Philosophy and Theology in Henry of Friemar (the Elder) and Jordanus of Quedlinburg . . Mikhail Khorkov (Moskau) Unbekannter Eckhart oder unbekannter Ruusbroec? Zum augustinistischen Kontext der Meister-Eckhart-Rezeption im 15. Jahrhundert . . .

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Verzeichnis der Handschriften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 601 Namenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 603

Vorwort Dieser 32. Band der ,Miscellanea Mediaevalia‘ geht auf einen besonderen Anlass zurück: auf eine internationale Tagung, die vom 25. bis 28. September 2003 anlässlich des Meister Eckhart-Gedenkjahres, das die Stadt Erfurt für 2003 ausgerufen hatte, stattfand. Das Generalthema der Tagung und eines vorausliegenden zweitägigen Workshops entsprach dem Titel des vorliegenden Bandes: ,Meister Eckhart in Erfurt‘ 1. Gedacht wurde der Rückkehr des Magisters Eckhart von Hochheim aus Paris in den Erfurter Dominikanerkonvent im Frühsommer 1303. Diesem Konvent hatte er bereits nach seinem Pariser Bakkalaureat und vor seinem ersten Pariser Magisterium, von dem er nun heimkehrte, als Prior vorgestanden. Im gleichen Jahr 1303 wurde Eckhart der erste Provinzial der neu begründeten Ordensprovinz Saxonia - ein Amt, das er bis zu seinem zweiten Pariser Magisterium im Jahre 1311 innehatte. In der allgemeinen Wahrnehmung auch der Forschung lagen die Erfurter Jahre bislang allerdings im Schatten seiner übrigen Wirkungsstätten Paris, Straßburg oder Köln. Dies mag verwundern, wenn man bedenkt, dass Eckhart in Erfurt immerhin fast zwei Jahrzehnte - unterbrochen nur durch sein erstes Pariser Magisterium - gelebt und gewirkt hat. Nun ist aber in den letzten Jahren vieles in der Eckhart-Forschung in Bewegung geraten. In diesem Zusammenhang sind auch die Erfurter Jahre Eckharts als Prior und Provinzial immer stärker in den Mittelpunkt des Interesses gerückt. Hierzu haben nicht zuletzt einige bahnbrechende Ergebnisse der historisch-philologischen Eckhart-Forschung beigetragen. Vor allem mit der (Neu-)Datierung wichtiger Schlüsselwerke in die Erfurter Zeit wird das dortige Predigerkloster zu dem Ort, an dem Eckhart seine maßgeblichen Gedanken entwickelt, skizziert und ausgearbeitet hat. Der vorliegende Band, der die Vorträge der Tagung - erweitert um einige Beiträge des Workshops - enthält, präsentiert die Ergebnisse einer Neubestimmung, die im Ausgang von den Erfurter Jahren Eckharts zentrale Themenfelder der Eckhart-Forschung betrifft: etwa den Entwurf zu seinem systematischen Hauptwerk im Kontext seiner übrigen Schriften und Predigten, den Einfluss der Pariser Debatten auf Eckharts Denken, das Verhältnis von Predigt und Traktatwerk, die Hermeneutik der Bibelauslegung, den Zusammenhang von lateinischem und deutschem Werk sowie Fragen von Authentizität, Adressatenkreis und Sprache der deutschen Predigten, schließlich Eckharts Stellung innerhalb der mystischen Tradition. Hinzukommt die genauere Einordnung der Erfurter 1

Siehe hierzu den ausführlichen Tagungsbericht im Bulletin de Philosophie me´die´vale 45 (2003), 259-272.

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Vorwort

Jahre in das Wirken Eckharts: als Seelsorger in bewegter Zeit, als zentrale Figur seines Ordens, als eine führende intellektuelle Persönlichkeit seiner Zeit, und schließlich auch mit Blick auf sein späteres Wirken in Straßburg und Köln oder in Hinblick auf den Avignoneser Prozess. Nicht zuletzt steht das Erfurter Wirken Eckharts in einem engen Zusammenhang mit der Gründungsphase der Dominikaner-Provinz Saxonia, deren erster Provinzial er war. Ein besonderer Dank gilt an dieser Stelle zunächst den Autoren, die auch im Nachgang zu der Tagung mit außergewöhnlichem Einsatz am Gelingen des nun vorliegenden Bandes mitgearbeitet haben. Die Impulse, die von der Tagung bereits für die Eckhart-Forschung ausgegangen sind, werden durch den Band sicherlich noch einmal verstärkt. Hervorzuheben ist vor allem die umfassende Kontextualisierung des Eckhart’schen Œuvre durch das Zusammenwirken vieler Disziplinen: lateinische und deutsche Philologie, Literaturwissenschaft und Philosophie, Theologie und Geschichtswissenschaft, Kunstgeschichte und Liturgiewissenschaft, Spiritualitäts- und Mystikgeschichte. Diese interdisziplinäre Vielfalt spiegeln auch die Beiträge dieses Bandes wider. Als eine weitere Frucht der Erfurter Eckhart-Tagung darf auch die Gründung einer wissenschaftlichen MeisterEckhart-Gesellschaft angesehen werden, die am 24. April 2004 in Würzburg erfolgte. Zu ihrem ersten Präsidenten wurde Prof. Dr. Georg Steer gewählt. Die internationale Tagung ,Meister Eckhart in Erfurt‘ und der vorausgehende Eckhart-Workshop wurden veranstaltet von der Universität Erfurt und der Akademie gemeinnütziger Wissenschaften zu Erfurt mit Unterstützung der Kulturstiftung des Bundes, der Deutschen Forschungsgemeinschaft, der Vereinigten Kirchen- und Klosterkammer Erfurt und der Stadt Erfurt. Allen fördernden Institutionen gilt der aufrichtige Dank des Unterzeichnenden, der die wissenschaftliche Leitung übernommen hatte und zunehmend auch die organisatorische Verantwortung für diese große wissenschaftliche Veranstaltung übernahm. Hierbei konnte ich stets auf die großartige Unterstützung von Herrn Dr. Markus Hille (Weimar/Erfurt) und der Mitarbeiter meines damaligen Würzburger Lehrstuhls zählen, ohne die diese doppelte Aufgabenstellung nicht hätte gemeistert werden können. Ein besonderer Dank gebührt in diesem Zusammenhang ferner dem Kanzler der Universität Erfurt, Herrn Martin Henkel-Ernst, dem Wissenschaftlichen Sekretar der Akademie gemeinnütziger Wissenschaften zu Erfurt, Herrn Privatdozenten Dr. Jürgen Kiefer ( Jena), und dem Universitätsbeauftragten der Stadt Erfurt, Herrn Christian Piossek. Die Tagung wie auch der Workshop fanden an besonderen, geschichtsträchtigen Orten statt. Während für den Workshop der historische Kapitelsaal der Erfurter Predigerkirche, der noch auf die Zeit Eckharts zurückgeht, zur Verfügung stand, versammelten sich die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Eckhart-Tagung im ,Coelicum‘ der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Erfurt auf dem Domberg. Ein namentlicher Dank für dieses unvergessliche Ambiente gilt dem Pfarrer der Predigergemeinde Johannes Stemmler und dem damaligen Dekan der Katholisch-Theologischen Fakultät und Vizepräsidenten der Universität Erfurt Prof. Dr. Eberhard Tiefensee. Dank sei ferner dem Leiter

Vorwort

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der wissenschaftlichen Sondersammlung der Universitäts- und Forschungsbibliothek Erfurt/Gotha, die auch die berühmte ,Bibliotheca Amploniana‘ enthält, Herrn Dr. Rupert Schaab gesagt, der uns den neuen Ort der alten Sammlung persönlich vorstellte, sowie dem Oberbürgermeister der Stadt Erfurt, Herrn Dr. Manfred Ruge, der die Teilnehmer der Eckhart-Tagung nach einem öffentlichen Abendvortrag im Festsaal der Stadt Erfurt empfing, und dem Präsidenten der Akademie gemeinnütziger Wissenschaften zu Erfurt, Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Werner Köhler, für seinen warmherzigen Abschiedsempfang. Ein besonderer Höhepunkt war ferner die zeitgleiche Eröffnung der Ausstellung ,Homo doctus homo sanctus. Wer ist Meister Eckhart?‘ im Stadtmuseum ,Haus zum Stockfisch‘, die einzigartige Exponate in einer äußerst gelungenen Ausstellungspräsentation darbot 2. Ein Dank gilt dem Direktor des Stadtmuseums, Herrn Hardy Eidam, sowie dem Direktor der Kunsthalle Erfurt im ,Haus zum Roten Ochsen‘, Herrn Kai Uwe Schierz, für die hervorragende Zusammenarbeit. Schließlich sei dem Verlag Walter de Gruyter und namentlich Frau Dr. Gertrud Grünkorn für die Zustimmung zur Aufnahme des vorliegenden Bandes in die ,Miscellanea Mediaevalia‘ und für dessen wie immer hervorragende Ausstattung gedankt. Innerhalb der ,Miscellanea Mediaevalia‘ ist dieser Band inzwischen der dritte, der auf eine Tagung in Erfurt zurückgeht 3. Der Band ist schließlich in Köln am Thomas-Institut fertiggestellt worden. Ein letzter, besonders herzlicher Dank gilt daher meinen hiesigen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, namentlich Herrn Thomas Jeschke für die Mühe des finalen Korrekturlesens und der Erstellung der Indices, und insbesondere meiner Mitherausgeberin Frau Lydia Wegener, die den vorliegenden Band in dieser Qualität für den Druck vorbereitet hat. Dass sie dieses Vorwort nicht mitzeichnet, liegt - wie in dem Vorwort selbst deutlich geworden sein dürfte - allein an der komplexen Entstehungsgeschichte dieses Bandes, die viele Stationen umfasst. Diese Geschichte ist nunmehr mit dem Erscheinen des Bandes an ein glückliches Ende gelangt. Gespannt warten wir nun auf das Urteil der Leser und auf die Diskussionen in der Eckhart-Forschung. Köln, im September 2005

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Andreas Speer

Der Katalog unter dem gleichnamigen Titel ,Homo doctus - homo sanctus. Wer ist Meister Eckhart?‘ wurde im Auftrag der Stadtverwaltung Erfurt herausgegeben von Hardy Eidam, Ilka Thom und Ulrich Spannaus, Erfurt 2003. Siehe die beiden Bände: A. Speer (ed.), Die Bibliotheca Amploniana. Ihre Bedeutung im Spannungsfeld von Aristotelimus, Nominalismus und Humanismus (Miscellanea Mediaevalia 23), Berlin-New York 1995, und J. A. Aertsen/A. Speer (eds.), Was ist Philosophie im Mittelalter? Akten des X. Internationalen Kongresses für mittelalterliche Philosophie der Socie´te´ Internationale pour l’E´tude de la Philosophie Me´die´vale vom 25. bis 30. August 1997 in Erfurt (Miscellanea Mediaevalia 26), Berlin-New York 1998. Zu Meister Eckhart siehe in dem zuerst genannten Band den bahnbrechenden Beitrag von Loris Sturlese zur Datierung des ,Opus tripartitum‘ (ibid., 434-446) und in dem an zweiter Stelle genannten Band die Beiträge der Eckhart-Sektion (ibid., 683-711).

I. Kontext Erfurt

Zwischen Erfurt und Paris: Eckharts Projekt im Kontext. Mit einer Bibelauslegung zu Sap. 7, 7-10 und Joh. 1, 11-13 Andreas Speer (Köln) I. Meister Eckhar t in Erfur t: ein Forschungsdesiderat An keinem Ort ist er länger gewesen und nirgends hat er länger gewirkt als in Erfurt. Das zeigt bereits ein flüchtiger Blick auf die biographischen Daten des Eckhart von Hochheim. Doch zugleich ist über kaum eine Periode seines Lebens und Schaffens so wenig bekannt wie über die Erfurter Zeit - selbst wenn man die frühesten Jahre ausklammert, über die wir keine Quellen besitzen: sein Noviziat und Hausstudium im Erfurter Predigerkloster, einem der ältesten und angesehensten Konvente der Dominikanerprovinz Teutonia, seine Gelübde und die Priesterweihe, sodann die weitere Ausbildungs- und Studienzeit zunächst wahrscheinlich in Köln - ein Hinweis in Eckharts erster überlieferter Predigt auf Albertus Magnus legt dies nahe 1 - und schließlich in Paris. Erst von dort besitzen wir ein erstes Dokument, als der frater Eckhardus - inzwischen Lector sententiarum an der Theologischen Fakultät von Paris - am Ostertag des 18. April 1294 als Festprediger buchstäblich aktenkundig wird 2. Mit Paris verbinden sich gewöhnlich die akademische Karriere des Tambacher Rittersohnes und das lateinische Werk: Denn selbstverständlich schreibt der Pariser Theologieprofessor in der damaligen lingua franca. Die Straßburger Zeit zwischen 1313 und 1323 als Vikar des Ordensgenerals hingegen steht im Zeichen wachsender innerkirchlicher Auseinandersetzungen mit den so genannten ,Brüdern und Schwestern von der Sekte des freien Geistes und der freiwilligen Armut‘ und unter dem Einfluss der Beginenspiritualität. Der Schwerpunkt verlagert sich auf die Predigten. Eckhart spricht und schreibt nunmehr vorwiegend Deutsch, und dies auch in Köln, seiner letzten Station, die mit dem Prozess, der ihn bis nach Avignon an den päpstlichen Hof führt, einen jähen Abschluss findet 3. Und schließlich weist die biographische Forschungstopologie über Eck1 2

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Sermo Paschalis a. 1294 Parisius habitus (LW V, 145, 5). Cf. den in einer Kremsmünster Handschrift überlieferten ,Sermo Paschalis a. 1294 Parisius habitus‘ (LW V, 133-148; siehe auch nt. 1); Acta Echardiana, n. 4 (LW V, 157); ferner K. Ruh, Geschichte der abendländischen Mystik, vol. 3: Die Mystik des deutschen Predigerordens und ihre Grundlegung durch die Hochscholastik, München 1996, 236 sq. Cf. Ruh, Geschichte der abendländischen Mystik (nt. 2), 240-245. Zum philosophisch-theologischen Hintergrund der Auseinandersetzungen siehe auch N. Largier, Das Glück des Menschen. Diskussionen über beatitudo und Vernunft in volkssprachlichen Texten des 14. Jahrhunderts, in: J. A. Aertsen/K. Emery, Jr./A. Speer (eds.), Nach der Verurteilung von 1277. Philosophie und

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Andreas Speer

harts Lebenszeit hinaus, wenn wir die Komplexität der Eckhart-Überlieferung und Eckhart-Rezeption überwiegend im deutschen Sprachraum in den Blick nehmen: von Basel über Konstanz und Straßburg bis an den Niederrhein, etwa im Baseler Tauler-Druck und im so genannten Seuse-,Exemplar‘, oder aber in Melk - dort verbunden mit der Gestalt eines gelehrten benediktinischen Laienbruders namens Lienhart Peuger 4. Nun also Eckhart in Erfurt. Es erhebt sich die Frage: Warum stand Erfurt obgleich Eckharts Heimatkloster und Wirkungsort in ordenspolitisch wichtiger Funktion für fast zwei Jahrzehnte - bislang so sehr im Schatten der übrigen Plätze seines Wirkens? Und worin liegt nun gerade das aktuelle Interesse an der Erfurter Zeit begründet, sieht man einmal von dem Anlass des für 2003 ausgerufenen Erfurter Eckhart-Jahres ab? Beide Fragen hängen eng miteinander zusammen und sie werfen ein Licht auf die Entwicklung der Meister EckhartForschung. Blicken wir jedoch zunächst nach Paris, dem Ort der akademischen Formierung und Karriere Eckharts. Mit Recht hat Kurt Ruh - ganz im Gegensatz zu dem gern gepflegten Bild vom großen Außenseiter Eckhart, der im Widerspruch zur vorherrschenden akademischen Leitkultur stand - von der „steilen Gelehrten- und Ämterlaufbahn“ eines Hochbegabten gesprochen 5, die im Grunde erst mit der Kölner Anklageerhebung einen Bruch erleidet. Auch Loris Sturlese sieht in Eckhart primär einen Intellektuellen internationalen Rangs, der zudem aktiv die Politik seines Ordens mitgestaltet habe 6. Mithin müssen die Kontroversen des Pariser Magisters zunächst auch als durchaus üblicher universitärer Disput angesehen werden, in dem Eckhart - bisweilen in aller Deutlichkeit - Partei bezog, etwa in der Debatte mit Gonsalvus und Scotus über die visio beatifica. Dies zeigen insbesondere die ,Quaestiones Parisienses‘, die während seines ersten Pariser Magisteriums entstanden, aber nicht nur diese. So weist etwa die Erfurter Predigt 9 ,Quasi stella matutina‘, die Eckhart wahrscheinlich nicht lange nach der Rückkehr von seinem ersten Pariser Magisterium gehalten hat, deutliche Bezüge zu den groben und kleinen Meistern der schuole auf 7, in der Eckhart eigenem Bekunden nach auch selbst gesprochen hat 8.

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Theologie an der Universität von Paris im letzten Viertel des 13. Jahrhunderts. Studien und Texte (Miscellanea Mediaevalia 28), Berlin-New York 2001, 827-855. Siehe hierzu den ausführlichen Überblick bei G. Steer, Die Schriften Meister Eckharts in den Handschriften des Mittelalters, in: H.-J. Schiewer/K. Stackmann (eds.), Die Präsenz des Mittelalters in seinen Handschriften. Ergebnisse der Berliner Tagung in der Staatsbibliothek zu Berlin Preußischer Kulturbesitz, 06.-08. April 2000, Tübingen 2002, 209-302, zu den genannten Beispielen bes. 262-281; ferner den Beitrag von F. Löser in diesem Band, 56-74, und Lösers große Studie: Meister Eckhart in Melk. Studien zum Redaktor Lienhart Peuger (Texte und Textgeschichte 48), Tübingen 1999. Ruh, Geschichte der abendländischen Mystik (nt. 2), 236. Siehe den Beitrag von L. Sturlese in diesem Band, 393-408, bes. 395. Pr. 9 ,Quasi stella matutina‘ (DW I, 145, 7-8): ,Grobe meister sprechent‘ (gemeint sind Gonsalvus und Scotus); ibid. (DW I, 147, 3): ,Kleine meister lesent‘. Pr. 9 (DW I, 152, 9-10): „Ich sprach in der schuole, daz vernünfticheit edeler wære dan wille, und gehœrent doch beidiu in diz lieht.“ - Für den Gesamtzusammenhang siehe ibid., 145, 7-147, 2 sowie 150, 1-154, 6. Siehe hierzu den Kommentar von N. Largier in der von ihm für die Bibliothek des

Zwischen Erfurt und Paris: Eckharts Projekt im Kontext

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Für lange Zeit, im Grunde bis vor zehn Jahren, wurde mit den Aufenthalten in Paris und insbesondere mit dem zweiten Pariser Magisterium auch der monumentale Entwurf des ,Opus tripartitum‘ verbunden, in dem Eckhart axiomatische Methode, scholastische Disputation und biblische Exegese auf vorher nicht gekannte Weise miteinander vereint. Dass dieses umfassend angelegte systematische Großprojekt, das Kurt Ruh als Grundriss einer christlichen Metaphysik bezeichnet hat 9, ein Torso blieb, wurde zumeist mit Eckharts Weggang aus Paris und seinen neuen Aufgaben in Straßburg erklärt 10. Neue Untersuchungen an der Erfurter Handschrift des ,Opus tripartitum‘, Cod. Amplon. F 181, durch Loris Sturlese, die dieser erstmals im Jahre 1993 anlässlich der AmplonianaKonferenz im Augustinerkloster zu Erfurt vorstellte, haben zu einer Revision der Chronologie geführt, die inzwischen von der Eckhart-Forschung allgemein akzeptiert worden ist. Die drei Textabschnitte des Erfurter Kodex spiegeln demnach drei Phasen der Ausarbeitung des ,Opus tripartitum‘ durch Eckhart wider, beginnend mit den Prologi, dem Ecclesiasticus- und Sapientiakommentar. Die erste Phase datiert Sturlese bereits auf das Jahr 1305. Eckhart muss also recht bald nach seiner Rückkehr aus Paris mit den Arbeiten an seiner ,Summa‘ begonnen haben. Auch wenn der Johanneskommentar und der ,Liber parabolarum Genesis‘ in die folgende Pariser Zeit und später (d. h. nach 1313) datiert werden müssen, so fällt das ,Opus tripartitum‘ in seinem ersten Entwurf sowie in den ersten Phasen seiner Ausarbeitung damit in die Erfurter Zeit zwischen die beiden Pariser Magisterien Eckharts. Auf diese Weise rückt - gegenüber der hergebrachten Einteilung in ein Früh- und in ein Spätwerk - auch das Œuvre Eckharts stärker zusammen, stellt sich die Frage nach seiner Einheitlichkeit bzw. nach seiner Entwicklung neu 11. In dieselbe Zeit des Provinzialats werden ferner diejenigen Predigten Eckharts datiert, die sich in der wahrscheinlich in den späten dreißiger Jahren des 14. Jahrhunderts im Erfurter Predigerkloster zusammengestellten Predigtsammlung finden, die unter dem Titel ,Paradisus anime intelligentis‘ oder ,Paradis der fornuftigen sele‘ überliefert ist 12. Diesem Predigtcorpus, das 64 Predigten aus der

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Mittelalters besorgten Werkausgabe der Predigten (Meister Eckhart: Werke I), Frankfurt a. M. 1993, 842-854, mit zahlreichen weiterführenden Literaturhinweisen; ferner Ruh, Geschichte (nt. 2), 272 sq., sowie den Beitrag von W. Goris in diesem Band, 283-297. Cf. Ruh, Geschichte (nt. 2), 305. Cf. ibid., 292. Cf. L. Sturlese, Meister Eckhart in der Bibliotheca Amploniana. Neues zur Datierung des ,Opus tripartitum‘, in: A. Speer (ed.), Die Bibliotheca Amploniana. Ihre Bedeutung im Spannungsfeld von Aristotelismus, Nominalismus und Humanismus (Miscellanea Mediaevalia 23), Berlin-New York 1995, 434-446; hierzu auch Steer, Die Schriften (nt. 4), 219-222; ferner den Beitrag von G. Steer in diesem Band, 34-55; auch der Beitrag von Y. Schwartz - gleichfalls in diesem Band (259-279) - widerspricht trotz einiger anderer Akzentsetzungen dieser Neubewertung im Grundsatz nicht. Cf. Paradisus anime intelligentis (Paradis der fornuftigen sele). Aus der Oxforder Handschrift Cod. Laud. Misc. 479 nach E. Sievers’ Abschrift ed. v. Ph. Strauch, Berlin 1919; zweite Auflage ed. u. mit einem Nachw. versehen v. N. Largier u. G. Fournier (Deutsche Texte des Mittelalters 30), Hildesheim 1998.

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Andreas Speer

Glanzzeit des Erfurter Dominikanerkonvents zur Zeit von Eckharts Provinzialat enthält, kommt insofern eine besondere Bedeutung zu, als es mit 32 EckhartPredigten für lange Zeit neben den in der ,Rechtfertigungsschrift‘ genannten Predigten der einzige Anhaltspunkt zur Rekonstruktion der durchweg sekundär und verstreut überlieferten deutschen Eckhart-Predigten war. Die ,Paradisus‘Sammlung ist zugleich ein wichtiges Element der Eckhart-Rezeption, denn sie stellt den vorsichtigen Versuch dar, dem einstmaligen Meister, der als zweifacher Inhaber des theologischen Lehrstuhls in Paris nach der kirchlichen Verurteilung nicht in den offiziellen Schriftstellerkatalog der Dominikaner aufgenommen wurde, wieder einen Platz in den Anthologien geistlichen Schrifttums zu geben. Der programmatische Titel der Predigtsammlung verweist zudem auf ein mögliches ordenspolitisches Motiv für diese Rehabilitierung im Kontext der Auseinandersetzung mit den Franziskanern um den Primat von Vernunft oder Willen 13. Entsprechende Anhaltspunkte finden sich insbesondere in der bereits genannten Predigt 9 ,Quasi stella matutina‘, die Ruh als die Schlüsselpredigt des ,Paradisus‘ bezeichnet 14. Doch ist diese an der visio-Frage festgemachte Kontroverse, die eine grundsätzliche anthropologische Dimension besitzt, im Grunde eine Pariser Debatte. Die gleiche dominikanische Perspektive zeigt sich nach Niklaus Largier auch in Hinblick auf die Dionysius-Lektüre, die Eckharts Denken zum einen eng an das des Areopagiten heranführen möchte, andererseits dem dionysischen Denken ein Profil zu verleihen sucht, das sich von der Interpretation in lateinischen und volkssprachlichen Texten franziskanischer Herkunft deutlich unterscheidet 15. Für Kurt Ruh kommt daher den ,Paradisus‘-Predigten, deren redaktionelle Bearbeitung gemäß der neueren Forschung in die Blütezeit des Erfurter Dominikanerkonvents fällt 16, eine große methodische Bedeutung zu. Sie sind für ihn ein Exempel für eine doppelte Begegnung: einerseits zwischen dem Gelehrten und Magister der Pariser Universität und seinem Publikum, das er in der Volkssprache adressiert, und sodann mit Bezug auf die Umsetzung theologischer Inhalte und Argumentationsgänge in die Volkssprache. Hierbei billigt Ruh dem deutschen Idiom einen Vorrang nicht nur an Bildhaftigkeit, sondern auch an gedanklicher Präzision zu 17. Wenngleich dieses Urteil auf einer Überbetonung des deutschen gegenüber dem lateinischen Werk beruht, so ist gleichwohl die Bedeutung der sich hier zeigenden Bemühungen Eckharts um eine volkssprach13

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Cf. Ruh, Geschichte (nt. 2), 273-279, sowie die Beiträge von G. Steer (46-54) und N. Largier (298-313) in diesem Band. Die deutsche Predigt steht in der Quint’schen Zählung an Nr. 9, in der Zählung des ,Paradisus‘ als Predigt 33. Cf. Ruh, Geschichte (nt. 2), 276 sq. Einen Beitrag zu einer liturgischen Neuordnung der deutschen Predigten hat in diesem Band L. Sturlese am Beispiel des ,Paradisus‘ vorgelegt. Cf. das Nachwort von N. Largier in der von ihm und G. Fournier besorgten Neuausgabe des ,Paradisus‘ (nt. 12), 171-188; ferner den Beitrag von N. Largier in diesem Band, 298-313. Siehe hierzu die Beiträge von G. Steer, 46-49, und N. Largier, 298-300, in diesem Band. Cf. Ruh, Geschichte (nt. 2), 279.

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liche philosophisch-theologische Terminologie nicht hoch genug einzuschätzen. Die systematische begriffsgeschichtliche Forschung steht im Grunde noch am Anfang. Neben den ,Paradisus‘-Predigten blieben für die Erfurter Jahre Eckharts lange Zeit nur die ,Rede der underscheidunge‘ aus seinem Priorat, gerichtet an die ,geistlichen Kinder‘, „die ihn zu diesen Reden nach vielem fragten, als sie zu abendlichen Lehrgesprächen (in collationibus) beieinander saßen“ 18. Doch im Gegensatz zu der lange vorherrschenden Einschätzung als wenig spekulative Frühschrift im Dienst der Brüder- und Novizenseelsorge treten gleich zu Beginn der Erfurter ,Rede‘, die Eckhart selbst als collationes bezeichnet, bereits deutlich die großen Themen seiner späteren Zeit hervor: Demut, Gelassenheit, Abgeschiedenheit und ebenso - darauf weist Burkhard Hasebrink hin - jenes präsentisch-performative Moment, das die späteren Predigten kennzeichnet 19. Insofern besitzen diese Reden durchaus programmatischen Charakter. So erläutert Eckhart gleich zu Beginn die Gehorsamsregel als ein Herausgehen aus dem eigenen Ich, als ein sich des Seinen Entschlagen, damit Gott notgedrungen (von noˆt) ,eingehen‘ muss. In der Entäußerung des eigenen Willens, so Eckhart, muss Gott für mich wollen; andernfalls versäumt er etwas für sich: „Darin, wo ich von meinem Ich lasse, da muß er [Gott] für mich notwendig alles das wollen, was er für sich selber will, nicht weniger noch mehr, und in derselben Weise, mit der er für sich will. Und täte Gott das nicht - bei der Wahrheit, die Gott ist, so wäre Gott nicht gerecht, noch wäre er Gott, was ›doch‹ sein natürliches Sein ist.“ 20

Deutlich erkennbar handelt es sich hier nicht um Anweisungen zur Frömmigkeit - weder für Klosterbrüder noch für solche, die meinen, Gott vorzüglich in der Kirche finden zu können. Auch in dieser Zurückhaltung hinsichtlich konkreter Lebensregeln bleibt sich Eckhart treu. Denn „mit wem es recht steht“, so seine Überzeugung, „wahrlich, dem ist’s an allen Stätten und unter allen Leuten recht“. Der hat Gott in Wahrheit bei sich, und zwar „an allen Stätten und auf der Straße und bei allen Leuten ebensogut wie in der Kirche oder in der Einöde oder in der Zelle“ 21. 18

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RdU (DW V, 185, 1-6): „Daz sint die rede, die der vicarius von türingen, der prior von erfurt, bruoder eckhart predigerordens mit solchen kindern haˆte, diu in dirre rede vraˆgeten vil dinges, doˆ sie saˆzen in collationibus mit einander.“ Cf. hierzu den Beitrag von B. Hasebrink in diesem Band, 122-136; siehe auch id., Formen inzitativer Rede bei Meister Eckhart. Untersuchungen zur literarischen Konzeption der deutschen Predigt (Texte und Textgeschichte 32), Tübingen 1992. RdU, c. 1 (DW V, 187, 6-188, 2): „Alsoˆ in allen dingen, daˆ ich mir niht enwil, daˆ wil mir got. Nuˆ merke! Waz wil er mir, daˆ ich mir niht enwil? Daˆ ich mich ane laˆze, daˆ muoz er mir von noˆt wellen allez, daz er im selben wil, noch minner noch meˆr, und mit der selben wıˆse, daˆ er im mit wil. Und entæte got des niht, in der waˆrheit, diu got ist, soˆ enwære got niht gereht noch enwære got, daz sıˆn natiurlich wesen ist.“ RdU, c. 6 (DW V, 201, 3-7): „Wem reht ist, in der waˆrheit, dem ist in allen steten und bıˆ allen liuten reht […]. Wer aber got rehte in der waˆrheit haˆt, der haˆt in in allen steten und in der straˆze und bıˆ allen liuten als wol als in der kirchen oder in der einœde oder in der zellen.“

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Dieser Befund wird bestätigt durch die Nähe zu dem weihnachtlichen Predigtzyklus ,Von der eˆwigen geburt‘, dessen Rekonstruktion und Edition durch Georg Steer neben der kritischen Edition und der darauf basierenden Neubewertung der so genannten ,Rechtfertigungsschrift‘, Eckharts ,Responsio ad articulos sibi impositos‘ durch Loris Sturlese, als ein wichtiger Markstein der jüngeren Eckhart-Forschung gelten kann 22. Georg Steer hat die Verbindung dieser Predigten, die das zentrale Thema der Gottesgeburt entfalten, mit den ,Rede der underscheidunge‘ sowie mit einer Reihe von lateinischen Sermones und Lectiones herausgearbeitet und eine Datierung unmittelbar nach Eckharts erstem Pariser Magisterium 1302/3 vorgeschlagen, also - folgt man Sturleses neuer Werkchronologie - ganz in der Nähe zur ersten Arbeitsphase am ,Opus tripartitum‘ 23. Man kann demnach feststellen: Es ist in den letzten Jahren vieles in der Eckhart-Forschung in Bewegung geraten. Viele wichtige Impulse kamen aus der Eckhart-Philologie, angestoßen durch neue Quellenfunde und durch methodische Fortschritte. Dies gilt für die Einbeziehung kodikologischer Forschungen ebenso wie für sprachgeschichtliche Untersuchungen, für neue disziplinäre Durchblicke und interdisziplinäre Zusammenhänge, insbesondere für die Zusammenschau von lateinischem und deutschem Werk. Die Produktivität dieser Entwicklung zeigt sich gerade mit Bezug auf die große Werkausgabe, die wesentlich zu dieser neuen Dynamik der Eckhart-Forschung beigetragen hat und diese widerspiegelt. Davon zeugen auch die Beiträge dieses Bandes, die viele neue Fragen aufwerfen und neue Durchblicke wagen. Fragt man nach gemeinsamen Tendenzen der neueren Eckhart-Forschung, so rücken insbesondere die Erfurter Jahre Eckharts als Prior und Provinzial immer stärker in den Mittelpunkt des Interesses. Mit der (Neu-)Datierung wichtiger Schlüsselwerke in diese Periode wird das Erfurter Predigerkloster zu dem Ort, an dem Eckhart seine maßgeblichen Gedanken entwickelt, skizziert und ausgearbeitet hat. Von einem besonderen Gewicht ist weiterhin die enge Verbindung mit Paris, sind doch die Erfurter Jahre eingerahmt durch Eckharts Pariser Tätigkeit zunächst als Lector sententiarum nach dem Abschluss seiner Studien, sodann zweimal als Magister actu regens auf dem Ausländern vorbehaltenen theologischen Lehrstuhl der Dominikaner, den auch Thomas von Aquin zweimal innehatte. Wenn wir also nach dem Kontext von Eckharts Projekt suchen, dann müssen wir gleichermaßen nach Paris wie nach Erfurt blicken. Mit diesen Orten verbinden sich die beiden Wirkungskreise: die universitäre Lehre und die Ordensseelsorge. Die beiden Jahrzehnte zwischen 1293 und 1313 bilden somit 22

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Cf. G. Steer, Meister Eckharts Predigtzyklus von der ˆewigen geburt. Mutmaßungen über die Zeit seiner Entstehung, in: W. Haug/W. Schneider-Lastin (eds.), Deutsche Mystik im abendländischen Zusammenhang. Neu erschlossene Texte, neue methodische Ansätze, neue theoretische Konzepte. Kolloquium Kloster Fischingen 1998, Tübingen 2000, 253-281. Der Predigtzyklus, dt. Predigten 101-104 (= Pfeiffer I-IV), ist erschienen in DW IV/1, ed. v. G. Steer unter Mitarb. v. W. Klimanek u. F. Löser, Stuttgart 2003, 279-610; L. Sturlese (ed.), Mag. Echardi Responsio ad articulos sibi impositos de scriptis et dictis suis (LW V, 5.-8. Lieferung), Stuttgart 2000. Cf. Steer, Meister Eckharts Predigtzyklus (nt. 22), 270-276.

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nicht nur den Höhepunkt der Gelehrten- und Ämterlaufbahn Meister Eckharts, in ihnen sind auch die maßgeblichen intellektuellen und geistlichen Einflüsse und Motive aufzusuchen, die seinem spekulativen Denkentwurf wie seiner Predigttätigkeit ihre unverwechselbare Prägung und Spezifik geben. Nicht zuletzt stellt sich die Frage nach der Beziehung zwischen lateinischem und deutschem Werk - ein gerade für die Erfurter Zeit bedeutsames Thema - und damit nach der Einheit von Eckharts Denken, soweit es sich in seinem Œuvre widerspiegelt. II. Eckhar ts Projekt im Kontext der Pariser Debatten Zwei Themenkreise scheinen mir mit Blick auf diese Fragen und auf die Forschungsdiskussion besonders aufschlussreich zu sein: (i) zum einen die besondere Methode Meister Eckharts und damit verbunden sein Philosophie- und Theologieverständnis 24, (ii) zum anderen die Intellektlehre im Kontext der visiound beatitudo-Problematik, einer Thematik, die von den vierziger Jahren des 13. Jahrhunderts an den Subtext für viele bedeutende epistemologische und psychologische, metaphysische und ethisch-anthropologische Debatten bildet 25. Beide Themen haben ihren traditionellen Sitz in den Pariser Debatten des ausgehenden 13. und frühen 14. Jahrhunderts. Wie engagiert, ja bisweilen aufgeheizt hier diskutiert wurde, zeigen nicht zuletzt die so genannten Verurteilungen von 1277 oder die Verurteilung von Marguerite Porete auf dem Konzil von Vienne im Jahre 1312, mit deren Ideen Eckhart während seines zweiten Pariser Magisteriums in Berührung kam, zumal der dominikanische Inquisitor Wilhelm von Paris Eckharts Hausgenosse war 26. Als Eckhart zum ersten Mal in Paris weilt, wird er Zeuge lebhafter Debatten, die vor allem um das Wissenschaftssubjekt der Theologie und damit um ihr Selbstverständnis sowie um ihr Verhältnis zu den übrigen Wissenschaften kreisen. Ihre Zuspitzung findet diese Diskussion noch durch die Frage nach der in diesem Erkenntnisstreben erreichbaren Glückseligkeit. Das philosophische Glücksideal des so genannten ethischen Aristotelismus einiger Pariser Artes24

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Cf. A. de Libera, Maıˆtre Eckhart et la mystique rhe´nane, Paris 1999, bes. 23-73; J. A. Aertsen, Meister Eckhart: Eine außerordentliche Metaphysik, in: Recherches de The´ologie et Philosophie me´die´vales 66 (1999), 1-20; A. Speer, Sapientia nostra. Zum Verhältnis von philosophischer und theologischer Weisheit in den Pariser Debatten am Ende des 13. Jahrhunderts, in: Aertsen/ Emery, Jr./Speer (eds.), Nach der Verurteilung von 1277 (nt. 3), 248-275, bes. 266-270. Cf. Maıˆtre Eckhart a` Paris. Une critique me´die´vale de l’ontothe´ologie. Les Questions parisiennes n∞ 1 et n∞ 2 d’Eckhart. E´tudes, textes et traductions par E. Zum Brunn, Z. Kaluza, A. de Libera, P. Vignaux et E. We´ber (Bibliothe`que de l’E´cole des Hautes E´tudes; Section des Sciences Religieuses LXXXVI), Paris 1984; C. Trottmann, La vision be´atifique. Des disputes scolastiques a` sa de´finition par Benoıˆt XII (Bibliothe`que des E´coles francX aises d’Athe`nes et de Rome 289), Rom 1995. Zum Hintergrund cf. K. Emery, Jr., Margaret Porrette and Her Book, in: Margaret Porrette: The Mirror of Simple Souls, transl. with an interpretative essay by E. Colledge, O.S.A./J. C. Marler/J. Grant, Notre Dame 1999, VII-XXXII.

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Magister, dass der Mensch in der besten ihm möglichen Verfassung lebt, wenn er sein Leben in das Studium der Weisheit setzt, wie es das Leben des Philosophen sei 27, wie auch der theologische Einspruch bezüglich der Heilsbedeutsamkeit eines solchen Wissens, das seinem Weisheitsanspruch, der am Ziel der Glückseligkeit zu messen ist, nicht gerecht zu werden vermag, beruhen gleichermaßen auf dem Verständnis der Theoria als einer Lebensform, welche auch die Vervollkommnung der moralischen Tugenden einschließt und zur höchsten Verwirklichung dessen führt, das der Mensch seinem Wesen nach ist 28. Diese Problematik spiegelt exemplarisch das ,Symbolum Parisinum‘ wider. Mit Bedacht beruft sich daher Etienne Tempier zu Beginn seines Briefes, der prologartig der Sammlung der inkriminierten 219 Thesen vorangestellt ist, ebenfalls auf das Weisheitsmotiv. Hierbei verbindet der Pariser Bischof auf suggestive Weise die Behauptung von zwei widerstreitenden Wahrheiten (,duae contrariae veritates‘) mit der Vorstellung einer wahren und einer falschen Weisheit 29. In aller Deutlichkeit richtet er sich gegen den Weisheitsanspruch der Philosophen (cf. art. 154) und erhebt konsequent das biblische ,perdam sapientiam sapientium‘ (Is. 29, 14; 1 Kor. 1, 19 sq.) zu seinem Leitspruch 30. Lässt man einmal die vielfältigen und durchaus gemischten Motive - insbesondere das Ringen um Kompetenzen und Zuständigkeiten in Personal- und Sachfragen - beiseite, die zu einem erheblichen Maß den Ausgangspunkt der Streitigkeiten zwischen der Artisten- und der Theologischen Fakultät bilden 31, so steht im Hintergrund dieser Debatten die im überkommenen Konzept einer sapientia christiana angelegte Grundspannung, die in dem Augenblick offen zutage tritt, als die im Zuge der Aristotelesrezeption ,wiederentdeckte‘ aristotelische ,göttliche Wissenschaft‘ oder Weisheit auf eine christliche Theologie trifft, die sich - nunmehr in aristotelischer Wissenschaftssprache - gleichfalls als erste und göttliche Wissenschaft und als Weisheit im eigentlichen Sinne versteht. In dieser unter dem Stichwort ,Weisheit‘ geführten Debatte um die erforderliche Grenzziehung zwischen den beiden ,göttlichen Wissenschaften‘, die um die Mitte des 13. Jahrhunderts nachhaltig einsetzt und auch das folgende Jahrhundert prägt, werden die aristotelischen Weisheitsbestimmungen aus ,Metaphysica‘ 27

28 29

30 31

So etwa Boethius von Dacien, De summo bono (ed. N. G. Green-Pedersen [Boethii Daci Opera VI/2], Hauniae 1976), 377, 239-242: „Haec est vita philosophi, quam quicumque non habuerit non habet rectam vitam. Philosophum autem voco omnem hominem viventem secundum rectum ordinem naturae, et qui acquisivit optimum et ultimum finem vitae humanae.“ Cf. Speer, Sapientia nostra (nt. 24), bes. 250 sq. u. 258. Epistola scripta a Stephano episcopo Parisiensis anno 1277 (ed. D. Piche´, La condamnation parisienne de 1277. Texte latin, traduction, introduction et commentaire, Paris 1999), 74: „Dicunt enim ea esse uera secundum philosophiam, sed non secundum fidem catholicam, quasi sint due contrarie ueritates, et quasi contra ueritatem sacre scripture sit ueritas in dictis gentilium dampnatorum, de quibus scriptum est: ,Perdam sapientiam sapientium‘, quia uera sapientia perdit falsam sapientiam.“ Cf. Artikel 154 des Syllabus: „Quod sapientes mundi sunt philosophi tantum“; cf. auch nt. 29. Cf. L. Bianchi, Censure et liberte´ intellectuelle a` l’universite´ de Paris (XIIIe-XIVe sie`cles), Paris 1999.

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I, 2 zum entscheidenden Kriterium 32. Dort nämlich, zu Beginn seiner Metaphysik-Vorlesung, bestimmt Aristoteles am Ende seiner wissensgenetischen Untersuchung die Weisheit als ein Wissen von den gewissen Prinzipien und Ursachen, vom Allgemeinsten und Ersten, das allein um seiner selbst willen gesucht wird und dennoch am schwersten zu erkennen ist. Demnach gilt die Weisheit als Wissen bzw. als Wissenschaft im höchsten Sinne, die gegenüber allem übrigen Wissen und den übrigen Wissenschaften eine ordnungsstiftende Funktion, ja, eine gebietende Stellung besitzt. Als ein Wissen schließlich, das der Mensch nicht um eines Nutzen willen sucht, ist Weisheit - gemäß der vollkommensten zweckfreien Vernunfttätigkeit des Menschen - die allein unter allen Wissenschaften freie und darum zugleich die ehrwürdigste und göttlichste Wissenschaft - nämlich Erste Philosophie oder Metaphysik oder Theologie 33. Die epistemologischen und ethischen Implikationen eines solchen Wissenschaftsverständnisses treten insbesondere mit Blick auf das Prinzipienwissen zutage sowie hinsichtlich der Möglichkeit, zu einer derartigen vollendeten Erkenntnis zu gelangen. Die Frage nach der Grenzziehung zwischen Theologie und Erster Philosophie gewinnt vor allem für die Theologie in zunehmendem Maße an Bedeutung und Dringlichkeit. Dies unterstreichen auch die immer verwickelteren Debatten - in den Quodlibeta ebenso wie in den ausgedehnten Prologi zu den Sentenzenkommentaren -, in deren Mittelpunkt die Fragen nach dem subiectum sowie nach dem Wissenschaftscharakter von Philosophie und Theologie stehen 34. Einen umfassenden Überblick über diese Diskussion mit Bezug auf die Theologie im ausgehenden 13. Jahrhundert bietet die wahrscheinlich zwischen 1307 und 1312 entstandene ,Defensa doctrinae fratris Thomae‘ des Hervaeus Natalis, eine Fragment gebliebene groß angelegte Verteidigungsschrift für seinen bedeutenden Ordensbruder Thomas von Aquin, von der nur der erste Teil vollständig überliefert ist 35. In diesem ersten Teil der ,Defensa‘, der in 38 Artikeln ausgearbeitet wird, behandelt Hervaeus mit großer Ausführlichkeit die Frage des Wissenschaftscharakters der Theologie. Gerade im Vergleich mit der ,Summa theologiae‘ des Thomas von Aquin, aber auch mit dem Proömium zum Sentenzenkommentar Bonaventuras fällt auf, welches Gewicht diese Frage nunmehr erhalten hat. Nicht nur in sachlicher Hinsicht stellt die ,Defensa‘ des Hervaeus einen Spiegel der Debatten über den Wissenschaftscharakter der Theologie dar, 32 33 34

35

Hierzu Speer, Sapientia nostra (nt. 24), 254-266. Aristoteles, Metaph. I, c. 2 (982a 3-983a 11). Für die Philosophie cf. A. Zimmermann, Ontologie oder Metaphysik? Die Diskussion über den Gegenstand der Metaphysik im 13. und 14. Jahrhundert. Texte und Untersuchungen, 2. erw. Aufl. (RTPM - Bibliotheca 1), Leuven 1998; für die Theologie U. Köpf, Die Anfänge der theologischen Wissenschaftstheorie im 13. Jahrhundert (Beiträge zur Historischen Theologie 49), Tübingen 1974. E. Krebs, Theologie und Wissenschaft nach der Lehre der Hochscholastik an der Hand der bisher ungedruckten ,Defensa doctrinae D. Thomae‘ des Hervaeus Natalis (BGPhMA XI, 34), Münster 1912.

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sondern auch durch die Zahl der namentlich ausgewiesenen oder identifizierbaren zeitgenössischen Autoren, insgesamt 27, unter denen Heinrich von Gent, Johannes Duns Scotus, Gottfried von Fontaines und Durandus von St. PourcX ain - sieht man einmal von Thomas von Aquin selbst und von Bonaventura ab - eine besonders prominente Stellung einnehmen 36. Auch wenn diese Debatte nicht erst mit Thomas von Aquin beginnt, so bildet seine Antwort darin einen wichtigen Bezugspunkt 37. Im Ausgang von der durch Boethius vorgegebenen Einteilung der theoretischen Wissenschaften unterscheidet Thomas deutlich zwischen einer Theologie der Heiligen Schrift (theologia sacrae Scripturae), deren Gegenstand Gott ist und in der er betrachtet wird, wie er in sich selbst ist, und einer philosophischen Theologie (theologia philosophica), in der Gott betrachtet wird, sofern wir ihn erkennen können, in der Gott also nicht der ausgezeichnete Gegenstand der Wissenschaft ist, sondern als Prinzip des Gegenstandsbereiches fungiert 38. Mit dieser Unterteilung in eine theologische Weisheit, die als Wissenschaft das Resultat menschlicher Bemühungen und menschlichen Wissens, als ,gottförmige‘ und mühelose Einsicht in die Glaubenslehren jedoch göttliches Gnadengeschenk (donum) ist, und ferner in eine Weisheit der Philosophie, die, auch wenn sie gleichfalls vom Göttlichen handelt, ihren Ursprung doch nicht einer theologischen Ordnung, sondern allein der menschlichen Vernunft verdankt 39, verbindet sich die grundsätzliche Frage nach der Tragweite der menschlichen Vernunft und nach den Grenzen der wissenschaftlichen Erkenntnis. Die Gegenüberstellung von sapientia divina und sapientia mundana zu Beginn des zweiten Buchs der ,Summa contra gentiles‘ ist für Thomas jedoch weniger Ausdruck einer Rangordnung als vielmehr der verschiedenen Ausgangspunkte der theologischen und philosophischen Erkenntnisordnung. Während die Philosophie ihre Argumente zunächst aus den eigentümlichen Ursachen der Dinge gewinnt und von dort zur Erkenntnis Gottes fortschreitet, nimmt die Theologie ihren Ausgang von der höchsten aller Ursachen; deshalb wird sie mit Recht die höchste Weisheit (superaltissima sapientia) genannt 40. 36 37

38

39 40

Cf. Krebs, Theologie und Wissenschaft (nt. 35), 5-13. Cf. M.-D. Chenu, La the´ologie comme science au XIIIe sie`cle, 3e e´d. (Bibliothe`que thomiste 33), Paris 1957. Cf. auch S. Brown, Duo Candelabra Parisiensia: Prosper of Reggio in Emilia’s Portrait of the Enduring Presence of Henry of Ghent and Godfrey of Fontaines Regarding the Nature of Theological Study, in: Aertsen/Emery, Jr./Speer (eds.), Nach der Verurteilung von 1277 (nt. 3), 320-356; Prospers Prolog zu seinem Sentenzenkommentar porträtiert die Diskussionen an der Sorbonne zwischen 1311 und 1314 und das Fortwirken der Debatten aus dem letzten Jahrzehnt des 13. Jahrhunderts. Cf. Thomas de Aquino, Super Boethium De Trinitate, q. 5, a. 4, c. - Cf. Zimmermann, Ontologie oder Metaphysik? (nt. 34), 154 sq. u. 211-222. Ferner J. A. Aertsen, Was heißt Metaphysik bei Thomas von Aquin?, in: I. Craemer-Ruegenberg/A. Speer (eds.), Scientia und ars im Hochund Spätmittelalter (Miscellanea Mediaevalia 22), Berlin-New York 1994, 217-239, bes. 220229. Cf. S. th. II-II, q. 45, a. 2; S. th. I, q. 1, a. 5, ad 2; Quodl. IV, 9, 3. Cf. ScG II, 4 (nn. 873-876); cf. De potentia I, 4, c.

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Meister Eckhart hingegen scheint von diesem Widerstreit zwischen einer sapientia christiana und einer sapientia mundana - eine Gegenüberstellung, die sich in dieser Formulierung meines Wissens erstmals in Bonaventuras erster ,Collatio in Hexaemeron‘ findet 41 - merkwürdig unberührt. Man gewinnt vielmehr den Eindruck, dass für ihn die Frage der Abgrenzung von Philosophie und Theologie, welche die Debatten zwischen Theologen und Artisten an der Pariser Universität im letzten Drittel des 13. Jahrhunderts maßgeblich bestimmt und die er mit Sicherheit gekannt hat, und die Konkurrenz um den möglichen Vorrang der beiden ,ersten‘ Wissenschaften überhaupt gegenstandslos geworden ist. Die Heilige Schrift werde vielmehr, so schreibt Eckhart in seinem Johanneskommentar, sehr angemessen auf die Weise erklärt, „daß mit ihr übereinstimmt, was die Philosophen über die Natur der Dinge und ihre Eigenschaften geschrieben haben, zumal aus einer Quelle und einer Wurzel der Wahrheit alles hervorgeht, was wahr ist, sei es im Sein, sei es im Erkennen, in der Schrift und in der Natur“ 42.

Hierbei beruft er sich neben Röm. 1, 20 explizit vor allem auf Boethius, der mit Bezug auf die Lehre von der Trinität die Forderung erhoben hatte, „sorgfältig zu erwägen, was gesagt worden ist, und den Glauben, soviel man mag, mit der Vernunft zu verknüpfen“ 43. Eckhart scheint nicht nur den Gegensatz von Philosophie und Theologie zu ignorieren, sondern auch die strikte Unterscheidung der beiden Theologien, der philosophischen und der christlichen, wenn er programmatisch eine Konkordanz von Philosophie und Offenbarung, von Metaphysik und Evangelium behauptet 44. Ausgangspunkt seines systematischen Denkentwurfs, der modellhaft in seinem ,Opus tripartitum‘ vorliegt, ist die Möglichkeit der Konvergenz der auseinander strebenden Wissensbereiche und ihre sapientiale Integration. Dass er solchermaßen anderes im Sinn hat, zeigt bereits jene Universitätspredigt, die Eckhart von Hochheim während seines ersten Pariser Magisteriums zum Festtag des heiligen Augustinus am 28. August des Jahres 1302 oder 1303 gehalten hat. In dieser auf einem Vorsetzblatt des Folio 36 der Bibliotheca Amploniana überlieferten Predigt ,Vas auri solidum‘, die Kurt Ruh mit Recht für bemerkenswert hält 45, nimmt Eckhart gleich zu Beginn ausdrücklich auf das zweite Kapitel von Boethius’ Schrift ,De trinitate‘ unter Berücksichtigung der 41 42

43

44 45

Cf. Bonaventura, Collationes in Hexaemeron I, 9-10 (Opera omnia [ed. Quaracchi], V, 330b). In Ioh., n. 185 (LW III, 154, 14-155, 2): „Secundum hoc ergo convenienter valde scriptura sacra sic exponitur, ut in ipsa sint consona, quae philosophi de rerum naturis et ipsarum proprietatibus scripserunt, praesertim cum ex uno fonte et una radice procedat veritatis omne quod verum est, sive essendo sive cognoscendo, in scriptura et in natura.“ Boethius, Utrum Pater et Filius (eds. H. F. Stewart/E. K. Rand/S. J. Tester [LCL 74]), 36, 7071: „diligentius intuere quae dicta sunt et fidem si poterit rationemque coniunge.“ - Cf. In Ioh., n. 361 (LW III, 306, 5-307, 1). Cf. exemplarisch In Ioh., nn. 434-444 (LW III, 380, 7-14). Cf. LW V, 87 sq.; zur Datierung cf. K. Ruh, Meister Eckhart. Theologe, Prediger, Mystiker, München 1985, 24-25.

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entsprechenden Kommentare des Thierry von Chartres und des Clarembaldus von Arras Bezug. Diese ,anachronistische‘ Bezugnahme auf in dieser Zeit kaum zur Kenntnis genommene Autoren des 12. Jahrhunderts indiziert eine wissenschaftstheoretische Problemstellung, die ihren Ausgang vom boethianischen Theologieverständnis und der wissenssystematischen Stellung der Theologie im Ordnungsgefüge der theoretischen Philosophie nimmt 46. Bemerkenswert ist zunächst die Tatsache, dass Eckhart in dieser am aristotelischen Wissenschaftsverständnis orientierten Debatte um den Status der Theologie an die boethianische Lesart des Modells der theoretischen Wissenschaften anknüpft. Bemerkenswert ist ferner seine Erweiterung des boethianischen Theologiebegriffs im Geiste der dionysischen eminentia und der augustinischen sapida scientia, wodurch der menschliche Intellekt, nach seiner Befreiung von allen äußeren Eindrücken und Bezeichnungen, durch Rückführung auf seinen Ursprung schließlich im Außersichsein des Geistes (in exstasi mentis) über sich hinaus zur Erkenntnis dessen, was er von Natur aus nicht vermag, gelangt 47. Diese Weisheit, die ohne das Hinzutreten der aus Gnade verliehenen habitus nicht erreicht werden kann, besitzt für Eckhart eine entschieden praktische Dimension 48. Dies bringt er auch durch die Gleichsetzung von Theologie und Ethik (,ethica sive theologia‘) zum Ausdruck 49. Die ethische Dimension der höchsten Weise des Wissens, bzw. der Wissenschaft zeigt sich in der praktischen Ausrichtung der menschlichen Erkenntnis, in der Rückführung der Seele und mit ihr aller Geschöpfe zur Einheit des schöpferischen Ursprungs. Dieses Programm, das Burkhard Mojsisch als ,neue Metaphysik‘ bezeichnet hat, die selbst die Ethik zu integrieren trachtet 50, weiß sich dem methodischen Ideal einer axiomatisch-apodeiktischen Wissenschaft verpflichtet, welches Boethius und mit ihm vor allem seine Kommentatoren des 12. Jahrhunderts in voller Konsequenz auch auf die Lehre der Trinität angewendet wissen wollen. Doch erneut geht Eckhart über sein Vorbild hinaus, will er doch in diese Axiomatik gemäß dem ,Prologus generalis‘ des ,Opus tripartitum‘ nun auch die Bibelauslegung eingeschlossen wissen 51. Auf einmalige und unvergleichliche Weise verbindet Eckhart in den drei Teilen seines Torso gebliebenen systematischen Großprojektes die Axiomatik der Thesen, die Disputation der Fragen und die Schriftexegese dergestalt miteinander, dass die Lösungen der Quästionen und 46

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48

49 50 51

Hierzu ausführlich A. Speer, Ethica sive theologia. Wissenschaftseinteilung und Philosophieverständnis bei Meister Eckhart, in: J. A. Aertsen/A. Speer (eds.), Was ist Philosophie im Mittelalter? (Miscellanea Mediaevalia 26), Berlin-New York 1998, 683-693. Sermo die beati Augustini Parisius habitus, n. 5 (LW V, 93, 12-94, 2): „[…] quando scilicet lux divina per effectum suum aliquem specialem irradiat super potentias cognoscentes et super medium in cognitione, elevans intellectum ipsum ad id quod naturaliter non potest.“ Ibid., n. 6 (LW V, 94, 14-95, 2): „de tertio [i. e. extasi mentis] dicitur secundum est in intellectu practico. Haec cognitio vel sapientia, quasi sapida scientia, quae aliquando intromittit hominem in affectum multum.“ Ibid., n. 2 (LW V, 89, 7-90, 10). B. Mojsisch, Meister Eckhart. Analogie, Univozität und Einheit, Hamburg 1983, 14 sq. Cf. Prol. gen. in op. trip., n. 3 (LW I, 149, 3-5); ibid., n. 6 (LW I, 151, 7-12).

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die Schriftauslegungen auf den zugrunde liegenden Thesen beruhen - so können wir in der dritten Vorbemerkung des ,Prologus generalis‘ zum ,Opus tripartitum‘ lesen. In diesem Entwurf bringt Eckhart über die Grenzen von Theologie und Philosophie hinweg seine leitende Intuition einer zugrunde liegenden Konvergenz und Einheit zum Ausdruck. Mit diesem von Boethius inspirierten Integrationsmodell ist ein weit reichender Anspruch hinsichtlich einer natürlichen Gotteserkenntnis und damit einhergehend einer natürlichen Theologie verbunden, die sich auch auf die tiefsten Geheimnisse des christlichen Glaubens wie die Inkarnation und die Trinitätslehre erstreckt. Nimmt man die oftmals eifersüchtig geführten philosophischtheologischen Debatten seiner Zeit zum Maßstab, so mutet Eckharts Programm wie eine Provokation an. Kann man wirklich mit natiurlıˆchen reden von der Gottesgeburt in der Seele des Menschen handeln? - wie Eckhart in der ersten seiner Predigten ,Von der eˆwigen geburt‘ programmatisch feststellt 52. Wie muss eine Vernunft beschaffen sein, die uns den Zugang zu derartigen Fragen ermöglicht? Und welche Methode vermag dem Anspruch und der Reichweite dieser Fragestellung zu genügen? III. Streben nach Weisheit als Suche nach dem inneren Menschen - eine Bibelauslegung zu Sap. 7, 7-10 und Joh. 1, 11-13 In der dritten Vorbemerkung seines Prologs zum ,Liber parabolarum Genesis‘ spricht Eckhart davon, hinsichtlich des dort parabolice Gesagten vieles übersprungen und nur weniges kurz behandelt zu haben, und er gibt als Begründung an, auf diese Weise die studiosi, die lerneifrigen Leser, dazu anregen zu wollen, „auch verwandte Stellen ausführlicher zu betrachten“ 53. Zudem fordert er die Rückbindung der parabolischen Auslegungen an die entsprechenden Darlegungen im ,Opus quaestionum‘ wie im ,Opus expositionum‘ 54. Damit benennt Eckhart ein hermeneutisches Prinzip, das er bereits in der zweiten Vorrede zu seinem ,Opus expositionum‘ in fünf Vorbemerkungen erläutert hat. Diese betreffen die Auslegung der Bibelsprüche an ihrem Ort und in ihrem jeweiligen eigenen Verweiszusammenhang, ferner die Art ihrer Auslegung mitunter auch gegen den buchstäblichen Sinn gemäß einer tieferen Wahrheit, die Kürze der Auslegungen und 52

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Pr. 101 ,Dum medium silentium‘ (DW IV/1, 342, 33): „Ich wil iu dise rede bewæren mit natiurlıˆchen reden.“ In Gen. II, prol., n. 6 (LW I, 455, 11-13): „Tertio praenotandum, quod de his parabolice dictis hic transiliendo et pauca et breviter notavi, ut solum excitarem studiosos ad similia etiam et plenius consideranda.“ - Zum Begriff des studiosus lector cf. auch In Ioh., n. 225 (LW III, 189, 1-3); hierzu W. Goris, Prout iudicaverit expedire: Zur Interpretation des zweiten Prologs zum Opus expositionum Meister Eckharts, in: Medioevo 20 (1994), 233-278, hier: 266-270. In Gen. II, prol., n. 6 (LW I, 455, 13-15): „Probationes etiam et prosecutiones parabolice dictorum quae inducam requirantur plenius in Opere quaestionum et in Opere expositionum.“

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schließlich die Wahlmöglichkeit des gelehrten Lesers zwischen mehreren Auslegungen 55. Als einen Ableitungszusammenhang versteht Eckhart das Verweissystem der Bibelsprüche, das er dem studiosus lector an die Hand gibt. Denn diese erklären sich wechselseitig, aber auch auf ihrem jeweiligen Platz, so dass in jedem Fall für ein volleres Verständnis das Aufsuchen des Verweises unabdingbar ist. Darüber hinaus lassen sich die Expositionen eines Bibelspruches vom Ziel her als ein Ganzes darlegen, und so müssen sie auch begriffen werden. Nur auf diese Weise gelangt der eifrige Leser zu einem tieferen Verständnis (plenius intelligere) 56. Dieser zweite Prolog zum ,Opus expositionum‘ ist in der ältesten uns bekannten Fassung des Entwurfs des ,Opus tripartitum‘ unmittelbar vor dem Sapientiakommentar eingeschoben 57. Auch im zweiten Band der Lateinischen Werke steht er unmittelbar vor dem Sapientiakommentar, der somit zu einem Anwendungsfall der in der Vorrede aufgestellten Regeln wird. Ein solches Beispiel für Eckharts Hermeneutik stellt gleich zu Beginn der Bibelspruch aus dem siebten Kapitel des Buches der Weisheit (Sap. 7, 7) dar: „Optavi, et datus est mihi sensus, et invocavi, et venit in me spiritus sapientiae“ - „Ich wünschte, und mir wurde Einsicht verliehen, ich rief an, und der Geist der Weisheit kam in mich.“ Die Architektur der Exposition ist um die beiden exklamatorischen Verben optavi und invocavi fokussiert, die nach Art des litteram punctare zu Schlüsselbegriffen der Auslegung werden, die auch die beiden folgenden Verse Sap. 7, 8: „Divitias nihil dixi in comparatione illius“, und Sap. 7, 10: „Inexstinguibile est lumen illius“, umfasst 58. Eckhart eröffnet die Auslegung des optavi mit der Bemerkung, dass große natürliche Güter, die unsere Kräfte übersteigen, ja, sogar der Natur nach unmöglich sind, gleichwohl Gegenstand unserer Wünsche sind 59. Diese Suche nach dem wünschenswertesten und vorzüglichsten Gut ist dem Menschen eigentümlich, wie Eckhart mit seinem ausführlichen Referat der bei Cicero überlieferten Geschichte eines Gesprächs zwischen Xenophon und Aspasia verdeutlicht. Die vorläufige Antwort, man suche das, was das Beste sei, stets bei weitem am meisten, das aber sei die Weisheit 60, erfährt erst in der Auslegung von Sap. 7, 8: „Divitias nihil dixi in comparatione illius“ - „Reichtum achte ich im Vergleich mit ihr für nichts“, ihre volle Entfaltung. Dort nämlich setzt Eckhart dieses höchste Gut, „im Vergleich mit dem jedwedes andere, sogar alles zusammen nichts bedeutet“, mit Gott gleich 61 und den Besitz der göttlichen Weisheit mit der Ein55

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Cf. Prol. in op. exp., nn. 1-5 (LW II, 321-322); zu diesen praenotanda ausführlich Goris, Prout iudicaverit expedire (nt. 53), 241-247. Prol. in op. exp., n. 2 (LW II, 321, 8). Cf. K. Weiß in seiner Einleitung zu LW I, 123 sq.; hierzu auch Goris, Prout iudicaverit expedire (nt. 53), 241 sq. Zur Architektur der Auslegung und zur Struktur der Argumente siehe das Schema im Anhang, 30-33. In Sap., n. 85 (LW II, 417, 10 sq.): „Notandum quod ea quae sunt magna bona naturae et quae supra vires nostras sunt et etiam impossibilia naturae, solent optari.“ Ibid., n. 86 (LW II, 419, 9 sq.): „profecto semper id, quod optimum putatis esse, multo maxime requiretis.“ Ibid., n. 90 (LW II, 423, 4 sq.): „quia tantum bonum est deus, ut respectu ipsius et in eius comparatione quaelibet alia, etiam omnia, nihil computantur.“

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sicht, dass im Vergleich mit ihr aller Reichtum nichtig sei 62. Es sei ein deutliches Zeichen, dass der Mensch den Geist der Weisheit habe, wenn er alle Dinge als ein reines Nichts ansehe, nicht bloß als ein Sandkorn oder gar als Kot, so Eckhart in der Predigt 59 ,Daˆnieˆl der wıˆssage sprichet: ,wir volgen dir naˆch‘‘, die zunächst gleichfalls mit einer Auslegung von Sap. 7, 7 u. 9 beginnt und in ihrer Exposition den im Folgenden etablierten Auslegungszusammenhang bestätigt. Wer irgendein Ding als ein Etwas ansieht, in dem ist nicht der Geist der Weisheit 63. Gleiches gilt für die richtige Anrufung Gottes. Diese Thematik leitet über zur Auslegung des zweiten Schlüsselwortes invocavi. Eine erste Auslegung erfolgt zunächst im Anschluss an Augustins Auslegung von Ps. 85, 5 64. Wer Gott anrufe, um weltliche Güter und Würden zu erhalten, der rufe in Wahrheit diese Dinge an und mache Gott zum Handlanger seiner Wünsche und Begierden. Nur wer Gott als Gott anrufe, könne sicher sein, erhört zu werden. Denn er ruft den Geist der Weisheit und verlangt nach Einsicht, „da es ja nichts Besseres gibt“ 65. Auch die zweite Auslegung beginnt mit einem Augustinus-Zitat. Das berühmte Wort aus dem 39. Kapitel von ,De vera religione‘: „Noli foras ire, in te ipsum redi, in interiori homine habitat veritas“ - „Gehe nicht nach draußen, kehre ein in Dich selbst, im inneren Menschen wohnt die Wahrheit“, eröffnet einen höchst komplexen Auslegungszusammenhang, der selbst dem studiosus lector seine ganze Kunstfertigkeit und Ausdauer abverlangt. Im Mittelpunkt dieser Auslegung steht das ,venit in me‘, das Eckhart unter Verweis auf Joh. 1, 11 („secundum unam expositionem: ,in propria venit‘ “) als in propria deutet. Dieser Hinweis ist zugleich als ein expliziter Verweis auf die Auslegung dieses Bibelwortes zu verstehen und als eine Einladung an den eifrigen Leser, diesem Verweis im Johanneskommentar nachzugehen. Eine zweite Auslegung des in propria verbindet Eckhart mit dem Wort vom ,inneren Menschen‘ aus dem Augustinus-Zitat und bezieht dieses auf die ,vires intellectuales interiores‘, auf die inneren Verstandeskräfte 66. Ich folge zunächst dieser Spur und überspringe fürs Erste den Verweis auf den späteren Johanneskommentar. 62

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Ibid., n. 91 (LW II, 424, 13-425, 1): „Notandum ergo primo quod habens sapientiam dei omnia cetera reputat esse nihil, et vere nihil sunt sine deo. Secundo quod ille solus meretur dei sapientiam, qui omnia cetera pro nihilo habet.“ Pr. 59 (DW II, 623, 7-624, 4): „Daz ist ein offenbære zeichen, daz der mensche habe ,den geist der wıˆsheit‘, der alliu dinc ahtet als ein luˆter niht. Wer dehein dinc iht ahten mac, in dem enist niht ,der geist der wıˆsheit‘. Daz er sprach: ,als ein sandes korn‘, daz was ze kleine; daz er sprach: ,als einen pfuol‘, daz was ouch ze kleine; daz er sprach: ,als ein niht‘, daz was wol gesprochen, wan alliu dinc sint ein luˆter niht gegen ,dem geiste der wıˆsheit‘.“ Cf. Augustinus, Enarrationes in Psalmos LXXXV, 8 (CCSL, vol. 39, 1182 sq.). In Sap., n. 87 (LW II, 420, 5-13, im Zitat 11-13): „ ,Si ergo deum invocas tamquam deum, securus esto, exaudieris‘. Et hoc est quod hic dicitur: invocavi, et venit in me spiritus sapientiae, et quod praemissum est: ,optavi‘, utpote quia nihil melius.“ In Sap., n. 88 (LW II, 421, 1-5). Cf. Augustinus, De vera religione XXXIX, 72 (CCSL, vol. 32, 234, 12 sq.).

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Die inneren Verstandeskräfte des Menschen, so können wir lesen, haben nichts mit dem Teil unserer Natur gemein, den wir mit den Tieren teilen, denn man finde die Weisheit nicht im Viehstall und im Mist 67. Für diesen Glanz nämlich, so Eckhart in seinem Sermo XLVII/1 ,Confidimus in domino Jesu‘, sind „Schweine, Hunde und Wölfe, das heißt Menschen, die wie die Tiere in ihrem Leben nur von ihren niederen Kräften Gebrauch machen, nicht empfänglich“ 68. Mit dieser Unterscheidung in die höheren und niederen Vermögen ist ein grundlegender und für Eckharts Anthropologie fundamentaler Dualismus zwischen dem inneren, d. h. dem neuen und himmlischen Menschen und der geistigen Welt einerseits und dem äußeren, d. h. dem alten und irdischen Menschen und der sinnlichen Welt andererseits verbunden 69 - eine Gegenüberstellung, die sich bereits in Augustins Aufforderung findet, die Wahrheit nicht draußen, sondern inwendig zu suchen. Der Mensch nämlich ist seiner Natur nach ,ain vernunftiges wesen‘ 70. Das ist zugleich der Kern der Eckhart’schen Anthropologie. Ein solcher vernu´nftiger mentsch - so heißt es in Predigt 15 ,Homo quidam nobilis‘ - ist derjenige, der sich selbst mit der Vernunft begreift und „in im selber abgeschaiden ist“ von allem Stofflichen und allen Formen. Je mehr er „abgeschaiden ist von allen dingen vnd in sich selber gekeret“ und je klarer er alle Dinge in der Vernunft in sich selbst, ohne Hinwendung nach außen erkennt, desto mehr ist er ein Mensch 71. Doch Eckhart ist realistisch. Zwar gibt es, wie er in der Predigt 10 ,In diebus sui placuit deo‘ sagt, keinen noch so törichten Menschen, der nicht nach Weisheit begehre. Und doch werden wir nicht alle weise. Denn durch alle Dinge hindurch und über alle Dinge und aller Dinge Ursache hinauszugehen, das verdrieße die meisten Menschen, und so bleiben sie in ihrer Beschränktheit. Allein der ist ein weiser Mensch, dem „daz wesen der wıˆsheit und der natuˆre einförmic ist“ 72. Ich übergehe zunächst die dritte Auslegung von invocavi, die im Sinne der noch ausstehenden Auslegung des in propria in der angewiesenen Verweisstelle Joh. 1, 11 eine trinitätstheologische Interpretation erfährt, und springe zum folgenden Bibelvers Sap. 7, 10: „Inexstinguibile est lumen illius“ - „unauslöschlich ist 67

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In Sap., n. 88 (LW II, 421, 4-7): „,in propria‘, id est hominum vires intellectuales interiores, non in communia nobis cum pecoribus, vires scilicet exteriores. Non enim dignatur venire sapientia in stabulum iumentorum, quia ,computruerunt iumenta in stercore suo‘.“ Sermo XLVII/1, n. 484 (LW IV, 399, 17-400, 2): „Non enim splendoris illius capaces sunt porci, canes aut lupi, id est homines brutaliter viventes in exercitio solum virium inferiorum.“ Sermo VII ,Homo quidam erat dives‘, n. 78 (LW IV, 75, 10-13): „Ista ergo quattuor sibi respondent: homo interior, homo novus, homo caelestis, mundus intelligibilis. Rursus quattuor opposita sibi correspondent: homo exterior, ,homo vetus, homo terrenus‘, mundus sensibilis.“ Pr. 15 ,Homo quidam nobilis‘ (DW I, 250, 5 sq.). Cf. zur Anthropologie Eckharts auch den Beitrag von U. Kern in diesem Band, 146-177. Pr. 15 (DW I, 250, 6-10): „Ein vernu´nftiger mentsch ist, der sich selber vernu´nfteklichen versta´t vnd in im selber abgeschaiden ist von allen materien vnd formen. ie me er abgeschaiden ist von allen dingen vnd in sich selber gekeret, ie me er allu´ ding clarlich vnd vernu´nfteklich bekennet in im selber sunder uskeren: ie me es ain mentsch ist.“ Pr. 10 (DW I, 164, 15-165, 2).

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ihr Licht“, den Eckhart als Fortsetzung seiner zweiten Auslegung der invocaviExegese konzipiert, dessen vorzüglicher Gegenstand der innere Mensch ist. Von einem unauslöschlichen Licht könne zum einen mit Bezug auf die ungeschaffene Weisheit (sapientia increata), sodann aber auch hinsichtlich der geschaffenen, mitgeteilten Weisheit (sapientia participata) gesprochen werden 73. Das Verhältnis von ungeschaffener und partizipierter Weisheit wird - darauf weist Eckhart hin gewöhnlich durch das Begriffspaar lux und lumen ausgedrückt. Hierbei bezeichnet lumen etwas Mitgeteiltes, während lux allein Gott vorbehalten ist 74. Jedoch kann nicht nur von der ungeschaffenen göttlichen Weisheit gesagt werden, sie sei unauslöschlich. Es gebe auch ein mitgeteiltes unvergängliches Licht (,lumen participatum indeficiens‘), das gemäß dem Schriftwort unauslöschlich (inexstinguibile) sei 75. Dies ist für Eckhart der intellectus agens. Anders als die Schrift, die lux und lumen bisweilen sowohl vom Ungeschaffenen wie vom Geschaffenen verwende, seien Aristoteles und seine Kommentatoren hier terminologisch eindeutig, wenn sie den wirkenden Verstand als einen Teil der Seele (aliquid animae) ansehen, da ihn Aristoteles im dritten Buch von ,De anima‘ als lumen und nicht als lux bezeichnet habe 76. Auch in der Parallelstelle im ersten Kapitel des Johanneskommentars, die unmittelbar dem Eckhart’schen Verweis, der noch der Auslegung harrt, vorausgeht, bezieht Eckhart das Bibelwort vom wahren Licht, das jeden Menschen erleuchtet, der in diese Welt kommt ( Joh. 1, 9), auf den intellectus agens und wendet sich ausdrücklich gegen diejenigen, die glauben, „daß die Gnade allein Licht sei, während doch jede Vollkommenheit, vor allem das Sein, ein Licht ist und die Wurzel jeder leuchtenden Vollkommenheit“, so wie der Philosoph im dritten Buch von der Seele auch den wirkenden Verstand ein Licht nennt 77. Beide Stellen erinnern nicht von ungefähr an die Debatten des 13. Jahrhunderts um die Reformulierung der augustinischen Illuminationslehre vis-a`-vis der Erkenntnislehre des Aristoteles und seiner arabischen Nachfolger, vor allem Avicennas, die Gilson unter dem Stichwort ,augustinisme avicennisant‘ zusammengefasst hat. In diesen Debatten geht es um die Gewissheitsgrundlage und um die Reichweite der Erkenntnis. Beide Fragen stehen in einem ursächlichen 73

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In Sap., n. 92 (LW II, 425, 4 sq.): „Dupliciter potest hoc accipi: primo de sapientia increata, secundo de sapientia participata.“ Ibid., n. 93 (LW II, 426, 6-10): „Secundo modo exponitur verbum praemissum de lumine sapientiae participatae, et videtur sic magis proprie accipiendum, tum quia de sapientia increata hoc dicere non esset quid magni, tum etiam quia deus magis lux est proprie quam lumen […]. Lumen autem aliquid participatum significat.“ Ibid., n. 93 (LW II, 426, 10-427, 2): „Eccli. 24 [6]: ,ego feci in caelis, ut oriretur lumen indeficiens‘. Ecce habes duo: primo quidem quod lumen significat aliquid participatum, utpote factum […]; secundo quod ipsum est ,indeficiens‘. Et hoc est quod hic dicitur: inexstinguibile est lumen illius.“ Ibid., n. 93 (LW II, 427, 2-4): „Ad hoc facit quod expositores philosophi dicunt intellectum agentem esse aliquid animae, eo quod ipsum vocat lumen, non lucem.“ - Cf. De anima III, 5 (430a 15). In Ioh., n. 94 (LW III, 81, 10-13): „Secunda causa et falsa imaginatio, quia putant solam gratiam esse lumen, cum omnis perfectio, praecipue ipsum esse, lumen sit et radix omnis perfectionis lucentis. Et philosophus III De anima intellectum agentem lumen vocat.“ - Cf. wiederum De anima III, 5 (430a 15).

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Zusammenhang und finden ihren Prüfstein in der Bestimmung des Status gerade der natürlichen Erkenntnis, ohne das menschliche Erkennen auf diesen Bereich zu restringieren 78. Vor diesem Hintergrund betont Eckharts Rekurs auf den intellectus agens die Bedeutung des naturhaften Erkennens. Doch dieses ist von einer wundersamen Blindheit - man ist geneigt, sich hier Bonaventuras Wort von einer wundersamen Blindheit des Verstandes (,mira caecitas intellectus‘) zu Eigen zu machen -, wenn es um die Erkenntnis desjenigen geht, was das an sich Bekannteste ist. Gefangen von der Farbenvielfalt der Trugvorstellungen und gleichermaßen gebannt durch Partikuläres wie Universales, durch die Mannigfaltigkeit des hic et hoc, verhält der Verstand sich gleich dem Auge der Nachteule (oder Fledermaus) zu jenem unauslöschlichen Licht 79, das, so Eckhart im Anschluss an Augustinus, „im Grund der Seele (in abdito mentis) immer leuchtet, auch wenn es verborgen ist“ 80. Denn dieses Licht der Weisheit (lumen sapientiae) ist in sich und seiner Natur nach unauslöschlich; es kann von sich aus nicht ausgelöscht werden, mag es auch in uns erlöschen 81. Dieser Nachsatz gibt zu denken. Zwar folgt Eckhart Platon darin, dass die Seele, sofern sie unsterblich ist, für die Weisheit empfänglich und ihr Träger ist („capax est et subiectum sapientiae“) 82, doch wird das Licht der Weisheit nicht von der vernünftigen Seele (anima rationalis) aufgenommen, sofern sie Natur oder ein naturhaftes Seiendes ist, „sondern allein vom Verstand (intellectus), sofern er Verstand ist, und das heißt etwas Höheres und Göttliches“. Damit ist, in deutlicher Absetzung von der diskursiven Vernunft (ratio), der gesamte Intellekt angesprochen und nicht nur der intellectus agens als spezifisches Vermögen - etwa im Unterschied zum

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Einen guten Überblick über die Forschungsdiskussion zum Begriff ,augustinisme avicennisant‘ und eine kenntnisreiche Einordnung dieses Gilson’schen Terminus findet sich bei D. N. Hasse, Avicenna’s De anima in the Latin West (Warburg Institute, Studies and Texts 1), London Turin 2000, 203-223; zur Diskussion um die Erkenntnisgewissheit in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts im Ausgang vom augustinischen Paradigma cf. meinen Beitrag: Certitude and Wisdom in Bonaventure and Henry of Ghent, in: C. Steel/G. Guldentops (eds.), Henry of Gent and the Transformation of Scholastic Thought. Studies in Memory of Jos Decorte (Ancient and Medieval Philosophy, Series 1, vol. XXXI), Leuven 2003, 75-100. Cf. In Gen. I, n. 41 (LW I, 216, 8-10); zu diesem Bild der vespertilio, das auf Aristoteles, Metaph. II, c. 1 (993b, 9-11) zurückgeht, cf. auch Bonaventura, Itinerarium mentis in Deum V, 4 (Opera omnia V, 309a); zur Auslegungsgeschichte dieses Motivs cf. C. Steel, Der Adler und die Nachteule. Thomas und Albert über die Möglichkeit der Metaphysik (Lectio Albertina 4), Münster 2001. In Sap., n. 95 (LW II, 429, 2-4): „item quod ipse Augustinus docet quod in abdito mentis semper lucet, quamvis lateat, lumen divinum.“ - Cf. Augustinus, De Trinitate XIV, 7, 9 (CCSL, vol. 50A), 433, 19 sqq.; ferner De trinitate X, 12, 19 (CCSL, vol. 50), 332, und XIV, 14, 19 (CCSL, vol. 50A), 445-447. In Sap., n. 95 (LW II, 429, 4-6): „Hoc est igitur quod hic dicitur: inexstinguibile est lumen illius. Posset etiam dici quod lumen sapientiae, quamvis in nobis exstinguatur, in se tamen et ex sui natura est inexstinguibile, et habet ex se non exstingui.“ Ibid., n. 95 (LW II, 429, 1-2): „Ad hoc facit quod Plato probat animam eo esse immortalem, quo capax est et subiectum sapientiae.“

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intellectus possibilis 83. Eckhart bedient sich der aristotelischen Terminologie vom intellectus agens vielmehr, um eine bestimmte Lesart des augustinischen Lehrstücks vom abditum mentis zu etablieren: als Seelengrund im Sinne eines naturhaften, unverlierbaren Besitzes und nicht bloß als ein besonderes Gnadengeschenk 84. Eine solche Auslegung, die an die Lehre von der zweifachen Erkenntnis der Engel, der Morgen- und der Abenderkenntnis anknüpft 85, steht durchaus nicht im Widerspruch zu Eckharts Intellektlehre und dem Vorrang der aufnehmenden, passiven vor der erkenntniskonstituierenden, aktiven Verstandestätigkeit. Das gilt auch für unseren Auslegungszusammenhang. Der Grund nämlich dafür, dass das Licht der Weisheit unauslöschlich ist, ist gerade darin zu suchen, wodurch es vom Verstand aufgenommen wird („quo in intellectu recipitur “); das aber ist die Gottebenbildlichkeit des Intellekts 86. Anders als die - in Eckharts Worten - naturhafte Vernunft (ratio) nämlich ist allein der Verstand (intellectus) fähig, das unauslöschliche Weisheitslicht aufzunehmen, ohne es allerdings von sich aus zu besitzen oder erkennen zu können. In seinem Grund erkennt der Intellekt also, dass er auf etwas Höheres und Göttliches verwiesen ist. Dieses Gewahrwerden und ,Schmecken‘ Gottes lässt, wie Eckhart in Predigt 69 ,Modicum et iam non videbitis me‘ ausführt, die prinzipalen Eigenschaften des Intellekts hervortreten: (i) dass er abgelöst ist vom Hier und Nun, (ii) dass er nichts gleicht, (iii) dass er lauter und unvermengt ist, (iv) dass er in sich selber wirkend oder suchend ist, und (v) dass er ein ,Bild‘ ist 87. Ganz in diesem Sinne hatte Eckhart daher auch das Kommen des Geistes in me als ein Kommen des Geistes und des Sohnes in propria gedeutet und den Leser ausdrücklich auf den entsprechenden Bibelspruch im Johannes-Evangelium verwiesen 88. Wenn wir diesem Verweis nun nachgehen, so macht Eckhart den Leser zunächst auf zwei unterschiedliche Leserichtungen aufmerksam: Ge83

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Ibid., n. 94 (LW II, 428, 4-6): „Lumen quidem sapientiae, sub ratione sapientiae, non recipitur in corporibus, sed nec in anima rationali […], sed in ipso solo ,intellectu‘, in quantum intellectus est, superius ,aliquid‘ est et ,divinius‘.“ Alain de Libera hat auf die Eigenständigkeit der Eckhart’schen Verbindung der peripatetischen Auslegungstradition des intellectus agens mit der augustinischen Lehre vom abditum mentis hingewiesen, etwa gegenüber Albertus Magnus und vor allem gegenüber Dietrich von Freiberg. Cf. hierzu A. de Libera, La mystique rhe´nane. D’Albert le Grand a` Maıˆtre Eckhart, Paris 1994, 272-277. Zur Intellektlehre des Dietrich von Freiberg cf. auch die Einleitung von K. Flasch zu dessen intellekttheoretischen Schriften (Corpus Philosophorum Teutonicorum Medii Aevi II, 1), Hamburg 1977. De Libera, La mystique rhe´nane (nt. 84), 275 sq., verweist vor allem auf Pr. 37 ,Vir meus servus tuus mortuus est‘ (DW II, 221, 4-222, 2). Cf. Augustinus, De genesi ad litteram IV, 24-25 (CSEL, vol. 28/1, 123-125), und De civitate Dei XI, 29 (CCSL, vol. 48, 349). In Sap, n. 94 (LW II, 428, 4-9, Zitat 8 sq.): „Patet igitur ratio, quare lumen sapientiae hoc ipso est inexstinguibile, quo in intellectu recipitur.“ Pr. 69 (DW III, 169, 1-5): „Ein kraft ist in der seˆle, daz ist vernünfticheit. Von ˆerste, soˆ diu gotes gewar wirt und gesmecket, soˆ haˆt si vünf eigenschefte an ir. Daz ˆerste ist, daz si abescheidet von hie und von nuˆ. Daz ander, daz si nihte glıˆch enist. Daz dritte, daz si luˆter und unvermenget ist. Daz vierde, daz si in ir selber würkende oder suochende ist. Daz vünfte, daz si ein bilde ist.“ In Sap., n. 88 (LW II, 421, 4): „Ioh. 1, secundum unam expositionem: ,in propria venit‘.“

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mäß der ersten sollen wir das in propria verstehen als das, was Gott eigentümlich ist 89, gemäß der zweiten hingegen im Sinne des Kommens Gottes in das Eigene 90. Es geht mithin erneut um das Verhältnis zwischen Schöpfergott und Schöpfung und um das tiefere Verständnis des Zusammenhangs zwischen immanenter und ökonomischer göttlicher Wesensnatur, ist doch - so lesen wir in der zweiten Exposition - Gottes Sein zugleich Gottes Wirkung und die Inkarnation ein Kommen vom gemeinsamen Gipfel in das Eigene 91. In der Exposition der ersten Leserichtung bietet Eckhart - gemäß seinem eigenen hermeneutischen Anspruch, die tieferen Gründe auszuweisen - zunächst drei Auslegungen an. Die erste gründet auf der ontologischen Grundannahme ,Deus est esse‘; denn nichts ist so zu Eigen wie das Seiende dem Sein. Dies impliziert auch Gottes Schöpfersein 92. Die zweite Begründung erweitert diese ontologische Grundannahme auf die Transzendentalien esse sive ens, unum, verum, bonum und betont insbesondere den Reichtum des Ersten, das ,dives per se‘ ist und „in allem ist und wirkt und zu allen kommt, insofern sie sind, insofern sie eins sind, insofern sie wahr und gut sind“ 93. Im Unterschied zu den ersten beiden Auslegungen, die ausdrücklich auf einem natürlichen Beweisprinzip gründen 94, spricht die dritte von Eckhart selbst als zumeist theologisch (magis theologice) qualifizierte Begründung schließlich von der Notwendigkeit des Erbarmens und der Erlösung: Diese geschieht durch die gnadenhafte Annahme an Sohnes Statt 95. Diese ,theologische‘ Begründung, die unmittelbar auf die dritte Auslegung des ,invocavi‘ zurückverweist 96, favorisiert Eckhart in der Auslegung des folgenden Bibelverses Joh. 1, 12-13: „Quotquot autem receperunt eum, dedit eis potestatem filios dei fieri“ - „Allen aber, die ihn aufnahmen, gab er Macht, Söhne Gottes zu werden“, die er durch eine die Auslegung von Joh. 1, 11 abschließende Bemerkung zum moralischen Verständnis vorbereitet 97. So muss die folgende Auslegung von Joh. 1, 12-13 als Explikation und Fortführung der moralis interpretatio von Joh. 1, 11 gelesen werden. Von den einleitenden vier Vorbemerkungen, 89 90 91

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In Ioh., nn. 96-98 (LW III, 83 sq.); cf. auch das Schema im Anhang, 32. In Ioh., nn. 99-103 (LW III, 85-89); cf. auch das Schema im Anhang, 32. In Ioh., n. 103 (LW III, 89, 4 sq.): „Deus ergo in hunc mundum veniens, creaturam assumens, factus homo, quasi de fastigio communis venit in propria.“ Ibid., n. 96 (LW III, 83, 9-11): „Notandum ergo quod nihil tam proprium quam ens ipsi esse et creatura creatori. Deus autem esse est, ipse et creator est.“ Ibid., n. 97 (LW III, 83, 13-84, 5). Ibid., n. 96 (LW III, 83, 8 sq.): „Potest tamen dici probabiliter, quia ad ista verba in propria venit et cetera in rebus naturalibus exemplariter manifeste convincit ratio naturalis.“ Ibid., n. 98 (LW III, 84, 12-14): „Ait ergo quod deus verbum, filius, in propria venit, id est in eos qui filii sunt dei per gratiam adoptionis.“ Cf. In Sap., n. 89 (LW II, 421, 8-423, 2). In Ioh., n. 105 (LW III, 90, 1-5): „Moraliter vult dicere quod deus venit in mentes hominum, qui se totos deo dedicaverunt et proprios fecerunt, ut non iam sibimet vivant, sed deo. Et hoc est quod dicitur: sui eum non receperunt, id est qui sibimet vivunt, quaerentes quae sua sunt, non quae dei. Et hoc ipsum est quod sequitur.“

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die das rechte Verständnis der Gnade der Kindschaft (gratia adoptionis) und die Möglichkeit der Aufnahme und des Trägerseins behandeln 98, greife ich an dieser Stelle nur die Erklärung des vierten Notandum heraus. Eckhart betont hier die Passivität des Aufnehmenden, gleich wie der Gegenstand, insofern er erkannt ist, sich selbst oder sein Bild in dem erkennenden Vermögen erzeugt und gebiert und folglich das erkennende Vermögen sein Sein vom Erkannten hat, ja das Sein des Erkannten annimmt 99. Bezogen auf die Sohnwerdung, von der die Bibel spricht, ist der Ort der Gottesgeburt das wesenhaft Vernünftige. Denn aus dem Geist müssen wir geboren werden, „so daß wir aus Gott allein geboren sind“ 100. Die Gottesgeburt, der ewige Hervorgang des Sohnes aus dem Vater, wird für Eckhart zum Grundmodell für die Beseligung des Menschen. In diesem Modell werden die in den zeitgenössischen Debatten vorgegebenen Grenzlinien in zweifacher Hinsicht überschritten: (i) zum einen mit Blick auf den vornehmlich von Dominikanern und Franziskanern geführten Streit über den Primat von Vernunft und Willen im Vollzug der visio beatifica durch die Verlagerung des Ortes der Glückseligkeit in die essentia animae, die den Seelenvermögen vorausgeht; auch die irdische Vollkommenheit des Menschen liegt in einer Instanz, die sich Vernunft und Willen entzieht 101; (ii) zum anderen durch die Interpretation des - aus der Verbindung der anaxagoreisch-aristotelischen Vorstellung von der Unbestimmtheit der Vernunft mit dem vom Konzept des intellectus possibilis her gewonnenen - Begriffs der Möglichkeit aus der Sicht der negativen Theologie dionysisch-proklischer Prägung, dergemäß das Überschreiten der reflexiven und selbstbestimmten Vernunft nicht im Modell der coniunctio des intellectus adeptus mit den separaten Substanzen, sondern als Überschreitung aller naturhaften Determiniertheit und aller intentionalen Konstitution und Vermittlung gedacht wird, indem der Intellekt seine Selbsttätigkeit und Dynamik der Selbstbegründung preisgibt, um in dieser Negativität der reinen Möglichkeit mit der Gottheit zu konvergieren 102. Gemeinsamer Referenzpunkt ist die am Beginn der Auslegung zitierte augustinische Grundintuition von einem inneren Wissen, das wir nicht durch unsere natürlichen Vermögen erwerben können, sondern das eine seinsmäßige Überfor98 99 100 101

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Cf. ibid., nn. 106-109 (LW III, 90-94); cf. hierzu auch das Schema im Anhang, 33. In Ioh, n. 109 (LW III, 94, 2): „potentia cognoscens accipit esse a cognito et ipsum esse cogniti.“ Ibid., nn. 110-111 (LW III, 95, 8-96, 6). Cf. hierzu R. Guerizoli, Die Verinnerlichung des Göttlichen. Eine Studie über den Predigtzyklus von der ˆewigen geburt (Prr. 101-104) und die Armutspredigt (Pr. 52) Meister Eckharts, Diss. Köln 2004 (STGMA), Leiden-Boston-Köln (im Druck). Cf. hierzu N. Largier, Theologie, Philosophie und Mystik bei Meister Eckhart, in: Aertsen/Speer (eds.), Was ist Philosophie im Mittelalter? (nt. 46), 704-711, hier bes. 706 sq.; ferner id., Art. ,Vernunft; Verstand. III. Mittelalter, E. Deutsche Dominikanerschule und Mystik‘, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, vol. 11, eds. J. Ritter/K. Gründer, Darmstadt 2001, 786790, hier: 787.

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mung erforderlich macht 103. Den Weg zu dieser Erkenntnis, die mit der Wendung nach innen beginnt und in dessen Verlauf der Mensch sich schließlich selbst übersteigt, indem er in die Selbsterkenntnis Gottes eingeht, der allein sich selbst in sich selbst erkennt 104, denkt Eckhart folglich nicht als einen auf Optimierung und Vervollkommnung der eigenen Erkenntnisvermögen und Erkenntniskräfte basierenden Aufstieg, vielmehr als einen Abstieg in die Demut, als ein Lassen vom Eigenwillen, als ein Lassen von sich selbst, ja letztlich auch von jeglichem Lassen 105. Wahre Selbsterkenntnis führt mithin über den Selbstverlust, über den Verlust aller erkenntnisvermittelnden Bilder und Vorstellungen. Denn wahre Selbsterkenntnis ist unmittelbar. Befreit von den Erkenntnisbildern erkennt der Mensch sich so, wie er von Gott erkannt wird, erkennt er schließlich Gott selbst und sich, insofern er Bild Gottes ist. Diese Gotteserkenntnis ist weder diskursiv noch reflexiv; sie überschreitet somit die natürlichen Bedingungen menschlichen Erkennens und geschieht durch einen Akt gnadenhafter Überformung, für den der Mensch sich bereiten soll: nicht durch die Flucht vor den Dingen in eine äußerliche Einsamkeit; vielmehr muss der Mensch - in Eckharts Worten - „eine innere Einsamkeit lernen, wo und bei wem er auch sei. Er muß lernen, die Dinge zu durchbrechen und seinen Gott darin zu ergreifen und ihn kraftvoll in seiner wesenhaften Weise in sich hineinbilden zu können“ - so lesen wir bereits in den ,Rede der underscheidunge‘ 106. Darin besteht die wahre Abgeschiedenheit. Erst durch diese gnadenhafte Überformung kann sich ein Wissen um die Gotteserfahrung herausbilden, das dem Menschen als Wissen auch in seiner Verwirklichung naturhaft zukommt, insofern er Vernunft besitzt. Aus dieser Einsicht ergeben sich für Eckhart unmittelbar Regeln für das geistliche Leben, die er in einer abschließenden Reflexion der Auslegungen des ,in propria venit‘ des Johanneskommentars ableitet. Auch dies ist charakteristisch für seine ,neue Metaphysik‘ (so Mojsisch), die - wie Eckhart in seiner Pariser Universitätspredigt ausgeführt hatte - nicht nur die Theologie des Evangeliums und die Philosophie qua Metaphysik miteinander verbindet, sondern in gleicher Weise Theologie und Ethik miteinander identifiziert und in die Konvergenz von Theologie und Metaphysik hineinnimmt 107. Im Einzelnen sind es vier Regeln, die Eckhart in seiner moralis expositio zu Joh. 1, 12-13, welche jedoch den gesam103

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Cf. W. Goris, Die Vergegenwärtigung des Heils. Thomas von Aquin und die Folgezeit, in: J. A. Aertsen/M. Pickave´ (eds.), Ende und Vollendung. Eschatologische Perspektiven im Mittelalter (Miscellanea Mediaevalia 29), Berlin-New York 2002, 417-433, bes. 429. Cf. Pr. 15 (DW I, 252, 2-7). Cf. RdU, c. 3 (DW V, 192-194). RdU, c. 6 (DW V, 207, 5-9): „Diz enmac der mensche niht gelernen mit vliehenne, daz er diu dinc vliuhet und sich an die einœde keˆret von uˆzwendicheit; sunder er muoz ein innerlich einœde lernen, swaˆ oder bıˆ swem er ist. Er muoz lernen diu dinc durchbrechen und sıˆnen got dar inne nemen und den kreftliclıˆche in sich künnen erbilden in einer wesenlıˆchen wıˆse.“ Cf. Mojsisch, Meister Eckhart (nt. 50), 14 sq.; hierzu Speer, Ethica sive theologia (nt. 46), 683693.

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ten rekonstruierten Auslegungszusammenhang einschließt, ausdrücklich nennt. Nichts Menschliches und folglich auch nichts Weltliches und Geschaffenes, so lautet die erste der Regeln, dürfe sich in uns gebären, damit wir aus Gott allein geboren sind 108. Daraus folgt für das geistliche Leben als zweite Lehre, „daß der Mensch sich überall und in allem einförmig verhalten muß, um göttlich und gottförmig zu sein“ 109. Je mehr er daher das Vielerlei meidet und das Eine erstrebt, desto vollkommener und gottförmiger (deiformis), so die dritte Regel, wird er 110. Denn, so fügt Eckhart hinzu, wer sich vom Einen entfernt, „fällt ab vom Wahren, fällt ab vom Guten, fällt ab von Gott“ 111. Sofern nämlich der Mensch als Gottes Abbild (,ad imaginem Dei‘) geschaffen ist, ist er nach dem Einen geschaffen, findet er seine beseligende Vollendung nur in der Rückkehr zu diesem Einen 112. „Wer demnach Gott in sich finden will“, so lautet schließlich die vierte Regel, „der muß Gottes Sohn sein.“ 113 In gleicher Weise legt Eckhart auch im Sapientiakommentar die Ankunft der Weisheit als In-die-Welt-Kommen des Geistes und des Sohnes aus, dem die Weisheit und Wahrheit in Gott als eigentümlicher Name zukommt 114. Der Mensch, der so die Eigenschaften des Göttlichen annimmt, wird Sohn Gottes (filius Dei ), denn Gott wirkt in der Seele nichts anderes als in sich selbst 115. Wer demnach die Weisheit Gottes besitzt, so führt uns Eckhart in die subtilere Auslegung 116 des Sapientiakommentars zurück, „der erachtet alles übrige für nichts“ - denn getrennt vom göttlichen Sein (,divisum ab esse‘) ist alles nichts 117. Die Weisheit zu besitzen, heißt eben dies zu erkennen, heißt alles Geschaffene für nichts zu halten, heißt sich von allem Geschaffenen abzuscheiden und dorthin einzukehren, wo man die Weisheit vorzüglich zu suchen hat: in den inneren Menschen (,in interiori homine‘) 118. Wer also die Weisheit erkennen will, der gehe nicht nach draußen, sondern kehre bei sich ein. Das Augustinus-Zitat, das am 108

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In Ioh., n. 111 (LW III, 96, 3-5): „Vult ergo dicere quod nihil humanum et per consequens nihil mundanum neque creatum debet se gignere in nobis, ut simus ex illo nati, sed ex deo solo nati.“ Ibid., n. 112 (LW III, 97, 2-4): „docet moraliter secundo quod homo, divinus ut sit et deiformis, debet esse ubique et in omnibus uniformiter se habens.“ Ibid., n. 113 (LW III, 97, 13-15): „in propria venit nota moraliter tertio quod quanto quis elongatur a multo et unum intendit, tanto est perfectior et divinior.“ Ibid., n. 114 (LW III, 99, 7): „Recedens ergo ab uno, cadit a vero, cadit a bono, cadit a deo.“ Ibid., n. 549 (LW III, 479, 3 sq.): „Homo autem creatus est ad imaginem totius substantiae dei, et sic non ad simile, sed ad unum“; ibid. (479, 8-480, 1): „Homini autem, cum sit factus ad imaginem totius unius substantiae dei et sit in esse productus sub ratione unius totius, non sufficit recursus ad simile, sed recurrit ad unum unde exivit, et sic solum sibi sufficit.“ Ibid., n. 115 (LW III, 100, 10 sq.): „notandum quarto moraliter quod volens deum in se invenire oportet quod sit filius dei.“ Cf. In Sap., n. 89 (LW III, 421, 8-422, 7). Cf. In Ioh., n. 120 (LW III, 121, 5-10). In Sap., n. 91 (LW II, 424, 7): „Secundo modo potest dici subtilius quod sapiens ait.“ - Cf. zum Zusammenhang das Schema im Anhang, 31. Ibid., n. 91 (LW II, 424, 11-14): „Divisum autem ab esse et distinctum necessario nihil est […]. Notandum ergo primo quod habens sapientiam dei omnia cetera reputat esse nihil, et vere nihil sunt sine deo.“ Ibid., n. 88 (LW II, 421, 2); cf. supra, 17 sq.

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Ausgang der Auslegung stand, die uns durch eine Fülle von Verweisen führte, steht nun in seinem ganzen Reichtum und in seiner ganzen Tragweite vor Augen. Das unauslöschliche göttliche Licht nämlich, die ungeschaffene Weisheit, leuchtet im verborgenen Grund der Seele (,in abdito mentis‘) 119. Dies ist der Ort, der auf den ,Ursprung ohne Ursprung‘ (,principium sine principio‘) verweist, wo sich in Analogie zur göttlichen Weisheit, die der Sohn ist, das Zeigen des unvordenklichen Ursprungs ereignet, „der gleichsam in sich verborgen und verhüllt ist und nicht nach außen durch Sendung hervorgeht“ 120. IV. Eckhar t und sein Projekt: einig e Perspektiven Von der Zurückführung der Vielheit der Expositionen auf die sinngemäße Einheit des zugrunde liegenden Bibelspruchs hatte Eckhart in seinem zweiten Prolog zum ,Opus expositionum‘ gesprochen und davon, dass der von ihm ins Auge gefasste Leser die dargebotenen Auslegungsalternativen nicht nur auswählen, sondern als ein ,eifriger Leser‘, als studiosus lector, die Begründungen der Auslegungen erforschen soll 121. Blicken wir zurück, so bestätigt sich der von Eckhart behauptete Verweiszusammenhang in mehrfacher Hinsicht. Die für den ,groben‘, oberflächlichen Leser scheinbar verstreut vorgebrachten Lehrstücke vom inneren Menschen und den inneren Verstandeskräften, vom unauslöschlichen Licht und vom intellectus agens, vom abditum mentis und der Sohnwerdung, treten in ihrer inneren Systematik hervor und erhalten letztlich ihre Fundierung in einer Einheitsmetaphysik, die in der Konsonanz von biblischer und philosophischer Wahrheit die Vollendung des Menschen artikuliert. In diesem Spannungsfeld bringt die Weisheitsfrage die ethische Dimension im Denken Eckharts auch explizit zur Sprache, jedoch weder im Sinne einer philosophischen Ethik als praktischer Wissenschaft noch unmittelbar als Anweisung zum guten Leben oder als Lebensform einer Klasse von Intellektuellen. Im Grunde erweist sich Eckharts ,neue‘ Metaphysik somit als eine ,alte‘ Metaphysik in der longue dure´e eines im Horizont der Weisheit definierten Selbstverständnisses der Philosophie, in welches das Christentum scheinbar nahtlos eintreten konnte - als eine Art praktische Metaphysik, der es, wie Theo Kobusch zu zeigen versucht hat, um eine metaphysische Selbsterkenntnis im Sinne eines Wachsamseins gegenüber sich selbst zu tun ist 122. Gegenüber der scharfen wissenschaftstheoretischen 119 120

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Ibid., n. 95 (LW II, 429, 3); cf. supra, 20 sq. Ibid., n. 89 (LW II, 422, 4-7): „oportet ad ipsum venire et ipsum quaerere in se ipso, in sibi proprio, quod est ,principium sine principio‘, Ioh. 1: ,in principio‘, id est in patre, ,erat verbum‘. Et propter hoc Ioh. 14 filio dicitur: ,ostende nobis patrem‘, quasi in se ipso absconditum et latentem, non foras missione procedentem.“ Cf. nt. 53-56. Cf. Th. Kobusch, Metaphysik als Lebensform. Zur Idee einer praktischen Metaphysik, in: W. Goris (ed.), Die Metaphysik und das Gute. Aufsätze zu ihrem Verhältnis in Antike und Mittelalter. Jan A. Aertsen zu Ehren (RTPM - Bibliotheca 2), Leuven 1999, 27-56, bes. 45-52, sowie den Beitrag von Th. Kobusch in diesem Band, 239-258.

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Unterscheidung in Theorie und Praxis betont sie die enge Verbindung zwischen der Möglichkeit vollkommener Erkenntnis und der individuellen Vollendung des nach Weisheit strebenden Menschen, ja, bindet die theoretische Einsicht an die nur individuell zu erreichende Vollkommenheit. Damit aber wird zugleich erklärlich, warum Meister Eckhart sich nur schwerlich in eines der gängigen historiographischen und forschungsspezifischen Schemata fassen lässt. Wer beispielsweise mittelalterliche Philosophie vornehmlich im Gegensatz zur Theologie zu rekonstruieren trachtet, wird für Eckharts Anliegen entweder keinen Platz finden oder es um eine entscheidende Dimension verkürzen. Ebenso erschließt sich die Radikalität seines theologischen Fragens in Hinblick auf die Gnade, auf die natürliche Gotteserkenntnis oder die Lehre von der visio Dei in diesem Leben nicht ohne den zugrunde liegenden spekulativen Grundansatz. Dies zeigt geradezu exemplarisch der Prozess gegen Eckhart. Schließlich ermöglicht erst die umfassende Sicht von Scholastik und Mystik als distinkter intellektueller Formationen eine Gesamtsicht auf das Eckhart’sche Œuvre. Denn Eckhart ist nicht der Einzige, der sich in beiden Formationen bewegt hat. Dies zeigen nicht zuletzt die magistralen Überblickswerke zur Geschichte der abendländischen Mystik von Kurt Ruh und Bernard McGinn 123. Es wird aber auch deutlich, wie sich im Rahmen der volkssprachlichen Literatur eine neue Erfahrungsdimension erschließt, die - folgt man dem Literaturbegriff des Verfasserlexikons - einer ursprünglichen Einheit von Ästhetik und Lebenspraxis entspringt, die für das mittelalterliche Schrifttum, insbesondere aber für die geistliche volkssprachliche Literatur, kennzeichnend ist. Ähnliches kann man rückblickend auch von Meister Eckhart sagen, der sich - geleitet von seinem vorrangigen Anliegen der Vollendung des Menschen - auf die Suche nach dem inneren Menschen begibt. Diesen findet er vorzüglich in der Einheit mit seinem göttlichen Ursprung. Vielleicht liegt hierin der tiefere Grund, warum Eckhart seine Universitätskarriere zugunsten der Seelsorge, die Arbeit an seinem spekulativen Entwurf zugunsten der Predigt immer wieder unterbrochen, hintangestellt oder gar aufgegeben hat. Und dennoch gehören der lesemeister und der lebemeister zusammen - und das nicht nur biographisch. Denn der ethische Anspruch des lebemeisters kommt nicht aus einer ausgearbeiteten wissenschaftlichen Ethik - dies zeigt gerade der Blick auf die Grundlegungsversuche einer scientia practica im Ausgang von Aristoteles’ ,Nikomachischer Ethik‘ 124 - oder einer religiösen Praxis, auch wenn Eckhart sein ganzes Leben über geistlicher Begleiter war und dem geistlichen Leben einen 123

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K. Ruh, Geschichte der abendländischen Mystik, 4 vol. , München 1990 sqq.; B. McGinn, The Presence of God: A History of Western Christian Mysticism, 4 vol. , New York 1992 sqq. Cf. W. Kluxen, Philosophische Ethik bei Thomas von Aquin, Hamburg 31988, 21-57; G. Wieland, Ethica - scientia practica. Die Anfänge der philosophischen Ethik im 13. Jahrhundert, Münster 1981, 72-83 u. 98-99 (BGPhThMA, N. F. 21). Ferner auch die Arbeiten von H. Möhle, Ethik als scientia practica nach Johannes Duns Scotus: eine philosophische Grundlegung (BGPhThMA, N. F. 44), Münster 1995, u. J. Müller, Natürliche Moral und philosophische Ethik bei Albertus Magnus (BGPhThMA, N. F. 59), Münster 2001.

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zentralen Stellenwert eingeräumt hat, sondern dieser Anspruch entspringt unmittelbar den theoretischen Grundeinsichten des lesemeisters. Hierbei ist es die Metaphysik, welche die wesentlichen Einsichten freilegt, die zu einer Radikalisierung der Frage nach dem Glück als Rückkehr in die ursprüngliche Einheit Gottes führen, und die Bedingungen für diese Rückkehr in den göttlichen Ursprung, der im Grunde der Seele erfasst wird, aufdeckt. Die ethischen Konsequenzen sind ebenso grundsätzlicher Natur und ergeben sich, wie wir an einigen Beispielen zeigen konnten, ohne Vermittlung durch eine als praktische Wissenschaft auftretende Ethik unmittelbar aus den metaphysischen Grundeinsichten, wie etwa der Lehre vom göttlichen Seelengrund. Folglich besteht die ethische Dimension vorzüglich in der Rückkehr zu jenem Ursprung, die dem Menschen, der wesenhaft nach dem Bilde Gottes, und das heißt nach dem Einen, geschaffen ist, auf eine besondere Weise aufgetragen ist. Denn kraft seiner Vernunftnatur hat er unmittelbaren Anteil an der göttlichen Weisheit, „die mit Stärke von einem Ende bis zum anderen reicht und alles in Milde ordnet“ - so heißt es in Sap. 8, 1. Diesem Bibelvers, den auch Augustin dem 39. Kapitel von ,De vera religione‘ vorangestellt hatte, widmet Eckhart in seinem Sapientiakommentar eine große Exposition. Auf diese Weise erfährt zugleich die vorhergehende Auslegung des Bibelverses Sap. 7, 7 eine bedeutsame Weiterführung - etwa in der sechzehnten Exposition, in der Eckhart den Bibelspruch gemäß Aristoteles im Sinne der ordinativen Funktion der Weisheit auslegt. Zwar kommt es Gott in Rücksicht auf die Weisheit allein im eigentlichen Sinne zu, „von einem Ende bis zum anderen zu reichen“, insofern er die einzelnen Dinge zu den ihnen eigenen Zielen lenkt, und „alles mit Milde zu ordnen“, insofern er dies durch Mittel bewirkt, die mit den eigenen Zielen der einzelnen Dinge übereinstimmen 125. Doch haben gerade jene Tätigkeiten, deren Prinzip die Vernunft und der Verstand sind, und die sich folglich auf vieles, ja - soweit die menschliche Seele ,Wohnsitz der Weisheit‘ ist -, gewissermaßen auf alles richten können, in besonderem Maße Anteil an jenem göttlichen Tun. Denn in der Loslösung (Abscheidung) von allem Äußerlichen und in seiner Verneinung strebt der vernünftige, genauer der verständige Mensch auf denjenigen Zustand hin, in dem sich das Ganze in seinem universellen Ursprung zu zeigen vermag 126. Damit ist zugleich deutlich: Nicht um eine kurzschlüssige lebensweltliche Anwendung im Sinne einer optimierten Lebensführung oder eines gesteigerten individuellen Wohlbefindens, nicht um eine Form verborgener Spiritualität, für die Eckhart heute so oft herhalten muss, geht es hier, sondern buchstäblich um 125

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In Sap., n. 186 (LW II, 523, 3-6): „Hinc est ergo quod deo ratione solius sapientiae proprie convenit, sicut hic dicitur, attingere a fine usque ad finem, in quantum res singulas in fines proprios dirigit, et disponere omnia suaviter, in quantum hoc facit per media consona propriis finibus singulorum.“ Ibid., n. 186 (LW II, 522, 9-12): „Ubi notandum quod omnis actio, cuius principium est natura, ad unum est, sicut et ens omne natura unum est. Actio vero, cuius ratio est principium sive intellectus, ad multa esse potest, sicut et ratio ipsa multorum et ad multa est.“ - Cf. Goris, Prout iudicaverit expedire (nt. 53), 251-253.

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den Ernstfall der menschlichen Existenz, um die wahre Erfüllung unseres Strebens und unserer Sehnsüchte, kurz: um das Glück des Menschen. Mit Blick auf die Erfüllung dieses Strebens denkt Eckhart die Gottesschau radikal als Vereinigung mit Gott, als eine Vereinigung, die nicht erst nach dem Tod in einem künftigen Leben, sondern schon in diesem Leben möglich ist. In eben diesem Sinne ist Eckhart Mystiker, steht er in der langen Tradition christlicher Mystik, die wiederum Motive des Neuplatonismus aufgreift und christlich zu überbieten trachtet 127. Augustinus und Dionysius Areopagita sind ihm hier die Gewährsleute: der Meister der Lehre vom Seelengrund und der Meister der mystischen Theologie, ebenso wie die monastische spekulative Mystik des 12. Jahrhunderts, die in der Nachfolge der Patristik eine praktische Metaphysik zu sein beansprucht, der es nicht nur um einen theoretischen Diskurs, sondern um die Existenz des Menschen selbst geht, um die ethische Dimension eines solchen Wissens. Beides bildet für Eckhart von Anfang an eine untrennbare Einheit, wie sie sich dem studiosus lector seiner Schriften erschließt. Doch steht der heutige Leser, auch wenn er sich im Eckhart’schen Sinne eifrig bemüht, vor einem oftmals nur schwer zu überwindenden Problem. Ihm sind viele der leitenden Intuitionen Eckharts abhanden gekommen: die Verbindung von Geistigkeit und Vernünftigkeit, von Vollkommenheit und Gotteserkenntnis, von Demut und Glückseligkeit. So kommt es nicht selten zu fundamentalen Missverständnissen, wenn beispielsweise die Erfüllung der Bedingungen, von denen Eckhart mit Blick auf die in der Einswerdung mit Gott zu erreichende beatitudo spricht, im Sinne einer ,Technik‘ missverstanden wird, bildet doch gerade die intentionale Ausübung unserer Erkenntnis- und Strebekräfte ein unüberwindliches Hindernis auf dem Weg zur Glückseligkeit; denn „je mehr man dich sucht, um so weniger findet man dich“, heißt es vom verborgenen Gott im Grunde der Seele, „wo Gottes Grund und der Seele Grund ein Grund sind“ 128. „Daß wir ihn so suchen, daß wir ewig in ihm bleiben“ 129, setzt vielmehr einen Wandel der Einstellung voraus, nicht dann und wann, sondern grundsätzlich, wo auch immer man ist und was auch immer man tut - das hatte Eckhart bereits in den ,Rede der underscheidunge‘ ausgeführt. Um eine solche ethische Einstellung, die ihren Ernstfall in der als Glückseligkeit des Menschen gedachten Einswerdung mit Gott besitzt, geht es Meister Eckhart. Vielleicht liegt hier der entscheidende Grund für die Faszination, die von Meister Eckhart und seinem Denken bis heute ausgeht. Er scheint die immer wieder artikulierte Sehnsucht nach der Identität von Theorie und Praxis, nach der Übereinstimmung zwischen dem, was man sagt und lehrt, und dem, was 127

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Cf. Largier, Theologie, Philosophie und Mystik (nt. 102); ferner die Beiträge von N. Largier, 298-313, Th. Kobusch, 239-258, und B. McGinn, 538-553, in diesem Band. Pr. 15 (DW I, 253, 4-8): „darumb sprach der prophet: ,warlich, du bist der verborgen got‘ in dem grund der sele, da gottes grund vnd der sele grund ain grund ist. So man dich ie me suochet, so man dich ie minder vindet. Du solt in suochen, also das du in niena vindest. Suochest du in nit, so vindest du in.“ Ibid. (DW I, 253, 8 sq.): „Das wir also suochent, das wir ewenklich bi im belibent, des helf vns got.“

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man tut, zu verkörpern. Doch übersehen wir nicht die Grundlage, die Eckhart auf Distanz hält zu den schwärmerischen Geistern seiner Zeit und die ihn davor bewahrt, zum mediokren Guru zu werden, zu dem er heute mitunter gemacht wird: Es ist die spekulative Durchdringung und die metaphysische Distanznahme im Rückgang auf die zugrunde liegenden Bedingungen der sich ihrer selbst vergewissernden Vernunft, die zum Eingeständnis ihrer Grenze führt, einer Grenze, die nicht aus dem Eigenwillen heraus überschritten werden kann, sondern eine besondere Aufmerksamkeit und Offenheit erfordert für das, was Gnade heißt.

ANHANG Expositio libri Sapientiae, c. 7, vv. 7-10 (LW II, nn. 85-95) Sap. 7, 7: „Optavi, et datus est mihi sensus, et invocavi, → Sap. 7, 8 (→ ,optavi‘) et venit in me spiritus sapientiae“ (nn. 85-89). → Sap. 7, 10 (→ ,invocavi‘) n. 85: Optavi. Notandum quod ea quae sunt magna bona naturae et quae supra vires nostras sunt et etiam impossibilia naturae, solent optari. n. 86: Et hoc est quod hic dicitur: optavi, sapientiam scilicet, et sequitur: ,praeposui illam regnis et sedibus‘. n. 87: ,Invocavi‘ - (1a expositio): - Augustinus super illud ,Tu, domine, suavis ac mitis et multum misericors omnibus invocantibus te‘, Ps. 85, quaerit quomodo omnibus invocantibus sit deus misericors. (→ Augustinus, En. in Ps. 85, 8) - ,Invoca deum tamquam deum, ama deum tamquam deum. Illo nihil melius est; ipsum desidera, ipsum concupisce‘ (ibid.). → Predigt 59 ,Daˆnieˆl der wıˆssage sprichet: ,wir volgen dir naˆch‘‘. n. 88: ,Invocavi‘ - (2a expositio): → Augustinus De vera religione […]: ,noli foras ire, in te ipsum redi, in interiori homine habitat veritas‘. (→ Augustinus, De vera religione, XXXIX, 72) → Ioh. 1, secundum unam expositionem: ,in propria venit‘ → In Ioh., nn. 96105 (& nn. 106-113) n. 88: ,in propria‘, id est hominum vires intellectuales interiores → Sermo VII ,Homo quidam erat dives‘ → Sermo XLVII/1 ,Confidimus in domino Iesu‘ → Predigt 15 ,Homo quidam nobilis‘ n. 89: ,Invocavi‘ - (3a expositio): - filius et spiritus sanctus proprie invocantur et ad nos vocantur et in nos sive ad nos veniunt. Istae enim duae personae in divinis sunt ab alio et propter hoc mittuntur. - et propter hoc Ioh. 14 filio dicitur: ,ostende nobis patrem‘, quasi in se ipso absconditum et latentem, non foras missione procedentem. → In Ioh., n. 75: ,lux in tenebris lucet‘ (= principium absconditum)

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- et hoc est quod hic dicitur: venit in me spiritus sapientiae, id est filii, qui est sapientia et veritas appropriate in divinis. (→ In Eccli., n. 6; In Ioh., n. 419) Sap. 7, 8: ,Divitias nihil dixi in comparatione illius‘ (nn. 90-91). (→ In Sap., nn. 85-86) n. 90 (1∞ modo): - tantum bonum est deus. - nihil est sine ipso quam quod nec ipse sine se esse potest. (→ In Ioh., nn. 96-97) n. 91 (2∞ modo - subtilius): - omne autem ens divisum a deo dividitur et distinguitur ab esse, quia deus est ipsum esse. → Sermo XXX/2 ,Ex toto corde tuo‘ (LW IV, n. 317) - divisum autem ab esse et distinctum necessario nihil est → In Ioh., n. 114 - notandum ergo primo quod habens sapientiam dei omnia cetera reputat esse nihil, et vere nihil sunt sine deo. Sap. 7, 10: ,Inexstinguibile est lumen illius‘ (nn. 92-95): dupliciter potest hoc accipi: primo de sapientia increata, secundo de sapientia participata. (→ In Sap., nn. 8789) n. 92 (1∞ modo): sapientia increata: - hoc lumen non potest exstingui sive occultari aliquo maiori lumine. (→ Lib. de causis, prop. 5[6]) - lumen […] sapientiae, utpote supremum, est inexstinguibile. n. 93 (2∞ modo - magis proprie): sapientia participata: - deus magis lux est proprie quam lumen. - primo quidem quod lumen significat aliquid participatum, utpote factum; […] secundo quod ipsum est ,indeficiens‘. (→ Eccli. 24, 6) - et hoc est quod hic dicitur: inexstinguibile est lumen illius. - ad hoc facit quod expositores philosophi dicunt intellectum agentem esse aliquid animae, eo quod ipsum vocat lumen, non lucem, in III De anima. (→ In Ioh., n. 94) → In Ioh., n. 94: - omnis perfectio, praecipue ipsum esse, lumen sit et radix omnis perfectionis lucentis. - philosophus III De anima intellectum agentem lumen vocat. Et multa huic similia inveniuntur in sacra scriptura et in libris philosophorum. - sciendum igitur quod lumen participatum a deo, secundum illud: ,signatum est super nos lumen vultus tui, domine‘, inexstinguibile est. n. 94: - lumen quidem sapientiae, sub ratione sapientiae, non recipitur in corporibus, sed nec in anima rationali, ut natura sive ens est in natura, sed in ipso solo ,intellectu‘, in quantum intellectus est, superius ,aliquid‘ est et ,divinius‘, secun-

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dum quod ,genus dei‘ sumus, Act. 17, secundum quod ad imaginem sumus increati dei. - ,Eo enim imago est, quo dei capax est‘. (→ Augustinus, De Trinitate XIV, 8, 11) - patet igitur ratio, quare lumen sapientiae hoc ipso est inexstinguibile, quo in intellectu recipitur. n. 95: - Plato probat animam eo esse immortalem, quo capax est et subiectum sapientiae. (→ Plato, Phaedo 79 C) - Augustinus docet quod in abdito mentis semper lucet, quamvis lateat, lumen divinum. (→ Augustinus, De Trinitate X, 12, 19; XIV, 7, 9; XIV, 14, 18) - posset etiam dici quod lumen sapientiae, quamvis in nobis exstinguatur, in se tamen et ex sui natura est inexstinguibile, et habet ex se non exstingui, non abscondi nec ,poni sub modio‘, secundum illud Luc. 11 (33, 35).

Expositio s. evangelii sec. Iohannem, c. 1, vv. 11-13 (LW III, nn. 96-113) nn. 96-105: ,In propria venit‘ ( Joh. 1, 11) 1a expositio (nn. 96-98): - manifeste convincit ratio naturalis: - Deus autem esse est, ipse et creator est (n. 96). - propria ista, in quae deus venit, sunt esse sive ens, unum, verum, bonum. Haec enim quattuor deus habet propria, utpote ,primum‘, quod ,est dives per se‘. Habet ista, quia ,dives‘; habet propria, quia ,per se‘ (n. 97). - Docemur ergo primo quod deus est et operatur in omnibus et venit ad omnes et ad omnia, in quantum sunt, in quantum unum sunt, in quantum vera, in quantum bona. Secundo docemur quod deus veniens et eius praesentia immediate et nullo cooperante operatur in omnibus entitatem, unitatem, veritatem et bonitatem analogice quidem (n. 97). - magis theologice (n. 98): - quod haec propria, in quae venit deus verbum, sunt misereri, secundum illud Gregorii. (→ Sacramentarium Gregorianum, n. 201) 2a expositio (nn. 99-103): - quod autem sequitur: sui eum non receperunt, quantum ad tres expositiones praemissas eius quod dicitur in propria venit, potest exponi (nn. 99-100). - in propria venit, propria scilicet homini et naturae humane (nn. 101-102). - Deus est extra et supra omne genus (n. 103): - probat hoc ipsum ens, effectus dei, quod non est in genere nec proprium alicui generi, sed commune omni generi. - deus ergo in hunc mundum veniens, creaturam assumens, factus homo, quasi de fastigio communis venit in propria. - Et hoc est quod hic manifeste dicitur: ,erat lux vera quae illuminat omnem hominem‘ ( Joh. 1, 9). (→ In Sap., n. 93) 1um notandum: litteraliter (n. 104): quod verbum assumpsit carnem. 2um notandum: moraliter (n. 105): quod deus venit in mentes hominum, qui se totos deo dedicaverunt et proprios fecerunt, ut non iam sibimet vivant, sed deo.

Zwischen Erfurt und Paris: Eckharts Projekt im Kontext

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nn. 106-113: ,Quotquot autem receperunt eum, dedit eis potestatem filios dei fieri‘ ( Joh. 1, 12-13). - 4 notanda: (i) quod homo sit per gratiam adoptionis quod ipse [Christus] est per naturam, secundum quod hic dicitur: dedit eis potestatem filios dei fieri (n. 106). (ii) quod omne recipiens et participans ut sic nudum est et in potentia sola passiva (n. 106). (iii) quod potentia passiva seu receptiva universaliter et naturaliter per id, quod quid est potentia, totum suum esse accipit ab obiecto (n. 107). → ut actu sunt, hoc videns, illud visum, sic unum sunt, uno sunt et eodem actu sunt hoc videns, illud visum. → cum enim homo […] accipit totum suum esse se toto a solo deo, obiecto, sibi est esse non sibi esse, sed deo esse, deo, inquam, ut principio dante esse, et deo ut fini, cui est et cui vivit, se ipsum nescire nec quidquam nisi deum et in deo, in quantum in deo et in quantum deus. (iv) quod obiectum, cognitum scilicet, gignit se ipsum vel speciem suam et parit in potentia cognoscente (n. 109). → potentia cognoscens accipit esse a cognito et ipsum esse cogniti. → si quid enim praeter deum patrem haberet, parientem se in homine et cognitum ab homine, ab illo formaretur et acciperet esse ab illo et esse illius, et consequenter non esset perfectus nec vere filius solius dei […], sed nec esset filius dei. → Hoc est ergo quod hic dicitur: quotquot autem receperunt eum, nudi scilicet ab omni forma genita et impressa a creatura, dedit eis potestatem filios dei fieri, his qui credunt in nomine eius, id est notitia eius […], ut cognoscant‘ scilicet ,solum deum‘ (n. 110). (→ In Ioh., n. 107) - notandum (n. 111): in homine tria sunt: - unum irrationale nec oboediens rationi - appetitus […] concupiscibilis et irascibilis → rationale per participationem - rationale per essentiam nn. 111-115: docet moraliter: - quod nihil humanum et per consequens nihil mundanum neque creatum debet se gignere in nobis (n. 111). - quod homo, divinus ut sit et deiformis, debet esse ubique et in omnibus uniformiter se habens (n. 112). - quod quanto quis elongatur a multo et unum intendit, tanto est perfectior et divinior (n. 113). → recedens ergo ab uno, cadit a vero, cadit a bono, cadit a deo (n. 114). - quod volens deum in se invenire oportet quod sit filius dei (n. 115).

Meister Eckharts deutsche reden und predigten in seiner Erfurter Zeit Georg Steer (Eichstätt) I. Die Predigt mit dem Textwort ,Beati pauperes spiritu‘ gilt als eine der spätesten Predigten, die uns von Meister Eckhart erhalten ist. In ihr gelangt Eckhart, wie sich Kurt Ruh ausdrückt, „zu den kühnsten Folgerungen und Formulierungen seiner Abgeschiedenheits-Spiritualität“ 1. Arm ist der Mensch, der nichts will, nichts weiß und nichts hat. Am Schluss der letzten Armut, der äußersten Armut, führt Eckhart aus: „Also lehren wir, der Mensch solle so arm dastehen, daß er keine Stätte sei und keine Stätte habe, in der Gott wirken könnte. Wo der Mensch noch eine solche Stätte behält, dort hält er am Unterschied fest. Darum also bitte ich Gott, daß er mich ablöse von Gott, da mein wesentliches Wesen oberhalb Gottes steht, sofern wir Gott begreifen als den Ursprung der Geschöpfe. Denn in demselben Wesen Gottes, aufgrund dessen Gott oberhalb von Sein und Unterschied steht, da war ich selbst. Und dort wollte ich mich selbst, und dort erkannte ich mich selbst als den, der diesen Menschen schuf. Darum bin ich Ursprung meiner selbst, nach meinem Wesen, das ewig ist, nicht nach meinem Werden, das zeitlich ist. Aufgrund des Werdens bin ich geboren, und sofern ich geboren bin, kann ich sterben. Sofern ich ungeboren bin, bin ich ewig gewesen, bin ich jetzt und werde ich ewig dauern. Was an mir geboren ist, das wird sterben und zunichte werden, denn es ist zeitlich, darum muß es in der Zeit zugrunde gehen. Bei meiner Geburt, da wurden alle Dinge geboren, und ich war Ursprung meiner selbst und aller Dinge, und hätte ich gewollt, so wäre ich nicht entstanden, und alle Dinge wären nicht entstanden. Und wäre ich nicht, dann wäre auch Gott nicht. Daß Gott Gott ist, dafür bin ich der Ursprung. Und wäre ich nicht, dann wäre Gott nicht Gott. Dies muß man nicht unbedingt wissen.“ 2 Papst Johannes XXII. verurteilte in der Bulle vom 27. März 1 2

K. Ruh, Meister Eckhart. Theologe, Prediger, Mystiker, München 21989, 158. Meister Eckharts Predigten, ed. u. übers. v. J. Quint (Meister Eckhart, Die deutschen und lateinischen Werke, ed. im Auftrage der Deutschen Forschungsgemeinschaft: Die deutschen Werke, vol. 1-3 [= DW I-III]), Stuttgart 1958, 1971 u. 1976, hier: Pr. 52 (DW II, 502, 4-504, 3); N. Largier (ed.), Meister Eckhart: Werke I u. II (Bibliothek des Mittelalters 20 u. 21), Frankfurt a. M. 1993, Pr. 52 (vol. I, 550-563, hier: 560, 13-562, 2; Neuausgabe der Predigt ,Beati pauperes spiritu‘ v. G. Steer, in: G. Steer/L. Sturlese (eds.), Lectura Eckhardi I, Stuttgart-BerlinKöln 1998, 164-180, hier: 176, 27-178, 15: „Alsoˆ sprechen wir, daz der mensche alsoˆ arm sül staˆn, daz er niht ensıˆ noch enhabe deheine stat, dar got inne müge würken. Daˆ der mensche stat beheltet, daˆ beheltet

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1329 Eckhart, weil er „mehr wissen wollte als nötig war […], weil er sein Ohr von der Wahrheit abkehrte und sich Erdichtungen zuwandte“ 3. Eine pia opinio könnte argumentieren, Johannes XXII. hätte Eckhart unbesonnene Wissbegier nicht vorgeworfen, wenn er dessen ,Armutspredigt‘ gekannt hätte. Eckhart betont in ihr ausdrücklich, dass man um diese Armut nicht unbedingt wissen muss 4 und dass auch die guoten liute sie nicht alle verstehen: „Ich sage es noch besser und nehme ,Armut‘ in einem höheren Sinn: Ein armer Mensch ist, wer nichts will, nichts weiß und nichts hat. Von diesen drei Punkten will ich heute reden, und um der Liebe Gottes willen beschwöre ich euch, ihr möchtet diese Wahrheit verstehen, wenn ihr könnt. Und versteht ihr sie nicht, so sorgt euch darum nicht, denn ich will von einer Wahrheit sprechen, die so beschaffen ist, daß auch von guten Menschen nur wenige sie verstehen werden.“ 5 Er nennt dafür auch den Grund, warum dies so ist: „Wer diese Rede nicht versteht, der mache sich deswegen in seinem Herzen keine Sorgen. Denn solange der Mensch dieser Wahrheit nicht gleich wird, solange wird er diese Rede nicht verstehen, denn sie ist unverdeckte Wahrheit, wie sie unvermittelt aus dem Herzen Gottes kommt.“ 6 Und so undogmatisch kann das, was Eckhart sagt, nicht sein, denn

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er underscheit. Her umbe soˆ bite ich got, daz er mich quıˆt mache gotes, wan mıˆn wesenlich wesen ist obe gote, alsoˆ als wir got nemen begin der creˆatuˆren; wan in dem wesene gotes, daˆ got ist obe wesene und ob underscheide, daˆ was ich selbe, und daˆ wolte ich mich selben und bekante mich selben ze machenne disen menschen. Her umbe soˆ bin ich mıˆn selbes sache naˆch mıˆnem wesene, daz ˆewic ist, und niht naˆch mıˆnem gewerdenne, daz zıˆtlich ist. Her umbe soˆ bin ich geborn, und naˆch mıˆner gebornen wıˆse soˆ bin ich sterblich. Naˆch mıˆner ungebornen wıˆse soˆ bin ich ˆewıˆcliche gewesen und bin nuˆ und sol ˆewiclıˆche blıˆben. Daz ich bin naˆch gebornheit, daz sol sterben und ze nihte werden, wan ez ist zıˆtlich; her umbe soˆ muoz ez mit der zıˆt verderben. In mıˆner geburt daˆ wurden alliu dinc geborn, und ich was sache mıˆn selbes und aller dinge; und hæte ich gewolt, ich enwære niht, noch alliu dinc enwæren niht; und enwære ich niht, soˆ enwære ouch got niht. Daz got got ist, des bin ich ein sache; enwære ich niht, soˆ enwære got niht got. Diz ze wizzenne des enist niht noˆt.“ Nhd. Übers. v. K. Flasch, ibid., 169-181, hier: 175, 27-179, 16. M. H. Laurent, Autour du proce`s de Maıˆtre Eckhart. Les documents des Archives Vaticanes, doc. VIII, in: Divus Thomas 39 (Piacenza 1936), 331-447, hier 436: „Sane dolenter referimus, quod quidam hiis temporibus de partibus Theutonie, Ekardus nomine, doctorque, ut fertur, sacre pagine ac professor ordinis fratrum Predicatorum, plura voluit sapere quam oportuit et non ad sobrietatem neque secundum mensuram fidei, quia a veritate auditum avertens ad fabulas se convertit.“ Cf. dazu Röm. 12, 3: „Dico enim per gratiam quae data est mihi, omnibus qui sunt inter vos: Non plus sapere quam oportet sapere, sed sapere ad sobrietatem: et unicuique sicut Deus divisit mensuram fidei“; 2 Tim. 4, 3-4: „Erit enim tempus, cum sanam doctrinam non sustinebunt, sed ad sua desideria coacervabunt sibi magistros, prurientes auribus, et a veritate quidem auditum avertent, ad fabulas autem convertentur.“ Lectura Eckhardi I (nt. 2), 178, 15: „Diz ze wizzenne des enist niht noˆt“ („Dies muß man nicht unbedingt wissen“). Lectura Eckhardi I (nt. 2), 169, 22-28; 168, 23-28: „wir sprechen noch baz und nemen armuot in einer hœhern wıˆse: daz ist ein arm mensche, der niht enwil und niht enweiz und niht enhaˆt. Von disen drin punkten wil ich nuˆ sprechen. Und ich bite iuch umbe die minne gotes, daz ir verstaˆt dise waˆrheit, ob ir künnet; und enverstaˆt ir sie niht, soˆ enbekümbert iuch daˆ mite niht, wan ich wil sprechen von soˆ getaˆner waˆrheit, die lützel guoter liute verstaˆn suln.“ Lectura Eckhardi I (nt. 2), 181, 7-10; 180, 7-10: „Der diz niht enverstaˆt, der enbekümber sıˆn herze niht daˆ mite. Wan alsoˆ lange der mensche niht glıˆch enist dirre waˆrheit, soˆ lange ensol er dise rede niht verstaˆn; wan diz ist ein unbedahtiu waˆrheit, diu komen ist uˆz dem herzen gotes sunder mittel.“ Cf. auch 168, 1618: „Nuˆ bite ich iuch, daz ir alsoˆ sıˆt, daz ir verstaˆt dise rede; wan ich sage iu bıˆ der ˆewigen waˆrheit: ir ensıˆt glıˆch der waˆrheit, von der wir nuˆ sprechen wellen, soˆ ensult ir mich nicht verstaˆn“ („Nun beschwöre ich

Abb. 1: Hamburg, Staats- und Universitätsbibliothek, Cod. 2057 (H2).

Perg., 4∞ (17,0 : 13,5 cm), 172 foll., Mitte 14. Jh., Inhalt: Predigtsammlung ,Paradisus anime intelligentis‘ (,Das buch heist das paradiß der selen‘; ,Explicit libellus qui dicitur paradysus anime intelligentis‘). H2 ist die Schwesterhandschrift zur Oxforder Handschrift Cod. Laud. Misc. 479 (O). Hier fol. 1r Beginn des Titulus-Registers (Überschriften zu den einzelnen Predigten) und fol. 172r Ende der letzten Predigt (Paradisus, Pr. 64, Strauch 139).

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auch Papst Johannes Paul II. dichtet in seinem ,Römischen Triptychon‘: „Das, was wohlgeformt war, wird formlos. Das, was lebendig war - jetzt ist es leblos. Das, was schön war - jetzt vergeht es in hässlichem Zerfall. Doch ich sterbe nicht ganz, denn das, was in mir ist, bleibt unzerstörbar […]. Non omnis moriar. Das, was unzerstörbar ist in mir, jetzt steht es Aug’ in Auge vor DEM, der IST.“ 7 Es hat schon immer verwundert, dass sich in der Verurteilungsbulle kein Reflex der ,Armutspredigt‘ findet. Die Inquisitoren hätten sie mühelos für Anklagepunkte auswerten können. Warum dies nicht geschah, hat man so erklären wollen: Zum Zeitpunkt der Materialrecherche, also vor 1326, habe es die Predigt noch nicht gegeben. Im Frühjahr 1327 reiste Eckhart nach Avignon. Die Predigt muss in den wenigen Monaten zwischen 1326 und 1327 in Köln entstanden sein. Kurt Ruh hat alle Einzelheiten zusammengetragen, die Hinweise auf die Entstehungsumstände der Predigt ,Beati pauperes spiritu‘ bieten. Er tat dies mit besonderer Akribie deshalb, „weil wir nur in diesem einen Fall Daten zur Entstehungsgeschichte einer eckhartschen Predigt an der Hand haben, nicht ganz sichere freilich, aber doch solche, die im Bereich der Wahrscheinlichkeit liegen“ 8. Weil sich mittlerweile ein Eintrag des C-Schreibers der ,Verteidigungsschrift‘ Eckharts, der sog. ,Rechtfertigungsschrift‘, über die ,wahre Armut‘ nicht als Entwurf der ,Armutspredigt‘ durch Eckhart selbst erwies, sind Ruh in der zweiten Auflage seines Eckhart-Buches Zweifel an dem zeitlichen Entstehungsansatz der Predigt gekommen: „Ist sie, wie es scheint, in Köln oder auch schon früher gehalten und in schriftlicher Gestalt verbreitet worden, so bleibt es freilich erstaunlich, daß sie die Inquisitoren nicht als Anklagematerial herangezogen haben.“ 9 Das heißt aber auch: Sie muss nicht in Köln geschrieben sein, und die Denunzianten Hermann von Summo und Wilhelm von Nidecke konnten sie sehr wohl gekannt, aber als Beweismaterial für eine Anklage verschmäht haben. Äußerungen, die der Autor selbst als unverständlich für die meisten Hörer erklärt, mochten als Beleg für Häresie eben dieses Autors nicht als tauglich erscheinen - im rechtlichen Sinn. Festzuhalten bleibt: Kurt Ruh will sagen, um unser Wissen um die Entstehung der deutschen Predigten Meister Eckharts ist es nicht zum Besten bestellt. Selbst

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euch, ihr möchtet so sein, daß ihr diese Lehre verstündet. Denn bei der ewigen Wahrheit, ich sage euch: Kommt ihr der Wahrheit nicht gleich, von der wir nun reden wollen, dann werdet ihr mich nicht verstehen“). Johannes Paul II., Römisches Triptychon. Meditationen. Mit einer Einführung von Joseph Kardinal Ratzinger, Freiburg-Basel-Wien 2003, 34 sq. Cf. dazu Q. Horatius Flaccus, Oden und Epoden, ed. u. übers. v. G. Fink, Düsseldorf-Zürich 2002, lib. III, Ode 30 ,Exegi monumentum‘, 212-213: „Non omnis moriar multaque pars mei Vitabit Libitinam“ („Nicht völlig werde ich sterben, und ein großer Teil von mir Wird der Todesgöttin entfliehen“); cf. dazu R. G. M. Nisbet/N. Rudd, A Commentary on Horace: Odes, Book III, Oxford 2004, 371. K. Ruh, Meister Eckhart. Theologe, Prediger, Mystiker, München 1985, 158. Ruh, Meister Eckhart (nt. 1), 158.

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am Entstehungsdatum der ,Armutspredigt‘, das zunächst so sicher zu sein schien, nagen Zweifel. Dies ist auch so bei den Predigten, die von Josef Koch und Josef Quint der Kölner Zeit Eckharts, also den Jahren 1323 bis 1327, zugewiesen werden, speziell die Predigten 12-15, 22 und 51, die im Kölner Zisterzienserinnenkloster Mariengarten und bei den Benediktinerinnen St. Machabaeorum gehalten worden sein sollen 10. So auch äußert sich Ruh 1985: „Durch Hinweise auf den Predigtort, zwei Kölner Klosterkirchen, und Rückverweise steht fest, daß die Predigten Quint 12-15 und 22 der Kölner Zeit angehören.“ 11 Doch 1999 verabschiedet sich Ruh mit Vehemenz von dieser Annahme, die bisher sententia communis war, und versucht, ausgehend von der These, „Eckharts Inquisitoren (verdankten) ihr Material vollständig und ausschließlich den Straßburger Kreisen“, darzutun, „daß keine Kölner Predigt des Meisters nachweisbar ist, und daß die Kölner Richter ihr Anklagematerial einzig aus in Straßburg oder früher entstandenen Texten bezogen haben“ 12. Ob auch die ,Armutspredigt‘ bereits zum Straßburger Bestand gehörte, scheint nicht zu klären zu sein. II. Schon seit den Anfängen der deutschen Mystikforschung im 19. Jahrhundert war es das Ziel, die literarische Hinterlassenschaft der mystischen Schriftsteller chronologisch zu ordnen. Das Programm gibt 1887 Wilhelm Preger bei der Untersuchung der Entstehung einiger Predigten Johannes Taulers vor. Er meint, in Johannes Taulers „Lebensumstände könnte es vielleicht einiges Licht bringen, wenn es gelänge, für einzelne seiner Predigten einen sicheren Zeitpunkt zu ermitteln.“ „Ja, liesse sich“, schreibt er, „auch nur für eine derselben das Jahr, in dem sie gehalten wurde, feststellen, so möchte ich glauben, es sei möglich, durch Abschätzung des Gleichartigen oder Ungleichartigen in den übrigen Predigten die Elemente zu finden, aus denen sich die geistige Gestalt des Mannes in einer bestimmten Periode seines Lebens zusammensetzt, und es müsste dann nicht 10

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Cf. J. Koch, Kritische Studien zum Leben Meister Eckharts, in: id., Kleine Schriften I (Storia e letteratura; Raccolta di studi e testi 127), Rom 1973, 247-347, hier: 297-303; J. Quint, in: DW I, 272 sq. Ruh, Meister Eckhart (nt. 1), 136. K. Ruh, Zu Meister Eckharts Kölner Predigten, in: Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur 128 (1999), 42-46. Seine neue Sicht der von Eckhart in Köln gehaltenen Predigten hat Ruh bereits ein Jahr früher in seiner Rezension zu K. Jacobi (ed.), Meister Eckhart: Lebensstationen - Redesituationen (Quellen und Forschungen zur Geschichte des Dominikanerordens, N. F. 7), Berlin 1997, in: Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur 127 (1998), 460-472, angekündigt, hier 468: „Ich bin jetzt übrigens der Ansicht, daß auch die dem St. Mariengartenkloster in Köln zugeordneten Predigten Q 12-15, 22 und 51 nicht hier, sondern im Straßburger Dominikanerinnenkonvent St. Margarethen gehalten worden sind. Es ist dies auch die ursprüngliche Ansicht Quints (DW I, S. 219 f.).“ In nt. 7, 468, verschweigt Ruh nicht: „Noch in der Geschichte der abendländischen Mystik III, 1996, vertrat ich die alte Auffassung (S. 324).“

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nur sicherer ermessen werden können, welche Predigten einer früheren oder späteren Entwicklungsstufe angehören, sondern auch in wie weit zeitgeschichtliche Umstände auf Tauler eingewirkt haben oder er hinwieder auf dieselben einzuwirken gesucht hat.“ 13 Kurt Ruh will dieses Programm forcieren. 1985 mahnt er an: „Es gehört zu den heute wichtigsten philologischen Aufgaben der Eckhartforschung, das Predigtwerk chronologisch zu ordnen.“ 14 Gegenwärtig zeichnet sich die folgende Chronologie der Predigten Eckharts ab: „(1) frühe Predigten, im Umkreis der ,Reden der Unterweisung‘, (2) Predigten aus der Provinzialatszeit mit dem ,Paradisus anime intelligentis‘ und (3) die Predigten der Straßburger und Kölner Zeit.“ 15 Mit Bewunderung muss die germanistische Eckhart-Forschung auf die lateinische Eckhart-Forschung blicken, der es gelungen ist, die erhaltenen 15 lateinischen Schriften Eckharts überzeugend in ein Zeitraster einzufügen. Freilich, die lateinischen Sermones sind bisher genauso wenig auf ihre zeitliche Entstehung hin untersucht wie eben auch die meisten deutschen. Die lateinische EckhartForschung steht mithin unter dem gleichen Diktat Ruhs, das Predigtwerk Eckharts „chronologisch zu ordnen“. Josef Koch, der Mitherausgeber der lateinischen Sermones und der Verfasser der Einleitung zur Ausgabe, äußert zur Entstehung der Sermones immerhin einige Vermutungen: „Man hat den Eindruck, daß die Sermones zu verschiedenen Zeiten entstanden sind und den Wandel, den Eckharts Denken durchmachte, widerspiegeln.“ 16 Eckhart habe seine lateinischen Predigten in ,Entwurfheften‘ gesammelt und er habe „vielleicht Jahre lang“ an ihnen gearbeitet. Die Entwurfhefte Eckharts, die Vorlage für die Sermones-Sammlung waren, gehörten, so Koch, dem „beginnenden 14. Jahrhundert“ an 17. Dies aber würde bedeuten: der Zeit, in der Eckhart in Erfurt wirkte. Eckhart ist, wie wir wissen, vor 1260 in Tambach bei Gotha geboren. Seine Familie gehörte dem niederen Adel an. Sie ließ ihn wohl mit 18 Jahren in den Dominikanerorden in Erfurt eintreten. Als Dominikanerstudent wurde er drei Jahre in den artes liberales, zwei Jahre in Naturphilosophie und drei Jahre in Theologie an einem Studium particulare unterrichtet, an welchem, wissen wir nicht; vielleicht in Köln, wo er noch Albertus Magnus kennen lernen konnte. In das Licht der Literatur tritt er mit einer ,Collatio in Libros Sententiarum‘ als Bakkalar (Lektor, Dozent) an der Universität Paris, die sich auf Mitte September bis 13

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W. Preger, Die Zeit einiger Predigten Taulers, in: Sitzungsberichte der philos.-philol. und hist. Cl. der k. b. Akad. d. Wiss. zu München, Jg. 1887, vol. 2, München 1888, 317-361, hier: 317; zur Chronologie der Tauler-Predigten cf. R. K. Weigand, Predigen und Sammeln. Die Predigtanordnung in frühen Taulerhandschriften, in: V. Bok/U. Williams/W. Williams-Krapp (eds.), Studien zur deutschen Sprache und Literatur. FS für K. Kunze, Hamburg 2004, 114-155. Ruh, Meister Eckhart (nt. 1), 136. Ibid. Magistri Echardi Sermones, ed. u. übers. v. E. Benz, B. Decker u. J. Koch (Meister Eckhart, Die deutschen und lateinischen Werke, ed. im Auftrage der Deutschen Forschungsgemeinschaft: Die lateinischen Werke, vol. 4 [= LW IV]), Stuttgart 1956, XXX. Ibid., XIV.

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Anfang Oktober 1293 datieren lässt. Diese Festrede zu Beginn seiner Vorlesungsreihe zu den Sentenzen des Petrus Lombardus ist der älteste lateinische Text Eckharts, den wir kennen. Seine erste gehaltene lateinische Predigt ist der ,Sermo paschalis‘, vorgetragen zum Osterfest am 28. März 1294 auf der Kanzel des Dominikanerkonvents St. Jacques in Paris. Ob eine der lateinischen Predigtskizzen der Sermones-Sammlung noch älter als der ,Sermo paschalis‘ ist, wissen wir nicht. „Man darf mit Sicherheit annehmen“, meint Josef Quint, „daß Eckhart von Paris 1294 zu seinem Heimatkonvent in Erfurt zurückkehrte.“ 18 Im Zeitraum zwischen 1294 und 1298 hat er Kollatien mit seinen Konventsbrüdern geführt, die er schriftlich niedergelegt hat, in deutscher Sprache. Einzig aus der Überschrift zu diesen ,Reden‘ wissen wir, dass er Prior von Erfurt und Vikar von Thüringen war: „Das sind die Reden, die er mit solchen geistlichen Kindern [Novizen] geführt hat, die ihn zu diesen Reden nach vielem fragten, als sie zu abendlichen Lehrgesprächen beieinander saßen.“ 19 Die ,Reden der Unterweisung‘ sind die am stärksten verbreitete Schrift Eckharts. Der älteste bekannte Textzeuge, ein Pergament-Doppelblatt der Stiftsbibliothek Zeitz aus der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts, ist im thüringischen Dialekt geschrieben 20. Daraus lässt sich schließen: Die ,Reden‘ sind in Thüringen entstanden und von hier aus verbreitet worden. Im Jahr 1302 promoviert Eckhart an der Pariser Universität zum Magister der Theologie 21. Er hält am 28. August 1302 (oder am 28. Februar 1303), am Fest des hl. Augustinus, eine Predigt, die erhalten ist: ,Sermo die b. Augustini Parisius habitus‘ 22. In der Zeit seines ersten Pariser Magisteriums ver18 19

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J. Quint, in: DW V, 181. Meister Eckharts Traktate, ed. u. übers. v. J. Quint (Meister Eckhart, Die deutschen und lateinischen Werke, ed. im Auftrage der Deutschen Forschungsgemeinschaft: Die deutschen Werke, vol. 5 [= DW V]), Stuttgart 1963, 185-309, hier 185, 1-6: „Daz sint die rede, die der vicarius von türingen, der prior von erfurt, bruoder eckhart predigerordens mit solchen kindern haˆte, diu in dirre rede vraˆgeten vil dinges, doˆ sie saˆzen in collationibus mit einander.“ Dieser Satztitel von Eckharts deutschem Erfurter Hauptwerk bestimmt „Form, Inhalt und Zweckbestimmung“ (Ruh 31) sehr klar. Der heute gebräuchliche Titel wird nur von drei Handschriften (Pr1, Pr2 und M17) verbürgt: ,red der vnterscheidung‘. Er ist nicht ursprünglich. Nach Quint, DW V, 312, nt. 1, muss reden als terminus technicus aufgefasst werden und gibt lateinisch collationes in der Bedeutung von ,abendliche KonferenzGespräche‘ wieder. „Diese Collationes waren“ - so J. Koch, LW IV, XXVIII - „religiöse Ansprachen an die Mitbrüder im Kloster, und die Reden der Unterscheidung geben solche Ansprachen wieder.“ Mit diesem Verständnis stimmt überein, was die ,Regula S. Isidori‘ als Sinn und Aufgabe der collatio angibt: „Collatio erit vel pro corrigendis vitiis instruendisque moribus, vel pro reliquis causis ad utilitatem coenobii pertinentibus.“ Danach trifft instructio den Sinn von underscheidunge am besten, und die richtige Übersetzung von underscheidunge im Neuhochdeutschen ist ,Unterweisung‘ und nicht ,Unterscheidung‘. Cf. J. Quint, in: DW V, 148; F. Bech, Bruchstücke aus Meister Eckhart, in: Germania 20 (1875), 223-226; W. Stammler, Meister Eckhart in Norddeutschland, in: Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur 59 (1922), 181-216, hier: 186 sq. Cf. Acta Echardiana, n. 6 (LW V, 158): „Fr. Aychardus, Theutonicus, fuit licentiatus anno domini MCCCII.“ Cf. LW V, 89-99, hier 99, 5 sq.: „Iste sermo sic est reportatus ab ore magistri Echardi de hochheim, die beati Augustini, Parisius.“

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fasst Eckhart Quästionen. Von dreien kennen wir die Texte 23. 1303 kehrt Eckhart wieder nach Erfurt zurück. Hier wird er am 07./08. September 1303 zum ersten Provinzial der neu gegründeten Provinz Saxonia gewählt 24. Der Saxonia gehörten damals 50 Konvente an. Am 14. Mai 1307 wird Eckhart vom Generalkapitel auch zum Generalvikar des Ordensmeisters Aymerich von Piacenza für die böhmische Provinz ernannt 25. Am 8. September 1310 wählt man ihn auf dem Provinzialkapitel der Teutonia in Speyer zum Provinzial. Das Generalkapitel suspendiert diese Wahl und schickt Eckhart ein zweites Mal als Professor an die Sorbonne in Paris. Ein zweites Mal lehrt Eckhart in Paris wie vor ihm auch Thomas von Aquin. Er bleibt bis 1313, kehrt aber dann nicht wieder in die Saxonia zurück, sondern erhält in Straßburg als Generalvikar des Ordensgenerals Berengar von Landora eine neue Aufgabe: die Aufsicht und Betreuung der süddeutschen Frauenklöster des Ordens. Literarisch sind die Straßburger Jahre für Eckhart eine sehr fruchtbare Zeit. „Sicher dürfte sein“, konstatiert Ruh, „daß der Großteil aller überlieferten Meister Eckhart-Predigten in das Straßburger Jahrzehnt fällt.“ 26 Kehren wir in die Erfurter Zeit Eckharts zurück. Zwischen September 1302 und 1310 hat er auf zwei Provinzialkapiteln ,Sermones et Lectiones‘ über das 24. Kapitel des Ecclesiasticus gehalten. Die erste dieser Reden steht, wie Kurt Ruh zeigen konnte, in enger zeitlicher Nähe zu Eckharts Promotion. Erhalten geblieben sind sie, weil Eckhart sie in sein größtes lateinisches Werk, das ,Opus tripartitum‘, eingearbeitet hat. An diesem hat Eckhart in Erfurt vor allem gearbeitet. Er schuf in Erfurt bereits die ,Prologi in Opus tripartitum‘, bevor er in Paris seine Quästionen verfasste. Wer nach deutschen Predigten Eckharts in Erfurt fahndet, wird nicht fündig werden, weil es weder Einzelpredigten noch Predigtsammlungen gibt, die ein genaues Entstehungsdatum tragen. Wer die Suche nicht aufgeben will, kann nur einen Weg beschreiten: Er muss die inhaltlichen Aussagen der deutschen Predigten mit jenen Schriften Eckharts vergleichen, die zeitlich genauer fixiert sind, das sind vorwiegend die lateinischen, und er wird dann bei Feststellung identischer Aussagen diese in entstehungszeitliche Nähe zu den Vergleichstexten rücken. Durch diese Vorgehensweise ist gewiss keine absolute Chronologie erreichbar, aber immerhin eine relative. Erleichtert 23

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Cf. LW V, 37-71: 1. ,Utrum in Deo sit idem esse et intelligere‘ (1302/1303), 2. ,Utrum intelligere angeli, ut dicit actionem, sit suum esse‘ (1302/03), 3. ,Quaestio magistri Consalvi continens rationes magistri Echardi Utrum laus Dei in patria sit nobilior eius dilectione in via‘ (1302/03). Cf. Acta Echardiana, n. 9 (LW V, 159): „Anno domini M ∞CCC ∞III ∞ in capitulo provinciali apud Erphordiam fuit electus primus provincialis Saxonie magister Ekhardus.“ Cf. Acta Echardiana, n. 18 (LW V, 170): „Cum multa digna examinacione et correctione audiverimus de provincia Boemie, statuimus et ordinamus fratrem Aycardum provincialem Saxonie nostrum vicarium generalem in dicta provincia Boemie, dantes sibi plenariam potestatem tam in capite quam in membris, in omnibus et singulis, eciamsi de hiis oporteret fieri mencionem specialem, ut ipse ordinet et disponat, secundum quod sibi videbitur expedire.“ Ruh, Meister Eckhart (nt. 1), 136.

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wird diese Vergleichsarbeit durch Eckhart selbst, der uns in seinen Schriften oft mitteilt, er habe das eben Gesagte schon öfter und in anderen Zusammenhängen gesagt. Eckhart hat durch Rück- und Querverweise seine Schriften vernetzt; die Querverweise helfen, nicht nur Eckharts intertextuelles Vernetzungssystem zu eruieren, sondern auch die zeitlichen Konturen seiner Werke aufzuspüren 27. Ein erstes Beispiel: Weil Eckhart in den Pariser Quästionen 1302/3 ausführt, Gott habe nicht die Wesensbestimmtheit des Seienden, und wir in der deutschen Predigt ,Quasi stella matutina‘ lesen: „Got würket über wesene in der wıˆte, daˆ er sich geregen mac, er würket in unwesene; ˆe denne wesen wære, doˆ worhte got; er worhte wesen, doˆ niht wesen enwas“ („Gott wirkt oberhalb des Seins in der Weite, wo er sich regen kann; er wirkt im Nichtsein. Ehe es noch Sein gab, wirkte Gott; er wirkte Sein, als es Sein noch nicht gab“) 28, schließen wir, dass Eckhart diese deutsche Predigt, die wir aus 13 Abschriften kennen, nach seinem ersten Pariser Magisterium gehalten hat 29. Ein zweites Beispiel: Max Pahncke und Josef Quint haben als Erste bemerkt: Die Predigt 4 ,Omne datum optimum‘ hat einen Rückverweis, der präzise auf die ,Reden der Unterweisung‘ passt. In der Predigt sagt Eckhart: „Ich sprach einest an dirre stat, daz got joch gerner vergibet groˆze sünde dan kleine. Und soˆ sie ie grœzer sint, soˆ er sie ie gerner vergibet und sneller“ („Ich sagte einst an dieser Stätte, daß Gott sogar lieber große Sünden vergibt als kleine. Und je größer sie sind, umso lieber und schneller vergibt er sie“) 30. Diese Aussage findet sich in den ,Reden‘ tatsäch27

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Wie fragil letztlich die Sondierungsergebnisse der vornehmlich intertextuell arbeitenden Vorgehensweise bei der Rekonstruktion einer relativen Chronologie bleiben müssen, lehrt ein Blick auf die Überlieferung der 293 Predigten des Nicolaus Cusanus, die in dem langen Zeitraum zwischen Weihnachten 1430 und dem 5. Juni 1463 entstanden und die in ihrer überwiegenden Mehrzahl genau datierbar und lokalisierbar sind. Deshalb hat J. Koch in seiner grundlegenden Untersuchung ,Vier Predigten im Geiste Eckharts‘, lateinisch-deutsch, Heidelberg 1937, 4, die Predigten des Nikolaus von Kues als „ein ausgezeichnetes Mittel, die innere Entwicklung des Cusanus während dreißig Jahren zu beobachten“, eingeschätzt. Für die großen Entwicklungsetappen mag dies auch zutreffen, doch muss man sehen, dass jede Predigt ein eigenes, in sich geschlossenes literarisches Gebilde darstellt, das wesentlich durch ihren liturgischen Anlass, durch die Hörer, vor denen sie gehalten wurde, und durch die Amtsstellung des Predigers bestimmt ist. Dies bedenkend hat W. Dupre´, Die Predigt als Ort der Reflexion, in: K. Reinhardt/ H. Schwaetzer (eds.), Nikolaus von Kues als Prediger, Regensburg 2004, 101, beobachtet, dass der Zusammenhang der Predigten des Cusanus „gewissermaßen eine Kette von Welten darstellt, die diesen Zusammenhang zwar bestätigen, die sich ihm darin aber auch widersetzen, sofern die durchlaufende Argumentation in jeder Predigt neu beginnt, und an einzelne Verkündigungsworte gebunden bleibt, die gerade ausgesprochen werden“. Cf. dazu näherhin W. A. Euler, Entwicklungsgeschichtliche Etappen und schwerpunktmäßige Themenverschiebungen in den Sermones des Nicolaus Cusanus, in: Die Sermones des Nikolaus von Kues. Symposion I vom 21.-23. Oktober 2004 (im Druck). DW I, 145, 5-7. Siehe zur zeitlichen Einordnung und Deutung der Predigt Ruh, Meister Eckhart (nt. 1), 60-71. Cf. R. Imbach, Deus est intelligere. Das Verhältnis von Sein und Denken in seiner Bedeutung für das Gottesverständnis bei Thomas von Aquin und in den Pariser Quaestionen Meister Eckharts (Studia Friburgensia, N. F. 53), Freiburg/Schweiz 1976, 163. Pr. 4 (DW I, 65, 3-5).

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lich, sogar zweimal: „Und ie die sünde grœzer und meˆrer sint, ie sie got aˆne maˆze gerner vergibet und belder, wan sie im wider sint“ („Und je größer und je schwerer die Sünden sind, umso unermeßlich lieber vergibt sie Gott, und umso schneller, weil sie ihm zuwider sind“) 31; die zweite Stelle: „swem er vergibet, dem vergibet er alzemaˆle und ganz und ouch vil gerner groˆz dan kleine“ („Wem er vergibt, vergibt er voll und ganz und viel lieber Großes als Kleines“) 32. Quint weist noch weitere beträchtliche inhaltliche Übereinstimmungen zwischen beiden Texten nach. So kann Niklaus Largier zu Recht vermuten: „Sollte sich der Rückverweis [48, 30 sq.] tatsächlich auf die ,Reden der Unterweisung‘ beziehen, wäre die Predigt in Erfurt gehalten worden.“ 33 Man darf präzisierend mit Quint hinzufügen: „wahrscheinlich erst während des sächsischen Provinzialats Eckharts (13041311)“ 34. Die Predigt enthält allerdings eine Aussage, die man mit den ,Reden der Unterweisung‘ nicht mehr abgleichen kann. Es ist die Aussage, dass die Geschöpfe an sich betrachtet ein reines Nichts sind, denn ihr Sein hängt ganz und gar von der fortwährenden Gegenwart Gottes ab 35. Die Aussage der Predigt, in der Bulle als art. 26 verurteilt 36, setzt die Lehre ,Esse est deus‘ voraus, die Eckhart erstmals im ,Allgemeinen Prolog‘ des ,Opus tripartitum‘ entwickelt: „Extra esse et ante esse est solum nihil “ („Außerhalb des Seins und vor dem Sein ist allein das Nichts“) 37. Die Abfassung des ,Prologus generalis‘ dürfen wir nach den Forschungen Loris Sturleses „im ersten Teil“ 38 von Eckharts Provinzialat 31 32 33 34 35 36

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DW V, 238, 2-3. DW V, 243, 6-7. Largier, Meister Eckhart: Werke I (nt. 2), 777. DW V, 181. Immerhin sagt Eckhart in den RdU (DW V, 234, 5) bereits: „Got ist ein got der gegenwerticheit.“ M. H. Laurent, Autour du proce`s de Maıˆtre Eckhart. Les documents des Archives Vaticanes, doc. VIII, in: Divus Thomas 39 (Piacenza 1936), 331-447, hier 442: „Vicesimussextus articulus: Omnes creature sunt unum purum nichil. Non dico, quod sint quid modicum vel aliquid, sed quod sint unum purum nichil.“ Prol. gen. in op. trip., n. 12 (LW I, 158, 1): „Amplius quinto: extra esse et ante esse solum est nihil.“ Cf. dazu T. Sua´rez-Nani, Philosophie- und theologiehistorische Interpretation der in der Bulle von Avignon zensurierten Sätze, in: H. Stirnimann (ed., in Zusammenarbeit mit R. Imbach), Eckardus Theutonicus, homo doctus et sanctus. Nachweise und Berichte zum Prozeß gegen Meister Eckhart (Dokimion 11), Freiburg/Schweiz 1992, 31-96, hier: 88-90; R. Manstetten, Esse est Deus. Meister Eckharts christologische Versöhnung von Philosophie und Religion und ihre Ursprünge in der Tradition des Abendlandes, München 1992, 49-54. L. Sturlese, Meister Eckhart in der Bibliotheca Amploniana. Neues zur Datierung des ,Opus tripartitum‘, in: A. Speer (ed.), Die Bibliotheca Amploniana. Ihre Bedeutung im Spannungsfeld von Aristotelismus, Nominalismus und Humanismus (Miscellanea Mediaevalia 23), Berlin-New York 1995, 434-446, hier 443: „Die Materialien, über die“ der Schreiber des Codex Ampl. Fol. 181 „verfügte, stammten alle aus Eckharts Werkstatt, und die Zeit, in der sich diese Fakten abspielten, ist offensichtlich sehr früh anzusetzen. Eckhart hatte noch keinen ,Liber parabolarum Genesis‘ und keinen ,Johanneskommentar‘ geschrieben. Der ,Exoduskommentar‘ war nur geplant, der ,Genesiskommentar‘ befand sich in einem Frühstadium. Interessanterweise lag bereits der allgemeine Plan des ,Opus tripartitum‘ (,Prologi‘) vor, und zwei Reden bei zwei Provinzialkapiteln waren gehalten und redigiert worden. Eine von den beiden Reden ist - wie Kurt Ruh zeigte - in enger zeitlicher Nähe zu Eckharts Promotion (1302) entstanden. Mir scheint kein

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ansetzen. Danach kann Eckhart seine Predigt ,Omne datum optimum‘ als Provinzial der Saxonia in Erfurt gehalten haben. Es verwundert allerdings, dass diese prominente Predigt Eckharts nicht in der Predigtsammlung ,Paradisus anime intelligentis‘ steht. Wenn es stimmt, dass der Sammler des Predigtbuches nur dogmatisch unverfängliche Predigten aufnehmen wollte 39, dann ist es jedoch nur folgerichtig, dass er diese unterschlug, auch wenn sie in Erfurt gehalten wurde. Ein drittes Beispiel: Bisher galten fraglos die ,Reden der Unterweisung‘ als das erste deutsche Werk Eckharts. Da nimmt es wunder, dass Eckhart im 6. Kapitel der ,Reden‘, in dem er vom glıˆchen gemüete handelt, schreiben kann: „Und - als ich meˆr gesprochen haˆn - als man saget von glıˆcheit.“ 40 Ja, er äußert sich in den ,Reden‘ noch ein zweites Mal mit der gleichen Formel, im 10. Kapitel. Es ist eine oft zitierte Stelle, nur wird selten darauf geachtet, dass davor steht: „Als ich meˆr gesprochen haˆn“, nämlich: „wære der mensche alsoˆ in einem ˆınzucke, als sant Paulus was, und weste einen siechen menschen, der eines suppelıˆns von im bedörfte, ich ahtete verre bezzer, daz duˆ liezest von minne von dem und dientest dem dürftigen in meˆrer minne“ („Wäre der Mensch so in Verzückung, wie es St. Paulus war, und wüßte einen kranken Menschen, der eines Süppleins von ihm bedürfte, ich erachtete es für weit besser, du ließest aus Liebe von der Verzückung ab und dientest dem Bedürftigen in größerer Liebe“) 41. Beide Stellen könnten auf eine nach heutigem Kenntnisstand verloren gegangene Predigt verweisen, aus der ein größeres Stück von Jörg Gartner von Lor (Lahr im Elsass), dem Schreiber der bekannten Salzburger Eckhart-Handschrift M I 476 (Sigle S1) 42, im Jahr 1441 exzerpiert worden ist, das zwar Quint noch nicht definitiv als Eckhart-Predigt ansehen

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Zweifel zu bestehen: Wir befinden uns unmittelbar nach seiner Pariser Lehrtätigkeit 1302/03, im ersten Teil seines Provinzialats - in Eckharts Erfurter Zeit.“ Ruh, Meister Eckhart (nt. 1), 62: „Sollte hier ganz bewußt ein Meister Eckhart dokumentiert werden, der mit den verurteilten Sätzen nichts zu tun hat? Es ist nämlich festzustellen, daß der ,Paradisus‘ mit Ausnahme einer Stelle (Nr. 33 = Q 9) - die der Redaktor einfach übersehen haben dürfte und deren ,Häresie‘ im Kontext kaum erkennbar ist - keine Predigten überliefert, denen die päpstliche Bulle die inkriminierten Sätze entnahm.“ DW V, 203, 5 sq. DW V, 221, 4-8. Beschreibung der Handschrift M I 476 (= S1): J. Quint, Neue Handschriftenfunde zur Überlieferung der deutschen Werke Meister Eckharts und seiner Schule. Ein Reisebericht (Meister Eckhart, Die deutschen und lateinischen Werke, Untersuchungen 1), Stuttgart-Berlin 1940, 169-205; Die deutschen Handschriften des Mittelalters der Universitätsbibliothek Salzburg. Unter Mitarb. v. J. Feldner u. P. H. Pascher bearb. v. A. Jungreithmayr (Österreichische Akademie der Wissenschaften; Philos.-hist. Kl., Denkschriften, vol. 196. Veröffentlichungen der Kommission für Schrift- und Buchwesen des Mittelalters; Reihe III, vol. 2), Wien 1988, 69-135; cf. auch G. Steer, Die Schriften Meister Eckharts in den Handschriften des Mittelalters, in: H.-J. Schiewer/K. Stackmann (eds.), Die Präsenz des Mittelalters in seinen Handschriften. Ergebnisse der Berliner Tagung in der Staatsbibliothek zu Berlin - Preußischer Kulturbesitz, 06.-08. April 2000, Tübingen 2002, 209-302, hier: 268-270 u. 302 (Abb. 21).

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wollte 43, das aber mittlerweile Freimut Löser für Eckhart reklamiert hat 44. Das von Jörg Gartner abgeschriebene Textstück ist ein Beleg für eine von Eckhart in seiner Erfurter Zeit verfasste Predigt. Mögen die drei Predigten nur spärliche Reflexe einer literarischen Predigttätigkeit Eckharts in Erfurt sein, so wissen wir mit großer Bestimmtheit um ein außergewöhnliches Predigtopus Eckharts, das ebenfalls in unmittelbarem Zusammenhang mit den ,Reden der Unterweisung‘ steht; es ist der Predigtzyklus ,Von der eˆwigen geburt‘, bestehend aus vier Quästionenpredigten. Diese zeigen noch die Form des Lehrgesprächs. Eckhart nennt sie auch selbst reden. Die formalen, terminologischen und inhaltlichen Übereinstimmungen mit den ,Reden der Unterweisung‘ sind frappant. Sie sind in DW IV/1 nachgewiesen 45. Die Zykluspredigten bringen aber im Vergleich mit den ,Reden‘ auch völlig Neues: das Thema der Gottesgeburt. Und neu ist auch, wie Eckhart seine Lehre von der ˆewigen geburt darlegt: „Ich wil iu dise rede bewæren mit natiurlıˆchen reden, daz ir ez selber möhtet grıˆfen, daz ez alsoˆ ist, wie ich doch der schrift meˆ gloube dan mir selber. Aber ez gaˆt iu meˆ ˆın und baz von bewærter rede“ („Zuallererst will ich euch in die Lehre [von der Gottesgeburt] mit Hilfe natürlicher Vernunftgründe einführen, damit ihr selbst begreifen könnt, daß es so ist, obwohl ich der Hl. Schrift mehr glaube als mir selbst. Doch es geht euch mit einer begründenden Darlegung eher und besser ein“) 46. Eckhart will auf dem Boden der Vernunft argumentieren. Solches sagt er nach bisherigem Wissen erst im Johanneskommentar. Da heißt es: „In cuius verbi expositione et aliorum quae sequuntur, intentio est auctoris, sicut et in omnibus suis editionibus, ea quae sacra asserit fides christiana et utriusque testamenti scriptura, exponere per rationes naturales philosophorum“ („Wie in allen seinen Werken hat der Verfasser bei der Auslegung dieses Wortes und der folgenden die Absicht, die Lehren des heiligen christlichen Glaubens und der Schrift beider Testamente mit Hilfe der natürlichen Gründe der Philosophen auszulegen“) 47. Nun ist aber der Johanneskommentar in seiner definitiven Form erst nach 1313 ausgearbeitet worden. Sind die Gottesgeburt-Predigten vielleicht doch erst nach Eckharts zweitem Pariser Magisterium abgeschlossen worden? Man darf eine vergleichbare Äußerung Eckharts im ,Prologus in opus propositionum‘ nicht übersehen. Diese lautet: „Declaratur autem hoc ad praesens dupliciter: primo in exemplis, secundo per rationes“ („Der Satz wird aber an dieser Stelle auf doppelte Weise erläutert: erstens mit Hilfe von Beispielen, zweitens durch Vernunftgründe“) 48. Man hat lange Zeit angenom43

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Quint, Neue Handschriftenfunde (nt. 42), 187, bemerkt zu fol. 223v-224v: „Eckhart (?). Der Text zeigt sehr enge Berührung mit Ausführungen der ,Rede der underscheidunge‘.“ Cf. F. Löser, Der niht enwil und niht enweiz und niht enhaˆt. Drei übersehene Texte Meister Eckharts zur Armutslehre, in: Contemplata aliis tradere. Studien zum Verhältnis von Literatur und Spiritualität, Bern (e. a.) 1995, 391-439, hier: 399-403. Cf. Pr. 101 (DW IV/1, 326-328). Ibid., 342, 1-3. In Ioh., n. 2 (LW III, 4, 4-6). Prol. in op. prop., n. 16 (LW I, 176, 8-9).

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men, das ,Opus tripartitum‘ sei eine Frucht des zweiten Pariser Magisteriums 1311-1313 und der Folgejahre gewesen. Diese Sicht hat Loris Sturlese in seinem Erfurter Aufsatz von 1995 „Meister Eckhart in der Bibliotheca Amploniana. Neues zur Datierung des ,Opus tripartitum‘ “ als irrtümlich erwiesen 49. Er hat zeigen können, dass beträchtliche Teile des ,Dreigeteilten Werkes‘, vor allem die Prologe, bereits vor 1305 abgeschlossen waren. Auch der Sapientiakommentar befand sich um diese Zeit schon „in einem sehr fortgeschrittenen Stadium“ 50. Und gerade mit diesem zeigt der deutsche Predigtzyklus auffälligste gedankliche Parallelen, worauf Karl Albert schon 1984 hingewiesen hat 51. Es fügen sich so die Predigten ,Von der eˆwigen geburt‘ umstandslos in die neue Werkchronologie ein: der Predigtzyklus, von Eckhart in Erfurt verfasst, in der Zeitspanne 1298-1305. Bisher hat man, ausgehend von der Predigt ,Ave, gratia plena‘ 52, angenommen, die Lehre der Gottesgeburt gehöre in Eckharts späte Zeit; und so wurde sie auch in Eckharts Biographie verankert 53. Wenn der zeitliche Ansatz der Entstehung des Predigtzyklus stimmt, ist der Geburtsort der Gottesgeburtslehre Erfurt und nicht Straßburg oder Köln. Wir müssen wohl annehmen, dass Eckharts Ansätze seines Denkens über die Gottesgeburt in die Erfurter Zeit zurückreichen. Diese Annahme widerspricht nicht der Auffassung Loris Sturleses, dass „das Theorem der ,Gottesgeburt‘, das das Charakteristikum und den Mittelpunkt seiner literarischen Tätigkeit in deutscher Sprache bildete, die Endstation eines spekulativen Weges [war], der mit dem nim dıˆn selbes war der Reden begonnen hatte und im lateinischen Werk seine spekulativen Konturen gewonnen hatte“ 54. III. Die drei vorgestellten Einzelpredigten und der Predigtzyklus sind nicht die einzigen Zeugnisse von Eckharts Predigttätigkeit in Erfurt; es gibt sogar eine ganze Sammlung mit lauter Predigten aus Eckharts Provinzialatszeit. Dies jeden49 50 51

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Siehe nt. 38. Ibid., 442. Cf. K. Albert, Meister Eckhart über das Schweigen. In: FS für L. Seppänen (Acta Universitatis Tamperensis; ser. A., vol. 183), Tampere 1984, 301-309. DW I, 375-389. Cf. Ruh, Meister Eckhart (nt. 1), 137: „Predigt Q 22, ,Ave, gratia plena‘, ist durch eine präzise Anspielung des Predigers auf das Zisterzienserinnenkloster St. Mariengarten, wo er ,neulich‘ gesprochen hätte (I 380, 7 f.), sowie durch den Hinweis auf die ,Schule‘ mit ,großen Pfaffen‘ (381, 3), womit nur ein Studium generale gemeint sein kann, für Köln gesichert. Sie hat zum Hauptthema im ersten Teil, der hier allein behandelt werden soll, die Gottesgeburt in der Seele“; cf. auch G. Steer, Meister Eckharts Predigtzyklus von der ˆewigen geburt. Mutmaßungen über die Zeit seiner Entstehung, in: W. Haug/W. Schneider-Lastin (eds.), Deutsche Mystik im abendländischen Zusammenhang. Neu erschlossene Texte, neue methodische Ansätze, neue theoretische Konzepte. Kolloquium Kloster Fischingen 1998, Tübingen 2000, 253-281, hier: 280. L. Sturlese, Meister Eckhart. Ein Porträt (Eichstätter Hochschulreden 90), Regensburg 1993, 1-27, hier: 18.

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falls ist die Meinung von Kurt Ruh. Diese Sammlung ist das Predigtbuch ,Paradisus anime intelligentis‘ 55, überliefert in einer Oxforder und einer Hamburger Handschrift 56. Sie enthält 32 (31 Eckhart namentlich zugeschriebene) Predigten Eckharts und weitere 32 Predigten von neun Dominikanerlektoren (Eckhart Rube, Giselher von Slatheim, Johannes Franke, Hermann von Loveia, Florentius von Utrecht, Albrecht von Treffurt, Thomas von Apolda, Helwic von Germar, Bruder Erbe), einem Karmeliter (Meister Hane) und einem Franziskaner. Gewiss kann sich diese Meinung auch wieder nur auf Indizienbeweise stützen. Diese Beweise sind indes beachtlich: Die beiden ,Paradisus‘-Handschriften kommen der Sprache nach aus Thüringen, die meisten Predigerautoren ebenfalls; und die Schlüsselpredigt der Sammlung, ,Quasi stella matutina‘, vertritt die Doktrin der Pariser Quästionen. Hinzu kommt: Diese Meinung ist schon recht alt; sie hat Tradition. Eduard Sievers hat 1872 die Predigten Eckharts, nur die Predigten Eckharts, aus der Sammlung veröffentlicht. Er schreibt, dass ihre „entstehung auf Erfurt hinzuweisen scheint“ und dass sie „wol dem anregenden einflusse der dortigen würksamkeit Eckharts [zu] verdanken [sei]“ 57. 1909 spricht Adolf Spamer erstmals davon, dass nicht bloß die Sammlung, sondern auch die einzige damals bekannte Handschrift des ,Paradisus‘, die Oxforder Handschrift Cod. Laud. Misc. 479 (Sigle O), „vermutlich auf Erfurt als Entstehungsort hinweist“ 58. 1919 gibt Philipp Strauch die Predigtsammlung nach der Oxforder Handschrift als Ganze heraus 59. Er hält diese Handschrift mit Adolf Spamer weiterhin für die Hauptvertreterin der sog. Mitteldeutschen Handschriftengruppe der mhd. Mystikertexte, untersucht sie aber erstmals sprachlich und plädiert für eine „rheinfränkische Herkunft“ 60. Otto Behaghel glaubt in seiner Rezension 1922 sogar feststellen zu können, dass die Sprachform im Ganzen „aufs nachdrücklichste“ gegen Thüringen und für das Rheingebiet spreche 61. 55

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Paradisus anime intelligentis (Paradis der fornuftigen sele). Aus der Oxforder Handschrift Cod. Laud. Misc. 479 nach E. Sievers’ Abschrift ed. v. Ph. Strauch, Berlin 1919; zweite Auflage ed. u. mit einem Nachw. versehen v. N. Largier u. G. Fournier (Deutsche Texte des Mittelalters 30), Hildesheim 1998. Siehe Abb. 1 (Hamburger Handschrift). Cf. außerdem: H. Eidam/I. Thom/U. Spannaus (eds.), homo doctus - homo sanctus. Wer ist Meister Eckhart? Katalog der Ausstellung, Erfurt 2003, 19, mit einer Abbildung von fol. 1r und Vorderspiegel (hebräischer Text in Quadratschrift des 15. Jahrhunderts) der Hamburger Handschrift H2. E. Sievers, Predigten von Meister Eckhart, in: Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur 15 (1872), 373-439, hier: 436. A. Spamer, Zur Überlieferung der Pfeiffer’schen Eckeharttexte, in: PBB 34 (1909), 307-420, hier: 344. Siehe nt. 55. Strauch, Paradisus (nt. 55), XIII. O. Behaghel, Rezension über Philipp Strauch, Paradisus anime intelligentis, in: Literaturblatt für germanische und romanische Philologie 43 (1922), 14: „Ich meine, wenn ein Text von mehr als 130 Druckseiten nicht mehr als ein halbes Dutzend Infinitive ohne n enthält, so spricht das aufs nachdrücklichste gegen Thüringen.“ Auch für Fournier (nt. 55), 189, weisen die Hamburger Handschrift wie „die Oxforder Abschrift auf eine Herkunft aus dem westlichen Mitteldeutschland“. Zur neuerlichen Festschreibung der Herkunft der Handschrift aus Rheinfranken bemerkt Kurt Ruh in seiner Rezension in: Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur 128

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Philipp Strauch äußert auch erstmals Vorbehalte gegenüber der Annahme, die Predigten der Sammlung stammten alle aus Eckharts Erfurter Zeit: „Fraglich ist es, ob wir berechtigt sind, die in der Oxforder Handschrift so reich vertretene Predigt Meister Eckharts in ihrer Hauptmasse der Erfurter Periode seines Wirkens, mithin der Zeit bis c. 1300 zuzuweisen.“ 62 Hier klinkt sich Kurt Ruh in die Forschungsdiskussion ein: Weil dem intellectus „in der Frage der Gotteserkenntnis im ,Paradisus‘ eine zentrale Rolle zukommt, darf man die Entstehung dieser Ansprachen in die Zeit zwischen die beiden Pariser Magisterien, 13031311, ansetzen, die Zeit also, in der Eckhart als erster Provinzial die neugeschaffene Ordensprovinz Saxonia leitete“ 63. Bisher hat es niemand gewagt, die Entstehungszeit der Sammlung so genau zu bestimmen. Ruh weiß dies und sagt es auch. Es gebe „eine Handhabe für ihre Entstehungszeit“ und diese sei „eine Chance, die die Eckhart-Forschung bisher nicht wahrgenommen hat“: „Eckhart vertritt nämlich die Doktrin vom Vorrang des Intellectus einzig hier und in den Pariser Quästionen 1302/1303 in spezifischer Ausformung.“ 64 Ruh will zwei Fassungen des Erfurter Predigtbuches unterscheiden: eine ursprüngliche und eine gekürzte: „[Ich setze] die ursprüngliche Sammlung“, so im Verfasserlexikon 1989, „aus Gründen der Aktualität […] im ersten Jahrzehnt des 14. Jahrhunderts an mit dem Erfurter Dominikanerkloster, Sitz Meister Eckharts in der Zeit seines Provinzialats (1303-1311), als Ort der Erstredaktion. Ihr folgte dann, wiederum nach Ausweis der Sprache, in Erfurt, in den 40er Jahren die in O, H2 überlieferte gekürzte Sammlung.“ 65 Ruh bestimmt auch sehr genau den Zweck des Predigtbuches: Es sei zum Gebrauch der Predigerbrüder bestimmt und stehe außerhalb der cura monialium. Man müsse den ,Paradisus‘ als Hausbuch verstehen, als Erinnerungsbuch, das „die große Zeit des Erfurter Konvents, die Zeit um 1300, als Meister Eckhart mit anderen begabten oder doch tüchtigen Ordensvätern in ihm wirkte, als er zu den Mittelpunkten des Ordens in Deutsch-

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(1999), 113-115, hier 114: „Fournier beschreibt die Geschichte der Oxforder Handschrift präzis und nuanciert. Wir erfahren manches, was über bisher Bekanntes hinausgeht. Nur die ,Herkunft aus dem westlichen Mitteldeutschland‘ (S. 189) ist mehr als fragwürdig. Ich habe, nicht ganz unerfahren in diesem Geschäft, die Sprache von O immer als thüringisch bestimmt und sehe keinen Grund, von dieser Einsicht Abstand zu nehmen. Ich halte so auch den Redaktor, was nun doch das Naheliegendste ist, für einen Thüringer.“ Es scheint an der Zeit zu sein, dass sich kompetente Sprachwissenschaftler und ausgewiesene Kenner der historischen Schreibsprachen des Mitteldeutschen auf eine gründliche Sprachanalyse der Oxforder und der Hamburger ,Paradisus‘-Handschriften, die beide sprachlich engst verwandt sind, einlassen. Die Eckhart-Philologie möchte ihnen heute schon danken. Strauch, Paradisus (nt. 55), X. Ruh, Meister Eckhart (nt. 1), 63. Ibid. Zu Kurt Ruhs Beweisführung gibt L. Sturlese, Meister Eckhart (nt. 54), 26, nt. 86, kritisch zu bedenken: „Ruh hebt […] mit Recht die inhaltlichen Übereinstimmungen hervor, die zwischen der Sammlung und der Lehre der ersten Quaestiones Parisienses aus dem Jahre 1302/03 bestehen; diese Beobachtung würde jedoch erst eine chronologische Bedeutung gewinnen, wenn sich beweisen ließe, daß Eckhart später diese Lehre nicht mehr vertrat.“ K. Ruh, Paradisus anime intelligentis (Paradis der fornuftigen sele), in: id. (ed.), Die deutsche Literatur des Mittelalters: Verfasserlexikon, vol. 7, Berlin-New York 21989, 298-303, hier: 299.

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land gehörte […], [dokumentiert]“ 66. „Es ging somit dem Sammler und Redaktor um diese Verfasser und ihre im Haus gehaltenen oder dort verwahrten Predigten.“ 67 Trotz seiner Festlegungen lässt Ruh ein Fenster für weitere Forschungen offen. Er will nicht ausschließen, „daß die eine oder andere der 32 EckhartPredigten des ,Paradisus‘ nicht in Erfurt gehalten wurde, sondern erst aus späterer Zeit in schriftlicher Gestalt dorthin gelangte […]. Nur philologische Kleinarbeit könnte indes zu konkreten Resultaten führen“ 68. Auf solche konkreten Resultate möchte ich im Folgenden eingehen. 1. Die Frühredaktion des ,Paradisus‘ soll einen ,breiteren Bestand‘ gehabt haben als der in O und H2 dokumentierte Bestand von 64 Predigten. Aber wir kennen keine Handschrift, die uns diese Erstredaktion belegen könnte, auch die Londoner Handschrift des Victoria and Albert Museum, Cod. L 1810-1955 (Sigle Lo4) 69, nicht und auch die Melker Eckhart-Handschriften nicht 70. Ihr Bestand ist auch nicht aus anderen Eckhart-Handschriften oder im Zusammenhang mit ihnen zu rekonstruieren 71. 2. Sehr wohl handschriftlich belegt, mit vier Textzeugen (O, H2, K1, N4), ist das Predigtbuch, dessen Kennzeichen es ist, einen Titel zu haben sowie mit Überschriften zu den einzelnen Predigten versehen zu sein, die einen Kurzinhalt 66

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K. Ruh, Meister Eckharts Pariser Quaestionen 1-3 und eine deutsche Predigtsammlung. Perspektiven der Philosophie, in: Neues Jahrbuch 10 (1984), 307-324, hier: 315. Ruh, Meister Eckhart (nt. 1), 61. Ibid., 63. Cf. F. Löser, Als ich meˆ gesprochen haˆn. Bekannte und bisher unbekannte Predigten Meister Eckharts im Lichte eines Handschriftenfundes, in: Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur 115 (1986), 206-227. Lo4 bietet acht Abschriften von Predigten, deren Text aus anderen Handschriften bekannt ist: Die handschriftlichen Vergleiche der Predigten 32, 33, 61, 82, 87, 91, 95 und 96 geben keinen Hinweis auf eine nächste Verwandtschaft der Handschrift Lo4 mit den Handschriften O und H2. Freimut Löser kann lediglich eine Vermutung vermerken: „Die neuentdeckte Londoner Hs., deren Bedeutung für den ,Paradisus‘ ich darzustellen versuchte, könnte auf Vorlagen zurückgehen, die an der Nahtstelle zwischen den ,Kölner Klosterpredigten‘ und dem ,Paradisus anime intelligentis‘ gestanden haben dürften“ (227). Cf. F. Löser, Meister Eckhart in Melk. Studien zum Redaktor Lienhart Peuger. Mit einer Edition des Traktats ,Von der sel wirdichait vnd aigenschafft‘ (Texte und Textgeschichte 48), Tübingen 1999. Löser kann zwar „eine enge Verwandtschaft der Melker Sammlung mit der mitteldeutschen ,Gruppe‘ der Eckhartüberlieferung“ (268), zu der die Handschriften O, H2, K2, Wo1, Lo4, B6, B10 und Lo1 zu zählen sind, wahrscheinlich machen, aber eine gemeinsame Textform zwischen den ,Paradisus‘-Handschriften und den Melker Eckhart-Handschriften kann nicht sichtbar gemacht werden. Dies trifft auch auf die Nürnberger Handschrift Cent. IV 40 (Sigle N1) zu, die Kurt Ruh, Verfasserlexikon 7 (nt. 65), 299, zur „Streuüberlieferung des ,Paradisus anime intelligentis‘-Korpus“ rechnet, obwohl er zugestehen muss, dass das „Textverhältnis zum ,Paradisus anime intelligentis‘ noch nicht geklärt (ist)“. Ruh benennt ,16 Parallelstücke‘ zu O und H2. Die individuellen Textcharakteristika der Handschrift N1 lassen zwar ursprünglichere Textformen der Predigten erkennen, so besonders bei der Predigt 95 (DW IV/1, 150-175; cf. das Stemma 172), nicht aber Konturen einer umfänglicheren Predigtsammlung, als sie die Handschriften O und H2 bieten.

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der Predigt geben und den Autor der Predigt nennen. Die Überschriften stehen dabei nicht vor den einzelnen Predigten, wie im Tauler-Druck, sondern in einem Register 72 vor den 64 Predigten. Zudem zeigen die ,Paradisus‘-Predigten im Vergleich mit der Parallelüberlieferung eine eigene Textform, auch und gerade in der ,Quasi stella matutina‘-Predigt. Deshalb sollte man nur diese Textfassung, nach Ruh die gekürzte Sammlung, als ,Paradisus‘-Sammlung bezeichnen. 3. In die gekürzte Sammlung, den eigentlichen ,Paradisus‘, nach Ruh in den 40er Jahren des 14. Jahrhunderts in Erfurt geschaffen, können Predigten aus allen Lebensperioden Eckharts eingegangen sein. Und so war es wohl auch. Die ,Paradisus‘-Predigt 15 ,Sedebat Jesus docens in templo‘ 73 kann auf 1294 datiert werden wegen ihrer inhaltlichen Bezüge zum lateinischen ,Sermo paschalis‘ 74; die Predigt ,Quasi stella matutina‘ auf die Zeit unmittelbar nach 1303 wegen ihrer inhaltlichen und historischen Bezüge zu den Pariser Quästionen; und die Predigt ,Sta in porta‘ (Paradisus, Nr. 20) auf eine spätere Zeit wegen ihrer Kölner Herkunft. Freimut Löser hat dargelegt, dass sie nicht vor Eckharts Erfurter Mitbrüdern, sondern „mit Sicherheit in Köln (und dort wahrscheinlich vor den Nonnen des Benediktinerinnenklosters St. Machabaeorum) gehalten wurde“ 75. Ist dem so, dann kann sie nicht vor 1323/1327 in die ,Paradisus‘-Sammlung aufgenommen worden sein. 4. Es gibt für den Zeitpunkt der Entstehung der Sammlung, nicht der Entstehung der Predigten der Sammlung, einen konkreten Anhaltspunkt. Er liegt im Titel der Sammlung. Er heißt ,Paradisus anime intelligentis‘, deutsch: ,Dit buchelin heizit ein paradis der fornuftigin sele‘. Nach Ruhs Recherchen gibt es im ganzen Mittelalter diesen Titel nur hier. Weit verbreitet ist hingegen der Titel ,Paradisus animae‘. Ruh vermutet als Quelle der Titelgebung eine Textstelle bei Alcher von Clairvaux: „Anima […] similis est […] Deo per intelligentiam.“ 76 Wenn in den Titel tatsächlich das dominikanische Programm des Vorranges der Vernunft vor dem Willen eingeschrieben sein soll, dann erscheint die Alcher-Stelle recht unspezifisch, denn sie sagt nur, dass die intelligentia das Seelenvermögen ist, „das zur Teilnahme am Göttlichen befähigt“. In der ,Paradisus‘-Sammlung selbst müsste der Ausdruck vernünftige seˆle stehen. Steht er auch, aber nur einmal, 72 73 74

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Siehe Paradisus (nt. 55), 1-7. Pr. 90A (DW IV/1, 54-71). Cf. M. J. A. van den Brandt, Gotsontvankelijkheit en ,fornuftikeit‘. De Eckhartpreken uit de Paradisus anime intelligentis, Nijmegen 1993, 176-179; id., Die Eckhart-Predigten der Sammlung Paradisus anime intelligentis näher betrachtet, in: M. J. F. M. Hoenen/A. de Libera (eds.), Albertus Magnus und der Albertismus. Deutsche philosophische Kultur des Mittelalters (Studien und Texte zur Geistesgeschichte des Mittelalters 48), Leiden-New York-Köln 1995, 173-187, bes. 181-183. F. Löser, Predigt 19, Sta in porta domus domini, in: G. Steer/L. Sturlese (eds.), Lectura Eckhardi I, Stuttgart-Berlin-Köln 1998, 117-149, hier: 149. Cf. K. Ruh, Deutsche Predigtbücher des Mittelalters, in: id., Kleine Schriften II: Scholastik und Mystik im Spätmittelalter, ed. v. V. Mertens, Berlin-New York 1984, 296-317, hier: 315 sq.

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versteckt in der Predigt ,Quae est ista‘ 77: „Daz meinet eine ieglıˆche vernünftige seˆle, diu von rehter waˆrheit keine ruowe vindet an den creˆatuˆren.“ 78 Die programmatische Weite, die der Titel des ,Paradisus‘-Predigtbuches aufreißt, ist aus dieser Stelle nicht zu erspüren, wohl aber aus einem lateinischen Werk Eckharts, genauer, aus dem ,Liber parabolarum Genesis‘, bei der Auslegung von Gen. 2, 9: „lignum etiam vitae in medio paradisi lignumque scientiae boni et mali“ („[Gott ließ aus dem Erdboden aufsprießen] den Baum des Lebens mitten im Paradies und den Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen“) 79. Jeder gelehrte Dominikanerbruder, auch der ,Paradisus‘-Sammler, wusste, dass man in den ,Etymologien‘ Isidors 80 77 78 79

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Paradisus, Pr. 37 = Pr. 93 (DW IV/1, 124-137). Ibid., 128, 39 sq. Siehe Tabula auctoritatum Libri parabolarum Genesis, Capitulum secundum (LW I, 466, 1013): „Lignum etiam vitae in medio paradisi. Ibi invenies quinque rationes breves et bonas probantes quod intellectus est praestantior quam voluntas et sextam probantem quod beatitudo consistit in intellectu“ („Auch der Baum des Lebens mitten im Paradies. Dort findet man fünf kurze und gute Beweisgründe dafür, daß der Verstand vor dem Willen den Vorrang hat, und einen sechsten, der beweist, daß die Seligkeit in der intellektuellen Schau [Gottes] besteht“); In Gen. II, nn. 80-83 (LW I, 542, 1-5): „Lignum etiam vitae in medio paradisi lignumque scientiae boni et mali. Notandum quod in regione rationali sive intellectuali sunt duae potentiae, intellectus scilicet et voluntas, intellectus vero praestantior est. De quo post in quarta auctoritate circa finem, et patet ad praesens ex quinque“ („Auch den Baum des Lebens mitten im Paradies und den Baum der Erkenntnis des Guten und des Bösen. Es ist zu bemerken, daß es im Bereich der Vernunft oder des Verstandes zwei Vermögen gibt, Verstand und Wille, [unter denen] jedoch der Verstand den Vorrang hat. Hierüber [wird] gegen Ende [der Auslegung] des folgenden Schriftwortes [v. 16 sq.] gehandelt. An dieser Stelle seien dafür fünf Gründe genannt“); nn. 82-83 (LW I, 543, 9-544, 7): „Ex praemissis patet primo, propter quod lignum vitae et lignum scientiae boni et mali dicuntur producta in medio paradisi, id est ›in‹ regione intellectuali duo quaedam, intellectus et voluntas. Patet etiam secundo, quare praemittit lignum vitae, quod intellectum figurat, qui est ›radix‹ vitae animae rationalis, secundum illud Ioh. 1: ,quod factum est, in ipso‘, scilicet verbo in intellectu paterno, ,vita erat‘. Addit autem consequenter lignum scientiae boni et mali, quod utique ad voluntatem pertinet et ad res extra, secundum illud supra primo capitulo: ,vidit deus cuncta quae fecerat, et erant valde bona‘. Ex praemissis patet etiam quinta ratio, quod intellectus sit praestantior quam voluntas. Omne enim vivum praestantius est omni non vivo. Sed intellectus ex sui ratione vivus est, non autem voluntas“ („Aus dem Gesagten erhellt erstens, weshalb es heißt: Der Baum des Lebens und der Baum der Erkenntnis des Guten und des Bösen wurden mitten im Paradies hervorgebracht. Denn im geistigen Bereich [der Seele] gibt es zweierlei, Verstand und Wille. Zweitens erhellt auch, warum er den Baum des Lebens zuerst nennt. Er ist das Sinnbild des Verstandes, der die Wurzel des Lebens der vernünftigen Seele ist, nach dem Wort: ,was geworden ist, war in ihm‘, nämlich im Wort, das im väterlichen Verstand ist, ,Leben‘ [ Joh. 1, 3 sq.]. Danach aber fügt er hinzu: den Baum der Erkenntnis des Guten und des Bösen. Das gehört ja zum Willen und zu den äußeren Dingen, nach jenem Wort: ,Gott sah alles an, was er gemacht hatte, und es war sehr gut‘ [1, 31]. Aus dem Gesagten erhellt auch der fünfte Grund dafür, daß der Verstand den Vorrang vor dem Willen hat. Alles Lebendige hat ja den Vorrang vor allem Leblosen. Der Verstand ist aber seinem Wesen nach lebendig, der Wille hingegen nicht“); n. 83 (LW I, 545, 4-6): „Hinc etiam patet quod beatitudo, cum sit vita aeterna, proprie consistit in intellectu sive in cognitione dei per essentiam, secundum illud Ioh. 17 [3]: ,haec est vita aeterna, ut cognoscant te solum verum deum‘ “ („Hieraus erhellt auch, daß die Seligkeit, die ja das ewige Leben ist, in der geistigen Schau oder der Erkenntnis Gottes seinem Wesen nach besteht, nach dem Wort: ,das ist das ewige Leben, daß sie dich, den allein wahren Gott, erkennen‘ [ Joh. 17, 3]). Cf. Isidorus Hispalensis, Etymologiae XIV, c. 3, n. 2.

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eine erste und verbindliche Erklärung des Wortes paradisus finden konnte. Auch Eckhart bezieht sich im ,Liber parabolarum Genesis‘ auf Isidor: „Paradisus enim ,hortus deliciarum‘ est.“ 81 Wichtig an der Exegese Eckharts von Gen. 2, 9 ist, dass er 1. das lignum vitae den intellectualia zuordnet 82, 2., dass er sie mit der Frage nach dem Vorrang von Verstand und Wille verbindet und 3., dass er eine Antwort auf die Frage gibt, worin die Seligkeit bestehe. Jeder, der die Exegese von Gen. 2, 9 bei Eckhart nachlas, geführt von der Tabula 83 - und ich nehme an, der ,Paradisus‘-Kompilator hat dies getan -, konnte alle drei semantischen Elemente finden, die in den Titel ,Paradisus anime intelligentis‘ eingegangen sind, und zwar genau in der Zusammenfassung von Eckharts Exegese: „Aus dem Gesagten erhellt erstens, weshalb es heißt, ,der Baum des Lebens und der Baum der Erkenntnis des Guten und des Bösen‘ wurden ,mitten im Paradies‘ hervorgebracht, id est in regione intellectuali duo quaedam, intellectus et voluntas (d. h. im geistigen Bereich [der Seele] gibt es zweierlei, Intellekt und Wille).“ Somit erster Bestandteil des Titels: paradisus = regio intellectualis. Eckhart fährt fort: „Patet etiam secundo, quare praemittit lignum vitae, quod intellectum figurat“ („Zweitens erhellt auch, warum er den ,Baum des Lebens‘ zuerst nennt. Er ist Sinnbild des Intellekts“). Somit zweitens: der ,Baum des Lebens‘ in der Mitte des Paradieses = Intellekt = intelligens. Eckhart fährt fort: „[intellectus], qui est ,radix‘ vitae animae rationalis“ („der Intellekt, der die Wurzel des Lebens der vernünftigen Seele ist“). Somit der dritte Bestandteil des Titels: anima (seˆle). Der ,Liber parabolarum Genesis‘ ist Eckharts letztes lateinisches Werk vor der ,Responsio‘, der sog. ,Rechtfertigungsschrift‘. Der genaue Zeitpunkt seines Abschlusses ist unbekannt. Loris Sturlese vermutet: „erst nach der zweiten Entsendung Eckharts als Professor nach Paris (1311-1313), und zwar in dem Dezennium, das er nach seiner Rückkehr nach Deutschland in Straßburg verbrachte (1313-1323)“ 84. Besteht die Annahme zu Recht, dass der ,Paradisus‘-Redaktor den ,Liber parabolarum Genesis‘ gekannt hat, lässt sich die Zeit der Predigtenzusammenstellung auf wenige Jahre komprimieren: nach Abfassung des ,Liber parabolarum Genesis‘, nach Abfassung der Kölner Predigt ,Sta in porta‘ (etwa 1325) und vor der Fertigstellung der ,Sermones novi‘ des Nikolaus von Landau (etwa 1340) 85, worin sich Textstücke aus der ,Paradisus‘-Sammlung eingearbeitet finden 86. Obwohl es nahe liegt anzunehmen, der Redaktor des ,Paradisus‘-Predigtbuches gehöre zur Teutonia und stünde den Kölner Dominikanern nahe, kann er 81 82

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In Gen. II, n. 154 (LW I, 625, 1 sq.). In Gen. I, n. 203 (LW I, 351, 14-16): „,ex omni ligno paradisi comede‘, quantum ad intellectualia; ,de ligno autem scientiae boni et mali ne comedas‘, quantum ad sensibilia“ („ ,Iß von allen Bäumen des Paradieses‘ - das sind die geistlichen [Genüsse] - ,aber vom Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen sollst du nicht essen‘ [2, 16 sq.) - das sind die sinnfälligen [Dinge]“). Cf. nt. 79. Sturlese, Meister Eckhart (nt. 54), 17. Cf. K. Ruh, Nikolaus von Landau OCist, in: Die deutsche Literatur des Mittelalters: Verfasserlexikon, vol. 6, Berlin-New York 21987, 1113-1116. Cf. H. Zuchhold, Des Nikolaus von Landau Sermone als Quelle für die Predigt Meister Eckharts und seines Kreises (Hermaea 2), Halle/Saale 1905.

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sehr wohl auch den ,Paradisus‘ im Dominikanerkloster Erfurt kompiliert haben, wenn ihm im vierten Jahrzehnt des 14. Jahrhunderts der ,Liber parabolarum Genesis‘-Text und mehrere Sammlungen deutscher Predigten zur Hand waren. Eine solche Konstellation ist nicht singulär. Sie ist vergleichbar derjenigen im Melk des 15. Jahrhunderts: Lienhart Peuger „verfügte über eine umfangreiche mitteldeutsche Sammlung von Eckhartpredigten“. Zu dieser gehörten auch Predigten Johannes’ von Sterngassen, Florentius’ von Utrecht, Meister Hanes, Meister Gerhards und zwei der sog. Kölner Klosterpredigten. „Nicht alle ihre Texte hat“ Peuger „in die Codices 1865 und 705 übernommen; diejenigen, die er übernahm, hat er teilweise gekürzt.“ 87 Die Konstellation ist auch vergleichbar dem Arrangement des Basler Tauler-Druckes von 1521 durch den Kartäuser Georg Carpentarius, der zwischen die Tauler-Predigten 61 Predigten Eckharts aus Basler Handschriftenbeständen inseriert und mit einem längeren Vorspruch versehen hat 88. Schließlich: Die Konstellation gleicht in etwa auch derjenigen in Köln in der Vorphase des Inquisitionsprozesses gegen Eckhart, als Hermann von Summo und Wilhelm von Nidecke aus deutschen und lateinischen Schriften Eckharts Sätze exzerpierten, um ihn mit diesen der Häresie zu überführen 89. Nach dem Eckhart-Prozess und nach Eckharts Verurteilung mögen deutsche Dominikaner begonnen haben, zu Eckharts ,Ehrenrettung‘ 90 seine Schriften zu sammeln und sich damit mit Eckhart zu solidarisieren. Ein Zeugnis hoher Eckhart-Bewunderung ist die Basler Handschrift K, die Auszüge aus dem gesamten lateinischen Werk Eckharts versammelt und deren Entstehungsspuren letztendlich ins Kölner Dominikanerkloster führen 91. Loris Sturlese nennt solche Dominikaner, die Eckharts Lehre schätzen und weitertradieren, ,Eckhartisten‘ 92, Kölner ,Eckhartisten‘, weil sie hier ihr Zentrum hatten. Das Außergewöhnliche der historischen Deutung der ,Paradisus‘-Sammlung Kurt Ruhs ist, dass er ihren anonymen Kompilator nicht als einen heimlichen Eckhartisten und auch nicht als einen Vertreter der Lehrdoktrin einer bestimmten Tradition innerhalb des Dominikanerordens sehen will, sondern als einen nostalgischen Erfurter Dominikaner, der „um 1340“ mit einem Predigtbuch die große Zeit seines Klosters unter Meister Eckhart dokumentiert, die er „als junger Mann erlebt haben [mochte]“ und an die er „mit einer gewissen Wehmut [zurückdenkt]“ 93. „Es 87 88 89

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Löser, Meister Eckhart (nt. 70), 269. Cf. Steer, Die Schriften (nt. 42), 264-266. Cf. id., Zur Authentizität der deutschen Predigten Meister Eckharts, in: H. Stirnimann (ed., in Zusammenarbeit mit R. Imbach), Eckardus Theutonicus, homo doctus et sanctus. Nachweise und Berichte zum Prozeß gegen Meister Eckhart (Dokimion 11), Freiburg/Schweiz 1992, 127168, bes. 127-135. Cf. Ruh, Deutsche Predigtbücher (nt. 76), 315. Cf. Steer, Die Schriften (nt. 42), 217; Th. Kaeppeli, Eine Kölner Handschrift mit lateinischen Eckhart-Exzerpten, in: Archivum Fratrum Praedicatorum 31 (1961), 204-212. Cf. L. Sturlese, Die Kölner Eckhartisten. Das Studium generale der deutschen Dominikaner und die Verurteilung der Thesen Meister Eckharts, in: A. Zimmermann (ed.), Die Kölner Universität im Mittelalter (Miscellanea Mediaevalia 20), Berlin-New York 1989, 192-211. Ruh, Meister Eckhart (nt. 1), 62.

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geht, so scheint es, darum, die illustre Schar bedeutender Männer des Ordens, die in der Glanzzeit des Hauses in Erfurt tätig waren oder mit Erfurt in näherer Beziehung standen, in einem Erinnerungsbuch zu bewahren.“ 94 Ruhs Deutung der ,Paradisus‘-Sammlung als ,Hausbuch‘ des Erfurter Dominikanerklosters erinnert an ein anderes bekanntes ,Hausbuch‘, das annähernd zur gleichen Zeit angelegt wurde, in Würzburg, durch den bischöflichen Protonotar Michael de Leone (um 1300-03. 01. 1355) 95. Aus Würzburger Lokalinteresse hat er in sein literarisches Sammelwerk Lieder Walthers von der Vogelweide und Reinmars von Hagenau aufgenommen, neben anderen Werken zeitgenössischer Literatur. 5. Dass der anonyme Redaktor tatsächlich erst in den 40er Jahren des 14. Jahrhunderts gearbeitet hat und dass ihm keine originalen Schriften des Erfurter Klosters, sondern sekundäres Quellenmaterial zur Verfügung stand, kann die Textüberlieferung von Predigt 46 der ,Paradisus‘-Sammlung 96 beweisen. Die Predigt war in zwei Fassungen verbreitet, in einer originalen mit dem Textwort ,Os suum aperuit sapientiae‘ und in einer redigierten, ja depravierten Textgestalt mit dem Textwort ,Beatus homo qui invenit sapientiam‘. Letztere hat der ,Paradisus‘-Redaktor übernommen. Hätte man Eckhart diese Predigt als die seine unter die Augen gelegt, hätte er sie mit den gleichen Worten zurückweisen müssen, wie er die Predigt ,Intravit Iesus in quoddam castellum‘ zurückwies: „Es ist in dieser Predigt viel Dunkles und Zweifelhaftes, was ich niemals gesagt habe.“ 97 Schon die unterschiedliche Wiedergabe eines Hugo von St. Viktor-Zitates lässt erkennen, wie sehr der Bearbeiter in die originale Textgestalt Eckharts, die in der Fassung B erhalten ist, eingegriffen hat. Es ist erkenntniserhellend, darauf zu achten, welche Handschriften diese Sekundärversion, obwohl sie unter dem Namen Eckhart läuft, überliefern: Es sind die Handschriften O und H2, die Londoner Handschrift Lo4 und die Melker Handschriften Me2 und Me3. Das Beispiel zeigt: Eckhart selbst hat keinen Einfluss mehr auf die Gestaltung des Predigtbuches gehabt. Es wurde nach seinem Tode erstellt. Und sein Redaktor kannte Eckhart auch nur noch über vermittelnde literarische Instanzen. So viel scheint gewiss zu sein: Die Predigtsammlung ,Paradisus‘ spiegelt nicht als Ganze Eckharts literarische Aktivitäten in Erfurt; einige Predigten dürften jedoch in ihr bewahrt sein, die er tatsächlich in Erfurt gehalten hat. Ich komme zum Schluss. Die großen Gedanken der abegescheidenheit, des Freiwerdens von sich selbst, der äußersten Armut sowie der Gottesgeburt und des Einsseins in Gott hat Eckhart in Erfurt zu denken begonnen. Er hat sie weiterentwickelt, präzisiert und mit immer neuen Begriffen, Bildern und Vergleichen 94 95

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Ruh, Paradisus (nt. 65), 300. G. Kornrumpf, Michael de Leone, in: Die deutsche Literatur des Mittelalters: Verfasserlexikon, vol. 6, Berlin-New York 21987, 491-503. Pr. 95A (DW IV/1, 150-201). Proc. Col. I, n. 147 (LW V, 303, 1 sq.): „ ,In anima est quoddam castellum‘ etc. In hoc sermone multa sunt obscura et dubia et quae numquam dixi.“

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verdeutlicht. Aus seinen verschiedenen Schriften, lateinischen wie deutschen, ist dies herauszulesen. Kennten wir diese in der genauen Abfolge ihrer Entstehung, könnten wir noch bestimmter als heute sagen: Die Erfurter Jahre waren für Eckhart die wichtigsten in seinem Leben.

Meister Eckhart in Bewegung. Das mittelalterliche Erfurt als Wirkungszentrum der Dominikaner im Licht neuerer Funde Freimut Lˆser (Augsburg) Im folgenden Beitrag werden neuere Funde (vor allem Handschriften- und Textfunde aus den 80er und 90er Jahren) vorgestellt. Da einer anderen Publikation nicht vorgegriffen werden soll, können von den neuesten Entdeckungen am Ende des Beitrages nur zwei erwähnt werden. Alle diese Funde betreffen Texte Meister Eckharts. Bei ihrer Vorstellung soll zunächst die Frage im Mittelpunkt stehen, was sie für die beiden Komplexe ,Eckhart in Bewegung‘ und ,Erfurt im Zentrum‘ bedeuten könnten.

I. 1. ,Eckhart in Bewegung‘ Bei dieser Formulierung mag man sich daran erinnern, dass das Wortfeld bewegunge, bewegen bei Eckhart eine Rolle spielt, etwa, wenn er definiert: „Nur das Ding lebt, das Bewegung aus seinem Eigenen nimmt.“ 1 Von Eckhart lässt sich mit Gewissheit sagen, dass er seine bewegunge aus sıˆnem eigene nahm; vielleicht ist er eben deshalb so lebendig. Aber was bewegte ihn? Nimmt man den Titel wörtlich, und räumlich, dann sieht man Eckhart ständig in Bewegung: von Tambach nach Erfurt, nach Köln, Paris, zurück nach Erfurt, wieder Paris, erneut Erfurt, Straßburg, Köln, Avignon, dazwischen die General1

Pr. 46 (DW II, 383, 10-384, 2) nach der Übersetzung J. Quints, ibid., 708. Benutzte Eckhartausgaben: DW I-III = Meister Eckharts Predigten, ed. u. übers. v. J. Quint, Stuttgart 1958, 1971 u. 1976; DW V = Meister Eckharts Traktate, ed. u. übers. v. J. Quint, Stuttgart 1963; DW IV/ 1 = Meister Eckharts Predigten, ed. u. übers. v. G. Steer unter Mitarb. v. W. Klimanek u. F. Löser, Stuttgart 1997 sqq.; F. Jostes, Meister Eckhart und seine Jünger, Freiburg/Schweiz 1895, Neuaufl. mit einem Wörterverzeichnis v. P. Schmitt u. einem Nachw. v. K. Ruh, Berlin-New York 1972; Paradisus anime intelligentis (Paradis der fornuftigen sele). Aus der Oxforder Handschrift Cod. Laud. Misc. 479 nach E. Sievers’ Abschrift ed. v. Ph. Strauch, Berlin 1919; zweite Auflage ed. u. mit einem Nachw. versehen v. N. Largier u. G. Fournier (Deutsche Texte des Mittelalters 30), Hildesheim 1998; F. Pfeiffer, Deutsche Mystiker des vierzehnten Jahrhunderts, vol. 2, Leipzig 1857, Nachdr. Aalen 1962.

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kapitel in Toulouse, Straßburg und Piacenza, die vielen Zwischenstationen mit den Klostergründungen durch die Provinzkapitel und die Reisen, die Predigertätigkeit in den verschiedensten Klöstern gar nicht gerechnet 2. Manche der Lebensstationen sind relativ gut erforscht (Köln, Paris, Straßburg, jetzt also auch Erfurt). Dazwischen klaffen Lücken. Was wissen wir schon beispielsweise über Eckharts Tätigkeit als Generalvikar der böhmischen Provinz (seit 1307 als Leiter der Saxonia von Erfurt aus)? Urkunden, Briefe, Lebenszeugnisse, Berichte von Nonnen, die ihm begegneten, zeigen Eckhart unterwegs. Seine Texte selbst aber spiegeln kaum etwas von dieser Bewegung. „Doˆ ich hiute her gienc, doˆ gedaˆhte ich, wie ich iu alsoˆ vernünfticlıˆche gepredigete, daz ir mich wol verstüendet“ 3 - eine solche Äußerung zeigt immerhin, dass Eckhart, als Prediger unterwegs, um diese Art ,Bewegung‘ wusste und sie auch erwähnte, dies aber eher nebenbei. Eine Äußerung wie „Man liset hütt da haime¯ [= ,hierzulande‘] in der epistel “ 4 zeigt gleichzeitig, dass dem bewegten Prediger regionale Unterschiede bewusst sind und dass diese regionalen Differenzen die Liturgie und den Predigttext betreffen. Eckhart erwähnt die Räume, in denen er sich bewegt, freilich kaum je konkret in seinen Predigten. Die Klosternamen, die er in den deutschen Predigten nennt - sent merueren und meirgarden - bezeichnen mit Sicherheit zwei Kölner Klöster, nicht, wie K. Ruh zuletzt gemeint hat, St. Margareten in Straßburg 5. Auch der Kölner Schule, in der er studierte, gedenkt der junge Eckhart, wenn er im sermo paschalis in Paris am 18. April 1294 Albertus Magnus erwähnt: „Albertus saepe dicebat.“ Erfurt freilich wird durch Eckhart nicht genannt. Seine Erwähnung bleibt den Handschriften vorbehalten: „Das sind die Reden, die der Vikar von Thüringen, der Prior von Erfurt, Bruder Eckhart, Predigerordens, mit solchen Kindern geführt hat, die ihn zu diesen Reden nach vielem fragten, als sie zu abendlichen Lehrgesprächen beieinander saßen.“ So werden in zahlreichen Handschriften die ,Rede der underscheidunge‘ eingeführt. Aber wie authentisch ist diese Einführung und von wem stammt sie? Eine Überlieferungsgeschichte der Werke Eckharts ist seit langem ein Desiderat der Forschung. Mit den reich überlieferten ,Reden‘ könnte man den Anfang machen und dabei auch die Frage untersuchen, von welchem Moment der Textgeschichte an die ,Reden‘ so charakterisiert wurden. Denn in Bewegung wird Eckhart auch durch die Handschriften versetzt. Das reicht von den regionalen Aspekten der ostmitteldeutschen, rheinischen oder alemannischen Überlieferung zu solchen des Verständnisses. Die mitteldeutsche 2

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Dazu etwa J. Koch, Kritische Studien zum Leben Meister Eckharts, in: id., Kleine Schriften I (Storia e letteratura; Raccolta di studi e testi 127), Rom 1973, 247-347; H. Eidam/I. Thom/ U. Spannaus (eds.), homo doctus - homo sanctus. Wer ist Meister Eckhart? Katalog der Ausstellung, Erfurt 2003. Pr. 48 (DW II, 416). Pr. 63 (DW III, 74, 1). Cf. DW I, 322 sq.; F. Löser, Predigt 19, Sta in porta domus domini, in: G. Steer/L. Sturlese (eds.), Lectura Eckhardi I, Stuttgart-Berlin-Köln 1998; demnächst id., Meister Eckharts Kölner Predigten.

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Überlieferung scheidet sich in einen Zweig, der eher im Ostmitteldeutschen/ Thüringischen seinen Ausgangspunkt nahm (um die Handschrift aus Kassel, deren Texte E. Sievers edierte, mit Ausläufern in den fränkisch-nordbayrischen Raum), und in eine westmitteldeutsche Sparte (mit dem Zentrum in Köln und Ausläufern in den Niederlanden). Dazu kommt die südwestdeutsche Überlieferung und die zahlenmäßig kleine bairisch-österreichische Abteilung mit ihren Sonderbedingungen. Kaum ein Schreiber/eine Schreiberin hat Eckhart unverändert gelassen. Sie waren von ihm bewegt und versetzten - deshalb - seine Texte in Bewegung. Der dominikanische Ordensbruder, der die Sammlung des ,Paradisus anime intelligentis‘ redigierte und aus dominikanischer Warte die Vorrangstellung des intellectus gegen die Franziskaner hervorhob, behandelte Eckharts Texte dabei anders als der benediktinische Laienbruder, dem am Klostergelübde der Demut lag. Damit ist ein weiteres Movens erwähnt, das dem ,Entwurf Eckhart‘ Bewegung verlieh: die verschiedenen geistlichen Orden. Dass sich das ,Konzept Meister Eckhart‘, das seine Ordensbrüder Tauler und Seuse entwarfen, von dem des Zisterziensers Nikolaus von Landau oder dem des Franziskaners Marquard von Lindau unterschied, ist evident. Auch bei den AugustinerEremiten fand Eckhart verständnisvolle und kongeniale Aufnahme ( Johannes Hiltalingen) 6. Eckhart strahlte weit über den eigenen Orden hinaus. Er hat in vielen Orden viele bewegt, die Laien (Rulman Merswin) ebenso wie die Gelehrten (Cusanus). Er wurde aber auch von vielen bewegt. Seine Texte waren steter Veränderung unterworfen. Der Text als variable Größe hat seinerseits die Eckhart-Philologie, besonders die Editionsphilologie, in Bewegung versetzt. Geboten und gelesen werden können und sollen (!) heute die Texte, die im Mittelalter gelesen, geschrieben und eben bearbeitet wurden - von den Schreibern und Schreiberinnen, von den Redaktoren, schon von Eckhart selbst, der häufig verschiedene Fassungen vorlegte. Das wiederum hat unser Eckhart-Bild verändert: Einen Text, der in Handschriften Eckhart zugeschrieben wird und dessen Autorschaft gültig nur durch philologische ,Kleinarbeit‘ zu klären wäre, kann man Eckhart nicht schon deshalb absprechen, weil er vom Aufstieg in Stufen handelt, und weil dies ,uneckhartisch‘ sei und nicht ins Bild passt. In den letzten Jahren ist die Bedeutung der einzelnen Handschriften für dieses Gesamt-Bild immer deutlicher geworden. ,Eckhart in Bewegung‘ setzt die Eckhart-Philologie in Bewegung - und die Philologen. Das ist wörtlich zu nehmen. Ich zum Beispiel gerade auch seit ich nicht mehr an der Eckhart-Edition aktiv mitarbeiten konnte - war auf zahlreichen Handschriften-Reisen in Deutschland, England, Österreich und (zuletzt vor allem) in Tschechien immer wieder auf Eckharts Spuren unterwegs. Von Funden während dieser Reisen wird zu berichten sein. 6

Cf. K. H. Witte, Der ,Traktat von der Minne‘, der Meister des Lehrgesprächs und Johannes Hiltalingen von Basel. Ein Beitrag zur Geschichte der Meister-Eckhart-Rezeption in der Augustinerschule des 14. Jahrhunderts, in: Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur 131 (2002), 454-487.

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2. ,Erfurt im Zentrum‘ Natürlich steht Erfurt im Zentrum. Hier hat der junge Novize seine erste Ausbildung empfangen, hier wirkte er nach seiner ersten Rückkehr aus Paris zwischen 1294 und 1298 als Prior. Hier entstanden die ,Rede der underscheidunge‘. Hier war - von 1303 bis 1311 - Eckharts Sitz als Ordensprovinzial der Saxonia und als Generalvikar von Böhmen. Wie steht es aber mit der Erfurter Überlieferung? Vom lateinischen Werk liegen drei bedeutende Handschriften in der Bibliotheca Amploniana. L. Sturlese verdanken wir die Einsicht, dass sie nicht zufällig dorthin kamen, sondern dass mindestens die bedeutendste davon auch in Erfurt entstand, eine Einsicht zudem, die die frühere Unterscheidung zwischen ,Frühwerk‘ (um 1302/03) und ,Spätwerk‘ (nach dem Pariser Magisterium 1311-13) hinfällig machte 7. Für die deutschen Werke sieht die Lage anders aus. Und das gilt vornehmlich für die bekannte Sammlung ,Paradisus anime intelligentis‘. K. Ruh galt es als ausgemacht, dass sie die große Zeit des Erfurter Konvents dokumentierte und um 1340 dort entstanden war; er sprach von der ,Erfurter Sammlung‘ und ging davon aus, dass auch die meisten Predigten Eckharts, die darin enthalten sind, in Erfurt gehalten worden waren 8. G. Steer dagegen hat eine Entstehung der Sammlung in Köln angenommen: Die ,Paradisus‘Sammlung als Predigthandbuch für dominikanische Prediger könne „sehr wohl in Köln nach […] 1313 und vor 1341 […] entstanden sein“ 9. Wenn Erfurt aber ein Zentrum von Eckharts Leben und Tätigkeit als Ordensorganisator und als Lehrer bildet, wo ist dann - im Bereich der deutschen Predigt - die Erfurter Überlieferung? Oder weiter: In welchem Verhältnis stehen Eckhart’sche und nicht-Eckhart’sche Predigten des ,Paradisus‘? Wie steht es um die Erfurter Dominikaner, die Eckhart in der Sammlung begleiten? Kann man überhaupt mit Recht von einer Erfurter Eckhart-Rezeption sprechen?

3. ,Neuere Funde‘ Im Bereich der lateinischen Schriften Eckharts hat L. Sturlese für eine Sensation gesorgt, als er die Oxforder Handschrift entdeckte, die Erfurter Textzeugen untersuchte und damit die bisherigen Vorstellungen über Eckharts ,Opus tripar7

8 9

Cf. L. Sturlese, Meister Eckhart in der Bibliotheca Amploniana. Neues zur Datierung des ,Opus tripartitum‘, in: A. Speer (ed.), Die Bibliotheca Amploniana. Ihre Bedeutung im Spannungsfeld von Aristotelismus, Nominalismus und Humanismus (Miscellanea Mediaevalia 23), Berlin-New York 1995, 434-446. Cf. K. Ruh, Meister Eckhart. Theologe, Prediger, Mystiker, München 21989, 60-63. G. Steer, Die Schriften Meister Eckharts in den Handschriften des Mittelalters, in: H.-J. Schiewer/K. Stackmann (eds.), Die Präsenz des Mittelalters in seinen Handschriften. Ergebnisse der Berliner Tagung in der Staatsbibliothek zu Berlin - Preußischer Kulturbesitz, 06.-08. April 2000, Tübingen 2002, 209-302.

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titum‘ ins Wanken brachte 10. Von ähnlicher Tragweite könnte sich ein Fund N. F. Palmers erweisen. Auch er betrifft das ,Opus tripartitum‘. Palmer hat im Bibliothekskatalog der Zisterzienser von Eberbach den Eintrag einer Handschrift mit einem Initium entdeckt, das bedeuten könnte, dass man dort weitere, heute verschollene Bestandteile des ,Opus tripartitum‘ aufbewahrte, das dann eben doch umfangreicher war, als wir heute noch glauben 11. Die Handschriftenfunde aus dem Bereich der deutschen Texte scheinen auf den ersten Blick - weniger aufregend. Ich halte sie - besonders die Fragment-Funde D. Schmidtkes und K. Schneiders - aber für spannend genug: Die heute in Pavia befindliche Handschrift aus dem ehemaligen Kloster der franziskanischen Tertiarerinnen in Thalbach zu Bregenz, die W. Fechter 1974 vorstellte 12, enthält dabei zwar den Predigtzyklus ,Von der eˆwigen geburt‘ 13, dies aber in einer sehr entstellten Form, von einem Auftragsschreiber ohne Verständnis für den Text geschrieben 14. Das ist bedauerlich, denn der Zyklus ist auch für das Thema des vorliegenden Tagungsbandes von Relevanz, wurde er doch, G. Steer zufolge, in Erfurt verfasst 15. Mehr Wert für die Forschung besitzt das von L. Kurras bekannt gemachte Nürnberger Fragment 16 aus dem Klarissenkloster in Freiburg: Es bezeugt eine relativ frühe Eckhart-Handschrift und belegt zudem die frühe Existenz einer alemannischen Textform von Predigten 17. Solche Fragmente belegen, dass wir „mit beachtlichen Verlusten von Meister Eckhart-Handschriften des 14. Jahrhunderts [schon] am Ende des Mittelalters“ rechnen müssen. Festgestellt hat dies 1983 D. Schmidtke anlässlich der Vorstellung der Fragmente dreier Eckhart-Predigten (zwei Doppelblätter), die er in Eichstätt entdeckt hatte 18. Schmidtke ist dabei die grundsätzliche Einsicht zu 10

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13 14 15 16

17 18

Cf. L. Sturlese, Un nuovo manoscritto delle opere latine di Eckhart e il suo signifı´cato per la ricostruzione del testo e della storia dell’Opus tripartitum, in: Albert der Große und die deutsche Dominikanerschule. Philosophische Perspektiven, Freiburg i. Ü. 1985, 145-154; id., Zur Stemmatik der offenen Tradition. Überlegungen zur Edition der drei Fassungen von Meister Eckharts ,Opus tripartitum‘, in: editio 6 (1992), 26-42. Cf. N. F. Palmer, Zisterzienser und ihre Bücher. Die mittelalterliche Bibliotheksgeschichte von Kloster Eberbach im Rheingau unter besonderer Berücksichtigung der in Oxford und London aufbewahrten Handschriften, Regensburg 1998, 124 sq. Cf. W. Fechter, Eine Thalbacher Handschrift mit Eckhart-Predigten, Exzerpten aus Seuse, dem Ps.-Albertischen ,Paradisus animae‘ und anderem in Pavia, in: Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur 103 (1974), 311-333. Predigten 101-104 (DW IV/1, 279-610). Cf. Steer, Die Schriften (nt. 9), 247. Cf. ibid., 249. Cf. L. Kurras, Ein Eckhart-Fragment aus dem Klarissenkloster in Freiburg, in: Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur 107 (1978), 216-218. Cf. Steer, Die Schriften (nt. 9), 248. D. Schmidtke, Eichstätter Fragmente von Eckhart-Predigten, in: Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur 112 (1983), 73-82, hier: 76. Drei Jahre zuvor hatte Schmidtke schon die so genannte ,Beuroner Mystikerhandschrift‘ bekannt gemacht; für die Eckhart-Forschung ist diese weniger bedeutend, weil Eckhart darin „nur schwach“ vertreten ist: D. Schmidtke, Eine Beuroner Mystikerhandschrift, in: Scriptorium 34 (1980), 278-287, hier: 285.

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verdanken, dass die Auffindung neuen handschriftlichen Materials auch einen scheinbar gesicherten Text noch fallweise ins Wanken bringen kann. Dies deshalb, weil das Gebäude des kritischen Textes im Falle Eckharts häufig auf zu schmalem Fundament errichtet werden musste: „Die zur Textkonstituierung voll verwertbaren Hss. der Einzelpredigten […] lassen sich teilweise an den Fingern einer Hand abzählen.“ 19 Heute wäre zu ergänzen: Bei manchen Predigten lassen sie sich an einem Finger abzählen. Jeder Fund zu deutschen Eckhart-Texten erweitert deshalb unsere Kenntnisse. Dies zeigt beispielhaft eine Abschrift der Predigten 101 und 102 (DW IV/1), der beiden ersten der vier Predigten aus dem Zyklus ,Von der eˆwigen geburt‘. Entdeckt hat sie Karin Schneider, vorgestellt im Jahr 1996 20. Schon ein Blick auf das Stemma der Predigt 101 21 zeigt die überragende Position dieses Fragmentes in der Textgeschichte. Steer hat festgestellt: „Es gibt keine vergleichbare Handschrift unter den über 30 erhaltenen Textzeugen der Predigt Nr. 101, die so verläßlich den Predigttext vermittelt.“ 22 Insgesamt vier Funde also der 70er und 80er Jahre bezeugen die Existenz früher Eckhart-Handschriften; sie sind fast alle von Wert für die Textkonstitution; sie betreffen meistens Fragmente; aber sie betreffen - anders als Palmers Spur - immer bereits bekannte Eckhart-Texte. Anders ist dies bei dem Fragment aus Nürnberg, das K. Ruh bekannt machte. Es handelt sich dabei um ein Pergamentdoppelblatt, nach paläographischen Kriterien „der Zeit um 1300“ zugehörig, Reste einer Handschrift also, die damit „als frühester Textzeuge des Eckhartschen Predigtwerkes zu gelten“ hat 23. Das Wichtigste dabei: Der Text ist singulär überliefert, er ist - bisher - aus keiner anderen Handschrift bekannt, er war der Forschung völlig unbekannt; Ruh konnte ihn überzeugend als Teil einer Predigt Eckharts erweisen. Der Text, inzwischen als Predigt 99 auch in der kritischen Edition von DW IV/1 vorliegend, kann, G. Steer zufolge, sehr gut in der Zeit nach 1303 abgefasst sein, in der Eckhart nach dem ersten Pariser Magisterium wieder in Erfurt wirkte 24. Neu an Ruhs Fund war vor allem, dass er erstmals nicht nur neue Textzeugen bekannter Eckharttexte, sondern einen neuen Text betraf. Die Einsicht, dass es auch nach jahrzehntelangen Forschungen noch möglich ist, neue Eckharttexte 19

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Schmidtke, Eichstätter Fragmente (nt. 18), 80. Cf. F. Löser, Nachlese. Unbekannte Texte Meister Eckharts in bekannten Handschriften, in: V. Mertens/H. J. Schiewer (eds.), Die deutsche Predigt im Mittelalter. Internationales Symposium am Fachbereich Germanistik der Freien Universität Berlin vom 03.-06. Oktober 1989, Tübingen 1992, 125-149, hier: 126. Cf. K. Schneider, Die deutschen Handschriften der bayerischen Staatsbibliothek München, vol. 5, 7: Die mittelalterlichen Handschriften aus Cgm 4001-5247, Wiesbaden 1996, 509 sq. Cf. DW IV/1, 316. Steer, Die Schriften (nt. 9), 247. K. Ruh, Fragment einer unbekannten Predigt von Meister Eckhart aus dem frühen 14. Jahrhundert, in: Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur 111 (1982), 219-225, hier: 221. So Steer, Die Schriften (nt. 9), 249.

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zu entdecken, bestätigte ein Fund, den ich im Jahr 1986 bekannt machen konnte 25. Damit komme ich zu den Handschriftenfunden und Textfunden, die mich persönlich seither in Bewegung hielten. Im folgenden zweiten Teil will ich versuchen, sie zu rekapitulieren und sie unter neuen Blickwinkeln zu sehen. Dies wird wieder in drei kurzen Teilen geschehen: ,Texte in Bewegung‘ - ,Eckhart in Bewegung‘ - ,Erfurt in Bewegung‘. II. 1. ,Texte in Bewegung‘ Die Handschrift, auf die N. Palmer gestoßen war, der mir die Bearbeitung überließ, liegt in London, im Victoria and Albert Museum. Sie trägt die Signatur L 1810-1955 und wird heute in der Eckhart-Philologie als Lo4 geführt. Sie stammt aus dem 15. Jahrhundert. Ihre Sprache ist mitteldeutsch, genauer: thüringisch. Meine Analyse ergab, dass sie dreierlei Dinge bot: a) neue Lesarten zu bekannten Predigten, b) neue Predigten, c) neue Überlieferungsbefunde. 1.1 ,Texte in Bewegung‘: neue Lesarten bekannter Predigten Die Handschrift wies in vielen Fällen bessere und eindeutig autornähere Lesarten auf als die bisher bekannten Handschriften oder gar die Abdrucke der frühen Eckhart-Herausgeber. Deshalb ließ sich mit Hilfe dieser Lesarten mehrfach auch sichern, dass die betreffenden - bis dato nicht kritisch edierten Predigten tatsächlich von Eckhart stammten. Ein Beispiel: Eine Textstelle der Predigt Nr. 47 aus der Sammlung des ,Paradisus anime intelligentis‘ lautet in der Fassung der Londoner Handschrift, inzwischen von uns in den kritischen Text übernommen: „Alliu volkomenheit der seˆle liget dar ane, daz si habe glıˆchnisse gotes, engel und aller creˆatuˆren, als ich ouch meˆ gesprochen haˆn, daz glıˆchnisse und volkomenheit aller creˆatuˆren ist geschaffen an den engeln geistlıˆche, ˆe sie geschaffen wurden an den creˆatuˆren.“ 26

Zu diesem Rückverweis konnte ich eine Reihe von Parallelen in Eckharts Werk finden, die zeigen, dass er sich tatsächlich auf diese Aussagen bezog. Eckharts Autorschaft an der Predigt, die den Rückverweis enthielt, war damit bewiesen 27. Nur: In den beiden Handschriften, die die ,Paradisus‘-Sammlung als 25

26 27

Cf. F. Löser, Als ich meˆ gesprochen haˆn. Bekannte und bisher unbekannte Predigten Meister Eckharts im Lichte eines Handschriftenfundes, in: Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur 115 (1986), 206-227. Pr. 96 (DW IV/1, 216, 2-4). Cf. Löser, Als ich meˆ gesprochen haˆn (nt. 25), 209-213.

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Ganze überliefern und die allein bis dahin bekannt waren, fehlt exakt dieser Rückverweis. Erst die Entdeckung von Lo4 also (und ihren neuen Lesarten) hat den Echtheitsnachweis ermöglicht. Die neuen Lesarten aus der Londoner Handschrift betreffen aber auch den Inhalt der Predigten und Eckharts Lehre. Ich stelle als Beispiel dafür die Fassung einer Textstelle der ,Paradisus‘-Predigt 16 nach den beiden ,Paradisus‘-Handschriften links der Londoner Version (inzwischen auch in unserem kritischen Text nachlesbar: DW IV/1, 95) gegenüber: Paradisus, Pr. 16, 41, 24-27: „ich spreche, daz alle sele mit allin urin creftin werin ein sele, si in mochte nicht inphahin noch irlidin daz lon daz fon deme minnisten w erke gevellit daz Got gebodin hait in der ewigin minne, di sele inmuˆiste zuglıˆdin und forwerdin und zuflıˆzin.“

Lo4, fol. 160rb-160va: „vnd ab alle dy craft dy an allen seln ist geleit were an eyne sele sy mochte das mynste lon nicht enphan das von dem mynsten w erke komt das got geboten hat in der ewigen libe dy sele muste czü gliten vnd sterben. Jch setcze myne sele czü phande an dem iungisten tage czü der helle czü geben, das dis war sy, daz ich nü sprechen wel: Ob alle dy kraft aller selen vnd aller engele und aller creaturn czümal geacht were uf eyne sele, sy mochte das mynsten lon eins guten gedanken nicht enphan, dy in der ewigen libe gedacht wirt, sy müste [160va ] czü gliten und czüflißen und sterben.“

Der zweite, in Lo4 überlieferte Abschnitt über den Gedanken fehlt in den beiden Handschriften der Predigtsammlung. In diesem Abschnitt will Eckhart zeigen, dass der Lohn nicht nur im guten Werk, sondern im guten Gedanken gefunden werden kann 28. Missverständnisse lagen hier nahe, wie die Bulle (art. 16-19) zeigt, wenn sie Eckhart unterstellt, er lehre, Gott lege keinen Wert auf äußere, sondern nur auf innere Werke. Wegen solch möglicher Missverständnisse beginnt der zweite Abschnitt mit der für Eckhart so charakteristischen Wahrheitsbeteuerung. Deshalb aber auch wurde dieser Abschnitt durch den Redaktor des ,Paradisus‘ gestrichen. Anhand der Stelle lässt sich weiter demonstrieren, dass mit dem gestrichenen Absatz ein bislang fehlendes Glied einer Kette gefunden ist. Denn ein Rückverweis aus einer anderen, ebenfalls in der Londoner Handschrift überlieferten Predigt bezieht sich auf exakt diese Stelle: 28

Cf. Pr. 41 (DW II, 293); DW V, 38 sqq., 196-200 u. 217-218.

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Lo4, fol. 150rb: „Dy ander sache ist, [dass] ußflüß götliches lichtis und siner suzikeit also obirclar und kreftig ist, das kein creatur enthalden mag, als ich oüch mer gespr ochen habe, ab alle dy craft aller engele und sele und aller creaturn gesmeltczt wern uff eyn engel adir uff eyne sele, sy mochten den götlichen flüß nicht enthalden.“ Auf ähnliche Weise ließ sich durch die neu entdeckten Lesarten der Londoner Handschrift noch die Echtheit zweier weiterer Predigten für Eckhart sichern 29. Betroffen davon waren vor allem die bis dahin nicht kritisch edierten Predigten des großen mitteldeutschen Überlieferungsverbundes. In einer dieser Predigten (Sievers Nr. XXIII) fand sich dabei eine Aussage, die ein neues - und bedeutendes - Schlaglicht auf Eckharts Arbeitsweise warf. Die fragliche Aussage betraf wiederum die gerade behandelte ,Paradisus‘-Predigt Nr. 16 30. Sie wird im Inhaltsverzeichnis der ,Paradisus‘-Sammlung so eingeführt: „In disir predigade lerit meistir Eckart wi Got di sele ladit zu eme […] und von deme lone.“ 31 Die Form, wie sie in der mitteldeutschen Predigt der Londoner Handschrift zitiert wird, ist ungewöhnlich: „wie god die sele l [a]det und wie her er lon ist, daz ist anderswo geschriben.“ Man sieht: Der Inhalt der Predigt (Gott lädt die Seele und ist ihr Lohn) wird durch den Verweis der zweiten Predigt genauso getroffen wie im Inhaltsverzeichnis der Sammlung. Interessant aber ist vor allem die Form des Verweises („ist anderswo geschriben“); eine Eckhart neu zuzusprechende Predigt zitierte eine bekannte Predigt als ,geschrieben‘; dies zeigte, dass Eckhart selbst ein Corpus seiner deutschen Predigten in verschriftlichter Form vor sich hatte. Vergleichbar war die Predigt 28, in der Eckhart bemerkt: „Ich schreip einest in mıˆn buoch.“ 32 Demnach gab es einen von Eckhart selbst schriftlich fixierten oder redigierten Verbund seiner deutschen Predigten. 1.2 ,Texte in Bewegung‘: neu entdeckte Eckhart-Predigten Zum Verbund dieser Eckhart-Predigten zählten mit Sicherheit auch zwei deutsche, bis dahin gänzlich unbekannte Predigten, die ich in der Londoner Handschrift entdeckte und die ich Meister Eckhart zuweisen konnte. Die eine 29 30

31 32

Cf. Löser, Als ich meˆ gesprochen haˆn (nt. 25), 217 sq. Cf. E. Sievers, Predigten von Meister Eckhart, in: Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur 15 (1872), 373-439, hier: 427, 84 sq. Paradisus (nt. 1), 2, 17-19. DW II, 62, 3 sqq.

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davon, eine Auslegung von Gal. 5, 22 und damit eine Beschreibung der zwölf Früchte des Geistes, will ich hier übergehen. Nur so viel: Die für Eckhart inzwischen zweifelsfrei gesicherte Predigt zeigt in ihrem aufreihenden Charakter der Früchte, dass ein relativ schlichtes, aufzählendes Predigtverfahren, das man auf den ersten Blick für ,uneckhartisch‘ halten würde, im Einzelfall (hier der zwölf Früchte wegen) bei Eckhart eben doch möglich ist. Die zweite Predigt hingegen (über Luc. 6, 19: ,Alle dy schar suchten vnsern herrn‘) würde wohl niemand für ,uneckhartisch‘ halten. Dazu sind ihr Duktus und ihre Aussagen zu charakteristisch. Das zeigt schon eine einzige Stelle: In der Predigt 47 erläutert Eckhart zum zweiten Mal einen radikalen Gedanken, der früher missverstanden worden sei: „Daz edelste, daz got würket in allen creˆatuˆren, daz ist wesen. Mıˆn vater gibet mir wol mıˆne natuˆre, er engibet aber mir niht mıˆn wesen; daz würket got luˆterlıˆche. Her umbe haˆnt alliu dinc, diu daˆ sint, vernünftigen lust an irm wesene. Sehet dar umbe, als ich ouch etwenne meˆ gesprochen haˆn und niht wol verstanden wart, daz Juˆdas in der helle niht enwölte ein ander sıˆn in dem himelrıˆche. War umbe? Und sölte er ein ander werden, soˆ müeste er ze nihte werden an dem, soˆ er ist an wesene.“ 33

Niemand wusste, worauf sich Eckhart mit der Äußerung über Judas bezog bis die neue Predigt auftauchte. Eckhart bezieht sich nämlich auf einen Abschnitt der erwähnten bis dahin unbekannten Predigt ,Alle dy schar‘, der sich fol. 155ra-rb in Lo4 findet: „ab alle dy pin, dy in der helle ist und an allen creaturn, uf eyne sele vile alczümal, sy mochte us der libe nicht geslän werde, Sy wolde io wesen haben. Jch wel ein unvornemlichs wort sprechen und ben es doch gewiß, das Jüdas, der in der helle ist [155rb ], wolde nicht sente petir sin in dem himmilrich durch das lustliche bilde sins wesens, das sich von gote erst an öm gebildet hat ane undirscheit; darumbe mochte er von keyner creatur kein ander wesen enphan.“

Die beiden Formulierungen sind deutlich aufeinander abgestimmt, schon als Eckhart das Beispiel des Judas zum ersten Mal nannte, war er sich seiner ,Kühnheit‘ 34 bewusst: Er wusste, dass er sich an den Grenzen dessen bewegte, was seine Zuhörer noch recht verstehen oder für rechtgläubig halten mochten; deshalb betont er, es folge „ein unvornemlichs wort“. Die Missverständnisse, die er von Anfang an befürchtete, sind dann tatsächlich eingetreten: Er wurde „niht wol verstanden“. Eben deshalb nimmt er den Gedanken (am selben Ort?) noch einmal auf, um ihn näher zu erläutern. Beide Formulierungen geben Zeugnis davon, dass Eckhart sich auf sein Publikum einzustellen wusste und dessen Reaktionen antizipierte, sie belegen die Reaktionen dieses Publikums und zeigen, dass Eckhart auf Fragen oder Kritik reagierte; sie sind Zeugnisse einer lebendigen Wechselwirkung zwischen dem Prediger und seinen Zuhörern (und Kritikern). Auf diese Weise werden Predigten fast zu einem ,Seminar‘, ganz ähnlich wie die Erfurter ,Rede der underscheidunge‘. Aber erst die Entdeckung der bis dato 33 34

DW II, 401. Cf. ibid., nt. 3.

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unbekannten Predigt in einem neu gefundenen Textzeugen ließ die intertextuelle Beziehung der Predigten erkennbar werden. Was bedeuten diese Neuentdeckungen nun für das Thema ,Eckhart und Erfurt‘? 1.3 ,Texte in Bewegung‘: neue Überlieferungsbefunde Die heute in London aufbewahrte Handschrift ist thüringisch. Sie stammt zwar erst aus dem 15. Jahrhundert, hat aber ältere Vorlagen. Diese Vorlagen und die mitüberlieferten Texte verbinden die Handschrift mit anderen bedeutenden Textzeugen aus dem mitteldeutschen Raum. Die Textgestalt der Handschrift ist nicht frei von Fehlern, aber sie ist insgesamt als gut zu bewerten. Bei der Textkonstitution verdient sie mehr Vertrauen als die meisten anderen Handschriften. Die Mitüberlieferung einiger nicht-Eckhart’scher Predigten (besonders des Kölner Dominikaners Meister Gerhard) verbindet den Textzeugen zudem mit den so genannten ,Kölner Klosterpredigten‘, einer zweiten Sammlung aus dem 14. Jahrhundert. Und damit erscheint die ,Singularität‘ der Sammlung des ,Paradisus anime intelligentis‘, von der K. Ruh immer ausging und von der kürzlich noch G. Steer gesprochen hat 35, in neuem Licht. Das Kölner ,Parallelunternehmen‘, das die Namen der dominikanischen Prediger ebenso dokumentiert, verdient mehr Beachtung. Sogar ein Franziskaner ist dort vertreten (als ,Kontrastfolie‘ wie im ,Paradisus‘). Nur diente die Kölner Sammlung der cura monialium, nicht als Handbuch für die Predigerbrüder. Nicht Eckhart steht dort im Mittelpunkt, sondern sein Ordensbruder Gerhard. Aber an einzelnen ,Schnittstellen‘ in der Überlieferung - primär in der Londoner Eckharthandschrift - sind Predigten beider dominikanischer Sammlungen miteinander verbunden 36. Das aber heißt: Die Vorlagen der ,Paradisus‘-Sammlung stammen nicht - oder nicht nur - aus Erfurt und mehr: Zahlreiche Predigten Eckharts im ,Paradisus‘ stammen nicht aus seiner Erfurter Frühzeit. In vielen Fällen besitzen sie eine rheinische Überlieferung, die autornäher ist als die beiden Handschriften, die die ,Paradisus‘-Sammlung tradieren. Überhaupt zeigen die neuen Überlieferungsbefunde und die neu aufgetauchten Lesarten mit Sicherheit eines: Die Sammlung des ,Paradisus‘ ist, so wie sie auf uns kam, sekundär. Sie ist teilweise sogar entstellt. Auf alle Fälle ist sie stark bearbeitet. So wurden, wie gesehen, Eckharts radikalere Aussagen entschärft. So wurde - etwa im Verhält35

36

Steer, Die Schriften (nt. 9), 259: „Die Predigtsammlung ,Paradisus anime intelligentis‘ hat innerhalb der mittelalterlichen Predigtliteratur nicht ihresgleichen.“ Cf. Löser, Als ich meˆ gesprochen haˆn (nt. 25), 226 sq. Eine detaillierte Darstellung der ,Kölner Klosterpredigten‘ und ein Vergleich mit der ,Paradisus‘-Sammlung bei Löser, Predigten in dominikanischen Konventen, Vortrag auf der Oxforder Arbeitstagung zur dominikanischen Predigtsammlung ,Paradisus anime intelligentis‘, 01.-04. April 1998; künftiger Tagungsband ed. v. B. Hasebrink/H.-J. Schiewer/N. F. Palmer.

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nis von minne und bekantnisse - anders als beim beweglichen Eckhart eine konsequent fixierte dominikanische Haltung eingenommen. So wurden gerade die für Eckhart charakteristischen intertextuellen Bezüge fast systematisch getilgt. Der Untersuchung der Überlieferung außerhalb der Sammlung kommt damit größte Bedeutung zu. Bei den Predigten des ,Paradisus‘, so wie sie uns in den beiden bekannten Schwesterhandschriften der Sammlung geboten werden, handelt es sich um durchweg gekürzte Texte und es handelt sich um eine Auswahl. Denn: Nicht nur die Predigten, die in die Sammlung aufgenommen wurden, waren ursprünglich durch Rückverweise untereinander verbunden. Vielmehr wurde anhand der Londoner Handschrift deutlich: Verweise beziehen sich auch auf andere Predigten außerhalb der Sammlung. Das aber heißt, dass ein Komplex ursprünglich eng zusammengehöriger Predigten bestand, der umfangreicher war als das, was der Redaktor des ,Paradisus‘ in seine Sammlung aufzunehmen bereit war. Auf einen solchen größeren Überlieferungsverbund stieß ich auch in einer anderen Predigtsammlung. Die dabei angewandte Methode ergab sich aus der Untersuchung der Londoner Handschrift. In ihr hatten sich zwei unbekannte Predigten, die (ebenso anonym wie der Rest) gemeinsam mit Eckhart-Predigten überliefert waren, als neue Texte Eckharts bestimmen lassen. Das ließ sich verallgemeinern: Was würde geschehen, wenn man bekannte Eckhart-Handschriften untersuchte, und zwar nicht die Teile mit den bekannten Texten, denen sich Quint gewidmet hatte, sondern gerade die Texte, die er nicht berücksichtigt hatte? Nach den Erfahrungen mit der Londoner Handschrift war die Entdeckung weiterer Eckhart-Predigten zu erwarten. Für den Beginn bot sich eine Sammlung an, die mit derjenigen des ,Paradisus‘ eng verbunden ist: die des Nikolaus von Landau, eines Mönches im Zisterzienserkloster Otterberg bei Kaiserslautern (und hier sei daran erinnert, dass das benachbarte Zisterzienserkloster Eberbach ein Zentrum der Überlieferung der lateinischen Eckhart-Texte bildete). Nikolaus wirkte um die Mitte des 14. Jahrhunderts. Seine Predigtsammlung - eine Kompilation aus Materialien verschiedenster Autoren - sollte jungen Predigern als Vorbild dienen. Ihre Bedeutung für die Eckhart-Forschung besteht darin, dass zahlreiche Predigten Eckharts verwendet wurden, gerade solche aus der ,Paradisus‘-Sammlung. Das war bekannt 37. Eine erneute Durchsicht der Predigten des Nikolaus brachte aber weitere Exzerpte aus EckhartPredigten zum Vorschein, darunter ein Exzerpt aus einer bis dahin unbekannt gebliebenen Predigt 38. Nikolaus arbeitete dabei nicht mit der ,Paradisus‘-Sammlung, die wir kennen, sondern mit deren Vorlagen. Nicht nur Eckhart ist vertreten, sondern auch andere Prediger der ,Paradisus‘-Sammlung. Im Vergleich auch 37

38

Cf. H. Zuchhold, Des Nikolaus von Landau Sermone als Quelle für die Predigt Meister Eckharts und seines Kreises, Halle/Saale 1905. Cf. Löser, Nachlese (nt. 19), 129-130; id., Abschrift der Sermones novi des Nikolaus von Landau, in: Cıˆteaux 1098-1998. Rheinische Zisterzienser im Spiegel der Buchkunst, Wiesbaden 1998, 132 sq.

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dieser Texte ist erkennbar: Mit Sicherheit verfügte Nikolaus über mehrere Quellen, die umfangreicher und vertrauenswürdiger waren als die des dominikanischen Redaktors der ,Paradisus‘-Sammlung. Mehr neue Eckhart-Texte fanden sich dann in anderen Eckhart-Handschriften, die hier nicht aufgezählt werden können. Ein Beispiel muss genügen: In einem Komposittraktat ließ sich auch ein längeres Gebet für Meister Eckhart sichern und damit erstmals eine Textsorte, die man als Ganze für ihn bisher überhaupt noch nicht in den Blick genommen hatte. Das Gebet erweitert dabei die Kenntnis von Eckharts Theologie und Praxis des Betens, etwa, wenn es gegen Ende heißt: „Dw hast mich erhaben über alle creatur und hast mir in gedrukcht das insigel deins ewigen pilts […] dw hast dir selber dy sel natürleich geaigent vnd gleich gearnt, dar vmb pehalt sy, das in ir nichts müg stat haben dann dw allain.“ Dieses Gebet ist mit Blick auf Eckharts Erfurter Zeit von besonderer Bedeutung, denn es entspricht in seinen Aussagen exakt seiner Lehre ,Von dem allerkreftigisten gebete‘, die er in den ,Rede der underscheidunge‘ entwirft 39. Die Überlieferung dieses Gebets erweitert aber auch unsere Kenntnis der Eckhart-Rezeption, etwa, wenn der Laienbruder, der den Text im 15. Jahrhundert im österreichischen Melk vom Schluss einer großen Eckhart-Sammlung abschrieb, ein weiteres Gebet Anselms von Canterbury folgen lässt, das die Demut betont. Eckharts Text erschien ihm zu radikal; er holte ihn in die klösterliche Spiritualität des 15. Jahrhunderts zurück. Die Melker Überlieferung stellt dabei keine genuin österreichische EckhartTradition dar, sondern ist Ausfluss der mitteldeutschen Überlieferung auf der Basis verlässlicher Quellen 40. Ihre Analyse, insbesondere eines großen zweibändigen, um 1450 abgeschriebenen Predigtwerkes, erbrachte eine ganze Reihe Eckhart neu zuzuschreibender und ,Eckhart-verdächtiger‘ Predigten 41, die ich hier übergehen muss. Zwei der Forschung bis dahin entgangene Predigten, die sich für Eckhart sichern ließen, will ich immerhin erwähnen: Die eine über Luc. 21, 25-28 ist - neben vielem anderen - besonders für Eckharts naturkundliche 39

40

41

Cf. F. Löser, Oratio est cum deo confabulatio. Meister Eckharts Auffassung vom Beten und seine Gebetspraxis, in: W. Haug/W. Schneider-Lastin (eds.), Deutsche Mystik im abendländischen Zusammenhang. Neu erschlossene Texte, neue methodische Ansätze, neue theoretische Konzepte. Kolloquium Kloster Fischingen 1998, Tübingen 2000, 284-316. Abdruck des Gebets 307 sq., hier: 294 sq. Cf. Löser, Nachlese (nt. 19), 131-149; id., Anselm, Eckhart, Lienhart Peuger. Zu einer deutschen Übersetzung der ,Orationes et Meditationes‘ Anselms von Canterbury in Handschriften der Melker Laienbrüder, in: N. Henkel/N. F. Palmer (eds.), Latein und Volkssprache im deutschen Mittelalter 1100-1500. Regensburger Colloquium, Tübingen 1992, 232-255. Cf. F. Löser, Meister Eckhart in Melk. Studien zum Redaktor Lienhart Peuger. Mit einer Edition des Traktats ,Von der sel wirdichait vnd aigenschafft‘ (Texte und Textgeschichte 48), Tübingen 1999, bes. 223-246, 401 sq. u. 463-473 (Register 603 zu den nicht edierten Texten); cf. die Rezensionen von Ch. Glassner, in: Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur 131 (2002), 117-129, hier: 127 sq., und U. Störmer-Caysa, in: Zeitschrift für Germanistik 11 (2001), 179-181, hier: 180 sq.

Meister Eckhart in Bewegung

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Vorstellungen von Interesse, zeigte sie doch, dass Eckhart den Mond tatsächlich für die hefe (faex aliorum elementorum) hielt, nicht - wie Quint in einer anderen Predigt glaubte konjizieren zu müssen - für die hebeamme 42. In der zweiten Predigt (über Mt. 13, 44) handelt Eckhart vom Schatz, der im Acker verborgen ist, und er behandelt dabei besonders das Verhältnis von Zeit und Ewigkeit: Die Predigt verweist auf das Beispiel des Petrus, „der sprach: herr mach wir hie drew getzelt. Dy maister sprechen, das er dar an hab törleich geret, das er hie in der tzeit dy ewigen ding haben wolt, seit got in dem hie nyembt gesehen mag“. J. Koch musste die kurze Stelle in Eckharts lateinischem Sermo XI/1 „Unde arguitur Petrus qui dixit: ,faciamus hic tria tabernacula‘ “ ohne Kenntnis der zu seiner Zeit noch unbekannten deutschen Parallele deuten. Er traf, wie sich jetzt zeigt, mit seiner Interpretation genau das Richtige: Petrus, so Koch zum lateinischen Text, werde wohl „gescholten, weil er glaubt, ein Zelt könne das Unendliche aufnehmen“. Exakt in diesem Sinn fährt die deutsche Predigt aus Melk unmittelbar fort: „got ist chain pild und wirt auch in chaim form pegriffen und ist auch nicht in der tzeit.“ So hat aber auch die Seele einen Teil, der der Zeit überhoben ist. Die Predigt formuliert dies als Rückverweis: „Jch sprach newleich in der predig und sprich es aber, das mein sel nach dem obristen tail in der tzeit nicht ist und würcht auch nicht in der tzeit.“ Dieser Rückverweis lässt sich auf die Eckhart-Predigt 26 beziehen: „Ez ist ein daz oberste teil der seˆle, daz staˆt obe zıˆt und enweiz niht von der zıˆt.“ 43 In deutlicher Parallele zur vorhin besprochenen Judas-Stelle heißt es dann in der Eckhart-Predigt über Mt. 13, 44 weiter: „dar umb hat sand peter törleich geret, das er hie in der tzeit welt ein himelreich machen. Wan als, das peschaffen ist, dem versag ich gentzleich himelreich ze geben. Möcht mir dy creatur das himelreich geben, ich wolt es nicht nehmen.“ Weil aber keine Kreatur das Himmelreich geben kann, „dar umb sol der mensch von aller welt aws gen, wann ye mer er da von aws get ye mer got in get“. Eine wörtliche Parallele dazu findet sich in den ,Rede der underscheidunge‘: „Ez ist rehte ein glıˆch widergelt und glıˆcher kouf: als vil duˆ uˆzgaˆst aller dinge, als vil […] gaˆt got ˆın mit allem dem sıˆnen, als duˆ zemaˆle uˆzgaˆst in allen dingen des dıˆnen.“ 44 Die Konsequenz daraus schließt in der Predigt unmittelbar an: „dy welt mag nyembt als wol haben als der sy lazzen hat, wan des selben ist sy alle.“ Dieser Satz verdient besonders hervorgehoben zu werden, weil Eckhart ihn an anderer Stelle (in der Predigt 38) als Rückverweis formuliert: „Ich sprach etwenne ein wort: der der werlt allerminnest haˆt, der haˆt ir allermeist. Niemannes enist diu werlt alsoˆ eigen, als der alle die werlt gelaˆzen haˆt.“ 45 In einer Anmerkung zu dieser Stelle sagt 42

43 44 45

Cf. Löser, Nachlese (nt. 19), 139 sq.; zur Predigt: id., Meister Eckhart in Melk (nt. 41), 230, 232, 236, 253 u. 477; zur Predigt über Mt. 13, 44: ibid., Register. DW II, 24, 3 sq. DW V, 197, 1-3. DW II, 240, 7-241, 1.

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Quint: „Auf welche Stelle sich Eckhart mit dem Rückverweis bezieht, weiß ich nicht.“ 46 In der unbeachteten Predigt der Melker Handschrift liegt diese Bezugsstelle nun vor. Die neuen Predigten fügen sich mit bekannten Texten somit ineinander wie die Glieder einer Kette. 2. ,Eckhart in Bewegung‘ Jeder neue Text enthält neue Aspekte. Diese sind auch inhaltlich relevant und relevant für die Lehre. Ich will dies in einem kurzen zweiten Teil anhand von Eckharts Armutslehre belegen. Dazu ziehe ich zwei weitere neue Texte heran 47. Den ersten davon, die Londoner Predigt über Luc. 6, 19 mit der charakteristischen Judas-Stelle, habe ich schon erwähnt. Nun hat sich aber zu dieser Predigt inzwischen ein zweiter Teil gefunden. Es handelt sich insgesamt um eine Predigt Eckharts über Luc. 6, 19-22 (Lesung der zweiten Messe von mehreren Heiligen im ,Commune sanctorum‘). Der neu identifizierte zweite Teil gilt dem Textwort ,Beati pauperes spiritu‘, das Eckhart ja auch in der berühmten ,Armutspredigt‘ auslegt. „Das ist ein rechter armer Mensch“, definiert Eckhart zu Beginn des Armutsteiles der neuen Predigt, „der - auch wenn er alles hätte, was Gott geschaffen hat - ein Bettler der Gnade unseres Herren Gottes wäre.“ „Und wenn“, heißt es später, „der Mensch Trost hat an seiner Kraft oder an seiner Gesundheit, so ist er nicht arm; er sei denn blind oder krank oder ungestalt genauso wie sehend oder gesund, so ist er nicht seiner selbst arm.“ Deshalb wird der Ausgang aus allem Kreatürlichen gefordert, denn der wahrhaft Arme finde kein Genügen am Kreatürlichen. Am Ende aber wird ihm verheißen: „Dy selbe selikeit, dy got ist vnd hat, der wirt der mensche teilhaftig mit der […] göttlichen wisheit.“ 48 Damit hat die ,Beati pauperes‘-Interpretation der neuen Predigt als Vorstufe der berühmten Armutspredigt zu gelten. Dieses erste Textbeispiel stammt aus der Überlieferung in Melk, wo der zweite Teil der genannten Predigt entdeckt wurde. Dort findet sich aber auch eine weitere neu entdeckte Predigt, die für Eckharts Armutslehre ebenfalls relevant ist. Dies lässt sich bereits anhand einer einzigen kurzen Textstelle demonstrieren: „Bischof Albreht sprichet, daz sıˆ ein arm mensche, der niht enhabe genüegede von allen den dingen, diu got ie geschuof, - und diz ist wol gesprochen. Aber wir sprechen noch baz und nemen armuot in einer hœhern wıˆse: daz ist ein arm mensche, der niht enwil und niht enweiz und niht enhaˆt.“ 46 47

48

DW II, 241, nt. 1. Cf. zum Folgenden: F. Löser, Der niht enwil und niht enweiz und niht enhat. Drei übersehene Texte Meister Eckharts zur Armutslehre, in: C. Brinker/U. Herzog/N. Largier/P. Michel (eds.), Contemplata aliis tradere. Studien zum Verhältnis von Literatur und Spiritualität. FS für A. M. Haas, Bern u. a. 1995, 391-439; dort auch Detailnachweise zu den Textstellen. Ibid., 418-421.

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Dies stammt natürlich nicht aus einer neu entdeckten Predigt. Man kennt die Stelle aus der berühmten Armutspredigt 52 49. Aus der inzwischen für Eckhart gesicherten Melker Predigt dagegen stammt das Folgende: „,armuet‘ […] das als vil gesprochen ist als ,nichts‘. Wann der mensch, der in warhait arm ist, der ist als das nicht, das man reden mag. Er ist nicht pewegleich noch pegreifleich, noch hat aigens noch aigenschafft. Er wirt nicht petruebt noch erfrewt. Er hat nichts und wil nichts und peger t nichts, als sand pernhard spricht.“

Das sind - wie man sieht - in neuer Variante gerade die oft zitierten Kernsätze der Armutslehre, die Sätze, mit denen Eckhart Albertus Magnus überbietet, die Sätze auch, an denen Jan van Leeuwen seine Polemik gegen Eckhart festmacht: „Ende onder veel ander woerden hebben [selke meesters] dit ghesproken: dat dat si een arm mensche, die niet enwilt, nocht niet en weet, noch oec niet en begheert. Dit hebben selke meesters ghesproken, daer niet vele af te houden en es, oft luttel, oft niet, oft min dan niet.“

Ich denke, nicht nur Jan van Leeuwen hätte die Dinge möglicherweise anders gesehen, hätte er die gerade vorgestellte Predigt Meister Eckharts gekannt, in der er die zitierten Kernsätze seiner Armutslehre explizit als Zitat aus Bernhard ausweist. Mein drittes und letztes Textbeispiel für die Relevanz der Neufunde betrifft einen Text, den ich 1995 erstmals Eckhart zuschreiben konnte. Er findet sich in der Hs. Salzburg, UB I 476 und wird nur deshalb als ,Salzburger Armutstext‘ bezeichnet. Er ist hier von Interesse, weil er nicht Salzburg, sondern Erfurt betrifft. Ich greife einen Teil heraus: In den ,Rede der underscheidunge‘ sagt Eckhart: „Und - als ich meˆr gesprochen haˆn - als man saget von glıˆcheit, soˆ enmeinet man niht, daz man alliu werk glıˆch sül ahten oder alle stete oder alle liute. Daz wære gar unreht, wan ez ist ein bezzer werk beten wan spinnen und ein edelriu stat diu kirche dan diu straˆze. Aber duˆ solt in den werken ein glıˆchez gemüete haben und ein glıˆchez getriuwen und eine glıˆche minne ze dıˆnem gote.“ 50

Quint vermerkt dazu: „Worauf Eckhart sich damit bezieht, weiß ich nicht“ und vermutet, „er dürfte wohl keine spezielle Stelle im Auge haben.“ Ich denke, ein derart prägnant gefasster Rückverweis muss eine bestimmte Stelle im Auge gehabt haben; und ich bin der Ansicht, dass diese Bezugsstelle im Text der Salzburger Handschrift überliefert ist. Dort heißt es: „Zuo dem andern mol soltu dich flissen, das du glich standest in allen dingen, so blibestu in grosser ruowe alle zit. Sol ich alle ding glıˆch achten? Neyn, da mœhten wir gar sere an irren. Wer zwifelt dar an, es sy ein besser werk betten vnd an got gedenken denn kochen oder spinnen? Aber du solt glich ston; nit die ding, sunder du solt glich ston in den dingen. Also gebu´rt dir ze sin in der kirchen 49 50

DW II, 488, 3-6. DW V, 203, 5-10.

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oder an dem gebette, so soltu din gemüet alzemol zuo got keren vnd versamnen czuo got; gebu´rt dir denn andere werk ze wu´rken vnd an andern stetten ze sin, in den du mit got mu´gest beston, so soltu reht haben dz selb gemüet zuo got, dz du vor hattest.“

Die Bezüge liegen auf der Hand: Eckharts Rückverweis in den ,Reden‘ postuliert, glıˆcheit meine „niht, daz man alliu werk, stete oder liute glıˆch sül ahten“; der Salzburger Text stellt die Frage: „Sol ich alle ding glıˆch achten?“ und gibt dieselbe Antwort wie die ,Reden‘: „Neyn.“ Die ,Reden‘ fahren fort, es sei „ein bezzer werk beten wan spinnen und ein edelriu stat diu kirche dan diu straˆze“. Sehr eng entspricht dem der Salzburger Text, der sagt, „es sy ein besser werk betten vnd an got gedenken denn kochen oder spinnen“. Die ,Reden‘ fordern: „Aber duˆ solt in den werken ein glıˆchez gemüete haben“; der Salzburger Text, der auch das Stichwort „selb gemüet“ (am Ende der zitierten Passage) aufgreift, erläutert: „Aber du solt glich ston; nit die ding, sunder du solt glich ston in den dingen.“ Aus all dem lässt sich eine generelle Beobachtung ableiten: Man kann, von der Überlieferungsgeschichte her kommend, Eckharts deutsche Texte als zerstreut ansehen, man kann sie aber auch textgenetisch und von der Intention des Autors her als ein komplexes Gebäude vielfältig miteinander verwobener Einzelteile oder als ein vernetztes System betrachten. So erweist sich denn auch der Salzburger Text als bislang fehlendes Glied einer Kette: Schon in den ,Rede der underscheidunge‘ greift „bruoder eckhart predigerordens“, der „vicarius von türingen, der prior von erfurt“ 51 auf den in der Salzburger Handschrift überlieferten Text zurück. Das aber heißt im konkreten Fall mit Blick auf Erfurt, die ,Reden‘ und den so genannten ,Salzburger Armutstext‘: Hatte John Margetts die ,Reden‘ noch für Eckharts ,Erstling‘ gehalten, so ist jetzt ein Text gesichert, auf den Eckhart sich in den ,Reden‘ zurückbezieht und der damit vor den ,Reden‘ anzusetzen ist - ein früher ,Armutstext‘ Meister Eckharts, der mit Sicherheit in Erfurt entstand. So gesehen, nehmen die Erfurter ,Reden‘ eine Schlüsselstellung ein. Von ihnen aus, nicht von den schwer fixierbaren Predigten der ,Paradisus‘-Sammlung, lässt sich, wenn überhaupt, die von K. Ruh eingeforderte Chronologie der frühen Predigten Eckharts in Angriff nehmen. Damit bin ich beim kurzen letzten Punkt: 3. ,Erfurt in Bewegung‘ Neufunde haben die Eckhart-Philologie, sie haben, denke ich, auch unser Eckhart-Bild in Bewegung gebracht. Und sie können auch unsere Vorstellung von Erfurt als Wirkungszentrum der Dominikaner des Mittelalters in Bewegung 51

DW V, 185, 2-3.

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bringen. Weitere solche Funde sind möglich. Ich nenne zwei der neuesten. Sie betreffen diesmal nicht Texte, sondern die Person eines Predigers und eine Handschrift: Unter den dominikanischen Autoren der ,Paradisus‘-Sammlung gibt es zwei auffällige Ausnahmen. Da ist zunächst der anonyme Franziskaner. Die Aufnahme seines Textes hat einen klaren Zweck. Er dient als Kontrastfolie. Denn von seiner Predigt glauben, so wird es im Inhaltsverzeichnis der Sammlung kämpferisch formuliert, „di brudere und lesemeistere in predigere ordine […] nicht eines wortis“ 52. Und gegen diese Lehre konnte, wie es im Inhaltsverzeichnis ebenfalls heißt, der Dominikaner „brudir Gisilher von Slatheim“ trefflich dispitiri[n] 53. Ein anonymer Franziskaner also dient dem Sammler dazu, die Lehre der Dominikaner, „daz diz werc der fornuft edilir ist dan diz werc dez willen“, in klarem Licht erscheinen zu lassen. Was aber tut ein Karmelit in der Sammlung? Neben all den lesemeister[n], lector[en] und brudir[n] erscheinen im Inhaltsverzeichnis nur zwei meister: Meister Eckhart und „meister Hane der calmelitta“; vertreten ist dieser durch drei Predigten (Nrr. 3, 30 und 54). Noch einmal: Was tut der Karmelit in der Dominikaner-Sammlung und wer ist er überhaupt? Die Frage hat die Forschung merkwürdigerweise kaum berührt. Ph. Strauch nahm an, er könne mit dem englischen Karmeliten Henricus de Hanna identisch sein 54. Eine Annahme, die keinerlei Wahrscheinlichkeit für sich hat; und L. Seppänen hat sie im Verfasserlexikonartikel ,Hane der Karmelit‘ 55 völlig zu Recht bezweifelt. Möglich sei dagegen, so meint Seppänen, „die Identifizierung mit dem Kölner Magister und Karmeliter-Prior Johannes Vogele, gut bezeugt in der Ordensgeschichte bis 1348“. Diese Identifizierung findet sich erstmals in einer bei K. Ruh entstandenen Würzburger Zulassungsarbeit. Vorgelegt hat sie L. Graser im Jahr 1969. Graser argumentiert zu Recht und mit zahlreichen Belegen aus dem Mittelalter, der Name ,Han/Hane‘ sei als Kurzform von Johannes zu interpretieren. Die vorgeschlagene Identifizierung mit Vogele scheint mir allerdings höchst seltsam: Der war nämlich Mitglied der erzbischöflichen Untersuchungskommission g eg en Eckhar t in Köln. Bei meinen Forschungsreisen in Tschechien ist mir letztes Jahr ein anderer Johannes begegnet, „Johannes dictus carmellita“, Prior eines Dominikanerklosters und „professor sacre theologie“ (Meister also). Der scheinbare Karmelit - ein dominikanischer Magister? Das könnte seine Aufnahme in die ,Paradisus‘-Sammlung am ehesten erklären. Ich bin noch nicht dazu gekommen, diese Spur zu verfolgen, aber ich werde es tun. Vom böhmischen Dominikaner „Johannes dictus carmellita“ sind nämlich - anders als von Henricus de Hanna und Johannes Vogele 52 53 54 55

Paradisus (nt. 1), 6 sq. (Pr. 62). Ibid., 5 (Pr. 41). Cf. ibid., IX sq. Cf. K. Ruh (ed.), Die deutsche Literatur des Mittelalters: Verfasserlexikon, vol. 3, Berlin-New York 21981, 429-431.

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weitere Werke bekannt, die sich mit den ,Paradisus‘-Predigten vergleichen lassen. Zudem ist die Spur aus einem zweiten Grund bedeutend; und der betrifft Eckhart persönlich: Eckhart wirkte von Erfurt aus auch als Generalvikar von Böhmen. Und er war - mindestens im August 1307 - in Böhmen. Es scheinen sogar lokale Berichte zu existieren, dass er dort in bestimmten Kirchen predigte. Aber Eckharts böhmische Zeit hat man bisher vernachlässigt. Er wirkte dort von seinem Amtssitz Erfurt aus. Es scheint - ich wage die Prognose - alles andere als Zufall, dass sich wohl ein Dominikaner-Meister „dictus carmellita“ in Böhmen und - neben Eckhart - in der Sammlung des ,Paradisus anime intelligentis‘ findet. Hat aber die ,Paradisus‘-Sammlung dann doch mit Eckharts Amtssitz in der fraglichen Zeit, mit Erfurt, zu tun? Es gibt ein neues Indiz dafür und damit komme ich zum zweiten hier zu behandelnden Fund: Von der Sammlung des ,Paradisus anime intelligentis‘ sind zwei Schwesterhandschriften, die heute in Oxford und Hamburg liegen, bekannt. Es dürfte eine dritte gegeben haben. Man kann ihre Existenz anhand eines Bibliothekseintrags erschließen: Im Mittelalter gab es zwei Werke mit dem Titel ,Paradisus anime‘: einen Tugendtraktat, den man Albertus Magnus zusprach, und unsere Predigtsammlung. Ein Titel für zwei Bücher ist immer eine Herausforderung für die Bibliothekare. Auch hier haben sie sie gemeistert. In der mittelalterlichen Bibliothek, von der die Rede sein soll, besaß man mehrere Exemplare des pseudo-Albert’schen Tugendtraktats ,Paradisus anime‘, im Katalog konsequent als ,Paradisus anime virtutum‘ oder ,De virtutibus‘ geführt. Klar davon abgegrenzt hat man einen anderen volkssprachlichen Titel unter der Signatur D 18, der die Predigtliteratur betraf: ,Paradisus anime in vulgari cum quibusdam profundissimis et misticis sermonibus‘. Der Bibliothekar, der den systematischen Katalog seit 1477 anlegte und auch diesen Eintrag verfasste, war selbst in starkem Maße an mystischem Schrifttum interessiert 56. Sein Name ist Jakob Volradi. Er war der Bibliothekar der Kartause Salvatorberg in Erfurt. Und hier eben, in dieser Erfurter Bibliothek, besaß man auch, wie der Katalog zeigt, eine Handschrift der deutschen Predigtsammlung ,Paradisus anime intelligentis‘. Der Bibliothekseintrag belegt eine ,Paradisus‘-Handschrift im mittelalterlichen Erfurt. Die Handschrift selbst ist bisher nicht greifbar. Man wird sie suchen müssen.

56

Cf. Märkert, A., Volradi, Jakob, in: Wachinger, B. (ed.), Die deutsche Literatur des Mittelalters: Verfasserlexikon, vol. 10, Berlin-New York 21999, 506-509.

Ordensstudium und theologische Profilbildung. Die Studia generalia in Erfurt und Paris an der Wende vom 13. zum 14. Jahrhundert Helmut G. Walther ( Jena)

Arno Borst zum 08. Mai 2005

„Darum sagte ich in Paris, daß an dem gerechten Menschen erfüllt ist, was die Heilige Schrift und die Propheten jemals sagten.“ 1 Was Eckhart in Erinnerung an seine Pariser Lehrtätigkeit seinem deutschen Predigtpublikum als ein Zentralthema seiner theologischen Überzeugungen nahe zu bringen versucht, wird ihm Jahre später zunächst im Häresieverfahren vor dem Gericht des Kölner Erzbischofs vorgeworfen werden, dann zum inkriminierten und verurteilten Lehrsatz im durch seine Appellation erzwungenen Lehrzuchtverfahren an der Avignonesischen Papstkurie: „Quicquid dicit sacra scriptura de Christo, hoc etiam totum verificatur de omni bono et divino homine.“ 2 1

2

Pr. 24 ,Sant Paulus sprichet ,ıˆntuot iu‘‘ (DW I, 421, 1-422, 1) [= Meister Eckharts Predigten, ed. u. übers. v. J. Quint (Meister Eckhart, Die deutschen und lateinischen Werke, ed. im Auftrage der Deutschen Forschungsgemeinschaft: Die deutschen Werke, vol. 1-3 [= DW I-III]) Stuttgart 1958, 1971 u. 1976]; entspricht N. Largier (ed.), Meister Eckhart: Werke I (Bibliothek des Mittelalters 20), Frankfurt a. M. 1993, 280, 22-25 bzw. 281, 25-27 (= nhd. Übers. J. Quints). Cf. Kommentar Largiers 944 sqq. Konstitution Johannes’ XXII. ,In agro dominico‘ vom 27. März 1329, art. XII; Druck bei H. S. Denifle, Acten zum Processe Meister Eckharts, in: Archiv für Litteratur- und Kirchengeschichte 2 (1886), 636-640; entspricht M.-H. Laurent, Autour du proce`s de Maıˆtre Eckhart. Les documents des Archives Vaticanes, doc. VIII, in: Divus Thomas 39 (Piacenza 1936), 331-348, 430447, hier: 439; entspricht Acta Echardiana (cf. infra), n. 65; siehe auch G. The´ry, E´dition critique des pie`ces relatives au proce`s d’Eckhart contenues dans le manuscrit 33b de la bibliothe`que de Soest, in: Archives d’Histoire Doctrinale et Litte´raire du Moyen-Age 1 (1926/27), 129-268; deutsche Übersetzung in: Meister Eckehart. Deutsche Predigten und Traktate, ed. u. übers. v. J. Quint, München 21963, 449-455. Zum Verlauf des Prozesses in Köln, insbes. zur Beurteilung des Soester Dossiers (sog. ,Rechtfertigungsschrift‘), cf. K. Ruh, Meister Eckhart. Theologe, Prediger, Mystiker, München 21989, 168-186; W. Trusen, Der Prozeß gegen Meister Eckhart. Vorgeschichte, Verlauf und Folgen (Rechts- und staatswissenschaftliche Veröffentlichungen der Görres-Gesellschaft, N. F. 54), Paderborn 1988; L. Sturlese (ed.), Acta Echardiana (Meister Eckhart, lateinische Werke V), Stuttgart 1988, 19-240; N. Largier, in: Meister Eckhart: Werke I (nt. 1), 722-728; W. Trusen, Meister Eckhart vor seinen Richtern und Zensoren. Eine Kritik falsch gedeuteter Redesituationen, in: K. Jacobi (ed.), Meister Eckhart: Lebensstationen - Redesituationen (Quellen und Forschungen zur Geschichte des Dominikanerordens, N. F. 7), Berlin 1997, 335-352.

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Helmut G. Walther

Dieser Satz sowie 27 andere aus Eckharts Werken exzerpierte wurden von der Theologenkommission und dem Obergutachter Jacques Fournier zumindest mehrheitlich als häresieverdächtig, vom Papst und dem Konsistorium dann in der Urteilsbulle noch nach dem Tode des Ordenstheologen als zumindest in dem Maße verurteilenswert eingestuft, als sie als „multa fidem veram in cordibus multorum obnubilantia“ galten 3. Wir wissen freilich, dass Eckhart mit der Häresieanklage nur die Gefahren innovativer mittelalterlicher Theologen teilte. Die häufigen Lehrzuchtverfahren an den Universitäten selbst, vor Bischofs- und Regionalsynoden und an der päpstlichen Kurie können als geradezu typisches Zeugnis der Auswirkungen des wissenschaftlichen Diskurses an den Studia generalia der Zeit angesehen werden 4. Worin im besonderen Fall des deutschen Dominikaners Eckhart auch immer die auslösenden Momente für die Inkriminierung seiner Lehren lagen, ist wegen des in seinem Ablauf schlecht belegten ersten ordensinternen Verfahrens durch Nikolaus von Straßburg im Rahmen seiner Tätigkeit als päpstlich bestellter Visitator für die Provinz Teutonia nur mehr schwer zu rekonstruieren 5. Doch kann auf keinen Fall von einer prinzipiellen Distanzierung des Predigers Eckhart nach 1313 vom scholastischen Schulbetrieb und der von ihm zuvor in diesem Schulbetrieb eingenommenen Positionen gesprochen werden. Das wäre schon angesichts des langjährigen Verhaftetseins Eckharts im Schulwesen seines Ordens höchst unwahrscheinlich. Nach seiner Straßburger Aufgabe übernahm er mit dem theologischen Lehrstuhl am Kölner Generalstudium die drittwichtigste Position in der Ordensprovinz Teutonia und kehrte damit auch in den wissenschaft3

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Cf. J. Miethke, Der Prozeß gegen Meister Eckhart im Rahmen der spätmittelalterlichen Lehrzuchtverfahren gegen Dominikanertheologen, in: Jacobi (ed.), Meister Eckhart (nt. 2), 353-375; R. E. Lerner, New Evidence for the Condemnation of Meister Eckhart, in: Speculum 72 (1997), 347-366. Cf Miethke, Der Prozeß (nt. 3); W. M. Courtenay, Inquiry and Inquisition. Academic Freedom in Medieval Universities, in: Church History 58 (1989), 168-191; J. M. M. H. Thijssen, Censure and Heresy at the University of Paris 1200-1400, Philadelphia 1998; L. Bianchi, Censure et liberte´ intellectuelle a` l’universite´ de Paris (XIIIe-XIVe sie`cles), Paris 1999; zuletzt U. Köpf, Die Ausübung kirchlicher Lehrgewalt im 13. und 14. Jahrhundert, in: G. Mensching (ed.), Gewalt und ihre Legitimation im Mittelalter (Contradictio 1), Würzburg 2003, 138-155. Der Rekonstruktionsversuch Trusens bezog erstmals die kirchenrechtlichen Grundlagen des Kölner Verfahrens in ihrer ganzen Tragweite ein und kann deswegen einen hohen Plausibilitätsgrad beanspruchen; er beruht aber letztlich auf einer bestimmten Einschätzung von Urheberschaften der Texte in der Soester Handschrift 33 wie auch von deren Funktion im Kölner Prozess. Cf. zusammenfassend zu den Abläufen und ihren prozessrechtlichen Grundlagen W. Trusen, Zum Prozeß gegen Meister Eckhart, in: H. Stirnimann (ed., in Zusammenarbeit mit R. Imbach), Eckardus Theutonicus, homo doctus et sanctus. Nachweise und Berichte zum Prozeß gegen Meister Eckhart (Dokimion 11), Freiburg/Schweiz 1992, 7-30, bes. 12 sqq., u. id., Meister Eckhart (nt. 2), 64 sq.; zur Beurteilung der Texte in der Soester Handschrift 33 cf. Trusen, Der Prozeß (nt. 2), 81 sqq. Dort findet sich auch eine Auseinandersetzung mit der abweichenden Beurteilung der Soester Hs. in der Rezension Sturleses von Trusens Prozessmonographie, in: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 114 (1992), 522-529.

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lichen Aufgabenbereich zurück, den er zuvor in der Pariser Universität für den gesamten Orden ausgefüllt hatte. Diese Funktion ist in ihrer Bedeutung in der Forschung viel zu sehr hinter der Laienpredigttätigkeit Eckharts verschwunden, nur weil Letztere das späte literarische Werk des Dominikanertheologen prägte. Dabei spielt es gar keine Rolle, ob Eckhart bis zum Prozess in Köln tatsächlich Magister regens des dortigen Studium generale war oder nicht 6. Es ist wohl noch immer dem Weiterwirken des älteren, antischolastisch ausgerichteten Bildes vom Mystiker Meister Eckhart geschuldet, dass auch noch jüngst das Verhältnis von Eckhart zu den Schulen als ein zumindest nicht konfliktfreies gewertet wird. Noch auf dem Freiburger Eckhart-Kongress von 1995 glaubte Mischa von Perger aus der Art der Verwendung von ,Paris‘ und ,Schule‘ in den späteren Predigttexten ablesen zu können, dass es sich bei diesen Erwähnungen um Reizworte des späten Eckhart handle 7. Solche Kontroversen berühren gewiss in stärkerem Umfang die Rahmenbedingungen der Situation Eckharts während seiner frühen Erfurter Zeit, die im Folgenden analysiert werden sollen. Bei der näheren Betrachtung dieser Lebensphase bietet es sich an, sich auf die forma vivendi des Eckhart von Hochheim aus thüringischem Adel zu konzentrieren. Denn die meisten der erhaltenen biographischen Zeugnisse stellen uns diesen Mann als den frater Eckhardus in verschiedenen Positionen und Funktionen im Dominikanerorden vor 8. Angesichts der unterschiedlichen Inanspruchnahmen Eckharts ist es nicht unwichtig zu betonen, dass der zu verfolgende Lebensweg Eckharts sich voll6

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Dazu ausführlich Trusen, Der Prozeß (nt. 2), 62 sqq., u. id., Meister Eckhart (nt. 2), 338. Die Vermutung, Nikolaus sei vor der Übernahme des Visitatorenamtes der Lektor des Kölner Hausstudiums, nicht aber Sublektor (diese Funktion gibt es im Orden gar nicht offiziell) gewesen, bleibt die plausibelste Lösung; cf. Trusen, Der Prozeß (nt. 2), 63. Cf. Mischa von Perger, Disputatio in Eckharts frühen Pariser Quaestionen und als Predigtmotiv, in: Jacobi (ed.), Meister Eckhart (nt. 2), 115-148, bes. 116 sq. (,Paris‘ und ,Schule‘ als Reizworte). Zum Wandel des Eckhartbildes in der Geistesgeschichte des 20. Jahrhunderts siehe I. Degenhardt, Studien zum Wandel des Eckhartbildes, Leiden 1967; zuletzt auch W. Goris, Einheit als Prinzip und Ziel. Versuch über die Einheitsmetaphysik des Opus tripartitum Meister Eckharts (Studien und Texte zur Geistesgeschichte des Mittelalters 59), Leiden-New York-Köln 1997. Kurt Flaschs Vorwurf, dass mit dem Bild eines kirchenfrommen Eckhart nach 1945 nur eine klerikale Vereinnahmung an die Stelle der vorausgehenden faschistischen als Repräsentant germanischer Religiosität gesetzt worden sei, simplifiziert unzulässig. Cf. K. Flasch, Das philosophische Denken im Mittelalter. Von Augustin zu Machiavelli, Stuttgart 1986, 406 sq., mit Trusen, Meister Eckhart (nt. 2), 335. Zurückhaltender im Urteil: K. Flasch, Eckharts Absicht, in: K. Flasch/R. Imbach (eds.), Meister Eckhart - in seiner Zeit (Schriftenr. d. Identity-Foundation 7), Düsseldorf 2004, 20-27, hier: 20. Cf. Ruh, Meister Eckhart (nt. 1), pass.; siehe auch L. Sturlese, Meister Eckhart. Ein Porträt (Eichstätter Hochschulreden 90), Regensburg 1993, und R. Imbach/U. Schulze, Eckhart (Meister E.), in: Lexikon des Mittelalters, vol. 3, München-Zürich 1986 (zum Stand der biografischen Forschung).

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ständig im Rahmen der Möglichkeiten und Grenzen der Wirksamkeit des Mendikantenordens der Predigerbrüder vollzog, in dem Eckhart bis zu seinem Tod am 28. Januar 1328 9 tätig war. Auch wenn nun die ältere Kontroverse über die Herkunft Eckharts zugunsten der Abstammung aus dem westthüringischen Niederadel der milites de Hochheim als geklärt angesehen werden darf 10, wissen wir doch nichts über seine Jugend, seine Bildung, das Datum seines Eintritts in den Dominikanerorden und den Beginn seiner Studien. Josef Koch glaubte noch bis zum Schluss an ein artistisches Studium Eckharts vor 1277 in Paris, bei dem er Siger von Brabant gehört habe. Sodann habe er aber dort als Theologiestudent auch die Verurteilung von Lehren des Thomas und des Albertus Magnus selbst erlebt. Freilich habe er sein Theologiestudium dann aber noch vor 1280 am dominikanischen Generalstudium in Köln fortgesetzt 11. Nach allem, was wir über die Studienorganisation des Dominikanerordens im 13. Jahrhundert wissen, kann Eckhart als Angehöriger der Provinz Teutonia kaum ein vollständiges Artes-Studium an der Pariser Universität als Delegierter seiner deutschen Provinz im dortigen Jakobskonvent absolviert haben 12. Zum einen war der ständig bestehende Überhang der Nachfrage nach einem Studienplatz am Generalstudium des Ordens in Paris ein Dauerthema auf den Generalkapiteln. Das Problem war nämlich keineswegs dadurch beseitigt worden, dass seit 1248 die Einrichtung vier neuer Generalstudien des Ordens mit theologischem Promotionsrecht in den Provinzen Provence, Lombardia, Teutonia und Anglia vorgenommen worden war und 1259 das dominikanische Studiensystem vom damaligen Generalkapitel in Valenciennes in seiner Struktur für mehrere Jahrzehnte festgelegt wurde. Damals wurde auch von der Studienreformkommission des Ordens, der u. a. Albertus Magnus, Thomas von Aquin und Petrus von Tarentaise angehörten, der neue Pariser Lehrplan der Artistenfakultät modifiziert in den Studienplan der Dominikaner einbezogen. Damit hatten die ,weltlichen Wissenschaften‘ der Artisten neben den theologischen Studien einen legitimen Platz zugewiesen bekommen und war das hierarchische System von Studium im Heimatkonvent, im Partikularstudium (1259 erstmals als Studia solemnia unterschieden) auf der Ebene der Ordensprovinzen und - auf der höchsten Stufe - in den Studia generalia etabliert, die für die Ausbildung der Lektoren zuständig wa9

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Cf. W. Senner, Meister Eckhart in Köln, in: Jacobi (ed.), Meister Eckhart (nt. 2), 207-235, bes. 232 sq. (zum Todesdatum Eckharts). Zuletzt Trusen, Der Prozeß (nt. 2), 11 sqq., u. id., Meister Eckhart (nt. 2), 336 sq. Cf. die biografischen Ausführungen in: H. Eidam/I. Thom/U. Spannaus (eds.), homo doctus - homo sanctus. Wer ist Meister Eckhart? Katalog der Ausstellung, Erfurt 2003, 9 sqq. Cf. J. Koch, Kritische Studien zum Leben Meister Eckhart (zuerst 1959/60). Repr. in: id., Kleine Schriften I (Storia e letteratura; Raccolta di studi e testi 127), Rom 1973, 247-347, bes. 252 sqq. (Berufung auf drei Texte Eckharts ganz unterschiedlicher Provenienz). Gegen Kochs Konstruktion eines Pariser Artes-Studiums (Kritische Studien [nt. 11], 253 sq.) schon unter Verweis auf die damalige Studienstruktur des Ordens cf. L. Hödl, Meister Eckharts theologische Kritik des reinen Glaubensbewußtseins, in: U. Kern (ed.), Freiheit und Gelassenheit. Meister Eckhart heute, München-Mainz 1980, 37 sq.

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ren. Die Attraktivität des abendländischen theologischen Wissenschaftszentrums Paris und damit des dortigen Generalstudiums blieb bestehen, zumal sich die Ordensleitung vorbehielt, besonders begabte Studenten an das Pariser Generalstudium zu senden. Die Versorgungsfrage ihrer Studenten an den Generalstudien wurde damit für die dazu verpflichteten Ordensprovinzen noch problematischer - war doch auf Drängen der Provinz Francia gerade in den 70er Jahren des 13. Jahrhunderts die Beschränkung der Studienplätze in Paris nicht zuletzt wegen Versorgungsproblemen in St. Jacques auf zwei bis drei Theologiestudenten für jede der auswärtigen Provinzen festgeschrieben worden 13. Wenn Eckhart tatsächlich vor 1277 in Paris die Artes studiert hätte, dann müsste er es entsprechend den gültigen Regeln der Dominikaner also noch als Laie getan haben, wäre also erst als promovierter Artist in den Predigerorden eingetreten. Dann wäre freilich auch St. Jacques in Paris sein Heimatkonvent gewesen und Eckhart vom Orden trotz seiner Thüringer Herkunft nicht als Teutonicus bezeichnet worden. Also dürfen wir mit guten Gründen annehmen, dass Eckhart - mit welcher Vorbildung und zu welchem Zeitpunkt auch immer - den Ordenseintritt in Thüringen, und dort mit höchster Wahrscheinlichkeit in Erfurt, vollzogen hat. Zwar sind uns neben dem Datum des Ordenseintritts aufgrund der Quellenüberlieferung leider keine Beschlüsse der Provinzialkapitel der Teutonia über eine Entsendung Eckharts an das Generalstudium in Paris bekannt, aber deshalb auch kein solcher über eine alternativ mögliche Entsendung als Theologiestudent an das Generalstudium in Köln 14. Aber auch so ergibt sich bei genauem Hinsehen, dass die von Josef Koch für die Rekonstruktion der Studienzeit Eckharts herangezogenen Texte keineswegs die Folgerungen des Autors stützen. Die von Koch als Beleg für eine frühe Pariser Studienzeit Eckharts gewertete Angabe nostris temporibus meint keineswegs die Zeit der Tempier-Verurteilungen von 1270 und 1277. Sie dürfte sich vielmehr auf den späteren Korrektorienstreit beziehen und läge damit eng am ohnehin gesicherten Datum für die Lebensphase Eckharts als Pariser Baccalarius sententiarum nach 1293. Der von Koch für ein früheres Pariser Artes-Studium 13

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Cf. D. Berg, Armut und Wissenschaft. Beiträge zur Geschichte des Studienwesens der Bettelorden im 13. Jahrhundert (Geschichte und Gesellschaft 15), Düsseldorf 1977, 60 sqq., 118 sqq. Cf. dazu die einschlägigen Beschlüsse der dominikanischen Generalkapitel seit Paris 1243 bis Montpellier 1283, in: B. M. Reichert (ed.), Acta capitulorum generalium ordinis Praedicatorum I (1220-1303) (Monumenta Ordinis Praedicatorum Historica 4 = künftig MOPH), Rom 1898; jetzt auch auf CD-ROM = Constitutiones et Acta Capitulorum Generalium Ordinis Fratrum Praedicatorum 1232-2001 (Digitale Bibliothek Spezial), Berlin 2002. Den gegenwärtigen Stand der Erforschung des mendikantischen Studienwesens repräsentiert der Kongressband Studio e studia: Le Scuole degli Ordini Mendicanti tra XIII e XIV secolo, Spoleto 2002; er bildet gewissermaßen ein aggiornamento des Forschungsstandes von 1976/78 im Kongressband Le Scuole degli Ordini Mendicanti (secoli XIII-XIV) (Convegni del Centro di Studi sulla Spiritualita` Medievale XVII), Todi 1978. Die Quellengrundlage hat sich seit der Untersuchung Josef Kochs von 1959, Kritische Studien (nt. 11), 252, nicht mehr verändert.

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gewertete Belegtext stammt nämlich aus der Einleitung Eckharts zu seinen Einlassungen von wahrscheinlich Anfang September 1326 zur ersten Liste von 49 Sätzen, die seine Gegner als häretische Lehren Eckharts dem Kölner Ketzergericht eingereicht hatten 15. Der von Eckhart bewusst auf die Klimax der Heiligsprechung des Ordenstheologen Thomas am Ende der Passage bezogene Ausgangspunkt seiner Argumentation verweist recht deutlich darauf, dass Eckhart mit der Anspielung auf die noch gut erinnerlichen (deshalb nostris temporibus) Pariser Untersuchungen gegen die berühmten Lehrer Albert und Thomas aus seinem Orden nur ein zusätzliches Argument gegenüber den beiden delegierten erzbischöflichen Richtern im Inquisitionsverfahren gewinnen wollte, das seine eigene Unschuld bekräftigen sollte. Wie sich einst in Paris selbst und dann an der päpstlichen Kurie die Anschuldigungen gegen die beiden prominenten Ordensangehörigen als unberechtigt erwiesen hätten, so erwarte er es für sich nun auch im Kölner Ketzerverfahren. Koch hat diesen Zusammenhang zu wenig beachtet und die Ausführungen Eckharts lediglich als Steinbruch für die Gewinnung biografischer Daten benutzt 16. Damit relativiert sich in keiner Weise, dass Eckhart vor seinem Pariser Theologiestudium entweder direkt in persönliche Beziehungen zu Albertus Magnus trat oder doch in Köln am Generalstudium des Ordens Näheres über dessen Lehre erfuhr, so dass sich Eckhart in seiner überlieferten Pariser Osterpredigt von 1294 als damaliger Baccalarius sententiarius auf einen häufigen Ausspruch Alberts des Großen über die Grenzen menschlichen Wissens bezieht und so seine Kölner Bekanntschaft mit dem bereits greisen Ordenslehrer dokumentiert. Am zwanglosesten lässt sich diese Bezugnahme einer eigenen theologischen Studienzeit Eckharts am Generalstudium in Köln zuordnen 17. Angesichts der Studiensituation in der Teutonia bis 1304 kam für einen Theologiestudenten Eckhart aus dem Dominikanerorden kaum ein anderes Generalstudium als Köln in Frage, an dem er zum Baccalarius biblicus promoviert worden sein konnte, bevor ihn sein Provinzialprior dann als Sententiarius an das Generalstudium nach Paris zur theologischen Promotion entsandte 18. Die jüngere Forschung hat mit Recht hervorgehoben, welche Bedeutung von Anfang an das Studium im Dominikanerorden spielte, wie es sich bezeichnend 15

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17 18

Cf. The´ry, E´dition critique (nt. 2), 185; Acta Echardiana (nt. 2), n. 46 (LW V, 226 sq.); dazu Trusen, Meister Eckhart (nt. 2), 341 sq. The´ry, E´dition critique (nt. 2), 185: „patienter tamen michi ferendum est quia beati qui patiuntur propter justiciam et deus flagellat omnem filium quem recipuit secundum Apostolum, ut merito dicam cum psalmo: ego autem in flagella paratus sum, maxime cum jam pridem magistri theologie Parisius nostris temporibus mandatum habuerint superioris de examinandis libris praeclarissimorum virorum sancti Thome de Aquino et domini fratris Alberti, tanquam suspectis et erroneis. Et contra ipsum sanctum Thomam frequenter a multis scriptum est dictum et publice predicatum, quod errores et hereses scripserit et docuerit. Sed favente domino tam Parisius quam per ipsum summum pontificem et romanam curiam ipsius vita et doctrina pariter sunt approbata.“ Cf. Koch, Kritische Studien (nt. 11), 252 sq. Cf. Koch, Kritische Studien (nt. 11), 253 sq. Zur damaligen Studiensituation schon eindeutig Berg, Armut (nt. 13), 120 sq., 135 sq.

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schon im Satz der ältesten Konstitutionen niederschlug, dass ein Konvent nur in der Doppelung von Prior und Doktor bestehen könne 19. Die Fixierung der theologischen Ausbildung der Brüder auf die Universität Paris als Zentrum des Theologiestudiums und die Orientierung am Pariser Modell beim Aufbau eines eigenen Studiensystems waren nur natürlich. Doch war keineswegs klar, ob das bei den Pariser Theologen vorausgesetzte Artistenstudium von den Dominikanern zur Gänze übernommen werden sollte und welche Ausrichtung es erfahren sollte, um den Theologiestudenten des eigenen Ordens an den Studieneinrichtungen in den einzelnen Provinzen und den für den Konvent St. Jacques in Paris ausgewählten zu Graduierenden die nötige Vorbildung bereitzustellen. Die Ordenskonstitutionen hatten von Anfang an die saeculares scientiae vom Studium ausgeschlossen; und noch in der Redaktion von 1256 waren diese wie die Lektüre von Büchern heidnischer Autoren und von Philosophen von einer Einzeldispens des Generalmagisters oder des Generalkapitels abhängig gemacht worden 20. Spannungen zwischen Konzeptionen für ein ordensumspannendes Studiensystem und den oft kläglichen Verhältnissen vor Ort in den einzelnen Provinzen blieben nicht aus. Der Jakobskonvent in Paris konnte den Unterhalt der landfremden Theologiestudenten des Ordens kaum tragen. Die Zuwendungen für den Unterhalt des Pariser Konvents aus den anderen Provinzen erwiesen sich als völlig unzureichend 21. Nicht zuletzt deswegen waren Beschlüsse zur Errichtung weiterer vier Generalstudien des Ordens (generalia studia et solempnia) notwendig 22. Mit Ausnahme Oxfords für die Anglia und von Toulouse für die Provincia bestanden die neu errichteten Generalstudien der Provinzen Lombardia und Teutonia nicht an Universitätsorten, so dass die dortigen Graduierungen und Promotionen kaum den Rang von Paris beanspruchen konnten, auch wenn das Pariser Studienmodell an den neuen Studia generalia des Ordens nach ausdrücklichem Beschluss der Generalkapitel imitiert wurde. Gerade das Oxforder Beispiel zeigt aber auch, dass sich der dortige Konvent gegen die Entsendung von je zwei Fratres aus allen anderen Provinzen nachhaltig sperrte. Da half es wenig, dass das Mailänder Generalkapitel von 1270 gleich sechs weitere Generalstudien des Ordens projektierte. Zehn Jahre später wurde der Beschluss noch einmal wiederholt, um ihn nochmals zwei Jahre später auf jede Provinz auszudehnen, jedoch 19

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Cf. I. W. Frank, Die Spannung zwischen Ordensleben und wissenschaftlicher Arbeit im frühen Dominikanerorden, in: Archiv für Kulturgeschichte 49 (1967), 164-207, hier: 164; H. S. Denifle, Die Constitutionen des Prediger-Ordens vom Jahre 1228, in: Archiv für Litteratur- und Kirchengeschichte des Mittelalters 1 (1885), 165-227, hier: 221. Zuletzt M. M. Mulchahey, First the Bow is Bent in Study. Dominican Education Before 1350, Toronto 1998. Cf. Denifle, Die Constitutionen (nt. 19), 222; Constitutiones Paris 1256: Constit. et Acta (nt. 13), 171. Cf. Generalkapitel Paris 1246 (MOPH III, 36 = Constit. et Acta [nt. 13], 243); cf. Berg, Armut (nt.13), 118-121. Generalkapitel Montpellier 1247; Bestätigung Paris 1248 (MOPH III, 38, 41 = Constit. et Acta [nt. 13], 251, 255).

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ein Jahr später wieder auf den Planungsstand von 1280 zu reduzieren. Schließlich glaubte man 1288 sich realistischerweise mit fünf Generalstudien begnügen zu sollen. Durch zweimalige Bestätigung des Beschlusses auf den folgenden Generalkapiteln wurde dieser rechtskräftig, die Zahl auf den nachfolgenden drei Generalkapiteln dann auf sechs erhöht. Das Kapitel von Bologna 1302 wollte nun jede Provinz - ausgenommen die personal- und finanzschwachen Dacia, Graecia und Terra Sancta - mit einem Generalstudium ausstatten 23. Durch Bestätigungen der Generalkapitel von 1303 und 1304 wurde dieser Beschluss zur Norm und zwang die Provinzen zur Umsetzung, „ut semper in aliquo conventu ydoneo sit generale studium et solempne“ 24. Weshalb die Generalkapitel ihre Beschlüsse zur Vermehrung der Generalstudien mehrfach verändern und revidieren mussten, macht der Fall des Kölner Generalstudiums der Teutonia deutlich. Noch drei Jahre nach seiner Gründung 1248 musste das Generalkapitel den Provinzialprior der Teutonia ermahnen, dass er entsprechend den Beschlüssen des Gesamtordens, seiner Leitungsgremien wie seines eigenen Provinzkapitels unbedingt dafür zu sorgen habe, dass die Konvente der Provinz dem Kölner Haus beizustehen hätten. Ansonsten bestehe Gefahr, „ne studium generale ibi positum propter inopiam domus impediri“ 25. Wenn diese Gefahr im reichen Köln bestand, können finanzielle Schwierigkeiten im niederrangigeren Studienwesen der Dominikaner in der Teutonia in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts trotz fehlender Quellen vorausgesetzt werden. Für andere Provinzen sind teilweise Schließungen gerade von artistischen Schulen der Dominikaner gut bezeugt 26. Einerseits war im Orden recht schnell mit der Orientierung an der Pariser Theologie eine Entscheidung gefallen, sich am dortigen Universitätscurriculum auszurichten und daher auch die sich verändernden Grundlagen des Artes-Studiums zu akzeptieren. Doch diese Übernahme trotz der in den Konstitutionen des Ordens auch weiterhin verankerten Einschränkung des Studiums der scientiae saeculares bedeutete nicht nur auf dem Gebiet der Theologie selbst einen Umbruch, sondern brachte in der Praxis der Vorbildung der Ordensstudenten für die ja universitätslose Provinz Teutonia im letzten Drittel des 13. Jahrhunderts 23

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Cf. Berg, Armut (nt. 13), 120 sq. (zu den Beschlüssen über neue Generalstudien auf den Generalkapiteln seit Barcelona 1261 bis Bologna 1302), 118 (Verhältnisse in Oxford); Bologna 1302: MOPH III, 314 = Constit. et Acta (nt. 13), 902. Endgültiger Beschluss (Zitat): Generalkapitel Toulouse 1304 (MOPH IV, 1 = Constit. et Acta [nt. 13], 940). Generalkapitel Metz 1251: MOPH III, 59 (= Constit. et Acta [nt. 13], 293); cf. Berg, Armut (nt. 13), 103. Cf. Frank, Die Spannung (nt. 19), 173; Berg, Armut (nt. 13), 93 sq., 96, 100, 101 sq. (zur artistischen Ausbildung in den Schulen der einzelnen Provinzen). Zum Hintergrund in der gesamten Ordensentwicklung jetzt M. M. Mulchahey, The Roˆle of the Conventual Schola in Early Dominican Education, in: Studio e studia (nt. 13), 117-150.

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erhebliche Strukturprobleme für die Organisation ihres Studienwesens. Schon durch die Tatsache ihrer conversio erst als Magister oder Bakkalare waren die ersten dominikanischen Lehrstuhlinhaber von Anfang an der Neuausrichtung der Theologie in Paris verpflichtet. Und auch nach den 30er Jahren blieb der Orden durch seine zwei Magistri regentes Teil des Innovationsdiskurses der Disziplin, hatte mit Stephan von Venizy sogar einen Magister, der schon 1241 wegen der starken Einbeziehung der aristotelischen Naturphilosophie in ein Lehrzuchtverfahren verwickelt wurde 27. Der von der Ordensleitung durchgesetzte und konsequent durchgehaltene kurzfristige Personalwechsel am für Nichtfranzosen reservierten Lehrstuhl diente gerade besonders der theologischen Profilierung der Ordenstheologie. Dafür war es aber unumgänglich, die konsequente Pariser Aristoteles-Rezeption bei den Artisten, deren Magistergrad schnell die unumgängliche Voraussetzung einer Graduierung in der theologischen Fakultät wurde, auf das Curriculum der eigenen Artes-Studien im Orden zu übertragen. So waren zwar die dominikanischen Theologiestudenten in Paris und an den eigenen Studia generalia von der Erlangung des Grades eines Artistenmagisters dispensiert; jedoch nur deshalb, weil das Studiensystem des Ordens eine äquivalente artistische Grundausbildung für das Theologiestudium voraussetzte. Die Generalkapitel schärften immer wieder diesen Qualitätsstandard des Zusammenhangs von Artes- und Theologiestudium ein 28. Doch bleibt zu beachten, dass die Konsequenz der Pariser Neuorientierung der Artistenmagister, die nun neues Selbstbewusstsein als philosophi fanden und artikulierten, etwas anderes war als die bloße Möglichkeit, auch die libri naturales des Stagiriten zu studieren, mit der die von den Dominikanern geprägte junge Universität Toulouse seit 1230 um Studenten warb. Es war gegen erheblichen Widerstand im eigenen Orden, als 1259 im Auftrag des Ordensmagisters Humbert von Romans eine Reformkommission mit u. a. Albertus Magnus, dem Aquinaten und Petrus von Tarentaise sowie anderen Theologiemagistern eine Studienreform formulierte und durchsetzte, die das alte prinzipielle Verbot von Säku27

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Dazu zuletzt Courtenay, Inquiry (nt. 4); id., Dominicans and Suspect Opinion in the Thirteenth Century: The Cases of Stephen of Venizy, Peter of Tarentaise, and the Articles of 1270 and 1271, in: Vivarium 32 (1994), 186-195, und Thijssen, Censure (nt. 4). Cf. die Beschlüsse des Pariser Generalkapitels von 1243, das ausdrücklich noch einmal das Studium von libri philosophici begrenzte und die Studenten aufforderte, die in Paris zensurierten Lehrsätze aus ihren Studienunterlagen auszuradieren (MOPH III, 26 = Constit. et Acta [nt. 13], 224 sq.). So das Generalkapitel von Genua 1305, das den Zusammenhang zwischen Artes-Studium auf aristotelischer Basis und Theologiestudium in Paris bzw. Graduierung zum Sententiarius an anderen Generalstudien des Ordens zur Voraussetzung für die Bestellung als Leiter eines Partikularstudiums (Lector principalis) machte; cf. MOPH IV, 12 = Constit. et Acta (nt. 13), 965: „Ordinamus, quod nullus rediens de aliquo studio generali, Parisiensi dumtaxat excepto, illo anno ponatur lector principalis nisi prius reponatur per annum in studio generali, si in sua provincia fuerit, ut de hoc studencium profectu cercior noticia possit haberi et per eos magis studium sue provincie vigorari. In studiis vero sentenciarum nullus principalis lector ponatur nisi de studio Parisiensi redierit vel lectionem principalem vel sentencias in provincia sua laudabiliter legerit. Et quia premissa non possunt sine studio arcium observari, volumus et ordinamus, quod omnes provincie ad providendum de naturarum studiis teneantur.“

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larstudien modifizierte und die sich auf Aristoteles gründenden studia arcium zur Grundlage der Unterrichtung der juvenes im Orden machte 29. Der in Paris 1255 modifizierte Lehrplan der Artisten wurde konsequent auf die Bedürfnisse der Dominikaner übertragen. Die theologische Ausbildung der Fratres sollte dem modernsten Stand dieser Wissenschaftsdisziplin entsprechen. In Konsequenz mussten nun in jeder Provinz auch die Hausstudien zumindest teilweise zu Vorbereitungsschulen für ein Theologiestudium auf aristotelischer Basis umgeformt werden. Dabei wurde zwischen Studia logicalia und Studia naturarum unterschieden. Isnard Frank hat bereits vor Jahren die Schwierigkeiten herausgestellt, die eine Umsetzung dieses Konzepts in der Provinz Teutonia bis weit nach der Wende zum 14. Jahrhundert mit sich brachte. Leider ist durch den Verlust der Provinzialkapitelsakten kein detaillierter und regional differenzierter Einblick in die Praxis des Ordensstudiums in der Provinz Teutonia mehr möglich 30. Es mangelte dem Orden in jener Zeit aber schlichtweg an geeignetem Lektorenpersonal. Bis weit ins 14. Jahrhundert hinein musste der Orden mit einer Verwaltung des Mangels improvisieren. Für die seit 1304 von der Teutonia getrennte Provinz Saxonia war die Lage noch schlechter, da sie nun zunächst noch über kein eigenes Generalstudium verfügen konnte. Dabei hatte das Generalkapitel von 1259 neben den Generalstudien im Sinne der theologischen Studienreform auch die Einrichtung von eigenen Studia solemnia in jeder Provinz verfügt im Sinne von theologischen Partikularstudien für die theologische Ausbildung der dortigen Fratres unterhalb der in ihrem Anspruch strikt am Pariser Universitätsmodell orientierten Generalstudien. Das Lehrprogramm dieser Partikularstudien sollte sich dabei zwar ebenfalls am Lehrplan der universitären Theologiefakultäten ausrichten. Während die Generalstudien jedoch die klare dreigliedrige Hierarchie von Baccalareus biblicus, Sententiarius und Doctor in sacra pagina übernahmen, konnte man sich am Partikularstudium notfalls statt mit einem als Theologiedoktor Graduierten mit einem Sententiarius als Lector principalis begnügen. Im Regelfall sollte aber bereits der zusätzliche Sublector diesen Grad besitzen und sogar bei entsprechendem Bedarf noch durch einen Lector ad legendam biblice ergänzt werden 31. Mit den hier graduierten Fratres sollten das wissenschaftliche Niveau des Personals für die Hausstudien der Konvente, die Bereitstellung von Cursores für die zwei Stufen von Artes-Studien im Orden und der Studienfortschritt der Studenten gesichert werden. Wer als Lector und Cursor zusätzlich die Funktion des Magister studencium übernahm, sollte zu29

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Generalkapitel Valenciennes 1259 (MOPH III, 98 sq. = Constit. et Acta [nt. 13], 374 sq.); Studienordnung der Magister von 1259, in: Chartularium Universitatis Parisiensis I, eds. H. S. Denifle/E. Chatelain, Paris 1899, no. 335 (385); Berg, Armut (nt. 13), 63 (Umsetzung der Reformen). Cf. I. M. Frank, Zur Studienorganisation der Dominikanerprovinz Teutonia in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts und zum Studiengang des seligen Heinrich Seuse OP, in: E. M. Filthaut OP (ed.), Heinrich Seuse. Studien zum 600. Todestag 1366-1966, Köln 1966, 39-69, hier: 52 sqq. Cf. die Beschlüsse von Genua 1305 (cit. nt. 28); Frank, Zur Studienorganisation (nt. 30), 59 sqq.

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dem regelmäßig an den Provinzial über Studienfortschritte berichten, damit dieser die geeigneten Kandidaten für die Partikular- und Generalstudien auswählen konnte 32. Freilich setzte die ordnungsgemäße Besetzung der Positionen der Lectores principales und Sublectores eine entsprechende Anzahl von Graduierten der Generalstudien oder zumindest der Partikularstudien der Ordensprovinzen voraus. Dies scheint lange Zeit nicht gewährleistet gewesen zu sein, so dass Querversetzungen der Graduierten einer Provinz an Studia generalia und solemnia einer anderen üblich waren 33. Da der Orden aber sein administratives Führungspersonal aus dem gleichen Reservoir an Graduierten beziehen musste, ergaben sich Personalengpässe. Das Bologneser Generalkapitel von 1315 ermächtigte ausdrücklich die Provinzialprioren zu einer Begrenzung der Studentenzahlen in den Generalstudienkonventen ihrer Provinzen auf 22 bis 23 und zum Ausschluss von fratres inutiles et onerosi aus diesen Konventen, die sich nur auf absolut ,funktionstüchtige und belastbare‘ Mitglieder beschränken sollten 34. Die um die Gebiete der neuen Provinz Saxonia verkleinerte Teutonia musste im zweiten Drittel des 14. Jahrhunderts auf ihren Provinzialkapiteln immerhin die Stellen von 13 Lektoren, 10 Sententiaren, 6 Lektoren für die Studia logicalia (Studia arcium) und 5 für die Studia naturarum, daneben noch diejenigen der 27 Leiter der Hausstudien in den übrigen Konventen besetzen. Die Generalkapitel schrieben außerdem fest und ermahnten die Provinzen zur Einhaltung der Norm, dass Lehrende, aber auch an diese Studieneinrichtungen abgeordnete Fratres nicht mit Positionen in der Ordensadministration belastet werden durften 35. Diese Auswirkungen der Studienreform belasteten aber die Infrastruktur der Provinz Teutonia außerordentlich und stellten ihre Provinzialprioren vor erhebliche Probleme. Einerseits hatten diese die wirtschaftlichen und seelsorgerischen Interessen der einzelnen Konvente zu wahren, andererseits die Beschlüsse und 32

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Auch hier sind mit ihrer Aufzählung der Curricula der einzelnen Studienstufen (Studia logicalia et naturarum, Studia sentenciarum, Studium generale) die Beschlüsse des Generalkapitels von Genua 1305 höchst aufschlussreich (MOPH IV, 12 sq. = Constit. et Acta [nt. 13], 965 sq.). Noch 1315 schärfte ein Beschluss des Generalkapitels von Bologna Entsprechendes ein; cf. MOPH IV, 79 = Constit. et Acta (nt. 13), 1146: „Cum profectus studii et sciencie a cursoribus et lectoribus dinoscitur principaliter dependere volumus et ordinamus, quod unus vel duo conventus ad minus in qualibet provincia eligantur, quibus priores provinciales vel eorum vicarii provideant de sufficientibus lectoribus et cursoribus pro officio lectionum“; siehe auch Berg, Armut (nt. 13), 64; davon sind Strafversetzungen in andere Provinzen zu unterscheiden, so die des Provinzialpriors der Anglia, Simon von Hinton (1261), der den Betrieb eines Generalstudiums in Oxford blockiert hatte, als Lektor in die Teutonia; cf. Berg, ibid., 118 sq. Generalkapitel Bologna 1315 (MOPH IV, 78 sq. = Constit. et Acta [nt. 13], 1144 sq.). So zu rekonstruieren aus den als Fragment erhaltenen Akten des in Basel abgehaltenen Provinzialkapitels der Teutonia 1346, ed. Th. Kaeppeli, Kapitelsakten der Dominikanerprovinz Teutonia (1346), in: Archivum Fratrum Praedicatorum 23 (1953), 327-334, hier: 329-333 (Studienorte und -personal); cf. Frank, Zur Studienorganisation (nt. 30), 45; Berg, Armut (nt. 13), 64 (zu den Regelungen seit Valenciennes 1259); auf der Ebene der Teutonia cf. die Anordnungen des Provinzials Hermann von Minden 1278 über die Entlastung auch der Artes-Studenten, in: Ungedruckte Dominikanerbriefe des XIII. Jhs., ed. H. Finke, Paderborn 1891, 84, 100.

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Gesamtinteressen des Ordens durchzusetzen und zu verwirklichen. Dass besonders in Provinzen ohne Universitätstradition die Umstellung des Theologiestudiums auf eine allein an Aristoteles ausgerichtete rationale Theologie mit ihren auf dialektische Disputation ausgerichteten Lehrformen auf Widerstand bei Gruppen unter den Predigerbrüdern stoßen musste, da doch deren Predigtmodus gerade in Hinblick auf ihr Laienpublikum wesentlich stärker von der traditionellen monastischen Weise der Bibelexegese geprägt war, machte sich noch um 1300 bemerkbar. Unter Bezugnahme auf Äußerungen Humberts von Romans und mit einem bewussten Aufgreifen älterer Vorstöße gegen die sich aristotelisierende Universitätstheologie konnte 1308 eine Mehrheit auf dem Generalkapitel von Padua erreichen, dass zumindest für einige Jahre eine Stärkung der kursorischen Bibellektüre im Studium erfolgte, wenn auch das Ziel eines eigenen Studium biblicum nicht erreicht wurde. So unterschied ein Beschluss des Generalkapitels von Ferrara 1290 ausdrücklich zwischen einer Behandlung der Bibel im Vorlesungsbetrieb cursorie und biblice 36. Der innere Widerstand gegen die Festlegung des Ordens auf die Lehre des Aquinaten zu Beginn des 14. Jahrhunderts ist auch unter solchen Gesichtspunkten zu beachten. Die Bedeutung solcher Fragen für die Haltung Eckharts und die Zielrichtung seiner Theologie liegt auf der Hand; sie kann aber an dieser Stelle nicht weiterverfolgt werden 37. Als ein bereits (am Kölner Generalstudium?) zum Grad eines Baccalarius biblicus promovierter Theologiestudent wurde Eckhart 1293 vom eigenen Provinzialprior und dem Generalmagister als Sentenzenbakkalar an die Theologische Fakultät der Pariser Universität geschickt. Die feierliche collatio zur Vorlesung über das erste Buch der Sentenzen hat sich erhalten, ebenso wohl zumindest eine der Predigten, die der Bakkalar zu halten verpflichtet war 38. 36

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Cf. I. W. Frank, Die Spannung (nt. 19), 195 sqq.; I. M. Frank, Zur Studienorganisation (nt. 30), 62; Ferrara 1290 (MOPH III, 256 = Constit. et Acta [nt. 13], 741): „Volumus et ordinamus, quod in quolibet studio generali biblia cursorie et biblice legatur. Si autem in scholis publice non legatur, quilibet doctor in theologia legat semper cursorie aliquid de textu, lectione dumtaxat de sentenciis non obmissa.“ 1308 konnte in Padua unter Verweis auf ein durch Vernachlässigung nahezu zusammengebrochenes Bibelstudium („studium sacre scripture nimis notabiliter sit collapsum et a plerisque negligi videatur“) durchgesetzt werden, dass die Bibelvorlesungen nur noch biblice stattfanden (cf. MOPH IV, 34 = Constit. et Acta [nt. 13], 1024). In Carcassonne 1312 setzten sich die Vertreter der ,Sentenziarier‘ letztlich weitgehend wieder durch. Die Bibelvorlesung biblice wurde auf ein Jahr beschränkt (cf. MOPH IV, 56 = Constit. et Acta [nt. 13], 1087). Cf. Frank, Zur Studienorganisation (nt. 30), 64. Es ist nicht nur für die Form der Bibelexegese im Ordensstudium der Dominikaner, sondern auch für diejenige Eckharts in seinen Predigten von großer Bedeutung, dass dann das Florentiner Generalkapitel von 1321 den Lectores principales die Literalexegese als vorrangige Aufgabe zuteilte (cf. MOPH IV, 133 = Constit. et Acta [nt. 13], 1272). Texte der ersten Pariser Zeit Meister Eckharts, in: LW V = Die lateinischen Werke, ed. u. übers. v. J. Koch, Stuttgart-Berlin 1936; cf. Th. Kaeppeli, Praedicator monoculus. Sermons parisiens de la fin du XIIIe sie`cle, in: Archivum Fratrum Praedicatorum 27 (1957), 120-167. Bei Ruh, Meister Eckhart (nt. 2), 19 sq., Zweifel an der Authentizität des in der Hs. Brügge, Bibl. Municip. Cod. 491, foll. 259r-315v, überlieferten Sentenzenkommentars in der Zuweisung an Eckhart.

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Die Wahl zum Prior des Konventes in Erfurt nach seiner Rückkehr aus Paris 1294 und vor allem die Bestellung zum Vikar des Provinzialpriors der Teutonia für die natio Thuringia dürften schon bei der Entsendung nach Paris geplant gewesen sein 39. Von dort war gerade der im September 1293 zum Provinzialprior gewählte Dietrich von Freiberg als Baccalareus formatus zurückgekehrt. Dieser erwarb dann 1296 nach dem Ende seiner Amtszeit als Provinzial den theologischen Doktorgrad in Paris. Wie bei dem etwas älteren Dietrich vollzog sich die Karriere im Orden im Wechsel von Lehrverpflichtungen an Studieneinrichtungen des Ordens, eigener theologischer Fortbildung und der Übernahme von administrativen Aufgaben für den Orden. Eckhart musste ab 1298 auf die gleichzeitige Ausübung des Priorenamtes und des Vikariates nach dem Unvereinbarkeitsbeschluss des Metzer Generalkapitels von 1298 verzichten. Es ist nicht bekannt, für welches Amt er sich entschied. Immerhin ist mit diesem Metzer Beschluss ein sicherer terminus ante quem für die ,Rede der underscheidunge‘ gegeben, die also sicher dieser Erfurter Phase Eckharts zuzuordnen sind 40. Im Anschluss an diese administrative Amtszeit, in der sich Eckhart offensichtlich bewährte, wurde er 1302 vom Generalkapitel in Bologna als erster deutscher Dominikaner nach Dietrich von Freiberg auf den für Nichtfranzosen reservierten Pariser theologischen Lehrstuhl entsandt. Dies geschah, nachdem dieses Generalkapitel die eingerissene Praxis der Pariser dominikanischen Theologiemagister actu regentes, die Stadt einfach zu verlassen, wie schon das Kölner Generalkapitel im vorigen Jahr erneut verurteilt hatte 41. Zum anderen beginnt das Generalkapitel 1301 mit der Teilung der Provinz Teutonia in zwei Provinzen. Die übliche Verfahrensweise des Ordens verlangt eine Wiederholung des Beschlusses auf den zwei folgenden Generalkapiteln, um Rechtskraft zu erlangen. Die Provinzteilung wird also 1303 nach dem Beschluss in BesancX on in Kraft treten, wenn Eckhart als Magister actu regens seine nach den Pariser Statuten notwendige zweijährige theologische Lehrtätigkeit beendet haben wird. Schließlich trifft das Bologneser Kapitel 1302 erstmals den Beschluss, in nahezu jeder Provinz ein Generalstudium einzurichten. Bei entsprechender zweimaliger Wiederholung würde das bedeuten, dass auch die aus der

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41

So jedoch J. Koch, Ein neuer Eckhart-Fund: Der Sentenzenkommentar (zuerst 1943), in: id., Kleine Schriften I (nt. 11), 239-246. Cf. W. J. Courtenay, Academic Formation and Careers of Mendicant Friars. A Regional Approach, in: Studio e studia (nt. 13), 197-217 (Verbindung von Studium und Ordenskarriere allgemein); Koch, Kritische Studien (nt. 11), 258 sq. (Quellengrundlagen, vor allem zu den Eckharts Erfurter Zeit nach 1294 zugewiesenen ,Rede der underscheidunge‘). Generalkapitel Metz 1298 (MOPH III, 289 = Constit. et Acta [nt. 13], 840). Sollte sich Eckhart nach dem Metzer Unvereinbarkeitsbeschluss für das Priorat entschieden haben, wäre er mit allen Konventsprioren der Teutonia auf dem Generalkapitel von Marseille 1300 abgelöst worden (cf. MOPH III, 298 = Constit. et Acta [nt. 13], 863). Verhalten des zweiten Pariser Theologiemagisters: Generalkapitel Köln 1301, Bologna 1302 (MOPH III, 305, 314 = Constit. et Acta [nt. 13], 878, 902).

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Teilung der Teutonia hervorgehende neue deutsche Provinz Saxonia nun ein solches Generalstudium einzurichten hätte, während die verkleinerte Teutonia entsprechend der vorgenommenen Grenzziehung weiterhin über das schon 1248 eingerichtete Kölner Generalstudium verfügen kann. Eckhart, der über alle für eine Pariser theologische Doktorpromotion notwendigen Voraussetzungen verfügte, dürfte noch im Herbst 1302 die licentia docendi des Pariser Kanzlers erhalten haben, so dass er nach seiner feierlichen inceptio mit seiner theologischen Vorlesung beginnen und die vom theologischen Magister geforderten Quästionen abhalten konnte. Zumindest zwei der unter Eckharts Namen überlieferten Quästionen sind diesem ersten Pariser theologischen Magisterium zuzuordnen. Wie die jüngsten Untersuchungen dieser Quästionen zeigen, erweist sich Eckhart in ihnen ganz als Teilhaber am aktuellen philosophisch-theologischen Diskurs über die Lehren der beiden großen Ordenslehrer Albert und Thomas über Gott als reinen Intellekt 42. Der Satz aus der quaestio I, „Sapientia autem, quae pertinet ad intellectum, non habet rationem creabilis“ 43, wird Eckhart bis in seinen Kölner Häresieprozess und das Avignonesische Lehrzuchtverfahren verfolgen. Die subtile Detailanalyse der Zeugnisse der ersten theologischen Lehrtätigkeit Eckharts in Paris vermag also die Individualität der Lehre dieses Denkers als Konstante herauszuarbeiten. Dennoch bleibt festzuhalten, dass die traditionelle Entgegensetzung des Mystikers Eckhart zur Scholastik und ihrem Lehrbetrieb Konstrukt bleibt - nicht zuletzt, da Eckhart bekanntlich bis zum Beginn des Kölner Prozesses wohl selbst Magister in sacra pagina des Kölner Generalstudiums seines Ordens war. Eckharts eigenständige philosophisch-theologische Prägung ist also das eine. Aber das darf nicht dazu führen, ihn als Denker in seiner intellektuellen Umwelt zu schnell zu isolieren. Zum Repräsentanten und mehr noch zum Begründer einer eigenständigen deutschen Denkrichtung taugt er nur ganz bedingt. Wer so mit ihm verfährt, vergisst zumeist die immense Spannbreite dominikanischen Denkens und theologischer Lehre gerade nach 1300. Nachdem in der jüngeren Forschung deutlich geworden ist, dass Eckharts Denuntiation als Ketzer durch eigene Ordensbrüder Ursprung des ordensinternen Verfahrens des Visitators Nikolaus von Straßburg und dann des Kölner Prozesses war, beweist der Ablauf 42

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Zur Doktorpromotion cf. Koch, Kritische Studien (nt. 11), 260 sqq.; zu den Pariser Quästionen: E´.-H. We´ber, L’argumentation philosophique personelle du the´ologien Eckhart a` Paris en 1302/ 1303, in: Jacobi (ed.), Meister Eckhart (nt. 2), 95-114; cf. R. Imbach, Deus est intelligere. Das Verhältnis von Sein und Denken in seiner Bedeutung für das Gottesverständnis bei Thomas von Aquin und in den Pariser Quaestionen Meister Eckharts (Studia Friburgensia, N. F. 53), Freiburg/Schweiz 1976, und die Beiträge im Sammelband Maıˆtre Eckhart a` Paris. Une critique me´die´vale de l’ontothe´ologie. Les Questions parisiennes n∞ 1 et n∞ 2 d’Eckhart. E´tudes, textes et traductions par E. Zum Brunn, Z. Kaluza, A. de Libera, P. Vignaux et E. We´ber (Bibliothe`que de l’E´cole des Hautes E´tudes; Section des Sciences Religieuses LXXXVI), Paris 1984. LW V, 41, 10 sqq.

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des Lehrzuchtverfahrens an der päpstlichen Kurie in Avignon einerseits, dass er zu den innovativen Denkern seiner Zeit zählte, für die diese Form der Auseinandersetzung mit einer Zensurierung aus Glaubensgründen zum ,Berufsrisiko‘ des mittelalterlichen Intellektuellen gehörte und deshalb den Angehörigen dieses Typus mehrheitlich nicht erspart blieb 44. Andererseits gerät seine tiefe Verwurzelung im Dominikanerorden aus dem Blick, wenn er durch die Arbeit an der Edition seiner Predigttexte nur noch zum predigenden Seelsorger für Laien, insbesondere von Frauengemeinschaften, stilisiert wird. Auf diese Tätigkeit lässt sich das Dasein dieses so prominenten Mitglieds seines Ordens kaum reduzieren. Hatte Eckhart bereits Paris verlassen, als im Sommer 1303 die Wellen der Auseinandersetzung zwischen König Philipp IV. und Papst Bonifaz VIII. hochschlugen? Zwei Ordensbrüder Eckharts aus dem Jakobskonvent, der französische Thomasschüler Jean Quidort und der damals schon prominentere Magister und ordensinterne Thomasgegner Durand de St.-PourcX ain, hatten aus den Reihen der Pariser Dominikaner an vorderster Stelle die Partei des Königs ergriffen, drei andere, der damalige Sententiarius und spätere Generalmagister Hervaeus Natalis ebenso wie der Prior und Subprior des Konvents und der Provinzialprior, leisteten wie insgesamt 133 Angehörige des Konvents am nächsten Tag die Unterschrift, nur 50 Brüder verweigerten diese. Dagegen bemühten sich vornehmlich die Augustinereremiten um eine argumentative Untermauerung des Anspruchs des Papstes auch auf eine potestas directa in temporalibus. Der bereits im September 1303 auf dem ersten Provinzialkapitel in Erfurt gewählte, auf dem Generalkapitel von Toulouse 1304 dann als Provinzialprior der neuen Ordensprovinz Saxonia bestätigte Eckhart war sofort darum bemüht, die Infrastruktur seiner Ordensprovinz zu verbessern 45. Die zweite Erfurter Phase Eckharts zwischen 1303 und 1311 macht deshalb deutlich, welche administrativen Aufgaben er für seinen Orden bereitwillig 44

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Cf. Koch, Kleine Schriften I (nt. 11), pass. (sp. zu Durandus de Sancto Porciano); Courtenay, Inquiry (nt. 4), pass.; Miethke, Der Prozeß (nt. 3), 353-375; Thijssen, Censure (nt. 4); Bianchi, Censure (nt. 4); Lerner, New Evidence (nt. 3); Köpf, Die Ausübung (nt. 4). Zu den politisch-publizistischen Auseinandersetzungen um 1300 mit gewichtiger Beteiligung der führenden Vertreter aller Bettelorden cf. zusammenfassend J. Miethke, De potestate papae. Die päpstliche Amtskompetenz im Widerstreit der politischen Theorie von Thomas von Aquin bis Wilhelm von Ockham (Spätmittelalter und Reformation, N. F. 16), Tübingen 2000; speziell zur Rolle des Pariser Dominikaners Jean Quidort siehe jetzt K. Ubl, Johannes Quidorts Weg zur Sozialphilosophie, in: Francia 30/1 (2003), 43-72. Zur Pariser Universitätssituation in den 90er Jahren cf. H. G. Walther, Aegidius Romanus und Jakob von Viterbo - oder: Was vermag Aristoteles, was Augustinus nicht kann? In: M. Kaufhold (ed.), Politische Reflexion in der Welt des späten Mittelalters. Essays in Honour of Jürgen Miethke, Leiden-Boston 2004, 151-169; zu den Verhältnissen im Pariser Konvent St. Jacques 1303 bei der Abstimmung über die Konzilsforderung König Philipps IV. cf. jetzt W. J. Courtenay, Between Pope and King: The Parisian Letters of Adhesion of 1303, in: Speculum 71 (1996), 577-605, hier: 596-599 (Verhältnisse in St. Jacques). Zum Amtsantritt Eckharts als Provinzial siehe Koch, Kritische Studien (nt. 11), 261 sqq.

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schulterte und durchaus nicht für unvereinbar mit seiner Position als Pariser Theologiemagister ansah. Die schon von den Reisewegen her beschwerliche Teilnahme an den jährlichen Generalkapiteln war noch das wenigste. Der neue Generalmagister Aymerich von Piacenza bestätigte auf dem Pfingstkapitel von Toulouse die Wahl Eckharts als Provinzial und ernannte ihn dann 1307 in Straßburg gleichzeitig zum Generalvikar in der Bohemia mit plenaria potestas. Das bedeutete eine zusätzliche intensive Reisetätigkeit für Eckhart außerhalb der Grenzen seiner Provinz. Reformen innerhalb bestehender und die Errichtung neuer Konvente blieben dort nicht ohne Widerstand, wovon Beschlüsse der Generalkapitel zumindest indirekt Nachricht geben 46. Eckhart kümmerte sich zuvor und danach um die Konsolidierung der eigenen Provinz. Nur wenige Urkunden sind aus seinem Provinzialat erhalten, verraten aber deutlich das Bestreben, neue Konvente zu den bestehenden 44 zu errichten. Von seinem ersten Provinzialkapitel in Rostock als anerkannter Provinzialprior bestätigte er brieflich im September 1305 das Abkommen des Göttinger Konvents mit dem städtischen Rat über die bauliche Ausdehnung der Konventsgebäude. Im folgenden Jahr konnte er die Verlegung des Frauenkonvents von Lahte (bei Loccum) nach Lemgo vermitteln, was wegen des dabei nötigen Wechsels der Diözese von Minden nach Paderborn zusätzliche kirchenrechtliche Schwierigkeiten bot. Bis 1310 folgten unter Eckhart noch Provinzialkapitel in Halle, Minden, Seehausen in der Altmark, Norden und Hamburg. Dabei scheint Eckhart auch gepredigt zu haben, wie zwei doppelt überlieferte Predigttexte zum Fest Mariae Geburt beweisen, also zu den traditionellen Terminen der Provinzialkapitel der Saxonia 47. Die neuen Konvente in Braunschweig, Dortmund und Groningen sind alle offiziell 1310 von Papst Clemens V. genehmigt und vom Generalkapitel in Piacenza in den Orden aufgenommen worden 48. Keine dieser Neugründungen blieb problemlos. Die Zeiten, in denen städtische Räte die Mendikanten mit offenen Armen empfingen, waren inzwischen vorbei. Mendikantenstreite, d. h. Konflikte mit dem Säkular- oder älteren Ordensklerus in den Städten und mit den sorgfältig auf Rendite des städtischen Grundbesitzes achtenden Räten, waren inzwischen fast überall an der Tagesordnung. Auch wenn diesen Konflikten in der Saxonia die großen dogmatischen und ekklesiologischen Dimensionen fehlten, die den Konflikt an der Pariser Universität des 13. Jahrhunderts noch ausgezeichnet hatten, bewiesen sie doch das Vorhandensein von erheblichem 46

47

48

Cf. Koch, Kritische Studien (nt. 11), 265 sqq.; cf. auch Generalkapitel Straßburg 1307 (MOPH IV, 27 = Constit. et Acta [nt. 13], 1011). Cf. Koch, Kritische Studien (nt. 11), 271 sqq.; zu den Verhältnissen in der Saxonia im frühen 14. Jh. siehe H. Finke, Zur Geschichte der deutschen Dominikaner im XIII. und XIV. Jahrhundert, in: Römische Quartalsschrift 8 (1894), 369-392 (370 sqq.: Provinzialkapitel). Cf. Koch, Kritische Studien (nt. 11), 273 sqq.

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Konfliktpotential, das sich ein Provinzialprior zu Gunsten seines Ordens auszuräumen bemühen musste 49. Von einer Aufgabe, der sich Eckhart als Generalprior der Saxonia zu stellen hatte, ist in der bisherigen Forschung merkwürdigerweise noch nie die Rede gewesen: nämlich von der Errichtung eines neuen Generalstudiums in der Saxonia, das nach den Beschlüssen von BesancX on nun fällig wurde. Über welche Studienstruktur die alte Teutonia im Bereich der Nationen der nun von ihr abgetrennten neuen Saxonia verfügte, wissen wir wenig Konkretes, da bis auf das von Heinrich Finke entdeckte und 1894 publizierte Fragment aus den Jahren 1284 bis 1288 die Akten der Provinzialkapitel als verloren gelten müssen. Nur wenig ist zusätzlich aus chronikalischen Berichten und sonstiger Ordensüberlieferung zu erheben. Vom 15. Jahrhundert her wissen wir, dass die Dominikaner der Saxonia dann sowohl in Erfurt wie in Magdeburg ein Generalstudium unterhielten. Magdeburg war wie Bremen als Konvent einige Jahre älter als Erfurt, Lübeck wohl gleich alt 50. Dennoch fand die Wahl des ersten Provinzialpriors der Saxonia in Erfurt statt, was zumindest als indirektes Indiz für die Stellung und Bedeutung dieses Dominikanerkonvents für die neue Provinz gelten kann. Der bis zur Wahl Eckharts in BesancX on einstweilen als Vikar eingesetzte Ordensbruder Walter stammte ebenfalls aus dem Erfurter Konvent 51. Gab es unter Eckhart als erstem Provinzial bereits eine Art Präjudiz für Erfurt als Standort des Generalstudiums der Saxonia oder ist unter ihm wie in der Amtszeit seiner Nachfolger Johann von dem Busche (zuvor Prior in Minden) und Heinrich von Lübeck das Generalstudium öfter zwischen Erfurt, Magdeburg und Leipzig gewandert? Direkte Quellenzeugnisse sind nicht vorhanden 52. Doch sind die Indizien für eine von Anfang an vorherrschende Rolle Erfurts recht vielversprechend. Dabei dürfte das zu Beginn des 14. Jahrhunderts bereits voll ausgebaute Schulsystem Erfurts, das mit seiner Schulordnung von 1282 für 49

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51 52

Dazu Koch, ibid., 273 sqq. (freilich ohne die von der jüngeren Lokalforschung erhobenen Befunde schon einbeziehen zu können). Zum Verhältnis von Dominikanerkonvent und Stadtbevölkerung in der westfälischen Bischofsstadt Minden siehe nun B. Schlipköther, Klerikerwissen und Stadtgesellschaft. Die Dominikaner in Minden von 1236 bis 1530, in: Mitteilungen des Mindener Geschichtsvereins 69 (1997), 85-148; K. P. Schumann, Petrus Comestor und Petrus Lombardus in Minden? Prolegomena zu einer Geschichte der dominikanischen Partikularstudien im spätmittelalterlichen Westfalen, in: Manipulus Florum. Aus Mittelalter, Landesgeschichte, Literatur und Historiographie. FS für P. Johanek, Münster 2000, 151-169. Cf. Finke, Zur Geschichte (nt. 47), 376-379 (Fragment eines Provinzialkapitels der alten Teutonia von 1284-1288), 370 (Liste der ältesten Konvente der Saxonia); cf. P. von Loe¨, Statistisches über die Ordensprovinz der Saxonia (Quellen und Forschungen zur Geschichte des Dominikanerordens IV), 1910, 11 sq. Cf. Koch, Kritische Studien (nt. 11), 262. Cf. Schlipköther, Klerikerwissen (nt. 49), 115 (zum zwischen Magdeburg, Leipzig und Erfurt ,wandernden‘ Generalstudium der Saxonia ohne Nachweis); ihm folgend Schumann, Petrus Comestor (nt. 49), 154 (Nebeneinander von Magdeburg und Erfurt). Quelle dürfte von Loe¨ (nt. 50), 7-14, sein, dort jedoch ebenfalls ohne zwingenden Nachweis.

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die drei verbundenen Schulen am Reglerstift, an S. Marien und an S. Zephire eine Institution darstellte, die als Studium generale Erffordense die Grundlage für die spätere Universitätsgründung darstellte, gar nicht die entscheidende Rolle gespielt haben. Vielmehr ist auffallend, dass schon das von Finke entdeckte ältere Fragment des Provinzialkapitels von 1379 in Erfurt zwar die Verteilung der Lectores und Sublectores und ihrer Studenten auf die Partikularstudien und die Orte der Studia phylosophiae und Studia arcium in der Saxonia detailliert aufführt, aber kein Studium generale nennt. Für Magdeburg ist mit einem Lector principalis und einem Baccalarius sententiarum sowie einem Studentenmagister das typische Lehrpersonal eines Partikularstudiums benannt. Erfurt wird aber gar nicht aufgeführt, darf daher als Ort des Generalstudiums angenommen werden, über dessen Lehrpersonal und Studenten vom Kapitel 1379 nicht zu beschließen war. Es wäre noch anzumerken, dass damals gerade der erste Versuch der Erfurter angelaufen war, aufgrund des in Avignon erlangten päpstlichen Privilegs in der Stadt eine allgemein anerkannte Universitas magistrorum et scholarium einzurichten. Die theologische Fakultät des zweiten Anlaufs von 1392 wird dann im Wesentlichen aus der Inkorporation der vier Bettelordensgeneralstudien bestehen und damit das Kölner Modell imitieren. Wichtiger als Faktor für die Rekonstruktion der Frühgeschichte des Generalstudiums der Dominikaner in Erfurt scheint mir die von Sönke Lorenz herausgearbeitete curriculare Ausrichtung des dortigen Artistenstudiums auf die Pariser Universität zu sein. Hier ergeben sich zwanglos Verbindungen zur Ausrichtung der dominikanischen Artistenschulen und der Generalstudien nach der Durchsetzung der ordensinternen Studienreform bis ins frühe 14. Jahrhundert, wie sie die fortlaufenden Beschlüsse der damaligen Generalkapitel beinhalten 53. Es scheint nur eine Bestätigung dieser Querverbindung zu sein, dass um 1359 der aus Magdeburg als Cursor nach Erfurt gekommene Dominikaner Johannes von Stendal für die Erfurter Artisten eine astrologische Vorlesung über das Anfängerlehrbuch des al-Qubaisi hält 54. Offenbar hat sich die Forschung bislang bei der Vorgeschichte der Erfurter Universität zu sehr auf die artistischen Schulen der Stadt konzentriert. Stärkere Gewichtung sollten dagegen die drei für die Existenz eines dominikanischen theologischen Generalstudiums wichtigen, weil die Rahmenbedingungen seiner Entwicklungsmöglichkeiten bestimmenden Faktoren finden, nämlich die Stadt Erfurt, der Dominikanerkonvent in der Stadt und die Frühgeschichte der Uni53

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Cf. S. Lorenz, Studium Generale Erffordense. Zum Erfurter Schulleben im 13. und 14. Jahrhundert, Stuttgart 1989; id., Das Erfurter ,Studium generale artium‘ - Deutschlands älteste Hochschule, in: U. Weiß (ed.), Erfurt 742-1992, Stadtgeschichte - Universitätsgeschichte, Weimar 1992, 123-134; cf. P. Moraw, Die ältere Universität Erfurt im Rahmen der deutschen und europäischen Hochschulgeschichte, in: U. Weiß (ed.), Erfurt, Geschichte und Gegenwart, Weimar 1995, 189-205; Finke, Zur Geschichte (nt. 47), 383 sqq. (Studia in der Saxonia), 382 (Dispens für die ,fratres actu regentes in studio generali‘ der Saxonia). Cf. Lorenz, Studium (nt. 53), 155.

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versität Erfurt 55. Meister Eckhart als Gründer des Erfurter Generalstudiums seines Ordens scheint kein bloßer schöner Wunsch oder bloße Konstruktion zu sein. Der Meister zeigt damit völlig neue Facetten seiner ordensinternen Wirksamkeit, die aber ebenso wie sein Predigtwerk und literarisch-wissenschaftlicher Nachlass untrennbarer Teil seiner dominikanischen spirituellen Identität sind. Ex eventu besteht natürlich eine Neigung der Forschung, schon recht früh bei Eckhart eine Distanzierung vom theologischen Mainstream, sowohl seines Ordens wie außerhalb desselben, zu postulieren und in seinem Werk dann auch aufzufinden. Bei den Dominikanern lassen sich jedoch über persönliche Kontroversen hinaus, die sich letztlich bis zur Kölner Denuntiation entwickelten, keinerlei Indizien für eine Distanzierung vom prominenten Ordensmitglied auf regionaler Ebene oder auf der des Gesamtordens finden. Die Wahl Eckharts durch das Kapitel der Teutonia von 1311 zu ihrem neuen Provinzial zeigt, welche administrativen Fähigkeiten man ihm zutraute. Dass der Gesamtorden diese Wahl annullierte und stattdessen Eckhart für höhere Zwecke vorsah und ihn auf dem Generalkapitel von Neapel mit einem zweiten Magisterium in Paris beauftragte, macht deutlich, von welchem Vertrauen Eckhart zu dieser Zeit in seinem Orden getragen wurde. Die damalige Situation in der Pariser Theologie, die Auseinandersetzungen über Lehren von Ordensangehörigen schienen durch die Entsendung Eckharts auf den Pariser Lehrstuhl für Auswärtige entschärft werden zu können. Der Bischof von Paris, Guillaume de Baufet d’Aurillac, hatte nach dem Beginn seines Pontifikats 1304 keine glückliche Rolle im Prozess gegen den gerade erst zum Doktor der Theologie promovierten Pariser Dominikaner Jean Quidort bewiesen, der sich freilich mit seiner in Quodlibets vorgetragenen Eucharistielehre exponiert hatte. Der Bischof hatte auf Betreiben des alten Gegners von Quidort aus dem Konflikt zwischen Philipp IV. und Bonifaz VIII., des Augustinereremiten Aegidius Romanus, der inzwischen zum Erzbischof von Bourges aufgestiegen war, über den Dominikaner ein Lehrverbot verhängt und ihn seines Magisteramts entsetzt. Quidort hatte daraufhin an Papst Clemens V. appelliert, war aber vor einer Urteilsverkündigung 1306 an der Kurie in Bordeaux verstorben. Kaum war Eckhart 1313 aus Paris in die Teutonia zurückgekehrt, brach an der Universi55

Diese Bereiche wurden inzwischen durch Dissertationen von Jenaer Nachwuchshistorikern untersucht: cf. St. Wolf, Erfurt im 13. Jahrhundert. Städtische Gesellschaft zwischen Mainzer Erzbischof, Adel und Reich (Städteforschung A 67), Köln-Weimar-Wien 2005, und R. Gramsch, Erfurter Juristen im Spätmittelalter. Die Karrieremuster und Tätigkeitsfelder einer gelehrten Elite des 14. und 15. Jahrhunderts, Leiden-Boston 2003. Letztere Studie wird in Kürze durch eine Monografie über die Gründungsgeschichte der Erfurter Universität ergänzt. Auch die Analyse der Entwicklung des Erfurter Dominikanerkonvents anhand der unterschätzten Handschrift des sog. Erfurter Totenbuchs in der Doktorarbeit Gunther Felkels steht kurz vor dem Abschluss.

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tät ein neuer Konflikt aus, diesmal innerhalb des Dominikanerordens. Der junge Durandus von St. PourcX ain hatte in seinem Sentenzenkommentar noch vor 1307 Lehren des gerade zum Ordenslehrer erhobenen Thomas von Aquin angegriffen, geriet deshalb nach 1313 auf zwei vom Ordensgeneral Hervaeus Natalis autorisierte Irrtumslisten, war aber zuvor 1312 (also während des zweiten Pariser Magisteriums Eckharts) in Paris zum Doktor der Theologie promoviert worden. Durandus brachte es zunächst zum Lector sacri palatii an der päpstlichen Kurienuniversität und 1317, 1318 u. 1326 zu drei verschiedenen Bischofssitzen. Zu den damaligen innerdominikanischen Kontroversen gehört auch diejenige zwischen dem zum Kardinal aufgestiegenen Ordenstheologen Wilhelm Petrus de Godino und dem 1314 in Paris promovierten Kanonisten und Theologen Pierre de la Palu, der inzwischen zum Titularpatriarchen von Jerusalem erhoben worden war 56. Angesichts dieser Turbulenzen um Ordenstheologen und im Orden selbst könnte das zweite Pariser Magisterium Eckharts von der Ordensleitung selbst als Beruhigung gedacht gewesen sein, bevor dann der neue Generalmagister Hervaeus Natalis selbst die Kontroverse durch die Auseinandersetzungen mit dem doctor modernus Durandus von St. PourcX ain aus dem eigenen Orden anheizte. Auch wenn über den Aufenthalt Eckharts an der Kurie nur wenige Zeugnisse vorliegen, scheint doch der Generalmagister Barnabas Cagnoli von Vercelli Eckhart bis zum Schluss nicht fallen gelassen, die Distanzierung und das Vorgehen gegen die Anhänger des Magisters erst seit dem Generalkapitel von Toulouse 1328 eingesetzt zu haben 57. Der Kölner Prozess und das Avignonesische Verfahren scheinen jedenfalls das Bild Eckharts nicht überall im Orden nachhaltig verdunkelt zu haben. Über sein Provinzialat wurde in Deutschland notiert: „Anno domini MCCCIII in capitulo provincialo apud Erphordiam fuit electus primus provincialis Saxonie magister Echardus, qui fuit absolutus apud Neapolim a. d. MCCCXI et missus Parisius ad legendum.“ Provinzialat nach der Wahl in Erfurt und Lehrtätigkeit in Paris, dies scheint in dieser Perspektive das Bleibende an Eckhart zu sein. Aus der Sicht der Historiografie des Gesamtordens dreht sich das Verhältnis von Paris und Erfurt verständlicherweise um: „Frater Aycardus Theutonicus fuit licentiatus anno domini MCCCII. Hic fuit confirmatus in priorem provincialem Saxonie in generali capitulo Tholosano, anno domini MCCCIV.“ 58 Wie das Verhältnis von Erfurt und Paris sich im Werk des Meisters darstellt, wird diese Tagung noch zu ergründen haben. 56

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58

Zusammenfassend über diese Kontroversen zuletzt Miethke, Der Prozeß (nt. 3); L. Bianchi, Ordini mendicanti e controllo ,ideologico‘: il caso delle province domenicane, in: Studio e studia (nt. 13), 303-338. Bei Thijssen, Censure (nt. 4), ist dieser Komplex leider ausgeklammert. Cf. die perspektivreichen Überlegungen W. Trusens zu den Nachwirkungen des Avignonesischen Urteils in: id., Zum Prozeß (nt. 5), 23 sqq. Deutsche ordensgeschichtliche Quelle (Brevis Historia), cit. Finke, Zur Geschichte (nt. 47), 371, u. J. Koch, Kritische Studien (nt. 11), 262; Magistri in theologia Parisius (13./14. Jh.), ed. H. S. Denifle, in: id., Quellen zur Gelehrtengeschichte des Predigerordens im 13. und 14. Jahrhundert, in: Archiv für Litteratur- und Kirchengeschichte des Mittelalters 2 (1886), 165-248, hier: 211.

Theophilus von Stotternheim OP und der zornige Petrus ein Erscheinungsbericht aus dem Erfurter Dominikanerkloster aus der Zeit Meister Eckharts Gunther Felkel ( Jena) I. „Nur aus Individualisierung erwächst persönliche Betroffenheit“ - diese Überzeugung, mit der vor einiger Zeit eine Sammlung historisch-biographischer Essays eröffnet wurde 1, führt zu einer zentralen Frage der Vergegenwärtigung historischer Dimensionen und Zusammenhänge, die indes sehr unterschiedlich gewichtet und beantwortet werden kann. Nimmt man jedoch dieses Diktum in dem Versuch ernst, über das Schicksal des historischen Individuums hinaus auch die Folie, vor der sich dieses Schicksal ereignete, in ihren einzelnen Konturen dem Betrachter deutlicher vor Augen treten zu lassen, so birgt diese Verbindung eines Individuums mit historischen Strukturen und Mentalitäten einen nicht zu unterschätzenden Zugewinn an Verständnis für vergangene Zeitläufte und deren Wirkmächtigkeit bis in die heutige Zeit. Dies gilt für Meister Eckhart im Besonderen, erscheint doch in der Perspektive auf sein Leben eine in vielem einzigartige Persönlichkeit in einer Vielzahl von zeittypischen Lebensvollzügen. Allerdings stößt man bei Personen aus der Zeit des ausgehenden Hochmittelalters vielfach auf Fragen und Probleme, die aufgrund der lückenhaften Quellenlage häufig nicht beantwortet und gelöst werden können. Auch für Eckhart von Hochheim gilt dieser Befund, vor allem für seine frühen Jahre, die Zeit seiner Jugend im Erfurter Dominikanerkonvent. Verfügen wir aufgrund verschiedener Quellen für die Zeit ab Mitte der 90er Jahre des 13. Jahrhunderts über ein Datengerüst, das verschiedene Lebensstationen Eckharts in Köln, Paris, Thüringen und Straßburg plastisch vor Augen treten lässt, ist indes über seine Erfurter Zeit nur wenig bekannt 2. So sind selbst kleinste 1

2

W. Goez, Gestalten des Hochmittelalters. Personengeschichtliche Essays im allgemeinhistorischen Kontext, Darmstadt 1983, X. Zur Biographie von Meister Eckhart cf. J. Koch, Kritische Studien zum Leben Meister Eckharts, in: Archivum fratrum Praedicatorum 29 (1959), 5-51. Wiederabdruck in: id., Kleine Schriften I (Storia e letteratura; Raccolta di studi e testi 127), Rom 1973, 247-347. Daneben W. Trusen, Der Prozeß gegen Meister Eckhart. Vorgeschichte, Verlauf und Folgen (Rechts- und staatswissenschaftliche Veröffentlichungen der Görres-Gesellschaft, N. F. 54), Paderborn 1988; und K. Ruh, Meister Eckhart. Theologe, Prediger, Mystiker, München 1985. Jüngst auch K. Jacobi (ed.), Meister Eckhart: Lebensstationen - Redesituationen (Quellen und Forschungen zur Geschichte

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Hinweise willkommen, die den Kontext zum Leben des gelehrten Dominikaners in seiner Erfurter Zeit deutlicher hervortreten lassen, liegt doch dieser Lebensabschnitt Eckharts aufgrund der desolaten Quellenlage zum Predigerkloster und -konvent in Erfurt immer noch weitestgehend im Dunkeln 3.

II. Als Stadtherr von Erfurt besaß der Mainzer Erzbischof Herrschaftsrechte über eine der bedeutendsten mitteldeutschen Handelsmetropolen, in der seit dem ersten Drittel des 13. Jahrhunderts auch die neuen Bettelorden, und unter ihnen die Dominikaner, ihre Niederlassungen gründeten 4. Im Verlauf der folgenden Generationen entwickelte sich der Dominikanerkonvent aus bescheidenen Anfängen zu einer angesehenen und für das geistlich-religiöse Leben der Stadt attraktiven Institution, deren Bedeutung allerdings oft nur indirekt zu erschließen ist. Am auffälligsten erscheint der eindrucksvolle und Anfang der 1270er Jahre bis zum fünften Joch fertiggestellte Oratoriumsbau 5. Dieser nicht nur für die Dominikaner und nicht nur für Mitteldeutschland exemplarische Sakralbau hat zusammen mit dem südöstlich angrenzenden Konventsgebäude

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des Dominikanerordens, N. F. 7), Berlin 1997; und K.-B. Springer, Die Reisen Meister Eckharts, in: H. Eidam/I. Thom/U. Spannaus (eds.), homo doctus - homo sanctus. Wer ist Meister Eckhart? Katalog der Ausstellung, Erfurt 2003, 47-53. Besonders nachteilig für die Überlieferung wirkten sich die Ereignisse im Zuge der reformatorischen Bewegung in Erfurt aus. So ging Anfang der 1520er Jahre der Kirchenbau und 1591 das gesamte Klosterareal in den Besitz des Erfurter Rates über; cf. K.-B. Springer, Die deutschen Dominikaner in Widerstand und Anpassung während der Reformationszeit (Quellen und Forschungen zur Geschichte des Dominikanerordens, N. F. 8), Berlin 1999, 104-124. Im Verlauf dieser Entwicklungen konfiszierte der Erfurter Rat innerhalb einer gegen alle geistlichen Institutionen Erfurts breit angelegten Aktion vermutlich auch die beweglichen Wertgegenstände des Predigerklosters - so die Klage, dass „alle closter in Erffurt ausgespulet und irer clinodien […] beraubet“ waren, in einem Schreiben der Erfurter Stiftsgeistlichkeit von S. Marien und S. Severi an den Mainzer Erzbischof Kardinal Albrecht von Brandenburg; cf. F. Günther/W. P. Fuchs (eds.), Akten zur Geschichte des Bauernkriegs in Mitteldeutschland, vol. II (Schriften der Sächsischen Kommission für Geschichte 44), Jena 1941, no. 1604. Schon 1522 hatten Vertreter des Rates ein Inventarium über den Besitz des Erfurter Predigerklosters anfertigen lassen, Magdeburg, Landeshauptarchiv Sachsen-Anhalt, Rep. A 37b I, II, XVIII, Nr. 5; cf. Springer, ibid., 106. Der bei Springer nachgezeichnete personelle und institutionelle Niedergang des Erfurter Predigerkonventes begünstigte darüber hinaus diesen Prozess. Zu Erfurt cf. U. Weiß, Sedis Moguntinae filia fidelis? Zur Herrschaft und Residenz des Mainzer Erzbischofs in Erfurt, in: V. Press (ed.), Südwestdeutsche Bischofsresidenzen außerhalb der Kathedralstädte (Veröffentlichungen der Kommission für geschichtliche Landeskunde in BadenWürttemberg, Reihe B: Forschungen 116), Stuttgart 1992, 99-131. Daneben M. Gockel, Erfurts zentralörtliche Funktionen im frühen und hohen Mittelalter, in: U. Weiß (ed.), Erfurt. Geschichte und Gegenwart, Weimar 1995, 81-94. Cf. T. Nitz, Das Stifterbuch des Erfurter Predigerklosters als Quelle für die Baugeschichte der Predigerkirche, in: Mitteilungen des Vereins für die Geschichte und Altertumskunde von Erfurt 62, N. F. 9 (2001), 71-101, hier: 89.

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die Umbrüche des reformatorischen Zeitalters überdauert. Nicht überliefert hat sich indes die Mehrzahl der schriftlichen Zeugnisse der Erfurter Dominikaner. Und auch die wenigen, vielfach kopial überlieferten Quellen bieten nur eine schmale Basis für die Frühgeschichte und die Geschichte der folgenden Jahrzehnte des Konventes 6. Erkennbar wird jedoch eine mendikantische Gemeinschaft, deren Mitglieder in einem weit gespannten Beziehungsgeflecht zwischen Erzbischof und Klerusvisitation, zwischen Kontakten zum Adel und zu Erfurter Patriziern, zwischen Sorge um Semireligiose und Seelsorge in Frauenklöstern bis über die Bistumsgrenzen hinweg erscheinen. Ein Blick in das Innenleben des Konventes bleibt uns jedoch - abgesehen von Namensnennungen einzelner Konventsmitglieder - im Großen und Ganzen verwehrt. Nähere Aufschlüsse könnten wir aus konventsinternen Quellen wie Konventslisten in Nekrologien oder Totenbüchern erwarten. Doch diese haben sich nicht erhalten. So wissen wir nicht zuletzt auf Grund dieser fragmentarischen Überlieferungslage bekanntermaßen nichts über die Erfurter Jahre Meister Eckharts, sein Noviziat, seine Jahre als Frater, Lektor oder Prior. 6

Im Zuge der Auflösung des Klosters gelangten die schriftlichen Quellen, soweit sie nicht durch den personellen Niedergang des Konventes schon vorher verloren gegangen waren, in die Hände des Erfurter Rates und somit in das städtische Archiv von Erfurt. Dort finden sich noch heute wenige Stücke; cf. Stadtarchiv Erfurt, Rep. 0-1 (Urkunden, Alter Bestand), besonders in Rep. 0-1/IV, Rep. 0-1/V und Rep. 0-1/VII. Infolge der preußischen Herrschaft über Erfurt im 19. Jahrhundert wurden einige dominikanische Archivalien in das damalige preußische Archiv nach Magdeburg verbracht, wobei einige Stücke heute auch in der Außenstelle Wernigerode zu finden sind; cf. Landeshauptarchiv Sachsen-Anhalt Magdeburg, Rep. Cop. 1519 (Copiar des Erfurter Predigerklosters), Rep. Cop. 1520 (Transsumpta Bullarum Apostolicarum de Privilegiis fratrum Ordinis Praedicatorum); ibid., Außenstelle Wernigerode, Rep. A 37b I, II, XVIII, Nr. 5 (Acta miscellanea betr. das Predigerkloster zu Erfurt); ibid., Rep. A 37b I, II, XVIII, Nr. 22c, 185 (Acta des Dominikanerklosters zu Erfurt); ibid., Rep. U 15 (Stifte, Klöster in Erfurt), darin VI: Predigerkloster (1276-1584). Cf. B. Schwineköper (ed.), Gesamtübersicht über die Bestände des Landeshauptarchivs Magdeburg, 2 vol. (Quellen zur Geschichte Sachsen-Anhalts 1 und 3), Halle 1954 und 1955, hier: vol. I, 41 sq. (Rep. U 15) u. vol. II, 406-418 (Rep. 37a und Rep. 37b I). Einzelstücke finden sich auch im Bistumsarchiv Erfurt, im Thüringischen Hauptstaatsarchiv Weimar und im Sächsischen Hauptstaatsarchiv Dresden. Ein ,Liber actorum‘ (sog. ,Totenbuch‘) verwahrt die Evangelische Predigergemeinde von Erfurt in ihrem Archiv; cf. dazu K.-H. Meißner, Totenbuch des Dominikanerklosters, in: J.-H. Bruns e. a., Schätze aus Erfurter Kirchen. Galerie am Fischmarkt Erfurt 20. 06.-06. 09. 1992. Eine Ausstellung zum 1250jährigen Bestehen der Stadt Erfurt. Katalog, Erfurt 1992, 183. Von der vermutlich reichhaltigen Klosterbibliothek fehlt jede Spur, auch die liturgischen Bücher haben sich anscheinend nicht erhalten - im Inventarium von 1522 werden noch insgesamt 22 Messbücher erwähnt, darunter ein mit Silber und Edelsteinen verziertes ,Evangelienbuch‘ (Evangeliar oder Evangelistar?); cf. Magdeburg, Landeshauptarchiv Sachsen-Anhalt, Außenstelle Wernigerode, Rep. A 37b I, II, XVIII, Nr. 5, foll. 1r-4v, hier: fol. 1r-v. Jeweils einen Codex Erfurter dominikanischer Provenienz konnte Sigrid Krämer in Basel und in Budapest nachweisen; cf. S. Krämer, Mittelalterliche Bibliothekskataloge Deutschlands und der Schweiz. Ergänzungsband 1: Aachen-Kochel, München 1989, 114. Cf. für eine gut dokumentierte dominikanische Bibliothek nördlich der Alpen den Bücherbestand des ehemaligen Basler Dominikanerklosters: P. Schmidt, Die Bibliothek des ehemaligen Dominikanerklosters in Basel, in: Basler Zeitschrift für Geschichte und Altertumskunde 18 (1919), 160-254.

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Um 1300 leitete Eckhart als Prior einen Dominikanerkonvent, der sich seit 1229 mit Unterstützung durch den Mainzer Metropoliten und mit Hilfe thüringischer Adelsfamilien und Erfurter Bürger im Verlauf von vier Jahrzehnten innerhalb der Mauern Erfurts fest etabliert hatte und dessen Brüder ihre Aktivitäten in einem sich weit über das gesamte östliche Thüringen ausdehnenden Terminierbezirk entfalteten 7. Über die Größe des Konventes, seine innere Struktur, seine Beziehungen zur laikalen Außenwelt wie auch zum weltlichen und Ordensklerus dieser Zeit ist jedoch nur sehr wenig bekannt. So scheint die allgemeine Kenntnis aller Überlieferungen aus dieser Zeit zu den Erfurter Dominikanern umso dringlicher, auch wenn im Einzelnen weiterhin viele Fragen offen bleiben sollten. In einer der wichtigsten noch erhaltenen Quellen aus dem Erfurter Predigerkloster, dem sog. Totenbuch der Erfurter Dominikaner, das nach einer langen Odyssee schließlich vor 140 Jahren den Weg wieder an seinen ursprünglichen Ort und in den Besitz der Evangelischen Predigergemeinde gefunden hatte 8, findet sich eine Notiz, die im Zusammenhang mit Meister Eckhart in Erfurt unsere Aufmerksamkeit erregt, bietet sie doch an ihrem Ende die Datierungsangabe ,1303‘ 9. Diese Jahreszahl findet sich in einem allerdings durch eine fast völlig verblasste Schrift nur schwer zu entziffernden Bericht auf fol. 39r von der Hand eines Schreibers des späten 16. Jahrhunderts, in dem ein Erfurter Dominikaner das folgende persönliche Erlebnis mitteilt 10: Eines Nachts, als er aufgrund der Predigt eines Konventsmitgliedes, dessen Namen er uns leider nicht mitteilt, über die „Beschaffenheit des Fegefeuers“ durch „einige Gemütsunruhe“ keinen Schlaf finden konnte und seine Gedanken umherschweiften, geriet er in Zweifel, ob es sich bei den Vorstellungen über das Fegefeuer nicht bloß um ein ens ratione oder eine idea platonica handele. Von diesen Zweifeln arg bedrängt, wandte er sich im Gebet an die Heiligen, besonders aber an Petrus, 7

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Ihre Anfänge nahm die Niederlassung der Predigerbrüder in Erfurt am Ende der 1220er Jahre im südlichen Teil der Stadt am linken Ufer des ,Breitstromes‘ in unmittelbarer Nähe der Kirche S. Pauli. Dort errichteten die Dominikaner anscheinend unter der Leitung eines aus Nordthüringen stammenden Ordensbruders - Elgers von Honstein - ihre ersten Konventsbauten. Mit der Unterstützung durch verschiedene Zuwendungen gelang es ihnen endgültig 1269, über eine Stiftung und einen Grundstückstausch ein geschlossenes Klosterareal abzustecken. Cf. dazu G. Felkel, Das Erfurter Predigerkloster im 13. Jahrhundert, Jena 1997 (Dipl. Ms.); T. Nitz, Das Stifterbuch des Erfurter Predigerklosters als Quelle für die Baugeschichte der Predigerkirche, in: Mitteilungen des Vereins für die Geschichte und Altertumskunde von Erfurt 62, N. F. 9 (2001), 71-101; T. Berger, Die Bettelorden in der Erzdiözese Mainz und in den Diözesen Speyer und Worms im 13. Jahrhundert (Quellen und Abhandlungen zur mittelrheinischen Kirchengeschichte 69), Mainz 1995, 51 sq. Zum Terminierbezirk demnächst T. Nitz in der Zeitschrift des Vereins für Thüringische Geschichte 57 (2003). Cf. A. Zacke, Über das Todtenbuch des Dominikaner-Klosters und die Prediger-Kirche zu Erfurt, Erfurt 1861. Cf. das sog. Totenbuch der Erfurter Dominikaner, Archiv der Evangelischen Predigergemeinde Erfurt, ohne Signatur, fol. 39r-v, hier: 39r. Eine vollständige Edition des Textes wird im Rahmen meines Dissertationsprojektes ,Das sogenannte Totenbuch der Erfurter Dominikaner - Edition und Kommentar‘ in nächster Zeit veröffentlicht.

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der als „Himmelspförtner es […] doch am besten wissen würde“, und versprach dem Schlüsselträger, so viele Wachslichter zu stiften, wie es Tage im Jahr gäbe, damit Petrus ihm aus diesen Zweifeln heraushelfe. Wie er nun „diese Worte ausgeredet“, das heißt die Gebetsbitte gesprochen hatte, sah er (wie er berichtet) „einen alten Mann mit einem goldenen Schlüssel […] hereinkommen“. Unser dominikanischer Gewährsmann „erschrak“ daraufhin - so fährt er fort - „über alle Maßen sehr, erholte [sich] […] doch bald wieder und gedachte, es würde gewiß Sankt Petrus sein, welcher [seiner] […] Bitte“ nachgekommen wäre und „gewiß Nachricht von der Beschaffenheit des Fegefeuers mitteilen wolle. Er [das heißt der Apostel Petrus] aber [wandte] […] sich mit einem ernsten und ganz zornigen Gesicht zu“ unserem Berichterstatter „und […]“ - hier endet die Seite und der Text bricht unvermittelt ab. Wendet man das Folio, so findet man auf der Rückseite oben links beginnend einen Nachtrag von gleicher Hand mit folgendem Wortlaut: „Nova Mirabilia oder neue Zeitung aus dem Fegefeuer, worin die eigentliche Beschaffenheit wie jetziger Zustand des Fegefeuers wie auch der vortreffliche Nutzen der Seelmessen, Weihwassers, Ablasses, letzter Ölung und dergleichen herrlichen und köstlichen Sachen mehr gründlich und richtig beschrieben würde. Allen eifrig Römisch Katholischen zu sonderbarem Gefallen auch [als] notwendige […] und hochtröstliche […] Nachricht, geoffenbart durch Theophilum Stutterheim, Predigermönch in Erfurt A[nn]o 1303.“

Hier endet der Nachtrag, der Rest der Seite ist leer. „Im Jahre 1303“ - dieser Nachsatz weckt Interesse, war dies doch - wie wir wissen - im Zusammenhang mit der Etablierung der sächsischen Ordensprovinz und dem Ausbau der Studien im Erfurter Konvent eine ereignisreiche Zeit für den Orden der Predigerbrüder nördlich der Alpen und besonders auch für die Erfurter Dominikaner. Aus dieser Zeit und diesem Umfeld stammt nun, glaubt man der über 250 Jahre später verfassten Nachricht, der überlieferte fragmentarische Bericht über die Petruserscheinung, wobei zugleich über diese große Zeitspanne hinweg der Name des Visionärs explizit genannt wird 11. Dies verwundert, finden sich doch in der Sammelhandschrift, in der wir diese Nachricht finden - dem so genannten Totenbuch -, nur wenige Hinweise auf Konventsmitglieder des Erfurter Dominikanerklosters. Weniger als 25 Namen von Prioren, Subprioren, Lektoren und einzelnen Magistri finden sich vor allem in den Abschriften von Bruderschaftsverträgen zwischen dem Erfurter Predigerkonvent und verschiedenen Handwerksgesellschaften Erfurts aus dem 15. und 16. Jahrhundert, die in ihrer Gesamtheit den zweiten großen Komplex der Handschrift darstellen. Daneben enthält das Totenbuch eine Reihe illuminierter Stifterverzeichnisse, die nach bestimmten Kriterien, wie beispielsweise Stiftun11

Zu Visionen und Erscheinungen cf. P. Dinzelbacher, Erscheinung, in: Lexikon des Mittelalters, vol. 3, München-Zürich 1986, 2185 sq.; id., Himmel, Hölle, Heilige. Visionen und Kunst im Mittelalter, Darmstadt 2002, 14-17. Zu den von Erscheinungen abzugrenzenden Visionen cf. E. Benz, Die Vision. Erfahrungsformen und Bilderwelt, Stuttgart 1969; P. Dinzelbacher, Vision und Visionsliteratur im Mittelalter (Monographien zur Geschichte des Mittelalters 23), Stuttgart 1981; id., Mittelalterliche Visionsliteratur. Eine Anthologie, Darmstadt 1989.

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gen einzelner Familien oder Zuwendungen verschiedener adliger Kreise, zusammengestellt wurden. In diesen Listen findet sich kein einziger Name eines Konventsmitgliedes. Eine separat überlieferte Liste verstorbener Dominikaner sucht man ebenso vergebens. Nach der Abschrift eines jener Bruderschaftsverträge - dem des Schmiedehandwerks -, die noch die ersten fünf Zeilen der Seite füllt, folgt der unser Interesse weckende Eintrag der Petruserscheinung. Dieser bricht nun - man mag meinen an der spannendsten Stelle - unvermittelt ab, auf ihn folgt der genannte Nachtrag von gleicher Hand mit Namensnennung und Datierung. Der Abbruch erfolgt dabei so plötzlich, dass der Eindruck entsteht, der Schreiber sei in seiner Arbeit gestört worden und später nicht mehr im Stande gewesen, den Bericht zu vollenden. Indes erweckt die Sprache des Eintrages im Zusammenhang mit der angegebenen Datierung von 1303 einiges Misstrauen. Sie ähnelt nicht der mitteldeutschen Sprachvariante des 13. und 14. Jahrhunderts. Die einzelnen Formulierungen und Wörter, ganz abgesehen von der Orthographie und Grammatik, zeigen vielmehr eine zeitliche Übereinstimmung zwischen dem paläographischen Befund - einer Schrift des ausgehenden 16. Jahrhunderts und der zu dieser Zeit auftretenden Schriftsprache 12. Die Längen im Satzbau könnten indes auch auf eine lateinische Vorlage verweisen. Hat hier ein Gelehrter einen älteren, lateinisch verfassten Bericht übersetzt, wurde jedoch unterbrochen, verlor das Original und konnte somit nur noch den historiographischen Nachsatz anfügen? Alles dies lässt sich nur vermuten, und in gleichem Maße, wie sich die stark verblasste Schrift vor den Augen des Lesers verbirgt, scheint sich die Textpassage weiteren nachprüfenden Analysen entziehen zu wollen. Allerdings lassen sich auf inhaltlicher Seite das Thema - die Existenz des Fegefeuers und die damit zusammenhängende Totenmemoria sowie die religiösen Stiftungsaktivitäten - und die Person des Tradenten - der Dominikaner Theophil ,Stutterheim‘ - ganz gut in die Welt des späten 13. und beginnenden 14. Jahrhunderts einordnen. III. Der kleine Ort Stotternheim liegt etwa 5 Kilometer nördlich von Erfurt 13. In dieser ländlichen Region, die bis heute den Ort und seine Umgebung prägt, lässt sich im Laufe des 11. Jahrhunderts ein der familia des Abtes von Hersfeld 12

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Cf. H. Eggers, Deutsche Sprachgeschichte, 3 vol., Reinbeck 1980, hier besonders in der Neuauflage von 1992 vol. II: Das Frühneuhochdeutsche und Neuhochdeutsche. Eine Parallelüberlieferung der Schriftzüge konnte innerhalb der bisherigen Archivrecherchen nicht nachgewiesen werden. Die Eingrenzung auf das Ende des 16. Jahrhunderts beruht auf den zu beobachtenden allgemeinen Veränderungen im Schriftbild dieser Zeit; cf. hierzu H. Eckardt e. a., ,Thun kund und zu wissen jedermänniglich‘. Paläographie - Archivalische Textsorten - Aktenkunde (Archivhefte 32), Köln 1999. Näheres zu dieser Passage im sog. Totenbuch in der angekündigten Edition. Ein historischer kurzer Überblick in: H. Patze (ed.), Handbuch der historischen Stätten, vol. IX: Thüringen, 2. verb. und erg. Aufl., Stuttgart 1989, 424 sq.

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zugehöriges Ministerialengeschlecht nachweisen, das sich nach seinem Stammsitz ,von Stotternheim‘ nennt 14. Etwa 100 Jahre früher - um 1088 - wird erstmalig ein ,Adelbert von Stotternheim‘ überliefert, der als Sühne für die Blendung eines Ministerialen des sächsischen Pfalzgrafen Friedrich dem Geschädigten Gut im Umfang von 4 Hufen übereignet 15. Auch wenn in der chronikalischen Notiz Adelbert von Stotternheim nicht näher charakterisiert wird, kann man dennoch vermuten, dass mit seiner Person hier erstmalig das Ministerialengeschlecht von Stotternheim in die Geschichte eintritt, dessen Vertreter sich an ihrem Stammsitz während der folgenden fast 200 Jahre nachweisen lassen. In unmittelbarer Nachbarschaft zu Besitzungen des Mainzer Erzbischofs 16 dienten sie anfangs dem Abt von Hersfeld 17, später dann in der familia der Grafen von Schwarzburg 18 und der thüringischen Landgrafen 19; sie verfügten jedoch als Ministeriale auch über eigenen Besitz 20, führten ein eigenes Siegel 21 und schie14

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Cf. O. Dobenecker, Regesta diplomatica necnon epistolaria historiae Thuringiae, voll. I-IV, Jena 1896-1939, hier: vol. II, no. 622 (zu 1182 April 5). Zu Ministerialen und ihrer Entstehung cf. Th. Zotz, Die Formierung der Ministerialität, in: S. Weinfurter (ed.), Die Salier und das Reich, vol. III: Gesellschaftlicher und ideengeschichtlicher Wandel im Reich der Salier, Sigmaringen 1991, 3-50; neuerdings auch: H. R. Derschka, Die Ministerialen des Hochstifts Konstanz (Vorträge und Forschungen, Sonderband 45), Stuttgart 1999, 235-238. Cf. Dobenecker, Regesta 1 (nt. 14), no. 950. Cf. Dobenecker, Regesta 1 (nt. 14), no. 1464 (1143) und no. 1597 (1148 März 21); Mainzer Urkundenbuch, vol. II/1, bearb. v. P. Acht (Arbeiten der Historischen Kommission Darmstadt), Darmstadt 1968, no. 43 und no. 110. Cf. H. Patze/W. Schlesinger (eds.), Geschichte Thüringens, vol. II/1: Hohes und spätes Mittelalter (Mitteldeutsche Forschungen 48/II, 1), Köln 1974, 211. Daneben ein Überblick bei G. Christ, Erzstift und Territorium Mainz, in: F. Jürgensmeier (ed.), Handbuch der Mainzer Kirchengeschichte 2 (Beiträge zur Mainzer Kirchengeschichte 6, 2), Würzburg 1997, 17-444, hier: 396-415. Nachweisbar in den 80er Jahren des 12. Jahrhunderts, so 1182 (Dobenecker, Regesta 2 [nt. 14], noo. 622, 623) und 1184 (Dobenecker, Regesta 2 [nt. 14], no. 698). Vor dem Hintergrund des Dienstverhältnisses zu den Grafen von Schwarzburg ist wohl auch die 1235 getätigte und in den folgenden Jahren bestätigte Übertragung eines Stotternheimer Eigengutes an das von den Schwarzburgern als Hauskloster gegründete Zisterzienserkloster Georgenthal zu werten; cf. Dobenecker, Regesta 3 (nt. 14), noo. 587, N 33, N 34, 605; cf. A. Overmann (ed.), Urkundenbuch der Erfurter Stifter und Klöster I (706-1330) (Geschichtsquellen der Provinz Sachsen und des Freistaates Anhalt, N. R. 5), Magdeburg 1926, no. 246 sq. Ein Ludolf von Stotternheim tritt auch als Bürge für Graf Heinrich von Schwarzburg im Rahmen einer Schenkung an das Georgenthaler Kloster auf; cf. Dobenecker, Regesta 3 (nt. 14), no. 911 (zu 1240 August 15). Cf. Dobenecker, Regesta 3 (nt. 14), noo. 3497, 3498, 3507, 3525; Dobenecker 4 (nt. 14), noo. 19, 371, 372. Inwieweit eine mögliche Verwandtschaft zu den Ministerialen von Schlotheim einen Übertritt in den Dienst des Landgrafen begünstigte, ist nicht sicher - für Verwandtschaft hat plädiert: H. Patze, Die Entstehung der Landesherrschaft in Thüringen I (Mitteldeutsche Forschungen 22), Köln 1962, 330, mit Bezug auf Dobenecker, Regesta 3 (nt. 14), no. 2520 (zu 1257 Febr. 25). Exemplarisch: Dobenecker, Regesta 1 (nt. 14), no. 950 (zu ca. 1088); Overmann, Urkundenbuch Stifter I (nt. 18), no. 246 (zu 1235); ibid., no. 247 (zu 1236); Dobenecker, Regesta 3 (nt. 14), no. 2351 (zu 1255). Cf. Dobenecker, Regesta 3 (nt. 14), no. 3003 zu 1262 Sept. 15 und no. 3498 zu 1266 Nov. 4. Daneben Beschreibungen von drei Siegeln (zu 1235, 1318 Febr. 25 und Dez. 29) bei Overmann,

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nen über die Jahre und Jahrzehnte allmählich als ,Ritter‘ einen sozialen Aufstieg zum niederen Adel genommen zu haben 22. Diese Kontinuität am Stammsitz Stotternheim brach jedoch abrupt ab, als im Jahre 1269 die Erfurter Bürgerschaft mit einer spektakulären militärischen Aktion den befestigten Stammsitz des Ministerialengeschlechtes eroberte und niederriss und auf diese Weise die kleine Herrschaft derer von Stotternheim im nördlichen Vorland der Stadt Erfurt zerbrach. Zugleich jedoch demonstrierte der Erfurter Rat mit diesem Handstreich seine macht- und territorialpolitischen Ambitionen in der Konkurrenz zum Landgrafen von Thüringen, war doch die Besetzung und Niederlegung der Stotternheimer Ministerialenburg zugleich ein Affront gegen den Dienstherrn des Stotternheimers, den Landgrafen Albrecht. Dieser erreichte in einem Ausgleich im Sommer 1269 dann zwar die Entschädigung seines Dienstmannes, eine Rückgabe des durch die Erfurter besetzten Gebietes jedoch gelang ihm nicht 23. Die Ministerialen von Stotternheim standen mit diesem Ausgleich indes vor einem Wendepunkt ihrer Geschichte: Mit der beachtlichen Entschädigungssumme von insgesamt 200 Mark Silber erwarben sie neben Hausrat vor allem Güter innerhalb der Mauern Erfurts, die sie als

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Urkundenbuch Stifter I (nt. 18), 1020 sq., noo. 117, 118, 119. Abbildungen der Siegel mit einem Adler als Wappentier finden sich leider bei O. Posse (ed.), Die Siegel des Adels der Wettiner Lande, voll. I-IV, Dresden 1903-1917, nicht - Posse konnte sein alphabetisch angelegtes Werk nicht vollenden. In der Zeugenliste des schwarzburgischen Grafen Günther II. von Käfernburg (zu 1220 vor Sept. - Dobenecker, Regesta 2 [nt. 14], no. 1910) erscheinen die Brüder Heinrich und Ludwig von Stotternheim noch vor dem gräflichen Truchsess; der in der gleichen Zeugenliste kurz zuvor genannte Albero von Vippach wird zudem ein Jahr später als ,Edler‘ bezeichnet (1221 vor Sept. - Dobenecker, Regesta 2 [nt. 14], no. 1973). Ob aus dieser personellen Nähe zu einem Niederadligen für die Stotternheimer der gleiche Rang und Stand angenommen werden kann, ist angesichts der 1240 und 1266 explizit auftretenden Erwähnung als Ministeriale (Dobenecker, Regesta 3 [nt. 14], no. 911 zu 1240 August 15 und no. 3424 zu 1266 April 3) nicht ganz sicher. Andererseits finden sich Mitte des 13. Jahrhunderts Personen mit dem Beinamen ,von Stotternheim‘, deren Rang ausdrücklich als ,Ritter‘ wiedergegeben wird. Auch wenn diese Bezeichnung nur im Zusammenhang mit dem hier genannten ,Günther‘ auftaucht, so scheint es dennoch nicht sehr einleuchtend, hier ein zweites Geschlecht oder eine Seitenlinie anzunehmen, da doch bald darauf, im letzten Drittel des 13. Jahrhunderts, Vertreter mit den Leitnamen ,Kunemund‘ und ,Albert‘ ebenfalls als ,Ritter‘ in den Urkunden genannt werden; exemplarisch Dobenecker, Regesta 4 (nt. 14), no. 490 (1270 April 22) = C. Beyer (ed.), Urkundenbuch der Stadt Erfurt I (Geschichtsquellen der Provinz Sachsen und angrenzender Gebiete 23), Halle 1889, no. 239; Dobenecker, Regesta 4 (nt. 14), no. 791 (1272 Juni 11), no. 863 (1272). Eine Generation zuvor wurden ,Albert‘ und ,Kunemund‘ noch unter die Gruppe der Ministerialen gezählt. Auch 1267 bezeichnet sich Ludolf von Stotternheim ausdrücklich als ,Ritter‘, der über eigene Güter verfügt und diese urkundlich dem Deutschen Orden übereignet; cf. Dobenecker, Regesta 4 (nt. 14), no. 72. Cf. Dobenecker, Regesta 4 (nt. 14), no. 370 und no. 371; Beyer, Urkundenbuch Stadt Erfurt I (nt. 22), noo. 228, 231, 234. Dazu auch W. Mägdefrau, Erfurt in der Geschichte Thüringens Von der ersten schriftlichen Erwähnung 742 bis zur Gründung der Universität 1392, in: U. Weiß (ed.), Erfurt 742-1992. Stadtgeschichte, Universalgeschichte, Weimar 1992, 21-37, hier: 35 mit Bezug auf G. Oergel, Das ehemalige Erfurtische Gebiet, in: Mitteilungen des Vereins für Geschichte und Altertumskunde von Erfurt 24 (1903), 159-190 (mit Karte).

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Burglehen von der Stadt Erfurt übernahmen 24. Aus dem landsässigen angesehenen Dienstmannengeschlecht wurde so eine vermögende Erfurter Bürgerfamilie mit annähernd adligem Stand, deren Vertreter seit dieser Zeit häufiger in Rechtsgeschäften mit Erfurter Bürgern auftraten und deren nun erscheinendes Kognomen ,dictus de Stutirenheim‘ noch auf ihren ursprünglichen Stammsitz verwies 25. 24

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Beyer, Urkundenbuch Stadt Erfurt I (nt. 22), no. 228: „[…] et quod iidem [Ludolf von Stotternheim und seine Erben] illa bona titulo castrensis feodi habere debeant ab Erfordia civitate similiter ibidem habendo tamquam cives alii ius civile.“ Nachweise im Zusammenhang mit Erfurter Bürgern: Overmann, Urkundenbuch Stifter I (nt. 18), noo. 438 (1272 Juni 11), 727 (1295 Juli 16), 750 (1296); Beyer, Urkundenbuch Stadt Erfurt I (nt. 22), no. 462; Overmann, ibid., no. 1060 (1318); Beyer, ibid., no. 601 (1317 März 25). Ganz reibungslos verlief jedoch dieser Eintritt eines Ministerialengeschlechtes in die Bürgerschaft der Stadt Erfurt nicht; cf. den Versöhnungsvertrag von 1286 Juni 30 zwischen der Stadt Erfurt und den Brüdern Günther, Lutolf und Hermann von Stotternheim bei Beyer, Urkundenbuch Stadt Erfurt I (nt. 22), no. 364. Ob hier auch ein Konflikt zwischen dem Thüringer Landgrafen und der Stadt Erfurt eine Rolle spielte, ist in diesem Rahmen nicht zu klären. Eine Untersuchung zum Komplex der Einflussnahme auf die innerstädtische Politik durch umliegende und mit der Stadt machtpolitisch konkurrierende Landesherren - in unserem Fall beispielsweise der Landgraf von Thüringen - über ehemalige Ministerialen, die in die Stadt aufgenommen wurden, steht für Erfurt noch aus - dazu bemerkenswerte Beobachtungen im süddeutschen Raum für Freiburg bei M. Kälble, Zwischen Herrschaft und bürgerlicher Freiheit. Stadtgemeinde und städtische Führungsgruppen in Freiburg im 12. und 13. Jahrhundert (Veröffentlichungen aus dem Archiv der Stadt Freiburg im Breisgau 33), Freiburg 2001, 134-146; grundlegend auch: E. Maschke/J. Sydow (eds.), Stadt und Ministerialität (Veröffentlichungen der Kommission für Geschichtliche Landeskunde in Baden-Württemberg, Reihe B: Forschungen 76), Stuttgart 1973. Der auch von Mathias Kälble, ibid., konstatierte Befund, dass stadtsässige Ministeriale auch weiterhin in einem Dienstverhältnis zu ihrem früheren Dienstherren standen, kann auch für die thüringischen Ministerialen von Stotternheim nachgewiesen werden; cf. Beyer, Urkundenbuch Stadt Erfurt I (nt. 22), no. 513 (1304 Nov. 14). Auf dieses Phänomen hat besonders hingewiesen K. Schulz, Die Ministerialität in rheinischen Bischofsstädten, in: E. Maschke/J. Sydow (eds.), ibid., 16-42; id., Die Ministerialität als Problem der Stadtgeschichte, in: Rheinische Vierteljahresblätter 32 (1968), 184-219. - Die Besonderheit in der Herkunftsbezeichnung bei Overmann, Urkundenbuch Stifter I (nt. 18), noo. 581 (1288 März 5), 584 (1288 April 20), 590 (1288 Juli 27), 592 und 593 (1288 Aug. 2); Beyer, Urkundenbuch Stadt Erfurt I (nt. 22), no. 450 (1296 Juni 23), 1084 (1318 Dez. 29), 1133 (1321 Jan. 21). In Stotternheim besaß die Familie in der Folgezeit anscheinend nur noch wenige Reste ihres ursprünglichen Güterkomplexes, die sukzessive über die folgenden Jahre und Jahrzehnte veräußert und gestiftet wurden, so beispielsweise 1270 (Beyer, Urkundenbuch Stadt Erfurt I [nt. 22], no. 239), vor 1285 (ibid., no. 356), 1288 (Overmann, Urkundenbuch Stifter I [nt. 18], noo. 581, 584, 590, 592, 593), 1296 (ibid., no. 750), 1318 (ibid., noo. 1060 und 1084), 1320 (ibid., no. 1118, und Beyer, ibid., no. 634), 1321 (Overmann, ibid., no. 1150), 1322 (ibid., noo. 1176 und 1179) und 1329 (ibid., noo. 1382 und 1386). Wichtig für den Wandel und Übergang der Ministerialität zum niederen Adel war nach Lutz Fenske die Übernahme von Lehen anderer Herren durch Ministerialen; dadurch wurde die „stufenweise voranschreitende Auflockerung der durch das Dienstrecht festgelegten, die persönliche Freiheit einschränkenden Herrenbindungen erkennbar“ - L. Fenske, Soziale Genese und Aufstiegsformen kleiner niederadliger Geschlechter im südöstlichen Niedersachsen, in: id. e. a. (eds.), Institutionen, Kultur und Gesellschaft im Mittelalter. FS für J. Fleckenstein, Sigmaringen 1984, 693-726, hier: 695. Josef Fleckenstein hatte schon vor Jahren die Rolle des Rittertums beim sozialen Wandel Ministerialität/niederer Adel betont; cf. id., Die Entstehung des niederen Adels und das Rittertum, in: id. (ed.), Herrschaft und Stand. Untersuchungen zur

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Ob nun jedoch der Predigerbruder auf fol. 39r des so genannten Totenbuches der Erfurter Dominikaner aus diesem Ort oder dieser Ministerialenfamilie stammte, kann nur vermutet werden. In den Quellen finden sich vor allem Vertreter dieses Geschlechtes mit den Namen Adalbert, Ludolf oder Günther. In diese Namensreihe lässt sich unser Theophil nur schlecht einfügen - gänzlich auszuschließen ist aber seine Existenz dadurch nicht. Die Namenskombination ,Theophil Stutterheim‘ ist indes in einer Zeit, in der Doppelnamen nur vereinzelt auftreten, sinnvollerweise als ,von Stotternheim‘ aufzulösen. Dass der Predigerbruder Theophil dabei aus einem in dieser Zeit angesehenen Ministerialengeschlecht stammte, ist nicht ungewöhnlich. Der Orden rekrutierte im thüringisch-sächsischen Raum seine Mitglieder auch aus Familien des niederen und höheren Adels 26. Darüber hinaus findet sich in den 50er Jahren des 13. Jahrhunderts ein Dominikaner im Erfurter Konvent mit dem Namen ,Ludolfus‘ einem Leitnamen der Stotternheimer Ministerialen 27. Zu Anfang des 15. Jahrhunderts leitete zudem ein Prior ,Andreas von Stotternheim‘ den Erfurter Konvent, der ca. 75 Jahre später in einem Regest zu diesem urkundlichen Nachweis konventsintern als ,Ritter‘ bezeichnet wird 28. Im Spätmittelalter bestand demnach nachweislich eine personelle Verbindung zwischen dem Ministerialengeschlecht von Stotternheim und dem Erfurter Dominikanerkonvent - wann dieser Kontakt seinen Anfang nahm und inwieweit er sich kontinuierlich über Jahrzehnte oder Jahrhunderte hin ausdehnte, können wir nicht sagen. Es liegt jedoch nahe, auch einer späten Überlieferungsschicht zu vertrauen und einen Predigerbruder aus dem Stotternheimer Geschlecht um 1300 im Erfurter Dominikanerkloster anzunehmen 29.

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Sozialgeschichte im 13. Jahrhundert, Göttingen 21979, 17-39, besonders hier: III. Das Rittertum als Bindeglied zwischen Vasallität und Ministerialität, 27-31. So beispielsweise der vermutliche Gründer und erste Prior des Erfurter Konventes, Elger von Honstein, aus dem gleichnamigen Grafengeschlecht aus dem südöstlichen Harzraum und der spätere Prior Heinrich von Weida aus dem Geschlechte der Vögte von Weida sowie die Ordensbrüder Günther von Schwarzburg und Dietrich, ehem. Edler von Salza. Cf. Overmann, UB Stifter I (nt. 18), no. 326 (1256 Okt. 22), und ibid., no. 333 (1257 Dez. 13). Im sog. Totenbuch (nt. 9) der Erfurter Dominikaner wurde auf dem verloren gegangenen fol. 12a zu 1417 Juni 13 in dem Bruderschaftsvertrag der städtischen Söldner mit den Predigerbrüdern ein „Bruder Andreas von Stotternheim Prior“ (erschlossen aus einer Abschrift im Stadtarchiv Erfurt, Rep. 5/101-6, foll. 296v-297r, hier: 297r) genannt, der ebenso in dem dazugehörigen ,Regest‘ von Johann Keilmann OP auf fol. 63v als „Andreas Stotternheim, Ritter, Prior“ erwähnt wird. Johann(es) Keilmann OP lässt sich zwischen September 1584 und 1586 als Prior des Erfurter Dominikanerkonventes nachweisen; Stadtarchiv Erfurt, Rep. 0-1/IV-856 und 857 und Magdeburg, Landeshauptarchiv Sachsen-Anhalt, Außenstelle Wernigerode, Rep. A 37b I, II, XVIII 22c (Abschrift des sog. Totenbuches: ,Antiquus Liber Mortuorum Monasterii Praedicatorum‘, fol. 1r: „Prior desselbigen Klosters dieses 1586 Jhars Johann Keilmann.“ Diese Passage ist auf dem Deckblatt des sog. Totenbuches verblichen. Eine erneute Erwähnung findet sich im sog. Totenbuch (nt. 9), fol. 30r zu 1438 Mai 14 in dem Bruderschaftsvertrag der Schneider als ,Andreas stutternheym Prior‘, wiedergegeben in dem entsprechenden ,Regest‘ von Johann Keilmann OP, ibid., fol. 63v. Zu Keilmann Näheres bei K.-B. Springer, Widerstand (nt. 3), 118-120 mit nt. 104 sq. Inwieweit dieser Stotternheimer Ministerialensohn jedoch den Namen ,Theophil‘ trug, ist nicht sicher. Ist es doch möglich, dass der Autor der späten Überlieferung eine Vorlage besaß, in der

Theophilus von Stotternheim OP und der zornige Petrus

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IV. Das Problem des Fegefeuers trieb indes die Menschen aller sozialen Schichten um 30. Gerade auf der Schwelle des 14. Jahrhunderts war die Theologie des ignis purgationis nicht zuletzt durch Thomas von Aquin so weit entfaltet und durch Konzilsbeschlüsse - hier vor allem in Lyon 1274 - dogmatisch ausformuliert 31, dass die Existenz dieses Zwischenzustandes nach dem Tod und vor dem Jüngsten Gericht sowie die plastische Ausgestaltung dieses Phänomens zum religiösen Allgemeingut zählten 32. Ein Zweifel an der Existenz des Fegefeuers erweckte schnell Misstrauen. Sollte die Unzahl an Almosen für Arme und Bedürftige, an Stiftungen und Zuwendungen für religiöse Zwecke in dieser Zeit ausschließlich auf ein immaterielles, nur auf Gedanken basierendes Seiendes gegründet sein, pointiert formuliert: die gesamte Sorge um das eigene Seelenheil und das der Mitmenschen auf einer Fiktion beruhen? Bei derartigen Zweifeln konnte nicht nur ein Predigermönch in große seelische Bedrängnis geraten. Erschien ihm deshalb der Apostelfürst, schlüsseltragend und zornig die Stirn runzelnd, um ihm eindringlich und mit ernsten Worten das Fegefeuer als ein id, quod est zu erläutern? Wir wissen es nicht. Ebenso wenig wissen wir, wer von den Mitbrüdern dem Erfurter Dominikaner Theophil von Stotternheim durch seine eindringliche Predigt eine schlaflose Nacht bereitete. Den Namen überliefert der späte Schreiber nicht 33. Für eine Argumentation „Allen eifrig Römisch Katholischen zu sonderbarem Gefallen“ 34 im gegenreformatorischen Sinn ließ sich dieser Erscheinungsbericht jedoch gut instrumentalisieren, und dies vor allem in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts - einer Zeit der wiederholten Versuche, im Dominikanerkloster zu Erfurt das monastische Leben zu reorganisieren. Am Ende misslang jedoch dieser Versuch und der letzte Dominikaner verließ 1591 das Erfurter Kloster 35.

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der Name nur durch ein ,T.‘ abgekürzt war - ein Befund, der in zahlreichen urkundlichen Belegen auftritt. Wurde dann in der Übersetzung/Abschrift aus ,T.‘ kurzerhand ,Theophil‘? Cf. J. LeGoff, Die Geburt des Fegefeuers, Stuttgart 1984; A. Angenendt, Geschichte der Religiosität im Mittelalter, 2. überarb. Aufl. 2000, 706-711. Cf. auch: L. Scheffczyk/B. Deneke, Fegfeuer, in: Lexikon des Mittelalters, vol. 4, München - Zürich 1989, 328-331. Cf. H. Denzinger/A. Schönmetzer (eds.), Enchiridion symbolorum, definitionum et declarationum de rebus fidei et morum, 36. Aufl., Barcinone 1976, noo. 856-859. Bei Thomas: S. th. III, q. 69, aa. 2 u. 7; q. 71, a. 6. Cf. id., S. th. I-III, lateinisch-deutsch, 36 vol. , ed. Katholischer Akademikerverband der Albertus-Magnus-Akademie Walberberg bei Köln, Heidelberg 1933 sqq. Aus der unzähligen Literatur zu den Jenseitsvorstellungen im Mittelalter jüngst P. Dinzelbacher, Himmel, Hölle, Heilige. Visionen und Kunst im Mittelalter, Darmstadt 2002. Daneben E. Fleischhack, Fegefeuer. Die christlichen Vorstellungen vom Geschick der Verstorbenen geschichtlich dargestellt, Tübingen 1969. Es findet sich nur die Angabe ,N‘. So im sog. Totenbuch (nt. 9), fol. 39v. Cf. K.-B. Springer, Widerstand (nt. 3), 122 sq.

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V. Blicken wir zurück: Auf der Suche nach Zeugnissen aus dem Erfurter Dominikanerkonvent aus der Zeit Meister Eckharts stießen wir auf die späte Überlieferung einer Erscheinungsgeschichte, die mehr als 250 Jahre nach dem Auftreten Eckharts in Erfurt in einer der wichtigsten erhaltenen Quellen zum dortigen Predigerkloster - dem so genannten Totenbuch - niedergeschrieben, vom neuzeitlichen Schreiber jedoch explizit in das Jahr 1303 datiert wurde. In diesem deutschsprachigen Textfragment berichtet ein im Nachtrag als ,Theophil Stutterheim‘ bezeichneter ,Dominikanermönch zu Erfurt‘ von einer ihm zuteil gewordenen Petruserscheinung, die ihm infolge seiner Zweifel am Fegefeuer und der Gewissensnöte, die ihm diese Zweifel bescherten, zuteil wurde. Der durch seinen beschriebenen Gesichtsausdruck ,zornige‘ Heilige setzte ihm dann - das müssen wir aufgrund des fragmentarischen Charakters des Berichtes vermuten - den Sinn und Nutzen dieser theologischen Doktrin auseinander. Der Anlass der Glaubenszweifel des Dominikaners - die Predigt eines Mitbruders über dieses Thema - bleibt im Dunkeln. Sollte hier eine der beispielhaften Predigten, wie sie im ,Paradisus anime intelligentis‘ 36 überliefert sind, oder gar ein Sermo des Priors und Provinzials Meister Eckhart als Ursache für die aufrüttelnde Erscheinung des Theophil von Stotternheim gelten können? Angesichts des Themas - das Fegefeuer - gibt es hier jedoch, so weit ich sehe, keinen hinreichenden Anhaltspunkt. Für das Zusammenspiel von religiöser Verkündigung, ausdifferenziertem Jenseitsglauben und Heiligenverehrung und -erfahrung bietet der Bericht des Erfurter Dominikaners jedoch ein plastisches Beispiel. Zugleich findet sich aber auch in dieser Blüte der Überlieferung, selbst wenn sie - wie es der Kontext der Niederschrift nahe legt - dem Humus reformkatholischer Intentionen entspross, ein versteckter Hinweis auf die hohe Bedeutung des Erfurter Dominikanerklosters zur Zeit Meister Eckharts.

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Paradisus anime intelligentis (Paradis der fornuftigen sele). Aus der Oxforder Handschrift Cod. Laud. Misc. 479 nach E. Sievers’ Abschrift ed. v. Ph. Strauch, Berlin 1919; zweite Auflage ed. u. mit einem Nachw. versehen v. N. Largier u. G. Fournier (Deutsche Texte des Mittelalters 30), Hildesheim 1998; K. Ruh, Paradisus anime intelligentis (Paradis der fornuftigen sele), in: id. (ed.), Die deutsche Literatur des Mittelalters: Verfasserlexikon, vol. 7, Berlin-New York 21989, 298-303.

II. Die Erfurter ,Rede‘

Die ,Rede der underscheidunge‘ als Dokument dominikanischer Spiritualität Walter Senner OP (Paris) Unter dieser Überschrift ist nicht eine umfassende Interpretation dieses frühesten bekannten, gleichwohl reifen Textes Meister Eckharts zu erwarten, wie Kurt Ruh sie meisterlich vorgelegt hat 1, auch keine geistliche Ausdeutung 2. Vielmehr soll dem Ordenskontext nachgegangen werden, aus dem diese Reden unbezweifelt stammen. Auch wenn ihr Titel erst sekundär ist, sind die ,Rede der underscheidunge‘ in ihrer Authentizität durch ausdrückliche Zuschreibung an Meister Eckhart unbezweifelt und gehören zu seinen am breitesten überlieferten Schriften 3. Der ältere ausführliche Satztitel lautet: „Daz sint die rede, die der vicarius von türingen, der prior von erfurt, bru˚der eckhart predigerordens mit solchen kindern haˆte, diu in dirre rede vraˆgeten vil dinges, doˆ sie saˆzen in collationibus mit einander.“ 4 Hier finden wir eine Reihe von Angaben, die eine nähere Bestimmung der Redesituation auf dem Hintergrund der Organisationsstruktur des Dominikanerordens - und speziell der deutschen Ordensprovinz Teutonia - erlauben. Sie sollen der Reihe nach durchgegangen werden: ,Vicarius von türingen‘. Die mit über 80 Konventen sehr große Teutonia war zu jener Zeit in neun Regionen aufgeteilt, die hier - spezifisch - nationes hießen 5 und nach Landschaften benannt waren: Rhenus (Nieder- und Mittelrhein), Brabantia (Flandern - soweit zum Römischen Reich Deutscher Nation gehörig und die niederländischen Provinzen Brabant und Limburg), Alsatia (mit Basel), 1

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Cf. Meister Eckhart. Theologe, Prediger, Mystiker, München 21989, 31-46; id., Geschichte der abendländischen Mystik, vol. 3: Die Mystik des deutschen Predigerordens und ihre Grundlegung durch die Hochscholastik, München 1996, 258-267. Hier ist besonders zu verweisen auf A. Schönfeld, Meister Eckhart: Geistliche Übungen. Meditationspraxis nach den ,Reden der Unterweisung‘, Mainz 2002. Cf. Ruh, Geschichte (nt. 1), 258 sq. Meister Eckharts Traktate, ed. u. übers. v. J. Quint (Meister Eckhart, Die deutschen und lateinischen Werke, ed. im Auftrage der Deutschen Forschungsgemeinschaft: Die deutschen Werke, vol. 5 [= DW V]), Stuttgart 1963, 185, 1-6. Cf. P. von Loe¨, Statistisches über die Ordensprovinz Teutonia (Quellen und Forschungen zur Geschichte des Dominikanerordens in Deutschland [in der Folge zit. als: QF] 1), Leipzig 1907, 5 sq.; id., Statistisches über die Ordensprovinz Saxonia (QF 4), Leipzig 1910, 10 sq. - dort die nach der Teilung 1303 zu Letzterer gehörenden thüringischen Konvente.

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Suevia (Baden, Württemberg und die Ostschweiz), Austria (Österreich und Bayern) sowie die 1303 als neue Provinz Saxonia von der Teutonia abgeteilten nationes Misnia (Sachsen), Marchia (Mark Brandenburg), Hollandia (Nordholland) und Thuringia. Die letztgenannte natio umfasste Konvente in Eisenach, Erfurt, Göttingen, Jena, Mühlhausen in Thüringen, Nordhausen und Treysa, griff also über Thüringen hinaus nach Niedersachsen und Nordhessen aus. In den ältesten Konstitutionen waren nur die Organisationsebenen Konvent, Provinz und Gesamtorden vorgesehen und mit auf der jeweiligen Ebene gewählten Oberen (Prior conventus, Prior provincialis, Magister Ordinis) ausgestattet worden 6. Vicarii konnte jeder von ihnen - und auch eines der alljährlich stattfindenden Provinz- oder Generalkapitel - für einen bestimmten delegierten, räumlich oder zeitlich begrenzten Aufgabenbereich einsetzen. Das Mandat eines vicarius währte maximal so lange wie die (durch Tod oder Abberufung durch das zuständige Kapitel endende) Amtszeit des ihn delegierenden gewählten Oberen 7. ,Prior von Erfurt‘ ist der gewählte Obere des größten Konvents der Thuringia. Er musste nicht Angehöriger dieses Klosters sein (durch Eintritt in es), aber meistens war es so. Wenn auch nicht mit Sicherheit, so doch mit hoher Wahrscheinlichkeit, können wir annehmen, dass Eckhart - der ja aus dem nahen Hochheim bei Wangenheim kam 8 - in den Erfurter Predigerkonvent eingetreten und dadurch dessen filius nativus war. Eine Folge dieser Beheimatung war, dass ein Dominikaner nach Ablauf eines Amtes im Orden, das ihn anderwärts verpflichtete, wieder zu seinem Heimatkonvent zurückkehrte - falls nicht unmittelbar ein anderer derartiger Auftrag folgte. Nach dem Pariser Bakkalaureat, d. h. nach dem Vorlesungsschluss am Fest der heiligen Apostel Petrus und Paulus (29. 06. 1294) und der Reisezeit von circa drei bis sechs Wochen - je nach Zahl und Dauer eventueller Zwischenaufenthalte -, können wir Meister Eckhart in Erfurt erwarten 9. Der Begriff collatio spielt seit den ,Collationes patrum‘ 10 der Wüstenväter eine wichtige Rolle in der monastischen und auch in der Spiritualität der Predigerbrü6

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Cf. Constitutiones antiquae Ordinis Fratrum Praedicatorum, d. 2, cc. 15-16, in: A. H. Thomas, De oudste constituties van de Dominicanen, Leuven 1965 (in der Folge zit. als: Const. ant.), 351-353. Dem Konventsprior ist kein eigenes Kapitel gewidmet, seine Funktionen werden an verschiedenen Stellen genannt. Cf. G. R. Galbraith, The Constitution of the Dominican Order, 1216 to 1360 (Publications of the University of Manchester, hist. ser. 44), Manchester 1925, 140-143. Cf. E. Albrecht, Amtsblatt der evangelisch-lutherischen Kirche in Thüringen 31/3 (1978), 2834; Internet-Site www.eckhart.de; Stichwort: Familie. Zum Pariser akademischen Kalender cf. P. Glorieux, L’enseignement au moyen aˆge, techniques et me´thodes en usage a` la faculte´ de the´ologie de Paris au XIIIe sie`cle, in: AHDLMA 35 (1968), 65-186, hier: 100 sq. Jean Cassien, Confe´rences, ed. E. Pichery, 3 vol. (Sources chre´tiennes 42, 54, 64), Paris 19551958.

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der. Dominikus hatte sie hoch geschätzt 11, Humbertus de Romanis hatte sie den Novizen als Basislektüre empfohlen 12, Heinrich Seuse fand in ihnen die wahre philosophia spiritualis 13. Doch leider ist collatio nur scheinbar eindeutig. Neben den allgemeinsprachlichen Bedeutungen ,Sammlung, Zusammenstellung‘ 14 oder ,Zusammenkunft, Beratung, Diskussion‘ 15 konnte dieser Begriff im 13. und 14. Jahrhundert die folgenden speziellen Bedeutungen annehmen: 1. Eine abendliche leichte Mahlzeit in der Klostergemeinschaft - insbesondere, aber nicht nur, an Fasttagen 16. 2. Die abendliche Zusammenkunft (des benediktinischen oder zisterziensischen) Konvents nach getaner Tagesarbeit zur Klärung praktischer Fragen und zur Besinnung 17. 3. Die bei dieser Gelegenheit - und dann auch unabhängig davon (etwa beim gemeinsamen Mahl) - vorgetragene Lesung aus der Ordensregel oder aus Schriften der Kirchenväter 18. 4. Die diese erklärende Ansprache des Abtes als geistlicher Vater seiner Kommunität, später auch der Vortrag eines Klosteroberen zu einem spirituellen Thema überhaupt 19. 11

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Jordanus de Saxonia, Libellus de principiis Ordinis Praedicatorum, n. 13, ed. H. C. Scheeben (Monumenta Ordinis Praedicatorum historica - in der Folge zit. als MOPH - 16), Rom 1935, 25-88, hier 32 sq.: „Librum quemdam, qui Collationes patrum inscribitur, tractandum de vitiis et omnis spiritalis perfectionis materia, hunc, inquam, legens et diligens salutis in eo rimari semitasque easdem tota animi virtute studuit imitari.“ Cf. Instructiones de officiis ordinis, c. 5, 18, in: Opera de vita regulari, ed. J.-J. Berthier, vol. II, Turin 1956, 230. Cf. Horologium sapientiae, lib. II, 3, ed. P. Künzle, Freiburg i. Ue. 1977, 545, 14-546, 28. Mittellateinisches Wörterbuch (in der Folge zit als: Mlat. WB), ed. v. d. Bayer. Ak. d. Wiss. u. d. Ak. d. Wiss. d. DDR, vol. II, München 1985, 830 sq. Zu collatio im klassischen Latein cf. Thesaurus linguae latinae, vol. III, Leipzig 1907, 1578-1580. Mlat. WB II (nt. 14), 831. Cf. A. Blaise, Lexicon latinitatis medii aevi, Turnhout 1975, 197b; Glorieux: L’enseignement (nt. 9), 120; Const. ant. (nt. 6), d. 1, c. 9, 320, 2-8; Kommentar: 161-165. Auf die Bedeutungsvielfalt im dominikanischen Kontext weist hin M. M. Mulchahey, First the Bow is Bent in Study. Dominican Education Before 1350, Toronto 1998, 194-203. Für ,Mahlzeit‘ cf. Humbertus de Romanis, Instructiones de officiis ordinis, c. 24, 3 (nt. 12), 297. J. Leclercq, Wissenschaft und Gottverlangen. Zur Mönchstheologie des Mittelalters, Düsseldorf 1963, 190. Cf. Mlat. WB II (nt. 14), 832; Leclercq, Wissenschaft (nt. 17), 190. Zum Zusammenhang der dominikanischen Tradition mit der monastischen und prämonstratensischen cf. A. H. Thomas, in: Const. ant. (nt. 6), 162-165. M. M. Mulchahey (nt. 16), 194, hält die collatio für einen Teil der Komplet; aus Const. ant. (nt. 6), d. 1, c. 9, 320, 8-10 ergibt sich jedoch, dass sie davor stattfand. Verwirrend ist freilich, dass später, als dieser unmittelbare zeitliche Zusammenhang aufgegeben wurde, die ursprünglich die collatio einleitende Segensbitte ,iube domne benedicere‘ und die Segensformel ,noctem quietam et finem perfectum tribuat nobis omnipotens et misericors dominus‘ (Const. ant. [nt. 6], 320, 4-6) an den Beginn der Komplet rückten (Completorii libellus juxta ritum Ordinis Praedicatorum, Rom 1911, 1). Cf. Leclercq, Wissenschaft (nt. 17), 190.

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5. Ein geistlich-theologischer Vortrag, oder ein solches Gespräch, ganz allgemein 20. 6. Im Dominikanerorden oblag dem Novizenmeister u. a. die Pflicht, die Novizen in einem eigens dazu bestimmten Raum neben dem Unterricht über die Konstitutionen und die Lebensweise des Ordens in Gesang und Lesen zu unterweisen, geistliche Vorträge zu halten und mit ihnen Gespräche (collationes aedificatoriae) zur Ermahnung und Tröstung zu führen; er konnte dies auch an andere geeignete Brüder delegieren 21. 7. Die Predigt außerhalb der Messfeier am Nachmittag oder Abend 22, besonders auch die vor der universitas magistrorum et scholarium 23. Von den Pariser Dominikanern wurde der Brauch um 1231 dahingehend adaptiert und abgewandelt, dass während der Vesper eine Predigt für die Ordensstudenten gehalten wurde 24. 8. Als collatio pro commendatione sacre doctrine wurde in Bologna die feierliche Antrittsvorlesung eines neuen Baccalaureus sententiarum bezeichnet, die in Paris principium hieß 25; die abendlichen Disputationen eines promovierenden Magister wurden dagegen vesperie genannt 26. 9. Eine (nachmittägliche oder abendliche) Repetition der Vorlesung (des Vormittags) im Studium 27. Humbertus de Romanis beschreibt ihre Organisation unter den Pflichten des Studentenmeisters 28. In der Studienordnung des Dominikanerordens von 1259 war diese einmal wöchentlich für alle studia vorgeschrieben 29. Eine spezielle Form dieser Übungen waren collationes, die einen praktisch-homiletischen Bezug zur Liturgie oder zu Fragen der Moral hatten 30.

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Cf. Mlat. WB II (nt. 14), 831; Glorieux: L’enseignement (nt. 9), 122. Humbertus de Romanis, De officiis ordinis (nt. 12), c. 5, 5, 216 sq.: „In hoc faciendae sunt ibidem admonitiones interdum, vel collationes aedificatoriae ab ipso [magistro novitiorum], vel ab aliis fratribus ad haec gratiosis; et ipso procurante, familiares collocutiones et consolationes.“ Cf. Glorieux, L’enseignement (nt. 9), 120. Cf. Glorieux, L’enseignement (nt. 9), 156 sq.; Mulchahey, First the Bow (nt. 16), 195. Cf. Mulchahey, First the Bow (nt. 16), 195. Cf. Glorieux, L’enseignement (nt. 9), 139. Cf. Glorieux, L’enseignement (nt. 9), 144 sq. Cf. Glorieux, L’enseignement (nt. 9), 120 sq. De officiis ordinis (nt. 12), c. 12, 3, 259: „Item, ad ipsum [magistrum studentium] pertinet convocare fratres [studentes] aliquo signo ad collationes in loco apto ad hoc secundum ordinationem prioris: et hoc semel, vel bis in septimana, vel frequentius, ubi, vel quando non sunt lectiones.“; cf. Mulchahey, First the Bow (nt. 16), 196 sq. Acta cap. Gen. (nt. 6), 100, 26: „Quod fiant repeticiones de questionibus in qualibet septimana“; Cod. Arch. gen. OP A1 hat collationes für repeticiones. Humbertus de Romanis, De officiis ordinis (nt. 12), c. 12, 3, 260: „Vel solent fieri collationes de moralibus, vel de certa aliqua materia, ut de evangelio, vel de epistola, vel de summa de vitiis et virtutibus, vel de casibus, et similibus: ita quod quilibet frater sciat de quo titulo debeat recitare, vel de quolibet ad voluntatem cujuslibet.“ Cf. Mulchahey, First the Bow (nt. 16), 198.

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10. Die Verleihung eines (kirchlichen) Amtes 31 oder die Übertragung einer Verfügungsgewalt bzw. einer Vollmacht 32. 11. Eine Schenkung 33. 12. Das Vergleichen verschiedener Handschriften eines Textes 34. Wie die Angabe ,mit solchen kindern‘ zeigt, handelt es sich bei den ,Rede der underscheidunge‘ um collationes in der vierten der genannten Bedeutungen. Ihr Publikum waren alle Mitbrüder des Konvents, nicht nur die Novizen. Für diese gab es als eigene Form der Unterweisung und Einführung in das Ordensleben die instructio und die collatio aedificatoria durch den Novizenmeister 35. Auch wenn die letztgenannte delegiert werden kann, ist es schwer vorstellbar, dass der Kloster- und Regionalobere sich dazu von seinem Untergebenen beordern lässt. Wohl ist es Brauch gewesen, dass auch die Novizen und Studenten des Ordens an der allgemeinen An- und Aussprache teilnahmen; sie mögen sich mit ihren noch frischen und ungeklärten Fragen auch besonders stark daran beteiligt haben. Dies gilt, da Meister Eckhart ja nicht nur Prior von Erfurt war, sondern auch Vikar der natio Thuringia, ebenfalls für die Schwesternkommunitäten in diesem Bereich. Underscheidunge, lateinisch discretio, ist das im Kontext des Dominikanerordens nicht Ketzerschnüffelei 36? Das konnte es leider auch sein, jedoch - bereits aus der monastischen Tradition übernommen - ist es in erster Linie die Unterscheidung zwischen dem, was für das geistliche Leben wesentlich und dem, was nebensächlich ist. ,Rede der underscheidunge‘, wie die gegenüber ,Rede der unterweisunge‘ besser bezeugte, wenn auch kaum ursprüngliche Version des Titels lautet, bedeutet also die Schwerpunktsetzung, in der Eckhart den Ordensmitgliedern - sei es als Prior seines eigenen Konvents, sei es als Vikar den Brüdern anderer Klöster der natio thuringiae oder den Dominikanerinnen in diesem Gebiet - erläutert, was ihm als für das geistliche Leben wesentlich erscheint und sich dabei auf Fragen und deren Diskussion einlässt.

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Cf. H. Heinemann, Amt, kirchliches, in: Lexikon des Mittelalters, vol. 1, München-Zürich 1980, 559-561, hier: 560. Cf. Mlat. WB II (nt. 14), 832. Cf. Mlat. WB II (nt. 14), 832; J. F. Niermeyer/C. Van der Kieft, Mediae latinitatis lexicon minus, vol. I, Leiden 22002, 260b, 5. Cf. ibid., 7. Cf. supra, Nr. 6. Im Auftrag des Generalkapitels 2000 soll diese dunkle Seite der Ordensgeschichte aufgearbeitet werden. Bereits erschienen: Praedicatores Inquisitores, vol. I: The Dominicans and the Mediaeval Inquisition. Acts of the 1st International Seminar on the Dominicans and the Inquisition (Dissertationes historicae 29), Rom 2004. Ein zweites Kolloquium mit dem Thema ,Dominikaner und die spanische Inquisition‘ hat 2004 in Sevilla stattgefunden, weitere sollen folgen. Zur discretio cf. F. Dingjan, Discretio, les origines patristiques et monastiques de la doctrine sur la prudence chez saint Thomas d’Aquin (Van Gocums theologische bibliotheek 38), Assen 1966.

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Die ,Reden‘ sind „zwanglos und relativ unsystematisch“ 37 aufgebaut - für Meister Eckhart erstaunlich. Dies lässt sich am besten damit erklären, dass sie eine Sammlung verschiedener teils unabhängig voneinander entstandener Ansprachen und Gesprächsnotizen sind. Es lassen sich drei Teile von abnehmender thematischer Strenge unterscheiden 38: Die (bis auf das sechste) verhältnismäßig kurzen Kapitel 1-8 haben, ausgehend vom Ordensgelübde des Gehorsams, das Lassen des Selbst, die Abgeschiedenheit, das Besitzen Gottes und das Wirken aus dieser Haltung heraus zum Inhalt. Sie zeigen eine klare, verknüpfte Struktur, ein sich aus dem Zuvorgesagten ergebendes Fortschreiten von Stichwort zu Stichwort. Die Kapitel 9-16 umfassen Einzelthemen, deren Konsistenz deutlich geringer ist. Gleichwohl ist als Hauptthema Sünde, Reue und Buße auszumachen. In den Kapiteln 17-23 behandelt der Meister verschiedene Fragen der geistlichen Lebensführung, ohne dass dabei eine Systematik sichtbar wird. Es ergibt sich der Eindruck, als seien hier - zumindest zum erheblichen Teil - von den Hörer(inne)n Fragen aus der Praxis gesammelt und vorgelegt worden 39. Als 20. Kapitel ist eine Predigt zum Sakramentenempfang, insbesondere unter dem Gesichtspunkt der Buße, eingefügt, die möglicherweise erst nachträglich hier aufgenommen worden ist 40. Auffällig ist das Fehlen stärkerer Bezüge zu Einzelfragen des Ordenslebens und das insbesondere zu dem der Dominikaner, wie es in den Werken des Humbertus de Romanis seine offiziöse Beschreibung gefunden hat 41. Nicht von ungefähr jedoch beginnt Meister Eckhart mit dem Gehorsam und behandelt ihn als Einziges der drei Ordensgelübde (Armut, Keuschheit, Gehorsam) als solches, ist er doch das einzige in der Profess im Dominikanerorden explizit ausgesprochene von ihnen. Die Professfeier beginnt mit der Frage des Ordensoberen: „Quid petistis?“, auf die hin die Profess ablegenden Novizen antworten: „Misericordiam Dei et vestram.“ Dann streckt der Obere seine Hände empfangend aus und der jeweils Profess ablegende Bruder legt die seinen gefaltet hinein und spricht: „Ego N. facio professionem et promitto obedientiam Deo et beatae Mariae et tibi N., magistro Ordinis Predicatorum, et successoribus tuis, secundum regulam beati Augustini et institutiones fratrum Ordinis Predicatorum, quod ero obediens tibi tuisque successoribus usque ad mortem.“ 42 37

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N. Largier, in: Meister Eckhart: Werke II (Bibliothek des Mittelalters 21), Frankfurt a. M. 1993, 791. Von Ruh, Meister Eckhart (nt. 1), 33-43 und Geschichte (nt. 1), 259, bzw. Largier, Meister Eckhart (nt. 37), 791 sq., leicht unterschiedlich gegliedert. Ich folge hier der Einteilung Largiers. Cf. Ruh, Geschichte (nt. 1), 260; Largier, Meister Eckhart (nt. 37), 792. Cf. Ruh, Meister Eckhart (nt. 1), 40 sq. Largier, Meister Eckhart (nt. 37), 798, hingegen sieht darin den Niederschlag eines Lehrgesprächs. Eine eingehende Interpretation dieses Textes gibt: B. Weiß, Die Eucharistie in der deutschen Mystik des Mittelalters, in: B. J. Hilberath/D. Sattler (eds.), Vorgeschmack. Ökumenische Bemühungen um die Eucharistie. FS für Th. Schneider, Mainz 1995, 225-257, bes. 229, 237-241, 249 sq., 252. Deren Sammlung unter dem Titel ,De vita regulari‘ (nt. 12) vorliegt. Const. ant. (nt. 6), d. 1, c. 16, 326, 1-327, 6. Cf. die elaboriertere spätere Form, die Wirken von Kanonisten zeigt: Processionarium iuxta ritum S. Ordinis Praedicatorum, Rom 1913, 151. A. H. Thomas (nt. 6), 143-152, vergleicht die alte dominikanische Professformel mit anderen und

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Meister Eckhart bezieht sich auf diese Situation: Er nennt Gehorsam „ein tugent vor allen tugenden“ 43. Hierbei ist nicht an Tugendkataloge zu denken oder an das aristotelische System der Tugenden, wie es Albertus Magnus und Thomas von Aquin rezipiert haben, erst recht nicht an ,preußische Sekundärtugenden‘. Worum es ihm geht, wird durch zwei Textstellen in diesem Zusammenhang deutlicher: „und swie kleine ein werk und swie snœde ez sıˆ, soˆ ist ez nützer getaˆn in waˆrer gehoˆrsame, ez sıˆ messe lesen, hœren, beten, contemplieren oder swaz duˆ maht gedenken.“ 44 „Gehoˆrsame würket alwege daz aller beste in allen dingen.“ 45 Wir müssen schließen: Gehorsam ist etwas, das mit allen rechten Handlungen einhergeht und sie besser, ja am besten macht. Das lässt sich sinngemäß auch bei Humbertus de Romanis lesen 46, der aber im Unterschied zu Eckhart sich in seinem Kommentar zu den Ordenskonstitutionen eingehend mit der Frage beschäftigt, was geschehen soll, wenn ein Predigerbruder eine Weisung eines Oberen als undurchführbar oder zu Schlechtem führend ansieht 47. Diese für die Praxis eminent wichtige Frage spielt hier keine Rolle. Meister Eckhart geht es nämlich nicht nur um den Ordensgehorsam im engeren Sinn, sondern um eine viel grundlegendere Dimension seiner Anthropologie: „Swaˆ der mensche in gehoˆrsame des sıˆnen uˆzgaˆt und sich des sıˆnen erwiget, daˆ an dem selben muoz got von noˆt wider ˆıngaˆn; wan soˆ einez im selber niht enwil, dem muoz got wellen glıˆcher wıˆs als im selber.“ 48 Die Vorstellung, dass die Entsagung von dem eigenen Willen Raum für das Wirken des Willens Gottes schafft, ist Gemeingut christlicher Spiritualitätsgeschichte seit ältesten Zeiten: „Nicht mehr ich lebe, sondern Christus lebt in mir.“ 49 Wir finden allerdings bei Eckhart nicht nur eine für ihn charakteristische Ausdrucksweise, sondern ein zu seiner spezifischen Anthropologie weiterentwickeltes Konzept: „daˆ an dem selben muoz got von noˆt wider ˆıngaˆn.“ 50 Es gibt also einen horror vacui: Dort, wo des Menschen Eigenwille keine ihn bewegende Kraft mehr ist, da ist das notwendigerweise (,von noˆt‘) Gottes Wille. Wir sind bei dem zentralen Punkt von Eckharts Anthropologie. Dabei wird dieser aus dem konkreten Anwendungsfall entfaltet: „Swenne ich mıˆnes willen bin uˆzgegangen in die hant

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sieht in derjenigen der Prämonstratenser das nächststehende mögliche Vorbild (150-152); der Predigerbruder gelobt allerdings keine stabilitas loci, die dem Charakter der Mendikantenorden als nicht ortsgebundenem Personenverband widersprechen würde (151). RdU, c. 1 (DW V, 185, 8). Ibid., 186, 1-3. Ibid., 186, 4 sq. Expositio regulae beati Augustini, in: Opera de vita regulari (nt. 12) I, 533: „[…] inter omnes virtutes religioso necessarias, de praecipuis est obedientia perfecta“; Ep. de tribus votis substantialibus religionis, in: Opera de vita regulari (nt. 12) I, 2, n. 2: „Hoc […] innuit exemplum ubi frater, cui quatuor ostensi sunt ordines bonorum, eum qui oboedientiam servavit summum vidit.“ Ibid., 531 sq. RdU, c. 1 (DW V, 187, 1-3). U. Kern, Die Anthropologie des Meister Eckhart, Hamburg 1994, 5, spricht von einer „theologischen Teleologie der Eckhartschen Anthropologie“. Gal. 2, 20. RdU, c. 1 (DW V, 187, 2).

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mıˆnes preˆlaˆten und mir selber niht enwil, dar umbe muoz mir got wellen, und versuˆmet er mich an dem teile, soˆ versuˆmet er sich selber.“ 51 Der Ritus der Ordensprofess, bei welcher der das Gelübde ablegende Bruder - oder die Schwester - die Hände in die des dieses abnehmenden Ordensoberen - bzw. der Oberin - legt, ist nur der Anknüpfungspunkt, denn der Meister kommt gleich zu einer radikaleren Forderung als jener der Ordenskonstitutionen: „In waˆrer gehoˆrsame ensol niht vunden werden ,ich wil alsoˆ oder alsoˆ‘ oder ,diz oder daz‘, sunder ein luˆter uˆzgaˆn des dıˆnen.“ 52 Das völlige Aufgeben des Eigenwillens führt konsequenterweise dazu, im Gebet nicht um dieses oder jenes zu bitten, was ich gerne möchte, sondern mich Gott in die Hand zu geben, wie dies bei der Professgeste symbolisch dargestellt wird: „Und dar umbe in dem aller besten gebete, daz der mensche mac gebeten, ensol niht sıˆn weder ,gip mir die tugent oder die wıˆse‘ oder ,jaˆ, herre, gip mir dich selber oder ˆewigez leben‘, dan ,herre, engip niht, wan daz duˆ wilt […] in aller wıˆse‘.“ 53 Dies geht noch deutlich über das von Thomas von Aquin bekannte „nichts als dich Herr.“ 54 hinaus. Doch auch dafür sind Vorbilder in der mystischen und aszetischen Literatur zu finden - Eckhart selbst nennt Augustinus 55 -, nicht aber für den Begründungszusammenhang, der für den Thüringer Meister charakteristisch ist, und durch den das Gebet hier in die Nachbarschaft des Gehorsams kommt. Das Armutsverständnis der klassischen monastischen Orden hatte sich in der Auseinandersetzung mit den Katharern in der Languedoc als unglaubwürdig erwiesen: Die Zisterzienseräbte, die hoch zu Ross antrabten, sahen gegenüber den barfüßigen perfecti schlecht aus 56. Dominikus legte deshalb Wert darauf, dass die Armut seiner Ordensbrüder auch im Verhältnis zu den Menschen sichtbar wurde. Franziskus erblickte demgegenüber in der ,Herrin Armut‘ eine perfectio evangelica, die ihn zu dem Ideal anreizte: „nudus nudum Christum sequi.“ 57 In Abgrenzung von dieser radikalen Armutsauffassung sah Humbertus de Romanis in 51

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Ibid., 187, 3-6; J. Quint in: Largier II (nt. 37), 335, 28-337, 2, übersetzt den letzten Halbsatz: „Versäumt er etwas für mich darin, so versäumt er es zugleich für sich selbst.“ RdU, c. 1 (DW V, 188, 3 sq.). Ibid., 188, 4-8. Zum Gebet cf. F. Löser, Oratio est cum deo confabulatio. Meister Eckharts Auffassung vom Beten und seine Gebetspraxis, in: W. Haug/W. Schneider-Lastin (eds.), Deutsche Mystik im abendländischen Zusammenhang. Neu erschlossene Texte, neue methodische Ansätze, neue theoretische Konzepte. Kolloquium Kloster Fischingen 1998, Tübingen 2000, 283316. Guillelmus de Tocco, Ystoria sancti Thome de Aquino, ed. C. le Brun-Gouanvic (Studies and Texts 127), Toronto 1996, c. 34, 162, 12 sq.: „Thoma, bene scripsisti de me, quam recipies a me pro tuo labore mercedem? […] Domine, non nisi te.“ Cf. RdU, c. 1 (DW V, 189, 4); Augustinus, Confessiones, ed. L. Verheijen (CCSL, vol. 27), Turnhout 1990, lib. X, c. 26, n. 37, 175, 8-10. Cf. M. H. Vicaire, Geschichte des hl. Dominikus, vol. I, Freiburg i. Br. 1962, 120 sq. Cf. D. Berg, Armut und Geschichte, Studien zur Geschichte der Bettelorden im hohen und späten Mittelalter (Saxonia Franciscana 11), Kevelaer 2001, 127-161. Zur weiteren Entwicklung: D. Burr, The Spiritual Franciscans. From Protest to Persecution in the Century after Francis, University Park PA, 2001.

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der Armut den spezifischen Weg, aber nicht das Ziel des Ordens der Predigerbrüder. Sie sollte sie nach dem Vorbild Christi und der Apostel frei machen von gefangen nehmender Sorge um Besitz, war aber keine Forderung an alle Christgläubigen 58. Thomas von Aquin präzisierte das in der Auseinandersetzung mit dem Pariser Weltklerus als instrumentum perfectionis 59. Die Armutspraxis im Dominikanerorden des beginnenden vierzehnten Jahrhunderts war dann noch einmal eine Sache für sich 60. In den ,Reden der ,Unterscheidung‘‘ finden wir zwar nur verstreut, aber nicht ohne Bezug zu den zentralen Gedanken des Meisters, Aussagen zur freiwilligen Armut: „Der heilige sprichet: swer daz kleine williclıˆche læzet, der enlæzet ez niht aleine, meˆr: er læzet allez, daz werltlıˆche liute mügen gewinnen, jaˆ, ouch, daz sie mügen begern; wan, der sıˆnen willen und sich selber læzet, der haˆt alliu dinc gelaˆzen als wærlıˆche, als sie sıˆn vrıˆ eigen wæren und [er] sie besezzen hæte in ganzem gewalte. Wan, daz duˆ niht enwilt begern, daz haˆst duˆ allez übergeben und gelaˆzen durch got. Dar umbe sprach unser herre: ,saelic sint die armen des geistes‘, daz ist des willen. Und hier ane ensol nieman zwıˆvelen: wære dehein bezzer wıˆse, unser herre hæte sie gesprochen, als er ouch sprach: ,swer mir welle naˆchvolgen, der verzıˆhe sich sıˆn selbes ze dem ˆersten‘: daˆ liget ez allez ane. Nim dıˆn selbes war, und swaˆ duˆ dich vindest, daˆ laˆz dich; daz ist daz aller beste.“ 61

Selbstwahrnehmung soll nicht zu einer höheren Form von Selbstentfaltung führen, sondern zum von Christus nahe gelegten ,sich selbst lassen‘ - von Eckhart als Lassen des eigenen Willens gesehen, in dem ich das Begehrte ,habe‘, auch wenn ich es noch nicht physisch besitze. Die geistliche Armut des Ordensgelübdes ist nichts anderes als eine spezielle Form der allen Menschen aufgegebenen Gelassenheit. Diese in der Entäußerung des Eigenwillens zu erreichende Armut des Geistes ist der Beginn der Vollkommenheit und Seligkeit: „Dar umbe, doˆ unser herre von allen sæligen sachen wolte reden, doˆ saste er die armuot des geistes ze einem houbete ir aller und was diu ˆerste ze einem zeichen, daz alliu sælicheit und volkomenheit al und alzemaˆle ein beginnen haˆn in der armuot des geistes.“ 62 Wirklich arm - und damit glücklich - ist, wer nichts begehrt, bedürfnislos lebt wie Diogenes in der Tonne: „Dar umbe sprach der, der in der kuofen bloˆz saz, ze dem groˆzen Alexander, der alle werlt under im haˆte: ,ich bin […] vil ein grœzer herre dan duˆ bist; wan ich haˆn meˆr 58 59

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Cf. Expositio regulae beati Augustini (nt. 12), Prooem., 5, 51 sq. Cf. U. Horst, Evangelische Armut und Kirche. Thomas von Aquin und die Armutskontroversen des 13. und beginnenden 14. Jahrhunderts (Quellen und Forschungen zur Geschichte des Dominikanerordens, N. F. 1), Berlin 1992, bes. 29-132; id., Bischöfe und Ordensleute. Cura principalis animarum und via perfectionis in der Ekklesiologie des hl. Thomas von Aquin, Berlin 1999, 154-160. Für Köln ist belegt, dass zahlreiche Dominikaner und Brüder anderer Orden ,Leibrenten‘, die Früchte kapitalisierter Erbteile, und persönliche Zuwendungen annahmen; cf. G. Löhr, Beiträge zur Geschichte des Kölner Dominikanerklosters im Mittelalter, Teil I (QF 15), Leipzig 1920, 16-29. RdU, c. 3 (DW V, 195, 2-196, 4); N. Largier, Meister Eckhart: Werke II, 794, sieht hier eine Anspielung auf Gregor den Großen oder Augustinus; cf. RdU, c. 23 (DW V, 298, 11-299, 2). RdU, c. 23 (DW V, 297, 4-8).

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versmæhet, dan duˆ besezzen haˆst‘.“ 63 Mit dem Gehorsam sieht Eckhart freiwillige Armut als Tugend, die durch Übung, ja durch Auf-sich-Nehmen von Verachtung, zu festigen und in ihrem ,Wesen und Grund‘ zu gewinnen ist: „Ouch ist ez seˆre nütze, daz im der mensche niht laˆze genüegen dar ane, daz er haˆt die tugende in dem gemüete als gehoˆrsame, armuot und ander tugende, sunder der mensche sol sich selber an den werken und an den vrühten üeben der tugende und sich dicke versuochen und begern und wellen von den liuten werden geüebet und versuochet. Wan daˆ mite enist ez niht genuoc, daz man tuo diu werk der tugent oder die gehoˆrsame getuon müge oder armuot oder smaˆcheit enpfaˆhen müge oder daz man sich mit einer andern wıˆse gedeˆmüetigen oder gelaˆzen müge, sunder man sol dar naˆch staˆn und niemer uˆfhœren, biz man die tugent gewinne in irm wesene und in irm grunde.“ 64

Doch so wichtig die geistliche Armut als Ansatzpunkt des Weges zur Vollkommenheit ist, sie ist auch für Meister Eckhart nicht das Ziel, keine in der Anschauung Gottes bleibende perfectio evangelica in sich. Wenn der Mensch sich des Seinen ganz entledigt hat, wird der unermessliche unbegreifliche Gott selbst sein Reichtum: „Entriuwen, wilt duˆ denne dıˆne armuot alle wandeln, soˆ ganc ze dem genüegenden schatze alles unmæzigen rıˆchtuomes, soˆ wirst duˆ rıˆch; wan duˆ solt daz wizzen in dir, daz er aleine ist der schatz, an dem dir mac genüegen und dich mac ervüllen. ,Dar umbe‘, sprich, ,wil ich ze dir gaˆn, daz dıˆn rıˆchtuom ervülle mıˆne armuot und alliu dıˆn unmæzicheit ervülle mıˆne ˆıtelkeit und dıˆn unmæzlıˆchiu, unbegriffenlıˆchiu gotheit ervülle mıˆne alze snœde verdorbene menscheit‘.“ 65

Das dritte Ordensgelübde, die Keuschheit, wird nur einmal erwähnt - in dem Gebet, das die in Kapitel 20 eingefügte Predigt über das Sakrament der Eucharistie abschließt: „Die [eˆwicheit] gebe uns der leˆrære der waˆrheit und der minnære der kiuscheit und daz leben der ˆewicheit. Aˆmen.“ 66 Die Lebensform des Ordens der Predigerbrüder ist durch die Synthese von Kontemplation und Aktion geprägt, für die Thomas von Aquin die treffende Kurzformel ,contemplari et contemplata aliis tradere‘ 67 gefunden hat. Meister Eckhart geht noch tiefer und findet in dem Wunsch nach ungestörter beschaulicher Abgeschlossenheit einen subtilen Egoismus, der gläubige Gottesverbundenheit in innerem Frieden nicht fördert, sondern hindert: 63 64

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Ibid., 300, 2-4. RdU, c. 21 (DW V, 281, 13-282, 4). So sehr das an Thomas‘ von Aquin Konzept des habitus anklingt - hierzu P. Nickl, Ordnung der Gefühle. Studien zum Begriff des habitus (Paradeigmata 24), Hamburg 2001, 36-53 -, hat in dessen System der Tugenden paupertas spiritus keinen Platz als eigene Tugend; wohl ist sie der caritas zugeordnet als die der Furcht (timor) entgegengesetzte Glückseligkeit (beatitudo); cf. S. th. II-II, q. 19, a. 12, c. RdU, c. 20 (DW V, 267, 1-7). Ibid., 274, 5-7. Quint weist in seinen Anmerkungen zur Stelle darauf hin, dass unter den Varianten „leˆrære […] minnære“ am besten belegt sind und einen sinnvollen Text ergeben. In der die dominikanische Komplet beschließenden Antiphon ,O lumen ecclesiae‘ (Completorii [nt. 18], 25 sq.) heißt es vom hl. Dominikus „Doctor veritatis, rosa patientiae, ebur castitatis“; doch der Textzusammenhang legt hier Gott selbst als „leˆrære der waˆrheit und der minnære der kiuscheit“ nahe, der das „leben der ˆewicheit“ gibt. S. th. II-II, q. 188, a. 6, c.

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„Die menschen sprechent: ,eyaˆ, herre, ich wölte gerne, daz mir alsoˆ wol mit gote wære und alsoˆ vil andaˆht hæte und vride mit gote, als ander liute haˆnt, und wölte, daz mir alsoˆ wære oder ich alsoˆ arm si‘, oder: ,mir enwirt niemer reht, ich ensıˆ denne daˆ oder daˆ und tuo sus oder soˆ, ich muoz in ellende sıˆn oder in einer kluˆsen oder in einem kloˆster‘. In der waˆrheit, diz bist duˆ allez selber und anders niht zemaˆle. Ez ist eigener wille, aleine enweist duˆ es niht oder endünket dich es niht: niemer enstaˆt ein unvride in dir uˆf, ez enkome von eigenem willen, man merke ez oder man enmerke ez niht. Swaz wir daz meinen, daz der mensche disiu dinc sol vliehen und jeniu sol suochen - daz sint die stete und die liute und die wıˆse oder diu menige oder diu werk -, daz enist niht schult, daz dich diu wıˆse oder diu dinc hindernt: duˆ bist ez in den dingen selber, daz dich hindert, wan duˆ heltest dich unordenlıˆche in den dingen.“ 68

Was der Meister hier kritisiert, ist nicht nur eine ungeordnete Zuwendung zu Geschaffenem 69, er fordert: „hebe an dir selber an ze dem ˆersten und laˆz dich.“ 70 Eine radikale Spiritualität, doch eine für alle, die es ernst nehmen wollen, lebbare. Sie kann nicht nur den Predigerbruder tragen; er kann sie auch Menschen, die keine Ordensgelübde abgelegt haben, weiter vermitteln, denn sie geht auf das Grundlegende christlicher Existenz überhaupt. Einem Missverständnis, das Kurt Ruhs Charakterisierung Eckharts als ,Ordensspirituale‘ 71 mit sich bringen kann, muss hier begegnet werden. Nicht nur bei den Minderbrüdern, auch bei den Dominikanern gab es Spirituales, Anhänger einer radikalen geistlichen Richtung. Sie waren jedoch mit den franziskanischen nicht vergleichbar; es ging ihnen nicht um Kirchenkritik und Armut als allgemeines Lebensideal, sondern um eine stark individualistische Frömmigkeit - bis hin zu eremitischen Neigungen 72. Um diese Sonderform entstand spätestens ab 1319 ein so heftiger Streit, dass - nachdem der Generalmeister Hervaeus Natalis in mehreren Rundschreiben zu Frieden, Einigkeit und Orientierung auf die apostolische Lebens- und Arbeitsform in gemeinsamem Gebet, Studium und Predigt gemahnt hatte 73 - sich das Generalkapitel in Florenz 1321 zum Einschreiten genötigt sah 74. Auch wenn Meister Eckharts Worte allgemeiner gefasst sind, gelten sie unter anderem den dominikanischen Spirituales: 68 69

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RdU, c. 3 (DW V, 191, 6-193, 2). Bei Thomas von Aquin die eigene Betrachtungsweise der Sündendefinition des Augustinus „Peccatum est dictum vel factum vel concupitum contra legem aeternam“. Er sieht in der Sünde eine Unangemessenheit (,caret debita commensuratione‘) gegenüber dem letzten Ziel des Menschen (S. th. IIII, q. 71, a. 6, c), so dass er sie als ,aversio a fine‘ begreift (ibid., ad 3). Cf. dazu auch den jüngst erschienenen Band 22 der Deutschen Thomasausgabe, Die Sünde, komm. v. O. H. Pesch, Graz-Wien 2004. RdU, c. 3 (DW V, 193, 3). Cf. Meister Eckhart (nt. 1), 31. Bekanntester Exponent dieser Richtung war Dalmatius Moner (1291-1341); cf. Proprium officiorum Ordinis Praedicatorum, Rom 1982, 388 sq. Amtierte 1318-1323. Litterae encyclicae Magistrorum Generalium Ordinis Praedicatorum, ab a. 1233 usque ad a. 1376, rec. B. M. Reichert (MOPH 5), Rom 1900, Nrr. 70-73, 220-230. Cf. Acta cap. Gen. II (MOPH 4), 137 sq.; cf. R. P. Mortier: Histoire des maıˆtres ge´ne´raux de l’ordre des Fre`res preˆcheurs, vol. II, Paris 1905, 557-560.

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„Ich wart gevraˆget: etlıˆche liute zügen sich seˆre von den liuten und wæren alles gerne aleine, und dar ane læge ir vride, und daz sie wæren in der kirchen, ob daz daz beste wære? Doˆ sprach ich: nein! und merke, war umbe! Wem reht ist, in der waˆrheit, dem ist in allen steten und bıˆ allen liuten reht. Wem aber unreht ist, dem ist unreht in allen steten und bıˆ allen liuten. Wem aber reht ist, der haˆt got in der waˆrheit bıˆ im. Wer aber got rehte in der waˆrheit haˆt, der haˆt in in allen steten und in der straˆze und bıˆ allen liuten als wol als in der kirchen oder in der einœde oder in der zellen; ob er in anders rehte haˆt und ob er in aleine haˆt, den menschen enmac nieman gehindern.“ 75

Im damaligen Kirchenrecht war der Übertritt von einem Orden in einen anderen nur dann möglich, wenn dieser, in den der Ordensangehörige überwechseln wollte, als strenger eingestuft wurde - es sei denn mit päpstlicher Dispens 76. Gegenüber dem Dominikaner- und Franziskanerorden galten nur noch die Kartäuser als strenger. Wie wir bereits bei den vorangegangenen Fragen gesehen haben, nimmt Eckhart auch hier in allgemeinerer Weise Stellung: „Swie wol im naˆchmaˆles ein ander wıˆse baz gevellet, soˆ sol er [der mensche] gedenken: dise wıˆse haˆt dir got zuo gegeben, und sıˆ im diu aller beste […]. Wan, daz der mensche wölte allez tuon und diz und daz und von sıˆner wıˆse laˆzen und nemen eines andern wıˆse, diu im nuˆ vil baz geviele, in der waˆrheit, daz machete groˆze unstæticheit; wan de´r mensche ˆe volkomen würde, der uˆz der werlt kæme zemaˆle in ´einen orden, dan de´r iemer würde, der uˆz ´einem orden kæme in einen andern, swie heilic der ouch gewesen wære: daz ist durch die wandelunge der wıˆse.“ 77

Die Form der collatio erklärt, warum in Meister Eckharts ,Rede der underscheidunge‘ so vieles zu fehlen scheint: Sie sind eben keine instructiones, sondern geistliche Vorträge, in denen der Prior von Erfurt und Vikar der Region Thüringen ohne Zwang zur Vollständigkeit die Themen ansprechen kann, die ihm besonders wichtig sind und auf die Fragen reagiert, die seine Mitbrüder (und -schwestern?) ihm stellen. Dafür, dass Eckhart sich hier des Deutschen bedient, sieht Kurt Ruh den „spirituellen Mehrwert der Volkssprache“ als tieferen Grund 78. Mit Sicherheit lässt sich zumindest sagen, dass eine solche Aufwertung die Folge seines deutschen Œuvres ist. Für die Sprachwahl gibt es allerdings auch einen ganz praktischen Grund: Zum Dominikanerkonvent - der Klostergemeinschaft - gehörten anders als bei den Benediktinern und Zisterziensern auch die fratres conversi, die Laienbrüder, vollgültig dazu. Außerdem war es mehr und mehr eingerissen, dass bereits Jungen im Alter von etwa zehn bis zwölf Jahren, die das Latein erst noch lernen mussten, in das Kloster kamen 79. Über75 76

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RdU, c. 6 (DW V, 200, 10-201, 9). Cf. R. Wiegand, Zur Lehre von der Dispensmöglichkeit des Gelübdes in Raymunds ,Summa de poenitentia‘ und bei ihren Bearbeitern, in: Escritos del Vedat 7 (1977), 329-354, bes. 330332. Für den Wechsel vom Zisterzienser- in den Dominikanerorden cf. Const. ant. (nt. 6), d. 1, c. 14, 18 sq. RdU, c. 22 (DW V, 285, 5 sq. u. 286, 2-7); cf. ibid., c. 17 (DW V, 252, 9-11): „Ein ieglıˆcher halte sıˆne guote wıˆse und ziehe dar ˆın alle wıˆse und neme in sıˆner wıˆse alliu guot und alle wıˆse. Wandelunge der wıˆse daz machet ein unstæte wıˆse und gemüete.“ Cf. Meister Eckhart (nt. 1), 43-45. Heinrich Seuse ist das bekannteste Beispiel. Er kam im Alter von ca. 12 Jahren in den Konstanzer Dominikanerkonvent, und das mit einer finanziellen Ausstattung, die ihn später fürchten ließ, er sei deswegen als Simonist der ewigen Verdammnis verfallen. Cf. Vita, prol., in: Heinrich

Die ,Rede der underscheidunge‘

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dies ist es nicht nur möglich, sondern sogar wahrscheinlich, dass in die ,Rede der underscheidunge‘ auch Ansprachen und Gespräche des Vikars vor und mit Schwestern in Dominikanerinnenklöstern seines Amtsbereiches eingeflossen sind. Von den Gemeinschaften, zu denen er sprach, kann also nicht vorausgesetzt werden, dass alle Mitglieder hinreichend des Lateins mächtig waren, um ihn in dieser Sprache zu verstehen. Meister Eckhart und seine geistliche Lehre sind nicht nur Besitz seines Ordens, einer Nation, einer Konfession. Sie sind ein Beitrag zu einer Spiritualität der Menschheit, zu einer Umkehr vom Weg des Egoismus und der Durchsetzung eigener Interessen, die heute nötiger ist denn je. Eckharts Herkunft, die ihn prägenden Faktoren, die Gesellschaft und ihre Gruppen, in denen er wirkte, aufzuzeigen, heißt nicht, sein Proprium aufzulösen 80, sondern seine Originalität genauer zu erkennen. Bereits in den ,Rede der underscheidunge‘ tritt das Charakteristische seiner Lehre deutlich hervor. Was er sagt, gilt nicht nur für Ordensleute, es ist allgemein gültig. „Er stellt hohe und höchste Anforderungen an den Christenmenschen [nicht nur an ihn], der nach dem ,rechten‘ Leben, einem Leben in Gott, strebt. Doch es sind Anforderungen ohne jegliche asketische Härte.“ 81 Eckhart hat hier, wie in seinem ganzen Werk, als Prediger, Lehrer und Oberer den Tradierungsprozess im Dominikanerorden mitgestaltet - und dieser ist nicht als Selbstzweck verstehbar, zu dem contemplari gehört notwendig das ,contemplata aliis tradere‘. Trotz Anfeindungen aus den eigenen Reihen und Zensur ist das nicht ohne Wirkung geblieben, durch seine unmittelbaren Schüler, unter denen Heinrich Seuse und Johannes Tauler herausragen, und durch spätere Generationen, die in ihm einen ,homo doctus et sanctus‘ erkannten 82.

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Seuse, Deutsche Schriften. Im Auftrag der Württembergischen Kommission für Landesgeschichte ed. v. K. Bihlmeyer, Stuttgart 1907, 8, 4-6. Cf. auch c. 21, 62, 23-63, 6 (wo er berichtet, wie ihn Meister Eckhart von dieser Angst befreite). Um 1232-1235 wurden achtzehn Jahre als Mindestalter für die Aufnahme festgelegt; cf. Const. ant. (nt. 6), d. 1, c. 14, 325, 23. Zahlreiche Mahnungen der Generalkapitel bezeugen, dass diese Bestimmung in den Konstitutionen nicht immer befolgt wurde. Das fürchtete O. Jungen, Morgen in Erfurt. Die Eckhart-Forschung entdeckt die Einheit des Meister-Werkes, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 228, Mi., 01. 10. 2003, N3. Ruh, Geschichte (nt. 1), 266. Bereits Humbertus de Romanis schrieb (Expositio regulae beati Augustini [nt. 12], prooem., 1, 45 sq.): „multae sunt regulae quae imponunt multas observantias corporales: regula vero beati Augustini magis consistit circa spirituales actiones, ut sunt dilectio Dei et proximi, unitas cordium, concordia morum et similia, ut patet fere per totum. Quis autem nesciat exercitia spiritualia praevalere exercitationibus corporalibus, sicut spiritus praevalet corpori, et lex spiritualis legi carnali?“ Cf. Johannes Meyer, Liber de viris illustribus Ordinis Praedicatorum, n. 48; ed. B. M. Reichert (QF 12), Leipzig 1918, 32; cf. L. Sturlese, Meister Eckharts Weiterwirken. Versuch einer Bilanz, in: H. Stirnimann (ed., in Zusammenarbeit mit R. Imbach), Eckardus Theutonicus, homo doctus et sanctus. Nachweise und Berichte zum Prozeß gegen Meister Eckhart (Dokimion 11), Freiburg/Schweiz 1992, 169-183.

sich erbilden. Überlegungen zur Semantik der Habitualisierung in den ,Rede der underscheidunge‘ Meister Eckharts Burkhard Hasebrink (Freiburg i. Br.) „Eine Einführung in die richtige Lebensführung und -haltung im Kloster“ so hat Kurt Ruh in seiner ,Geschichte der abendländischen Mystik‘ die Pragmatik der ,Rede der underscheidunge‘ umrissen 1. Der Traktat diene nicht der Erbauung, der Andacht oder der Meditation, sondern der Belehrung. Für die kulturwissenschaftlich orientierte Fragestellung nach der Kontextualisierung von Literatur bilden damit die ,Reden der Unterweisung‘ ein herausragendes Beispiel. Das Kloster gilt als privilegierter Ort religiöser Vervollkommnung, und auch wenn die Mendikanten sich allgemeinen kirchlichen Aufgaben stellten, sind sie keineswegs von den Wissensformationen der Mönchskultur abgeschnitten. Die ,Reden‘ verhandeln die Logik dieser Kultur und geben damit einen spannenden Einblick in die Begründungsmuster einer sozialen Ordnung. Diese Ordnung verhandelt ,Vervollkommnung‘ zugleich als Absage an eine Welt, die, um mit Eckhart zu sprechen, von Leiblichkeit, Mannigfaltigkeit und Zeitlichkeit gekennzeichnet ist. Es liegt auf der Hand, dass eine solche Verneinung sich in einer latent paradoxen Konstellation befindet, insofern die religiösen Praktiken der Weltabsage stets neue symbolische Formen der kulturellen Ordnung hervorbringen. In dieser diskursiven Konstellation nehmen die ,Rede der underscheidunge‘ einen herausragenden Platz ein. Ich möchte daher eine Lektüre vorschlagen, die den Traktat auf eine grundlegende paradoxe Figur der Klosterkultur bezieht. Diese Konstellation, ich werde das gleich näher ausführen, suchen die ,Reden‘ zu entschärfen; ich lese sie daher als Versuch einer Entparadoxierung jener Risiken der Weltverhaftung, die Eckhart in den ,Reden‘ verhandelt. Dabei verstehe ich ,Kloster‘ auch in seiner metaphorischen Bedeutung; zur Debatte steht ein Modell der Heiligung, dessen Geltung für einen Orden von großer Bedeutung sein dürfte, der sich programmatisch auf das ,contemplata aliis tradere‘ bezieht. Daraus ergibt sich mein Programm. Dass Eckhart selbst diese prekäre Zuspitzung solcher Praktiken der Vervollkommnung in den ,Rede der underscheidunge‘ in den Blick nimmt, ist in einem ersten Schritt zu zeigen. Denn Eckhart kritisiert nicht einfach überzogene Formen klösterlicher Askese, sondern arbeitet 1

K. Ruh, Geschichte der abendländischen Mystik, vol. 3: Die Mystik des deutschen Predigerordens und ihre Grundlegung durch die Hochscholastik, München 1996, 259.

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an der Lösung eines Problems, das Peter Fuchs „Paradoxie der Weltflucht“ genannt hat 2. In einem zweiten Schritt möchte ich die wichtigsten Linien des Lösungsansatzes skizzieren, den Eckhart in den ,Reden‘ vorträgt. Ich knüpfe dabei insbesondere an die Beiträge von Georg Steer 3 und Markus Enders 4 an; mit den Stichworten ,Habitualisierung und Heiligkeit‘ möchte ich reformulieren, was Ruh möglicherweise mit ,Lebenshaltung‘ gemeint haben könnte: dass die klösterliche Vervollkommnung als Prozess der Habitualisierung verstanden wurde, der in der Einübung einer grundlegenden Selbstentäußerung mit dem Ziel bestand, gänzlich vom Willen Gottes durchformt zu werden. Die Ethik der Abgeschiedenheit bleibt also in den ,Reden‘ an ein Modell asketischer Entsagung gebunden, auch wenn das Konzept der Askese in spezifischer Weise spiritualisiert wird. Dabei spielt die Semantik von gemüete und erbilden eine besondere Rolle. Sehr aufschlussreich scheint mir zu sein, dass man jenes Wort, das man fast als Antonym zu erbilden verstehen kann, in den Erfurter ,Reden‘ Eckharts vergeblich sucht; entbilden kennen sie nicht. Möglicherweise kann man gerade deshalb anhand der Distribution von erbilden und entbilden eine erste Differenz markieren. Diese Differenz ist meines Erachtens konstitutiv für die Abgrenzung der ,Reden‘ von einem Modell der Gelassenheit, in dem sich die Logik der Gelassenheit konsequent auf diese selbst richtet und damit das Programm der Askese seine bestimmende Geltung verliert. Loris Sturlese hat auf den Umstand aufmerksam gemacht, dass schon die ,Reden‘ den spezifischen metaphysischen Begründungsanspruch Eckharts aufweisen 5. Zudem zeigt Dietmar Mieth in ,Lectura Eckhardi II‘ anlässlich seiner Lektüre der Predigt 86 zu Maria und Martha, wie unverkennbar Linien der Kontinuität die ,Reden‘ mit den deutschen Predigten verbinden 6. Mit Blick auf die These von der paradoxen Engführung einer abnegatio creaturae 7 möchte ich dennoch in einem dritten Schritt - auch dies skizzenhaft - die ,Reden‘ behutsam von den späteren Schriften abheben. Unter dem Stichwort der ,Selbstreferenz des ersten Grundes‘ möchte ich die ,Reden der Unterweisung‘ von der 2

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Cf. P. Fuchs, Die Weltflucht der Mönche. Anmerkungen zur Funktion des monastisch-aszetischen Schweigens, in: N. Luhmann/P. Fuchs, Reden und Schweigen, Frankfurt a. M. 1989, 2145. Cf. G. Steer, würken vernünfticlıˆchen. Das ,christliche‘ Leben nach den ,Reden der Unterweisung‘ Meister Eckharts, in: R. Blumrich/P. Kaiser (eds.), Heinrich Seuses Philosophia spiritualis. Quellen, Konzept, Formen und Rezeption. Tagung Eichstätt 02.-04. Oktober 1991 (Wissensliteratur im Mittelalter 17), Wiesbaden 1994, 94-108. Cf. M. Enders, Die ,Reden der Unterweisung‘: Eine Lehre vom richtigen Leben durch einen guten und vollkommenen Willen, in: K. Jacobi (ed.), Meister Eckhart: Lebensstationen - Redesituationen (Quellen und Forschungen zur Geschichte des Dominikanerordens, N. F. 7), Berlin 1997, 69-92. Cf. L. Sturlese, Meister Eckhart. Ein Porträt (Eichstätter Hochschulreden 90), Regensburg 1993, 7-10. Cf. D. Mieth, Predigt 86, Intravit Iesus in quoddam castellum, in: G. Steer/L. Sturlese (eds.), Lectura Eckhardi II, Stuttgart 2003, 139-175. Nach: EW I, 754.

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Armutspredigt her betrachten, die mit ihrem Konzept der Selbstidentität des ungeschaffenen Ich in der causa prima das Modell klösterlicher Initiation auf radikale Weise übersteigt. An die Stelle einer Zusammenfassung stelle ich schließlich eine Geschichte aus dem Zen-Buddhismus, die in ihrer Narrativität vielleicht prägnanter die Paradoxie der Weltverneinung zum Ausdruck bringt, als es meine eigenen Ausführungen vermögen. Es geht um Spiegel und Staub; und damit sind wir bereits mitten in der Lehre von Selbstentäußerung, Einübung und Habitualisierung der Gelassenheit. I. Die Paradoxie der Weltver neinung „Daz sint die rede, die der vicarius von türingen, der prior von erfurt, bruoder eckhart predigerordens mit solchen kindern haˆte, diu in dirre rede vraˆgeten vil dinges, doˆ sie saˆzen in collationibus mit einander.“ 8 Als collationes gelten die klösterlichen Lehrgespräche, wie sie auf Cassian zurückgehen, dessen ,Collationes‘ zu den Standardwerken monastischer Literatur im Dominikanerorden zählten 9. Den Titel ,Rede der underscheidunge‘ weist nur eine kleine Gruppe von Handschriften auf, nach einem Vorschlag Josef Quints wird er mit ,Reden der Unterweisung‘ übersetzt 10. Quint orientiert sich dabei an einer Begriffsbestimmung von collationes in der ,Regula Sancti Isidori‘, in der die Funktion dieser Lehrgespräche als instructio in den mores bestimmt wird. Dass Eckhart dabei die Legitimität klösterlichen Lebens im Blick hat, lässt sich mit zahlreichen Textstellen belegen. Eckhart spricht als Dominikaner; aber zweifellos visiert er grundlegende Fragen der Klosterkultur an, wobei ,Kloster‘ nicht einfach einen Ort des Rückzugs aus der Welt bezeichnet, sondern den Vollzug einer inneren Abkehr bereits miteinschließt. Um die Aporien einer solchen Abkehr geht es in den Erfurter ,Reden‘. So untermauert er seine Forderung nach Beständigkeit in der Lebensweise mit dem Beispiel eines Ordenswechsels: „wan de´r mensche ˆe volkomen würde, der uˆz der werlt kæme zemaˆle in ´einen orden, dan de´r iemer würde, der uˆz ´einem orden kæme in einen andern, swie heilic der ouch gewesen wære: daz ist durch die wandelunge der wıˆse.“ 11 Abwendung von der Welt und Stetigkeit in der eigenen Weise sind Merkmale einer geistlichen Vervollkommnung, die ,innerlich‘ zu vollziehen ist und nicht durch die Wahl eines vermeintlich günstigeren Ortes qualifiziert werden kann 12. Noch ausdrücklicher kommt 8 9 10

11 12

DW V, 185, 1-6. Ich verweise auf den klärenden Beitrag von Walter Senner in diesem Band. Cf. DW V, 313. Zur Kombination von rede und einem Registertitel ,materie der underscheidunge‘ cf. K. Ruh, Meister Eckhart. Theologe, Prediger, Mystiker, München 21989, 31. DW V, 286, 4-7. Diese Verinnerlichung betrifft auch die Ordensgelübde wie Gehorsam und Armut sowie andere Tugenden: „Ouch ist ez seˆre nütze, daz im der mensche niht laˆze genüegen dar ane, daz er haˆt die tugende in dem gemüete als gehoˆrsame, armuot und ander tugende“ (DW V, 281, 13-15). Ebenfalls führen asketische Praktiken der Entsagung zu großer Freude, wenn sie aus der Liebe heraus vollzogen werden: „Wan daz wære einem minnenden menschen ein groˆziu vröude, daz er vil und groˆziu dinc vermöhte, ez sıˆ an wachenne, an vastenne oder an andern üebungen und an sunderlıˆchen groˆzen und swæren dingen“

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Eckhart auf rituelle Praktiken des Klosterlebens zu sprechen, wenn er die wahre peˆnitencie bestimmt 13. Wiederum kritisiert er die Vorstellung, die erstrebte Vervollkommnung werde durch die Ausführung asketischer Übungen allein erzielt: „Vil liute dünket, daz sie groˆziu werk süln tuon von uˆzern dingen, als vasten, barvuoz gaˆn und ander dinc des glıˆche, daz peˆnitencie heizet.“ 14 Die wahre poenitentia werde durch äußere Werke nur verhindert; sie liege vielmehr darin, dass sich das gemüete gänzlich von den Dingen frei mache und sich in Gott erhebe: „Disiu peˆnitencie [DW V, 246, 3: diu waˆre peˆnitencie] ist ein zemaˆle erhaben gemüete von allen dingen in got, und in welchen werken duˆ diz allermeist gehaben maht und haˆst von den werken, diu tuo aller vrıˆlıˆchest; und hindert dich des dehein uˆzerlich werk, ez sıˆ vasten, wachen, lesen oder swaz ez sıˆ, daz laˆz vrıˆlıˆche aˆne alle sorge, daz duˆ hie mite iht versuˆmest deheine peˆnitencie.“ 15

In die Kritik geraten selbst innicheit, andaˆht und jubilieren 16, also meditative und ekstatische Formen von Grenzüberschreitung, die Eckhart verdächtigt, reine Intensivierung des Fühlens und Empfindens zu sein 17. Im Hintergrund könnte auch das religiöse Leben in den Frauenklöstern stehen, so dass sich an solchen Stellen der Verdacht aufdrängt, Eckhart habe zwar mit jungen Ordensbrüdern gesprochen, sie aber zugleich auf die cura monialium vorbereitet, was auch die Verwendung der Volkssprache erklärte. Eckhart verwendet auch die traditionsreiche Metaphorik der Flucht, wobei er sich grundlegend dem Motiv der Abkehr von der Welt, der Apotaxis, zuwendet: „Diz enmac der mensche niht gelernen mit vliehenne, daz er diu dinc vliuhet und sich an die einœde keˆret von uˆzwendicheit; sunder er muoz ein innerlich einœde lernen, swaˆ oder bıˆ swem er ist.“ 18 Die Anwesenheit in Räumen der Heiligung mag die ,innere‘ Hinwendung zu Gott befördern, entscheidend ist es aber, dieses gemüete in der Welt der Menge, der Unruhe und der Differenz dauerhaft zu behalten: „Merke, wie duˆ dıˆnen got meinest, soˆ duˆ bist in der kirchen oder in der zellen: daz selbe gemüete behalt und trac daz under die menige und in die unruowe und in die unglıˆcheit.“ 19

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(DW V, 260, 6-8). Entsprechend werden lectio und oratio, aber auch die unter Umständen erforderlichen äußeren Werke aus dem inwendigen werke heraus vollzogen: „Wan man sol daz ouge ze disem inwendigen werke keˆren und dar uˆz würken, ez sıˆ lesen, beten oder - ob ez gebürt - uˆzwendigiu werk“ (DW V, 291, 7-9). Also die poenitentia, als deren Früchte gelten (so bei Alanus de Insulis, Summa de arte praedicatoria, c. 32, PL 210, 173 sq.; nach DW V, 344, nt. 236): remedia, orationes, jejunia, psalmodiae, vigiliae, oblationes, lectiones, eleemosynae, asperitas und habitus. DW V, 244, 5-6. DW V, 247, 1-5. Cf. DW V, 220, 1. Zu ,Ekstase‘ als Grenzüberschreitung cf. M. Gsell, Das fließende Blut der ,Offenbarungen‘ Elsbeths von Oye, in: W. Haug/W. Schneider-Lastin (eds.), Deutsche Mystik im abendländischen Zusammenhang. Neu erschlossene Texte, neue methodische Ansätze, neue theoretische Konzepte. Kolloquium Kloster Fischingen 1998, Tübingen 2000, 455-482, hier: 471. DW V, 207, 5-7. DW V, 203, 3-5. Cf. auch: „Wer aber got rehte in der waˆrheit haˆt, der haˆt in in allen steten und in der straˆze und bıˆ allen liuten als wol als in der kirchen oder in der einœde oder in der zellen“ (DW V, 201, 57).

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Vergegenwärtigen wir uns, wovon Eckhart sich abgrenzt (der Titel ,Rede der underscheidunge‘ ist in der Tat gut gewählt): Die Abkehr von der Welt durch das Leben im Kloster scheint mit Praktiken verbunden, die ,Weltflucht‘ im räumlichen Sinn realisieren durch den Rückzug an einen abgelegenen Ort, im körperlichen Sinn durch die Ausübung asketischer Praktiken und im geistigen Sinn durch lectio und oratio. Diese Praktiken sollen der eigenen Transformation dienen, doch sie bringen nur erneut ,Äußerlichkeit‘, uˆzwendicheit, hervor. Wenn man solche asketischen und meditativen Praktiken als Symbolisierungen der Gottessuche betrachtet, zeigen sie zwar einen Wechsel der kulturellen Ordnung an, nicht aber eine Überwindung des Symbolischen selbst. Oder, um mit Fuchs zu sprechen: „Apotaxis (Weltflucht) ist Paradoxieeffekt und selbst paradox gebaut. Sie erzeugt unweigerlich, was sie vermeiden will; sie stößt sich von Immanenz ab und produziert sie eben damit. Das Hin zur Transzendenz ist in einem Zuge ein Weg von Welt und Erzeugung dessen, wovor geflohen wird.“ 20

Eckharts Entschärfung dieses paradoxen Effektes in den ,Reden‘ scheint mir auf drei Punkten zu beruhen. Zum einen reduziert er die Frage nach der Gutheit einer Handlung auf die Intentionalität des Handelnden. Zum Zweiten fordert er die Negation dieser Intentionalität als Vollzug des eigenen Willens. Diese Verneinung des Eigenwillens wird schließlich drittens zur Bedingung dafür, dass der göttliche Wille in dem vom Eigenwillen befreiten Menschen notwendigerweise göttlich wirkt. Jedes in Abgeschiedenheit vollzogene Wirken des Menschen wäre damit als göttliches Wirken zu begreifen; eine solche religiöse Praxis wäre grundlegend vom Göttlichen durchformt und damit Vollzug des göttlichen Willens selbst. Die Paradoxie der Weltverneinung wäre damit aufgehoben, insofern die Praktiken der Vervollkommnung als Selbstmitteilung des göttlichen Willens selbst aufzufassen wären. Im Brennpunkt dieser Argumentation liegt offenbar die Verneinung des eigenen Willens, den Eckhart im fünften Kapitel als die entscheidende Instanz zur Hervorbringung erneuter Welt- und damit Ichhaftigkeit identifiziert - und zwar gerade in der Intensivierung des Wunsches nach Askese: „Die menschen sprechent: ,eyaˆ, herre, ich wölte gerne, daz mir alsoˆ wol mit gote wære und alsoˆ vil andaˆht hæte und vride mit gote, als ander liute haˆnt, und wölte, daz mir alsoˆ wære oder ich alsoˆ arm sıˆ‘, oder: ,mir enwirt niemer reht, ich ensıˆ denne daˆ oder daˆ und tuo sus oder soˆ, ich muoz in ellende sıˆn oder in einer kluˆsen oder in einem kloˆster‘. In der waˆrheit, diz bist duˆ allez selber und anders niht zemaˆle. Ez ist eigener wille, aleine enweist duˆ es niht oder endünket dich es niht: niemer entstaˆt ein unvride in dir uˆf, ez enkome von eigenem willen, man merke ez oder man enmerke ez niht.“ 21

Es ist wiederholt darauf hingewiesen worden, wie sehr hier Vorstellungen der puritas cordis, der tranquillitas animae und der apatheia nach Cassian und Evagrios 20 21

Fuchs, Weltflucht (nt. 2), 24 sq. DW V, 191, 6-192, 6.

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Ponticos wirksam sind 22. Wenn Eckhart in den ,Reden‘ die notwendige Überformung des entäußerten eigenen Willens durch den Willen Gottes propagiert, dann erinnert das zudem an jene consensio voluntatum, von der Bernhard von Clairvaux in seinen Hoheliedpredigten gesprochen hatte 23. Mir geht es hier nicht um Quellennachweise; ohnedies ist Eckhart sein bester Kompilator. Entscheidend scheint mir zu sein, dass Eckhart in seinen ,Reden der Unterweisung‘ eine Antwort auf das Paradox klösterlicher Existenz gibt, die zwar einerseits - ihrem instruktiven Charakter nach - ethischen Konzepten der Habitualisierung verbunden bleibt (daher gemüete), er aber andererseits diese Habitualisierung bis an die Grenzen ihrer eigenen Auflösung führt. Anders gesagt: Insofern habitus einen ,Besitz‘ bezeichnet, wird im Letzten genau dieser ,Besitz‘ zur Disposition gestellt 24. Die ,Reden‘ scheinen mir in dieser Hinsicht ein Schwellentext zu sein, in dem die Didaktisierung des asketischen Programms auf der Höhe ihrer theoretischen Durchdringung umbricht. Das auffällige Oszillieren bei der Einordnung der ,Reden‘ in das Œuvre, die zwischen Kontinuität und Diskontinuität hin und her schwankt, scheint mir hierin seine Erklärung zu finden. In dieser Ambivalenz changieren die ,Reden der Unterweisung‘ zwischen einer weitreichenden Grundlegung und einer begrenzten Perspektive. Sie verhindern nicht, dass die paradoxe Figur einer Vervollkommnung in der Welt in den deutschen Predigten erneut in ihrer ganzen Schärfe ausbricht. „Gott um Gottes willen lassen“, wird Eckhart beispielsweise in der Predigt ,Qui audit me‘ formulieren. Aber sie eröffnen mit ihrem Wechsel von den Werken zu dem Grund der Werke einen Weg radikaler Verneinung, auch wenn dieser Weg in der Form der üebunge, im gewenen, an die Logik der Askese gebunden bleibt. Ich möchte dies im nächsten Teil unter dem Stichwort ,Habitualisierung und Heiligkeit‘ näher erläutern. II. Habitualisier ung und Heiligkeit In seinen ,Collationes‘ hatte der Mönchsvater Johannes Cassianus als Ziel monastischer Vollkommenheit das Reich Gottes benannt und im Anschluss an Röm. 6, 22 von ,Heiligung‘, der sanctificatio, gesprochen 25. Systemtheoretisch ist ,Heiligung‘ als Umkehrung des Verhältnisses von Transzendentem und Immanentem zu bestimmen 26. Transzendentes erscheint als aus dem Immanenten 22 23

24 25 26

Cf. Sturlese, Meister Eckhart (nt. 5), 8. Indem er Gott und Mensch eine Einheit dem Willen nach zusprach, keine Einheit jedoch dem Wesen nach, wie sie das Verhältnis des göttlichen Vaters und des göttlichen Sohnes auszeichne. Cf. K. Ruh, Geschichte der abendländischen Mystik, vol. 1: Die Grundlegung durch die Kirchenväter und die Mönchstheologie des 12. Jahrhunderts, München 1990, 273. Cf. etwa In Ioh., n. 191 (LW III, 160, 8): habitus ist hier übersetzt mit ,Besitz‘. Cf. Ruh, Geschichte (nt. 23), 126. Zur systemtheoretischen Reformulierung von ,Heiligkeit‘ im Mittelalter cf. P. Strohschneider, Inzest-Heiligkeit. Krise und Aufhebung der Unterschiede in Hartmanns ,Gregorius‘, in: C. Huber e. a. (eds.), Geistliches in weltlicher und Weltliches in geistlicher Literatur des Mittelalters, Tübingen 2000, 105-133, hier: 133.

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Ausgeschlossenes oder, um mit Eckhart zu sprechen (Predigt 38): „Daˆ von ist got got, daz er aˆne creˆatuˆre ist.“ 27 Auf der höchsten Stufe monastischer Vollkommenheit jedoch erscheint ,Heiligung‘ als Ausschluss der Welt, Vernichtung alles Geschaffenen, oder, wiederum mit Eckhart: als Einswerden mit Gott. Während bei Cassian die Absage, die renuntiatio, Körper, Seele und Geist betrifft 28, konzentriert Eckhart in den ,Reden‘ die Forderung nach Selbstentäußerung in erster Linie auf die Ebene der Intentionalität. Seine Antwort auf die aporetische Spannung im Konzept der Apotaxis ist die radikale Verneinung des (geschaffenen) Eigenwillens, so dass die Praxis des abgeschiedenen Menschen nicht als Wirken aus dem eigenen Willen heraus gedacht wird, sondern als notwendiges Wirken des göttlichen Willens, der den menschlichen Willen gänzlich überformt hat. Damit verschiebt sich zugleich der Begriff der üebunge (ich kann hier Überlegungen von Otto Langer aufgreifen 29): üebunge bezeichnet nicht den Vollzug unterschiedlicher asketischer Praktiken, sondern richtet sich allein auf das Lassen des eigenen Willens. Damit wird auch zugleich der Begriff der Heiligkeit transformiert, der sich nicht darauf gründet, was der Mensch tut, sondern was er ist (Ruh sprach von einer ,Ethik des Seins‘ 30): „Niht engedenke man heilicheit ze setzenne uˆf ein tuon; man sol heilicheit setzen uˆf ein sıˆn, wan diu werk enheiligent uns niht, sunder wir suln diu werk heiligen.“ 31 Mit dieser Umdeutung des monastischen Konzeptes der Heiligung und Vervollkommnung wird das Verhältnis von Gott und Mensch neu bestimmt. Die Welt selbst kann geheiligt werden, insofern sie gänzlich vom Göttlichen durchdrungen ist, wie es ungehindert in einem freien und von jedem Eigenwillen losgelösten gemüete wirken kann. Nicht das Was oder das Wie der Werke sagt etwas über ihre Gutheit aus, sondern, so Eckhart, „wie der grunt der werke sıˆ “ 32. Auf diesen ,grunt der werke‘ richtet sich also der Blick. Und wiewohl Eckhart für sein Konzept der Abgeschiedenheit Selbsterkenntnis und „ein wacker waˆr vernünftigez würklıˆchez wizzen“ 33 in Anspruch nimmt, wie Georg Steer es herausgearbeitet hat, wird dieser grunt selbst in den ,Reden der Unterweisung‘ nicht als vernünfticheit bestimmt. Die Ausführungen sind vielmehr fokussiert auf den Ausdruck ledigez gemüete, das Steer zuletzt als Kennwort der ,Reden‘ bezeichnet

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DW II, 241, 2-3. Cf. Ruh, Geschichte (nt. 23), 126 sq. Cf. O. Langer, Mystische Erfahrung und spirituelle Theologie. Zu Meister Eckharts Auseinandersetzung mit der Frauenfrömmigkeit seiner Zeit (MTU 91), München 1987; id., Christliche Mystik im Mittelalter. Mystik und Rationalisierung - Stationen eines Konflikts, Darmstadt 2004, 328 sqq. Ruh, Meister Eckhart (nt. 10), 35. Cf. V. Caysa, Die Ethik des Seins in Meister Eckharts ,Reden der Unterweisung‘, in: Jahrbuch der Oswald-von-Wolkenstein-Gesellschaft 6 (1990/91), 143150; Enders, Die ,Reden der Unterweisung‘ (nt. 4), 83. DW V, 198, 1-3. DW V, 198, 9. DW V, 207, 3-4.

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hat 34. Eckhart verwendet es weiterhin offensichtlich fast nur in dem Predigtzyklus ,Von der eˆwigen geburt‘, der, wie ebenfalls Steer zeigen konnte, den ,Reden‘ sehr nahe steht. Dass sich die Vokabel gemüete bis auf wenige Ausnahmen, darunter nicht umsonst die Predigt 86, in den deutschen Schriften schließlich verliert, könnte eine plausible Erklärung haben. Denn gemüete ist hier keineswegs Bezeichnung einer Empfindsamkeit. Im Gegenteil: gemüete ist in einem terminologischen Sinn verwendet, der eng an die Vorstellung der Habitualisierung gebunden ist, die Eckhart in den ,Reden‘ favorisiert. Denn auch wenn Eckhart eine tiefgreifende Umschrift dieses monastischen Programms vornimmt, gibt er dennoch in den ,Reden‘ weder die instruktive Form des Sprechens noch die Forderung nach einer Habitualisierung als Grundform monastischen Lebens auf. Habitualisierung aber richtet sich, soweit ich die ethische Diskussion überblicke, auf die mens als ein Collectivum, das, so Albertus in ,De homine‘, memoria, intelligentia und voluntas umfasst 35. Boethius etwa definiert die Tugend als „habitus mentis bene constitutae“ 36, eine Definition, der die aristotelische Konzeption der Arete´ als He´xis zugrunde liegt. Und auch in theologischen Tugenddefinitionen, die Gott als den eigentlichen Bewirker der Tugend verstehen, wird die Tugend als eine Qualität der mens verstanden 37. Die mittelhochdeutsche Literatur kennt, wenn man von gewonheit für lat. consuetudo absieht, noch kein Äquivalent für habitus; sie kompensiert es dadurch, so Thomasin von Zerclaere in seinem ethischen Lehrgedicht zu Beginn des 13. Jahrhunderts, dass sie die stæte als konstitutives Merkmal aller Tugend versteht. ,Beständigkeit‘ der Tugend wird darin zum Zeichen ihrer habituellen Verankerung 38. Wortgeschichtlich ist ausschlaggebend, dass gemüete als Übersetzungsäquivalent für mens etabliert ist. Eine solche Entsprechung findet sich beispielsweise in den ,Sieben Staffeln des Gebets‘ Davids

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Cf. G. Steer, Meister Eckharts Predigtzyklus von der ˆewigen geburt. Mutmaßungen über die Zeit seiner Entstehung, in: W. Haug/W. Schneider-Lastin (eds.), Deutsche Mystik im abendländischen Zusammenhang. Neu erschlossene Texte, neue methodische Ansätze, neue theoretische Konzepte. Kolloquium Kloster Fischingen 1998, Tübingen 2000, 253-281, hier: 262. Nach DW V, 437, nt. 3. Cf. G. Wieland, Ethica - Scientia practica. Die Anfänge der philosophischen Ethik im 13. Jahrhundert (Beiträge zur Geschichte der Philosophie und Theologie des Mittelalters, N. F. 21), Münster 1981, 223; O. Lottin, Les premie`res de´finitions et classifications des vertus au moyen aˆge, in: id., Psychologie et morale aux XIIe et XIIIe sie`cles, vol. 3, Gembloux 1949, 99-150, hier: 99. Maßgeblich formuliert wurde dabei die theologische Definition von Hugo von St. Victor, Petrus Lombardus und Petrus von Poitiers: „Virtus est qualitas mentis qua recta vivitur, qua nemo male utitur, quam Deus in homine sine homine operatur.“ Formulierung des Petrus von Poitiers, zit. nach Lottin, Les premie`res de´finitions (nt. 36), 102, nt. 2. „Ich wil daz man sıˆn arbeit / alreˆrst an die stætekeit/wende, soˆ gewinnt man baz/die andern tugende, wizzet daz./Die andern tugende sint enwiht,/und ist daˆ bıˆ diu stæte niht.“ Der wälsche Gast des Thomasin von Zirclaria (ed. H. Rückert), Quedlinburg-Leipzig 1852. Wiederabdruck mit einer Einl. und einem Register von F. Neumann (Deutsche Neudrucke, Texte des Mittelalters), Berlin 1965, v. 1815-1820.

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von Augsburg 39 oder in der mittelhochdeutschen Übertragung der ,Summa theologiae‘ 40, wobei ich eine mögliche Synonymie von mens und animus hier vernachlässigen darf. Eckhart selbst glossiert in einer Predigt mens mit gemüete 41. Die Verwendung von gemüete sehe ich also als lexikalisches Indiz dafür, dass Eckhart in den ,Reden‘ den Weg der Vervollkommnung als Prozess einer Habitualisierung versteht, in dessen Mitte anscheinend noch nicht die spätere Präferierung der Vernunft getreten ist, sondern in dem der Blick sich in erster Linie auf die Intentionalität und die Liebe richtet 42. Gemüete scheint in den ,Reden‘ genau der Ausdruck zu sein, der beides, die Preisgabe des Eigenwillens und daneben auch das „wacker waˆr vernünftige würklıˆche wissen“, in einem Begriff umschließt. Wenn die Vermutung stimmen sollte, dass Eckhart in den ,Reden der Unterweisung‘ zwar klösterlichen Gehorsam in neuer Weise zu Abgeschiedenheit des ledigen gemüetes umdeutete, zugleich aber damit Abgeschiedenheit als wenn nicht erlernbare, so doch einzuübende Tugend verstand, und zwar als jede Tugend qualifizierende Tugend, dann musste neben gemüete auch vom habitus selbst die Rede sein. Ein deutscher Ausdruck findet sich im ,Vocabularius ex quo‘ aus dem 15. Jahrhundert, der bei dem Lemma habitus als deutsche Äquivalente gewanhait (K), ,der sel inbildung uel saelikait ‘ (X) bzw. ,der sel inbildung uel saelikait vel klait uel geziert ‘ (Y) aufweist; Lexer bietet zu erbildunge - mit Verweis auf Diefenbach ,habitus, der seˆle cleit vel erbildunge‘ 43. Wir sind damit ganz nahe an einer Vokabel, die eine weitere Leitvokabel der ,Reden‘ darstellt: sich erbilden. Ich möchte die wichtigsten Verwendungsweisen dieses Wortes kurz vorstellen, denn dieses Verb klingt wie ein Präludium auf die ausgefaltete Bildtheorie Eckharts, deren komplexe Vorstellungen, so Mauritius Wilde, im erbilden der ,Reden‘ bereits vorhanden sind 44. John Crean 46 und Mauritius Wilde haben die Verwendungsweise von 39

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Cf. David von Augsburg, Die sieben Staffeln des Gebetes. In der deutschen Originalfassung ed. v. K. Ruh (Kleine deutsche Prosadenkmäler des Mittelalters 1), München 1965, 82 (Glossar). Cf. Middle High German Translation of the Summa Theologica by Thomas Aquinas. Ed. with a Latin-German and a German-Latin Glossary by B. Q. Morgan/F. W. Strothmann (Stanford University Publications, Language and Literature 8/1), Stanford, Calif. 1950, 366 (Glossar). Pr. 83 (DW III, 437, 4-7): „Nv spricht augustinus das an dem obersten teile der selen, das do ,mens‘ heiset oder gemvote, da hat ,got‘ geschepfet mit der sele wesen eine craft, die heisent die meistere ein sloz oder einen schrin geistlicher formen oder formelicher bilde.“ In DW I-III habe ich nur diese Stelle, die Stelle in der Predigt 86 und eine Stelle in Predigt 76 (DW III, 315, 7) gefunden. Es dürfte also nicht zutreffen, dass Tauler diesen bei ihm häufig verwendeten (und neu semantisierten) Ausdruck geschaffen habe (so L. Gnädinger, Johannes Tauler. Lebenswelt und mystische Lehre, München 1993, 125). Vocabularius ex quo. Überlieferungsgeschichtliche Ausgabe. Gemeinsam mit K. Grubmüller ed. v. B. Schnell (e. a.), vol. 3: Text D-K (Texte und Textgeschichte 24), Tübingen 1988, 1188; M. Lexer, Mittelhochdeutsches Handwörterbuch. Nachdr. der Ausg. Leipzig 1872-1878 mit einer Einl. v. K. Gärtner, vol. 1: A-M, Stuttgart 1992, Sp. 615. Schon im ,Abstractum-Glossar‘ heißt es: „Habitus der sel inbildung vel der sele (seligkeit) cleyt.“ (Ich danke für diesen Hinweis sehr herzlich Bernhard Schnell, Göttingen.) Cf. M. Wilde, Das neue Bild vom Gottesbild. Bild und Theologie bei Meister Eckhart (Dokimion 24), Freiburg/Schw. 2000, 164. Cf. J. E. Crean, Bilden/beelden in the Writings of Eckhart and Ruusbroec, in: Zeitschrift für deutsche Sprache 25 (1969), 65-95.

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erbilden in den ,Reden‘ eingehend untersucht; Wilde spricht ihm eine Schlüsselfunktion zu. Ich kann mich also darauf konzentrieren, die Verwendung im Kontext einer Semantik der Habitualisierung zu bestimmen. Dabei muss ich mich auf erbilden beschränken, auch wenn es sehr reizvoll wäre, ein ganzes Wortfeld der Habitualisierung abzustecken, in dem die Verben üeben, lernen, wachsen, die kunst gewinnen, zuonemen oder das sehr häufig verwendete (ge)wenen ihren Platz hätten. Erbilden ist in der Tat ein Leitwort aus dem sechsten Kapitel ,Von der abegescheidenheit und von habenne gotes‘: Das wahre Haben Gottes, so Eckhart, „liget an dem gemüete und an einem inniclıˆchen vernünftigen zuokeˆrenne und meinenne gotes“ 47. Gott in seinem gemüete zu haben und sich ihm vernünftig zuzuwenden, heißt aber nicht, wie Eckhart fortfährt, immerfort an Gott zu denken, denn wenn der Gedanke vergehe, so vergehe auch der Gott. Stattdessen solle man einen ,gewesenden got ‘ 47 haben, und wer Gott dem Sein nach besitze, „der nimet got götlıˆchen“ 48. Alle Dinge schmecken einem solchen Menschen göttlich, „und got erbildet sich im uˆz allen dingen“ 49. In diesem erbilden und ˆınbilden ist Gott dem Menschen gegenwärtig. Es ist diese Präsenz der Er-Bildung und Ein-Bildung, die den Menschen Gott in seinem Innersten seinshaft besitzen lässt. In Predigt 38 ,In illo temporis missus est angelus Gabriel‘ wird Eckhart erbilden mit ,geborn werden‘ 50 gleichsetzen. Dieses sich erbilden Gottes im Menschen bedarf aber der völligen Selbstentäußerung des Menschen, ja es vollzieht sich geradezu inversiv zu der Willensaufgabe. Sich erbilden bezieht sich also auch auf den Menschen, wie er sich Gott erbildet. Eckhart setzt nun noch einmal an. Es geht darum, wie das gemüete gegenüber den Dingen und den Leuten steht. „Triuwen, hie zuo gehœret vlıˆz und minne und ein wol warnemen des menschen inwendicheit und ein wacker waˆr vernünftigez würklıˆchez wizzen.“ 51 Dies könne der Mensch nicht lernen, indem er die Dinge fliehe und sich in die Einöde zurückziehe. Der Mensch müsse eine innerliche Einöde lernen, wo und bei wem er sei: „Er muoz lernen diu dinc durchbrechen und sıˆnen got dar inne nemen und den krefticlıˆche in sich künnen erbilden in einer wesenlıˆchen wıˆse.“ 52 Erbilden begegnet hier in einer anderen Verwendungsweise: Nicht das sich erbilden Gottes ist gemeint, sondern der Mensch soll lernen, seinen Gott in sich in einer seinshaften Weise zu erbilden. Um zu erläutern, was mit diesem erbilden gemeint ist, greift Eckhart auf das Beispiel des Schreibenlernens zurück. Auf diesen Vergleich ist verschiedentlich hingewiesen worden; mich interessiert vor allem die Funktion des Erbildens. Um die Kunst des Schreibens zu lernen, muss der Mensch sich den Buchstaben 46 47 48 49 50 51 52

DW DW DW DW DW DW DW

V, 205, 2-3. V, 205, 8. V, 205, 10. V, 205, 11-12. II, 240, 2-3. V, 207, 2-4. V, 207, 8-9.

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erst fest verbilden 53, um dann nach langem, fleißigen Üben unbefangen und frei 54 schreiben zu können, ohne weiterhin eines Bildes zu bedürfen. Eckhart unterscheidet in diesem Vergleich genau die Phasen: Der Schüler gewinnt die Kunst erst nach langer Übung. In der Phase des Lernens muss der Schüler noch an das Bild des Buchstabens denken, wenn er schreibt. Dieser Repräsentation des Buchstabens im mentalen Bild bedarf der Schüler aber nicht mehr, wenn er die Kunst des Schreibens habituell beherrscht. Das Erbildete ist zum Vollzug der Kunst selbst geworden - oder um es plakativer zu sagen: Die Erbildung beweist sich bei der Ausübung des Schreibens in der Performativität der Handlung. Die Betonung der üebunge ist sicherlich im Allgemeinen für Eckhart eher ungewöhnlich 55; im Kontext der ,Reden‘ scheint sie mir fast zwingend. Denn mit diesem Vergleich zielt Eckhart genau auf jene Habitualisierung, eine durch Einübung und Wiederholung sich festigende performative Kunst, wie sie für das Programm einer religiösen Initiation entscheidend ist. Gott in sich erbilden wird zur Performanz eines klösterlichen Lebens; und hatte Eckhart auch äußerliche Werke der Gottsuche als Chiffren des Eigenwillens entlarvt, so bleibt er in den ,Reden‘ doch der Methodik verbunden, die diese Praktiken begleitete. Die aporetische Konstellation, durch die Abkehr von der Welt sie als Eigenwille nur umso intensiver zur Geltung zu bringen, hat Eckhart damit überwunden, doch um den Preis, damit das auf Kunst, Wiederholung und Gewohnheit basierende Modell der Habitualisierung auf die Abgeschiedenheit selbst zu übertragen. Die Durchformung des Menschen mit der Form des geliebten Gottes ist in den ,Reden‘, wie Sturlese vermerkt, nicht systematisch entfaltet 56. Sie ist konzentriert auf die Willenseinheit, die selbst wiederum eingebunden ist in einen metaphysischen Begründungszusammenhang, der Abgeschiedenheit als Bedingung für die göttliche Selbstmitteilung auffasst. Habitualisierung bezieht sich also nicht auf ein bestimmtes Können oder auf eine besondere Tugend, sondern auf den Grund jeden guten Handelns und damit auf die jede Tugend leitende Durchformung durch den göttlichen Willen 57. Der französische Soziologe Pierre Bourdieu hat ,Habitualisierung‘ als Inkorporierung der Regeln eines sozialen Feldes 53 54 55

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57

DW V, 208, 5. Die y-Gruppe hat hier: erbilden. DW V, 208, 6: „lediclıˆchen und vrıˆlıˆchen“. Cf. F. Löser, Oratio est cum deo confabulatio. Meister Eckharts Auffassung vom Beten und seine Gebetspraxis, in: W. Haug/W. Schneider-Lastin (eds.), Deutsche Mystik im abendländischen Zusammenhang. Neu erschlossene Texte, neue methodische Ansätze, neue theoretische Konzepte. Kolloquium Kloster Fischingen 1998, Tübingen 2000, 283-316, hier: 306. Cf. Sturlese, Meister Eckhart (nt. 5), 9: „Was genau diese ,göttliche Durchformung‘ bedeutet, wird man erst nach der Betrachtung von Eckharts lateinischen Werken erfahren, in denen er den theoretischen Rahmen seiner Lehre in der scholastischen Sprache verdeutlichte.“ „Tugend in sich selbst, Tugend im Grunde ist nichts anderes als Gott, diese Vorstellung umfaßt sowohl den geistlichen Gehorsam als auch die soziale Tugend der Gerechtigkeit.“ D. Mieth, Die theologische Transposition der Tugendethik bei Meister Eckhart, in: K. Ruh (ed.), Abendländische Mystik im Mittelalter. Symposion Kloster Engelberg (Germanistische Symposien-Berichtsbände 7), Stuttgart 1986, 63-79, hier: 64.

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beschrieben 58. Von ,Inkorporieren‘ hatte auch Crean in Bezug auf die ,Reden‘ gesprochen. Nur dass der Mensch nach den ,Reden der Unterweisung‘ diese ,Inkorporierung‘ allein auf das Göttliche bezieht und damit Habitualisierung als ethisches Konzept völlig singularisiert. Ist Abgeschiedenheit schließlich zum Habitus geworden, ist die Gegenwärtigkeit Gottes „aˆne alle arbeit“ 59. Doch wenn Eckhart dieses Kapitel damit beschließt, dass dazu zuerst „ein anegedenken und ein merklich ˆınerbilden“ 60 gehöre, wie dem Schüler zu der Kunst, dann ist mit dieser Logik der Habitualisierung die Gegenwärtigkeit Gottes ein reines Entgelt: „Ez ist rehte ein glıˆch widergelt und glıˆcher kouf: als vil duˆ uˆzgaˆst aller dinge, als vil, noch minner noch meˆr, gaˆt got ˆın mit allem dem sıˆnen, als duˆ zemaˆle uˆzgaˆst in allen dingen des dıˆnen.“ 61 Die ,Reden‘ verheißen göttliche Präsenz als Ertrag einer radikalen Selbstentäußerung, die durch Wahrnehmung, Selbsterkenntnis und vernünftiges Wissen befördert wird, ohne dass die Durchformung als ein Aufgehen des Intellekts in den Vollzug göttlicher Vernünftigkeit begriffen würde. Sie wird als ein sich erbilden Gottes in der gereinigten Seele verstanden, doch in der Vorstellung der performativen Ausübung der Kunst tritt eine Vorstellung von luˆterkeit und vrıˆheit zutage, die weit über die ,Reden‘ hinausweist. Die ,Reden‘ schreiben monastische Kultur fort und dekonstruieren gewissermaßen deren Grundlagen. Wenn ,Kloster‘ heißt, in der Welt der Repräsentation einen Raum für die Präsenz des Göttlichen zu schaffen, dann wird mit den ,Reden‘ dieser Raum in eine rein innere Topographie des ledigen gemüetes übergeleitet. Es wird selbst zu einer Leerstelle, die als Preis für den Versuch bezahlt wird, die Paradoxie der Weltflucht zu entschärfen. Aber die Differenz, die dieser Verneinung zugrunde liegt, hebt es selbst nicht auf, auch wenn in ihm jede Form der Vermittlung, des Diskursiven und jede Logik der Repräsentation vernichtet ist. Der Versuch, eine religiöse Ordnung von den Paradoxien ihrer stets neuen Erzeugung kultureller Deutungsmuster zu befreien, indem jede kreatürliche Intentionalität verneint wird, ist radikal. Aber er lässt die Unterscheidung zwischen Gott und Mensch selbst unangetastet. Der Weg der Heiligung wird als Habitualisierung der Gelassenheit verstanden, aber ist dieser durch Temporalisierung gekennzeichnete Weg möglicherweise selbst Ausdruck jener Intentionalität, die er verneint? Ist im ,wahren Haben Gottes‘ nicht noch ein Haben (habitus als ,Besitz‘), im ,vernünftigen Wissen‘ nicht noch ein Wissen und selbst im Freiwerden für den göttlichen Willen noch ein Wollen mitgedacht? Abgrenzungen der ,Reden‘ von den deutschen Predigten ließen sich auf vielfache Weise vornehmen. Doch es scheinen mir besonders die Armutspredigt und die Predigt 12 ,Qui audit me‘ zu sein, die den 58

59

60 61

Cf. P. Bourdieu, Praktische Vernunft. Zur Theorie des Handelns (Raisons pratiques. Sur la the´orie de l’action, 1994). Aus dem Französischen v. H. Beister (edition suhrkamp, N. F. 985), Frankfurt a. M. 1998, bes. 145. DW V, 209, 1. Zur Leichtigkeit der Akte aus dem Tugendhabitus cf. In Ioh., n. 186 (LW III, 156, 2-4): „isti autem, utpote perfecti, ad Christum, filium, gratiam et veritatem pertinentes sunt leves, hilares, gaudiosi, faciles, quieti, suaves et deliciosi.“ DW V, 209, 3. DW V, 197, 1-3.

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Wandel der Perspektive sichtbar werden lassen, der mit der Hinwendung zur ,eˆrsten sache‘ 62, wie es in der Armutspredigt heißt, oder zum ,eˆrsten uˆzvluzze‘ 63, so in Predigt 12, verbunden ist. Unter dem Stichwort der ,Selbstreferenz des ersten Grundes‘ möchte ich im dritten Schritt diesen Perspektivenwechsel kurz hervorheben.

III. Selbstreferenz des ersten Gr undes Dabei gibt die Predigt 12 die Forderung, den Willen Gottes wirken zu lassen, keineswegs auf: „Der mensche, der nuˆ alsoˆ staˆt in dem willen gotes, der enwil niht anders, dan daz got ist und daz gotes wille ist.“ 64 Damit ist aber Gelassenheit noch nicht erfüllt: „Daz hœhste und daz næhste, daz der mensche gelaˆzen mac, daz ist, daz er got durch got laˆze.“ 65 Wenn Weltverneinung zum Paradox einer erneuten Konstruktion kultureller Formen führt, dann ist mit dieser selbst paradoxen Überbietung des ,Gott um Gottes willen lassen‘ die Leitdifferenz des religiösen Diskurses selbst zum Gegenstand der Verneinung geworden. Der Mangel, die Abwesenheit Gottes, hatte das Programm der Heiligung als ein Gewinnen Gottes verstehen lassen können, aber im Lassen Gottes um Gottes willen, so Eckhart, liege keine ,gewinnunge‘ 66 Gottes, sondern „ez ist ein ein und ein luˆter einunge“ 67. Dieses ein hat mit nichts etwas gemein, das geschaffen ist: Und dieser differenzlosen Identität des Einen, die Gelassenheit nicht erstrebt, sondern vollzieht, bleibt jede Weise einer ,Heiligung‘ fern. Von dieser Position lässt sich die Lehre der ,Reden der Unterweisung‘ absetzen. Die Grundfigur der Argumentation in den ,Reden‘ bestand in der Verneinung des Weltlichen und damit einer gänzlichen Interiorisierung der Vervollkommnung. Eckharts Strategie in den ,Reden der Unterweisung‘ bestand darin, Habitualisierung nicht länger auf unterschiedliche Akte guten Handelns zu beziehen, sondern sie radikal auf den Grund jeden Handelns zu beziehen, insofern sich Gott in dem vom geschaffenen eigenen Willen gelösten Menschen auf göttliche Weise erbilde. Ein guter ,Tausch‘, der das Feld der Tugenden entpluralisiert und Abgeschiedenheit als jede Tugendhaftigkeit generierende Tugend begreift - Wirken aus einem ledigen gemüete. Wenn man hier die Metaphorik des Spiegels bemühen wollte, dann ließe sich vielleicht als ,Formel‘ für die Erfurter ,Reden‘ formulieren: Halte den Spiegel der Seele frei von jedem Staub, so muss sich Gott darin auf göttliche Weise erbilden. 62 63 64 65 66 67

DW DW DW DW DW DW

II, 492, 3. I, 199, 3. I, 200, 14-15. I, 196, 6-7. I, 197, 4. I, 197, 6.

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Genau dieses Modell erfährt auf besondere Weise in der Armutspredigt eine weitreichende Überbietung 68. Ich darf einige Aspekte hervorheben, die den besonderen Bezug zu unserem Rahmen des Paradoxes der Weltverneinung hervortreten lassen sollen. Die ,Reden‘ hatten die äußere Topographie von Orten der Heiligung konsequent durch eine Topographie des Innen ersetzt. Die Leitdifferenz des religiösen Diskurses, die Differenz zwischen Heiligem und Weltlichem, zwischen Gott und Mensch, hatten aber die ,Reden der Unterweisung‘ dadurch nur weiter vertieft. ,Geistliche Armut‘ wird aber ebenso wie ,Gelassensein‘ in Predigt 12 als Verneinung dieser Differenz verstanden, eine Verneinung, die Wollen, Wissen und Haben als unzulänglich gegenüber dem Heilig-Sein als Einssein verwirft. Es verwundert daher nicht, dass die Semantik der Habitualisierung in beiden Predigten keine Rolle spielt; von ,Tugend‘ ist in beiden Predigten keine Rede. Vielleicht gehört ebenfalls in diesen Zusammenhang, dass weder in der Armutspredigt noch in der Predigt 12 die Bildlehre in das Blickfeld des Predigers gerät. Besonders interessant scheint mir zudem ein Wechsel im Redegestus zu sein. Während die ,Reden der Unterweisung‘ ihre eigene hermeneutische Situation nicht thematisieren, nimmt die Armutspredigt dezidiert eine Hermeneutik der Integration für sich in Anspruch. Der Prediger referiert nicht auf die Wahrheit, sondern begreift sich als aus ihr sprechend, indem er das Verhältnis der Wahrheit zum Wahren als Anwesenheit versteht 69. Insofern damit die Grenze zum Anderen der Repräsentation offen gehalten ist, ließe sich die Predigt in der Tat als ,Sprechen vom Anderen her‘ verstehen. Einen präsentischen Modus scheint auch Kurt Flasch in seiner Lektüre der Predigt 6 anzuvisieren: „Die Gerechtigkeit ist jetzt im Gerechten. Wie könnten wir irgendetwas Wahres sagen, wenn die Wahrheit erst in Zukunft bei uns wäre?“ 70 Vielleicht ist es der gewichtigste Unterschied zwischen den ,Reden der Unterweisung‘ und einem erst in den deutschen Predigten Gestalt gewinnenden Redegestus, dass sie nicht von einem solchen präsentischen Sprechen dominiert wird. Die ,Reden der Unterweisung‘ kennzeichnet vielmehr eine Poetik der Instruktion, die die jungen Ordensbrüder auf dem Weg einer Heiligung begleitet, der sich, obwohl er doch gerade die Paradoxie der Weltverneinung überwinden wollte, selbst in paradoxer Weise als ,wegloser Weg‘ erweisen sollte. So kann man mit einer Geschichte schließen, die im Zen-Buddhismus überliefert wird und von der Suche nach dem Nachfolger des fünften Patriarchen handelt. Als der fünfte Patriarch sein Ende nahen sieht, lässt er seinen Lieblingsschüler zu sich kommen und bittet ihn, mit wenigen Worten seinen Glauben zusammenzufassen. Der Schüler antwortet mit einem Gedicht; das Wichtigste sei es, den Spiegel vom Staube völlig rein zu halten. Alle sind mit der Antwort zufrieden, als ein anderer hervortritt und die Antwort des Lieblingsschülers ver68 69

70

Cf. zuletzt Langer, Christliche Mystik (nt. 29), 330 sq. Cf. K. Flasch zu Predigt 6, Iusti vivent in aeternum, in: G. Steer/L. Sturlese (eds.), Lectura Eckhardi II, Stuttgart 2003, 29-51, hier: 43. Cf. Flasch, Iusti vivent (nt. 69), 51.

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wirft. Sein Gedicht gibt eine radikale Antwort: wo kein Spiegel, da kein Staub. Er wurde der sechste Patriarch 71; und es scheint, als habe Eckhart diese Rivalität der Schüler mit sich selbst ausgemacht.

71

Huineng (638-713). Es geht um die Frage ,stufenweiser‘ oder ,plötzlicher‘ Erleuchtung; cf. E. Conze, Eine kurze Geschichte des Buddhismus (A Short History of Buddhism), 1980. Übers., ed. und mit einem Nachwort versehen v. F. Wilhelm (suhrkamp taschenbuch 1297), Frankfurt a. M. 1986, 107 sq.; D. T. Suzuki, Die große Befreiung. Einführung in den Zen-Buddhismus, München 1976.

Les ,Entretiens spirituels‘, creuset de l’œuvre d’Eckhart Marie-Anne Vannier (Metz) L’œuvre d’Eckhart serait-elle impressionniste, dans la mesure ou` on y trouve une source de lumie`re: la naissance de Dieu dans l’aˆme qui succe`de au de´tachement, alors que certaines parties de cette œuvre n’apparaissent que sous forme de taches de couleur, car elles ne sont pas parvenues jusqu’a` nous dans leur inte´gralite´? Sans doute Eckhart n’a-t-il pas e´crit de somme the´ologique a` la diffe´rence de S. Thomas. Cela tient a` l’e´poque et a` ses options personnelles. Il n’en demeure pas moins que l’,Œuvre tripartite‘ e´tait son ouvrage de synthe`se qui est en partie perdu, malheureusement, et qui contenait a` travers l’œuvre des propositions, des questions et des expositions. Il se caracte´rise par son originalite´, il contenait a` la fois une synthe`se sur l’E´criture et sur le savoir de l’e´poque. De cette symphonie qui, pour nous, est inacheve´e, mais qui ne l’e´tait pas pour Eckhart, il ne nous reste aujourd’hui que les pre´ludes, mais de solides pre´ludes: le Prologue a` l’,Œuvre tripartite‘ et les ,Entretiens spirituels‘, re´dige´s par Eckhart lui-meˆme en Moyen Haut Allemand, sa langue maternelle et qui expriment justement le langage du cœur, de l’expe´rience spirituelle, alors qu’il e´tait prieur du Couvent d’Erfurt, entre 1294 et 1298, au retour de son premier se´jour a` Paris. ` lire ces ,Entretiens‘, on ne peut s’empeˆcher de penser au Sermon 52, connu A comme le plus grand sermon d’Eckhart, ou` il orchestre magistralement sa re´flexion sur le de´tachement, en partant du texte des Be´atitudes et plus pre´cise´ment de la Be´atitude: ,Beati pauperes spiritu‘ et qui d’apre`s Georg Steer, pourrait dater de la meˆme e´poque 1. Sans doute ne trouve-t-on pas dans les ,Entretiens spirituels‘ tout l’arrie`re-fond de la mystique rhe´no-flamande 2 (a` l’exception de Mechtilde de Magdebourg) et l’expe´rience spirituelle qu’Eckhart a ve´cue au de´but de son se´jour a` Strasbourg, mais il n’en demeure pas moins que le grand axe de son œuvre est trace´: l’accomplissement de l’eˆtre par l’abandon a` la volonte´ de Dieu ou encore, formule´ en d’autres termes: la dialectique du de´tachement, qui sous-tend sa pre´dication et qui n’est pas sans faire penser a` la dynamique pascale. Or, son premier sermon n’e´tait-il pas un Sermon pour Paˆques? Faudrait-il en conclure que ces ,Entretiens‘ sont pour Eckhart une sorte de Discours de la me´thode, a` coˆte´ des Sermons allemands qui correspondraient aux ,Me´ditations me´taphysiques‘ de Descartes, dont il ne nous resterait que les notes 1 2

Cf. article pre´ce´dent. Peut-eˆtre connaissait-il les e´crits de Mechtilde de Magdebourg qui vivait pre`s du Couvent d’Erfurt.

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de ses auditeurs? En fait, dans les Sermons eux-meˆmes et plus pre´cise´ment au de´but du Sermon 53, Eckhart donne, en quelque sorte, son discours-programme. Ainsi dit-il: „Quand je preˆche, j’ai coutume de parler du de´tachement et de dire que l’homme doit eˆtre de´gage´ de lui-meˆme et de toutes choses. En second lieu, que l’on doit eˆtre re´introduit dans le Bien simple qui est Dieu. En troisie`me lieu, que l’on se souvienne de la grande noblesse que Dieu a mise dans l’aˆme afin que l’homme parvienne merveilleusement jusqu’a` Dieu. En quatrie`me lieu, je parle de la purete´ de la nature divine - de quelle clarte´ est la nature divine, c’est inexprimable. Dieu est une Parole, une parole inexprime´e.“

Dans les ,Entretiens spirituels‘, en revanche, le programme n’est pas aussi clairement annonce´ et il reste fragmentaire, mais l’essentiel y est dit. Eckhart y de´veloppe surtout le premier point de son programme de pre´dication: le de´tachement. Mais, il aborde e´galement les autres points, quoique de manie`re plus occasionnelle, bre`ve, ou implicite. Dans ces conditions, faudrait-il plutoˆt envisager, le rapport entre les ,Entretiens spirituels‘ et le reste de l’œuvre et en particulier les Sermons allemands comme le rapport entre la ,Phe´nome´nologie de l’esprit‘ de Hegel et l’,Encyclope´die des sciences philosophiques‘? Cela correspondrait mieux a` la re´alite´, dans la mesure ou` l’on a a` faire a` deux œuvres originales et comple´mentaires, la premie`re servant de prope´deutique a` la seconde. Mais, il faut peut-eˆtre encore aller plus loin dans les analogies, car Eckhart n’entend pas faire œuvre ici de philosophe, mais plutoˆt de spirituel. Entendraitil re´pondre par les vingt-trois chapitres de ses ,Entretiens‘ aux „vingt-quatre philosophes qui se re´unirent pour parler de ce qu’est Dieu“ et laisser une place vide, en ne proposant pas de vingt-quatrie`me chapitre ou encore en se´parant le vingt-troisie`me entretien, qui est beaucoup plus long que les autres, en deux entretiens 3? Dans ces conditions, y aurait-il un paralle´lisme entre le Prologue a` l’,Œuvre tripartite‘, ou` il s’attache a` de´finir la nature de Dieu, en proposant une se´mantique de l’eˆtre et les ,Entretiens spirituels‘, ou` il explique qui est Dieu pour nous, et comment le rejoindre par le de´tachement afin d’accueillir sa vie? ˆ ge, les chiffres ont une signiIl importe e´galement de rappeler qu’au Moyen A fication 4. Or, le chiffre vingt-quatre comporte une double perfection, en e´tant le re´sultat de deux chiffres parfaits: trois, e´voquant la Trinite´ et huit: le jour de la re´surrection. Or, dans les ,Entretiens spirituels‘, il y a trois parties, qui e´voquent trois e´tapes de la re´surrection: la premie`re reprenant la dialectique du de´tachement, la seconde pre´cisant le roˆle de l’amour dans le de´tachement, la troisie`me re´capitulant les deux autres. De plus, on pourrait rechercher des pre´ce´dents a` Eckhart dans l’histoire de la spiritualite´, ce qui nous ame`nerait a` Guillaume de S. Thierry, dont il semble avoir appre´cie´ l’œuvre ou a` S. Bonaventure qu’il n’a pu ignorer lors de ses e´tudes 3 4

W. Wackernagel, Introduction aux Conseils spirituels, Paris 2003, 9-10. Cf. Meyer-Suntrup, Lexikon der mittelalterlichen Zahlenbedeutung, Munich 1987.

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parisiennes. Or, la` encore, les choses sont difficiles, du fait qu’on ne peut e´tablir de paralle`le re´el entre les ,Entretiens spirituels‘ et ,La lettre d’Or ou Lettre aux Fre`res du Mont-Dieu‘. En effet, a` la diffe´rence de Guillaume de S. Thierry, Eckhart ne donne pas aux novices dominicains un programme pre´cis de vie spirituelle, il ne trace pas un itine´raire identique pour tous, il n’indique pas un itine´raire spirituel a` suivre, avec des e´tapes a` traverser, au contraire, il part de l’esprit libre et il leur demande de rechercher comment vivre le mieux possible en conformite´ avec la volonte´ de Dieu. En axant sa re´flexion autour du sche`me dionysien de l’exitus et du reditus, de la sortie et du retour, il reprend non seulement un the`me dionysien, mais aussi le mouvement de la ,Somme the´ologique‘ de S. Thomas et de l’,Itinerarium‘ de S. Bonaventure, mais il en vient a` un re´sultat diffe´rent qu’il exprime en ces termes: „Autant tu sors de toute chose, autant tu sors vraiment de tout ce qui est tien, autant ni plus ni moins, Dieu entre en toi avec tout ce qui est sien.“ 5 Il conclut a` une sorte de simultane´ite´ entre le de´tachement et la vie en Dieu, ce qui a une tonalite´ dionysienne, mais qui a surtout pour fonction de mettre en e´vidence le sens et l’enjeu du de´tachement, qui est l’objet meˆme de l’ouvrage et qui donne a` l’eˆtre humain sa ve´ritable stabilite´. C’est aussi pour Eckhart une autre manie`re d’interpre´ter le the`me augustinien du repos en Dieu, un the`me qu’il reprend dans nombre de ses sermons. En fait, ce livre qui se pre´sente sous la forme de rede en allemand, de collationes en latin n’est pas sans faire penser a` d’autres collationes ce´le`bres, celles de Jean Cassien qu’Eckhart a souvent entendues au re´fectoire comme le rapportent les ,Vitae Fratrum‘. Ces ,Collationes‘, ces ,Confe´rences‘, qu’Eckhart a certainement mises par e´crit a` la demande de ses contemporains, sont aussi selon l’e´tymologie latine du terme une synthe`se, une re´capitulation, dans la mesure ou` elles prennent ensemble, rassemblent un certain nombre de the`mes, et peut-eˆtre l’essentiel de son enseignement a` Erfurt. Or, il est un point essentiel, qui occupe d’ailleurs la majeure partie de la ,Premie`re Confe´rence‘ et l’ensemble de la ,Seconde Confe´rence‘ de Jean Cassien et que l’on trouvait de´ja` dans les ,Institutions ce´nobitiques‘ (V, 41), c’est la discretio, le discernement 6, qui constitue une boussole pour le moine. Or, a` travers ses entretiens avec les novices, Eckhart, qui n’a rien d’un esprit dogmatique, qu’entend-il leur faire comprendre, leur donner d’acque´rir, si ce n’est cette pierre pre´cieuse qu’est le discernement et qui repre´sente le ve´ritable chemin spirituel, qui leur permet d’eˆtre des esprits libres tout entiers ancre´s en Dieu et vivant autant qu’ils le peuvent de sa volonte´? Pour en faire ressortir l’importance, Jean Cassien comparait le discernement a` la ,lampe du corps‘, a` l’office du changeur, il soulignait, a` la suite de S. Paul (1 Co. 12, 8-9), que ce discernement n’a pas une origine humaine, mais divine, qu’il est au principe „de toutes les vertus, leur gardien et leur guide“ 7. Comme l’humilite´ a` laquelle il est lie´ et sur laquelle Eckhart met fortement l’accent, le discernement 5 6 7

Entretien 4, trad. A. de Libera, 81. Il correspond a` l’Unterscheidung en allemand et non a` l’Unterweisung. Confe´rence II, 4.

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permet de ne pas se tromper sur l’orientation a` donner a` un acte. C’est l’e´le´ment moteur de cette e´thique de l’intention qu’Eckhart propose dans la premie`re partie des ,Entretiens spirituels‘. Il est donc inutile de figer les choses, de donner des pre´ceptes rigides, l’esprit libre est a` meˆme de voir quelle orientation prendre. Cassien expliquait que „l’habilete´ et la science des changeurs triomphent a` discerner l’or parfaitement pur et celui qui n’a pas subi au meˆme degre´ l’e´preuve du creuset. Qu’un vil denier essaie d’imiter la monnaie pre´cieuse, en se couvrant des apparences et de l’e´clat de l’or, leur œil exerce´ n’y sera point trompe´. Puis, non seulement, ils savent reconnaıˆtre les pie`ces portant l’effigie des tyrans, leur sagacite´ va plus loin encore, et discerne celles-la` meˆmes qui, marque´es a` l’empreinte du roi le´gitime, ne sont pourtant qu’une contrefacX on. Ils recourent enfin a` l’e´preuve de la balance pour voir si rien ne manque du juste poids. Notre devoir, a` nous, est de porter dans les choses de Dieu toutes ces meˆmes pre´cautions, comme il ressort du nom meˆme de changeurs que l’E´vangile nous propose en exemple. Et d’abord, quelque pense´e qui se glisse en notre cœur, quelque maxime que l’on nous sugge`re, mettons a` la sonder un soin extreˆme. Sort-elle toute purifie´e du feu ce´leste de l’Esprit Saint? […] Devenons des changeurs selon l’E´vangile.“ 8

Le change dont il s’agit n’est pas celui de l’argent, mais des pense´es. Le changeur selon l’E´vangile est celui qui peut discerner l’œuvre de l’Esprit Saint et, le cas e´che´ant, substituer une pense´e a` une autre. C’est ce a` quoi Eckhart invite les novices. Il re´interpre`te e´galement Cassien en situant le discernement dans le de´tachement et en e´laborant toute une dialectique autour du de´tachement, une dialectique qui sera l’un des axes de son œuvre et de son anthropologie, qui s’exprime dans le rapport entre l’Entbildung et l’Überbildung, le de´tachement contribuant a` l’assomption de la personnalite´ ve´ritable, a` la re´alisation de l’eˆtre, d’ou` l’importance des ,Entretiens spirituels‘ qui sont plus qu’un discoursprogramme, qui apparaissent comme le creuset de l’œuvre d’Eckhart, le moment ou` il met en place sa dialectique du de´tachement. On en voit une sorte de contre-e´preuve dans le ,Granum sinapis‘, si tant est que ce Poe`me soit d’Eckhart, ou` le grain de se´neve´, la plus petite de toutes les graines, mais celle qui donne tout un arbre, est justement le de´tachement. De plus, Eckhart entend non seulement proposer une spiritualite´ vivante pour les novices dominicains, mais aussi pour toute personne, d’ou` l’actualite´ de son propos. Ce souci d’Eckhart de s’adresser a` tous apparaıˆt de`s les premiers mots du Traite´. Le de´ tachement, axe de l’œuvre d’Eckhar t Imme´diatement, c’est en tant que prieur du Couvent d’Erfurt qu’il e´crit cet ouvrage, comme en te´moignent les premiers mots, ou` il est dit: „Ce sont les paroles que le vicaire de Thuringe, prieur d’Erfurt, fre`re Eckhart, de l’Ordre des 8

Confe´rence I, SC 42, 101-102; II, 119-120.

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Preˆcheurs, adressa a` ses enfants qui lui posaient de nombreuses questions lorsqu’ils e´taient assis ensemble pour la collation du soir.“ On comprend, de`s lors, que la pre´sentation qu’il fait du de´tachement soit essentiellement pratique, meˆme si la dimension ontologique est loin d’eˆtre absente, comme on le verra. Il s’attache a` rendre accessible aux jeunes dominicains qu’il appelle ses enfants cette perle pre´cieuse qu’est le de´tachement. Le terme d’enfants peut e´galement avoir une autre signification qui met en e´vidence l’enjeu meˆme du de´tachement, qui n’est autre que la naissance de Dieu dans l’aˆme, meˆme si Eckhart n’emploie pas directement le the`me comme il le fera dans ses Sermons allemands et en particulier dans les Sermons 101 a` 104, re´cemment e´dite´s par Georg Steer. Pour lui, en effet, le de´tachement loin d’eˆtre un terme, un en soi, n’est au contraire qu’un point de de´part qui permet de laisser la place libre a` l’action de Dieu, afin de permettre la naissance de Dieu dans l’aˆme. Justement, dans les ,Entretiens spirituels‘, son roˆle est de pre´parer a` cette naissance de Dieu dans l’aˆme, d’ou` le terme d’enfants qu’il emploie. C’est ve´ritablement un Lebemeister qu’il parle ici, meˆme s’il ne reste pas pour autant un Lesemeister. Si on a parfois regrette´ le caracte`re par trop pe´dagogique de l’ouvrage, sa dimension mystique n’en est pas moins pre´sente, meˆme si elle est moins fulgurante que dans les Sermons. Loris Sturlese 9 parlait du contexte liturgique des œuvres d’Eckhart, je me demande, a` lire les ,Entretiens spirituels‘, s’ils ne correspondraient pas a` la dynamique pascale: en partant de l’obe´issance, du de´tachement pour arriver, comme le Sermon 7, a` la vie nouvelle, a` la re´surrection, a` la paix. Faudrait-il en conclure que ces ,Entretiens‘ ont e´te´ des confe´rences de Careˆme ou qu’ils ont e´te´ prononce´s pendant la Semaine Sainte? Si le de´tachement a une place centrale dans la premie`re partie des ,Entretiens spirituels‘ (1-8), Eckhart l’envisage de manie`re originale, non comme une pure et simple de´sappropriation. Au contraire, il le pre´sente comme un chemin d’accomplissement. Par le concours du de´tachement et de la graˆce, l’eˆtre humain se re´alise, s’accomplit. Eckhart part de l’obe´issance, qui est l’un des trois vœux et qui conduit a` la pauvrete´, a` l’homme pauvre qui est au cœur de l’ouvrage, mais il passe tre`s vite du plan institutionnel au plan existentiel pour faire de l’obe´issance une forme de de´tachement. Il va, alors, tre`s loin dans sa re´flexion. De prime abord, on peut eˆtre e´tonne´ qu’il dise que „la ve´ritable et parfaite obe´issance est une vertu qui passe avant toutes les vertus“ (41). Dans le ,Traite´ du de´tachement‘, c’est le de´tachement qui a ce roˆle. On s’attendrait a` ce qu’Eckhart place la charite´, ou du moins l’une des vertus the´ologales au sommet de la pyramide des vertus. En fait, s’il opte pour l’obe´issance, c’est comme le manifeste le mouvement meˆme des ,Entretiens spirituels‘: le passage de la premie`re a` la seconde partie, c’est pour montrer que, par l’obe´issance, on rejoint la volonte´ de Dieu, on est introduit au cœur meˆme de la vie divine pour connaıˆtre de l’inte´rieur son amour et 9

Cf. L. Sturlese, dans ce volume, 393-408.

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en vivre. Eckhart le dit d’ailleurs de manie`re lapidaire dans le ,Premier Entretien‘, lorsqu’il e´crit: „Si je m’abandonne, il faut ne´cessairement que Dieu veuille pour moi ce qu’il veut pour lui-meˆme, ni plus ni moins et de la meˆme manie`re qu’il le veut pour lui-meˆme“ (42). Sans doute y a-il la` quelque exage´ration, mais Eckhart entend montrer par la` l’importance de l’adhe´sion a` la volonte´ de Dieu. C’est la` le leitmotiv de tout l’ouvrage. Eckhart l’explique clairement dans le ,Quatrie`me Entretien‘: „dans la mesure ou` tu quittes toutes choses, dans cette meˆme mesure, ni plus ni moins, Dieu pe´ne`tre en toi avec tout ce qu’il a, tout comme tu as quitte´ comple`tement toutes choses qui sont en toi“ (45). Il y a un e´change e´tonnant, qui n’est pas sans faire penser a` un autre e´change qui est d’ailleurs constitutif de celui-ci et qui n’est autre que l’eucharistie. En effet, au de´but des ,Entretiens spirituels‘, on a l’impression que le de´tachement a un roˆle fondateur, cela est vrai, mais avec le concours de la graˆce, comme il l’explique a` la fin du texte. Dans le ,20∞ Entretien‘ sur l’eucharistie, Eckhart en pre´cise le sens en ces termes: „Si tu veux transformer comple`tement ta pauvrete´, va vers le tre´sor abondant de la richesse infinie et tu deviendras riche, car sois bien persuade´ qu’il est le seul tre´sor qui peut te suffire et te rassasier […]. Va vers lui, lui seul est la reconnaissance que le Pe`re puisse accueillir, la louange infinie, ve´ritable et parfaite de toute la divine bonte´ “ (74).

Il en va ici de la divinisation de l’eˆtre humain, sans le dire directement, ou encore de ce qu’Eckhart appelle la naissance de Dieu dans l’aˆme et qu’il lie ici a` l’eucharistie, alors qu’il ne le fera gue`re dans ses Sermons. Il explique que „nous devons eˆtre transforme´s en lui et comple`tement unis a` lui, en sorte que ce qui est a` lui est a` nous, notre cœur et le sien devenant un seul cœur“ 10. Ainsi met-il en e´vidence le roˆle de´terminant du de´tachement. Comme le disait E´tienne Gilson: „La doctrine d’Eckhart conduit directement a` l’union de l’aˆme a` Dieu pour se retrancher dans la citadelle de l’aˆme, la` ou` l’homme ne se diffe´rencie pas de Dieu. Pour que cette union mystique soit possible, il faut pratiquer une asce`se de se´paration et de de´tachement. Une fois la`, on peut se de´sinte´resser du reste.“ En d’autres termes, le de´tachement est la condition de possibilite´ de l’union a` Dieu. Comme le dira plus tard Angelus Silesius: „Autant tu ce`des a` Dieu, autant il peut devenir toi. Ce n’est ni plus ni moins qu’il te tirera de tes peines. Il t’aidera a` te tirer de ta souffrance.“ Or, cette re´flexion d’Eckhart sur le de´tachement n’est pas occasionnelle. Si elle prend une acuite´ particulie`re dans sa pre´dication allemande, elle est pre´sente dans toute son œuvre et en particulier dans le Sermon 52, dans le ,Benedictus Deus‘, dans le ,Traite´ du de´tachement‘ et de`s son premier e´crit que sont les ,Entretiens spirituels‘. Elle constitue meˆme l’axe de la pense´e d’Eckhart. L’Abgeschiedenheit a un roˆle fondateur. L’homme qui est parfaitement abandonne´, qui s’est laisse´ aller jusqu’en son fond, est e´ternellement libre et un, et Eckhart va jusqu’a` se demander s’il y a une diffe´rence entre cet homme et Dieu. 10

Entretien 20, 95.

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Comme il le souligne dans le ,Traite´ du de´tachement‘, si tant est qu’il soit l’auteur de cet ouvrage, la composante ne´gative du de´tachement ne doit pas faire illusion. Ce n’est qu’un moment, celui du ,paˆtir Dieu‘. (Dans les ,Entretiens spirituels‘, Eckhart souligne, d’ailleurs, qu’il y a la` une dimension active.) Ce premier moment, qui est, en quelque sorte, celui de la ke´nose, s’ouvre sur un autre: celui de la constitution de l’eˆtre. D’ou` la dialectique de l’Entbildung, de l’Einbildung et de l’Überbildung. Cette dialectique est pre´sente dans les ,Entretiens spirituels‘: en particulier dans le ,6∞ Entretien‘, ou` il met l’accent sur la dialectique du de´tachement et de la conformation au Fils. Il explique que c’est par le de´tachement que „l’homme doit eˆtre transi par la pre´sence de Dieu, eˆtre transforme´ selon la forme de son Dieu bien-aime´ et eˆtre en lui sur un mode substantiel pour que la pre´sence de Dieu l’illumine, sans le moindre effort, pour qu’il voit la purete´ en tout et reste entie`rement libre de tout“. En ces quelques mots, son programme de pre´dication, est re´sume´ et Eckhart passe radicalement du de´tachement a` son terme qui n’est autre que la cre´ation nouvelle, ce qui n’est pas sans faire penser a` la dynamique pascale. Dans ses œuvres ulte´rieures, il ne fait qu’approfondir cette re´alite´ sur un plan liturgique ou the´ologique et spirituel. Ainsi propose-t-il un jeu verbal autour du terme Bild dans le Sermon allemand 40, ou` il dit: „Lorsque l’homme s’abandonne tout entier dans l’amour, il est alors de´pouille´ de sa forme (entbildet), informe´ (ingebildet) et forme´ au-dessus de lui-meˆme (überbildet) dans l’unite´ de la forme divine (einförmichheit), en laquelle il est un avec Dieu. C’est tout cela que l’homme a dans la formation inte´rieure.“ Eckhart ne fait pas entie`rement œuvre de novateur. Il reprend et re´interpre`te les the`ses de S. Augustin et de S. Thomas. Cette dialectique se retrouve au ,Sermon de l’homme noble‘ et plus pre´cise´ment au sixie`me degre´, lorsque „l’homme est de´pouille´ de lui-meˆme et transforme´ par l’e´ternite´ de Dieu, quand il est parvenu a` l’entier et complet oubli de la vie temporelle avec tout ce qu’elle a de pe´rissable, il a e´te´ transforme´ et transfigure´ dans une image divine et est devenu un enfant de Dieu. Il n’y a pas d’autre degre´, de degre´ supe´rieur: la` est le repos e´ternel et la be´atitude. Car la fin e´ternelle de l’homme inte´rieur et de l’homme nouveau est la vie e´ternelle.“

On comprend, de`s lors, que, pour Eckhart, le de´tachement a une dimension ontologique. Il contribue a` la constitution de l’eˆtre. Il le fait clairement ressortir dans le ,6∞ Entretien‘, ou` il e´crit: „Les gens devraient moins penser a` ce qu’ils font, mais davantage a` ce qu’ils sont […]. La saintete´ ne re´side pas dans le faire, elle e´mane de l’eˆtre, car ce ne sont pas les œuvres qui nous sanctifient, mais c’est nous qui sanctifions les œuvres.“ Et cela va tre`s loin, comme il le montre dans la suite de cet ,Entretien‘: „Celui qui posse`de ainsi Dieu dans l’eˆtre le prend sous son aspect divin, et pour lui Dieu brille en toutes choses; car toutes choses ont pour lui le gouˆt de Dieu, et l’image de Dieu se facX onne pour lui en toutes choses. En lui, le rayon divin resplendit en tout temps, un de´tachement et abandon s’ope`rent et l’image de son Dieu bien-aime´ et pre´sent s’imprime en lui“ (64-65).

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Ainsi esquisse-t-il de´ja` le deuxie`me et le quatrie`me points de son programme de pre´dication, tel qu’il l’e´nonce au Sermon 53: la conformation a` Dieu et la perception de la clarte´ de la nature divine. Il dit qu’il est possible de trouver Dieu en tout, a` condition d’avoir le cœur pur, de´tache´. En ce sens, les ,Entretiens spirituels‘ pre´parent de´ja`, sur un mode pratique, comme dans le Sermon 86, les de´veloppements spe´culatifs de l’,Œuvre tripartite‘, ainsi que sa pre´dication. En mettant l’accent sur le ne´cessaire abandon de la volonte´, Eckhart aborde e´galement des questions essentielles pour son e´poque: celle des puissances de l’aˆme que sont l’intellect et la volonte´, a` laquelle il apportera une re´ponse dans les ,Questions parisiennes‘. S’il semble opter ici pour le primat de la volonte´, en fait, dans le seul passage ou` s’exprime clairement sur le sujet, il invite a` passer sur l’autre rive: „Tes puissances, dit-il, doivent eˆtre e´leve´es en Dieu, lui eˆtre entie`rement offertes et relie´es a` lui […]. C’est pourquoi, si tu veux recevoir dignement ton Dieu, veille a` ce que tes puissances supe´rieures soient dirige´es vers lui, que ta volonte´ recherche la sienne et ne pense qu’a` lui et que ta fide´lite´ soit constante en lui.“ 11

Il envisage e´galement le the`me de la consolation, comme l’avait souligne´ Kurt Ruh, dans la mesure ou` il dit: „Autant tu es en Dieu, autant tu es en paix.“ Comme il le fera plus tard dans le ,Livre de la consolation divine‘, il souligne que c’est le de´tachement qui nous donne la consolation ve´ritable, du fait qu’il nous donne d’accueillir la vie de Dieu. Ici, dans le ,10∞ Entretien‘ (75), il dit: „Sache que les amis de Dieu ne sont jamais sans consolation, car ce que Dieu veut est leur consolation supreˆme, que ce soit consolation ou absence de consolation.“ Ils le comprennent souvent apre`s-coup. Finalement, il faudrait comparer les ,Entretiens spirituels‘ et le Sermon 52. Sans doute ne trouve-t-on pas dans les ,Entretiens spirituels‘ le remarquable pouvoir de synthe`se du Sermon 52, mais il n’en demeure pas moins que la figure de re´fe´rence des deux textes est celle de l’homme pauvre, de celui qui a abandonne´ sa volonte´ propre pour adhe´rer au dessein de Dieu sur lui. Cette figure se de´tache du dernier des ,Entretiens spirituels‘, mais elle est pre´sente de`s le premier. Comme dans une symphonie, le the`me prend peu a` peu toute son ampleur. Eckhart ne dit pas que l’homme pauvre est celui qui ne veut rien, ne sait rien, n’a rien, mais il invite a` se de´tacher de sa volonte´, des images et des actions. Il dit successivement que „dans une entie`re de´sappropriation de la volonte´ et du de´sir, il faut s’en remettre a` la bonne et tout aimable volonte´ divine, avec tout ce qu’en toutes choses on peut vouloir et de´sirer“ 12, qu’il importe que l’esprit soit de´tache´, que „tout notre eˆtre n’est e´tabli en rien d’autre que dans l’ane´antissement“ 13 et que „le royaume des cieux revient a` celui qui est libre de toutes 11 12 13

Entretien 20, 98. Entretien 21, 106. Entretien 23, 111.

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choses pour Dieu, quoique Dieu lui donne ou ne lui donne pas“ 14. Les divers points y sont, mais pas the´matise´s comme dans le Sermon 52. Eckhart met e´galement en e´vidence le sens du de´tachement qui donne a` l’eˆtre humain d’eˆtre libre et accueillant a` la graˆce divine. Or, „la graˆce ne de´truit pas la nature, elle l’accomplit. La gloire ne de´truit pas la graˆce, elle l’accomplit, car la gloire est la graˆce accomplie. Il n’y a donc rien en Dieu qui de´truise tout ce qui a un eˆtre quelconque; au contraire Dieu est celui qui accomplit toutes choses“ 15. Dans les ,Entretiens spirituels‘, Eckhart ne fait qu’allusion a` la perce´e, mais il fait ressortir le roˆle constitutif du de´tachement qui donne la paix et la joie ve´ritables, qui contribue a` re´aliser la cre´ation nouvelle. C’est a` revivre le myste`re pascal qu’il invite ses auditeurs. Pour terminer, je reprendrai les mots de Stanislas Breton 16 qui mettait en e´vidence l’originalite´ du de´tachement eckhartien, qui est diffe´rent de celui des mystiques du XVII∞ sie`cle, de Caussade, par exemple. Il „est l’amen qui rend hommage a` l’universelle diffusion d’une instance donatrice dont la ge´ne´rosite´ sans repentance“ verdoie „dans les deux univers, si proches et si fraternels de l’eˆtre et du Verbe. L’amen du mystique recouvre la joie festive du the´ologien et l’ardeur du me´taphysicien intre´pide. Eckhart ne pourrait mieux dire le dernier avant-dernier mot - de sa pense´e“. D’ou` le caracte`re fondateur des ,Entretiens spirituels‘, ou` Eckhart donne sa pleine mesure au de´tachement et a` sa dialectique qui n’est autre que la dynamique pascale. Moins fulgurants que le Sermon 52, ils ont une dimension pe´dagogique, prope´deutique, qui en font un ve´ritable pre´lude, non seulement a` l’œuvre allemande, mais a` l’ensemble de l’œuvre, dans la mesure ou` finalement c’est de la constitution de l’eˆtre qu’il s’agit et par conse´quent, de la naissance de Dieu dans l’aˆme. Eckhart, qui a longuement re´fle´chi sur la cre´ation, non seulement dans son ,Commentaire de la Gene`se‘ mais aussi dans ses Sermons, n’envisage pas la de´cre´ation avec le de´tachement mais le passage a` la cre´ation nouvelle. Opportet transire, telle pourrait eˆtre l’expression des ,Entretiens spirituels‘ ou` se noue la dialectique eckhartienne du de´tachement, le passage de l’Entbildung a` l’Überbildung, pour arriver a` la puritas cordis, pour voir l’actualisation des Be´atitudes et vivre en Dieu.

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Entretien 24, 114. Entretien 23, 108. L’itine´raire spirituel de maıˆtre Eckhart, en: Revue de l’Institut catholique 28 (1988), 81.

„Der Mensch sollte werden ein Gott Suchender.“ Zum Verständnis des Menschen in Eckharts ,Rede der underscheidunge‘ Udo Kern (Rostock) Eckhart ist 1293/94 Lector sententiarum in Paris. Danach kehrt er nach Erfurt zurück und wird Prior des Erfurter Dominikanerkonventes und Ordensvikar für Thüringen. In der Zeit zwischen 1294 und 1298 entstehen in Erfurt die ,Rede der underscheidunge‘ (RdU) 1. Die RdU sind collationes 2, also Lehrgespräche, die der Erfurter Prior Eckhart unterweisend mit seinen kindern, seinen ,Mitbrüdern und Nonnen‘ 3, geführt hat 4. Als „spirituelle und […] wissenschaftliche Übung“ bezeichnet Yoshiki Koda die collatio 5. Auf die signifikante volkssprachliche Besonderheit der RdU verweist mit Recht Niklaus Largier 6. Erstaunlich ist

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Cf. N. Largier (ed.), Meister Eckhart: Werke I und II (Bibliothek des Mittelalters 20 u. 21), Frankfurt a. M. 1993 (zit. Largier I bzw. Largier II), hier: Largier II, 790. (Ich gebrauche im Folgenden nur den Kommentarteil Largiers.) In meinem Beitrag benutze ich Eckhart-Texte nach folgenden Werkausgaben: Meister Eckhart, Die deutschen und lateinischen Werke, ed. im Auftrage der Deutschen Forschungsgemeinschaft, Stuttgart 1936 sqq. (zit. DW bzw. LW); Meister Eckhart, ed. v. F. Pfeiffer, Göttingen 41924 (zit. Pf.); Meister Eckehart. Deutsche Predigten und Traktate, ed. u. übers. v. J. Quint, München 41977 (zit. DPT). Largier II (nt. 1), 793: „Das mhd. rede ist wohl als terminus technicus anzusehen, der das lat. collatio übersetzt. Darunter hat man sich abendliche Lehrgespräche vorzustellen, bei denen als Ergänzung zur Schriftlesung […] unter der Leitung eines geistlichen Lehrers oder Vorgesetzten Fragen der Schriftauslegung, des monastischen und generell des spirituellen Lebens besprochen wurden.“ Cf. auch M. Enders, Die ,Reden der Unterweisung‘: Eine Lehre vom richtigen Leben durch einen guten und vollkommenen Willen, in: K. Jacobi (ed.), Meister Eckhart: Lebensstationen - Redesituationen (Quellen und Forschungen zur Geschichte des Dominikanerordens, N. F. 7), Berlin 1997, 69-92, hier: 92. Belegstellen für den Terminus collatio sind von J. Quint in DW V, 312 sq., nt. 2, aufgeführt. Largier II (nt. 1), 791. RdU (DW V, 185, 1-6): „Daz sint die rede, die der vicarius von türingen, der prior von erfurt, bru˚der eckhart predigerordens mit solchen kindern haˆte, diu in dirre rede vraˆgeten vil dinges, doˆ sie saˆzen in collationibus mit einander.“ Y. Koda, Mystische Lebenslehre zwischen Kloster und Stadt. Meister Eckharts ,Reden der Unterweisung‘ und die spätmittelalterliche Lebenswirklichkeit, in: E. C. Lutz (ed.), Mittelalterliche Literatur im Lebenszusammenhang, Freiburg/Schweiz 1997, 225-264, hier: 243-249. Largier II (nt. 1), 790: „Bemerkenswert ist, daß Eckhart seine Mitbrüder, die ja des Lateins mächtig waren, nicht in der gewohnten Schulsprache, sondern in der Volkssprache unterwies. Dies stellt zweifellos eine Ausnahme dar.“

„Der Mensch sollte werden ein Gott Suchender“

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auch, dass die RdU sich nicht nur an Mitbrüder und Nonnen wenden, sondern an die ,Leute‘ 7, an ,den Menschen‘ allgemein 8. Prima facie sind die RdU inhaltlich gesehen weniger spekulativ als vielmehr moralisch-praktisch 9 orientiert. Sie behandeln „Fragen des religiösen Lebens von Ordensleuten“ 10. Tatsächlich sind die RdU jedoch mehr. Sie tragen nach Kurt Ruh den Charakter eigentlicher ,christliche[r] Lebenslehre‘ 11 und zeugen von der gedanklichen Reife des jungen Erfurter Priors 12. „Eine Lehre […] vom vollkommenen menschlichen Sein durch einen guten und vollkommenen Willen“ ist für Markus Enders 13 der Skopus der RdU. Damit jedoch sind die RdU auch noch nicht hinreichend charakterisiert, denn sie enthalten bereits im Kern „Eckharts […] Programm und […] alle Grundgedanken […], die er im späteren Werk philosophisch und theologisch eingehend thematisieren und in den Begriffen Gottesgeburt und Seelenfunke spekulativ entfalten wird“ 14. Nach Ludwig Hödl - der die Grundintention des Eckhart’schen Gesamtwerks in einer durch kritisches Gotteserkennen (das sich von einem konstruierten Gott abkehrt und dem lebendigen Gott erkennend zuwendet) bewirkten Veränderung und renovatio des religiösen Bewusstseins sieht - sind die RdU im Sinne dieser Eckhart’schen Grundintention spiritual-pädagogisch und theologie-didaktisch normgebend für Eckharts gesamtes Werk 15. Das gilt m. E. darüber hinaus auch (zumindest tendenziell) in philosophischer Hinsicht. 7

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Cf. die bei Enders, Die ,Reden der Unterweisung‘ (nt. 2), 70, nt. 9, angegebenen Stellen: DW V, 191, 6; 196, 8; 197, 6-8; 200, 10; 209, 8; 244, 5; 249, 5. Cf. RdU, c. 1 (DW V, 187, 1). Weitere Stellenhinweise gibt Markus Enders (Die ,Reden der Unterweisung‘ [nt. 2], 70, nt. 10): DW V, 192, 6; 194, 5 sq.; 203, 1; 208, 11; 209, 7; 210, 1; 211, 1; 212, 2; 215, 8; 222, 1; 223, 3; 228, 11; 239, 3 sq.; 244, 8; 246, 6; 249, 9 sq.; 250, 3; 256, 11; 258, 5; 259, 5; 262, 5; 263, 4 u. 9; 272, 5; 274, 9; 275, 11; 276, 10 sq.; 278, 13; 281, 3; 285, 11; 286, 7; 289, 4 u. 12 sq.; 290, 11 u. ö. Cf. Largier II (nt. 1), 790. Koda (Mystische Lebenslehre [nt. 5], 227) spricht von der „pragmatische[n] Ausrichtung“ der RdU, die „mit der geschichtlichen Situation des Erfurter Dominikanerkonvents“ zusammenhinge. „Die Bedeutung der ,Reden‘ “ ließe sich besser verstehen, wenn man Eckhart und „seine Gedanken als historische Phänomene im Zusammenhang mit seiner städtischen Welt“ zu begreifen suche (ibid., 263 sq.). Dieser durchaus legitimen und produktiven Fragestellung müsste noch präziser und mehr en detail nachgegangen werden als in Kodas Aufsatz, um tatsächlich für die Interpretation der RdU fruchtbar zu sein. Vielleicht ist das ja in Kodas 1994 in Freiburg/Schweiz angenommener Dissertation (Meister Eckhart in Erfurt. Studien zu den sozialen und gedanklichen Hintergründen der ,Reden der unterscheidunge‘), die mir leider nicht zugänglich ist, der Fall. Largier II (nt. 1), 790. K. Ruh, Meister Eckhart. Theologe, Prediger, Mystiker, München 21989, 32. Cf. Largier II (nt. 1), 791. Enders, Die ,Reden der Unterweisung‘ (nt. 2), 92. Largier II (nt. 1), 790. Cf. L. Hödl, Meister Eckharts theologische Kritik des reinen Glaubensbewußtseins, in: U. Kern (ed.), Freiheit und Gelassenheit. Meister Eckhart heute, München-Mainz 1980, 34-52, hier: 38.

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Sucht man eine Konstante, ein ,Leitmotiv‘, in den RdU, so kann man das mit Kurt Ruh in der Gelassenheit sehen, die allerdings zu eng geführt ist, wenn sie nur als Gegenstück des zu überwindenden Eigenwillens verstanden wird 16. Für Yoshiki Koda 17 ist das beherrschende Leitmotiv der RdU der Satz: „als vil duˆ uˆzgaˆst aller dinge, als vil, noch minner noch meˆr, gaˆt got ˆın mit allem dem sıˆnen, als duˆ zemaˆle uˆzgaˆst in allen dingen des dıˆnen.“ 18 Die RdU lassen sich in drei Sequenzen einteilen, die (1.) die Kapitel 1-8, (2.) die Kapitel 9-16 und (3.) die Kapitel 17-23 umfassen. Nach Georg Steer hat die erste Sequenz das Haben Gottes in der Vernunft, die zweite Sequenz das Haben Gottes im Willen und die dritte Sequenz das ,got naˆhen nemen‘ (Gott als nahe nehmen) in Vernunft und Willen hinsichtlich der je eigenen Nachfolge Christi des Menschen zum Thema 19. In diesem Beitrag beschäftige ich mich mit den anthropologischen Aspekten 20 in Eckharts RdU. Ich vertrete die These, dass Grunddaten des Eckhart’schen Verständnisses vom Menschen in nuce schon in seinen Erfurter ,Reden‘ enthalten sind, wenn auch - und das wiegt durchaus schwer - unter weitgehender Vernachlässigung bzw. eher skizzierter als gänzlich herausgearbeiteter Darstellung des für Eckhart so wesentlichen spekulativen Hintergrundes 21. Unter dieser Voraussetzung und Perspektive kann man sagen: Eckharts Anthropologie 22 ist schon in den RdU teleologisch, epistemologisch, ontologisch, lebenspraktisch und (primär präsentisch) eschatologisch als theologische Anthropologie angelegt. I. Der Ver nünftig e und wahrhaft Seiende Georg Steer hat Recht: In den Kapiteln 1-8 der RdU geht es Eckhart „nicht primär [um] die Auslegung der Ordensgelübde Gehorsam, Besitzlosigkeit, Keuschheit oder die Darstellung der Selbstentäußerung des Menschen, sondern 16

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Cf. Ruh, Meister Eckhart (nt. 11), 33. Cf. auch Enders, Die ,Reden der Unterweisung‘ (nt. 2), 73. Cf. Koda, Mystische Lebenslehre (nt. 5), 233. RdU, c. 4 (DW V, 197, 2 sq.). G. Steer, würken vernünfticlıˆchen. Das ,christliche‘ Leben nach den ,Reden der Unterweisung‘ Meister Eckharts, in: R. Blumrich/P. Kaiser (eds.), Heinrich Seuses Philosophia spiritualis. Quellen, Konzept, Formen und Rezeption. Tagung Eichstätt 02.-04. Oktober 1991 (Wissensliteratur im Mittelalter 17), Wiesbaden 1994, 94-108, hier 98: „Es handeln […] die Kapitel 1-8, wie Gott in der vernunft zu nehmen, ze habenne, ist […], die Kapitel 9-16, wie Gott mit dem Willen, in der minne, zu nehmen, ze habenne ist. Der dritte Teil in den Kapiteln 17-23 sieht das sich got naˆhen nemen (DW V, 250, 2) in Vernunft und Wille unter dem Aspekt der Nachfolge Christi in der je eigenen Weise des Menschen.“ Mit der Anthropologie Eckharts im Allgemeinen habe ich mich in meiner Jenenser Habilitationsschrift von 1983, die in Hamburg 1994 unter dem Titel ,Die Anthropologie des Meister Eckhart‘ erschien, beschäftigt. Das gilt z. B. für den spekulativen Hintergrund des für Eckharts Gesamtwerk so wichtigen Kerngedankens der Gottesgeburt in der Seele. Cf. Kern, Die Anthropologie (nt. 20).

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um das waˆre haben gotes (DW V, 205, 1)“ 23. Dieses waˆre haben gotes ereignet sich, wenn sich der Mensch des selbstischen Habens in Bezug auf das Ich, den anderen, die und das andere und seinen Gott entäußert: „Soweit du ausgehst aus allen Dingen, soweit […] geht Gott ein mit all dem Seinen.“ 24 „Swaˆ der mensche […] des sıˆnen uˆzgaˆt und sich des sıˆnen erwiget, daˆ an dem selben muoz got von noˆt wider ˆıngaˆn.“ 25 Für Eckhart ist der Ausgang des Menschen aus sich selbst und der Eingang Gottes in den Menschen ein Vorgang von „glıˆch[em] widergelt und glıˆche[m] kouf “ 26. Das wahre Haben Gottes liegt an dem ,inniclıˆchen vernünftigen zuokeˆrenne‘ zu Gott: „War ane liget nuˆ diz waˆre haben gotes, daz man in wærlıˆche habe? Diz wærlıˆche haben gotes liget an dem gemüete und an einem inniclıˆchen vernünftigen zuokeˆrenne und meinenne gotes.“ 27 Jedoch besteht es nicht in „einem beständigen, gleichmäßigen Darandenken“ („staeten anegedenkenne in einer glıˆchen wıˆse“) in Bezug auf Gott; das wäre desaströs, da ,unmügelich der natuˆre‘ des Menschen 28. Nicht in einem Denkakt besteht das Schauen (theoria) Gottes durch die Vernunft, vielmehr „in einer strukturellen Verschiebung, in der sich die Vernunft auf Gott hin öffnet“, und in einer Überformung von Gottes Sein, dem im Gegensatz zum Sein der Kreatur die puritas essendi 29 eignet 30. „Nur dadurch wird Gott zu einem wesenhaften Gott, das heißt, zu einem Gott, der in der Seele unmittelbar gegenwärtig ist, dieser das Sein verleiht, und zu einem Gott, dem sich die Seele in einer Weise geöffnet hat, daß ihr Wirken unmittelbar diesem Sein entspringt.“ 31 Der Mensch - so Eckhart griechisch und scholastisch geprägt 32 - ist ein Vernunftwesen: „Est […] homo animal rationale.“ 33 Es entspricht also dem Wesen des Menschen und er verwirklicht dieses, wenn er seine Vernunft nachhaltig gebraucht. Das gilt hinsichtlich seiner selbst, dem anderen Geschöpflichen gegenüber und in vornehmster Weise Gott gegenüber: „Der Mensch soll zu allen seinen Werken und bei allen Dingen seine vernunft merklıˆchen gebruˆchen und in allen Dingen ein vernünftigez mitewizzen von sich selbst und seiner Innerlichkeit haben und in allen Dingen Gott nehmen in der höchsten Weise, wie es möglich ist.“ 34

Aristoteles differenziert zwischen wirkender und möglicher Vernunft (intellectus agens und intellectus possibilis): „estin ho men toioutos nous to panta ginesthai, ho de to 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33

34

Steer, würken vernünfticlıˆchen (nt. 19), 99. RdU, c. 4 (DW V, 197, 2 sq.). Ibid., c. 1 (DW V, 187, 1 sq.). Ibid., c. 4 (DW V, 197, 1 sq.). Ibid., c. 6 (DW V, 205, 1-3). Ibid., 205, 3-5. Cf. Largier II (nt. 1), 881 sq. Ibid., 795. Ibid. Cf. LW III, 10, nt. 6. In Ioh., n. 10 (LW III, 10, 12). Cf. U. Kern, ,Gottes Sein ist mein Leben‘. Philosophische Brocken bei Meister Eckhart, Berlin-New York 2003, 41. RdU, c. 7 (DW V, 210, 1-4).

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panta poien.“ 35 Hier knüpft Eckhart an 36. Er unterscheidet zwei Begriffe der Vernunft, die sich naturhaftem und gnadenhaftem Vernunfterkennen verdanken: 1. Die Vernunft wird einmal von Eckhart als Seelenvermögen verstanden. Das ist das natürliche Erkennen im Seelenternar von memoria, intellectus und voluntas. 2. Zum anderen bestimmt Eckhart „Vernunft als Höchstes der Seele, das - als intellectus possibilis - mit dem Seelengrund koinzidiert“, ja, mit der „essentia animae […] verschmilzt“ 37. Das ist Vernunft im ,Licht der Gnade‘ 38. „Vernunft ist der Ort der Gnade, die in ihr als ein vünkelıˆn der redelicheit 39 (die scintilla rationis als Bild Gottes in der Seele im Sinne Augustins) allezeit gegenwärtig ist.“ 40 Ist die Vernunft ,reine Möglichkeit‘, so „spricht sich Gott gnadenhaft in sie und gebiert seinen Sohn in ihr“ 41. Insofern im Seelengrund Gott sich ausspricht, wird der Mensch zum Sohn. „Vernunft als mögliche Vernunft bezieht sich somit als Möglichkeit des Geboren-Werdens aufs Geboren-Sein des Menschen.“ 42 Diese Differenzierung der Vernunft ist zwar in den RdU noch nicht explizit auf den Begriff gebracht, aber Elemente derselben sind auch in ihnen zumindest implizit angelegt. Der vernünftige nachhaltige Gebrauch der Vernunft ist für das vernünftige Wesen Mensch fundamental hinsichtlich seines Menschseins. Übung der Vernunft ist angesagt, damit der Mensch sich nicht wesentlich verfehlt, sondern sich seinem eigentlichen Wesen gemäß entfalten kann. Lebendige, ,übende‘ Orientierung auf Gott dient der Profilierung der Vernunft und damit dem animal rationale, was der Mensch in seiner Bestimmung von der imago dei her ist. Im Innern kommt es so zur vernünfticlıˆchen göttlichen Kondeszendenz. „Dies ist vor allen Dingen nötig: daß der Mensch seine Vernunft recht und gänzlich an Gott gewöhne und übe; so wird es allezeit in seinem Innern göttlich. Der Vernunft ist nichts so eigen und so gegenwärtig noch so nahe wie Gott.“ 43 Gegenwärtigsein und authentisches Vernunftsein sind der Vernunft in der Nähe Gottes gegenwärtig gegeben. Indem die Vernunft vernünftig bleibt, „kehrt sie sich nim35 36

37 38 39 40

41 42 43

Aristoteles, De anima III, 5 (430a 14 sq.). Cf. zum Folgenden Largier I (nt. 1), 848-851, 996. Largier (ibid., 996) kennzeichnet präzise Eckharts Verständnis von möglicher und wirkender Vernunft: „Mit der möglichen Vernunft wird der rezeptive Aspekt des vernunfthaften Erkennens bezeichnet, der die bloße Möglichkeit ist, alles zu erkennen. Dieser ist durch die Unbestimmtheit charakterisiert, die den Intellekt dazu befähigt, alle Dinge zu werden (cf. In Gen. I, n. 115, LW I, 270, 1-272, 6). Demgegenüber ist die wirkende Vernunft derjenige Aspekt des vernunfthaften Erkennens, der das in der Wahrnehmung Aufgenommene von den Vorstellungsbildern zum aktuell Erkannten werden läßt und mithin das intelligible Sein der Dinge in der Seele, das heißt im intellectus possibilis bewirkt“ (cf. Sermo X, n. 109, LW IV, 102, 12 sq.). Largier I (nt. 1), 849 sq. Pr. 73 (DW III, 262, 1). Pr. 76 (DW III, 315, 6). A. M. Haas, Mystik als Aussage. Erfahrungs-, Denk- und Redeformen christlicher Mystik, Frankfurt a. M. 21997, 395-397. Largier I (nt. 1), 850. Ibid. RdU, c. 21 (DW V, 277, 4-6).

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mer anderswo hin“ 44 als zu Gott. Verlust des Vernünftigseins tritt ein, wenn die Vernunft sich den Kreaturen zukehrt. Das entspricht nicht ihrem Vernunftsein. Das ist Vernunftdestruktion und damit zerstörende substantiale Gefährdung des Menschen als ens rationale. „Zu den Kreaturen kehrt sie [die Vernunft] sich nicht, ihr geschehe denn Gewalt und Unrecht; sie wird da wirklich (rehte) gebrochen und verkehrt.“ 45 Eine substantiale Hinwendung der Vernunft zur Kreatur als deren erstrebte essentielle und teleologische Fundamentalorientierung verdirbt die vernünftige Seele des Menschen. Eine verdorbene und gebrochene Vernunft bei den Menschen wiederherzustellen ist Schwerstarbeit. Es bedarf dazu großen Fleißes, vieler Anstrengungen und Bemühungen 46. Eine durch die Kreaturen verbildete und so im wörtlichen Sinne verkehrte Vernunft vollständig zu restaurieren, vermag die verbildete Vernunft aus sich selbst heraus nicht. Ihre Verbildung hat sie so geschwächt, dass ihre Vernunftübung minimiert ist: „Denn so zu eigen und natürlich ihr [der Vernunft] Gott sei, sobald sie erst einmal verkeˆret wird und begründet wird mit den Kreaturen und mit ihnen verbildet und an sie gewöhnt ist, so wird sie an diesem Teil geschwächt und ungewaltic ihrer selbst und in ihrem edlen Streben (meinunge) so behindert, daß dem Menschen aller Fleiß, den er aufzubringen vermag, immer noch zu klein ist, sie völlig wieder zurückzugewöhnen.“ 47

Auf der Höhe der Vernunft zu sein, bedeutet Allgegenwärtigsein Gottes. Das hat zum Ertrag wahren Frieden und rechtes Himmelreich: „Wem Gott so gegenwärtig ist in allen Dingen und [wer] seine Vernunft im Höchsten beherrscht und gebraucht, der weiß allein von wahrem Frieden, und der hat ein rechtes Himmelreich.“ 48 Wem das Allgegenwärtigsein Gottes durch die Vernunft gegenwärtig ist, dem wird zugleich vernünfticlıˆches Warnen hinsichtlich internen und externen Schadens zuteil 49. Durch den höchsten Gebrauch der Vernunft kommt es zur theosis, zur Vergöttlichung des die Vernunft so Gebrauchenden. Er wird innen götlich: „Dis ist vor allen dingen noˆt: daz der mensche sıˆne vernunft wol und zemaˆle got gewene und üebe, soˆ wirt im alle zıˆt innen götlich.“ 50 Der Gebrauch der Vernunft steht für Eckhart nicht im Gegensatz zur Gnade 51. Wie Thomas 52 sagt er: „Gnade zerstört nicht die Natur, 44 45 46 47 48 49 50 51

52

Ibid., 277, 6 sq. Ibid., 277, 7 sq. Cf. ibid., 277, 9-11. Ibid., 277, 12-278, 2. Ibid., c. 7 (DW V, 211, 3-5). Cf. ibid., c. 8 (DW V, 212, 5-7). Ibid., c. 21 (DW V, 277, 4 sq.). Zu Eckharts Gnadenverständnis cf. Largier II (nt. 1), 904-909, und vor allem Largiers entsprechende Ausführungen in seiner Kommentierung von Sermo XXV (,Gratia dei sum id quod sum‘), in: G. Steer/L. Sturlese (eds.), Lectura Eckhardi II, Stuttgart 2003, 192-203. S. th. I, q. 1, a. 8, ad 2: „cum […] gratia non tollat naturam, sed perficiat.“

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sie vollendet sie.“ 53 Diese Aussage verbindet Eckhart mit der über einen freien Willen: „Der Mensch hat einen freien Willen, mit dem er Gutes und Böses wählen kann (gekiesen mac), und Gott legt ihm beim Übeltun den Tod und beim Rechttun das Leben vor. Der Mensch soll frei sein und ein Herr über alle seine Werke und unzerstört und ungezwungen. Gnaˆde enzerstœret niht die natuˆre, si volbringet sie […]. Ebenso sollen wir kein noch so kleines Gutes in uns zerstören, noch eine geringe Weise um einer großen willen, sondern wir sollen sie vollbringen in das Allerhöchste.“ 54

Der Mensch kann im ,vernunft merklıˆchen gebruˆchen‘ zwischen Gut und Böse, Leben und Tod wählen. Die Gnade ist die transzendentale Voraussetzung, also die Bedingung der Möglichkeit, der Freiheit. Sie wird als „Bedingung der Möglichkeit gesehen, die Welt und den Menschen nicht nur als etwas naturhaft und temporal Vermitteltes, also immer Unfreies zu denken. Der Begriff der Gnade ermöglicht es, die Welt und den Menschen als in ihrem Ursprung frei zu denken“ 55. Welt und sich selbst im Ursprung frei zu denken ermöglicht die Gnade. Denn die Gnade relationiert „auf die Rückkehr des Menschen in die göttliche Einheit“ 56, reditio ad unum. „Die gratia gratum faciens, die Eckhart als vernunfthaftes Eingehen des Menschen in den Grund seines Daseins deutet, befreit ihn radikal, konvergiert doch darin das diskursive und immer vermittelte Denken und Erkennen, durch das sich der Mensch auszeichnet, mit seinem Grund, der immer nur als vollkommene Unbestimmtheit zu denken ist.“ 57 Diese Konvergenz macht nach Eckhart die Freiheit aus 58. Indem für den die Gnade Empfangenden die Gnade, deren „werk […] ir gewerden“ 59 ist, „confirmatio, configuratio […] transfiguratio animae in deum et cum deo“ ist 60, wird er frei wie Gott, der ,ledic und vrıˆ‘ 61 ist. Die Gnade ist für Eckhart immer schon im Hegel’schen Sinne aufgehoben, „wo der Mensch 53 54 55

56 57 58 59 60

61

RdU, c. 22 (DW V, 289, 5 sq.). Ibid., 289, 2-10. Largier, Gratia dei sum (nt. 51), 197. Ibid., 197 sq.: „[…] bezieht sich doch die Gnade auf den Schnittpunkt zwischen göttlicher, ursprünglicher, also uneinholbarer Produktivität und kreaturhafter Wirklichkeit […]. Nur wenn der Grund dieser Wirklichkeit als absolute, unbestimmte Freiheit [Gott] und auch der Schnittpunkt zwischen dieser Freiheit und der kreaturhaften Bestimmtheit als vollkommen undeterminiert gedacht werde, können die Kreatur und der Mensch auch im Besonderen als frei konzipiert werden. Da die Gnade als ,Mittel‘ zwischen Unmittelbarkeit und Mittelbarkeit […] notwendigerweise paradoxen Status besitzt, wird sie von Eckhart gelegentlich als Kreatur, an anderer Stelle als göttlich, manchmal als Mittel, dann wieder als Negation aller Mittelbarkeit bezeichnet.“ Ibid., 199. Ibid. Cf. ibid. Pr. 11 (DW I, 177, 6 sq.). Sermo XXV/2, n. 263 (LW IV, 240, 3); In Ioh., n. 521 (LW III, 450, 3): „Gratia […] per se dat esse divinum.“ Pr. 1 (DW I, 9, 5).

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als Sohn Gottes“, also durch die Gottesgeburt qualifiziert, „gedacht und damit in die trinitarische Entfaltung Gottes vollständig einbezogen ist“ 62. Das wahre Haben Gottes, so Markus Enders 63, realisiert sich in der Sicht Eckharts nicht allein qua Vernunft, sondern ebenfalls durch das gemüete. Enders verweist neben RdU, DW V, 203, 1-3 und 9-11 auf RdU, DW V, 205, 2 sq.: „Diz wærlıˆche haben gotes liget an dem gemüete und an einem inniclıˆchen vernünftigen zuokeˆrenne und meinenne gotes.“ Nun sind m. E. Vernunft und gemüete nicht als Gegensatz, sondern inklusiv zu verstehen, denn gemüete kann definiert werden als „die Gesamtheit der Gedanken und Empfindungen“ 64. Also ist im gemüete die Vernunft enthalten. Gegenüber den Empfindungen ist Eckhart äußerst kritisch: „Duˆ ensolt niht groˆz wegen, wes duˆ enpfindest.“ 65 Entscheidend ist nicht das Empfinden, sondern das Wissen 66. Die Vernunft ist in dem gemüete als die „Gesamtheit der Gedanken und Empfindungen“ die regierende Größe, die auch die Empfindungen lenken muss, wenn denn das gemüete das erbringen soll, was es erbringen kann. Freilich ist das gemüete als gemüete dazu nur in der Lage, wenn es ein ledic gemüete ist. Dementsprechend hoch wertet Eckhart das Gemüt, genauer das ledige Gemüt: „Das ledige Gemüt vermag alle Dinge.“ 67 Drei Grunddaten bestimmen das ledige Gemüt 68: 1. ,an nichts gebunden‘, 2. ,des Seinen uˆzgegangen‘, 3. ,in den liebsten Willen Gottes versunken‘. Aus diesen drei Grunddaten des ledigen Gemütes ergeben sich dessen Dimensionen und Potenzen. Das heißt hinsichtlich des opus hominis: Aus dem ledigen Gemüt empfängt menschliches Werk Kraft und vermügen 69. Das Entscheidende, worauf der Mensch aus sein soll, ist jedoch nicht das Verrichten von Werken. Wird das als das Erste angesehen, kommt es zur verdinglichten Destruktion des Menschen. Die großen Werke bringen für das Wesen des Menschen nichts. Im Gegenteil: Sie leisten nicht nur keinen Beitrag zum Menschsein, sie sind sogar Verderben bringend. Das wirklich Geltende ist nicht das Werk, sondern das Sein. „Die nicht großen Seins sind, welche Werke die wirken, da wird nichts daraus.“ 70 Das Primäre, das, worauf es beim Menschen essentiell ankommt, ist nicht das Tun, sondern das Sein. Rechtes, Gott gemäßes Menschsein, Heiligkeit, ist nicht zu „gründen auf ein Tun“, sondern „auf ein Sein“ 71. Aus dem Sein ergibt sich das Tun. Diese Reihenfolge gilt. „Bist du 62 63 64 65 66 67 68

69 70 71

Largier, Gratia dei sum (nt. 51), 199. Enders, Die ,Reden der Unterweisung‘ (nt. 2), 86. M. Lexer, Mittelhochdeutsches Taschenwörterbuch, Leipzig 321966, 61. RdU, c. 20 (DW V, 263, 2). Cf. ibid., 270, 1 sqq. Cf. ibid., 270, 1-4. Ibid., c. 2 (DW V, 190, 6 sq.). Ibid., 190, 8-14: „Waz ist ein ledic gemüete? Daz ist ein ledic gemüete, daz mit nihte beworren enist noch ze nihte gebunden enist noch daz sıˆn bestez ze keiner wıˆse gebunden enhaˆt noch des sıˆnen niht enmeinet in deheinen dingen, dan alzemaˆle in dem liebesten willen gotes versunken ist und des sıˆnen uˆzgegangen ist. Niemer enmac der mensche dehein soˆ snœde werk gewürken, ez enneme hier inne sıˆne kraft und sıˆn vermügen.“ Cf. die vorgehende nt. 68. RdU, c. 4 (DW V, 198, 6 sq.). Ibid., 198, 1 sq.

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gerecht, so sind auch deine Werke gerecht.“ 72 Deshalb verlangt Eckhart von den Menschen: „Die liute endörften niemer vil gedenken, was sie tæten; sie solten aber gedenken, waz sie wæren.“ 73 Man „soll allen Fleiß darauf legen, gut zu sein, nicht [aber] so sehr darauf, was man tue oder welcher Art die Werke seien, sondern wie der Grund der Werke sei.“ 74 II. Im Glauben und Einssein in dem Einen Des Menschen Wesen und Seinsgrund sind gut, und aus diesem Gutsein des Grundes folgt die Gutheit der Werke. Das wird dann wirksam, wenn „des menschen gemüete genzlıˆche ze gote sıˆ “ 75. Der Glaube, der ,ein götlıˆchiu tugent‘ ist, vereint als ein Licht mit dem göttlichen Licht 76. Er vermag das, was die Seele mit ihren Kräften nicht vermag, er trägt die Seele zu dem göttlichen Licht 77. Von der Einung mit Gott zeugen nicht Empfindungen oder Wahrnehmungen Gottes, sondern der wissende Glaube 78. Glaube ist nicht (fromme) Empfindung Gottes. Vielmehr gilt: „Je weniger du empfindest und je fester (groezlıˆcher) du glaubst, um so löblicher ist dein Glaube.“ 79 Glauben ist nicht Meinen oder frommes Fürwahrhalten, Glauben ist Wissen, wahres Wissen des Einen. „Ein ganzer Glaube ist viel mehr als ein Wähnen in dem Menschen. In ihm haben wir ein wahres Wissen. Fürwahr, uns gebricht es an nichts als an einem wahren Glauben.“ 80 Der Glaubende ist der Wissende, der die eine Wahrheit Gottes Wissende. Das macht die Notwendigkeit und Vernünftigkeit des Glaubens aus. Der Glaubende erkennt und weiß im Grunde der Seele den Grund Gottes. Der Mensch ist ein Gott Suchender. In dieser Suche stellt sich dem Gott Wissenden alles Gute, alle Tugend ein. „Suche Gott, so findest du Gott und alles Gute.“ 81 „Wer Gott anhaftet, dem haftet Gott an und alle Tugend. Und was du zuvor suchtest, das sucht nun dich.“ 82 „[…] wer Gott anhaftet grœzlıˆche, dem haftet alles an, was göttlich ist, und den fliehet alles, was Gott ungleich und fremd ist.“ 83 Das Gemüt des Menschen bedarf der uebunge, um den gegenwärtigen Gott überall strebend und liebend zu entdecken. „Der Mensch soll 72 73 74 75 76 77 78

79 80 81 82 83

Ibid., 197, 8. Ibid., 197, 6 sq. Ibid., 198, 7-9. Ibid., c. 5 (DW V, 199, 3 sq.). Pr. 32 (DW II, 142, 3 sq.). Ibid., 142, 4 sq. Haas, Mystik (nt. 40), 410: „Glauben und Wissen sind in der Sicht Meister Eckharts wesentliche Gehalte des Pilgerstands. Im Glauben findet der Mensch in eine Wahrheit, die alle Weltwahrheit in sich enthält und zudem […] die Wahrheit Gottes selbst vermittelt.“ RdU, c. 20 (DW V, 270, 1 sq.). Ibid., 270, 2-5. Ibid., c. 5 (DW V, 199, 8). Ibid., 200, 4 sq. Ibid., 200, 6-8.

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Gott in allen Dingen ergreifen und soll sein Gemüt daran gewöhnen, daß er alle Zeit Gott in der Gegenwärtigkeit in dem Gemüt und in der meinunge und in der Liebe habe.“ 84 Die Gegenwärtigkeit Gottes zu entdecken bezieht sich nicht, ja kann sich nicht auf die Gotteskonstruktionen des frommen Subjektes mit seinem Bedürfnis des ,Habens‘ beziehen. Orientierung nicht auf das Bewusstseinsprodukt Gott, sondern den wesenhaften Gott ist entschieden gefordert: „Der Mensch soll nicht haben, noch sich genügen lassen an einem gedachten Gott; denn, wenn der Gedanke vergeht, so vergeht auch der Gott. Man soll vielmehr haben einen wesenhaften Gott, der weit erhaben über die Gedanken des Menschen und aller Kreatur ist. Der Gott vergeht nicht, der Mensch wende sich denn mit Willen [von ihm] ab.“ 85

Dem wesenhaften Gott gilt die Ausrichtung des Gott suchenden Menschen, dem Gott, der ist, der in und aus sich selbst ist. Das ist der göttliche Gott. „Wer Gott […] im Sein hat, der nimmt Gott göttlich, und dem leuchtet er in allen Dingen.“ 86 Daraus ergibt sich der ontologisch-epistemologische indikative Imperativ: „[…] daß der Mensch sollte werden ein in allen Dingen Gott suchender und Gott findender Mensch zu aller Zeit und an allen Stätten und bei allen Leuten in allen Weisen. Darin mag man alle Zeit ohne Unterlaß zunehmen und wachsen und nimmer an ein Ende des Zunehmens kommen.“ 87

Dem göttlichen Gott gemäß wissend glauben und denken, ihn vernünfticlıˆche haben - das prägt nach Eckhart grundlegend Glauben und Vernunft, macht die Vernünftigkeit des Vernünftigen aus. Das vernünfticlıˆche haben des wesenhaften Gottes muss präzisiert werden. Der wesenhafte Gott ist der Eine. Diesem Einen zu korrelieren, ja mit dem Einen im Einen Eins zu sein, darin entscheidet sich und besteht authentisches Menschsein. Ausrichtung auf den Einen als den Einen ist vonnöten. In dieser Konzentration auf den Einen wird der Mensch das, was er im eigentlichen Sinne ist. Er wird Gott entsprechend; d. h. nicht in der Mannigfaltigkeit, der Zwei, ist er Mensch, sondern darin, einez in dem einen zu sein: „[…] so wie Gott keine Mannigfaltigkeit zu zerstreuen vermag, so vermag diesen Menschen nichts zu zerstreuen noch zu vermannigfaltigen, denn er ist einez in dem einen, da alle Mannigfaltigkeit eines ist und eine Nicht-Mannigfaltigkeit (unvermanicvalticheit) ist.“ 88

Einez in dem einen sein und unvermanicvalticheit charakterisieren ihn ontologisch. Halt in dem Einen zu finden, darauf kommt es an. Dem steht der Leistungskapitalismus des Menschen entgegen, der Stütze und Trost in den eigenen leis84 85 86 87 88

Ibid., Ibid., Ibid., Ibid., Ibid.,

c. 6 (DW V, 203, 1-3). 205, 5-9. 205, 10 sq. c. 22 (DW V, 289, 12-290, 3). c. 6 (DW V, 202, 8-10).

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tungsstarken Werken sucht. Große Freude, Stütze und Hoffnung haben die Menschen an ihren Werken wie Fasten, Wachen und anderen, insbesondere leistungsstarken, opera, „so daß ihnen ihre Werke Halt, Stütze und Verlaß sind. Das will unser Herr ihnen wegnehmen und will, daß er allein ihr Halt und Verlaß sei“ 89. Die selbstkonstruierten Stützen, die luˆter niht sind, lässt Gott zusammenbrechen. „Darum läßt der getreue Gott zu, daß seine Freunde oft in Schwachheit fallen, damit ihnen aller Halt abgehe, auf den sie sich neigen oder stützen (enthalten) könnten.“ 90 Die Pseudo-Halte müssen stürzen. Sie können nicht stützen. Gott soll den Menschen „Halt und Trost sein, und sie sollen als ein reines Nichts (luˆter niht) sich finden und erachten in all den großen Gaben Gottes“ 91. III. Der wahre, den Eig enwillen aufg ebende Gott Gehorsame Allein auf Gott soll der Mensch bauen 92. Das macht der Gehorsame. Darum wertet Eckhart den Gehorsamen sehr hoch. „Wahrer und vollkommener Gehorsam ist eine Tugend vor allen Tugenden.“ 93 Ohne Gehorsam kann „kein noch so großes Werk geschehen oder getan werden“ 94. Freilich geht es hier nicht um einen (generellen bzw. unqualifizierten) Gehorsam an sich, sondern um den teleologisch qualifizierten, den waˆren gehoˆrsame 95. Dieser „intendiert […] immer Gott und ist so als Preisgabe des Eigenwillens zugunsten des göttlichen Willens zu verstehen“ 96. Wahrer, also teleologisch-theologisch definierter, Gehorsam bringt produktiven Gewinn hinsichtlich des menschlichen Tuns. Er macht menschliches Tun, so gering es auch sei, nützer, edeler und bezzer 97. Wahrer Gehorsam „wirkt allewege das Allerbeste in allen Dingen“ 98. Das Tun des Menschen wird durch den wahren Gehorsam meliorisiert. Wahrer Gehorsam bringt nicht nur moralisch-ethische Meliorisierung, sondern auch transzendental-transzendenten Gewinn. „Wo der Mensch in Gehorsam des sıˆnen uˆzgaˆt und sich des Seinen entschlägt (des sıˆnen erwiget), ebenda muß Gott notgedrungen wieder hineingehen (got von noˆt wider ˆıngaˆn).“ 99 Gott kommt dann in den Menschen, wo dieser in wahrem Gehorsam des sıˆnen uˆzgaˆt. Des sıˆnen in wahrem Gehorsam uˆzgaˆn hat als Folge das Hineingehen, ja das Hineingehenmüssen Gottes. Dieses Muss Gottes ist, wie Loris Sturlese sagt, nicht mora89 90 91 92 93 94 95 96 97 98 99

Ibid., c. 19 (DW V, 260, 9-261, 3). Ibid., 260, 4-6. Ibid., 262, 1 sq. Ibid., 262, 5. Ibid., c. 1 (DW V, 185, 8). Ibid., 185, 9. Ibid., 185, 8; 186, 2, 4, 7. Largier II (nt. 1), 793. RdU, c. 1 (DW V, 186, 1 u. 4). Ibid., 186, 4 sq. Ibid., 187, 1 sq.

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lisch, sondern metaphysisch zu verstehen 100. Das „geistliche und moralische Leben“ benötigt bei Eckhart „keine asketischen und mystischen Handlungen, sondern eine metaphysische Grundlegung“ 101. Das Muss Gottes ist nicht als moralische Nötigung Gottes durch das des sıˆnen uˆzgaˆn seitens des Gehorsamen zu interpretieren, vielmehr drückt sich darin, dass ,got von noˆt wider ˆıngaˆn‘ müsse, „einfach ein objektiver Sachverhalt aus“ 102. Dieser objektive Sachverhalt stellt sich bei der sich ereignenden Negation der Verderben bringenden Selbstverdinglichung des Ichs und damit der Verneinung von deren naturalistischem Missverstehen von Mensch und Welt als seinsbegründende vorgeschöpfliche göttliche Dimension ein. „Verneinung des Selbst“ heißt dann „Verneinung von sich selbst als Ding, das eine falsche Selbständigkeit beansprucht“. Die „Einkehr Gottes“ ist „das Bewußt-werden, daß der Mensch, insofern, als er denkt und die Vernunft (intellectus inquantum intellectus) als Grund seiner verschiedenen Akte setzt, in einer nicht-dinghaften, sondern seinsbegründenden, vorkreaturalen und göttlichen Dimension lebt“. Eckhart entspricht mit seiner Lehre in bewusster Abgrenzung gegenüber den Franziskanern „der dominikanischen Tradition des Primats des Intellekts“. Ihm geht es darum, ein Grunddatum zu gewinnen, das es ihm erlaubt, „über eine naturalistische Interpretation der Welt und des Menschen hinauszugehen“; dieses ist: „die Anerkennung der unmittelbaren Abhängigkeit des Menschen von Gott als Vernunft.“ 103 Der den Eigenwillen als dinghafte Entfremdung von Mensch und Welt aufgebende Gott Gehorsame ist der wahre Mensch. „Nichts […] macht einen zum wahren Menschen als das Aufgeben des Willens.“ 104 Desaströse Entfremdungen von Gott 105, Mensch und Welt verdanken sich dem verdinglichten Geschäft des Eigenwillens. „Alles Gestürm und aller Unfrieden kommt allemal vom Eigenwillen.“ 106 Produkt des verdinglichenden Eigenwillens, dessen man sich zu entschlagen hat, ist auch alle aus „Trägheit und von kleiner minne“ herkommende gotes süezicheit, alles süße Gottesgefühl 107. Entäußerung des Eigenwillens befreit den Menschen von den Verdinglichungen in Bezug auf Gott, Mensch und Welt und lässt ihn gotvar werden. „Fürwahr, ein Mensch, der sich des Seinen ganz entäußert hätte, der würde so mit Gott umhüllt, daß alle Kreaturen ihn nicht zu berühren vermöchten, ohne zuerst Gott zu berühren; und was an ihn kommen sollte, das müßte durch Gott an ihn kommen, da nimmt es seinen Geschmack und wird gotthaft (gotvar).“ 108

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L. Sturlese, Meister Eckhart. Ein Porträt (Eichstätter Hochschulreden 90), Regensburg 1993, 9. Ibid., 9 sq. Ibid., 9. Ibid., 12 sq. RdU, c. 11 (DW V, 226, 4 sq.). Ibid., 230, 8: „Ja, je mehr wir [uns] zu eigen sind, um so weniger sind wir [Gott] zu eigen.“ Ibid., c. 21 (DW V, 282, 11-283, 1). Ibid., 283, 5-8. Ibid., c. 11 (DW V, 228, 9-229, 2).

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Ontologisch bedeutsam ist das Zunichtewerden unseres Eigenwillens, „denn unser ganzes Sein liegt in nichts als in einem Zunichtewerden (niht-werdenne)“ 109. Daher ist das Werk ,vernihten sıˆn selbes‘ substantialontologisch relevant 110. Jedoch das ,vernihten sıˆn selbes‘ aus sich selbst genügt nicht, ist mangelhaft. Gott muss das Vollbringen in uns selbst ausführen, da es sonst nicht gelingt 111. Dem entspricht durch Gott der Demütige. Der Demütige realisiert durch Gott das Vernichten seiner selbst. „Dann erst ist die Demut vollkommen genug, wenn Gott den Menschen demütigt mit dem Menschen selbst.“ 112 „Das Evangelium sagt: ,Wer sich erniedrigt, der wird erhöht werden‘ [Mt. 23, 12; Luc. 14, 11) […]. Er [der Mensch] soll sich selbst erniedrigen, und dasselbe kann nicht genug geschehen, Gott tue es [denn].“ 113 Im Grunde der Demütigung liegt die höchste Erhöhung und tiefste Tiefe 114: „Die Höhe und die Tiefe sind eins. Je mehr sich darum einer erniedrigen kann, um so höher ist er und darum sprach unser Herr: ,Wer der Größte sein will, der werde der Geringste unter euch‘. Wer jenes sein will, der muß dieses werden. Dieses Sein ist nur zu finden in diesem Werden.“ 115

„Des raˆmet got in allen dingen, daz wir den willen uˆfgeben.“ 116, denn Eigenwille produziert ständig Unordnung und Unfrieden der Dinge 117. Wo das Zunichtewerden des Eigenwillens nicht geschieht, gedeiht unordentliche Verkehrung. Diese liegt nicht an den Stätten, Leuten, Weisen, Mengen oder Werken, sondern „du bist es in den Dingen selbst, was dich hindert, denn du verhältst dich verkehrt (unordenlıˆche) in den Dingen“ 118. Der Eigenwille in den Dingen untergräbt die Ordnung der Dinge. In uˆzwendigen dingen ist kein Frieden zu finden, es sei „an Stätten oder in Weisen, bei Leuten oder in Werken, in der Fremde (ellende) oder in Armut oder in Erniedrigung […], was es auch sei, das ist dennoch alles nichts und gibt keinen Frieden“ 119. Die durch den Eigenwillen produzierten Unordnung und Unfrieden können nur durch das Zunichtewerden des Eigenwillens begrenzt und beseitigt werden. „Darum fang zuerst bei dir selbst an und laß dich! Wahrlich, fliehst du nicht zuerst dich selbst, wohin du fliehst, da findest du Hindernisse und Unfrieden, es sei, wo es [auch] sei.“ 120 109 110 111

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Ibid., c. 23 (DW V, 294, 7 sq.). Ibid., 292, 6 sq.: „Ein Werk bleibt [sc. dem Menschen] […], das ist: ein vernihten sıˆn selbes.“ Ibid., 292, 7 sq.: „Doch ist das Vernichten […], wenn Gott es nicht in einem selbst vollbringt, mangelhaft ([es] gebrichet ihm).“ Ibid., 292, 9 sq. Ibid., 293, 1-4. Ibid., 293, 5 sq.: „[…] diu hœhste hœhe der hoˆcheit liget in dem tiefen grunde der deˆmüeticheit.“ Ibid., 293, 8-294, 4. Ibid., c. 11 (DW V, 225, 10). Ibid., c. 3 (DW V, 192, 4 sq.): „[…] niemals steht ein Unfriede in dir auf, der nicht von dem Eigenwillen kommt.“ Ibid., 193, 1 sq. Ibid., 193, 6-194, 1. Ibid., 193, 3-5.

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Wo der Eigenwille den Menschen beherrscht, gedeiht nicht der schöpferische Wille des Menschen. Eckhart unterscheidet zwischen einem 1.) zufälligen (accidentalis) bzw. ,unwesentlichen‘ (non-essentialis) Willen und 2.) einem Willen, der ein zuoverhengender (entscheidender), machender (schöpferischer) und gewenter (eingewöhnter) Wille ist 121. Allein im zweiten Willen, „in dem der Mensch seinen Eigenwillen überwunden hat“, vermag „die Seele Gottes Gaben zu empfangen und in der Einheit mit Gott zu wirken“ 122. Eingebildet und eingeformt in den Willen Gottes kann sich der schöpferische Wille des Menschen fruchtbar entfalten. „So soll der Mensch von göttlicher Gegenwart durchdrungen sein und mit der Form seines geliebten Gottes durchformt sein und in ihm verwesentlicht sein.“ 123 Das Durchdrungen-, Durchformt- und Verwesentlichtsein durch die Formung Gottes ist also das Entscheidende: „Da ist der Wille vollkommen (ganz) und gerecht, wenn er ohne jedes Für-sich-selbstHaben (eigenschaft) ist und wo er seines Selbst uˆzgegangen ist, und in den Willen Gottes hineingebildet und geformt ist. Ja, je mehr dies ist, um so rechter und wahrer ist der Wille. Und in solchem Willen vermagst du alles.“ 124

Da der Wille alles vermag, kommt es darauf an, dass ich meines Willens leer werde, damit der gute, das ist der von Gottes Willen überformte Wille 125, in mir geschieht. Der eigenschaftliche Eigenwille, der immer irgendetwas in Gott haben will, verfehlt in diesem Haben sich und Gott 126. Dem Gott zu eigenen Menschen wird Gott gänzlich zu Eigen 127: „Gott gab sich nie noch gibt er sich je in irgendeinen fremden Willen. Nur in seinen eigenen Willen gibt er sich. Wo aber Gott seinen Willen findet, da gibt er sich ein und 121 122 123 124

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Ibid., c. 21 (DW V, 280, 3-5). Largier II (nt. 1), 800. Cf. RdU, c. 21 (DW V, 281, 3-12). RdU, c. 6 (DW V, 208, 11-209, 1). Ibid., c. 10 (DW V, 218, 9-12). Cf. auch ibid., c. 11 (DW V, 227, 5-8): „Das allein wäre ein vollkommener und ein wahrer Wille, daß man ganz in Gottes Willen getreten und ohne Eigenwillen wäre; und wer darin mehr [erreicht] hat, der ist um so mehr und wahrer in Gott versetzt.“ Enders, Die ,Reden der Unterweisung‘ (nt. 2), 90: „[…] der gute und vollkommene Wille [ist] per definitionem der von dem göttlichen Willen gänzlich überformte Wille.“ Pr. 62 (DW III, 58, 2-59, 4): „Die irgend etwas in Gott suchen - es sei Wissen, Erkennen oder Andacht oder was es sei -, findet man es, so findet man Gott nicht, obzwar einer Wissen, Erkennen, Innerlichkeit findet, was ich durchaus anerkenne; es bleibt ihm aber nicht. Sucht er aber nichts, so findet er Gott und alle Dinge in ihm, und die bleiben ihm. Ein Mensch soll nichts suchen, weder Erkennen noch Wissen noch Innerlichkeit noch Andacht noch Ruhe, sondern allein Gottes Willen.“ Enders, Die ,Reden der Unterweisung‘ (nt. 2), 91: „Gänzlich zu eigen ist Gott als Gott dem Menschen aber erst dann, wenn der Mensch ihm zu eigen, wenn also Gottes eigener Wille im Menschen uneingeschränkt wirksam und damit Gott selbst zum Subjekt der Verfügungsgewalt über den Menschen geworden ist. Denn eine Willenseinigung zwischen Mensch und Gott ist wegen der absoluten Einheit Gottes rein metaphysisch nur möglich in Form einer Aufhebung der Eigenwirksamkeit und damit der immanent differenten Struktur des menschlichen Willens und deren Ersetzung durch die Wirksamkeit des göttlichen Willens.“

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läßt er sich in ihn hinein mit allem dem, was er ist. Und je mehr wir des unsern entwerden, um so wahrhaftiger werden wir in diesem.“ 128 „Es ist rehte ein glıˆch widergelt und glıˆcher kouf: So weit du ausgehst aus allen Dingen, so weit […] geht Gott mit allem dem Seinen ein.“ 129

IV. Der Gelassene, der durch ausbrechende Innerlichkeit Ge prägte und der ar me abg eschiedene Freie Bestimmt der Eigenwille intentional das Verhältnis des Menschen zu den Dingen, entspricht das einer Gefangenschaft und Knechtung durch die eigene Intention und die Dinge. 130 Diese sind ontologisch, epistemologisch und moralisch desaströs für den Menschen. Ungelassenheit stellt sich ein. Ungelassene Leute sind ,voll Eigenwillens‘ 131. Gelassenheit 132 ist notwendig, um der vom Eigenwillen verursachten Gefangenschaft hinsichtlich Gott, Mensch und Welt die Basis ihrer Versklavungen zu entziehen. Die Gelassenheit ist (wie Armut und Abgeschiedenheit) ontologisch, epistemologisch und moralisch dimensioniert. Sein Sein, Erkennen und Handeln stellt der Gelassene „ganz Gott anheim“ unter Verzicht auf jede kreatürliche Selbstversicherung mittels eigener Intentionalität oder einer „vernunfthaften Repräsentation der Welt“ 133. Wie gelangt der Mensch nun zu der für sein Gottes-, Selbst- und Weltverhältnis essentiellen Gelassenheit? Wie gedeiht diese? Eckharts Antwort ist klar: „[…] wer am allermeisten entbehren und verschmähen kann, der hat am allermeisten gelassen.“ 134 Wer Frieden sucht, der „soll zuerst sich selber lassen, dann hat er alle Dinge gelassen“ 135. Das Sich-selbst-Lassen bewirkt die Gelassenheit gegenüber allen Dingen. „Ja […] läßt der Mensch sich selber, was er auch behält, es sei Reichtum oder Ehre oder was es sei, so hat er alle Dinge gelassen.“ 136 Freiheitliche Verfügungsgewalt gegenüber Letzteren wird dem Gelassenen im Sich-selbst-Lassen wirklich zuteil: „Denn wer seinen Willen und sich selber läßt, der hat alle Dinge so wirklich gelassen, als wenn sie sein freies Eigentum gewesen wären und er sie besessen hätte mit voller 128 129 130 131 132

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RdU, c. 21 (DW V, 281, 5-9). Ibid., c. 4 (DW V, 197, 1-3). Cf. Largier II (nt. 1), 794. RdU, c. 3 (DW V, 191, 5). Grunddimensionen der Eckhart’schen Gelassenheit sind bei Largier I (nt. 1), 959-962, skizziert. Cf. auch E. A. Panzig, Gelaˆzenheit und abegescheidenheit - zur Verwurzelung beider Theoreme im theologischen Denken Meister Eckharts, theol. Diss., Leipzig 2003, 35-66, 120-180. Largier I (nt. 1), 960. RdU, c. 23 (DW V, 300, 8 sq.). Ibid., c. 3 (DW V, 194, 3 sq.). Ibid., 194, 6-8. Pauperismus ist für Eckhart ausgeschlossen. Panzig (Gelaˆzenheit [nt. 132], 57) schreibt: „Wesentlich ist nicht das Lassen von Etwas (rıˆchtuom oder ˆere), also das gelassen Haben, sondern das gelassen Sein.“

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Verfügungsgewalt. Denn was du nicht begehren willst, das hast du alles übergeben und gelassen um Gottes willen.“ 137

Auf den Punkt kommt die Gelassenheit des Gelassenen im Lassen Gottes. Das ist der gänzliche Verzicht und Abschied von allen anthropologisch voluntativ und intellektualistisch errichteten Gottesbildern, die letztlich Gott zum Gegenstand des Wollens und Erkennens ,mit Eigenschaft‘ seitens des kreatürlichen Subjektes machen und ihn damit totaliter ontologisch, epistemologisch und moralisch Verderben bringend verfehlen. Das Lassen Gottes ist das normative Kriterium der Gelassenheit. An ihm entscheidet es sich, ob jemand gelassen ist oder nicht. „Es ist kein Rat so gut, Gott zu finden, dan waˆ man got læzet“ 138. Gelassenheit ist der „Verzicht auf alles ,Warum‘, also auf alle Intentionalität und auf die Bestimmtheit eines Wegs, der zu Gott führen könnte“ 139. Weshalb ist das Gott-Lassen der entscheidende Punkt der Gelassenheit des Gelassenen? Er ist es deshalb, weil der Gelassene sich erst als solcher erweist, wenn er ein Gott-in-sich-wirken-Lassender ist. Gott kann aber nur dann in ihm wirken, wenn die eigenschaftlichen Gottesbilder kreatürlicher Konstruktionen nicht mehr Raum im Menschen haben, wenn sie Nichts 140 sind, wenn der Mensch ihrer leer ist. Auf das eine kommt es an: „Laˆz got würken in dir.“ 141 Dieses innere Wirken Gottes - auf welche Weise auch immer (qua Natur oder Gnade), das kümmere den Menschen nicht 142 - zeichnet den Gelassenen aus. Der Gott in sich wirken lassende Gelassene wird so in ein Gelassensein gestellt, was „auch einen Zustand der Ruhe und der Fülle, in dem der Mensch in der Liebe Gottes alles von Gott empfängt“ 143, bedeutet. Der Gelassene ist der in Freud und Leid sich gänzlich Gott Überlassende. Nicht Zustände und Verfasstheiten, nicht innerliche oder äußerliche Befindlichkeiten zählen hier. Vielmehr gilt in Freude und Leid, Ehre und Schmach, „daß sich der Mensch gänzlich Gott überlasse, so daß, wenn er [Gott] irgend etwas ihm aufbürden wolle, es sei Schmach, Mühsal oder was es sonst für ein Leiden sei, er es mit Freuden und Dankbarkeit annehme und sich mehr von Gott führen lasse, als daß der Mensch sich selbst darein setze. Und darum lernt gern von Gott in allen 137 138

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RdU, c. 3 (DW V, 195, 4-7). Ibid., c. 11 (DW V, 225, 3). Largiers Kommentar zu dieser Stelle: „In der Aufforderung, selbst Gott zu lassen, formuliert Eckhart die radikale Konsequenz seines Postulats der Gelassenheit. Insofern darin vom Menschen verlangt wird, alle Vorstellungen und Erkenntnisbilder, alles eigene Wollen und das Ich zu überwinden, beinhaltet dies auch, von Gott zu lassen, insoweit er ein Objekt des eigenen Wollens und Erkennens ist. Erst dann kann sich der Mensch mit dem göttlichen Willen vereinen“ (Largier II [nt. 1], 796). Largier I (nt. 1), 959. Zum Nichts bei Eckhart cf. Kern, Gottes Sein (nt. 33), 137-211. RdU, c. 23 (DW V, 307, 2). Ibid., 307, 2-7: „Laß Gott in dir wirken, dem gip daz werk und kümmere dich nicht darum, ob er mit der Natur oder übernatürlich (ob der natuˆre) wirke; beides, die Natur und die Gnade, ist sein. Was geht es dich an, womit zu wirken ihm füglich ist oder was er wirke in dir oder einem andern? Er soll wirken, wie oder was oder in welcher Weise es ihm paßt.“ Largier I (nt. 1), 961.

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Dingen und folgt ihm, so wird es euch recht! Und dabei kann man auch Ehre oder Wohlbehagen (gemach) hinnehmen. Befiele aber Ungemach und Unehre den Menschen, so würde man auch die ertragen und gern ertragen wollen.“ 144

Eckhart betont den groˆzen vrume 145, das ist Nutzen, Gewinn, ja Vorteil, des Leidens 146. Jedoch zieht er daraus nicht den Schluss, dass der Mensch sich selbst ins Leiden versetzen sollte. Vielmehr gilt der groˆze vrume des Leidens nicht dem menschlichen Selbstversetzen ins Leiden, sondern dem Menschen, der von Gott ins Leiden versetzt wurde 147. Aber obwohl sich hier Segen und Nutzen des Leidens für den Menschen eröffnen 148, lässt Gott das Leiden, in das er den Menschen hineinführt, nicht eskalieren, sondern begrenzt es auf ein gerechtes Maß: „Und das ist […] die Ursache dafür, daß Gott seine Freunde großen und vielen Leides enthebt; sonst könnte das seine unermeßliche Treue gar nicht zulassen, weil so viel und so großer Segen (vrume) im Leiden liegt, und er die Seinen nichts Gutes versäumen lassen will […]. Er aber läßt es sich wohl genügen an einem guten gerechten Willen; sonst ließe er ihnen kein Leiden entgehen um des unaussprechlichen Segens (unzellıˆchen vrumen) willen, der in dem Leiden liegt.“ 149

In den RdU ist in nuce Wesentliches des Eckhart’schen Leidensverständnisses 150 überhaupt, wie es sich nachdrücklich im ,Buch der göttlichen Tröstung‘ zeigt, greifbar 151. Durch profilierte Innerlichkeit ist der Gelassene gestaltet, d. h. er lebt in und aus profilierter Innerlichkeit 152. Seinem Inneren soll der Mensch weder entweichen noch von ihm abfallen, es nicht negieren 153. Diese Innerlichkeit darf aber nicht missverstanden werden als ein quasi geschlossenes System untätiger inne144 145 146

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RdU, c. 18 (DW V, 256, 8-257, 4). Ibid., 257, 8. Laut Lexer heißt vrume: ,Nutzen, Gewinn, Vorteil‘. Cf. Mittelhochdeutsches Taschenwörterbuch (nt. 64), 300. Cf. RdU, c. 18 (DW V, 256, 10-257, 1). Ibid., c. 11 (DW V, 231, 7 sq.): „In der waˆrheit, dem reht wære und mit gote wol künde, dem würde alliu solchiu lıˆdunge und ˆınvelle ze groˆzem vrumen.“ In dem Traktat ,Von abegescheidenheit‘ (DW V, 433, 1-3) heißt es: „Das schnellste Tier, das euch zu dieser Vollkommenheit [sc. der Gotteserkenntnis und Tugend] trägt, ist Leiden; denn es genießt niemand mehr ewige Süßigkeit als die, die mit Christus in der größten Bitterkeit stehen.“ RdU, c. 18 (DW V, 257, 6-258, 3). Cf. Kern, Gottes Sein (nt. 33), 234-242; Largier II (nt. 1), 771-773. Enders, Die ,Reden der Unterweisung‘ (nt. 2), 91: „Eckharts Leidenslehre […] ist bereits in den Reden präsent: Jedes den […] von Gott selbst bewegten Menschen treffende Leid trifft zuerst auf Gott, nämlich auf das Tätigkeitsprinzip dieses Menschen, und gewinnt […] göttliche Qualität, da der Mensch das Leiden als Gottes Wille und darin Gott selbst an- und in sich aufnimmt. Daher kann“ - kein solches Leiden, nicht wie M. Enders meint: „kein Leiden“ - „einem solchen Menschen schaden“, sondern „müssen alle Dinge dem [durch Gott] Guten zum Guten gereichen.“ Cf. RdU, c. 11 (DW V, 231, 7-10). RdU, c. 21 (DW V, 276, 10-12): „Der mensche sol alle sıˆne krefte dar zuo wenen und keˆren und gegenwertic haben sıˆne inwendicheit.“ Ibid., c. 23 (DW V, 291, 3 sq.).

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rer bei sich selbst verharrender Selbsterbauung. Vielmehr erwächst aus profilierter Innerlichkeit innere und äußere Wirksamkeit: „[…] in dem und mit dem und aus dem [Innern] soll man so wirken lernen, daß man die Innerlichkeit breche in die würklicheit (Wirksamkeit) und die Wirksamkeit ˆınleite in die Innerlichkeit und daß man sich so gewöhne, lediclıˆche (freiheitlich) zu wirken.“ 154 „Denn man soll das Auge zu diesem inwendigen Werke kehren und daraus wirken […] äußeres Werk.“ 155

In dem Sermo XXXII bestimmt Eckhart mit Rückgriff auf Augustin den Glauben 156 „als Prinzip und Medium der Einheit, in die alle Divergenzen von Drinnen und Draußen […] ein-, aber nicht untergehen, sondern […] aufgehoben sind“ 157. Freiheitlich aus dem Innern zu wirken, daran gewöhne man sich. So soll man wirken lernen. Damit sind nicht alle Divergenzen zwischen Innen und Außen aufgehoben. Im Konfliktfall zwischen Innen und Außen gibt Eckhart folgenden Rat: „Will aber das äußere Werk das innere zerstören, so folge man dem inneren. Könnten aber beide in Einem sein, das wäre das Beste, auf daß man ein Mitwirken mit Gott hätte.“ 158 Inneres und Äußeres in Einem - das ist Gott gemäß. Ereignet sich dieses, dann geschieht cooperatio dei. Der durch die in die Wirksamkeit ausbrechende Innerlichkeit Geprägte entspricht der Einheit von Innen und Außen in dem Einen. Es ist wahr, dass der Mensch sich nach außen kehren muss, „jedoch sind die äußeren Erscheinungsformen (uˆzercheit der bilde) den geübten Menschen nicht äußerlich, denn alle Dinge sind den inwendigen Menschen eine inwendige göttliche [Seins-]Weise“ 159. Die innere Armut ist „die notwendige und hinreichende Bedingung dafür […], daß Gott sich selbst dem Menschen zu eigen gibt“ 160 - und das mit größter Wonne und Lust 161 -, „daß er des Menschen Werke wirkt“ 162. „Gott muß sie [sc. deine Werke] wirken, wenn du nur ihn im Sinne hast (meinest duˆ in aleine), er wolle oder wolle nicht.“ 163 Dies Alleine-Gott-Meinen darf nicht ,eigenschaftlich‘ missinterpretiert werden. Es ist nicht Produkt menschlicher Anstrengung und Konzentration. Es verdankt sich allein dem, „daß ich durch ihn [Gott!] mıˆn selbes uˆzgaˆn“ 164 bin. Das hat der Arme 165 begriffen. Er geht nicht 154 155 156

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Ibid., 291, 5-7. Ibid., 291, 7-9. Sermo XXXII, n. 331 (LW IV, 289, 4-6): „Idem [Augustinus] De trinitate XIII c. 5 [3]: ,rerum absentium praesens est fides, rerum quae foris sunt intus est fides, rerum quae non videntur videtur fides‘.“ Haas, Mystik (nt. 40), 391. RdU, c. 23 (DW V, 291, 9-11). Ibid., c. 21 (DW V, 277, 1-3). Cf. ibid., c. 23 (DW V, 298, 4-7): „Wider daz, daz ich mıˆn selbes uˆzgaˆn durch in, daˆ wider sol got mit allem dem, daz er ist und geleisten mac, alzemaˆle mıˆn eigen sıˆn, rehte mıˆn als sıˆn, noch minner noch meˆr.“ Ibid., 296, 8-297, 1: „Daˆ wil er selber aleine und alzemaˆle unser eigen sıˆn. Diz wil er […] und disem laˆget er aleine, daz er ez müge und müeze sıˆn. Hier ane liget sıˆn grœstiu wunne und spil.“ Enders, Die ,Reden der Unterweisung‘ (nt. 2), 91. RdU, c. 23 (DW V, 306, 9). Ibid., 298, 5. Zum Armen bei Eckhart cf. Kern, Gottes Sein (nt. 33), 78-97.

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,eigenschaftlich‘, sondern freiheitlich mit sich, Gott und Welt um. „Der hat keinen Eigenbesitz (niht eigenschaft), der nichts begehrt noch haben will, weder an sich selbst noch an alledem, was außer ihm ist, ja weder an Gott noch an allen Dingen.“ 166 So versteht Eckhart den nicht-habenden alles-habenden armen Freien bzw. freien Armen: „Willst du wissen, was ein wahrhaft armer Mensch ist? Der Mensch ist wahrhaft arm im Geist, der alles das wohl entbehren kann, was nicht nötig ist.“ 167 „Der ist viel sæliger 168, der alle Dinge entbehren kann und ihrer nicht bedarf, als der, der alle Dinge besessen hat mit noˆtdurft. Der Mensch ist der beste, der das entbehren kann, was ihm nicht not tut (des er keine noˆt enhaˆt).“ 169

Der freie Arme hat das rechte Himmelreich 170. Weil der freie Arme durch Gott ,recht‘ ist, empfängt er „im Darben ebenso wie im Haben“ 171. Der Arme ist der Abgeschiedene. Dieser setzt auf das reine Nichts, in dem „Gott nach seinem Willen uneingeschränkt wirken kann“ 172. Wer sich nicht genügen lässt an einem gedachten Gott (gedaˆhten gote), sondern auf einen wesenhaften Gott (gewesenden got) setzt, wer also „Gott […] im Sein hat, der nimmt Gott göttlich, und dem leuchtet er in allen Dingen […]. In ihm blicket Gott allezeit, in ihm ist ein abegescheiden abekeˆren und ein ˆınbilden seines geliebten gegenwärtigen Gottes“ 173. Abgeschiedenheit 174 steht ,ledic aller creˆatuˆren‘ und unterscheidet sich dadurch radikal von allen anderen Tugenden, die irgendein ,uˆfsehennes uˆf die creˆatuˆre‘ charakterisiert 175. Das abegescheiden abekeˆren und das ˆınbilden seines geliebten gegenwärtigen Gottes sind die beiden Grunddaten, die den Abgeschiedenen als solchen ausweisen. Beides gehört in ihm zusammen. In die Leere, in das Nichts des abegescheiden abekeˆren geschieht das ˆınbilden Gottes. Die Abgeschiedenheit des Abgeschiedenen darf jedoch nicht punktuell, des menschen gemüete nicht „abegescheiden […] in einem gegenwertigen puncten“, im Sinne eines chronologischen (vielleicht ein für allemal erreichten), präsentischen und abgeschlos166 167

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RdU, c. 23 (DW V, 299, 7-9). Ibid., 300, 2-5: „Darum sprach der, der nackt in der Tonne saß, zu dem großen Alexander, der alle Welt unter sich hatte: ,Ich bin‘, sprach er, ,ein viel größerer Herr, als du bist; denn ich habe mehr verschmäht, als du in Besitz genommen hast. Was du groß achtest zu besitzen, das ist mir zu klein zu verschmähen‘.“ Sæliger heißt nach Lexer: ,glücklicher, seliger‘. Cf. Mittelhochdeutsches Taschenwörterbuch (nt. 64), 175. RdU, c. 23 (DW V, 300, 6-8). Ibid., 300, 12-301, 2: „Der Mensch hätte ein rechtes Himmelreich, der um Gottes willen auf alle Dinge verzichten könnte, was [immer] Gott gäbe oder nicht gäbe.“ Ibid., 306, 1 sq. M. Enders, Abgeschiedenheit des Geistes - höchste ,Tugend‘ des Menschen und fundamentale Seinsweise Gottes, in: Theologie und Philosophie 71 (1996), 63-87, hier: 82. RdU, c. 6 (DW V, 205, 6, 8, 10-206, 1). Zur Debatte um Eckharts abegescheidenheit cf. Panzig, Gelaˆzenheit (nt. 132), 67-180. Von abegescheidenheit (DW V, 401, 6 sq.). Diese Aussagen zur Abgeschiedenheit in dem Traktat ,Von abegescheidenheit‘ korrespondieren denen in den RdU.

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senen kairos gedacht werden 176. Geboten ist dagegen wolgeüebete abegescheidenheit 177. Deren Ertrag ist das Wegräumen der menschlichen unbereitschaft. Mit wolgeübeter abegescheidenheit „kann man große Dinge von Gott empfangen und Gott in den Dingen […]. Ist man unbereit, so verdirbt man Gabe und Gott mit der Gabe. Das ist auch der Grund, weshalb uns Gott nicht allzeit [so] geben kann, wie wir es erbitten […]. Wir tun ihm [Gott] Gewalt und Unrecht mit dem an, daß wir ihn mit unserer unbereitschaft hindern in seinem natürlichen Wirken.“ 178

Kraft und Wesen empfängt der Abgeschiedene aus dem Einen, wenn er ,einez in dem einen‘ 179 ist. Dann ist er der Freie: „So soll der Mensch von göttlicher Gegenwart durchdrungen (durchgangen) sein und mit der Form seines geliebten Gottes durchformt sein und ihm verwesentlicht sein, daß ihm seine Gegenwart leuchtet ohne alle Arbeit, vielmehr: eine bloˆzheit neme in allen dingen und der dinge zemaˆle ledic blıˆbe.“ 180

Durchdrungen, durchformt, verwesentlicht durch Gott stellt sich Freiheit ein. Der so Gestaltete bleibt den Dingen gegenüber völlig frei. Dementsprechend lernt man, „daß man mitten im Wirken ungebunden sei (ı´n den werken ledic sıˆ )“ 181. Gott gibt sich uns selber und alle Dinge zu freiem Eigenen (vrıˆen eigene). Der uns aller eigenschaft entledigen wollende Gott qualifiziert uns zu solchen, die freiheitlich handeln können. Darum sollen wir, da wir durch Gott dazu befähigt sind, ohne eigenschaft mit den Dingen frei umgehen 182, ledig allen uns versklavenden Besitzens der Dinge. Sie sind uns (nur) geliehen. „Wir sollen alle Dinge [so] haben, als ob sie uns geliehen sind und nicht gegeben, aˆne alle eigenschaft, es sei Leib oder Seele, Sinne, Kräfte, äußeres Gut oder Ehre, Freunde, Verwandte, Haus, Hof, alle Dinge.“ 183 Gott will mit grœstiu wunne und spil 184 „selber allein und gänzlich unser eigen sein“ 185. Weil Gott allein und ganz unser Eigen sein will 186 - und das ist das spil Gottes 187 -, schließt sich ,eigenschaftlicher‘ Umgang mit den Kreaturen für den durch Gott Freien aus, denn „je mehr wir alle Dinge zu eigen haben, um so weniger haben wir ihn [Gott] zu eigen“ 188. Es kommt tatsächlich zum fröhlichen Wechsel und seligen Tausch: 176 177 178 179 180 181 182

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187 188

RdU, c. 21 (DW V, 280, 6 sq.). Ibid., 280, 8. Ibid., 280, 9-281, 2. Ibid., c. 6 (DW V, 202, 9 sq.). Ibid., 208, 11-209, 2. Ibid., c. 21 (DW V, 275, 10). Ibid., c. 23 (DW V, 295, 3-5): „Dar umbe, als got uns sich selber und alliu dinc wil ze einem vrıˆen eigene geben, dar umbe wil er uns alle eigenschaft gar und zemaˆle benemen.“ Ibid., 296, 4-6. Ibid., 297, 1. Ibid., 296, 8. Ibid., 296, 8 sq.: Gott will „selbst alleine und gänzlich (alzemaˆle) unser eigen sein. Dies will er und dies meinet er, und darauf alleine hat er es abgesehen, daß er es sein müge und müeze“. Ibid., 297, 1. Ibid., 297, 2 sq.

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„Daß wir uns frei (bloˆz) halten der Dinge, die außer uns sind, dafür will Gott zu eigen geben alles, das in dem Himmel ist, und den Himmel mit aller seiner Kraft, ja alles, das aus ihm je floß […], daß das uns ebenso zu eigen sei wie ihm […]. Dafür, daß ich mıˆn selbes uˆzgaˆn durch in, dafür wird Gott mit allem, was er ist und geleisten mac, ganz und gar (alzemaˆle) mein Eigen sein, ganz so mein wie sein […]. Tausendmal mehr wird er mein Eigen sein, als je ein Mensch ein Ding gewann […] oder ihm je zu eigen wurde. Nie wurde etwas einem so zu eigen, wie Gott mein wird sein mit allem, was er vermag und ist.“ 189

Gott zahlt das widergelt der Freiheit. V. Der Sünder Sünde 190 - welcher Art sie auch ist, wann und wo auch immer sie geschieht - soll der Mensch nicht tun wollen: „Der mensche ensol niht sünde wellen tuon umbe allez, daz geschehen mac in zıˆt oder in ˆewicheit, weder tœtlıˆche noch tegelıˆche noch deheine sünde.“ 191 Göttliches Leben steht gegen sündiges Leben 192. Gott und Sünde vertragen sich nicht. Diesen allgemein christlichen Gedanken in den RdU vertritt Eckhart auch in seinem übrigen Schrifttum und baut ihn metaphysisch aus. Sünde ist als malum 193 gemäß (neu)platonischer Tradition 194 privatio und negatio des esse, Beraubung des Seins 195 und damit Negation der Selbstmitteilung Gottes 196. „Gott ist Etwas und ein reines Sein, und die Sünde ist Nichts und entfernt von Gott.“ 197 Die Sünde entfernt vom reinen Sein. „Der Sünder […] hat kein Sein, sondern ist Nichts.“ 198 Der Sünder setzt auf das Nichts, Gott auf das Sein. Sünde definiert Eckhart auch als ,abekeˆren von der sælicheit‘ und ,von der tugent‘ 199 und damit als Abkehr von Gott 200. „Daher, weil wir Gott [sc. als die reine Gutheit] nicht erkennen, darum lieben wir an den Kreaturen, was da gut 189 190

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Ibid., 298, 1-10. Zu Eckharts Sündenverständnis siehe die wichtige, Eckhart-Stellen heranziehende, summarische Charakterisierung des Eckhart’schen Sündenbegriffes von N. Largier (fokussierend auf den pejorativen Sündenbegriff): Largier I (nt. 1), 1078-1080. RdU, c. 12 (DW V, 232, 3-5). Ibid., 232, 7. Nach A. M. Haas, Mystik (nt. 40), 288, hat Eckhart jedoch auch „am intensivsten das malum im Geiste des Neuplatonismus demontiert“; er verweist in diesem Zusammenhang (ibid., 295) auf die Aussage aus Eckharts Trostbuch: BgT (DW V, 22, 5-15). Cf. LW II, 335, nt. 2 u. 3. In Sap., n. 14 (LW II, 335, 2 sq.): „[…] malum nihil est nisi privatio, sive casus ab esse et defectus, absentia sive carentia esse.“ Cf. Largier I (nt. 1), 1078. Pr. 57 (DW II, 597, 6). In Gen. I, n. 86 (LW I, 244, 9-11): „[…] peccator […] non habet esse, sed est nihil, Psalmus [cf. Psalm 14, 4]: ,ad nihilum redactus est peccator‘.“ Pr. 32 (DW II, 146, 2). Largier I (nt. 1), 1078: „Alle Sünde besteht […] in der Abkehr vom Ursprung des Seins, von der Seligkeit und von der Tugend, die die Seele nur in Gott zu finden vermag.“

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ist; und da wir die Dinge mit dem Gutsein lieben, so machet uns das Sünde.“ 201 So aber wird aus dem durch Gott Freien ein Sünder, d. h. ein Knecht des Kreatürlichen, des Nichtgöttlichen, der Dinge 202. Das ist die eine, die pejorative Dimension der Sünde bzw. des Sünders, daneben gibt es aber bei Eckhart auch ein affirmatives Verständnis der Sünde 203. Eckhart sagt, dass „die Neigung zur Sünde dem Menschen allezeit frommt (vrument)“ 204, d. h. Nutzen, Gewinn, Vorteil erbringt 205. „[…] den Guten kommen alle Dinge ze guote, wie Sankt Paulus spricht 206 und Sankt Augustinus 207 spricht: ,ja, auch die Sünden‘.“ 208 Will man Eckharts Argumentation zum vrumen der Sünde in den RdU interpretieren, so ist seine affirmative Deutung der Sünde im Johanneskommentar hilfreich. Die Sünde frommt dem Menschen nicht nur, vielmehr preist, wer sündigt, Gott; ja, „je schwerer er sündigt, um so mehr lobt er Gott, ja sogar wenn jemand Gott selbst flucht, lobt er damit Gott“ 209. Den Nutzen und den Lobpreis Gottes durch die Sünde zu verstehen, verlangt Berücksichtigung der causae der percussiones peccatorum. Mit Bezug auf Gregor den Großen nennt Eckhart fünf intentionale Gründe für die Schläge, die den Sünder treffen: 1. Nichtwiederholung desselben (bösen) Tuns, 2. die Besserung des Sünders, 3. nicht Verbesserung des vergangenen Tuns, sondern Nichtmehrbegehen desselben in der Zukunft, 4. weder Verbesserung der vergangenen Schuld noch Verhinderung künftiger und 5. durch den vierten Schlag Eintreten des unvermuteten Heils (salus) durch die dann zu erkennende und zu liebende Kraft des Heilenden (salvantis virtus) 210. Die Schläge der Sünde, das zeigen diese fünf causae, bewirken nicht Destruktion, sondern salus des Sünders. Wer von der Sünde geschlagen wird, wird auf salus, auf virtus salvantis, auf die Kraft des Heilenden 201

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Pr. 63 (DW III, 79, 2 sq.); Largier I (nt. 1), 1078: „Sündhaft wird das Handeln des Menschen dort, wo der Mensch in den Dingen die Dinge selbst, aber nicht ihr Gutsein liebt, durch das Gott sich der Kreatur mitteilt und ihr das Sein schenkt.“ Largier I (nt. 1), 1078: „Die Transparenz der Dinge auf die Fülle ihres Seins in Gott wird dadurch zerstört. Der Mensch beraubt sich so selbst seiner Freiheit und wird zum Diener dessen, was Gott nicht ist.“ Dieses wurde, wie wohl zu erwarten war, von der päpstlichen Bulle ,In agro dominico‘ vom 27. März 1329 verurteilend angesprochen. Cf. M. H. Laurent, Autour du proce`s de Maıˆtre Eckhart. Les documents des Archives Vaticanes, doc. VIII, in: Divus Thomas 39 (Piacenza 1936), 437 (art. 5), 440 (art. 15). RdU, c. 9 (DW V, 212, 9 sq.). Cf. Lexer zur Wortbedeutung von vrume bzw. vrumen (Mittelhochdeutsches Taschenwörterbuch [nt. 64], 300). Röm. 8, 28. Cf. die DW V, 337 sq., nt. 181 genannten Augustinbezüge. RdU, c. 11 (DW V, 231, 8-10). Mit Bezug auf Joh. 1, 5, Dan. 3, 72 und Röm. 4, 17 schreibt Eckhart: „[…] in omni opere, etiam malo, malo, inquam, tam poenae quam culpae, manifestatur et […] aequaliter lucet gloria dei […]. Unde et vituperans quempiam vituperio ipso, peccato scilicet vituperii, laudat deum, et quo plus vituperat et gravius peccat, amplius deum laudat, quin immo deum ipsum quis blasphemando deum laudat“ (In Ioh., n. 494 [LW III, 426, 4-9]). Cf. In Ioh., n. 493 (LW III, 425, 6-11). Cf. auch ibid., n. 497 (LW III, 428, 1): „[…] auch wer Gott, der ihn bestraft, lästert, lobt ihn als den Verschonenden und Tröstenden.“

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und damit auf Gott selbst ausgerichtet. Gott, der essentiell ein Gott der Gegenwart ist, will nicht die destruierende reaktionäre oder futurische Verewigung der Sünde, sondern er schlägt den Sünder, um durch die heilende virtus salvantis die salus zu eröffnen. „Gott ist ein Gott der Gegenwart. Wie er dich findet, so nimmt er und empfängt dich, nicht [als] das, was du gewesen bist, sondern [als] das, was du jetzt bist. Allen Schaden und Schmach, die Gott von allen Sünden geschehen könnten, die will er gerne leiden und viele Jahre erlitten haben, auf daß der Mensch danach zu einer großen Erkenntnis seiner Liebe komme und damit seine Liebe und seine Dankbarkeit um so mehr und sein ernst um so feuriger werde, wie das billıˆche und dicke kommt nach den Sünden.“ 211

Sünden werden Eckhart zum kraftvollen focus der großen Erkenntnis von Gottes Liebe. Von daher kann man nicht wollen, ohne Sünde zu sein, denn das bedeutet einen Vertrauensbruch gegenüber Gott: „Wer recht in den Willen Gottes versetzt wäre, der sollte nicht wollen, daß die Sünde, in die er gefallen war, nicht geschehen wäre. Freilich nicht im Hinblick darauf, daß sie gegen Gott war, sondern, sofern du dadurch zu größerer Liebe gebunden und dadurch erniedrigt und gedemütigt bist.“ 212

Oft ist es so, dass Gott den Schaden der Sünde von Menschen erduldet, mit denen er Großes vorhat und die ihm vertraut sind 213. So sind die Apostel „alle […] Todsünder gewesen“ 214. Ebenso sind viele von Gott geliebte und zu Großem berufene Leute im Alten und Neuen Testament in sündigem Fehl gewesen, um durch die Erkenntnis der liebenden Barmherzigkeit Gottes zu wahrer Demut gebracht zu werden 215. „Wenn Gott will, daß der Mensch sündige, dann soll der Mensch nicht anders wollen. Und gerade auf dieser totalen Übereinstimmung, da sie das Böse einschließt, beruht die wahre Buße, d. h. das Leiden für das vollzogene Böse.“ 216 Es gilt, sein Vertrauen auf Gott zu setzen, der dir die Sünde nicht hat widerfahren lassen, ohne das für dich Beste daraus zu ziehen 217. Für Eckhart, dem die Neigung zur Sünde nicht Sünde ist 218, hat der Kampf mit ihr einen positiven Ertrag für die Macht, Kraft und Vollkommenheit der Tugenden. Sie befähigt dazu, im Streit, in der Auseinandersetzung achtsam, aktiv 211 212 213 214 215 216

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RdU, c. 12 (DW V, 234, 5-11). Ibid., 233, 4-7. Cf. ibid., 235, 1 sq. Ibid., 235, 5. Cf. ibid., 235, 5-11. T. Sua´rez-Nani, Philosophie- und theologiehistorische Interpretation der in der Bulle von Avignon zensurierten Sätze, in: H. Stirnimann (ed., in Zusammenarbeit mit R. Imbach), Eckardus Theutonicus, homo doctus et sanctus. Nachweise und Berichte zum Prozeß gegen Meister Eckhart (Dokimion 11), Freiburg/Schweiz 1992, 72. RdU, c. 12 (DW V, 233, 8 sq.): „Aber duˆ solt gote wol getriuwen, daz er dir des niht verhenget hæte, er enwölte denne dıˆn bestez dar uˆz ziehen.“ Ibid., c. 9 (DW V, 214, 1).

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und siegorientiert zu sein. Aus der Schwachheit der Sünde kann Tugend erbracht werden. Vorausgesetzt, man könnte die Neigung zur Sünde eliminieren, sollte man von diesem Wunsch dennoch Abstand nehmen. Ohne die Neigung zur Sünde „stünde der Mensch unsicher in allen Dingen und in allen seinen Werken und unbesorgt gegenüber den Dingen und ermangelte auch der Ehre des Streites und Sieges und des Lohnes“ 219, „denn Vollkommenheit der Tugend kommt von dem Kampf, wie Sankt Paulus sagt: ,Die Tugend wird in der Schwachheit vollbracht‘ [1 Kor. 12, 9).“ 220 „[…] die Neigung [sc. zur Sünde] macht den Menschen allerwegs beflissener, sich in der Tugend kräftig zu üben, und sie treibt ihn mit Macht zur Tugend, und sie ist eine strenge Geißel, die den Menschen zur Hut und zur Tugend treibt; denn je schwächer sich der Mensch findet, desto besser muß er sich mit Stärke und Sieg wappnen.“ 221

Gottes Wille, so argumentiert Eckhart in seinem Trostbuch 222, geschieht gemäß dem Vaterunser im Himmel und auf Erden, im Himmel in der woltaˆt, das heißt in Gott selber, auf Erden in der missetaˆt, in der Sünde. Wer wie der geistlich Arme alles will, was und wie es Gott will, kann nicht wollen, dass er seine Sünde nicht getan hätte, „denn so geschieht Gottes Wille auf ,Erden‘ “ 223. Wer also seine Sünde nicht getan haben wollte, der wollte auch nicht, dass Gott auf Erden mit seinem Willen wirkt. Weil der mit Gottes Willen einige Mensch das aber nicht wollen kann, kann er auch nicht wollen, dass er nicht gesündigt hätte. So will der Mensch, der Sünder ist, ja um Gottes willen (nicht um des eigenen Willen) Sünder sein will, „gotes durch got enbern und von gote durch got gesundert sıˆn, und daz ist aleine rehtiu riuwe mıˆner sünden; so ist mir Sünde leid ohne Leid, wie Gott alles Böse leid ohne Leid ist“ 224, „Leid aus der lautersten Güte und Freude Gottes“ 225. Nun bittet der Mensch Gott (und er soll das auch oft tun), ihm die gebresten der Sünde, wenn es sich mit der Ehre Gottes verträgt, abzunehmen. Allein Gott und nicht der Mensch vermag das. Kommt Gott der Bitte nach, so soll der Mensch ihm danken, entspricht Gott ihr nicht, dann ist das Erleiden der sündhaften gebresten durch Gott und um Gottes willen geboten, um seinetwillen, „jedoch nicht als ein gebresten einer sünde, sondern als eine große Übung“ mit effektivem Ertrag: „Damit sollst du Lohn verdienen und sollst damit Geduld üben.“ 226 Die gebresten der Sünde werden so fruchtbar zur üebunge gekehrt, dienen nicht mehr der weiteren Produktion von Sünde. Der Mensch kann Gott 219 220 221 222 223 224 225 226

Ibid., 214, 4-6. Ibid., 213, 9-11. Ibid., 214, 8-215, 4. Cf. zum Folgenden BgT (DW V, 22, 3-16). Ibid., 22, 8. Ibid., 22, 9-11. Ibid., 22, 16. RdU, c. 23 (DW V, 301, 7-9).

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vertrauen, denn dieser „gibt einem jeglichen nach dem, was sein Bestes ist und für ihn paßt“ 227, so oder so. Affirmativ und pejorativ wird also die Sünde von Eckhart gedacht. „Die Neigung zur Sünde ist nicht Sünde, aber sündigen wollen, zürnen wollen, das ist Sünde.“ 228 Präziser muss es heißen: Nicht das Sündigenwollen an sich ist Verderben bringende Sünde, sondern das Nicht-um-Gottes-willen-Sündigenwollen. Die Liebe vertreibt und deckt die Sünde zu, sagt Eckhart mit Bezug auf 1 Petr. 4, 8 229. Sünde vergeben kann allein Gott. Er vergibt gern und über alle Maßen 230. „[…] je größer und schwerer die Sünden sind, desto ohne Maßen lieber vergibt Gott sie um so schneller, weil sie ihm zuwider sind.“ 231 Vergebung schafft ganzes Vertrauen. Wem viel vergeben wird, der wird viel lieben 232. Gott hat den Menschen „aus einem sündigen Leben in ein göttliches Leben gebracht“ 233. Bei dem Menschen stellt sich Reue ein. Eckhart unterscheidet zweierlei Reue: 1. die zeitliche oder sinnliche Reue, 2. die göttliche oder übersinnliche Reue 234. Die zeitliche Reue führt in immer größere Verzweiflung und Leid. Sie verharrt im Leid. Aus zıˆtlıˆche[r] riuwe ,wird nichts‘ 235. Anders ist es mit der wirksamen göttlichen Reue: „Sobald der Mensch ein Mißfallen empfindet, sogleich erhebt er sich zu Gott und versetzt sich in einen unerschütterlichen Willen zu ewiger Abkehr von allen Sünden. Und darin erhebt er sich in ein großes Vertrauen zu Gott und gewinnt eine große Sicherheit“; aus dieser aber „kommt eine geistige Freude, die die Seele aus allem Leid und Jammer erhebt und sie fest an Gott bindet.“ 236

Ohne Sünde ist man „in der Kraft der göttlichen Reue“ 237, denn „wenn die göttliche Reue sich zu Gott erhebt, so sind alle Sünden bälder verschwunden im Abgrund Gottes, als ich mein Auge zutun könnte, und sie werden so völlig zunichte, als seien sie nie geschehen, sofern es eine vollkommene Reue wird“ 238. 227 228 229

230

231 232 233 234 235 236 237 238

Ibid., 302, 1. Ibid., c. 9 (DW V, 214, 1 sq.). Ibid., c. 15 (DW V, 243, 1-5): „,Die Liebe deckt die Fülle der Sünden zu‘ [1 Petr. 4, 8]. Denn, wo Sünden geschehen, da kann nicht volles Vertrauen sein noch Liebe; denn sie [die Liebe] deckt die Sünde völlig zu; sie weiß nichts von der Sünde. Nicht so, als habe man nicht gesündigt, sondern [so], daß sie die Sünden völlig austilgt (verderbet) und austreibt, als ob sie nie gewesen wären.“ Ibid., 243, 5-7: „Denn alle Werke Gottes sind so gänzlich vollkommen und übervlüzzig, daß, wem er vergibt, er voll und ganz vergibt und auch viel lieber Großes als Kleines, und dies schafft ganzes Vertrauen.“ Ibid., c. 13 (DW V, 238, 2 sq.). Cf. ibid., c. 15 (DW V, 244, 2 sq.). Ibid., c. 12 (DW V, 232, 7). Ibid., c. 13 (DW V, 236, 2 sq.). Ibid., 236, 3-6. Ibid., 236, 7-237, 4. Ibid., 237, 8 sq. Ibid., 238, 3-6.

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Viele Menschen sind der Auffassung, „große Werke in äußeren Dingen […], wie Fasten, Barfußgehen und dergleichen mehr, was man Bußwerke (peˆnitencie) nennt“, vollbringen zu müssen 239. Das ist weder wahre Buße noch bringt diese äußere Buße hinsichtlich der Sünde etwas. Wahre, nicht äußere, Buße ist erforderlich. Mit ihrem abekeˆren von allem Nichtgöttlichen und ihrem zuokeˆren zum liebenden Gott bringt sie Entlastung von der Sündenlast 240. „Diese Buße ist ein von allen Dingen fort ganz in Gott erhobenes Gemüt.“ 241 Wahre Buße hat eine christologische Basis, sie erwächst aus „dem würdigen Leiden in der vollkommenen Buße unseres Herren Jesu Christi“, und „je mehr der Mensch darin erbildet wird, um so mehr fallen alle Sünden und Sündenstrafen von ihm ab“ 242. Das zuokeˆren zum liebenden Gott präferiert die Beichte des Menschen vor Gott. Hier ist der locus poenitentiae. Bei Schuld hat die scharfe Anklage vor Gott ihren produktiven Raum. Im Angesicht Gottes bekommt die Beichte vor Gott ihr großes Gewicht 243. Sie wägt den Menschen zu Gunsten des göttlichen Lebens.

VI. Der (durch und in Christus) wissende ver nünftig e Tug endhafte In seinem Innern soll der Mensch auf Gott ausgerichtet sein und nicht durch anderes (was für opera und modi es auch seien) sein Inneres in chaotische, das Innere beschädigende Verwirrung bringen 244. Sunderlıˆche Werke und Weisen liefern nicht nur nichts zur oikodome des Innern, haben keinen Nutzen, sondern sind Verderben bringend für verlässliche Innerlichkeit - auf die Eckhart aus ist und die er später fundiert im ,Kernpunkt‘ seines Denkens: der Gottesgeburt in der Seele als radikale Innerlichkeit profiliert 245 -, und darum „solt duˆ vliehen alle 239 240

241 242 243

244

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Ibid., c. 16 (DW V, 244, 5 sq.). Ibid., 244, 7-245, 2: „Wahre und die aller beste peˆnitencie, mit der man kräftig und im höchsten Maße Besserung schafft, das ist: daß der Mensch habe ein großes und vollkommenes abekeˆren von alledem, was nicht völlig Gott und göttlich an ihm und an allen Kreaturen ist, und habe ein großes und ein vollkommenes und ein ganzes zuokeˆren zu seinem lieben Gott in einer unbeweglichen Liebe.“ Ibid., 247, 1 sq. Ibid., 246, 2-6. Ibid., c. 21 (DW V, 275, 5-7): „Man sol gote ˆe bıˆhten dan den menschen, und, ist man schuldic, die bıˆhte vor gote groˆz wegen und seˆre straˆfen.“ Ibid., c. 18 (DW V, 258, 5-7): „Denn der Mensch soll innerlich so ganz Gottes sein in allem seinem Willen, daß er sich nicht viel weder mit Weisen noch mit Werken bewerre“ d. h. in Verwirrung bringe (cf. Lexer, Mittelhochdeutsches Taschenwörterbuch [nt. 64], 20). Largier I (nt. 1), 815: „Die Konzeption der Geburt Gottes im Menschen stellt eine Perspektive radikaler Innerlichkeit her: Wo der Mensch in sich, in seinem Innersten ist, trifft er auf Gott, nicht jedoch auf Gott als ein Gegenüber, sondern auf Gott als sich selbst, insofern […] der Mensch […] dort unmittelbar aus Gott hervorgeht.“ Die Grunddaten der Eckhart’schen Gottesgeburt in der Seele hat N. Largier in Largier I, 814-819, genannt.

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sunderlicheit“, welcher Art sie auch sei 246. Nüchternheit 247 ist angesagt. Jedoch ist nicht jede sunderlicheit verboten, sondern sunderlichen Leuten entspricht auch sunderlicheit tuon 248. Eindeutig gilt jedoch die Forderung, seine Hoffnung und sein Vertrauen nicht auf sunderlicheit zu setzen. Vielmehr sollen diese auf Gott basieren, und darin gibt sich wahre Liebe normativ urteilend zu erkennen. Diese gedeiht aus dem Vertrauen zu Gott 249. Großes Vertrauen zu Gott ist das für den Menschen Förderlichste 250. Wahre Liebe zu Gott generiert ihrerseits Vertrauen 251 zu Gott. Sie ist jedoch nicht nur getriuwen, sondern ein waˆr wizzen und eine unzwıˆvellıˆche sicherheit 252. Der Gott Liebende ist eschatologisch der Gott Wissende. Nun unterscheidet Eckhart „zweierlei Wissen in diesem Leben vom ewigen Leben“: 1.) ein extraordinäres, sozusagen visionäres bzw. revelationäres 253, dem Eckhart skeptisch gegenübersteht 254 und 2.) ein solches liebender Menschen, das durch völliges Vertrauen auf Gott sicheres Wissen erwirbt; was Eckhart das bessere Wissen nennt 255. Ein durch solche Liebe 256 wissender Mensch weiß mit Gewissheit um 246

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RdU, c. 18 (DW V, 258, 7-259, 1): „Und sunderlıˆche solt duˆ vliehen alle sunderlicheit, es sei in Kleidern, in Speisen, in Worten - wie [etwa] hohe Worte zu reden - oder Sonderlichkeit der Gebärden, darin kein Nutzen liegt.“ K. Weiß, Meister Eckhart der Mystiker. Bemerkungen zur Eigenart der Eckhartschen Mystik, in: U. Kern (ed.), Freiheit und Gelassenheit. Meister Eckhart heute, München-Mainz 1980, 103-120, hier 117: „Nüchternheit ist überhaupt das fast paradoxale Merkmal der Eckhartschen Mystik. Wer kennte nicht seinen berühmten Rat, den , jubilus underwıˆlen laˆzen […] und […] durch ein minnewerk ze würkenne‘ (RdU, DW V, 221, 2-4).“ RdU, c. 18 (DW V, 259, 1-4): „Indessen sollst du doch wissen, daß dir nicht a´lliu sunderlicheit verboten ist. Es gibt vil sunderlicheit, die man in vielen Zeiten und bei vielen Leuten halten muß; denn, wer sunderlich ist, der muß auch sunderlicheit tuon zu mancher Zeit in vielen Weisen.“ Ibid., c. 14 (DW V, 238, 8-239, 1): „Wahre und vollkommene Liebe soll man daran prüeven, ob man große Hoffnung und Zuversicht zu Gott hat; denn es gibt kein Ding, daran man es mehr müge geprüeven, ob man ganze Liebe habe, als am Vertrauen. Denn, wenn einer den anderen innig und vollkommen liebt, daz sachet die triuwe.“ Ibid., 239, 4 sq.: „Alliu dinc, diu man getuon mac, diu ensint niht als zimelich als groˆz getriuwen ze gote.“ Ibid., 239, 7 sq.: „[…] getriuwunge kumet von minne, wan minne enhaˆt […] getriuwen.“ Ibid., 239, 8 sq. Ibid., c. 15 (DW V, 240, 2-4): „Das eine ist, daß es Gott dem Menschen selber sage oder es ihm durch einen Engel entbiete oder durch eine besondere Erleuchtung offenbare; das geschieht selten und wenigen Leuten.“ Largier II (nt. 1), 797 sq. RdU, c. 15 (DW V, 240, 5-241, 2): „Das andere Wissen ist ungleich viel besser und nützlicher, und das geschieht dicke allen vollkommenen liebenden Menschen: Das ist, daß der Mensch aus Liebe und aus heimlicheit, die er hat mit seinem Gott, er ihm so völlig vertraut und seiner so sicher ist, daß er nicht zweifeln könne, und er dadurch so sicher wird, weil er ihn ohne Unterschied in allen Kreaturen liebt.“ Eckhart unterscheidet zwischen 1.) dem ,Wesen der Liebe‘ (,wesen der minne‘) und 2.) dem ,Werk oder […] Ausbruch der Liebe‘; cf. RdU, c. 10 (DW V, 219, 3 sq.). Cf. ibid., 219, 4-8 [zu 1.)]: „Die Stätte des Wesens der Liebe ist allein in dem Willen; wer mehr Willen hat, hat auch mehr Liebe. Aber wer davon mehr habe, das weiß niemand vom andern; das liegt verborgen in der Seele, dieweil Gott verborgen liegt in dem Grund der Seele“, sowie ibid., 219, 10-220, 4 [zu 2.)]: Das Werk der Liebe „scheinet sehr als Innigkeit und Andacht und Jubilieren, und ist allewegs das Beste nicht. Denn es ist mitunter nicht von der Liebe“, sondern aus natürlicher und sinnlicher

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die Ewigkeit, weil er Gott nachgeht, denn „Gott nachgehen und ihm folgen, das ist Ewigkeit“ 257. Der Gott liebende wissende Mensch entspricht rezeptiv dem Tun Gottes und deshalb gilt: „Fürwahr, wie ungerecht wir sein mögen“ und seien wir selbst Diebe oder Mörder 258 -, „nehmen wir von Gott, was er uns täte oder nicht täte als von ihm aus gerecht und leiden um der Gerechtigkeit willen, so sind wir selig.“ 259 In der Predigt 66 sagt Eckhart: Gott, der „eine lebendige, wesenhafte, seiende Vernunft [ist], die sich selbst begreift und ist und selbst in sich selbst lebt und dasselbe ist“, ist, wie er selbst ist, weiselos (,wıˆse aˆne wıˆse‘) 260. Dem weiselosen Gott steht die weisehafte Kreatur, der ,eigenschaftliche‘ Mensch gegenüber. Im Angesicht der Weiselosigkeit Gottes kommt es für den Gott wissenden und liebenden Menschen zwar nicht zur Aufhebung der Weisehaftigkeit, denn diese eignet dem Geschöpf notwendigerweise, jedoch zur Offenheit gegenüber anderen Weisen. Das darf nun nicht missverstanden werden im Sinne pluralistischer Belanglosigkeit, sondern jeder Mensch soll die eine ihm zukommende gute Weise nicht nur nicht eliminieren, sondern tatkräftig ergreifen 261. In der (je einen) guten Weise ist Gott nachzufolgen. Jedoch in der von Gott empfangenen je einen Weise 262 „soll man alle guten Weisen und nicht die Sonderheit (eigenschaft) dieser Weise ergreifen. Denn der Mensch muß jeweils nur Eins tun, er kann nicht alles tun. Es muß je Eines sein, und in dem Einen muß man alle Dinge ergreifen. Denn, wenn der Mensch alles tun wollte und diz und daz und von seiner Weise lassen und eines anderen Weise nehmen, die ihm gerade viel besser gefiel, fürwahr, das machte große Unbeständigkeit.“ 263

Zeigt sich aber, dass die eine Weise die andere nicht ertragen will, so ist das ein Zeichen dafür, dass sie nicht von Gott und damit nicht gut ist 264. Für unsere Weise der Nachfolge ist die ,höchste Weise‘ Christi normativ. „Unser Herr Jesus Christus […] hatte allemal die höchste Weise. Dem sollen wir […] stets recht

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süezicheit oder himmlischem ˆındruk. Es handelt sich hier um zu viel auf Gefühle und Empfindungen setzende Liebe. Cf. auch ibid., 221, 2-8: „Man soll solchen Jubilus aus Liebe bisweilen lassen um eines Besseren willen“, z. B. einem Bedürftigen ,in größerer Liebe‘ zu dienen. RdU, c. 20 (DW V, 274, 5). Cf. ibid., c. 23 (DW V, 305, 3-7). Ibid., 305, 7-9. Pr. 66 (DW III, 124, 2-4). RdU, c. 17 (DW V, 252, 9 sq.): „Ein jeder behalte seine gute Weise und beziehe alle Weisen darin ein und ergreife in seiner Weise alles Gute und alle Weisen.“ Ibid., c. 22 (DW V, 286, 7-287, 3): „Der Mensch ergreife eine gute Weise und bleibe immer dabei und bringe in sie alle guten Weisen ein und erachte sie als von Gott empfangen und beginne nicht heute eines und morgen ein anderes und sei ganz ohne alle Sorge, daß er darin je etwas versäume. Denn mit Gott kann man nichts versäumen; so wenig Gott etwas versäumen kann, so wenig kann man mit Gott etwas versäumen. Darum nimm Eines von Gott, und darin ziehe alles Gute hinein.“ Ibid., 285, 10-286, 4. Ibid., 287, 4-11.

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nachfolgen“, jedoch „nicht in jeder Weise.“ 265, sondern auf je eigene Weise 266. Es geht nicht um leibliche, sondern um geistliche Nachfolge 267, d. h. um vernünfticlıˆches würken 268. Christus ist ,in intellectu per fidem‘ und ,in affectu per caritatem‘ in uns 269. Ihm entsprechendes vernünfticlıˆches würken inkludiert freiheitliches, in der Tugend 270 geübtes und ihr gemäßes wesentliches und gegründetes Handeln ohne Warum 271. VII. Der Betende, der Demütig e und der Frieden Habende Beten gehört für Eckhart zum Menschsein. Jedoch kommt es darauf an, recht zu beten. Rechtes Gebet ist Gott-konzentriertes Gebet 272, und das soll der Mensch mit seiner ganzen Existenz kraftvoll und ausdauernd ausüben 273. Authentisches Gebet ist Gott gegenwärtiges Gebet. Es zieht seine einzige Legitimität daraus, dass es teleologisch theologisch dimensioniert ist. Wichtiger Faktor für das Zustandekommen rechten Gebets und für kraftvolles würdiges Gebet 265 266 267

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Ibid., c. 17 (DW V, 253, 4-7). Ibid., 253, 11 sq.: „Wir suln im [Christus] ie ´eigenlıˆchen naˆchvolgen.“ Ibid., 253, 7-9: „Unser Herr fastete vierzig Tage. Niemand soll es unternehmen, ihm darin zu folgen. Christus hat viele Werke getan in der Meinung, daß wir ihm geistig und nicht leiblich nachfolgen sollen.“ Steer, würken vernünfticlıˆchen (nt. 19), 106: „vernünfticlıˆchen würken ist Nachfolge Christi, bedeutet ,christlich‘ leben.“ Sermo V/2, n. 38 (LW IV, 40, 8-12): „Christus […] ist in uns auf zweifache Weise: durch den intellectus im Glauben als solchen (in intellectu per fidem, in quantum est fides), und durch den affectus in der Liebe (in affectu per caritatem), welche den Glauben formt (informat fidem): ,Wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott, (und Gott in ihm)‘ [1 Joh. 4, 16]. Wer also glaubt an Christus (credit in Christum), daß er zu ihm strebt (in eum tendat), hat ihn in affectu und in intellectu.“ RdU, c. 21 (DW V, 281, 13-282, 4): „Auch ist es sehr von Nutzen, daß sich der Mensch nicht daran genügen lasse, daß er die Tugenden, wie Gehorsam, Armut und andere Tugend, im Gemüt habe; […] sondern der Mensch soll sich selber an den Werken und an den Früchten der Tugend üben und sich sehr versuchen […] und wünschen, durch Leute geübt und erprobt zu werden […]. Damit ist es nicht genug, daß man die Werke der Tugend wirke […], sondern man soll danach trachten und nimmer aufhören, bis man die Tugend in ihrem Wesen und Grund gewinne.“ Ibid., 278, 6-9: „Wenn sich der Mensch erst einmal aller Dinge selber entwöhnt und sich ihnen entfremdet hat, so vermag er danach umsichtig (gewærlıˆche) alle seine Werke zu wirken und sie freiheitlich zu gebrauchen (lediclıˆche gebruˆchen) und sie zu entbehren ohne alle hindernisse“; ibid., 282, 5-10: „[…] daß man sie [die Tugend] habe, das kann man an dem prüeven: wenn man sich vor allen Dingen zur Tugend geneigt findet, und wenn man die Werke der Tugend wirkt ohne Bereitung des Willens und sie ohne besonderen eigenen Vorsatz einer gerechten und großen Sache wirkt, und sie vielmehr um ihrer selbst willen und wegen der Liebe zur Tugend und um keines Warum wirkt -, dann hat man die Tugend vollkommen und nicht eher.“ Zu Eckharts Lehre vom Gebet cf. Largier I (nt. 1), 923 sq. RdU, c. 2 (DW V, 191, 1-4): „So kraftvoll soll man beten, daß man wünschte, daß alle Glieder des Menschen und Kräfte […], Augen wie Ohren, Mund, Herz und alle Sinne darauf gerichtet wären; und nicht soll man aufhören, man empfinde denn, daß man sich wolle einen mit dem, den man gegenwärtig hat und bittet, das ist Gott.“

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ist das ledige Gemüt 274, also das Gemüt, welches des Seinen uˆzgegangen und in den Willen Gottes versunken ist 275. Nur das Gott-konzentrierte Gebet ist für Eckhart Gebet. Das Gebet ist als rechtes Gebet durch und durch Gott-dimensioniert. Daher darf sich auch die Bitte im Gebet „auf keine Gabe Gottes richten, sondern allein darauf, daß Gott den Menschen seiner würdig mache. Ist dies der Fall, muß sich Gott dem Menschen ganz mitteilen und sich ihm einen […]. Richtet sich die Bitte jedoch auf etwas Bestimmtes, betet der Mensch einen Abgott an“ 276, dann desavouiert sich totaliter das Gebet als Gebet 277. Das Gebet soll also nicht so sein: „ ,Gib mir die Tugend oder die Weise‘ noch ,Ja, Herr, gib mir dich selbst oder ewiges Leben‘, sondern ,Herr, gib nichts, als was du willst, und tue, Herr, was und wie du willst in jeder Weise‘ “ 278. In diesem Sinne ist Beten „ein bezzer werk […] wan spinnen“ 279. Gott um Gottes willen bitten und nicht die Bitte um anderes charakterisiert das authentische Gebet. Ist das Gebet auf anderes ausgerichtet, ist es unrecht 280. Daraus folgt konsequent das Nihtesgebet hinsichtlich des Außer-Gott-Seienden. „Wenn ich nichts erbitte (nihtes enbite), so bitte ich recht, und das Gebet ist recht und kräftig. Wer immer um etwas anderes bittet, der betet einen Abgott an, und man könnte sagen, es wäre reine Ketzerei. Ich bitte niemals so recht, wie wenn ich um nichts und für niemanden bitte (nihtes niht enbite und vür nieman enbite), weder für Heinrich noch für Konrad. Die wahren Anbeter, die beten Gott an in der Wahrheit und in dem Geiste, das ist: in dem heiligen Geist.“ 281

Im Gebet ist der Mensch in Gott versunken. Der Demütige ist der durch sein niht-werdenne 282 in Gott versunkene Mensch. Der Demütige ist der Erhöhte: „diu hœchste hœhe der hoˆcheit liget in dem tiefen grunde der deˆmüeticheit.“ 283 Er wird „eins […] mit Gott in seinem Grunde“ 284. Höhe und Tiefe sind in der Demut eins 285. Bezug nehmend auf Mk. 9, 34, Mt. 23, 12 und Luc. 14, 11 begründet Eckhart die fundamentale Bedeutung der Demut durch deren niht-werdenne 286, in dem unser ganzes Sein begründet liegt 287. Im späteren Werk bekräftigt und vertieft 274

275 276 277

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Ibid., 190, 3-5: „Daz kreftigeste gebet und vil naˆch daz almehtigeste, alliu dinc ze erwerbenne, und daz aller wirdigeste werk vor allen dingen, daz ist, daz daˆ gaˆt uˆz einem ledigen gemüete.“ Ibid., 190, 9-12. Largier I (nt. 1), 923 sq. Sua´rez-Nani, Philosophie- und theologiehistorische Interpretation (nt. 216), 54: „Derjenige, der betet, indem er etwas von Gott verlangt, betet nicht zu Gott, sondern benützt Gott um eine andere Sache zu erhalten.“ RdU, c. 1 (DW V, 188, 4-8). Ibid., c. 6 (DW V, 203, 8). Pr. 66 (DW III, 131, 3 sq.): „Die daˆ iht *es+ bitent wan gotes oder umbe got, die bitent unrehte.“ Pr. 67 (DW III, 131, 4-132, 1). RdU, c. 23 (DW V, 294, 8). Ibid., 293, 5 sq. Largier I (nt. 1), 898. RdU, c. 23 (DW V, 293, 8-294, 1): „diu hoehe und diu tiefe ist einez.“ Cf. ibid., 292, 12-294, 8. Ibid., 294, 7 sq.: „Wan allez unser wesen enliget an nihte dan in einem niht-werdenne.“

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Eckhart seine in den RdU gemachten Aussagen zur Demut 288. Eckhart definiert Demut als ein ,vernihten sıˆn selbes‘ 289. „Fundamentum […] et radix est humilitas.“ 290 Auch etymologisch erweist Eckhart den ontologischen Zusammenhang zwischen Demut und Menschsein: „Demut hat ihren Namen vom Boden (humilitas ab humo nomen trahit); Boden ist Erde (humus terra). Der Erde ist arteigentümlich ihre fixio und stabilitas.“ 291 Die Demut ist also durch fixio und stabilitas ausgezeichnet. Dadurch ist sie in der Lage, „wie die Erde die Wirkungen des Himmels, das Höchste zu empfangen“ 292. Die stabilitas hominis verdankt sich der „fixio et stabilitas humilitatis“. Ohne Demut wird der Mensch epistemologisch und ontologisch verfehlt. Der Demütige ist der Mensch. Dem entsprechend heißt es in der Predigt ,Von dem edeln Menschen‘ (VeM ): „Mensch […] meinet […] den, der sich ganz unter Gott beugt und fügt mit allem, was er ist und was sein ist, und aufwärts Gott anschaut, nicht das Seine, das er hinter sich, unter sich, neben sich weiß. Das ist volle und eigentliche Demut.“ 293 Der sich unter Gott beugende Mensch ist niemals ohne Trost. Dieser Satz gilt für Eckhart nur unter einer transzendentalen Voraussetzung: Trost ist das, was Gott will (und primär keine Befindlichkeit des frommen Menschen): „Du mußt aber wissen, daß die Freunde Gottes nie ohne Trost sind; denn, was Gott will, das ist ihr allerhöchster Trost, es sei troˆst oder untroˆst.“ 294 Derjenige, der „des Seinen uˆzgegangen“ und „in den liebsten Willen Gottes versunken“ 295 ist, also ledigen Gemütes ist, wird durch Gott in Gott getrösteter Mensch. Gott tröstet uns Menschen aus seiner vrıˆen güete, seiner eigeniu güete und nicht auf Grund von unseriu werk 296. Gott will den Menschen „ihr Halt und Trost sein, und sie sollen sich finden als ein luˆter niht“ 297. Trost empfangend ist der Mensch Mensch. Wahrer Frieden 298 stellt sich ein, „als duˆ zemaˆle uˆzgaˆst in allen dingen des dıˆnen“ und wenn Gott „gaˆt […] ˆın mit allem dem sıˆnen“ 299. Der in Gott Seiende, d. h. der Mensch, in dem Gott ist mit all dem Seinen, ist im Frieden: „[…] laß ihn [Gott] wirken und habe aleine vride.“ 300 Es gilt also: „Als vil in gote, als vil in 288

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294 295 296 297 298 299 300

Cf. die LW IV, 327, nt. 3 angegebenen Stellen zur humilitas. Die Kerngedanken Eckharts zur Demut sind in Largier I (nt. 1), 897, komprimiert dargestellt. Von abegescheidenheit (DW V, 405, 3). Sermo XXXVIII, n. 381 (LW IV, 327, 5). Ibid., n. 382 (LW IV, 327, 6 sq.). Largier I (nt. 1), 898. VeM (DW V, 115, 20-23): „Mensche in der eigenschaft sıˆnes namen in dem latıˆne meinet in einer wıˆse den, der sich alzemaˆle under got neiget und vüeget, allez, daz er ist und daz sıˆn ist, und uˆfwert got aneschouwet, niht daz sıˆn, daz er hinder im, nider im, bıˆ im weiz. Daz ist volliu und eigeniu deˆmüeticheit.“ RdU, c. 10 (DW V, 224, 5 sq.). Ibid., c. 2 (DW V, 190, 11 sq.). Ibid., c. 19 (DW V, 261, 4-8). Ibid., 262, 1. Zum Frieden bei Eckhart cf. Kern, Gottes Sein (nt. 33), 252-263. RdU, c. 4 (DW V, 197, 2-5). Ibid., c. 23 (DW V, 308, 3).

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vride.“ 301 Das In-Frieden-Sein des Menschen ist für Eckhart Kriterium des InGott-Seins: „Daran erkenne, wie viel du in Gott bist und ob es anders ist: ob du Frieden oder Unfrieden hast.“ 302 Unfrieden kommt nicht von Gott, sondern von den Kreaturen 303. Wer den Frieden nicht in Gott, sondern in den Kreaturen Ursprung gebend sucht, findet diesen nicht 304, sondern generiert Unfrieden. Wo der Mensch nicht „sıˆnen willen und sich selber læzet“ 305, wo der Eigenwille regiert, entsteht und produziert sich der Unfrieden 306. Der Mensch des Unfriedens zerstört in seiner Ungelassenheit bzw. in seiner Versklavung an den Eigenwillen die im Frieden geordneten Dinge. Er geht unordenlıˆche mit den Dingen um 307. „Darum fang zuerst bei dir selbst an und laß dich“ 308 und lass Gott in dir wirken, denn, wem Gott vernünftig gegenwärtig ist, der hat wahren Frieden 309. So ist der Eckhart’sche Mensch ein gotsuochender und gotvindender 310 vernünftiger sæliger 311 Mensch.

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Ibid., 308, 5 sq. Ibid., 308, 6 sq. Ibid., 308, 8 sq.: „unvride kumet von der creˆatuˆre und niht von gote.“ Ibid., c. 3 (DW V, 193, 5-194, 1): „Die Leute, die Frieden in äußeren Dingen suchen, sei es an Stätten oder in Weisen, bei Leuten oder in Werken oder in Armut oder in Erniedrigung - […] was es [auch] sei, das […] gibt keinen Frieden.“ Ibid., 195, 4 sq. Ibid., 192, 4 sq.: „[…] niemer enstaˆt ein unvride in dir uˆf, ez enkome von eigenem willen.“ Ibid., 193, 1 sq.: „[…] duˆ bist ez in den dingen selber, daz dich hindert, wan duˆ heltest dich unordenlıˆche in den dingen.“ Ibid., 193, 3. Ibid., c. 7 (DW V, 211, 3-5): „Dem got alsoˆ gegenwertic ist in allen dingen und sıˆner vernunft an dem obersten gewaltic ist und der gebruˆchende ist, der weiz aleine von waˆrem vride, und der haˆt ein reht himelrıˆche.“ Eckhart sagt, „daz der mensche solte werden ein gotsuochender in allen dingen und gotvindender mensche ze aller zıˆt und in allen steten und bıˆ allen liuten in allen wıˆsen. In disem mac man alle zıˆt aˆne underlaˆz zuonemen und wahsen und niemer ze ende komen des zuonemennes“ (ibid., c. 22 [DW V, 289, 12-290, 3]). Ibid., c. 21 (DW V, 278, 13-279, 5): „Der mensche sol sich wenen, daz er des sıˆnen in keinen dingen niht ensuche noch enmeine und daz er got in allen dingen vinde und neme. Wan got engibet keine gaˆbe noch nie gegap, daz man die gaˆbe hæte und dar ane geruowete; sunder alle die gaˆbe, die er ie gegap in himel und uˆf erden, die gap er alle dar umbe, daz er ´eine gaˆbe geben möhte: daz was er selber. Mit disen gaˆben allen wil er uns bereiten ze der gaˆbe, diu er selber ist; und alliu diu werk, diu got ie geworhte in himel und in erden, diu worhte er durch ´eines werkes willen, daz er daz möhte gewürken: daz ist in sæligen, daz er uns möhte sæligen.“

Eckharts Auseinandersetzung mit der thomasischen Kontritionslehre in den ,Reden der Unterweisung‘ Mika Matsuda (Kyoto) In seinem frühesten deutschen Werk aus der Zeit seiner Tätigkeit als Erfurter Prior setzte sich Eckhart nicht nur mit der klösterlichen Spiritualität, sondern auch mit der Theologie des Thomas von Aquin auseinander - dem Nachweis dieser These gelten die folgenden Ausführungen. Als Hauptgegenstand der Analyse werden dabei die Kapitel 12 und 13 der ,Reden‘ 1 gewählt und daraufhin geprüft, inwieweit Eckharts Ausführungen über die Reue die thomasische Kontritionslehre voraussetzen und zugleich davon abweichen 2. Ferner wird der Unterschied zwischen den beiden Lehren im Zusammenhang mit der Lehre über die Liebe zu Gott erörtert. Der Hauptunterschied zwischen Thomas und Eckhart betrifft die Aufhebung der Reue als Unzufriedenheit des Willens hinsichtlich begangener Sünden. Thomas besteht darauf, dass die Zerknirschung im ganzen gegenwärtigen Leben fortdauern soll 3. Dagegen behauptet Eckhart, dass der gute Mensch nicht will, dass seine Sünde nicht geschehen wäre 4. Diese Aussage Eckharts wurde von der Bulle verurteilt 5. Insofern aber sie von Eckhart selbst verteidigt wurde 6, versuchen auch einige Eckhart-Forscher, sie apologetisch zu interpretieren. Im Folgenden möchte ich zuerst zwei solche Interpretationen behandeln und feststellen, ob sie ihrem Gegenstand gerecht werden. 1

2

3

4 5 6

Die deutschen und lateinischen Werke, Stuttgart 1936 sqq., werden im Folgenden mit den Abkürzungen ,DW‘ und ,LW‘ zitiert. Sämtliche Zitate des Thomas sind der ,Summa theologiae‘ entnommen. Dieses Werk wurde abgebrochen, bevor die contritio als Teil der poenitentia behandelt werden konnte. Im Folgenden versuche ich die Kontritionslehre zu analysieren, die aus dem ,Scriptum in IV libros Sententiarum‘ als Supplementum der ,Summa theologiae‘ hinzugefügt wurde (Suppl., qq. 1-5). Chenu weist darauf hin, dass eine Diskrepanz zwischen dem Kommentar und der ,Summa‘ besteht und nennt dabei als ein Beispiel den „Komplex der Bekehrung und Buße des Sünders“. So könnte auch die Kontritionslehre des Kommentars wohl Abweichungen vom abgefassten Teil der ,Summa‘ aufweisen. Cf. M.-D. Chenu, Das Werk des hl. Thomas von Aquin, Graz 21982, 310. Suppl., q. 4, a. 1, c: „in vitae hujus tempore status contritionis maneat quantum ad peccati detestationem.“ Cf. q. 4, a. 2, c: „quantumcumque homo continue in actu hujus displicentiae esse possit, melius est.“ Cf. DW V, 22, und DW V, 233. Cf. unten, 180. Cf. art. 14 u. 15. LW V, 282: „Ad septimum cum dicitur: ,Talis homo ita conformis est divinae voluntati‘ etc. Dicendum quod verum est et videtur planum et morale hoc sicut omnia alia […].“

Eckharts Auseinandersetzung mit der thomasischen Kontritionslehre

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I. Die Inter pretation von Kur t Ruh Nach Ruh nimmt Eckhart die Gefahr der innerlichen Vernichtung des Menschen durch das Sündengewicht wahr und bemüht sich um die „innerliche Überwindung der Sündenlast“ 7: „Als erfahrener Seelenführer weiß Eckhart um das Gewicht der Sünde und wie es den Menschen innerlich vernichten kann. Dem versucht er entgegenzuwirken mit einer Spiritualität des Trostes.“ 8 Diese Verteidigung von Ruh gründet im 13. Kapitel der ,Reden‘, wo Eckhart von der zeitlich-sinnlichen Reue redet, die zur Verzweiflung führen kann: „Diu riuwe ist zweierleie: diu ein ist zıˆtlich oder sinnelich, diu ander ist götlich und übernatiurlich. Diu zıˆtlıˆche ziuhet sich alle zıˆt niderwerts in ein meˆrer leit und setzet den menschen in einen jaˆmer, als ob er iezunt verzwıˆveln sül, und daˆ blıˆbet diu riuwe in dem leide und enkumet niht vürbaz; daˆ enwirt niht uˆz.“ 9

Von dieser Art der Reue grenzt Eckhart die göttlich-übernatürliche Reue ab, die von allem Leid und Jammer befreit ist, und mit der anscheinend der Mensch nicht will, dass seine Sünde nicht geschehen wäre: „Aber diu götlıˆche riuwe ist vil anders. Als balde der mensche ein missevallen gewinnet, zehant erhebet er sich ze gote und setzet sich in ein ˆewigez abekeˆren von allen sünden in einem unbewegelıˆchen willen; und daˆ erhebet er sich in ein groˆz getriuwen ze gote und gewinnet eine groˆze sicherheit; und daˆ von kumet ein geistlıˆchiu vröude, diu die seˆle erhebet uˆz allem leide und jaˆmer und bevestent sie an gote.“ 10

Aber Ruhs Verteidigungsargument hält sich nur, wenn die seelische Krise ausschließlich durch die Aufhebung der Zerknirschung zu vermeiden ist. Aber das gilt nicht, zumindest nicht bei Thomas von Aquin. Er berücksichtigt auch die Gefahr, dass der Mensch durch die gesteigerte Zerknirschung in seelische Not geraten kann, ist jedoch der Ansicht, dass der Mensch möglichst intensiv und dauerhaft seine Sünden bereuen soll. Dabei glaubt Thomas die Gefahr umgehen zu können, indem er den rationalen Schmerz der Reue von dem sinnlichen unterscheidet. Der erstere, genannt auch ,Schmerz im Willen‘ (,dolor in voluntate‘), ist nichts anderes als das Missfallen über begangene Sünden (,displicentia de peccatis commissis‘), dagegen ist der letztere lediglich Folge des ersteren. Während es hinsichtlich des rationalen Schmerzes kein Übermaß gibt, kann der sinnliche übermäßig werden und zur Verzagtheit oder Verzweiflung führen aufgrund dieses Unterschiedes soll das Übermaß nur im Hinblick auf den sinnli7 8 9 10

K. Ruh, Meister Eckhart. Theologe, Prediger, Mystiker, München 21989, 38. Ibid., 37 sq. DW V, 236, 2-6. DW V, 236, 7-237, 4. Das Wort missevallen scheint dem thomasischen Wort displicentia zu entsprechen, auf das ich im Folgenden noch eingehen werde. Sollte dies zutreffen, bedeutet missevallen die von Thomas als ,dolor in voluntate‘ bezeichnete Reue über begangene Sünden. Dolor wiederum könnte mit ,leit und jaˆmer‘ übersetzt worden sein.

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chen Schmerz vermieden werden 11. Hierzu sei angemerkt, dass Thomas der Kontrition nicht nur Schmerz, sondern auch Freude zuerkennt. Aber die Freude vermehrt bei Thomas das Missfallen über die begangene Sünde und löst den rationalen Schmerz nicht auf, selbst wenn sie den sinnlichen verringern kann 12. Dagegen redet Eckhart in der oben zitierten Stelle von der ,geistlichen Freude‘, in der nicht nur der sinnliche, sondern auch der rationale Schmerz aufgehoben zu sein scheint. Also nicht nur Eckhart, sondern auch Thomas versucht die Gefahr der innerlichen Vernichtung zu überwinden. Daraus folgt, dass der Grund der Aussage Eckharts über die Aufhebung der Reue tiefer zu verorten ist. II. Die Inter pretation von Her ma Piesch Piesch bietet ein anderes Verteidigungsargument an. Nach ihr enthält Eckharts Aussage kein ,Lob der Sünde‘, sondern ein Lob des ,Heilsplans‘, nach dem Gott voraussieht, dass der Mensch die Sünde begeht, damit er später umso mehr Gott liebe: „So ist denn auch die Sünde, wenngleich nicht gottgewollt, so doch im Heilsplan zugelassen um ,dein Bestes daraus zu ziehen‘: den Menschen zur Erkenntnis seiner eigenen Schwäche und Niedrigkeit - die ohne Gottes Gnade ja ein ,Nichts‘ ist - zu bringen und ihn durch die ihm erwiesene Barmherzigkeit zu um so grösserer Liebe zu verbinden.“ 13 Diese Rechtfertigung von Piesch stützt sich auf den letzten Satz des 11. Kapitels der ,Reden‘: „Wan den guoten koment alliu dinc ze guote, als sant Paulus sprichet, und als sant Augustıˆnus sprichet: ,jaˆ, ouch die sünden‘ “ 14, und auf das folgende Kapitel, das eine volle Entfaltung des genannten Satzes darstellt: „Jaˆ, der rehte wære gesetzet in den willen gotes, der ensölte niht wellen, diu sünde, daˆ er ˆın gevallen was, daz des niht geschehen wære; niht alsoˆ, als ez wider got was, sunder als verre als duˆ daˆ mite bist gebunden ze meˆrer minne und bist daˆ mite genidert und gedeˆmüetiget, als daz aleine, daz er wider got haˆt getaˆn. Aber duˆ solt gote wol getriuwen, daz er dir des niht verhenget hæte, er enwölte denne dıˆn bestez dar uˆz ziehen.“ 15

Aber der letzte Satz des 11. Kapitels ist ein Zitat aus dem vierten Gegenargument der ,Summa theologiae‘, Suppl., q. 4, a. 1: „Rom. 8 dicitur quod ,diligentibus Deum omnia cooperantur in bonum‘: ,etiam peccata‘, ut dicit Glossa. Ergo non oportet, post 11

12 13 14 15

Suppl., q. 4, a. 2, c: „Unde, cum contritio, quantum ad id quod est displicentia quaedam in appetitu rationis, sit actus poenitentiae virtutis, nunquam potest ibi esse superfluum, sicut nec quantum ad intensionem, ita nec quantum ad durationem […]. Sed passiones possunt habere superfluum et diminutum, et quantum ad intensionem, et quantum ad durationem. Et ideo, sicut passio doloris quam voluntas assumit, debet esse moderate intensa, ita debet moderate durare: ne, si nimis duret, homo in desperationem et pusillanimitatem et hujusmodi vitia labatur.“ Cf. Suppl., q. 3, a. 2, c. Cf. Suppl., q. 3, a. 1, ad 3. H. Piesch, Meister Eckharts Ethik, Luzern 1935, 44 sq. DW V, 231, 8-10. DW V, 233, 4-9.

Eckharts Auseinandersetzung mit der thomasischen Kontritionslehre

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remissionem peccati, quod de ipso doleant.“ 16 Auf dieses Gegenargument antwortet Thomas, dass der Mensch über die Sünden als solche immer Schmerz empfinden soll, obwohl er sich zugleich über die göttliche Vorsehung, die sich auch die Sünden zunutze macht, freuen muss 17. Demnach berücksichtigt auch Thomas den ,Heilsplan‘ Gottes, ohne deshalb, im Gegensatz zu Eckhart, die Aufhebung der Reue zu lehren. Daraus ergibt sich, dass das Verteidigungsargument von Piesch auch kein endgültiges für Eckharts Aussage über die Aufhebung der Reue darstellt. Es ist nach dem Grund zu fragen, warum Eckhart nicht die thomasische Antwort, sondern dessen Gegenargument als Ausgangspunkt seiner eigenen Auffassung nimmt und sich so bewusst in Opposition zur thomasischen Kontritionslehre setzt. Aber ebenso gut ließe sich fragen, warum Thomas bei der Notwendigkeit der Reue bleibt. III. Die Kontritionslehre des T homas von Aquin Um diese Frage zu beantworten, soll auf einen Unterschied hingewiesen werden, den Thomas in Bezug auf die Reue zwischen dem eigentlichen Gegenstand und dem Ermöglichungsgrund macht. Nach Thomas soll der Mensch im eigentlichen Sinne die Sünde als eine Beleidigung Gottes bereuen. Die Trennung von Gott, die von der Sünde verursacht wird, ist kein eigentlicher Gegenstand der Reue. Den Grund dafür erläutert Thomas, indem er zwischen zwei Arten von Schlechtigkeit unterscheidet: „Malitia autem in culpa mortali mensuratur ex eo in quem peccatur, inquantum est ei indigna; et ex eo qui peccat, inquantum est ei nociva.“ 18 Die eine Schlechtigkeit ist die Schädlichkeit gegenüber dem Menschen als dem Subjekt der Sünde, die andere ist die Beleidigung 19 gegenüber Gott, welche der eigentliche Gegenstand der Reue ist. Auch wenn sich aus der Trennung (separatio) von Gott infolge der Sünde immer nur Schaden für den Menschen, und sei dieser auch noch so groß, ergibt, soll der Mensch die Beleidigung Gottes stärker bereuen als die Trennung von Gott: „Et quia homo debet magis Deum quam seipsum diligere, ideo plus debet odire culpam inquantum est offensa Dei, quam inquantum est nociva sibi. Est autem nociva sibi principaliter inquantum separat ipsum a Deo. Et ex hac parte ipsa separatio a Deo, quae poena quaedam est, magis debet displicere quam ipsa culpa inquantum hoc nocumentum inducit […], sed minus quam culpa inquan16

17

18 19

In der Anmerkung der kritischen Ausgabe zum letzten Satz des Kap. 11 (DW V, 337, nt. 181) wird auf eine Stelle der ,Summa theologiae‘ (I-II, q. 79, a. 4; q. 87, a. 2) verwiesen, aber nicht auf diese. Suppl., q. 4, a. 1, ad 4: „sicut non debet homo ,facere mala ut veniant bona‘, ita non debet gaudere de malis quia ex eis occasionaliter proveniunt bona, divina providentia agente: quia illorum bonorum peccata causa non fuerunt, sed magis impedimenta. Sed divina providentia ea causavit: et de ea debet homo gaudere, de praeteritis autem dolere.“ Suppl., q. 3, a. 1, ad 4. Das Wort offensa scheint bei Eckhart mit schade und smaˆcheit übersetzt zu werden, wobei das Wort smaˆcheit häufiger auftaucht.

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tum est offensa in Deum […]. Et ideo, cum hoc sit maximum nocumentum quo maximum bonum privatur, erit inter poenas maxima separatio a Deo.“ 20

Die Trennung von Gott, die hier nicht als der eigentliche Gegenstand der Reue in Betracht kommt, wird aber wieder in die Erklärung einbezogen, wenn Thomas den Ermöglichungsgrund der Reue erörtert. Ich möchte zwei Stellen zitieren, die auf den Ermöglichungsgrund der Reue hinweisen. Die erste Stelle will die Überlegenheit des rationalen Schmerzes der Reue über alle anderen Arten des Schmerzes begründen und weist auf die Tatsache hin, dass einem dasjenige, was vom Ziel ablenkt, missfällt: „quantum aliquid placet, tantum contrarium ejus displicet. Finis autem super omnia placet: cum omnia propter ipsum desiderentur. Et ideo peccatum, quod a fine ultimo avertit, super omnia displicere debet.“ 21 Hier wird als Ermöglichungsgrund der Reue herausgestellt, dass der Mensch durch die Sünde vom Letztziel abgehalten wird. Die zweite Stelle, welche die Notwendigkeit der Reue in diesem Leben nachzuweisen beabsichtigt, geht davon aus, dass der Mensch durch die Sünde auf dem Weg zum Letztziel behindert wird: „Quandiu enim est aliquis in statu viae, detestatur incommoda quibus a perventione ad terminum viae impeditur vel retardatur. Unde, cum propter peccatum praeteritum viae nostrae cursus in Deum retardetur […], oportet quod in vitae hujus tempore status contritionis maneat quantum ad peccati detestationem.“ 22

Die beiden zitierten Stellen zeigen, dass Thomas den Ermöglichungsgrund der Reue in der Behinderung auf dem Weg zum Letztziel sieht. Zusammengefasst: Obwohl die Trennung von Gott bei Thomas nicht der eigentliche Gegenstand der Reue ist, wird die Abhaltung vom Letztziel infolge der Sünde als Ermöglichungsgrund der Reue verstanden. Somit erhalten wir die Antwort auf die oben gestellte Frage, warum Thomas immer wieder die Unauflösbarkeit der Zerknirschung behauptet.

IV. Liebe zu Gott bei T homas So wie in der thomasischen Kontritionslehre der Unterschied zwischen dem eigentlichen Gegenstand und dem Ermöglichungsgrund der Reue festgestellt wurde, soll auch hinsichtlich seiner caritas-Lehre auf einen relevanten Unterschied zwischen dem eigentlichen Gegenstand und dem Ermöglichungsgrund der caritas aufmerksam gemacht werden.

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21 22

Suppl., q. 3, a. 1, ad 4. Hier wird die menschliche Liebe zu Gott erwähnt, was auf einen Zusammenhang zwischen der Kontritionslehre und der caritas-Lehre hindeutet. Suppl., q. 3, a. 1, c. Suppl., q. 4, a. 1, c.

Eckharts Auseinandersetzung mit der thomasischen Kontritionslehre

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Nach Thomas liebt der Mensch in der caritas als den eigentlichen Gegenstand Gott: „ex caritate magis debet homo diligere deum […] quam se ipsum.“ 23 Diese These von der übernatürlichen Liebe des Menschen zu Gott versucht Thomas mithilfe der Tatsache zu belegen, dass alles Seiende aufgrund der natürlichen Liebe Gott mehr liebt als sich selbst 24. Den Grund solcher Liebe zu Gott sieht Thomas darin, dass Gott für jedes Seiende der Grund des Seins und der Gutheit (,ratio existendi et bonitatis‘ 25) ist: „Non enim esset in natura alicuius quod amaret Deum, nisi ex eo quod unumquodque dependet a bono quod est Deus.“ 26 So macht bei Thomas die Abhängigkeit des Seins und der Gutheit jedes Seienden von Gott den Grund der Liebe zu Gott aus: „unicuique erit Deus tota ratio diligendi eo quod Deus est totum hominis bonum: dato enim, per impossibile, quod Deus non esset hominis bonum, non esset ei ratio diligendi. Et ideo in ordine dilectionis oportet quod post Deum homo maxime diligat seipsum.“ 27 Dass Gott der ganze Grund der Liebe ist, bedeutet, dass der Mensch Gott nicht um seiner willen, sondern um Gottes selbst willen liebt. Aber der Mensch liebt Gott um Gottes selbst willen eben deshalb, weil Gott das ganze Gute ist, an dem der Mensch teilhat. Und weil die Liebe zu Gott um Gottes willen von der Teilhabe an der göttlichen Seligkeit ermöglicht wird, soll der Mensch die Seligkeit mehr für sich selbst als für seinen Nächsten wollen. Zusammenfassend lässt sich formulieren: Da bei Thomas die Teilhabe an der göttlichen Seligkeit den Grund der Liebe zu Gott um Gottes selbst willen ausmacht, ist die Selbstliebe des Menschen, mit der er für sich selbst das Letztziel begehrt, nie aus der caritas auszuschließen 28. Aus den zitierten Stellen geht klar hervor, dass, während der eigentliche Gegenstand der caritas Gott ist, der Ermöglichungsgrund der caritas in der Teilhabe an der göttlichen Seligkeit liegt. Diese Logik des Thomas bildet genau die Kehrseite der Logik seiner Kontritionslehre, nach welcher der Ermöglichungsgrund der Reue in der Trennung von Gott liegt, während der eigentliche Gegenstand der Reue die Beleidigung Gottes ist. So lässt sich die Antwort auf die am Ende 23

24 25 26 27 28

S. th. II-II, q. 26, a. 3, c. Für die thomasische caritas-Lehre ist grundlegend der Unterschied zwischen der Begehrens- und der Freundschaftsliebe (cf. S. th. I-II, q. 26, a. 4). Mit der Begehrensliebe will einer etwas für sich selbst; mit der Freundschaftsliebe aber will er etwas für einen Freund. In der caritas liebt der Mensch Gott vor allem mit der Freundschaftsliebe, aber auch mit der Begehrensliebe, sofern er die Teilhabe an der göttlichen Seligkeit für sich selbst will (cf. S. th. II-II, q. 17, a. 8). Cf. S. th. II-II, q. 26, a. 3. S. th. I, q. 60, a. 5, ad 1. S. th. I, q. 60, a. 5, ad 2. S. th. II-II, q. 26, a. 13, ad 3. Auf diesen komplizierten Sachverhalt, den ich mit dem Unterschied zwischen dem eigentlichen Gegenstand und dem Ermöglichungsgrund der Liebe zu erklären versuchte, weist auch R. Leonhardt, Glück als Vollendung des Menschseins: Die beatitudo-Lehre des Thomas von Aquin im Horizont des Eudämonismus, Berlin 1998, hin. Er kritisiert die Deutung von K. Holl, nach der sich „der Mensch Gott in der caritas letztlich um der Erlangung seiner eigenen beatitudo willen“ zuwendet, und behauptet: „Die caritas kann nicht eudämonistisch interpretiert werden, weil die Teilhabe an der Eudämonie Gottes nicht ihr Motiv, sondern ihr ontologischer Ermöglichungsgrund ist“ (ibid., 248).

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des 2. Kapitels dieses Beitrags gestellte Frage neu formulieren: Thomas gibt die Notwendigkeit der Zerknirschung nicht auf, weil er grundsätzlich der Auffassung ist, dass der Mensch für sich selbst die Teilhabe an der göttlichen Seligkeit wollen soll. V. Liebe zu Gott bei Eckhar t Von Thomas weicht Eckhart gerade hinsichtlich der Lehre über die menschliche Liebe zu Gott ab. Im Gegensatz zu Thomas, für den die caritas die Selbstliebe des Menschen einschließt, fordert Eckhart in den ,Reden‘ einen solch vollständigen Gehorsam, dass der Mensch für sich selbst nicht einmal Gott will: „In waˆrer gehoˆrsame ensol niht vunden werden ,ich wil alsoˆ oder alsoˆ‘ oder ,diz oder daz‘, sunder ein luˆter uˆzgaˆn des dıˆnen. Und dar umbe in dem aller besten gebete, daz der mensche mac gebeten, ensol niht sıˆn weder ,gip mir die tugent oder die wıˆse‘, oder ,jaˆ, herre, gib mir dich selber oder ˆewigez leben‘, dan ,herre, engip niht, wan daz duˆ wilt, und tuo, herre, swaz und swie duˆ wilt in aller wıˆse‘.“ 29

Nach Thomas ist der Gehorsam (obedientia) das Gelübde, mit dem ein Mensch Gott seinen eigenen Willen weiht 30. Die caritas bringt den Gehorsam notwendigerweise mit sich, insofern der Mensch in der caritas als Freundschaft mit Gott aus seinem eigenen Willen heraustritt und etwas will, wie Gott will 31. Sofern Eckhart den Gehorsam auch als das Heraustreten aus dem eigenen Willen versteht („ein luˆter uˆzgaˆn des dıˆnen“), stimmt er mit Thomas weitgehend überein. Aber das Wort luˆter weist bei Eckhart gerade auf die Aufforderung hin, der Mensch möge seinen eigenen Willen so weit aufgeben, dass er für sich selbst nicht einmal Gott als sein Letztziel begehrt („ensol niht sıˆn […] , jaˆ, herre, gip mir dich selber oder ˆewigez leben‘ “), was bei Thomas ausgeschlossen bleibt. Ferner redet Eckhart im Zusammenhang mit der Reue von ,dem getreuen minnenden got‘ und Gottes selbstloser Liebe zum Menschen, mit der er die Beleidigung durch die menschlichen Sünden gerne erträgt: „Allen den schaden und smaˆcheit, diu gote möhte geschehen von allen sünden, den wil er gerne lıˆden und haben geliten vil jaˆr, uˆf daz der mensche dar naˆch kome ze einer groˆzen bekantnisse sıˆner minne und umbe daz sıˆn minne und sıˆn danknæmicheit deste meˆr und sıˆn ernst deste hitziger werde, daz billıˆche und dicke kumet naˆch den sünden.“ 32

Es sei angemerkt, dass Eckhart hier nicht lediglich seine Auffassung über die Liebe zu Gott vorträgt, welche nach einer begangenen Sünde größer wird, son29 30

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32

DW V, 188, 3-8. S. th. II-II, q. 186, a. 7, c: „Quod aliquis totaliter Deo offert per obedientiam, qua aliquis offert Deo propriam voluntatem, per quam homo utitur omnibus potentiis et habitibus animae.“ S. th. I-II, q. 19, a. 10: „Est et alius modus conformitatis secundum rationem causae formalis, ut scilicet homo velit aliquid ex caritate, sicut Deus vult.“ DW V, 234, 7-11.

Eckharts Auseinandersetzung mit der thomasischen Kontritionslehre

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dern mit dieser Redeweise bei den Zuhörern spontane Liebe zu Gott zu erwecken weiß. Dieser Gedanke über Gottes selbstlose Liebe zu dem Menschen und des Menschen Liebe zu Gott ist als Grund für Eckharts Aussage zu verstehen, wonach der gute Mensch nicht will, dass seine Sünde nicht geschehen wäre. Um seine eigenen Gedanken über die Liebe zu Gott von den thomasischen grundsätzlich abzugrenzen, entwickelte Eckhart seine Lehre über die Reue bis zur letzten Konsequenz 33. Auf der anderen Seite ist diese Stelle insofern aufschlussreich, als Eckhart hier nicht streng zur vollständigen Aufgabe des eigenen Willens auffordert, sondern die selbstlose Liebe zu Gott entfacht, indem er über Gottes selbstlose Liebe redet. So entpuppt sich die in den ,Reden‘ wiederholt auftauchende gebieterische Aufforderung zur Preisgabe des Eigenwillens als Einladung zur eigentlichen, natürlichen, selbstlosen Bewegung des Menschen. Das Thema der Reue in den ,Reden‘ ist bei den Interpreten dieser Schrift nicht so beliebt wie gerade die Thematik von Gehorsam, Preisgabe des Eigenwillens, Armut usw. Aber das Thema der Reue lässt sich durchaus im Zusammenhang mit dieser Thematik erforschen, so dass ans Licht gebracht werden kann, was Eckhart eigentlich mit ,Gelassenheit‘ meint. VI. Schluss Auf dem Weg meiner Darstellung ist deutlich geworden, dass die Abweichung der Eckhart’schen Lehre von der thomasischen eine konsequente ist. Dies lässt den Schluss zu, dass Eckhart sich in den ,Reden‘ gründlich mit der thomasischen Heilslehre auseinandergesetzt hat. 33

Hier wird auf die weitere Entwicklung der Eckhart’schen Lehre über die Reue im ,Buch der göttlichen Tröstung‘ hingewiesen. Bemerkenswert ist dabei, dass Eckharts Behauptung der Aufhebung der Reue (DW V, 22) in dieser späteren Schrift mit der Bibelstelle Röm. 9, 3 („Optabam anathema esse a Christo pro fratribus meis“) in Verbindung gebracht wird. Cf. DW V, 21, 2-7: „Doch, swie daz sıˆ: in dem aleine, daz ez gotes wille ist, daz ez geschehe, soˆ sol des guoten menschen wille alsoˆ gar mit gotes willen ein und geeiniget sıˆn, daz der mensche daz selbe mit gote welle, nochdenne ob ez sıˆn schade und joch sıˆn verdüemnisse wære. Dar umbe wunschte sant Paulus, daz er von gote gesundert wære durch got und durch gotes willen und durch gotes ˆere.“ Diese Paulusreferenz und die in einer späteren Stelle des Trostbuches (DW V, 40) vorgelegte Ausdeutung der betreffenden Stelle stehen im bewussten Gegensatz zu den Auslegungen, die Thomas gemäß seiner caritas-Lehre vorträgt (S. th. II-II, q. 27, a. 8, ad 1). Nach einer der zwei Auslegungen ist diese Äußerung des Paulus eine Begründung für den Vorrang der Gottesliebe vor der Selbstliebe und besagt, auf den Genuss Gottes ,eine Zeitlang (ad tempus)‘ zu verzichten, damit Gottes Ehre im Nächsten gefördert werde. Der Grund, warum Thomas den Vorbehalt ,eine Zeitlang‘ einfügt, dürfen wir darin sehen, dass der Mensch nach seiner caritas-Lehre an der göttlichen Seligkeit teilhaben soll. Aber diesen Vorbehalt des Thomas weist Eckhart im Trostbuch (DW V, 40) ausdrücklich zurück, was seiner Lehre über die Liebe zu Gott entspricht. Eine weitere Auslegung der Römerbriefstelle ist in der Predigt 12 der kritischen Ausgabe zu finden. Die Rede vom Lassen Gottes in derselben Predigt (DW I, 195 sqq.) ist als eine vertiefte Formulierung der in den ,Reden‘ vorgebrachten Aufforderung zum wahren

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Wie K. Ruh bemerkt, „haben die ,Reden‘ in jüngster Zeit vermehrte Aufmerksamkeit seitens der Forschung gefunden“ 34. Während viele Interpreten diese Schrift hauptsächlich im Kontext der klösterlichen seelsorglichen Tätigkeiten interpretieren, versucht L. Sturlese, metaphysische Elemente der Schrift hervorzuheben und verweist auf den Zusammenhang mit den lateinischen Werken 35. Ich möchte aber einen weiteren Gesichtspunkt vorschlagen. Wenn die ,Reden‘, wie ich herausgestellt habe, eine Auseinandersetzung mit der thomasischen Heilslehre enthalten, ist die Möglichkeit und Notwendigkeit ersichtlich, diese Schrift nicht nur im praktischen Zusammenhang mit der klösterlichen Seelsorge, sondern auch im theoretischen Zusammenhang mit der theologischen Diskussion um die Heilslehre zu untersuchen. Ferner schlage ich vor, die ,Reden‘ nicht nur im entwicklungsgeschichtlichen Zusammenhang mit Eckharts späteren reifen Gedanken zu betrachten, sondern auch im geistesgeschichtlichen Kontext unter Einbeziehung des Gedankenschatzes des großen Vorgängers zu interpretieren. Das bedeutet keineswegs, dass Eckhart als Thomist einzuordnen sei. Ebenso wenig ist hier von einer Geringschätzung des Einflusses von Seiten der deutschen Dominikanerschule auf Eckhart die Rede. Aber die Annahme allein, dass er kein Thomist war, oder dass er im Umkreis der Albertusschule stand, widerlegt nicht, dass die Thomas-Lektüre für die Eckhart-Forschung hilfreich sein kann. Natürlich fehlt es in der Eckhart-Forschung nicht an komparativen Untersuchungen, die auf Thomas von Aquin Bezug nehmen: Es gibt zahlreiche Stellenverweise in der kritischen Ausgabe, einzelne Vergleiche hinsichtlich des Seinsbegriffs, der Analogielehre, der Pariser Quästionen, der Predigt von Maria und Martha, der Bildlehre 36 usw. Aber sollte man nicht darüber hinausgehend den Gesichtspunkt konsequent weiterverfolgen, dass Eckhart sich bewusst mit Thomas auseinandergesetzt hat?

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Gehorsam zu interpretieren, mit dem der Mensch für sich selbst nicht einmal Gott begehrt. Bezeichnend ist auch, dass der Rede vom Lassen Gottes eine in scharfem Gegensatz zur thomasischen (siehe oben, 183) stehende Freundschaftslehre vorangestellt ist, nach der der Mensch seinen Freund genauso wie sich selbst lieben soll. K. Ruh, Geschichte der abendländischen Mystik, vol. 3: Die Mystik des deutschen Predigerordens und ihre Grundlegung durch die Hochscholastik, München 1996, 265. Cf. L. Sturlese, Meister Eckhart. Ein Porträt (Eichstätter Hochschulreden 90), Regensburg 1993, 7. M. Wilde, Das neue Bild vom Gottesbild. Bild und Theologie bei Meister Eckhart (Dokimion 24), Freiburg/Schw. 2000, unternimmt einen Vergleich zwischen Thomas und Eckhart im Hinblick auf zusammenhängende Themenkomplexe aus der Bildlehre, Analogielehre, Metaphernlehre und Anthropologie.

III. Systematik und Einheit

Der ,Systematiker‘ Eckhart Jan A. Aertsen (Köln) I. Einleitung Allein der Titel meines Beitrages wird manchem Eckhart-Forscher schon ein Greuel sein: Eckhart als ,Systematiker‘ zu betiteln scheint eine contradictio in adiecto zu sein. Hören wir auf einen Großmeister der Forschung, Kurt Ruh: „Die Perspektivenvielfalt und Offenheit des Eckhartschen Denkens verbietet es, ihn, wie vielfach und immer wieder geschehen, auf ein ,System‘ festzulegen.“ 1 Zur Erhärtung des häufigen Perspektivenwechsels verweist Ruh auf eine deutsche Predigt (Q 39), wo es heißt: „Jetzt spreche ich in einem anderen Sinn anders darüber.“ Weitere Stimmen bestätigen die Überzeugung, dass, wer Eckhart auf ein ,System‘ festlege, ihn in eine Zwangsjacke stecke, sein Denken vergewaltige 2. Die Abwehr einer Systematik wird durch die Betonung des Diskontinuierlichen, Heterogenen und Fragmentarischen in Eckharts Werk unterstützt. Die deutsche Predigt, auf die Kurt Ruh verweist, zitiert auch Burkhard Mojsisch als Beleg für die Schwierigkeit, sich dem Denken Eckharts zu nähern; sie besteht darin, „daß dieses Denken von der lebendigen Spontaneität des momentanen Einfalls lebt“ 3. Aber ist diese Deutung zutreffend? Predigt 39 handelt von einem Text im Buch Weisheit (5, 16): ,Iusti vivent in aeternum‘ (,Die Gerechten werden ewig leben‘). Nun hat Eckhart dieselbe Textstelle auch in Predigt 6 behandelt. Wahrscheinlich bezieht er sich auf diese Predigt, wenn er in Predigt 39 zum zweiten Mal über den Text redet und bemerkt, dass er jetzt in einem anderen Sinn über den gerechten Menschen spreche. Das ist weniger ein spontaner Einfall als vielmehr eine wohlüberlegte Strategie des Predigers. Die programmatische Bedeutung des Themas hatte der Meister selbst in Predigt 6 betont: „Wer den Unterschied begreift zwischen der Gerechtigkeit und dem Gerechten, der begreift alles, was ich sage.“ 4 Die Gedanken, die Eckhart in beiden deutschen Predigten entwickelt, hat er auch in seinem Kommentar zum Buch Weisheit dargestellt. Aus dem Sapientiakommentar ergibt sich weiter, dass iustitia zu 1

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K. Ruh, Geschichte der abendländischen Mystik, vol. 3: Die Mystik des deutschen Predigerordens und ihre Grundlegung durch die Hochscholastik, München 1996, 305; cf. id., Meister Eckhart. Theologe, Prediger, Mystiker, München 1985, 86. Cf. zum Beispiel J. Bernhart, Die philosophische Mystik des Mittelalters von ihren antiken Ursprüngen bis zur Renaissance, München 1922, ND Darmstadt 1967, 181. B. Mojsisch, Meister Eckhart. Analogie, Univozität und Einheit, Hamburg 1983, 5. Pr. 6 (DW I, 105).

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den perfectiones generales gehört, welche die Kernbegriffe seines Denkens bilden. Eckhart denkt systematischer, als manche Interpreten uns glauben machen wollen. Im Gegenzug zu einem gängigen Forschungsmodell vertrete ich die These: Jeder Deutung, die den ,Systematiker‘ Eckhart aus dem Auge verliert, haftet der Charakter des Willkürlichen und Beliebigen an. Der Terminus ,System‘ ist konnotativ beladen und hat in der heutigen Philosophie einen ungünstigen Klang, weil mit ihm die Vorstellung einer ,Systembaumeisterei‘ (N. Hartmann) im Stile des deutschen Idealismus verbunden wird. Aber was ist mit ,System/ Systematik‘ (Griechisch ,Zusammenstellung‘) eigentlich gemeint? In seiner ,Kritik der reinen Vernunft‘ (B 860) gibt Kant eine klare Bestimmung: „Ich verstehe aber unter einem Systeme die Einheit der mannigfaltigen Erkenntnisse unter einer Idee.“ ,System‘ meint nichts anderes als eine Ordnungseinheit, die Idee eines gegliederten Ganzen. Gegensatz ist das ,Aggregat‘, das ,Rhapsodische‘, das ,Fragmentarische‘. Wesentlich für diese Bestimmung ist die Einsicht, System in diesem Sinne sei nicht eine Qualität, die Wissen oder Denken zukommen oder nicht zukommen kann, sondern notwendige Bedingung der Wissenschaftlichkeit oder des Denkens. Ohne ,systematische‘ Einheit gibt es ein Aggregat von Gedanken, aber keine Philosophie oder Theologie. Die Frage nach dem ,Systematiker‘ Eckhart ist mithin keine Gewalttat des Interpreten, sondern eine für ihn verbindliche Frage.

II. Eckhar ts Projekt des ,Opus tripar titum‘ In Bezug auf Eckharts Denken verfügen wir über ein einzigartiges Dokument. Texte, in denen ein mittelalterlicher Autor das Ganze seines Werkes betrachtet und expressis verbis sein theologisch-philosophisches Programm formuliert, sind selten. Eckhart bietet einen solchen Text, denn im ,Allgemeinen Prolog‘ zum ,Opus tripartitum‘ legt er einen Gesamtentwurf seines Lebenswerkes vor. Ausführlich unterrichtet er den Leser erstens über die intentio auctoris, zweitens über die Gliederung (divisio) des opus totale und drittens über die Ordnung und Methode (modus procedendi) in dem Werk. Man würde erwarten, dass dieses einzigartige Dokument die Grundlage für eine systematische Deutung seines Denkens sein sollte, aber diese Erwartung bewahrheitet sich nicht 5. Über die 5

Eine eingehende Analyse des Prologs ist eher Ausnahme als Regel in der Forschung. Zu diesen Ausnahmen gehören die Studien von K. Albert, Meister Eckharts These vom Sein. Untersuchungen zur Metaphysik des Opus tripartitum, Kastellaun 1976; W. Goris, Einheit als Prinzip und Ziel. Versuch über die Einheitsmetaphysik des Opus tripartitum Meister Eckharts (Studien und Texte zur Geistesgeschichte des Mittelalters 59), Leiden-New York-Köln 1997, und A. de Libera, Maıˆtre Eckhart et la mystique rhe´nane, Paris 1999. Hilfreich ist der Kommentar von F. Brunner zur französischen Übersetzung, in: L’œuvre latine de Maıˆtre Eckhart, vol. 1: Le Commentaire de la Gene`se, pre´ce´de´ des Prologues, Paris 1984, 97-195.

Der ,Systematiker‘ Eckhart

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Gründe dafür werden wir später reden, zuerst soll die programmatische Bedeutung des Prologs herausgestellt werden. Zwei Aspekte möchte ich hervorheben: Eckharts neue Logik des Wissens und seinen ,Grundsatz‘. 1. Eine neue Logik des Wissens Eckhart beginnt die Darstellung seiner Intention mit ganz traditionellen Floskeln: Eifrige (studiosi) Mitbrüder drängten ihn, schriftlich niederzulegen, was sie von ihm in Vorlesungen (lectionibus) und anderen Unterrichtsformen (actibus scholasticis) wie auch in Predigten (praedicationibus) und täglichen Gesprächen (collationibus) zu hören gewohnt waren. Diese schriftliche Fixierung beabsichtigt Eckhart in drei Richtungen zu verfolgen: mit Bezug auf gewisse allgemeine und lehrsatzartige Thesen (propositiones), mit Bezug auf neue kurze Erklärungen verschiedener Fragen (quaestiones) und drittens mit Bezug auf ungewöhnliche (rara) Auslegungen (expositiones) zahlreicher Aussprüche der Heiligen Schrift 6. In dieser Zielsetzung erklingt bereits der Ton der Neuheit: ,neue‘ Erklärungen der Fragen, ,ungewöhnliche‘ Schriftauslegungen. Dennoch bleibt das eigentlich Innovative noch verborgen: Hinsichtlich des ersten Ziels könnte man sich fragen, ob die Formulierung allgemeiner Thesen wirklich einen von Eckhart behaupteten Übergang der ,scholastischen‘ Praxis zur Schriftlichkeit bildet. Folgen wir aber zunächst Eckharts Darstellung der divisio operis. Gemäß der dreifachen Zielsetzung gliedert sich das opus totale in drei Teile: das ,Werk der Thesen‘, das ,Werk der Fragen‘ und das ,Werk der Auslegungen‘. Das Werk der propositiones würde mehr als tausend Thesen enthalten. Entsprechend den Begriffen (termini), aus denen die Thesen gebildet werden, wird es in vierzehn Traktate eingeteilt. Eckhart erwähnt auch die Titel dieser Traktate, welche sozusagen die ,Grundworte‘ seines Denkens enthalten. Sie bilden, wie sich zeigen wird, den Schlüssel zur Interpretation seiner Metaphysik: Der erste Traktat handelt: Vom Sein (esse) und vom Seienden (ens), und von dessen Gegensatz: vom Nichts, der zweite: Von der Einheit und vom Einen, und von dessen Gegensatz, das ist das Viele, der dritte: Von der Wahrheit und vom Wahren, und von dessen Gegensatz: vom Falschen, der vierte: Von der Gutheit und vom Guten, und von dessen Gegensatz: vom Übel, der fünfte: Von der Liebe (amor) und der Gottesliebe (caritas), und von deren Gegensatz: von der Sünde,

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Prol. gen. in op. trip., n. 2 (LW I, 148-149).

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der sechste: Vom sittlich Guten (honestum), von der Tugend und vom Rechten, und von deren Gegensätzen: vom sittlich Schlechten, vom Laster und vom Unrechten, der siebte: Vom Ganzen und vom Teil, seinem Gegensatz, der achte: Vom Gemeinsamen (commune) und Ununterschiedenen, und von deren Gegensätzen: vom Eigenen und Unterschiedenen, der neunte: von der Natur des Oberen und von der des Niederen, seines Gegensatzes, der zehnte: Vom Ersten und vom Letzten, der elfte: Von der Idee und vom Grund (ratio), und von deren Gegensätzen: vom Formlosen und der Beraubung, der zwölfte: Von dem, wodurch etwas ist (quo est), und von dem, was ist (quod est), dem von jenem Unterschiedenen, der dreizehnte: Von Gott selbst, dem höchsten Sein, das keinen Gegensatz hat außer dem Nicht-Sein, der vierzehnte: Von der Substanz und vom Akzidens 7. Der zweite Teil des ,Opus‘ ist das Werk der quaestiones, die in der gleichen Reihenfolge wie in der ,Summa (theologiae)‘ „des hervorragenden Lehrers, des ehrwürdigen Bruders“ Thomas von Aquin behandelt werden. Jedoch werden nicht alle Fragen erörtert, „sondern nur wenige, wie sie sich, je nach Gelegenheit, bei Disputationen, Vorlesungen und Besprechungen ergaben“ 8. Der dritte Teil ist das Werk der expositiones, das wieder zweigeteilt ist. Es besteht erstens aus Auslegungen der Aussprüche (auctoritates) in den Büchern des Alten und Neuen Testamentes (die sich nach der Reihenfolge dieser Bücher gliedern) und zweitens aus Predigten, in denen einige Schriftworte mit besonderer Ausführlichkeit behandelt werden 9. Die Gliederung bezieht sich also auf die Unterscheidung von drei literarischen Gattungen, die verschiedenen Denkformen entsprechen - Thesen, Fragen und Auslegungen. Das Besondere ist jedoch, dass Eckhart sich nicht auf die divisio der drei Werke beschränkt, sondern beabsichtigt, sie in eine logisch-systematische Ordnung zu bringen. Die drei Teile des ,Opus‘ stehen nicht unverbunden nebeneinander, sondern bilden ein Ganzes. Ähnliches finden wir weder bei Albert dem Großen noch bei Thomas von Aquin oder Duns Scotus. Eckharts ,Opus tripartitum‘ hat kein Äquivalent im Mittelalter. Das Einzigartige des Werkes ist genauer zu bestimmen. Nach Kurt Ruh ist das ,Opus tripartitum‘ „angelegt als neuartige theologische ,Summe‘. Eckhart 7 8

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Prol. gen. in op. trip., n. 4 (LW I, 150-151). Prol. gen. in op. trip., n. 5 (LW I, 151). In der kritischen Edition der lateinischen Werke wird quaestio mit ,Problem‘ übersetzt, aber diese Übersetzung ist irreführend; quaestio ist ein scholastischer terminus technicus für eine ,Ob‘-Frage, die bejaht oder verneint werden kann. Cf. Prol. gen. in op. trip., n. 6 (LW I, 151).

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konnte sich offensichtlich nicht mit den Großformen der Hochscholastik, den Sentenzenkommentaren und Summen befreunden, wohl wegen ihrer ausgeprägten Systematik. Er liebte das Offene und behielt sich Neuorientierungen vor“. Es gehört zu seinen „großen Neuerungen“, dass er die Exegese „neben die scholastischen Formen der Thesen und Quästionen gestellt hat“ 10. Diese Deutung trifft einen richtigen Kern, die Zentralstellung der Exegese, ist aber fragwürdig mit Bezug auf Eckharts Verhältnis zur ,Systematik‘ und ,Scholastik‘. ,Scholastisch‘ sind diejenigen Formen, die mit der ,Schule‘, d. h. dem universitären Unterricht, zusammenhängen und durch ihre spezifischen Lehrformen geprägt sind; die ,Thesen‘ gehören nicht dazu. Die statutarisch festgelegten Aufgaben eines Magisters in der Theologie bestanden in der lectio, disputatio und praedicatio. Die quaestiones und expositiones sind deshalb die üblichen literarischen Gattungen der ,Scholastik‘; sie zählen zu dem, was Eckhart am Anfang des Prologs die ,Schulpraxis‘ (actibus scholasticis) nennt. Die propositiones dagegen gehören zur im 13. und 14. Jahrhundert nicht sehr häufig benutzten literarischen Gattung der Theoremata und stellen eine andere Wissenstradition dar 11. Diese andere Wissenstradition wird oft als ,Axiomatik‘ oder ,axiomatischdeduktiv‘ bezeichnet. Das Thesenwerk Eckharts habe einen „axiomatischen Charakter“, der „eine Revolution in der Methode der mittelalterlichen Theologie“ darstelle 12. Im Aufbau des ,Opus tripartitum‘ zeige sich „jene Erkenntnismetaphysik, die allen axiomatischen Propositions-Systemen zugrunde liegt, seit Platon in seiner Dialektik die Idee des an sich Guten sich von oben nach unten, von Genus zu Genus entfalten ließ“ 13. Nun soll man nicht über Namen streiten, jedoch ist die Bezeichnung ,Axiomatik‘ missverständlich und könnte Eckharts Projekt mit falschen Erwartungen belasten. Hinsichtlich des Thesenwerkes sind zwei Aspekte zu unterscheiden: sein Verhältnis zu den beiden anderen Teilen des ,Opus‘ und das Werk selbst. Letzteres ist mehr eine ,Theorematik‘ als eine ,Axiomatik‘ 14. Theoremata-Texte 10 11

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Ruh, Geschichte (nt. 1), 292-296. Interessant ist in dieser Hinsicht das Werk des Aegidius Romanus. Er behandelt zweimal die Frage nach der Zusammensetzung aus ,Wesen‘ und ,Sein‘, erst in theorematischer Form (,Theoremata de esse et essentia‘), später in der Form von quaestiones disputatae. De Libera, Maıˆtre Eckhart (nt. 5), 55 sqq.; id., Gene`se et structure des me´taphysiques medie´vales, in: J.-M. Narbonne/L. Langlois (eds.), La me´taphysique, son histoire, sa critique, ses enjeux, Paris - Que´bec 1999, 159-181, bes. 176-177. J. Hirschberger, Geschichte der Philosophie, vol. 1: Altertum und Mittelalter, Freiburg-BaselWien 141987, 550. Er fährt fort: „Systemen also, wie sie vorliegen in den Propositionen der Sententiae ad intelligibilia ducentes des Porphyrios, der Elementatio theologica des Proklos, des Liber de causis, der Maximae theologiae des Alanus ab Insulis, des Liber de intelligentiis und des Buches der 24 Meister.“ Zu diesem Fragekomplex siehe die Studien von M. Dreyer und J.-L. Sole`re: M. Dreyer, Die literarische Gattung der Theoremata als Residuum einer Wissenschaft more geometrico, in: M. J. F. M. Hoenen/J. H. J. Schneider/G. Wieland (eds.), Philosophy and Learning. Universities in the Middle Ages, Leiden-New York-Köln 1995, 123-135; id., Wissenschaft als Satzsystem. Die Theoremata des Johannes Duns Scotus und die Entwicklung des kategorisch-deduktiven Wissenschaftsbegriffs, in: L. Honnefelder e. a. (eds.), John Duns Scotus. Metaphysics and Ethics,

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formulieren zu einem bestimmten Thema eine Reihe von Sätzen samt dazugehörender Erläuterungen oder Beweise, wobei im Idealfall die Thesen eine deduktive Ordnung besitzen. Der Anfang des Satzsystems ist also kein selbstevidenter Satz, d. h. kein Axiom. In seiner ,Rechtfertigungsschrift‘ kommt Eckhart auf die erste Proposition seines Thesenwerkes zurück, weil sie von den Kölner Inquisitoren inkriminiert wurde. Er verteidigt die These und bemerkt, dass sie durch fünf Argumente bewiesen wird (probatur) 15. Gemäß dieser Selbstaussage vertritt das ,Opus propositionum‘ eine Theorematik. Das formale Vorbild des Thesenwerkes war der ,Liber de causis‘, eine Schrift, die Eckhart im ,Prologus generalis‘ zitiert und die seinem Denken inhaltlich nahe steht 16. Das von einem anonymen arabischen Autor verfasste und im 12. Jahrhundert ins Lateinische übersetzte Buch enthält 31 Thesen, deren Gültigkeit im anschließenden Kommentar aufgewiesen wird. Der ,Liber‘ wurde im 13. Jahrhundert von Albert dem Großen und Thomas von Aquin kommentiert. In seinem Kommentar bemerkt Albert zur Methode des Buches, dass die Schrift auf theorematische Weise („per modum theorematum“) angeordnet sei und dass zu den Thesen jeweils ein Kommentar hinzugefügt werde, der nichts anderes als ein Beweis des diesbezüglichen Satzes sei 17. Eckhart hat unverkennbar ein Interesse an theorematischen Schriften. Häufiger als jeder andere Autor im Mittelalter zitiert er den ,Liber XXIV Philosophorum‘, eine im 12. Jahrhundert entstandene Sammlung von 24 Propositionen über Gott, die jeweils mit wenigen Sätzen erläutert werden 18. Eine weitere Schrift, welche Eckhart im ,Allgemeinen Prolog‘ zitiert, ist Boethius’ Traktat ,De hebdomadibus‘, der dem Modell der Axiomatik folgt. Ausgangspunkt ist die Frage ,Wie Substanzen in dem, was sie sind (in eo quod sint), gut sind, obwohl sie nicht substantiell gut sind?‘ 19 Zur Beantwortung der Frage führt Boethius more geometrico 9 Axiome an, die er „communes animi conceptiones“ nennt, auf deren

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Leiden-New York-Köln 1996, 87-105; J.-L. Sole`re, Ne´oplatonisme et Rhe´torique: Gilles de Rome et la premie`re proposition du De Causis, in: L. Benakis (ed.), Ne´oplatonisme et philosophie me´die´vale, Turnhout 1997, 163-196; id., Maıˆtre Eckhart, Proclus et Boe`ce: Du statut des Prologues dans l’,axiomatique‘ ne´oplatonicienne, in: J. Hamesse (ed.), Les prologues me´die´vaux, Turnhout 2000, 535-571; cf. A. Niederberger, Zwischen De hebdomadibus und Liber de causis Einige Bemerkungen zu Form und Argumentation der Regulae theologiae des Alanus ab Insulis, in: Convenit Selecta 5 (2000), 47-52. Cf. Proc. Col. I, n. 117 (LW V, 289). Cf. W. Beierwaltes, Primum est dives per se. Meister Eckhart und der Liber de Causis, in: E. P. Bos/P. A. Meyer (eds.), On Proclus and His Influence in Medieval Philosophy, Leiden-New York-Köln 1992, 141-169. Albertus Magnus, De causis et processu universitatis a prima causa II, tract. I, c. 1, ed. W. Fauser (ed. Colon. 17/2), Münster 1993, 59: „[…] per modum theorematum ordinans ea quorum commentum ipsemet adhibuit […]. quod nihil aliud est nisi theorematis propositi probatio.“ Cf. Ruh, Geschichte (nt. 1), 33-44. Boethius, Quomodo substantiae in eo quod sint bonae sint cum non sint substantialia bona, in: H. F. Stewart e. a. (eds.), Boethius. The Theological Tractates and The Consolation of Philosophy, Cambridge, Mass. 1973; dt. Übers. in: A. M. S. Boethius, Die Theologischen Traktate, übers., eingel. u. mit Anm. versehen v. M. Elsässer, Hamburg 1988.

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Grundlage das Problem der Gutheit der Dinge gelöst werden kann. Der XII. Traktat in Eckharts Thesenwerk, der von quo est und quod est handelt, rekurriert auf eines dieser Axiome. Boethius’ Abhandlung ist auch insofern für Eckharts Projekt vorbildhaft, als sie das Ideal eines axiomatischen Wissens mit der scholastischen Form der quaestio verbindet. Das eigentlich Innovative in Eckharts Projekt des ,Opus tripartitum‘ besteht in einer neuen Logik des Wissens: Er verknüpft das propositionale Modell des Wissens mit der scholastischen Tradition, und zwar in dem Sinne, dass die propositio für die quaestio und expositio logisch bestimmend ist. Im ,Allgemeinen Prolog‘ macht Eckhart nach der Darstellung der divisio des ,Opus‘ drei Vorbemerkungen, die er offensichtlich als wesentlich für das Verständnis des ganzen Werkes betrachtet. Die ersten zwei sind inhaltlicher Art, die dritte Vorbemerkung bezieht sich auf die Ordnung des ,Opus tripartitum‘: „Drittens und letztens ist vorher zu bemerken, daß das zweite Werk und gleichfalls das dritte so von dem ersten Werk, nämlich dem der Thesen, abhängen, daß sie ohne es nur von geringem Nutzen sind, weil sich die Erklärungen der Fragen und die Auslegungen der Schriftworte (auctoritates) meistens auf eine der Thesen gründen ( fundantur).“ 20

Eckharts Projekt findet seine systematische Grundlegung im Thesenwerk; ohne dieses sind die beiden anderen Teile „nur von geringem Nutzen“. Man könnte sich fragen, ob die Einbeziehung des Thesenwerkes in das ,Opus‘ nicht eine ganz bewusste Scholastikkritik impliziert. Eckharts Kritik betrifft jedoch nicht, wie Kurt Ruh meint, ihre „ausgeprägte Systematik“, sondern gerade den Mangel daran. Im Zentrum der scholastischen Methode steht die quaestio, eine konkrete Frage, die bejaht oder verneint werden kann. Nehmen wir z. B. die zweite ,Frage‘ aus der ,Summa theologiae‘ des Thomas von Aquin, die Eckhart als Modell für sein ,Werk der Fragen‘ diente. Zur Beantwortung der Frage (S. th. I, q. 2, a. 3) ,Ob Gott ist?‘ zeigt Thomas fünf ,Wege‘ auf, die zum Dasein Gottes führen. Sie sind alle Ursächlichkeitsbeweise, die sich auf verschiedene Arten von Kausalität gründen. Aber was Kausalität ist und wie sie zu differenzieren ist, wird in Thomas’ Darstellung nicht herausgestellt, sondern vielmehr vorausgesetzt. In Eckharts Projekt ist jedoch dem ,Werk der Fragen‘ das Thesenwerk vorgeordnet. Gerade die ,scholastische‘ Praxis könnte ihn zu dieser Entscheidung bewegt haben. 2. Eckharts ,Grundsatz‘ In der zweiten Hälfte des Prologs erläutert Eckhart seine Verfahrensweise mit Bezug auf das gesamte Werk durch ein Beispiel. Er behandelt die erste propositio ,Das Sein ist Gott‘ (,Esse est deus‘), die erste quaestio ,Ob Gott ist?‘ und 20

Prol. gen. in op. trip., n. 11 (LW I, 156).

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die erste auctoritas ,Im Anfang hat Gott Himmel und Erde geschaffen‘ (Gen. 1, 1). Nacheinander zeigt er die Erklärung der These, die Lösung der quaestio aufgrund dieser These und die Auslegung des Schriftwortes aufgrund derselben These. Der Ausdruck modus procedendi könnte nahe legen, dass der zweite Teil des Prologs nur der methodischen Erhellung dient. In Wirklichkeit ist Eckharts exemplarische Ausarbeitung seiner Vorgehensweise jedoch nicht nur für die systematische Ordnung des ,Opus tripartitum‘ aufschlussreich, sondern auch inhaltlich für das philosophische Anliegen des Projekts. Das inhaltliche Moment tritt sogleich in der Darstellung der ersten These hervor. Die erste These kann als der ,Grundsatz‘ des ,Opus propositionum‘ betrachtet werden, da am Schluss des Prologs gefolgert wird, dass aus jener These fast alle Fragen über Gott gelöst und die Schriftworte über ihn ausgelegt werden können. Zuerst ist die Eigenart der These zu berücksichtigen, dann werden wir Eckharts fünf Beweise für die These analysieren und schließlich die von ihm nicht explizierten Voraussetzungen der Argumentation kurz darlegen. 2.1 Die Eigenart der These Der Grundsatz bringt eine eigentümliche Ansicht Eckharts zum Ausdruck, die erst klar hervortritt, wenn man beachtet, was die These nicht sagt. Die erste These lautet nicht: ,Deus est esse‘ (obwohl sich auch dieser Satz sehr oft in Eckharts Werken belegen lässt), sondern ,Esse est deus‘. Es gibt einen bloß formalen Grund, der nahe legt, warum es von Belang ist, dass in Eckharts Satz das Sein, und nicht Gott, an der Subjektstelle steht. Die Subjektstellung eines Terminus ist für die Einordnung einer These in die Traktate des ,Opus propositionum‘ bestimmend. Eckharts Grundsatz gehört zum I. Traktat (,De esse‘), nicht zum XIII. Traktat (,De deo‘). Man könnte sich fragen, welche Relevanz die Umstellung des Satzes besitzt. Macht es in Aussagen über Gott einen Unterschied zu sagen A=B oder B=A? Ein interessantes Beispiel dafür, dass die Konvertibilität nicht selbstverständlich ist, bildet Anselms von Canterbury Dialog ,De veritate‘. Ausgangspunkt ist der (Glaubens)Satz ,Deus est veritas‘, aber inwiefern gilt nun auch ,Veritas est deus‘? Der Schüler beginnt den Dialog mit einer Bemerkung, die sofort zum Kern des Problems führt: „Da wir glauben, daß Gott die Wahrheit ist und [da] wir sagen, daß Wahrheit in vielem anderen ist, möchte ich wissen, ob wir, wo immer von Wahrheit gesprochen wird, gestehen müssen, daß sie Gott ist.“ 21 Ist Eckharts Theorem, wie behauptet worden ist, „rein scholastisch“ 22 ? In der scholastischen Theologie wird die Identität von Gott und Sein in zwei Zu21

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Anselm von Canterbury, De veritate, c. 1, ed. und übers. v. F. S. Schmitt, Stuttgart 1966, 36: „Quoniam Deum veritatem esse credimus, et veritatem in multis aliis dicimus esse, vellem scire, an ubicumque veritas dicitur, Deum eam esse fateri debeamus.“ W. Bange, Meister Eckeharts Lehre vom göttlichen und geschöpflichen Sein, Limburg an der Lahn 1937, 28.

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sammenhängen thematisiert. Der eine Kontext ist die Frage nach der Einfachheit Gottes: Von ihm sind alle für das endliche Seiende kennzeichnenden Formen der Zusammengesetztheit zu verneinen; Gott ist das Sein selbst (ipsum esse). Der andere Kontext ist die Abhandlung über ,die Namen Gottes‘, die angesichts der Vielheit dieser Prädikate fragt, welcher der eigentliche oder primäre Name Gottes sei. In dieser Debatte haben viele mittelalterliche Denker, z. B. Thomas von Aquin (S. th. I, q. 13, a. 11), die Auffassung vertreten, dass ,Sein‘ oder ,Seiendes‘ der adäquateste Gottesname sei 23. In Eckharts These aber ist der Satzgegenstand nicht Gott, dem das Seinsprädikat zugesprochen wird, sondern das Sein steht an der Subjektstelle der Aussage. Sein Grundsatz lautet: ,Esse est deus‘; sein Ausgangspunkt ist die Evidenz des Seins. Insofern ist Eckharts These nicht „rein scholastisch“. Man hat versucht, die Originalität des Eckhart’schen Grundsatzes durch den Hinweis zu relativieren, dass er im Neuplatonismus ein bestimmendes Vorbild hat 24. Der ,Liber de causis‘ versteht sich auch als Untersuchung des esse, weil die zweite These sagt: „Jedes höhere Sein ist entweder über der Ewigkeit und vor dieser oder mit der Ewigkeit oder nach der Ewigkeit und über der Zeit.“ Im Kommentar zu dieser These wird dann „das Sein, das vor der Ewigkeit ist“, mit der ersten Ursache, d. h. mit Gott, identifiziert. Eckharts These ist jedoch viel radikaler als diejenige im ,Liber de causis‘; sie gründet sich nicht auf eine Seinshierarchie und spezifiziert das mit Gott identische Sein nicht durch eine Hinzufügung. Seine These ist in ihrer Radikalität eine Eigenlehre. 2.2 Die Beweise für die These Die prima propositio wird durch fünf Argumente bewiesen, die eine gleiche formale Struktur besitzen 25. Um klarzumachen, dass der Subjekt- und Prädikatterminus nicht zwei distinkte Realitäten bezeichnen, wendet Eckhart mit großer Stringenz die Logik der consequentiae an. Das antecedens jedes Beweises lautet: „Wenn das Sein etwas anderes als Gott ist“ („Si esse est aliud quam Deus“). Eckhart zeigt, dass dieses jeweils zu einer falschen Konsequenz führt und das antecedens deshalb zu verneinen ist (der sog. modus tollens). Das erste Argument ist recht kompliziert: „Wenn das Sein etwas anderes ist als Gott, so ist Gott nicht und ist nicht Gott. Denn wie ist das oder wie ist es etwas, von dem das Sein verschieden, dem es fremd und von dem es unterschieden ist? Oder wenn Gott ist, so ist er in jedem Falle durch 23

24 25

Auch Eckhart hatte eine quaestio über die göttlichen Namen vorgesehen. Cf. In Ex., n. 24 (LW II, 30). Er verweist auf Thomas’ Darstellung in In Ex., n. 161 (LW II, 142): „De hoc nomine [Qui est] dicit Damascenus, quod ipsum est primum nomen dei, cuius tres rationes pulchras assignat Thomas p. I, q. 13 a. 11.“ Cf. Mojsisch, Meister Eckhart (nt. 3), 44. Es handelt sich um fünf selbständige Argumente, nicht, wie Mojsisch meint, um kumulative.

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etwas anderes, da das Sein etwas anderes ist als er. Also ist Gott und das Sein dasselbe oder Gott hat das Sein von einem anderen. Und so ist er nicht Gott, wie vorausgeschickt wurde, sondern etwas anderes, Früheres als er und das ist (dann) die Ursache dafür, daß er ist.“ 26

Der Beweis geht von einem zweifachen Verständnis des Terminus aliud im Antezedens „Wenn das Sein etwas anderes als Gott ist“ aus: zuerst als dasjenige, was dem Sein fremd (alienum) und vom Sein verschieden (distinctum) ist, dann als dasjenige, was das Sein von einem anderen (ab alio) hat 27. Wenn der Vorsatz im ersten Sinne verstanden wird, dann ist die Konsequenz (a), dass Gott nicht ist und nicht Gott ist, weil, was vom Sein verschieden ist, weder ist noch etwas (aliquid) ist. Das gilt allerdings für jedes (x) (,Mensch‘, ,Baum‘), weil jedes (x), das vom Sein getrennt ist, nicht ist und nicht (x) ist. Wenn aber die Differenz zwischen Sein und Gott im zweiten Sinne gefasst wird, dann gibt es eine Konsequenz (b), die nicht für jedes (x) gilt. Wenn Gott ist, aber das Sein ab alio hat, dann ist nicht er Gott, sondern etwas anderes, Früheres (prius) als er, das die Ursache seines Seins ist. Die Kraft des Arguments besteht also darin, dass in beiden Fällen - entweder, wenn Gott nicht ist oder wenn er ist, aber ab alio - Gott nicht Gott ist. Diese Identität ist nur gewährleistet, wenn das Sein mit Gott identisch ist. Der zweite Beweis argumentiert von einer anderen Perspektive her, nämlich vom Sein der Dinge. „Wenn das Sein etwas anderes als Gott ist“, haben die Dinge das Sein von etwas anderem als von Gott. Begründung des (falschen) Nachsatzes: Alles, was ist, ist durch das Sein und von dem Sein 28. Der dritte Beweis bezieht den Schöpfungsbegriff in die Argumentation mit ein: Creatio ist Seinsmitteilung aus dem Nichts. Das Verhältnis des Seins zum Seienden wird durch das albedo-Beispiel erklärt, das häufig in Eckharts Metaphysik auftritt. „Wenn das Sein etwas anderes als Gott ist“, müsste der Schöpfer der Dinge etwas anderes als Gott sein. Begründung: Vor dem Sein ist nichts. Wer also Sein mitteilt, ist Schöpfer, da ,Schaffen‘ ,aus dem Nichts Sein geben‘ ist. Es steht aber fest, dass alles Sein vom Sein hat, wie alle weißen Dinge (alba) von der Weiße (albedo) sind 29. Der vierte Beweis hängt eng mit dem dritten zusammen und benutzt das gleiche albedo-Beispiel. „Wenn das Sein etwas anderes als Gott ist“, müssten die Dinge ohne Gott sein können und ist Gott nicht die erste Ursache der Dinge und die Seinsursache. Begründung: Alles, was Sein hat, ,ist‘, so wie alles, was Weiße (albedo) hat, weiß (album) ist 30. Der fünfte Beweis geht vom im dritten Beweis explizierten Seinsverständnis aus („Außerhalb des Seins und vor dem Sein ist allein das Nichts“) und greift dann auf die Argumentationsweise des ersten Beweises zurück. „Wenn das Sein 26 27 28 29 30

Prol. gen. in op. trip., n. 12 (LW I, 156-157). In Ex., n. 106 (LW II, 107): „Alienum enim ab alio dictum est.“ Cf. Prol. gen. in op. trip., n. 12 (LW I, 157). Cf. Prol. gen. in op. trip., n. 12 (LW I, 157). Cf. Prol. gen. in op. trip., n. 12 (LW I, 157-158).

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etwas anderes als Gott ist“, wäre Gott nichts oder wäre er von etwas Früherem als er. Der Beweis schließt mit der Wendung: Dieses Frühere wäre dann der Gott für Gott und aller Dinge Gott 31. 2.3 Voraussetzungen Die erste These ist kein selbstevidenter Satz, sondern ein Theorem, das durch fünf Argumente bewiesen wird. Die Logik der consequentiae setzt ein bestimmtes Verständnis beider Termini der Aussage voraus; Eckhart erläutert sein Seinsverständnis sowie sein Gottesverständnis jedoch nicht näher. Gewisse Momente seines Seinsverständnisses werden allerdings in den Begründungen der Nachsätze greifbar: - Der Sinn des Seinsbegriffs wird aus seinem Gegensatz zum Nichts bestimmt: Was vom Sein verschieden ist, ist nicht und ist nichts (Arg. 1). Außerhalb des Seins und vor dem Sein ist nur das Nichts (Arg. 3 und 5). - Esse ist Ursache und Prinzip, Anfang und Grund des Seienden (ens). Jedes Seiende hat vom Sein, dass es ist. Dieses Moment verbindet Eckhart mit dem Schöpfungsbegriff. - Die Differenz zwischen esse und ens wird durch das Beispiel des Verhältnisses eines abstrakten Terminus (albedo), der eine Form oder Vollkommenheit ohne die Beziehung zum Träger bezeichnet, zum konkreten Terminus (album), der die Form in concretione zum Träger bezeichnet, erläutert. Aber was heißt abstractum hier? Das albedo-Beispiel ist missverständlich, weil es suggerieren könnte, dass Eckhart das Sein als innere Formursache versteht. Eckharts Verständnis dessen, was mit der Vokabel ,Gott‘ gemeint ist, kommt nur indirekt in seiner Ablehnung der Konsequenzen zum Ausdruck: Gott ist das Erste, Seinsursache, Schöpfer. Weiteres Licht auf sein Verständnis wird durch eine Quelle geworfen, auf welche Eckhart in seiner Verteidigung der ersten These in der ,Rechtfertigungsschrift‘ verweist und die er öfters zitiert: „Siehe hierzu die eingehende Erörterung Bernhards im V. Buch seiner Schrift ,De consideratione (ad Eugenium papam)‘.“ 32 Bernhard von Clairvaux stellt sich im V. Buch (6, 13-15) die Frage ,Wer/was ist Gott?‘ 33 Seine Antworten sind: 31

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Cf. Prol. gen. in op. trip., n. 12 (LW I, 158). Deshalb kann Eckhart dieses Argument auch gegen den Polytheismus verwenden. Cf. In Ex., n. 103 (LW II, 104; zu Ex. 20, 3: ,Non habetis deos alienos‘): „Octavo: quicumque habetur sive dicitur deus esse et non est ipsum esse, sed aliquid aliud, aut erit ens sine esse, aut habet esse ab alio. Sed primum est impossibile. Secundum vero si dicatur, iam non est deus, qui accipit esse ab alio.“ Eckharts Verhältnis zu Bernhard von Clairvaux verdient eine weitere Untersuchung. Cf. B. McGinn, St. Bernard and Meister Eckhart, in: Cıˆteaux 31 (1980), 372-386; G. Steer, Bernhard von Clairvaux als theologische Autorität für Meister Eckhart, Johannes Tauler und Heinrich Seuse, in: K. Elm (ed.), Bernhard von Clairvaux. Rezeption und Wirkung im Mittelalter und in der Neuzeit, Wiesbaden 1994, 233-259. Bernhard von Clairvaux, De consideratione, eds. J. Leclercq/H. M. Rochais (S. Bernardi Opera III), Rom 1963, 477-479.

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- ,Qui est‘ (Ex. 3, 14). In seiner Auslegung des Satzes ,Ich bin, der ich bin‘ zitiert Eckhart Bernhards Ausführungen zu dieser Antwort: „Wenn du von Gott aussagen möchtest, daß er gut, groß, selig, weise oder etwas Ähnliches ist, so ist das in diesem Wort enthalten, daß er ist: Er ist […]. Wenn du einmal dieses so einzigartige und höchste Sein betrachtet hast, kommst du dann nicht zum Schluß, daß im Vergleich damit alles, was nicht auf diese Weise ist, mehr vom Nicht-Sein als vom Sein an sich hat?“ 34 - , Sine quo nihil est‘ ( Joh. 1, 3). Dieser Text spielt, wie wir sehen werden, eine wichtige Rolle in Eckharts Überlegungen. In seinem Sapientiakommentar zitiert er Bernhards Ausführungen zu dieser Antwort: „So sehr ist nichts ohne ihn, wie auch er selbst nicht ohne sich sein kann. Er ist sich, er ist allem das Sein. Dadurch ist er in gewissem Sinn allein, er, der sein eigenes Sein und aller Dinge ist.“ 35 - ,Principium‘ ( Joh. 8, 25). Was einen anderen Ursprung hat, ist nicht das Erste (primum). - ,Ex quo omnia, per quem omnia, in quo omnia‘ (Röm. 11, 36). Der Schöpfer-Gott machte alles durch sich (per se) und in sich (in se). Woraus? Aus dem Nichts. - ,Quo nihil melius cogitari potest‘. In Sermo XXIX (,Deus unus est‘), n. 295, erläutert Eckhart das Wort ,Gott‘ durch die berühmte Formel Anselms von Canterbury (,Über das hinaus nichts Besseres gedacht werden kann‘) und zitiert anschließend Bernhard. Aufgrund dieses Seins- und Gottesverständnisses wird Eckharts These verständlich. Das Sein ist Erstes und Prinzip. Wenn das Sein von Gott verschieden ist, wäre Gott nicht Gott: Er wäre nicht dasjenige, über das hinaus nichts Besseres gedacht werden kann. Nur wenn ,Esse est deus‘, gilt ,Deus est deus‘. Wir können hier nicht im Detail untersuchen, wie Eckhart in der Fortsetzung des Prologs die Grundlegungsfunktion des Thesenwerkes für die zwei anderen Teile des ,Opus‘ zeigt. Er beantwortet die erste quaestio ,Ob Gott ist?‘ „auf der Grundlage der ersten These“ („ex propositione iam declarata“) durch vier Argumente 36. Auf Grund derselben These, so führt er aus, wird das erste Schriftwort ,In principio creavit deus caelum et terram‘ vierfach ausgelegt 37. Am Ende des ,Allgemeinen Prologs‘ betont der Meister selbst noch einmal die grundlegende Bedeutung der ersten These und den ,rationalistischen‘ Charakter seines Vorgehens: „Schließlich ist zu bemerken: aus der ersten These lassen sich, wenn sie richtig abgeleitet werden (deducantur), alle oder doch fast alle Fragen über Gott leicht lösen und die Schriftworte über ihn - auch die dunklen und schwierigen - durch die natürliche Vernunft (ratio naturalis) leicht auslegen.“ 38 34 35 36 37 38

In Ex., n. 18 (LW II, 24 sq.). In Sap., n. 90 (LW II, 423 sq.). Cf. Prol. gen. in op. trip., n. 13 (LW I, 158). Cf. Prol. gen. in op. trip., n. 14 (LW I, 159). Prol. gen. in op. trip., n. 22 (LW I, 165).

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Fassen wir die Ergebnisse zusammen: Eckharts Projekt des ,Opus tripartitum‘ hat kein Äquivalent im Mittelalter; das Einzigartige besteht in der Grundlegungsfunktion des Thesenwerkes für die ,scholastischen‘ Werke der Fragen und der Auslegungen. Eckharts Darstellung seiner Methode bestätigt diese formal-logische Struktur und ruft ein ganz anderes Bild hervor als das eines ,fragmentarischen‘ Denkers, der jeder ,Systematik‘ abgeneigt war. Der ,Allgemeine Prolog‘ zeigt vielmehr einen Autor, der im ,Opus tripartitum‘ eine neue Architektonik des Wissens intendiert, systematisch in ihrem Anspruch, originell in ihrem Grundsatz, radikal in ihrer Methode, ausgeprägt in ihrer Rationalität. III. Einwendung en: Ideal und Wirklichkeit In der Forschung wird der ganzheitliche Anspruch des Prologs zwar anerkannt, seine programmatische Bedeutung aber meistens aus mehreren Gründen nivelliert und relativiert. Ein Hauptgrund liegt in dem Bann, in dem das Forschungsparadigma einer Entwicklungsgeschichte die Eckhart-Deutung hält: Es gibt nicht einen Eckhart, sondern mehrere. Man fühlt sich, so gesteht Ernst Reffke, zu dieser Hypothese ,gezwungen‘, weil man keinen anderen Weg sieht, widersprüchliche Aussagen Eckharts zu erklären 39. Dieses Paradigma hat in extremis dazu geführt, dass in Eckharts denkerischer Entwicklung nicht weniger als drei ,Wenden‘ unterschieden werden. Diese drei ,Wenden‘ werden an drei ganz verschiedenartigen Texten festgemacht. Wende (I) vollzieht sich in der ersten Pariser Quästion (1302-03), dem am meisten diskutierten Text Eckharts. Der Zentralgedanke in dieser Quästion beinhaltet einen Bruch mit dem frühen ,thomistischen‘ Eckhart: ,Deus est intelligere‘, er ist nicht ,Seiendes‘ und hat kein Sein 40. Wende (II) zeigt sich im ,Opus tripartitum‘, in dem Eckhart anscheinend seine Aussagen über die Seinslosigkeit Gottes revidiert: ,Esse est deus‘. Wende (III) wird mit dem Zweiten Genesiskommentar verbunden. Eckhart habe das Projekt des ,Opus tripartitum‘ aufgegeben und ein neues Unterfangen begonnen, dessen einzig abgefasster Teil der ,Liber parabolarum Genesis‘, der sog. Zweite Genesiskommentar, ist 41. Das Paradigma 39

40 41

E. Reffke, Studien zum Problem der Entwicklung Meister Eckharts im Opus tripartitum, in: Zeitschrift für Kirchengeschichte 67 (1938), 19: „Das Problem einer Entwicklung Meister Eckharts ist eine der Hauptfragen der Eckhart-Forschung von Anfang an. Denn das auf uns gekommene Gut deutscher und lateinischer Texte Meister Eckharts ist im ganzen wie im einzelnen so verschiedenartig und in seinen Zusammenhängen oft so rätselhaft, daß man zu der Annahme einer Entwicklung, die ein Verständnis dieser Widersprüche ermöglichen kann, gezwungen wird.“ Cf. Mojsisch, Meister Eckhart (nt. 3), 21 sqq. Cf. L. Sturlese, Meister Eckhart. Ein Porträt (Eichstätter Hochschulreden 90), Regensburg 1993, 17; id., Meister Eckhart in der Bibliotheca Amploniana. Neues zur Datierung des ,Opus tripartitum‘, in: A. Speer (ed.), Die Bibliotheca Amploniana. Ihre Bedeutung im Spannungsfeld von Aristotelismus, Nominalismus und Humanismus (Miscellanea Mediaevalia 23), Berlin-New York 1995, 446.

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einer Entwicklungsgeschichte hat das Eckhartbild zersplittert: Der Interpret kann unterm Strich über vier Eckharts verfügen, aber soll man ihn mit dieser Errungenschaft glücklich preisen? Nun ist die Voraussetzung, auf der die entwicklungsgeschichtliche Hypothese beruht, eine etablierte Chronologie, aber gerade diese ist im Fall des ,Opus tripartitum‘ höchst unsicher. Der zeitliche Ursprung des ,Opus‘ wird gewöhnlich auf Eckharts zweite Professur in Paris (1311-13) zurückgeführt; Loris Sturleses Untersuchung zur Handschrift Fol. 181 in der Bibliotheca Amploniana in Erfurt, welche die älteste Fassung des ,Opus tripartitum‘ enthält, stellt diese Chronologie jedoch in Frage. Aufgrund einer minutiösen Analyse ist der italienische Forscher zu dem Schluss gelangt, dass die erste Schicht des ,Opus tripartitum‘ früher (1305) zu datieren ist, als man bisher angenommen hatte. Das Ergebnis seiner Untersuchungen hat, wie er feststellt, unmittelbare Konsequenzen für die Eckhart-Deutung. Die Unterscheidung zwischen einem ,frühen‘ und einem ,späten‘ Eckhart ist nicht mehr haltbar. Man muss vielmehr von einer „grundlegenden Einheit“ in Eckharts Werk ausgehen, „waren doch die ,Prologi in Opus tripartitum‘, d. h. der Plan für Eckharts Lebenswerk, tatsächlich bereits vorhanden, bevor die ,Quaestiones Parisienses‘ vorgetragen wurden“ 42. Gegen das im Vorangehenden entwickelte Bild des ,Systematikers‘ Eckhart lässt sich noch ein weiteres Bedenken geltend machen. Das Bild, so könnte man gemäß dem Gemeinspruch Kants einwenden, mag in der Theorie richtig sein, es taugt aber nicht für die Forschungspraxis, weil Eckharts Projekt des ,Opus tripartitum‘ tatsächlich ein Torso geblieben ist. Er hat das im ,Allgemeinen Prolog‘ dargestellte Programm nie verwirklicht; seine systematische Absicht ist im Ideal stecken geblieben. Was uns überliefert worden ist, sind nur beträchtliche Partien des ,Werkes der Auslegungen‘: die Kommentare zu Genesis, Exodus, Ecclesiasticus c. 24, dem Johannes-Evangelium, noch einmal zu Genesis sowie Predigtentwürfe. Der erste und zweite Teil des ,Opus‘ sind, abgesehen von den Prologen, nicht erhalten; wahrscheinlich haben sie nie existiert. Vor allem das Fehlen des Thesenwerkes, der Grundlage des Projekts, wiegt schwer. Wenn laut Eckhart selbst die anderen zwei Teile des ,Opus‘ ohne dieses „nur von geringem Nutzen“ sind, scheint die hermeneutische Basis für eine Gesamtdeutung des Eckhart’schen Werkes zu fehlen. Wir kennen die erste Proposition, so Alain de Libera, aber nicht die 999 anderen 43. Durch die Diskrepanz zwischen Ideal und Wirklichkeit scheint jeder Versuch, das Denken Eckharts systematisch zu umreißen, zum Scheitern verurteilt. Der Meister ist nolens volens ein fragmentarischer Denker. Loris Sturlese ist noch einen Schritt weitergegangen: Das ,Opus tripartitum‘ ist ein Torso geblieben, weil Eckhart die Arbeit daran nach der Abfassung des Johanneskommentars ,eingestellt‘ habe. Zu einem bestimmten Zeitpunkt wahrscheinlich nach seiner zweiten Professur in Paris (1311-1313) - habe er 42 43

Sturlese, Meister Eckhart in der Bibliotheca Amploniana (nt. 41), 434-446, bes. 445. Cf. de Libera, Maıˆtre Eckhart (nt. 5), 57.

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den in den Prologen entworfenen systematischen Plan ,aufgegeben‘. Es gebe somit wirklich eine ,Wende‘ in Eckharts Werk: Er begann mit einem ganz neuen Unterfangen, dem ,Liber parabolarum rerum naturalium‘. Sturlese, der die Hypothese einer Wende zwischen den Pariser Quästionen und dem ,Opus tripartitum‘ kritisiert hatte, greift in seiner Deutung nun doch wieder auf das entwicklungsgeschichtliche Paradigma zurück und führt aufs Neue eine ,Wende‘ in Eckharts Denken ein 44. Der Torso-Charakter des ,Opus tripartitum‘ lässt sich natürlich nicht verneinen, und insofern hat der Einwand Recht. Das Fehlen des Thesenwerkes wird die Eckhart-Deutung immer begleiten und belasten 45. Dennoch gibt es keinen Anlass zur Resignation: Aus drei Gründen ist an der systematischen Bedeutung des ,Allgemeinen Prologs‘ für die Deutung des Gesamtwerkes Eckharts festzuhalten. (i) Es ist einfach nicht wahr, dass, wie Alain de Libera meint, wir nur die erste These des ,Opus propositionum‘ kennen (aber nicht die 999 anderen). In den überlieferten Werken des ,Opus‘ bezieht sich Eckhart wiederholt auf die Grundlegungsfunktion des Thesenwerkes: Seine Bibelkommentare und Predigten enthalten mehr als 20 explizite Verweise auf bestimmte Thesen im ,Opus propositionum‘. Wir geben die vollständige Liste der Verweise an 46: (1) In Gen. I, n. 14, ,In principio creavit deus caelum et terram‘ (Gen. 1, 1) [LW I, 197]: „[…] deus, utpote causa prima, intimus sit entibus, et eius effectus sive influentia utpote primi et supremi est naturalissima et suavissima et convenientissima, sicut declaratur in Oper e pr opositionum, tractatu De superiori, ratione et exemplo.“ (2) In Gen. I, n. 25, id. (Gen. 1, 1) [LW I, 204]: „Caelum, id est superius, et terram, id est inferius. Inferius enim semper est inane et imperfectum, superius nunquam. Notavi semper hoc in tractatu De natura superioris et inf erioris.“ (3) In Gen. I, n. 63, ,Spiritus dei ferebatur super aquas‘ (Gen. 1, 2) [LW I, 229]: „Octavo fertur super aquas, quia ,disponit omnia suaviter‘, Sap. 8. Omne siquidem superius suaviter disponit et afficit suum inferius longe amplius quam ipsa forma substantialis propria ipsius inferioris, ut patet in Oper e pr opositionum, tractatu De natura superioris.“ 44

45

46

Cf. Sturlese, Meister Eckhart. Ein Porträt (nt. 41), 17; id., Meister Eckhart in der Bibliotheca Amploniana (nt. 41), 446. Allerdings wird der Vorwurf von Hans Hof Eckharts Intention nicht gerecht: „Eckharts Methode, seine Philosophie in Form der Schriftexegese darzustellen, trägt zur Unklarheit in der Darstellung bei und erschwert in hohem Grade das Verständnis seiner Grundanschauung“ (H. Hof, Scintilla animae. Eine Studie zu einem Grundbegriff in Meister Eckharts Philosophie mit besonderer Berücksichtigung des Verhältnisses der Eckhartschen Philosophie zur neuplatonischen und thomistischen Anschauung, Lund 1952, 143). Reffke, Studien (nt. 39), hat eine Liste der Verweise aufgestellt, die jedoch nicht erschöpfend ist. Hinzuzufügen sind die Verweise (21) und (22).

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(4) In Gen. I, n. 91, ,Factum est vespere et mane dies secundus‘ (Gen. 1, 8b) [LW I, 250]: „Rationes autem pulchras per Augustinum et Gregorium invenies in Opere primo tractatu De uno et eius opposito.“ (5) In Gen. I, n. 143, ,Requievit die septimo ab universo opere quod patrarat‘ (Gen. 2, 2) [LW I, 297]: „Minor [sc. deus est ipsum esse et solus ipse] apparet supra ex Oper e pr opositionum et in Pr ologo generali.“ (6) In Gen. I, n. 147, id. [LW I, 299]: „Quanto agens est prius et superius, tanto agit naturalius, facilius, dulcius ac suavius, sicut ostensum est supra De natura superioris. Deus autem est primum agens et supremum. Igitur operatur sine labore, quiescendo, delectabiliter, dulciter et suavissime, secundum illud: ,disponit omnia suaviter‘.“ (7) In Gen. I, n. 224, ,Paenitet me fecisse hominem‘ (Gen. 6, 7) [LW I, 368]: „Quomodo autem deus maxime offenditur peccato et tamen peccatum soli peccanti nocet et ipsum tangit et attingit, non autem aliquem iustum tangit et attingit nec turbat passione, minime autem deum, et quomodo deus damnum peccatoris plus ponderat quam offensam suimet dei, in Primo oper e, pr opositionem scilicet, ostensum est.“ 47 (8) In Ex., n. 85, ,Dominus regnavit in aeternum et ultra‘ (Ex. 15, 18) [LW II, 89]: „Sed ,quo est‘ deo est proprium, ,quod quid est‘ proprium creaturae, ut patet tractactu De ,quo est‘.“ (9) In Ex., n. 262, ,Ascende ad me in montem et esto ibi‘ (Ex. 24, 12) [LW II, 211-212]: „Semper enim in alto bonum; quo altius, tanto melius. Quod autem altissimum, hoc optimum. E converso in imo semper malum, et quanto plus imum fuerit, bassius et inferius sive subiectius aut subiectum pluribus, tanto peius. Patet hoc in tractatu De natura superioris, et est ratio brevis. Semper enim superius prius est et per consequens ,dives per se‘. Inferius autem, in quantum inferius, egenum est et nudum, mendicans; et continue omne, quod est et quod habet, est et habet a suo superiori.“ (10) In Eccli., n. 13, ,Ego quasi vitis fructificavi suavitatem odoris‘ (Eccli. 24, 23) [LW II, 243]: „Solum supremum sive altissimum sua vi trahit; omnia quae subsunt trahunt in vi superioris, sicut diffuse patet in tractatu De natura superioris.“ (11) In Eccli, n. 53, ,Qui edunt me, adhuc esuriunt‘ (Eccli. 24, 29) [LW II, 282]: „Notandum etiam quod hanc naturam analogiae quidam male intelligentes et improbantes erraverunt usque hodie. Nos autem secundum veritatem analogiae intelligendo, sicut ex primo Libr o pr opositionum declaratur, […].“ 47

Dieser Verweis bezieht sich auf den V. Traktat, der von der Liebe und von ihrem Gegensatz, der Sünde (peccatum), handelt.

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(12) In Sap., n. 2, ,Diligite iustitiam, qui iudicatis terram‘ (Sap. 1, 1) [LW II, 324]: „Superiora enim semper influunt cum suavitate, et quanto superius, tanto suavius, ut notavi in tractatu De natura superioris, et plura ibidem quae sunt ad propositum.“ (13) In Sap., n. 16, ,Deus non fecit mortem nec laetatur in perditione vivorum‘ (Sap. 1, 13) [LW II, 337]: „Esse autem impossibile est quod sit malum quodcumque aut qualecumque. Bonum enim et ens convertuntur. Quapropter dicere quod aliquid sit malum et sit factum a deo, est dicere quod esse non sit esse et malum non sit malum. De his notavi diffusius in tractatu De malo.“ (14) In Sap., n. 39, ,Creavit enim, ut essent omnia‘ (Sap. 1, 14) [LW II, 360]: „Ratio omnium praedictorum est, quia superius semper afficit secundum se ipsum omne suum inferius et ab ipso in nullo vice versa afficitur, sicut patet in tractatu De natura superioris. Igitur deus creator afficit omne creatum sua unitate, sua aequalitate et sua indistinctione.“ (15) In Sap., n. 95, ,Inexstinguibile est lumen illius‘ (Sap. 7, 10) [LW II, 429]: „Vide de praemissis in tractatu De accidente.“ (16) In Sap., n. 120, ,Innumerabilis honestas per manus illius‘ (Sap. 7, 11) [LW II, 456]: „Ad praemissa facit directe quod Stoici dicebant bona exteriora nihil penitus adicere virtuti ad bene et beate vivendum. Notavi de hoc novem vel decem rationes in Libr o pr opositionum, tractatu De bono.“ (17) In Ioh., n. 42, ,In principio erat verbum‘ ( Joh. 1, 1) [LW III, 35]: „Adhuc autem efficiens non agit nisi per intentionem finis, et motum a fine et propter finem, et sic per consequens est ›movens motum‹ et secundum in causando, quod deo proprie non competit. Notavi de hoc diffuse in tractatu De fine.“ 48 (18) In Ioh., n. 279, ,Videbitis caelum apertum et angelos dei ascendentes et descendentes super filium hominis‘ ( Joh. 1, 51) [LW III, 234]: „Rursus ascendentes ait, quia bonum semper in alto est, malum in basso, ut notavi in tractatu De natura superioris.“ (19) In Ioh., n. 593, ,Qui credit in me, opera quae ego facio et ipse faciet, et maiora horum faciet‘ ( Joh. 14, 12) [LW III, 517]: „Cum enim gratia secundum illud quod est sit supernaturalis, hoc ipso quod iustificatio impii est opus gratiae, maius est omni opere naturae in caelo sive in terra, alioquin enim gratia non esset nec diceretur supernaturalis. Patet hoc manifeste in tractatu nostro De natura superioris.“ (20) In Gen. II, n. 179, ,Apparuit ei dominus […] apparuerunt ei tres viri stantes prope eum […] adoravit et dixit: domine, si inveni gratiam in oculis tuis, ne transeas servum tuum‘ (Gen. 18, 2-3) [LW I, 649]: 48

Dieser Verweis bezieht sich auf den IV. Traktat (,De bono‘), weil das Ziel und das Gute konvertibel sind; cf. In Gen. I, n. 128 (LW I, 282): „Bonitas et eius ratio totaliter et tota consistit in fine solo et est idem cum fine ipso convertibiliter“; cf. ibid., n. 170 (LW I, 315); In Gen. II, n. 63 (LW I, 530 sq.); n. 96 (LW I, 561 sq.).

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„Glossa dicit ibidem: ,tres vidit et unum adoravit‘. Ubi hoc mihi notandum videtur quod, sicut in Libr o pr opositionum notavi tractatu De deo, deus nisi esset unus pariter et trinus, animam non beatificaret nec satiaret nec ipsi sufficeret sed nec quippiam quietaret.“ (21) Sermo 13, n. 150, ,Omnes unanimes in oratione estote, compatientes, fraternitatis amatores, misericordes, modesti, humiles‘ (1 Petr. 3, 8) [LW IV, 141]: „Humiles. Nota: superiorum quodlibet influit sui ipsius quod quid est sive essentiam et per consequens omnia sua, puta primum vivere sive vitam et sui ipsius vitam sive vivere. Unde omnes stellae et quaelibet terrae sive humo influit. Vide super ,superius‘.“ (22) Sermo 31, n. 324, ,Spiritu ambulate‘ (Gal. 5, 16) [LW IV, 283-284]: „Est autem quintus modus, qui cadit ex parte praemii, scilicet ut nihil habeat commune cum nihilo, eo quod in ipsa sit plenitudo totius esse […]. Cuius expositionem vide De communi.“ 49 Auffallend an dieser Liste ist, dass die Hälfte der Verweise Thesen im IX. Traktat (,Von der Natur des Oberen und des Niederen‘) betrifft. Die weiteren Verweise verteilen sich wie folgt über die anderen Traktate: I II IV V VIII XII XIII XIV

(De esse): Verweise (5) und (11); (De unitate): Verweis (4); (De bono et malo): Verweise (13), (16) und (17); (De peccato): Verweis (7); (De communi): Verweis (22); (De ,Quo est‘): Verweis (8); (De Deo): Verweis (20); (De accidente): Verweis (15).

Die wiederholte Bezugnahme auf das Thesenwerk beweist zwar nicht, dass das ,Opus‘ je in einer abgeschlossenen Fassung existierte, aber sie belegt doch einiges. Die Formulierung mancher Verweise ist solcherart, dass sie sich auf Materialien oder Vorarbeiten stützen müssen, die Eckhart für das Thesenwerk gesammelt oder angefertigt hat 50. So schreibt er im Sapientiakommentar (Verweis no. 16), dass er für die These „Äußere Güter fügen nichts der Tugend hinzu“ im IV. Traktat des Thesenwerkes „neun oder zehn Gründe verzeichnet hat (notavi)“. Eckhart hat in seiner ,Werkstatt‘ an dem Projekt weitergearbeitet. Außerdem lassen sich die Verweise in allen uns überlieferten Werken des ,Opus‘ finden, vom ersten bis zum letzten. Die Bezugnahme belegt also die Kontinuität des Eckhart’schen Vorhabens. Daraus ist ein wichtiges Argument gegen Sturleses Annahme einer ,Wende‘ im Denken Eckharts, die mit dem Zweiten Genesiskommentar zu verbinden 49

50

Dieser Verweis auf den VIII. Traktat ist in der kritischen Edition nicht erkannt worden; bemerkt wird zu dieser Stelle: „Sermo, in quo exponatur haec auctoritas evangelii de Communi plurimorum martyrum, adhuc ignotus est“ (LW IV, 284, nt. 2). Cf. Ruh, Geschichte (nt. 1), 292.

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wäre, zu entnehmen. Es ist nicht zu verneinen, dass die Erstellung mehrerer Kommentare zu demselben Bibelbuch nicht im ursprünglichen Plan des ,Opus tripartitum‘ vorgesehen war. Wie man diese Tatsache auch deuten mag, von ihr allein kann man doch nicht auf die ,Aufgabe‘ des Plans des ,Opus‘ schließen. Im Gegenteil belegt der Zweite Genesiskommentar gerade die Fortführung des systematischen Plans, weil Eckhart sich in diesem Kommentar explizit auf das Thesenwerk bezieht (Verweis no. 20). In der Auslegung von Gen. 18, 2-3 erklärt er, dasjenige, was zu dieser Stelle in der Glosse gesagt wird, im ,Opus propositionum‘ behandelt zu haben. Dieser Verweis macht klar, dass die Erstellung des Zweiten Genesiskommentars nicht gegen die kontinuierliche Durchführung des Projektes des ,Opus tripartitum‘ spricht 51. (ii) Der studiosus lector entdeckt in Eckharts Bibelkommentaren eine Reihe allgemeiner Propositionen, die unverkennbar zum Thesenwerk gehören. Im ,Allgemeinen Prolog‘ hat Eckhart programmatisch festgestellt, dass aus der These die Erklärungen der Schriftworte ,abgeleitet‘ (deducantur) werden können. Aber tatsächlich ist er nicht auf diese ,deduktive‘ Weise vorgegangen. Gleich nach der Abfassung des ,Allgemeinen Prologs‘ und des ,Prologs zum Thesenwerk‘ hat er mit dem Genesiskommentar begonnen. Es ist deshalb wahrscheinlich, dass er erst im Verlauf seiner exegetischen Arbeit zur Formulierung bestimmter Thesen gelangt ist, die für das Verständnis des Textes die Grundlage bilden. Eckharts Methode ist daher vielmehr ,induktiv‘ 52. Eine gute Einsicht in sein Vorgehen bietet gerade der Zweite Genesiskommentar. In Gen. 2, 16 wird in der Bibel erstmalig von einem Gebot Gottes gesprochen. Das ist für Eckhart Anlass, eine Reihe allgemeiner Fragen zu stellen: (a) „Was gebieten ist, was verbieten, was Gebot ist, was Verbot, was Gott an uns gefällt und was er daher gebietet, was ihm mißfällt und was er daher verbietet; (b) was schlecht und was gut ist, was besser und was schlechter als ein anderes ist; (c) ferner, welche Gebote eine Ausnahme zulassen und welche nicht; und endlich viertens (d), inwiefern Gottes Gebot immer leicht ist, während die Gebote aller, die unter Gott sind, immer schwer auf uns lasten.“ 53 Zur Klärung dieser Fragen formuliert und begründet Eckhart vier Thesen, die auch, wie er hervorhebt, für das Verständnis anderer Schriftworte hilfreich sind. Die Thesen lauten: 1. „Universaliter superius praecipit sive imperat inferiori “ (n. 84). 2. „Praecipere superioris non est aliud quam inclinare, ordinare, monere et movere ipsum inferius ad conformationem, oboedientiam et subiectionem sui superioris“ (n. 85). 3. „Deus, utpote primum agens et movens, supremum omnium quae sunt, praecipit et imperat omnibus“ (n. 86). 51 52

53

Cf. Goris, Einheit (nt. 5), 50-51. Zu dieser Terminologie cf. E. Winkler, Exegetische Methoden bei Meister Eckhart (Beiträge zur Geschichte der biblischen Hermeneutik 6), Tübingen 1965, 103. In Gen. II, n. 84 (LW I, 545 sq.).

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4. „Deus, cum se toto sit esse et bonus sive bonitas, imprimit, imposit, praecipit, monet, consulit et inspirat bonum, dissuadet autem et prohibet omne dissonum et alienum bono, malum scilicet “ (n. 87).

Der studiosus lector erkennt, dass Eckhart hier vier propositiones (man beachte auch das universaliter in der ersten These) vorführt, die zur Thematik des IX. Traktats (,Von der Natur des Oberen und des Niederen‘) gehören. Jener Leser wird ein ähnliches Verfahren an weiteren Stellen in Eckharts Kommentaren entdecken. (iii) Ein letzter Grund dafür, an der programmatischen Bedeutung des Plans des ,Opus tripartitum‘ für die Gesamtdeutung Eckharts festzuhalten, ist die Tatsache, dass der ,Allgemeine Prolog‘ und vor allem der zweite Prolog, der Prolog zum ,Opus propositionum‘, weiteres Material enthalten, das eine genauere inhaltliche Bestimmung seines Projekts ermöglicht. Exemplarisch möchte ich das mit Bezug auf zwei Themen zeigen: die Zweigeteiltheit und die Gliederung des Thesenwerkes. IV. Die Zweig eteiltheit im T hesenwerk Im ,Allgemeinen Prolog‘ gliedert Eckhart das Thesenwerk in 14 Traktate entsprechend den Begriffen (termini), aus denen die Propositionen gebildet werden. Er fügt aber noch etwas hinzu, das jetzt nähere Beachtung verdient. Jeder Traktat, so bemerkt er, ist zweigeteilt (bipartitus): Zuerst werden Thesen über den Terminus selbst, dann über seinen Gegensatz aufgestellt 54. Ein erstes Strukturprinzip des Thesenwerkes ist somit die Zweigeteiltheit; Eckhart denkt, wie seine Auslegungen der ersten auctoritas Gen. 1, 1 bestätigen, in Gegensätzen: ,Sein Nichts‘, ,Eines - Vieles‘, ,Höheres - Niederes‘. Wie ist sein Anliegen zu verstehen? Anhand des I. Traktats, der vom größten Gegensatz handelt: „Nihil enim tam adversum, nihil tam contradictorium quam […] esse et nihil “ 55, werden wir versuchen, Eckharts gegensätzliches Denken zu konkretisieren. Gemäß seinem Ordnungsprinzip gliedert sich der Traktat in Thesen über das Sein und Thesen über das Nichts. 1. Die erste Seinsthese Der Gegensatz zwischen Sein und Nichts spielt in Eckharts Argumenten für die erste Seinsthese eine wichtige Rolle. Aus unserer Analyse des Seinsverständnisses, das seinen Argumenten für den Grundsatz zugrunde liegt, ergab sich als erstes Moment, dass Eckhart den Sinn des Seinsbegriffs aus seinem kontradikto54 55

Cf. Prol. gen. in op. trip., n. 3 (LW I, 35). In Sap., n. 255 (LW II, 587).

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rischen Gegensatz zum Nichts bestimmt: „Außerhalb des Seins und vor dem Sein ist nur das Nichts“ (Arg. 3 und 5). Der Begriff des Nichts stellt sich unausweichlich in dem Versuch ein, das Sein schlechthin oder das Seiende als Seiendes zu denken, und zwar durch Ausschluss seines Gegensatzes. Eckhart stellt sich damit in eine lange Tradition, denn der Begriff des ,Nichts‘ erscheint schon im griechischen Anfang des Denkens 56. Das früheste Beispiel dafür bildet ein Text des Parmenides von Elea. Der Kernsatz seines Lehrgedichtes lautet (Fr. 6): „Man muss sagen und denken, dass Sein ist, Nichts ist nicht.“ Aus dieser Wahrheit folgert er eine Reihe von Merkmalen, die dieses Sein kennzeichnen: Es ist ,Eines‘, zugleich ein ,Ganzes‘, ,vollkommen‘, ,unentstanden‘ und ,unvergänglich‘. Dieser Hinweis auf die frühgriechische Ontologie könnte vielleicht weit hergeholt scheinen, wäre es nicht so, dass in der Forschung Eckharts Seinsverständnis als ,Eleatismus‘ bezeichnet worden ist 57. Auch Eckhart selbst verweist in seinem ,Prolog zum Thesenwerk‘ auf die Eleaten: „Parmenides und Melissus hatten recht, wenn sie nur ein einziges Seiendes im absoluten Sinne erkennen wollten.“ 58 Entscheidend für Eckharts erste These ist, dass er das Sein mit Gott gleichsetzt: ,Esse est deus‘. Mit einem ,eleatischen Rigorismus‘ leitet er aus dem kontradiktorischen Gegensatz zum Nichts Merkmale des Seins ab, die im eigentlichen Sinne von Gott ausgesagt werden können: Esse ist indistinctum - denn was vom Sein verschieden ist, ist nicht - und infinitum, denn ,unendlich‘ ist, außerhalb dessen nichts ist 59. Die Konsequenz der ersten Seinsthese ist, dass außerhalb von Gott nichts anderes oder etwas ist. Was nämlich außerhalb des Seins ist, ist nichts und ist nicht 60. Typisch für Eckhart ist es, dass er aus dieser metaphysischen These eine ethische Anforderung an den Menschen ableitet; das Faszinierende seines Denkens ist vor allem darauf zurückzuführen, dass sein Philosophieren immer eine existentielle Dimension hat. „Es ist daraus einsichtig, daß du nichts anderes erstreben, nichts anderes suchen sollst […] als Gott […]. Wer nämlich etwas außerhalb von Gott oder neben Gott oder auch mit Gott etwas anderes sucht, 56

57

58

59

60

R. Panikkar, Sein und Nichts, in: W. Strolz (ed.), Sein und Nichts in der abendländischen Metaphysik, Freiburg-Basel-Wien 1984, 107: „Wie kommt das Nichts in die Philosophie?“; cf. K. Riesenhuber, Nichts, in: Handbuch philosophischer Grundbegriffe II, München 1973, 9911008. Cf. C. Fabro, Participation et causalite´ selon S. Thomas d’Aquin, Louvain-Paris 1961, 551 sqq.; V. Lossky, The´ologie ne´gative et connaissance de Dieu chez Maıˆtre Eckhart, Paris 1960, 162164. Prol. in op. prop., n. 5 (LW I, 168). Eckhart entlehnt seine Kenntnisse der Eleaten den Schriften des Aristoteles (Phys. I, c. 2, 184b und Metaph. I, c. 5, 986b) und des Avicenna (Sufficientia I, c. 4). In Sap., n. 145 (LW II, 483): „Constat autem quod esse est indistinctum ab omni quod est, et quod nihil est nec esse potest distinctum et separatum ab esse, Ioh. 1 (3): ,omnia per ipsum facta sunt, et sine ipso factum est nihil‘“; n. 146 (LW II, 484): „Infinitum enim est extra quod nihil est.“ Cf. Eckharts Beweise für den Satz „Gott ist keinem Seienden fremd (alienum)“, in: In Ex., n. 104 (LW II, 105). In Ioh., n. 215 (LW III, 181): „Extra deum, utpote extra esse, non est aliud nec aliquid. Quod enim extra esse est, nihil est nec est.“

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denkt nicht gut über Gott (non bene sentit de Deo). Nichts nämlich kann außerhalb von Gott sein […]. Sonst wäre er nicht das unendliche Gut.“ 61 Wenn es auch zwischen dem parmenideischen und dem Eckhart’schen Seinsbegriff gewisse Ähnlichkeiten gibt, so besteht doch ein wesentlicher Unterschied. Ein zweites Moment im Eckhart’schen Seinsverständnis bildet der Gedanke, dass esse Prinzip ist, Anfang und Grund des Seins der Dinge. Im 3. Beweis für die erste These bezieht er den Schöpfungsbegriff in die Argumentation ein („Vor dem Sein ist nichts. Wer also Sein mitteilt, ist Schöpfer, da ,Schaffen‘ ,aus dem Nichts Sein geben‘ ist“). Dadurch unterscheidet sich sein Seinsverständnis radikal vom eleatischen. Bereits Aristoteles hatte an Parmenides’ Konzeption, es gebe nur ein einziges Seiendes, kritisiert, dass sie den Prinzipiencharakter des Seins aufhebe. Was Prinzip ist, ist Prinzip von etwas, setzt mithin eine gewisse Differenz und Pluralität voraus 62. Die Schöpfungsidee passt in den I. Traktat, da für ihr Verständnis der Gegensatz zwischen Sein und Nichts bestimmend war. Schon früh in der christlichen Tradition hatte man das Einzigartige des Schöpfungsaktes - und zwar im Gegensatz zur Grundüberzeugung des griechischen Denkens ,Aus Nichts wird Nichts‘ (,ex nihilo nihil fit ‘) - mit der Formel creatio ex nihilo zum Ausdruck gebracht. In der Patristik und im Mittelalter wurde der biblische Schöpfungsgedanke mit der philosophischen Konzeption eines absoluten Seinsursprungs verbunden. Thomas von Aquin z. B. stellt die Schöpfungsidee als den Endterminus der philosophischen Reflexion über den Ursprung der Dinge dar. Die Seinsfrage wird erst wirklich beantwortet, wenn das Sein der Dinge dem Nichts gegenübergestellt wird. Das geschah, als „einige (aliqui ) sich zur Betrachtung des Seienden als Seienden erhoben“. Diese Metaphysiker betrachteten den Ursprung der Dinge nicht nur, insofern sie ,dieses Seiende‘ (hoc ens) sind, sondern auch, insofern sie ,Seiende‘ sind. Der Ursprung des Seienden als Seienden kann deshalb kein ,Werden‘ sein, da er nichts in den Dingen voraussetzt, sondern muss als ,Schöpfung‘ verstanden werden 63.

2. Die erste These über das Nichts Eckhart stellt ausführlich seine erste Seinsthese dar, nicht jedoch die erste These über das Nichts. In den Versuchen zur Rekonstruktion des I. Traktats, 61

62 63

In Sap., n. 7 (LW II, 328): „Intelligendum: ut nihil aliud intendas, nihil aliud quaeras […] nisi deus […]. Qui enim extra deum aliquid vel praeter deum aut etiam aliud cum deo quaerit, non bene sentit de deo. Nihil enim potest esse extra deum […] alias non esset infinitum bonum.“ J. Koch, Sinn und Struktur der Schriftauslegungen Meister Eckharts (in: Kleine Schriften I, 411), ist der Meinung, dass diese Aussage das eigentliche Anliegen des Thesenwerkes beschreibt: „,Bene sentire de deo‘ könnte man als das eigentliche Thema des Thesenwerkes bezeichnen.“ Cf. Aristoteles, Phys. I, c. 2. Thomas von Aquin, S. th. I, q. 44, a. 2.

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die in der Forschung unternommen worden sind 64, wird der Zweigeteiltheit des Traktats keine Rechnung getragen und die erste These über den Gegenbegriff ignoriert, obwohl der Begriff ,Nichts‘ „gewissermaßen der Inbegriff der Philosophie des Meister Eckhart“ ist 65. Aus den Argumenten für seinen Grundsatz lässt sich aber seine erste These zum Gegenbegriff ermitteln. Aus mehreren Gründen ist zu vermuten, dass diese These die ,Nichtigkeit‘ (nihileitas oder nulleitas) des Geschöpfes betrifft: ,creatum omne ex se nihil est‘ 66. Eckhart formuliert diesen Satz in einer moralischen Auslegung eines seiner Haupttexte für die Schöpfungsidee: „Er hat nämlich geschaffen, damit alles sei“ (Sap. 1, 14). Alles Geschaffene ist aus sich nichts, denn vor dem Sein ist nichts. Dieses Argument hat Eckhart auch für die Seinsthese benutzt: Sein ist das Erste (weil vor dem Sein nichts ist) und deshalb mit Gott identisch. Der Sapientiakommentar fährt fort: Wer also ein Geschöpf liebt, liebt nichts und wird zum Nichts. Die Liebe verwandelt nämlich den Liebenden in das Geliebte 67. Gerade in dieser Hinsicht zeigt sich die Einheit des lateinischen und des deutschen Werkes Eckharts, denn auch in seinen deutschen Predigten betont er öfters die Nichtigkeit des Geschöpfes im Kontext ethisch-spiritueller Überlegungen 68. Wie er aus der ersten Seinsthese eine ethische Anforderung an den Menschen ableitet („Du sollst nichts anderes erstreben, nichts anderes suchen als Gott“; In Sap., n. 7), so zieht er in Predigt 4 (,Omne datum optimum et omne donum perfectum desursum est‘; Jac. 1, 17) die moralische Konsequenz aus der These über das Nichts des Geschöpfes: „Wisse, suchst du irgendwie das Deine, so findest du Gott nie […]. Du suchst Nichtiges, und darum findest du auch Nichtiges. Daß du Nichtiges findest, hat keinen anderen Grund, als daß du Nichtiges suchst. Alle Kreaturen sind ein pures Nichts. Ich sage nicht, daß sie gering oder (überhaupt) etwas seien: Sie sind ein schlechthinniges Nichts. Was nicht Sein hat, das ist ein Nichts. Alle Kreaturen haben kein (eigenes) Sein, hängt doch ihr Sein an der Gegenwärtigkeit Gottes. Kehrte sich Gott einen Augenblick von allen Kreaturen ab, so würden sie zunichte.“ 69

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Cf. Albert, Meister Eckharts These vom Sein (nt. 5), 138-139. Cf. Th. Kobusch, Nichts, Nichtseiendes, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, vol. 6, eds. J. Ritter/K. Gründer, Darmstadt 1984, 816-817; B. Mojsisch, Nichts und Negation: Meister Eckhart und Nikolaus von Kues, in: B. Mojsisch/O. Pluta (eds.), Historia philosophiae medii aevi. Studien zur Geschichte der Philosophie des Mittelalters, vol. 2, Amsterdam 1991, 675693; A. Charles-Saget, Non-eˆtre et Ne´ant chez Maıˆtre Eckhart, in: E. Zum Brunn (ed.), Voici Maıˆtre Eckhart, Grenoble 1994, 301-318. Eckhart verwendet die Neologismen nihileitas in Sermo XXXVII, n. 375 (LW IV, 321) und nulleitas in ,In Eccli.‘, n. 61 (LW II, 290) sowie Sermo XV/2, n. 158 (LW IV, 150). In Sap., n. 34 (LW II, 354-355): „Creatum omne ex se nihil est: creavit enim, ut essent, et ante esse nihil est. Qui ergo amat creaturam, amat nihil et fit nihil. Amor enim amantem transformat in amatum.“ Cf. In Ioh., n. 308 (LW III, 256): „Sic omnis creatura id quod in se est, ex nihilo est et nihil est.“ Cf. Pr. 4 (DW I, 69-70) und Pr. 10 (DW I, 170). Cf. K. Ruh, Predigt 4, Omne datum optimum, in: G. Steer/L. Sturlese (eds.), Lectura Eckhardi I, Stuttgart-Berlin-Köln 1998, 1-23. Ich folge seiner Übersetzung, 7.

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Eckharts These über die ,Nichtigkeit‘ des Geschöpfes war offensichtlich ein Stein des Anstoßes für seine Gegner. Die Anklagelisten der Kölner Inquisitoren erwähnen die Aussage wiederholt 70. In seiner ,Rechtfertigungsschrift‘ wendet Eckhart sich vehement gegen diese Inkriminierung. Am Schluss macht er eine Reihe von Bemerkungen, welche die ruditas und brevitas der Vernunft seiner Ankläger, ja ihre imbecillitas zeigen. Die siebte Bemerkung betrifft die Verneinung der Aussage, „das Geschöpf oder die Welt sei nichts in sich außerhalb von Gott“. Diese Verneinung widerspreche dem Evangelium. In diesem Zusammenhang zitiert Eckhart immer Joh. 1, 3: „Omnia per ipsum factum sunt et sine ipso factum est nihil.“ 71 Den letzten Teil des Textes - eine der Antworten des Bernhard von Clairvaux auf die Frage ,Was ist Gott?‘ (cf. 1.2) - liest Eckhart als „Ohne ihn ist das Gewordene nichts“. Alles Gewordene ist ohne Gott, von dem das Sein ist, ein nihil. Aber Eckhart führt auch mehrere Vernunftargumente für die ,Nichtigkeit‘ des Geschöpfes an, die ähnlich wie seine Gründe für die erste Seinsthese die Logik der consequentiae verwenden. Die Verneinung des Satzes, jedes Geschöpf sei in sich ein Nichts, ist eine klare Blasphemie. Besäße das Geschöpf ein Sein, wie gering es auch sei, ohne Gott, so wären die falschen Konsequenzen: (i) Gott wäre nicht die universale und erste Ursache. (ii) Das Geschöpf wäre nicht geschaffen; Schöpfung ist ja das Empfangen des Seins aus dem Nichts. (iii) Gott wäre nicht das unendliche Gut. „Unendlich nämlich ist das, außerhalb dessen nichts ist.“ (iv) Das Geschöpf wäre in sich zu lieben 72. Diese metaphysischen und moralischen Argumente untermauern unsere Vermutung, dass Eckharts erste These über das Nichts die Nichtigkeit des Geschöpfes betrifft, weil alle vier Gründe das logische Korrelat der These ,Esse est deus‘ sind. Aufschlussreich für die Kritik an Eckharts These über das Nichts ist das Gutachten einer Theologen-Kommission, das im Verlauf des Prozesses in Avignon eingeholt wurde. Das ,Votum theologicum avenioniense‘ setzt sich auch mit der Nichtigkeitsthese Eckharts auseinander (art. 6). Die Gutachter halten diesen Artikel für häretisch ,prout verba sonant‘ und führen dafür die folgenden Gründe an: Die These verneint, dass Gott Schöpfer ist, der den Dingen das Sein gibt. Die These verneint, dass der Endterminus der Schöpfung das Sein ist. Dies widerspricht dem Ausspruch in Sap. 1, 14: ,Creavit omnia ut essent‘. 70

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Proc. Col. II, n. 27 (LW V, 324): art. 13 „Omnes creaturae sunt nihil in se ipsis“; n. 79 (LW V, 338): art. 30 „Omnes creaturae sunt unum purum nihil. Nulla creatura est quae aliquid sit“; n. 106 (LW V, 343): art. 43 „Omnes creaturae sunt unum purum nihil “; n. 111 (LW V, 344): art. 46 „Omnes res creatae sunt nihil in se ipsis“. Proc. Col. II, n. 153 (LW V, 354): „Septimo, quia dicunt creaturam sive mundum non esse nihil in se praeter deum, quod est contra evangelium, Ioh. 1: ,omnia per ipsum facta sunt et sine ipso factum est nihil‘.“ Proc. Col. II, n. 107 (LW V, 344): „Dicendum quod hoc negare est deum blasphemare et ipsum abnegare. Sic enim creatura habet aliquod esse quantumque modicum sine deo, tunc deus non est causa omnium. Praeterea, creatura non esset creata. Creatio enim est acceptio esse ex nihilo […]. Praeterea, secundum istos non est infinitum bonum. Infinitum enim est, extra quod nihil est. Praeterea, creatura esset non contemnenda, sed amanda, utpote in se et ex se bona.“ Cf. n. 28 (LW V, 324); n. 153 (LW V, 354).

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Die These verneint Sein und Wirken in den Geschöpfen und leugnet, dass die vernunftbegabte Kreatur sich verdienstlich oder nicht verdienstlich macht, beglückseligt oder verurteilt wird 73. Offenbar hat Eckhart auf das ,Votum‘ reagiert - wir besitzen jedoch seine Erwiderung nicht -, aber die Avignonenser Gutachter zeigten sich durch seine Replik nicht beeindruckt („Hec non excludunt errorem“). Wenn die Geschöpfe auch von Gott abhängen, so darf man doch nicht sagen, dass sie ein reines Nichts sind; sie sind formaliter in sich selbst und gemäß sich selbst etwas (aliquid). Vielmehr beweist die wirkliche Abhängigkeit, dass sie ein esse reale besitzen, da eine wirkliche Dependenz in einer wirklichen Seiendheit (entitas) gegründet ist. Obwohl alles von Gott gemacht worden ist und ohne ihn nichts ist ( Joh. 1, 3), darf man doch nicht sagen, dass der Endterminus der Schöpfung das Nichts ist („creacio terminetur ad nichil “) 74. Die inkriminierte These wurde in die Verurteilungsbulle aufgenommen; art. 26 - eine wörtliche Übersetzung der Stelle in der deutschen Predigt 4 - lautet: „Omnes creaturae sunt unum purum nihil: non dico, quod sint quid modicum vel aliquid, sed quod sint purum nihil.“ 75 Die Auseinandersetzungen vermitteln den Eindruck, dass die Avignonenser Gutachter und Eckhart aneinander vorbeireden. Die Gutachter haben nicht erkannt, dass Eckharts These über die ,Nichtigkeit‘ des Geschöpfes nicht von seiner ersten Seinsthese, die das esse mit Gott gleichsetzt, getrennt werden kann. Eckhart verneint keineswegs, dass Gott den Dingen das Sein gibt, d. h. dass er Schöpfer ist. Das ist gerade eines seiner Argumente für die erste Seinsthese sowie für die Nichts-These. In seiner Exegese von Sap. 1, 14 bietet er acht Auslegungen, die erläutern, dass das Ziel der Schöpfung das esse ist. Eckhart betont dabei wiederholt die ethischen Konsequenzen seiner These für die Intentionalität des Menschen. Doch gibt es einen Kritikpunkt in der Stellungnahme der Theologen-Kommission, der nicht unvernünftig scheint: Eckharts These, die creatura sei ein reines nihil, suggeriert, dass der Endterminus der Schöpfung das Nichts ist. Zwar verneint der Meister explizit diesen Gedanken, aber seine Semantik des Wortes creatura könnte Anlass zu einem Missverständnis geben. Jedes Wirken oder jede 73

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Votum theologicum, art. 6 (ed. F. Pelster, Ein Gutachten aus dem Eckhart-Prozeß in Avignon, in: A. Lang/J. Lechner/M. Schmaus [eds.], Aus der Geisteswelt des Mittelalters, Münster 1935, 1112): „Hunc articulum, prout verba sonant, hereticum reputamus, quia hoc negat Deum creatorem rerum dantem esse eis, negat creacionem terminari ad esse contra illud Sapiencie 1 [14]: ,Creavit omnia, ut essent ‘, negat in creaturis esse, operari et creaturam racionalem mereri et demereri et beatificari et dampnari.“ Votum theologicum, art. 6 (ed. Pelster [nt. 73], 1113): „Quamvis enim creature dependeant a Deo creante, sunt tamen aliquid in seipsis et secundum seipsa formaliter per accionem creantis, ymo ex hoc quod realiter dependent a Deo, cum realis dependencia fundetur in reali entitate, probatur creaturas habere esse reale. Unde nec debent dici purum nichil, ymo aliquid, licet eciam omnia per ipsum facta sint et sine ipso sit nichil, non tamen dici debet, quod creatura sit purum nichil vel quod creacio terminetur ad nichil.“ Cf. T. Sua´rez-Nani, Philosophie- und theologiehistorische Interpretation der in der Bulle von Avignon zensurierten Sätze, in: H. Stirnimann (ed., in Zusammenarbeit mit R. Imbach), Eckardus Theutonicus, homo doctus et sanctus. Nachweise und Berichte zum Prozeß gegen Meister Eckhart (Dokimion 11), Freiburg/Schweiz 1992, 88-90.

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Bewegung vollzieht sich zwischen zwei Termini, die einander entgegengesetzt sind. Beide Termini werden in den geläufigen Umschreibungen der Schöpfungsidee zum Ausdruck gebracht. Schöpfung ist creatio ex nihilo: Terminus a quo ist das Nichts; Schöpfung verleiht oder gibt das Sein (,dat sive confert esse‘): Terminus ad quem ist das Sein 76. Gemäß einem von Eckhart unterschriebenen aristotelischen Prinzip „hat das Wirken wie auch die Bewegung Natur und Namen von ihrem Endterminus“ 77. Das heißt: Die Kreatur wird ,Kreatur‘ aufgrund des Terminus ad quem genannt; als creatura ist sie nicht ein Nichts, sondern ein Seiendes. Bei Eckhart erhält der Gegensatz zwischen Sein und Nichts innerhalb der geschaffenen Welt einen neuen Aspekt. Während in seinen Argumenten für die erste Seinsthese die Opposition dazu dient, die Absolutheit des Ersten zu erhellen, ist in der ersten Nichtsthese dieser Gegensatz für die ontologische Struktur des Geschöpfes konstitutiv. In sich betrachtet, d. h. getrennt von Gott, ist die Kreatur ein Nichts. Die Schöpfung ,hebt‘ die Nichtigkeit der Kreatur ,auf‘ sie ruft die Dinge aus dem Nichts zum Sein -, nicht durch dialektische Vermittlung, sondern durch das Sein selbst: „Das Sein ist selbst medium, durch dessen Vermittlung allein alles ist.“ 78 Zugleich setzt Schöpfung eine Differenz zwischen dem Sein selbst und dem Geschaffenen. Die Implikationen dieses dynamischen Verhältnisses würde der I. Traktat auch entwickeln. 3. Thesen über das Seiende (ens) Es ist auffallend, dass im Titel des I. Traktats nicht nur vom ,Sein‘ und ,Nichts‘ die Rede ist, sondern noch ein dritter Terminus eingeführt wird, ,Seiendes‘ (ens). Innerhalb der Zweigeteiltheit wird der positive Begriff sozusagen in ein abstractum und ein concretum ,verdoppelt‘. Diese Verdoppelung ist deshalb aufschlussreich, weil sie mit einer früheren Feststellung zu verbinden ist. In unserer Analyse des Seinsverständnisses, das Eckharts Beweisen für seinen Grundsatz zugrunde liegt (1.2), ergab sich als ein drittes Moment die Differenz zwischen esse und ens, die er durch das Beispiel des Verhältnisses zwischen dem abstrakten Terminus albedo und dem konkreten album erläutert. Im zweiten Prolog, dem Prolog zum ,Opus propositionum‘, macht Eckhart zwei Vorbemerkungen und formuliert eine Reihe von Thesen, die hauptsächlich von den konkreten Termini in den Titeln der ersten Traktate (,Seiendes‘, ,Eines‘, ,Wahres‘ und ,Gutes‘) handeln. Wir beschränken uns hier auf ihre Geltung für ens - der Zusammenhang dieser ,transzendentalen‘ Termini wird im Abschnitt 4 herausgestellt. 76 77 78

Cf. In Sap., n. 25 (LW II, 345); nn. 182-183 (LW II, 516 sqq.); In Gen. I, n. 160 (LW I, 307 sq.). In Ex., n. 31 (LW II, 37): „Praeterea actio sicut et motus habet naturam et nomen a termino in quem.“ Cf. In Sap., n. 284 (LW II, 616): „Esse ex sui natura est primum et novissimum, principium et finis, nequaquam medium: quin immo ipsum est medium ipsum, quo solo mediante sunt […] omnia […]. Deus autem ipse est esse ipsum.“

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3.1 ,Ens solum esse significat‘ Die erste Vorbemerkung betrifft die Semantik dieses Grundwortes: „Wie nach dem Philosophen ,Weißes‘ (album) allein die Qualität bezeichnet, so bezeichnet ,Seiendes‘ (ens) allein das Sein (esse).“ 79 In dieser Bemerkung verbindet Eckhart auf eigentümliche Weise verschiedene Gedanken aus der Tradition. (i) Das album-Beispiel ist der Kategorienschrift des Aristoteles (c. 5, 3b 19) entnommen. Es wird dort angeführt im Kontext seiner Ausführungen über die Bezeichnungsweise der sog. zweiten Substanzen. Unter ,zweiten Substanzen‘ versteht Aristoteles die Gattung und Art der ersten Substanz, des Einzeldinges. Sie bezeichnen ein ,Qualitatives‘, aber, so fügt Aristoteles hinzu, nicht schlechthin, „wie es z. B. das Weiße tut: das Weiße bezeichnet nichts außer der Qualität“. Dagegen bestimmen die Gattung (z. B. ,Sinnenwesen‘) und die Art (z. B. ,Mensch‘) „die Qualität mit Bezug auf die Substanz: sie bezeichnen die Einzelsubstanz als so und so beschaffen“. Der Sinn des Beispiels bei Aristoteles besteht also darin, die unterschiedlichen Bezeichnungen der zweiten Substanzen und der Prädikate, die zur Kategorie der Qualität gehören, zu erhellen. (ii) Das aristotelische Beispiel wurde im 13. Jahrhundert in der Diskussion über die Bedeutung der konkreten akzidentellen Termini (denominativa) aufgegriffen 80. Ausgangspunkt der Auseinandersetzungen war die Auffassung Avicennas, gemäß welcher ein konkretes akzidentelles Prädikat im Gegensatz zu seinem entsprechenden abstractum primär das Zugrundeliegende bezeichnet, dem das Akzidens zukommt, und erst in zweiter Linie das Akzidens selbst 81. Wie Thomas von Aquin lehnt Eckhart diese Auffassung ab: Das Weiße bezeichnet allein die Qualität; es bezeichnet den Träger mit (consignificat) oder konnotiert ihn 82. (iii) In seiner Vorbemerkung überträgt Eckhart die im album-Beispiel exemplifizierte Semantik der konkreten akzidentellen Termini auf die Ebene der konkreten termini generales. ,Seiend‘ bezeichnet allein das Sein, wie ,Weißes‘ allein die Qualität bezeichnet. Eckhart zitiert in seinen Werken wiederholt die aristotelische Aussage, um seine Semantik der concreta zu verdeutlichen. Ein konkreter Terminus bezeichnet allein die forma. Dementsprechend betont er im ,Buch der göttlichen Tröstung‘: „Weiterhin muß man wissen, daß, wenn wir vom ,Guten‘ sprechen, der Name oder das Wort nichts anderes bezeichnet und in sich schließt, und zwar nicht weniger und nicht mehr als die bloße und lautere Gutheit.“ 83 79 80

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Prol. in op. prop., n. 2 (LW I, 166). Cf. St. Ebbesen, Concrete Accidental Terms: Late Thirteenth-Century Debates about Problems Relating to Such Terms as ,album‘, in: N. Kretzmann (ed.), Meaning and Inference in Medieval Philosophy. Studies in Memory of Jan Pinborg, Dordrecht-Boston-London 1988, 107-174. Cf. die Kritik des Averroes an Avicenna in ,In Aristotelis Metaph. V‘, comm. 14 (ed. Ponzalli, 131). Cf. In Ex., n. 63 (LW II, 67 sq.); n. 84 (LW II, 87); Thomas von Aquin, In V Metaph., lect. 9, 894. DW V, 10.

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Offensichtlich berührt die erste Vorbemerkung im ,Prolog des Thesenwerkes‘ einen für den Meister wesentlichen Sachverhalt. Welche Differenzen es auch zwischen dem durch die konkreten und abstrakten Termini Bezeichneten geben mag, die Semantik der concreta zeigt ihre formale Einheit mit den ihnen entsprechenden abstracta: ens bezeichnet allein das esse. 3.2 ,De ente et de ente hoc et hoc‘ Die zweite Vorbemerkung führt eine Differenz im Bereich des ,Seienden‘ ein: „Man muß anders urteilen über Seiendes als über Dies-und-das-Seiende.“ 84 Eckhart gründet diese Auffassung auf Überlegungen aus der Prädikationstheorie, nämlich den Unterschied zwischen Aussagen de secundo adiacente (,etwas ist‘) und de tertio adiacente (,etwas ist Mensch‘) 85. Für den Sinn seiner Bemerkung ist es jedoch wieder aufschlussreich, den philosophiegeschichtlichen Hintergrund aufzudecken. Eckhart fügt zu seiner Vorbemerkung hinzu, dass, was für das ens gilt, auch für die übrigen termini generales gelte: „Man muß zum Beispiel über das Gute an sich (de bono absolute) anders urteilen als über Dies-und-das-Gute.“ 86 Dieses Beispiel ist nicht zufällig gewählt, sondern verweist auf einen berühmten Text in Augustins Schrift ,De trinitate‘. Im VIII. Buch beschreibt dieser, wie man durch ,Absehen‘ vom Partikulären zum Guten im absoluten Sinne gelangt. Die entscheidende Stelle lautet: „Es gibt dieses Gute und jenes Gute. Nimm das hoc et illud fort und erblicke, wenn du es vermagst, das Gute selbst: dann wirst du Gott erblicken, der nicht durch ein von ihm verschiedenes Gutes gut ist, sondern das Gute jedes Guten (bonum omnis boni).“ 87 Mit dieser Denkfigur Augustins, der Rückführung des Guten in der Kreatur auf Gott, verbindet Heinrich von Gent Avicennas Lehre von den Erstbegriffen, die viele mittelalterliche Denker fasziniert hat 88. Es gibt Begriffe, die nicht mehr auf andere, allgemeinere Begriffe zurückgeführt werden können, sondern unmittelbar eingesehen werden. Nach Heinrich weisen Erstbegriffe wie ,Seiendes‘, ,Eines‘ und ,Gutes‘ den Weg zu einer Wesenserkenntnis Gottes (im Allgemeinen) durch eine zweifache Abstraktion. Die erste ist die Abstraktion des Allge84 85

86 87 88

Prol. in op. prop., n. 3 (LW I, 166). Für eine Analyse siehe A. de Libera, Le proble`me de l’eˆtre chez Maıˆtre Eckhart: Logique et me´taphysique de l’analogie, Genf 1980, 29-37. Ich teile jedoch nicht seine Ansicht, dass „la doctrine eckhartienne de la pre´dication est le ve´ritable fondement de sa me´taphysique“ (ibid., 39). Prol. in op. prop., n. 3 (LW I, 16). Augustinus, De trinitate VIII, 3 (CCL 50), 272, 15-17. Cf. J. A. Aertsen, ,Von Gott kann man nichts erkennen, außer daß er ist‘ (Satz 215 der Pariser Verurteilung). Die Debatte über die (Un-)möglichkeit einer Gotteserkenntnis quid est, in: J. A. Aertsen/K. Emery, Jr./A. Speer (eds.), Nach der Verurteilung von 1277. Philosophie und Theologie an der Universität von Paris im letzten Viertel des 13. Jahrhunderts. Studien und Texte (Miscellanea Mediaevalia 28), Berlin-New York 2001, 22-37.

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meinen vom Partikulären. Eine formale Vollkommenheit wird vom einzelnen an der Form teilhabenden Träger losgelöst, z. B. wird das bonum hoc et illud auf das bonum universale zurückgeführt. Ergebnis dieser ersten Abstraktion sind die ersten Verstandesbegriffe, die auf analoge Weise dem Schöpfer und den Geschöpfen gemeinsam sind 89. Die zweite Abstraktion ist die des Subsistenten von der universalen Form, an der die Einzeldinge teilhaben. Sie führt zum bonum subsistens, das nur Gott eigentümlich ist. „Und wie es sich mit dem Begreifen des Guten verhält, so auch mit dem Begreifen des Seienden, des Wahren, des Schönen und des Gerechten.“ 90 Eckharts Vorbemerkung über den Unterschied zwischen ens und ens hoc et hoc hat einen ähnlichen Sinn wie bei Augustin und Heinrich von Gent. Das ergibt sich aus den Thesen, die er anschließend formuliert. 3.3 Vier Thesen Die erste These lautet: „Gott allein ist im eigentlichen Sinne (proprie) ,Seiendes‘.“ 91 Proprie, d. h. insofern ,Seiendes‘ absolute genommen wird, als ,Seiendes‘ betrachtet wird. Eckhart setzt nicht nur den abstrakten Terminus esse mit Gott gleich, sondern auch den konkreten Terminus ens. Für diese These führt er eine Reihe von Autoritäten an: die Bibel (Ex. 3, 14), die Patristik ( Johannes Damascenus, für den ,Sein‘ der erste Gottesname ist) und die Philosophiegeschichte (Parmenides und Melissus). Aber dass der Sinn seiner These einen augustinischen Hintergrund hat, zeigt sich am Ende seiner Überlegungen: „Von den übrigen Dingen aber ist jedes Einzelne dieses Seiende (ens hoc), nämlich Stein, Löwe, Mensch und dergleichen.“ 92 Die (von Eckhart nicht formulierte) Gegenthese wird mithin lauten: „Jedes Geschaffene ist ein Dies-oder-das-Seiendes.“ Die zweite These heißt: „Von Gott allein haben alle Dinge das Sein.“ Diese These entspricht der ersten Auslegung des Genesistextes im ,Allgemeinen Prolog‘: Lediglich durch das Sein, das Gott ist, haben die Dinge Sein. Eckhart beweist die These durch mehrere Argumente. Das erste greift auf seinen Grundsatz zurück und verwendet das albedo-Beispiel: „Wie nämlich hätte etwas Sein außer vom Sein? […] Ist doch z. B. alles Weiße (omne album) durch die Weiße weiß.“ 93 Ein weiteres Argument gründet sich auf die Erstheit und Gemeinsamkeit des Seienden und der übrigen termini generales. Als die Ersten (prima) und 89

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91 92 93

Heinrich von Gent, Summa quaestionum ordinarium, a. 24, q. 6 (fol. 142vS): „Ad cuius intellectum sciendum quod duplex est abstractio formae per intellectum a supposito participante formam. Uno modo, ut relatae ad supposita […]. Considerata primo modo, est abstractio universalis a particulari, ut boni ad hoc bono et ab illo […; fol. 142vV] A quo si subtraxeris hoc et illud […] est commune analogum ad deum et creaturam, et est de primis intentionibus quae per se et primo concipit intellectus de rebus, ut sunt unum et ens.“ Ibid., a. 24, q. 6 (142vS und V): „Et sicut est de intellectu boni, ita est de intellectu entis, veri, pulchri, iusti.“ Prol. in op. prop., n. 5 (LW I, 168). Prol. in op. prop., n. 8 (LW I, 170). Prol. in op. prop., n. 9 (LW I, 170-171).

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allem Gemeinsamen (omnibus communia) können sie nur auf die Kausalität der ersten und universalen Ursache zurückgeführt werden. Anschließend betont Eckhart, dass die Exklusivität der Seinsursache die Tätigkeit der Zweitursachen nicht ausschließt: „Dadurch wird jedoch der Einfluß der Zweitursachen nicht ausgeschlossen. Denn die Form des Feuers gibt ja dem Feuer nicht das Sein, sondern dieses Sein (hoc esse) […]. Aber eben dieses, daß nämlich die Form des Feuers dem Feuer Sein […] verleiht, hat sie aufgrund des ihr von der ersten Ursache verliehenen Bestandes (fixio), gemäß dem IX. Satz im ,Liber de causis‘: ,Jede Intelligenz hat Bestand und Wesen durch die reine Gutheit, welche die erste Ursache ist‘.“ 94

Jedes Seiende hat sein ganzes Sein nicht nur von Gott allein, sondern auch unmittelbar (immediate) von ihm, so behauptet die dritte These. Die Seinsgabe Gottes ist „ohne jede Vermittlung (medium)“. Durch diese These wird einerseits Avicennas Auffassung eines stufenweisen Hervorgangs aus dem ersten Prinzip verneint, andererseits das unmittelbare Verhältnis von Gott und Geschöpf hervorgehoben. Zwischen dem Sein, das Gott ist, und dem Seienden kann es kein Mittleres geben, das folglich außerhalb des Seins stehen würde. Außerdem: „Das Erste leidet kein medium.“ Eckhart verweist dafür wieder auf den ,Liber de causis‘, wo es in der Erläuterung des ersten Satzes heißt, dass der Einfluss der ersten Ursache zuerst eintritt und zuletzt weicht 95. Die vierte These ist gleichsam das Gegenstück der zweiten These: „Dies-oderdas-Seiende trägt nichts an Seiendheit (entitas) (zum Sein) bei.“ Der Zusammenhang mit der zweiten These zeigt sich auch in der anschließenden Bemerkung, die wieder betont, dass die Exklusivität der Seinsursache die Tätigkeit der Zweitursachen erst ermöglicht: „Indem wir dies sagen, heben wir das Sein der Dinge nicht auf noch zerstören wir es, sondern geben ihm Bestand (statuimus).“ 96 Eckhart führt für die vierte These vier Gründe an. Der erste beruht auf der Schöpfungsidee: „Alles, was Sein gibt, erschafft und ist die erste und allumfassende Ursache […]. Kein Dies-oder-Das (hoc aut hoc) ist die erste und allumfassende Ursache noch erschafft es. Also gibt kein Dies-oder-Das Sein.“ 97 Der dritte Grund greift auf den vierten Beweis für den Satz ,Esse est deus‘ zurück: „Außer dem Sein und ohne das Sein ist nichts, auch das Gewordene. Teilte also etwas Anderes außer Gott das Sein mit, so teilte Gott nicht allen Dingen Sein mit.“ 98

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96 97 98

Prol. in op. prop., n. 11 (LW I, 171-172). Prol. in op. prop., n. 13 (LW I, 172-173). Der Verweis auf den ,Liber de causis‘ ist in Wirklichkeit ein wörtliches Zitat aus Thomas’ Kommentar zu diesem Buch: In De causis, prop. 1 (ed. H. D. Saffrey, Fribourg-Louvain 1954, 8): „Ergo impressio causae primae primo advenit et ultimo recedit.“ Prol. in op. prop., n. 15 (LW I, 176). Prol. in op. prop., n. 20 (LW I, 178). Prol. in op. prop., n. 22 (LW I, 178-179).

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3.4 Zusammenfassung In den vorangehenden Paragraphen (3.1-3) haben wir den Anfang des I. Traktats über das Sein und das Nichts rekonstruiert. Eckharts originelle Thesen lassen sich schematisch wie folgt zusammenfassen: (1) Das Sein ist Gott. (2) Seiendes bezeichnet allein das Sein. (3) Man muss anders urteilen über Seiendes als über Dies-oder-dasSeiende. (4) Gott allein ist im eigentlichen Sinne Seiendes. (5) Von Gott allein haben alle Dinge das Sein. (6) Von Gott hat jedes Seiende unmittelbar sein ganzes Sein.

(1*) Jede Kreatur ist in sich ein Nichts.

(4*) Jedes Geschöpf ist ein Dies-oderdas-Seiendes. (5*) Das Dies-oder-Das trägt nichts an Seiendheit bei.

Welche Schlussfolgerungen lassen sich aus dieser Rekonstruktion mit Bezug auf Eckharts Anliegen und Denkweise ziehen? V. Eckhar ts Anlieg en: ,Dialektik‘ Die Rekonstruktion ermöglicht es uns, schärfer die entscheidenden Gedankenschritte in Eckharts Darlegung zu sehen und die Dynamik seiner Metaphysik zu erkennen. (1) Ausgangspunkt des I. Traktats ist der radikale Gegensatz zwischen Sein und Nichts, Ausdruck der Zweigeteiltheit des Thesenwerkes. Eckharts erste These über das Sein setzt das esse mit Gott gleich, seine erste These über den Gegenbegriff behauptet, das Geschöpf sei in sich nihil. Ist dieses Verfahren ,dialektisch‘ zu deuten? Seit Losskys bahnbrechender Studie ist in der neueren Forschung des Öfteren die entscheidende Rolle der Dialektik in Eckharts Denken hervorgehoben worden 99. Der Inhalt und der Ort dieses Begriffs bleiben manchmal vage; auch der Meister selbst thematisiert das Verfahren nicht. Die Methode dieses philosophischen Denkens, so Heribert Fischer, ist ,dialektisch‘. „Thesis und Antithesis werden ,aufgehoben‘ in der Synthesis.“ 100 Das 99

100

Cf. Lossky, The´ologie ne´gative (nt. 57), 254 sqq.; M. de Gandillac, La ,dialectique‘ de Maıˆtre Eckhart, in: La mystique rhe´nane. Colloque de Strasbourg 16-19 mai 1961, Paris 1963, 5994; de Libera, Le proble`me de l’eˆtre (nt. 85), 1; Goris, Einheit als Prinzip und Ziel (nt. 5), 207251; B. McGinn, The Mystical Thought of Meister Eckhart. The Man from Whom God Hid Nothing, New York 2001, 91-96. H. Fischer, Meister Eckhart. Einführung in sein philosophisches Denken, Freiburg-München 1974, 41.

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klingt reichlich hegelianisch, aber wie es gemeint ist, verdeutlicht der Autor: „Aus Satz und Gegen-satz, durch Setzung und Ent-gegen-setzung, durch Position, Proposition und Opposition, wird nicht ein Mittleres gewonnen, sondern eine Syn-thesis.“ Zur Bestätigung dieser Behauptung zitiert er Eckharts Bemerkung zur 4. These im ,Prolog zum Thesenwerk‘: „Indem wir dies sagen, heben wir das Sein der Dinge nicht auf und zerstören es nicht, wir statuieren es, fügen es zusammen in einer Synthese.“ 101 In seine Übersetzung des Zitats führt Fischer einfach seine ,dialektische‘ Deutung ein (statuimus: „Wir fügen es zusammen in einer Synthese“). Diese Vermischung von Deutung und Übersetzung ist unangebracht und irreführend. Wie wir gesehen haben, beabsichtigt Eckhart mit seiner Aussage, einem falschen Verständnis seiner Thesen vorzubeugen. Die von ihm hervorgehobene Exklusivität der Seinsursache führt nicht dazu, dass das Wirken und Sein der Dinge ,aufgehoben‘ wird; sie gibt den Dingen erst Bestand. Aus der Struktur des Thesenwerkes kann man nicht ohne weiteres auf ein ,dialektisches‘ Vorgehen durch ,Thesis - Antithesis - Synthesis‘ schließen 102. Zu beachten ist, dass die Zweigeteiltheit dieses Werkes auf Begriffen, nicht auf Sätzen beruht. Ein Satz über den Gegenbegriff verhält sich nicht notwendig kontradiktorisch zum Satz über den positiven Begriff. Tatsächlich bildet die erste Nichts-These nicht die Antithese des Satzes ,Esse est deus‘, sondern vielmehr sein logisches Korrelat. (2) Eckharts zweiter Schritt besteht in der Einführung eines dritten Terminus, ens. Man könnte vermuten, dass der Grund dafür die Idee der Schöpfung ist, die ja eine Differenz zum absoluten Sein setzt. Hat der Begriff ens mithin nicht eine vermittelnde Funktion zwischen dem Esse/Deus und dem nihil? Der von Eckhart mehrmals zitierte 14. Satz aus dem ,Liber XXIV philosophorum‘ scheint diesen Gedanken nahe zu legen: „Gott ist der Gegensatz zum Nichts durch Vermittlung des Seienden“ („Deus est oppositio nihil mediatione entis“). Zweimal in seinen Schriften gibt der Meister eine Erklärung dieses rätselhaften Satzes 103. In seinem Johanneskommentar hebt Eckhart auf die ,Mittelstellung‘ des ens ab: „Der Sinn (des Satzes) ist, daß das ganze Universum sich zu Gott verhält wie das Nichts zum Universum, so daß das Universum, d. h. jedes Seiende, gleichsam die Mitte (medium) zwischen Gott und dem Nichts ist.“ 104 Im Sapientiakommentar dient der Satz dazu, die Unvergleichbarkeit und Transzendenz Gottes zu erhellen. Er wird im Rahmen einer Auslegung des Ausspruches ,Divitias nihil dici in comparatione illius‘ (Sap. 7, 8) zitiert: „Gott ist ein so großes Gut, daß ihm gegenüber und im Vergleich mit ihm jedwedes andere, sogar alles (zu101 102 103 104

LW I, 176; Fischer, Meister Eckhart (nt. 100), 42. Cf. Albert, Meister Eckharts These vom Sein (nt. 5), 25, nt. 105. Cf. Ruh, Geschichte (nt. 1), 42-43. In Ioh., n. 220 (LW III, 185): „Sensus est quod totum universum comparatum deo se habet sicut nihil comparatum ipsi universo, ita ut ipsum universum, ens omne, sit quasi medium inter deum et nihil.“

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sammen) nichts bedeutet, wie das Licht eines wenn auch hellen Sternes gegenüber dem Licht der Sonne.“ Eckhart bestätigt diese Auslegung durch mehrere Autoritäten: die Antwort des Bernhard von Clairvaux auf die Frage ,Was ist Gott?‘: „Ohne den nichts ist“, den 6. Satz im ,Liber XXIV philosophorum‘: „Gott ist der, im Vergleich mit dem die Substanz Akzidens ist und das Akzidens nichts ist“, und schließlich den 14. Satz im selben Buch. Letzterer Satz will sagen: „Wie jedes Geschaffene das Nichts übersteigt, so übersteigt Gott jedes geschaffene Seiende.“ 105 Eckhart weist aber darauf hin, dass die Textstelle im Buch ,Weisheit‘ noch auf eine andere, ,tiefere‘ (subtilius) Weise verstanden werden kann. Diese zweite Auslegung stellt tatsächlich die Vorstellung von einer ,Mittelstellung‘ des geschöpflichen Seienden, ja die Möglichkeit eines Vergleichens mit Gott überhaupt in Frage. Wer nämlich vergleicht, betrachtet beim Vergleichen das Verglichene immer wie zwei Dinge, die getrennt (divisa) und voneinander unterschieden (distincta) sind. Jedes Seiende aber, das von Gott getrennt ist, wird vom Sein getrennt und unterschieden, denn Gott ist das Sein selbst. Was aber vom Sein getrennt und unterschieden ist, ist notwendig nichts; denn nichts ist so sehr nichts wie das, was vom Sein getrennt ist 106. Die Transzendenz Gottes hinsichtlich jeder Kreatur darf man sich nicht als einen Unterschied zwischen zwei distinkten Dingen vorstellen. Es gibt kein Mittleres zwischen esse und nihil. Im Titel des I. Traktats setzt Eckhart ,Sein‘ und ,Seiendes‘ in Opposition zum ,Nichts‘. (3) Der dritte Schritt besteht in einer Differenzierung innerhalb des Bereiches des ens. Eckhart setzt nicht, wie man vielleicht erwarten würde, das ens mit dem Geschöpf gleich, sondern führt einen neuen Unterschied zwischen Gott und Kreatur ein, den Unterschied zwischen ens (absolute) und ens hoc aut hoc, der in seinen Werken eine prominente Rolle spielt 107. Das geschöpfliche Dies-und-das-Seiende schließt ein anderes Dieses aus, ist ein proprium, nicht commune 108. Als solches ,schmeckt‘ es nach Verneinung (negatio), ist mit dem Charakter des Nichts behaftet: Es stammt aus der Verbindung des Seienden und des Nichts 109. Der ursprüngliche Gegensatz zwischen Sein und Nichts wirkt in der Struktur der Kreatur weiter. Als Dies-und-das-Seiendes ist das Geschöpf ein Abfall vom ungeschiedenen Sein, das Gott ist; zugleich ist 105 106

107

108 109

In Sap., n. 90 (LW II, 424). In Sap., n. 91 (LW II, 424): „Omne autem ens divisum a deo dividitur et distinguitur ab esse, quia deus est ipsum esse. Divisum autem ab esse et distinctum necessario nihil est; nihil enim tam nihil quam divisum ab esse.“ Ähnlich In Ex., n. 40: „Omne autem ens creatum acceptum vel conceptum seorsum per se distinctum a deo non est ens, sed est nihil. Separatum enim et distinctum a deo separatum est et distinctum ab esse, quia ab ipso deo, per ipsum et in ipso sunt quaecumque sunt, et ,sine ipso factum est nihil‘, Ioh. 1, et Act. 17: ,in ipso vivimus, movemur et sumus‘.“ Cf. In Sap., nn. 98, 178, 282 (LW II, 432 sqq., 513 sq., 614 sq.); In Ioh., n. 611 (LW III, 533); Sermo LV, n. 546 (LW IV, 457); BgT (DW V, 25, 27). Cf. In Sap., n. 98 (LW II, 432). Cf. In Gen. II, 92 (LW I, 558).

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es ein Abfall vom Einen, das Gott ist, weil jede Verneinung eine wirkliche Vielheit einschließt 110. Eckharts Anliegen ist jedoch, diesen Unterschied zwischen Gott und Kreatur, ja jeden Gegensatz, zu überwinden. Seine Metaphysik, die mit einem radikalen Gegensatz beginnt, zielt auf die Einigung und Einheit. Dazu soll der Mensch alles ,Eigentümliche‘ ablegen. An dieser Stelle wird die Metaphysik zur Ethik: Die Einheit mit Gott verlangt die abnegatio des hoc et hoc. Sehr klar stellt Eckhart die Notwendigkeit dieser ,Abgeschiedenheit‘ in seiner Auslegung von Sap. 18, 14 dar (,Als nämlich tiefes Schweigen alles umfangen hielt‘). Ruhe und Schweigen muss alles umfangen, damit Gott durch Gnade in den Geist kommt und der Sohn in der Seele geboren wird. ,Alles‘ schweigt, wenn in der Seele Dies-und-das-Geschaffene (hoc et hoc creatum) schweigt. Aus vier Gründen ist dies für die Seele, die Gott selbst aufnehmen soll, notwendig: (i) Gott ist nicht Dies-oder-Das, sondern über allem. (ii) Jedes Dies-und-Das ist geschaffen, Gott aber ist ungeschaffen. (iii) Alles, was Ununterschiedenes liebt, hasst Unterschiedenes. Gott aber ist ununterschieden (indistinctus), und auch die Seele selbst liebt ununterschieden zu sein, das heißt eins zu sein und eins zu werden mit Gott. Jedes Dies-und-Das aber ist unterschieden und schmeckt nach Unterschiedenheit. (iv) Die Seele bewegt sich von Natur aus auf das, was schlechthin und absolut gut ist. Nichts aber, was Dies-und-das-Gutes ist, ist schlechthin und absolut gut (mit einem Verweis auf Augustins Ausführungen im VIII. Buch von ,De trinitate‘) 111. An einer anderen Stelle im Sapientiakommentar nennt Eckhart das hoc et hoc einen ,Fallstrick‘, in dem man sich verfängt und nicht mehr frei ist. Ein solcher Mensch tut das Gute nicht um seiner selbst willen - sunder warumbe in den deutschen Predigten -, sondern dient diesem oder jenem um dieses oder jenes Gutes willen, ist Mietling, ein Knecht 112. (4) Eckharts vierter Schritt analysiert die ontologischen Bedingungen der Identität mit Gott, d. h. er betrachtet die creatura als ens. „Gott ist in jedem, insofern es ein Seiendes ist, in keinem aber, insofern es ein Dieses-Seiendes ist.“ 113 Die zweite und dritte These im ,Prolog zum Thesenwerk‘ legen dar, dass das Geschöpf als ,Seiendes‘ allein von Gott ist und unmittelbar von ihm ist. „Zwischen dem Sein und dem Seienden als Seiendem gibt es nämlich kein Mittleres.“ 114 Hier bricht der Prolog ab, aber Eckhart erhellt die unmittelbare und innige Beziehung zwischen dem Sein und dem Seienden durch weitere Überlegungen in seinem Werk. Dazu gehört die Kritik an der Idee der Exteriorität der Schöpfung, die Eckhart in der Auslegung der ersten auctoritas im ,Allgemeinen Prolog‘ übt. Dass 110 111 112 113 114

Cf. In Ioh., n. 611 (LW III, 533). Cf. In Sap., nn. 281-282 (LW II, 613 sqq.). Cf. In Sap., n. 98 (LW II, 433). In Ioh., n. 206 (LW III, 174). In Ioh., n. 205 (LW III, 172).

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Gott in principio geschaffen hat, heißt, dass er in sich selbst geschaffen hat 115. Auch in anderen Texten betont er diese Immanenz: Alles, was a Deo ist, ist in Deo, denn Gott ist das Sein. Was nicht in Gott ist, ist nicht im Sein, sondern ist nicht und ist nichts 116. Der Unterschied zwischen einer Zweitursache und der ersten Ursache besteht darin, dass die letztere ihre Wirkung nicht nur aus sich und von sich hervorbringt, sondern auch in sich 117. Das Sein des Geschöpfes ist als ein ,Insein‘ in Gott zu verstehen 118. Eckhart bestimmt das Verhältnis zwischen dem göttlichen esse und dem geschöpflichen ens auch durch den Begriff der ,Nähe‘. Auf der Grundlage der Identität von Sein und Gott argumentiert er: „Von Gott aber, dem Sein, ist nichts fern außer dem Nichts. Was ist aber dem Sein, das Gott ist, so nahe wie das Seiende? ,Nah bist du, o Herr‘ (Ps. 118, 151). Was könnte näher sein als das Seiende und das Sein, zwischen denen es kein Mittleres gibt?“ 119 Diese innere Nähe heißt für Eckhart letztlich, dass es keinen Unterschied gibt: Das Sein ist von allem, was ist, ununterschieden (indistinctum) 120. Die Analyse der Gedankenschritte Eckharts zeigt, wie sehr die Frage nach der Differenz und der Identität des göttlichen esse und des geschöpflichen ens sein Denken in Atem hält. Hier findet seine Lehre von der Analogie ihren Ort, die, wie sich aus einem expliziten Verweis ergibt, zur Thematik des I. Traktats gehört. Eine Stelle im Johanneskommentar bestätigt diesen Zusammenhang. In seiner Auslegung des Wortes ,In propria venit‘ ( Joh. 1, 11) referiert Eckhart seine ersten drei Thesen im zweiten Prolog, fügt aber hinzu, dass Gott auf analoge Weise (analogice) die Seiendheit in allen Dingen wirkt 121. Differenz und Identität - in dieser Problematik hat auch Eckharts neuplatonisch inspirierte ,Dialektik‘ ihren Ort 122; sie ist die andere Weise, auf welche er das Verhältnis zwischen dem Sein, das Gott ist, und dem geschaffenen Seienden deutet. Von den Perspektiven der Identität und Nicht-Identität der Relata her werden gleichzeitig gegensätzliche Aussagen über dieses Verhältnis gemacht. Die Berücksichtigung dieses ,dialektischen‘ Verfahrens ist für die Gesamtinterpretation des Eckhart’schen Denkens von großer Bedeutung, insofern sein Vorgehen klarmacht, dass es für die Erläuterung scheinbar kontradiktorischer Aussagen in Eckharts 115 116

117 118

119 120 121 122

Cf. Prol. gen. in op. trip., n. 16 (LW I, 39). Sermo XXIII, n. 220 (LW IV, 206): „Omne quod est a deo, est in deo. Primo, quia extra ipsum nihil est […]. Secundo, quia quod non est in deo, non est in esse, quia deus est esse. Quod autem non est in esse sed extra, non est et nihil est.“ Cf. In Eccli., n. 49 (LW II, 277); In Sap., n. 121 (LW II, 457 sq.). Cf. K. Kremer, Meister Eckharts Stellungnahme zum Schöpfungsgedanken, in: Trierer Theologische Zeitschrift 74 (1965), 65-82. In Sap., n. 164 (LW II, 499). Cf. In Sap., n. 145 (LW II, 483). Cf. In Ioh., n. 98 (LW III, 84). Cf. W. Wackernagel, Ymagine denudari. E´thique de l’image et me´taphysique de l’abstraction chez Maıˆtre Eckhart, Paris 1991, 110-117; Goris, Einheit als Prinzip und Ziel (nt. 5), 207251.

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Werk, z. B. in der ersten Pariser Quästion und im ,Opus tripartitum‘, durchaus nicht notwendig ist, auf die Hypothese einer denkerischen Entwicklung zu rekurrieren. Eckharts beliebtes Beispiel für die Deutung der Beziehung zwischen Gott und dem geschaffenen Seienden ist die dialektische Verwendung des Gegensatzes ,distinctum - indistinctum‘. Er formuliert zwei gegensätzliche Aussagen: „Nichts ist so sehr unterschieden […] vom Geschaffenen wie Gott“ und „Nichts ist so sehr vom Geschaffenen ununterschieden wie Gott.“ 123 Für beide Perspektiven führt er jeweils drei Gründe an. Sein erstes Argument für die zweite Aussage setzt das Verhältnis zwischen dem Geschöpf und Gott mit demjenigen zwischen ens und esse gleich: „Nichts ist so ununterschieden wie das Seiende und das Sein.“ 124 Der Gegensatz ,indistinctum - distinctum‘ war das Thema einer anderen Abhandlung des Thesenwerkes, des VIII. Traktats. Es ist deshalb erforderlich, den Horizont zu erweitern und einen Blick auf die Gliederung des Werkes im Ganzen zu werfen. VI. Glieder ung des T hesenwerkes Die 14 Termini (und ihre Gegensätze), welche die Traktate des Thesenwerkes gliedern, sind natürlich nicht willkürlich gewählt; sie stellen die ,Grundworte‘ des Eckhart’schen Denkens dar und liefern den Schlüssel zur Interpretation seiner Metaphysik 125. Gemäß welchen Prinzipien gliedert Eckhart das ,Opus propositionum‘? Die Einteilung in vierzehn Traktate legt eine Assoziation mit den vierzehn Büchern der ,Metaphysik‘ des Aristoteles nahe. Heribert Fischer war tatsächlich der Ansicht, „daß das Werk der Thesen mit den vierzehn Traktaten ausgewählten […] Büchern der aristotelischen ,Metaphysik‘ entspricht“ 126. Auf einen Nachweis dieser Abhängigkeit verzichtet Fischer jedoch; ein solcher Nachweis lässt sich auch nicht erbringen. Auch Karl Albert versucht, das Thesenwerk aufgrund des aristotelischen Metaphysikkonzepts zu gliedern. Nach Aristoteles hat die Metaphysik zwei Hauptgegenstände: das Seiende als solches und das höchste Seiende. Die Metaphysik ist einerseits Ontologie, andererseits Theologie. In den Traktaten des ,Opus propositionum‘ treten beide Hauptgegenstände der Metaphysik in Erscheinung. Laut Albert befassen sich die Traktate I-IV, 123

124 125 126

In Sap., n. 154 (LW II, 489); cf. W. Beierwaltes, Unterschied durch Un-Unterschiedenheit: Meister Eckhart, in: id., Identität und Differenz, Frankfurt a. M. 1980, 97-104; Goris, Einheit als Prinzip und Ziel (nt. 5), 220 sqq. für eine eingehende Analyse aller Argumente. In Sap., n. 155 (LW II, 491). Cf. Albert, Meister Eckharts These vom Sein (nt. 5), 27. H. Fischer, Die theologische Arbeitsweise Meister Eckharts in den lateinischen Werken, in: A. Zimmermann (ed.), Methoden in Wissenschaft und Kunst des Mittelalters (Miscellanea Mediaevalia 7), Berlin 1970, 57.

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VI-VIII und XIV mit der Ontologie, die Traktate V und IX-XIII mit der metaphysischen Theologie 127. Unverständlich bleibt jedoch in diesem Schema, warum Eckhart seine Traktate dann nicht entsprechend jener Zweiteilung geordnet hat. Das von Albert vorgeführte Ordnungsprinzip ist Eckharts Metaphysik in Wahrheit fremd. Eckhart thematisiert nicht zunächst eine formale Ontologie, die dann mit Bezug auf ein ausgezeichnetes Seiendes, das Göttliche, ausgearbeitet wird. Seine erste These lautet: ,Esse est deus‘. Die bisherigen Deutungsvorschläge sind unbefriedigend; wir bedürfen eines anderen Gliederungsprinzips 128. 1. Traktate I-VI: ,Transzendentalien-Metaphysik‘ Die ersten vier Traktate handeln vom ,Sein‘, von der ,Einheit‘, der ,Wahrheit‘ und der ,Gutheit‘ und von den ihnen entsprechenden concreta ,Seiendes‘, ,Eines‘, ,Wahres‘ und ,Gutes‘. Der klarste Beleg dafür, dass diese Traktate zusammengehören, ist die Tatsache, dass die Thesen im zweiten Prolog sich nicht nur auf ,Seiendes‘ (auf das wir uns im Abschnitt 3 beschränkt haben) beziehen, sondern auch auf die drei weiteren Termini. Eckhart selbst deutet den inneren Zusammenhang der Gegenstände der ersten vier Traktate an: „Das ,Seiende‘, ,Eine‘, ,Gute‘ und ,Wahre‘ sind transcendentia.“ 129 Seine Gliederung des Thesenwerkes folgt der im 13. Jahrhundert herausgebildeten und von Albert dem Großen, Thomas von Aquin und Heinrich von Gent weiterentwickelten Lehre von den ,Transzendentalien‘ 130. Eckharts Lehre von den transcendentia enthält mehrere Elemente, die zum traditionellen Bestand dieser Doktrin im 13. Jahrhundert gehören. Ens, unum, verum, bonum sind, so bemerkt er im ,Prolog zum Thesenwerk‘, die Ersten (prima) in den Dingen und allen gemeinsam (omnibus communia) 131. Gerade deshalb heißen sie ,Transzendentalien‘, denn wegen ihrer Gemeinsamkeit ,übersteigen‘ sie die aristotelischen Kategorien. Weil sie allen Dingen gemeinsam sind, schließen die Transzendentalien, im Gegensatz zu den Kategorien, einander nicht aus, sondern ein. Sie sind miteinander in der Aussage vertauschbar (convertibilis): Dasjenige, was ,seiend‘ ist, ist ,eins‘ und umgekehrt. Dennoch sind die Transzendentalien keine Synonyme, sondern unterscheiden sich begrifflich voneinan127

128

129 130

131

Cf. Albert, Meister Eckharts These vom Sein (nt. 5), 26-27; übernommen von Ruh, Geschichte (nt. 1), 298. Cf. F. Brunner, La structure de l’Opus propositionum de Maıˆtre Eckhart, in: J. Brunschwig/C. Imbert/A. Roger (eds.), Histoire et structure. A la me´moire de Victor Goldschmidt, Paris 1985, 241-249; J. A. Aertsen, Meister Eckhart: Eine außerordentliche Metaphysik, in: Recherches de The´ologie et Philosophie me´die´vales 66 (1999), 1-20. Sermo XXXVII, n. 377 (LW IV, 322): „Ens, unum, bonum, verum transcendentia sunt.“ Zur mittelalterlichen Transzendentalienlehre cf. J. A. Aertsen, Medieval Philosophy and the Transcendentals. The Case of Thomas Aquinas (Studien und Texte zur Geistesgeschichte des Mittelalters 52), Leiden-New York-Köln 1996. Zu Eckharts Lehre cf. Albert, Meister Eckharts These vom Sein (nt. 5), 109-189. Cf. Prol. in op. prop., n. 11 (LW I, 171).

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der 132; ,Eines‘, ,Wahres‘ und ,Gutes‘ fügen dem ,Seienden‘ etwas hinzu. Gemäß dieser Hinzufügung besitzen die Transzendentalien eine Ordnung: „Sein ist das Erste, dann kommt das Eine, danach das Wahre, viertens das Gute.“ 133 Diese Ordnung entspricht genau der Reihenfolge der Traktate I-IV. Die Traktate V und VI gehören zusammen und sind mit dem IV. Traktat über das Gute verbunden. Der Gegenstand der Liebe ist das bonum; die caritas ist „amor boni, in quantum bonum, et hoc deus est“ 134. Der VI. Traktat handelt „vom moralischen Guten“ (honestum), dem perfectum bonum und apex boni 135, und „von der Tugend“, deren Paradigma für Eckhart die Gerechtigkeit (iustitia) ist. Die Traktate V und VI bilden mit den ersten vier Traktaten eine nicht nur durch das Gute vermittelte, sondern unmittelbare Einheit. Diese gründet sich auf eine Besonderheit der Transzendentalienlehre Eckharts: seine Einbeziehung der ,geistigen Vollkommenheiten‘ in die Doktrin. In seiner Auflistung der allgemeinsten Vollkommenheiten werden nicht nur ,Sein‘, ,Einheit‘, ,Wahrheit‘ und ,Gutheit‘ erwähnt, sondern auch ,Weisheit‘ und ,Gerechtigkeit‘ 136. Ein klares Indiz für die Zusammengehörigkeit der ersten sechs Traktate ist Eckharts Vorbemerkung im ,Prolog zum Thesenwerk‘: „Seiendes (ens) bezeichnet allein das Sein (esse).“ Er fügt hinzu: „Entsprechendes gilt auch bei anderem: so bezeichnet unum nur die unitas, verum die veritas, bonum die bonitas, honestum die honestas, rectum die rectitudo, iustum die iustitia usw.“ 137 Die Transzendentalien bilden den Schwerpunkt des Thesenwerkes; die Vorbemerkungen und Thesen im Prolog zum ,Opus propositionum‘ beziehen sich auf diese termini generales. Daraus lässt sich eine wichtige, inhaltliche Spezifizierung der Grundlegungsfunktion des Thesenwerkes ableiten: Eckharts Projekt des ,Opus tripartitum‘ findet letztlich seine philosophische Grundlegung in einer ,Transzendentalien-Metaphysik‘ (der Terminus wurde von Josef Koch geprägt) 138. Diese vermittelt einen Einblick in die philosophische ,Systematik‘ Eckharts, weil vor diesem Hintergrund seine These ,Esse est deus‘ zu verstehen ist. Sein Grundsatz ist der Systematik des Denkens angemessen, denn die erste These fängt mit dem Ersten und Gemeinsamen an. 2. Traktate VII-XII: Strukturprinzipien Auch die nächsten sechs Traktate gehören zusammen. Dieser Zusammenhang ist nicht unmittelbar einsichtig, weil die behandelten Begriffe recht unterschiedlich sind. Sehen wir uns deshalb zunächst diese Traktate genauer an. 132 133 134 135 136 137 138

Cf. In Ioh., nn. 561, 562 (LW III, 488 sqq.). In Ioh., n. 547 (LW III, 478). In Sap., n. 98 (LW II, 432). Cf. In Sap., nn. 111, 113 (LW II, 447 sqq.). Cf. Prol. gen. in op. trip., n. 8 (LW I, 152); In Eccli., n. 52 (LW II, 282). Prol. in op. prop., n. 2 (LW I, 166). Cf. J. Koch, Sinn und Struktur der Schriftauslegungen Meister Eckharts, in: id., Kleine Schriften I (Storia e letteratura; Raccolta di studi e testi 127), Rom 1973, 413.

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Der VII. Traktat handelt vom totum und seinem Gegensatz, pars. Was Eckhart an diesen Begriffen interessiert, ist die seinsbegründende Funktion des Ganzen. „Jeder Teil empfängt das Sein vom Ganzen, im Ganzen und für das Ganze“ ein Satz, den er mit impliziten Verweisen auf Bibeltexte bekräftigt: „weil ,alles durch ihn und in ihm‘ (Col. 1, 16) und für ihn ist. Denn ,in ihm und durch ihn ist alles‘ (Röm. 11, 36).“ 139 Im ,Prolog zum Thesenwerk‘ erläutert Eckhart die 4. These („Dieses-oder-das-Seiende trägt als solches nichts an Seiendheit [zum Sein] bei“) mit dem Beispiel des Verhältnisses von Teil und Ganzem: „Die einzelnen Teile bringen ihrem Ganzen durchaus kein Sein zu, sondern empfangen vielmehr ihr ganzes Sein von ihrem Ganzen und in ihrem Ganzen. Sonst wäre nämlich das Ganze nicht eines.“ 140 Der VIII. Traktat handelt vom Gemeinsamen (commune) und Ununterschiedenen (indistinctum) und von seinem Gegensatz, dem Eigentümlichen (proprium) und Unterschiedenen. Diese Thematik ist für Eckharts Verständnis der Transzendentalien aufschlussreich, denn diese sind die gemeinsamsten Bestimmungen. Er vertritt die These ,Deus communis est‘. Alles Gemeinsame, insofern es gemeinsam ist, ist Gott, und alles Nicht-Gemeinsame, insofern es nicht-gemeinsam ist, ist geschaffen. Jede Kreatur ist etwas Unterschiedenes, ein ,Dieses-oderdas-Seiendes‘ (ens hoc aut hoc). Gott dagegen ist nicht etwas Distinktes, sondern ist allen Dingen gemeinsam 141. Wie wir gesehen haben (3.4), verwendet Eckhart vorzugsweise den Gegensatz ,indistinctum - distinctum‘ für die ,dialektische‘ Deutung des Verhältnisses zwischen Gott und Geschöpf. Der IX. Traktat ,Von der Natur des Oberen und von der Natur des Niederen‘ betrifft „einen Angelpunkt der Lehre Eckharts“; sein „Denken bewegt sich in der Vertikale und achtet auf die Über- und Unterordnung der Dinge“ 142. Im Paragr. 2 haben wir festgestellt, dass die meisten expliziten Verweise auf das Thesenwerk im ,Opus tripartitum‘ sich auf den IX. Traktat beziehen. Aus den zehn Verweisen lassen sich die Zentralthemen dieses Traktats erschließen: das kausale Verhältnis zwischen dem Oberen und Niederen („Das Höhere berührt das Niedere und gleicht es sich an, ohne selbst berührt zu werden“) und die Gnade (gratia), die als solche ,übernatürlich‘ ist und das Einssein mit Gott gibt. Der X. Traktat handelt ,vom Ersten und vom Letzten‘ (,De primo et novissimo‘). Dieses Thema wird in Eckharts exemplarischer Exegese des ersten Genesisverses im ,Allgemeinen Prolog‘ angesprochen. Die vierte Auslegung legt dar, dass Gott, da er das Sein ist, Anfang und Ende ist. Das Sein ist das Erste und Letzte, Ursprung und Ziel: Wie nämlich vor dem Sein nichts ist, so ist auch nach dem Sein nichts, weil das Sein der Endterminus jedes Werdens ist 143. Auf dieser 139 140 141 142

143

Quaestiones Parisienses, q. 5, n. 4 (LW V, 80). Prol. in op. prop., n. 18 (LW I, 176-177). Cf. Sermo VI/2, n. 53 (LW IV, 51-52); In Ioh., n. 103 (LW III, 88-89). J. Koch, Meister Eckhart. Versuch eines Gesamtbildes, in: id., Kleine Schriften I (nt. 138), 213214. Cf. Prol. gen. in op. trip., n. 19 (LW I, 163).

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Identität von Ursprung und Ziel beruht ein wichtiges Motiv in Eckharts Denken, das so genannte Kreislaufmotiv, Ausdruck der ontologischen Dynamik der Dinge, die aus Gott hervorgehen und zu ihm zurückkehren 144. Der XI. Traktat handelt von der Idee und vom Grund (ratio) und von deren Gegensätzen. Die Bedeutung dieser Termini wurde in Eckharts Auslegung der ersten auctoritas im Ersten Genesiskommentar greifbar. Das principium, in dem Gott Himmel und Erde geschaffen hat, ist die ratio idealis. Eckhart legt die Verbindung mit der Ideenlehre Platons dar: „Ganz allgemein nämlich ist das Prinzip und die Wurzel eines jeden Dinges seine ratio. Daher kommt es, daß Platon die Ideen der Dinge als Seins- und Erkenntnisprinzipien von allen Dingen annahm.“ Zugleich weist Eckhart auf die christliche Umdeutung dieser Lehre bei Augustin hin, der in principio als in Filio ausgelegt hat; der Sohn ist das Bild (imago) und die ratio idealis aller Dinge 145. Der XII. Traktat über den Unterschied zwischen quo est und quod est greift das zweite Axiom in Boethius’ Abhandlung ,De hebdomadibus‘ auf: „ ,Das Sein‘ (esse) und ,das, was ist‘ (id quod est) sind etwas Verschiedenes (diversum).“ Die These ist für die Interpretation der Verdoppelung der Transzendentalien in den ersten Traktaten von Bedeutung, da sie eine ,ontologische Differenz‘ behauptet, und zwar mittels eines abstrakten Terminus (,Sein‘) und eines konkreten (,Seiendes‘). Aus einem expliziten Verweis auf diesen Traktat ergibt sich, dass Eckhart das quo est als dasjenige deutet, was Gott eigen ist 146. Wie verschiedenartig die Thematik der Traktate VII-XII auch sein mag, es gibt darin Gemeinsames: Sie alle behandeln Strukturprinzipien, die das in der Transzendentalien-Metaphysik der ersten sechs Traktate angesprochene Verhältnis zwischen Gott und dem Geschöpf näher bestimmen und begründen. Die Zweigeteiltheit der Begriffe betrifft immer verschiedene Formen von Über- und Unterordnung. Am klarsten tritt diese Ordnung natürlich im IX. Traktat (superius und inferius) zutage, aber ,das Ganze‘, ,das Gemeinsame‘, ,das Erste und Letzte‘, ,die Idee‘ und das quo est haben eine ähnliche metaphysische Stellung zu ihren Gegensätzen. 3. Traktate XIII und XIV Die Traktate XIII und XIV schließen das Thesenwerk ab. Obwohl das ganze Thesenwerk von Anfang an, wie die erste These ,Esse est deus‘ belegt, auf das Verstehen der göttlichen Realität ausgerichtet ist, wird erst im Titel des XIII. Traktats der Terminus explizit erwähnt: „Von Gott selbst, dem höchsten Sein, das keinen Gegensatz außer dem Nichtsein hat, wie Augustin in den Schriften ,Von der Unsterblichkeit der Seele‘ und ,Von der Religion der Manichäer‘ sagt.“ 144 145 146

Cf. Goris, Einheit als Prinzip und Ziel (nt. 5), 252-287. Cf. In Gen. I, nn. 3-5 (LW I, 187 sqq.). Cf. In Ex., n. 85 (LW II, 89).

Der ,Systematiker‘ Eckhart

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In letzterem Werk setzt Augustin sich mit dem manichäischen Dualismus auseinander. Was im wahrsten Sinne des Wortes ,Sein‘ ist, ist nichts anderes als Gott. Wenn du etwas ihm Gegensätzliches suchst, dann findest du überhaupt nichts (,nihil omnino est‘). Das Sein hat ja keinen Gegensatz außer dem Nichtsein. Es gibt deshalb keine Gott entgegengesetzte Natur 147. Durch den im Titel zum Ausdruck gebrachten Gegensatz zwischen dem (höchsten) Sein und dem Nichts ist der XIII. Traktat eng mit dem I. verwandt, so dass zu vermuten ist, dass sein grundlegender Satz lautet: ,Deus est esse‘ 148. Der XIV. Traktat ist dem Geschöpf allein gewidmet: ,Von der Substanz und dem Akzidens‘. Der letzte Traktat wirkt nach Josef Koch wie ein Anhängsel und zeigt durch seine Stellung, wie wenig Eckhart sich für das Geschöpf als solches interessiert 149. Karl Albert vermutet, dass dieser Traktat „möglicherweise erst nachträglich an die letzte Stelle des Entwurfs gestellt [worden ist], weil in ihm […] die den Verdacht des Pantheismus abwehrende Analogielehre gegeben werden sollte“ 150. Aber diese Konjektur ist weder berechtigt noch nötig, weil wir aus einem expliziten Verweis auf das Thesenwerk im Ecclesiasticuskommentar wissen, dass bereits im I. Traktat die Analogie erörtert wurde. Allerdings könnte die Analogielehre der Grund dafür sein, dass der XIV. Traktat nicht einfach von der Kreatur handelt, sondern ,von der Substanz und dem Akzidens‘. Die Analogie im geschöpflichen Bereich diente als Modell zur Erhellung des analogen Verhältnisses zwischen Gott und der Kreatur. So benutzt Eckhart an mehreren Stellen in seinem Werk die Unterscheidung zwischen der generatio, dem substantiellen Werden, und der alteratio, der akzidentellen Änderung, zur Erläuterung der Beziehung des Menschen zu Gott 151. Plausibler ist die Annahme, dass die Traktate XIII und XIV zusammengehören, weil sie von Gott und dem Geschöpf handeln, d. h. von den beiden Termini, deren Verhältnis das Grundthema des Thesenwerkes bildet, und sie das in den vorangehenden Traktaten Dargestellte zusammenfassen. Der (dialektische) Zusammenhang der Termini wird durch den von Eckhart zitierten 6. Satz im ,Liber XXIV philosophorum‘ zum Ausdruck gebracht: „Gott ist der, im Vergleich zu dem die Substanz ein Akzidens ist und ein Akzidens nichts ist.“ Als Hauptergebnis unserer Analyse ist festzuhalten, dass das Thesenwerk sich thematisch in zwei Teile gliedert: eine Transzendentalien-Metaphysik (Trakt. IVI) und eine Metaphysik der Über- und Unterordnung (Trakt. VII-XII). Nun ist bemerkenswert, dass Eckhart im ,Allgemeinen Prolog‘ zwei inhaltliche Vorbemerkungen macht - die dritte betrifft die Ordnung des ,Dreigeteilten Wer147

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Augustinus, De moribus ecclesiae catholicae et de moribus Manichaeorum libri duo II, 1, 1 (CSEL 90). K. Albert, Meister Eckharts These vom Sein (nt. 5), 196, nt. 920 hat die Stellen gesammelt. Unverständlich ist die Meinung H. Fischers (Meister Eckhart [nt. 100], 114), dass diese These vielmehr in das Werk der Expositionen gehöre. Cf. Koch, Sinn und Struktur (nt. 138), 412. Albert, Meister Eckharts These vom Sein (nt. 5), 195. Siehe z. B. In Ioh., nn. 142-159 (LW III, 119-124).

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kes‘ -, die er offensichtlich als Bedingungen für das Verständnis seines Werkes sieht. Die erste Vorbemerkung handelt von den termini generales, die zweite vom Oberen und Niederen. Die beiden Vorbemerkungen geben somit gleichsam die Hauptkoordinaten des Thesenwerkes an, die für die systematische Deutung des Eckhart’schen Denkens wegweisend sind.

Eckharts intellektuelle Mystik Karl Albert (Wuppertal) Im Folgenden wird die Rede sein von Meister Eckharts ,intellektueller Mystik‘, einer Mystik des Intellekts, der Vernunft. Ein solcher Titel klingt paradox. Mystik scheint doch nichts zu tun zu haben mit Vernunft und Intellekt, und erst recht nicht in einer Zeit, in der einige glauben, Aufsehen erregen zu müssen durch die Behauptung, Eckhart mit Mystik in Verbindung zu bringen, verstelle sein eigentliches Anliegen (Flasch, Mojsisch, Sturlese). Allerdings ist daran zu erinnern, dass der scholastische Begriff intellectus etwas ganz anderes meint als der moderne Begriff des ,Intellekts‘. Der Intellektbegriff der mittelalterlichen Scholastik ist (wie übrigens auch der griechische Begriff des nous) als eine vernehmende, unmittelbar schauende, intuitive Erkenntniskraft zu verstehen. Wir werden noch sehen, wie sich das bei Meister Eckhart auswirkt. I. Wie steht es mit der Mystik bei Eckhart? Gibt es bei ihm eine Lehre vom Vereinigtwerden und Vereinigtsein der menschlichen Seele mit Gott? Vor allem Germanisten und Theologen nehmen dies an, und zwar insbesondere im Blick auf Eckharts Lehre von der ,Gottesgeburt in der Seele‘. Wäre dies jedoch ,Mystik‘, so doch wohl nur eine ,theologische Mystik‘, eine Mystik, die sich auf die Bibel und die biblische Theologie gründet: etwa auf den Johannesprolog, auf den Bericht über die Jordantaufe Jesu (Mt. 3, 13-17) oder den Taufbefehl Jesu an seine Jünger (Mt. 28, 19). Die patristischen Theorien dazu hat Hugo Rahner zusammengestellt 1. Der Germanist und Theologe Heribert Fischer, Mitherausgeber der großen Stuttgarter Eckhart-Ausgabe, ist in der Mystikfrage bei Eckhart anderer Meinung: „Die Themen von der Gottesgeburt und andere sind Theologoumena, jedoch keine ,Mystik‘.“ 2 Es soll hier aber nicht weiter untersucht werden, ob es sich bei Eckharts Lehre von der Gottesgeburt um rationale Theologie oder um Mystik handelt. Sollte aber diese Lehre bei Eckhart mystisch zu verstehen sein, so hat sie auch in diesem Falle lediglich den Charakter einer ,theologischen Mystik‘. Eine solche wäre allerdings fast nur in den deutschen 1

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Cf. id., Die Gottesgeburt. Die Lehre der Kirchenväter von der Geburt Christi im Herzen der Gläubigen, in: Symbole der Kirche, Salzburg 1964, 13-87. Meister Eckhart. Einführung in sein philosophisches Denken, Freiburg-München 1974, 141.

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Predigten zu finden, während sie in den lateinischen Schriften des Scholastikers Eckhart kaum eine Rolle spielt. Es gibt bei Eckhart aber nicht nur Theologie, sei sie nun mystisch oder nicht, sondern auch, wenngleich nur im Rahmen des Theologischen, Philosophie: rationale, logisch argumentierende Philosophie, die durchaus nicht in den Bereich einer Theologie der ,Gottesgeburt in der Seele‘ gehört. Wir wissen, dass Eckhart den Plan einer solchen geradezu reinen Philosophie im ersten Teil seines dreiteiligen Werks, des ,Opus tripartitum‘, entwickelt hat. Diesen Plan hat Eckhart bekanntlich in der ,Allgemeinen Vorrede‘ zum ,Opus tripartitum‘ mitgeteilt. Der erste Teil dieses niemals zum Abschluss gebrachten Werks sollte aus einer großen Zahl von Thesen, nämlich aus mehr als tausend, bestehen. Die Thesen sind in vierzehn Traktate gegliedert, auf die Eckhart im dritten Teil des ,Opus tripartitum‘, dem ,Opus expositionum‘, mehrfach verweist (während der zweite Teil des dreiteiligen Werks bis auf eine einzige Ausnahme wohl niemals ausgeführt worden ist). Aus den Verweisen im ,Opus expositionum‘ habe ich vor fast vierzig Jahren den Inhalt der rationalen Philosophie des ,Opus propositionum‘, gewissermaßen das philosophische System Eckharts, in seinen Hauptgedanken zu rekonstruieren versucht 3. Die Grundthese des dreiteiligen Werks, also nicht nur des ,Opus propositionum‘, sondern ebenso des ,Opus quaestionum‘ sowie des ,Opus expositionum‘, lautete nach Eckharts Prolog zu seinem geplanten Hauptwerk: ,Das Sein ist Gott‘ (,Esse est deus‘). Diese These gehört damit in die Thematik der für die mittelalterliche Metaphysik als charakteristisch angesehenen ,Exodusmetaphysik‘, welchen Ausdruck Etienne Gilson geprägt zu haben scheint 4. Die ,Exodusmetaphysik‘ des ,Opus tripartitum‘ hat, wie sich auch aus Eckharts Vorrede mit den dort angeführten Beispielen ergibt, nichts oder doch nur wenig mit Mystik zu tun. II. Mystik im Sinne einer erfahrungsmäßigen Erkenntnis der Vereinigung der Seele mit Gott, einer cognitio dei experimentalis, scheint es dennoch bei Eckhart gegeben zu haben, und zwar nicht in seiner theologischen Lehre von der Gottesgeburt in der Seele, sondern in der philosophischen Lehre von der intellektuellen Erkenntnis, und zwar auffälligerweise zunächst gerade nicht hinsichtlich der These der Identität des Seins mit Gott. Eine Zeitlang nämlich, und zwar in der Zeit seines ersten Pariser Magisteriums, hat Eckhart unter Berufung auf einen Satz aus dem ,Liber de causis‘ (prop. 4: ,Das erste der geschaffenen Dinge ist das Sein‘) die These vertreten: „Deshalb ist Gott, welcher der Schöpfer und 3

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Cf. K. Albert, Meister Eckharts These vom Sein. Untersuchungen zur Metaphysik des Opus tripartitum, Kastellaun 1976. Cf. id., L’esprit de la philosophie me´die´vale, Paris 21948. Dt. Übersetzung v. R. Schmücker, Wien 1950.

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nicht erschaffbar ist, Intellekt und intellektuelles Erkennen und nicht seiend oder Sein.“ 5 Gott ist für Eckhart also wesenhaft subsistierendes, in sich selbst Bestand habendes intellektuelles Erkennen und folglich etwas Höheres als das Sein, denn das Sein gilt in den frühen Pariser Quästionen als etwas rein Geschöpfliches. Allerdings fügt Eckhart, der natürlich nicht die Existenz Gottes bestreiten will, gelegentlich hinzu: „Willst du aber das intellektuelle Erkennen ,Sein‘ nennen, so habe ich nichts dagegen. Nichtsdestoweniger sage ich, daß, wenn es in Gott etwas gibt, was du ,Sein‘ nennen willst, so kommt es ihm durch das intellektuelle Erkennen zu.“ 6 Oder: „Gott kommt also das Sein nicht zu, es sei denn, du wolltest eine solche Lauterkeit ,Sein‘ nennen.“ 7 Und grundsätzlich: „So sage ich denn auch, daß Gott weder das Sein zukommt, noch daß er ein Seiendes ist, sondern er ist etwas Höheres als das Seiende.“ 8 Im gleichen Sinne heißt es in der deutschen Predigt 9 ,Quasi stella matutina‘: „Wenn ich aber gesagt habe, Gott sei kein Sein und sei über dem Sein, so habe ich ihm damit nicht das Sein abgesprochen, vielmehr habe ich es in ihm erhöht.“ 9 Eckhart geht hier wie auch sonst recht frei mit seinen Begriffen um, ohne dass man ihn deshalb als unsystematischen Denker bezeichnen dürfte. Die These ,Deus est intelligere‘ spielt nun auch eine Rolle in der Frage einer philosophischen Mystik bei Eckhart, und dies im Zusammenhang mit der zwischen Dominikanern und Franziskanern diskutierten Frage, ob das Erkennen oder die Liebe die höhere und Gott wohlgefälligere Seelenkraft sei. Eckhart vertritt hier die Theologie des Dominikanerordens, die der Franziskaner Gonsalvus angreift und dabei einige Argumente Eckharts festhält. Unter diesen findet sich eines, das als Hinweis einerseits auf den Vorrang des Intellekts, andererseits als Hinweis auf eine intellektuelle Mystik verstanden werden kann. Es hat in der uns vorliegenden Gestalt folgenden Wortlaut: „Das (intellektuelle) Erkennen [nämlich des Menschen, K. A.] bedeutet eine Gottförmigkeit oder ein Gottförmigwerden, denn Gott selbst ist das Erkennen selbst und er ist nicht Sein.“ 10 Das meint offensichtlich, dass im intellektuellen Erkennen der Mensch sich Gott angleiche, sich ihm nachbilde. Für Martin Grabmann und andere stand mit der Übernahme des Begriffs der deiformitas ohne weiteres fest, dass es sich um einen Terminus der mittelalterlichen Mystik handele und die Eckhart’sche quaestio in 5

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Quaestiones Parisienses, q. 1, n. 4 (LW V, 41, 13 sq.): „Et ideo deus, qui est creator et non creabilis, est intellectus et intelligere et non ens vel esse.“ Ibid., n. 8 (LW V, 45, 3-5): „Et si tu intelligere velis vocare esse, placet mihi. Dico nihilominus quod, si in deo est aliquid, quod velis vocare esse, sibi competit per intelligere.“ Ibid., n. 9 (LW V, 45, 14 sq.): „Deo ergo non competit esse, nisi talem puritatem voces esse.“ Ibid., n. 12 (LW V, 47, 14 sq.): „Sic etiam dico quod deo non convenit esse nec est ens, sed est aliquid altius ente.“ DW I, 141-158, hier: 146, 4-6: „Daz ich aber gesprochen haˆn, got ensıˆ niht ein wesen und sıˆ über wesene, hie mite enhaˆn ich im niht wesen abegesprochen, meˆr: ich haˆn ez in im gehœhet.“ Quaestiones Parisienses, q. 3 (LW V, 60, 8 sq.): „ipsum intelligere quaedam deiformitas vel deiformatio, quia ipse deus est ipsum intelligere et non est esse.“

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den Bereich einer Erkenntnismystik gehöre 11. Vor fast 40 Jahren hatte ich selbst übrigens in diesem Punkt noch Zweifel. Es gibt aber weitere und deutlichere Hinweise auf eine intellektuelle Mystik bei Eckhart. In der lateinischen Predigt über ,Deus unus est‘, die dem Denken des ersten Pariser Magisteriums noch recht nahesteht, spricht Eckhart von der Lauterkeit des göttlichen Seins in seiner Intellektualität und seinem Einssein: „Nichts anderes ist wahrhaft eines, weil nichts Geschaffenes reines Sein und ganz und gar Intellekt ist.“ 12 Gott ist also Intellekt und der Intellekt im eigentlichen Sinne die Sache Gottes 13. Auf dieser Grundlage wendet sich die Predigt schließlich der Thematik einer intellektuellen Mystik zu: „Wieviel also an Intellekt oder Intellekthaftem ein jedes (Seiende) hat, soviel hat es von Gott, soviel vom Einen und soviel vom Einssein mit Gott […]. Zum Intellekt aufzusteigen und sich ihm zu unterwerfen, ist mit Gott vereinigt zu werden. Vereinigt zu werden, eins zu sein, ist eins zu sein mit Gott.“ 14

Das ist nun offenbar Mystik, eine Mystik der Vereinigung der Seele mit Gott, freilich nicht eine Mystik der ,Gottesgeburt in der Seele‘, sondern philosophische Mystik, eine Mystik der vernunfthaften oder intellektuellen Erkenntnis. Um eine derartige intellektuelle Mystik handelt es sich offenbar auch in der deutschen Predigt 83 ,Renovamini spiritu‘ 15. Eckhart betont dort im Sinne der Lehre der frühen Pariser Quästionen, dass Gott nicht Sein, sondern überseiendes Sein sei. Dieses aber werde durch die Vernunft erkannt, durch den Intellekt, wie Eckhart übrigens wörtlich innerhalb seiner sonst deutschsprachigen Ausführungen lateinisch sagt: intellectus. Dieser Kraft gehe es um Gotteserkenntnis, die dann in der Weise mystischer Einheitserkenntnis beschrieben wird. Man solle Gott bildlos erkennen, unvermittelt und ohne Gleichnis. Dann heißt es: „Soll ich aber Gott auf solche Weise unvermittelt erkennen, so muß ich schlechthin er, und er muß ich werden. Und weiter sage ich: Gott muß schlechthin ich werden und ich schlechthin Gott, so völlig eines, daß dieses ,Er‘ und dieses ,Ich‘ ein ,Ist‘ werden und sind und in dieser Istheit ewig ein (einiges) Werk wirken.“ 16

Das sind hoffentlich hinreichend einleuchtende Belege für den Gedanken einer unio mystica bei Eckhart im Zusammenhang einer Mystik des Intellekts. Dies also zu Eckharts intellektueller Mystik aus dem Umkreis seiner Theologie aus der Zeit der frühen Pariser Quästionen. 11

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Cf. id., Neuaufgefundene Quaestionen Meister Eckharts und ihre Stellung in seinem geistigen Entwicklungsgange, München 1927, 39 sqq. Sermo XXIX (LW IV, 267, 9 sq.): „nihil aliud est vere unum, quia nec quidquam creatum est purum ‹esse› et se toto intellectus.“ Ibid., 269, 14: „Intellectus enim proprie dei est.“ Ibid., 269, 15-270, 6: „Igitur quantum habet unumquodque de intellectu sive de intellectuali, tantum habet dei et tantum de uno et tantum de esse unum cum deo […]. Ascendere igitur ad intellectum, subdi ipsi, est uniri deo. Uniri, unum esse, est unum cum deo esse.“ DW III, 437 sqq. Ibid., 447, 3-6: „Sol aber ich also got bekennen ane mittel, so muos vil bi ich er werden vnd er ich werden. Me sprich ich: Got mvos vil bi ich werden vnd ich vil bi got, alse gar ein, das dis ,er‘ vnd dis ,ich‘ Ein ,ist‘ werdent vnd sint vnd in de´r istikeit ewiklich ´ein werk wirkent.“

Eckharts intellektuelle Mystik

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III. Nun weiter. In der Zeit der Planung des ,Opus tripartitum‘ kehrt Eckhart wieder zu seiner ursprünglichen These der Einheit des Seins mit Gott zurück. Diese These wird entfaltet zunächst in den Vorreden zu den einzelnen Teilen des dreiteiligen Werks: einerseits im ,Prologus generalis‘, andererseits im ,Prologus in opus propositionum‘, also in der ,Allgemeinen Vorrede‘ sowie in der Vorrede zum ersten Teil des dreiteiligen Werks, dem Thesenwerk. Außerdem finden sich in den Schriftkommentaren des dritten Teils immer wieder Hinweise auf die Grundthese des ,Esse est deus‘ oder auch des ,Deus est esse‘ sowie auf die vierzehn Traktate des ersten Teils, in denen sie auftritt. Das Thesenwerk des ersten Teils war, wie sich aus den Vorreden ergibt, als eine philosophisch-theologische Lehre angelegt, wie denn auch in der Literatur mehrfach betont worden ist, nicht zuletzt auch kritisch gegen meinen eigenen früheren Versuch, auf die Einbeziehung der theologischen Momente zu verzichten. Ob man aber das gesamte Denken Eckharts schlechthin als ,Philosophie des Christentums‘ oder ,Philosophie des Evangeliums‘ deuten und damit Eckhart aus der Geschichte der Mystik entfernen darf, hängt davon ab, was man unter Philosophie versteht. Zwar bemerkt Eckhart zu Beginn des Johanneskommentars, er wolle die christlichen Glaubenslehren „per rationes naturales philosophorum“ auslegen, doch ist damit noch nicht gesagt, dass diese Auslegung Philosophie sei. Nicht jede Anwendung der Gesetze der Logik ist nämlich schon Philosophie. Und nicht jede Philosophie ist rationalistisch. Es gibt auch eine mystische Philosophie. Bei Eckhart findet sich eben nicht nur rationale, verstandesmäßige, schlussfolgernde Philosophie zur These ,Esse est deus‘, sondern ebenso (wie in den frühen Pariser Quästionen und den mit ihnen zusammenhängenden Texten) eine intellektuelle, intuitive, schauende philosophische Erkenntnis, die sich in dieser Phase der Entwicklung des Eckhart’schen Denkens ebenfalls auf die These des ,Esse est deus‘ bezieht. Anders als in der verstandesmäßigen Erkenntnis des geschöpflichen und vielheitlichen Seienden geht es hierbei um eine unmittelbare Erkenntnis des einen Seins, die von Eckhart mit unmittelbarer Gotteserkenntnis in eins gesetzt wird. Wenn es etwa bei Eckhart heißt, der Gegenstand des Intellekts sei das Seiende 17, so ist damit nicht das konkrete Seiende des Alltagsbewusstseins gemeint, das ens hoc et illud, sondern ein nichtgeschöpfliches, unvermischtes, schlechthin reines und eines Seiendes. Im Johanneskommentar ist derselbe Gedanke folgendermaßen ausgedrückt: „Das Objekt des Intellekts im eigentlichen Sinne aber ist das bloße Seiende, schlechthin und ohne Einschränkung (absolute) […]. Es ist also klar, daß die bloße Substanz Gottes, die Fülle des Seins, die unsere Seligkeit ist, nämlich Gott, im Intellekt besteht, gefunden, empfangen, berührt und (aus ihm) geschöpft wird.“ 18 17 18

In Sap., n. 10 (LW II, 331, 2): „Obiectum autem intellectus est ens.“ In Ioh., n. 677 (LW III, 591, 6-11): „Obiectum autem intellectus proprie est ens nudum simpliciter et absolute […]. Patet ergo quod nudam dei substantiam, plenitudinem esse, quae est nostra beatitudo, deus scilicet, consistit, invenitur, accipitur, attingitur et hauritur per intellectum.“

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Das ,Esse est deus‘ hat eben eine erfahrungsmäßige Grundlage, wird im Intellekt erfahren. Die intellektuelle Erfahrung des Seins hat mystischen Charakter. Auch in einer Reihe anderer Texte bezeichnet Eckhart den Gegenstand des Intellekts als das reine Sein und setzt es mit Gott gleich. Diese Seinserkenntnis durch den Intellekt, die zugleich Gotteserkenntnis ist, hat nun wiederum den Charakter eines unmittelbaren Erkennens. Die Unmittelbarkeit des intellektuellen Erkennens bringt Eckhart mit einem Bild zum Ausdruck: „Der Intellekt wird allein durch das Sein ernährt, und er wird so im eigentlichen Sinne durch Gott ernährt.“ 19 In der deutschen Predigt 37 heißt es in ähnlichem Sinne: „Die Vernunft dringt empor in das Sein […], sie versinkt in das Sein und erfaßt Gott, wie er reines Sein ist.“ 20 ,Versinken‘ im mit Gott identischen Sein meint offenbar, wenn man das Bild ernst nimmt, die Vereinigung des Intellekts mit dem Sein, welches Sein dann letztlich das göttliche Sein ist. Eine andere deutsche Predigt (Q 45) benutzt anstelle des Vernunftbegriffs den Begriff des Verstandes, meint jedoch zweifellos damit nicht das diskursive, sondern ein intuitives Vermögen: „Der Verstand dringt empor und erfaßt Gott, insofern er Sein ist.“ 21 Man kann nämlich ganz allgemein sagen: Intellectus, vernünfticheit, verstandnisse, redelicheit, sogar gelegentlich ratio werden von Eckhart ohne Beachtung eines Unterschieds in der Sache benutzt. Gemeint ist aber eindeutig ein intellektuelles, ein intuitives, schauendes und sogar, wie man an bestimmten Formulierungen erkennen kann, ein unitives Denken. Manchmal spricht Eckhart ferner im gleichen Sinne von einem ,Licht in der Seele‘ oder einem ,Funken der Seele‘ oder von einer Kraft in der Seele, die so hoch sei, dass sie Gott in seinem eigenen Sein erfasse. Im Mittelpunkt steht dabei immer wieder der Gedanke der Verbindung von intellektueller Seinserkenntnis und unmittelbarer Gotteserkenntnis. In der wichtigen Predigt 48 betont Eckhart besonders das Moment einer mystischen Erkenntnis: „Ich habe zuweilen von einem Licht gesprochen, das in der Seele ist, das ungeschaffen und unerschaffbar ist. Dieses selbe Licht pflege ich immer in meinen Predigten zu berühren, und dieses Licht nimmt Gott unmittelbar und unbedeckt und entblößt auf, so wie er in sich selbst ist.“ 22

In der Beschreibung dieser unmittelbaren Gotteserkenntnis geht Eckhart dann aber weiter in den Bereich mystischer Erkenntnis im Blick auf den Gedanken der Abgeschiedenheit des Geistes: „Wenn sich der Mensch abkehrt von sich selbst und von allen geschaffenen Dingen soweit du das tust, soweit wirst du geeint und beseligt in dem Funken in der Seele, 19 20

21 22

Sermo LIV/1, n. 528 (LW IV, 445, 10 sq.): „intellectus pascitur solo esse et sic deo proprie pascitur.“ DW II, 216, 2-5: „Vernünfticheit dringet uˆf in daz wesen […], si versinket in daz wesen und nimet got, als er ist luˆter wesen.“ DW II, 371, 8 sq.: „verstantnisse diu dringet uˆf und nimet got, als er wesen ist.“ DW II, 418, 1-4: „Ich haˆn etwenne gesprochen von einem liehte, daz ist in der seˆle, daz ist ungeschaffen und ungeschepfelich. Diz lieht pflige ich alwege ze rüerenne in mıˆnen predigen, und diz selbe lieht nimet got sunder mittel und sunder decke und bloˆz, als er in im selben ist.“

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den weder Zeit noch Raum je berührte. Dieser Funke widersagt allen Kreaturen und will nichts als Gott unverhüllt, wie er in sich selbst ist. Ihm genügt es weder am Vater noch am Sohne noch am Heiligen Geist […]. Ja, ich will noch mehr sagen, was noch erstaunlicher klingt: Ich sage […], daß es diesem selben Licht nicht genügt an dem einfaltigen, stillstehenden göttlichen Sein, das weder gibt noch nimmt: es will wissen, woher dieses Sein kommt; es will in den einfaltigen Grund, in die stille Wüste, in die nie Unterschiedenheit hineinlugte, weder Vater noch Sohn noch Heiliger Geist; in dem Innersten, wo niemand daheim ist, dort genügt es jenem Licht […].“ 23

Hier wird offenbar nicht gefolgert, nicht argumentiert, nicht kritisch reflektiert, sondern erfahren, und zwar in der Weise einer Tiefenerfahrung, einer Letzterfahrung. Man sollte hier doch wohl auf den Gedanken kommen dürfen, dass es sich in diesem Falle um Mystik handeln könnte, freilich eben um intellektuelle, philosophische Mystik. Dazu nun noch einige kurze, abschließende, allgemeinere Bemerkungen. IV. Versuchen wir dabei, Eckharts intellektuelle Mystik in den größeren Zusammenhang einer philosophischen Mystik zu stellen und verstehen wir diese als eine besondere, neue, ursprungsnahe philosophische Disziplin 24! Die Philosophie beginnt schon bei Parmenides und Heraklit mit der Unterscheidung zweier Erkenntnisweisen: der Erkenntnisweise des Alltagsdenkens, die auf die Vielheit der Dinge und Ereignisse gerichtet ist, und einer von dieser Erkenntnisweise gänzlich verschiedenen Weise des Erkennens, die sich auf das eine Sein bezieht. Das entspricht im Kern der Heidegger’schen Betonung des Unterschieds zwischen dem Seienden und dem Sein. Bei Eckhart findet sich diese Unterscheidung als Unterscheidung zwischen dem ,Dies-und-das-Sein‘ (esse hoc et illud) und dem ,reinen und schlechthinnigen Sein‘ (esse purum et simplex). Wir erfahren nun Sein und Seiendes zwar gleichzeitig: Im Unterschied zur Erfahrung des Seienden wird das Sein von uns aber unmittelbar, intuitiv erfahren, also auf völlig verschiedene Weise von der alltäglichen Erfahrung des Seienden. Die Erfahrung des Seins liegt deshalb nicht ohne weiteres zutage. Sie ist bei aller Unmittelbarkeit gegenüber der Alltagserfahrung des Seienden gewissermaßen eine verborgene, 23

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Ibid., 419, 1-420, 10: „swenne sich der mensche bekeˆret von im selben und von allen geschaffenen dingen, als vil als duˆ daz tuost, als vil wirst duˆ geeiniget und gesæliget in dem vunken in der seˆle, der zıˆt noch stat nie enberuorte. Dirre vunke widersaget allen creˆatuˆren und enwil niht dan got bloˆz, als er in im selben ist. Im engenüeget noch an vater noch an sune noch an heiligem geiste […]. Ich spriche wærliche […], daz disem selben liehte niht engenüeget an dem einvaltigen stillestaˆnden götlıˆchen wesene, daz weder gibet noch nimet, meˆr: ez wil wizzen, von wannen diz wesen her kome; ez wil in den einvaltigen grunt, in die stillen wüeste, daˆ nie underscheit ˆıngeluogete weder vater noch sun noch heiliger geist; in dem innigesten, daˆ nieman heime enist, daˆ genüeget ez jenem liehte.“ Cf. K. Albert, Mystik und Philosophie, Sankt Augustin 1986; id., Einführung in die philosophische Mystik, Darmstadt 1996.

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eine hintergründige Erfahrung, eine Grunderfahrung, zu der wir nur Zugang haben, wenn wir die Alltagserfahrung beiseite lassen, von ihr abstrahieren. Man kann daher die Seinserfahrung mit der mystischen Erfahrung vergleichen und sie in diesem Sinne als Grunderfahrung einer philosophischen Mystik verstehen. Nietzsche hat in der Tat sogar den Ursprung der Philosophie auf eine ,mystische Intuition‘ mit ihrem sprachlichen Ausdruck im Satz ,alles ist eins‘ zurückgeführt 25. Und der späte Nietzsche notiert als Ziel der Philosophie den Satz: „Eigentlicher Zweck alles Philosophirens [ist] die intuitio mystica.“ 26 Die erfahrene Einheit des Seins ist aber zugleich die Erfahrung einer seienden Einheit. Der mystische Einheitsgedanke verbindet sich gemäß seiner Selbstbezeugung mit der philosophischen Erfahrung des Seins. Im Blick sowohl auf Bergson als auch auf Heidegger heißt es dazu bei Berdjaev, der dabei ein wenig provokativ und plakativ, jedoch nicht unsachgerecht, Philosophie und Philosophiehistorie scharf voneinander trennt: „Quelle der Philosophie ist nicht Aristoteles und nicht Kant, sondern das Sein selber, die Intuition des Seins. Wirklich Philosoph ist nur jener, der über die Intuition des Seins verfügt, dessen Philosophie aus lebendiger Quelle kommt.“ 27 Mit dem Gedanken einer Intuition des Seins nähern wir uns wieder dem Gedanken einer philosophischen Mystik. Ihr kommen wir besonders nahe, wenn wir den Gedanken der Intuition des Seins und des Einen mit dem Gedanken des Lebensvollzugs verbinden, d. h. wenn Einheitserfahrung und Seinserfahrung als gelebt verstanden werden. Bei Eckhart erscheint der Gedanke des Lebensvollzugs in der Forderung nach ,Abgeschiedenheit‘ (abegescheidenheit). Diesem Begriff hat Eckhart einen eigenen Traktat gewidmet und dieses Thema unter den vier wichtigsten Themen seiner Predigten an erster Stelle genannt: „Wenn ich predige, so pflege ich zu sprechen von Abgeschiedenheit und daß der Mensch seiner selbst und aller Dinge ledig werde.“ 28 Indem nun das philosophische Denken zu sich selbst kommt, indem es sich vom außerphilosophischen Alltagsleben und Alltagsdenken loslöst, indem es sich, eckhartisch gesprochen, vom ,Dies-und-das-Sein‘ befreit und das ,reine Sein‘ freilegt, gelangt es in den mystisch-metaphysischen Zustand der Abgeschiedenheit. So heißt es in der Predigt 76 ,Videte qualem caritatem dedit nobis pater‘: „Wenn ich daher dahin komme, daß ich mich in nichts hineinbilde und nichts in mich hineinbilde und (alles) hinaustrage und hinauswerfe, was in mir ist, so kann ich in das bloße Sein Gottes versetzt werden, und das ist das reine Sein des Geistes.“ 29

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KSA 1, 813. KSA 11, 232. Das Ich und die Welt der Objekte, Darmstadt 1952, 47. Pr. 53 ,Misit dominus‘ (DW II, 528, 5 sq.): „Swenne ich predige, soˆ pflige ich ze sprechenne von abegescheidenheit und daz der mensche ledic werde sıˆn selbes und aller dinge.“ DW III, 322, 4-6: „Dar umbe, swanne ich dar zuo kume, daz ich mich gebilde in niht und niht engebilde in mich und uˆztrage und uˆzwirfe, waz in mir ist, soˆ mac ich gesast werden in daz bloˆze wesen gotes, und daz ist daz bloˆze wesen des geistes.“

Lesemeistermetaphysik - Lebemeistermetaphysik. Zur Einheit der Philosophie Meister Eckharts Theo Kobusch (Bonn)

I. Ein neues Eckhar tbild Zweifellos hat sich das geistige Bild von der Philosophie Meister Eckharts in jüngster Zeit entscheidend verändert. Dazu haben nicht nur aufsehenerregende Beiträge zum Charakter der ,Rechtfertigungsschrift‘ Meister Eckharts beigesteuert, sondern auch L. Sturleses These, nach der das ,Opus tripartitum‘ unmittelbar nach Eckharts erstem Pariser Aufenthalt entstanden ist und die Pläne für das große Werk gar schon aus seiner Erfurter Zeit stammen. Das wirft alle Konzeptionen über verschiedene Phasen des Eckhart’schen Denkens über den Haufen und lässt ein beliebtes Instrumentarium der Philosophiegeschichtsschreibung - die genetische Zugangsweise - stumpf erscheinen. Auch die angebliche Ausnahmestellung der sog. Pariser Quästionen fällt dem zum Opfer. Man hat in den ,Quaestiones Parisienses‘ sogar eines der ersten Dokumente für die Entstehung der neuzeitlichen Subjektivität erkennen wollen, das hauptsächlich gegen Thomas von Aquin gerichtet sei. Doch weder das eine noch das andere hat einen Grund in der Sache. Denn die These von der Priorität des Erkennens vor dem Sein ist ein aus einer bestimmten Tradition stammender Grundsatz, und offenbar hatte Meister Eckhart dabei viel eher Duns Scotus und andere Franziskaner kritisch im Blick als seinen Dominikanerkollegen 1. Neben diesen die Biographie und die Chronologie der Werke betreffenden Neuerungen ist in jüngster Zeit freilich auch ein inhaltlich neues Eckhartbild entstanden. Eckhart, das war in den Publikationen der letzten 25 Jahre häufig der Philosoph der Subjektivität, die Vorwegnahme des spekulativen Idealismus, der Vertreter der absoluten Spontaneität des Denkens - und wie die manchmal etwas ideologisch klingenden, an der Philosophie des Deutschen Idealismus orientierten Klischees alle lauten mögen. Das neue Eckhartbild, das sich in Arbeiten von A. M. Haas, N. Largier, W. Goris oder O. Langer niederschlägt, 1

Über alle diese Zusammenhänge informiert sehr gut mit Hinweisen auf die Literatur N. Largier (ed.), Meister Eckhart: Werke II (Bibliothek des Mittelalters 21), Frankfurt a. M. 1993, 868876, hier: 873 sq.

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versteht sich auch als Kritik an dieser einseitigen Sicht der Dinge 2. Darüber hinaus gehört es auch zu diesem neuen Eckhartbild, dass der enge Zusammenhang der deutschen Dominikanerschule (Dietrich von Freiberg, Meister Eckhart) mit dem Denken Heinrichs von Gent, des notorisch Unterschätzten, gesehen wird, was sich bei Eckhart durch die Rezeption des im Neuplatonismus nicht nachweisbaren Begriffs der negatio negationis und der Deutung der biblischen Perikope von Maria und Martha unmittelbar dokumentieren und auch sonst in der Ontologie (s. u., 246) wahrscheinlich machen lässt 3. Schließlich scheint eine neue Seite der Eckhart-Deutung aufgeschlagen worden zu sein, wo das Eigentümliche seiner Vernunftauffassung herausgestellt wird. Die im Fahrwasser des Deutschen Idealismus verfassten sog. Intellekttheorien waren davon ausgegangen, dass wir es bei Eckhart mit einem - quasi aristotelisch verstandenen - immer tätigen, sich selbst vollkommen durchsichtigen Seelengrund zu tun hätten, der sich in seiner Einheit ganz erkennt. Eckharts Rede von der Vernunft als einer causa sui in der berühmten 52. Predigt wurde so im Lichte der idealistischen Selbstbegründungstheorien gelesen, ohne zu bedenken, dass es sich um eine bedingte Selbstverursachung neuplatonischen, genauer proklischen Zuschnitts handelt 4. Das neue Eckhartbild ist auch dadurch geprägt, dass diese idealistische Vernunftvorstellung als verzerrende Abstraktion kritisiert wird. Vernunft oder Intellekt, das ist nach Eckhart nicht die sich selbst setzende Selbsttätigkeit, kein Selbstbegründendes, ihre Erfüllung ist nicht die Selbstreflexion, und wenn es eine selbstreferentielle Struktur der intellektuellen Existenz des Menschen gibt, dann ist es nicht ihre letzte Instanz. Vielmehr ist Vernunft in ihrer letzten Instanz, d. h. als Grund der Seele, gerade das Gegenteil, sie ist die ,Preisgabe‘ aller Selbstbegründung, sie ist das Leerwerden, das Aufgeben aller Intentionalität, die Freiheit selbst. Das kann man mit guten Gründen Mystik nennen, denn die Mystik hat traditionellerweise immer die komplexe Struktur der menschlichen Vernunft thematisiert. Auf diese Weise wird im recht 2

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Cf. A. M. Haas, Mystik im Kontext, München 2004; N. Largier, Theologie, Philosophie und Mystik bei Meister Eckhart, in: J. A. Aertsen/A. Speer (eds.), Was ist Philosophie im Mittelalter? (Miscellanea Mediaevalia 26), Berlin-New York 1998, 704-711; W. Goris, Einheit als Prinzip und Ziel. Versuch über die Einheitsmetaphysik des Opus tripartitum Meister Eckharts (Studien und Texte zur Geistesgeschichte des Mittelalters 59), Leiden-New York-Köln 1997; id., Ontologie oder Henologie? Zur Einheitsmetaphysik Meister Eckharts, in: J. A. Aertsen/A. Speer (eds.), Was ist Philosophie im Mittelalter? (Miscellanea Mediaevalia 26), Berlin-New York 1998, 694-703; O. Langer, Christliche Mystik im Mittelalter. Mystik und Rationalisierung - Stationen eines Konflikts, Darmstadt 2004. Cf. Goris, Einheit (nt. 2), 199 sqq. Zum Einfluss Heinrichs auf Dietrich von Freiberg cf. Th. Kobusch, Begriff und Sache. Die Funktion des menschlichen Intellekts in der mittelalterlichen Philosophie, in: Internationale Zeitschrift für Philosophie, H. 2 (2004), 140-157, hier: 141147. Cf. dazu Th. Kobusch, Bedingte Selbstverursachung. Zu einem Grundmotiv der neuplatonischen Tradition, in: Th. Kobusch/B. Mojsisch/O. F. Summerell (eds.), Selbst - Singularität Subjektivität. Vom Neuplatonismus zum Deutschen Idealismus, Amsterdam-Philadelphia 2002, 155-173.

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verstandenen Mystikbegriff der komplexe Reichtum der Bewegung der menschlichen Vernunft eher erfasst als in einer dürren Intellekttheorie 5. Was sich für die interpretierende Eckhart-Forschung aus diesen neuesten Ergebnissen notwendig als Aufgabe ergibt, liegt auf der Hand. Was schon immer als zwei verschiedene Denkwelten erschien, was einerseits in den deutschen Predigten und andererseits in den lateinischen Werken enthalten ist, was als Ontologie und Vernunftlehre auseinander zu klaffen scheint - das gilt es zusammenzudenken, und zwar mit dem Blick des Lesemeisters einerseits, d. h. des Theoretikers aristotelischer Prägung, und dem des Lebemeisters andererseits, der für die aus der Spätantike stammende christliche Philosophie des Lebens steht. Das Eckhart’sche Werk ist von Anfang an, seit der Erfurter Zeit, von einem Grundgedanken beseelt, der sich in allen Einzelwerken, in den deutschen Predigten wie in den lateinischen Sermones, in den Bibelkommentaren wie in den Traktaten, in den Pariser Quästionen wie im ,Opus tripartitum‘ wiederfindet. Es gibt keine besonderen Brüche in diesem Denken, keinen Widerruf, der die Rede von einer Wende im Denken Eckharts begründen könnte 6. Es ist von seltener Einheitlichkeit in seiner Vielfalt. Diesen einen Gedanken, der alles zusammenhält und zugleich jedem Einzelnen seine Gestalt gibt, gilt es zu finden, nicht zu erfinden. Das schöne Wort Kants ist zu beherzigen: „Wenn man Erfinder sein will, so verlangt man der Erste zu sein, will man nur Wahrheit, so verlangt man Vorgänger“ (Reflexionen 2159, AA, vol. XVI, 235). In diesem Sinne gilt es auch, die wahren Vorgänger des Eckhart’schen Denkens zu ermitteln, nicht um seine Originalität in irgendeiner Weise beschneiden, sondern um diese in ihrer Eigentümlichkeit erkennen zu wollen. II. Das patristische Erbe Das Werk Meister Eckharts atmet den Geist der patristischen Philosophie. Damit ist nicht nur die Philosophie Augustins gemeint. Vielmehr erscheint als Hintergrund des Eckhart’schen Denkens jener allgemeine Charakter des Den5

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Cf. Largier, Theologie, Philosophie und Mystik (nt. 2), 706 sq. Hinter den Ausführungen Largiers steht der Interpretationsansatz von A. M. Haas, der ihn schon sehr früh (so in Gottleiden Gottlieben. Zur volkssprachlichen Mystik im Mittelalter, Frankfurt a. M. 1989) zum Ausdruck brachte. Cf. auch id., Aktualität und Normativität Meister Eckharts, in: H. Stirnimann (ed., in Zusammenarbeit mit R. Imbach), Eckardus Theutonicus, homo doctus et sanctus. Nachweise und Berichte zum Prozeß gegen Meister Eckhart (Dokimion 11), Freiburg/Schweiz 1992, 205268, hier: 215-217. L. Sturlese spricht in seiner Analyse (Meister Eckhart in der Bibliotheca Amploniana. Neues zur Datierung des ,Opus tripartitum‘, in: A. Speer [ed.], Die Bibliotheca Amploniana. Ihre Bedeutung im Spannungsfeld von Aristotelismus, Nominalismus und Humanismus [Miscellanea Mediaevalia 23], Berlin-New York 1995, 446) von einer ,Wende‘, die sich durch den ,Liber parabolarum Genesis‘ vollzogen haben soll. Cf. auch id., Meister Eckhart. Ein Porträt (Eichstätter Hochschulreden 90), Regensburg 1993, 17. Doch Eckhart stellt selbst deutlich genug (Liber parabolarum Genesis, n. 6 [LW I, 455, 11-15]) den Zusammenhang mit den übrigen Teilen

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kens, der von Justin an die christliche Philosophie bis ins 12. Jahrhundert durchzieht. Die Mediävisten vom Fach, die diese Tradition vielfach nicht kennen und deswegen auch Eckharts Rückgriff auf die Patristik nicht erkennen, sind oft geneigt, Eckharts andersartigen Denkansatz (im Vergleich zu Thomas von Aquin z. B.) als revolutionäre Neuerung zu verstehen. Dazu gehört allem voran das Philosophieverständnis. Meister Eckhart hat es als seine umfassende Absicht bezeichnet, den christlichen Glauben durch Vernunftgründe zu erschließen. Es gehört für ihn geradezu zum recht verstandenen Ethos der Philosophie, es nicht beim bloßen Glauben bewenden zu lassen, sondern natürliche Gründe und Bilder zu finden, durch die der Glaube erläutert werden kann 7. Das ist deutlich die Rezeption des Programms der gesamten Patristik, das schon in ihren Anfängen formuliert wurde. Man braucht nur an jene berühmten Bemerkungen des Origenes zu denken, die von der Bekräftigung des Glaubens durch den Logos oder von der systematischen Unverzichtbarkeit der offenbaren und notwendigen Gründe für den Inhalt der Schrift handeln, um wahrzunehmen, dass die philosophische Durchdringung der Glaubensinhalte von Anfang an die christliche Philosophie ausmacht 8. Man hat sich darüber gewundert, dass bei Meister Eckhart auch die Trinitätslehre, die Auferstehungslehre und die Lehre von der göttlichen Inkarnation Gegenstand der philosophischen Überlegungen sind und nicht - wie bei Thomas von Aquin - als eigentlicher Gegenstand der Theologie angesehen werden. Auch hier zeigt sich der patristische Einfluss in massiver Weise. Muss man daran erinnern, dass Ambrosius, Athanasius, Apollinaris von Laodicäa, Cyrill und Theodoret Schriften und Gregor von Nazianz ein philosophisches Gedicht über die Menschwerdung geschrieben haben? Muss man daran erinnern, dass aus patristischer Zeit philosophische Abhandlungen mit dem Titel ,Über die Auferstehung‘ existieren von Justin, Athenagoras, Hippolyt, Origenes (nicht erhalten), Ephräm dem Syrer, Methodius von Olympus? Und was das Trinitätsthema betrifft, so sind neben Hilarius und Augustinus im lateinischen Sprachraum die griechischen Zeugnisse für diesen klassischen Gegenstand der christlichen Philosophie in patristischer Zeit hier gar nicht alle aufzählbar. Es kann kein Zweifel bestehen: Meister Eckhart nimmt, indem er das Thema der Trinität und der Inkarnation philosophisch behandelt, den patristischen Philosophiebegriff auf, zu dessen charakteristischen Merkmalen es gehört, dass er nicht im Gegensatz zum Begriff der Theologie steht. Bis zum 12. Jahrhundert gibt es überhaupt keine von der Philosophie unterschie-

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des ,Opus tripartitum‘ her. Auch W. Goris, Prout iudicaverit expedire: Zur Interpretation des zweiten Prologs zum Opus expositionum Meister Eckharts, in: Medioevo 20 (1994), 274 sq., sieht keinen Beweis dafür, dass mit dem ,Liber parabolarum Genesis‘ das Projekt des ,Opus tripartitum‘ aufgegeben sei. Cf. In Ioh., nn. 2 (LW III, 4, 4-13) u. 361 (LW III, 306, 5-307, 5). Cf. auch Eckharts Bezugnahme auf die natiurlıˆchen reden in Pr. 101 (DW IV, 342, 33) und ibid., nt. 20 von G. Steer. Cf. Origenes, De principiis IV, 1, 1 (ed. H. Görgemanns/H. Karpp), Darmstadt 1976, 670; Praef. 4 (ibid., 90); Praef. 10 (ibid., 98); II, 5, 3 (ibid., 346).

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dene Theologie. Auch bei Meister Eckhart sind alle Einzeldisziplinen unter dem Dach der einen Philosophie vereinigt, die in patristischer Zeit ausdrücklich ,christliche Philosophie‘ genannt worden war 9. Durch die Rezeption dieser Tradition hat Meister Eckhart seine deutlichste Kritik an Thomas und dem am aristotelischen Wissenschaftsbegriff orientierten Theologieverständnis seiner Zeit zum Ausdruck gebracht. Die christliche Philosophie Meister Eckharts, die in der Heiligen Schrift und ihren Auslegungen greifbar ist, sieht sich in Übereinstimmung mit der paganen Philosophie, hier des Aristoteles, so wie die Patristik im Großen und Ganzen eine Übereinstimmung zwischen der christlichen und der nichtchristlichen, besonders der platonischen Philosophie gesehen hatte. Moses, Aristoteles und Christus unterscheiden sich nur graduell, so wie das Glaubwürdige, das Wahrscheinliche und die Wahrheit 10. Die eine Philosophie ist die ,Wurzel‘ und - wie Meister Eckhart bildreich erläutert - die identische Ader, aus der sich das Wissen der philosophischen Theologie, der Naturphilosophie, der Moralphilosophie und aller freien und mechanischen Künste sowie des positiven Rechtes ergibt 11. Die Aufteilung der Philosophie in die drei klassischen Disziplinen der Theologie, der Naturphilosophie und Moralphilosophie oder - wie die Unterscheidung der entsprechenden Gegenstandsbereiche lautet - der divina, naturalia und moralia, ist von grundlegender Wichtigkeit für alle Werke Eckharts. Meist wird auf die stoische Einteilung der Philosophie in Logik, Physik und Ethik als Hintergrund dieser Lehre verwiesen. Doch damit geht jener bedeutende Vorgang in patristischer Zeit dem allgemeinen Bewusstsein verloren, durch den Eckharts philosophische Annäherung an die Heilige Schrift allererst verständlich wird. Die Patristik hat nämlich seit Origenes’ einflussreichen wissenschaftstheoretischen Überlegungen im Proömium des Hoheliedkommentars die stoische Einteilung der Philosophie auf die christliche Philosophie, d. h. auf die Schriften des Alten und Neuen Testamentes, übertragen und dabei die ursprüngliche Disziplin der Logik in die Theologik, d. h. die philosophische Theologie, verändert. Nach dieser in der christlichen Philosophie weit verbreiteten Einteilung ist die Moralphilosophie vor allem in den Proverbia Salomonis, die Naturphilosophie in den Büchern Ecclesiastes und Genesis und die Metaphysik oder Theologie vor allem im Hohelied und im Johannes-Evangelium repräsentiert 12. 9

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Cf. dazu und zum Folgenden mein demnächst in der WBG erscheinendes Buch ,Christliche Philosophie. Die Entdeckung der Subjektivität‘. Cf. In Ioh., n. 185 (LW III, 154, 14-155, 7). Cf. die klassische Stelle bei Origenes, C. Cels. IV, 80: tñ˜ Xristianv˜ n kata¡ tay˜ ta pro¡w filosofi¬an symfvni¬á. Cf. In Ioh., n. 444 (LW III, 380, 12-381, 7). Cf. Origenes, Commentaire sur le Cantique des Cantiques I, Prol. 3, eds. L. Bre´sard/H. Crouzel/ M. Borret (SC 375), Paris 1991, 128-143; cf. auch Origenes, Expositio in Proverbia, PG 17, 220: pa˜ sa ga¡r h« kata¡ th¡n Grafh¡n pragmatei¬a, te¬mnetai trixv˜ w , eiœw hœuikh¡n kai¡ fysikh¡n kai¡ ueologikh¬n· kai¡ aœkoloyuei˜ tñ˜ mh¡n prv¬tñ, ai« Prooimi¬ai· tñ˜ dh¡ deyte¬rá, o« ¢Ekklhsiasth¬w· tñ˜ de¡ tri¬tñ, ×Asma áœsma¬tvn·; Basilius, Homilia in principium proverbiorum, PG 31, 388: °H me¡n ga¡r Paroimi¬a pai¬deysi¬w eœstin hœuv˜ n, kai¡ pauv˜ n eœpano¬ruvsiw , kai¡ oÕlvw didaskali¬a bi¬oy, pykna¡w ta¡w y«pouh¬kaw perie¬xoysa tv˜ n prakte¬vn· o« de¡ ÅEkklhsiasth¡w fysiologi¬aw aÕptetai, kai¡ aœpokaly¬ptei h«mi˜n tv˜ n eœn tì˜ ko¬smì toy¬tì th¡n mataio¬thta· vÕste mh¡ h«gei˜suai perispoy¬dasta eiÓnai ta¡ parerxo¬mena, mhde¡ toi˜w matai¬oiw prosana-

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Von dieser alten Einteilung der Schriften des Alten und Neuen Testamentes nach Naturphilosophie, Ethik und Metaphysik ist auch bei Meister Eckhart noch etwas zu spüren. Nicht als ob er einzelnen Büchern des Alten und Neuen Testamentes eine eindeutige und ausschließliche Funktion zugeteilt hätte. Vielmehr scheint nach dem Vorbild des Psellos, bei dem sich diese patristische Wissenschaftstheorie mit derjenigen des Proklos vermischt 13, auch bei Meister Eckhart li¬skein th˜ w cyxh˜ w ta¡w fronti¬daw . To¡ de¡ áÓsma tv˜ n aŠœsma¬tvn to¡n tro¬pon y«podei¬knysi th˜ w teleiv¬sevw tv˜ n cyxv˜ n. Perie¬xei ga¡r symfvni¬an ny¬mfhw kai¡ nymfi¬oy· toyte¬sti, cyxh˜ w oiœkei¬vsin pro¡w to¡n Ueo¡n Lo¬gon;

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Didymus Caecus, Comm. in Eccl. V, 31, ed. u. übers. v. G. Binder/L. Liesenborghs, Bonn 1979, 8: eœn me¡n tai˜w paroimi¬aiw-prv˜ ton de¡ bibli¬on | [1-2]. ta¬jei toy˜ to toy˜ prokeime¬noy-hœuikv˜ n m[ auhm ]a¬tvn eœsti¡n dida¬skalow . … Ibid., 6, 13: to¡ plei˜on me¬row eœn tì˜ eœkklhsiastñ˜ peri¡ tv˜ n aiœsuhtv˜ n kai¡ o«r[ v ]me¬nvn | oyœ mo¬non ktisma¬tvn [ aœl ]la¡ kai¡ eœpithdeyma¬tvn le¬getai. eœn de¡ tì˜ ásmat[ i ] tv˜ n aŠœs| ma¬tvn pa¬nta nohta¬ eiœ[ si ]n, [ eœ ]foptika¬, y«peroyra¬nia; Evagrius Ponticus, Expositio in Proverbia Salomonis, 106, 10: pa˜ sa ga¡r h« kata¡ th¡n grafh¡n pragmatei¬a te¬mnetai trixv˜ w , eiœw hœuikh¡n kai¡ fysikh¡n kai¡ ueologikh¬n· kai¡ aœkoloyuei˜ tñ˜ me¡n prv¬tñ ai« paroimi¬ai, tñ˜ de¡ deyte¬rá o« eœkklhsiasth¬w , tñ˜ de¡ tri¬tñ ta¡ ásmata tv˜ n áœsma¬tvn; Ambrosius, Explanatio psalmorum XII, ps. 36, 1, 1, eds. M. Petschenig/ M. Zelzer, CSEL 64, 70, 15-17: „unde et Salomonis tres libri ex plurimis uidentur electi: Ecclesiastes de naturalibus, Cantica canticorum de mysticis, Prouerbia de moralibus“; Ambrosius, Expositio psalmi 118, 1, 3, eds. M. Petschenig/M. Zelzer, CSEL 62, 6, 12-14: „Quam institutionem secutus Salomon librum de Prouerbiis scripsit, quo moralem locum uberius expressit, naturalem in Ecclesiaste, mysticum in Canticis canticorum“; Hieronymus, Epist. 30, ed. J. Hilberg, CSEL 54, 243, 5-10: „quomodo philosophi solerent disputationes suas in physicam et ethicam logicamque partiri, ita et eloquia diuina aut de natura disputare, ut in Genesi et Ecclesiaste, aut de moribus, ut in Prouerbiis et in omnibus sparsim libris, aut de logica, pro qua nostri g-theologikeˆn sibi uindicant, ut in Cantico canticorum et euangeliis […]“; Gregorius Magnus, Expositio in Canticum Canticorum 9, 194: „In prouerbiis quoque moralis uita exprimitur, ubi dicitur: audi, fili mi, sapientiam meam et prudentiae meae inclina aurem tuam in ecclesiasten uero, naturalis: ibi quippe, quod omnia ad finem tendant, consideratur, cum dicitur: uanitas uanitantium et omnia uanitas in canticis uero canticorum contemplatiua uita exprimitur […]“; Isidor v. Sevilla, Etymologiarum sive Originum libri XX, II, 24, 8: „Nam aut de natura disputare solent, ut in Genesi et in Ecclesiaste: aut de moribus, ut in Prouerbiis et in omnibus sparsim libris: aut de Logica, pro qua nostri Theoreticam sibi uindicant, ut in Cantico canticorum, et Euangeliis“; Rabanus Maurus, De universo, PL 111, 416B: „Dividitur ergo philosophia in tres partes, hoc est, in Physicam, Ethicam et Logicam, sicut superius ostendimus. In Physica igitur causa quaerendi, in Ethica ordo vivendi, in Logica ratio intelligendi versatur. In quibus videlicet generibus tribus Philosophiae divina eloquia consistunt. Nam aut de natura disputare solent, ut in Genesi, et in Ecclesiaste: aut de moribus ut in Proverbiis et in omnibus sparsim libris: aut de logica, pro qua nostri Theologiam sibi vendicant, ut in Cantico canticorum, et sancto Evangelio. Theologica quoque est, quae inspectiva dicitur, qua supergressi visibilia, de divinis et coelestibus aliquid mente solum contemplamur; Remigius v. Auxerre, Enarrationes in Psalmos, PL 131, 148B: „Sicut in mundanis libris, ita et in divinis quaerere potest unusquisque ad quam partem philosophiae spectet. Sed sicut in illis, ita et in istis quidam ad physicam, Ecclesiastes (in quo quaeritur initium et finis rerum omnium quae in mundo snnt [!], et ostenduntur omnia haec vanitati subjacere), et Genesis; quidam ad ethicam, ut Proverbia et Evangelia ex parte, quidam ad theoricam, ut Cantica canticorum et Evangelia ex parte, quae nos ad coutemplationm [!] divinorum mittunt. In divinis non habetur logica, sed loco logicae theorica habetur“; Richard von St. Viktor, Explicatio in Cantica Canticorum, PL 196, 409B: „[…] contemplativam. Quas vitas Graeci ethicam, physicam et theoricam nominaverunt. In Proverbiis quoque moralis vita exprimitur, ubi dicitur: Audi, fili mi, sapientiam meam, et prudentiae meae inclina aurem tuam (Prov. II). In Ecclesiasten vero naturalis. Ibi quippe quod omnia ad finem tendunt consideratur, cum dicitur: Vanitas vanitatum, et omnia vanitas (Eccle. I). In Canticis canticorum contemplativa vita exprimitur […].“ Psellus, Theologica Opusc. VI, l, 37, ed. P. Gautier, Leipzig 1989: ¤H me¡n oyÓn diai¬resiw tv˜ n syggramma¬tvn toy˜ Solomv˜ ntow hÕde· dielo¬menow de¡ oyÕtvw tay˜ ta aœpo¡ me¡n toy˜ plei¬stoy, eœn me¡n tì˜ ÅAismati ueolo¬gow eœsti¬n, eœn de¡ tì˜ ÅEkklhsiastñ˜ fysiolo¬gow kai¡ eœn tai˜w Paroimi¬aiw paidagvgo¡w aœtexnv˜ w eœsti svfro-

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in allen einzelnen Büchern der Heiligen Schrift Ethisches, Naturphilosophisches und Metaphysisches enthalten und damit gewissermaßen - mit den Worten des Psellos - ,alles in allem‘ zu sein. Aber das Buch Genesis z. B. hat, wie er von Maimonides gelernt hat, vorrangig die Funktion der Naturphilosophie - so schon im frühen Genesiskommentar 14 -, wenngleich in der zweiten Genesisschrift am Anfang direkt betont wird, dass in allen Schriften des AT eine verborgene Natur-, Moral- und Metaphysiklehre stecke. Hier wird erneut Eckharts eminent philosophischer Zugang zu den Heiligen Schriften erkennbar. Was im Alten und Neuen Testament unter dem Mantel der Gleichnisse und Allegorien, also ,in verborgener Weise‘, gesagt wird, ist nicht ein Beweis für die Seinsordnungen des Göttlichen, Naturhaften und Moralischen, sondern eher umgekehrt ist es Eckharts Absicht zu zeigen, dass die philosophische Wahrheit über diese Seinsbereiche in den Gleichnissen der Schrift bildhaft greifbar wird. Genau das entspricht wiederum dem Zugang der Patristik 15. Während Meister Eckhart offenkundig keinen Kommentar zum Buch des Predigers geschrieben hat - in patristischer Zeit das zweite Beispiel für die Physik der christlichen Philosophie -, scheint er doch einen Kommentar zu den Proverbia verfasst zu haben, die er im Sinne einer (vorrangigen) Morallehre erläutert haben dürfte 16. Schließlich hat Meister Eckhart auch einen Kommentar zum Hohelied verfasst, von dem wir jedoch nur ein Fragment besitzen. Welche Bedeutung indes das Hohelied als die Metaphysik der christlichen Philosophie für Meister Eckhart hatte, kann jenen Bemerkungen im ,Liber parabolarum Genesis‘ entnommen werden, die das Zentrum der Eckhart’schen Philosophie ansprechen, indem sie den mystischen Kuss zwischen dem Obersten der Seele - d. h. dem Fünklein - und Gott, das Zwiegespräch, den gegenseitigen Austausch und die Vereinigung thematisieren 17. Wie wir gesehen haben, wurde aber in der patristischen Tradition nicht nur das Hohelied, sondern auch das ,Evangelium‘, besonders das Johannes-Evangelium, als die christliche Form der Metaphysik angesehen. Meister Eckhart steht auch in dieser Hinsicht ganz in der patristischen Tradition. Nicht nur, weil er nisth¬w , to¡n de¡ ,eœn h«mi˜n pai˜da‘, htoi th¡n alogon kai¡ nhpiv¬dh cyxh¬n, tñ˜ toy˜ noy˜ h«gemoni¬á y«potiuei¡w kai¡ svfroni¬zvn toy¬toy to¡ atakton. esti de¡ oÕpñ tñ˜ me¡n fysiologi¬á ueologika¡ eœgkatami¬gnysi do¬gmata, tñ˜ de¡ ueologi¬á fysika¡ uevrh¬mata , vÀw de¡ kai¡ tai˜w Paroimi¬aiw ny˜ n me¡n fysikv˜ w , ny˜ n de¡ pro¬seisi ueologikv˜ w , oÕti kai¡ ,pa¬nta eœn pa˜ si‘ kata¡ th¡n ueologikh¡n toy˜ Pro¬kloy Stoixei¬vsin, … 14 15

Cf. In Gen. I, n. 199 (LW I, 345, 6-7). Cf. In Gen. II, n. 4 (LW I, 454, 6-10); cf. auch In Ex., n. 211 (LW II, 178, 3-7). Zum patristischen Hintergrund cf. z. B. Basilius, Adv. Eunomium II, 20, ed. B. Sesboüe´, Paris 1983, SC 305, 82: ÅEgv¡ de¡ polla¡ exvn eiœpei˜n peri¡ th˜ w fvnh˜ w tay¬thw· prv˜ ton me¡n, oÕti aÕpaz eœn pa¬saiw tai˜w Grafai˜w eirhtai epeiu’, oÕti eœn bi¬blvŠ poly¡ to¡ kekrymme¬non th˜ w dianoi¬aw eœxoy¬sñ, kai¡ dia¡ paroimiv˜ n te kai¡ parabolv˜ n kai¡ skoteinv˜ n lo¬gvn kai¡ aiœnigma¬tvn v«w ta¡ polla¡ prohgme¬nñ, vÕste mhde¡n aœnamfisbh¬thton mhde¡thlayge¡w aœpÅ ayœth˜ w eiÓnai labei˜n.; cf. auch das Prooemium von Theodoret, Quaestiones in

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Octateuchum, eds. N. F. Marcos/A. Sa´nez-Badillos, Madrid 1979, 3. Cf. In Ioh., n. 195 (LW III, 164, 7-8). Cf. In Gen. II, nn. 139-152 (LW I, 607-623). Die drei Bücher Salomonis erwähnt Meister Eckhart In Ioh., n. 176 (LW III, 145, 1-2).

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selbst als vorrangigen Gegenstand dieses Evangeliums die divina angibt („de quibus hic est sermo“ 18), sondern weil er an bedeutsamer Stelle dieses Kommentars jenen Satz formuliert, mit dem die Mediävisten meist nichts Rechtes anfangen können: „Evangelium contemplatur ens in quantum ens.“ 19 Er ist angemessen nur vor dem Hintergrund der patristischen Tradition verstehbar. Was Meister Eckhart hier andeutet, ist eine neue Form der Metaphysik gegenüber der aristotelischen. Das Seiende als solches ist nicht länger Gegenstand einer formalen Seinslehre, sondern der eigentliche Gegenstand einer ,Kontemplation‘, die nicht mit einer abstrakten Theorie verwechselt werden darf, sondern, wie wieder ein Blick auf die Auslegungstradition des Hoheliedes zeigen könnte, als die christliche Form der Betrachtung anzusehen ist, in der wesensmäßig das Element der Selbsttransformierung des betrachtenden Subjekts steckt 20. Die patristische Tradition hat seit Origenes den Gegenstand der im Sinne des Hoheliedes verstandenen Metaphysik auch ,das Mystische‘ genannt 21. Diese Form der Metaphysik ist in der Patristik oft genug, so z. B. bei Gregor von Nyssa, mit einer Absage an den aristotelischen Typ einer abstrakt-theoretischen Metaphysik verbunden 22. Die Metaphysik Meister Eckharts kann deswegen, insofern sie in dieser Tradition steht, Mystik genannt werden. Die unselige moderne Diskussion um das Unangemessene des Mystikbegriffs im Hinblick auf das Denken Meister Eckharts geht davon aus, dass Philosophie und Mystik in Gegensatz zueinander stünden. Diese Position, die ganz unsachgemäß die Philosophie gegen die Mystik ausspielen will, hat, ohne dass ihr das zu Bewusstsein gekommen wäre, unkritisch die fast allen Philosophiegeschichten des 19. Jahrhunderts zugrunde liegende Unterscheidung zwischen Scholastik = Philosophie und Mystik übernommen. Doch diese Unterscheidung widerspricht dem 18 19 20

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In Ioh., n. 4 (LW III, 5, 9). Ibid., n. 444 (LW III, 380, 13-14). Cf. dazu Th. Kobusch, Die Grenzen der theoretischen Vernunft, in: W. Hogrebe (ed., in Verb. mit J. Bromand), Grenzen und Grenzüberschreitungen. XIX. Deutscher Kongress für Philosophie, Bonn 23.-27. September 2002: Vorträge und Kolloquien, Berlin 2004, 237-256. Origenes, In Cant. Cant., Prol. 3, 16, eds. Bre´sard/Crouzel, I, 138: „ad mystica […] conscenditur.“ Cf. Ambrosius, De Isaac vel anima IV, 23, ed. C. Schenkl 1896, CSEL 32/1, 657, 17-19: „habes haec in Solomone, quia Prouerbia eius moralia, Ecclesiastes naturalis, in quo quasi uanitates istius despicit mundi, mystica sunt eius Cantica canticorum“; Ambrosius, Explanatio psalmorum XII, Ps. 36, 1, 1, eds. M. Petschenig/M. Zelzer, CSEL 64, 70, 15-17: „unde et Salomonis tres libri ex plurimis uidentur electi: Ecclesiastes de naturalibus, Cantica canticorum de mysticis, Prouerbia de moralibus“; cf. Ambrosius, Expositio Psalmi 118, 1, 3, eds. M. Petschenig/M. Zelzer, CSEL 62, 6, 12 sqq.; Theodoret, Explanatio in Canticum Canticorum, PG 81, 48: kai¡ ai« me¡n Paroimi¬ai th¡n hœuikh¡n vœfe¬leian toi˜w boylome¬noiw prosfe¬roysin· o« de¡ ¢Ekklhsiasth¡w , tv˜ n o«rvme¬nvn e«rmhney¬ei th¡n fy¬sin, kai¡ toy˜ paro¬ntow bi¬oy to¡ ma¬taion eœkdida¬skei, iÕna mauo¬ntew ayœtv˜ n to¡ eœpi¬khron, v«w pario¬ntvn katafronh¬svmen, kai¡ tv˜ n Š sma tv˜ n áœsma¬tvn, th¡n mystikh¡n syna¬feian th˜ w ny¬mfhw mello¬ntvn v«w meno¬ntvn eœpiuymh¬svmen. To¡ de¡ ×A kai¡ toy˜ nymfi¬oy dida¬skei· v«w eiÓnai th¡n pa˜ san toy˜ Solomv˜ ntow pragmatei¬an kli¬maka¬ tina, trei˜w exoysan toy¡w baumoy¡w , to¡n hœuiko¡n, to¡n fysiologiko¡n, to¡n mystiko¬n. Cf. dazu Th. Kobusch, Metaphysik als Lebensform bei Gregor von Nyssa, in: H. R. Drobner/ A. Viciano (eds.), Gregory of Nyssa. Homilies on the Beatitudes, Leiden-Boston-Köln 2000, 467-485.

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Geist der patristischen und übrigens auch neuplatonischen Philosophie, wonach das Mystische die höchste Stufe der Philosophie und die Metaphysik infolgedessen eine Art der ,Mystagogie‘ (so z. B. Gregor von Nyssa und Proklos) - ein Ausdruck, den Hegel mit ,spekulative Philosophie‘ übersetzt - darstellt. Indem die mittelalterliche Mystik die spätantik-patristische Idee einer nichttheoretischen Metaphysik, d. h. einer Metaphysik des inneren Menschen, aufnimmt - Eckharts Traktat ,Von dem edeln Menschen‘ ist ja in Wirklichkeit einer über den inneren Menschen -, stellt sie sich selbst auch in die Tradition der Lebensform-Philosophie. Die mittelalterliche Mystik ist es - und nicht eine besondere Interpretation des aristotelischen Glücksbegriffs an der Pariser Universität -, die als die legitime Nachfolgerin der spätantiken Lebensform-Philosophie anzusehen ist. III. Metaphysik des Lesemeisters: Transzendentalienlehre Der patristische Charakterzug des Denkens Meister Eckharts zeigt sich besonders in seinen Bibelkommentaren. Meister Eckhart hat dieses Auslegungswerk schon früh - wie L. Sturlese gezeigt hat - in einen Gesamtzusammenhang eingeordnet, nämlich in dem monumentalen ,Opus tripartitum‘, das in seinem ersten Teil aus einer Aufstellung allgemeinster Sätze besteht, in seinem zweiten aus einer Sammlung wichtiger (nichterhaltener) Fragen, deren Ordnung sich an Thomas’ ,Summa theologiae‘ orientiert, und das schließlich in seinem dritten Teil die Kommentare zur Heiligen Schrift und auch alle Predigten umfasst 23. Da aber der zweite und der dritte Teil nach Eckharts ausdrücklicher Feststellung nicht ohne den ersten Teil über die allgemeinen Begriffe verstanden werden können, hat der moderne Interpret die Pflicht, wenn er nicht die Absicht Eckharts verfälschend darstellen will, alles, was im lateinischen und deutschen Werk enthalten ist, inhaltlich unter den Vorzeichen der Lehre von den allgemeinen Begriffen zu verstehen. Nicht ausschließlich, aber im Wesentlichen geht es in diesem ersten Teil des umfassenden Werkes um die sog. Transzendentalien, d. h. jene allgemeinsten Bestimmungen, die mit der des Seins konvertibel sind, und das sind vor allem das Eine, Wahre und Gute. Das Seiende, Eine, Wahre und Gute sind die allgemeinen ontologischen Grundlagen und ,Voraussetzungen‘ jeglicher einzelnen und bestimmten Tätigkeit sonst und damit auch der Konkretisierung des Seienden, Einen, Wahren und Guten im Menschen 24. Was Eckhart also durch die Konzeption des ,Opus tripartitum‘ eigentlich erreichen will, ist die Einheit von metaphysischer Abhandlung und Predigt, von Transzendentalien-Metaphysik und Vernunftlehre, von Sein und Fünklein. 23

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Cf. Prol. gen. in op. trip., n. 14 (LW I, 159, 9-10): „Et iste erit modus totius operis expositionum et sermonum […].“ Cf. In Gen. II, n. 86 (LW I, 548, 5 sqq.); zum Begriff des transcendens cf. In Eccli., n. 63 (LW II, 293, 1): unum transcendens.

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Die Transzendentalienlehre Meister Eckharts ist von unerhörter Neuheit. Denn sie ist nichts anderes als Gotteslehre. Das hatte man in Erfurt und Straßburg vorher noch nie vernommen, dass die transzendentalen Bestimmungen, die doch nach Thomas von Aquin das ens commune in konvertibler Weise bezeichnen, ,eigentlich‘ Gott zukommen und ihn in verschiedener Weise als ein von allem Sonstigen partizipiertes Gemeinsames charakterisieren 25. Das Sein als Sein oder das Sein in einem absoluten bzw. schlechthinnigen Sinne ist nämlich zu unterscheiden von jedem besonderen Seienden (ens hoc et hoc), ebenso das absolut Eine vom bestimmten Einen, das schlechthin und allgemein Wahre vom einzelnen Wahren und schließlich das transzendental Gute von allen einzelnen Gütern dieser Welt. Das eigentliche Sein, das eigentlich Eine, das eigentlich Wahre und das eigentlich Gute sind nichts anderes als Gott selbst. Die transzendentalen Bestimmungen sind Bestimmungen des göttlichen Seins. Diese enge Verschränkung zwischen der Transzendentalienlehre und der Theologie gilt es in ihrer philosophiegeschichtlichen Bedeutung zu erfassen. Denn hier drückt sich das Bewusstsein eines neuen Weges zur Gottesproblematik aus. Meister Eckhart hat diesen neuen Weg möglicherweise durch Heinrich von Gent kennen gelernt. Eine gedankliche Nähe zu dem von Heinrich von Gent in dessen ,Summa‘ in enger Anlehnung an Avicenna beschriebenen neuen ,Weg‘ ist unverkennbar. Heinrich hatte gegenüber dem bei den Aristotelikern üblichen ,Weg des Beweises durch das Sinnfällige‘ den ,Weg der intelligiblen, allgemeinen Begriffe bzw. Sätze‘ zur Erkenntnis des Göttlichen vorgeschlagen. Sie sind nichts anderes als eben die allgemeinen Sätze über das Seiende, Eine, Wahre und Gute und über die vom Intellekt ersterkannten allgemeinsten Bestimmtheiten der Dinge, durch die der Mensch, indem er von jedem bestimmten Seienden, Einen, Wahren und Guten (hoc ens etc.) absieht, das schlechthin Seiende, Eine, Wahre und Gute als notwendig Subsistierendes erfasst 26. Offenkundig hat Meister Eckhart diese von Heinrich von Gent erstmals beschriebene neue Methode der Gotteserkenntnis - die auch bei vielen Franziskanern Anklang fand 27 - übernommen, indem er im Sinne der Euklid’schen Methode, die auch der ,Elementatio‘ des Proklos zugrunde liegt, die allgemeinsten Sätze über die Transzendentalien als Axiome oder conceptiones animi oder koinai ennoiai dem ganzen monumentalen Werk vorausschickt. Das erste dieser selbstevidenten Axiome ist der Satz ,Das Sein ist Gott‘. Wer weiß, was das Sein eigentlich ist, nämlich die zu keinem Bestimmten kontrahierbare, unveränderliche, allgemeinste Vollkommenheit oder Aktualität selbst, und auch die Bedeutung des Ausdrucks ,Gott‘ kennt, der wird diesem Satz als einem in sich einsichtigen Prinzip sofort zustimmen. 25 26

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Meister Eckhart, In Ioh., n. 512 (LW III, 443, 5-7). Heinrich von Gent, Summa Quaestionum Ordinariarum, a. 22, q. 5, ed. Badius, Paris 1520, vol. I, foll. 134rB-135rE. Cf. dazu Th. Kobusch, Gott und die Transzendentalien: Von der Erkenntnis des Inklusiven, Impliziten, Konfusen und Unbewußten, in: M. Pickave´ (ed.), Die Logik des Transzendentalen. FS für J. A. Aertsen (Miscellanea Mediaevalia 30), Berlin-New York 2003, 421-432.

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Ähnliches gilt auch für das Eine, Wahre und Gute, die sich aus dem recht verstandenen Seinsbegriff ergeben, ,am unmittelbarsten‘ aber das Eine. Denn wenn das Sein die Fülle aller Wirklichkeit ist, dann kann von ihm nichts in negativer Weise ausgesagt werden, ja dann muss es selbst die ,Negation der Negation‘ und in diesem Sinne das Eine sein. Meister Eckhart hat diesen Ausdruck, der gar nicht neuplatonisch ist, einem Meister zugewiesen: „Ein meister sprichet: ein ist ein versagen des versagennes.“ 28 Wie W. Goris nachgewiesen hat, handelt es sich auch hier um Heinrich von Gent, bei dem der Ausdruck im selben Sinne nachweisbar ist 29. Da, wo keine bestimmte Negation ist, wo nur die Negation der Negation ist, kann auch keine Unterschiedenheit sein. Deswegen ist das göttliche Sein das Eine auch im Sinne der Ununterschiedenheit, das sich gerade dadurch von dem Reich des Unterschiedenen und der Region der Unähnlichkeit unterscheidet 30. Offenkundig hat Meister Eckhart hier neuplatonische Elemente in seinen Begriff des Einen aufgenommen 31. Es ist nun von entscheidender Bedeutung für den Gesamtcharakter des Werkes, dass Meister Eckhart nicht bei einer solchen abstrakten Theorie der Transzendentalien stehen bleibt, nach welcher das wahrhaft Seiende und Eine und Wahre und Gute allein Gott vorbehalten ist, während alles Endliche das Nichts, das Vielheitliche, das Unwahre und das Schlechte wäre. Da, wo das Eine ist, ist kein Mehr oder Weniger, kein Dies und Das, kein Unterschied, kein Eigenes, denn das Eine ist allen gemeinsam. Im Einen ist kein Schlechtes, kein Defekt, keine Privation, keine Teilung, keine Zahl, keine Vielheit. Unter den endlichen Dingen also scheint es kein wahrhaft Eines geben zu können. Was aber ist mit der menschlichen Seele? Auch hier gilt zunächst, was für die Dingwelt gilt: Soweit sie das ,Eigene‘, die ,Eigenschaft‘ sucht, soweit sie das Dies und Das liebt und dem Vielheitlichen anhängt, soweit wohnt Gott, das Eine, nicht in ihr 32. Aber da ist noch eine ,Kleinigkeit‘, die in des Wortes doppelter - platonischer und Eckhart’scher - Bedeutung bedacht werden muss.

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Pr. 21 (DW I, 361, 13); cf. Prol. in op. prop., n. 15 (LW I, 175, 14-15). Cf. Goris, Einheit (nt. 2), 197-206. Cf. In Ioh., n. 99 (LW III, 85, 13-14): „dei proprium est esse indistinctum et ipse sola sua indistinctione distinguitur, creaturae vero proprium est esse distinctum“; ähnlich auch In Ex., n. 117 (LW II, 112, 7 sqq.). Der Neuplatonismus hat das Eine als das aœdia¬kriton begriffen. Auch die Dialektik von Ununterschiedenheit und Unterscheidung scheint dort schon vorgeprägt zu sein. Cf. z. B. Proclus, Theol. Plat. I, 11, eds. H. D. Saffrey/L. G. Westerink, Paris 1968, 54, 15: Pv˜ w oyÓn oyœk aœna¬gkh ta¡w ta¬zeiw tay¬taw diafe¬rein aœllh¬lvn; To¡ me¡n ga¡r aœdia¬kriton aÕte kryfi¬vw on kai¡ aœdiaire¬tvw syggene¬stero¬n eœsti pro¡w to¡ eÕn, to¡ de¡ diakrino¬menon deyte¬ran exei meta¡ toy˜ to ta¬jin, to¡ de¡ diakekrime¬non porrv¬teron hdh proelh¬lyuen aœpo¡ th˜ w prvti¬sthw . Oder: Damascius, Traite´ des Premiers Principes, vol. II, eds. L. G. Westerink/J. Combe`s, Paris 1989, 116: ÔEsti ga¡r h« diafora¡ h«nvme¬noy pro¡w diakekrime¬non, toy˜ to de¬ eœstin aœdia¬kriton pro¡w to¡ diakekrime¬non· kai¡ ga¡r to¡ aœdia¬kriton toy˜ diakekrime¬noy die¬sthken, tosoy˜ ton mo¬non diakriue¬n, oÕson mei˜nai aœdia¬kriton kai¡ oÕson aœntidiasth˜nai pro¡w to¡ diakekrime¬non.

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Cf. In Ioh., n. 208 (LW III, 176, 1 sqq.).

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IV. Metaphysik des Lebemeisters: g eistig e Übung en der Ver nunft Sie wird von Eckhart in jenem Denken durchdacht, das man eine Metaphysik des Lebemeisters nennen könnte. Denn Eckhart hat sich selbst so genannt und auch den berühmten Satz geäußert, dass ein „Lebemeister mehr sei als tausend Lesemeister“ 33. Der Lesemeister ist der Meister der theoretischen Metaphysik, der Lebemeister lehrt - gemäß auch einer alten Tradition - die Philosophie des Lebens, er lehrt die Philosophie als Lebensform 34. Meister Eckhart ist beides: Er hat die spekulative Metaphysik in seiner Transzendentalienlehre aufgezeigt, aber er hat sie ergänzt durch eine entsprechende praktische Metaphysik, in der das Leben der menschlichen Seele, ihre Verwandlung im Sinne der Transzendentalien, d. h. ihre Einswerdung mit Gott, thematisch behandelt wird. Eckhart sagt nämlich auch, dass die menschliche Seele eine fundamentale Wandlung, eine Transformation ihrer selbst durchführen kann 35. Eckhart nennt das die Gottes- oder Sohnesgeburt der Seele. Jeder, der in diesem Sinne Sohn Gottes werden will, der muss gerade das Persönliche und das ,Eigene‘, d. h. alle Eigenschaft an sich, negieren 36. Da aber die ,Eigenschaft‘ nach Eckhart selbst schon ein Negatives ist - die Negation von allem außer ihr selbst -, bedeutet die Negation des Persönlichen eine Negation der Negation in der menschlichen Seele. Das transzendentale Eine erscheint als das Resultat der Selbsttransformation der Seele. Dass die transzendentalen Bestimmungen des Seins, Einen, Wahren und Guten auch im Bereich des Endlichen verwirklicht sind, ist keine Besonderheit der Lehre Eckharts. Denn die endlichen, beweglichen und sich verändernden Dinge gehören, gerade insofern sie sind und damit eine Form der Einheit, Wahrheit und Gutheit darstellen, zum Gegenstandsfeld der Metaphysik 37. Aber im Bereich des Endlichen sonst sind Sein und Einheit und Wahrheit und Gutheit nur auf analoge Weise wirklich 38. Allein in der Sohnesgeburt erscheint das transzendentale Eine im univoken Sinne. 33 34

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Cf. F. Pfeiffer, Meister Eckhart, Göttingen 41924, 599, 19-20. Cf. zu diesem Gegensatz auch B. Welte, Meister Eckhart, Gedanken zu seinen Gedanken, Freiburg 1979, 16, und A. M. Haas, Meister Eckhart als normative Gestalt geistlichen Lebens, Einsiedeln 1979, 15. Cf. auch id., Aktualität und Normativität Meister Eckharts, in: H. Stirnimann (ed., in Zusammenarbeit mit R. Imbach), Eckardus Theutonicus, homo doctus et sanctus. Nachweise und Berichte zum Prozeß gegen Meister Eckhart (Dokimion 11), Freiburg/Schweiz 1992, 209-271, hier: 218. Die christliche Philosophie als Philosophie des Lebens hat Origenes vertreten; cf. dazu Th. Kobusch, Das Christentum als die wahre Philosophie. Zum Verhältnis zwischen Platonismus und Christentum bei Origenes, in: L. Lies (ed.), Origeniana Quarta (Referate des 4. Intern. Origenes-Kongresses), Innsbruck-Wien 1987, 442-446. Zum Begriff der Transformation cf. Sermo XXXI, n. 326 (LW IV, 285, 3 sqq.); In Gen. II, n. 180 (LW I, 650, 1 sqq.); Pr. 6 (DW I, 110, 8-111, 7). Cf. In Ioh., n. 290 (LW III, 242, 6): „abnegare personale, abnegare proprium.“ Cf. Prol. gen. in op. trip., n. 9 (LW I, 154, 1-2). Cf. In Ioh., n. 97 (LW III, 84, 3-5); cf. auch In Eccli., n. 52 (LW II, 281, 1-5).

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Der Gedanke der Gottesgeburt in der Seele ist nun von entscheidender Wichtigkeit im Werk Eckharts. Denn er ist es, der die Einheit des philosophischen Grundgedankens im lateinischen und deutschen Werk, in der Ontologie und in der Seelenlehre garantiert. In der und durch die Gottesgeburt nämlich nimmt der Mensch teil am göttlichen Leben und damit auch an den transzendentalen Bestimmtheiten, die Gott zuerst und eigentlich zukommen. Nirgendwo anders als am Anfang seines Traktates ,Von der göttlichen Tröstung‘ hat Meister Eckhart diese Verbindung zwischen Transzendentalienlehre und dem Gottesgeburtsthema deutlicher dargestellt. Es ist die göttliche Gutheit, Wahrheit, Gerechtigkeit, Weisheit usw., die das konkrete Gute, das konkrete Wahre, das konkrete Gerechte und Weise im Menschen gebiert. Der Mensch aber ist, insofern er gut, wahr, gerecht usw. ist, das geborene und partizipierende Gute usf. 39. Könnte die Beziehung zur Patristik im Hinblick auf andere Themen der Philosophie Eckharts vielleicht noch bezweifelt werden, so atmet dieses Wichtigste aller Lehrstücke Eckharts unbezweifelbar den Geist der frühen christlichen Philosophie. Eckhart selbst beruft sich auf Origenes, dem wir die erste ausgearbeitete Form dieser Lehre verdanken. Er beruft sich gerade auch deswegen auf ihn, weil schon nach Origenes die Gottesgeburt im Herzen des Menschen kein einmaliger Vorgang ist, sondern die habituelle Transformation des Selbst bezeichnet: „In einem jeglichen guten Gedanken oder guten Bestreben oder guten Werke werden wir allzeit neu geboren in Gott.“ 40 Deswegen vollzieht sich die Gottesgeburt nicht einmal, sondern ,allzeit‘ 41. Was Eckhart mit Berufung auf die altchristliche Tradition zur Geltung bringen will, ist somit kein besonderer theologischer Lehrsatz, sondern die philosophische Erkenntnis, dass das wahre Sein des Geistes in der Wiedergeburt besteht 42. Wie der Begriff der Geburt andeutet, handelt es sich bei diesem Sein um eine Art des Werdens. Eckhart hat den Begriff des Werdens gegenüber einer langen Tradition rehabilitiert, die ihn nur für das Entstehen der Naturdinge gebrauchte 39

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Cf. BgT (DW V, 8 sqq.). Dazu die wichtigen Anmerkungen in N. Largier (ed.), Meister Eckhart: Werke II (Bibliothek des Mittelalters 21), Frankfurt a. M. 1993, 755-758. Auffälligerweise zählt hier Meister Eckhart auch die Gerechtigkeit und Weisheit zu den übrigen üblichen Transzendentalien. Die Weisheit wird auch im Prolog zum ,Opus tripartitum‘, n. 8 (LW I, 152, 8-11), unter den termini generales, im Sapientiakommentar, n. 74 (LW II, 404, 5-10), unter den ,geistigen Vollkommenheiten‘ erwähnt. Das könnte Eckhart von Heinrich von Gent übernommen haben; cf. Summa Quaestionum Ordinariarum, a. 22, q. 3, ed. Badius, Paris 1520, vol. I, fol. 132D. Zum Verhältnis zwischen Konkretem und Abstraktem, zwischen Partizipierendem und Partizipiertem cf. In Ioh., n. 14 (LW III, 13, 6-7): „iustus praeest in ipsa iustitia, utpote concretum in abstracto et participans in participato.“ Pr. 41 (DW II, 293, 5-6). Zur Gottesgeburt cf. bes. N. Largier, Meister Eckhart: Werke I (Bibliothek des Mittelalters 20), Frankfurt a. M. 1993, 814-817, und H. Rahner, Die Gottesgeburt. Die Lehre der Kirchenväter von der Geburt Christi im Herzen des Gläubigen, in: Zeitschrift für Katholische Theologie 59 (1935), 33-418, hier: 356-359. Pr. 37 (DW II, 219, 4-6). Pr. 41 (DW II, 293, 1-2): „Alsus soˆ wirt der sun in uns geborn: daz wir sıˆn sunder warumbe und werden wider ˆıngeborn in dem sune.“

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und - wie er selbst auch - dem wahren Sein gegenüberstellte 43. Die Gottesgeburt ist ein ständiges Werden, durch das das wahrhaft ,Neue und Frische‘ hervorgebracht wird. Während es im Bereich der Natur und der Kunst eigentlich nichts Neues gibt, sondern nur ,Erneuertes‘ - da stets die immer gleiche Materie zugrunde liegt -, ist die Gottesgeburt, die sich in jedem guten Werk, also im Bereich des Moralischen, vollzieht, das ,Werden ohne Werden‘ jenseits der Zeit, das unterschieden werden muss von jeglicher der Zeit unterworfenen Veränderung. In dieser ,Zeugung‘ entsteht ein ,Neues‘ ohne ,Erneuerung‘ 44. Das Fünklein ist der in der Kommunikation werdende Gott. Alle späteren Konzeptionen von einem ,Werden‘ Gottes sind Derivate dieses Grundgedankens. Doch ist die Gottesgeburt nicht ein kontingentes Ereignis, das auf die Seele gewissermaßen hereinbricht. Vielmehr vollzieht die oberste Vernunft des Menschen, die Eckhart mit so vielen Namen (des Fünkleins, Bürgleins usw.) belegt und ausdrücklich von der Vernunft im Sinne eines Vermögens der Seele unterscheidet 45, jene geistigen Übungen, die notwendig zur Gottesgeburt führen 46. Eckhart spricht sogar davon, dass der Mensch in der Zeitlichkeit Gott zwingen könne, seinen Sohn in ihm zu gebären, d. h. sein Sein, seine Gutheit und Liebe usf. ihm mitzuteilen 47. Man könnte meinen, es handle sich hier wie auch da, wo Eckhart von einem ,Müssen‘ Gottes spricht, um die später sog. moralische Notwendigkeit, die die Freiheit nicht ausschließt, vielmehr ihre eigentliche Erfüllung darstellt. Während etliche Meister der spekulativen Metaphysik darüber rätselten, wie das göttliche Sein, wenn es aristotelisch als Unbewegter Beweger und als transzendente Wesenheit gedacht wird, je in die Seele kommen könnte, ist es aus der Sicht des Lebemeisters notwendig (seine Gottheit hängt daran), dass Gott sich mitteilt und gemein macht 48. Eckhart, der Lebemeister, erneuert 43 44

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Cf. In Ioh., n. 325 (LW III, 273, 5 sqq.). Zur Idee des Neuwerdens cf. Pr. 20a (DW I, 335, 4-5): „sıˆn gewerden ist nuˆ niuwe und vrisch und alzemaˆle in einem ˆewigen nuˆ “; Pr. 31 (DW II, 117, 1): „er gebirt sıˆnen sun und gebirt in alzemaˆle niuwe und vrisch“; bes. Pr. 50 (DW II, 459, 7-8): „Da enist enkein ,gewerden‘, mer: es ist ein nu´, ein gewerden svnder gewerden, ein nu´we svnder vernu´wen, vnd das gewerden ist sin wesen“; Pr. 20b (DW I, 349, 6-8): „Got gibet sich der seˆle alles niuwe in einem gewerdenne […] ez ist alles niuwe und vrisch als in einem gewerdenne aˆne underlaˆz.“ Zum Unterschied zwischen dem ,Neuen‘ und dem ,Erneuerten‘ cf. Sermo XLI/ 1, nn. 416-417 (LW IV, 351, 13-352, 14). Die Tugenden sind nach In Sap., n. 45 (LW II, 368, 6), ,in continuo fieri‘. ,Zeugung‘ und ,Veränderung‘ werden ibid., n. 30, terminologisch unterschieden. Zum Werden Gottes cf. S. Ueda, Die Gottesgeburt in der Seele und der Durchbruch zur Gottheit. Die mystische Anthropologie Meister Eckharts und ihre Konfrontation mit der Mystik des Zen-Buddhismus, Gütersloh 1965, 125. Cf. Pr. 71 (DW III, 215, 7-11). Cf. RdU, c. 21 (DW V, 277, 4-5): „daz der mensche sıˆne vernunft wol und zemaˆle gote gewene und üebe […].“ Cf. Pr. 22 (DW I, 385, 4-5): „[…] daz der mensche in der zıˆt dar zuo komen mac, daz er got mac twingen“; cf. auch das Folgende und Pr. 13 (DW I, 214, 5-9). Cf. Pr. 73 (DW III, 265, 4-9). Wie der Zusammenhang zeigt, ist die Argumentation gerade gegen den aristotelischen Gottesbegriff im Sinne des Unbewegten Bewegers gerichtet und damit auch gegen den metaphysischen Notwendigkeitsbegriff. Dies gegen L. Sturlese, Meister Eckhart. Ein Porträt (Eichstätter Hochschulreden 90), Regensburg 1993, 9.

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die antike, besonders die spätantike Philosophie im Sinne der geistigen Übungen 49. Zu den geistigen Übungen, die die Geburt Gottes geradezu veranlassen, gehört auch das ,Durchbrechen‘, das nicht einen intellektiven Vorgang meint. Der Durchbruch ist die Selbstbefreiung der Seele von den Bindungen an die endlichen Dinge, durch die sie in die ,göttliche Freiheit‘ gelangt 50. Aber nicht nur das. Der Durchbruch ist auch jene geistige Übung, durch die die Vernunft selbst die Hüllen der Güte und Wahrheit und Weisheit durchbricht und hinter sich lässt, um so in den grundlosen Grund zu gelangen, der Wurzel und Ursprung dieser Bestimmungen ist 51. Hier gebricht die Sprache, denn das lautere Wesen des Grundes ist das Namenlose 52. Dem entspricht auf der Seite des Lebens der Seele, wenn Meister Eckhart das Fünklein, also das, was der Mensch ursprünglich und eigentlich ist, das von allen Namen Freie und von allen Formen Bloße nennt 53. Der Durchbruch ist nicht die Eroberung eines Neuen, sondern die Rückkehr zu einem Ursprünglichen. Im Durchbrechen „bin ich, was ich war“ 54. Die Seele gelangt jedoch nicht dahin durch einen Aufstieg zu einem objektiven Punkt, sondern indem sie selbst das wird, wohin sie gelangt. Indem die Seele sich von allem absondert und alles negiert, wird sie selbst ein Eines, das nach Eckhart ausdrücklich etwas Lautereres ist als Gutheit und Wahrheit, weil es im Unterschied zu diesen zumindest gedanklich bereichernden Bestimmungen einer Sache nichts hinzufügt, sondern nur die Negation jeglicher Negation ausdrückt 55. Was die spekulative Transzendentalienmetaphysik die Negation der Negation nennt, das erscheint aus der Sicht des Lebemeisters als das einfaltig Eine des Fünkleins, das es dem Menschen ermöglicht, sich aus der Vielheit der Zerstreuungen zurückzuziehen und wieder ursprünglich zu werden 56. Deswegen muss der, „der Gott finden soll, Eins werden“ 57. Eins zu werden mit Gott bedeutet nicht nur die Vereinigung mit ihm. Deswegen unterscheidet Meister Eckhart 49

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Zur Neubestimmung der Übung bei Eckhart cf. bes. O. Langer, Mystische Erfahrung und spirituelle Theologie. Zu Meister Eckharts Auseinandersetzung mit der Frauenfrömmigkeit seiner Zeit (MTU 91), München 1987, 166 sqq. Cf. Pr. 81 (DW III, 401, 4-11). Cf. Pr. 69 (DW III, 178, 3-179, 7); cf. auch Pr. 73 (DW III, 261, 2 sqq.); Sermo LIV, n. 533 (LW IV, 448, 9-449, 3). Pr. 69 (DW III, 179, 5-6): „si brichet in den grunt […], daˆ güete und waˆrheit uˆzgaˆnde ist, ˆe ez daˆ deheinen namen gewinne, […]“; Pr. 7 (DW I, 122, 7-8): „und vellet uˆf luˆter wesen und nimet got bloˆz, als er aˆne namen ist.“ Cf. Pr. 2 (DW I, 40, 1-3). Pr. 52 (DW II, 505, 5). Die Selbstwerdung als Rückkehr zu einem Ursprünglichen ist gut dargestellt bei Ch. Steineck, Grundstrukturen mystischen Denkens, Würzburg 2000, 84 sq. Cf. bes. Pr. 21 (DW I, 361, 2 sqq.; 363, 1 sqq.). Auch in Pr. 71 (DW III, 221, 2-5) wird über die Bestimmungen des Lichtes, Seins und der Gutheit noch hinausgegangen - alle Beifügungen beiseite lassend -, um Gott als Eines zu erkennen. Cf. auch BgT (DW V, 41, 1 sqq.). Pr. 2 (DW I, 40, 3-4): „Ez ist soˆ gar ein und einvaltic, als got ein und einvaltic ist.“ Von dem edeln Menschen (DW V, 115, 5-6).

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dabei der strengen Terminologie des Neuplatonismus folgend - das ,Einswerden‘ und das ,Vereinigen‘ oder auch das ,einig Eine‘ und das ,Vereinte‘ 58. In der Vereinigung können die beiden Elemente noch ihr je eigenes Wesen bewahren. Da jedoch auch das Eine noch immer eine Form der Andersheit impliziert, muss die Vernunft, die Gott zunächst als Sein, Wahrheit und Gutheit genommen hatte, auch die Einheit negieren: „Wenn er nun weder Gutheit noch Sein noch Wahrheit noch Eins ist, was ist er denn? Er ist gar nichts, er ist weder dies noch das.“ 59 Gott muss so aus der Sicht der Transzendentalien-Metaphysik, gerade weil die Bestimmungen des Guten und der Wahrheit, aber auch der Person, des Geistes, Gottes usw. zu kurz greifen, in Übereinstimmung mit einer großen Tradition als ein Nichts, d. h. als überseiende Nichtheit begriffen werden. Eckhart spricht in diesem Sinne auch von dem Abgrund, der Wüste, der Einöde, der Stille, dem unergründlichen Meer, dem Grundlosen 60. Die Metaphysik des Lebemeisters sagt inhaltlich nichts anderes. Das höchste Leben der Seele besteht in der Demut, d. h. der Selbstvernichtung oder - wie Eckhart auch sagt - der Selbstverwerfung: „Wenn die Seele in das Eine kommt und darin eintritt in eine lautere Verwerfung ihrer selbst, so findet sie dort Gott als in einem Nichts“, und in diesem Nichts ward Gott geboren 61. Es kann kein Zweifel bestehen: Dem göttlichen Nichts - ein Begriff, der auf eine große Tradition der negativen Theologie zurückblicken kann - wird bei Eckhart aus der Sicht des Lebemeisters das Nichts der Seele oder vielmehr des reinen Geistes an die Seite gestellt. Denn Eckhart sagt ausdrücklich, dass das Sein des reinen Geistes darin besteht und wir deswegen „dahin kommen müssen, daß wir nichts sind“, dass wir „vom Etwas zum Nichts versinken“ 62. Man hat mit Recht darauf hingewiesen, dass es bei Eckhart eine „Applikation der negativen Theologie auf den Intellekt und Seelengrund“ gebe 63, also gewissermaßen eine negative Noologie. Nur muss dabei bewusst bleiben, dass Eck58

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Cf. BgT (DW V, 33, 8-9): „[…] daz wir mit im und in im ein würden, niht aleine vereinet“; Pr. 44 (DW II, 341, 9): „[…] als verre in gote […] niht vereiniget, meˆr: ez ist ein“; Pr. 23 (DW I, 401, 6): „wan ein daz ist eigenlıˆcher ein, dan daz daˆ geeinet ist.“ In der Predigt 12 (DW I, 197, 9) wird von dem ,Etwas in der Seele‘ gesagt, „daz ez ein ist und niht vereinet“. Cf. auch Pr. 65 (DW III, 101, 8-13). Zum neuplatonischen Unterschied zwischen dem ,schlechthin Einen‘ (a«plv˜ w eÕn) und dem ,Vereinten‘ (h«nvme¬non) cf. z. B. Proklos, In Parm., ed. V. Cousin, Opera, pt. 3, Paris 1864 (ND Hildesheim 1961), 1105. Pr. 23 (DW I, 402, 1-2). Pr. 83 (DW III, 442, 1-2): „ ,Got ist ein wesen‘ - es ist nit war: Er ist ein vber swebende wesen vnd ein vber wesende nitheit.“ Zu den anderen Bezeichnungen cf. Largier, Meister Eckhart: Werke I (nt. 40), 803. Pr. 71 (DW III, 224, 4-5). Zur Selbstvernichtung cf. auch Pr. 74 (DW III, 275, 4 sqq.). Pr. 76 (DW III, 322, 2-3); Pr. 83 (DW III, 448, 9). N. Largier, Theologie, Philosophie und Mystik (nt. 2), 706-707; cf. id., ,intellectus in deum ascensus‘. Intellekttheoretische Auseinandersetzungen in Texten der deutschen Mystik, in: Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 69 (1995), 422-471, hier: 462 sq.

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hart auch damit auf eine alte neuplatonische Tradition zurückgreift, in der Negation und Selbstnegation zu den geistigen Übungen des theologischen Metaphysikers gehörten 64. Dieselbe Dialektik drückt Meister Eckhart durch das Motiv des mystischen Todes aus. Die Seele, die stirbt, hat das wahre Leben. Deswegen soll der Mensch ,toˆt sıˆn‘ 65. Es ist die metaphysische Übung des seit Ambrosius so genannten ,mystischen Todes‘ gemeint, durch die die Seele sich und der ganzen Welt abstirbt. Meister Eckhart kann auch sagen, dass „der mensche sol sich williclıˆche geben in den toˆt“ 66. Das erinnert an die speziell im Neuplatonismus und in der christlichen Philosophie kolportierte Unterscheidung zwischen dem physischen und dem ,willentlichen‘ Tod. Die traditionelle an Platon anknüpfende Philosophie hatte in diesem Sinne die Philosophie überhaupt als die ,Übung des Sterbens‘ verstanden 67. Meister Eckhart übernimmt diese Grundidee, verbindet sie aber mit einer Dialektik, die das Grundthema der spätantiken Philosophie - die Aufmerksamkeit auf sich selbst - im Innersten betrifft. Denn der Mensch soll so tot sein, dass er gar nicht mehr seiner selbst achtet. Das ist die wahre Selbstaufmerksamkeit, die auf sich als das partikuläre Individuum keine Acht mehr gibt, damit das wahre Selbst bewahrt bleibt 68. In ähnlicher Weise ist auch das Motiv der Übung der Selbstvergessenheit zu verstehen. Nicht nur die Dinge dieser Welt muss die Seele - getreu der bekannten Maxime Plotins „Die gute Seele ist vergeßlich“ (Enn. IV, 3, Ende) - zu vergessen üben, sondern auch und vor allem sich selbst. Wenn die Seele Gott erkennen will, „soˆ muoz si ir selber vergezzen und muoz sich selber verliesen“ 69. Die Selbstvergessenheit aber meint nicht die totale Unbewusstheit, sondern sie steht in den Diensten der wahren Selbsterkenntnis. Was vergessen werden soll, ist die partikuläre Individualität des Selbst, damit dieses in seiner eigentlichen Fülle erscheinen kann 70. Dieser Sinn des Begriffs der Selbstvergessenheit ist nicht neuplatonischen Ursprungs, wie man betonen muss. Denn da wie auch in der frühen christlichen Philosophie hat er ausschließlich einen pejorativen Sinn, indem er den Mangel an Selbsterkenntnis ausdrückt. Später jedoch, bei Bernhard von Clairvaux, den Viktorinern und mittelalterlichen Interpreten des Hoheliedes, kann der Begriff der Selbstvergessenheit 64

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Cf. Th. Kobusch, Negative Theologie als praktische Metaphysik, in: The´ologie ne´gative. Textes re´unis par M. M. Olivetti (Bibliotheca dell’ ,Archivio di Filosofia‘), Padova 2002, 185-200. Pr. 45 (DW II, 364, 5); cf. auch In Ioh., n. 533 (LW III, 464, 8-9); BgT (DW V, 21, 7-10). Pr. 8 (DW I, 134, 6). Zur mors mystica und anderen Todesbegriffen der spätantiken Philosophie cf. Th. Kobusch, Freiheit und Tod. Die Tradition der mors mystica und ihre Vollendung in Hegels Philosophie, in: Theologische Quartalschrift 164 (1984), 185-203; id., Der Tod. Elemente einer Begriffsgeschichte, in: G. Binder/B. Effe (eds.), Tod und Jenseits im Altertum (BAC 6), Trier 1991, 167179. Cf. Pr. 12 (DW I, 192-203). Pr. 68 (DW III, 149, 5-6). Zur Selbstvergessenheit cf. Pr. 79 (DW III, 370, 1 sqq.). Das ist der richtige Tenor der Darlegung bei Largier, Meister Eckhart: Werke I (nt. 40), 900902.

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durchaus auch einen positiven Sinn annehmen, insofern die Seele das an ihr, was zur Welt des Endlichen gehört, hinter sich lassen und vergessen soll, wenn sie ihr wahres Selbst finden will 71. Äquivalent ist dem mystischen Tod und der Selbstvergessenheit auch die Tugend der Gelassenheit. Die Gelassenheit meint jene Haltung, in der der Mensch alle Dinge dieser Welt hinter sich lässt und sie als ein Nichts, d. h. als für sein Selbst Unbedeutendes, ansieht. Es ist keine Weltverachtung oder Weltverneinung, die aus solchen Worten spricht. Denn die Welt ist dem gelassenen Menschen gerade wieder auf neue Weise zuteil geworden 72. Dieses Motiv des Loslassens der Dinge dieser Welt verrät ein weiteres Mal den Einfluss des Neuplatonismus. Plotin hat die Dialektik von Loslassen und Präsenz in neuer Weise durchdacht. Auch wenn Meister Eckhart das Thema der Gelassenheit gewissermaßen auf die Spitze treibt, indem er das Sichlassen als die höchste Tugend darstellt, bewegt er sich noch immer im Kontext der neuplatonischen Philosophie 73. Die Gelassenheit ist kein augenblickshaftes Erlebnis, sondern eine geistige Übung wie die anderen auch, durch die das menschliche Bewusstsein die Transformation seiner selbst vollzieht. Der gelassene Mensch ist der in der Gelassenheit geübte Mensch 74. Ihm ist alles zu Eigen, weil er auf alle Intentionalitäten verzichtet und in diesem Sinne alles ,Eigene‘ gelassen hat. Der gelassene Mensch ist der ,Mann ohne Eigenschaften‘ 75. Er handelt nicht, um etwas anderes zu erreichen. Insofern ist er intentionslos. Sein Handeln ist, wie Eckhart sagt, ,ohne Warum‘. Es hat seinen Sinn in sich selbst 76. Das ist das Göttliche am gelassenen Menschen, dass er, was er tut, um seiner selbst willen tut und so ohne Warum 77. Denn Gott hat keinen Zweck außerhalb seiner. Sein Sein ist, wie Eckhart aus der neuplatonischen Geistlehre gelernt hatte, das Warum, d. h. der Zweck alles anderen 78. Denkt man daran, dass schon im platonischen Dialog ,Gorgias‘ erstmals und nachhaltig eine teleologische Struktur des menschlichen Handelns fest71

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Zur Entwicklung des Begriffs der Selbstvergessenheit siehe den glänzenden Artikel von M. Laarmann, Selbstvergessenheit, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, vol. 9, eds. J. Ritter/K. Gründer, Basel 1995, 545-551. Cf. Pr. 42 (DW II, 306, 2-5). Cf. Pr. 28 (DW II, 61, 1-11). Zum neuplatonischen Hintergrund cf. Th. Kobusch, Mystik als Metaphysik des moralischen Seins. Bemerkungen zur spekulativen Ethik Meister Eckharts, in: K. Ruh (ed.), Abendländische Mystik im Mittelalter. Symposion Kloster Engelberg (Germanistische Symposien-Berichtsbände 7), Stuttgart 1986, 49-62, hier: 60-61. Bei Plotin, Enn. III, 8, 9, 30 ist vom ,Zurückweichen‘ und ,Sichlassen‘ des Geistes die Rede (oi√on eiœw toyœpi¬sv aœnaxvrei˜n kai¡ oi√on e«ayto¡n aœfe¬nta …). Cf. Pr. 12 (DW I, 203, 1-5). Cf. auch Largier, Meister Eckhart: Werke I (nt. 40), 879, 959 sqq. Zum mystischen Hintergrund in der literarischen Wiedergeburt des Begriffs der Eigenschaft in R. Musils Roman cf. J. Schmidt, Ohne Eigenschaften. Eine Erläuterung zu Musils Grundbegriff, Tübingen 1975, 46 sqq. Cf. Pr. 28 (DW II, 59, 6-7). Sermo IV/1, n. 21 (LW IV, 22, 12): „[…] quia deus, et per consequens homo divinus, non agit propter cur aut quare.“ Cf. auch die vielen dort aufgeführten Parallelstellen. Cf. Meister Eckhart, In Ioh., n. 50 (LW III, 41, 11-12): „Non habet quare, sed ipsum est quare omnium et omnibus.“ Nach Plotin VI, 7, 2, 4 hat der Geist zwar ein ,Dass‘, aber kein ,Warum‘.

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gelegt worden ist, so wird man Meister Eckharts Lehre vom Handeln des gelassenen, intentionslosen, keine äußeren und inneren Zwecke verfolgenden Menschen als die erste laute Kritik an der von Platon ins Spiel gebrachten, in der aristotelischen Tradition aber fortgesetzten Idee verstehen müssen. Schließlich hat Meister Eckhart die Selbstwerdung der Seele auch in dem Motiv des Ichs, genauer gesagt: der Ichwerdung, ausgedrückt. Schon im Zusammenhang der Metaphysik des Lesemeisters war festgestellt worden, dass das Wort ,ich‘ niemand außer Gott selbst im eigentlichen Sinne aussprechen kann 79. Auf der anderen Seite sagt Eckhart selbst, dass ,alle Kreaturen‘ von sich als ,ich‘ sprechen könnten 80. Der Sinn kann nur sein, dass das Geschaffene als solches nur im uneigentlichen Sinne ,ich‘ sagen kann. Eigentlich kann der Mensch nur dann Ich sein und von sich als ,ich‘ sprechen - das ist die große These der Predigt 77 -, wenn sich die Seele von diesem Geschaffenen befreit, sich damit ihrer partikulären Individualität entledigt und so wieder wird, was sie ursprünglich war: der Seelengrund, der eins ist mit der Lauterkeit des göttlichen Seins. Die Seele wird so wahrhaft ein Ich, indem sie ihr partikuläres Ich verwirft. Es ist ein allgemeines Ich, von dem Eckhart in affirmativer Weise spricht 81. Denn wenn das ,Eigene‘ abgelegt und das Persönliche negiert ist, erscheint das Allgemeine. „Je edler etwas ist, um so allgemeiner ist es.“ 82 Was so durch die geistigen Übungen der Selbstvernichtung und Selbstnegation zuletzt entdeckt wird, ist nichts anderes als das wahre Selbst, das allgemeine Ich oder - wie Eckhart auch sagt - die Vernunft selbst, freilich nicht als Naturding, d. h. als natürliches Seelenvermögen, verstanden, sondern als ein ,Höheres‘, nämlich als Seelengrund 83. Sie kommt zu sich selbst, insofern sie ,sich‘ als Natur transzendiert 84. Der Prozess der Ichwerdung, welcher der Gegenstand des Lebemeisters ist, meint also die Entwicklung der Seele zur reinen Vernunft. Nirgendwo ist der Einfluss jener spätantiken Metaphysiktradition, die ich an anderer Stelle praktische Metaphysik genannt habe, deutlicher zu spüren als an dieser Stelle des Eckhart’schen Gedankengangs. Denn mögen die neuplatonischen Lehren von der Vereinigung mit dem Einen und die christliche Metaphysik des Hoheliedes auch noch so verschieden sein, darin stimmen sie jedoch überein, dass Metaphysik nicht mehr als die unbeteiligte Schau des Unbewegten Bewegers gedacht werden kann, sondern als praktische Kontemplation begriffen werden muss, in der sich das betrachtende Subjekt selbst verändert, indem die 79 80 81

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Cf. Pr. 28 (DW II, 68, 4-5). Cf. Pr. 79 (DW III, 365, 10-11). Wie auch die Pr. 28 (DW II, 63, 6-7) zeigt, ist das Unverwechselbare und Inkommunikable der einzelnen Person in dem Ich aufgehoben, „als verre als ich ein mit im bin“. Pr. 4 (DW I, 66, 8-9). Das Göttliche ist nach Eckhart das Allgemeine: cf. In Ioh., n. 528 (LW III, 459, 12-460, 1); cf. auch ibid., n. 103 (LW III, 88, 13-89, 2); Sermo VI/1, n. 53 (LW IV, 52, 3-6); In Gen. II, n. 86 (LW I, 548, 12): „necessario est quid commune omnibus.“ Cf. In Eccli., n. 10 (LW II, 240, 1-3). Cf. Sermo LIV/2, n. 532 (LW IV, 448, 3-8); Pr. 41 (DW II, 296, 2-3): „daz si über sich komen muoz, sol si ein werden in dem sune.“

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Seele - wie Plotin sagt - zum Geist und zum Einen ,wird‘, oder, wie z. B. Gregor von Nyssa in seinem Hoheliedkommentar ausführt, die Angleichung an Gott durch eine Transformation ihrer selbst vollzieht 85. Die Metaphysik des Lebemeisters ist die Fortsetzung dieser Tradition, in der die Metaphysik als eine geistige Übung, als die Übung der Gottangleichung oder Gottwerdung, verstanden wird. Schon immer ist aufgefallen, dass Eckhart in einer Universitätspredigt des Jahres 1302, in der die Philosophie im Sinne der boethianischen Tradition in Mathematik und Physik und Theologie eingeteilt wird, die Ethik mit der Theologie (,ethica sive theologia‘) gleichstellt 86. Kann man deutlicher ausdrücken, dass wir es mit einer Form der praktischen Metaphysik zu tun haben?

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Cf. dazu Kobusch, Metaphysik als Lebensform (nt. 22). Cf. Sermo die b. Augustini Parisius habitus, n. 2 (LW V, 90). Cf. dazu auch J. A. Aertsen, Meister Eckhart: Eine außerordentliche Metaphysik, in: Recherches de The´ologie et Philosophie me´die´vales 66 (1999), 1-20, hier: 17; ferner den Beitrag von A. Speer in diesem Band, 3-33.

Zwischen Einheitsmetaphysik und Einheitshermeneutik: Eckharts Maimonides-Lektüre und das Datierungsproblem des ,Opus tripartitum‘ Yossef Schwartz (Tel Aviv) I. Die Maimonides-Zitate Eckhar ts unter Ber ücksichtigung der Chronologie seiner Schriften Eine der wichtigsten Thesen, die in der letzten Generation über ,Meister Eckhart in Erfurt‘ aufgestellt wurden, ist diejenige von Loris Sturlese über die frühe Entstehung des ,Opus tripartitum‘ während der Zeit unmittelbar nach dem ersten Parisaufenthalt, als Eckhart in Erfurt war 1. Im Folgenden möchte ich das ,Opus tripartitum‘ als Lebensprojekt Eckharts darstellen - ein Projekt, das sehr wahrscheinlich in seiner Erfurter Zeit anfing, das aber bis etwa zu der Zeit seines Kölner Prozesses weiterlief. Als einen der wichtigsten Belege für die Entstehung des ,Opus tripartitum‘ werde ich Eckharts Rezeption von Maimonides vorführen. Dabei möchte ich den von Ernst Reffke 1938 eröffneten Diskurs wieder aufnehmen 2, in dem den Zitaten aus dem ,Führer der Unschlüssigen‘ in den

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Cf. L. Sturlese, Meister Eckhart in der Bibliotheca Amploniana. Neues zur Datierung des ,Opus tripartitum‘, in: A. Speer (ed.), Die Bibliotheca Amploniana. Ihre Bedeutung im Spannungsfeld von Aristotelismus, Nominalismus und Humanismus (Miscellanea Mediaevalia 23), Berlin-New York 1995, 434-446, bes. 443. Auch die folgenden Veröffentlichungen Sturleses sind relevant, auch wenn sie nicht unbedingt untereinander kohärent sind: Un nuovo manoscritto delle opere latine di Eckhart e il suo significato per la ricostruzione del testo e della storia dell’Opus tripartitum, in: Freiburger Zeitschrift für Philosophie und Theologie 32 (1985), 145-154; id., Die Kölner Eckhartisten. Das Studium generale der deutschen Dominikaner und die Verurteilung der Thesen Meister Eckharts, in: A. Zimmermann (ed.), Die Kölner Universität im Mittelalter (Miscellanea Mediaevalia 20), Berlin-New York 1989, 192-211; id., Meister Eckhart. Ein Porträt (Eichstätter Hochschulreden 90), Regensburg 1993; id., Zur Stemmatik der offenen Tradition. Überlegungen zur Edition der drei Fassungen von Meister Eckharts ,Opus tripartitum‘, in: editio 6 (1992), 26-63; Kurt Ruh vertrat zuerst die These der späten Datierung: cf. K. Ruh, Meister Eckhart. Theologe, Prediger, Mystiker, München 1985, 72. Im dritten Band der ,Geschichte der abendländischen Mystik‘ von 1996 stellte er die Ergebnisse Sturleses als unverrückbare Tatsache dar: cf. id., Geschichte der abendländischen Mystik, vol. 3: Die Mystik des deutschen Predigerordens und ihre Grundlegung durch die Hochscholastik, München 1996, 290 sq. Cf. E. Reffke, Studien zum Problem der Entwicklung Meister Eckharts im Opus tripartitum, in: Zeitschrift für Kirchengeschichte 57 (1938), 19-95, hier: 81 sqq.

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lateinischen Werken Eckharts ein besonderer Platz eingeräumt wird, wobei ich zu prüfen versuche, inwieweit seine Forschungsergebnisse auf der Basis neuerer Daten zu bestätigen oder derart zu aktualisieren sind, dass, obwohl sich seitdem die Forschungslage verändert hat - nicht zuletzt durch die Entdeckungen und Aufsätze Loris Sturleses -, es noch immer gerechtfertigt ist, auf einige der Einsichten Reffkes zurückzugreifen 3. Um es deutlich zu sagen: Maimonides ist in den Eckhart’schen Schriften beinahe nur im ,Opus tripartitum‘ wahrnehmbar, das seinerseits als Eckharts systematischstes und umfangreichstes Werk gilt 4. Dieses Werk entstand zweifellos in verschiedenen Arbeitsphasen, was die verschiedenen Handschriften zeigen. Die eindeutigste und systematischste Änderung zwischen den frühen und den späteren Arbeitsphasen hat mit der Rezeption von Maimonides zu tun, wie aus einem Vergleich zwischen der frühen, in der Erfurter Zeit entstandenen Handschrift E und den späten Manuskripten deutlich hervorgeht. Der Vergleich zwischen E und CT (seit 1985 auch Handschrift L) zeigt nämlich eindeutig, dass der Einfluss des Maimonides zugenommen hat 5. Darüber hinaus lassen sich große Unterschiede in der Maimonides-Rezeption in den verschiedenen Abhandlungen des ,Opus tripartitum‘ ausmachen. In den Kommentaren zu Genesis und Exodus und im Prolog zum ,Liber parabolarum Genesis‘ wird der Name des Maimonides am häufigsten erwähnt. In der ,Expositio Libri Sapientiae‘ kommt er dagegen weniger häufig vor und im ,Liber parabolarum Genesis‘ selbst sowie im Johanneskommentar noch weniger. In den allgemeinen Prologen wird sein Name nicht erwähnt. So meine ich, dass die Abhandlungen, in denen der Einfluss der Schriften Maimonides’ auf die Lehre Eckharts dominant wird, der letzten Phase seines Werkes angehören. Demnach lag die intensive Auseinandersetzung mit der maimonidischen Gedankenwelt zeitlich hinter der Niederschrift der Handschrift E, die - anders als die später entstandenen Handschriften - noch eine frühe Fassung der Genesiskommentare und des Exoduskommentars überliefert 6. 3

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Cf. dazu Y. Schwartz, ,To Thee is Silence Praise‘: Meister Eckhart’s Reading in Maimonides’ Guide of the Perplexed, Tel Aviv 2002 (Hebräisch); G. K. Hasselhof, Dicit Rabbi Moyses: Studien zum Bild von Moses Maimonides im lateinischen Westen vom 13. bis zum 15. Jahrhundert, Würzburg 2004, 205-214. Cf. den Kommentar von N. Largier in: id. (ed.), Meister Eckhart: Werke II (Bibliothek des Mittelalters 21), Frankfurt a. M. 1993, 816: „Die lateinischen Werke Eckharts […] sind praktisch in ihrer Gesamtheit unter der Perspektive des Opus tripartitum zu sehen.“ Cf. Sturlese, Zur Stemmatik (nt. 1), 29 sqq., 40-41. Es könnte zwar sein, dass Eckhart die Ideen des Maimonides schon zuvor gekannt hat, doch blieb diese frühe Begegnung - ob durch eigene Lektüre im ,Führer der Unschlüssigen‘ oder aus zweiter Hand - im damals üblichen Rahmen, ging also nicht über seine scholastischen Vorgänger hinaus, wie die Untersuchung der Zitate aus dem ,Führer der Unschlüssigen‘ in Eckharts Johanneskommentar zeigt. Die fünf Stellen, an denen Maimonides erwähnt wird, nehmen Bezug auf die Abhandlung über die Keimparabel, die Gründe, weshalb man die Masse nicht über die metaphysischen Wahrheiten aufklären soll, sowie die Natur der Materie und schließen eine kurze Anmerkung über Maimonides’ Besprechung des Traums Jakobs von der Himmelsleiter ein. Das Konnotationsfeld ist hier noch deutlich begrenzt.

Zwischen Einheitsmetaphysik und Einheitshermeneutik

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Bei dieser späten Rezeption spielt Maimonides’ Auffassung von der Einheit Gottes eine wichtige Rolle. Sowohl in den Listen der Zensoren als auch im 23. Abschnitt der Bulle des Papstes Johannes XXII. 7 werden Maimonides’ Ausführungen im ,Führer der Unschlüssigen‘ I, 50-51, über die absolute Einheit Gottes, die jenseits jeglicher Teilung und Vielfalt steht 8, aus den Schriften Eckharts (Exoduskommentar) zitiert 9. Dieser Satz über die Einheit Gottes markiert einen Knotenpunkt, denn er stellt ein zentrales Thema im theologischen Streitgespräch zwischen den kirchlichen Autoritäten und Eckhart dar, wie es sich bei der Lektüre der verschiedenen Anklageschriften und der Verteidigungsschrift Eckharts nachvollziehen lässt, wobei beide Seiten den jüdischen Ursprung des Zitats nicht als Tatsache betrachten, die irgendeine Bedeutung für die sachliche Auseinandersetzung zwischen ihnen hat. Der Satz erscheint schon in der frühesten Liste, die dem Bischof von Köln im August 1325 und im September 1326 vorgelegt wurde. In dieser Liste wurden auch der Name des Maimonides und die genaue Stellenangabe explizit erwähnt. Jedoch haben die Zensoren offensichtlich den in diesen von ihnen zitierten - Zeilen ausgedrückten Gedanken nicht mit Maimonides, sondern mit Eckhart in Verbindung gebracht. Noch wichtiger ist, dass Eckhart selbst sich der ihm aufgezwungenen Auseinandersetzung nicht mit dem relativ einfachen Argument zu entziehen sucht, der zitierte Satz bringe nicht seine, sondern Maimonides’ Ansicht zum Ausdruck. Auch bemüht sich Eckhart nicht, das Argument zu ignorieren, sondern versucht die ihm zugesprochene These zu

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Die lateinischen Werke Eckharts wie auch die deutsche Übersetzung zitiere ich nach der Kohlhammer-Ausgabe: Die lateinischen Werke, voll. 1-5, eds. K. Weiß/K. Christ/E. Benz/J. Koch, Stuttgart 1936 sqq. Cf. Acta Echardiana, n. 46 (= Proc. Col. I, n. 46), in: LW V, 214, 13-17: „ ,Deus est unus, ,[…] extra intellectum‘, ut ait Rabbi Moyses l. I c. 50. Qui enim ,duo‘ […]‘ “; cf. auch LW V, 313, 16-24; Reffke, Studien (nt. 2), 85. Cf. Salomon Munk (ed.), Dala¯lat al-Ha¯’irı¯n, Jerusalem 1931, 74, 25-77, 15; Dux seu director dubitantium aut perplexorum, ed. Justiniani, Parisiis 1520, c. 49-50, fol. 18r-18v; Führer der Unschlüssigen I, 50, übersetzt von A. Weiß, Leipzig 1923, 153 (die Werke des Maimonides werden im Folgenden aus diesen drei Ausgaben zitiert): „Wenn […] du es als wahr erkennst, daß Gott Einer ist, nämlich die wahre Einheit, so daß du einsiehst, es gebe in ihm schlechterdings keine Zusammensetzung, und es sei auch bei ihm an keine Art von Teilbarkeit zu denken […]“; Führer der Unschlüssigen I, 51, 157-158: „Es gibt aber überhaupt keinen Glauben an die Einheit Gottes außer dem Glauben an ein einziges, einfaches Wesen, bei dem keine Zusammensetzung und keine Vielheit von Bestimmungen denkbar ist, sondern nur einen Begriff, welchen du, du magst ihn von welcher Seite immer betrachten oder von welchem Gesichtspunkte immer prüfen, nur als Einen befindest, der in keiner Weise und aus keinem Grunde in zwei Begriffe geteilt werden kann, und bei welchem es weder außerhalb noch innerhalb des Denkens eine Vielfalt geben kann […].“ Cf. H. S. Denifle, Acten zum Processe Meister Eckharts, in: Archiv für Litteratur- und Kirchengeschichte 2 (1886), 616-640, hier 638: „Vicesimustertius articulus. Deus est unus omnibus modis et secundum omnem rationem, ita ut in ipso non sit invenire aliquam multitudinem in intellectu vel extra intellectum; qui enim duo videt vel distinctionem videt, deum non videt, deus enim est extra numerum et supra numerum, nec ponit in unum cum aliquo.“

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verteidigen 10. All dies rechtfertigt eine detailliertere Untersuchung der kirchlichen Auseinandersetzung mit den Schriften Eckharts unter dem Aspekt des Einflusses Maimonides’ auf sein Denken. Zur Zeit der Veröffentlichung der Kohlhammer-Ausgabe hielt die Forschung die chronologische Reihenfolge der überlieferten Abhandlungen des ,Opus tripartitum‘ für richtig, die sich aus ihrer Anordnung in Handschrift CT ergibt. Die Annahme, die Prologe seien zu Beginn der Arbeit am ,Opus tripartitum‘ verfasst worden, wurde von Sturlese aufgrund des synoptischen Vergleichs der verschiedenen Handschriften erneut bestätigt 11. Der Johanneskommentar wird in der Regel für den zuletzt entstandenen Kommentar gehalten. Diese Annahme stützt sich vor allem auf eine Analyse des Stils und der Inhalte und wird durch die Auffassung bestätigt, Eckhart habe im Johanneskommentar hinsichtlich Systematik und Klarheit den Höhepunkt seines Werkes erreicht. Die Forschung ging aufgrund der Analyse von Inhalt und Begrifflichkeit davon aus, dass der Johanneskommentar parallel zum ,Liber parabolarum Genesis‘ geschrieben wurde 12. Letzterer wiederum wird als der spätere unter den beiden Kommentaren angesehen, die Eckhart zum Buch Genesis verfasst hat. In diesem ,zweiten‘ Kommentar zur Genesis wich Eckhart schon vom ursprünglichen Entwurf des Werkes ab und begann ein neues Werk, das er allerdings nicht weitergeführt hat. Dies sollte ein neues, parabolisches Kommentarwerk für das gesamte Alte sowie Neue Testament werden. Dieses relativ einfache Schema erhält jedoch andere Dimensionen und wird um einiges komplizierter, wenn man berücksichtigt, dass das ,Opus tripartitum‘ als Ganzes mehrere Entstehungs-, Schreib- und Redaktionsphasen durchlief, wie schon die Analyse der Entwicklungen, die sich zwischen E und CT abzeichnen, zeigt. Mit der Analyse von Handschrift L - in der sich eine weitere Fassung der Prologe und der beiden Genesiskommentare befindet - wurde dieses Entstehungsschema noch weitgehender modifiziert. Sie ermöglicht eine Revision der Reihenfolge der Werke im ,Opus tripartitum‘, so dass der Johanneskommentar und der ,Liber parabolarum Genesis‘ einer früheren Phase, die späten Fassungen des sog. Ersten Genesiskommentars und des Exoduskommentars dagegen der abschließenden Phase zuzuordnen sind. Tatsächlich kann Eckharts Lektüre von Maimonides Auskunft über die komplexe Entstehung des ,Opus tripartitum‘ bieten. Die erwähnten MaimonidesZitate aus dem Prozess Eckharts sind schon ein Beleg für eine spätere Beschäftigung Eckharts mit den Ideen des Maimonides. Datiert man den ,Liber parabolarum Genesis‘ auf eine späte Entstehungsphase des ,Opus tripartitum‘, so ist der Prolog, in dem Maimonides’ Hermeneutik verarbeitet wird, ein zweiter Beleg 10

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Cf. L. Sturlese (ed.), Mag. Echardi Responsio ad articulos sibi impositos de scriptis et dictis suis (LW V, 291, 10-12): „Ad decimum cum dicitur: ,Deus est unus omnibus modis et secundum omnem rationem‘ etc. Dico quod verum est sicut iacet et consonat scripturae canonis, sanctorum et doctorum.“ Cf. Sturlese, Zur Stemmatik (nt. 1), 27 sqq. Cf. K. Weiß, Zur Einführung, in: LW I, 10 sqq.

Zwischen Einheitsmetaphysik und Einheitshermeneutik

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für Eckharts späte Maimonides-Lektüre. Auch und gerade die Rezeption von Maimonides’ Einheitshermeneutik scheint mir wichtig, um die Entstehung des ,Opus tripartitum‘ zeitlich zu bestimmen 13. Mit Einheitshermeneutik meine ich die Einheit zwischen der intentio auctoris und der intentio lectoris als führendes interpretatorisches Prinzip. Diese Einheit wird im Inneren des Texts erreicht, wobei dessen äußerer literaler bzw. historischer Sinn keine Bedeutung mehr hat. Die wahre intentio textus besteht in einem mystischen hermeneutischen Ereignis, das philosophisch gedacht und in philosophischer Sprache formuliert wird. Die hermeneutische Dichotomie, die Maimonides beschreibt, liegt nämlich nicht in der Diskrepanz zwischen einem sensus historicus und einem sensus allegoricus, sondern zwischen Außen und Innen als zwei Ebenen der Schrift, wobei die äußere Schicht (sensus historicus, bzw. literalis) für wertlos und irreführend und die innere Schicht für wahr gehalten wird. So kann der Philosoph als Leser dem Philosophen als Schriftsteller ohne die Vermittlungsfunktion des Textes begegnen - der Text wird in diesem metasprachlichen intellektuellen Ereignis ausgelegt. Von Allegorie kann hier nur im Sinne einer paulinischen pneumatischen Deutung der Schrift die Rede sein. Diese Einheitshermeneutik bestimmt den ,Prologus in liber parabolarum Genesis‘, der seinerseits als Kommentar zu Maimonides’ Einleitung im ,Führer der Unschlüssigen‘ gelesen werden kann 14. In diesem Prolog unternimmt Eckhart eine systematische Darstellung seiner hermeneutischen Prinzipien, die seine Interpretationen leiten 15. Ist im ,Allgemeinen Prolog‘ eine Art exegetische Reduktion zu erkennen, die auf der Autonomie der verschiedenen Diskursebenen und 13

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Cf. Schwartz, ,To Thee is Silence Praise‘ (nt. 3), 108-128; id., Meister Eckharts Schriftauslegung als maimonidisches Projekt, in: G. K. Hasselhof/O. Fraisse (eds.), Moses Maimonides (11381204) - His Religious, Scientific, and Philosophical Wirkungsgeschichte in Different Cultural Contexts (Ex Oriente Lux 3), Würzburg 2004, 173-208. Cf. K. Flasch, Die Intention Meister Eckharts, in: Sprache und Begriff. FS für B. Liebrucks, Meisenheim am Glan 1974, 292-318, hier 307: „Für sein Programm einer philosophierenden Schriftauslegung ist Eckhart Moses Maimonides verpflichtet.“ Zu Eckharts hermeneutischer Methode im Allgemeinen cf. J. Koch, Sinn und Struktur der Schriftauslegungen Meister Eckharts, in: id., Kleine Schriften I (Storia e letteratura; Raccolta di studi e testi 127), Rom 1973, 399-428; E. Winkler, Exegetische Methoden bei Meister Eckhart (Beiträge zur Geschichte der biblischen Hermeneutik 6), Tübingen 1965; K. Weiß, Die Hermeneutik des Meister Eckhart, in: Studia Theologica 21 (1967), 1-12; D. F. Duclow, Hermeneutics and Meister Eckhart, in: Philosophy Today 28 (1984), 36-43; id., Meister Eckhart on the Book of Wisdom: Commentary and Sermons, in: Traditio 43 (1987), 215-235; W. Goris, Prout iudicaverit expedire: Zur Interpretation des zweiten Prologs zum Opus expositionum Meister Eckharts, in: Medioevo 20 (1994), 233-278; id., Einheit als Prinzip und Ziel. Versuch über die Einheitsmetaphysik des Opus tripartitum Meister Eckharts (Studien und Texte zur Geistesgeschichte des Mittelalters 59), Leiden-New York-Köln 1997, 9-51; R. Imbach, La filosofia nel prologo di S. Giovanni secondo S. Agostino, S. Tommaso e Meister Eckhart, in: D. Lorenz/S. Serafini (eds.), Studi 1995, Roma 1995, 161-182. Die umfassendste Forschungsarbeit über Eckharts Hermeneutik und deren Quellen hat Winkler unternommen. Er untersucht die Interpretationsmethode Eckharts und versucht ihn in die scholastische Tradition der Auslegung zu stellen, wobei er den Einfluss Maimonides’ nur in geringem Maße berücksichtigt.

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gleichzeitig auf wechselseitigen Beziehungen zwischen ihnen beruht 16, so rückt im vorliegenden Prolog die Schriftauslegung in den Vordergrund. Weder metaphysische Thesen (,Opus propositionum‘) noch scholastische Diskussionen (,Opus quaestionum‘) werden hier erörtert, und aus dem Kontext wird deutlich, dass an den autonomen Diskursebenen kein Bedarf mehr besteht, weil sie unmittelbar aus den Bibelversen herauszulesen sind, die diese Ebenen implizieren. Tatsächlich kommen in den überlieferten Schriftauslegungen Sätze vor, die man bei Redaktionsarbeiten einem unabhängigen Werk von Propositionen hätte beifügen können. Sie enthalten auch Textpassagen, die als Fragmente eines unvollständigen Quästionenwerks interpretiert werden können. All das scheint die These zu bestätigen, dass die aufgezeigte Diskrepanz zwischen Entwurf und Endfassung nicht vom Material, das entweder gar nicht geschrieben wurde oder aber geschrieben wurde und anschließend verloren ging, determiniert war, sondern auf eine grundsätzliche Absichtsänderung des Verfassers in Bezug auf den Charakter seines Werkes zurückzuführen ist. Das hermeneutische Programm des ,Opus tripartitum‘, wie es im ,Allgemeinen Prolog‘ erscheint, und die Struktur des ,Opus‘, wie es überliefert wurde, zeugen von zwei unterschiedlichen Entwürfen, wobei jeder von ihnen eine andere Hermeneutik impliziert. Anders dagegen verhält es sich mit der überlieferten Fassung des ,Opus tripartitum‘ und dem hermeneutischen Programm des ,Prologus in liber parabolarum Genesis‘, die miteinander übereinstimmen. So ist, meine ich, der ,Prologus in liber parabolarum Genesis‘ ein alternativer Entwurf für das ,Opus tripartitum‘ selbst und nicht der Entwurf für ein neues Werk, das an die Stelle des alten treten sollte, oder anders gesagt: Wenn es um ein alternatives Werk Eckharts geht, so ist das ,Opus tripartitum‘ in seiner überlieferten Fassung schon dieser neue Entwurf. Im Gegensatz zu den allgemeinen Prologen, die geschrieben wurden, noch bevor Eckhart die Arbeit am Werk selber aufnahm, scheint der Prolog zum ,Liber parabolarum Genesis‘ entstanden zu sein, als der Kommentar, dem er vorangeht, schon abgeschlossen war. Chronologisch ist er deshalb parallel zur späten Erweiterung der Kommentare zu Genesis und Exodus anzusetzen, die unter dem Einfluss des maimonidischen Denkens steht 17. Das bedeutet, dass das ,Opus tripartitum‘ weder als ,frühes‘ Werk anzusehen ist, das abgebrochen wurde, wie Sturlese und Ruh behaupten, noch als ,spätes‘ Werk, das der Magister mit über 50 Jahren zu schreiben begann, wie zuvor angenommen wurde. Es handelt sich vielmehr um ein regelrechtes Lebenswerk 16

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Prol. gen. in op. trip., n. 11 (LW I, 156, 4-7): „Tertio et ultimo est praenotandum quod opus secundum, similiter et tertium sic dependent a primo opere, scilicet propositionum, quod sine ipso sunt parvae utilitatis, eo quod quaestionum declarationes et auctoritatum expositiones plerumque fundantur supra aliquam propositionum.“ In den Arbeiten von Reffke und Liebeschütz lassen sich intuitiv bestätigende Formulierungen finden, wenn sie in der Hermeneutik das zentrale Feld der Auseinandersetzung Eckharts mit der Lehre Maimonides’ sehen. Cf. Reffke, Studien (nt. 2), 90 sqq.; H. Liebeschütz, Meister Eckhart und Moses Maimonides, in: Archiv für Kulturgeschichte 54 (1972), 64-96, hier: 70 sqq.

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(eine Art ,work-in-progress‘), an dem Eckhart über eine lange Zeitspanne hinweg, welche die Hälfte seiner akademischen Tätigkeit umfasst, gearbeitet hat. So erklärt sich, weshalb es verschiedene Fassungen gibt, in denen sich dieser anhaltende schriftstellerische Prozess widerspiegelt. Der entscheidende Zeitpunkt ist wahrscheinlich sein zweites Pariser Magisterium, als Eckhart seine Kenntnis von Maimonides vertiefte. Dass das Manuskript E noch früher, in seiner Erfurter Zeit, entstanden sein soll, entspricht dieser Chronologie. Denn dann ist die Begegnung mit Maimonides das wichtigste Ereignis im Übergang von E zu CT. Der ,Prologus generalis‘ wurde in Erfurt verfasst. Der ,Prologus in liber parabolarum Genesis‘ entstand dagegen in Straßburg. Um diese allgemeine Aussage zu präzisieren, möchte ich nun die Passagen im ,Opus tripartitum‘, in denen Maimonides expressis verbis genannt wird oder eine Stellenangabe aus dem ,Führer der Unschlüssigen‘ verzeichnet ist, auflisten. In der im Anhang I stehenden Tabelle sind einige Schriften aus dem ,Opus tripartitum‘ (die verschiedenen Prologe, Erster Genesiskommentar, ,Liber parabolarum Genesis‘, Exoduskommentar, Johanneskommentar, Auslegung des Buchs der Weisheit und zu Ecclesiasticus) aufgeführt sowie eine Reihe heidnischer (Aristoteles, Proklos), christlicher (Augustinus, Dionysius, Boethius, Thomas), muslimischer (Ibn Sina, Ibn Rushd) und jüdischer (Ibn Gabirol, Maimonides) Autoren und die Anzahl der Bezugnahmen auf dieselben in den jeweiligen Schriften 18. Meine Untersuchung hat gezeigt, dass sich Eckhart am häufigsten auf Augustinus, Aristoteles und Maimonides bezieht, dann auf Avicenna, Thomas und Boethius. Wenn man das unterschiedliche Verhältnis der Quellen in der Annahme der Chronologie Johanneskommentar - ,Liber parabolarum Genesis‘ Genesiskommentar - Exoduskommentar betrachtet, kommt man zu folgenden Ergebnissen: Im Johanneskommentar sowie im Zweiten Genesiskommentar wird Maimonides jeweils nur fünf Mal erwähnt, dagegen wird er im Prolog zum Zweiten Genesiskommentar, der unter dem Einfluss der hermeneutischen Grundsätze des ,Führer(s) der Unschlüssigen‘ steht, beinahe so oft erwähnt wie Augustinus (drei zu vier Mal). Im Genesiskommentar gibt es 39 Bezugnahmen 18

Eckhart bezieht sich auf zahlreiche weitere Autoren, jedoch sehr viel seltener als auf die, die in meiner Tabelle (siehe Anhang) aufgelistet sind. Zwar ergibt sich aus den aufgeführten Zahlen kein vollständiges Zitaten-Bild, doch wird damit der Hauptanteil der Zitate erfasst. Das Verhältnis zwischen den Bezugnahmen auf die von mir untersuchten Autoren und anderen Quellen Eckharts in den jeweiligen Schriften wird besonders klar, wenn man in der erwähnten Tabelle die Spalte der ,Expositio Libri Sapientiae‘ betrachtet, die eine Übergangsphase zwischen Zweitem Genesis- und Johanneskommentar einerseits und Erstem Genesis- und Exoduskommentar andererseits darstellt. In diesem Kommentar werden von Eckhart 34 (!) Autoren namentlich erwähnt, darunter werden 22 weniger als fünf Mal genannt. Die Namen der zehn hier untersuchten Autoren erscheinen 169 Mal, während die Namen der übrigen 24 nur siebzig Mal auftauchen. Über die verschiedenen Quellen Eckharts in seinen philosophischen und hermeneutischen Schriften cf. K. Weiß, Meister Eckharts philosophische und theologische Autoritäten, in: Studia Theologica 21 (1967), 1-12.

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auf Maimonides, was einem Fünftel aller überprüften Zitate entspricht, im Exoduskommentar sogar 55, womit ein Drittel aller Zitate in diesem Kommentar aus Maimonides’ Schriften stammt. Das zeigt eine Wende im Denken Eckharts, die im Prolog zum Zweiten Genesiskommentar deutlich wird 19. Zwar zitiert Eckhart in allen Abhandlungen, die das ,Opus tripartitum‘ ausmachen, aus allen Teilen des ,Führer(s) der Unschlüssigen‘ 20, doch handelt es sich bei den wenigen Zitaten im Johanneskommentar und im Zweiten Genesiskommentar um Formulierungen von Gedanken, auf die sich schon lateinische Verfasser vor Eckhart bezogen haben 21. Eckhart zitiert Maimonides weit öfter 19

20

21

Reffke, Studien (nt. 2), war der Meinung, diese Wende, die mit der Auseinandersetzung Eckharts mit dem ,Führer der Unschlüssigen‘ einhergeht, sei im Verlauf der Arbeit am Ersten Genesiskommentar eingetreten, doch kann er aufgrund dieser zeitlichen Festlegung nicht erklären, warum der tief gehende Einfluss Maimonides’ sich in diesem Teilwerk niederschlägt, dann aber sofort wieder verschwindet. Die Liste der Kapitel, die Eckhart in den verschiedenen Teilen des ,Opus‘ als Quellen angibt und die ich im Folgenden anführe, unterscheidet sich von derjenigen, die Josef Koch erstellt hat, denn sie enthält einige weitere Kapitel. Da Koch die Stellen, auf die er sich in den Schriften Eckharts bezog, nicht angegeben hat, ist es mir nicht möglich zu überprüfen, woher diese Unterschiede stammen. Cf. J. Koch, Meister Eckhart und die jüdische Religionsphilosophie des Mittelalters, in: id., Kleine Schriften I (nt. 15), 349-365, hier: 354. In Kochs Liste werden (gemäß der lateinischen Kapiteleinteilung) folgende Kapitel aufgeführt: Führer der Unschlüssigen I: Einleitung, 2, 5, 31, 32, 50-55, 57-65; Führer der Unschlüssigen II: 6, 7, 10, 11, 23, 29, 31, 34; Führer der Unschlüssigen III: 9, 10, 12, 13, 14, 23, 25, 27, 34, 36, 53; in unserer Liste sind dagegen folgende Kapitel angegeben: Führer der Unschlüssigen I: Einleitung, 2, 5, 31-33, 50-55, 57-66; Führer der Unschlüssigen II: 6, 7, 10, 11, 18, 23, 29, 31, 34; Führer der Unschlüssigen III: 7, 9, 14, 18, 20, 23, 25, 27, 34, 36, 50, 52, 53; die bei Koch fehlenden Kapitel sind Führer der Unschlüssigen I, 33, 66; II, 18; III, 7, 11, 18, 20, 50, 52. Cf. H. Liebeschütz, Meister Eckhart (nt. 17), 69 sqq. Die revolutionären Gedanken, die Eckhart in verschiedenen zentralen Themenbereichen aufgreift, finden sich beinahe alle in den Kommentaren zu Genesis und Exodus. Die folgende Liste der Kapitel aus dem ,Führer der Unschlüssigen‘, auf die sich Eckhart in den verschiedenen Abhandlungen des ,Opus tripartitum‘ bezieht, soll diesen Sachverhalt verdeutlichen. Die Kapitel sind entsprechend der im Original und der hebräischen Übersetzung Ibn Tibbons gegebenen Einteilung aufgeführt, während die Kapitel in der lateinischen Übersetzung in Klammern gesetzt sind: Johanneskommentar: I, 34 (33); II, 17 (18); III, 6 (7), 8 (9); Ecclesiasticuskommentar: III, 8 (9); Liber parabolarum Genesis: II, 9 (10), 10 (11); III, 52 (53); Prolog zum Liber parabolarum Genesis: I, Einleitung; Expositio Libri Sapientiae: I, 59 (58); II, 5 (6), 22 (23), 30 (31); III, 10 (11), 13 (14), 17 (18), 19 (20), 22 (23), 24 (25); Genesiskommentar: I, Einleitung, 2, 65 (64), 67 (66); II, 5 (6), 6 (7), 10 (11), 22 (23), 30 (31); III, 8 (9), 12 (13), 13 (14), 24 (25), 49 (50), 52 (53); Exoduskommentar: I, 5, 51 (50), 52 (51), 54 (53), 55 (54), 58-64 (57-63), 66 (65); II, 30 (29), 35 (34); III, 8 (9), 9 (10), 12 (13), 22 (23), 26 (27), 33 (34), 35 (36), 51 (52), 52 (53). In den drei in meiner Liste an erster Stelle aufgeführten Abhandlungen wird Maimonides elf Mal erwähnt, wobei auf sieben Stellen aus dem ,Führer der Unschlüssigen‘ Bezug genommen wird. Nur drei dieser Kapitel finden auch in allen späteren Abhandlungen Erwähnung (II, 10; III, 8; III, 52). In der ,Expositio Libri Sapientiae‘ dagegen sind elf verschiedene Stellen angegeben, worunter keine Einzige ist, die schon in einem der früheren Kommentare erwähnt wurde. Dagegen tauchen acht davon auch in späteren Kommentaren auf. Im Prolog zum ,Liber parabolarum Genesis‘ wird die Einleitung des ,Führer(s) der Unschlüssigen‘ ausführlich zitiert. In früheren Abhandlungen wird in keiner Weise auf sie Bezug genommen, wogegen sie im Genesiskommentar sehr wohl Erwähnung findet.

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und ausgiebiger, als aus anderen Zusammenhängen geläufig ist. Allein in den beiden späten Kommentaren Eckharts zu Genesis und Exodus wird Maimonides häufiger namentlich erwähnt als in Thomas’ Gesamtwerk 22 ! Das ist umso bemerkenswerter, als in der philosophischen Denktradition, der Eckhart am ehesten zuzuordnen ist, i. e. der Tradition der deutschen Dominikaner, die Auseinandersetzung mit den Schriften des Maimonides verhältnismäßig gering ist. Zwar hatte Albertus Magnus den Grundstein für die Maimonides-Rezeption gelegt 23, aber nach ihm nimmt der Rückgriff auf Maimonides stark ab. Insofern bleibt Eckharts Maimonides-Lektüre innerhalb der deutschen Philosophie einzigartig. Allem Anschein nach kann man nicht davon ausgehen, dass die Auseinandersetzung mit den Schriften des Maimonides zur Formulierung jener Gedanken geführt hat, die die Kirche gegen Eckhart aufbrachte, sondern es muss vielmehr umgekehrt gewesen sein, dass Eckhart in den Schriften seines jüdischen Vorgängers eine Bestätigung für eigene Gedanken gefunden hat. Denn die radikalsten Aussagen in seinen Schriften und Predigten hat Eckhart schon viele Jahre vor seiner intensiven Auseinandersetzung mit Maimonides formuliert. Aber eine minutiöse Untersuchung des Verhältnisses Eckharts zu Maimonides zeigt, dass Eckhart jene Gedanken, die kirchlicherseits auf Ablehnung stoßen sollten, mit Hilfe des ,Führers der Unschlüssigen‘ theologisch begründet. Seine originelle Lesart des ,Führers der Unschlüssigen‘ und die religiöse und philosophische Verwandtschaft, die er darin zu Maimonides empfand, ließen Eckhart in diesem Werk Bestätigung für seine eigenen radikalen Positionen finden, deren schriftliche Verbreitung und mündliche Verkündung in den Kölner Kirchen zu der Kontroverse mit der Kirche und ihren dogmatischen Vertretern führten. Welche Bedeutung tatsächlich die Maimonides-Lektüre im Denken Eckharts während seiner letzten Lebensjahre hat, und vor allem, inwiefern sie mit dem Häresieverdacht und der darauffolgenden Verurteilung durch den Papst zusammenhängt, bleibt unklar. Neben dem Synchronismus, der mit der Datierung der Genesis- und Exoduskommentare in die späte Phase der Arbeit am ,Opus tripartitum‘ hergestellt wird, bietet sich nur jener Satz aus dem ,Führer der Unschlüssigen‘ für eine solche Annahme an, der in den Prozessdokumenten und in der päpstlichen Bulle zitiert wird. Er scheint eine weitere Diskussion über die in der päpstlichen Bulle formulierte Thematik der absoluten Einheit Gottes, wie sie von Maimonides und Eckhart verstanden wurde, zu rechtfertigen.

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23

Zu den Maimonides-Zitaten bei Thomas cf. R. Imbach, Alcune precisazioni sulla presenza di Maimonide in Tommaso d’Aquino, in: D. Lorenz OP/S. Serafini (eds.), Studi 1995, Istituto san Tommaso, Roma 1995, 48-64, hier: 50. Cf. C. Rigo, Zur Rezeption des Moses Maimonides im Werk des Albertus Magnus, in: W. Senner (ed.), Albertus Magnus: Zum Gedenken nach 800 Jahren. Neue Zugänge, Aspekte und Perspektiven (Quellen und Forschungen zur Geschichte des Dominikanerordens, N. F. 10), Berlin 2001, 29-66; Hasselhof, Dicit Rabbi Moyses (nt. 3), 93-108, 129-136.

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II. Die Reze ption von Maimonides’ neg ativer T heologie bei Eckhar t In mehreren Studien zu Eckharts Philosophie - insbesondere von Josef Koch und Burkhard Mojsisch 24 - wurde seine Einheitsmetaphysik vor allem durch seine Analogielehre dargestellt, die von der thomasischen analogia proportionalis abweicht und die zur Univozität führt. Dagegen möchte ich zeigen, dass Eckhart nicht nur zwischen Analogie und Einheit - in Anlehnung an Maimonides - pendelt, sondern vielmehr zwischen radikaler Äquivokation und radikaler Univozität, bzw. zwischen Immanenz und Transzendenz. Ein solcher Übergang von der aequivocatio zur univocatio wird sowohl in seiner Maimonides-Lektüre wie in seiner Einheitsmetaphysik erkennbar. Dabei stehen beide, Maimonides im arabischen Raum und Eckhart im lateinischen, für die komplexe Rezeptionsgeschichte neoplatonischer Theologumena im Mittelalter 25. Maimonides hat einen gewissen wissenschaftlichen Optimismus bezüglich menschlicher Erkenntnismöglichkeiten in der sublunaren Welt der Elemente, der zwangsläufig ansatzweise positive Aussagen über Gott nach sich zieht. Hierin bleibt Maimonides den Prinzipien der aristotelischen Welterforschung treu 26. Doch deutet sich im ersten Teil vom ,Führer der Unschlüssigen‘ eine Spannung zwischen diesem positivistischen Aristotelismus und seiner ansonsten radikalen negativen Theologie an. Gerade diese Spannung führt Eckhart in seiner Rezeption des Maimonides weiter. Am ausführlichsten bespricht Eckhart die Problematik der negativen Gottesattribute im Exoduskommentar, und zwar im Anschluss an seine Auslegung von Ex. 3, 14 27. Diesen Traktat eröffnet Eckhart mit Zitaten aus Thomas, aus dem ,Liber de causis‘, aus Augustinus und aus Avicenna. Von Thomas übernimmt er die Frage, inwieweit Gott benennbar (nominabilis) ist 28; aus dem ,Liber de causis‘ zitiert er den Satz, der besagt, die primäre Ursache liege jenseits jeglicher Be24

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28

Cf. J. Koch, Zur Analogielehre Meister Eckharts, in: id., Kleine Schriften I (nt. 15), 367-397; B. Mojsisch, Meister Eckhart. Analogie, Univozität und Einheit, Hamburg 1983. Cf. A. H. Armstrong, The Escape of the One, in: Studia Patristica 13 (1975), 77-89. Cf. E. Schweid, The Religious Philosophy of Hasdai Crescas, Jerusalem 1971 (Hebräisch), 22: „Der maimonidischen philosophischen Konzeption zufolge besteht eine absolute Identität zwischen dem, was wir wissen, und dem, wie wir wissen […]. Überträgt man diese Feststellung auf das Gebiet des Glaubens an Gott, so bedeutet sie, daß unser Glaube identisch ist mit dem, was wir von Gott wissen, und dies Wissen von Gott wiederum mit den Beweisen für seine Existenz gleichzusetzen ist. Da die Beweise für die Existenz Gottes in der Natur der Welt und ihren Gesetzen gründen, die in der Maimonides für wahr geltenden Physik Aristoteles’ formuliert sind, heißt dies, daß Erkenntnis Gottes nach Maimonides einer gewissen Art der Betrachtung der Physik gleichkommt.“ Wie Bernard McGinn in der Nachfolge Reffkes bemerkt, beginnt mit diesem Abschnitt des Exoduskommentars ein unabhängiger, von den Gottesnamen handelnder Traktat, der von Eckhart an anderen Stellen mit dem Titel ,De nominibus Dei‘ bezeichnet wird. Cf. Reffke, Studien (nt. 2), 55, 59; B. McGinn, Introduction, in: B. McGinn (ed.), Meister Eckhart. Teacher and Preacher, New York 1986, 16 sqq. Cf. In Ex., n. 34 (LW II, 40, 6-8).

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nennbarkeit, sei aber zugleich mit allen Bezeichnungen richtig benannt 29; aus Augustinus übernimmt er die Aussage, über Gott könne alles gesagt werden, doch nichts werde über ihn richtig gesagt 30; schließlich zitiert er aus dem Kommentar Avicennas zur ,Metaphysik‘ die Aussage, das Sein stelle die erhabenste aller Gottesbezeichnungen dar, und alle anderen Bezeichnungen bezögen sich nur als Negation oder Relation auf Gott. Dann spricht Eckhart über Maimonides’ Lehre von den Gottesattributen. Zunächst referiert er dessen Unterteilung der Gottesattribute in fünf Kategorien: Definition, Teil einer Definition, Akzidenz, Relation und Tätigkeit. Danach erklärt er, dass die unter die ersten drei Kategorien fallenden Gottesattribute nicht gebilligt werden können, weil es sich um affirmative Attribute handele. Auch die vierte Kategorie, die der Relation, könne nicht akzeptiert werden. Da diese Verneinung der Kategorie der Relation in der menschlichen Gott-Sprache innerhalb einer christlichen Theologie nicht unproblematisch ist, widmet ihr Eckhart eine ausführliche Diskussion. Maimonides sprach sich gegen die Annahme aus, es bestehe irgendeine Art von Relation zwischen Schöpfer und Geschöpf, und verwarf folglich auch die Annahme, es bestehe irgendein Ähnlichkeitsverhältnis zwischen ihnen 31. Eckhart stimmt dem zu und fügt den drei von Maimonides vorgebrachten Argumenten für diese Negierung ein weiteres Argument, eine ,tiefere‘ Begründung, hinzu („posset tamen fortassis subtilior ratio assignari“). Doch kehrt Eckharts eigene Begründung das zuvor Gesagte um, indem sie eine der Intention des Maimonides entgegengesetzte Tendenz begünstigt: dass nämlich ein Vergleich zwischen Gott und Welt deshalb unmöglich sei, weil eine Relation zwischen zwei verschiedenen Sachen immer schon voraussetzt, dass diese sich voneinander unterscheiden, das Geschöpf als Seiendes (ens) aber sich nicht wesentlich vom Sein (esse) selbst unterscheiden könne 32. 29 30 31

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Cf. ibid., n. 35 (LW II, 41, 6-42, 1). Cf. ibid. (LW II, 42, 1-5). Führer der Unschlüssigen I, 56; Weiß, 187 sq.: „Die Ähnlichkeit ist eine gewisse Beziehung zwischen zwei Dingen, und wenn zwischen zwei Dingen keine Beziehung gedacht werden kann, so ist auch deren Vergleichbarkeit undenkbar. Ebenso aber besteht zwischen Dingen, die nicht vergleichbar sind, auch keine Beziehung […]. Da also die Beziehung zwischen uns und Gott oder streng genommen zwischen Gott und einem Wesen außer ihm als undenkbar bewiesen ist, so ist folgerichtig auch die Ähnlichkeit mit ihm undenkbar.“ In Ex., n. 40 (LW II, 45, 7-14): „Posset tamen fortassis subtilior ratio assignari, quare nulla comparatio cadit inter deum et creaturam, quae talis est: omnis comparans aliqua accipit illa ad minus ut duo et ut distincta. Nihil enim sibimet comparatur nec est sibimet simile. Omne autem ens creatum acceptum vel conceptum seorsum per se distinctum a deo non est ens, sed est nihil. Separatum enim et distinctum a deo separatum est et distinctum ab esse, quia ab ipso deo, per ipsum et in ipso sunt quaecumque sunt et ,sine ipso factum est nihil‘, Ioh. 1, et Act. 17: ,in ipso vivimus, movemur et sumus‘.“ Dieser direkte Übergang von einer extremen Position (Äquivokation) zu einer anderen (Univokation) erinnert an die Warnung von Albertus Magnus, der in seinem Kommentar zu (Pseudo-) Dionysius’ ,De divinis nominibus‘ lehrt, dass alle drei theologischen Redeweisen von Gott: univocatio, aequivocatio, analogia, gleichermaßen problematisch sind. Albert verwirft die auf dem Hintergrund der Äquivokation formulierte Aussage und auch die auf absoluter Einheit (univocatio) fundierte Aussage. Auch vermittels der Analogie ist es seiner Ansicht nach nicht möglich, ein adäquates Modell zu erstellen. Besonders wichtig im hiesigen

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Nun wendet sich Eckhart der fünften Kategorie der Tätigkeitsattribute zu. Diese bezeichnen weder Vielfalt noch Veränderung Gottes und beinhalten auch keine Aussagen in Hinsicht auf seine Substanz. Beispiele für die Bezeichnung einer indirekten Tätigkeit, die keinerlei Einzelheiten über die Natur dessen preisgibt, der die Tätigkeit ausführt, sind zum einen das Feuer, dessen Auswirkungen nicht auf sein Wesen schließen lassen und das sowohl in der Eckhart’schen als auch in der maimonidischen Lichtsymbolik 33 zentral ist, und zum anderen der menschliche Intellekt, über dessen Wesen aufgrund der Vielfalt seiner Tätigkeiten in der Welt nichts erfahrbar ist 34. Dabei werden hier menschlicher und göttlicher Intellekt erneut analog gesetzt. Beide repräsentieren die Art, in der auch Einheit als physikalische und epistemologische Pluralität gedacht werden kann. Weiter in seinem Kommentar denkt Eckhart darüber nach, auf welchem Weg die „arabischen und griechischen Philosophen wie auch die jüdischen Gelehrten“ zur absoluten Negation aller affirmativen Attribute gekommen sind 35, wobei es ihm eigentlich nur um die Lehre Maimonides’ geht und er „verschiedene hebräische, arabische und griechische Weise“ nicht berücksichtigt. Dies führt ihn zur Darlegung der beiden Grundannahmen, aus denen sich die extreme Negation herleitet, zu deren Begründung er dann sieben Beweise anführt. In meinem jetzigen Kontext sind der vierte und fünfte Beweis besonders interessant. Der vierte Beweis besagt, die Annahme einer von diesem selbst getrennten Eigenschaft Gottes führe zwingend zur Annahme der Pluralität ewiger Wesenheiten und sei damit der Unendlichkeit Gottes entgegengesetzt. Das Ewige ist beständiges und unteilbares Moment, das sich jenseits aller Grenzen und Beschränkungen befindet und als solches unendlich ist. Zudem definiert sich das Unendliche auch dadurch, dass außerhalb davon nichts existiert 36. Der fünfte Beweis besagt, dass, wenn man Gott ein Attribut beilege, man damit die vollkommene und damit jenseits jeglicher Zahl stehende Einheit der göttlichen Na-

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Kontext ist Alberts Feststellung, jede auf Äquivokation gegründete Ansicht führe letztendlich zu irgendeiner Art von Einheit. Cf. Albertus Magnus, Super Dionysium De divinis nominibus I, ed. P. Simon (Alberti Magni Opera omnia 37/1), Münster 1972, 35, 24-35: „Omnis convenientia aut est secundum aequivocationem aut secundum univocationem aut secundum analogiam. Non potest autem esse convenientia secundum univocationem, quia nihil est univocum deo et creaturae; nec iterum secundum aequivocationem, quia omne aequivocum reducitur ad aliquod univocum, et sic redit eadem ratio; nec iterum secundum analogiam, quia oporteret aliquid inesse pluribus secundum prius et posterius […] deo autem nihil est prius; ergo non potest esse aliqua convenientia ipsius ad creaturas.“ Cf. In Ex., n. 42 (LW II, 46, 10-47, 11). Über den Ort des Feuers in der Eckhart’schen Lichtsymbolik siehe J. Koch, Über die Lichtsymbolik im Bereich der Philosophie und der Mystik des Mittelalters, in: id., Kleine Schriften I (nt. 15), 27-67, hier: 62. Cf. In Ex., n. 43 (LW II, 47, 12-48, 6). Ibid., n. 45 (LW II, 50, 12-16): „Viso igitur quid Rabbi Moyses et sapientes Hebraeorum senserint de nominibus attributis deo positive, secundo notandum principaliter quae sit radix et ratio, per quam philosophi Graeci et Arabes et sapientes Hebraeorum nihil affirmative sive positive dixerint in deo esse aut de ipso praedicari congruenter.“ Cf. ibid., n. 49 (LW II, 52, 11-53, 2).

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tur verletze. An dieser wie auch an anderen Stellen bezieht sich Eckhart unmittelbar auf die oben erwähnten Zitate des Maimonides, der sich mit seiner Betonung der in seiner Existenz wie im Denken bestehenden inneren Einheit Gottes laut scholastischer Lehre gegen das Trinitätskonzept richtete 37. Demnach schließt sich Eckhart der Position des Maimonides an, derzufolge die Pluralität der Gottesattribute nicht allein im menschlichen Denken verankert ist. Es bestehe nämlich keinerlei Legitimation, Gott aufgrund der in der Welt herrschenden Pluralität eine Vielzahl von Attributen beizulegen, denn Pluralität an sich habe doch schließlich keinerlei ontologischen oder epistemologischen Stand 38. Damit stellt sich Eckhart erneut gegen Thomas, für den die Vielzahl vorhandener Gottesattribute in der menschlichen Sprache für die göttliche Unendlichkeit steht, womit die Adäquatheit der den Geschöpfen entstammenden Erkenntnis Gottes Bestätigung findet 39. Im letzten Teil seiner Abhandlung über die Gottesattribute 40 kommt Eckhart auf Fragen zurück, die er schon im ersten Teil behandelt hatte, und prüft sie unter Hervorhebung des normativen Aspekts, d. h. unter Hervorhebung des Gebots, demzufolge die Negation der Attribute als religiöse, an den Gläubigen gerichtete Forderung zu verstehen ist. Diese zusammenfassende Reflexion ist völlig vom maimonidischen Denken beeinflusst. Eckhart eröffnet diesen letzten Teil seiner Abhandlung mit der Feststellung, die Gottesattribute ließen sich in zwei Kategorien unterteilen: in affirmative und negative Attribute. Die affirmativen Attribute werden von Maimonides zurückgewiesen, da sie, wie Eckhart nun erklärend hinzufügt, die absolute Einfachheit und Einheit des Schöpfers verletzen 41. Sie beschränken und reduzieren das göttliche Wesen, implizieren notwendigerweise irgendeine Gemeinsamkeit zwischen Geschöpf und Schöpfer und verletzen somit die absolute Transzendenz Gottes. Deswegen sind sie falsch und unsinnig, basieren sie doch auf einem Begriff von Gott, der keinerlei Ähnlichkeit mit seinem wahren Wesen aufweist. Ein positives Gottesattribut formuliert sich auf dem Hintergrund der Vorstellung, es gebe wirklich einen realen Aspekt, durch den sich Gott definiere. Wer einer derartigen Vorstellung anhängt, verletzt auf schlimme Weise seine Religiosität. Aus diesem Grund, so Eckhart mit Worten aus dem ,Führer der Unschlüssigen‘ I, 59, widersetzen sich die Weisen dem Brauch, im Gebet Gott allzu häufig zu loben und 37

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Ibid., n. 50 (LW II, 53, 3-8): „Quinta sic formatur: id, in quo cadit dispositio, in ipso cadit aliqua multitudo. Sed hoc repugnat divinae naturae unitati. ,Hoc enim vere unum est, in quo nullus numerus est‘, ut ait Boethius. Et Rabbi Moyses dicit quod deus est unus ,omnibus modis et secundum omnem rationem‘, ita ut in ipso non sit invenire aliquam ,multitudinem in intellectu vel extra intellectum‘.“ Mehr noch: Diese der Materie entspringende Pluralität wirkt sich zugleich auf Ontologie und Ethik aus. Das, was seinen Ursprung im Einen hat und sich unter ihm befindet, geht notwendig über in den Bereich der Pluralität, der Zahl, der Getrenntheit, der Schuld und des Mangels. Cf. In Ex., n. 58 (LW II, 64, 3-5): „ubi necessario hoc ipso quod ab uno quidem, sed sub uno sunt, incidunt in numerum, multitudinem et distinctionem et reatum seu maculam.“ Cf. F. Tobin, Meister Eckhart. Thought and Language, Philadelphia 1986, 70 sqq. In Ex., nn. 171-184 (LW II, 148-158). Cf. ibid., n. 171 (LW II, 148, 8-15).

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zu preisen. Diesbezüglich zitiert Eckhart zwei Stellen aus dem Psalter, jedoch nicht nach der traditionellen Übersetzung der Vulgata, sondern nach der lateinischen Übersetzung von Maimonides: „dicite in cordibus vestris et in cubilibus vestris et tacete semper“ und: „tibi silentium laus“ 42. Demnach wird jede Affirmation über Gott, die sich als feststellende Anschauung gibt, ihn entfremden. Und so gerät auch in der Erkenntnis oder Preisung Gottes Weisheit zu Torheit. Auch für diese Aussage des Maimonides gibt Eckhart drei Gründe an: Alles in der Welt der Dinge ist in ihr formal. In Gott dagegen ist alles nicht als Ursache, sondern als schöpferische Kraft. Deshalb besteht keinerlei Wesensähnlichkeit zwischen Geschöpf und schöpferischer Ursache 43. Die Wahrheit ist in der Vernunft - nicht in den in der Welt befindlichen Dingen. Die den Dingen immanenten Vollkommenheiten enthalten demnach keinerlei Hinweis auf oder Zeichen von der höchsten und wahren Vollkommenheit. Von diesen Vollkommenheiten auf Gott zu schließen, heißt einerseits verleugnen, dass er reiner Intellekt ist, und andererseits annehmen, dass er an den Dingen teilhabe 44. Nach diesem Überblick über die positiven Attribute wendet sich Eckhart der Analyse der negativen Attribute zu. Das negative Attribut, so bemerkt Eckhart zunächst, impliziert keinerlei Gotteserkenntnis. Deshalb stellt sich die Frage, woher die Negationsattribute dann ihren Wahrheitsgehalt beziehen und worin sie sich voneinander unterscheiden, wenn sie keinen konkreten Inhalt haben 45. So ist auch zu klären, worin der Vorteil der Negationsattribute gegenüber den Affirmationsattributen liegt, implizieren doch diese wie jene keinerlei Erkenntnisgehalt 46. In seiner Antwort zitiert Eckhart aus Maimonides’ Abhandlung im ,Führer der Unschlüssigen‘ I, 59, wobei er zeigen will, wie die Negierungen den menschlichen Verstand von den irrigen Vergleichen bezüglich Gottes läutern und ihn dadurch der höchsten Erkenntnis Gottes näher bringen. Dies führt ihn zu Maimonides’ Schlussfolgerung, es existiere keine Wissenschaft, der es möglich sei, das Wesen Gottes zu erfassen. Um diese Feststellung zu bestätigen, zitiert Eckhart verschiedene Philosophen von Platon über Macrobius bis Sokrates, der im Wissen darum, dass er nichts weiß, die höchste dem Menschen erreichbare Erkenntnis sieht. Tatsächlich stellt sich Eckhart, wenn er vom normativen Aspekt der Negation schreibt, uneingeschränkt auf die Seite Maimonides’, indem er die Negation als dem Gläubigen aufgegebenes sokratisches Gebot versteht. Diese eher allgemeine Überlegung benutzt Eckhart in seinem Kommentar bei einer konkreten Problematik, nämlich bei der Interpretation des biblischen Namens Gottes. Der biblische Gott hat mehrere Attribute, die in Wörtern gefasst sind, die Eigenschaften bezeichnen. Um die Einheit Gottes zu bewahren, 42 43 44 45 46

Ibid., n. 174 (LW II, 150, 11-13). Cf. ibid., n. 175 (LW II, 151, 9-15). Cf. ibid., n. 176 (LW II, 152, 1-5). Cf. ibid., n. 178 (LW II, 153, 7-154, 2). Cf. ibid., n. 178 (LW II, 154, 3-5).

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273

darf Er keine zusätzlichen Eigenschaften bekommen und müssen alle Seine Namen verneint werden. In der Hebräischen Bibel steht aber auch ein besonderer Name für Gott, das Tetragramm, der Name aus vier Buchstaben, YHWH, dessen Besonderheit im Fehlen der Vokale liegt, so dass eigentlich niemand weiß, wie er ausgesprochen werden soll. Mehrere esoterische Traditionen sind mit diesem Namen verbunden, dem Maimonides die letzten Kapitel seiner Abhandlung über die Attribute Gottes widmet: „Alle Gottesnamen, die sich in den heiligen Schriften vorfinden, sind von Wirkungen hergeleitet, und dies ist etwas, worin kein Geheimnis liegt. Eine Ausnahme bildet nur der Name YHWH (Ihvh), welcher der Gott ausschließlich zukommende Name ist, und deshalb Schem hamm’phorasch genannt wird, und dies bedeutet, daß dieser Name das Wesen Gottes in einer klaren, jede Gemeinschaft mit irgendeinem anderen Wesen ausschließenden Weise bezeichnet.“ 47

Dieser private Name steht also in keiner Beziehung zu etwas anderem, weder in der Welt - er bezieht sich auf keine Wirkung - noch in der Sprache, da keine semantische Ableitung aus ihm möglich ist. Er enthält keine Information und vermittelt kein neues Wissen. Haben Namen eine intertextuelle Komponente, indem sie eine Vielfalt an Verweisen und Referenzen hervorrufen, so verweigert sich das Tetragramm jeder Deutung, steht für die Unübersetzbarkeit des privaten Namens und wird zum Archetyp einer semantischen Hermetik, einer vollkommenen Geschlossenheit. Dennoch hat dieser Name eine Rechtfertigung. Nach Maimonides ist das Tetragramm der heiligste religiöse Inhalt und steht für Erinnerung und Versprechen. Es drückt die Erinnerung an die ontologische Einsamkeit Gottes aus, bevor Er die Welt mittels der Sprache schuf. Gott nämlich existiert vor der Welt und vor der Sprache, in einem vollkommenen, stillen Schweigen. Wie der Philosoph bewegt sich Gott zwischen Schweigen und Sprache 48. Der Name steht aber nicht nur für Erinnerung, sondern auch für ein Versprechen: das Versprechen eines eschatologischen Moments der Einheit, in dem die menschliche Erkenntnis zurück in diese Einheit, hinter Welt und Sprache - auch innere Sprache -, gelangt 49. In diesem eschatologischen Schweigen enthält der Gedanke keinen Inhalt mehr 50. So begreift auch Eckhart das Tetragramm als ,Privatnamen‘ Gottes und identifiziert ihn mit dem Seinsattribut esse: 47 48

49

50

Führer der Unschlüssigen I, 61; Weiß, 221 sq. Ibid.; Weiß, 226: „In den Pirqe´ di [sic!] R. Eliezer findet sich der Ausspruch: ,Ehe die Welt erschaffen wurde, existierte nur Gott und sein Name‘. Achte nun darauf, wie dieser Ausgleich es offenbar macht, daß alle diese abgeleiteten Namen erst nach Entstehung der Welt aufgekommen sind.“ Ibid.; Weiß, 225: „[…] deshalb hat Gott verheißen, daß die Menschen eine Erkenntnis erlangen werden, die ihnen diesen Zweifel benehmen wird, und so sagt die H. Schrift: ,An diesem Tage wird der Herr einzig sein und sein Name einzig‘ (Sacharja 14, 9), nämlich so wie er selbst nur Einer ist, wird er auch nur mit Einem Namen bezeichnet werden, der nur das Wesen bezeichnet und nicht abgeleitet ist.“ Cf. Y. Schwartz, From Negation to Silence: Maimonides’ Reception in the Latin West (Hebräisch), in: Iyyun 45 (1996), 389-406; Hasselhof, Dicit Rabbi Moyses (nt. 3), 147 sqq.

274

Yossef Schwartz

„Et fortassis posset videri alicui quod esse esset ipsum nomen quattuor litterarum. Ad litteram enim li esse habet quattuor litteras, multas proprietates et perfectiones latentes. Ipsum etiam non videtur ,sumptum ab opere nec dictum a participatione‘. Sed haec hactenus.“ 51

Ein Aussagesatz, so Eckhart, gibt nicht die Sache wieder, von der er handelt, sondern die Meinung über sie. Das Wort entspricht nicht einem realen Seienden, sondern einem seelischen Ausdruck. Die in der Welt und durch die Welt in Gott erfahrene Vielfalt entspringt dem Intellekt, wobei dieser seine Gegenstände durch die Sinne von der Welt abstrahiert. Die vom Menschen den Dingen in der Welt zugewiesenen Namen ergeben sich demnach aus dem Wissen, zu dem er aufgrund seiner Sinneseindrücke gelangt 52. In ihrem göttlichen Ursprung sind alle Substanzen in unterschiedsloser Einheit verbunden, so sei Maimonides’ Rede von der göttlichen Einheit zu verstehen 53, erklärt Eckhart und zitiert den hier auf individueller und intellektueller Ebene geltenden eschatologischen Vers „Zu der Zeit wird der Herr der einzige sein und sein Name der einzige“ (Sacharja 14, 9), mit dem er schließlich eine unmittelbare, private Christologie formuliert. Um die inhärente individuelle und intellektuelle Bedeutung dieses Bibelverses zu verstehen, muss man Eckharts Gedankengang stufenweise nachvollziehen. In seiner Analyse der Schöpfung als entschiedener Ausdruck der Gott-WeltBeziehungen spricht Eckhart vom ,Anfang‘ als Prinzip (principium) und hebt somit den Diskurs von der zeitlichen Ebene, d. h. als Rede vom Zustand vor der Schöpfung der Welt und vom ersehnten Zustand am Jüngsten Tag, auf die ontologische Ebene, auf der die verschiedenen Schichten der Existenz und des Seins im Verhältnis Schöpfer - Geschöpf untersucht werden. Eckhart deutet den Satz „Zu der Zeit wird der Herr der einzige sein und sein Name der einzige“ so, als würde Gott zum „einfachen Nun der Ewigkeit“ („nunc simplex aeternitatis“) und damit überzeitlich und zeitlos. Die Erkenntnistätigkeit begrenzt und unterscheidet, doch lässt sich das Unendliche nicht begrenzen. Demnach bedeutet der Satz, dass es reale Jetzt-Momente gibt - entweder jenseits jeglichen Geschöpfs und jeglicher Zahl oder aber im Innersten der Geschöpfe. Die verschiedenen Namen, gleich ob sie sich auf die Schöpfung beziehen oder aber über die Schöpfung hinaus sich auf Gott richten, bezeichnen demnach allein unser Bewusstsein: „Adhuc autem quarto, distinctio omnis infinito repugnat. Deus autem infinitus est […]. Patet etiam quod huiusmodi nomina non sint synonyma, eo quod diversas rationes sive conceptiones intellectus nostri significant.“ 54 Gottes einziger Name war allein, bevor noch irgendein Geschöpf war, und wird am Ende des Erkenntnisprozesses alleinig sein. „Wenn der Mensch das 51 52 53

54

In Ex., n. 164 (LW II, 144, 9-12). Ibid., n. 167 (LW II, 146, 17): „nomen autem a notitia dictum est.“ Cf. ibid., nn. 58-61 (LW II, 65, 1-66, 13). In den ersten Zeilen dieses Zitats wiederholt Eckhart den Satz über die absolute Einheit Gottes in der Existenz wie im Denken, der schon oben zitiert wurde. Ibid., n. 61 (LW II, 66, 7-12).

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275

göttliche Wesen erkennt, so bleibt nichts als der Name des Seins.“ Die von Maimonides eher als Antithese zu den Erkenntnismöglichkeiten der Gegenwart gefasste universale, utopische Endzeit wird hier zum konkreten und persönlichen Ziel des Individuums erklärt, das durch intellektuelle Läuterung Erlösung sucht. Darüber hinaus deutet die Formulierung Eckharts auf die Unterscheidung zweier Momente in der Gottheit selbst hin. III. Von Neg ation zu Einheit Eckharts Denkschritte hin zur konsequenten Negation sind von einem affirmativen Denken begleitet, das sich zunächst in einer bekannten, relativ gemäßigten Kritik an der konsequenten Negation ausdrückt, die er aus Augustinus übernimmt: Bezeichnet man Gott als ,unbenennbar‘ (ineffabilis), so ist damit die Komplexität des Paradoxes nicht beschrieben, denn je mehr wir von dem sprechen, von dem nicht zu sprechen ist, desto weniger beziehen wir uns auf jenen unbenennbaren Aspekt in ihm 55. Deshalb gerät die Negation der Gesamtheit der erschaffenen Seienden zur höchsten aller Affirmationen, der Affirmation des absoluten Seins. Der Gesamtheit aller Sätze steht ein in seinem Wesen positiver und tautologischer Satz gegenüber, der besagt, das Seiende existiere, wie es denn auch in dem Bibelvers ,sum qui sum‘ ausgedrückt ist 56. Eckhart stimmt mit Maimonides darin überein, dass affirmative und zugleich Gott angemessene Sätze ihrem Wesen nach tautologisch sind. Bei Maimonides führt diese Feststellung zur Zurückweisung solcher Tautologien. Die hinter dieser Einschätzung stehende Überlegung ist in seiner Attributenlehre leicht nachzuvollziehen: Wird einer Verbindung zwischen Gott und Welt kein Raum gelassen, kann ein Identitätssatz über Gott keinerlei Legitimation beanspruchen. Handeln beide Teile solch eines Satzes von dem verborgenen, unbegreiflichen und sprachlich nicht fassbaren Gott, so erfüllt dieser Satz nicht die elementare Funktion eines (nach aristotelischen Kriterien definierten apodiktischen) Satzes, d. h. der Übermittlung einer neuen Information über die extra-mentale Welt. Umfasst ein Identitätssatz dagegen zugleich Gott und Welt, wie z. B. der von Hegel in seiner Einleitung zur Phänomenologie des Geistes 57 vorgestellte spekulative Satz „Gott ist das Sein“, ist er Ausdruck eines ontologischen Prinzips, das Maimonides unter keinen Umständen anzunehmen bereit 55

56

57

Ibid., n. 117 (LW II, 112, 12-14): „Sic enim quanto de ineffabili plus quis fatur, minus fatur de ineffabili in quantum ineffabile.“ Ibid., n. 74 (LW II, 77, 9-12): „Nulla ergo negatio, nihil negativum deo competit, nisi negatio negationis, quam significat unum negative dictum: ,deus unus est‘, Deut. 6; Gal. 3. Negatio vero negationis purissima et plenissima est affirmatio: ,ego sum qui sum.‘ “ G. W. F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, Hamburg 1952, 51. In diesem Punkt stützt sich Eckhart auf die Analogielehre, in der das Attribut des Seins allein Gott zugesprochen und die absolute Abhängigkeit aller Geschöpfe vom Schöpfer scharf herausgestellt wird. Siehe V. Lossky, The´ologie ne´gative et connaissance de Dieu chez Maıˆtre Eckhart, Paris 1960, 97-98.

276

Yossef Schwartz

gewesen wäre. Eckhart dagegen akzeptiert es in seiner ganzen Bedeutung „das Seiende ist“ gilt ihm als höchste aller möglichen Aussagen: „nulla propositio est verior illa in qua idem de se ipso praedicatur, puta quod homo est homo.“ 58 Anstelle dieser synthetisch-aristotelischen Auffassung setzt Eckhart nun die entsprechende analytisch-platonische Auffassung, so dass sich die Frage nach der Anpassung des Intellekts an die Sache als extra-mentalem Seienden nicht mehr stellt. Zum höchsten aller affirmativen Sätze, argumentiert Eckhart, gelangt der menschliche Intellekt auf dem Weg der Dialektik gerade durch die konsequenteste aller Negierungen, die in der Aussage „Gott ist Einer“ Ausdruck findet. Dies ist die Negierung aller Negierungen, die affirmativste aller Negierungen, negiert die Einheit Gottes doch, wie oben erklärt wurde, die Gesamtheit aller erschaffenen Seienden als Vielfalt der Namen, die das endliche menschliche Bewusstsein dem in der Welt sich äußernden Unendlichen gegeben hat. Demnach sind sich in dieser Aussage höchste Negierung und höchste Affirmation gleich. Versucht man Eckharts Haltung in dieser Frage zu klären, muss man seinen Begriff von Gott als von jedem einzelnen Geschöpf nicht-unterschiedene (indistinctum) Gegenwart eingehend prüfen, einen Begriff, dessen absolute Transzendenz den Bezug auf jedes einzelne Geschöpf von vornherein einschließt. Eckharts Kommentare zu den Bibelversen „Non habebis deos alienos“ (Ex. 20, 3) und „Neque omnem similitudinem, quae est in caelo desuper et quae in terra deorsum“ (Ex. 20, 4) sollen hierzu als Erklärungsvorlage dienen. Das von Eckhart zu Beginn seines Kommentars zu Exodus 20, 3 aufgestellte Prinzip besagt, dass Gott „quia si deus est, alienus non est, si alienus, deus non est “ 59. Diese Aussage begründet er zunächst unter Bezugnahme auf das Verhältnis zwischen Einem und Vielheit 60 und dann unter Bezugnahme auf die Natur Gottes als Seiendes und als absolute Existenz 61. Im Weiteren führt Eckhart sechs Gründe dafür an, warum Gott keinem bestehenden Ding fremd sein kann 62. Der dritte Grund ist hierbei besonders wichtig: Gott als Nicht-Unterschiedener (indistinctus) kann keinem Ding fremd sein 63. Dem Prinzip des Göttli58

59 60 61 62 63

Prol. gen. in op. trip., n. 13 (LW I, 158, 11-12). Zur Begründung dieser Auffassung zieht Eckhart Aristoteles heran. Demzufolge ergibt sich der Wahrheitsgehalt eines affirmativen Satzes aus der Entsprechung zwischen Subjekt und Prädikat und der Wahrheitsgehalt eines Satzes aufgrund der Existenz bzw. Nicht-Existenz der Sache, von der er handelt. Cf. In Ex., n. 73 (LW II, 75, 16-76, 2): „notandum quod veritas affirmativae propositionis universaliter consistit in identitate terminorum, negativae autem veritas consistit in alietate et distinctione terminorum. Unde philosophus in IV Metaphysicae ait quod ,verum est, cum dicitur esse quod est aut non esse quod non est ‘ “; In Ioh., n. 439 (LW III, 377, 4-6): „Eadem enim sunt principia essendi et cognoscendi, et sic res se habent in veritate sicut in entitate, sicut ait philosophus. ,Ab eo enim quod res est vel non est, oratio vera vel falsa dicitur‘.“ In Ex., n. 100 (LW II, 103, 5-6). Cf. ibid., n. 101 (LW II, 103, 7-17). Cf. ibid., n. 102 (LW II, 104, 1-11). Cf. ibid., nn. 104-105 (LW II, 105, 5-106, 13). Ibid., n. 105 (LW II, 106, 1-2): „Tertio sic: indistinctum proprie deo competit, distinctio vero creaturis, ut tactum est supra. Nihil autem indistinctum a re ipsi rei est alienum.“

Zwischen Einheitsmetaphysik und Einheitshermeneutik

277

chen als dem Nicht-Unterschiedenen entgegengesetzt, steht jedes Geschöpf in seiner konkreten Existenz und in der Natur seiner Erschaffenheit gemäß einem mit Wesen (essentia) ausgestatteten Seienden für die Andersartigkeit und Unterschiedenheit jedes anderen Geschöpfs. Nur das Sein (esse) bleibt von jeglicher Existenz und Substanz nicht-unterschieden 64. Da Sein das Letzte ist, empfängt es nichts, und da es Erstes ist, befindet es sich in keinem Ding. Als reines, zugleich erstes und letztes Sein empfängt Gott daher kein Ding und befindet sich auch in keinem 65. In seinem unmittelbar auf diese Ausführungen folgenden Kommentar zu Exodus 20, 4 stellt Eckhart das Spannungsverhältnis, auf dem sein Argument über die absolute, auf absoluter Nicht-Unterschiedenheit gründende Transzendenz aufbaut, noch deutlicher heraus. Der Schlüssel zum Verständnis dieser Ausführungen liegt in dem Satz: „Sciendum ergo quod nihil tam dissimile quam creator et quaelibet creatura. Rursus secundo nihil tam simile quam creator et creatura quaelibet.“ 66 Nichts unterscheidet sich mehr voneinander als das Unterschiedene vom NichtUnterschiedenen, und dennoch ist dem Geschöpf nichts mehr gleich als das, was sich mit ihm in seinem Inneren absolut und vollkommen in eins setzt. Nach diesem Paradox befindet sich der Mensch in einem Zustand, in dem er, je mehr er sich in seiner Vorstellung Gott annähert, sich zugleich von Gott entfernt, ist doch ein Ding, je mehr es Gott gleicht, von diesem in demselben Maße unterschieden 67. Im Weiteren erläutert Eckhart diesen Zusammenhang auf epistemologischer Ebene. Nichts ist einander so sehr ähnlich und zugleich so sehr voneinander unterschieden wie die dem Intellekt eingeprägte Idee oder Form eines Dings und das als konkretes Seiendes in der Welt bestehende Ding. Dies gilt sowohl in Bezug auf den göttlichen Logos, in welchem wie auch in dem durch ihn repräsentierten intelligiblen Raum die Welt in der Gottheit ruht, als auch in Bezug auf den menschlichen Intellekt, wobei sein Vermögen, das ihn umgebende Seiende uneingeschränkt zu begreifen und zu erkennen, des Menschen absolute Freiheit, d. h. auch sein absolutes Verschiedensein von jedem dieser Seienden, erfordert. Das Auge kann alle Farben wahrnehmen, weil es selbst jeglicher Farbe bar ist. Eine farbige Linse würde die ganze Welt unmittelbar in ihren Farben erscheinen lassen 68. Im Rahmen seiner eigenen Analogielehre denkt Eckhart die den Begriffen Äquivokation und Univokation impliziten Möglichkeiten gleichzeitig, d. h. in Form eines Paradoxes. Damit wählt er eine Position, die ihm erlaubt, sich zugleich auf beide Pole zu beziehen und diese Verbindung im Paradox des „totus 64

65 66 67 68

Ibid., n. 106 (LW II, 106, 14-107, 3): „E converso omne creatum, utpote distinctum et aliud ab esse, alienum est […]. Patet ergo quod omnis essentia omni essentiae aliena est sive alienum, utpote distinctum suo condistincto. Esse autem ab ente et ab essentia indistinctum est.“ Cf. ibid., n. 177 (LW II, 152, 6-153, 2). Ibid., n. 112 (LW II, 110, 3-4). Cf. ibid., n. 119 (LW II, 113, 3-6). Cf. ibid., nn. 120-126 (LW II, 113, 7-117, 10).

278

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intus, totus foris“ 69 zu ihrem Höhepunkt zu führen. Parallel entwickelt er über die Negierung der Attribute eine Lehre, die eher Maimonides als Thomas verpflichtet ist, und übernimmt entschieden die im ,Führer der Unschlüssigen‘ hervorgehobene Vorstellung von der Einheit Gottes. Und dennoch folgt Eckhart darin Maimonides nicht ganz, denn dieser entwickelt ja eine Lehre extremer Äquivokation, die höchstens dezente Hinweise auf die Möglichkeit einer Analogie beinhaltet. Es gibt also sowohl Gemeinsamkeiten als auch scharfe Unterschiede zwischen den Lehren Maimonides’ und Eckharts. Seine abweichende Meinung zu Thomas versucht Eckhart aus verständlichen Gründen meist vorsichtig zu formulieren. Divergenzen zu Maimonides dagegen mildert er nicht aus kirchenpolitischen Befürchtungen ab, sondern scheinbar in der Absicht, sich als treuer Schüler darzustellen. Der Eckhart’sche Identitätssatz verwandelt Gott nicht in ,Eins-mit-der-Weltdes-Hier-und-Jetzt‘, sondern will ihn von Abstraktion und Entfremdung, die der extremen Negierung implizit sind, befreien und so in ein reales Subjekt verwandeln, das dem öden und undefinierbaren Unendlichen in der Seele des Menschen und in der ihn umgebenden Welt gleichkommt. Der sich in seiner Tiefe erkennende Mensch dringt bis zu der ,göttlichen Wüste‘ in sich vor 70, „ad caliginem, in qua erat deus“ (Ex. 20, 21). Dort vereinigt sich sein Denken mit dem ihm inhärenten göttlichen Denken und erkennt die umfassende Gesamtheit in ihrer Wesenheit. Am Jüngsten Tag, an dem Gott Eins und sein Name Einer sein wird und es ein partikulares, für sich stehendes Seiendes nicht mehr geben wird an diesem Tag werden alle Individuen in dieser Gesamtheit aufgehen. Wie für Maimonides hatte auch für Eckhart die sich aus der extremen Negierung einerseits und dem Ringen um die bloße Möglichkeit des Sprechens von Welt und Gott andererseits ergebende Spannung eine ultimative Dimension. Die Eckhart’sche, an dem oben dargelegten Paradox des zugleich „ganz innen und ganz außen“ Seins Gottes festhaltende Version der Analogielehre erfüllt ein zweifaches Ziel. Zunächst soll sie den Begriff Gottes vom Erbe der negativen Theologie in ihren extremen Ausprägungen, von Abstraktion und Entfremdung, befreien. Hierbei verwandelt sie Gott nicht in ein konkretes Objekt menschlichen Denkens, setzt sie diese Konkretheit doch nicht mit den Inhalten der unmittelbaren, dem Intellekt über die Sinne sich mitteilenden Wirklichkeit gleich, sondern mit jenem öden und undefinierbaren, sich sowohl in der Seele des Menschen als auch in der Welt befindenden Unendlichen, das die Seele dadurch, dass sie selbst einen Mikrokosmos darstellt, widerspiegelt. In dieser Lehre entwickelt Eckhart einen höchst bedeutungsvollen Begriff, den sowohl Maimonides 69

70

In Gen., n. 61 (LW I, 228, 4); cf. ibid., n. 166 (LW I, 312, 11); In Ex., n. 163 (LW II, 143, 6); In Ioh., n. 12 (LW III, 11, 16). Zum Begriff der göttlichen Wildnis bei Eckhart cf. P. A. Dietrich, The Wilderness of God in Hadewijch II and Meister Eckhart and His Circle, in: B. McGinn (ed.), Meister Eckhart and the Beguine Mystics. Hadewijch of Brabant, Mechthild of Magdeburg, and Marguerite Porete, New York 1994, 31-43, hier: 36 sqq.

279

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als auch Thomas von Aquin zu formulieren bestrebt waren: Dieser Begriff drückt die absolute Transzendenz der Gottheit aus und bewahrt zugleich ihr lebendiges Bild in der Seele des Gläubigen. Das ist eine besondere Deutungsleistung Meister Eckharts, die ihn an einer in der Geschichte des religionsphilosophischen Denkens entscheidenden Stelle zwischen seinen beiden großen Vorgängern positioniert. Anhang Prol.

Eccli. Sap.

Gen. I

Prolog Gen. II

Gen. II Ex.

Ioh.

Insges.

Maimonides

-

1

11

39

3

5

55

5

119

Aristoteles

4

6

34

26

-

30

17

89

206

Proklos

2

-

2

2

-

3

-

5

14

Augustinus

15

19

87

82

4

52

60

248

567

Dionysius

1

1

3

1

-

4

3

8

21

Boethius

2

1

10

16

-

5

12

17

63

Thomas

2

2

3

6

-

3

18

31

65

Avicenna

4

1

14

11

-

11

10

22

73

Averroes

-

-

5

5

-

8

-

13

31

Ibn Gabirol

-

1

-

1

-

3

3

5

13

Insges.

30

32

169

189

7

124

178

443

1172

IV. Spekulation und Begriff

Die Freiheit des Denkens. Meister Eckhart und die Pariser Tradition Wouter Goris (Köln/Amsterdam)

„so muss der geist ubertreten ding und dinglikeit“ (Preger I, 488)

Es bildet sich im 14. Jahrhundert, bei Johannes Duns Scotus und bei Meister Eckhart, eine regelmäßige Serie von Aussagen heraus, welche die Freiheit auf exklusive Weise mit einem bestimmten Vermögen verbinden. Im vorliegenden Beitrag wird der Versuch unternommen, den Bedingungen für das Aufkommen eines solchen ,Jargons der Ausschließlichkeit‘ auf die Spur zu kommen. Zwei Verlagerungen sind dabei zentral: die Ausprägung eines Konzepts der Freiheit als Selbstbestimmung und die Erfahrung der Gebundenheit des Erkennens. Ihre Verflechtung ermöglicht die Auflösung der intimen Wechselbeziehung von Vernunft und Freiheit, einer Grundüberzeugung der aristotelischen Tradition. Dieses Ereignis wird unter Bezugnahme auf Texte von Aristoteles, Gottfried von Fontaines, Johannes Duns Scotus und Meister Eckhart vorgestellt. I. Der Beg riff - Freiheit des Ver nünftig en Freiheit ist das Ungenannte, wodurch sich bei Aristoteles vernünftige von unvernünftigen Vermögen unterscheiden. Er legt im neunten Buch der ,Metaphysik‘ dar, dass eine dy¬namiw, die meta¡ lo¬goy, mit Vernunft verbunden ist, auf Entgegengesetztes geht, ein unvernünftiges Vermögen dagegen nicht: „Und zwar geht von den mit Vernunft verbundenen Vermögen je ein und dasselbe auf das Entgegengesetzte, die unvernünftigen dagegen gehen jeweils nur auf ein Objekt“ (U 2, 1046b, 4-6: kai¡ ai« me¡n meta¡ lo¬goy pa˜ sai tv˜ n eœnanti¬vn ai« ayœtai¬, ai« de¡ alogoi mi¬a e«no¬w). Was auf Eines geht, ist auf dieses festgelegt; was aber zugleich auf eœnanti¬a geht, ist nicht auf ein Glied der Entgegensetzung festgelegt, sondern gegenüber Entgegengesetztem frei. Der Stagirit gibt das Beispiel des Warmen (to¡ uermo¬n), das nur zu wärmen vermag, und grenzt es von der iœatrikh¡ te¬xnh ab, die sich auf Krankheit (no¬sow) und Gesundheit (y«gi¬eia) bezieht. Was macht die Freiheit des Vernünftigen aus? Die Differenzierung von meta¡ lo¬goy und alogoi spricht für sich. Vernünftige und unvernünftige Vermögen unterscheiden sich durch den lo¬gow, durch den Begriff. Der Begriff ist nicht auf

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Wouter Goris

Eines festgelegt, sondern schließt, freilich nicht ohne sich vorrangig ,der Sache‘ selbst zu verpflichten, deren Entgegengesetztes ein: „Der Begriff erklärt zugleich die Sache (to¡ pra˜ gma) und deren Privation (h« ste¬rhsiw), nur nicht auf gleiche Weise, und geht in gewissem Sinne auf beides, in gewissem Sinne wiederum mehr auf das Seiende“ (U 2, 1046b, 8-10). Die Freiheit des Vernünftigen gründet also auf der Beschaffenheit des Begriffs: lo¬gow aœmfoi˜n estin. Diese Beschaffenheit, der ,amphische‘ Charakter des Begriffs, bringt eine verborgene Beweglichkeit zur Geltung. Geht der Begriff zunächst auf Seiendes, ist mit dieser Setzung auch die Negation ihrer selbst gesetzt, und der Begriff entwickelt sich zu einem Prinzip, das beide in seinem Wirkungskreis einschließt: „Denn in einem Prinzip, dem Begriff, wird das Entgegengesetzte umfaßt“ (U 2, 1046b, 24: mia˜ ga¡r aœrxhŠ˜ perie¬xetai, tì˜ lo¬gì). Der Begriff geht auf beides: die Sache und ihre Privation. Er (er)klärt sie, macht beide sichtbar, der Begriff - o« lo¬gow dhloi˜. Die Erklärung gelingt allein deswegen, weil der Begriff nicht auf gleiche Weise auf beides, sondern auf das eine an sich, auf das andere nicht an sich geht. „Nur durch Verneinung und Hinwegnehmung erklärt er (dhloi˜) das Entgegengesetzte; denn die Privation im eigentlichsten Sinne ist das Entgegengesetzte, diese ist aber eine Entziehung des Anderen (aœpofora¡ uate¬roy)“ (U 2, 1046b, 13-15). Der Begriff erklärt das Entgegengesetzte, indem er die Sache selbst, to¡ pra˜ gma, zu etwas Anderem macht: ua¬teron, to¡ eÕteron, dem sich das Entgegengesetzte, to¡ eœnanti¬on, entzieht. Der Entzug des Anderen bringt das Entgegengesetzte hervor - diese Klärung, deren Prinzip er ist, leistet offenbar der Begriff. So macht der Begriff die Freiheit des Vernünftigen aus. Wir sehen davon ab zu zeigen, wie sich diese ursprüngliche Freiheit des Denkens in einer Praxis der Freiheit umsetzt. Wenn überhaupt, ist die Umsetzung fragil, von zu vielen Bedingungen abhängig, um sinnvoll diskutiert zu werden. Nur sollte eine Frage nicht verschwiegen werden: Wenn wir bedenken, dass es sich hier um Ausführungen im Rahmen einer Theorie des Vermögens als des Prinzips der Veränderung in einem Anderen handelt, insofern es ein Anderes ist (U 1, 1046a, 11: aœrxh¡ metabolh˜ w eœn allì ñ√ allo), so zeigt sich, dass die vernünftigen Vermögen eine gesteigerte Potentialität besitzen: Die Veränderung, die sie in einem Anderen bewirken, lässt selbst noch ein Anderes zu, nämlich das Entgegengesetzte. Ist dies aber der Fall, gibt die Veränderung in diesem Anderen wiederum ein Anderes frei, dann ist, Aristoteles zufolge, nochmals ein eÕteron, Anderes, erforderlich, das dem vernünftigen Vermögen dessen Unbestimmtheit nimmt, es bestimmt. Damit besagte Veränderung zustande kommt, so führt der Stagirit in einem späteren Abschnitt des neunten Buchs aus, muss das nicht auf eine Wirkung festgelegte Vermögen die Entscheidung einem Dritten abtreten: „Denn die vernunftlosen Vermögen sind jedes nur einer Tätigkeit fähig, die vernünftigen aber sind des Entgegengesetzten fähig, so daß sie also das Entgegengesetzte zugleich tun würden, was doch unmöglich ist. Also muß etwas anderes das Entschei-

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dende sein (aœna¬gkh ara eÕtero¬n ti eiÓnai to¡ ky¬rion); ich meine hierbei das Begehren (orejiw) oder den Vorsatz (proai¬resiw)“ (U 5; 1048a, 8-11). Die ursprüngliche Freiheit im Denken, die Grundlage für alles Handeln, ist aufzuheben, damit es überhaupt zum Handeln kommt. Anderes muss to¡ ky¬rion sein, die Freiheit krönt Äußerliches und Fremdes zum Herrn. Und damit geht die Freiheit sich selber verlustig, nicht weil das Vernünftige überhaupt zur Bestimmtheit gelangt - denn sonst könnte es nicht tätig werden -, sondern weil es sich nicht selbst zur Bestimmung verhilft. Verhält sich der Wille nicht als eine Fremdbestimmung dem Vernünftigen gegenüber? Im christlichen Horizont, wo der Begriff des Willens zu vorher ungekannter Geltung kam, wächst diese Konstellation zur Trennung von Vernunft und Freiheit aus. Bevor wir uns diesem Ereignis zuwenden, diskutieren wir eine zweite Frage. II. Die Ver nunft, kein unver nünftig es Ver mög en? Man neigt vielleicht dazu, die Frage, ob die Vernunft selbst ein vernünftiges Vermögen sei, abzutun. Ist nicht offenbar, dass, wenn nicht die Vernunft gegenüber Entgegengesetztem frei ist, es keine vernünftigen Vermögen geben kann? Auf einer zweiten Ebene möchte man erwidern, dass die Frage nach der Vernünftigkeit des Vernunftvermögens keine aristotelische Frage ist. Was hier zum Bereich der vernünftigen Vermögen zählt, sind die Künste und die hervorbringenden Wissenschaften (U 2, 1046b, 2-3: ai« te¬xnai kai¡ ai« poihtikai¡ eœpisth˜ mai). Das trifft freilich nur bedingtermaßen zu. Setzt die Möglichkeit von vernünftigen Vermögen auf der Ebene des herstellenden Wissens nicht voraus, dass sich die Vernunft selbst als ein solches Vermögen beschreiben lässt? Dass die Vernunft in dem Sinne ein vernünftiges Vermögen sei, dass sie für Entgegengesetztes offen ist, dürfte aufgrund der Angaben des Aristoteles als gesichert gelten. Macht nicht der Begriff, der ja auf Entgegengesetztes geht, die Freiheit des Vernünftigen aus? Gibt also nicht der Begriff die Garantie dafür, dass hier die Vernunft als ein vernünftiges Vermögen gelten kann? Man wäre versucht, dies zu glauben. Freilich wird zu zeigen sein, dass Aristoteles in seiner Vernunftlehre für den noy˜ w nicht die Freiheit einräumt, die für die Bezeichnung als vernünftiges Vermögen erforderlich wäre, und dass diese Beobachtung in der nachfolgenden Tradition ein Argument für die Trennung von Vernunft und Freiheit war. Anders gesagt: Die Verbindung von Vernunft und Freiheit wird erst in einer Begriffslehre greifbar, welche den für die Freiheit des Vernünftigen konstitutiven Merkmalen des Begriffs Rechnung trägt. Eine der Grundfragen in der Vernunftlehre von ,De anima‘ gilt dem Verhältnis zwischen Wahrnehmungsvermögen und Denkvermögen. Einerseits denkt Aristoteles die Vernunft in einer Analogie zum Wahrnehmungsvermögen: „Ähnlich, wie das Wahrnehmungsfähige sich zum Wahrnehmbaren verhält, so muß sich die Vernunft zum Intelligiblen verhalten“ (De an. G 4, 429a, 16-18: o«moi¬vw exein, vÕsper to¡ aiœsuhtiko¡n pro¡w ta¡ aiœsuhta¬, oyÕtv to¡n noy˜ n pro¡w ta¡ nohta¬). Ande-

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rerseits aber unterscheidet er beide. Der Gegenstand der Wahrnehmung ist aufgrund der Verbindung mit einem körperlichen Organ bestimmt, der Gegenstand des Denkens dagegen völlig unbestimmt. Die Vernunft ist xvristo¬w, sie ist für ihre Tätigkeit nicht an Körperliches gebunden, nicht mit Stoff vermischt, weder zu diesem noch zu jenem bestimmt, sie ist gewissermaßen alles Seiende. Diese Ambiguität definiert eine Epoche im Prozess der Emanzipation der Vernunft. Wenn Aristoteles versucht, sich vom Modell der Wahrnehmung zu lösen, macht er auf halber Strecke Halt. Er wirft zwar toi˜w aœrxai¬oiw vor, Wahrnehmung und Denken miteinander identifiziert zu haben, und weist ihnen gegenüber darauf hin, dass die Vernunft nicht wie die Wahrnehmung auf einen Gegenstand festgelegt, sondern auf besondere Weise aœpaue¡w, leidensunfähig, ist. Diese Loslösung vom Muster der Wahrnehmung, so vielversprechend begonnen, bleibt aber weitgehend folgenlos, wird der Vernunft auf gleiche Weise wie der Wahrnehmung ein Gegenstand zugewiesen. Was für die Wahrnehmung gilt: „Die Wahrnehmung von ihren spezifischen Objekten ist immer wahr“ (G 3, 427b, 11-12: h« aisuhsiw tv˜ n iœdi¬vn aœei¡ aœlhuh¬w), wird nahtlos auf die Vernunft übertragen: „Die vernünftige Erfassung von unteilbarem Gegebenem gehört zu demjenigen, mit Bezug auf das es keinen Irrtum gibt“ (G 6, 430a, 26-27: ¤H me¡n oyÓn tv˜ n aœdiaire¬tvn no¬hsiw eœn toy¬toiw peri¡ aÀ oyœk esti to¡ cey˜ dow). Mag auch die Vernunft alles begreifen können, so ist sie dennoch in der Erfassung ihres eigenen Objekts festgelegt. Mit Bezug auf die einfachen Inhalte gibt es keinen Irrtum. Wir können zu dem Schluss kommen, dass Aristoteles die besondere Leidensunfähigkeit der Vernunft gegen die Schablone der Wahrnehmung abgrenzt - ein wahrer Befreiungsakt vis-a`-vis des Gegenstandes -, sie aber letzten Endes in der Weise der Gegebenheit ihres Gegenstandes doch noch von diesem fesseln lässt. Ist aber nicht alle Freiheit der Vernunft illusorisch, solange sie mit Gegebenem konfrontiert wird, mit reiner Inhaltlichkeit, die sie nur zu erfassen hat? III. Ver nunft wider Willen Die Fragen, die wir bisher aufgeworfen haben, galten der Spannung verschiedener Ansätze, die Freiheit eines Vermögens zu erklären. Ist ein vernünftiges Vermögen deshalb frei, weil es nicht von Anderem bestimmt wird, oder weil es Entgegengesetztem gegenüber nicht festgelegt ist? In der Scholastik wird das Konzept eines freien Willens geboren, dessen Freiheit darauf gründet, dass er von nichts Anderem als sich selbst bewegt wird. Wir lassen die technische Frage der Selbstbewegung eines Vermögens, wiewohl wegweisend, beiseite und konzentrieren uns auf den Gedanken der Unfreiheit der Vernunft, der in der Pariser Debatte über Vernunft und Freiheit gewonnen wird 1. Im Zentrum der Betrachtung stehen zunächst zwei Quellen: die quaestio 16 aus dem 8. Quodlibet Gott1

Eine genauere Betrachtung der Debatte findet sich bei B. Kent, Virtues of the Will. The Transformation of Ethics in the Late Thirteenth Century, Washington DC 1995, bes. 94-149.

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frieds von Fontaines 2 und der Schlusstext aus dem unvollendeten Metaphysikkommentar des Johannes Duns Scotus, die berühmte quaestio 15 zum neunten Buch 3. Gottfrieds Abhandlung der Frage, ob das Strebevermögen eines unvernünftigen Lebewesens, der appetitus bruti, solchermaßen frei ist, dass es Wille genannt werden kann, enthält einen wichtigen Abschnitt, in dem dieser magister saecularis sich bemüht, den Begriff der Freiheit in Auseinandersetzung mit der Auffassung des Thomas von Aquin zu klären. Es wäre darüber sehr viel mehr zu sagen, ich konzentriere mich hier auf einige Bruchstellen. Gottfrieds Antwort ist fest in der Tradition verwurzelt: Was nicht mit der Materie vermischt ist, ist unbestimmt und hat eine universelle Ausrichtung, die es erlaubt, das Ziel und die Hinordnung auf das Ziel ausdrücklich in den Blick zu nehmen. Nur die entia rationalia et intellectualia, die Vernunftwesen, sind daher frei: „Das der Erkenntnis Fähige, weil es aufgrund seiner Abstraktion und Unstofflichkeit nicht auf irgendein partikulares Seiendes oder Gutes hingeordnet ist, sondern sich auf jedes Seiende und Gute universell erstreckt, den universellen Begriff des Seienden und des Guten erfassend und auch erstrebend, vermag ein jedwedes und den Begriff eines jedweden sowohl in sich als auch in Hinordnung und im Verhältnis des einen zum anderen zu erkennen; und deswegen besitzt es Freiheit sowohl im Erkennen als auch im Streben.“ 4

Der Beschränkung der Freiheit auf die vernunftbegabte Natur folgt hier, gleichsam als Kehrseite, ihre Ausdehnung auf alle vernünftigen Vermögen, die, im Medium des Begriffs, nicht auf eines festgelegt sind. Weil etwas die ratio libertatis ursprünglich aufgrund der Unstofflichkeit seiner Natur zukommt, sind Vernunft und Wille als Vermögen der vernünftigen Seele beide frei. „Diesbezüglich behaupten einige freilich“, so fährt Gottfried fort, „daß die Freiheit im eigentlichen Sinne nur dem Willen zugesprochen werden darf.“ 5 Gottfried führt die Lehre des Thomas von Aquin - an sich schon bemerkenswert, wenn man an ihre intellektualistische Engführung in der Franziskanerschule denkt - als gegnerische Position auf. Gemäß dieser Lehre habe der Wille die Freiheit „wurzelhaft und erstursprünglich“ („radicaliter et primordialiter“) von der zugrunde liegenden Natur, ,des Nächsten‘ (ex proximo) aber von der durch die Vernunft erfassten Form, da das Wirkende gemäß einem solchen Akt geisti2

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5

Cf. Gottfried von Fontaines, Quodl. VIII, 16 (ed. J. Hoffmans, Les Philosophes Belges, vol. IV, Louvain 1924, 140-176): ,Utrum appetitus bruti sit liber et sic possit dici voluntas‘. Cf. Johannes Duns Scotus, In IX Metaph., q. 15 (eds. R. Andrews e. a. , OP III, St. Bonaventure, N. Y. 1997, 676-699). Gottfried von Fontaines, Quodl. VIII, 16 (ed. Hoffmans [nt. 2], 146-147): „rationabilia, quia ratione suae abstractionis et immaterialitatis non ordinantur ad aliquod ens aut bonum particulare, sed ad omne ens et bonum universaliter se extendunt, universalem rationem entis et boni apprehendentia et etiam appetentia, possunt cognoscere unumquodque et rationem uniuscuiusque et in se et in ordine et habitudine unius ad alterum; et ideo libertatem habent et in cognoscendo et in appetendo.“ Ibid., 147: „Circa hoc tamen aliqui dicunt quod libertas proprie non debet attribui nisi voluntati.“

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ger Erfassung, gemäß einem solchen Begriff, sowohl dies als auch sein Entgegengesetztes bewirken könne; aus sich selbst aber besitze der Wille die Freiheit formal (formaliter), weil er sich selbst zu jener Bestimmung verhelfe, die in jedem Wirken erforderlich sei 6. Damit stehen zwei Konzepte der Freiheit einander gegenüber, die ansatzweise bereits in der Aristoteles-Lektüre begegnet sind. Während Gottfried selbst die Freiheit in der Unstofflichkeit begründet sieht, die es ermöglicht, einen Begriff zu bilden, der auf Entgegengesetztes geht, schreibt er seinem Gegner die Position zu, Freiheit bestehe in der Selbstbestimmung eines Vermögens. Das ganze Problem liegt darin, dass nach klassischer Lehre nichts sich selbst in der gleichen Hinsicht zur Aktualität zu verhelfen vermag. In seinem Referat der Position des Thomas signalisiert Gottfried, dass dieser zwischen der Aktualisierung und der Bestimmung des Willens unterscheide - Erstere komme dem Ziel und dem, was auf das Ziel hingeordnet sei, Letztere dem Willen selbst zu 7. In der Folge rückt das Lehrstück des dominium, der Herrschaft über die Akte, ins Zentrum der Betrachtung. Der Wille hat Herrschaft sowohl über seine eigenen Akte als auch über die Akte anderer Vermögen. Wir können nicht darüber verfügen, was in unseren Geist kommt, wohl aber, ob wir dabei stehen bleiben oder nicht - das nun tun wir willentlich. Gottfried fasst es wie folgt zusammen: „Daß aber der Wille sich so bestimmen kann, beweisen sie, weil der Wille die anderen Vermögen bestimmt, nämlich die Vernunft, damit sie dies und nicht jenes betrachtet, was nur der Fall sein kann, wenn zuerst der Wille sich selbst bestimmt, daß er dies und nicht jenes betrachten will […]. Jene Herrschaft also, beim einen stehen zu bleiben und vom anderen abzulassen, ist dem Willen zuzusprechen, der zuerst Herrschaft über seinen eigenen Akt und dadurch über die Werke der anderen Vermögen hat. Der Wille verursacht in sich nicht das Wollen, sondern es steht in seiner Macht, im Wollen stehen zu bleiben oder nicht.“ 8

Die feine Verflechtung der Akte des Denkens und des Wollens ermöglicht es Thomas, die Freiheit formal dem Willen zuzusprechen als dem Vermögen, das sich selbst bestimmt, ohne sich selbst zu aktualisieren. Gegen die Lehre des Thomas führt Gottfried eine Reihe von Argumenten ins Feld, die wir hier weder im Einzelnen betrachten können noch müssen die Zusammenfassung genügt: „Also ist diese Weise, die Freiheit allein im Willen zu setzen, nicht angemessen. Ja, dies muß man auch der Vernunft zugestehen, denn der Grund der Freiheit des Willens 6

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Ibid., 148: „Ideo libertas inest voluntati ex immaterialitate naturae in qua fundatur radicaliter, ex forma apprehensa ex proximo et ex se ipso formaliter.“ Cf. ibid., 148-149. Ibid., 149: „Quod autem voluntas sic possit se determinare probant, quia determinat alias potentias, scilicet intellectum ut consideret de hoc et non de illo, quod esse non posset nisi prius voluntas se ipsam determinet ut velit considerare de hoc et non de illo […]; illud ergo dominium posse sistere in uno et desistere ab alio voluntati est attribuendum, quae primo habet dominium in operatione propria et per hoc in operibus aliarum potentiarum. Ista ergo in se non causat volitionem, sed in potestate sua est sistere vel non sistere in volitione.“

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besteht ursprünglich in seiner Abstraktion und Unstofflichkeit, was nicht nur ihm zukommt, sondern auch der Vernunft, weil sie im gleichen Wesen der Seele verwurzelt ist […]. Deswegen muß man nicht allein sagen, daß der Wille frei ist, sondern auch die Vernunft ist frei.“ 9

Gottfried kommt zu dem Schluss, dass dieser Freiheit nicht im Wege steht, dass sich einiges, was zu den Akten des Willens und der Vernunft gehört, in der Weise der Natur verhält 10. Er spezifiziert nicht, was er damit meint; wir dürfen annehmen, dass er dabei auch, wenn nicht vor allem, an die Fremdbestimmung der Vernunft denkt, die sich selbst nicht zur Bestimmtheit zu verhelfen vermag. Kurz rekapitulierend: Thomas spricht die Freiheit formaliter dem Willen zu, nicht primär, weil er ein vernünftiges Vermögen ist, das auf Entgegengesetztes geht - dies im Unterschied zu den natürlichen Vermögen, die auf eines festgelegt sind -, sondern weil der Wille, und nur dieser, sich selbst zu bestimmen vermag. Gottfried lehnt dies mit einer Reihe von Argumenten ab und hält an der Freiheit sowohl des Willens als auch der Vernunft fest, wobei er freilich einräumen muss, dass sich dabei einiges in der Weise der Natur verhält, die auf eines festgelegt ist. Damit sind die Weichen gestellt für eine Verlagerung der Problematik, die allerdings erst Johannes Duns Scotus bewirken wird.

IV. Natur und Freiheit In Auseinandersetzung mit Gottfried führt Duns Scotus im neunten Kapitel seines Metaphysikkommentars die Unterscheidung von vernünftigen und unvernünftigen Vermögen auf eine grundlegendere von Natur und Willen zurück 11.

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Ibid., 155: „Non est ergo iste modus ponendi libertatem in voluntate conveniens, nec etiam est ponendum voluntatem solam habere libertatem formaliter; immo etiam hoc est intellectui tribuendum, quia ratio libertatis voluntatis originaliter consistit in abstractione et immaterialitate sua, quod non solum sibi convenit, sed etiam intellectui qui in eadem essentia animae radicatur […]. Ideo non solum voluntas dicenda est esse libera, sed etiam intellectus erit liber.“ Ibid., 156: „quamvis et in Deo et in nobis aliqua pertinentia ad actus voluntatis et intellectus dicantur se habere modo naturae.“ Zu diesem Text cf. H. Möhle, Ethik als scientia practica nach Johannes Duns Scotus: Eine philosophische Grundlegung (BGPhThMA, N. F. 44), Münster 1995, 158 sqq.; T. Hoffmanns, The Distinction Between Nature and Will in Duns Scotus, in: AHDLMA 66 (1999), 189-224. Gemäß der neueren Forschung übernimmt Scotus in Paris am Anfang des 14. Jahrhunderts die Auffassung, die Gonsalvus von Spanien in der Auseinandersetzung mit Gottfried verteidigte, nämlich einen stringenten Voluntarismus, der den Willen als umfassende Ursache seines Aktes sieht. Cf. St. D. Dumont, Did Duns Scotus Change his Mind on the Will?, in: J. A. Aertsen/K. Emery, Jr./A. Speer (eds.), Nach der Verurteilung von 1277. Philosophie und Theologie an der Universität von Paris im letzten Viertel des 13. Jahrhunderts. Studien und Texte (Miscellanea Mediaevalia 28), Berlin-New York 2001, 719-794. Zur gleichen Zeit lehrte in Paris Eckhart die entgegengesetzte These, und zwar in der Debatte mit Gonsalvus. Cf. Quaestiones Parisienses, q. 3, nn. 6-20 (LW V, 59-64).

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Der wichtigste Einwand ist folgender: Aristoteles scheint unter einem vernünftigen Vermögen allein die Vernunft zu verstehen 12. Scotus klärt die verschiedenen Wirkungen der aktiven Vermögen nicht mittels einer Differenzierung jeweiliger Gegenstände - wie dies bei der Unterscheidung von vernünftigen und unvernünftigen Vermögen der Fall ist -, sondern, grundlegender, durch die unterschiedlichen Weisen, wie sie ihre jeweiligen Wirkungen hervorrufen. Ist ein Vermögen von sich aus bestimmt zu wirken, so dass es von sich aus, ohne Behinderung von außen, nicht anders wirken kann, dann nennen wir dies: Natur. Ist ein Vermögen von sich aus nicht derart bestimmt, sondern kann es entweder diesen Akt oder den entgegengesetzten Akt vollziehen, entweder wirken oder nicht wirken, dann nennen wir dies: Wille 13. Demnach ist die primäre Einteilung der aktiven Vermögen die in Natur und Willen. Scotus wagt den Versuch, die Unterscheidung zwischen vernünftigen und unvernünftigen Vermögen mit der zwischen Natur und Willen in Einklang zu bringen. Vernunft und Wille können auf zweifache Weise miteinander verglichen werden: erstens mit Bezug auf die eigentümlichen Akte, welche sie hervorrufen, zweitens mit Bezug auf die Akte der untergeordneten Vermögen, worauf sie kausal Einfluss nehmen: die Vernunft aufzeigend und lenkend, der Wille antreibend und befehlend 14. Der erste Vergleich ist der wesentlichere. Ihm gemäß gehört die Vernunft zur Natur, da sie von sich aus zum Erkennen bestimmt ist: „Und so, gemäß der ersten Vergleichsweise, fällt die Vernunft unter die Natur. Sie ist nämlich von sich aus zum Erkennen bestimmt und hat es weder [mit Bezug auf Einfaches] in ihrer Macht, zu erkennen oder nicht zu erkennen, noch hat sie es mit Bezug auf Zusammengesetztes in ihrer Macht, zuzustimmen oder abzulehnen. Insoweit auch eine gewisse Erkenntnis auf Entgegengesetztes gehen würde, wie Aristoteles zu sagen scheint, ist die Vernunft dennoch mit Bezug auf eine solche Erkenntnis nicht von sich aus unbestimmt - vielmehr ruft sie notwendig jene Erkenntnis, wie die andere, die sich nur auf ein Erkanntes bezog, hervor.“ 15 12

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Cf. Johannes Duns Scotus, In IX Metaph., q. 15, n. 16 (OP III, 678-679): „Secundo, quia solummodo intellectum vel scientiam videtur ponere potentiam rationalem.“ Cf. ibid., n. 22 (OP III, 680-681): „Iste autem modus eliciendi operationem propriam non potest esse in genere nisi duplex. Aut enim potentia ex se est determinata ad agendum, ita quod, quantum est ex se, non potest non agere quando non impeditur ab extrinseco. Aut non est ex se determinata, sed potest agere hunc actum vel oppositum actum; agere etiam vel non agere. Prima potentia communiter dicitur ,natura‘, secunda dicitur ,voluntas‘.“ Die Unbestimmtheit des Willens grenzt Scotus als eine solche unbegrenzter Aktualität, in Überfluss vorhandener Zureichendheit von der bloß unzureichenden Unbestimmtheit ab, die der Aktualisierung seitens einer Form bedürfe. Aufgrund dieser Unbestimmtheit des Willens, seiner hervorragenden Vollkommenheit und nicht auf einen bestimmten Akt beschränkter Wirkkraft vermag er sich selbst zu bestimmen. Cf. ibid., nn. 31-34 (OP III, 683-684). Cf. ibid., n. 36 (OP III, 684): „Responsio: intellectus et voluntas possunt comparari ad actus proprios quos eliciunt vel ad actus aliarum potentiarum inferiorum in quibus quandam causalitatem habent: intellectus ostendendo et dirigendo, voluntas inclinando et imperando.“ Ibid.: „Prima comparatio est essentialior, patet. Et sic intellectus cadit sub natura. Est enim ex se determinatus ad intelligendum, et non habet in potestate sua intelligere et non intelligere sive circa complexa, ubi potest habere contrarios actus, non habet etiam illos in potestate sua: assentire et dissentire. In tantum quod si etiam aliqua

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Der Wille dagegen ist, wie gesagt, frei, den ihm eigentümlichen Akt hervorzurufen. Diskret fügt Scotus hinzu: „Gemäß dieser ersten Vergleichsweise scheint Aristoteles nicht zu sprechen.“ 16 Der zweite Vergleich (mit Bezug auf die Akte der untergeordneten Vermögen, worauf Vernunft und Wille kausal Einfluss nehmen) ist eher beiläufig - das ist aber die Perspektive, die Aristoteles einnimmt. Scotus zeigt, dass die Vernunft sogar mit Bezug auf den äußerlichen Akt nur in einer ganz beschränkten Hinsicht vernünftig ist, nämlich sofern sie im Voraus für den Akt des vernünftigen Vermögens erforderlich ist. Dann, in zweiter Instanz, tritt der bestimmende Wille hinzu, so dass der Wille, der mit Bezug auf den eigenen Akt nicht bestimmt ist, diesen hervorruft und durch ihn die Vernunft mit Bezug auf jene Kausalität bestimmt, die sie mit Bezug auf draußen zu Bewirkendes hat 17. So ist der Wille allein im eigentlichen Sinne ein vernünftiges Vermögen. Er bezieht sich auf Entgegengesetztes, nicht in der Weise der Natur, wie die Vernunft, die sich nicht zum Anderen bestimmen kann, sondern auf freie Weise, als etwas, das sich selbst zu bestimmen vermag. Der Wille allein ist frei. V. Jarg on der Ausschließlichkeit Vielleicht hat niemand im Mittelalter der These des Duns Scotus so entschieden widersprochen wie Meister Eckhart. Ich denke dabei in erster Linie an die These der ,Rechtfertigungsschrift‘, die, seit Sturleses Edition, als letzte Schrift des Thüringers gesichert ist 18. Hier in der ,Rechtfertigungsschrift‘, genauer gesagt: zwischen den Artikeln aus einem zweiten, von den Inkriminatoren frisch herbeigeschafften rotulus, gleichsam als Anzeige der Aktualität dieses Gedankens, ist ein Verweis enthalten auf eine bisher verschollene Predigt zu Mt. 2, 19: ,Defuncto Herode‘, wo gesagt werde, die Vernunft allein sei frei: „intellectus solus est liber.“ 19 Ein recht abenteuerlicher Gedanke, so scheint mir. Was soll es wohl heißen, dass die Vernunft allein frei sei? Es finden sich, wie gesehen, im Hochmittelalter unterschiedliche Auffassungen, welche die Freiheit entweder primär dem Willen, oder auch, dann aber als gleichberechtigt, der Vernunft zusprechen - eine communis opinio dahingehend, dass die Freiheit immer mit dem Willen zu tun hat, welche die These Eckharts nun sprengt. Die Vernunft allein ist frei - das exakte

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una notitia sit oppositorum cognitorum, ut videtur Aristoteles dicere, adhuc respectu illius cognitionis non est intellectus ex se indeterminatus; immo necessario elicit illam intellectionem, sicut aliam quae esset tantum unius cogniti.“ Ibid. (OP III, 685): „Secundum hanc primam comparationem non videtur loqui Aristoteles.“ Cf. ibid., nn. 37-39 (OP III, 685-686). Cf. Mag. Echardi Responsio ad articulos sibi impositos de scriptis et dictis suis (= Proc. Col. I + II, LW V, 249-520). Cf. Proc. Col. II, n. 49 (LW V, 328): „Vicesimus primus. In sermone ,Defuncto Herode‘ dicitur sic: Intellectus solus est liber.“

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Gegenstück der These des Scotus, dass der Wille allein frei ist. Beide Denker nehmen sich offensichtlich eines Jargons der Ausschließlichkeit an, dessen Form, bis zu dem sprachlichen Ausdruck, ernst zu nehmen ist. Dann zeigt sich nämlich, dass das Argument, womit Eckhart seine These verteidigt, keineswegs hierzu geeignet ist, dass er, vielleicht vom Moment gezwungen, sich dazu veranlasst sah, kurzerhand auf eine argumentative Strategie zurückzugreifen, der die These aber, genau in dieser ihrer Form, niemals entsprungen sein kann. Das Argument verläuft wie folgt: „Man muß sagen, obwohl hierüber zwischen den Gelehrten keine Einigkeit besteht (licet de hoc sit quaestio inter doctores), daß es dennoch wahrer ist, daß die Freiheit in der Vernunft der Kraft nach und wie in einer Wurzel (virtute et ut in radice), im Willen dagegen formal (formaliter) besteht. Weswegen alle Freiheit des Willens von der Vernunft herrührt und absteigt. ,Die vernünftigen Vermögen aber gehen auf Entgegengesetztes‘. Nun gehört die Vernunft wesentlich zum Vernünftigen, der Wille aber, als Strebevermögen, gehört zum Vernünftigen durch Teilhabe, gemäß dem, was vom Philosophen gesagt wird: ,Der Wille ist in der Vernunft‘.“ 20

Die Sache ist zwar offen, es ist aber wahrer zu sagen, dass - Eckhart zeigt sich betont nuanciert. Das Argument zielt dann auf eine intimere Zugehörigkeit der Freiheit zur Vernunft als zum Willen, etwas, das Eckhart in seiner ganzen Karriere verteidigt hat. Es geht dabei nicht an zu beanstanden, dass Eckhart hier eine Lehre des Thomas von Aquin, der die Freiheit im eigentlichen Sinne im Willen ansetzt, als Argument für seine These auffasst. Eckhart ist öfter etwas frei in seinen Deutungen der Tradition. Die Abkünftigkeit der Willensfreiheit von der Vernunftfreiheit, die dann folgt, schreibt er an anderer Stelle Gregor von Nyssa zu 21. Den Schluss, wohl ausschlaggebend für Eckhart, bildet eine Serie zerstreuter Zitate aus der ,Metaphysik‘, der ,Nikomachischen Ethik‘ und aus ,De anima‘, die belegen sollen, dass dem Willen nur durch die Vernunft und in der Vernunft Freiheit zukommt. Eine argumentative Strategie, der, wie gesagt, Eckhart in seiner ganzen Karriere gefolgt ist - man denke nur an die dritte Pariser Quästion, selbstverständlich von Sturlese auch in seinem Quellenapparat herangezogen 22. Eine argumentative Strategie also, die Eckhart aus dem Ärmel schütteln konnte, als er sich vor die Aufgabe gestellt sah, seine etwas kühn ausgefallene These zu verteidigen. Mag sie auch, qua Verteidigungsstrategie, Wirkung gezeigt haben - die These erscheint danach nicht weiter in den Anklagelisten -, sie ist weit davon entfernt, 20

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Ibid.: „Dicendum quod, licet de hoc sit quaestio inter doctores, verius tamen est quod libertas sit in intellectu virtute et ut in radice, in voluntate autem formaliter. Propter quod et omnis libertas voluntatis ab intellectu est et descendit. ,Potestates autem rationales sunt ad opposita‘. Intellectus autem pertinet ad rationale per essentiam, voluntas autem, utpote appetitus, pertinet ad rationale per participationem, secundum quod dicitur a Philosopho: ,voluntas est in ratione‘.“ Cf. Quaestiones Parisienses, q. 3, n. 14 (LW V, 62). Cf. ibid., n. 16 (LW V, 62): „radix libertatis est in intellectu. Unde libertas primo est in intellectu et originaliter, sed formaliter in voluntate.“

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dem Gedanken in der Form, in der er für die Ankläger skandalös war, Ausdruck zu verleihen. Eine Verteidigungsstrategie also als Verharmlosungsstrategie. Denn die These, die Vernunft allein sei frei, gehört zu einer anderen gedanklichen Serie als das Argument, dass die Vernunft eine intimere Zugehörigkeit zur Freiheit aufweist als der Wille, ein Argument, das die Freiheit dem Willen nicht abspricht - die Kluft, die sich zwischen These und Argument abzeichnet, ist vom Jargon der Ausschließlichkeit gezogen worden. Ich erinnere nur daran, dass im Werk Eckharts eine Reihe von Aussagen zur Freiheit des Willens vorliegt, so in Predigt 36a: „Der Wille ist frei, er bezieht nichts von der Materie. In diesem Einen ist er freier als die Erkenntnis (bekantnisse), und daran nehmen gewisse törichte Leute Anstoß und meinen, er sei der Erkenntnis überlegen. Dem ist nicht so. Die Erkenntnis ist auch frei, aber die Erkenntnis entnimmt von der Materie und von den körperlichen Dingen.“ 23

Die Serie von Aussagen, welche die Freiheit sowohl der Vernunft als auch dem Willen zusprechen, ist also klar von der Serie von Aussagen, welche die Freiheit einem bestimmten Vermögen allein zuschreiben, zu unterscheiden. Das eigentliche Vergleichsmoment für die These, die Vernunft allein sei frei, bildet daher vielmehr jene andere Aussage, genauso komfortabel im Jargon der Ausschließlichkeit eingenistet, eine Aussage, die ebenfalls die Aufmerksamkeit der Inkriminatoren auf sich gezogen hat, die aber in ihrer Begründung auf eine vollständige Leugnung der These, dass die Vernunft allein frei sei, hinausläuft. Ich meine den beanstandeten Satz aus der zweiten Predigt der Deutschen Werke, es sei eine Kraft in der Seele, die, weit über die Vernunft erhaben, allein frei sei: „sit una virtus in anima, quae sola sit libera.“ 24 Es gilt, die Bedeutung der Form dieser Aussagen zu unterstreichen. Es handelt sich hier nicht um einen Versprecher, um eine Unregelmäßigkeit - als hätte Eckhart sich im Fluss der Gedanken ein wenig mitreißen lassen -, sondern um eine regelmäßige Serie von Aussagen, deren Aufkommen es nicht zu beschönigen, sondern vielmehr zu bedenken gilt. Der Wille allein sei frei, die Vernunft allein sei frei, es gibt eine Kraft in der Seele, die sei allein frei. Was ist passiert? Was hat erlaubt, dass solche Aussagen gebildet werden? Welche Gemeinsamkeit, an sich vielleicht unscheinbar, dennoch aber strukturierend, liegt dem Jargon der Ausschließlichkeit zugrunde? Um dies zu ergründen, wenden wir uns nochmals dem Werk Eckharts zu, dem gleichzeitigen Auftreten zweier einander wechselseitig ausschließender Aussagen: Die Vernunft allein sei frei, und es gebe etwas in der Seele, das, weit über die Vernunft erhaben, allein frei sei. 23

24

Pr. 36a (DW II, 191, 6-10): „Der wille ist vrıˆ, er ennimet niht von materie. An dem einen ist er vrıˆer dan bekantnisse, und dar ane stoˆzent etlıˆche toˆrehte liute und wellent, daz er sıˆ über bekantnisse. Des enist niht. Bekantnisse ist ouch vrıˆ, aber bekantnisse nimet von materie und von lıˆphaftigen dingen.“ Cf. auch Pr. 21 (DW I, 365, 3-5): „[Vernünfticheit] nimet […] von sinnen; daz die sinne von uˆzen ˆıntragent, daˆ von nimet vernünfticheit. Des entuot der wille niht; in dem stücke ist der wille edeler dan vernünfticheit.“ Cf. Proc. Col. II, n. 121 (LW V, 346): „sit una virtus in anima, quae sola sit libera […] altior est quam intellectus et voluntas.“ Cf. Pr. 2 (DW I, 39-40).

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Wouter Goris

VI. Vom Beg riff - die Freiheit Bekanntlich ist die Vernunftproblematik bei Eckhart eine heikle Frage, Gegenstand einer lebhaften Auseinandersetzung bis zum heutigen Tag. Mit Bezug auf Folgendes gibt es ein, wenn auch minimales, Einvernehmen unter den gelehrten Forschern. Der Gegenstand der Vernunft wird in einer methodischen Loslösung vom Bereich des Partikularen, des hoc et hoc, etabliert: „Ihr Gegenstand ist das ens absolute, nicht das hoc aut illud allein.“ 25 Es sei dahingestellt, ob Eckhart mit diesem ens absolute unmittelbar das Göttliche meint, wie es der Gedanke, dass alles, was unterhalb von Gott ist, ein ens hoc aut hoc, nicht aber ens aut esse absolute ist 26, wie es die wiederholte Berufung auf Augustin: „Nimm das hoc et hoc weg, und du wirst Gott sehen“ 27, wie es die These der ,Prologi in Opus tripartitum‘: ,Das Sein ist Gott‘ 28, sowie die These, dass Seiendes im eigentlichen Sinne nur Gott bezeichnet 29, und wie es schließlich Aussagen in den Bibelkommentaren nahe legen, wie jene im Johanneskommentar: „Vernunft und Wille haben durch ihre Loslösung von der Materie, ja von diesem und jenem Wahren und Guten (ab hoc et hoc vero et bono), Gott selbst zum Gegenstand unter der Hinsicht des absoluten Seienden und Guten (obiectum habent ipsum deum sub ratione entis et boni absolute).“ 30 Was auf diese Weise auf den Begriff gebracht wird, fällt selbst, als Begriff, noch einmal unter die Absage an das hoc et hoc. Ist man zunächst versucht, die Übersteigung des hoc et hoc im Bereich der Vernunft bereits als Geschehen der Freiheit zu verstehen, so wird die eigentliche Freiheit letztlich in die Überschreitung eben dieses Bereiches gelegt. Man kann dies schön zeigen anhand der 17. lateinischen Predigt zu Röm. 6, 22, ,Nunc vero liberati‘. Eckhart bestimmt zunächst den Bereich der Vernunft als einen solchen der Freiheit: „Alle Vermögen der Seele sind gewissermaßen beschränkt und gleichsam gefangen von ihren Gegenständen. Die Vernunft aber, in der die Wahrheit ist, ist frei.“ 31 Hier begegnet die Freiheit des Denkens. Die Vernunft wird von ihrem Gegenstand, dem Begriff - hier dem Begriff der Wahrheit -, nicht beschränkt oder gefangen. Was aber folgt, ist eine entschiedene Absage an diese Perspektive: „oportet liberari ab ipsa veritate“, wir müssen 25 26

27

28 29 30

31

In Gen. I, n. 115 (LW I, 272, 5-6): „Unde et eius obiectum est ens absolute, non hoc aut illud tantum.“ In Ioh., n. 52 (LW III, 43, 11-12): „Omne autem citra deum est ens hoc aut hoc, non autem ens aut esse absolute, sed hoc est solius primae causae, quae deus est.“ Cf. In Ioh., n. 613 (LW III, 534, 1-2): „Augustinus De trinitate l. VIII c. 3 dicit: ,bonum hoc et bonum illud; tolle hoc et illud et videbis deum‘.“ Cf. Prol. gen. in op. trip., n. 12 (LW I, 156-158). Prol. in op. prop., n. 5 (LW I, 168, 6): „solus deus ens proprie est.“ In Ioh., n. 698 (LW III, 612, 7-10): „intellectus […] et voluntas […] per sui separationem a materia […], quin immo ab hoc et hoc vero et bono, obiectum habent ipsum deum sub ratione entis et boni absolute.“ Sermo XVII/2 (LW IV, 160, 10-11): „omnes potentiae animae quodammodo limitatae et quasi captae sunt obiectis suis. Intellectus autem, in quo veritas est, liber est.“

Die Freiheit des Denkens

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sogar von der Wahrheit selbst noch befreit werden, da sie einen begrenzten Gesichtspunkt gegenüber der uneingeschränkten Erfahrung des reinen Seins darstellt, die unsere Seligkeit ausmacht. „Absque omni ratione contrahente et etiam concipiente seu etiam apprehendente“ - die Freiheit ist eine Freiheit vom Begriff 32. Eine erste Überschreitung des hoc et hoc also, die für den Begriff und damit für den Bereich der Vernunft konstitutiv ist, und eine zweite Überschreitung, die nunmehr den Begriff selbst als hoc et hoc erfasst und den Bereich der Vernunft zurücklässt. Das Geschehen der Freiheit ist, so verstanden, nicht primär Sache der Vernunft, sondern vielmehr eine durchgängige Absage an alles Gegebene, eine Flucht vor der Verdinglichung. In dieser zweiten Perspektive der Überschreitung sind all jene Eckhart-Texte zuhause, die Gott die traditionellen Prädikate wie Sein, Gutheit, Einheit, Wahrheit, ja sogar Vernunft absprechen. Zu dieser Perspektive gehört ebenfalls die zitierte Aussage in der zweiten Predigt, es gebe etwas in der Seele, das allein frei sei. Eckhart rememoriert, er habe diesem verschiedene Namen beigelegt, wie Hut des Geistes, Licht des Geistes, Fünklein. Es ist aber weder dies noch das, erhabener über dies und das, wie der Himmel über die Erde, von allen Namen frei und aller Formen bloß, ganz ledig und frei, wie Gott ledig und frei ist in sich selbst. Zu dieser Kraft hat die Vernunft keinen Zugang 33. Der Überstieg der Vernunft zur Freiheit wird dadurch legitimiert, dass die Vernunft in ihren Begriffen an das Geschaffene gebunden bleibt. Aber das ,Etwas in der Seele‘, zu dem der Überstieg der Vernunft hinführt, kann selbst, nach dieser Reinigung, in ganz bestimmtem Sinne wiederum als Vernunft angesprochen werden. Erinnern wir uns, dass Eckhart in der Predigt 36a den Willen freier nannte als die Vernunft, da diese die Erkenntnis den körperlichen Dingen entnimmt 34. In der Parallelpredigt 36b unterscheidet Eckhart jedoch diese Vernunft (verstantnisse) von einer höheren Vernunft (vernünfticheit), die nichts von körperlichen Dingen empfängt 35. In der Predigt 71 wird die Ebene des diskursiven Wissens -„vernünfticheit, als si noch suochende ist “ - von einer Vernunft überschritten, die nicht mehr sucht, die in ihrem lauteren Sein steht 36. Die Predigt 73 begreift dies in der Unterscheidung von Verstand (bekantnisse) und Vernunft (vernünfticheit) 37, die Predigt 76 unterscheidet das ,vünkelıˆn der redelicheit‘ von dem auf äußere Dinge gerichteten Erkennen, dem verstandesmäßigen Erkennen in Vorstellungsbildern und in Begriffen („daz verstentlıˆche bekennen, daz daˆ ist naˆch glıˆchnisse und naˆch rede“ - rede als Übersetzung von ratio, Begriff), das uns jenes Fünklein verbirgt 38. 32

33 34 35 36

37 38

Ibid., 161, 7-10: „oportet liberari […] a vero, scilicet ab ipsa veritate […], quia ens nudum absque omni ratione contrahente et etiam concipiente seu etiam apprehendente beatificat et salvat.“ Cf. Pr. 2 (DW I, 39 sqq.). Cf. nt. 23. Cf. Pr. 36b (DW II, 202). Cf. Pr. 71 (DW III, 215, 9-10): „Über die vernünfticheit, diu daˆ suochende ist, soˆ ist ein ander vernünfticheit, diu daˆ niht ensuochet, diu daˆ staˆt in irm luˆtern einvaltigen wesene.“ Cf. Pr. 73 (DW III, 261). Cf. Pr. 76 (DW III, 315-316).

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Wouter Goris

Dem gleichzeitigen Auftreten zweier einander wechselseitig ausschließender Aussagen: die Vernunft allein sei frei, und es gebe etwas in der Seele, das, weit über die Vernunft erhaben, allein frei sei, liegt demnach eine tiefere Regelmäßigkeit zugrunde: die doppelte Überschreitung von Gegebenheit, eine erste auf den Begriff hin, eine zweite über den Begriff hinaus. Nach dieser Regelmäßigkeit haben wir gesucht, nicht um einen vermeintlichen Widerspruch bei Eckhart zu beseitigen, sondern um etwas darüber sagen zu können, dass sich bei Scotus und Eckhart ein Jargon der Ausschließlichkeit ausbildet. Dem wenden wir uns zum Schluss zu. VII. Schluss Zwei Freiheitskonzepte, so haben wir gesehen, überkreuzen sich, durchschneiden ihre Bahnen und halten sich wechselseitig in der Schwebe - Selbstbestimmung gegenüber Unbestimmtheit. Nicht nur Scotus, sondern auch Eckhart ist, in einer gewissen Weise, dem Konzept der Freiheit als Selbstbestimmung verpflichtet. Die Flucht vor aller Fremdbestimmung mündet nicht, paradoxerweise, in eine Fremdbestimmung seitens Gottes, sondern sie eröffnet einen Bereich, wo es kein Gegenüber mehr gibt, wo alle Bestimmung Selbstbestimmung ist 39. Der Jargon der Ausschließlichkeit ernährt sich, wiewohl jeweils auf unterschiedliche Weise, von der Erfahrung der Gebundenheit des Erkennens. Als Schwierigkeit bereits bei Aristoteles fassbar, führt bei Thomas von Aquin und Gottfried von Fontaines die Beobachtung, dass sich im Erkennen Grundlegendes in der Weise der Natur verhält, nicht zu einer theoretischen Neubesinnung. Die Erfahrung der Gebundenheit des Erkennens überschreitet diese Schwelle. Scotus’ Unterscheidung von Natur und Willen reflektiert diese Erfahrung genauso effektiv wie Eckharts Überschreitung der Vernunft auf einen überbegrifflichen Bereich hin, auf etwas in der Seele, das selbst auch wiederum Vernunft heißen kann. Was den Thesen dieser Denker den exklusiven Anspruch verleiht, den Jargon der Ausschließlichkeit etabliert, ist nichts anderes, als dass sie das neue Freiheits39

Burkhard Mojsisch hat, mit Blick auf Texte wie z. B. die Predigt 52, von einer Theorie des ,Ich‘ bei Meister Eckhart gesprochen. Cf. B. Mojsisch, Meister Eckhart. Analogie, Univozität und Einheit, Hamburg 1983, bes. 118-120; id., Die Theorie des Ich in seiner Selbst- und Weltbegründung bei Meister Eckhart, in: Ch. We´nin (ed.), L’homme et son univers au moyen aˆge (Philosophes Me´die´vaux 26-27), Louvain-la-Neuve 1982, vol. 1, 267-272. Diese Theorie beschreibt, wie ich ergänzend zu zeigen versucht habe, die drei Momente des neuplatonischen Kreislaufmotivs: Verharren, Ausgang und Rückkehr. Das Ich, im Verharren identisch mit der Gottheit vor jeglicher Schöpfung und Rückkehr, bestimmt sich selbst zur Schöpfung von und zur Rückkehr zu sich selbst. Diese Freiheit ist die der Selbstbestimmung. Cf. W. Goris, Der Mensch im Kreislauf des Seins. Vom ,Neuplatonismus‘ zur ,Subjektivität‘ bei Meister Eckhart, in: Th. Kobusch e. a. (eds.), Selbst - Singularität - Subjektivität. Vom Neuplatonismus zum Deutschen Idealismus, Amsterdam-Philadelphia 2002, 185-201.

Die Freiheit des Denkens

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konzept der Selbstbestimmung nicht mit der Tätigkeit der Vernunft in Einklang gebracht haben. Tritt an die Stelle der Unbestimmtheit der Vernunft, die einst ihre Freiheit ausmachte, die Erfahrung der Gebundenheit des Erkennens und tritt an die Stelle der Freiheit als Unbestimmtheit ein Konzept der Freiheit als Selbstbestimmung, dann stehen, gleichsam als Ergebnis dieser zweifachen Verlagerung, Vernunft und Freiheit einander unversöhnt gegenüber. Bekanntlich ist man geneigt, Scotus’ Unterscheidung von Natur und Willen mit der kantischen von Natur und Freiheit in Beziehung zu setzen 40 - Kant wäre demnach einer mittelalterlichen Diskussion verhaftet geblieben. Vielleicht aber, es klang irgendwie schon an, lässt sich der Jargon der Ausschließlichkeit treffender von Hegels Logik her deuten. Die Ineinssetzung von Vernunft und Willen, von Freiheit und Notwendigkeit, von Vernunft und Verstand erlaubt es, die Tätigkeit der Vernunft als Selbstbestimmung zu denken, eine Selbstbestimmung, welche jene ursprüngliche Charakteristik des Begriffs, dass er auf Entgegengesetztes geht, aufgreift und ihm, durch gezielte Verflüssigung, gerade die Bestimmtheit nimmt. Freilich haben beide, die Emanzipierung des Willensbegriffs und die Dialektisierung der Vernunft, unter kritischer Distanznahme in unserer Zeit zu der Auffassung geführt, dass in einem Begriff Gewalt steckt, dass sich im Denken eine ursprüngliche Gewalt verbirgt, die in der Gesellschaft ausgetragen wird. Diese Auffassung, so habe ich im vorliegenden Beitrag bewusst zu machen versucht, hat entschieden ältere Wurzeln - Wurzeln, die bis ins Mittelalter zurückreichen und welche die Wirkmacht der mittelalterlichen Auseinandersetzungen zeigen. Entgegen aller mehr oder weniger gratuiten Vernunftkritik ist jedoch zugleich festzuhalten - es scheint nunmehr fast vergessen zu sein -, dass der Begriff, der sich im Laufe der Geschichte als Träger und Rüstzeug der Totalität offenbart hat, einst selbst Träger der Hoffnung war, mittels des Denkens Freiheit zu bewirken, ja das Freiheitsmoment im Denken selbst ausmachte.

40

Cf. F. Inciarte, Natura ad unum - ratio ad opposita. Zur Transformation des Aristotelismus bei Duns Scotus, in: J. P. Beckmann e. a. (eds.), Philosophie im Mittelalter. Entwicklungslinien und Paradigmen, Hamburg 1987, 259-273.

Kontextualisierung als Interpretation. Gottesgeburt und speculatio im ,Paradisus anime intelligentis‘ Niklaus Largier (Berkeley) Nicht nur die Rezeption der Werke und des Denkens Meister Eckharts, sondern auch die Überlieferung seiner Werke ist von Anfang an geprägt durch Momente der Redaktion, der Interpretation, der Transformation und der Kritik. Dies verhält sich so bei Heinrich Seuse und Johannes Tauler, die beide Elemente aus Eckharts Denken einer interpretierenden Deutung unterziehen, wenn sie diese in ihr eigenes Werk aufnehmen und verteidigen. Es ist auch der Fall, wo etwa der Franziskaner Marquard von Lindau oder die Augustinereremiten Heinrich von Friemar, Jordan von Quedlinburg und Johannes Hiltalingen Texte Eckharts in ihre eigenen Werke einbauen und sich kritisch damit auseinandersetzen. Sie alle legen Zeugnis ab von einer Rezeption und einer Überlieferung Eckhart’scher Werke 1, die in Bewegung ist und die uns erlaubt, Einblicke zu gewinnen in Diskussionen, die Eckharts Denken ausgelöst hat. Ein herausragendes Beispiel solcher Rezeption ist die Predigtsammlung ,Paradisus anime intelligentis‘, die „innerhalb der mittelalterlichen Predigtliteratur nicht ihresgleichen“ 2 hat. Sie zeichnet sich nicht nur dadurch aus, dass der Kompilator ihr einen Titel gegeben und sie mit Predigttituli und einem Register versehen hat, sondern auch dadurch, dass sie Eckharts Denken auf programmatische Weise in einen Kontext mit Predigten anderer zeitgenössischer Theologen stellt 3. Ob die in zwei auf einer gemeinsamen Vorlage beruhenden Handschriften überlieferte Sammlung in Köln oder in Erfurt entstanden ist, bleibt umstritten. Auch ist nicht klar, ob wir von einer Entstehung während der Lebenszeit Eckharts oder kurz nach seinem Tod auszugehen haben. Wir wissen jedoch, 1

2 3

Cf. dazu jetzt die wichtige Studie von G. Steer, Die Schriften Meister Eckharts in den Handschriften des Mittelalters, in: H.-J. Schiewer/K. Stackmann (eds.), Die Präsenz des Mittelalters in seinen Handschriften. Ergebnisse der Berliner Tagung in der Staatsbibliothek zu Berlin Preußischer Kulturbesitz, 06.-08. April 2000, Tübingen 2002, 209-302 (mit ausführlichen Literaturangaben). Ibid., 259. Cf. N. Largier, Nachwort, in: Paradisus anime intelligentis (Paradis der fornuftigen sele). Aus der Oxforder Handschrift Cod. Laud. Misc. 479 nach E. Sievers’ Abschrift ed. v. Ph. Strauch, Berlin 1919; zweite Auflage ed. u. mit einem Nachw. versehen v. N. Largier u. G. Fournier (Deutsche Texte des Mittelalters 30), Hildesheim 1998, 171-188; K. Ruh, Geschichte der abendländischen Mystik, vol. 3: Die Mystik des deutschen Predigerordens und ihre Grundlegung durch die Hochscholastik, München 1996, 273-279 u. 389-414.

Kontextualisierung als Interpretation

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dass Nikolaus von Landau eine Version der Sammlung benutzt hat, als er den ersten Band seiner Sermones im Jahre 1341 fertigstellte. Mit dem Titel ,Paradisus anime intelligentis‘, ,Paradies der vernünftigen Seele‘, zielt der Redaktor dieser Sammlung wohl darauf, „ein Predigthandbuch für dominikanische Prediger zu schaffen, das nicht ein Buch der Erbauung, sondern ein Buch der Lehre sein will“ 4. Wenn man davon ausgehen will, dass damit nicht zuletzt auch die intellektuell äußerst anspruchsvolle Predigtweise Eckharts in der Volkssprache verteidigt werden sollte und dass wir hier vielleicht das Werk eines ,Eckhartisten‘ 5 vor uns haben, so dürfen wir uns vorstellen, dass die Sammlung während des Prozesses gegen Eckhart oder kurz nach seinem Tod entstanden ist. Fest steht auf jeden Fall, dass hier ein Teil des Predigtwerkes Eckharts der Lektüre zugänglich gemacht und in einen Kontext eingebettet wird, der dem Denken Eckharts in ganz bestimmter Weise Kontur verleiht und es gezielt einer Interpretation unterwirft. Dabei steht, wie ich zeigen werde, nicht nur die dominikanische Lehrmeinung im Vordergrund, dass sich die beatitudo der Seele prinzipiell durch vernünfticheit - also nicht durch die Liebe - erschließe, sondern auch der Gedanke, dass Einheit mit Gott in der Vernunft nur als Gottesgeburt in der Seele zu fassen sei. So vertritt die ,Paradisus‘-Sammlung eine dezidiert dominikanische Perspektive, die den Intellekt privilegiert und sich damit von franziskanischen Modellen absetzt. Dies ist keineswegs überraschend. Bemerkenswert ist jedoch die spezifische Orientierung dieser dominikanischen theologischen Sicht, und zwar insofern, als sie auf Predigten Meister Eckharts zurückgreift und diese instrumentell gebraucht, um gleichzeitig eine bestimmte Form der Dionysius-Rezeption zu propagieren. Eckharts Denken wird dabei durch kontextuelle Verknüpfungen eng an Pseudo-Dionysius herangeführt, während umgekehrt dem Denken des Pseudo-Areopagiten in konziser Form ein Profil verliehen wird, das sich von den gängigen franziskanischen Lesarten und der Interpretation in lateinischen und volkssprachlichen Texten franziskanischer Provenienz wesentlich unterscheidet, welche die dionysische Einungslehre generell im Blick auf die Betonung des affectus interpretieren. Bemerkenswert ist dabei weiter, dass der ,Paradisus‘ auf diesem Wege einen an Dionysius orientierten Begriff der Gottesgeburt und eine ,Einheitsmetaphysik‘ entwickelt, die ein Denkmodell vorwegnimmt, das uns später bei Nikolaus von Kues wieder begeg4 5

Steer, Die Schriften (nt. 1), 259. Cf. L. Sturlese, Die Kölner Eckhartisten. Das Studium generale der deutschen Dominikaner und die Verurteilung der Thesen Meister Eckharts, in: A. Zimmermann (ed.), Die Kölner Universität im Mittelalter (Miscellanea Mediaevalia 20), Berlin-New York 1989, 192-211; cf. N. Largier, Die ,deutsche Dominikanerschule‘. Zur Problematik eines historiographischen Konzepts, in: J. A. Aertsen/A. Speer (eds.), Geistesleben im 13. Jahrhundert (Miscellanea Mediaevalia 27), Berlin-New York 2000, 202-213; id., Von Hadewijch, Mechthild und Dietrich zu Eckhart und Seuse? Zur Historiographie der ,deutschen Mystik‘ und der ,deutschen Dominikanerschule‘, in: W. Haug/W. Schneider-Lastin (eds.), Deutsche Mystik im abendländischen Zusammenhang. Neu erschlossene Texte, neue methodische Ansätze, neue theoretische Konzepte. Kolloquium Kloster Fischingen 1998, Tübingen 2000, 93-117.

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Niklaus Largier

nen wird. Wenn wir so wollen, können wir deshalb von einem ,dionysischen‘ Eckhartisten sprechen, der im Hintergrund dieser Kompilation steht und der Eckharts Predigten einer deutenden Kontextualisierung unterwirft, die nicht primär von Eckharts ,eigenem‘ Denken zeugt, sondern von einer zeitgenössischen Eckhart-Deutung. Ob wir angesichts der Engführung, die ein Kernmotiv im Denken des Thüringer Dominikaners mit einer spezifischen Dionysius-Rezeption verbindet, von einer Strategie sprechen dürfen, mit der Eckhart einem ,orthodoxen‘ Modell verpflichtet wird, vermag ich an dieser Stelle nicht zu entscheiden. Dennoch scheint es mir wahrscheinlich, dass durch die kontextualisierende Interpretation des Motives der Gottesgeburt im ,Paradisus‘ nicht primär die dominikanische Lehre von der vernünfticheit gegen die franziskanische Position verteidigt, sondern Eckharts Philosophie der Gottesgeburt im Intellekt spezifisch interpretiert und durch den Rekurs auf Augustinus und eine dominikanische Dionysius-Rezeption theologisch rehabilitiert werden soll. Was ich im Folgenden zu zeigen versuche, soll diese doppelte Perspektive reflektieren, unter der die Eckhart-Rezeption durch die Dionysius-Rezeption definiert und gleichzeitig eine bestimmte Dionysius-Lektüre privilegiert wird. I. Da ich bereits an anderer Stelle versucht habe, die ,Paradisus‘-Sammlung als kohärenten theologischen und philosophischen Entwurf darzustellen 6, werde ich mich hier auf das Motiv der Gottesgeburt in der Seele beschränken, das die Predigten des ,Paradisus‘ durchzieht. Die Predigt Meister Eckharts, die an den Anfang der liturgisch geordneten Sammlung gestellt ist, markiert einen Ausgangspunkt, der durch die Gegenüberstellung von regio dissimilitudinis und regio beatitudinis charakterisiert ist. Damit wird im expliziten Bezug auf ,Confessiones‘, Buch VII, 10, 16, eine augustinische Perspektive gewählt, die als Rahmen für den Gedankengang der Predigt dient, der in den Feststellungen gipfelt: „di allir groiste selekeit ist daz daz Got geborin und geoffenbarit wirt in der sele an einer geistlichen einnunge. da fon wirdit der mensche seliger dan der lip unsis herrin Ihesu Christi one sine sele und one sine gotheit, wan ein iclich heilege sele ist edelir wan der totliche lip unsis herrin Ihesu Christi. Di innewendige geburt Godis an der sele ist ein follinbrengunge allir ire selikeit, und di selikeit frumit ir me dan daz unsir herre mensche wart in unsir frowin sente Merien […]. waz Got ie geworchte oder geteit durch den menschin, daz inhulfin nicht alse umme eine bonen, her inworde forenit mit Gode an einer geistlichin foreinunge, da Got geborin wirdit in der sele und di sele geborin wirdet in Gode, und hirumme hait Got alle sine werc geworcht. daz uns daz gesche, des helfe uns Got.“ 7 6

7

Cf. Largier, Nachwort (nt. 3); cf. außerdem N. Largier, Vernunft und Seligkeit. Das theologische und philosophische Programm des ,Paradisus anime intelligentis‘ (im Druck). Ich übernehme hier einige meiner Überlegungen aus diesen Arbeiten. Paradisus (nt. 3), 9, 7-17.

Kontextualisierung als Interpretation

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Mit anderen Worten, die Überwindung der Entfremdung und des ,Jammers‘ der regio dissimilitudinis vollzieht sich in der geistigen Geburt Gottes im Menschen, die nicht als historische Geburt des Gottessohnes zu sehen ist, sondern als gegenwärtiger geistiger Vollzug. Den einzigen Anhaltspunkt, wie dieser Vollzug zu verstehen ist, gibt die Predigt mit dem Satz: „du Godis son quam uf daz ertriche, der ein lutir spigil waz ane allin fleckin, der brach die ersten huden uf und brach die unschult und lutirkeit in mensliche nature uf daz ertriche. Salomon sprichit von Christo: ,her ist ein lutir spigil ane fleckin‘.“ 8 Dadurch, schließt der Prediger, „ist al mensliche nature selic wordin“ 9. Einung des Menschen mit Gott ist so als geistige Geburt bestimmt, die sich vollzieht, insofern der Mensch sich - wie Christus - zu Gott als ,reiner Spiegel‘ verhält. Es ist nun nicht bloß bemerkenswert, dass auch die anschließenden Predigten des ,Paradisus‘ die Gottesgeburt in der Seele thematisieren, sondern dass zunächst in den folgenden zwei Predigten der Bezug zu Augustinus ausgebaut, schließlich aber auf Dionysius hin geöffnet wird. Die Predigt 2 von Florentius von Utrecht erläutert im Rückblick auf Augustinus die Menschwerdung des Sohnes, die Predigt 3 von Hane dem Karmeliten zitiert Augustinus zunächst im Blick auf die Weise, wie Gott in der Seele durch die Liebe geboren wird: „sente Augustinus sprichit: ,wan die begerunge inphengit wirt mit der minne, so wirt Got geborin in der sele […]‘.“ 10 Diesen Gesichtspunkt, der die Einheit in der Liebe anspricht und mit dem Begehren nach der Überwindung der Entfremdung in der regio dissimilitudinis verbunden ist, verfolgt der Text jedoch nicht weiter. Das Interesse des Predigers gilt vielmehr im nächsten Schritt dem Motiv der ,Schau Gottes‘, für das ebenfalls Augustinus als Autorität angeführt wird. Doch ist auch dies nur ein weiterer Schritt innerhalb eines sechsgliedrigen Gedankengangs, der uns schließlich zurückführt zum Denkbild des ,reinen Spiegels‘ und damit zur eingangs von Eckhart vorgelegten Erläuterung der Gottesgeburt als geistiger Einung. Ich zitiere den entscheidenden Schlussabschnitt der Predigt: „Zu dem funften male so enigit Got die sele. wan dan cumit daz gotliche licht und nimit di formen der sele und zuhit si in di formen Godis und enigit und formit si also in Got daz si daz gotliche licht also durchschinen hait daz si sich itzunt nicht bekennit an irre naturlichin craft, mer si bekennit sich an dem gotlichen lichte. dissis ist ein glichnisse an der sunnen. alse si schinit uffe di dinc da si iren widerslac an hait, so nimit si di dinc di si irhebin mac, und zuhit si in sich. alse wir sehin an deme schine der sunnen, der da schinit in di luft und durchclerit di luft, daz si nicht schinet luft, mer si schinit alse ein schin der sunnen, also hait daz gotliche licht di sele durchschinen, daz si sich selbe nicht bekennit dan an deme gotlichen lichte […]. Zu dem seisten male holit Got die sele uber und nimit si an sich, also daz si daz gotliche licht alleine nicht durchschinet, mer si ist selbir ein gotlich licht. glichir wis alse der da neme einen cristallin oder einin berillum und hilde di in di sunnen, so forlorn si al ir gestaltnisse und worden glich deme lichte. Dyonisius: di engile sint ein durchschinic spigil gotlichis lichtis, di einen schowin in den anderen 8 9 10

Ibid., 8, 20-24. Ibid., 9, 3. Ibid., 12, 17-18.

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Niklaus Largier

daz gotliche licht. also sint di seligin sele durchschinen mit eime durchschinigin lichte, und daz selbe licht daz di einen durchschinet, daz durchschinit ouch die anderen.“ 11

Damit ist die Einung, die als Gottesgeburt in der Seele gefasst wird, nochmals auf das Bild des Spiegels bezogen. Dieser bildet das entscheidende Element, das die Logik der Geburt - die mit der folgenden Eckhart-Predigt als Geburt „in deme heubite der sele, daz ist in vornuftikeit “ 12 zu verstehen ist - auf eine spezifische Form der Entfaltung des Intellektes bezieht und damit erkenntnistheoretisch, nicht ontologisch definiert. Der Intellekt geht in der Spiegelung seines eigenen Ursprunges als dieser selbe Ursprung, damit als ,Sohn‘, aus Gott hervor. Als reiner Spiegel ist er Bild seines eigenen Hervorgehens, und zwar als ,Licht‘, das eins ist mit dem Ursprung, aus dem es hervorgeht. Die Verbindung der Denkmotive in diesen Predigten, die ich hier als bewusst inszenierte Abfolge skizziere, ist äußerst komplex, doch darf zweifellos davon ausgegangen werden, dass ein mittelalterlicher, theologisch geschulter Leser sie durchschaut und sich wohl auch über die intellektuelle Ambition gefreut haben wird. Er wird sich dessen bewusst gewesen sein, dass Augustinus vor der besagten Stelle der ,Confessiones‘, auf die sich Eckhart bezieht, vom göttlichen Licht im Inneren des Menschen gesprochen hat, das hier nun mithilfe eines dionysischen Modells erläutert wird. Zudem wird er die Verbindung des Begehrensund Unbeflecktheitsmotives aus Cant. 5, 2 mit (Pseudo-)Augustinus auf der einen Seite (Gottesgeburt in der Liebe) 13, Dionysius auf der anderen Seite (Einung in der Spiegelung) als eine kontextuelle Einbettung verstanden haben, die Eckharts Überlegungen zum Begehren nach der Einung mit Gott in den ,Paradisus‘-Predigten 1 und 4 ein spezifisches Profil verleiht. Und nicht zuletzt wird er gesehen haben, dass durch die Reihe der Predigten, die sich alle mit der Gottesgeburt beschäftigen, nicht verschiedene Modelle des Verständnisses der Inkarnation vorgeführt werden, sondern ein einheitliches Paradigma der Lehre von der Gottesgeburt im Intellekt entworfen wird, das die ontotheologische zugunsten der intellekttheoretisch-gnoseologischen Perspektive ausblendet. II. Im Zentrum dieses kontextuell entfalteten Deutungsparadigmas steht das Motiv des Spiegels 14, das die ,Paradisus‘-Predigten als ein Leitmotiv durchzieht und 11

12 13

14

Ibid., 13, 17-36. - Man vergleiche die unten angeführte Dionysius-Rezeption Marquards von Lindau mit dieser Stelle. Ibid., 14, 20. Es handelt sich um eine des Öfteren zitierte, nicht identifizierte pseudo-augustinische Stelle. H. Rahner (Die Lehre der Kirchenväter von der Geburt Christi aus dem Herzen der Kirche und der Gläubigen, in: id., Symbole der Kirche, Salzburg 1964, 13-87), „möchte […] die Herkunft aus einer Schrift der Bernhardinischen Mystik annehmen“ (85, nt. 18). Für die Quellen dieses Theologumenons vergleiche diese Studie, daneben Ruh, Geschichte (nt. 3), 327-330, und A. M. Haas, Gottleiden - Gottlieben, Frankfurt a. M. 1989, 241-263. Zum Motiv des Spiegels siehe jetzt: J. F. Hamburger, Speculations on Speculation. Vision and Perception in the Theory and Practice of Mystical Devotion, in: Haug/Schneider-Lastin (eds.),

Kontextualisierung als Interpretation

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das auf Salomon, Sap. 7, 26-27, und auf Dionysius bezogen wird. So schreibt Johannes Franke in der Predigt 7 des ,Paradisus‘: „Salomon sprichit: ,der son ist ein bilde der gotlichen gude und ein spigil one fleckin und ein lutir schin siner clarheit und ein schone candor des ewigin lichtis.‘ in di formen des ewigin lichtes sal sich druckin di edele sele, also daz si sich stelle in eine suze guit zuphlichtikeit, di gar one erge sıˆ. in den spigil sal si sehin mit geistlichin ougin, da si findit reine lutirkeit one missewende, noch der si sich richten sal. ez muiz gar luˆtir sin da sich der gotliche schin inwerfin sal und sal durchflizin und durchluchten der sele fornuftikeit und reinigen von allime dinstirnisse der duplichin valscheit und sezin in di clarheit der ewigin warheit: also wirdit der mensche glich geformit noch dem bilde Godis sone. daz glichnisse daz wir habin mit Godis sone, da fone wir Godis sone heizin, daz ist an der geburt; wan alse her ewicliche Got uze Gode geborin ist, daz wort daz die warheit ist: also si wir geistliche uz Gode geborin in deme worte der worheit.“ 15

Die Verbindung, die hier hergestellt wird zwischen den Motiven der Güte Gottes, der Lauterkeit des Spiegels, der Reinheit Christi, des göttlichen Lichtes, der Reinigung der Seele und der Gottesgeburt in der Seele verweist auf Dionysius und auf seine Theorie der Reinigung, Kontemplation und Einung 16. Dabei spielt, obschon dies oft übersehen wird, auch bei Dionysius das Konzept der Gottesgeburt in der Seele eine Rolle. Zu erwähnen sind in diesem Zusammenhang vor allem die folgenden Stellen: ,De coelesti hierarchia‘ I, 2; I, 3 und III, 2 sowie ,De ecclesiastica hierarchia‘ II, 2, 1; II, 3, 1 und III, 3, 10. Hier finden sich die genannten Motive, auf die sich die ,Paradisus‘-Predigten beziehen, wenn sie Christus als reinen Spiegel verstehen, dem der Mensch gleich werden soll, um so in die ursprüngliche Einheit zurückzukehren. Der Gedanke der Vergöttlichung des Menschen, der - wie gezeigt - explizit auch an Augustinus anschließt 17, wird damit eingebettet in das dionysische Konzept der Henosis und der hierarchischen Ausfaltung und Rückführung in Gott 18. In der dabei notwendigen Applikation der negativen Theologie auch auf den Intellekt verliert dieser alle naturhafte Determiniertheit und Vermitteltheit 19 und wird eins mit Gott 20. Auch der Begriff des Friedens, über den Eckhart handelt und der für das Einheitsverständnis des ,Paradisus‘ wichtig ist 21, verweist auf Dionysius (,De

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20 21

Deutsche Mystik (nt. 5), 353-408; N. Largier, Spiegelungen. Fragmente einer Geschichte der Spekulation, in: Germanistik, N. F. 3 (1999), 618-636. Paradisus (nt. 3), 22, 12-22. Ibid.; ebenso oder ähnlich: Eckhart: 8, 21-24; 27, 1-4; 76, 12-18; 85, 18-26; 130, 6-16. Hane: 13, 33 sqq.; 66, 14 sqq. Franke: 18, 35 sq. Eckhart Rube: 23, 30-24, 5. Erbe: 28, 26-34. Helwig von Germar: 97, 8-13. Florentius: 135, 4-12; 136, 24-30; 138, 21. - Cf. zudem: 64, 21-29; 68, 3-23. Cf. neben den bereits zitierten Stellen auch: ibid., 16, 20-25; 81, 5 sq.; 85, 11 sqq. Cf. ibid., Franke: Pr. 5. Eckhart: 38, 1-8; 50, 6-34; 110, 5-15. Giselher: 91, 28-37. Cf. ibid., Eckhart: Pr. 4, und Hermann, Pr. 13, doch zieht sich die negative Theologie mit diesem Schwerpunkt durch eine Reihe von Predigten. Ibid., Hane: Pr. 3 und 30. Eckhart: 51, 25-29; 110, 5-15; 128, 6-19. Franke: 46, 1-31. Cf. ibid., 37, 1-15; 47, 1-11; 128, 29 sqq. Rube: 71, 26.

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divinis nominibus‘ XI). Friede, Ruhe 22, Einfalt und Schweigen sind so die Voraussetzung einer mit Dionysius als Lauterkeit verstandenen Freiheit und Einheit 23, in der der Mensch - durch die Negativität und Bildlosigkeit gereinigt zum Spiegel des ursprünglichen Lichts wird und die Welt in diesem Licht sieht 24. Vor allem die ,Paradisus‘-Predigt 15, in der Eckhart sich im Anschluss an die Einführung des Begriffes des Friedens und der Stille wohl auch auf Alberts Kommentar zu Brief 8 und 9 des Dionysius bezieht, eröffnet hier den Blick auf die Albert und Eckhart verbindende spekulative und am Begriff des Intellektes orientierte Deutung des Ideals der humilitas, in der der Mensch die naturhaft vermittelte Positivität des Intellektes negiert und mit Gott eins wird 25. Damit ist die in der ersten Predigt der Sammlung thematisierte regio dissimilitudinis einem Begriff der beatitudo gegenübergestellt, der auf den Konzepten der Lauterkeit, der humilitas und der glicheit des Menschen mit Gott basiert. Diese Motive gehen in wesentlichen Zügen auf Dionysius zurück und ihnen wird hier in einer durch Albert den Großen vermittelten Weise neu Form verliehen. Bemerkenswert ist dabei vor allem, dass wir in dieser Kontextualisierung der Predigten Eckharts und vor allem seines Konzeptes der Gottesgeburt auch einer bestimmten Interpretation dieses theologischen Komplexes begegnen. Dieser unterscheidet sich von den in der Forschung gängigen Thesen, in denen in der Regel als mögliche Quellen Eckharts „Origenes, Gregor von Nyssa, Maximus Confessor (den Eriugena dem Westen vermittelte), aber auch […] Ambrosius und Augustinus“ 26 genannt werden, nicht aber Dionysius. Diese Traditionsbezüge sind natürlich auch hier nicht auszuschließen, und vor allem Augustinus wird im ,Paradisus‘ mit Nachdruck als Autorität zitiert. Gleichzeitig führt der ,Paradisus‘ indes Eckharts Grundgedanken und sein Konzept der Gottesgeburt eng an Dionysius heran, ohne sich um die Quellen dieses Konzeptes bei Eckhart selbst weiter zu kümmern. Dabei geht es nicht nur um die apophatische Theologie, sondern um ein Modell, das diese mit der Lehre von der Gottesgeburt verbindet und sie zu erläutern vermag. Wo der Intellekt in der Negation seiner eigenen Vermittlungsleistung frei wird von aller kreaturhaften Bestimmtheit und Vermitteltheit, so die kürzestmögliche Darstellung dieses Modells, ist er nichts als ein reiner Spiegel, in dem sein eigenes Sein sich als Prozess der Rückkehr in 22 23 24

25

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Cf. ibid., Eckhart: Pr. 36. Cf. ibid., Eckhart: 129, 6 sqq. Zum Hintergrund: Dionysius, De divinis nominibus XII, 2. Cf. ibid., Eckhart: 121 sq.; 127 sq.; 130 sq. Zum Hintergrund siehe besonders Dionysius, De coelesti hierarchia III, 2 sq., wo die spezifische Verbindung des Läuterungs-, Licht- und Gnadenmotivs begegnet. Cf. R. van den Brandt, Die Eckhart-Predigten der Sammlung ,Paradisus anime intelligentis‘, in: M. J. F. M. Hoenen/A. de Libera (eds.), Albertus Magnus und der Albertismus. Deutsche philosophische Kultur des Mittelalters (Studien und Texte zur Geistesgeschichte des Mittelalters 48), Leiden-New York-Köln 1995, 172-187, hier: 181 sq.; A. de Libera, Albert le Grand et la philosophie, Paris 1990, 277-286. K. Ruh, Predigt 4, Omne datum optimum, in: G. Steer/L. Sturlese (eds.), Lectura Eckhardi I, Stuttgart-Berlin-Köln 1998, 1-23, hier: 18.

Kontextualisierung als Interpretation

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den Grund und als bildhaftes Hervorgehen aus dem Grund vollzieht. So ist die apophatische Theologie, wie schon bei Dionysius, letztlich spekulative Theorie des Intellekts und Verständnismodell der Inkarnation im Begriff des zum Spiegel gewordenen Intellekts.

III. Damit sind wir hier auch auf ein spekulatives Modell verwiesen, das Nikolaus von Kues weiterentwickeln und zur Grundlage seines Verständnisses der filiatio Dei machen wird. Der Kusaner, dessen Interesse an Optik, Visualität und Metaphern des Sehens bezeichnend ist 27, fasst die Inkarnation wie Eckhart - nach der Lesart des ,Paradisus‘ - als theosis, als deificatio, in der der Mensch qua Intellekt immer schon am Göttlichen teilhat. Auch hier ist das wichtigste Motiv, das zur Erläuterung beigezogen wird, der Spiegel und die Spiegelung: „Ein Gleichnis soll dir helfen. Ohne Zweifel ist dir nicht unbekannt, daß die Formen in geraden Spiegeln in gleicher Größe, in gekrümmten kleiner erscheinen. Stellen wir uns nun eine vollkommene Spiegelung unseres Ursprunges vor […], in der Gott selbst erscheint. Es sei der Spiegel der Wahrheit, ohne Flecken, unbegrenzt und vollkommen […]; alle Geschöpfe hingegen seien verschränkte und verschieden gekrümmte Spiegel. Unter ihnen sind die vernunfthaften Naturen die lebendigen, klaren und geraden Spiegel. Von diesen nimm an, da sie lebendig und vernunfthaft und frei sind, daß sie sich selbst krümmen, begradigen und reinigen können. Ich sage nun: der eine Spiegelglanz strahlt in diesen sämtlichen Spiegel-Reflexionen wider, und in der ersten ganz geraden Spiegelklarheit strahlen alle Spiegel so wider, wie sie sind. Das kann man bei wirklichen Spiegeln sehen, deren Vorderseiten im Kreis einander zugekehrt sind. In allen anderen, den verschränkten und gekrümmten, erscheinen sie nicht so, wie sie sind, sondern sie entsprechen der Art des empfangenden Spiegels, d. h. beeinträchtigt und verringert, weil der sie empfangende Spiegel nicht gerade ist. Hält man nun einen vernunfthaften, lebendigen Spiegel vor den ersten Spiegel der Wahrheit, in dem alles, so wie es ist, wahrhaft und fehlerlos widerstrahlt, dann strömt dieser Spiegel der Wahrheit mit allen andern Spiegeln, die er in sich aufgenommen hat, in den vernunfthaften, lebendigen Spiegel über, und dieser empfängt jeden Spiegelstrahl der Wahrheit, der die Wahrheit aller Spiegel in sich birgt. Er empfängt in dem einen wahren Augenblick der Ewigkeit jenen lebenden Spiegel, einem lebendigen Auge gleich, welches das widerscheinende Licht des ersten Spiegels empfängt. Er erschaut sich darum in diesem Spiegel der Wahrheit so, wie er ist, und er sieht in sich alles auf seine Weise. Je einfacher, absoluter, klarer, reiner, gerader, gerechter und wahrer er ist, desto lauterer, freudiger und wahrer sieht er die göttliche Herrlichkeit und alle Dinge in sich. In diesem ersten Spiegel der Wahrheit, der auch Wort, Logos oder Sohn Gottes genannt werden kann, erlangt der vernunfthafte Spiegel die Kind27

Cf. Ch. Kiening, ,Gradus visionis‘. Reflexion des Sehens in der Cusanischen Philosophie, in: Mitteilungen und Forschungsbeiträge der Cusanus-Gesellschaft 19 (1991), 243-272.

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schaft, durch die er alles in allem und alles in Gott und sein Königtum der Besitz Gottes und aller Dinge im Leben der Herrlichkeit ist.“ 28

Jedes Ding, betont Nikolaus denn auch, ist nur aus dieser Struktur der Spiegelung heraus wirklich zu verstehen, und der Intellekt, der das Ding in Ruhe betrachtet, wird in ihm unmittelbar auf den Ursprung zurückgeführt. So wird jedes Ding zu einem Punkt verschränkter, doch absoluter Intensität: „In der Mächtigkeit seiner [d. h. der göttlichen] Kraft ist alle Kraft der Himmel und alle Kraft der Dinge, die unter ihm sind, eingefaltet; darum ist jede Kraft, die in den Dingen ist, Ausfaltung der Kraft des vernunfthaften Geistes. So hat die Sinnenwelt in sinnenhafter Weise an derselben Kraft teil, an der die Vernunft auf vernunfthafte Weise partizipiert. Die absolute Kraft der vernunfthaften Welt verschränkt sich nämlich in verschiedenen Weisen der Teilhabe: himmlisch im Himmel, seelisch in den Seelen, lebendig im Lebendigen, pflanzlich in den Pflanzen, mineralisch in den Mineralien, usw. Wenn du darauf achtest, wirst du also in allem die absolute Kraft und ihre bestimmte Art finden.“ 29

Theosis, Teilhabe am Göttlichen, ist damit als eine spiegelnde Offenheit der Vernunft zu sehen, in der diese in sich die Ein- und Ausfaltung des Göttlichen - complicatio und explicatio - vollzieht. Basis und Grund dieses Vollzugs ist die speculatio, die Spiegelung, in der die Vernunft sich zunächst von aller Vermittlung und Selbstbestimmung befreit und rein rezeptiv zur Möglichkeit der Entfaltung aller Dinge wird. Nur als Spiegel all dieser Möglichkeiten bildet sie den Ort, wo alle Dinge in ihrer Entfaltung und gleichzeitig in ihrem absoluten Ursprung - das heißt in ihrer Unvermitteltheit - begriffen werden. Jedes Ding ist dann für die Vernunft ein Spiegel der absoluten Möglichkeit und Freiheit, die das Göttliche ist, und ihrer eigenen Partizipation am Absoluten. So schließt der Gesprächspartner im ,Dreiergespräch über das Können-Ist‘ (,Trialogus de possest‘) mit einer Ästhetik der Spiegelung, die gleichzeitig eine Ästhetik der Negation und absoluter Affirmation ist: „Aus diesem allen entnehme ich, daß die nach dem Nichtsein in einen Anfang gesetzte Welt deshalb auf Griechisch der schöne Kosmos genannt wird, weil sie von der unaussprechlichen ewigen Schönheit her ist, die vor dem Nichtsein ist […]. Was anderes also ist die Welt als des unsichtbaren Gottes Sichtbarwerden? Was anderes Gott als der sichtbaren Dinge Unsichtbarkeit […]? Die Welt enthüllt also ihren Schöpfer, auf daß er erkannt werde. Ja, der unerkennbare Gott zeigt sich der Welt im Spiegel und Rätselbild erkennbar, wie der Apostel treffend sagt: bei Gott gebe es nicht Ja und Nein, sondern nur das Ja.“ 30 28

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Nicolaus Cusanus, De filiatione dei 67, 1-16, in: id., Opera omnia, vol. 4: Opuscula, ed. P. Wilpert, Hamburg 1959, 49 sq.; dtsch. in: id., Philosophisch-theologische Schriften, ed. L. Gabriel, transl. D. Dupre´/W. Dupre´, Wien 1964-1967, vol. 2, 623-625. Ich habe die Übersetzung leicht modifiziert. Nicolaus Cusanus, De filiatione dei, 81, 1-10, ed. Wilpert (nt. 28), 58; ed. Gabriel (nt. 28), 635-637. Nicolaus Cusanus, Trialogus de possest. Dreiergespräch über das Können-Ist, ed. R. Steiger, Hamburg 31991, 89.

Kontextualisierung als Interpretation

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Bei Dionysius Areopagita und in der typologischen Deutung der Figur Marias und Christi durch Sap. 7, 26 ist das Motiv des Spiegels auf die Geburt bezogen. Die filiatio Dei wird - schon bei Dionysius Areopagita und im ,Paradisus‘, doch am eindringlichsten bei Nikolaus von Kues - als speculatio begriffen, als Spiegelung, aus der der Sohn hervorgeht. Das theologische Konzept der Inkarnation ist vollständig durch die Metapher der Spiegelung erläutert. Spiegelung bezeichnet das Moment, in dem alle Naturkausalität und Differenz als solche kollabiert und gleichzeitig in der Unmittelbarkeit des Blickes überschritten wird, in dem auch der Betrachtende aufgeht. Bildhaftes Hervorgehen und Wahrnehmung in Form der Spiegelung ist der Ort, an dem die Naturkausalität durch das Hervorgehen als Bild, damit auch die Natur durch die Freiheit abgelöst ist. Darin sieht sich die Welt denn auch, wie der Kusaner schreibt, nicht eigentlich im Spiegel reflektiert, sondern sie erkennt sich selbst als ,Darstellung‘ einer immer vorgängigen Wahrheit, deren strukturelle Vorgängigkeit - die durch die Applikation der negativen Theologie auf den Intellekt konstruiert wird - Bedingung der Möglichkeit von Freiheit ist. Nur im ,reinen Spiegel‘ wird so das Hervorgehen der Welt als etwas ihre eigene Ganzheit und Integrität immer schon Begründendes sichtbar. Oder, wie Cusanus schreibt: Der in den Spiegel Blickende glaubt zunächst, „die Gestalt, die er im Spiegel sieht, sei die Darstellung seiner eigenen Gestalt“. Doch „das Gegenteil davon ist wahr. Was er in jenem Spiegel der Ewigkeit sieht, ist nicht Darstellung, sondern die Wahrheit, deren Darstellung er, der Sehende, selbst ist“ 31. So wird in der Spiegelung - im Leben des zum Spiegel gewordenen Intellektes - greifbar, wie das Hervorgehen des Vielen aus dem Einen und wie der unmittelbare Rückbezug der Welt auf ihren göttlichen Grund zu verstehen ist. Gleichzeitig verschiebt sich das Verhältnis des Vielen zum Einen, erblickt doch im Spiegel jedes Ding sich selbst als das Eine, das ihm immer vorangeht und das nur im Blick in den Spiegel erscheint. Da zudem jedes andere Ding ein Spiegel ist, löst sich die Einheit im gleichen Maße auf, in dem sie sich konstituiert. Sie ist immer nur in der ,Reinheit‘ der Spiegelung, in der im befreiten, zur reinen Möglichkeit gewordenen Intellekt alles aus allem hervorgeht. Damit wird die negative Theologie zur Philosophie der Möglichkeit, insofern sie den Intellekt aller Bestimmtheit entledigt und ihn in seinem Grunde als ,reinen Spiegel‘ sieht, der alles zu werden vermag, aus dem alles in seiner Differenz hervorgeht und in dem alles in Einheit restituiert wird. IV. Doch kehren wir nochmals in die Zeit des ,Paradisus‘ zurück. Wie gesagt, ist die Dionysius-Rezeption des ,Paradisus‘ nicht nur als bestimmte Interpretation Eckharts zu lesen, sondern gleichzeitig als Votum für eine bestimmte Dionysius31

Nicolaus Cusanus, De visione dei XV, 63, ed. Wilpert (nt. 28), 317; ed. Gabriel (nt. 28), vol. 3, 161.

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Lektüre. Suchen wir nach einem Kontext, der uns die Bedeutung dieser Interpretation des Pseudo-Areopagiten verstehen lässt, können wir etwa auf das Predigtwerk Marquards von Lindau zurückgreifen, das Rüdiger Blumrich herausgegeben hat und für das „1389 als Entstehungsjahr in den Handschriften bezeugt“ 32 ist. Blumrich hat dabei auch gezeigt, dass Marquard mit den „verschiedenen Übersetzungen des ,Corpus Dionysiacum‘ bestens und aus erster Hand vertraut ist“ 33. Es ist zudem aufschlussreich zu sehen, dass „Marquards Werke […] von seinen Rezipienten in den Kontext der Werke Meister Eckharts, Johannes Taulers, Heinrich Seuses sowie der anonymen Literatur aus diesem Umkreis gestellt“ 34 werden. Dieser überlieferungsgeschichtliche Befund weist auf das Netz von Bezügen hin, in dem wir uns hier befinden. Marquard hat aus Eckhart, Tauler und Ruusbroec geschöpft. Er steht dem Autor des ,Buchs von der geistigen Armut‘ nahe. Er hat sich mit ihren Lehren auseinandergesetzt und dabei ein eigenes Werk geschaffen, dem man heute nicht mehr einfach alle Originalität absprechen kann. Er ist nicht bloß ein Kompilator, der sich vor allem für die morales expositiones interessiert, sondern ein Theologe, der durchaus auch eigenständige Positionen vertritt. Darauf hat neben Rüdiger Blumrich auch Georg Steer hingewiesen 35. Man kann diese Position mit Blumrich als „Explikation einer spirituellen Theologie“ 36 verstehen. Dass Marquards Werk im Überlieferungszusammenhang der oben genannten Autoren steht, zeigt zudem, dass er in diesem Kontext gelesen worden ist. Unter den von Marquard in seinem Predigtwerk namentlich am häufigsten zitierten Quellen nimmt Dionysius - nach Augustinus und Bernhard von Clairvaux - die dritte Stelle ein 37. Nigel Palmer merkt dazu an, dass der PseudoAreopagite hier „zum ersten Mal in solchem Umfang von einem deutschsprachigen Autor rezipiert“ 38 werde. Dasselbe lässt sich auch vom ,Paradisus‘ sagen 39, betont doch Kurt Ruh, dass es sich hier um die „erste volkssprachliche Schrift [handelt], die Dionysius als bedeutende spirituelle Autorität zitiert und auswertet“. Und Margot Schmidt schreibt in ähnlicher Weise über die um die Mitte des 14. Jahrhunderts entstandene alemannische Übertragung von ,De septem itineribus aeternitatis‘ (,Die siben strassen zu got‘) des Franziskaners Rudolf 32

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R. Blumrich, Marquard von Lindau. Deutsche Predigten. Untersuchungen und Edition (Texte und Textgeschichte 34), Tübingen 1994, 3*. R. Blumrich, Die deutschen Predigten Marquards von Lindau. Ein franziskanischer Beitrag zur Theologia mystica, in: Hoenen/de Libera (eds.), Albertus Magnus (nt. 25), 155-172, hier: 160 sq. Blumrich, Marquard von Lindau (nt. 32), 8*. Cf. G. Steer, Der Armutsgedanke der deutschen Mystiker bei Marquard von Lindau, in: Franziskanische Studien 60 (1978), 289-300. Blumrich, Marquard von Lindau (nt. 32), 56*. Cf. ibid., 60*. N. F. Palmer, Marquard von Lindau OFM, in: K. Ruh (ed.), Die deutsche Literatur des Mittelalters: Verfasserlexikon, vol. 6, Berlin-New York 21987, 81-126, hier: 124. Cf. K. Ruh, Dionysius Areopagita im deutschen Predigtwerk Meister Eckharts, in: Perspektiven der Philosophie. Neues Jahrbuch 13 (1987), 207-223, hier: 208; cf. id., Geschichte (nt. 3), 280290.

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von Biberach, dass hier „erstmalig größere Partien aus den Werken PseudoDionysius’“ 40 vorliegen. Was die drei Urteile belegen, ist vor allem, dass wir von einer intensiven Beschäftigung mit Dionysius ausgehen müssen, die auch in der Volkssprache ihren Ausdruck gefunden hat. Dies belegen auch der Text des ,Granum sinapis‘, der im Umfeld Eckharts entstanden sein wird, und der Kommentar dazu 41. Wir begegnen in der vergleichenden Konfrontation dieser Texte einem, ja dem entscheidenden Unterschied, der die verschiedenen Rezeptionslinien charakterisiert. Nach Marquard, der der franziskanischen Tradition folgt, die sich durch den Rekurs auf Thomas Gallus charakterisiert, ist Dionysius folgendermaßen zu verstehen. Ich zitiere aus der Predigt 30: „Die sechst schuol ist des hailgen gaistes, da huett die armen junger unsers herren sind ingefueret und aller warhait sind erfuellet. Dise hoh wirdig edel schuol ist allain behalten den demuetigen lutern gottlidenden menschen, die die aller hertesten, scharpfesten wege gegangen sind. In diser schuol so lernet man nit denn ain wort, daz geschriben ist mit zwain buochstaben, die da sind Alpha und O, Apocalipsis primo, daz sprichet: ,Ich bin der anvang und daz end.‘ Und in diser schuol lernet man gesehen mit blinthait und bekennen mit unbekantnuest. In diser schuol lernet man daz hailig ewangelium sant Paulus, als er von im selber schribet: ,Ego enim non accepi ab homine. Ich han es von kainem menschen genomen.‘ Und in diser schuol waz Jerotheus, von dem sant Dyonisius schribet. Und von der kunst diser schuol so sprichet sant Dyonisius: ,Hanc autem irracionalem stultam et amentem sapienciam etc.‘ Daz sprichet: ,Die unbeschaiden torocht unvernuenftig wisshait lobend wir ueber wesenlich und sprechend, daz si ist aller vernunft, beschaidenhait und wishait sach, und in ir ist aller rat und bekantnuest, und alle schaecz der wishait und der kunst sind in ir beschlossen.‘ Und in dem buechlin ,De mistica theologya‘ verbuetet er sinem fru´nd, daz er luog, daz nieman ungelerter da von hoer sagen. Und die haisset er ungelert, die da noch hafftend an den dingen, die da sind. Du merkest hie bi wol, wie gar geluetret edel menschen es muossend sin, die in disi schuol hoerend, wan in der schuol ist weder lieht noch vernunft, noch gedank, noch red, noch wirt gesuochet weder gnad noch glory. Wan vernunft und all kreft sind da beroubet irs werkes und in ainer stilli aines unwissends umb sich und umb aellu´ ding, als sant Dyonisius sprichet, mer allain der spicz der minnenden kraft suochet ainikait mit got. Und in dem spicz der minnenden kraft wirt got gelobt ueber wesenlich mit der ueber wallenden minn, die da besoeffet wu´rken aller ander kreft und blosslich 40

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Rudolf von Biberach, Die siben strassen zu got. Die hochalemannische Übertragung nach der Handschrift Einsiedeln 278, ed. M. Schmidt (Spicilegium Bonavent