‚Nationes‘-Begriffe im mittelalterlichen Musikschrifttum: Politische und regionale Gemeinschaftsnamen in musikbezogenen Quellen, 800-1400 9783110431407, 9783110440218

Musical publishing in the Middle Ages is replete with terms relating to gentes or nationes, thereby indicating the inter

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‚Nationes‘-Begriffe im mittelalterlichen Musikschrifttum: Politische und regionale Gemeinschaftsnamen in musikbezogenen Quellen, 800-1400
 9783110431407, 9783110440218

Table of contents :
Vorwort
Inhalt
Einleitung
1 Bezug auf Sprachgemeinschaften
1.1 Der Graecus bei Aurelianus Reomensis: ein byzantinischer Griechischlehrer im Westen?
1.2 Zu den Griechischkenntnissen in St. Gallen um 900: die ellinici fratres bei Notker Balbulus
1.3 Die sprachgeschichtliche Bedeutung der Alemanni bei Notker Balbulus und ihre Umdeutung in der späteren Rezeption
1.4 Das Nordfranzösische und seine Sprecher im 13. und frühen 14. Jahrhundert: Gallici im Tractatulus de musica, bei Anonymus IV und Johannes de Grocheio
2 Kulturaustausch zwischen Byzanz und lateinischem Westen
2.1 Übernahme byzantinischer Kirchentöne: Graeci bei Aurelianus Reomensis sowie Autoren des 11. Jahrhunderts
2.2 Byzantinische Orgelschenkungen: Graeci in den Quatuor principalia
3 Beschreibung gemeinschaftsspezifischer Praktiken
3.1 Choral
3.1.1 Die „mos … veteranorum cantorum“ des Aurelianus Reomensis und die Stellung der gallikanischen Liturgie im Westfrankenreich des späten 9. Jahrhunderts
3.1.2 Politische Unifikationsbestrebungen im Konflikt mit der Wahrung lokaler Tradition: Gallia tota im Gedicht „Olim romulea“ (Montecassino 318)
3.1.3 Choraldialekte der Teutonici, Itali und Romani nach Theoger von Metz
3.1.4 Teutonici bevorzugen Sprünge, Langobardi stufenweise Melodik (Aribos De musica)
3.1.5 „Habitus“ und musikalische Spezifik regionaler Gemeinschaften: Hispani, Latini, Teutonici und Galli bei Guido von Arezzo und seinen Rezipienten
3.1.6 Zur „englischen“ Prägung des Tonale secundum usum ecclesiarum Anglie et Francie des Amerus / Alvredus
3.2 Verschiedene Bezüge
3.2.1 Transalpiner Kulturaustausch? Das Organum im Quintabstand bei den Itali und Suevi nach dem Anonymus codicis Pragensis
3.2.2 Die geografische Verbreitung der Memoriersilben Ut, Re, Mi, Fa, Sol, La: Angli, Francigenae, Alemanni und Itali bei Johannes dictus Cotto sive Affligemensis
3.2.3 Der Begriff Normannia bei Johannes de Grocheio
3.3 Mensuralmusik
3.3.1 Regionalspezifische Aspekte von Rhythmus und Notation nach Anonymus IV
3.3.1.1 Hispani
3.3.1.2 Angli
3.3.2 Die französische Praxis der „musica mensurabilis“ in Cathalonia
3.3.3 Rhythmische Neuerungen aus dem Königreich Navarra
3.3.4 „Nationes“-Begriffe als musiktheoretische Fachbegriffe: modus gallicus und aere italicus im frühen Trecento
4 Beurteilung gemeinschaftsspezifischer Praktiken
4.1 Unangemessene Lautstärke und undeutliche Artikulation im volkssprachlichen und heidnischen Gesang? Gothi, Teodisci, Uvinedi und Hebrei bei Remigius von Auxerre
4.2 Falsche und richtige, zulässige und unzulässige Texte in der Liturgie: Gallia(e) in Bernos Abhandlung De varia psalmorum atque cantuum modulatione
4.3 Hieronymus de Moravia über eine international erfolgreiche Gesangsmanier der Gallici
4.4 Gallici vs. „monaci“ bei Elias Salomo
4.5 Katzenmusik in der Kirche: Elias Salomo über den Verfall der geistlichen Musik
4.6 Elias Salomo und die Guidonische Hand bei den Provinciales sive Tolosani
4.7 Die Lombardi heulen wie die Wölfe
4.8 Musik der Heimat und Musik der Fremde: Galli, Germani und Teutonici bei Guido de Sancto Dionysio
4.9 Johannes Boens Schamesröte und die zweifelhaften Gesangskünste der Alemanni
5 Symbolisch-illustrative Verwendung von Gemeinschaftsbegriffen
5.1 Brittani in Ps.-Adalbolds Epistola cum tractatu de musica instrumentali humanaque ac mundana
5.2 Umgrenzung des „Heiligen Römischen Reiches“ in der Summa musice
6 Bezug zum weiteren historischen Kontext
6.1 Notker Balbulus, ein anonymer Flüchtling und die Verwüstungen der Nortmanni
6.2 Beispiele von politischer Instrumentalisierung? Apulienses und Calabri bei Guido von Arezzo und Guido de Sancto Dionysio
6.3 Aurelian und das italicum regnum in einer Handschrift um 1400
Abkürzungen
Quellen
Literatur
Handschriftenverzeichnis
Register

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Frank Hentschel (Hrsg.) ‚Nationes‘-Begriffe im mittelalterlichen Musikschrifttum

‚Nationes‘-Begriffe im mittelalterlichen Musikschrifttum Politische und regionale Gemeinschaftsnamen in musikbezogenen Quellen, 800–1400 Herausgegeben von Frank Hentschel

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG).

ISBN 978-3-11-044021-8 e-ISBN (PDF) 978-3-11-043140-7 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-043150-6 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2016 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Einbandabbildung: Londoner Psalterkarte. British Library Add. Ms. 28681 f. 9r / Wikimedia Commons / Public Domain Satz: Michael Peschke, Berlin Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

Vorwort Der vorliegende Band ist das Ergebnis eines über vier Jahre von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderten, in Gießen begonnenen und in Köln abgeschlossenen Forschungsunternehmens. Er versteht sich eher als eine gemeinschaftliche Monografie mehrerer Autoren denn als Sammelband. Gleichwohl wurden die einzelnen Abschnitte von je einem Autor / einer Autorin verfasst (mit der Ausnahme einer Doppelautorschaft). In der jeweiligen Akzentsetzung und Methodik schlägt sich dies unvermeidlicherweise nieder. Insgesamt aber war es unser Ziel, einen einheitlichen Text zum gesetzten Thema zu verfassen – kein Lexikon der Autoren bzw. Texte oder der „gentes“- / „nationes“-Begriffe. Doch ohne die Arbeitsteilung, die inhaltlich so gestaltet wurde, dass einzelnen Mitarbeitern bzw. Mitarbeiterinnen verwandte und nahe beieinander liegende Gemeinschaftsbegriffe zugeteilt wurden (z. B. Itali, Lombardi, Romani etc. oder Angli, Britani, Scoti etc.), wäre der Komplexität dieser Begriffe nicht Rechnung zu tragen gewesen. Hieraus ergab sich, dass bei Texten, die mehrere Gemeinschaftsbegriffe behandeln, ggf. einzelne Fußnoten oder auch einmal ein ganzer Absatz von einem anderen Autor (einer anderen Autorin) des Teams als dem (der) ausgewiesenen verfasst wurde. Die zunächst englisch verfassten Texte von Karen Desmond und Joseph Dyer habe ich selbst ins Deutsche übersetzt. Während der Laufzeit des Projekts haben wir eine ebenfalls von der DFG finanzierte Tagung durchgeführt, an der neben Musikwissenschaftlern und Musikwissenschaftlerinnen insbesondere auch Historiker und Historikerinnen teilnahmen. Der daraus hervorgegangene Band Nationes, Gentes und die Musik im Mittelalter ist 2014 ebenfalls bei de Gruyter erschienen; die beiden Bände gehören thematisch aufs Engste zusammen, und ihre Covergestaltung soll dieser Verwandtschaft Ausdruck verleihen. Doch während im Tagungsband ausgewählte Beispiele unterschiedlicher Herkunft, die bald enger, bald loser mit Musik zusammenhängen, aus interdisziplinärer Perspektive beleuchtet werden, widmet sich der vorliegende Band einem geschlossenen Textkorpus, das mit einem gewissen Vollständigkeitsanspruch untersucht wurde. Bei den – fast immer diffizilen – Interpretationen der Quellen waren stets wieder unterschiedliche Kompetenzen anderer Disziplinen erforderlich. Nicht selten haben wir daher Hilfe von Kollegen solcher Disziplinen, aber auch Kollegen des eigenen Fachs mit einer bestimmten Spezialisierung konsultieren müssen. Ihnen wird an den jeweiligen Stellen der Studie gedankt. Umfassend möchten wir an dieser Stelle der DFG für die Förderung des Projektes danken. Ohne sie hätte die Forschung nicht stattfinden können. Frank Hentschel, Köln im April 2016

Inhalt Vorwort  Einleitung 

 V  1

 7 1 Bezug auf Sprachgemeinschaften  1.1 Der Graecus bei Aurelianus Reomensis: ein byzantinischer Griechischlehrer im Westen? Marian Weiß   7 1.2 Zu den Griechischkenntnissen in St. Gallen um 900: die ellinici fratres bei Notker Balbulus Marian Weiß   11 1.3 Die sprachgeschichtliche Bedeutung der Alemanni bei Notker Balbulus und ihre Umdeutung in der späteren Rezeption Frank Hentschel   15 1.4 Das Nordfranzösische und seine Sprecher im 13. und frühen 14. Jahrhundert: Gallici im Tractatulus de musica, bei Anonymus IV und Johannes de Grocheio Marie Winkelmüller   22 2 2.1

2.2

 29 Kulturaustausch zwischen Byzanz und lateinischem Westen  Übernahme byzantinischer Kirchentöne: Graeci bei Aurelianus Reomensis sowie Autoren des 11. Jahrhunderts Frank Hentschel und Marian Weiß   29 Byzantinische Orgelschenkungen: Graeci in den Quatuor principalia Frank Hentschel   36

 39 3 Beschreibung gemeinschaftsspezifischer Praktiken  3.1 Choral   39 3.1.1 Die „mos … veteranorum cantorum“ des Aurelianus Reomensis und die Stellung der gallikanischen Liturgie im Westfrankenreich des späten 9. Jahrhunderts Marie Winkelmüller   40 3.1.2 Politische Unifikationsbestrebungen im Konflikt mit der Wahrung lokaler Tradition: Gallia tota im Gedicht „Olim romulea“ (Montecassino 318) Marie Winkelmüller   41

VIII 

 Inhalt

Choraldialekte der Teutonici, Itali und Romani nach Theoger von Metz Gunnar Wiegand   50 3.1.4 Teutonici bevorzugen Sprünge, Langobardi stufenweise Melodik (Aribos De musica) Gunnar Wiegand   51 3.1.5 „Habitus“ und musikalische Spezifik regionaler Gemeinschaften: Hispani, Latini, Teutonici und Galli bei Guido von Arezzo und seinen Rezipienten Frank Hentschel   63 3.1.6 Zur „englischen“ Prägung des Tonale secundum usum ecclesiarum Anglie et Francie des Amerus / Alvredus Karen Desmond   77 3.2 Verschiedene Bezüge   89 3.2.1 Transalpiner Kulturaustausch? Das Organum im Quintabstand bei den Itali und Suevi nach dem Anonymus codicis Pragensis Frank Hentschel   89 3.2.2 Die geografische Verbreitung der Memoriersilben Ut, Re, Mi, Fa, Sol, La: Angli, Francigenae, Alemanni und Itali bei Johannes dictus Cotto sive Affligemensis Frank Hentschel   93 3.2.3 Der Begriff Normannia bei Johannes de Grocheio Marian Weiß   103 3.3 Mensuralmusik   106 3.3.1 Regionalspezifische Aspekte von Rhythmus und Notation nach Anonymus IV   106 3.3.1.1 Hispani Silvia Böhnert   106 3.3.1.2 Angli Karen Desmond   117 3.3.2 Die französische Praxis der „musica mensurabilis“ in Cathalonia Silvia Böhnert   137 3.3.3 Rhythmische Neuerungen aus dem Königreich Navarra Silvia Böhnert   142 3.3.4 „Nationes“-Begriffe als musiktheoretische Fachbegriffe: modus gallicus und aere italicus im frühen Trecento Gunnar Wiegand   150 3.1.3

Inhalt 

 IX

 161 Beurteilung gemeinschaftsspezifischer Praktiken  Unangemessene Lautstärke und undeutliche Artikulation im volkssprachlichen und heidnischen Gesang? Gothi, Teodisci, Uvinedi und Hebrei bei Remigius von Auxerre Marian Weiß   161 4.2 Falsche und richtige, zulässige und unzulässige Texte in der Liturgie: Gallia(e) in Bernos Abhandlung De varia psalmorum atque cantuum modulatione Marie Winkelmüller   169 4.3 Hieronymus de Moravia über eine international erfolgreiche Gesangsmanier der Gallici Marie Winkelmüller   183 4.4 Gallici vs. „monaci“ bei Elias Salomo Joseph Dyer   185 4.5 Katzenmusik in der Kirche: Elias Salomo über den Verfall der geistlichen Musik Karen Desmond   197 4.6 Elias Salomo und die Guidonische Hand bei den Provinciales sive Tolosani Marie Winkelmüller   204 4.7 Die Lombardi heulen wie die Wölfe Gunnar Wiegand   209 4.8 Musik der Heimat und Musik der Fremde: Galli, Germani und Teutonici bei Guido de Sancto Dionysio Frank Hentschel   225 4.9 Johannes Boens Schamesröte und die zweifelhaften Gesangskünste der Alemanni Frank Hentschel   237

4 4.1

5 5.1

5.2

Symbolisch-illustrative Verwendung von Gemeinschaftsbegriffen   239 Brittani in Ps.-Adalbolds Epistola cum tractatu de musica instrumentali humanaque ac mundana Karen Desmond   239 Umgrenzung des „Heiligen Römischen Reiches“ in der Summa musice Marian Weiß   247

X  6 6.1

6.2

6.3

 Inhalt

Bezug zum weiteren historischen Kontext   256 Notker Balbulus, ein anonymer Flüchtling und die Verwüstungen der Nortmanni Marian Weiß   256 Beispiele von politischer Instrumentalisierung? Apulienses und Calabri bei Guido von Arezzo und Guido de Sancto Dionysio Gunnar Wiegand   261 Aurelian und das italicum regnum in einer Handschrift um 1400 Gunnar Wiegand   268

Abkürzungen  Quellen  Literatur 

 273

 274  279

Handschriftenverzeichnis  Register 

 309

 306

Einleitung Funktionen von Gemeinschaftsbegriffen im mittelalterlichen Musikschrifttum Das vorliegende Buch entstand aus der Einsicht heraus, dass die Unterscheidung zwischen Nationalismus als einer mit staatlichen Grenzen kongruierenden Form von Gemeinschaftskonstruktion und Identitätsbildung einerseits und einer von solchen Grenzen unabhängigen Form andererseits musikalisch kein Äquivalent besitzt. Musik, die zweifellos für ein Wir-Gefühl vereinnahmt werden kann, steht den konkreten kulturellen, politischen, gesellschaftlichen Koordinaten teilweise indifferent gegenüber. Die Art und Weise, wie Musik im Kontext von Identitätskonstruktionen wirkt und eingesetzt wird, ändert sich nicht, je nachdem welche Art von Gemeinschaft vorliegt. Die In- und Exklusionsmechanismen und die Wertstereotypen sind, soweit sie vorliegen, prinzipiell betrachtet, dieselben. In die Diskussion über „Nationalismus“ im Mittelalter schalten sich die gegenwärtigen Studien daher weniger ein. Auch wenn am Anfang der Forschungen die aus der Beschäftigung mit dem 19. Jahrhundert hervorgegangene Frage stand, warum im Musikschrifttum des Mittelalters so häufig „gentes“- und „nationes“-Begriffe begegnen, und mit ihr das Interesse verknüpft war herauszufinden, welche spezifischen Differenzen sich hinsichtlich der Nutzung von Musik für die Identitätsstiftung in Mittelalter bzw. Neuzeit benennen lassen, hat sich das Erkenntnisinteresse im Laufe der Untersuchungen modifiziert. Hauptsächlich ist es grundlegender geworden, indem es sich auf die beiden Fragen richtete, erstens welche realhistorischen Gemeinschaften hinter den „gentes“- und „nationes“-Begriffen von Autoren der mittelalterlichen Musiktheorie standen und zweitens welche Funktionen diesen Begriffen im Musikschrifttum zukamen. Zur zweiten Frage gehört auch der Versuch, die konkreten musikalischen Sachverhalte oder Vorgänge zu bestimmen, auf die sich jene Begriffe beziehen. Dabei richtete sich das Augenmerk lediglich auf Nennungen zeitgenössischer Gemeinschaften. Ausgeklammert wurden daher beispielsweise Quellen, in denen Graeci lediglich die antiken Griechen meinen, während sie ausgeleuchtet wurden, sofern hinter dem Begriff die Menschen von Byzanz standen. Ausgeklammert wurde ferner die Untersuchung sozial oder religiös fundierter Gemeinschaftsbegriffe, die im Musikschrifttum übrigens auch keine annähernd vergleichbar wichtige Rolle spielen. Ebenso wurden „gentes“ oder „nationes“, die als Namensbestandteil auftreten – etwa im Namen „Theobaldus Gallicus“ –, aus

2 

 Einleitung

den Studien ausgeschlossen,1 da sie keine Anbindung an die Inhalte der Schriften der entsprechenden Autoren aufweisen. Unberücksichtigt blieben schließlich auch Städte, die ebenfalls im Musikschrifttum sehr viel seltener auftauchen als „gentes“oder „nationes“-Begriffe, auch wenn insbesondere Paris seit dem 13. Jahrhundert eine Ausnahme bildet. Im Fokus befinden sich demgegenüber geografische Räume jenseits der Stadt – gleich, ob es politische, sprachliche oder andere kulturelle („ethnische“) Merkmale sind, die die Einheit der jeweiligen Gemeinschaft bestimmen. Dies ist in den meisten Fällen auch keineswegs eindeutig und bildet daher vielmehr einen zentralen Gegenstand der Studie. (In Bezug auf Städtenamen stellen sich vergleichbare Fragen – nach den geografischen oder politischen Umrissen bzw. nach den Kriterien ihrer Konstitution – demgegenüber viel weniger.) Zu den überraschenden Ergebnissen, die freilich keine Aussage über „gentes“ und „nationes“ im Mittelalter generell erlauben, sondern hier nur in Bezug auf das Musikschrifttum zu verstehen sind, gehört zum einen die Feststellung, dass diese Begriffe zumeist mit realhistorischen Umständen in Verbindung gebracht werden können, also nicht nur topisch, symbolisch oder illustrativ willkürlich eingesetzt wurden; und zum anderen gehört dazu der Befund, dass größer dimensionierte Gemeinschaftsbegriffe sehr viel verbreiteter waren als speziellere. Besonders deutlich ist das Beispiel der Germani, Teutonici bzw. Alemanni. Die Saxones, Baiovarii oder Thuringii etwa sind im Musikschrifttum nicht präsent. Einmal, bei Notker Balbulus, finden sich die Alemanni im Sinne der Sprecher des Alemannischen, und ebenfalls einmal tauchen die Suevi, in einer anonymen Quelle des 10. Jahrhundert, auf. Ansonsten meinen die Begriffe Germani, Teutonici und Alemanni eine große, sich geografisch weit erstreckende Gemeinschaft, deren konkrete Bestimmung daher nicht immer leicht fällt. Analoges gilt etwa für Itali oder Galli. Angesichts der in den Geschichtswissenschaften in den letzten De­­kaden berechtigterweise vorgenommenen Dekonstruktion nationalistisch mo­­ti­­vierter Rückprojektionen, denen die Entstehung der Nationalstaaten im 19. Jahrhundert als Ziel eines jahrhundertelangen Prozesses erschien, überrascht diese Beobachtung und wirft die Frage auf, wie diese Tatsache zu deuten ist. Ihre Beantwortung aber kann nicht – um diese Erwartung gar nicht erst aufkommen zu lassen – aus der hier eingenommenen Perspektive geleistet werden. Begriffe noch größerer Regionen oder Gemeinschaften spielen keine nennenswerte Rolle. Europa begegnet im Musikschrifttum zwischen 800 und 1400 zweimal, zum einen in einem Gedicht, das vermutlich im späten 8. oder im 9. Jahrhundert entstanden ist,2 zum anderen bei Guido de Sancto Dionysio (14. Jh.),3 dort aber inner1 Siehe aber Bent 2014 und Huglo 2014. 2 Siehe dazu unten Kapitel 3.1.2, S. 42 und 44. 3 GUIDO DION., pars I, cap. IV, S. 50.



Funktionen von Gemeinschaftsbegriffen im mittelalterlichen Musikschrifttum 

 3

halb eines Zitates, das der Vita Gregorii des Johannes Diaconus entnommen wurde und damit auf das spätere 9. Jahrhundert zurückgeht. In beiden Quellen geht es um die Vereinheitlichung des Chorals im Reich Karls des Großen. Der Begriff Europa dürfte dieses Reich bzw. seine Nachfolgereiche oder aber die Gebiete der rechtgläubigen Christen meinen.4 Die Termini „occidentalis“ und „orientalis“ kommen – sofern sie nicht nur Himmelsrichtungen bezeichnen – in dem von uns behandelten Zeitraum nur zwei- bzw. dreimal vor. Aurelianus Reomensis (9. Jh.) bezieht sich mit dem Begriff „occidentalis“ offenbar auf die Westkirche, wenn er schreibt: „Apud Latinos autem auctor eorum beatissimus extitit Ambrosius Mediolanensis antistis, a quo hunc morem suscepit omnis occidentalis ecclesia.“ In analogem (komplementärem) Sinne erwähnt Berno Augiensis die „ecclesiae orientis“.5 Engelbert von Admont (13. Jh.) nutzt das Adjektiv „orientalis“ einmal, um König Krösus näher als den reichsten aller „Orientalen“ zu bezeichnen.6 Und der anonyme Liber artis musice aus dem 13. oder 14. Jahrhundert schließlich konstruiert aus diesen beiden Begriffen, zusammen mit dem Begriff „mediterraneus“, eine Begriffstrias, die mit einem Klimamodell verknüpft wird.7 Der Aufbau des Buches richtet sich nach den unterschiedlichen Funktionen der Gemeinschaftsbegriffe. Denn es hat sich herausgestellt, dass sich die Verwendungsweisen von Gemeinschaftsbegriffen hinsichtlich ihrer Funktion tendenziell typologisieren lassen. Entsprechend ist das Buch gegliedert: Kapitel 1 erörtert Zeugnisse, in denen solche Begriffe auf die Sprache zielen. In Kapitel 2 werden die – wenigen – Zeugnisse verhandelt, die den kulturellen Austausch zwischen Byzanz und lateinischer Kirche thematisieren. Die Kapitel 3 bis 4 widmen sich Quellen, in denen Gemeinschaftsbegriffe im Zusammenhang mit der Beschreibung regional spezifischer musikalischer Praktiken, Bräuche und Gewohnheiten eingesetzt werden. Diese Quellen bilden naheliegenderweise die größte Textgruppe; ihre Interpretation ist auf zwei Kapitel verteilt, weil sich die Quellen aufgrund des signifikanten Kriteriums, ob sie wertneutral beschreibend oder wertend verfahren, auf zwei Untergruppen verteilen. In Kapitel 5 werden die – lediglich zwei – Quellen versammelt, die „gentes“ oder „nationes“ symbolisch verwenden; und Kapitel 6 behandelt Texte, in denen solche Begriffe ganz ohne Bezug zur Musik vorkommen und lediglich im Dienst einer zeithistorischen Referenz stehen. Die hier umrissene Gliederung stellt einen Kompromiss dar. Selbstverständlich gehen die behandelten Texte nicht in der Funktion auf, der sie jeweils zuge4 Vgl. Fischer 1957, S. 77–80 und 87. 5 De varia psalmorum atque cantuum modulatione, S. 93; zum offenbar synonymen Ausdruck graece ecclesiae siehe Kapitel 2.1. 6 ENGELB. ADM., tract. IV, cap. VIII, S. 303. 7 Siehe dazu unten Kapitel 4.8 (a) sowie vor allem Hirschmann 2014.

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 Einleitung

ordnet sind; und dies soll auch keinesfalls suggeriert werden. Vielmehr greifen innerhalb einer jeden Quelle in der Regel mehrere Funktionen ineinander, auch wenn sich in den meisten Fällen eine vorrangige Funktion ausmachen lässt. Die Gliederung soll ein Zweifaches gewährleisten: Zum einen soll die Relevanz der herausgearbeiteten Funktionen mit Beispielen belegt und illustriert werden; zum anderen sollen die Textinterpretationen nicht allzu sehr auseinandergerissen werden. Deshalb werden die Belegstellen weitgehend in Gänze behandelt, auch wenn unterschiedliche Passagen unterschiedlichen Funktionen hätten zugeordnet werden können. Das Register ermöglicht es Leserinnen und Lesern im Übrigen, sowohl „gentes“ und „nationes“ als auch Quellen nachzuschlagen. Einen Kompromiss stellt die Gliederung aber auch insofern dar, als die Kategorien, denen die Gliederung folgt, nicht alle auf derselben Ebene liegen. Sie sind bald abstrakter, bald konkreter. Insbesondere sticht Kapitel 2 (Kulturaustausch zwischen Byzanz und lateinischem Westen) in diesem Sinne hervor. Doch das Kapitel beispielsweise „Musikhistorische Einflüsse“ oder einfach „Kulturaustausch“ zu überschreiben, wäre deshalb irreführend gewesen, weil sich zu dieser Thematik eben nur jene Beispiele finden ließen, die sich auf Byzanz beziehen. Dies sollte durch die gewählte Kapitelüberschrift angedeutet werden, denn die Nähe der Überschriften zum historischen Quellenmaterial war uns wichtiger als seine konstruierte theoretische Konsistenz. Die Gliederung kann und will nicht verdecken, dass in dem vorliegenden Band der Versuch einer umfassenden Interpretation sämtlicher „gentes“- und „nationes“-Begriffe des mittelalterlichen Musikschrifttums nach einzelnen Quellen oder Quellengruppen unternommen wurde. Diese, und nicht ein theoretischer Überbau, stehen im Zentrum und besaßen daher Priorität bei der Gestaltung der Gliederung, die die behandelten „nationes“-Begriffe in Kategorien einteilt, aber keinen durchgehenden Argumentationsverlauf impliziert. Ziel des Buches ist es nicht, eine These zur Beziehung von Musik und Gemeinschaftsbegriffen, In- und Exklusionsmechanismen, Identitätsstiftung usw. zu entfalten, sondern die Bedeutung der je vorkommenden Gemeinschaftsbegriffe überhaupt erst einmal zu rekonstruieren und in Hinsicht auf die jeweilige Textstelle zu deuten. Breitet man die Fundstellen über Gemeinschaftsbegriffe im mittelalterlichen Musikschrifttum aus der Zeit von ca. 800 bis 1400 vor sich aus, so entsteht der Eindruck, die Verwendung von Gemeinschaftsbegriffen habe stetig zugenommen. Doch muss die Anzahl der Belegstellen zum Umfang des überlieferten Schrifttums in Relation gesetzt werden. Geschieht dies, so wird deutlich, dass es in Wirklichkeit keine signifikanten, am hier in den Fokus gerückten Quellenkorpus nachweisbaren, quantitativen Änderungen gegeben hat. Wohl lassen sich zwei Änderungen qualitativer Art demonstrieren:



Funktionen von Gemeinschaftsbegriffen im mittelalterlichen Musikschrifttum 

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1. Die wertende Beschreibung musikalischer Bräuche und Gewohnheiten lässt sich erst ab dem 13. Jahrhundert nachweisen. Die einzige Ausnahme, der Martianus-Kommentar des Remigius von Auxerre, fällt kaum ins Gewicht, weil es sich sowohl im Hinblick auf die Textsorte als auch den disziplinären Hintergrund – man kann die Quelle nicht dem Musikschrifttum in einem engeren Sinne zurechnen – um einen Sonderfall handelt. Auch der kommentierende Bezug auf einen antiken Autor begründet seine Außenseiterrolle. Die von Remigius wertend genannten „gentes“ kommen in den anderen Schriften dementsprechend auch gar nicht vor. 2. Die historisch-geografische Informiertheit eines Anonymus IV im späten 13. Jahrhundert, der fast soziologisch zu nennende Blickwinkel eines Johannes de Grocheio aus der Zeit um 1300, die psychologischen Überlegungen des vielleicht etwas jüngeren Traktates Guidos von Saint-Denis und die autobiografischen Einsprengsel in der Musica des Johannes Boen von 1357 zeugen von einem breiteren, vielleicht kulturwissenschaftlich zu nennenden Interesse, das bei früheren Autoren im Bereich des Musikschrifttums so offenbar nicht vorhanden war. Bei Anonymus IV, Guido von Saint-Denis und Johannes Boen schlägt sich dieses Interesse auch in Bezug auf die Erwähnung von Gemeinschaftsbegriffen nieder. Die Erforschung der Gemeinschaftsbegriffe im mittelalterlichen Musikschrifttum ist ein dezidiert interdisziplinäres Unterfangen, in dem insbesondere Musikund Geschichtswissenschaft, aber auch Liturgiewissenschaft und historische Sprachwissenschaft ineinandergreifen. Und während wir für die Musikwissenschaft geschichtswissenschaftliche Erkenntnisse fruchtbar zu machen versuchen, hoffen wir zugleich, Historikerinnen und Historikern ein Quellenkorpus vorzustellen, das gewöhnlich außerhalb ihres Fokus liegt. Dass dieses Korpus nicht sehr scharf zu definieren ist, liegt auf der Hand. Wir haben uns pragmatisch an die Textauswahl des Thesaurus Musicarum Latinarum gehalten;8 es wäre nicht möglich gewesen, musikbezogene Aussagen in anderen mittelalterlichen Quellen miteinzubeziehen, obwohl es sie selbstverständlich gibt. Ein berühmtes Beispiel ist der Streit über die Tradierung des römischen Gesangs durch die Galli und Germani, der zunächst von Johannes Diaconus und Notker Balbulus ausgetragen und sodann von zahlreichen weiteren Autoren aufgegriffen wurde.9 Ein anderes Beispiel findet sich im Codex Calixtinus, in dem berichtet wird, dass 8 Center for the History of Music Theory and Literature, Thesaurus Musicarum Latinarum: http:// www.chmtl.indiana.edu/tml/start.html; zuletzt eingesehen am 28. August 2015); Direktor: Giuliano Di Bacco (früher Thomas Mathiesen). 9 Siehe hierzu zuletzt Haug 2014.

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 Einleitung

die Pilger sich in der Kathedrale nach ihrer „natio“ aufstellten und unter Verwendung von Instrumenten, die sie aus ihrer Heimat mitgebracht hatten, geistliche Lieder sangen.10 Aber in Anbetracht der Komplexität jeder einzelnen Quelle und der uns zur Verfügung stehenden Zeit musste auf die Untersuchungen dieser Zeugnisse verzichtet werden. Ebenso mussten wir davon absehen, „gentes“- und „nationes“-Nennungen in Texten mittelalterlicher Vokalmusik zu behandeln (man wird dort durchaus fündig). Die Untersuchungen beschränken sich auf den Zeitraum zwischen 800 und 1400. In einigen Fällen mussten Fragen offen bleiben, aber wir hoffen, dieses bisher nie gezielt untersuchte, für die Frage nach dem Zusammenhang von Musik und Wir-Gefühl, die Geschichte von Musik und In- oder Exklusionsmechanismen aber zentrale Thema geöffnet und ein Fundament für weitere Forschungen gelegt zu haben. Der Umgang mit zahlreichen Originalzitaten, Übersetzungen und differierenden Orthografien erfordert ein paar Worte zur formalen Gestaltung: Lateinische Begriffe im Fließtext werden mit Anführungsstrichen gekennzeichnet, gleich ob sie sich als direktes Zitat verstehen oder ob sie ohne konkreten Bezug zu einer bestimmten Textstelle aufgegriffen werden. „Nationes“-Begriffe hingegen werden kursiv geschrieben (groß bei Substantiven, klein bei Adjektiven); bei zusammengesetzten Wendungen wie regnum Gallicorum übertragen wir diese Setzweise auf die gesamte Phrase.11 Für die Übersetzungen der lateinischen Zitate wird, sofern vorhanden, auf publizierte (oft auch englische) Vorlagen zurückgegriffen. Dies mag eine gewisse sprachliche Uneinheitlichkeit zur Folge haben, doch erfordern die Übertragungen in der Regel derart viele schwierige Entscheidungen, die zum Teil in längeren Fachdiskursen erörtert wurden, für unsere Fragestellung in einigen Fällen aber nicht einmal von Relevanz sind, dass es sinnvoller erschien, auf einschlägige Übersetzungen zurückzugreifen (in den Anmerkungen ergänzend herangezogene Zitate werden nicht grundsätzlich übersetzt). Die musiktheoretischen Quellen werden nach den Kürzeln des Lexicon musicum Latinum (LmL) zitiert, Handschriften nach den Siglen des Répertoire International des Sources Musicales (RISM), sofern sich unser Text nicht auf Abkürzungen aus der Forschungsliteratur bezieht.

10 Krüger 1964, S. 230. 11 In der Regel funktioniert diese Systematik gut, doch gibt es stellenweise Konstellationen, in denen sie zu ästhetisch unglücklichen, aber unvermeidbaren Zusammenstellungen führt, etwa wenn der in der Fachsprache etablierte Terminus technicus „Organum“ ohne Anführungsstriche neben dem zitierten lateinischen Begriff „organum“ mit Anführungsstrichen für „Orgel“ steht oder wenn die kursiv geschriebenen Galli auf die lediglich durch Anführungsstriche markierten „monaci“ treffen.

1 Bezug auf Sprachgemeinschaften Häufig beziehen sich die Gemeinschaftsbegriffe in erster Linie auf Sprachgemeinschaften. Zeugnisse aus dem mittelalterlichen Musikschrifttum, in denen diese Bedeutungsnuance eine wichtige Rolle spielt, beziehen sich auf Sprecher des Griechischen (1.1–2) und des Alemannischen (1.3). In der Zeit der „musica mensurabilis“ zitieren einige Theoretiker mehrstimmige Musik, deren Texte sie als altfranzösisch kennzeichnen (1.4).

1.1 Der Graecus bei Aurelianus Reomensis: ein byzantinischer Griechischlehrer im Westen? Marian Weiß Von den außerordentlich zahlreichen Belegen für den Begriff Graeci (usw.) werden im Folgenden all jene ausgeschlossen, die sich auf antike Gemeinschaften richten. Die übrigen Nennungen von Graeci verweisen auf Byzanz. Dies gilt auch für zahlreiche Stellen der möglicherweise im Bendektinerkloster Saint-Jean de Réôme in der Diözese Langres verfassten1 Musica disciplina Aurelians (Mitte 9. Jh.), der auf den Einfluss byzantinischer Traditionen auf Musik und Musiktheorie der lateinischen Kirche aufmerksam macht. Sofern sich Aurelian mit dem Terminus auf eine byzantinische Tradition der Musik oder Musiktheorie bezieht, wird dies im zweiten Kapitel behandelt – auch wenn diese Stellen den Kontext für den hier erörterten Passus darstellen, in dem von einem konkreten Grecus die Rede ist, den Aurelian nach der Bedeutung der Intonationsformeln Noeane etc. gefragt habe:2 Etenim quendam interrogavi Grecum: „In Latina quid interpretarentur lingua?“ Respondit se nihil interpretari sed esse apud eos letantis adverbia.3 In der Tat habe ich einen gewissen Grecus gefragt: „Was würde dies in lateinischer Sprache bedeuten?“ Er antwortete, dass es nichts bedeute, sondern ein Ausruf Freude empfindender Menschen sei.4

Mit der Person des anonymen Grecus führt Aurelian eine Person ein, die, kontextuell argumentiert, der griechischen Sprache in Autorität stiftender 1 Siehe Gushee 1999, Sp. 1188–1190, sowie die spätere Datierung nach Bernhard 1986, S. 60f., und Bellingham 2001, S. 185. 2 Vgl. Floros 2006, S. 306. 3 AURELIAN., cap. VIIII, S. 84. 4 Vgl. dazu auch Werner 1942, S. 93.

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 Bezug auf Sprachgemeinschaften

Weise mächtig sein muss. Im weiteren Verlauf des Kapitels führt dieser die Frage Aurelians weiter aus: Memoratus denique adiuncxit Grecus huiusmodi, inquiens: Nostra in lingua videntur habere consimilitudinem qualem arantes sive angarias minantes exprimere solent, excepto quod haec letantis tantummodo sit vox nihilque aliud exprimentis; estque tonorum in se continens modulationem.5 Nach kurzer Bedenkzeit antwortet der Grecus, dass es in unserer Sprache etwas ganz Ähnliches gäbe, nämlich in der Art und Weise, wie sich diejenigen, die das Feld beackern, oder diejenigen, die das Fronfuhrwerk antreiben, sich auszudrücken pflegen, abgesehen davon, dass es sich hierbei [sc. beim griechischen Ausdruck] allein um einen Ausdruck von Freude und von nichts anderem handle. Und er enthält in sich eine Anordnung von Tönen.

Diesen Aussagen ist zu entnehmen, dass Aurelian selbst der griechischen Sprache entweder vollkommen oder doch soweit ohnmächtig war, dass er die Bedeutung der griechischen Intonationsformeln nicht verstand und deswegen Übersetzungshilfe benötigte. Der Niederschrift dieser Textstelle scheint daher eine Bedürfnissituation vorausgegangenen zu sein, die es nicht als wahrscheinlich erscheinen lässt, dass sie bloß fiktiven oder topischen Charakter besitzt – zumal die inhaltliche Erläuterung des Griechen mindestens hinsichtlich der vokabularen Sinnlosigkeit der Intonationsformeln als richtig angesehen werden muss.6 Die Auswahl der Vokabeln „interrogavi“, „respondit“ und „adiuncxit“, mit denen Aurelian dieses Gespräch beschreibt, lässt freilich offen, ob es realiter stattfand oder ein Schriftgespräch per epistulas darstellte. Als gemeinsame Sprache („nostra lingua“) des Austausches schließlich muss das Lateinische angenommen werden, da Aurelian sich bereits selbst für ausreichend gutes Griechisch disqualifiziert hat oder zumindest die speziellen Fachausdrücke nicht kannte. Wen nun könnte Aurelian als Grecus bezeichnet haben? Auch wenn die Griechen im byzantinischen Reich, das eine „bedeutende Mannigfaltigkeit seiner Bevölkerung“ aufwies, die „Grundbevölkerung“ darstellten,7 wurde die griechische Sprache erst im Zuge der Verluste der Balkan-Halbinsel – und damit einhergehend mit dem parallelen Bedeutungsverlust des Lateinischen – zur Amtssprache des Reiches.8 Obwohl es auf Grund der vielen Völker und Sprachen des Reiches nicht konstitutiv für die Mehrheit seiner Bewohner war,9 etablierte sich 5 AURELIAN., cap. VIIII, S. 84. 6 Die „Sinnlosigkeit“ der Intonationssilben betonen auch Huglo 2000, S. 69, und Floros 2006, S. 286. 7 Beide Zitate in Angelov 1978, S. 3. 8 Charanis 1972, S. 102f. 9 Ebd., S. 116.

Der Graecus bei Aurelianus Reomensis 

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das Griechische dennoch als „the language of commerce, of education, of culture in general, and eventually of the state.“10 Die Selbstbezeichnung der Byzantiner als „Griechen“ bzw. „Hellenen“ ist bemerkenswerterweise jedoch erst in der Zeit des Verfalls im späten Mittelalter greifbar, da die offizielle Selbstbezeichnung aus programmatischen Motiven heraus stets „Römer“ blieb.11 Charakteristischerweise ist für die Fremdbezeichnung der Byzantiner durch den lateinischen Westen eine gegenteilige Entwicklung, ebenfalls aus programmatischen Motiven heraus, feststellbar: Wurde Byzanz vor der Kaiserkrönung Karls des Großen noch als imperium romanum betitelt, so wurde dieser Ehrentitel mit Erhalt der Kaiserwürde für das eigene, also das karolingische Reich beansprucht. Die Byzantiner wurden so zu „Griechen“ herabgestuft.12 Wenngleich das byzantinische Reich also „not an empire of Greeks“ war, so bleibt seine sprachliche Prägung, „predominantly greek“,13 für den Kontext der hier analysierten Textstellen der Musica disciplina bedeutend: Welchen Verbreitungsgrad hatte das Griechische im lateinischen Westen? Wie plausibel mutet es an, dass er einen Grecus getroffen hat? Anna Carlotta Dionisotti betont die Schwierigkeit des Reisens sowohl für Lateiner in den byzantinischen Raum – etwaige Reiseunternehmungen Aurelians sind nicht bekannt – als auch für Griechen in den lateinischen Raum14 und bezeichnet Wörterbücher und Grammatiken als plausibelste Möglichkeit zum Erlernen der griechischen Sprache.15 Zwar seien beispielsweise zur Zeit Pippins „one Greek grammar and a Greek work on orthography“ nach Frankreich geschickt worden,16 doch bleibe der Gesamtbestand sporadisch und schwer nachzuweisen.17 Da viele Lateiner zwar mehrere Sprachen, aber nur ein grammatikalisches System beherrscht hätten, seien nur wenige von ihnen der griechischen Sprache, Schrift, Grammatik und Orthografie wirklich mächtig gewesen.18 Walter Berschin ergänzt diesen Befund mit der Beobachtung, dass nur wenige dieser Schüler zu Übersetzungen des Griechischen fähig gewesen seien. Diese Beobachtung, die auch dadurch gestützt wird, dass griechische Bücher in den Bibliotheken westlicher Klöster eindeutig hinter bilingualen Texten zurücktreten,19 scheint eine weitere Bestätigung in Aurelians 10 Ebd., S. 107. 11 Ebd., S. 106f. 12 Ebd., S. 105f. 13 Ebd., S. 110. 14 Dionisotti 1988, S. 1f. 15 Ebd., S. 3. 16 Ebd., S. 25. 17 Ebd., S. 26; vgl. ebd. S. 3. 18 Ebd., S. 32f. 19 Berschin 1988, 95f.

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 Bezug auf Sprachgemeinschaften

Gespräch mit dem anonymen Grecus zu finden, da Aurelian von diesem dezidiert Übersetzungshilfe erfragt. So unklar also die genauen Fähigkeiten zum Griechischen im lateinischen Westen bleiben, so offensichtlich ist nach Berschin der Stellenwert des Griechischen in der Literatur,20 der jedoch zumeist nicht in der Überlieferung ganzer Werke, sondern einzelner griechischer Buchstaben oder Wörter sichtbar werde.21 Michael W. Herren konnte darüber hinaus feststellen, dass Elemente des nicht nur Literatur-, sondern sogar Vulgärgriechischen den lateinischen Schülern der griechischen Sprache bekannt waren.22 Seine plausible Schlussfolgerung, dass aufgrund der Konstanz des griechischen Schriftsystems diese vulgärgriechischen Elemente aus oralen Quellen stammen könnten,23 lässt an das zumindest vereinzelte Vorhandensein von Griechischlehrern im lateinischen Westen denken. Somit lässt sich im Hinblick auf den anonymen Grecus in der Musica disciplina rekapitulieren, dass die von Aurelian dargestellte Situation in ihrem narrativen Kontext tendenziell als nicht fiktiv sowie die daraus resultierenden Konsequenzen als tatsachenbedingt möglich gelten müssen: Entweder per epistulas oder sogar in einem Gespräch könnte ein byzantinischer Griechischlehrer Aurelian persönlich getroffen haben und mit ihm ein Gespräch über musiktheoretische und -praktische Inhalte geführt haben, denn der vorhandene Kontakt zwischen lateinischem Westen und griechischem Osten wird nicht nur auf politischer Ebene, sondern auch in der Übernahme musikalischer Elemente greifbar. Auch die Informationen der später zu analysierenden Textstellen können diese Vermutung stützen: Im Kontext der Einführung der vier neuen Tonarten weiß Aurelian nicht nur zu berichten, dass auch bei den Griechen diese neuen vier Töne eingeführt wurden, sondern kann sogar deren exakte Namen angeben. Auch die Erwähnung von Grece ecclesiae könnte dem Gespräch mit dem Grecus entstammen,24 wenngleich der hiesige Kontext allgemein gehalten ist und kein Detailwissen erfordert. Oskar Fleischers Annahme, dass aus der Erwähnung des Grecus doch wohl hervorgeht, dass Aurelian die Namen der Töne „nicht als von den Lateinern erfunden ansah“25, würde sich somit ebenso bestätigen wie Constantin Floros’ Schlussfolgerung, dass „der Westen den Anspruch der Byzantiner auf die Urheberschaft des Octoechos anerkannte.“26

20 Ebd., S. 93. 21 Ebd., S. 85. 22 Herren 1988, S. 77. 23 Ebd. 24 Siehe dazu unten Kap. 2.1. 25 Fleischer 1904, S. 41. 26 Floros 1970, S. 243; ebenso Floros 2006, S. 307.



Zu den Griechischkenntnissen in St. Gallen um 900 

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1.2 Zu den Griechischkenntnissen in St. Gallen um 900: die ellinici fratres bei Notker Balbulus Marian Weiß Notkers (ca. 840–912) Brief an „Lantbertus frater“ enthält in seinem Hauptteil, in dem die zur Vortragsanweisung genutzten „litterae significativae“ vollständig und in alphabetischer Ordnung erläutert werden,27 neben dem Begriff Alemanni auch den der ellinici fratres. Nur diese im zweiten Satz des Epilogs genannten ellinici fratres, deren Gruß Notker an den Empfänger des Briefes ausrichten lässt, sollen hier erörtert werden.28 Während der Hauptteil des Briefes in insgesamt elf greifbaren Handschriften breit überliefert ist,29 fällt die Überlieferungslage für Einleitung und Schluss dürftiger aus: Da die einleitende Anrede „Notker lantberto / landperto fratri salutem“ nur in zwei Handschriften überliefert ist,30 wurde teilweise an der Autorschaft des Notker Balbulus gezweifelt, die heute allerdings als gesichert angesehen wird.31 Und während der erste Satz des Epilogs noch in drei Handschriften greifbar ist, findet sich sein zweiter, den Brief insgesamt abschließender Satz lediglich in der Handschrift CH-SGs 381,32 die von Jacques Froger der Zeit um das Jahr 1000 und dem dortigen Kloster zugeordnet wird.33 Er weist folgenden Satzbeginn auf: „Salutant te ellinici fratres.“34 Notkers Brief an Lantbert, der vielfach abgedruckt und 1962 von Jacques Froger kritisch ediert wurde, weist in Musik- und Geschichtsforschung eine lebhafte Rezeption auf, womit auch die ellinici fratres – seit etwa zwei Jahrhunderten – im Fokus der Untersuchungen stehen. Drei konkurrierende Thesen wurden seitdem entwickelt und formuliert. Sie sollen im Folgenden kurz dargestellt, erläutert und kritisch geprüft werden, um sie anschließend gegeneinander abwägen zu können. Die erste These besagt, dass Notker mit seinen ellinici fratres diejenigen „hauseigenen“ Mönche Sankt Gallens betitelte, die – unabhängig von ihrer gentilen Herkunft – die besten Kenntnisse im Umgang mit der griechischen Schrift und Sprache aufwiesen. Sie wurde 1840 von Kenelm H. Digby formuliert: „In 27 Die hier erstmals vollständige Darstellung des Alphabetes betont Brunhölzl 1992, S. 559. 28 Siehe zu den Alemanni unten Kap. 1.3. 29 Froger 1962, S. 24–26. 30 Vgl. Froger 1962, S. 34. 31 Zum Verfasserdiskurs siehe Laistner 1957, S. 343, Anm. 3, Floros 1970, S. 250, sowie Berschin 1980, S. 191, Anm. 91. 32 Froger 1962, S. 41. 33 Ebd., S. 24. 34 NOTK. BALB., S. 70.

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 Bezug auf Sprachgemeinschaften

the nineth and tenth centuries the monks of St. Gall could understand, read and write the German, Latin, and Greek tongues. […] The most versed in Greek were termed the Greek Brothers – fratres ellenici.“35 Auch Ernst Dümmler und Gabriel Meier wollten 1859 bzw. 1885 die fratres ellinici als die Griechischkenntnisse besitzenden Mönche Sankt Gallens verstanden wissen.36 Sabine Baring-Gould folgte 1891 dieser Theorie und bemerkte, dass in Sankt Gallen an Hochfesten Kyrie, Gloria und Paternoster in griechischer Sprache gesungen wurden „so as to familiarise the monks and scholars with Greek. The best students in this tongue went by the title of fratres ellenici.“37 Stephan Beissel verstand 1906 die ellinici fratres als eine klar abgrenzbare Gruppe, denn „die des Griechischen kundigen Mönche bildeten den besonderen Verein der griechischen Brüder.“38 Joseph Smits van Waesberghe sah 1935 in den ellinici fratres diejenigen Mönche Sankt Gallens, die des Griechischen kundig waren.39 Für Max L. W. Laistner war zwar 1957 die Autorenfrage des Briefes an Lantbert – und damit die Präsenz der ellinici fratres in Sankt Gallen – unklar, doch betonte er ausdrücklich den defizitären Charakter der Griechischkenntnisse Notkers: Die nur knapp ein Duzend griechischen Worte in Notkers Œuvre zeugten ausschließlich „of some liturgical terms and perhaps a few conversational phrases derived from glossaries, Greek liturgical pieces in manuscripts or biblical comments.“40 Ihm folgend betonte Berschin, dass „es trotz mancher weiterer Spuren von Beschäftigung scheint, als hätten die Sankt Galler Mönche weder intensive grammatische Studien noch Übersetzungen im Sinn gehabt,“ so dass die „Sankt Gallischen Griechisch-Studien im ersten Überblick ziellos, wie ein ‚spielerischer Hellenismus‘, wirken.“41 Der Handschrift CH-SGs 381, die allein den Epilogsatz mit den ellinici fratres überliefert, komme dabei eine besondere Bedeutung zu, die in ihr nachweisbaren Autoren Notker und Hartmann seien die einzig greifbaren Namen aus dem Kreis der fratres ellinici.42 Auch Charles M. Atkinson und Klaus-Jürgen Sachs wollten 1982 zunächst unter den ellinici fratres diejenigen Mönche Sankt Gallens verstanden wissen, die „dem Griechischen zugetan waren, ohne die Sprache jedoch gründlich zu beherrschen.“43 Fehlerhafte Übersetzungen einiger Elemente der Missa Graeca wies Atkinson 1989 denjenigen Mönchen zu, „who were fond of Greek, but who 35 Digby 1840, S. 249. 36 Floros 1970, S. 251. 37 Baring-Gould 1891, S. 152. 38 Zit. nach Floros 1970, S. 252. 39 Ebd., S. 250 und 252. 40 Laistner 1957, S. 343. 41 Berschin 1980, S. 176f. 42 Ebd., S. 177. 43 Atkinson und Sachs 1982, S. 131, Anm. 34.



Zu den Griechischkenntnissen in St. Gallen um 900 

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probably not had formal training in the language – namely, the ellenici fratres mentioned by Notker Balbulus […].“44 Teilweise mit dieser These der gentilunabhängigen Sankt Galler Mönche verwoben ist eine andere Theorie, der zufolge Sankt Galler Mönche irischer Abstammung (und unter Umständen auch deren unmittelbare Schüler) als ellinici fratres zu verstehen sind. Ebenfalls ausgehend von den Griechischkenntnissen des Notker Balbulus betonte James M. Clark 1926 die Bedeutung dessen irischen Lehrers Moengal-Marcellus,45 dessen Wissen um die griechische Sprache weithin bekannt gewesen sei, dessen Umfeld somit die ellinici fratres zugeordnet werden müssten: „In short the fratres ellenici were the Irish monks of St Gall and their Swabian pupils.“46 Heinrich Brauer dagegen konstatierte ebenfalls 1926, dass „Notker unter denen [sc. ellinici fratres] jedenfalls Maongal und seine Begleiter versteht,“47 und anders als Clark wollte er den Begriff auf sie beschränkt wissen. Dieser engeren Begrenzung folgte Willi Schuh 1939, der ihn auf die dortigen „griechisch sprechenden Iren (wir wissen in der Tat, dass Marcellus sich mit einigen Genossen in Sankt Gallen niedergelassen hatte)“ anwandte.48 Berschin wies 1980 anhand von griechischen Vokabeln in Sankt Galler Handschriften auf deren Nähe zum „‚ornamentalen Griechisch‘ irischer und irisch beeinflußter Handschriften des 8. und frühen 9. Jahrhunderts [hin], die man in dem an ‚libris scottice scriptis‘ reichen St. Gallen sicher auch kannte.“49 Eine weitere Entsprechung finde sich beim „liturgischen Bilingualismus der Missa Graeca“, der „schulmäßige Griechischkenntnisse weder erfordert noch vermittelt, eigentlich nichts Fremdes, sondern nur das verfremdete Eigene darstellte. Darum scheint es den ellenici fratres von St. Gallen vor allem gegangen zu sein.“50 Somit evozierte Berschin wiederum den bereits von Clark erwähnten Konnex zwischen den unabhängig ihrer gentilen Herkunft „hauseigenen“ Mönchen und ihren irischen Lehrern: Die Thesen der gentilunabhängigen Sankt Galler Mönche bzw. der irischen Sankt Galler Mönche scheinen somit nicht bei allen Rezipienten dieselbe Personengruppe als ellinici fratres zu umfassen, doch sind gewisse Schnittmengen sicht44 Atkinson 1989, S. 106. 45 Clark 1926, S. 109. 46 Ebd., S. 111. 47 Zit. nach Floros 1970, S. 252. 48 Schuh 1939, S.  36f., sah allerdings „gerade in der Art, wie diese Brüder erwähnt werden“, einen „Hinweis auf die (auch sonst bezeugte) Tatsache, dass Notker selbst nicht des Griechischen mächtig war“, sprach Notker also jegliche Griechischkenntnisse ab. 49 Berschin 1980, S. 177. 50 Ebd., S. 177. Für Berschin „scheint unter den zahlreichen sanktgallischen Handschriften mit liturgischen Graeca die Stiftsbibliothek 381 die Schlüsselhandschrift zu sein“ (ebd.), also diejenige Handschrift, die auch einzig von ellinici fratres zu berichten weiß.

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 Bezug auf Sprachgemeinschaften

bar, auf die nach der Erörterung der dritten These besondere Aufmerksamkeit gerichtet wird. Die dritte These geht davon aus, dass in Sankt Gallen Byzantiner, Menschen mit griechischer Muttersprache, ob nun kurz- oder längerfristig, ansässig waren, und grenzt sich somit klar von den anderen beiden Thesen ab. Die Theorie wurde im 19. Jahrhundert von Peter Wagner entwickelt, der sie jedoch – ebenso wie sein nur geringer Rezipientenkreis51 – weder begründete noch weiter ausführte: „Auffallend ist, daß Notker in dem Brief an Landbert […] von ‚hellenistischen Brüdern‘ redet. Es gab demnach um 900 in Sankt Gallen griechische Mönche.“52 Egon Wellesz griff diese Theorie 1963 auf und beantwortete sie mit einem knappen „certainly not“,53 denn diejenigen Griechen, die wegen der Araber aus der Asia minor fliehen mussten, seien von Seiten der päpstlichen Kurie gezielt im Po-Gebiet angesiedelt worden, um die arianischen Lombarden zu bekehren54 – ein Rückschluss, der weder alle nicht in der Asia minor lebenden Griechen tangiert noch ausschließen kann, dass griechische Mönche nach Sankt Gallen kamen. 1970 versuchte Floros, die Theorie, es seien tatsächlich Griechen in Sankt Gallen gewesen, phonetisch zu begründen, da „die Schreibweise ‚ellinici‘ genau der byzantinischen Aussprache des Wortes [sc. Ελληνικοί]“ entspreche und unter den ellinici fratres somit keine „Gräzisten“ zu verstehen seien.55 Da zudem „Beobachtungen darauf schließen lassen, dass die Schreiber einiger griechischer Texte in St. Galler Handschriften des 8. und beginnenden 9. Jahrhunderts Griechen gewesen sind“, so „dürfen wir wohl folgern, dass Notkers ellinici fratres griechische Mönche gewesen sind.“56 Neil K. Moran folgte 1986 dieser Argumentation und betonte ebenfalls die phonetische Transkription der byzantinischen Aussprache des Wortes Ελληνικοί: „A Graecanized spelling would have taken the form ‚hellenici‘ or at least ‚ellenici‘.“57 Floros selbst bekräftigte 2006 seine These, dass die ellinici fratres „nicht etwa griechischkundige Mönche, sondern Griechen waren“, da sich zudem „länger dauernder Kontakt zwischen griechischen Sängern und fränkischen Mönchen und Gelehrten in der Karolingerzeit exakt nachweisen“ ließe.58 51 Floros 1970, S. 253. 52 Zit. nach Floros 1970, S. 250. 53 Wellesz 1963, S. 344; Wellesz verzichtet auf eine Einordnung, Darstellung oder bloße Erwähnung der anderen Thesen. 54 Ebd., S. 344. 55 Floros 1970, S. 253. 56 Ebd., S. 254; da zudem „die meisten notationstechnischen Termini […] sich als Lehnübersetzungen aus dem Mittelgriechischen erweisen, so ist es denkbar, dass Notker bei der Erläuterung der litterae sich von griechischen Mönchen beraten ließ“ (ebd., S. 255). 57 Moran 1986, S. 57. 58 Floros 2006, S. 307.



Die sprachgeschichtliche Bedeutung der Alemanni bei Notker Balbulus 

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Diese Darstellung der Rezeptionsgeschichte von Notkers ellinici fratres mitsamt der Erörterung ihrer verschiedenen Interpretationsmodelle erlaubt einige Rückschlüsse und Beobachtungen. Zunächst muss kurz auf das Verhältnis der drei Thesen zueinander eingegangen werden: Wie bereits erwähnt, weisen die Thesen der gentilunabhängigen bzw. der irischen Sankt Galler Mönche gewisse Schnittmengen auf. Versteht man unter den irischen Sankt Galler Mönchen nicht nur die eingewanderten Iren, sondern auch deren Schüler, so würde beispielsweise auch Notker selbst zu den ellinici fratres zählen, was die dritte These ausschließt. Zudem verstehen die erstgenannten beiden Thesen ellinici fratres als griechischkundige, die dritte These dagegen als griechischstämmige Mönche. Da Notker selbst auf genauere Beschreibungen der ellinici fratres verzichten konnte, muss angenommen werden, dass der nicht weiter bekannte Empfänger des Briefes Lantbert den Begriff wohl eindeutig verstehen und einem Personenkreis zuordnen konnte.59 Die Argumentationsketten aller Thesen sind, bedingt durch die Quellenlage, weder definitiv beweisbar noch eindeutig widerlegbar: Die ersten beiden Theorien scheinen besonders dadurch gestützt zu werden, dass sie den Verfasser des Briefes Notker selbst als ein ellinicus frater verstehen wollen – ein Rückschluss, den die Quellengattung „Brief“ durchaus nahelegt. Dagegen haben die phonetischen Untersuchungen zu Ελληνικοί gezeigt, dass Notker sich wohl nicht zufällig zur Schreibart ellinici entschieden hat. Somit spricht nichts gegen die Kombination der drei Thesen: Notker Balbulus könnte mit ellinici fratres sowohl die griechischkundigen Mönche Sankt Gallens unabhängig von ihrer Herkunft, vielleicht mit besonderer Betonung irischer Mitbrüder und wahrscheinlich sich selbst einbeziehend, als auch griechischstämmige Mönche, die sich kurz- oder langfristig in Sankt Gallen aufhielten, bezeichnet haben.

1.3 Die sprachgeschichtliche Bedeutung der Alemanni bei Notker Balbulus und ihre Umdeutung in der späteren Rezeption Frank Hentschel Ebenfalls in seinem Brief an Lantbert, allerdings im Haupttext, bezieht sich Notker auf nos ... Alemannos, um den Gebrauch des „k“ als einer von mehreren Vortragsanweisungen (den Romanusbuchstaben oder besser „litterae significativae“) zu erklären, die die Ausführung des einstimmigen Chorals regeln soll-

59 Floros 1970, S. 255.

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 Bezug auf Sprachgemeinschaften

ten.60 Der Buchstabe k besitze bei den Lateinern keine Bedeutung, werde von „uns Alemannen“ jedoch für das griechische χ eingesetzt wie in „chlenche id est clange“. Der gesamte Satz lautet: „k Licet apud latinos nihil ualeat. apud nos tamen alemannos pro ⋅x⋅ greca positum. chlenche id est clange clamitat“.61 Notker lebte in einer Zeit bewegter Teilungen und Umschichtungen des Fränkischen Großreichs, das Helmut Beumann mit Blick auf die Entstehung von Nationen auch als Transformator bezeichnet hat.62 Ob Notker den Text allerdings vor oder nach dem endgültigen Zusammenbruch des karolingischen Großreichs verfasste, den Josef Fleckenstein auf 887/888 datiert,63 ist nicht bekannt. Die Abtei St. Gallen befand sich in Alemannien oder Schwaben, dessen regionale Abgrenzung sich letztlich von der Errichtung des obergermanisch-rätischen Limes in der Zeit der römischen Antike herleitete.64 Um 700 war Schwaben / Alemannia ein weitgehend unabhängiges Herzogtum unter der Hoheit des merowingischen Frankenkönigs;65 seine räumliche Abgrenzung ist jedoch nicht genau rekonstruierbar.66 746 wurde das Herzogtum von den Franken zerschlagen.67 Nach dem karolingischen Brüderstreit, der mit dem Vertrag von Verdun 843 beigelegt wurde, und damit zur Zeit Notkers, in dessen Urkunden König Karl III. sich rex Alemanniae nennen ließ,68

60 Eine ausführliche Analyse der Romanusbuchstaben bei Notker bietet Smits van Waesberghe 1939–1942, Bd. 2. Laut Suñol 1935 war die Sankt Galler Notation mit den „litterae significativae“ im Gebiet des „Deutschen“ und bis nach Italien hinein verbreitet (S. 132). 61 Die Transkription folgt der Hs. CH-SGs 381 (Provenienz: St. Gallen); siehe auch das Faksimile der St. Galler Hs. auf http://www.e-codices.unifr.ch/de/csg/0381/7/medium (zuletzt eingesehen am 29. März 2016). Einen identischen oder eng verwandten Satzlaut bieten I-Fl Plut. LXV, 35 (Provenienz unbekannt) und D-BAs Lit. 5 (Provenienz: Reichenau); vgl. die Übersicht über die Varianten bei Smits van Waesberghe 1939–1942, Bd. 2, S. 41f., und Froger 1962, S. 37. Froger hat in seiner Edition die Schreibweise „chlenche“ der Leithandschrift (CH-SGs 381) gegen die Schreibweise „klenche“ ausgetauscht, die er einer anderen Handschriftentradition entnahm. Es handelt sich aber gerade nicht um ein „détail orthographique sans importance“, wie er meint (S. 70). 62 Beumann 1986, S. 30. 63 Vgl. Fleckenstein 2002, Sp. 715. 64 Zettler 2003, S. 23; vgl. zur Geografie der frühen Alemannia auch Keller 2001, S. 205–208; zur frühen Geschichte Alemanniens siehe Geuenich 1997. 65 Zettler 2003, S. 48. 66 Zettler 2001a, S. 301. 67 Zettler 2003, S. 48–59. – „Seit der Mitte des 8. Jahrhunderts gab es keinen dux Alamannorum mehr, dafür aber, 764 erstmals belegt, einen ducatus Alamannorum oder Alamannicus als politischen Raumbegriff. Gleichsam an der Spitze dieses ducatus ohne Herzog stand der karolingische König“ (Zotz 2000, S. 54). 68 Ladner 1985, S. 28 und 33f.; vgl. Zettler 2003, S. 69. – Das Kloster St. Gallen war seit 816/817 dem karolingischen Königtum eng verbunden (Zotz 1990, S.  283–285, Zotz 1997, S.  1484–1486, und Zotz 2000, S. 57).



Die sprachgeschichtliche Bedeutung der Alemanni bei Notker Balbulus 

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stellte Alemannia eine ostfränkische Provinz dar,69 deren Ausdehnung Dieter Geuenich und Hagen Keller folgendermaßen eingrenzen: Das politisch-geografische Gebilde, von dem der ducatus Alsatiensis als eigene Provinz deutlich geschieden wird, schließt den Breisgau mit ein, erfasst aber nicht die Ortenau; südlich des Hochrheins werden Thurgau und Zürichgau dazugerechnet, während Belege für die Zugehörigkeit des Augst-, Frick- und Aargaus fehlen. Im Osten wird der Lech als Grenze zwischen Alamannien und Bayern bezeichnet. Im Norden markieren die Grenzen der Bistümer Konstanz und Augsburg die Reichweite des alamannischen Dukats.70

Allerdings wurde der Begriff Alemannia ab 829 doppeldeutig, als dem damals sechsjährigen Karl II. (dem Kahlen) ein „regnum“ aus Alemannien, Rätien, dem Elsass und Teilen Burgunds geschaffen wurde, wie Thomas Zotz schreibt: Wenn dies so zutrifft, dann konnte Alamannia in der Folgezeit zweierlei bedeuten, ein seit Karl dem Großen als ducatus ausgewiesenes engeres Gebiet und das weitere regnum, wie es 829 kreiert wurde. Es liegt auf der Hand, dass dies auch Konsequenzen für die im wörtlichen Sinne zu verstehende Tragweite der Gruppenbezeichnung Alamanni haben musste.71

Abgesehen von dieser doppelten politisch-geografischen Deutungsmöglichkeit könnte der Begriff durchaus auch eine weniger genau zu bestimmende Volksgemeinschaft im Sinne einer „gens“ meinen.72 In der Tat vermutet Alfons Zettler, dass sich eine alemannisch-schwäbische Identität gerade unter der fränkischen Herrschaft im 9. Jahrhundert herausgebildet hat.73 Notkers Identität, wie sie in dem „wir Alemanni“ zum Ausdruck kommt, scheint sich in diesen Kontext gut einzufügen, ohne dass sie mit der politischen Zugehörigkeit zum ostfränkischen Reich im Widerspruch stand. Die Termini Alemannia und Suevia waren damals mehr oder weniger austauschbar, allerdings beobachtet Thomas Zotz folgende semantische Tendenz: Wenn man die literarische Produktion in der Alamannia des 9. Jahrhunderts mustert, dann fällt auf, dass Suevia / Suevus im Wechsel mit Alamannia / Alamannus zur Umschreibung von Land und Herkunft gebräuchlich war, wie dies auch bei Walahfrid zu beobachten ist, dass aber im Zusammenhang mit Begriffen wie provincia und ducatus ganz vergleichbar der offiziellen Schriftlichkeit nur der ‚klassische‘ Name benutzt wurde.74

69 Zettler 2003, S. 67. 70 Geuenich und Keller 1985, S. 153; zur Problematik der genauen geografischen Eingrenzung siehe Siegmund 2000, S. 11–13. 71 Zotz 2000, S. 56; vgl. ebd., S. 57. 72 Zum „gens“-Verständnis in diesem historisch-geografischen Kontext siehe Goetz 2000. 73 Zettler 2003, S. 73. 74 Zotz 2000, S. 53f.; vgl. S. 55, 63, und Zotz 2001a, S 460; siehe auch Thomas 2001, S. 64f. – In seiner Gallushymne besingt Notker auch dessen Heimat und verwendet dazu den Namen Suevia,

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 Bezug auf Sprachgemeinschaften

Die genaue Analyse der Aussage Notkers lässt solche Überlegungen indes als zweitrangig erscheinen. Denn es liegt viel näher, die Formulierung ausschließlich sprachgeschichtlich aufzufassen.75 Der Verweis auf das griechische χ dürfte nämlich eine bestimmte regionale Sprechweise anzeigen, insofern Notker das k als Frikativ betrachtete.76 In der Tat ist durch die Zweite Lautverschiebung nur im Alemannischen das k im Anlaut in einen Frikativ verwandelt worden.77 Die Erläuterung des „chlenche“ mittels der Hinzufügung „id est clange“ dürfte demnach der Aussprache eines Wortes, sozusagen seiner Lautschrift, die übliche Schreibweise an die Seite stellen.78 Da in dem Wort „chlenche“ ein nicht-postvokalisches k zum Frikativ verschoben wurde, lässt sich der Dialekt79 mit Stefan Sonderegger sogar noch exakter dem Höchstalemannischen zuordnen (Schweizerdeutsche nk-Schranke).80 Genaue Kenntnisse über die Zustände im 9. Jahrhundert liegen jedoch nicht vor; insbesondere lässt sich keine Aussage darüber treffen, wie sich die dialektalen zu den politisch-administrativen Grenzen der damaligen ostfränkischen Provinz Alemannia verhielten.81

nicht Alemannia: „[…] Sueviamque suavem / patriam tibi, Galle, donavit“ (von den Steinen 1948, Bd. 2, S. 72). 75 Für zahlreiche Hinweise zur Sprachgeschichte des Alemannischen danke ich herzlich Dieter Geuenich. 76 Vgl. Schmeller 1872, Sp. 1333, Smits van Waesberghe 1939–1942, Bd. 2, S. 146f., siehe auch Schützeichel 2012, S. 177 („chlanch“). 77 Vgl. Maurer 1972, S. 160, Sonderegger 2003, S. 262f., ferner Weinhold 1863, S. 185. 78 Zu den möglichen geografischen Grenzen dieser Aussprache siehe Weinhold 1863, S.  4–8, Maurer 1972, insb. S. 160–162, Steger 1984, S. 75, und Meineke 2001, S. 221. 79 Von Dialekt zu reden, ist freilich eine Vereinfachung, da es noch kein „Deutsch“ gab (vgl. Haubrichs 2004, S. 204, und Thomas 1990a, S. 38f.); Joachim Ehlers weist deshalb auch darauf hin, dass man sich die mittelalterliche Nation nicht als eine Kommunikationsgemeinschaft vorstellen dürfe, da „der“ Bayer „den“ Sachsen nicht verstand „und ohne Schwierigkeit auch nicht den Alemannen“ (Ehlers 1995, S. 22). 80 Sonderegger 1979, S. 135; vgl. Meineke 2001, S. 214. 81 Über die Schwierigkeiten der Sprachgeografie und ihrer Nutzung für die politische Geschichte (oder umgekehrt) siehe Steger 1984, S.  64–66, Geuenich 1985, S.  986–988, Geuenich 1988, S. 115–135, Siegmund 2000, S. 20–23, Keller 2001, S. 235f. mit Anm. 190.



Die sprachgeschichtliche Bedeutung der Alemanni bei Notker Balbulus 

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Abb. 1: Die Mundarten des Althochdeutschen (Sonderegger 2003, S. 78; Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Autors)

Die Verknüpfung der „littera significativa“ k mit den Alemanni besitzt demnach keine Implikationen für die Verbreitung dieses Buchstabens in der Neumenpraxis. Notker erläutert lediglich, wie der Buchstabe im Alemannischen ausgesprochen wurde, nicht wo er musikalische Anwendung fand. Die Latini stehen korrespondierend für die Sprecher des Lateinischen bzw. der romanischen Sprachen. Die regionale Komponente, die die Erläuterung des k bei Notker besaß, ging bei späteren Autoren, die Notkers Aufstellung der „litterae significativae“ zitierten, verloren, so dass sich auch die Bedeutung des Begriffs Alemanni verschob. Die Textvarianten82 könnten daher regionale Besonderheiten reflektieren, insofern der Text an seinen spezifischen geografischen und kulturellen Kontext angepasst 82 Stemmata finden sich bei Smits van Waesberghe 1939–1942, Bd. 2, S.  71, und Froger 1962, S. 67.

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 Bezug auf Sprachgemeinschaften

wurde. Allerdings darf man erstens aufgrund der eingeschränkten Signifikanz der Orthografie volkssprachlicher Zeugnisse83 und zweitens aufgrund der unzulänglichen Informationen, die bezüglich der Autoren und Texte zur Verfügung stehen, die Varianten nicht überinterpretieren. Deshalb sollen lediglich Schlaglichter geworfen werden. In der Handschrift D-B Phil. 1651 (9. oder 10. Jh., Provenienz: St. Vincent, Metz84) wird aus „chlenche id est clange“ „klenche id est klange“. Es ist also nicht auszuschließen, dass sich die Aussage hier nach wie vor auf eine dialektale Besonderheit richtet. Metz befand sich in einer Region, in der zeitweise das Westfränkische verbreitet war.85 Davon, dass im Westfränkischen oder einem anderen damaligen Dialekt das nicht-postvokalische k zum Frikativ verschoben wurde, nicht jedoch das k im Anlaut, ist mir jedoch nichts bekannt. In einer späteren Variante hingegen scheint der Hinweis auf dialektale Gegebenheiten gänzlich verlorengegangen zu sein. In der Handschrift B-Br II 4141, olim cod. 5266 Abteil Fétis (14. Jh.) wird das Wort „chlenche“ durch „klende“ ausgetauscht. Die Erläuterungsstruktur der Formulierung konnte bzw. musste daher aufgehoben werden. Anstelle des erläuternden „id est“ steht nun ein Beliebigkeit implizierendes „vel“: „K sicut apud latinos nihil valeat, apud nos tamen alemannos pro χ graeca posita klende vel klange clamitat“.86 Es handelt sich bei diesem Zeugnis um eine spätere Hinzufügung zu Frutolfs vom Michelsberg Breviarium de musica.87 Die Provenienz dieser Hinzufügung ist ungewiss. Der Lautschriftcharakter der deutschsprachigen Wörter wurde durch die Schreibweise mit k aufgehoben. Die Bedeutung des Satzes ist damit einigermaßen kryptisch. Dass eine Interlinearglosse „pro χ graeca“ durch „id est c“ erläutert,88 also den Umweg über das Griechische ad absurdum führte, scheint die Ratlosigkeit eines mittelalterlichen Lesers widerzuspiegeln. Wenn man wie der Glossator die sprachbezogene Erläuterung einfach auf den Buchstaben k bezieht, der dem lateinischen c entsprechen soll, so wären die Alemanni zu einem Sammelbegriff all derer geworden, die Mittelhochdeutsch in sämtlichen ihrer Varianten sprachen.

83 Siehe nochmals die in Anm. 81 genannte Literatur. 84 Siehe zur Handschrift RISM B III, Bd. 6, S.  275f. (dort Verweis auf Smits van Waesberghe 1939–1942, Bd. 2, S. 788 und passim, sowie Bischoff 1981, S. 183f.) und Gorman 1996, der den Hauptteil der Hs. auf die erste Hälfte des 9. Jahrhunderts datiert. Notkers Text muss demnach später hinzugefügt worden sein (vgl. auch Froger 1962, S. 25). 85 Meineke 2001, S.  209; zum Westfränkischen siehe auch Schützeichel 1963, Schützeichel 1966/1967 und Urmoneit 1973. 86 FRUT. brev., S. 104. 87 Vivell 1919, S. 6f. 88 Ein Faksimile findet sich in der Edition (Vivell 1919) auf S. 103.



Die sprachgeschichtliche Bedeutung der Alemanni bei Notker Balbulus 

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Andere Textzeugen haben sich offenbar um eine konsistentere Eliminierung der dialektalen Bedeutungsanteile bemüht. Der um 1100 tätige Anonymus Wolf und die vermutlich in dieselbe Zeit zu datierenden Quaestiones in musica89 sowie ferner eine viel spätere Kompilation, die in einer Leipziger Handschrift überliefert ist, tilgen den obsolet gewordenen argumentativen Umweg über das χ und damit überhaupt den „sprachtheoretischen“ Akzent der Aussage.90 Der Satz erhält so eine neue Gewichtung, denn die Aussage, das k besage bei den Lateinern wenig, schien sich nun mit einem Mal nicht mehr auf das sprachliche Element des Alphabets zu beziehen, sondern auf den aufführungspraktischen Gehalt: „k licet apud latinos parum vel nihil valeat, apud nos tamen allemmanos klenke i. e. clange significat“.91 Der Satz besagt so offenbar, dass die Alemanni im Gegensatz zu den Latini das k als notationstechnisches Symbol nutzen. Der wesentliche Unterschied zur Formulierung Notkers besteht darin, dass ihr die Begründung des Gemeinschaftsbegriffs Alemanni nicht mehr immanent ist: Wer die Alemanni sind und worin ihre Zusammengehörigkeit wurzelt, wird stillschweigend vorausgesetzt. Dabei ist weder auszuschließen, dass trotz aller Komplexität der politischen Verhältnisse Alemannia im Sinne des Herzogtums gemeint war, noch dass Alemannia als Synonym für die teutonica terra verwendet wurde. Nur wenige Jahrzehnte später schrieb Otto von Freising explizit: A predicto etiam Lemanno fluvio – unde Lucanus: Deseruere cavo tentoria fixa Lemanno – tota illa provincia Alemannia vocatur. Quare quidam totam Teutonicam terram Alemanniam dictam putant omnesque Teutonicos Alemannos vocare solent, cum illa tantum provincia, id est Suevia, a Lemanno fluvio vocetur Alemannia populique eam inhabitantes solummodo iure vocentur Alemanni. Nach jenem Lemannfluß – über ihn sagt Lucanus: Sie verließen die Zelte, errichtet am tiefen Lemannus – heißt jene ganze Provinz Alemannia. Daher glaubten manche, daß danach ganz Deutschland Alemannien benannt ist, und pflegen alle Deutschen Alemannen zu nennen, während nur jene Provinz, das heißt Schwaben, nach dem Lemannusfluß Alemannia heißt und allein deren Einwohner Alemannen genannt werden.92

89 Rudolf Steglich hat sie 1911 sehr spekulativ dem Rudolf von St. Trond zugeschrieben (S. 6f.). 90 In diese Tradition gehören die Hss. D-DS 1988 (in der sich sowohl Anonymus Wolf als auch die Quaestiones musicae befinden; Provenienz: Lüttich, St. Jacques), D-Leu 391 (Provenienz: Lothringen) und B-Br 10162/66 (Provenienz: Lüttich, St. Laurent). – Während der Anonymus Wolf sich allerdings den Alemanni zugehörig fühlte, sieht sich der Autor der Quaestiones in musica möglicherweise außerhalb dieser Gemeinschaft, denn er streicht das „nos“ aus der Formulierung. Diese Streichung geschah offenbar bewusst, denn sie zog eine weitere Umstellung nach sich: Aus „apud nos tamen allemannos“ wurde „apud alemannos tamen“ (QUAEST. MUS., S. 63). 91 ANON. Wolf, S. 205; vgl. COMPIL. Lips., S. 132, QUEAST. MUS., S. 63. 92 Otto von Freising, Gesta Frederici seu Cronica, S. 146 bzw. 147.

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 Bezug auf Sprachgemeinschaften

Schon Rahewin, der die Cronica Ottos nach dessen Tod fortführte, benutzte den Ausdruck Alemannia für die terra teutonica.93 Zumindest in den musiktheoretischen Texten scheint das gemeinschaftsverbindende Moment am ehesten in der Sprache zu liegen: Sowohl der thematische Kontext – die Bezugnahme auf den Buchstaben k und das Wort „klenke“ – als auch die Nennung der Latini und eventuell auch der sprachbezogene Hintergrund des Begriffs Teutonici legen dies nahe. David Hiley zufolge finden sich „litterae significativae“ in Manuskripten aus der Zeit bis zum frühen 11. Jahrhundert.94 Wenn dies zutrifft und die Datierung des Anonymus Wolf sowie der Quaestiones in musica korrekt sind, dann stellt sich die Frage, inwiefern in diesen Texten überhaupt noch auf eine lebendige Praxis Bezug genommen wird. Die Umdeutung von Notkers Formulierung in eine Aussage über eine regionale Besonderheit der „litterae significativae“ stünde dann im luftleeren Raum.

1.4 Das Nordfranzösische und seine Sprecher im 13. und frühen 14. Jahrhundert: Gallici im Tractatulus de musica bei Anonymus IV und Johannes de Grocheio Marie Winkelmüller In einigen Traktaten des späten 13. und frühen 14. Jahrhunderts wird das Adverb gallice oder das Substantiv Gallicus eingesetzt, um das Französische bzw. seine Sprecher zu bezeichnen. So wird im Traktat des Anonymus IV „In saeculum“ zitiert: „le hoket Gallice, quod quidam Hyspanus fecerat“.95 Das Adverb gallice dient hier dazu, ein nicht lateinisches, offenkundig vulgärsprachliches Substantiv mit seinem Artikel „le“ einzuführen. Die Vermutung, der Begriff „hoket“ weise einen arabischen Ursprung auf – eine Hypothese, die zwar in den 1920er und 1930er Jahren vertreten wurde – wird inzwischen nicht mehr für wahrscheinlich gehalten.96 Aktuelleren Überlegungen zufolge entstammt der Begriff dem Altfranzösischen oder dem Lateinischen. Die Annahme des lateinischen Ursprungs wird heute aus dem Grunde bevorzugt, dass „Definitionen unter Zuhilfenahme der Bedeutung der volkssprachlichen Wurzel erst spät (Boen 1357) und dann vereinzelt auf[treten]“.97 Doch schließt diese Überlegung die französische Herkunft nicht aus, 93 Vgl. Friedrich Schmale, in: ebd., S. 397. 94 Hiley 1993, S. 374. 95 ANON. Couss. IV, S. 61. 96 Frobenius 1988/1989, S. 2. 97 Kügle 1996, Sp. 356.



Das Nordfranzösische und seine Sprecher im 13. und frühen 14. Jahrhundert 

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zumal Karl Kügle die Stelle aus dem Traktat des Anonymus IV nicht berücksichtigt. Der anonyme Autor scheint die Bezeichnung dieser Gattung nur in der Vulgärsprache zu kennen. Hätte er den lateinischen Terminus gekannt, hätte er vermutlich diesen eingesetzt und so den Sprachwechsel vermieden. Es scheint, dass in seinem Umfeld kein passender lateinischer Ausdruck für die musikalische Gattung zur Verfügung stand. Die vorliegende Textstelle wird selbstverständlich die Frage der Etymologie des Wortes „hoket“ nicht lösen. Doch deutet sie darauf hin, dass eine altfranzösische Herkunft des Begriffs keineswegs ausgeschlossen ist. An einer anderen Stelle zitiert Anonymus IV einen Liedtext und setzt das Substantiv Gallicus ein, um die „französische“ Sprache anzuzeigen: „Litera punctorum istorum in Gallico est et cetera.“98 In genau der gleichen Funktion, allerdings in seiner adverbialen Form, setzt Johannes de Grocheio den Begriff ein, der auf zahlreiche „französische“ Incipits bei der Erörterung weltlicher musikalischer Gattungen Bezug nimmt. Im Einzelnen handelt es sich um den „cantus coronatus“,99 den „cantus versualis“, die „rotunda“ bzw. den „rotundellus“, sowie die „stantipes“, „ductia“ sowie die „cantilena entrata“.100 Diese der Forschung seit langem einige Rätsel aufgebenden musikalischen Gattungen werden alle mit französischen Incipits exemplifiziert. Der Autor des Tractatulus de musica unterteilt in der Tradition des Johannes de Garlandia und des Franco de Colonia mehrstimmige Musik (Organum im generellen Wortsinn) in Discantus, Motette, Conductus und Organum (im engeren Sinne). Für die Motette greift der Autor auf das französische Wort zurück: „Alius modus est, qui dicitur cantilena, quam Gallici motet vocant.“ 101 Die Rolle des französischen Wortes „motet“ ist dem „hoket“ bei Anonymus IV vergleichbar. Dem Autor des Tractatulus scheint für die Motette kein lateinischer Ausdruck zur Verfügung zu stehen, bzw. er legt nahe, dass es sich um ein Lehnwort aus dem Französischen handelt, dass er kurz darauf auch dekliniert: „ut patet in moteto O maria et cetera“.102 Untersuchungen zum Terminus gallicus und seinen Varianten sind in der geschichtlichen oder sprachwissenschaftlichen Literatur eher spärlich. Dies liegt zum einen an der Zentrierung der Forschung auf die karolingisch geprägten Begriffe Galli vs. Franci, zum anderen am Interesse der Sprachwissenschaftler, 98 ANON. Couss. IV, S. 76. 99 IOH. GROCH., S. 130. 100 Ebd., S. 130 bzw. 132. 101 Tractatulus de musica, S. 10. 102 Zur Herkunft des Begriffs siehe Sanders 1962, S. 280, Frobenius 1991, S. 272f., und Beiche 2004, S. 1f.

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 Bezug auf Sprachgemeinschaften

die ab dem Moment, da die Vulgärsprache ansetzt, ihre philologischen Untersuchungen eher auf vulgärsprachliche Texte richten. Im Zentrum solcher Forschung stehen dann Begriffe wie romanz oder franceis bzw. ihre lateinischen Übertragungen. In welchem Verhältnis diese Termini zu gallicus stehen und wie sich ihr Gebrauch von ihnen abgrenzen lässt, wird in der Sekundärliteratur nicht angesprochen. Wie durch romanz und franceis eine Differenz zwischen gesprochener Alltagssprache und Hoch- bzw. Schriftsprache zum Ausdruck gebracht wird,103 so scheinen auch gallicus und franciscus in verschiedenen Kontexten aufzutreten. Denn Belege für die lateinische Übertragung von franceis lassen sich eher dem literarischen und poetischen Kontext zuordnen.104 Gallicus scheint hingegen eher in wissenschaftlichen Traktaten und Texten vorzukommen. Belege dafür sind, abgesehen von den Musiktraktaten, auch ein englischer grammatikalischer Traktat über die „französische“ Sprache aus dem späten 14. Jahrhundert105 sowie eine Definition der „französischen“ Sprache von Roger Bacon.106 In literarischen Texten scheint sich im Laufe des 13. Jahrhunderts ein Wandel vollzogen zu haben. Bernd Schneidmüller gibt für den Terminus gallic* vier Belege. Jene vor 1250 verstehen unter dem Begriff das gesamte, von der französischen Krone regierte Gebiet.107 Nach der Jahrhunderthälfte hingegen bezeichnen die von Schneidmüller eingeführten Belege mit demselben Ausdruck nur noch den nordfranzösischen Teil Frankreichs.108 Einer von ihnen verbindet das Wort gallic* mit der Sprache und bezeichnet hiermit die Langue d’oïl.109 Damit knüpft die Begrifflichkeit der Traktate an die Sprache und verschiedene Sprachbewertungen an, die in der Zeit sowohl in wissenschaftlichen als auch in literarischen Texten zur Mode geworden waren. In der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts war das Gebiet des heutigen Frankreichs in zwei große Sprachfamilien geteilt:110 Im 103 Koll 1957/1958, S. 112. 104 Siehe die von Bader 1969, S. 25–37, angeführten Belege. 105 Koll 1957/1958, S. 109 mit Anm. 51. 106 Siehe dazu unten S. 27. 107 Es handelt sich um die Bezeichnung Karls des Großen aus dem Fürstenspiegel des Aegidius von Paris aus dem Jahre 1200 (Schneidmüller 1987, S.  170f.) und um das Zitat einer vom päpstlichen Legaten gehaltenen Predigt, die Wilhelm Brito vor 1220 in die von Rigord begonnene Historiografie Frankreichs integrierte (ebd., S. 184). 108 Schneidmüller zitiert z. B. eine Chronik von Wilhelm von Puylaurens aus den Jahren um 1255, die „das nordfranzösische Kreuzfahrerheer Gallicana milicia […], die Kreuzfahrer Gallici“ nennt (ebd., S. 212). 109 Die Miracula quaedam facta anno 1271 sowie die Chronik des Vincent von Beauvais verstehen unter der gallica lingua jene Sprache, die im Reich zu dieser Zeit als Norm angesehen wurde, d. h. die Langue d’oïl. (ebd., S. 206). 110 Anthony Lodge kritisiert diese dualistische Sichtweise mit dem Hauptargument, dass bestimmte Sprachlandschaften darin nicht passen (Lodge 2007, S. 213).



Das Nordfranzösische und seine Sprecher im 13. und frühen 14. Jahrhundert 

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Norden sprach man die Langue d’oïl (bzw. je nach Region bestimmte Varianten davon), während man im südlichen Teil des Landes die Langue d’oc (bzw. ihre regionalen Varianten) verwendete.111 Die Grenze zwischen diesen zwei Sprachfamilien war fließend und geografisch unbeständig, denn ein großer Abschnitt zwischen Nord und Süd, der nach Anthony Lodge zwischen Bordeaux, Clermont-Ferrand und Genf lag, wurde von beiden Sprachfamilien beeinflusst.112 Die Grenze verschob sich mit der Zeit immer weiter nach Süden.113 Sie verlief zunächst von der Mündung der Loire bis zu den südlichen Vogesen, später verbreitete sie sich im Poitou und in der Saintonge, dann im Berry und im Bourbonnais,114 um gegen Ende des 14. Jahrhunderts nachweislich Clermont-Ferrand und das Zentralmassiv zu erreichen.115 Den größten Unterschied zwischen beiden Sprachfamilien bildete der Gehalt an fränkischen Wörtern.116 Während im Süden der fränkische Einfluss relativ gering ausfiel, war das Leben der Bevölkerung, die im nördlichen Teil „Frankreichs“ wohnte, bis um ca. 900117 von Zweisprachigkeit Vulgärlatein / Fränkisch geprägt. So wurden immer mehr fränkische Begriffe ins Lateinische aufgenommen118 – eine Entwicklung, die der Süden kaum mitmachte.119 Dessen Sprache stand folglich dem Latein näher als ihre nördliche Verwandte. Beide Sprachen zeichneten sich durch eine eigene Literatur aus,120 die im anderen Teil rezipiert wurde und auch einen gewissen Einfluss ausübte,121 insbesondere im Bereich der lyrischen Gattungen.122 Im Süden war die Literatur, die seit dem 11. Jahrhundert von den Troubadours gepflegt wurde,123 durch eine 111 Die beiden Begriffe scheinen bereits im Mittelalter bestanden zu haben, sie wurden allerdings selten benutzt (siehe hierzu Koll 1957/1958, S. 116–118). 112 Lodge 2007, S. 214f. 113 Ebd., S. 216 f. und 221; vgl. Wartburg 1946, S. 63f. 114 Wartburg 1946, S. 63f. 115 Lodge 2007, S. 221. 116 Wartburg 1946, S. 59. 117 Ebd., S. 63 f., 65–67; siehe außerdem Delbouille 1962, S. 22 (Anm. 15), Bader 1969, S. 26 und 28. 118 Wartburg 1946, S. 59. 119 Ebd. 120 Siehe z. B. Koll 1957/1958, S. 117, Delbouille 1962, S. 24, Schulze-Busacker 1987, S. 33, Klare 1998, S. 64. 121 Siehe Schulze-Busacker 1987, S. 31 zum (geringeren) Einfluss der nördlichen Literatur auf das poetische Schrifttum der Langue d’oc und S. 33 zur umgekehrten und bedeutsameren Richtung; Aubrey 1997, S. 2f. zum Einfluss des Südens auf den Norden, der größer war als umgekehrt; siehe auch ebd., S. 53. 122 Stevens und Butterfield 2001, S. 805. 123 Aubrey und Räkel 1999, Sp. 923.

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 Bezug auf Sprachgemeinschaften

große Internationalität geprägt: Da Okzitanisch (= Langue d’oc) von Portugal bis nach Italien verstanden wurde,124 war der literarische wie sprachliche Austausch rege,125 die gegenseitige Beeinflussung entsprechend groß. Im Norden hingegen war die Situation eine ganz andere. Weniger offen für ausländische oder fremdsprachige Einflüsse,126 entwickelten die Trouvères und Jongleurs schon seit dem 9. Jahrhundert127 eine Literatursprache, für die sie von vornherein den Anspruch der Überregionalität128 erhoben und die bereits vor dem 12. Jahrhundert eine Normierung erfuhr.129 Seit dem ersten Viertel des 13. Jahrhunderts avancierte das „Nordfranzösische“ (= Altfranzösische) zu einer anerkannten Schriftsprache,130 die der Hofsprache nahestand131 und später sogar zur Grundlage der vulgärsprachlichen Rechtssprache wurde.132 Mit der Literatur und ihrer Sprache verbanden die Menschen des nördlichen Sprachteils „Frankreichs“ Elisabeth Schulze-Busacker zufolge etwa ab der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts ein „nationales“ Gefühl,133 das durch den Export ihrer Kultur in den Osten während der Kreuzzüge noch zunahm.134 Es ist daher nicht verwunderlich, dass im Laufe der zunehmenden politischen Expansion des Königreichs gen Süden, vor allem als Folge der Albigenserkriege,135 die südliche Sprache, Literatur und Kultur allmählich an Boden verlor. Im späten 13. Jahrhundert verlor das Okzitanische seine wichtige Stellung.136 Bei den von Anonymus IV und Johannes de Grocheio zitierten Texten handelt es sich ausnahmslos um altfranzösische, also den Langues d’oïl zuzurechnende Texte. In dieses Bild passt auch die Beobachtung, dass Hoketus137 und Motette138 als „nördliche“ Genres gelten. Dennoch ist die Bedeutung von gallicus bzw. gallice 124 Bischoff 1961, S. 210, Schulze-Busacker 1987, S. 33–35 und 40f. 125 Es war nicht selten, dass okzitanische Autoren auch Gedichte auf Italienisch oder Spanisch verfassten (Schulze-Busacker 1987, S. 40f.). 126 Schuzer-Busacker 1987, S. 41 f. 127 Delbouille 1962, S. 10f. und 20. 128 Vgl. die herabwertenden Bemerkungen über die diversen regionalen Varianten oder fremdländischen Akzente bei Conon de Bethune und anderen (siehe Pfister 1973, S. 218f., Berschin u. a. 1978, S. 203, sowie Schulze-Busacker 1987, S. 39, Batany 1992, S. 87f.). 129 Delbouille 1962, S. 10f., Pfister 1973, S. 218, Batany 1992, S. 87f. 130 Delbouille 1962, S. 19. 131 Pfister 1973, S. 40, Batany 1992, S. 88. 132 Batany 1992, S. 89. 133 Schulze-Busacker 1987, S. 39. 134 Schulze-Busacker 1987, S. 40f. 135 Rauhut 1963, S. 270, sowie Schulze-Busacker 1987, S. 30f. 136 Schulze-Busacker 1987, S. 34 f. 137 Kügle 1996, Sp. 360. 138 Kügle 1997, Sp. 499, Page 1993b, S. 58.



Das Nordfranzösische und seine Sprecher im 13. und frühen 14. Jahrhundert 

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nicht genau zu bestimmen, denn diese Bezeichnung konnte bald allgemeiner, bald spezifischer eingesetzt werden. Die spezifischere Variante findet sich etwa bei Roger Bacon: Nam et idiomata ejusdem linguae variantur apud diversos, sicut patet de lingua gallicana, quae apud Gallicos et Picardos et Normannos et Burgundos et caeteros multiplici idiomate variatur. Et quod proprie et intelligibiliter dicitur in idiomate Picardorum horrescit apud Burgundos, immo apud Gallicos viciniores.139 For dialects of the same language vary between different speakers, as can be seen in the French language which varies in numerous dialects among the French, the Picards, the Normans and Burgundians. What is correctly and intelligibly expressed in the Picard dialect is unpleasant to Burgundians and indeed to their closer neighbours in the Ile-de-France.140

Bacon fasst die „gallikanische“ Sprache als einen umfassenden Begriff auf, der offenbar mit dem „Nordfranzösischen“ gleichzusetzen ist. Gallici sind bei ihm nicht einfach die Sprecher des „Nordfranzösischen“, sondern eine Gemeinschaft innerhalb der Sprecher des „Nordfranzösischen“, das er in verschiedene Dialekte aufteilt, nämlich jene der Gallici, der Picardi, Normanni und Burgundi. Die Gallici befinden sich geografisch in der Mitte und sind umrahmt nordwestlich von den Picardi, nordöstlich von den Normanni und südöstlich von den Burgundi. Damit steht der Begriff Gallicus (mit seinen Varianten) dem Terminus der Île-de-France nahe, der sich um Paris / Saint-Denis bis Senlis im Norden, Laon im Nordosten, Chaumont im Südosten und Meulan im Westen erstreckte.141 Eine Konnotation mehr weist das Wort gallicus, wie Bacon es benutzt, jedoch auf. Denn der geografische Raum, den er beschreibt, hängt mit der Ausbreitung eines Dialekts zusammen. Die geografische Konnotation ist beiden Begriffen gemeinsam, doch gallicus ist spezifisch sprachgeografisch und bezeichnet die Sprache der Bewohner aus dem Pariser Becken. Der Begriff gallicus wird aber auch als Bezeichnung für eine überregionale Sprache verstanden. Nach Hans Georg Koll bezeichnet er eine Sprache, die früher „großenteils außerhalb der politischen Grenzen Frankreichs lag“.142 Diese Sprache umfasste mehr als die bloße Île-de-France, die seit der Wahl der Kapetinger 987 traditionell das Zentrum der Macht darstellte. Gallicus wies dann auf die gesamte Langue d’oïl hin und diente als Oberbegriff für einen von anderen Dialekten geprägten Sprachraum. Er entspricht in etwa dem Begriff der lingua gallicana von Roger Bacon. Zumindest Johannes de Grocheio scheint diesen weiteren Begriff 139 Roger Bacon, Opus majus, zit. nach Berschin u. a. 1978, S. 205. 140 Übersetzung von Lodge 2013, S. 97f. 141 Bader 1969, S. 63. 142 Koll 1957/1958, S. 109, Anm. 51.

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 Bezug auf Sprachgemeinschaften

Abb. 2: Île-de-France (Bader 1969, S. 60)

einzusetzen, denn das bei ihm zitierte Incipit „Chi encor querez amoretes“143 weist die Form einer picardischen Scripta auf: chi statt ci.144 Wenn für die picardische Scripta der Begriff gallicus verwendet wird, muss dieser in seiner weiteren Bedeutung verwendet werden. Bei Anonymus IV gibt es keinen ähnlichen Hinweis darauf, ob er den engeren oder den weiteren Begriff zugrundlegt.

143 IOH. GROCH., S. 131. 144 Für diesen Hinweis danke ich Hans-Dieter Bork, Köln.

2 Kulturaustausch zwischen Byzanz und lateinischem Westen Die im gegenwärtigen kleinen Kapitel verhandelten Quellen hängen inhaltlich aufs Engste mit den im vorigen Kapitel erörterten Graeci-Stellen zusammen. Anders als dort beziehen sich die hier zu untersuchenden Textpassagen jedoch nicht nur auf Sprecher des Griechischen, sondern fassen unter den Graeci die Bewohner von Byzanz zusammen. All diese Zeugnisse zielen auf den kulturellen Austausch zwischen Byzanz und lateinischem Westen ab und bilden damit eine kleine, aber einheitliche Gruppe von Texten. Anders als in den übrigen Kapiteln beschränkt sich der Titel nicht auf den systematischen Begriff „Kulturaustausch“, sondern nimmt den konkreten Gegenstand auf, weil sich im gesamten hier untersuchten Textkorpus keine weiteren Beispiele für expliziten Kulturaustausch finden. Die Dokumente beziehen sich auf die Übernahme der Kirchentonarten bzw. ihrer Theorie aus Byzanz (2.1) und die Überreichung einer Orgel durch den byzantinischen Kaiser Konstantin V. an den fränkischen König Pippin III. (2.2).

2.1 Übernahme byzantinischer Kirchentöne: Graeci bei Aurelianus Reomensis sowie Autoren des 11. Jahrhunderts Frank Hentschel und Marian Weiß Jane Bellingham zufolge gewährt uns Aurelian in seiner Musica disciplina einen Einblick „into the early development of Carolinginan music theory“.1 Dies trifft direkt auf folgende Aussage zu, die einen Ausschnitt Musikgeschichte beschreibt und für uns aufgrund der Rolle der Graeci zentral ist: Extitere etenim nonnulli cantores qui quasdam esse antiphonas quae nulle earum regulae possent aptari asserverunt unde pius augustus avus vester Carolus paterque totius orbis iiii augere iussit quorum hic vocabula subter tenentur inserta: ANANNO NOEANE NONANNOEANE NOEANE. Et quia gloriabantur Greci suo se ingenio octo indeptos esse tonos, maluit ille duodenarium adimplere numerum. Tunc demum Greci possent ut nobis esse communes et eorum habere contubernium philosophia cum Latinorum; et ne forte inferiores invenirentur gradu, itidem[que] quattuor ediderunt tonos, quorum hic prescribere censui litteraturam: NENOTENEANO NOEANO ANNO ANNES.  Qui tamen toni modernis temporibus inventi tam Latinorum quam Grecorum licet litteraturam inequalem habeant, tamen semper ad priores octo eorum revertitur modulatio.2

1 Bellingham 2001, S. 185. 2 AURELIAN., cap. VIII, S. 82f.

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 Kulturaustausch zwischen Byzanz und lateinischem Westen

Es gab nämlich Sänger, die behaupteten, manche Antiphone könnten keiner jener Regeln angepasst werden. Daher befahl euer frommer, ehrwürdiger Ahnherr Karl, der Vater des ganzen Erdkreises, sie um vier [„toni“] zu erweitern. Deren Namen seien hier angefügt: ANANNO NOEANE NONANNOEANE NOEANE. Und weil sich die Greci rühmten, mit ihrem Scharfsinn die acht „toni“ erfasst zu haben, wollte jener lieber die Zwölfzahl vervollständigen. Später dann könnten die Greci, damit sie eine Gemeinschaft mit uns haben, ihren Umgang mit der Philosophie der Lateiner haben. Und damit sie nicht etwa dem Rang nach für minderwertig gehalten würden, machten sie ebenso vier [weitere] „toni“ bekannt, deren Namen ich hier voranzustellen beschloss: NENOTENEANO NOEANO ANNO ANNES. Auch wenn diese in modernen Zeiten erfundenen „toni“ der Lateiner und der Griechen unterschiedliche Namen besitzen, so wird ihre Melodiestruktur doch immer auf die ersten acht zurückgeführt.

Wie der gesamte Text Aurelians, so enthält auch dieses Zitat zahlreiche Unklarheiten im Detail, doch ist deutlich, dass Aurelian auf eine Erweiterung der acht von den Greci etablierten „toni“ durch Karl den Großen anspielt.3 Die neu eingeführten „toni“, die in ähnlicher Gestalt und mit anderen Namen auch von den Griechen übernommen worden seien,4 hätten jedoch keinen gleichrangigen Wert wie ihre Vorgänger, da sich die Melodien immer auf diese alten acht bezögen.5 Aurelian berichtet von einer musiktheoretischen Neuerung im Kontext der Intonationsformeln, deren Verwendung im lateinischen Westeuropa hier zum ersten Mal erwähnt wird.6 Im inhaltlichen Kontext der „toni“, genauer der vier Haupttonarten („authentici“) und vier Nebentonarten („plagales“),7 „führt er erstmals vier zusätzliche Tonarten ein, entweder überzählige Kirchentonarten oder Psalmtöne.“8 Dabei verzichtet Aurelian auf Beschreibungen oder Beispiele dieser neuen Töne und beschränkt sich auf die Nennung der zugehörigen Intonationsformeln.9 Diese nicht integrierbaren Hilfstonarten stehen nach Lukas Richter „offensichtlich in Anschluss oder Parallele zu den vier mittleren Echoi byzantinischer Quellen.“10 Während Charles M. Atkinson Zweifel an einer direkten Übernahme aufkommen lässt,11 betont Constantin Floros die Möglichkeit eines „direkten Bezuges von Byzanz“, was die Attribuierung dieser Neuerung an Karl den Großen nach der Darstellung des Aurelian disqualifiziere, denn „sollte 3 Vgl. Schuler 1970, S. 34, und Atkinson 1982, S. 41. 4 Vgl. Floros 1970, S. 243, und Floros 2006, S. 307. 5 Atkinson 1982, S. 41. 6 Bellingham 2001, S. 186. 7 Richter 1998, S. 195f., und Floros 2006, S. 278f. sowie die Grafik S. 289. 8 Richter 1998, S. 196. 9 Atkinson 1982, S. 41. 10 Richter 1998, S. 197; vgl. auch Atkinson 1982, S. 55f. 11 Atkinson 1982, S. 57.



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Karl der Große wirklich angeregt haben, die Anzahl der Tonarten auf zwölf zu erhöhen, so kann es sich nur um die Sanktionierung einer bestehenden Praxis gehandelt haben.“12 Floros folgerte weiter, dass die mittelalterliche Choraltheorie des Westens zwar eine „Leistung der Karolingerzeit“ gewesen sei, aber unter starkem „byzantinischen Einfluss“ gestanden habe, da sich unter anderem „zahlreiche mittelalterliche Autoren bei der Erörterung musiktheoretischer Dinge auf die Greci berufen, worunter die Byzantiner zu verstehen sind“ und diese zudem „mittelgriechisch[e] (das heißt byzantinisch[e])“ Termini benutzt haben.13 Dies setzt einen – wie auch immer gearteten, aber auch die Musiktheorie nicht aussparenden – Kontakt zwischen den Karolingern und Byzanz voraus, den verschiedene Quellen in freilich sporadischen Zeugnissen überliefern. Noch im 11. Jahrhundert ist das Bewusstsein vom byzantinischen Ursprung der Kirchentöne bzw. ihrer Terminologie vorhanden. Denn einige Autoren heben ihn hervor: Die Formulierungen Guidos und Bernos bzw. des Verfassers eines in Bernos Traktat interpolierten Textabschnitts14 rücken den sprachlichen Aspekt in den Vordergrund, doch verbirgt sich hinter dem Hinweis auf die griechische Terminologie offenbar auch ein solcher auf die kulturelle Herkunft der Kirchentöne, die hier nun „modi“ genannt werden, bzw. ihrer Terminologie. Zumindest der anonyme Kommentator Guidos macht diesen Aspekt explizit, indem er von der graeca auctoritas spricht, die er aus der bei Berno anzutreffenden Gleichung „authentus“ = „auctoritate praeditus“ ableitet; die Tonarten sind nicht nur mit griechischen Namen versehen, sondern gehen auf griechische „auctoritas“ zurück, „graece, id est graeca auctoritate“: Guido von Arezzo, Epistola de ignoto cantu directa: „Unde Greci multo melius pro primo et secundo dicunt autentum protum et plagis proti; pro tercio et quarto autentum deuterum et plagis deuteri; pro quinto et sexto autentum tritum et plagis triti; pro septimo et octavo authentum tetrardum et plagam tetrardi. Quod enim illi dicunt protum, deuterum, tritum, tetrardum, nos dicimus primum, secundum, tertium, quartum. Et quod illi dicunt autentum, nos maiorem et altum vel acutum nominamus; plagis vero latine subiugalem vel minorem vel gravem possumus appellare.“15

12 Floros 2006, S. 310; vgl. auch Floros 1970, S. 248f.; zur Abgrenzung von Atkinson vgl. Floros 2006, S.  310f. Zudem ist nach Floros Aurelians Erwähnung der „Erweiterung“ um vier „toni“ implausibel, da „das modale System der mittelalterlichen Kirchenmusik aus mehr als acht echoi bestand“ (Floros 2006, S. 310, siehe auch Floros 1970, S. 249). 13 Floros 2006, S. 303f. und 286. 14 Siehe Rausch in BERNO prol., S. 24. 15 GUIDO ep., S. 504–506: „Deshalb sprechen die Graeci viel passender in Bezug auf den ersten und zweiten ‚tonus‘ von ‚authentus protus‘ und ‚plagis proti‘, in Bezug auf den dritten und vierten von ‚authentus deuterus‘ und ‚plagis deuteri‘, in Bezug auf den fünften und sechsten von ‚authentus tritus‘ und ‚plagis triti‘, in Bezug auf den siebten und achten von ‚authentus tetrardum‘

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 Kulturaustausch zwischen Byzanz und lateinischem Westen

Berno Augiensis, Prologus in Tonarium (Interpolation): „Octo itaque cantionum modis, quos abusive tonos vocamus, ordo ecclesiasticus utitur; quorum quatuor excelsiores monochordi voces sortiti sic vocantur: autentus protus id est primus magister, autentus deuterus idest secundus magister, autentus tritus idest tercius magister, autentus tetrardus idest quartus magister. Autentos enim Graeci magistros dicunt, quasi auctoratos, idest auctoritate preditos, quorum videlicet precellit auctoritas.“16 Anonymous, Commentarius in Micrologum: „Nam diversi sunt modi, et ideo a Graecis diversis nominibus vocati ut diversi notarentur, et hoc est: vere attendendum est quomodo canatur. Autem, id est nam ut hoc discernendum esse notaretur, nominamus discretis nominibus hos modos vel tropos protum, id est primum, deuterum, id est secundum, tritum, id est tertium, tetrardum, id est quartum; et hoc graece, id est graeca auctoritate, quod non faceremus, nisi discernendi essent.“17

Es liegt mit diesen Zitaten also durchaus eine Aussage über die Herkunft der „modi“ vor, die wie das Zeugnis Aurelians auf Byzanz verweist. Doch wenn hier immer wieder von Byzanz und Byzantinern die Rede ist, so geht damit eine schwer vermeidbare Unschärfe einher. Denn der heute als Bezeichnung für das oströmische Reich nach dem Ende des weströmischen Reichs 476 n. Chr.18 gängige Name Byzanz ist nicht historisch. Selbst begriff sich das Reich als römisch,19 und das politische Gebilde war in sich derart komplex und multiethnisch, dass man Peter Jeffery nur zustimmen kann, wenn er vermerkt: „To assert that the modes are probably of Byzantine origin is to answer no question, for the word ‚Byzantine‘ can have as broad a range of meanings as the word ‚Western‘.“20 Ob die mittelalund ‚plagis tetrardi‘. Was sie nämlich ‚protus‘, ‚deuterus‘, ‚tritus‘, ‚tetrardus‘ nennen, nennen wir den ersten, zweiten, dritten, vierten. Und was sie ‚authentus‘ nennen, nennen wir das Größere und Höhere. ‚Plagis‘ können wir auf Latein als unterjocht, kleiner oder tiefer bezeichnen.“ 16 BERNO prol., S. 44: „In der liturgischen Ordnung werden daher acht ‚modi‘ gebraucht, die wir uneigentlich ‚toni‘ nennen. Ihre vier, am geteilten Monochord herausragenden Töne heißen ‚authentus protus‘, d. h. erster Vorsteher, ‚authentus deuterus‘, d. h. zweiter Vorsteher, ‚authentus tritus‘, d. h. dritter Vorsteher, ‚authentus tetrardus‘, d. h. vierter Vorsteher. Vorsteher nennen die Graeci nämlich ‚authenti“, also gewissermaßen Autoritäten, d. h. die mit Autorität versehenen, deren Autorität hervorragt.“ Zitiert bei FRUT. brev., S. 52, und Anonymous I, S. 335f. 17 COMM. Guid., S. 132: „Denn es gibt verschiedene ‚modi‘, und deswegen wurden sie von den Graeci mit verschiedenen Namen benannt, damit sie als verschiedene gekennzeichnet wurden. Es ist nämlich wirklich darauf zu achten, auf welche Weise gesungen wird. Aber – d. h. denn – so wie gekennzeichnet wird, dass dies zu unterscheiden sei, so bezeichnen wir mit unterschiedenen Wörtern diese ‚modi‘ oder ‚tropi‘, nämlich ‚protus‘, d. h. den ersten, ‚deuterus‘, d. h. den zweiten, ‚tritum‘, d. h. den dritten, ‚tetrardus‘, d. h. den vierten; [wir bezeichnen sie] also graece, d. h. mit griechischer Autorität, was wir nicht täten, wenn sie nicht zu unterscheiden wären.“ 18 Guillou 2002, Sp. 1238. 19 Charanis 1972, S. 101. 20 Jefferey 2001, S. 182, vgl. auch S. 152 und nochmals Charanis 1972.



Übernahme byzantinischer Kirchentöne 

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terlichen Autoren überhaupt in erster Linie ein politisches, geografisches oder kulturell-ethnisches Gebilde im Sinn hatten, lässt sich nicht klären. Die Faktoren dürften diffus ineinander gegriffen haben.21 Es ließe sich bloß darüber spekulieren, welche historischen Kenntnisse die hier zitierten Musiktheoretiker von der Herkunft der griechischen Terminologie der „modi“ bzw. „echoi“ besaßen. Auf die Suche nach kulturellem Austausch mit Byzanz im Umfeld Bernos (Reichenau) und Guidos (Pomposa, Arezzo) zu gehen,22 wäre kaum sinnvoll, da die entsprechende Terminologie bereits bei früheren lateinischen Autoren, spätestens seit Aurelian, bekannt war.23 Daher kann allenfalls zusammengefasst werden, was über die realhistorische Terminologiegeschichte bekannt ist.24 Wenn auch nicht auf üppiger Materialbasis, lässt sich die Existenz der griechischen Terminologie der „modi“ in der Zeit vor ihrer Übernahme im lateinischen Mittelalter nachweisen: Die Begriffe „echos“ und „plagios“, gefolgt von Ordinalzahlen (im Griechischen mit Buchstaben bezeichnet: α’, β’ usw.), sind seit dem siebten Jahrhundert nachgewiesen.25 Der Begriff „auth[entos]“ lässt sich in einer Handschrift des Sinai-Klosters nachweisen, die in einer griechischen Unziale des 7. bis 8. Jahrhunderts verfasst wurde.26 Michel Huglo geht „zweifelsfrei“ von einer „östlichen Herkunft“ dieses Terminus aus, „nicht notwendig eine[r] byzantinische[n], eher vielleicht eine[r] syrische[n]“;27 nur ist unklar, was „syrisch“ in Gegenüberstellung zu „byzantinisch“ meint, da die entsprechenden Regionen bis ca. 640 Teil von Byzanz und dann Teil des Omayyaden-Reichs waren.28 Doch wie immer man mit dieser ethnisch-terminologischen Problematik umgehen möchte, ist Huglos Hinweis auf Beziehungen zwischen den Kirchen Syriens und dem gallikanischen Ritus aufschlussreich. Allerdings hat Peter Jeffery jüngst dargelegt, dass der Ursprung der „modi“ insgesamt eher in Jerusalem zu suchen ist, wobei 21 Die Frage ist, soweit wir sehen, in der Sekundärliteratur nicht fokussiert gestellt worden. Dass bald politische und bald sprachlich-kulturelle, nämlich das griechische Wissen in den Vordergrund rückende, Konstituenten im Spiel waren, geht aus den Analysen Rentschlers hervor (zu politischen Faktoren siehe insb. Rentschler 1980, S. 114, 130, 138f. und 146, zu sprachlichkulturellen Faktoren ebd., S. 119–134). 22 Zu den Beziehungen zwischen der Reichenau und Byzanz siehe ebd., S. 128f. 23 Über dessen mögliche Kontakte mit Byzantinern siehe Kapitel 1.1–2. 24 Die Frage nach den realhistorischen Gemeinsamkeiten und Unterschieden zwischen byzantinischer und lateinischer „modus“-Lehre und -Praxis überschreitet den Fokus der gegenwärtigen Studie. Zweifellos aber haben wir es mit einer sehr viel komplexeren Situation zu tun, als es die Einheit suggerierenden Autoren implizieren. Siehe dazu Haas 1997a, S.  162–169, Jeffery 2001, S. 147–177, Atkinson 2009, S. 114–118. 25 Huglo 1975, S. 140. 26 Huglo 2000, S. 67. – Dieses Zeugnis scheint Jeffery 2001 (S. 155) übersehen zu haben. 27 Huglo 2000, S. 68. 28 Van Esbroeck 2002, Sp. 383.

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 Kulturaustausch zwischen Byzanz und lateinischem Westen

„Syrien“ dennoch eine wichtige Rolle bei ihrer Tradierung gespielt haben dürfte.29 Jerusalem freilich befand sich ebenfalls bis ca. 640 im oströmischen Reich, und im Abbasiden-Kalifat seit 750 war die Stadt Teil der Provinz asch-Scham (Syrien).30

Abb. 3: Das byzantinische Reich 622 (hellbraune Umrandung) (Großer Historischer Weltatlas, Teil II, S. 15, Ausschnitt; Abdruck mit freundlicher Genehmigung der © Cornelsen Schulverlage GmbH)

Welche konkreten Kenntnisse die lateinischen Autoren von der Herkunft der Kirchentöne bzw. ihrer Terminologie besaßen, ist nicht bekannt. Allerdings gibt es auch keinen Grund anzunehmen, dass der mittelalterliche Graeci-Begriff präziser war als der moderne Byzanz-Begriff. Aurelian selbst unterscheidet pauschal zwischen einer griechischen und einer römischen Kirche: „tam romane quam grece ecclesiae“.31 Hier werden offensichtlich die beiden Kirchen als voneinander getrennte Institutionen aufgefasst, denn dass sich das Begriffspaar grece … romane lediglich auf die Sprache bezieht, ist wenig plausibel, da Aurelian an solchen Textstellen die Vokabel latine benutzt,32 romane dagegen auf den Bezug zu „ecclesia“ beschränkt.33 29 Jeffery 2001, insb. S. 178–181, 185–209. 30 Siehe die Karten im Großen Historischen Weltatlas, Teil I, S. 55, Teil II, S. 15 und 16. 31 AURELIAN., cap. VIII, S. 83. 32 Vgl. etwa ebd., cap. III, S. 65f. 33 Vgl. die zweite Erwähnung von romana ecclesia, ebd., cap. XX, S. 133.



Übernahme byzantinischer Kirchentöne 

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Dass den Musikgelehrten an den Höfen der Karolinger byzantinische Musik und Musiktheorie „nicht fremd“34 war, zeigt etwa auch die Anekdote, dass Karl der Große, nachdem er 802 in Aachen eine Gruppe byzantinischer Gesandter Antiphone singen gehört hatte, einen ihm nahestehenden Kleriker beauftragte, diese Stücke ins Lateinische zu übersetzen und dabei darauf zu achten, dass die lateinischen Worte ebenso passend zur Melodie gemacht werden müssten wie die griechischen.35 Ebenfalls auffallend ist, dass die „litterae significativae“ des (allerdings nach Aurelian schreibenden) Notker Balbulus36 große Ähnlichkeit mit den byzantinischen „grammata“ aufweisen.37 Die Beobachtung, dass die „choralorganisatorischen Tätigkeiten“ des Papstes Vitalian im dritten Viertel des siebten Jahrhunderts „unter starkem östlichen Einfluß gestanden“ haben,38 belegt ebenso Kontaktbereiche zwischen lateinischem Westeuropa und Byzanz in musikalischen Kontexten wie die Tatsache, dass sowohl 757 als auch 812 dem karolingischen Herrscher ein „organum“ von Seiten der byzantinischen Kaiser geschenkt wurde.39 Generalisierende Aussagen über den nicht-musikbezogenen kulturellen und politischen Kontakt zwischen Byzanz und dem Westen bezüglich des 9. Jahrhunderts, aber auch darüber hinaus, zu treffen, ist kaum möglich. Während etwa Nikolaus Staubach geradezu von einem „spätkarolingisch-frühottonische[n] ‚Philhellenismus‘“ spricht,40 sieht Ralph-Johannes Lilie dies offenbar sehr viel kritischer.41 Festzuhalten bleibt aber, dass Kontakte bestanden,42 in deren Rahmen auch die musikalischen Beziehungen zu verorten sind. Wenngleich Huglo und Floros konstatieren, dass die Vokabeln der lateinischen und byzantinischen Intonationsformeln nicht identisch sind,43 so hätten sich doch die „gebräuchlichen Namen der lateinischen Neumen zum größten Teil als Lehnwörter oder Lehnübersetzungen aus dem Mittelgriechischen erwiesen.“44 Die Intonationsformeln des 34 Schuler 1970, S. 34. 35 Wellesz 1963, S. 345, Atkinson und Sachs 1982, S. 135, bes. Anm. 44. 36 Siehe dazu auch oben, Kapitel 1.3. 37 Siehe Floros 1970, S. 134–169; vgl. ferner Wellesz 1963, S. 345. – Im Folgenden betont Floros mehrmals „engste Zusammenhänge“ (S. 137), so dass letztlich „alle Anzeichen dafür sprechen, dass die durch die ‚litterae‘ abbreviierten lateinischen Termini technici Übersetzungen der parallelen griechischen Ausdrücke darstellen“ (S. 138). 38 Floros 1970, S. 229. Floros betont die Abhängigkeit und Nähe von Rom zu Byzanz bis in die Mitte des 8. Jahrhunderts (S. 227). 39 Siehe dazu unten, Kapitel 2.2. 40 Staubach 1991, S. 343. – Atkinson und Sachs 1982 sprechen von „Graecophilie“ (S. 141). 41 Lilie 2011. 42 Siehe zur Rezeption der Kultur der Graeci z. B. Rentschler 1978 und 1980, Schreiner 1991, Schieffer 2008, Forrai 2012. 43 Huglo 2000, S. 85, und Floros 2006, S. 311. 44 Floros 2006, S. 315.

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 Kulturaustausch zwischen Byzanz und lateinischem Westen

lateinischen Westens seien somit eine „abendländische Adaption von ursprünglich östlichen Formeln,“45 seine Choralnotation „mit bestimmten Änderungen direkt von Byzanz übernommen und selbstständig weiterentwickelt“ worden.46

2.2 Byzantinische Orgelschenkungen: Graeci in den Quatuor principalia Frank Hentschel In den Quatuor principalia (14. Jh.) findet sich eine merkwürdig eingeflochtene Referenz auf ein auch anderweitig nachgewiesenes47 Ereignis des Jahres 757: Damals schenkte der byzantinische Kaiser Konstantin V. dem Fränkischen König Pippin III. eine Orgel. In den Quatuor principalia ist zu lesen: Communiter vero organum appellatur, quilibet cantus ecclesiasticus tempore mensuratus. Sed organum proprie sumptum, mensuram non retinet, modum pronuntiandi notas habet, et illud purum organum appellatur, quod a dulcedine et melodia originem trahit. De auctore autem organi atque ejus inventione certitudinem, non aliter inveni quam in Genesi, capitulo quarto, ubi dicitur quod Tubal fuit pater canentium in cithara et in organo. Verumtamen sicut de Graecia musica descendebat ad nos, ita et organum. Nam anno Domini, 757, venit organum primo in Franciam missum a Constantino rege Graecorum, Pippino imperatore. Non enim erat musica tunc mensurata, sed paulatim crescebat ad mensuram usque ad tempora Franconis qui erat musicae mensurabilis primus auctor approbatus.48 Allgemein wird jede hinsichtlich der Zeit gemessene kirchliche Musik als „organum“ bezeichnet. Das Organum im engeren Sinne besitzt jedoch kein Maß, [sondern] besitzt eine Regel (modus) zur Ausführung der Noten; und dieses wird Organum purum genannt, das seinen Ursprung in Sanftheit und Melodie besitzt. Über den Urheber des „organum“ aber und seine Erfindung konnte ich nirgends sonst Gewissheit finden als im vierten Kapitel der Genesis, wo gesagt wird, dass Tubal der Vater der Musik mit „cithara“ und „organum“ gewesen sei. Gleichwohl ist das „organum“ wie die Musik überhaupt von den Griechen auf uns gekommen. Denn im Jahre des Herrn 757 gelangte die Orgel erstmals ins Frankenreich, geschickt von Konstantin, dem König der Griechen, an Kaiser Pippin. Denn damals war die Musik nicht gemessen, sondern entwickelte sich allmählich zur Gemessenheit bis zur Zeit Francos, der der erste anerkannte Autor der „musica mensurabilis“ war.

45 Huglo 2000, S. 69. 46 Floros 2006, S. 318. 47 Siehe Apel 1948, S. 204, und Maliaras 1991, S. 172, Anm. 31 mit weiteren Literaturhinweisen. Das Ereignis wird in jeder Orgelgeschichte behandelt. 812 soll eine weitere Orgel ins Karolingerreich gelangt sein (Schuler 1970, S. 36, Floros 2006, S. 261, ferner S. 306). 48 QUAT. PRINC., S.  297. Luminita Florea Aluas vermutet, John of Tewkesbury sei der Autor (Aluas 1996, S. 29).



Byzantinische Orgelschenkungen 

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Die Homonymie von „organum“ als Bezeichnung für mehrstimmige Musik sowohl allgemein wie auch speziell für die Gattung Organum und als Bezeichnung für das Musikinstrument sowie die Zusammenführung biblischer und griechischer Traditionskonstruktionen in diesem Zitat muten zunächst gewaltsam an, können aber aufgrund von Fritz Reckows terminologigeschichtlichen Untersuchungen möglicherweise harmonisiert werden.49 Ihnen zufolge stellt das Moment des reinen Zusammenklangs, des „symphonen Verhältnisses“ der Töne den Sinnkern des „organum“-Begriffs dar,50 und der Ausdruck „instrumenta organica“ bezeichnete Instrumente mit „exakt festgelegter Stimmung“.51 Möglicherweise greift der Autor der Quatuor principalia diese ursprüngliche Bedeutungsschicht des Wortes „organum“ auf und kann über diese Idee des symphonen Zusammenklangs sowohl die Erfindung der Musik, für die der symphone Zusammenklang – wie in der hier allerdings nicht explizit genannten Pythagoras-Legende deutlich wird – der Töne zentral ist, als auch die Orgel als „instrumentum organicum“ und schließlich die prototypische Form der Mehrstimmigkeit, das „organum purum“, miteinander verknüpfen. Der Graeci-Begriff ist damit freilich noch nicht geklärt. Er steht hier in direktem Zusammenhang mit den antiken Griechen, auf die mit dem Verweis auf den Ursprungsdiskurs der Musik hingewiesen wird. Dass dem Autor der Quatuor principalia daher das byzantinische Reich seiner Zeit, das gegenüber den vorigen Jahrhunderten stark an Bedeutung verloren hatte,52 vor Augen stand, wenn er auf das Ereignis von 757 anspielt, ist nicht anzunehmen. Eher scheint der Aussage die Vorstellung einer Kontinuität der griechischen Kultur zugrunde zu liegen. Und in der Tat wurde in der byzantinischen Kultur die antike Tradition der Orgel fortgeführt. Das Instrument wurde bei staatlichen und privaten Festlichkeiten, auch bei Volksfesten, eingesetzt.53 Eine zentrale Rolle spielte die Orgel im höfischen Zeremoniell.54 Jean Perrot erwägt sogar, ob Kaiser Theophilos im 9. Jahrhundert selbst Orgeln konstruiert habe.55 Wenn sich Autoren auf die Orgel aus Byzanz beziehen, lässt sich diese Größe geografisch nicht näher spezifizieren. Das Instrument bzw. die unter diesem Namen subsummierten Instrumente waren im byzantinischen Reich nicht auf einen bestimmten geografischen Raum beschränkt. Über die Orte, an denen Orgeln gebaut wurden, scheint nichts bekannt zu sein. Berichte über

49 Reckow 1971 und 1975; siehe auch Haas 1997b. 50 Reckow 1971, S. 7. 51 Ebd., S. 6. 52 Siehe dazu zusammenfassend Guillou 2002, Sp. 1261–1266. 53 Markovits 2003, S. 387f. 54 Dazu Maliaras 1991. 55 Perrot 1965, S. 222.

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 Kulturaustausch zwischen Byzanz und lateinischem Westen

Orgeln aus frühbyzantinischer Zeit verweisen in geografischer Hinsicht auf Rom, Konstantinopel, Syrien, Oxyrhnchos, Ḥamā, Palästina, Jerusalem, Antiocheia, Alexandreia, Athen, Karthago; die meisten der – allerdings nicht übermäßig zahlreichen – Zeugnisse beziehen sich auf Konstantinopel.56

56 Markovits 2003, S. 388.

3 Beschreibung gemeinschaftsspezifischer Praktiken Die meisten relevanten Quellen beziehen sich natürlich auf regionale, d. h. gemeinschaftsspezifische musikalische Charakteristika, Eigentümlichkeiten, Gewohnheiten, Bräuche usw. Wie in der Einleitung angedeutet, bietet es sich an, diese Quellen nochmals in zwei Kapitel zu unterteilen, je nachdem ob die Autoren solche Charakteristika wertneutral beschreiben oder ob sie sie beurteilen. Im vorliegenden Kapitel werden die (tendenziell) wertneutralen Beschreibungen behandelt. Sie lassen sich nochmals thematisch gruppieren in Zeugnisse, die den Choral betreffen (3.1–6), und solche, die die Notation von Mensuralmusik behandeln (3.10–13). Daneben gibt es drei Quellen, die sich auf diverse andere musikalische Praktiken beziehen (3.7–9). Diese primäre thematische Ordnung wurde mit einer sekundären chronologischen kombiniert, die dort greift, wo keine thematischen Kriterien vorhanden sind. Hieraus ergibt sich sowohl die interne Reihung der Unterabschnitte als auch die Aufeinanderfolge der thematischen Gruppen.

3.1 Choral In oralen Musikkulturen herrschen andere Begriffe von Gleichheit und Verschiedenheit vor als in schriftlichen.1 Die modernen, von Schriftlichkeit geprägten Begriffe von Gleichheit und Verschiedenheit haben zur Differenzierung einer Vielzahl von terminologisch voneinander abgegrenzten Choraltypen geführt, die sich in Namen wie dem altrömischen, dem beneventanischen, dem gallikanischen Choral usw. niedergeschlagen haben. Je nach Kontext gab es selbstverständlich aber auch im Mittelalter ein Bewusstsein von Choralvarianten. Insbesondere dann, wenn die musikalische Toleranzbreite in Konflikt geriet mit der Vorstellung einer einheitlichen Liturgie (wie beim berühmten Streit über die Verbreitung des richtigen Gesangs im Reich Karls des Großen)2 oder wenn die zunehmende Rolle von Schriftlichkeit die Begriffe von Gleichheit und Verschiedenheit beeinflusste (wie bei Guido von Arezzo3), konnte die Differenz in den Fokus rücken. Die relative Häufigkeit, mit der Gemeinschaftsbegriffe im Zusammenhang mit Choralvarianten im Musikschrifttum des Mittelalters auftreten, reflektiert den für orale Tradierungen typischen Variantenreichtum der Musik. 1 Haas 2005, S. 227–236. 2 Siehe Haug 2014. 3 Siehe unten Abschnitt 3.1.5.

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 Beschreibung gemeinschaftsspezifischer Praktiken

3.1.1 Die „mos … veteranorum cantorum“ des Aurelianus Reomensis und die Stellung der gallikanischen Liturgie im Westfrankenreich des späten 9. Jahrhunderts4 Marie Winkelmüller Im 15. Kapitel der Musica disciplina, d. h. im siebenten Kapitel des darin enthaltenen Tonars, beschreibt Aurelianus Reomensis eine musikalische Gepflogenheit der „veteranorum cantorum preasertim Gallias degentium“. Er erläutert sie als eine Veränderung der Responsorienverse, die aber auf eine wilde Kürzung dieser Gesangsteile ohne Beachtung der einfachen, modalen Regeln, daher ohne Rücksicht auf den Wohlklang hinauslaufe. Mit dieser Bemerkung ordnet Aurelianus seinen Traktat in eine Diskussion ein, die von verschiedenen karolingischen Kirchengelehrten zu Beginn des 9. Jahrhunderts geführt wurde. Auch sie bedauerten die Kürzung der Responsorienverse, wandten sich aber – anders als Aurelianus – nicht der Musik, sondern ausschließlich dem Text zu und versuchten, die durch Auslassungen ungewollt entstehenden, möglicherweise theologisch nicht vertretbaren Inhalte oder Unverständlichkeiten zu beseitigen. Helisachar schrieb darüber um 820, Amalar von Metz zwischen 838 und 844 – in einer Zeit also, in der das Problem Aktualität besaß. Da Aurelianus von einer von „veterani cantores“ gepflegten, daher zu seiner Zeit nicht mehr gebräuchlichen Gesangspraxis berichtet, muss sein Traktat, wenigstens die diese Beschreibung enthaltende Textstelle, aus der zweiten Hälfte des 9. Jahrhunderts datieren, genauer aus den 860er oder 870er Jahren. Gallien ist seit der Antike, von der die Karolinger ihre geografischen Kenntnisse bezogen und deren Begrifflichkeit sie übernahmen, ein primär geografischer Begriff. Gallien erstreckte sich demnach von der Atlantikküste bis zum Rhein, vom Ärmelkanal bis zum Mittelmeer, von den Pyrenäen bis zu den Alpen. In diesem Sinne wurde die Bezeichnung Gallia in der Singularform benutzt. Die Pluralform, die Aurelianus verwendet, hingegen entstand mit der Einteilung des Gebiets in verschiedene Provinzen und begann bereits in der Antike mit dem Terminus im Singular zu konkurrieren. Gemeint war damit nicht mehr das Territorium, sondern die Summe aller Provinzen, die es auf diesem Gebiet gab. In der Regierungszeit Karls des Kahlen, die von verschiedenen Reichsteilungen überschattet wurde (842 und 877) und in der sich daher die politischen Grenzen ständig veränderten, gewann der geografische Begriff im Gegensatz zum unscharf werdenden politischen, also auf die Provinzen zielenden Terminus wieder an Bedeutung. Durch ihn wurde das Gebiet unabhängig von seiner Zugehörigkeit zum einen oder anderen fränkischen Teilreich bezeichnet. Dass ein Mönch aus 4 Zusammenfassung von Winkelmüller 2014.

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Réomé wie Aurelianus ausgerechnet die Pluralbildung bevorzugte, mag daran gelegen haben, dass das Erzbistum Lyon, zu dem sein Kloster gehörte, sich auf diese zwei Teilreiche erstreckte. Tatsächlich lässt sich das von Aurelianus beschriebene Phänomen für das geografische Gebiet nachweisen, das mit Galliae angesprochen zu sein scheint. Die Kirchengelehrten, die sich an der Diskussion beteiligten, wirkten an Stätten (Klöstern und Bistümern), die sich auf das gesamte Gallien verteilten. Eine Untersuchung von Antiphonaren dieser Zeit, in denen die Kürzungen der Responsorienverse vorkommen, ergibt außerdem, dass die Praxis ebenfalls in den verschiedenen Regionen des gallischen Territoriums zu finden war, außerdem auf der iberischen Halbinsel und in Norditalien, also preasertim Gallias.

3.1.2 Politische Unifikationsbestrebungen im Konflikt mit der Wahrung lokaler Tradition: Gallia tota im Gedicht „Olim romulea“ (Montecassino 318) Marie Winkelmüller In der Hs. 318 des benediktinischen Klosters Montecassino (I-MC 318), die im späten 11. Jahrhundert geschrieben wurde,5 findet sich folgendes Gedicht, dem am Schluss eine kurze Sententia beigefügt ist:

5 Zu dieser Handschrift, den Umständen ihrer Entstehung und zu ihrer Datierung siehe Rusconi 2001.

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 Beschreibung gemeinschaftsspezifischer Praktiken

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AMBROSIUS

KAROLUS

PAULINUS

SENTENTIA

Olim romulea sanctus qui mansit in urbe, Gregorius presul, condidit istud opus. V. Per spatia cuncta vertentis qualiter anni, Nocte de est7 possit reddere quisque preces V. Eterno regi regnanti in secula Christo, Si fuerit codex, sufficit iste quidem. V. Carmina multa quidem8 prisci cecinere poete, Isto sed nullum dulcius esse potest. V. Ligurie presul sanctus Ambrosius urbis Carmina composuit ecce9 canore pio, V. Nectare seu tanto potuisset ut effera corda Mulcere et legis dogma docendo sacre. V. Hoc fateor digne sanctus quod fecit in orbe, Quod mecum terra firmat et ipsa simul. V. Insignis Karolus romanum pangere carmen Omnibus ecclesiis iussit ubique sacris. V. Unde per Italiam crevit contemptio10 multa Et status ecclesie luxit ubique sacre. V. Tunc Paulinus homo pietatis, munere presul, In clero cuncto hec sua verba dedit: V. Ieiunii tempus seu11 pura oratio nostra Sit coram Christo, narret ut istud opus. V. Tunc crucis elegit victricia signa sacrata12, Ex his quale Deo rite placaret opus. V. Atque duos pueros tali pro carmine fecit Expansis manibus stando rogare deum. V. Immobilis vir romuleo pro carmine mansit, Alter et e contra ecce precando ruit. V. Tunc statuit presul romanum ut carmen in orbe Plebs itala caneret tempus in omne Deo. V. Hoc itaque pangunt Europa et Gallia tota; Carminibus multis eminet istud opus. Quod autem dicitur: „alter e contra ecce precando ruit“, non est intelligendum, ut cantus ambrosianus abominandus sit. Sed annuente Deo romanus cantus est preferendus pro brevitate et fastidio plebis.

6 Der Text ist Rusconi 2005, S. 22f., entnommen, was die Schreibweise und bestimmte Lesarten bedingt. Andere Lesarten werden im Text in eckigen Klammern wiedergegeben. 7 de est] die ut bei La Fage 1864, S. 403. 8 quidem] quidam La Fage 1864, S. 403. 9 Cattaneo 1946, S. 57, liest hier statt „ecce“ „hecque“. Entsprechend wurde der Satz übertragen.

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Einst schuf der Heilige Bischof Gregor, der in der Stadt Rom lebte, dieses Werk. Wäre ein Buch vonnöten, damit jeder durch alle Zeiträume des sich wandelnden Jahres hindurch, des Nachts wie des Tages, Christus, dem ewigen, für alle Zeiten herrschenden König, die Gebete darbringen kann, so genüge dieses. Die alten Dichter haben gewiss viele Gesänge gekannt, doch keines kann süßer als dieses sein. Der Heilige Ambrosius, Statthalter der Hauptstadt Liguriens, verfasste Gesänge mit gottgefälliger Melodie und Süße, um rohe Herzen zu besänftigen und ihnen zugleich die Lehren des göttlichen Gesetzes zu vermitteln. Ich bekenne, dass der Heilige auf würdige Weise in der Welt wirkte, was mit mir auch das Land selbst bekräftigt. Der hehre Karl befahl allen heiligen Kirchen, wo immer sie seien, den römischen Gesang zu singen. Daher entstand in ganz Italien großer Aufruhr, und überall verdüsterte sich das Ansehen der heiligen Kirche. Da sprach Paulinus, ein Mann voller Frömmigkeit und seines Amtes nach ein Bischof, diese Worte vor dem gesamten Klerus: „Eine Zeit des Fastens und unser reines Gebet sei vor Christus, damit er sich uns in dieser Sache mitteile“. Dann wählte er die siegreichen und geheiligten Zeichen des Kreuzes aus, um daraus zu erkennen, welches Werk [d. h. welche der beiden Gesangstraditionen: Rom oder Mailand] Gott wahrhaft zu gefallen vermöge. Und er verfügte, dass zwei Knaben für den jeweiligen Gesang mit ausgebreiteten Händen aufrecht stehen und Gott anrufen sollten. Der für den römischen Gesang blieb unbeweglich stehen, der andere hingegen stürzte während des Gebets zu Boden. Daraufhin bestimmte der Bischof [Paulinus], dass das italische Volk im ganzen Land und für immer den römischen Gesang singen solle. Diesen singen auch Europa und ganz Gallien. Dieses Werk überragt [die andere Tradition] durch Gesänge. Wenn es aber heißt: „der andere hingegen stürzte während des Gebets zu Boden“, so ist das nicht so zu verstehen, dass der ambrosianische Gesang zu verabscheuen sei, wohl aber so, dass mit der Zustimmung Gottes der römische Gesang vorzuziehen sei wegen seiner Kürze und weil er dem Geschmack des Volkes entgegenkommt.13

10 contemptio] contentio La Fage 1864, S. 403. Ich folge erneut der Lesart La Fages. 11 Seu] sex La Fage 1864, ebd. 12 La Fage 1864, ebd., liest „sacratae“, also des geweihten Kreuzes. 13 Ich danke Felix Heinzer, Freiburg, für die Hilfe bei der Übersetzung dieses schwierigen Textes. Übersetzungen dieses Gedichts finden sich außerdem in Amelli 1899, S. 9 f., sowie in Cuscito 1979, S. 239–242.

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 Beschreibung gemeinschaftsspezifischer Praktiken

In diesem Gedicht wird der Gegensatz zwischen Gesängen einer nicht namentlich präzisierten, aufgegebenen und einer sie ablösenden, als römisch bezeichneten Liturgie14 thematisiert sowie die geschichtliche Entwicklung, die zu diesem Wandel geführt hat. Gregor, also Papst Gregor der Große, hatte Gebete in einem Buch zusammengetragen, die von Ambrosius von Mailand vertont wurden. Karl, wahrscheinlich der Große, wollte in Italia aber die römische Liturgie durchsetzen, darunter auch in der Diözese des frommen Paulinus. Dieser schien aber von der Richtigkeit dieses Wandels nicht überzeugt gewesen zu sein, verließ sich jedoch auf ein Gottesurteil, das zugunsten der als römisch bezeichneten Gesänge und der zugehörigen Liturgie entschieden wurde. Darum wurden die Gesänge aus diesem Buch nicht nur in Italia, sondern auch in Europa15 und in tota Gallia angenommen. Das Gedicht ist weder zu gleicher Zeit noch am gleichen Ort entstanden wie die Handschrift, in der es überliefert ist. Es enthält Topoi und Züge einer Argumentationsweise, die im 11. Jahrhundert nicht mehr geläufig, rund zweihundert Jahre zuvor jedoch üblich waren. Der Name Paulinus deutet auf Paulinus II. von Aquileia, einen Grammatiklehrer am fränkischen Hof und Vertrauten Karls des Großen, hin,16 dem nach der Eroberung des Patriarchats im Jahre 77417 vom fränkischen König aufgetragen wurde, dort die als römisch geltende Liturgie18 und damit auch ihren Gesang einzuführen.19 Das tat Paulinus auch, allerdings nicht ohne Zögern; denn anders als im Frankenreich, wo zumindest von der den Übergang zur sogenannten „römischen Liturgie“ anordnenden Obrigkeit (dem König und einigen ihn beratenden hohen kirchlichen Würdenträgern) der Traditionswechsel kategorisch, endgültig und rücksichtslos durchgeführt wurde,20 scheint Paulinus neben dem sogenannten „römischen Ritus“ auch einige Bräuche und Gesänge der Lokaltradition nicht nur geduldet, sondern ihren Erhalt sogar 14 Rusconi 2001, S. 131. 15 Zu Europa siehe oben, in der Einleitung, S. 3. 16 Cuscito 1979, S. 243, Rusconi 2005, S. 5. 17 Zorzi 1985, S. 702. 18 Der in diesem Gedicht als römisch bezeichnete Gesang ist mit der zur gleichen Zeit bestehenden römischen Tradition nicht zu verwechseln. Dahinter verbirgt sich nur der Gesang, den die Franken römisch (cantus romanus) nannten. In Wirklichkeit scheint dieser eine Kombination aus römischen päpstlichen Zeremonialgesängen und gallikanischem Substrat zu sein (siehe hierzu Levy 1984). 19 King 1959, S. 8. 20 Die Entscheidungsträger überblickten allerdings kaum, was für einen Aufwand die liturgische Reform darstellte (vgl. hierzu die Beschreibung derselben liturgischen Reform in Winkelmüller 2014, S. 103f.); dennoch prägen ihre Zeugnisse die heutige Sichtweise über jene Zeit, da die Geschichtswerke und andere überlieferte amtliche Dokumente ja nur die Perspektive der Obrigkeit tradierten. Tatsächlich floss eine große Anzahl von Gesängen der gallikanischen Tradition mit in die neue, diese ersetzende Liturgie ein (siehe hierzu Levy 2000, 2001 und 2003).

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gefördert zu haben.21 Er scheint also den angeordneten liturgischen Wechsel im Sinne eines Kompromisses zwischen Anweisungen der Entscheidungsträger und Wünschen des Klerus durchgeführt zu haben. Ob dieses letztlich einer Reflexion über die Vorzüge der Lokaltradition, einer einfühlsamen Vermittlung oder einem Scheitern an der Realität, die von argem Widerstand und glatter Ablehnung geprägt war, zuzuschreiben ist, konnte bislang nicht rekonstruiert werden.22 Die zögerliche Haltung des Paulinus ist aber aus dem Gottesurteil sehr deutlich herauszulesen und zeigt einen Menschen im Spannungsfeld zwischen Treue zum König und Pflichtgefühl einerseits und persönlicher Auffassung bzw. Einengung der politischen Handlungsmöglichkeiten andererseits. Das Gedicht weist eine gewisse inhaltliche Verwandtschaft mit dem „Gregor praesul“-Gedicht auf,23 das wie die vorliegenden Verse dem cassianischen Mönch, lombardischen Historiker und Vertrauten Karls des Großen24 Paulus Diaconus zugeschrieben wird.25 Über sprachliche Gemeinsamkeiten wie die Bezeichnung der Gesänge als „carmina“, des Papstes als „praesul“ und des Antiphonars als „opus“ sowie die Parallelität in der Beschreibung der Tätigkeit Gregors26 hinaus, ist vor allem die ähnliche Argumentation hervorzuheben. Gedichte wie das hier analysierte und jenes mit „Gregor praesul“ beginnende sind typische Produkte27 aus der Zeit der fränkischen liturgischen Reform.28 Der Wechsel von der lokalen gallikanischen Liturgie zum römischen Ritus war vermutlich für die weniger bedeutenden kirchlichen Würdenträger keine populäre Maßnahme. Um sie besser durchsetzen zu können und den Widerstand wenn nicht zu brechen, so doch ihm entgegenzutreten, verknüpfte man die liturgischen Bücher und ihre Gesänge mit verschiedenen, damals hoch angesehenen Autoritäten. Eine von ihnen war Gregor der Große, dem neben der Gründung der Schola cantorum auch die Autorschaft der im Frankenreich verwendeten musikalischen Bücher, 21 Cuscito 1988, S. 154, Huglo 1976. 22 Cuscito 1988, S. 162, betont zu Recht, dass trotz der zahlreichen tradierten poetischen Werke des Paulinus keine Zeugnisse über seine Wirkung und seine Auffassung zur liturgischen Reform im Patriarchat von Aquileia überliefert sind. 23 Rusconi 2005, S. 10. – Edition und Kommentar des Gedichts in Stäblein 1968. 24 Kelly (1989), S. 22f. 25 Amelli 1913, S. 153–175, Cattaneo 1946, S. 56. 26 „Nocte de est possit reddere quisque preces, Eterno regi regnanti in secula Christo“ des „Olim romulea“-Gedichtes antwortet auf „reciprodando modoletur carmina Christo“ des „Gregor praesul“-Gedichtes (vgl. hierzu Stäblein 1968, S. 123/543). 27 Ähnliche Gedichte hat z. B. auch Alcuin verfasst. Siehe Jullien und Perelman 1999, S.  397 und 413. 28 Vgl. die Zusammenfassung ihrer Konsequenzen für den Sänger im Kommentar der Textstelle aus der Musica disciplina des Aurelianus Reomensis. Ausführlich beschrieben wurde sie von Vogel 1965, S. 173–240.

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insbesondere des Antiphonars, zugeschrieben wurde29 und der durch die breite Rezeption seiner Briefe und der von Paulus Diaconus verfassten Biografie auch beim weniger bedeutenden Klerus berühmt und unantastbar wurde.30 Als eine weitere, wenn auch für die Franken weniger wichtige Autorität wird hier außerdem Ambrosius genannt, dessen Vorbildlichkeit jener Gregors untergeordnet wird. (Im Gedicht wird von Ambrosius gesprochen, als hätte er nach Gregor dem Großen gewirkt.) Aufgrund seines Inhalts scheint der Text nicht nach der Mitte des 9. Jahrhunderts entstanden zu sein, wie von Rusconi vermutet,31 denn er steht in unmittelbarem Zusammenhang mit den von der liturgischen Reform bedingten Streitigkeiten, Rechtfertigungen und Polemiken, den Unzufriedenheiten und Widerständen, die um und nach 850 bereits beigelegt waren. Viel wahrscheinlicher ist es, dass das Gedicht aus einer Zeit stammt, in der die Diskussion noch geführt wurde, d. h. aus dem späten 8.32 bzw. den ersten Jahrzehnten des 9. Jahrhunderts33. Das Gedicht ist – im Unterschied zur Sententia – mit großer Sicherheit nicht im Umfeld von Montecassino entstanden, denn in einer Region, in der Ambrosius als Gründer der lokalen beneventanischen Tradition galt,34 wäre dieser wohl nicht der römischen Liturgie zugerechnet worden. Der Text dürfte also außerhalb des Raumes um Mailand und Benevent bzw. Montecassino entstanden sein, wahrscheinlich im fränkischen bzw. im fränkisch beherrschten Raum, womöglich in jenem gerade eroberten um Aquileia.35 Der Inhalt, den das Gedicht tradiert, war für Montecassino in der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts brisant und aktuell. Denn ähnlich wie Aquileia nach 774 musste das Kloster seine lokale Liturgie mitsamt dem dazugehörenden Gesang aufgeben und die sogenannte „römische Liturgie“ und ihr entsprechendes melo29 Dieser Mythos wurde in der Neuzeit oft diskutiert, jedoch ohne dass man zu überzeugenden Schlüssen gelangt wäre. Er rückte vor allem ins Zentrum des Interesses, als die Forschung der 1950er- und 1960er-Jahre den Entstehungsort des nach ihm genannten Gesangs (Rom oder Frankenreich) zu rekonstruieren versuchte (siehe Hourlier 1954, Hucke 1953 und 1954, van Dijk 1961, Stäblein 1967 und 1970 sowie in jüngerer Zeit Levy 2000, 2001 und 2003). 30 Siehe zum Ansehen, das Gregor im 8. und 9. Jahrhundert im Frankenreich genoss, Judic 1998, S. 17–57, und zum Bild, das im Rom der gleichen Zeit von ihm herrschte, Llewellyn 1974. 31 Rusconi 2005, S. 23. 32 Kelly 1989, S. 24, Kelly 1992, S. 404. 33 Stäblein 1968, S. 131/551. 34 Merkley 1988, S. 127, Kelly 1989, S. 6 und 39, Kelly 1992, S. 390, Kelly 1994, Sp. 1391. Die beneventanischen Sänger, darunter auch jene aus Montecassino, nannten ihren Gesang „cantus ambrosianus“, nicht zuletzt auch deshalb, weil sie der festen Überzeugung waren, ihr Gesang würde die gleichen Ursprünge haben, wie jener heute noch traditionell als ambrosianisch bezeichnete Gesang aus der Region um Mailand. 35 Rusconi 2005, S. 23.

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disches Repertoire annehmen. Dieses selbst befand sich schon seit der Wende vom 8. zum 9. Jahrhundert in Benevent, womöglich auch in Montecassino.36 Doch in Montecassino und den von ihm abhängigen Institutionen wurde laut Zeugnissen aus dem 10. und 11. Jahrhundert die Lokaltradition weiter gepflegt37 – womöglich auch neben dem römisch-fränkischen Gesang.38 Erst 1058, als sich das Kloster durch seine zwei Äbte Friedrich von Lothringen / Papst Stephan IX. und seinen Nachfolger Desiderius / Papst Viktor III. der von Leo IX. gegründeten Bewegung der kirchenrechtlichen und liturgischen Erneuerung anschloss, wurde die Lokaltradition verboten und schließlich aufgegeben.39 Dies ging allem Anschein nach nicht reibungslos vor sich, sondern entfachte einen Konflikt zwischen den Verfechtern der nordalpinen Tradition und den dem Lokalrepertoire verpflichteten Mönchen,40 zu denen auch der Schreiber des Gedichts zu rechnen ist. Er hat nicht nur dieses eindeutig Position beziehende Gedicht in die theoretische Sammelhandschrift I-MC 318 eingeführt; er kommentierte es außerdem mit der Sententia, die aufgrund des direkten Bezugs zum Gedicht in Form eines Zitates sowie durch den Übergang von einer Versstruktur zur Prosa nicht zum ursprünglichen Werk gehört haben dürfte: „Wenn es aber heißt: ‚der andere hingegen stürzte während des Gebets zu Boden‘, so ist das nicht so zu verstehen, dass der ambrosianische Gesang zu verabscheuen sei, wohl aber, dass mit der Zustimmung Gottes der römische Gesang vorzuziehen sei wegen seiner Kürze und weil er dem Geschmack des Volkes entgegenkommt.“ Mit dieser mutmaßlichen Interpolation versucht er wohl zum einen, der allgemeinen Missbilligung des beneventanischen Repertoires entgegenzutreten; zum anderen begründet er – als hätte die im Gedicht selbst befindliche Rechtfertigung nicht genügt – erneut und individuell die Übernahme der fränkisch-römischen Gesänge im Kloster. 36 Kelly 1992, S. 400. Kelly 1992 datiert seine Einführung in die Zeit der Eroberung Süditaliens durch Karl den Großen (S. 22); Bernard 1996, S. 769, hingegen vermutet, dass sie bereits in den 760er Jahren erfolgte. Beide sind sich indes einig, dass dieser Prozess in den 830er Jahren abgeschlossen war (Kelly 1994, Sp. 1392: 835, Bernard 1996, S. 769: 838). Jean Claire 1962, S. 202, differenziert anhand der Analyse überlieferter und datierbarer Melodien diese Ergebnisse aus, denn ihm zufolge weisen die Gesänge, die für das Fest der Translatio von den Reliquien der zwölf Märtyrer aus dem Jahr 760 entstanden sind, noch den beneventanischen Stil auf, während ein entsprechendes Fest für die Reliquien des Heiligen Bartholomäus 808 bereits römisch-fränkisch geprägt sei. Ob diese für Santa Sofia zu Benevent geltenden Schlüsse sich auch auf Montecassino übertragen lassen, ist nicht sicher. Es ist sogar wahrscheinlicher, dass diese liturgisch-musikalische Übernahme nur in den Kirchen der süditalienischen, dem Erzbistum Benevent gehörenden Diözese, stattgefunden hat. 37 Kelly 1989, S. 30f., Kelly 1992, S. 397f. 38 Kelly 1992, S. 401. 39 Kelly 1989, passim, Kelly 1994, Sp. 1392, Bernard 1996, S. 772, Rusconi 2005, S. 11. 40 Kelly 1992, S. 401 und 407.

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 Beschreibung gemeinschaftsspezifischer Praktiken

Zudem verschaffte der Schreiber dem Gedicht eine besondere Position in der Handschrift, denn er fügte es unmittelbar vor dem Tonar ein, das aber im Gegensatz zum anderen Tonar der Handschrift nicht die jüngeren Melodien erläutert, sondern eine süditalienische, vermutlich beneventanische Gesangstradition überliefert.41 Der Schreiber rechtfertigt durch Gedicht und persönlichen Zusatz den Übergang von der alten zur neuen Liturgie mitsamt ihren Gesängen, trauert aber gleichzeitig seiner Lokaltradition nach, indem er anschließend ein Zeugnis für sie liefert. Ob dies im Sinne des Abtes Desiderius war, zu dessen Regierungszeit in Montecassino nicht von ungefähr zahlreiche Bücher zur römisch-fränkischen Liturgie entstanden sind, muss offen bleiben. Sicher ist aber, dass dieses Gedicht und sein Kommentar die Haltung und den Zwiespalt des Klosters in der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts wiederspiegeln, ähnlich jenem, in dem sich Aquileia um 800 befunden haben mag. Entsprechend ist im Folgenden danach zu fragen, welche Bedeutung der Begriff Gallia tota in diesem Kontext gehabt haben könnte. Der Ausdruck ist um 800 eine in der karolingischen Zeit und ihrem Sprachgebrauch geläufige Zusammensetzung. Sie wurde bereits von den Römern, insbesondere Julius Caesar zur Bezeichnung aller Regionen, die den geografischen Raum zwischen Atlantik und Rhein sowie Ärmelkanal und Mittelmeer umfassen, geprägt42 und von den Karolingern übernommen. Der Begriff Gallia tota deutet also darauf hin, dass hier ein aus mehreren Teilen bzw. Regionen bestehender Raum gemeint ist. Er mag – der Pluralform Galliae ähnlich – „die Summe aller gallischer Provinzen oder geografischer Einheiten“ gemeint haben.43 Doch was wird hier genau bezeichnet? Südlich der Alpen fand sich noch um 800 das Begriffspaar Gallia cisalpina und Gallia transalpina, wobei sich Gallia cisalpina auf die südalpinen Regionen, Gallia transalpina auf die nordalpinen Regionen „Galliens“ bezog.44 Es ist aber nicht anzunehmen, dass der Autor des Gedichtes mit tota Gallia dieses aus nordund südalpinen Teilen zusammengesetzte Gallia meinte, denn zum einen fielen Aquileia und seine Umgebung nicht darunter; zum anderen überschnitte sich der Begriff tota Gallia mit dem Terminus plebs itala, den Ambrogio Maria Amelli für eine Bezeichnung der Völker „Norditaliens“ hält.45 Es ist also nicht wahrscheinlich, dass Gallia tota im Sinne von Gallia cis- und transalpina eingesetzt wurde. Die Zusammensetzung scheint sonst auf der italischen Halbinsel nicht vorzukommen. Der ihr ähnliche Begriff Gallia omnia war wohl eher im Umlauf und war 41 Huglo 1971, S. 193–195, Merkley 1988, S. 127, Rusconi 2001, S. 123f. 42 Lugge 1960, S. 10. 43 Ebd., S. 42. 44 Ebd., S. 140. 45 Zit. nach Cattaneo 1946, S. 59.

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schon von den antiken Römern, zuerst Julius Caesar, geprägt und parallel zu Gallia tota verwendet worden.46 Der Ausdruck omnis Galliarum provincia steht um die Mitte des 8. Jahrhunderts als „Oberbegriff für beide fränkische Teilreiche“ (Gallia und Germania) und als „Gesamtbezeichnung für das Frankenreich“ im päpstlichen Briefwechsel.47 Damit ist also das von den Franken beherrschte Gebiet nördlich der Alpen gemeint. Der Ausdruck wird im römisch-kirchlichen Umfeld im späten 8. Jahrhundert weiter verwendet.48 Zudem scheint die Zusammenfügung Gallia tota einem dichterischen Bedürfnis entsprungen zu sein, da dieser Ausdruck um eine Silbe kürzer war als Gallia omnia. Gallia im Sinne des karolingischen Reichs könnte aber auch deshalb in diesem Gedicht erwähnt worden sein, weil es natürlich ebenfalls der Liturgiereform unterzogen wurde und als erstes – noch vor Ligurien, Aquileia und Benevent – seine Gesangspraxis aufgeben musste. Italia erscheint zweimal in dem Gedicht. Die erste, substantivische Verwendung des Begriffs steht in Verbindung mit der von Karl dem Großen befohlenen Einführung des cantus romanus und der Bestrebung der Itali, diesen aufzunehmen. Der zweite, nun adjektivische Einsatz des Terminus wendet sich von der kaiserlichen zur kirchlich-praktischen Aufforderung, den cantus romanus zu pflegen und beschreibt die Reaktion des Paulinus von Aquileia auf das Gottesgericht. Italia hat im geschichtlich-politischen Kontext der Schwelle vom 9. zum 10. Jahrhundert grundsätzlich drei Bedeutungen. Sie wird territorial verstanden, womit auf die antike Ordnungsstruktur zurückgegriffen wird. Doch in diesem Sinne wird der Terminus Hans-Werner Goetz zufolge eher selten gebraucht.49 Der Begriff Italia wurde zweitens im Sinne eines großen ideellen Gefüges aufgefasst, das in karolingischer Zeit auch einen gewissen real-politischen Hintergrund besaß. Darin etablierten sich bis ins 10. Jahrhundert verschiedene kleinere Unterterritorien, die teilweise an bestehende langobardische oder karolingische Ordnungsräume (z. B. als „ducatus“, „marca“, „regnum“ oder „provincia“) anknüpften,50 im 9. Jahrhundert Tuscien, Spoleto und Friaul,51 im 10. Jahrhundert Turin / Ivrea, Mantua, Parma u. a.52 Schließlich wurde Italia nun einschrän-

46 Lugge 1960, S. 10. 47 Ewig 1976, S. 327 bzw. 331. 48 Ebd., S. 331. 49 Goetz 1987, S. 173. 50 Zur besonderen Diskussion zu den Marken vgl. Hofmeister 1907, S. 256–263. 51 Siehe Hofmeister 1907, 265–313, und Castagnetti 1991. 52 Siehe Pauler 1982. Pauler untersuchte insbesondere die Stellung der Bistümer in den Marken der ottonischen Zeit. Er kommt auf diese Weise zum Ergebnis, dass das bis dahin von der Forschung als Erklärungsmodell verwendete Reichskirchensystem als ottonisches Machtinstrument in Italien nicht zum Tragen kam (insb. Kap. XI).

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 Beschreibung gemeinschaftsspezifischer Praktiken

kend auf das Territorium der Langobardia und synonym mit letzterem verwendet. Adolf Hofmeister schreibt dazu: Allgemeine Bezeichnungen sind Langobardia und Italia. Beide werden bald für das ganze Königreich bald für einen Teil desselben gebraucht. Bald wird Spoleto und Tuscien, zuweilen auch das Litus Italicum nicht einbegriffen. Gewöhnlich ist die Beschränkung des Begriffs Italia auf Oberitalien. Einmal erscheint infolge der politischen Verhältnisse auch hier noch der Nordosten als Marchia Berengarii unter eigenem Namen, so dass also der Name Italia auf die Lombardei im engeren Sinne und den Westen beschränkt ist.53

Das Gedicht beschreibt das Schicksal der lokalen Gesangstradition aus Aquileia. Folglich werden unter Itali in erster Linie jene Menschen verstanden, die von der Reform Karls des Großen und Paulinus’ von Aquielia direkt betroffen waren. Somit verbirgt sich hinter dem Gemeinschaftsbegriff zunächst das Territorium, das dem Patriarchat Aquileia entspricht. Durch den Zusatz aber, den der Schreiber der Handschrift I-MC 318 eingeführt hat, bezieht sich Italia nicht allein auf Aquileia, sondern auch auf Benevent und dessen Herrschaftsgebiet. Die im Gedicht vorliegende Verwendung des Begriffs kommt dem Gebrauch von Italia im Sinne von Langobardia nahe, weil mit diesem Territorium die Geschichte des Patriarchats zusammenhing. Aquileia war nämlich von der zweiten Hälfte des 6. bis zum 8. Jahrhundert Teil der Langobardia.54 Daher steht das Patriarchat als pars pro toto für das gesamte langobardische Territorium.

3.1.3 Choraldialekte der Teutonici, Itali und Romani nach Theoger von Metz55 Gunnar Wiegand Im Zusammenhang der Ausführungen zum zweiten Ton liefert Theoger von Metz (1050–1121) in seiner Schrift Musica fünf konkrete Beispiele aus dem Responsorien-Repertoire seiner Zeit, die eine Besonderheit aufweisen: Sie überschreiten den regulären Tonraum von „diapason“ und „diapente“ um zwei weitere „toni“. Dieser erweiterte Tonumfang wird als „decachordum“ bezeichnet. Dieser Beobachtung fügt Theoger hinzu, dass der Dekachord-Raum vorwiegend bei den Teutonici in Gebrauch sei, Itali und Romani mieden ihn hingegen und beschränkten sich in der Musizierpraxis auf einen Enneachord-Raum, der nur bis zum b-Molle reiche.

53 Hofmeister 1907, S. 253f. 54 King 1959, S. 5–8. 55 Zusammenfassung von Wiegand 2014.

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Die Analyse sämtlicher online und im Bruno-Stäblein-Archiv Würzburg verfügbarer Handschriften zeigt, dass sich Theogers Beobachtungen heute folgendermaßen in den Quellen widerspiegeln: Die Quellen nördlich der Alpen weisen durchgehend den Dekachord-Raum auf. Eine Reihe von Quellen im heutigen Frankreich steht in der Enneachord-Variante. Die Quellen südlich der Alpen weisen allerdings nur in Ausnahmefällen die Beschränkung auf b-Molle auf. Bezieht man Theogers Aussage zu den Itali vel Romani auf den südalpinen Raum, so muss man davon ausgehen, dass der Benediktiner eine eher geringe Kenntnis von der südlichen Gesangspraxis besaß.

3.1.4 Teutonici bevorzugen Sprünge, Langobardi stufenweise Melodik (Aribos De musica)56 Gunnar Wiegand In Aribos Traktat De musica begegnet im Musikschrifttum zum ersten Mal der gentile Gemeinschaftsbegriff der Longobardi. Die Entstehung der Schrift ist für das Jahrzehnt zwischen 1069 und 1078 anzunehmen57 und somit zeitgleich zu den Wirren des Investiturstreits. Auch wenn sich vor dem Hintergrund der Streitigkeiten um die Besetzung des Bischofsamtes der Erzdiözese Mailand gerade der Begriff der Longobardia bzw. der Longobardi in den historischen Quellen als uneinheitlich und bisweilen kontrovers erweist, scheint Aribo eine recht präzise Vorstellung von der Gemeinschaft der Longobardi besessen zu haben. Die Longobardi werden im Kapitel über den „protus authentus“ erwähnt: Omnes saltatrices laudabiles, sed tamen nobis generosiores videntur quam longobardis. Illi enim spissiori, nos [Teutonici] rariori cantu delectamur.58 Alle „saltatrices“ / Sprünge sind löblich, aber freilich erscheinen sie uns edler als den Longobardi. Jene nämlich erfreuen sich am engeren, wir hingegen am weiteren Gesang.

Betrachtet man den ersten zitierten Satz für sich, so hat man den Eindruck, dass Aribo mit blumigen Worten eine Tanzaufführung oder eine grazile Sprungtechnik beschriebe, für welche sich die Teutonici mehr begeistern als die Longobardi. 56 Überarbeitete und stark erweiterte Fassung von Wiegand 2014, S. 242–246. 57 Zum aktuellen Stand der Datierung des Traktats und der biografischen Identität Aribos siehe Ilnitchi 2005, S. 1–15. 58 ARIBO, S. 55. Dass Aribo unter „nos“ die Teutonici verstand, kann man einer Illustration des Traktates entnehmen (siehe dazu weiter unten zur Handschrift Admont 494). – Zum Begriff der Teutonici in dieser Zeit siehe Kap. 3.1.5 (a).

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Dass es sich bei der Verwendung des Terminus „saltatrix“ jedoch nicht um eine Tänzerin / Springerin handelt, sondern um einen spezifischen musiktheoretischen Begriff Aribos, zeigt ein Blick in den vorhergehenden Kontext des Kapitels: Protus autentus, id est, primus tonus quinque species diatesseron includit, unam primam formalem, unam secundam formalem, unam terciam naturalem, unam terciam formalem, unam primam naturalem. Quarum quinque unaquaeque tres habet mutationes, saltatricem, continuam vel spissam, ternariam. Saltatrix duas ultimas tangit chordas, continua cunctas, ternaria tres. Saltatrix ex spissa duplices sunt intendendo et remittendo. Ternaria quadrupla, utpote duplex intendendo, duplex remittendo.59 Der „protus autentus“, der auch „primus tonus“ genannt wird, beinhaltet fünf Quint-Spezies, eine „prima formalis“, eine „secunda formalis“, eine „tertia naturalis“, eine „tertia formalis“, eine „prima naturalis“. Von diesen fünf besitzt eine jede drei Möglichkeiten der Veränderung („mutationes“): „saltatrix“ [wörtl. Sprung], „continua“ [wörtl. fortsetzend] oder „spissa“ [wörtl. eng] „ternaria“ [wörtl. dreiteilig]. Die „saltatrix“ berührt die beiden letzten, die „continua“ wenige und die „ternaria“ drei Saiten. Die „saltatrix“ und die „spissa“ liegen in zweifacher Gestalt vor: „intendendo“ [wörtl. in eine Richtung zielend] und „remittendo“ [wörtl. zurückkehrend].

In diesem Fall wird die „saltatrix“ als die erste Veränderung („mutatio“) von fünf Quartspezies („species diatesseron“) bezeichnet, welche ihrerseits den „protus authentus“ kennzeichnen. Bevor daher der Begriff der Longobardi ins Zentrum der Betrachtung rückt, soll zunächst in zwei Abschnitten auf die Bedeutung der konstituierenden Theoriebegriffe „species“, „saltatrix“, „spissa“, „ternaria“ und „quaternaria“ im Kontext des Gemeinschaftsbegriffs eingegangen werden.

a) Musiktheoretischer Hintergrund Die „saltatrix“, an der sich die Teutonici erfreuen, wird von Aribo als „species“ bezeichnet. „Species“60 sind Folgen von vier („species diatesseron“) oder fünf 59 ARIBO S. 55. 60 Gabriela Ilnitchi machte darauf aufmerksam, dass Aribos Theorie zu den species bereits durch Berno und später Hermann von Reichenau entwickelt worden war (Ilnitchti 2005, S. 166–169). Nach Aribo wurde die Theorie auch durch den Commentarius Guidonis Aretinis und die Quaestiones in musica aufgegriffen. Eine schlüssige Darstellung der Theorie findet sich schließlich im sechsten Buch des Speculum musice von Jacobus de Hispania. Hier schreibt er: „Species autem tetrachordi superiorum ortum habent naturalem, sicut tetrachordi gravium. Item, secundum aliquos, species tetrachordi gravium non tantum dicuntur naturales, sed formales; species vero tetrachordi finalium, etsi sint formales, non tamen naturales. Dicitur autem, secundum istos, species prima tunc

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Tönen („species diapente“), durch die die Stellung der Halbtonschritte in Melodien beschrieben werden können.61 Aribo kombiniert diese Theorie der „species“ mit der Theorie der Tetrachorde. Die Applikation der „species“ auf das Tetrachordsystem hat zur Folge, dass durch die Vier- bzw. Fünftonräume die einzelnen Tetrachorde miteinander ins Verhältnis gesetzt werden („collatus“62). Wird z. B. über A eine Quartspezies gesetzt, so reicht diese bis zum D. Setzt man über A eine Quintspezies, so reicht diese bis zum E. Außerdem werden über die jeweilige „species“ die beiden Tetrachorde der „gravium“ und „finalium“ verknüpft. Diese Verknüpfung kann in zweierlei Hinsicht geschehen: 1. Die beiden Außentöne der „species“ können die gleiche Position innerhalb der beiden verknüpften Tetrachorde haben. Z. B. entspricht A der ersten Position im „tetrachordum gravium“, D der ersten Position im „tetrachordum finalium“. Werden nun die beiden Tetrachorde über die Quartspezies verbunden, so wird die zugrunde liegende „species“ von Aribo als „species naturalis“ bezeichnet. 2. Die beiden Außentöne der „species“ können eine voneinander abweichende Positionierung innerhalb der beiden verknüpften Tetrachorde haben. So entspricht A der ersten Position im „tetrachordum gravium“, E der zweiten Position im „tetrachordum finalium“. Werden nun die beiden Tetrachorde über die Quintspezies verbunden, so wird die zugrunde liegende species von Aribo als „species formalis“ bezeichnet. Hieraus wird deutlich, dass die „species diatesseron“ von A bis C als „species naturalis“ bezeichnet werden und die „species diatesseron“ von D bis G als „species formalis“, da Aribo das „tetrachordum finalium“ vom nächsthöheren „tetrachorformalis quando formam retinet primae speciei, quae est habere semitonium in medio duorum tonorum, sed naturalis dicitur quando ex primis duabus vocibus procreatur, ut ea quae est inter .A. et .D. Similiter et aliae species tetrachordi gravium naturales dicuntur et formales, et, eodem modo, species tetrachordi superiorum. Species vero tetrachordi finalium et tetrachordi excellentium formales dicuntur, non naturales, nam prima finalium constat ex duabus extremis eiusdem tetrachordi, secunda ex secunda finalium et prima superiorum; tertia, ad hoc, minus naturalis est cum requirat synemmenon“ (IAC. LEOD. spec., lib. VI, cap. XXVII, S. 64). 61 Die Theorie der „species“ basiert auf den Voraussetzungen der Tetrachord-Theorie. Die Tetrachordräume werden in aufsteigender Reihenfolge als „gravium“, „finalium“, „superiorum“ und „excellentium“ bezeichnet. Die Einzelpositionen der Töne innerhalb eines Tetrachordraums werden – ebenfalls in aufsteigender Reihenfolge und in der begrifflichen Übernahme von Guido (vgl. ARIBO, S. 11) – durch die jeweils sechs ersten Buchstaben des Alphabets (A, B, C etc.) gekennzeichnet. Die Namen der Tetrachorde finden sich u. a. in der Musica enchiriadis. Guido integriert die Theorie der Tetrachorde in die Explikation der Hexachorde, erwähnt aber nur den Namen des höchsten Tetrachordraums, den er als „superacutus“ bezeichnet. 62 ARIBO, S. 11.

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dum superiorum“ zwischen G und A systematisch trennt. Bei den „species diapente“ ist das Verhältnis genau umgekehrt: Die Positionen D bis G im „tetrachordum finalium“ entsprechen den Positionen a bis d im „tertachordum superiorum“, weshalb die verknüpfenden „species diapente“ als „species naturalis“ bezeichnet werden. Die „species diapente“ von A nach C hingegen als „species formalis“. Diese Beobachtungen können äquivalent auch auf die beiden hohen Tetrachorde, das „tetrachordum superiorum“ und das „tetrachordum excellentium“ übertragen werden. Der oberste Ton g setzt Aribos Theorie jedoch eine natürliche Grenze.

b) „Saltatrix“, „spissa“, „ternaria“, „quaternaria“ als „intensio“ und „remissio“ Die Abfolge der Töne innerhalb einer „species“ können in drei- bzw. vierfacher Weise erfolgen: als „saltatrix“, „spissa“, „ternaria“ (in der „species diatesseron“) oder „quaternaria“ (in der „species diapente“). Diese Begriffe beschreiben alle vier linearen Kombinationsmöglichkeiten von Einzeltönen innerhalb der beiden Arten von „species“. Linear bedeutet, dass die Kombination der Einzeltöne entweder nur aufwärts („intensio“) oder abwärts („remissio“) erfolgen kann.63 „Saltatrix“ steht für den Sprung vom tiefsten zum höchsten bzw. vom höchsten zum tiefsten Ton einer „species“ (also einen Intervallsprung). „Spissa“, auch als „continua“ bezeichnet, steht für den linearen schrittweisen Auf- bzw. Abstieg einer Tonreihe innerhalb einer „species“ (also eine Skala). „Ternaria“ steht ebenfalls für den Auf- bzw. Abstieg von Tönen, im Gegensatz zur „spissa“ erklingen hier jeweils nur drei der vier Töne. Der ausgelassene Ton kann entweder der zweite oder dritte sein. Die gleiche Vorgehensweise – die logischerweise nur auf die Quintspezies anwendbar ist – steht hinter dem Begriff der „quaternaria“. Hier können bei einem Auf- bzw. Abstieg mindesten vier Töne erklingen, wobei innerhalb des gesamten Quinttonraums entweder der zweite, dritte oder vierte Ton ausgelassen werden kann. Aribo geht davon aus, dass dem „protus autentus“ fünf Quartspezies und vier Quintspezies zugrunde liegen, die sich aus den beiden Bereichen des „naturalis“ und „formalis“ herleiten.64 Aufgrund der diffusen Aufzählung, welche mit 63 Würde man Aribos Theorie auf „traditionelle“ Gruppenneumen beziehen, so könnten der Pes („intensio“) oder die Clivis („remissio“) (nur als Quartsprung) als „saltatrices“ bezeichnet werden, Scandicus („intensio“) und Climacus („remissio“) innerhalb eines Quarttonraumes als „ternariae“. Ausgeschlossen wären jedoch Neumen wie Torculus oder Porrectus, da sie in ihrem Tonverlauf wieder eine Gegenbewegung vollziehen. – Dass Aribo bei der Entfaltung seiner Theorie offenbar an die Bezugsetzung auf eine Neumensystem gedacht hat, lässt ich im Verlauf des Kapitels entnehmen: „[…] quia neumae ex praedictis mutationibus natae non sunt omnes in eadem generositate […]“ (ARIBO, S. 55). 64 Ebd.

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der „prima formalis“ beginnt und dann zwischen den beiden „species“-Bereichen hin und her wechselt,65 drängt sich die Vermutung auf, dass Aribo konkrete Repertoirestücke vor Augen hatte, auf die er seine Theorie applizierte und schließlich je nach Bedarf ergänzte. Zwar wird der „protus autentus“ zunächst über die Quartspezies definiert, dann aber in einem anschließenden Rechenbeispiel ausdrücklich auf die Quintspezies ausgedehnt. Aribo errechnet, dass sich durch die Anwendungen der verschiedenen Tonabfolgen in den beiden „species“ insgesamt 80 Kombinationsmöglichkeiten („mutationes“) ergeben.66 Aus den 80 „mutationes“, die dem „protus autentus“ zugrunde liegen können, werden 28 von Aribo als unbrauchbar („reprobus“) eingestuft.

c) Tityris – Orpheus – Meliboeus Die „species“-Theorie lässt lediglich quantitative Aussagen über die Kombinationsmöglichkeiten der „mutationes“ und „neumae“ zu. Zur qualitativen Einordnung, die am Ende die Benennung der 28 unbrauchbaren „species“ ermöglicht, benötigt Aribo andererseits die Begriffe der qualitativen Bestimmung. Hierzu verwendet er nicht nur Begriffe, die auf ästhetische Wertigkeiten schließen lassen wie „generosus“, „laudabilis“, „delectari“, sondern bedient sich antiker mythologischer Gestalten zum Vergleich der Ebenen des Schönen und Schlechten. Diese beiden qualitativen Pole (verkürzt gesagt: gute und schlechte „muta-

65 Im Text (ebd.) findet sich folgende Reihenfolge: 1. „prima formalis“, 2. „secunda formalis“, 3. „tertia naturalis“, 4. „tertia formalis“, 5. „prima naturalis“. Bemerkenswert ist das Fehlen der „secunda“ und „quarta naturalis“, da man ja zunächst annehmen würde, dass der Tonvorrat der „prima naturalis“ + „prima formalis“ eigentlich ausreichen sollte, eine Komposition von 7 Tonstufen zu beschreiben. Vermutlich ist dies als weiteres Indiz dafür zu werten, dass Aribo die einzelnen „species“ immer nur auf konkrete Kompositionen applizierte. Demnach lagen Aribo offenbar nur Kompositionen vor, die ihren Tonvorrat auf A, C, E, F, G als Viertonraum (Quartspezies) + ergänzende Fünftonräume (Quintspezies) aufbauen. 66 In dem im Text entfalteten Rechenbeispiel werden die fünf, dem „protus autentus“ zugrunde liegenden, Quartspezies mit den zwei „saltatrices“, den zwei „spissae“ und den vier „ternariae“ multipliziert, woraus sich 40 Kombinationsmöglichkeiten ergeben. Die vervollständigende Berechnung der weiteren Kombinationsmöglichkeiten aus der Quintspezies wirft jedoch an zwei Stellen Fragen auf: Zum einen geht Aribo von jeweils nur zwei „ternariae“ und zwei „quaternariae“ aus. Offenbar zählt er hier nur jeweils eine „intensio“ und eine „remissio“, ohne die tatsächlichen Einzelkombinationsmöglichkeiten zu berücksichtigen (eigentlich insgesamt 16), zum anderen setzt Aribo voraus, dass der „protus autentus“ aus insgesamt nur vier Quintspezies besteht, obwohl er von fünf Quartspezies ausgegangen war. Unter Berücksichtigung dieser zwei Axiome ergibt sich schließlich auch für die Gesamtkombination der Quintspezies ein Produktwert von 40, die Aribo mit dem Produktwert der Quartspezies addiert und somit 80 Kombinationsmöglichkeiten im „protus autentus“ errechnet.

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tiones“) werden über einen indirekten Bezug zu einer Textstelle der VIII. Ekloge der Bucolica von Vergil entfaltet: incipe Maenalios mecum, mea tibia, versus. Nunc et ovis ultro fugiat lupus; aurea durae mala ferant quercus, narcisso floreat alnus, pinguia corticibus sudent electra myricae, certent et cycnis ululae, sit Tityrus Orpheus, Orpheus in silvis, inter delphinas Arion. incipe Maenalios mecum, mea tibia, versus.67 Beginne mit mir, meine Tibia, den Maenalischen Vers! Nun mag der Wolf vor den Schafen fliehen, die harten Eichen goldene Äpfel tragen, die Erle mag mit der Narzisse erblühen, die dicken Tamarisken mögen aus den Rindenschalen (Harz) schwitzen, die Eulen mögen mit den Schwänen wetteifern, Tityrus sei Orpheus, Orpheus in den Wäldern, unter den Delfinen Arion. Beginne mit mir, meine Tibia, den Maenalischen Vers!

Mit den im Text der Bucolica auftretenden extremen Gegensatzpaaren in Gestalt von Pflanzen, Tieren und mythologischen Figuren – die zur Darstellung des vom Liebeswahn besessenen Damons fungieren – identifiziert Aribo die guten und schlechten „mutationes“. Die beiden Gegensatzpaare im Vers 59 der Ekloge „certent et cycnis ululae, sit Tityrus Orpheus“, werden von Aribo aufgegriffen und so in den Kontext des Kapitels eingearbeitet, dass der zweite vergilsche Teilsatz dem zweiten Teilsatz der Zeile 78 von De musica entspricht. Hier heißt es: Ex his generosiores ad olorinas musarum choreas sunt admittendae, caeterae non orpheis sed tytiris sunt relinquendae. Omnes saltatrices laudabiles, sed tamen nobis generosiores videntur quam longobardis. Illi enim spissiori, nos rariori cantu delectamur. Prima et secunda et quarta spissa diatesseron species intensa et remissa bene sonat, sed tercia surdius. Ex eodem genere spissitudinis quarta species formalis in diapente, et prima ac quarta naturalis satis sunt euphoniae et intensae et remissae. Secunda vero et tercia propter innominati tritoni raucedinem melibeis et ululis delegentur, excepta saltatrice quae in omnibus est aequalis, nisi quod inest differentia gravitatis et acuminis.68 Von diesen sind die edleren zu den Schwanenreigentänzen der Musen hinzuzuzählen, die anderen, die nicht Orpheus, sondern Tytiris zuzurechnen sind, sind übrigzulassen. Alle „saltatrices“ sind löblich, aber freilich erscheinen sie uns edler als den Longobardi. Diese nämlich erfreuen sich an den engeren, wir an den weiteren Gesängen. Die erste, die zweite und die vierte [Gestalt] der Quartspezies klingen sowohl „intensa“, als auch „remissa“ gut, aber die dritte [Gestalt] dumpfer. In der Quintspezies sind die vierte „formalis“, die 67 Vergil, Bucolica,Ekloge VIII, S. 21. 68 ARIBO, S. 55.

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erste und vierte „naturalis“ in dieser Art der „spissa“ sowohl „intensa“, als auch „remissa“ wohlklingend. Die zweite und dritte sollten aufgrund der Rauigkeit der ungenannten Tritoni den Melibei und Eulen zugeschrieben werden, ausgenommen in der „saltatrix“, welche in allen gleich ist, abgesehen von der Unterscheidung von Schwere und Höhe.

Somit werden die unedlen „mutationes“ mit der bereits aus der I. Ekloge bekannten Hirtengestalt des Tityris identifiziert,69 die edlen „mutationes“ hingegen mit der Gestalt des Orpheus. Bemerkenswert erscheint in diesem Zusammenhang, dass Aribo durch die Übernahme der mythologischen Gestalten zugleich eine Umdeutung vornehmen musste. Denn bei Vergil wird Tityris nicht als kontrastierende Gestalt zum idealen Musiker Orpheus gedeutet. Im Gegensatz hierzu, drückt das „Stoßgebet“ „Tityris sei Orpheus“ immerhin die Hoffnung aus, dass die literarische Hirtengestalt, durch Orpheus beflügelt, sich möglichst dem mythologischen Idealmusiker annähern möge. Indirekt wird somit die vergilsche Originalversion in das Gewand der Aussage des aus Ovids Metamorphosen bekannten Mythos um Marsyas und Apollon – dem Gegensatz von göttlicher / guter (Leier-)Musik und halbgöttlicher / schlechter (Aulos-)Musik – gekleidet.70 Versteckt findet sich auch der erste vergilsche Teilvers im Kontext der Zeile 78 Aribos wieder. Das Wetteifern der Eulen mit den Schwänen wird von Aribo auf mehrere Sätze verteilt; der vergilsche Graecizismus „cycnus“ für Schwan taucht bei Aribo in der „lateinischen“ Form des „olor“ auf – „olorinas musarum choreas“, „den Schwanenreigen der Musen“. Die edlen „mutationes“ gehören diesem Reigen der Schwäne an. Im Unterschied jedoch zum Gegensatzpaar Tityris / Orpheus werden die Eulen erst einige Sätze später erwähnt, nämlich in Hinblick auf die konkret-unbrauchbare „secunda“ und „tertia mutatio“. Da in ihnen Tritoni auftreten, klängen sie rau („raucidinis“) und seien den Eulen und der Gestalt des Meliboeus zuzuordnen. Somit liegt einerseits der durch Vergil vorgegebene Spannungsbogen der Schwäne zu den Eulen vor und andererseits eine weitere Identifikation mit einer zentralen Gestalt der Bucolica, dem Hirten Meliboeus, der schon in der I. Ekloge Tityris als Gesprächspartner diente bzw. in der VII. Ekloge als Rahmenerzähler des Dialogs zwischen Chorydon und Thyrsis auftaucht. Bemerkenswert ist in jedem Falle, dass Aribo eine gemeinschaftsspezifische Geschmacksdifferenz konstatiert, sich selbst auch einer der beiden Gemeinschaf69 Vermutlich dürfte die Frage nach der Identifikation des Tityris mit der historischen Dichtergestalt Vergils hinsichtlich der Funktion bei Aribo keine Rolle spielen. Zur Identifikation des Tityris mit Vergil siehe Korenjak 2003, S. 58–79. 70 Zur Nähe der beiden mythologischen Gestalten des Marsyas und des Tityris siehe Feldherr 2004, S. 81 (sowie die beiden Ergänzungsartikel von James und Feldherr 2004, sowie James 2004 und Wiseman 1988, S. 1–13).

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ten (den Teutonici) zugehörig fühlt, aber dennoch keine Abwertung der anderen musikalischen Vorliebe impliziert.

d) Aribos Langobardi und Longobardi im historischen Kontext Wie sich bereits in den historischen Erläuterungen im 10. Jahrhundert andeutete (Paulus Diaconus), verlor der gentil aufgefasste Begriff der Longobardi zugunsten einer Aufwertung des gentil aufgefassten Begriffs der Itali zusehends an Bedeutung. Im 11. Jahrhundert schienen die „gens“ der Longobardi bereits so weit von einer realpolitischen Fundierung entfernt zu sein, dass sie von verschiedenen Autoren in primär historischer oder historisierender Hinsicht erwähnt wurden. Darüber hinaus konnten die Longobardi – unabhängig vom einstigen gentilen Begriff – als Bevölkerung der nördlichen Longobardia aufgefasst werden – die südliche langobardische Identität ging mit dem allmählichen Voranschreiten der normannischen Eroberungen im 11. Jahrhundert gänzlich verloren und blieb lediglich in den Schreibstuben einiger Klöster erhalten. Da sich durch das Aufstreben der Kommunen die Bewohner Oberitaliens meist mehr mit ihrer jeweiligen Heimatstadt identifizierten, fungierte der neue gentile Begriff der Longobardi eher als Außenbezeichnung oder hing ganz unmittelbar an der Bedeutung des regionalen Begriffs der Longobardia. Dieser Begriff der Longobardia umfasste in der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts – wie schon im 10. Jahrhundert – ein grob-geografisches Gebiet, das nach Giancarlo Andenna die weite Region zwischen den Alpen, dem Tyrrhenischen Meer, dem Apennin und dem Mincio umfasste. Der Mincio teilte sie von der Mark Verona und dem Gebiet von Bologna bis zu den Grenzen, die der Fluss Reno festlegte, der Romagna, damals genannt Romania oder Romandiola.71 Der Garant für den ideellen Zusammenhalt des politisch zersplitterten und durch den Investitutstreit erschütterten Gebietes blieb in erster Linie die Kirche. Dabei kam Mailand als Sitz des Erzbischofs eine besondere Rolle zu.72 Ein Dokument einer Mailänder Provinzialsynode von 1098 zählt zu den Bistümern der Longobardia neben Mailand die Städte Mantua, Reggio, Como, Piacenza und Brescia,73 wobei diese Liste aufgrund der Unbestimmtheit des Gebietes um andere Diözesen erweitert oder verkleinert werden konnte. Wie lässt sich das ideelle kirchliche Gefüge der Longobardia auf die musik­ historische Quelle Aribos beziehen? Da der Begriff der Longobardia in der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts lediglich einem grob-geografischen Konzept 71 Andenna 1998, S. 4. 72 Ambrosioni 2003, S. 106. 73 Zerbi 1963, S. 519f.

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entsprach, konnte auch Aribo bei der Erwähnung der Longobardi kein klar definiertes politisches Territorium intendieren. Nimmt man an, dass im Kapitel zum „protus autentus“ tatsächlich nur die geistliche liturgische Musik im Fokus stand74 – wofür die Beispiele im weiteren Kontext der Schrift sprechen –, so lässt dies zwei Schlussfolgerungen zu: Erstens könnte Aribo unter Longobardi ausschließlich diejenigen Diözesen und Kirchen im Blick gehabt haben, die auch wirklich nur den von ihm gezeichneten „spissae“-Gesang praktiziert haben. Dies beträfe die Gemeinden, unter denen z. B. der ambrosianische Gesang der Mailänder Liturgie verbreitet war. Zweitens könnte es sich um eine vereinheitlichende Stereotypisierung der Musikkultur der Bevölkerung der geografischen Region Longobardia handeln. Die Attribute des Mailänder liturgischen Gesanges, der nach Huglo nur an einigen Kirchen des Erzbistums Mailand konsequent praktiziert wurde,75 würde auf die gesamte Region südlich der Alpen und nördlich des Apennins bezogen, und die politisch und kirchlich eigentlich heterogene Gruppe der Einwohner der Po-Ebene würde unter der vereinheitlichenden Idee der Longobardi als „spissae“-singende musikalische Gemeinschaft aufgefasst. Dass Aribo eine solche Stereotypisierung vornahm, wird durch die von ihm implizierte binäre Opposition Longobardi vs. „nos“ nahegelegt. „Nos“ steht dabei für eine „saltatrix“-singende Gemeinschaft, nämlich die Teutonici. In diesem Sinn reihte sich Aribo in die Tradition mehrerer transalpiner Chronisten ein, die – trotz der differenzierten tatsächlichen politischen Machtkonstellationen in der Region 74 In diesem Zusammenhang scheint eine weitere historiografische Quelle, nämlich die Historia Medolanesis von Landulf d. J. von Interesse. Denn Landulf identifiziert an einer Stelle dieser Schrift den Gesang der „iuventus Mediolani … atque … per civitates Langobardorum“ mit der geistlichen nicht-liturgischen „cantilena“ (Pilger- bzw. Kreuzfahrerlied) „Ultreja, ultreja“: „Rege igitur in regno deficiente, supradictus Anselmus de Buis Mediolanensis archiepiscopus, quasi monitus apostolica auctoritate, iam dicto presbitero nolente, studuit congregare de diversis gentibus esercitum, cum quo caperet Babilonicum regnum. Et in hoc studio premonuit preelectam iuventutem Mediolanensium, cruces suscipere et cantilenam de Ultreja ultreja cantare. Atque ad vocem huius prudentis viri plures viri cuiuslibet conditionis per civitates Longobardorum cantaverunt“ (Landulphus Junior, S. 5). – Der Canto de Ultreja findet sich in einer frühen Fassung im Codex Calixtinus II unter dem Incipit „Dum Pater familias“: „Dum Pater familias Rex universorum Donaret provincias Ius apostolorum Iacobus Hispanias Lux illustrat morum. Primus ex apostolis Martyr Ierosolymis Iacobus egregio Sacer est martyrio R: Herru Sanctiagu, Grot Sanctiagu, E ultreja, E suseja, Deus adjuva nos“ (zit. nach Trend 1924, S.  28f.). In der Tat enthält diese Cantilenen-Version einige charakteristische Beispiele, auf die Aribos „spissae“-Theorie applizierbar wäre – dies betrifft drei „remissiones“ und eine „intensio“ auf „familias“, „provincias“, „Ierosylimis“ und „ex apolstolis“. Allerdings gilt es zu bedenken, dass Ultreja in der vorliegenden Fassung tatsächlich als reines Jakobs-Pilger-Lied für Santiago de Compostela zu verstehen sein dürfte. Es stellt sich die Frage, inwiefern der von Bischof Anselm von Mailand für den Kreuzzug propagierte Gesang der Version des Codex Calixtinus entsprach. 75 Huglo 1956, S. 111.

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südlich der Alpen – meist ein idealisierendes, auf die Herrscher des römischen Reichs hin zentriertes vereinheitlichendes Bild des Königreichs Italien liefern.

Abb. 4: Verbreitung des ambrosianischen Gesangs (Huglo 1956, S. 111)

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e) Zur Handschrift Admont 494

Eine Besonderheit weist die Handschrift Admont 494 auf, die heute in der Sibley Music Library der Eastman School of Music aufbewahrt wird (US-R AdmontRochester codex). Dieser Text, der – neben einer Salzburger Handschrift (A-Sp a.V.2[10]) – der kritischen Aribo-Ausgabe von Smits van Waesberghe als Hauptquelle zugrunde liegt, ersetzt im Kombinationsschema den Begriff der Longobardi durch Barbari: „Saltatrix potius placet teutonicis quam barbaris“.76 Smits van Waesberghe zufolge handelt es sich bei der Handschrift Admont (A) um eine Abschrift aus dem 12. Jahrhundert.77 Da Smits van Waesberghe A nur für eine Abschrift hält, ist es nicht unwahrscheinlich, dass die Barbari durch den Admonter Schreiber – oder die Vorläuferschrift im Umfeld von Admont – selbst in den Text eingefügt wurden. Für diese Manipulation des aribonischen Textes erscheinen zwei Erklärungsmöglichkeiten plausibel: 1. Bereits im 11. Jahrhundert gab es ein Verständnis für die historische Distanz der Einwohner der geografischen Gegend der Longobardia und der frühmittelalterlichen „gens“, die aus dem Norden in die Italia zugewandert war.78 Zeugnisse über die historische „gens“ waren über die longobardischen Quellen weit verbreitet, darüber hinaus tauchen die Longobardi aber auch in verschiedenen anderen antiken Texten auf. Zwar ist eine Abschrift der paulinischen Historia Langobardorum für das Stift Admont im 12. Jahrhundert nicht nachgewiesen, dafür war jedoch z. B. ein Exemplar der Etymologien des Isidor von Sevilla in der Klosterbib-

76 ARIBO, S. 61. 77 Der Text ginge wiederum auf eine Kopie (Y) des Autografen Aribos (X) zurück. Dieser Handschriftentradierung stehe eine zweite unabhängige Handschriftentradierung gegenüber: Die Handschriften Salzburg (S) und diverse Fragmente gingen auf eine zweite Abschrift (Z) des Autografen (X) zurück (Waesberghe in der Einleitung zu ARIBO, S. XIIIf). Die Salzburger Handschrift enthält die Textversion Longobardis anstelle der Barbaris (ARIBO, S. 63). Es ist darauf hinzuweisen, dass das Kloster von St. Peter in Salzburg das Mutterkloster für die im 12. Jahrhundert neu gegründete Reform-Abtei in Admont war und somit trotz der verschiedenen Textvarianten eine enge Verbindung zwischen den beiden Klöstern bestand (Tomaschek 2010, S. 164f.). Wie schon Martin Gerbert (GS 2, S. 214) halte auch ich die Salzburger Version für authentisch, da sie unmittelbar die Textstelle aus dem Kapitel De proti autenti zitiert. Hätte Aribo von Anfang an eine Gleichsetzung der Longobardi mit den Barbari intendiert, hätte er vermutlich bereits im Fließtext eine derartige Anmerkung getätigt. 78 Dass die Distanz zwischen frühmittelalterlicher „gens“ und den Einwohnern der Longobardia in den zeitgenössischen Quellen durchaus reflektiert wurde, zeigen z. B. verschiedene Erwähnungen bei Benzo von Alba. In den Ad Henricium IV. Imperatorem libri VII beispielsweise werden die Longobardi an zwei Stellen ausdrücklich historisierend als geschlossen handelnde Gemeinschaft aufgefasst (Benzo Albensis, S. 266 und S. 584f.).

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liothek vorhanden.79 Auf diese Schrift Isidors geht bekanntlich die LangobardenEtymologie zurück, wonach der gentile Name von den langen Bärten („prolixa barba“) herrühre.80 Somit hätte sich der Admonter Schreiber bei der Gleichsetzung der Longobardi mit den Barbari gängigen lexikalischen Wissens bedient. Diese Deutung würde voraussetzen, dass der Autor die verschiedenen Gebräuche der Anwendung der „mutationes“ nicht als regionale Differenzen auffasste, sondern als zeitliche Entwicklungsstufen einer älteren „barbarischen“ Musikpraxis der gens Longobardorum und der in seiner Zeit üblichen Art des Gesangs der Teutonici. Dieser Textinterpretation stehen jedoch zwei Argumente entgegen: Zum einen werden im Fließtext die Longobardi „nos“ (Teutonici) ohne Andeutung einer zeitlichen Differenz gegenübergestellt, zum anderen müsste man annehmen, dass der Schreiber die Einwohner der geografischen Gegend der Longobardia des 12. Jahrhunderts nicht mit dem gentilen Begriff der Longobardi in Aribos Musica in Verbindung gebracht hat. Denn wie die spätere Auseinandersetzung zwischen Lombardenbund und den Staufern zeigt, scheint die Identifikation der Einwohner der Longobardia mit der gens Longobardorum in der Tat im 12. Jahrhundert weitestgehend verschwunden zu sein.81 Die Zugehörigkeit zu bestimmten, von Städten dominierten Regionen, war weitaus bedeutender. Bis zum 12. Jahrhundert hatte sich zur allgemeinen Kennzeichnung der Bevölkerung südlich der Alpen der Begriff der Itali oder Italici durchgesetzt.82 2. Die erste Theorie setzt voraus, dass der Schreiber die ursprünglich vermutete Intention Aribos, nämlich die Kennzeichnung des mailändischen Gesangs durch den Begriff der Longobardi, nicht erkannte. Nimmt man jedoch an, dass der Schreiber das Präsens im Haupttext sehr wohl als einen Hinweis auf eine im 11. und 12. Jahrhundert verbreitete Musikpraxis auffasste, so muss sich der Zusatz der Barbari anders erklären lassen. In diesem Fall muss man von einer ganz bewussten Abwertung der Longobardi als Barbari ausgehen (wenn die ferner liegende Möglichkeit einer wertneutralen Verwendung ausgeschlossen wird)83. Aus der spärlichen Anmerkung ist es schwierig, auf eine konkrete Motivation für dieses negative Vorurteil zu schließen. Unter zahlreichen nicht sachlich beding79 Tomaschek 2010, S. 158. 80 Isidor von Sevilla, Etymologiarum sive Originum, Liber IX, II, 95. Alheydis Plassmann vermutet, dass Paulus Diaconus in der Historia Langobardorum durch die Erwähnung dieses Namens­ ursprungs möglicherweise auf Isidor zurückgegriffen hat (Plassmann 2006, S. 209). 81 Vgl. hierzu Maurer 1987 und Raccagni 2010. 82 Man erkennt dies z. B. an der Erwähnung der Itali in Theogers Musiktraktat (dazu Wiegand 2014). 83 Siehe dazu Kap. 4.8 (c).

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ten Gründen, die der Schreiber hierfür gehabt haben könnte, ist jedoch durchaus eine bewusste Abwertung des mailändischen Gesangs gegenüber der gregorianischen Musikpraxis der Teutonici in Erwägung zu ziehen. Sowohl Aribos Traktat wie auch der Kontext des Admonter Schreibers sind in das geistige Umfeld der Hirsauer Reform einzuordnen, über das Klaus Arnold schreibt: „[Der] Ruf, die benediktinische ‚religio‘ musterhaft zu erfüllen, und die daraus resultierenden Abtspostulationen, von denen wir Zeugnis haben, lassen Admont während des 12. Jahrhunderts als Reformzentrum für den südostdeutsch-österreichischen Raum erkennbar werden.“84 Ein wesentlicher Bestandteil dieser Erneuerungsbewegung waren diverse liturgische Bestimmungen, die u. a. auch konkrete Hinweise zur Ausführung der Musik beinhalteten.85 Es ist nicht unwahrscheinlich, dass die von der eigenen Gesangstradition abweichende Praxis im Geiste der Reform als „barbarisch“ empfunden wurde und als solche auch in einem Kompositionstraktat als Mahnung an künftige Musiker vermerkt wurde. In einem späteren Zusatz wurde dem Begriff Barbari der Begriff der Longobardi handschriftlich beigefügt. Offenbar wurde ein späterer aufmerksamer Leser der Admonter Handschrift auf die Diskrepanz zwischen Fließtext und „mutationes“-Schema aufmerksam oder er war sehr gut mit der zweiten Fassung von Aribos Traktat – wie sie in der Salzburger Handschrift tradiert wird – vertraut.

3.1.5 „Habitus“ und musikalische Spezifik regionaler Gemeinschaften: Hispani, Latini, Teutonici und Galli bei Guido von Arezzo und seinen Rezipienten86 Frank Hentschel a) Guido von Arezzo Der anonyme Autor des Textes ,,Quemadmodum vocis articulatae“ (Anonymus codicis Pragensis) aus dem 10. Jahrhundert (?) schreibt: „Jedem Volk gefallen nämlich die ihm eigenen ‚modi‘.“87 Jacobus de Hispania erklärt im 14. Jahrhundert: „Unterschiedliche Völker genießen unterschiedliche Gesänge und Konsonanzen, die einen höhere, die anderen tiefere, die einen sanftere und vollkommenere, die anderen unvollkommenere und rauere, die einen fröhlichere, die 84 Arnold 1972, S. 354. 85 Z. B. heißt es in speziellen Consuetudines für das Kloster Admont: „Letania, quae in vigiliis Pasche et Pentecostes cantoribus precinentibus utriusque chori divisa responsione triplicabitur, simplici et consueto more cantatur et inclinatio singulis sanctorum vocabulis exhibenda retinetur“ (ebd., S. 368). 86 Bei diesem Textabschnitt handelt es sich um die überarbeitete und erweiterte Fassung von Hentschel 2010. 87 ANON. Prag., S. 228: „Suis enim quaeque gens delectatur modis“.

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anderen traurigere.“88 Sinngemäß lassen sich derartige Aussagen über Boethius bis in die Antike zurückverfolgen. Es handelte sich um einen Topos, der die musikbezogene Variante einer Einsicht darstellt, die Regino von Prüm (9./10. Jahrhundert) allgemein so formulierte: „Unterschiedliche Völker sind durch Abstammung, Sitten, Sprache, Gesetze gegeneinander abgegrenzt.“89 In diesem Kontext ist auch eine Bemerkung Guidos von Arezzo über die Eigenart der Kirchentöne zu verstehen. Sie ist allerdings derart eigenständig formuliert, dass sie über den bloß topischen Charakter hinausweist. Überdies nennt Guido konkrete Gemeinschaftsbegriffe, die eine weiterführende Interpretation herausfordern. Guido schreibt: Horum quidam troporum exercitati ita proprietates et discretas ut ita dicam, facies extemplo ut audierint, recognoscunt, sicut peritus gentium coram positis multis habitus eorum intueri potest et dicere: hic Graecus est, ille Hispanus, hic Latinus est, ille Teutonicus, iste vero Gallus. Atque ita diversitas troporum diversitati mentium coaptatur ut unus autenti deuteri fractis saltibus delectetur, alius plagae triti eligat voluptatem, uni tetrardi autenti garrulitas magis placet, alter eiusdem plagae suavitatem probat; sic et de reliquis.90 Geübte erkennen die Eigenschaften und, wenn ich so sagen darf, die unterschiedlichen Gesichter dieser „tropi“, sobald sie sie hören, so wie ein Sachkundiger beim Anblick vieler [Menschen] die Habitus der „gentes“ betrachten kann und sagen: Dieser ist ein Graecus, jener ein Hispanus, dieser ein Latinus, jener ein Teutonicus, der da aber ein Gallus. Und ebenso wird die Unterschiedlichkeit der „tropi“ der Unterschiedlichkeit der Charaktere angepasst, so dass sich der eine an den gebrochenen Sprüngen der authentischen Gestalt des „deuterus“ erfreut, der andere den Genuss der plagalen Gestalt des „tritus“ wählt, dem einen mehr die Schwatzhaftigkeit der authentischen Gestalt des „tetrardus“ gefällt und den anderen die Sanftheit der entsprechenden plagalen Gestalt zufriedenstellt usw.

Guido stellt einen Vergleich zwischen Volksgemeinschaften und Kirchentönen her: Jemand, der der Musik kundig ist, erkennt die Eigenschaften der Kirchentöne so, wie jemand, der der unterschiedlichen Volksgemeinschaften kundig ist, diese an ihren Habitus, also wohl ihren Trachten, Gewohnheiten und Verhaltensnormen, erkennt. Möglicherweise spielt Guido auch auf regionale Differenzen von Gesichtszügen an. Dies würde die von ihm durch die Hinzufügung „ut ita dicam“ betonte Metapher der „facies troporum“ erklären.

88 IAC. LEOD. spec., lib. IV, cap. VIII, S. 16: „Et distinctae gentes in distinctis cantibus et consonantiis delectantur, quaedam in acutioribus, quaedam in gravioribus, quaedam in dulcioribus et perfectioribus, aliae in imperfectioribus et rudioribus, quaedam in laetioribus, et quaedam in tristioribus“; vgl. auch lib. VI, cap. LXXIIII, S. 214. 89 „Diversae nationes populorum inter se discrepant genere, moribus, lingua, legibus“ (zit. nach Jarnut 1985, S. 88). 90 GUIDO micr., cap. XIV, S. 158f.

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In dem Zitat bleibt allerdings unklar, ob Guido aus dem Vergleich auf so etwas wie volksspezifische musikalische Vorlieben schließt, denn die Argumentation verlässt sogleich wieder die Ebene der Gemeinschaften, um sich Individuen zuzuwenden: „Mens“ meint hier zunächst den Charakter einzelner Personen, der die Vorlieben für bestimmte Kirchentöne begründen soll. Dennoch legt der topische Hintergrund des Zitates nahe, dass Guido auch die musikalischen Gewohnheiten und Vorlieben ganzer Volksgemeinschaft im Sinn hatte. Schon die Namen der antiken „modi“ waren aufgrund einer solchen Annahme aus Volksgemeinschaften abgeleitet worden, wie man im Mittelalter wusste;91 wenn Guido die Eigenschaften von Kirchentönen mit Verhaltens- und Erscheinungsweisen von Volksgemeinschaften vergleicht, handelt es sich also nicht um ein beliebiges Vergleichsobjekt. In der Tat greift Guido den Vergleich später nochmals auf und expliziert nun den Zusammenhang zwischen musikalischer Vorliebe und Volksgemeinschaft. Mit einem Mal erhält die Rede von gruppenspezifischen musikalischen Eigenheiten einen sehr konkreten Sinn: Guido bezieht sich offenbar auf die in der oralen Tradition regional entstehenden Varianten von Gesängen.92 Er trifft diese Aussage, nachdem er Schülern eine einfache Methode gezeigt hat, mit der sie selbst Gesänge anfertigen können. Den letzten Schliff aber erhielten die Melodien, so erklärt er, aufgrund ihres Gebrauchs: Illud praeterea scire te volo quod in morem puri argenti cunctus cantus quo magis utitur, coloratur, et quod modo displicet, per usum quasi lima politum postea collaudatur. Auch dies sollst du noch wissen: dass nach Art reinen Silbers der ganze Gesang umso mehr glänzt, je häufiger er genutzt wird und dass das, was zunächst missfällt, aufgrund der Nutzung, [die] gleichsam wie eine Feile [wirkt], später Zustimmung findet.93

Guido spielt hier nicht lediglich auf Vorgänge der Gewöhnung an, sondern auf die tatsächliche Veränderung eines Gesangs aufgrund seines Gebrauchs. Dafür gibt es mehrere Indizien: Guido hatte zuvor Freiheiten und Korrekturmöglichkeiten aufgezeigt, die ebenfalls auf eine Abwandlung der Tonhöhenverläufe abzielten; auch das Beispiel des Silbers weist in eine solche Richtung, weil sich durch den Gebrauch die Farbe des Metalls tatsächlich ändert; und schließlich spricht auch das Bild der Feile dafür, dass wirkliche Justierungen des Tonhöhenverlaufs und nicht nur Prozesse der Gewöhnung gemeint sind. Die Fortführung des Zitats setzt die kompositionspädagogische Methode in Analogie zu den Realitäten oraler Gesangspraktiken. Die Ursprungsmelodie wird als Ausgangspunkt für eine musi91 Z. B. MUS. ENCH., cap. IX, S. 22. 92 Vgl. van Deusen 1982, S. 51. 93 GUIDO micr., cap. XVII, S. 193f.

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kalische Tradierung aufgefasst, in deren Vollzug sich – mit einem Ausdruck von Max Haas – „chant communities“94 und Individuen ihren je eigenen und eigentümlichen Gesang bilden. Dieser ist den jeweiligen Musikern eigentümlich, weil sie ihn nach ihren eigenen Konventionen und nach ihrem eigenen Geschmack ausbilden; deshalb setzt sich das Zitat folgendermaßen fort: […] ac pro diversitate gentium ac mentium, quod huic displicet ab illo amplectitur, et hunc oblectant nunc consona ille magis probat diversa; iste continuationem et mollitiem secundum suae mentis lasciviam quaerit, ille utpote gravis, sobriis cantibus demulcetur; alius vero ut amens in compositis et anfractis vexationibus pascitur; et unusquisque eum cantum sonorius multo pronuntiat, quem secundum suae mentis insitam qualitatem probat.95 […] ebenso mit Blick auf die Unterschiedenheit der Volksgemeinschaften und Charaktere: Was diesem missfällt, wird von jenem begrüßt, und dem einen gefällt das Einheitliche, jener andere neigt mehr dem Verschiedenen zu; aufgrund der Heiterkeit seines Charakters sucht einer nach stetiger Folge und Beweglichkeit, einen ernsten Menschen hingegen sprechen maßvolle Gesänge an; ein anderer wiederum weidet sich wie unsinnig an zusammengesetzten und raschen krummen Bewegungen. Und jeder trägt denjenigen Gesang besonders klingend vor, den er gemäß der eingepflanzten Beschaffenheit seines Charakters schätzt.

Die Begriffe „gens“ und „mens“, deren Zusammenhang in dem zuerst angeführten Zitat in der Schwebe blieb, werden nun genau analog betrachtet: Was auf den Charakter des Individuums zutrifft, trifft ebenso auf eine Volksgemeinschaft zu. Welche Gründe Guido für die – vermutlich als selbstverständlich geltende – Existenz volksspezifischer Eigenarten annimmt, geht aus den Textstellen allerdings nicht hervor: Als Übersetzung des Wortes „insitus“ wurde „eingepflanzt“ gewählt. Zwar wäre eine Übertragung als „angeboren“ ebenfalls möglich, doch legte man Guido damit auf eine biologistische Auffassung fest, die sich dem Text nicht entnehmen lässt. Die volksspezifischen Eigentümlichkeiten könnten als rein konventioneller Art, also als anerzogen begriffen worden sein. Im Kontext des zuletzt angeführten Zitats, das sich zweifelsfrei auf musikalische Eigenarten von Volksgemeinschaften beziehen lässt, wird keine dieser Gruppen beim Namen genannt. Guidos Interesse gehört dem abstrakten Sachverhalt, dass bestimmte Volksgemeinschaften ebenso wie Individuen musikalische Eigenarten ausprägen oder besitzen. Zugleich fällt auf, dass Guido keine anderen Größen ins Spiel bringt als eben nur das Individuum und die „gens“. Das erklärt sich möglicherweise daraus, dass „gens“ ein Sammelbegriff für Gemeinschaften ganz unterschiedlicher Prägung ist. Unter ihn fallen diverse, mehr oder weniger gut definierbare Einheiten: das Geschlecht, die Sippschaft, die Gemeinde, das 94 Haas 1997a, S. 40. 95 GUIDO micr., cap. XVII, S. 194f.

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Volk usw. In dem früheren Zitat werden hingegen Volksgemeinschaften benannt, und auch wenn offen bleib muss, inwiefern diese Volksgemeinschaften musikalische Einheiten bildeten, bietet es sich an, sie näher zu betrachten, weil sie die einzige Konkretion von Guidos „gens“-Begriff liefern. Genannt werden Graeci, Hispani, Latini, Teutonici und Galli; nach dem Individuum rücken für Guido – wie bei allen im vorliegenden Buch behandelten Autoren – also sogleich sehr große Gemeinschaften in den Blick. Die Frage, welche Gemeinschaften sich hinter den Namen verbergen, erweist sich bei genauerer Betrachtung allerdings als überaus schwierig. Einen Einstieg mag man über die berühmte Epistola ad Michaelem Guidos versuchen. Darin erwähnt Guido „philosophi“, die Lehrmeister aus unterschiedlichen Teilen der ihm naheliegenden Kulturkreise aufgesucht hätten, um in Ermangelung einer Notenschrift die „ars musica“ zu erlernen. Diese Lehrmeister werden als Itali, Galli, Germani und Graeci bezeichnet: Vidi enim multos acutissimos philosophos, qui pro studio huius artis non solum Italos, sed etiam Gallos atque Germanos ipsosque etiam Graecos quesivere magistros. Denn ich habe die herausragendsten ‚philosophi‘ gesehen, die für das Studium dieser ‚ars‘ nicht nur die Gelehrten der Itali, sondern auch der Galli und Germani, ja selbst der Graeci konsultiert haben.96

Es ist auffällig, dass sich – abgesehen von den nur in einem Text auftauchenden Hispani – eine Parallelisierung der beiden Ketten von Gemeinschaftsbegriffen aufdrängt: Während Galli und Graeci in beiden Texten begegnen, scheinen den Latini die Itali zu entsprechen und den Teutonici die Germani. Indes ist Vorsicht geboten: Sowohl der Ausdruck Itali als auch der Ausdruck Germani machen im Gegensatz zu den Begriffen Latini und Teutonici ein geografisches Begriffsverständnis wahrscheinlich. Während mit den Itali die Bewohner der italischen Halbinsel – möglicherweise ohne die byzantinische Bevölkerung im Süden –, gemeint sein dürften,97 ist aufgrund der noch aus der Antike überkommenen Tradition anzunehmen, dass mit Germani die Bewohner der rechtsrheinischen Lande, freilich mit unscharfen Grenzen, gemeint waren.98 So kontextualisiert, 96 GUIDO ep., S. 460. 97 Die Grenze des byzantinischen Reichs auf der italischen Halbinsel 1000–1013 verlief an mehreren Fronten: zwischen den Gebieten der byzantinischen Katepanaten Langobardia, Kalabria und Lukania und den Herzogtümern Capua, Benevent, Amalfi und Salerno. Sizilien war trotz einiger Rückeroberungsversuche bis zur normannischen Eroberung muslimisch (siehe von Whittow 1996, S. 358–361, und Falkenhausen 2003). 98 Tellenbach 1975, S.  152, Weisert 1997, S.  145–151, Geuenich 2000, S.  316, Pohl 2004, S.  176, Geuenich 2004, S. 187.

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wird man hinter den Galli die Bewohner der linksrheinischen Lande vermuten dürfen, denn gerade als aufeinander bezogenes bzw. voneinander abhängiges Begriffspaar wurden in der erwähnten Tradition die Namen Gallia und Germania verwendet. Per analogiam darf man daher vielleicht weiter schließen, dass auch mit den Graeci nicht so sehr die Sprachgemeinschaft gemeint war als vielmehr eine geografisch begriffene Gemeinschaft, auch wenn offen bleiben muss, welche Kriterien Guido für die Abgrenzung des Gebietes heranzog.99 Vor diesem Hintergrund ist die Annahme nicht abwegig, Guido habe mit den Gemeinschaftsbegriffen im Micrologus bewusst einen anderen Akzent gesetzt: Die Ausdrücke Latini und Teutonici mögen dezidiert Sprachgemeinschaften in den Fokus gerückt haben. Sowohl dem Ausdruck Latini als auch dem Begriff Teutonici ist dieser Sprachbezug eigen (Graeci natürlich ebenfalls, doch da dieser Begriff in beiden Texten Verwendung findet, besitzt er hier keine Beweiskraft). Wie im Falle der Graeci im Kontext der Epistola können die Begriffe Hispani und Galli im Micrologus nur per analogiam interpretiert, und das heißt hier nun auf die Sprachkomponente bezogen werden. Für beide Ketten von Gemeinschaftsbegriffen gilt im Übrigen, dass die je akzentuierte Schicht – Territorium bzw. Sprache – nur je einen Faktor betont, ohne dass damit andere Faktoren ausgeschaltet wären. Gerade die musikhistorisch aufschlussreichere Formulierung im Micrologus impliziert ja, dass Guido mit den Gemeinschaften mehr als nur die Spracheinheit assoziierte. Die Frage, warum Guido das eine Mal die Sprache, das andere Mal das Gebiet akzentuierte, lässt sich nur hypothetisch beantworten. Es könnte sein, dass er in Bezug auf die – wahrscheinlich, abgesehen von den Graeci, samt und sonders Lateinisch schreibenden – Philosophen die räumlichgeografische Entfernung akzentuieren wollte, während er im Falle der Volkscharakteristik auf kulturelle Differenzen abhob, die sich eben auch innerhalb der verschiedenen Sprachen widerspiegeln. Möglicherweise schwebte Guido sogar der Zusammenhang zwischen Volkssprache und Artikulation des lateinischen Choraltextes vor. In einer Musik, bei der Rede und Gesang kaum unterschieden werden können, besteht hier natürlich ein enger Zusammenhang, der – neben vielen anderen Faktoren – für die jeweilige lokale Ausprägung der Choräle mitverantwortlich gewesen sein dürfte. Es bleibt zu betrachten, welche Gemeinschaften sich hinter den von Guido benutzten Namen verbergen könnten: 1. Auf die Frage, wer sich hinter Guidos Graeci verbergen könnte, gibt es zunächst zwei mögliche Antworten, je nachdem, ob Guido eine sprachliche oder eine poli99 Eine Karte des byzantinischen Reichs von 1025 findet sich bei Koder 2002, Sp. 1231f.; siehe auch den Großen Historischen Weltatlas, Teil II, S. 18f.

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tische Perspektive einnahm: Entweder er bezog sich auf griechisch sprechende Menschen, oder er bezog sich auf Menschen des Byzantinischen Reichs, in dem Griechisch die Sprache der Literatur und Verwaltung war100 und das damals Kleinasien und Teile Südost-Europas sowie einen südlichen Teil der italischen Halbinsel umfasste.101 Nicht auszuschließen ist auch eine dritte Möglichkeit, dass Guido mit dem Begriff nämlich eine kulturelle Einheit implizierte, deren Abgrenzung allerdings unklar ist. Für alle drei Möglichkeiten gäbe es außerdem die spezifischere Lesart, dass Guido die gleichsam vor seiner Haustür lebende griechisch sprechende bzw. dem byzantinischen Reich zugehörige Bevölkerung auf der südlichen italischen Halbinsel vor Augen gehabt hat. Dialektale und volkssprachliche Binnendifferenzierungen werden nicht vorgenommen. Sollte sich Guido mit dem Wort Graeci tatsächlich auf diese große, politische und sprachliche Kriterien verbindende, Gemeinschaft beziehen, so würde er damit nahelegen, sämtliche Mitglieder dieser vielschichtigen Gemeinschaft besäßen untereinander ähnliche, von den übrigen genannten Gemeinschaften aber signifikant abweichende Erscheinungsformen und Verhaltensweisen („habitus“). Vielleicht darf man annehmen, dass dies das Resultat der nivellierenden Außenperspektive eines Autors ist, der sich einem anderen Kulturkreis zugehörig fühlt. In der Tat führt Guido die Graeci im Sinne einer Steigerung ein: „[…] non solum Italos, sed etiam Gallos atque Germanos, ipsosque etiam Graecos quaesivere magistros.“ Einerseits folgt die Steigerung der kulturellen Ferne: nicht nur italische, sondern auch gallische und germanische, ja sogar griechische Gelehrte. Andererseits entspricht die klimaktische Nennung der Graeci möglicherweise dem damaligen Stereotyp, dem zufolge die Graeci als besonders gelehrt galten.102 2. Die Hispani können wahrscheinlich nicht ausschließlich als sprachlich definierte Gemeinschaft begriffen werden. Sowohl in „Mittelitalien“ als auch auf der iberischen Halbinsel dürfte unter der romanischen Bevölkerung zwar inzwischen ein Bewusstsein von der Differenz zwischen dem Lateinischen und dem Romanischen geherrscht haben,103 doch existierte noch keine eindeutige terminologische Trennung. Die Araber bezeichneten mit dem Wort Latiní sowohl das Lateinische als auch das Romanische,104 und noch der seit dem 13. Jahrhundert belegte Ausdruck Latino bzw. Ladino konnte „Spanisch“ heißen.105 Obwohl die iberische Halb100 Trapp 2002, Sp. 1708, Charanis 1972, S. 107. 101 Siehe die in Anm. 97 genannte Literatur. 102 Schieffer 2008, S. 19f. 103 Herman 1996, S. 380. 104 Koll 1957/1958, S. 121. 105 Müller 1996, S. 135; vgl. Kramer 1983, S. 83.

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insel alles andere als eine sprachlich einheitliche Region war, selbst wenn man nur die romanischen Sprachen betrachtet,106 ist es dennoch nicht ganz ausgeschlossen, dass ein Sprecher Mittelitaliens, geografische und sprachlich-dialektale Kriterien konfundierend, die romanischen Sprecher der iberischen Halbinsel als Hispani bezeichnet haben mag. Allerdings erscheint eine ganz andere Lesart fast plausibler: Der Ausdruck Hispani bezog sich früher zwar pauschalierend auf die Bewohner der iberischen Halbinsel, wurde nach der Maureninvasion aber auf das maurisch beherrschte Gebiet beschränkt,107 und auch in den ersten Jahrhunderten der Reconquista wurde mit Hispania meist nur der in arabischer Hand befindliche Teil der Halbinsel bezeichnet.108 Im maurisch regierten Teil Spaniens wurden die hispanoromanischen Mundarten vom Arabischen völlig überdeckt.109 Möglicherweise meinte Guido also gerade nicht die „Spanier“, d. h. „spanisch“ sprechende Menschen, sondern in einer Kombination von sprachlichen und geografischen Kriterien die arabisch sprechenden Menschen, die sich auf der iberischen Halbinsel befanden. Dass sich diese Gruppe äußerlich und in ihren Verhaltensnormen erkennbar von anderen europäischen Gruppen unterschied, ist plausibel. 3. Latini konnten sich Sprecher aller romanischen Länder nennen, bevor sich ein Bewusstsein von der Differenz zwischen Latein und der jeweiligen romanischen Sprache herausgebildet hatte, was in unterschiedlichen Gegenden zu unterschiedlichen Zeitpunkten geschah.110 Auf den ersten Blick erscheint es als unwahrscheinlich, dass Guido mit dem Begriff sämtliche romanische Sprachgemeinschaften im Auge hatte, doch kann dies keineswegs ausgeschlossen werden: Gerade wenn mit den Hispani nicht die iberoromanischen Sprachgemeinschaften gemeint waren, sondern die Mauren, ergäbe die Auflistung Sinn, denn sie würde dann die wichtigsten um Italien herum gesprochenen, klar unterschiedenen Sprachfamilien benennen: das Griechische, das Arabische, das Lateinische (Romanische) und das „Deutsche“. Nur die Galli scheinen aus dem Rahmen zu fallen, doch hat sich in der Galloromania wohl am frühesten ein Bewusstsein von der Eigenständigkeit der Volkssprache entwickelt;111 und dieser Sachverhalt mag durchaus zu einer solchen Ausgrenzung der Galli aus den übrigen romanischen Sprachgemeinschaften geführt haben. Dem Sprecher einer anderen romanischen Sprachvariante könnte die Differenz zwischen dem Lateinischen und dem Altfranzösischen sogar 106 Schmitt 2000, hier S. 1024. 107 Müller 1996, S. 140. 108 Koll 1957/1958, S. 122f. 109 Winkelmann 1985, S. 195. 110 Siehe z. B. Koll 1957/1958, Müller 1963, Kramer 1983. 111 Hermann 1996, S. 378f.

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eher deutlich gewesen sein als den galloromanischen Sprechern selbst. Andererseits mag sich der Ausdruck Latini auch speziell auf die italoromanischen Sprecher, insbesondere die Mittelitaliener, beziehen.112 Gerade in Italien hat sich das Bewusstsein von einer Differenz zwischen Latein und einer (davon verschiedenen) Volkssprache sehr spät bemerkbar gemacht.113 Bis ins frühe 10. Jahrhundert gibt es in Italien keine Anzeichen für ein Bewusstsein dafür, dass es sich beim Italienischen um eine vom Lateinischen unterschiedene Sprache handle; ein erstes Indiz für diese Unterscheidung stammt von 960.114 Aber noch Dante nannte die Italiener gern Latini.115 Zur Zeit Guidos könnte die Bezeichnung Latini überdies der gezielten Differenzierung vom griechischsprachigen Teil im Süden der Halbinsel gedient haben, der zwischen 535 und 1071 byzantinisch war.116 4. Auch der Ausdruck Teutonici bildete keine politische Gemeinschaft ab: Von einem regnum Teutonicorum ist in Bezug auf die Reiche Konrads I. und der sächsischen Könige seit Heinrich I. nicht die Rede.117 Dies ändert sich erst im 11. Jahrhundert.118 Im späten 9. Jahrhundert bedeutete teutonicus „volkssprachlich“,119 und zwar bezogen auf Varietäten des Althochdeutschen120 und des Altsächsischen.121 Die Nutzung des Wortes Teutonici als Sprach- und Volksname ist charakteristisch für Italien;122 eine geografische Bedeutung ist vor dem 12. Jahrhundert aber noch nicht damit verbunden.123 In einer besonderen Bedeutung hat Papst Gregor VII. 1075 den Ausdruck rex Teutonicorum verwendet, um die Machtansprüche Heinrichs IV., der 112 Müller 1963, S. 39 und 48, Müller 1996, S. 135. – In der Hs. CH-BEb A 91.21 aus dem 11. Jh. steht singulär statt Latinus Italus. Man kann dieses Indiz sowohl als Zeichen dafür deuten, dass der Begriff Latinus auch für einen zeitgenössischen Leser uneindeutig war, so dass der Schreiber eine Präzisierung anstrebte, als auch als Zeichen dafür, dass Latinus und Italus als gleichbedeutend verstanden werden konnten. 113 Koll 1957/1958, S. 143; vgl. Ineichen 1987, S. 15. 114 Herman 1996, S. 380; vgl. Holtus 1985, S. 135. 115 Koll 1957/1958, S. 149, Holtus 1985, S. 138. 116 Vgl. de Simone 1980, S. 78. 117 Ehlers 1992, S. 267. 118 Ebd., S. 270. 119 Dies gilt in noch direkterer etymologischer Ableitung für das Wort teudiscus, mit dem in der Hs. CH-CObodmer cod. membr. in 4°, olim Phillipps Ms. 18845 aus dem 12. Jh. teutonicus erklärt wird. 120 Das „Althochdeutsche“ ist freilich eine moderne Konstruktion; siehe Ehlers 1989, S. 311 und 312, Thomas 1990b, S. 93, Haubrichs 2004, S. 204. 121 Reiffenstein 2003, S. 2192 und 2196. 122 Thomas 1976, S. 45, Ehlers 1989, S. 306, Thomas 1990a, S. 29, Thomas 1991, S. 263, 271 und 276, Thomas 1994, S. 133, 136 und 143, Wolfram 1998, S. 116f. und 122, Thomas 2000, S. 49f., Weiß 2000, S. 403. 123 Reiffenstein 2003, S. 2196.

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sich selbst als rex Romanorum bezeichnet hatte, einzuschränken.124 Das Annolied (um 1080) wurde als erster Versuch gedeutet, eine origo gentis Teutonicorum zu konstruieren.125 Die speziellen und erst kurz nach Guidos Lebenszeit greifbaren politischen und ethnischen Bedeutungen von Teutonicus wird man nicht in Guidos Text hineinlesen wollen; und so scheint wiederum eine sprachliche Dimension terminologisch im Vordergrund zu stehen.126 Ob die Sprecher des Altenglischen, das ebenfalls zu den westgermanischen Sprachen gehört, von Guido zu den Teutonici gerechnet wurde, ist kaum zu entscheiden. Zumindest im 12. und 13. Jahrhundert unterschieden Sprecher des Altenglischen ihre eigene Sprache gelegentlich mit diesem Begriff vom Anglo-Normannischen und vom Schottischen.127 5. Auf den Begriff der Galli wurde im Abschnitt über die Latini bereits kurz eingegangen. Es ist im Einzelnen umstritten, wann sich in der Galloromania ein Bewusstsein von der Eigenständigkeit der Volkssprache herausgebildet hat. Generell wird aber angenommen, dass dies dort früher geschehen ist als in den übrigen romanischen Sprachgebieten. Nach József Herman zeichnet sich in den westfränkischen Gebieten in der zweiten Hälfte des 8. Jahrhunderts dieses Bewusstsein ab.128 Johannes Kramer verwies allerdings schon früher darauf, dass es von den Andeutungen eines Bewusstseins für den sprachlichen Unterschied ein weiter Weg war bis zu einer eindeutigen terminologischen Differenzierung; diese Entwicklung sei auch im 11. Jahrhundert noch nicht abgeschlossen gewesen.129 Wenn ich recht sehe, stützt diese Beobachtung Kramers die Auffassung Roger Wrights, die Wahrnehmung einer Differenz habe sich lediglich auf die Aussprache, nicht schon auf die Sprache insgesamt bezogen.130 Mit Blick auf die Zeit Guidos wird man aber wohl davon ausgehen dürfen, dass – zumal für einen Sprecher aus Mittelitalien – das „Gallische“ als eigenständige Sprache begriffen wurde. In Bezug auf die Frage nach mittelalterlichen Identitätskonzepten und Gemeinschaftsbegriffen ist an den Aussagen Guidos bemerkenswert, welches Maß an Vereinfachung bereits in der Wahl der genannten Volksgemeinschaften enthalten ist: Obwohl die terminologische Interpretation den sprachlichen Aspekt in den Vordergrund gerückt hat, weil die Sprache offenbar das wichtigste Differenzie-

124 Thomas 1991, S. 265f., Thomas 1992, S. 141f., Thomas 1994, S. 141f., Thomas 2000, S. 50 und 53. 125 Reiffenstein 2003, S. 2198, Ehlers 2004, S. 139; siehe aber einschränkend Goerlitz 2014. 126 Vgl. Thomas 1990a, S. 40. 127 Reiffenstein 2003, S. 2196. 128 Herman 1996, S. 368–372. 129 Kramer 1983, S. 86f. 130 Wright 1982; vgl. die Zusammenfassung bei Lloyd 1984.

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rungskriterium für Guido darstellte, werden die von Guido genannten Gemeinschaften gerade nicht als reine Sprachgemeinschaften beschrieben: Ausdrücklich dienen sie ihm dazu, Gemeinschaften zu bezeichnen, die sich durch bestimmte Verhaltensweisen und Sitten („habitus“) auszeichnen. Dabei geschieht die Zuordnung von Sprache und Habitus erstaunlich schematisch: Den Sprachgemeinschaften werden bestimmte Verhaltensweisen und Sitten zugeordnet, als wäre diese Entsprechung notwendig oder logisch. Zwischen angrenzenden Teilgruppen unterschiedlicher Sprachgemeinschaften könnten ja größere Ähnlichkeiten der Habitus bestehen als zwischen weiter auseinanderliegenden Teilgruppen derselben Sprachgemeinschaft. Auch Binnendifferenzierungen werden nicht ins Auge gefasst: Gerade angesichts eines so großen und komplexen Gebildes wie des byzantinischen Reiches wäre anzunehmen, dass die Binnendifferenzierung nach Habitus mindestens ebenso signifikant war. Allerdings ist nochmals hervorzuheben, dass Guido lediglich der abstrakte Sachverhalt und nicht die konkrete Praxis interessiert und dass die beispielhaft genannten „gentes“ nicht mit „chant communities“ zusammenfallen.

b) Die Rezeption Die Aussage aus Guidos Micrologus ist später mehrfach übernommen, in ihrer Bedeutung dabei aber mehr oder weniger verändert worden. 1. Johannes dictus Cotto sive Affligemensis greift Guido inhaltlich direkt auf, wandelt aber dennoch stark ab: Habent autem modi speciales et inter se diversas sonorum proprietates, adeo ut diligenti musico seu etiam exercitato cantori cognitionem sui ultro ingerant. Et quemadmodum aliquis mores habitusque diversarum gentium perscrutatus, cuiuscumque nationis hominem videt, docte internoscit, videlicet hunc esse Graecum et hunc Germanum, illum vero Hispanum, illum autem Gallum indicans, ita nimirum musicus, non autem solo nomine, audita qualibet harmonia statim cuius toni sit agnoscit.131 Die „modi“ besitzen aber besondere und untereinander unterschiedliche Klangeigenschaften, und zwar so sehr, dass sich einem aufmerksamen Musiktheoretiker oder auch einem geübten Sänger seine Kenntnis von selbst aufdrängt. Und so wie jemand, der die Sitten und Verhaltensweisen der verschiedenen Völker untersucht hat und nun geschickt erkennt, welcher Herkunftsgemeinschaft („natio“) ein Mensch [angehört], den er sieht, indem er andeutet, dieser sei ein Graecus, jener ein Germanus, der da aber ein Hispanus und jener ein Gallus, so erkennt natürlich ein Musiktheoretiker sofort, und zwar nicht bloß aufgrund seines Namens, in welchem „tonus“ eine gehörte Melodie steht.

131 IOH. COTT. mus., cap. XVI, S. 110. – Im 14. Jh. zitiert vom Autor der COMPIL. Lips., S. 131f.

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Bemerkenswert ist die große Eigenständigkeit in der Darstellung des Sachverhaltes, die eine bloß topische Übernahme erneut unwahrscheinlich, wenn auch nicht gänzlich ausgeschlossen, erscheinen lässt. Diese Eigenständigkeit schlägt sich zunächst rein sprachlich nieder: So wird, abgesehen davon, dass ohnehin kein Zitat, sondern eine freie Paraphrase vorliegt, dem Begriff „gens“ der Begriff „natio“ an die Seite gestellt. Auch ein den hier relevanten Abschnitt einleitender Vergleich musikalischer Vorlieben mit Geschmacksunterschieden in Bezug auf Speisen wird von Johannes offenbar gänzlich originell entwickelt. Guido hatte lediglich im Hinblick auf die ästhetische Bedeutung der „varietas“ einen Vergleich mit den übrigen Sinnesvermögen und ihren Gegenständen hergestellt.132 Die von Johannes in diesem Zusammenhang eingeführten Begriffe „cibus“, „esca“, „os“133 tauchen bei Guido nicht auf. Auch die Formulierung der Tonartencharaktere geschieht in völlig anderen Worten. Dem entspricht, dass Johannes seine persönliche Erfahrung ins Spiel bringt: „Ich selbst erinnere mich, gewissen Leuten einige Gesänge vorgetragen zu haben und dass einer sie äußerst rühmte und sie dem anderen gänzlich missfielen.“134 Dennoch geht bei Johannes die enge Anbindung an die musikalische Praxis verloren. Die Thematisierung der oralen Tradierung von Musik, die für Guido offenbar eine Selbstverständlichkeit war und daher neutral, wenn nicht sogar positiv, dargestellt wurde, ist in der Schrift des Johannes verschwunden. Das 21. Kapitel tritt sogar vehement für die Verschriftlichung der Musik ein; die Verwendung von Neumen ohne eindeutige Tonhöhe lehnt er ab. An die Stelle der Gedanken über die Veredlung von Melodien durch die Praxis bei Guido treten Erörterungen des Richtigen und Falschen, das eine Fixierung in schriftlicher Form plausibel erscheinen lässt. Johannes greift die Gemeinschaften Guidos auf, ohne sie einfach zu übernehmen: Die Nennung des Latinus entfällt, und aus dem Teutonicus wird ein Germanus. Dies hat auch Konsequenzen für die Interpretation der übrigen Gemeinschaftsbegriffe. Im Gegensatz zum Terminus Teutonicus besitzt der Terminus Germanus nicht so sehr einen sprachlichen wie einen geografischen Akzent. Zwar konnte Germania seit dem 10., spätestens aber seit dem 11. Jh. mitunter den gesamten nordalpinen Teil des römisch-deutschen Reiches, also auch seine linksrheinischen Gebiete meinen.135 Doch die Gegenüberstellung von Germanus und Gallus136 legt eher nahe, dass Johannes die klassische territoriale Bedeutung, also die Gebiete rechts bzw. 132 GUIDO micr., cap. XIV, S. 159f. 133 IOH. COTT. mus., cap. XVI, S. 109f. 134 Ebd., S. 110: „Certe ego ipse memini, me cantiones aliquot coram quibusdam cecinisse, et quod unus summopere extollebat alii penitus displicuisse.“ 135 Tellenbach 1975, S. 154; ebenso Vigener 1901, S. 119, Lugge 1960, S. 141–143. 136 Vgl. Lugge 1960, S. 93f. und 97.

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links des Rheins, vor Augen hatte. Dadurch wird wahrscheinlich gemacht, dass auch der Hispanus geografisch zu begreifen ist, also als ein Bewohner der iberischen Halbinsel.137 Die bei Guido möglicherweise implizierte Bindung der Gemeinschaftscharakteristik an die Sprache wird so aufgehoben. Warum aber Johannes an der vorliegenden Stelle nicht die im Zusammenhang mit den Erinnerungssilben Ut, Re, Mi, Fa, Sol, La eingeführten Gemeinschaftsbezeichnungen aufgreift, obwohl sie sachlich Überschneidungen aufweisen (Gallus bzw. Francigenae und Germanus bzw. Alemanni), muss offen bleiben. Auch bezüglich der Frage, warum das Wort Latinus entfernt wurde, lässt sich nur spekulieren. Am wahrscheinlichsten ist, dass die Selbstbezeichnung Latini für die Sprecher des Italoromanischen möglicherweise nur bei diesen selbst akzeptiert war. Da Lateinisch die Schriftsprache im gesamten westlichen und mittleren Europa war, bedeutete ein Latinus keine Zuordnung zu einer Gemeinschaft, die sich durch bestimmte „mores“ und „habitus“ auszeichnete. 2. Im anonymen Metrologus (13. Jh.), der freilich auch eine Art Kommentar zum Micrologus darstellt, liegt ein wörtliches Guido-Zitat vor, abgesehen davon, dass die Latini keine Erwähnung finden.138 Dennoch ist von einer weitreichenden Bedeutungsverschiebung der Termini auszugehen: Dadurch dass die Latini fehlen, liefert das Wort Teutonicus den einzigen, scheinbaren Hinweis darauf, dass eine sprachgeografische Perspektive vorliegt. Seit dem 11. Jahrhundert konnte das regnum Teutonicum aber auch als „Institution, als ‚res publica“, mit imperialem Anspruch“ begriffen werden.139 Entsprechend war frühestens seit dem 12. Jahrhundert der geografische Begriff Teutonia üblich.140 Die übrigen Indizien stützen eine solche weniger die Sprache akzentuierende Lesart der Gemeinschaftsbegriffe: In den Geschichtswerken alfonsinischer Zeit waren – die antike Tradition aufgreifend – Hispani wieder die Bewohner der iberischen Halbinsel, der Ausdruck bezog sich in der Zeit der fortgeschrittenen Reconquista also nicht mehr speziell auf die maurischen Gebiete.141 Im Übrigen wurden die ibe137 Gerade außerhalb der iberischen Halbinsel war dieser Sprachgebrauch gängig (Pariente 1977, S. 3f.). 138 METROL., S.  82: „Horum quidem troporum excercitati ita proprietates et discretas ut ita dicam, facies extemplo ut audierint, recognoscunt, sicut peritus gentium coram positis multis habitus eorum intueri potest et dicere: hic Graecus est, ille Hispanus, ille Teutonicus, ille vero Gallus. Atque ita diversitas troporum diversitati mentium coaptatur ut unus autenti deuteri fractis saltibus delectatur, alius plagis triti eligat voluntatem (lege voluptatem), uni autentici tetrardi garrulitas magis placet, iter (lege alter) eiusdem plagae suavitatem probat, et sic de reliquis.“ 139 Thomas 1991, S. 268. 140 Reiffenstein 2003, S. 2196. 141 Müller 1996, S. 140.

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roromanischen Sprachvarianten inzwischen klar vom Lateinischen unterschieden; der Begriff Latini hätte also gar nicht mehr ohne Weiteres die Iberoromanen umschließen können, wie das noch bei Guido der Fall gewesen sein könnte. Spätestens schon seit Ende des 11. Jh. wurde das Kastilische nicht mehr als eine Variante des Lateinischen begriffen.142 Auch der Name Galli für die Bewohner des Königreichs Frankreich war im 13. Jahrhundert – ganz anders als zu Guidos Zeit – geläufig geworden,143 weil sich dieses Reich ausgedehnt und gefestigt hatte.144 Wie schon bei Johannes dictus Cotto sive Affligemensis ist der konkrete, auf die orale Tradierung von Chorälen gerichtete Bezug im Metrologus nicht mehr erkennbar. Die Akzentverlagerung von der sprachlichen auf die politisch-geografische Dimension der Gemeinschaftsbegriffe mag damit zusammenhängen. Sollte nämlich die oben angedeutete Hypothese aufrechtzuerhalten sein, dass Guido auf eine Wechselwirkung zwischen volkssprachlichen Eigenarten, einschließlich der daraus hervorgehenden Aussprache des Lateinischen, mit der Gesangscharakteristik abzielte, so handelte es sich dabei um einen Aspekt, der für den Autor des Metrologus keine Relevanz mehr besaß, weil der unmittelbare Bezug zur Choralpraxis offenbar verloren war. 3. Jacobus de Hispania spielt auf diese Texttradition an, kombiniert sie allerdings mit einer von Amerus / Alvredus übernommenen Aussage und beschränkt sich auf die Nennung von Gallicus und Teutonicus: Unde quidam valens doctor dicit quod non potest quis perfecte, secundum artem, iudicare de cantu cui tono subiaceat, nisi principium, ascensum et descensum et finem cognoscat, quamvis usu et exercitio de quibusdam cantibus, cuius toni , ex ipso solo principio, solo auditu decernatur, velut sciens hominum mores et diversarum linguarum genera Gallicum illico a Teutonico recognoscit.145 Daher erklärt ein ehrenwerter Gelehrter, dass niemand vollkommen, gemäß der „ars“, beurteilen kann, welchem „tonus“ ein Gesang angehört, wenn er nicht Beginn, Auf- und Abstieg sowie Schluss betrachtet, auch wenn er durch Praxis und Übung bezüglich mancher Gesänge allein aufgrund des Beginns und seines Gehörs unterscheiden mag, welchem „tonus“ sie angehören, so wie jemand, der die Bräuche und die verschiedenen Sprachgattungen kennt, sogleich einen Gallicus und einen Teutonicus auseinanderhalten kann.

142 Koll 1957/1958, S. 129. 143 Lugge 1960, S. 182. 144 Ebd., S. 217, Guenée 1967, S. 22 f. und 26, Ehlers 1980, S. 587. 145 IAC. LEOD. spec., lib. VI, cap. XXXVI, S. 92; vgl. AMERUS, S. 64: „Denique si vis de quolibet cantu cognoscere cui tono subiaceat, principium, medium et finem prius perfecte considera et secundum predictas regulas de quolibet artificioso et proprio cantu certissime poteris diiudicare.“

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Durch die explizite Nennung von Bräuchen („mores“) und Sprachen („linguae“) macht er klar, dass er einen insbesondere durch kulturelle Faktoren geprägten Begriff von Gemeinschaft im Sinn hat. Mit der Sprache führt Jacobus ein Kriterium ein, dass die Unterscheidung der beiden Gemeinschaften relativ sicher ermöglicht, auch wenn die Unschärfe der Sprachgrenzen und die innere Diversität der Sprachen nicht rückprojizierend verdeckt werden dürfen.146 4. In einem weiteren Zeugnis liegt nicht nur eine vollständig originelle Adaption der guidonischen Aussage vor, sondern mit diesem Zeugnis erhält die regionale Zuordnung musikalischer Vorlieben auch eine deutlich wertende Dimension: Der anonyme, wohl aus dem 13. oder frühen 14. Jahrhundert stammende Liber artis musice tauscht die „gentes“ gegen die pauschaleren regionalen Größen „orientalis“, „occidentalis“ und „mediterraneus“ aus, die er mit klimatisch begründeten Kategorien des Weichen und Rauen bzw. ihrer, dem mediterranen Raum vorbehaltenen, ausgewogenen Mischung assoziiert.147

3.1.6 Zur „englischen“ Prägung des Tonale secundum usum ecclesiarum Anglie et Francie des Amerus / Alvredus Karen Desmond Der Traktat des heute unter dem Namen „Amerus“ bekannten Musiktheoretikers wird in drei Quellen überliefert: D-BAs Lit. 115, ff. 65–79,148 D-TRp Hs. 44, ff. 318–336149 und

146 Zur Problematik der Spracheinheitlichkeit, auch in Bezug auf politische Determinanten, siehe Wiesinger 1989, insb. S. 327, 331–336; vgl. Schnell 1989, S. 297f. Bezüglich des „Gallischen“ sind vor allem die Langue d’oc oder das Okzitanische, die Langue d’Oil oder das Altfranzösische sowie das Picardische und das Normannische zu unterscheiden (siehe dazu von Wartburg 1946, S. 63f. und 86–90, Lodge 2007, S. 216, Lüdtke 2009, S. 799, 801f. und 809); vgl. auch oben Kap. 1.4. 147 Siehe hierzu Hirschmann 2014. 148 Hierbei handelt es sich um den bekannten Kodex mehrstimmiger Musik, der in Bamberg aufbewahrt wird und oft kurz mit dem Kürzel „Ba“ zitiert wird. Der Kodex wird im LmL auf ca. 1275–1285 datiert. Die Handschrift ist dafür bekannt, musikalische Notation aufzuweisen, die den Regeln des Johannes de Garlandia am genauesten folgt; siehe Norwood 1986 und 1990. Bilder des Manuskripts können online eingesehen werden: http://bvbm1.bib-bvb.de/webclient/DeliveryManager?custom_ att_2=simple_viewer&pid=2957869 (zuletzt eingesehen am 29. März 2016). 149 Hierbei handelt es sich um ein Manuskript des 15. Jahrhunderts, das aus der Benediktinerabtei St. Matthew in Trier stammt und das zwei weitere kurze Musiktraktate enthält. Es ist online einsehbar: http://zimks68.uni-trier.de/stmatthias/S0044/S0044.pdf (zuletzt eingesehen am 29. März 2016).

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 Beschreibung gemeinschaftsspezifischer Praktiken

GB-Ob Bodley 77, ff. 138v–139 (Exzerpte).150 Amerus war ein englischer Beamter am Hof des Kardinals Ottobuono Fieschi (der später, am 11. Juli 1276, zum Papst, Adrian V., gewählt wurde). Alberto Gallo zufolge bildet der Tonar den zentralen Abschnitt des Traktats.151 Darin stellt er einerseits die Praktiken der französischen und englischen Kirchen und andererseits diejenigen der römischen Kurie dar.152 Am Schluss des Textes findet sich ein Kapitel über Mensuralmusik – möglicherweise das erste, das südlich der Alpen verfasst wurde. Die Schrift ist auf August 1271 datiert. Der Name des Autors weist je nach Überlieferung gewisse Varianten auf. In D-BAs Lit. 115 wird der Name „Amerus“ angeführt, seine Anstellung im Haushalt des Kardinals Ottobuono erwähnt sowie das Datum der Entstehung des Traktats genannt: Ego Amerus presbiter anglicus clericus et familiaris venerabilis patris domini Octoboni Sancti Adriani dyaconi cardinalis in domo eiusdem, anno Domini millesimo ducentesimo septuagesimo primo. mense augusti compilavi. Ich, Amerus, ein englischer Priester und Kleriker, Angehöriger des Hauses des ehrwürdigen Herrn und Vaters Ottobono, des Kardinaldiakons von San Adriano, habe [diesen Traktat] in ebendiesem Hause im Monat August 1271 kompiliert.

Auch das Explizit der Bamberger Handschrift nennt den Autor: „Explicit opus magistri Ameri presbiteri anglici de practica artis musice“. In der Handschrift GB-Ob Bodley 77 wird der Autor „Aluredus“ genannt, und in einem kürzlich von Bonnie Blackburn entdeckten Exzerpt in dem Manuskript GB-Ob Bodley 240 wird der Autor ebenfalls als Aluredus bezeichnet.153 Blackburn vermutet, der Name sei Alvredus zu lesen, also Alfredus oder Alfred – „a more logical name for an Englishman.“154

150 Hierbei handelt es sich um eine englische Papierhandschrift verschiedener Schreiber, ebenfalls aus dem 15. Jahrhundert. Sie enthält außerdem einen anonymen Kommentar zu Boethius De institutione musica, die Musica speculativa und die Notitia artis musicae des Johannes de Muris sowie den als Anonymus OP bekannten Traktat. Der Boethius-Kommentar wurde von Matthias Hochadel 2002 ediert. Dieser Kommentar wird auch in der Handschrift GB-Oas 90 überliefert. Hochhadel bringt die Handschrift mit dem englischen Universitätsmilieu des späten 14. oder frühen 15. Jahrhunderts in Verbindung. 151 Gallo 2001. 152 Michel Huglo (1971) erörtert die Schrift des Amerus kurz (S. 344f.). Siehe zu Amerus außerdem Ruini 1985. 153 Blackburn 2008, S. 89. 154 Ebd.

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Alvredus bezieht sich auf Anglia in einem Abschnitt, der den ersten der beiden Tonare einleitet. Er erläutert, der erste Tonar folge den Konventionen der Kirchen Angliae und Franciae155: Incipit tonale secundum usum ecclesiarum Anglie et Francie in psalmis ad matutinas, horas et vesperas. Notandum quod differencie vocantur diverse inceptiones antiphonarum, responsoriorum, officiorum et omnium cantuum, scilicet ipsa principia que inter se et a se differunt. Item seculorum improprie dicuntur differencie, licet inter se differant, quia non sunt principia sed fines.156 Hier beginnt der Tonar entsprechend den Gepflogenheiten der Kirchen in Anglia und Francia für die Psalmen zu Matutin, die Horen und Vesper. Es ist zu beachten, dass die unterschiedlichen Anfänge der Antiphone, Responsorien und aller Offiziumsgesänge „differentiae“ genannt werden, d. h. solche Anfänge, die sich unter- und voneinander unterscheiden. Die „Saeculorum“ werden uneigentlich als „differentiae“ bezeichnet, obwohl sie sich untereinander unterscheiden, weil sie keine Anfänge, sondern Schlüsse sind.

Trotz der Bemühungen verschiedener Erzbischöfe von Canterbury des späten 11. und des 12. Jahrunderts (Lanfrancs, Anselms und ihrer Nachfolger), die „englische“ bischöfliche Macht auf das gesamte britische Bistum, einschließlich Schottland, Wales und Irland, auszudehnen, entschied das päpstliche Amt auf der Synode in Kells 1152, vier Erzbischofsitze für Irland einzurichten.157 Wales allerdings geriet im frühen 12. Jahrhundert unter die Leitung Canterburys, und die Kirche Schottlands wurde am Ende des 12. Jahrhunderts der englischen Kirche unterstellt.158 Überhaupt nahm seit dem Ende des 12. Jahrhunderts und das 13. Jahrhundert hindurch der Einfluss der englischen Kirche zu. Auf der Synode von Cashel wurde 1174 beschlossen, dass die irische Kirche den Vorschriften der englischen Kirche (anglicana ecclesia) folgen solle.159 Auch Klöster in Wales und Irland wurden durch die Aktivitäten anglo-normannischer und englischer Fürsten transformiert.160 Wenn Alvredus 1271 die Praktiken der englischen Kirchen erwähnt (secundum usum ecclesiarum Anglie), so scheint er sich allerdings nicht auf die Idee einer „englischen Kirche“ zu beziehen, sondern auf die tatsächlichen Praktiken

155 Seit dem 12. Jahrhundert bezeichnet Francia in der Regel das Königreich Frankreich (Guenée 1967, S. 26). 156 AMERUS, S. 38. 157 Davies 2000, S. 37–39. Davies weist darauf hin, dass Lanfranc und Anselm ihre kirchenpolitischen Ambitionen demonstrierten, indem sie häufig den Titel „Primas von ganz Britannien“ gebrauchten. 158 Ebd., S. 163. 159 Ebd. 160 Ebd., S. 162–165.

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der individuellen Kirchen (im Plural) auf dem Gebiet Englands (ecclesiae Anglie), die ja auch gemeinsam mit dem Gebiet Frankreichs betrachtet werden. In seinem englisch-französischen Tonar stellt Alvredus den Psalmton für jeden der acht „modi“, zusammen mit einer Gruppe von „differentiae“ für jeden „modus“, dar und führt dann die Psalmodie für das Benedictus und das Magnificat an. Alvredus schließt einen weiteren Tonar an, der die Praxis der römischen Kurie abbildet. Dieser Tonar ist ausführlicher als der erste und enthält Beispiele von Antiphon-Anfängen, die allen „differentiae“ entsprechen, das Gloria Patri sowie die „differentiae“ der Gesänge des Graduale und des Introitus. Außerdem fügt Alvredus dem römischen Tonar diverse Erklärungen hinzu, während solche Erklärungen im englisch-französischen Tonar fehlen. Vermutlich handelt es sich beim römischen Tonar um den eigentlichen Lehrgegenstand, während die Darstellungen des französischen und englischen bloß illustrativer Natur sind. Mehrere Choral-Traktate des späteren Mittelalters weisen Tonare auf. Daher lässt sich die Verlässlichkeit von Alvredus als Zeuge regionaler Praktiken überprüfen, indem man diese anderen Tonare vergleichend hinzuzieht, auch wenn zu berücksichtigen ist, dass theoretische Tonare nicht notwendigerweise tatsächliche Praktiken abbilden müssen. Die entsprechenden Traktate werden in der folgenden Tabelle aufgelistet; darunter befinden sich auch solche französischer und englischer Theoretiker:161 Tabelle 1: Tonare in theoretischen Traktaten Abkürzung

Tonar

Ort / Zeit

Alv

Alvredus, Practica artis musice (ALVREDUS) Guy de Saint-Denis, Tractatus de tonis (GUIDO DION.) Jacobus, Speculum musicae (IAC. LEOD. spec.) Magister Lambertus, Tractatus de musica (LAMBERTUS) Petrus de Cruce, Tractatus de tonis (PETR. CRUC.) Anonymous, Tractatus de intonatione tonorum (IAC. LEOD. Inton.) Walter Odington, Summa de speculatione musicae (WALT. ODINGT.)

Rom (1271)

Guy Jac Lam Pet Tra Wal

Saint-Denis (c. 1299–1318) Lüttich? (1320er- / 1330er-Jahre) Paris? (spätes 13. Jh.) Amiens (ca. 1290er-Jahre) Lüttich, benediktinisch? (frühes 14. Jh.?) Evesham? (ca. 1300er-Jahre)

161 Das zentrale Referenzwerk für die Tonare, in dem auch Zusammenfassungen dieser Tonare zu finden sind, ist Huglo 1971.

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Beispiele für französische Praktiken sind demnach Guido von Saint-Denis, Magister Lambertus und Petrus de Cruce zu entnehmen. Guidos Traktat über die Kirchentöne, der ein Explicit enthält, das den Autor als Mönch von Saint-Denis beschreibt, wurde auf die Zeit zwischen 1299 und 1318 datiert.162 Die Schrift ist nur in einer Quelle überliefert (GB-Lbl Harley 281), bei der es sich um eine Sammelhandschrift handelt, bestehend aus Traktaten über die „modi“ aus der Zeit des 11. bis 13. Jahrhunderts (möglicherweise von Guido selbst kompiliert).163 Diese Kompilation ist zugleich die einzige Quelle des Tonars von Petrus de Cruce (ca. 1290). Laut Guido folgt Petrus der Praxis der Kathedrale zu Amiens.164 Über Magister Lambertus, der wahrscheinlich im späteren 13. Jahrhundert in Paris aktiv war, ist ansonsten wenig bekannt. Die einzige erhaltene Quelle des Tractatus de intonatione tonorum ist ein Manuskript des 15. Jahrhunderts, das der Benediktinerabtei von Saint-Laurent in Lüttich gehörte und möglicherweise für sie auch abgeschrieben worden war (B-Br 10162/66). Der Tonar könnte entweder die Praxis von SaintLaurent reflektieren oder aber jene der anderen großen Benediktiner-Abtei in Lüttich, nämlich Saint-Jacques.165 Walter Odington war ein englischer Musiktheoretiker und Benediktiner-Mönch, der im frühen 14. Jahrhundert aktiv war und dessen Summa de speculatione musice ebenfalls einen Tonar enthält.166 All diese Tonare enthalten ausführliche Listen mit „differentiae“ von Antiphonen. Hierbei handelt es sich um die Schlusswendungen oder Kadenzen 162 Huglo 1971, S. 336–37. Über die Person Guido ist wenig bekannt, zumal die Nekrologe von Saint-Denis zu viele Personen dieses Namen verzeichnen; siehe speziell dazu Walters Robertson 1991, S. 334, außerdem Jeffreys 2011. 163 Constant J. Mews u. a. vermuten, dass die Handschrift von Guido für das neu gegründete Collège de Saint-Denis zusammengestellt wurde (Mews u. a. 2008, S. 11). 164 GUIDO. DION., S. 78. 165 Große Teile dieser Handschrift, die hauptsächlich eine Kompilation musiktheoretischer Texte darstellt, wurden direkt aus einer Handschrift des 12. Jahrhunderts kopiert (D-Ds 1988); dazu gehört allerdings nicht der Abschnitt von B-Br 10162/66, der den Tractatus de intonatione tonorum enthält. D-Ds 1988 selbst entstammt der Abtei von Saint-Jacques. Es ist wahrscheinlich, dass Jacobus, der diesen Tonar kannte, und der Kopist der Handschrift aus dem 15. Jahrhundert in der Bibliothek von Saint-Jacques auf die Vorlage des Tractatus de intonatione tonorum stießen (obwohl das Manuskript nicht mehr erhalten ist). Smits van Waesberghe schrieb diesen Tonar sowie zwei weitere Traktate dieser Handschrift Jacobus zu, obwohl dafür Indizien fehlen. Eine Hypothese über die Kompilation von B-Br 10162/66, einschließlich einer kodikologischen Analyse findet sich in Desmond 2009, S. 29–38. 166 Ein weiterer Tonar findet sich in einem späten mittelalterlichen Traktat zur Musiktheorie. Es handelt sich um einen dominikanischen Tonar, Resultat der Reformen der dominikanischen Liturgie, die von Papst Clemens IV 1267 genehmigt worden waren und die auch in einigen Antiphonaren des 13. bis 15. Jahrhunderts nachgewiesen werden können. In manchen Manuskripten liegt diese Liturgie in leicht differierender Fassung mit einem Vorwort von Hieronymus de Moravia vor (Meyer 2006).

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 Beschreibung gemeinschaftsspezifischer Praktiken

der Psalmtöne, die die Sänger zur Wiederholung der Antiphon leiten.167 In den Tonaren wurden sie meistens mit Hilfe der Buchstabenfolge e-u-o-u-a-e bezeichnet, die die Vokale von „se-cu-lo-rum a-men‟ abbildet. Für jeden „modus“ gab es mehrere „differentiae“, und sie wurden oft zusammen mit der zugehörigen Antiphon, gruppiert nach Ähnlichkeit des Melodienanfangs oder nach ihrem Ambitus memoriert. Die „differentiae“ riefen dem Sänger den melodischen Charakter der Antiphon in Erinnerung (es befanden sich mehr als 3000 Antiphone in ihrem Repertoire), und sie ermöglichten eine mentale Klassifikation der Melodien auf einem tieferen Level als der basalen tonalen Zuordnung.168 Petrus de Cruce bemerkte hinsichtlich der breiten Varianz der Praktiken: De differentiis seu principiis eorum, quot differentias seu principia unusquisque eorum habeat, nulla musicae regula numerum certum declaravit, usus enim civitatum, qui diversi sunt, dant eis differentias diversimodo, tum quia unus plus, alter vero minus.169 Hinsichtlich der „differentiae“ oder Anfänge [der Kirchentöne], nämlich wie viele von ihnen jeder [Kirchenton] besitzt, so gibt es keine Regel in der Musik, die eine sichere Anzahl festlegte, denn die Praktiken der Gemeinden, die sich unterscheiden, führen die „differentiae“ für die [Kirchentöne] in unterschiedlicher Weise an, und so gibt es am einen Ort mehr, am anderen weniger.

In Buch 6 seines Speculum musicae gibt Jacobus Notenbeispiele für „differentiae“ von bis zu fünf verschiedenen Traditionen für jeden der acht „modi“. Und ähnlich wie Petrus de Cruce beobachtet er: Tactae enim varietates in ipsis reperiuntur differentiis ut vix una ecclesia conveniat cum alia, sed passim per regionum et ecclesiarum et animorum diversitatem varientur et temporum. Quaedam enim ecclesiae plures, quaedam pauciores habent differentias.170 Denn in den „differentiae“ sind die erwähnten Unterschiede zu finden, so dass kaum eine Kirche darin mit einer anderen übereinstimmt, sondern sie unterscheiden sich allerorten aufgrund der Verschiedenheiten der Gegenden, Kirchen, Menschen und Zeiten. Manche Kirchen haben mehr, andere weniger „differentiae“.

167 Zur Entwicklung und Praxis der „differentiae“ siehe Dyer 1990 und Falconer 2001. 168 Busse Berger beschreibt den Tonar als ein „memorial promptbook“, das es dem Sänger ermöglichte, rasch die richtige Antiphon und ihre „differentiae“ zu erinnern (Busse Berger 2005, S. 48). 169 PETR. CRUC., S. 7. 170 IAC. LEOD. spec., cap. 85, S. 237f.

Choral 

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Tabelle 2 zeigt die Unterschiede hinsichtlich der Anzahl von „differentiae“ für jeden „modus“ in Anlehnung an die theoretischen Zeugnisse des späteren 13. und des frühen 14. Jahrhunderts.171 Tabelle 2: Anzahl der „differentiae“ für die einzelnen „modi“

„modus“ 1 „modus“ 2 „modus“ 3 „modus“ 4 „modus“ 5 „modus“ 6 „modus“ 7 „modus“ 8

Alv (Eng/Fr)

Alv (Ro)

Lam

Guy

Pet

Wal

Tra

9 2 6 10 2 1 7 3

10 1 6 6 1 1 6 5

6 1 4 5 1 1 3 4

9 2 2 6 1 1 4 4

9 2 4 6 1 1 6 7

9 2 6 [5]172 7 [6] 2 1 7 4

9 1 6 [5] 6 2 1 7 4

Für einige „modi“, nämlich 2, 5 und 6 werden nur ein oder zwei „differentiae“ angeführt. Auch für „modus“ 8 wird eher eine kleine Zahl unterschiedlicher „differentiae“ angegeben – mit Ausnahme allerdings des Tonars von Petrus de Cruce. Für die übrigen „modi“ gab es entsprechend den Kommentaren des Petrus de Cruce und des Jacobus in der Tat eine große Auswahl von „differentiae“ mit einer großen Varianz hinsichtlich ihres melodischen Gehaltes sowie der Antiphontypen, denen die „differentiae“ zugeordnet waren. Für den ersten „modus“ lagen die meisten „differentiae“ vor, und sie wiesen eine große Varianz auf. Während Lambert sechs „differentiae“ auflistet, nennen die anderen Autoren neun, Alvredus sogar zehn. Tabelle 3 stellt die „differentiae“ des ersten „modus“ der englisch-französischen Praxis nach Alvredus den „differentiae“ gegenüber, die die anderen Theoretiker anführen. (In den folgenden vier Tabellen zeigen dunkelgraue Vierecke an, dass die „differentiae“ identisch 171 Den Tonar des Jacobus habe ich darin unberücksichtigt gelassen. Denn es handelt sich weitestgehend um eine Kopie von Tra, der außerdem Beispiele von „differentiae“ aus dem Traktat des Johannes dictus Cotto sive Affligemensis hinzugefügt wurden, die der französischen und römischen, der säkularen Lütticher Praxis sowie anderen nicht spezifizierten Praktiken entsprechen. All diese unterschiedlichen Praktiken in die Tabelle aufzunehmen, würde sie für unseren Zweck unnötig unübersichtlich machen; siehe aber die vorläufige Untersuchung des Tonars von Jacobus in Desmond 2009, S. 23–67. 172 Die in eckigen Klammern angegebene Zahl repräsentiert die Anzahl tatsächlich verschiedener „differentiae“, die in einem Traktat angeführt werden. So gibt Odington etwa Musikbeispiele für sechs „differentiae“ des vierten „modus“, tatsächlich aber sind zwei von ihnen identisch, so dass letztlich nur fünf verschiedene „differentiae“ vorliegen.

84 

 Beschreibung gemeinschaftsspezifischer Praktiken

sind. Hellgraue Vierecke zeigen an, dass sie fast identisch sind – abgesehen z. B. von einer kleinen Differenz hinsichtlich einer Neume oder einer melodischen Durchgangsnote.) Aus der Tabelle ist ersichtlich, dass die Liste von Alvredus die größten Ähnlichkeiten mit derjenigen Walter Odingtons aufweist: Sieben der neun „differentiae“ entsprechen einander mehr oder weniger genau.

Choral 

 85

Tabelle 3: „differentiae“ des ersten „modus“ Alvredus (englisch-französischer Tonar) 1.1

1.2

1.3

1.4

1.5

1.6

1.7

1.8

1.9

Lam

Guy

Pet

Wal

Tra

86 

 Beschreibung gemeinschaftsspezifischer Praktiken

Tabellen 4–6 sind entsprechend gestaltet und richten den Fokus auf die „modi“ 4, 3 und 7: Tabelle 4: „differentiae“ des vierten „modus“ Alvredus (englisch-französischer Tonar) 4.1

4.2

4.3

4.4

4.5

4.6

4.7

4.8

Lam

Guy

Pet

Wal

Tra

Choral 

Alvredus (englisch-französischer Tonar)

 87

Lam

Guy

Pet

Wal

Tra

Lam

Guy

Pet

Wal

Tra

4.9

4.10

Tabelle 5: „differentiae“ des dritten „modus“ Alvredus (englisch-französischer Tonar) 3.1

3.2

3.3

3.4

3.5

3.6

88 

 Beschreibung gemeinschaftsspezifischer Praktiken

Tabelle 6: „differentiae“ des siebten „modus“ Alvredus (englisch-französischer Tonar)

Lam

Guy

Pet

Wal

Tra

7.1

7.2

7.3

7.4

7.5

7.6

Aus den Tabellen ist zu erkennen, dass die ersten beiden der zehn von Alvredus angeführten „differentiae“ des vierten „modus“ bei allen Autoren die größte Gemeinsamkeit aufweisen. Wiederum aber ist es die Liste Walter Odingtons, die insgesamt die größte Übereinstimmung mit derjenigen des Alvredus aufweist: 8 von 10 „differentiae“ entsprechen einander mehr oder weniger genau. In Bezug auf den dritten „modus“ stimmen Petrus de Cruce und Walter Odington gleichermaßen mit Alvredus überein (je drei von sechs „differentiae“). In Bezug auf den siebten „modus“ schließlich stimmt wiederum die Liste Walter Odingtons am meisten mit derjenigen des Alvredus überein, auch wenn man feststellen muss, dass es bei allen Autoren hinsichtlich dieses „modus“ weniger Abweichungen gibt.



Verschiedene Bezüge 

 89

Michel Huglo klassifizierte den Tonar des Alvredus in der Rubrik „Tonaires anglais“. Aber er wies auf eine Diskrepanz im Text der Tonarformeln hin. Denn der Schreiber nutzte die folgende Formel für den ersten „modus“: „Primi toni melodia psallat in directo‟, also eine Formel, die in „deutschen“ Tonaren verwendet wurde, greift aber dann ab dem zweiten „modus“ auf die gebräuchlichere englische oder französische Formel „Secundus tonus sic mediatur et sic finitur‟ zurück.173 Huglo vermutet, dass dies ein Versehen des Schreibers war (die beiden erhaltenen Quellen des Tonars stammen aus Institutionen in Trier und Bamberg). Die Verwandtschaft zwischen den Tonaren des Alvredus und des Walter Odington bestätigt die englische Prägung des Tonars von Alvredus, auch wenn sie große Ähnlichkeiten mit der französischen aufweist. Dies entspricht auch den biografischen Daten, die wir von Alvredus besitzen, dass er nämlich entweder aus England stammte oder einige Jahre dort verbracht hat.

3.2 Verschiedene Bezüge 3.2.1 Transalpiner Kulturaustausch? Das Organum im Quintabstand bei den Itali und Suevi nach dem Anonymus codicis Pragensis Frank Hentschel Der Anonymus codicis Pragensis teilt mit, das musikalisch einfachere und allgemein bekannte Organum im Quintabstand blühe in vollster Frische bei den Itali und den Suevi. Er hatte ein Organum vor Augen, bei dem die „vox organalis“ wie in der Musica enchiriadis eine Quinte unter der „vox principalis“ lag: Ubi etiam notandum, quod non aequa principali cum organali voce in his duabus simphoniis diatesseron et diapente sit progrediendi potestas. Nam in diapente, quae constat tribus tonis et semitonio, facilior est organalis cum principali , veluti si sumat initium principalis ab E, organalis quoque ab A, videbis concorditer organalem cum principali procedere habentem aeque tertio loco semitonium, primo, secundo, quarto, quinto tonum, veluti A tonus B tonus C semitonium D tonus E tonus F tonus G semitonium H tonus I tonus K, quod organum vulgare apud Italos et Suevos viget maxime.174 Hier ist überdies anzumerken, dass der Hauptstimme in Bezug auf die beiden Konsonanzen Quarte und Quinte nicht das gleiche Vermögen zukommt, mit der Organalstimme fortzuschreiten. Denn in der Quinte, die aus drei Ganztönen und einem Halbton besteht, ist das organale Fortschreiten mit der Hauptstimme einfacher. So siehst du z. B., wenn die Hauptstimme auf E und die Organalstimme auf A beginnt, dass die Organal- mit der

173 Huglo 1971. S. 344. 174 ANON. Prag., S. 229.

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 Beschreibung gemeinschaftsspezifischer Praktiken

Hauptstimme harmonisch fortschreitet, wobei sie gleichermaßen an der dritten Stelle einen Halbton, an der ersten, zweiten, vierten und fünften aber einen Ganzton haben, z. B.: A Ganzton B Ganzton C Halbton D Ganzton E Ganzton F Ganzton G Halbton H Ganzton I Ganzton K;175 und dieses Organum blüht im höchsten Grade bei den Itali und den Suevi.

Die Begriffe Suevi und Itali ließen sich präzise nur dann bestimmen, wenn Genaueres über die exakte Entstehungszeit der Quelle bekannt wäre. Klaus-Jürgen Sachs und Sarah Fuller zufolge ist der Text im 10. Jahrhundert entstanden.176 Genauere Kenntnisse vom regionalen und kulturellen Kontext des Traktates besitzen wir nicht, so dass gewisse Unschärfen bei der Interpretation unvermeidlich sind. Geografisch betrachtet ist es wahrscheinlich, dass mit den Itali insbesondere Menschen Oberitaliens gemeint waren. Denn der Kontakt zwischen Schwaben und Oberitalien war tatsächlich rege, zumal es gerade im südlichen Schwaben nicht wenig Reiseverkehr gab. Nicht einmal die mächtige Grenzmauer der Alpen177 bildete eine so eindeutige Trennungslinie, wie man denken könnte: Um die Mitte des 10. Jahrhunderts erstreckte sich das Herzogtum Schwaben möglicherweise bis zum Vinschgau.178 Doch gab es unabhängig von solchen Grenzfragen interkulturelle Kontakte, die hier vor allem interessieren, denn von zwei unterschiedenen Gemeinschaften geht der namenlose Autor ja aus: von Suevi und Itali. Für den Reiseverkehr zwischen Schwaben und „Italien“179 gab es mehrere Gründe: politische, kirchliche, ökonomische und religiöse. Schon unter den Karolingern und dann unter den Ottonen, die für unseren Zeitraum relevant sind, aber auch unter den Schwabenherzögen waren Herrschende immer wieder darum bestrebt, ihre Machtsphäre nach Süden hin auszudehnen.180 Unter Heinrich I. scheint die transalpine Orientierung Schwabens besonders deutlich gewesen zu 175 Zu diesen Tonbuchstaben siehe Sachs 2014, S. 207, 211, 215 und 217f.; zur Organumtechnik ebd., S. 214f. 176 Fuller 1990, S. 495 (ohne Begründung); Sachs 2014, S. 222. 177 Von einer Mauer, womit er vermutlich das Gebirge meinte, sprach Notker Balbulus (siehe Thomas 2001, S. 56). 178 Maurer 1978, S. 191 und 194. 179 In der Historia Langobardorum des Paulus Diaconus wird Italia als geografischer Begriff gedeutet, der von den Grenzen in etwa dem heutigen Italien entspricht und der sich an dem antiken Begriff der Provinz bzw. Diözese Italia orientiert (Historia Langobardorum, lib. II, cap. 15ff.). Diese Bedeutung scheint auch später noch verbreitet gewesen zu sein (McKitterick 2004, S. 77–83). In politischer Hinsicht konnte die Italia bisweilen auch als Synonym zur Langobardia major, also beispielsweise – d. h. je nach Datierung – zum Herrschaftsgebiet Ottos I. südlich der Alpen, aufgefasst werden, z. B. im wechselnden Titel Ottos I. als Rex Francorum et Langobardorum (am 10. Oktober 951) oder als Rex Francorum et Italicorum (am 15. Oktober 951) (Althoff und Keller 2008, S. 188). 962 wurde im Privilegium Ottonianum die Sonderstellung des Territoriums um Rom untermauert (Althoff 2005, S. 115). 180 Zettler 2001b, S. 41, Zotz 2001b, S. 107; vgl. auch Wolfram 1988.



Verschiedene Bezüge 

 91

sein.181 Die ottonische Politik war dabei vor allem im Piemont, der Lombardei und in Emilia wirksam.182 Anlass für kirchlich motivierte Alpenüberquerungen konnten die Versetzung hoher Würdenträger nach „Italien“ sein oder Romreisen von Bischöfen und Äbten.183 Die Bedeutung des transalpinen Handels nahm im Laufe der Zeit zu, so dass mehr und mehr Kaufleute das Gebirge und damit die Grenze zwischen Schwaben und „Italien“ überschritten.184 Und schließlich sind Pilgerreisen als Grund für den Verkehr zwischen den beiden Gebieten zu nennen.185 Vor diesem Hintergrund wird es nicht erstaunen, dass in Oberitalien seit karolingischer Zeit nicht wenige Menschen ansässig waren, die aus Schwaben stammten und nach der lex Alamannorum lebten;186 und deswegen gab es zum Teil auch verwandtschaftliche Beziehungen zwischen Menschen aus Schwaben und Oberitalien.187 Eine hervorgehobene Rolle dürften die Klöster gespielt haben. Gerade die drei bedeutenden Klöster Einsiedeln, St. Gallen und Reichenau lagen unweit bedeutender transalpiner Verkehrswege.188 Außerdem hatten manche schwäbische Klöster – darunter St. Gallen und Reichenau – italienische Besitzungen.189 Aufgrund der zentralistischen Bestrebungen der Mönchsorden dürften gerade Klöster eine wichtige Rolle beim Kulturaustausch gespielt haben.190 Es liegt nahe, dass auch die Musik an diesem Kulturtransfer teilhatte. Autoren wie Notker Balbulus aus Sankt Gallen (9.–10. Jh.), Berno und Hermannus Contractus von der Reichenau (beide 11. Jh.) illustrieren die musikalischen und musiktheoretischen Aktivitäten damaliger Gelehrter. Im Sinne einer Forschungshypothese lässt sich danach fragen, ob es nicht die musikalischen Aktivitäten jener Klöster waren, die für gewisse transalpine Gemeinsamkeiten der Musik verantwortlich waren. Dies könnte ganz konkret die organale Gesangspraxis betroffen haben. Eher als Handlungsreisende, politische Gesandte oder Heere wird durch klösterlichen Kulturkontakt Musik transportiert worden sein.191 Generell dürfte der Richtung 181 Glauser 2001, S. 261. 182 Hlawitschka 1960, S. 5. 183 Glauser 2001, S. 265f., und 268. 184 Ebd., S. 279. 185 Ebd., S. 257 und 263. 186 Barni 1938, Hlawitschka 1960, Bordone 1974, Kottje 1987, S. 361f., Schott 1988, S. 96, Thomas 2001, S. 57, Castagnetti 2006. 187 Glauser 2001, S. 261. 188 Ebd., S. 237. 189 Ebd., S. 267. 190 Ebd., S. 266. 191 Zur Rezeption nordalpiner Tropen in Süditalien siehe Arlt und Cattin 2008. Für unseren Zusammenhang ist insbesondere die Präsenz St. Galler Tropen in Norditalien interessant, die Wulf Arlt sowohl in der Einführung als auch in seinem Aufsatz behandelt. Michael Klaper hat au-

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 Beschreibung gemeinschaftsspezifischer Praktiken

von Nord nach Süd größeres Gewicht beizumessen sein, denn offenbar dominierte in jeder Hinsicht eine solche Nord-Süd-Tendenz,192 auch wenn es durchaus umgekehrt verlaufende Kontakte gab, denn anscheinend lässt sich nachweisen, dass Lehrer, Maler und Baumeister aus Italien in „Deutschland“, einschließlich Schwaben, gewirkt haben.193 Gerade aus der Frühzeit organaler Überlieferung eine Aussage wie jene des Anonymus Pragensis zu besitzen, ist ein Glücksfall. Nur fehlen zurzeit noch Ansatzpunkte für eine genauere historisch-regionale Lokalisierung der Quelle. Auch die Charakterisierung der Musik ist zu unscharf, um weiteren Aufschluss zu liefern, denn die Aussage ist offenbar allgemein auf das Quintorganum zu beziehen, das allerdings in den meisten Organum-Traktaten bis zum 10. Jahrhundert behandelt wird. Es fehlen daher Anhaltspunkte für eine geografisch so eng umgrenzte Region, in der das Organum praktiziert wurde. Ob der Autor aus einer Innenperspektive und in Unkenntnis der umliegenden Regionen schrieb, ob er die Bevorzugung des Quintorganums gegenüber dem Quartorganum in der genannten Region konstatieren wollte, ob er meinte, in der von ihm genannten Region werde das Quintorganum besser ausgeführt als anderswo oder ob er eine besondere, allerdings nicht näher beschriebene Variante des Quintorganums vor Augen hatte – diese Fragen lassen sich ohne weitere Indizien nicht beantworten. Wohl gegen Ende des 11. Jahrhunderts verfasste ein Autor einen Kommentar zum guidonischen Micrologus, in dem er vom Organum nun ausgerechnet sagt, es werde von den Francigenae gepflegt: „Quinte und Quarte aber besitzen das Recht der ‚diaphonia‘, d. h. des Organums, das die Francigenae pflegen.“194 Seit dem 9. Jahrhundert bezeichnete dieser Terminus Menschen, die den fränkischen Reichen, insbesondere dem Westreich, entstammten. Erst im 12. Jahrhundert wurde der Begriff politisch aufgeladen, als er in Gegensatz zu den Teutonici gesetzt wurde.195 Dass Quarte und Quinte für Organa eine besondere Bedeutung beigemessen wird, gilt für alle Traktate, die sich mit dem Organum befassen. Eine regionale Zuschreibung an die Francigenae erscheint daher überraschend. Doch hängt der Großteil der Organum-Traktate vor Guidos Micrologus auf die eine oder andere Weise mit der Tradition der Musica enchiriadis zusammen, die ihrerßerdem in seiner Musikgeschichte der Abtei Reichenaus im 10. und 11. Jahrhundert wahrscheinlich gemacht, dass in Norditalien eine Sequenz von der Reichenau übernommen wurde (Klaper 2003a, S. 131; vgl. auch S. 121). 192 Glauser 2001, S. 258 und 270; dies bestätigen auch die Untersuchungen zur Verbreitung der Tropen in Arlt und Cattin 2008. 193 Glauser 2001, S. 259. 194 COMM. GUID., S. 114: „Diapente vero et diatessaron obtinent iura diaphoniae, id est organi, quo utuntur Francigenae.“ 195 Lugge 1960, S. 207.



Verschiedene Bezüge 

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seits wohl um 900 aus dem Norden des Frankenreichs stammte.196 Je nachdem, welches Bewusstsein von der fränkischen Herkunft dieser Tradition am Ende des 11. Jahrhunderts vorhanden war, könnte sich die Zuschreibung der OrganumPraxis an die Francigenae auf diese Herkunft beziehen. Bei dieser Interpretation bestünde kein Widerspruch zwischen den Aussagen des Anonymus Pragensis und dem Commentarius in Micrologum.

3.2.2 Die geografische Verbreitung der Memoriersilben Ut, Re, Mi, Fa, Sol, La: Angli, Francigenae, Alemanni und Itali bei Johannes dictus Cotto sive Affligemensis Frank Hentschel Johannes dictus Cotto sive Affligemensis schreibt in seiner Musica cum Tonario (ca. 1100): Sex sunt syllabae, quas ad opus musicae assumimus, diversae quidem apud diversos. Verum Angli, Francigenae, Alemanni utuntur his: ut, re, mi, fa, sol, la. Itali autem alias habent, quas qui nosse desiderant, stipulentur ab ipsis.197 Es gibt sechs Silben, die wir für die Ausführung von Musik heranziehen, allerdings handelt es sich bei verschiedenen [„gentes“] um verschiedene [Silben]. Und zwar benutzen die Angli, Francigenae und Alemanni diese: Ut, Re, Mi, Fa, Sol, La; die Itali aber verwenden andere. Wer sie kennenlernen möchte, der möge sie sich von ihnen selbst erläutern lassen.

Tatsächlich kannte man im Mittelalter auch andere Memoriersilben als die von Johannes angeführten, vor allem mit dem Namen Guidos von Arezzo verknüpften Silben Ut, Re, Mi, Fa, Sol, La. Einen Überblick bietet Joseph Smits van Waesberghe: Die Silben Tri, Pro, De, Nos, Te, Ad seien insbesondere in Italia verbreitet; sie sind ebenfalls von den Versanfängen eines Textes her bekannt: „Trinum et unum / Pro nobis mideris / Deum precemur / Nos puris mentibus / Te obsecramus / Ad preces intende / Domine nostras.“198 Diese Silbenfolge findet sich hauptsächlich in einigen, insbesondere früheren, Handschriften der guidonischen Epistola als Textvariante zum Hymnus „Ut queant laxis“.199 Hinzu kommt die Handschrift 196 Haas 1997b, Sp. 859. 197 IOH. COTT. mus., cap. I, S. 49. 198 Smits van Waesberghe 1953, S. 101; vgl. Lange 1899/1900, S. 543–547. 199 Smits van Waesberghe 1953, S. 101, Anm. 1 (Kürzel lassen sich auf S. 139f. aufschlüsseln), Henderson 1969, S.  20–30, Pesce 1999, S.  547, ferner Palisca 1980, S.  807. – Ergänzend hierzu findet sich bei Oesch 1954, S. 67, Anm. 4, ein Hinweis auf „Codex 1, 72 II, Fol. 100r der Pariser Nationalbibliothek“, den ich nicht zuordnen kann.

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 Beschreibung gemeinschaftsspezifischer Praktiken

I-Rvat Lat. 9496 des als Guido-Kommentar anzusehenden Liber argumentorum (der neben der Epistola auch in F-Pn lat. 7211 und GB-Ctc 1441 [O.9.29] überliefert ist). Für alle anderen Varianten führt Smits van Waesberghe nur je eine Hs. an. In der Hs. A-Wn 2502, deren Provenienz unbekannt ist, finden sich die Silben Tu, Rex, Mi, Fons, Sol, Laus.200 Smits van Waesberghe erläutert dazu, dass der Text, mit dem diese Silben verknüpft sind, auf dieselbe Melodie gesungen worden sei wie „Ut queant laxis“.201 In der Hs. I-Rvat Reg. lat. 577 (fol. 100r) findet sich die leichte Abwandlung Ut, Na, Mi, Fa, Sol, La.202 Im Codex I-MC 318 (S.  291), in dem auch die Silben Tri, Pro, De etc. begegnen, werden die Memoriersilben der guidonischen Reihe auf die Konsonanten beschränkt: U, R, M, F, S, L.203 Außerdem tauchen in dieser Handschrift die Memoriersilben An, Chi, Tho, Gen, Mi, Lux auf.204 Hans Oesch hebt hervor, dass Guido nur ein Beispiel für Gesänge „solcher Art“ anführe und vermutet daher, dass es bereits andere Hymnen auf dieselbe Memoriermelodie gegeben habe. Ein anonymer französischer Autor des 15. Jahrhunderts, auf den Michel Brenet (alias Marie Bobillier) hinwies, schreibt die Erfindung der Memoriersilben Ut, Re, Mi, Fa, Sol, La einem Ponthus Teutonicus aus Cluny zu.205 Hans Oesch zweifelt die Glaubwürdigkeit des Zeugnisses an, weil der anonyme Autor „in harmloser Weise“ Guido von Arezzo als Verfasser der Guidonischen Hand anführe.206 Doch sollte man ein solches Zeugnis andererseits nicht abtun, weil es ja zumindest nahelegen könnte, dass es andere Ansichten über die Herkunft der Silben gab, auch wenn man nicht gleich den sehr konkreten Spekulationen Brenets über die nordalpine Herkunft der Silben wird folgen wollen.207 Es scheint durchaus weiterhin möglich zu sein, dass die Memoriersilben Ut, Re, Mi, Fa, Sol, La nicht „italienischen“ Ursprungs sind. Auch wenn Smits van Waesberghe, Hans Oesch und Robert Vladimir Henderson nicht sämtliche Varianten der Memoriersilben und ihre Zeugnisse gesichtet haben mögen, scheint sich abzuzeichnen, dass neben Ut, Re, Mi, Fa, Sol, La die einzige weiter verbreitete Variante der Memoriersilben die Reihe Tri, Pro, De, Nos,

200 Smits van Waesberghe 1953, S. 102, Oesch 1954, S. 68, Henderson 1969, S. 29. 201 Smits van Waesberghe 1953, S. 102; vgl. Moberg 1959, S. 198. 202 Smits van Waesberghe 1953, S. 103. 203 Ebd., S. 103f.; vgl. auch Rusconi 2001, S. 130 und 144. 204 Smits van Waesberghe 1953, S. 104, Oesch 1954, S. 68, Henderson 1969, S. 26–28. 205 Brenet 1902, S. 123f. 206 Oesch 1954, S. 69, Anm. 3. 207 Siehe dazu Oesch 1954, S. 37–41.



Verschiedene Bezüge 

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Te, Ad war.208 Die vier anderen Varianten konnte Smits van Waesberghe nur je ein einziges Mal nachweisen; drei davon sogar in einer und derselben Handschrift (I-MC 318). Insofern ist der Vermutung, Johannes dictus Cotto sive Affligemensis habe bei seiner Bemerkung bezüglich der Verbreitung der Memoriersilben jene Reihe (Tri, Pro…) vor Augen gehabt, durchaus nicht unwahrscheinlich. Dem entspricht auch die geografische Herkunft der Handschriften, die diese alternative Silbenreihe tradieren:209 C B Be F1 Lo2 Lo3 MC Mi1 Mi3 P1 P3 P7 R1 RV

GB-Ctc 1441 (O.9.29), fol. 74v (1416, England): „Trinum et unum“ + Liber argumentorum D-B Mus. Ms. theor. 325, fol. 3r + fol. 5v (frühes 12. Jh., Italien): „Trinum et unum“ (einmal mit Epistola, einmal ohne) CH-BEb A 91.21 (11.–12. Jh.; Provenienz: unbekannt)210 I-Fn Conv. Soppr. F. III. 565, fol. 62v bzw. 102r (frühes 12. Jh., Zentralitalien): „Ut queant laxis“ + „Trinum et unum“ an gesonderter Stelle GB-Lbl Add. 10335, fol. 13r (11.–12. Jh., Norditalien): beide Varianten GB-Lbl Add. 17808, fol. 19v–20r (11.–12. Jh.; „Frankreich“ oder „Deutschland“): „Trinum et unum“ I-MC 318, S.  121, 122, 133, 193, 217, 218, 238ff., 291, 292 (11. Jh., Monte Cassino): „Ut queant laxis“ + „Trinum et unum“ an gesonderter Stelle I-Ma M. 17 sup., fol. 19v–20r (Anfang 12. Jh., Nordfrankreich): „Trinum et unum“ I-Ma D 455inf., 19r bzw. 19v (vor 1580, Italien): beide Varianten F-Pn lat. 7211, fol. 99r (11.–12. Jh.; Südostfrankreich): beide Varianten + Liber argumentorum F-Pn lat. 7461, fol. 12r bzw. 12v (13. Jh., Zentralitalien): „Ut queant laxis“ + „Trinum et unum“ an gesonderter Stelle F-Pn nouv. Acq. Lat. 443, fol. 36r (12.–13. Jh.; Fleury): beide Varianten I-Rvat Lat. 9496, fol. 19v (12. Jh., Zentralitalien): Liber argumentorum I-Rv B 81, fol. 15211 und 122r (11. Jh., Zentralitalien): beide Varianten

Wenn wir die Fälle unbekannter Provenienz ausblenden, ergibt sich folgendes Bild: Acht Quellen stammen aus „Italien“, zwei bis drei (je nachdem, woher Lo3 stammt) aus „Frankreich“ und eine aus England. Die englische Quelle ist sehr spät und kann daher vernachlässigt werden. Insofern zeichnet sich durchaus ein 208 Über ihr Verhältnis zur Silbenfolge Ut, Re, Mi… – ihre Wichtigkeit oder ihre chronologische Priorität – ist damit freilich nichts gesagt; vgl. Straub 1991, S. 69–72. 209 Angabe von Entstehungszeit und Ursprung nach RISM; Angaben zur jeweiligen Position von Trinum et unum nach Pesce 1999. Die Folio-Angaben wurden mit Hilfe der Mikrofilmsammlung des LmL vervollständigt. 210 Diese Hs. war mir nicht zugänglich. Pesce berücksichtigt sie nicht in Bezug auf die Silbenfolge; laut Smits van Waesberghe befindet sich die Silbenfolge in der Hs. als Teil des Liber argumentorum (Smits van Waesberghe 1953, S. 101). In dessen späterer Edition berücksichtigt Smits van Waesberghe die Berner Hs. jedoch nicht mehr (Smits von Waesberghe 1957, S. 10). 211 Ob sie sich r oder v befinden, ist mir nicht bekannt; siehe Oesch 1954, S. 68.

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 Beschreibung gemeinschaftsspezifischer Praktiken

italienischer Schwerpunkt ab, auch wenn sich keinerlei Hinweis darauf finden lässt, dass „Trinum et unum“ südlich der Alpen weiter verbreitet gewesen sei als „Ut queant laxis“, wie es von Johannes suggeriert wird. Ein abgerundetes Bild entsteht allerdings erst dann, wenn man die Proportion, in der die Textvarianten überliefert werden, mit der Proportion vergleicht, in der die Handschriften der Epistola insgesamt überliefert sind. Denn es könnte sein, dass das Verhältnis 8:4 bzw. 2:1 lediglich die geografische Verteilung der Handschriften in der Überlieferung der Epistola insgesamt abbildet. Betrachtet man nur Quellen, die zwischen dem 11. bis 13. Jh. entstanden sind,212 zeigt sich aber, dass dies gerade nicht der Fall ist. Vielmehr ist die nordalpine Überlieferung sehr viel reichhaltiger als die südalpine: Es sind fast dreimal so viele Quellen nördlich der Alpen überliefert wie südlich. Die Signifikanz der quantitativen Verteilung der Quellen mit der Silbenfolge Tri, Pro, De, Nos, Te, Ad wird dadurch nochmals sehr nachdrücklich unterstrichen. Es handelt sich demnach eindeutig um eine hauptsächlich „italienische“ Tradition. Und während sechs südalpine Quellen nur „Trinum et unum“ (B) oder beide Varianten tradieren (F1, Lo2, MC, P3, RV), beschränken sich nur vier Quellen auf „Ut queant laxis“ (Ge, Pe, Pi, Ve).213 In der nordalpinen Tradition hingegen dominiert völlig unzweideutig die Tradierung von „Ut queant laxis“. Lässt sich demnach aus der Überlieferungslage der Memoriersilben ein – wenn auch quellenbedingt nicht eben materialgesättigter – Erklärungsansatz ableiten, so kann die Quellenschau natürlich keine Antwort auf die Frage liefern, wie die vier Gemeinschaftsgruppen Itali, Angli, Francigenae und Alemanni begriffen wurden. 1. Eine eindeutige Definition in politischer Hinsicht gab es für das regnum italicum um 1100 nicht.214 Viele Kaiser wurden neben der deutschen Königskrone auch mit der italienischen Krone gekrönt, wobei sich der realpolitische Einfluss auf das der Krone zugrunde liegende Reich häufig in Grenzen hielt. Insbesondere das ausgehende 11. Jahrhundert wird im Anschluss an den Investiturstreit von der Forschung als grundlegende politische Umwälzung215 oder gar „Katastrophe“216 beschrieben, in der genaue Grenzziehungen nicht möglich sind. Infolge der Ver-

212 Berücksichtigt werden nur Quellen, deren Herkunft geklärt ist. 213 Kürzel nach Pesce 1999. Südalpinen Ursprungs sind: B12 (= B), F1, Ge, Lo2, MC, P3, Pe, Pi, RV, Ve; nordalpinen Ursprungs sind: A, Br1, Br3, C1, D, K, Ka, Le2, Lo6, M2, M3, M4, M5, M6, M7, M9, Mi1 (?), Mu, O1, O3 (?), P1, P2, V1, V4, W1, W2, We. 214 Goez 2010, S. 7. 215 Keller 2006, S. 298f. 216 Boshof 2010, S. 47.



Verschiedene Bezüge 

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änderungen des Investiturstreits wurde auch die Frage der Regalien (der gerichtlichen und fiskalischen Hoheitsrechte) im Vertrag von Sutri 1111 in Italien neu definiert.217 Hagen Keller fasst die Situation des regnum italicum in der Zeit um 1100 folgendermaßen zusammen: Mit dem expliziten Anspruch des Königs auf die sofortige Gewalt über das ganze Imperium und der verbindlichen Definition seines römischen Charakters stellte sich auch die Frage nach dem Platz des regnum italicum innerhalb des Römischen Reiches in neuer Weise. Und als konkrete Macht musste sich die Kaiserherrschaft hier mit ganz neuen, sozusagen systemfremden Realitäten auseinandersetzen: mit den mächtig gewordenen Städten auf dem Weg zur kommunalen Freiheit.218

Im Vergleich zu dieser schwierigen Situation lässt sich der geografische Begriff unter Berücksichtigung der verschiedenen Bedeutungsnuancen, die die Begriffe Italia bzw. Itali und Langobardia bzw. Langobardi im 10. und 11. Jahrhundert haben konnten, aufgrund einiger in den Quellen angegebener Koordinaten fast besser beschreiben und eingrenzen: Im Nordwesten und Westen waren die Alpen eine natürliche Grenze.219 Im Norden verlief sie am Gebirgsrand bis zum nördlichen Teil des Comer Sees, folgte dem Verlauf der Adda und schließlich Richtung Süden bis zum Gardasee220, wobei das Aostatal221 und weite Teile des heutigen Tessin222 zur Langobardia gerechnet wurden. Der Vinschgau war nicht mehr Teil der Italia und daher auch nicht der Langobardia.223 Der Mincio bildete die natürliche Grenze gen Osten zur Mark Verona.224 Im Süden erstreckte sich das Gebiet 217 Ebd., S. 84. 218 Keller 2006, S. 299. 219 Verschiedene Quellen nennen ohne weitere Präzisierung die Alpen als Grenze Italiens nach Norden, z. B. Berthold von Reichenau: „Rex natalem Domini apud Bizantium in Burgundia, uno ibidem vix die commoratus, quomodocumque celebravit. Ide assumpta uxore et filio, nec non toto suorum comitatu et apparatu, ut antea iam deliberatum est, Genove Rodano transito, Alpes asperrimo vix scandens reptansque itinere, festinus Longobardiam per Taurinensem episcopatum intravit“ (S.  255f.). In diversen historischen Karten wird der mittelalterliche Grenzverlauf in etwa mit dem heutigen Grenzverlauf gleichgesetzt (vgl. z. B. Leisinger 1997, S. 46, Goez 2010, S. 17). 220 Heinz Thomas erwähnt, dass der Vinschgau von Liudprand von Cremona nicht mehr zur Italia gerechnet wurde. Für die Grenze zwischen Italia und dem Herzogtum Bayern werden zwei Markierungen genannt: die Hasenquelle bei Brixen und ein guter Tagesritt im Norden von Burg Tirol (Thomas 2001, S. 56). 221 Pavoni zählt das Val d’Aosta zum regnum Burgundia (Pavoni 2007, S. 28), diverse historische Atlanten hingegen zur Langobardia (Leisering 1997, S. 46, Goez 2010, S. 17). 222 Leisering 1997, S. 46, Pavoni 2007, S. 28, Goez 2010, S. 17. 223 Thomas 2001, S. 55f. 224 Andenna 1998, S. 4.

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 Beschreibung gemeinschaftsspezifischer Praktiken

bis an das thyrrenische Meer, das litus italicum225, und zur sich politisch etablierenden Mark Tuscia. Der weitere Grenzverlauf erstreckte sich am Gipfelgrat des Apennins Richtung Süden bis zum Fluss Panaro226 bzw. Reno,227 dem er in den Norden bis zur Mündung in den Po folgte. Mehrere Untersuchungen zu den angrenzenden Markgrafschaften Friaul und Tuscien sowie der Romania zeigen, dass die Langobardia keinesfalls ein statisches territoriales Gefüge war, sondern Überschneidungen der Einflussbereiche durchaus üblich waren.228 Am späteren Beispiel der Mathildischen Güter außerhalb Tusciens lässt sich in gleicher Weise der grenzüberschreitende Einfluss territorialer Herrschaft erkennen.229 Daneben konnte Italia als geografischer Begriff immer auch die gesamte Halbinsel südlich der Alpen umfassen.230 2. Im späten 10. Jahrhundert traten der Name „Engla Lond“ und sein lateinisches Äquivalent Anglia erstmals auf und setzten sich rasch als Bezeichnungen für das Königreich durch, das von der Wessex-Dynastie vereinigt worden war.231 In der angelsächsischen Chronik von Ealdorman Aethelweard aus dem späten 10. Jahrhundert ist in Übersetzung zu lesen: „Britain is now called England (Anglia), thereby assuming the name of the victors.“232 Robert R. Davies beschreibt „[the] formidable institutional power of the Old English ‘state’ but also its strong and deliberately promoted sense of political and mythological unity.“ Im Laufe des 11. Jahrhunderts wurde England laut Davies „a powerfully imagined community, a nation-state.“233 An der Wende zum 12. Jahrhundert, um die Zeit also, in der Johannes Cotto sive Affligemensis tätig war, war Henry I. (ca. 1068–1135), der vierte Sohn Williams des Eroberers, rex Anglorum und Herrscher eines Landes, dessen Grenzen nach Norden nicht klar definiert waren, dessen südliche Region (vom Fluss Mersey bis zum Kanal) aber substanziellen politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Zusammenhalt besaß.234 Die herrschende englische Klasse (Landbesitzer sowie höhere Regierungsbeamte und höhere kirchliche Würdenträger) waren bis zur Wende zum 12. Jahrhundert allerdings nahezu vollständig durch die normannische Aristokratie ersetzt worden. Dies führte auch 225 Pavoni 2007, S. 28. 226 Ebd. 227 Andenna 1998, S. 4. 228 Vgl. Castagnetti 2006, S. 35. 229 Siehe z. B. Overmann 1892. 230 Mayer und Münkler 1997, S. 76f. 231 Davies 2000, S. 50; siehe auch Davies 1995, S. 7–11. 232 Zit. nach Davies 2000, S. 49. 233 Ebd., S. 50. 234 Ebd., S. 63.



Verschiedene Bezüge 

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zur Einführung des Anglo-Normannischen als Sprache der herrschenden Klasse, während das Altenglische von der übrigen Bevölkerung gesprochen wurde. Tatsächlich war die kulturelle Konsistenz von Irland und Wales stärker, insofern diese Länder je eine einzige einheitliche Sprache, eine je eigene literarische Tradition sowie eine ethnische Identität besaßen.235 3. Der Name Francigenae wurde ursprünglich auf Menschen fränkischer Abstammung bezogen,236 was bei einer Übertragung auf spätere Zeit Bewohner des deutsch-römischen Reichs nördlich der Alpen teilweise einschloss. Doch die Zusammenstellung der Begriffe Francigenae und Alemanni ergäbe bei dieser Lesart von Francigenae schwerlich Sinn. Denn wenn mit den Alemanni die Menschen des östlichen, nordalpinen Reichsteils gemeint waren, wie es ab ca. 1100 durchaus allmählich möglich war,237 und zugleich nichts dafür spricht, dass der Autor speziell die Schwaben im Auge hatte, so liegt es nahe, dass er mit den Francigenae die Menschen jener Gebiete links des Rheins meint, die früher dem westfränkischen Reich angehörten. Gerade um 1100, insbesondere aber während des ersten Drittels des 12. Jahrhunderts vollzog sich ein Wandel in der Bezeichnung dieser Bevölkerung: Das Substantiv Francus wurde zunehmend zugunsten von Francigenae aufgegeben.238 Dieser Prozess hatte bereits zu Anfang des 11. Jahrhunderts einzusetzen begonnen, wie die für Herzog Richard von Normandie zwischen 1000 und 1017 verfasste Geschichte der Normannen Dudos von Saint-Quentin (De moribus et actis primorum Normanniae ductum) bezeugt. Darin werden die Francigenae allerdings von den Bewohnern der Normandie und Burgunds abgegrenzt.239 Gegen Ende des Jahrhunderts aber, bei Guibert von Nogent, schließt dieser Terminus die Bewohner zwischen der Loire und dem Ärmelkanal, also auch der Normandie, ein.240 Seit dem letzten Jahrzehnt des 11. Jahrhunderts bezeichnet der Begriff Kreuzfahrer, die aus Nordfrankreich stammen, und dient zu ihrer Abgrenzung von den Bewohnern des südlichen Teils Frankreichs, die Provenciales genannt werden.241 Im vorliegenden Text spricht aber nichts für derartige Abgrenzungen, so dass eher die Bewohner des gesamten früheren westfränkischen Reichs gemeint gewesen sein dürften. Welche Rolle sprachliche

235 Ebd., S. 57. 236 Lugge 1960, S. 207. 237 Vigener 1901, S. 113f. 238 Werner 1970, S. 294, Ehlers 1980, S. 582f. 239 Schneidmüller 1987, S. 72, 74. 240 Ehlers 1980, S. 582f. 241 Schneidmüller 1987, S. 108.

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Gegebenheiten oder die französische Krondomäne bei der Imagination dieser Gemeinschaft spielten, lässt sich nicht sagen. 4. Wenn man von der Rezeptionsgeschichte der notkerschen Alemanni (im Sinne von Suevi) absieht, handelt es sich beim Traktat des Johannes um das erste musiktheoretische Zeugnis, in dem Alemanni ungefähr im Sinne von Teutonici auftauchen. Ab der Mitte des 12. Jahrhunderts scheint sich ein solcher Sprachgebrauch zu verbreiten;242 vor diesem Hintergrund könnte man die Wortwahl des Johannes als ein frühes Beispiel dieser neu entstehenden Tradition begreifen. Wie im Abschnitt über Notker bereits erwähnt,243 lehnte Otto von Freising diese Bedeutung des Wortes Alemannia ab, während bereits Rahewin in seiner Fortführung der Cronica Ottos den Ausdruck Alemannia für die terra teutonica, also das nordalpine Reich der Salier einsetzte. Kurz nach der Mitte des 12. Jahrhunderts stand er mit diesem Wortgebrauch nicht mehr allein.244 Früher dürfte nur der Beleg Ekkehards von Aura sein,245 der sich allerdings nicht genau datieren lässt. Falls Johannes dictus Cotto sive Affligemensis im nordalpinen Salierreich lebte, wäre sein Beleg sehr früh, mit Blick auf die künftigen Entwicklungen aber keineswegs isoliert. Anonymus Wolf und die Quaestiones in musica stehen überdies möglicherweise im selben Kontext.246 Es bleibt allerdings noch die Frage, warum ausgerechnet nur Francigenae, Alemanni, Angli und Itali genannt werden. Die einzige, sich darbietende Antwort ist so einfach, dass man sie leicht übersieht: Johannes nennt all jene „gentes“, die an der Produktion lateinischen, musiktheoretischen Schrifttums beteiligt waren. Der Fall ist vor allem für Francigenae, Alemanni und Itali klar: Geht man dem Ursprung sämtlicher im Lexicon musicum Latinum verzeichneter Schriften nach, die auf die Zeit zwischen dem 9. und 12. Jahrhundert zu datieren sind – es handelt sich um 107 Texte sehr unterschiedlichen Umfangs und Charakters –, so bestätigt sich die Darstellung des Johannes. Die Durchsicht der Quellen muss notgedrungen all jene Quellen unberücksichtigt lassen, deren Herkunft nicht geklärt ist. Alle anderen Quellen stammen fast ausnahmslos von der italischen Halbinsel oder aus nordalpinen, den karolingischen Reichen oder zumindest ursprünglich

242 Vgl. Vigener 1901, S. 113f., Lugge 1960, S. 190f., Tellenbach 1975, S. 153, Schnell 1989, S. 265, 283, 286f., 298, Wolfram 2001b, S. 52; zur Uneinheitlichkeit des Sprachgebrauchs siehe Schnell 1989, S. 319. 243 Siehe Kapitel 1.3. 244 Vgl. Weisert 1997, S. 155. 245 Ekkehard von Aura, S. 166. 246 Siehe Kapitel 1.3.



Verschiedene Bezüge 

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den karolingischen Reichen zugehörigen, links- und rechtsrheinischen Gebieten. Tatsächlich weicht – wenn wir für einen Augenblick die Angli unterschlagen – nur eine einzige Quelle von dieser geografischen Matrix der Darstellung ab: Der Handschrift E-Bac Ripoll 42 (11. Jh.) sind ein Breviarium de musica und zwanzig Verse über die Kirchentöne vorgebunden, die dem Mönch Oliba zugeschrieben werden. Hierbei handelt es sich um „das älteste Dokument zur ars musica innerhalb des altkatalanischen Raums“.247 Zugleich ist es das einzige musiktheoretische Dokument des hier zur Debatte stehenden Zeitraums, das nicht auf eine der von Johannes genannten „nationes“ zu beziehen ist. Allerdings macht Karl-Werner Gümpel die Abhängigkeit der Schriften Olibas von der karolingischen Musiktheorie deutlich und betont den Austausch zwischen Ripoll und dem Kloster St-Benoît-sur-Loire in Fleury.248 In der karolingischen Zeit gehörte das Gebiet, in dem Ripoll lag, überdies zur Fränkischen Spanischen Mark.249 Die Reduktion der musiktheoretisch aktiven „nationes“ auf die Itali, Francigenae und Alemanni wird durch dieses Dokument also nicht ernsthaft in Frage gestellt. Die Angli fügen sich in dieses Bild durchaus ein: Denn auf eine „englische“ musiktheoretische Tradition gibt es tatsächlich Hinweise: 1. Jacques Chailley schließt aufgrund eines paläografischen Details, dass einer der drei Teile, aus denen die Alia musica (9.–10. Jh.) kompiliert wurde – die Interpolation Nova expositio –, aus dem angelsächsischen oder irischen Raum stammt.250 2. Von besonderer Bedeutung sind die von Smits van Waesberghe dem Osbern von Canterbury zugeschriebenen Traktate.251 Zwar ist diese Zuschreibung äußerst problematisch, doch vermutet Smits van Waesberghe auch unabhängig davon eine Entstehung in Südengland.252 Johannes dictus Cotto sive Affligemensis waren die beiden Traktate wahrscheinlich bekannt.253 3. Für musiktheoretische Aktivitäten der Angli sprechen aber auch der Winchester Tropar (11. Jh.) – zumindest insofern, als es sich um eine sonst nicht übliche Notierung mehrstimmiger Musik handelt – sowie die musikbezoge-

247 Gümpel 2001, S. 88. 248 Ebd., S. 92–94 und 109. 249 Vgl. Den Großen Historischen Weltatlas, Teil II, S. 21. Uta Lindgren fokussiert in ihrer Studie über die Spanische Mark auf die mohammedanisch-christlichen Kontakte (Lindgren 1971). Vgl. auch unten 3.3.2. 250 Chailley 1965, S. 60. 251 VERS. Ars est und PS.-OSBERN. 252 Ebd. (im Kommentar), S. 66. 253 Ebd., S. 59.

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 Beschreibung gemeinschaftsspezifischer Praktiken

nen Ausführungen des Adelard of Bath, insbesondere in der nach 1105 verfassten Schrift De eodem et diverso.254 Es scheint demnach, als bildete Johannes auch in dieser Hinsicht eine historische Realität ab. Dass hier die Angli erstmals im Musikschrifttum des Mittelalters auftauchen, könnte darüber hinaus bedeuten, dass die theoretische Beschäftigung mit Musik dort noch keine längere Tradition besaß, sondern eine eher junge Erscheinung war. Im 14. Jahrhundert griff Jacobus de Hispania auf die Bemerkung des Johannes bezüglich der Memoriersilben zurück:255 Sunt igitur sex voces quibus utuntur in cantu, quae ab aliquibus syllabae nominantur, quia syllabis et non solis litteris exprimuntur. Hae quidem diversae sunt apud diversos, sicut quidam dicunt, et ego puto me Parisius a quodam audivisse sex vocum haec nomina: pro, to, do, no, ni, a. Sed Gallici, Angli, Alamanni has sic vocant: ut, re, mi, fa, sol, la. Sumptae sunt autem, ut aiunt, tactae voces vel syllabae ex clausulis primi versus hymni de sancto Johanne-Baptista compositi a Paulo Longobardorum, historiographo, qui sic incipit: Ut queant laxis.256 Es gibt also sechs Töne, die in der Musik gebraucht werden und die mit bestimmten Silben bezeichnet werden, weil sie durch Silben und nicht nur Buchstaben ausgedrückt werden. Es handelt sich in verschiedenen [Gemeinschaften] aber um verschiedene [Silben], wie manche behaupten. Und ich selbst meine in Paris von jemanden die sechs Tonnamen Pro, To, Do, No, Ni, A gehört zu haben.257 Aber die Gallici, Angli und Alemanni bezeichnen sie so: Ut, Re, Mi, Fa, Sol, La. Diese erwähnten Töne bzw. Silben sind aber, so sagen sie, den „clausulae“ der ersten Verse des Hymnus vom Heiligen Johannes dem Täufer entnommen, die Paulus, Historiograf der Langobardi, verfasst hat und die so beginnen: „Ut queant laxis“.

Die Gegenüberstellung von Itali und anderen, nordalpinen Gemeinschaften spielt für Jacobus aber gar keine Rolle mehr. Die Tatsache, dass Jacobus die Itali nicht erwähnt, legt vielmehr nahe, dass er die drei Gemeinschaftsbegriffe offenbar nur als willkürliche Beispiele von Johannes übernimmt. Anders als noch für diesen dürfte die Auswahl der drei Gemeinschaften Gallici, Angli und Alemanni keine weiterreichende Bedeutung mehr besitzen.

254 Hierzu Burnett 1987. 255 Der Textpassus des Johannes wird ebenfalls in der anonymen Summa musice (PS.-MUR. summa) rezipiert; siehe dazu Kapitel 5.2. 256 IAC. LEOD. spec., lib. VI, cap. LXII, S. 165. 257 Hans Oesch vermutet, dass sich hinter den in Paris gehörten Silben die Reihe Tri, Pro, Te, De, Nos, Te, Ad verbirgt (Oesch 1954, S. 69).



Verschiedene Bezüge 

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3.2.3 Der Begriff Normannia bei Johannes de Grocheio Marian Weiß In seinem frühestens 1280 und vermutlich um 1300258 entstandenen Traktat De Musica berichtet Johannes de Grocheio von einem näher zu untersuchenden geografischen Gemeinschaftsbegriff, und zwar im Kontext der Termini „cantilena“ bzw. „rotunda“ / „rotundellus“: Cantilena vero quaelibet rotunda vel rotundellus a pluribus dicitur eo quod ad modum circuli in se ipsam reflectitur et incipit et terminatur in eodem. Nos autem solum illam rotundam vel rotundellum dicimus cuius partes non habent diversum cantum a cantu responsorii vel refractus. Et longo tractatu cantatur velut cantus coronatus, cuiusmodi est gallice Toute sole passerai le vert boscage. Et huiusmodi cantilena versus occidentem, puta in Normannia, solet decantari a puellis et iuvenibus in festis et magnis conviviis ad eorum decorationem.259 Von vielen aber wird jede „cantilena“ „rotunda“ oder „rotundellus“ genannt, weil sie nach Art eines Kreises in sich selbst zurückgeworfen wird, das heißt sie beginnt und endet auf die gleiche Art. Wir aber sprechen nur von „rotunda“ oder „rotundellus“, wenn die Teile keinen unterschiedlichen Gesang haben im Vergleich zum Gesang des Responsoriums oder des „refractus“. Und ein [solcher Gesang] wird in einem langen Atemzug gesungen, so wie auch der „cantus coronatus“, und von ebendieser Art ist das gallische Toute sole passerai le vert boscage. Und ein Gesang ebendieser Art wird in Richtung des Westens, zum Beispiel in Normannia, gewöhnlich gesungen von Mädchen und Jungen zur Zierde von Festen und großen Gelagen.

Page übersetzt Normannia mit „Normandy.“ Zur Begründung dient ihm hauptsächlich der Herkunftsort des Johannes de Grocheio, den er in der Normandie vermutet.260 Mit dem Zusatz „in occidentem“ könnte sich diese Vermutung erhärten: Nimmt man Paris als Entstehungsort der Schrift an, so führt der Weg „versus occidentem“, also in Richtung des Westens, in Richtung der Normandie. Kann der von Johannes de Grocheio zitierte Cantus Toute sole passerai le vert boscage diese These stützen oder widerlegen? Der im übersetzten Kapitel von De Musica zentrale Begriff „Rondeau“, latinisiert „rotunda“ oder „rotundellus“, weist zwei Thesen zu ihrem Ursprung auf: Einerseits tritt der Terminus in Verbindung mit einem beliebten Volkstanz, der „Carole“ (Kreis, Rundtanz), auf, zu dem, „wie durch verschiedene Texte des 13. Jahrhunderts belegt ist, sich Männer, öfter allerdings Frauen, bei Maifesten oder anderen öffentlichen Festlichkeiten an den Händen fassten, eine Kette oder einen Kreis bildeten und ein cancon oder rondet

258 Page 1993a, S. 17. 259 IOH. GROCH., S. 132 (Page 1993a, S. 24–26). 260 Page 1993a, S. 26.

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de carole sangen.“261 Andererseits könnte der Ursprung des Rondeau in seiner musiktheoretischen Kreisform liegen – ein Ansatz, der vielleicht zum ersten Mal im oben übersetzen Passus des Johannes de Grocheio greifbar wird.262 Das zitierte Beispielstück Toute sole passerai le vert boscage263 erlaubt keine präzisere Spezifizierung: Verfasser, Zeit und Ort sind nicht rekonstruierbar, lediglich der französische Sprachraum kann zur Eingrenzung dienen.264 Weiterführen kann daher nur der Begriff Normannia selbst. Wie in der Analyse des Gemeinschaftsbegriffes Nortmanni gezeigt wird,265 war dieser Terminus geografisch wie ideologisch betrachtet nicht eindeutig fixiert. Er wird bereits in den im letzten Fünftel des 8. Jahrhunderts begonnenen und sukzessive erweiterten Annales Regni Francorum genutzt: Dort wird erstmals zum Jahre 777, schwerpunktmäßig ab 810 und letztmals zum Jahre 825 der Herkunftsort feindseliger Angreifer als Nordmannia bezeichnet, was Horst Zettel als „Herrschaftsgebiet der reges Danorum“266 identifiziert. Der Begriff Normannia selbst wird dabei nur äußerst selten genutzt – erst nach der Gründung der Normandie, besonders aber ab dem Ende des 10. Jahrhunderts, kann von einem quantitativ überragenden Anstieg der Benutzung dieses Begriffes gesprochen werden. Im Zusammenhang mit der Normandie ist der Terminus Normannia erstmals in einer zwischen 962 und 996 ausgestellten Urkunde des Normannenherzogs Richard nachweisbar.267 Für Ademar von Chabannes entstand die Normannia auf dem Gebiet der „marcha Franciae et Brittanicae“.268 Das um 1000 entstandene De moribus et actis primorum Normanniae ducum des „normannischen“ Geschichtsschreibers Dudo von Sankt-Quentin führt den geografischen Namen bereits im Titel. Zwei Erwähnungen zu Normannia-Textstellen verdienen jedoch besondere Erwähnung: Die Quedam exceptiones de historia Normannorum et Anglorum, eine zwischen 1100–1103 entstandene Interpolation der bereits etwa ein halbes Jahrhundert zuvor verfassten Gesta Normannorum Ducum des Wilhelm von Jumièges,269 berichten bereits zu Beginn von der „ […] provinciam illam Neust-

261 Aubrey 1998, Sp. 537. 262 Ebd. 263 Das Rondeau ist textlich überliefert in der Handschrift F-Pn, fr. 12786, und musikalisch in den Mottetenhandschriften D-BAs, Lit. 115 (olim Ed. IV. 6), fol. 58b, sowie I-Rvat, Reg. lat. 1543, Nr. 3; siehe hierzu Gennrich 1927, Bd. 2, S. 93f., sowie Boogaard 1969, S. 85. 264 Gennrich 1927, S. 93f. 265 Siehe Kapitel 6.1. 266 Zettel 1977, S. 43, Anm. 85. 267 Ebd., S. 293. 268 Zit. ebd. 269 Van Houts 1995, Bd. 2, S. 290f.



Verschiedene Bezüge 

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riam, que nunc Normannia vocatur.“270 Auch wenn der unklare Entstehungshorizont dieser Interpolation die Interpretation erschwert, so muss diese Textstelle dennoch offensichtlich als Übertreibung angesehen werden, da die Normandie niemals eine Neustrien entsprechende Größe erreichte. Zweitens schließlich verdienen die De rebus gestis Rogerii Calabriae et Siciliae comitis des Gaufredus Malaterra ein besonderes Augenmerk. Der Autor, ein gebürtiger Normanne, schrieb vermutlich im letzten Jahrzehnt des 11. Jahrhunderts in Catania auf Sizilien für den normannischen Großgrafen Roger I.271 und weiß zu berichten, dass „Normannia eine Gegend in Teilen Galliens sei, die nicht immer Normannia genannt wurde“ und dass „diejenigen, die selbst vom Norden gekommen waren, Normannen genannt wurden und auch das Land Normannia nannten.“272 Hier werden verschiedene Ideen des Normannia-Begriffes deutlich: erstens die geografische Verknüpfung mit Frankreich, konkret bestimmten partes Galliae, und zweitens die etymologische Verknüpfung mit den ersten Bewohnern der Normannia, den Nortmanni. Dabei ist auffällig, dass die Nortmanni zwar dieser neuen provincia Galliae ihren Namen gaben, dass der Terminus Normannia selbst aber nur früh und selten für deren einstigen skandinavischen Herkunftsort und ab der „Gründung“ der Normandie konsequent für deren Bezeichnung gebraucht wurde. Zusammenfassend lässt sich daher festhalten: Im Gegensatz zu den Personen, den Nortmanni, die geografisch nie eindeutig fixiert wurden, ist der geografische Begriff Normannia weniger unscharf. Er lässt sich nur früh und vereinzelt als Herkunftsort feindseliger „Wikinger“ nachweisen, sondern vermehrt erst seit der Gründung des Herzogtums Normandie belegen, deren Name aus „der üblichen Benennung der Wikinger mit ‚Nordmannen‘ in den fränkischen Quellen“ herrührt.273 Der Terminus Normannia war seit dieser Zeit an die geografische Region „Normandie“ gekoppelt, bezog sich also auf eine bestimmte pars Galliae. In Bezug auf De musica von Johannes de Grocheio lässt sich also festhalten: Da sich Normannia im französischen Sprachgebiet finden lassen muss, weil dessen Bewohner ein französischsprachiges Rondeau singen, und da sich die in Frage kommende Gegend von Paris aus gesehen annähernd „in occidentem“ befindet und hier zudem höchstwahrscheinlich der Herkunftsort des Autors zu suchen ist, dürfte der Begriff hier eindeutig als „Normandie“ zu verstehen sein.

270 Quedam exceptiones de historia Normannorum et Anglorum, cap. 1, Bd. 2, S. 292. 271 Siehe Ernesto Pontieri im Kommentar zur Edition von Gaufredus Malaterra, De rebus gestis, S. IIIf. 272 Gaufredus Malaterra, De rebus gestis, cap. 1, S.  7, und cap. 3, S.  8: „Normannia patria quaedam est in partibus Galliae, quae quidem non semper Normannia dicta fuit“; „et quia ipsi ab aquilione venerant, Normanni dicti, terram etiam Normannia appellaverunt.“ 273 Plassmann 2008, S. 71.

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3.3 Mensuralmusik 3.3.1 Regionalspezifische Aspekte von Rhythmus und Notation nach Anonymus IV 3.3.1.1 Hispani Silvia Böhnert Kein Autor des hier untersuchten Korpus nennt derart viele Gemeinschafts- und Regionalbegriffe wie Anonymus IV: Anglia, Westcuntre, Francia, Gallici, Lumbardi, Hispania, Ragonia bzw. Arragonia274 und Pampilonia.275 Auffällig ist, dass die maßgeblichen Vorlagen des Traktats ohne Gemeinschaftsbezeichnungen auskommen, wenn man von der Nennung der Stadt Paris beim Anonymus von St. Emmeram absieht. Anonymus IV hingegen waren die Gemeinsamkeiten bzw. Unterschiede der Notation in verschiedenen Gegenden offensichtlich wichtig, vielleicht um die weite, mehrere Gemeinschaften übergreifende Verbreitung der „musica mensurabilis“ hervorzuheben.276 Aus textimmanenten und überlieferungsgeschichtlichen Gründen lässt sich eine Herkunft des Anonymus IV aus England als überaus wahrscheinlich annehmen: Von den in seinem in den 1270er- bis 1290er-Jahren entstandenen277 Traktat vorkommenden Ortsbezeichnungen sticht England quantitativ hervor, und Anonymus IV scheint ein präzises Wissen über die englischen musikalischen Gewohnheiten gehabt zu haben.278 Zudem sind die drei erhaltenen Handschriften 274 Während in der einen Hs. (A) Ragonia steht, ist in der anderen Hs. (C) Arragonia zu finden; in der dritten, fragmentarischen Hs. ist die Stelle nicht erhalten (ANON. Couss. IV, S. 60, kritischer Apparat). 275 Siehe zu den Lumbardi auch Kap. 4.7, zu den Gallici Kap. 1.4. 276 In vergleichbarer Weise teilt uns der anonyme Autor des Discantus positio vulgaris, dem vielleicht ältesten Mensuraltraktat des 13. Jahrhunderts, mit, dass sein Traktat von mehreren „nationes“ verwendet würde, auch wenn er nur die universitären Landsmannschaften im Auge hatte: „Haec est prima positio. Qua quia quaedam nationes utuntur communiter, et quia antiquior est omnibus, vulgarem esse diximus“ (DISC. POS. VULG., S. 194). 277 Zur Datierung siehe Haines 2006, S. 416, und Reckow 1967, Teil I, S. 2. Edward Roesner und John Haines haben darauf hingewiesen, dass wir eigentlich nur wissen, dass das früheste Manuskript des Traktates (GB-Lbl Royal 12 C VI) in der Abteibibliothek von Bury St. Edmunds im letzten Viertel des 14. Jahrhunderts – ein Jahrhundert nach seiner Abfassung – vom Bibliothekar Henry of Kirkstede (1314?–1378?) katalogisiert worden ist (Roesner 2001b, S. 230, Haines 2006, S. 413). Siehe auch Wegman 2015. Nancy van Deusen stellte die These auf, Anonymus IV sei identisch mit Robert Grosseteste (1170–1253) (Deusen 1997). Andere Autoren lehnen diese Hypothese jedoch ab, zumal der Traktat offenbar nach 1272 entstanden ist, Robert Grosseteste aber 1253 gestorben war (Flotzinger 2002, S. 81–89, Roesner 2001b, S. 230, Haines 2006, S. 412f.). 278 Haines 2006, S. 417.

Mensuralmusik 

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englischer Provenienz; zwei davon verfügen über einen Besitzvermerk der Abtei Bury St. Edmunds.279 Letzteres verleitete Fritz Reckow zu der Annahme, Anonymus IV sei ein Mönch ebendieser Abtei gewesen,280 doch sprechen die Indizien eher für eine Lokalisierung im Westen Englands, wo sich nach John Haines zur Zeit des Anonymus IV ein musikalisches Zentrum befand.281 In einem kurzen Absatz des dritten Kapitels tritt die größte Reihung verschiedener Gemeinschaftsbegriffe bei Anonymus IV auf. Dort behandelt er die verschiedenen Arten, Notenlinien zu notieren und zu kennzeichnen. Er unterscheidet zwischen früheren und zeitgenössischen, einstimmigen und mehrstimmigen sowie regional verschiedenen Systemen. In Francia, in Hispania und Arragonia und in Teilen von Pampilonia und Anglia wurden zur Zeit des Anonymus IV rote oder schwarze Notenlinien benutzt, die durch die Buchstaben c, f, g und gegebenenfalls d gekennzeichnet wurden: Notatores quidam solebant in cantu ecclesiastico semper inter duas scripturas vel inter duas lineas scripturae vel supra unam lineam scripturae quatuor regulas regulare eiusdem coloris; sed antiqui non solebant nisi tres lineas diversi coloris, alii duas diversi coloris, alii unam unius coloris. Sed habebant regulas regulatas ex aliquo metallo duro ut in libris Cartuniensium et alibi multis locis. Sed tales libri apud organistas in Francia, in Hyspania et Ragonia [als Arragonia in der HS C] et in partibus Pampiloniae et Angliae et multis aliis locis non utuntur secundum quod plenius patet in suis libris. Sed utuntur regulis rubeis unius coloris vel nigris ex incausto factis. Sed in principio ponunt unum signum sicut c vel f vel g et in partibus bene ponunt d. Sed quidam antiqui ponebant punctum unum loco signi, et hoc diversimode, quod quidem nunc apud nos non est in usu. Sed in fine lineae quatuor linearum ponebant unum ut in cantu plano propter cognitionem primi puncti alterius lineae quatuor linearum.282 Some notators used always to rule four lines of the same color in ecclesiastical compositions between two sets of writing or between two lines of writing or above one line of writing; but the ‘antiqui’ only used to use three lines of different colors; some used two lines of different colors and some one line of one color. But they had lines ruled from hard metal, as in the books of the Carthusians and in many other places.283 But these kinds of books amongst composers of ‘organum’ in France, Spain, and Ragonia [= Aragón] and in parts of Pampilonia and England and in many other places do not use this, according to what can be clearly seen in the books. But they use red lines ruled in one color or black lines made from ink. But 279 Reckow 1967, Teil I, S. 1f.; siehe zur Überlieferung auch Hiekel 1962. 280 Fritz Reckow, 1967, ebd. Dem widerspricht John Haines, der Anonymus IV im Westen Englands verortet (Haines 2006, S. 417f.). Ihm genügt die Begründung Reckows nicht, Anonymus IV als Mönch dieses Klosters zu sehen, zumal sich unter den beiden Handschriften nicht einmal das Original befindet, welches verloren gegangen ist. 281 Haines 2006 S. 417f. 282 ANON. Couss. IV, S. 60. 283 Zu diesem Metallgegenstand siehe Haines 2006, S. 385, Anm. 39; zur Notation der Karthäuser siehe Cullin 2011.

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in the beginning they put one sign like a c or f or g and in parts they properly put a d. But certain ‘antiqui’ used to put one note in place of a sign in different ways, but this is something that we do not use now. But at the end of a line of four lines they used to put one [note] as in plainsong, so that they could recognize the first note of the next line of four lines.284

Die von Anonymus IV verwendeten Gemeinschaftsbegriffe umschließen den west- und südwesteuropäischen Raum. Sie dienen vermutlich dazu, die gemeinsamen, überregionalen Gewohnheiten der „spanischen“, „französischen“ und „englischen“ Notatoren aufzuzeigen. Anonymus IV nennt offenbar die Regionen, in denen sich die Entwicklung von Modal- und Mensuralmusik im Wesentlichen abgespielt hat. Wir erhalten hieraus die – offensichtlich vereinfachte285 – Information, dass in Francia, in Hispania und Arragonia sowie in Teilen von Pampilonia und Anglia zur Zeit des Anonymus IV dasselbe System der Notation gepflegt wurde. Doch auf welche geografischen Räume referiert der anonyme Autor mit diesem Katalog von Gemeinschaftsbegriffen, der auf den ersten Blick keineswegs gleiche Kategorien aneinanderreiht? Während Arragonia, Anglia und Francia dem heutigen Verständnis nach mittelalterliche Herrschaftsgebiete bezeichnen, verstehen wir unter Pamplona eine Stadt und begreifen Hispania als antike Bezeichnung für eine römische Provinz auf der iberischen Halbinsel. Doch haben diese Begriffe im Laufe der Jahrhunderte den Gegenstand ihrer Bezeichnung – vor allem im Falle des Begriffes Hispania häufig – verändert. Im Folgenden soll rekonstruiert werden, welche geografischen Räume Anonymus IV im 13. Jahrhundert im Blick hatte, als er die Begriffe Hispania, Arragonia und Pampilonia nebeneinander setzte. Die häufig anzutreffende vereinfachte Übersetzung von Hispania mit „Spanien“ macht an dieser Stelle offensichtlich keinen Sinn, wenn man dem Autor keine Dopplung unterstellen möchte: Treten doch daneben mit Arragonia und Pampilonia andere geografische Bezeichnungen für Teile der iberischen Halbinsel auf. Schon aus diesem Grund, aber auch weil der Begriff Hispania die vielfältigsten Ausprägungen im Laufe der Jahrhunderte gehabt hat, bereitet er am meisten Kopfzerbrechen. Zunächst stand der Begriff für die römische Provinz auf der iberischen Halbinsel. Wie Gallia und Britannia fand diese antike Bezeichnung auch im Mittelalter immer wieder Verwendung, mit dem Unterschied, dass während im übrigen Europa auf politische Gebilde bezogene Begriffe wie regnum Francorum oder regnum Anglorum die römischen Begriffe abzulösen begannen, die Nachfolgereiche in Spanien nicht als regnum Gothiae o. ä. bezeichnet

284 Yudkin 1985, S. 53. 285 Dass die tatsächliche Situation sehr viel komplexer war, zeigt die Untersuchung der zwei bedeutenden „spanischen“ Hss. mit „ars antiqua“ durch Haggh-Huglo 2014, insbesondere S. 355f.

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wurden.286 Nach der muslimischen Invasion „Spaniens“, die fast die gesamte Halbinsel betraf, wurden mit Hispania zunächst das arabisch besetzte „Spanien“, im Zuge der Reconquista aber auch vermehrt wieder die christlichen Teile der iberischen Halbinsel gemeint.287 Waren die Hispani häufig barbarisch, heidnisch konnotiert, änderte sich dies mit der Kontaktaufnahme des christlichen „Spaniens“ mit dem restlichen Europa.288 Von den Reichen auf der iberischen Halbinsel herrschten lange Zeit keine klaren Vorstellungen im Ausland. Dies ist vor allem an jener „weitgehend der historischen Richtigkeit widersprechenden engen Beziehungssetzung zwischen Hispaniern, Goten und Sarazenen“ zu erkennen, die nicht zuletzt in den zahlreichen Karlslegenden Ausdruck fand.289 Die Eroberung durch die Araber ließ „Spanien“ für lange Zeit eine Sonderstellung einnehmen. Eine verstärkte Öffnung zu anderen Teilen Europas fand vor allem vom 11. bis 13. Jahrhundert statt. Dieser Prozess begann in den Pyrenäenreichen zunächst in Katalonien, setzte dann in Aragón und Navarra ein und erreichte im ausgehenden 11. Jahrhundert Kastilien und León.290 Er äußert sich anfangs insbesondere in der Übernahme römischer Kirchenstrukturen: Dazu zählen die Übernahme des römischen Ritus, zahlreiche Klostergründungen der Benediktiner und Kluniazenser und die Pflege enger Kontakte zum Papst. Durch die Übertragung der Kreuzzugsideologien auf die spanische Reconquista, die sich ideologisch zunächst aus der Einheit des Westgotenreiches gespeist hatte, entstanden neue Kontaktpunkte. Auch der Jakobsweg zog zahlreiche ausländische Pilger an, die durch königliche Abkommen geschützt waren. Klöster, Universitäten, Kaufleute, Pilger und international organisierte Ritterorden schufen neben dynastischen Verbindungen ein immer dichteres Netz an Beziehungen, und das christliche Spanien wurde schließlich in das Papsteuropa integriert.291 Auf die christlichen Reiche der iberischen Halbinsel angewandt, verschleiert die Bezeichnung Hispania aber die reale politische Situation, handelt es sich doch um verschiedene autonome Königreiche. Die iberische Halbinsel war im Mittelalter einem ständigen Wandel unterworfen: Nach dem Untergang Westroms konnten die Westgoten ein Reich auf der Hispania gründen. Sie wurden wiederum von den einfallenden Arabern abgelöst, die ab 711 innerhalb weniger Jahre 286 Scheibelreiter 2002, S. 372. 287 Pariente 1977, S. 10; vgl. auch oben, Kapitel 3.1.5 (a). 288 Scheibelreiter 2002, S. 388. 289 Messmer 1960, S. 80. 290 Diese Entwicklung ist von der Forschung mehrfach als „Europäisierung“ bezeichnet worden. Zur Problematik dieser Begrifflichkeit im Vergleich zu ihrem Pendant, der „Afrikanisierung“ des muslimischen Spaniens, siehe Herbers 2002, S. 11–21. 291 Ebd., S. 14f., 19–29.

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die Halbinsel unter ihre Herrschaft brachten. Allerdings konnten sich im Norden christliche Reiche etablieren, von denen einige nach und nach zu europäischen Königreichen aufstiegen: Katalonien, Aragón, Navarra, Kastilien, Asturien, Leon und Galicien. Am Ende des 13. Jahrhunderts hatten Machtverschiebungen zur Ausbildung von vier christlichen Königreichen geführt: Kastilien hatte den größten Anteil der iberischen Halbinsel von den Arabern zurückerobert, nur noch Granada war in muslimischer Hand. Die Krone Aragón, ein Zusammenschluss des Königreichs Aragón und der Grafschaft Katalonien (1137), war weit in den Mittelmeerraum expandiert. Navarra und das im 12. Jahrhundert entstandene Königreich Portugal spielten im 13. Jahrhundert im Vergleich eine untergeordnete Rolle. Von der einen Geschichte „Spaniens“ kann im Mittelalter also nicht die Rede sein; eine durch den Hispania-Begriff suggerierte Einheit gab es seit dem Zusammenbruch des Westgotenreiches nicht mehr.292 Im spanischen Mittelalter wurde der Untergang des Westgotenreiches allgemein als großer Verlust, als „la pérdida de España“ angesehen. Durch die Entstehung des Neogotismus tritt der Begriff Hispania häufiger in den „spanischen“ Quellen auf und verweist in diesem Kontext auf einen Kontinuitätsgedanken, der das jeweilige zeitgenössische christliche Reich mit dem Westgotenreich verband. „So verweist die Entstehung des Neogotismus auf die Sehnsucht nach Wiederherstellung jener politischen, an den Hispania-Begriff geknüpften Einheit unter der Westgotenherrschaft.“293 Doch darf dieser Einheitsgedanken nicht zu hoch gewichtet werden. Wurde der Hispania-Begriff gebraucht, drückte er zumeist einen Suprematieanspruch aus, den das jeweilige Königreich als Anführer eines auf gotischen Traditionen basierenden Gesamtspaniens verwirklicht wissen wollte. Dieses Bild zeichnen auch die hauptsächlich kastilischen Geschichtswerke aus dem 13. Jahrhundert.294 Seit Alfons III. von Asturien (866–911) war das erklärte Ziel der Reconquista die Wiederherstellung des Gotenreiches. Da sich die Reconquista von Asturien ausgehend entwickelte, übernahm Alfons III. die Führungsrolle und entfaltete daraus seinen Suprematieanspruch über die iberische Halbinsel. Gelegentlich führte er den Titel Hispaniae rex.295 Diese weltlichen Ziele dominierten die spanische Reconquista, bevor durch den Einfluss von landfremden Rittern oder Pilgern

292 Zur Geschichte der spanischen Reiche im Mittelalter siehe vor allem Engels 1989, Vones 1993, Herbers 2006a. 293 Vones 1993, S. 243. 294 Vgl. Kersken 1995, S. 13–51. 295 Das war zu der Zeit noch unproblematisch, weil er der einzige König der Halbinsel war (Meyer 2002, S. 18). Zur Verwendung des Hispania-Begriffs in asturischer Zeit siehe auch Hüffner 1952, S. 429.

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die religiösen Momente überwogen. Nach der Rückeroberung Toledos 1085 führte Alfons VI. von Kastilien und León den Titel rex Hispania oder nannte sich Adelfonsus Imperator super omnes Hispaniae nationes constitutus. Damit bezog er sowohl den christlichen Norden als auch Teile des muslimischen Südens mit ein.296 Zuvor hatte bereits Ferdinand I. (1035–1065 erster König von Kastilien, seit 1037 auch König von León) sporadisch den „imperator“-Titel für seine Herrschaft über die zwei Königreiche Kastilien und León geführt. Alfons VII. endlich ließ sich 1135 in Leon zum Kaiser krönen.297 Wenig später führte auch Ferdinand II. von Leon (1157–1188) den Titel rex Hispania, rex Hispanorum oder rex Hispaniarium.298 Die Selbstbetitelung als Kaiser sowie die Nutzung der Begriffe rex Hispania oder rex Hispanorum verdeutlichen das Vormachtstreben der kastilischen Könige bzw. ihrer Vorgänger. Diesem Anspruch entgegengesetzt, entwickelten sich die anderen christlichen Königreiche weiter und besonders die Krone Aragón wurde zum mächtigen Konkurrenten um die Vorherrschaft in Spanien. Im 13. Jahrhundert nennt sich der kastilische und zeitweise deutsche König Alfons X. im Kontext des sogenannten „fecho del imperio“299 in Urkunden zumeist rex Castelle, wird aber seitens des Reiches als rex Hispaniae wahrgenommen.300 In den nicht-„spanischen“ Quellen des 13. Jahrhunderts ist auffällig, dass der Begriff Castilia / Castella seltener fällt als der der anderen spanischen Königreiche, dafür aber häufig von einem regnum Hispania gesprochen wird, das aus dem jeweiligen Kontext nicht selten als kastilisches Königreich identifiziert werden kann.301 Die herangezogenen englischen Referenzquellen bestätigen dieses Phänomen und machen eine Interpretation des Hispania-Begriffs bei Anonymus IV als Kastilien wahrscheinlich: Zum einen wurde die Chronik von Bury St. Edmunds aus der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts konsultiert. Selbst wenn Anonymus IV nicht, wie Fritz Reckow vermutet, Mönch dieses Klosters gewesen ist, stehen 296 Vones 1993, S. 78f. 297 Meyer 2002, S. 19f. 298 Herbers 2006a, S. 182. 299 Nach dem Tod Konrads IV. 1254 sah sich Alfons X. als einziger Erbe des staufischen Kaisertums. Unter den deutschen Fürsten kam es im Folgenden zu einer Doppelwahl: Die französisch beeinflussten Fürsten wählten Alfons X., wohingegen der andere Teil Richard von Cornwall zum König wählte. Keiner von beiden konnte langfristig seine Ansprüche verwirklichen. Nach dem Tod Richards von Cornwall wurde Rudolf von Habsburg vom Papst, der sich in den vorhergegangenen Machtfragen zurückgehalten hatte, 1273 zum Kaiser gekrönt. Daraufhin musste Alfons X. 1275 in Rom seine Ansprüche auf das römische Kaisertum aufgeben (siehe Sáez und Engels 2002 sowie Meyer 2002, besonders S. 113–173). 300 Meyer 2002, S. 13. 301 Die Verwendung des Hispania-Begriffes in den „deutschen“ Quellen als Bezeichnung für die Krone Kastilien erörtern Meyer 2002 und Scheibelreiter 2002.

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 Beschreibung gemeinschaftsspezifischer Praktiken

der Traktat und die Chronik in einem engen zeitlichen wie räumlichen Verhältnis. Da das Kloster eine enge Bindung zum Königshof unterhielt, finden sich neben der Klosterchronik Anmerkungen zu wichtigen politischen Geschehen.302 Während Jakob II. und Peter III. von Aragón jeweils mit rex Arragonie bzw. als Petrus Aragón tituliert werden, tritt Alfons X. als rex Hispaniae auf. Auch innerhalb der Zwistigkeiten zwischen Kastilien und Frankreich wird Kastilien als Hispania gewürdigt.303 An einer Stelle fällt allerdings auch der Begriff rex Castelle für Ferdinand III., der den späteren Eduard I. von England in Hispania zum Ritter schlug.304 Von Einheitlichkeit kann also keine Rede sein. Vergleichbar zu der Reihe bei Anonymus IV ist die Stellung des Hispania-Begriffs neben die Einzelbezeichnungen der Königreiche Portugal, Aragón und Navarra, z. B.: „inter ecclesiam Romanam et Karolum regem Sicilie ex una parte, et Petrum regem Arragonie ex alterea, regem Francie ex una parte et regem Arragonie ex altera, item regem Francie ex una parte et regem Ispanie ex altera.“305 Die Benennung Kastiliens oder des Königs von Kastilien als Hispania bzw. rex Hispaniae ist auch bei Bartholomäus Cottons Historia Anglicana und Matthew Paris Chronica Majora zu beobachten.306 Die Bedeutung des Hispania-Begriffs muss aufgrund der bestehenden Koexistenz von Einheitsmythos und Vielfalt, der man sich sowohl im Ausland als auch in den spanischen Reichen selber offensichtlich bewusst war, im Einzelfall jeweils abgewogen werden.307 Ob der Begriff Hispania in den nicht-„spanischen“ Quellen des 13. Jahrhunderts synonym für Kastilien, für den geografischen Raum 302 Gransden, in der Einleitung ihrer Ausgabe des anonymen Chronicle of Bury St Edmunds 1212–1301, besonders S. XII und XXI; zu den englisch-spanischen Beziehungen siehe Goodman 1989a. 303 Anonymus, The Chronicle of Bury St Edmunds 1212–1301: „Domino Edwardo natus est filius apud Baunam in Gasconia nocte subsequente die sancti Clementis, quem de nomine regis Hyspanis sancti Jacobi [Alfons X.] et Portugalensis [Alfons III.] Aldephonsum nominauit“ (S. 56), „Francie Hispanique reges discordes“, „Rex igitur Francie contra regem Hispanie“ (S. 62). 304 Ebd.: „Edwardus, filius regis Anglie, accinctus est militaribus in Hyspania a rege Castelle“ (S. 19). 305 Ebd., S. 96. 306 Bartholomaei de Cotton, Historia Anglicana, z. B. S.  70, 153, 159, 179 und öfter. Wobei an einigen Stellen nicht ganz klar ist, ob mit Hispania immer das Königreich Kastilien gemeint sein muss oder ob es nicht auch geografisch als iberische Halbinsel bzw. das christliche Spanien gemeint sein kann (S. 80 z. B. tritt es im Kontext einer Sarazenen-Invasion auf). Castilia bzw. Castella begegnen hingegen gar nicht, ebenso wenig Iberia. Aragón und Navarra werden einige Male in verschiedenen Schreibweisen verwendet. Das Gleiche ist in Matthew Paris’ Chronica Majora zu beobachten. Vgl. auch die Verweise bei Goodman 1989a, S. 75, Anm. 13. 307 Die Wortschöpfung der reges Hispaniae beweist dies. Siehe auch den erhellenden Aufsatz von Valdeón Baruque 1999.

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der iberischen Halbinsel oder für die christlichen Reiche steht, ist meistens nur eindeutig, wenn er dem Titel „rex“ oder „regnum“ folgt. Schwieriger zu klären ist seine Bedeutung, wenn er, wie bei Anonymus IV, losgelöst von staatsrechtlichen Gefügen vorkommt. Zum Glück aber bietet uns Anonymus IV eine Reihe von Gemeinschaftsbegriffen, aus deren Kontext es nur allzu wahrscheinlich ist, dass er wirklich die Gebiete der Krone Kastilien vor Augen hatte, da ansonsten eine zusätzliche Nennung der Begriffe Arragonia und Pampilonia sinnlos wäre.308 Warum aber Kastilien als einziges der spanischen Königreiche das gewissermaßen als Ehrentitel zu verstehende Synonym Hispania vom Ausland verliehen bekommen hat, darüber lässt sich nur spekulieren. Eine Gleichsetzung Kastiliens mit der Gesamtheit der Hispania ist zumindest grob betrachtet nicht ganz abwegig, berücksichtigt man die Dominanz Kastiliens auf der iberischen Halbinsel. Im Ausland muss Kastilien den europäischen Zeitgenossen als treibende Kraft im Rahmen der Reconquista vorgekommen sein, das gerade die Gebiete der ehemaligen Hispania (vor der muslimischen Invasion) für die Christenheit zurückerobert hat und sie damit ihrem ursprünglichen Zustand wieder annäherte. Obwohl Anonymus IV den Begriff Hispania wählt, der alleine auch die Reiche der iberischen Halbinsel hätte abdecken können, verdeutlichen die folgenden Begriffe Arragonia und Pampilonia sowohl, dass er Kenntnis von der politischen Teilung hatte, als auch, dass er es für nötig befand, zwischen den Reichen zu differenzieren. Am Ende des 13. Jahrhunderts hatten Machtverschiebungen zur Ausbildung von vier christlichen Königreichen geführt: Kastilien hatte den größten Anteil der iberischen Halbinsel von den Arabern zurückerobert, nur noch Granada war in muslimischer Hand. Die seit 1137 bestehende Krone Aragón, ein Zusammenschluss aus dem Königreich Aragón und der Grafschaft Katalonien, hatte weniger auf dem Festland als in den Mittelmeerraum expandieren können. Navarra und das im 12. Jahrhundert entstandene Portugal waren hingegen territorial weniger erfolgreich. Während sich der Begriff Arragonia eindeutig auf die Krone Aragón bezieht, bleibt die Frage, was Anonymus IV mit der Bezeichnung Pampilonia meinte. Lange Zeit hieß das erste Königreich von Navarra „Königreich von Pamplona“. Schon in westgotischer Zeit war Pamplona Bischofssitz. Als Íñigo Arista 820 den Königstitel erhielt, residierte er in Pamplona.309 Von 1076–1134 wurde das Königreich von aragonesischen Herrschern regiert, die sich in der Folgezeit als Könige von Aragón und von Pamplona bezeichneten.310 Nachdem Alfons I. el Batallador 308 Problematischer ist seine Deutung hingegen an anderen Stellen des Musiktraktates (s. u. S. 115f. 309 Leroy 2002b. 310 Leroy 2002a.

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 Beschreibung gemeinschaftsspezifischer Praktiken

1134 kinderlos gestorben war, gewann das Königreich von Pamplona seine Eigenständigkeit wieder. Garcia Ramirez wurde zum König gewählt und nannte sich rex Pampilonesium. Um 1162 wurde allerdings aus dem regnum Pampilonense das regnum Navarre,311 welche Bezeichnung im 13. Jahrhundert auch in den englischen Referenzquellen ausschließlich im Gebrauch war.312 Entweder handelt es sich bei Anonymus IV also um eine veraltete Begriffsverwendung, oder er bezeichnet die Stadt und betont damit ihre Bedeutung für die Musik innerhalb des Königreiches Navarra,313 dessen Herrscher seit 1234 die Grafen der Champagne, u. a. Graf Theobald IV. (der Troubadour), und seit 1275 die französischen Könige aus dem Hause der Kapetinger waren. Entsprechend der Begriffsgruppe ist aber wohl die Annahme plausibler, dass er nicht die Stadt Pamplona bezeichnete, sondern damit das Königreich Navarra beschreibt. Bislang wurden die auf die iberische Halbinsel verweisenden Begriffe nur aus der Perspektive des einen oben angeführten Zitates betrachtet. Neben dem Hispania-Begriff finden sich im Text des Anonymus IV aber auch ein Hyspanus bzw. die Hispani;314 und neben Pampilonia werden auch die Pampilonenses genannt,315 während Arragonia nur an der einen Stelle begegnet. An folgender Textstelle bietet Anonymus IV einen weiteren Vergleich verschiedener „nationes“: Sed in libris quorundam antiquorum non erat materialis significatio talis significata. Sed solo intellectu procedebant semper cum proprietate et perfectione operatoris in eisdem ut in libris Hyspanorum et Pampil>on