Funktion und Form: Quellen- und Methodenprobleme der mittelalterlichen Rechtsgeschichte [1 ed.] 9783428489190, 9783428089192

Dieser Sammelband ist aus zwei rechtshistorischen Veranstaltungen des Sommersemesters 1993 in Freiburg i. Br. hervorgega

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Funktion und Form: Quellen- und Methodenprobleme der mittelalterlichen Rechtsgeschichte [1 ed.]
 9783428489190, 9783428089192

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Funktion und Form

Schriften zur Europäischen Rechts- und Verfassungs geschichte Herausgegeben von Prof. Dr. Reiner Schulze, Münster, Prof. Dr. Elmar Wadle, Saarbrücken, Prof. Dr. Reinhard Zimmermann, Regensburg

Band 18

Funktion und Form Quellen- und Methodenprobleme der mittelalterlichen Rechtsgeschichte

Herausgegeben von Karl Kroeschell und Albrecht Cordes

DUßcker & Humblot · Berliß

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Funktion und Form : Quellen- und Methodenprobleme der mittelalterlichen Rechtsgeschichte / hrsg. von Karl Kroeschell und Albrecht Cordes. - Berlin : Duncker und Humblot, 1996 (Schriften zur europäischen Rechts- und Verfassungsgeschichte ; Bd. 18) ISBN 3-428-08919-7 NE: Kroeschell, Karl [Hrsg.]; GT

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 1996 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Wemer Hildebrand, Berlin Printed in Germany ISSN 0937-3365 ISBN 3-428-08919-7

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Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

Vorwort Dieser Sammelband ist im wesentlichen aus zwei rechtshistorischen Veranstaltungen in Freiburg i.Br. im Sommersemester 1993 hervorgegangen: Einem Seminar zum Thema "Recht im Mittelalter. Quellen- und Methodenfragen" und einem Symposium am 15./ 16.7.1993 mit Vorträgen der Professoren Takeshi Ishikawa, Gerhard Köbler, Yoichi Nishikawa und Hanna Vollrath, das man unter das gleiche Oberthema hätte stellen können. So lag es inhaltlich gesehen nahe, die beiden Veranstaltungen in einer Publikation zusammenzufassen. Daß aber die besten der studentischen Seminarreferate überhaupt der wissenschaftlichen Öffentlichkeit präsentiert werden, bedarf eines Wortes der Begründung, zumal die meisten Studenten erst im zweiten Semester waren, als sie an dem Seminar teilnahmen. Es handelt sich, das sei nicht verhehlt, um ein Experiment. Sieben der zwölf Seminararbeiten wurden ausgewählt, drei von ihnen (Phillip Campbell, Bettina Fentzke, Holger Schmidt) aus dem quellenkundlichen Teil des Seminars, die anderen vier (Jens Ivo Engels, Johannes Liebrecht, Andrea Pawlowski, Jörg Riegel) zu methodischen Fragestellungen. Diese sieben erschienen uns, wenn nicht sogar schon als eigenständige wissenschaftliche Leistungen, so doch zumindest als zuverlässige Übersichten über den Forschungsstand zu zentralen Problemen der mittelalterlichen Rechtsgeschichte unter Integration der Literatur der Nachbardisziplinen (Romanistik, Allgemeine Geschichte, Ethnologie). Die Unbefangenheit, mit der die studentischen Autoren in ihren hier vorgelegten Erstlingsschriften bei der Sichtung der großen Namen ans Werk gingen, erwies sich - bei aller Verschiedenheit in Art und Stil - als das Pfund, mit dem dabei gewuchert werden konnte. Ob der Eindruck der Herausgeber geteilt wird, daß hierbei oft schon eine bemerkenswerte Reife der Darstellung erreicht wurde, muß dem Urteil des Lesers überlassen werden. Der Weg vom Seminarreferat zum publikationsreifen Manuskript war freilich meist weiter als vorher gedacht. Mindestens eine, meist mehrere Überarbeitungen bis hin zur völligen Neuformulierung des Textes hielten die Autoren oder die Herausgeber für nötig - unbeschadet der Tatsache, daß sich am Ende die Rückkehr in die Nähe des Ausgangstextes als die beste der machbaren Lösungen erweisen konnte. Im jetzigen Zustand steckt in jedem Manuskript mindestens so viel Arbeit, wie sie zur Erstellung des Seminarreferats im Sommer 1993 aufge-

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Vorwort

wendet worden war. Dies ist der Hauptgrund für die zeitliche Verzögerung, mit der dieser Band erscheint. Die professoralen Beiträge in diesem Band decken sich ebenfalls nur zum Teil mit den mündlichen Vorträgen im Sommer 1993. Die Referate von Takeshi Ishikawa, der seine Wortforschungen am Text des Sachsenspiegels mit der zentralen Vokabel "Recht" fortsetzte, und Gerhard Köbler, der an seine früheren Reflexionen über "Recht, Gesetz und Ordnung" anknüpfte, können im wesentlichen unverändert hier vorgelegt werden - ein besonderer Glücksfall, da sich manche inhaltlichen Berührungspunkte zwischen ihnen ergaben. Der Vortrag von Hanna Vollrath wird hingegen nicht hier, sondern unter dem Titel "Rechtstexte in der oralen Rechtskultur des frühen Mittelalters" in: Michael Borgolte (Hg.), Mittelalterforschung nach der Wende 1989, 1995, S. 319-348 veröffentlicht. Statt dessen stellte Frau VOllrath für diesen Band den Vortrag zur Verfügung, den sie auf dem Leipziger Historikertag 1994 gehalten hatte, und der ebenfalls, wie schon ein nicht publiziertes studentisches Seminarreferat, die Probleme von Mündlichkeit und Schriftlichkeit berührt. Das Referat von Yoichi Nishikawa können wir zu unserem großen Bedauern heute noch nicht vorlegen. Es war von Max Webers These vom formal rationalen Charakter des frühmittelalterlichen Rechts ausgegangen und hatte in Abgrenzung dazu die Hypothese entwickelt, daß sich für die Merowingerzeit das "Recht als Vorschlag" auffassen lasse: Es habe Verbindlichkeit nur für denjenigen entfaltet, der sich diesem Vorschlag anschloß und freiwillig unterwarf. Diese Idee entfaltete hohe Suggestionskraft und führte zu einer lebhaften Diskussion. Seine Überlegungen schienen dem Autor aber noch nicht publikationsreif. So bleibt nur die Hoffnung, daß dieser originelle Ansatz, der der Debatte um die Existenz objektiven Rechts im Frühmittelalter neue Impulse geben könnte, zu einem späteren Zeitpunkt in deutscher Sprache erscheinen wird. Der Beitrag von Elmar Wadle schließlich wurde nicht in Freiburg vorgetragen, sondern erst nachträglich an Stelle eines anderen nicht publizierten Seminarreferats eingeworben, um mit dem Überblick über die Gottes- und Landfrieden eine empfindliche Lücke bei den Untersuchungen zu Quellenproblemen zu schließen. Hierfür gebührt Herrn Professor Wadle besonderer Dank, ebenso wie für seine Bereitschaft, diesen Band in die Reihe der "Schriften zur Europäischen Rechts- und Verfassungsgeschichte" aufzunehmen. Herzlichen Dank verdienen darüber hinaus Frau Dr. phil. Doris Hellmuth und Herr Referendar Keno Zimmer, die den Text drucktechnisch betreuten, also Korrektur lasen und dem Computer die druckfertige Vorlage mit allen Formatierungsbefehlen usw. abrangen, und Frau Kornelia Blum, die die Teile des Manuskripts, die die Autoren nicht schon selbst in unserem Textverarbeitungssystem geliefert hatten,

Vorwort

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erstellte. Vor allem aber gilt unser Dank den Autoren, die bereit waren, bei dem ungewöhnlichen Experiment, das diese Aufsatzsammlung darstellt, mitzuwirken. Freiburg, im Januar 1996

Karl Kroeschell Albrecht Cordes

Inhalt Frühmittelalter

Holger Schmidt

Die Vulgarrechtsdiskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Phillip Campbell

Die Kapitularien. Entstehung und Bedeutung

23

Hochmittelalter

Hanna Vollrath

Fürstenurteile im staufisch-welfischen Konflikt von 1138 bis zum Privilegium Minus. Recht und Gericht in der oralen Rechtswelt des früheren Mittelalters .

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ELmar WadLe

Gottesfrieden und Landfrieden als Gegenstand der Forschung nach 1950

63

Gerhard KöbLer

Recht, Gesetz und Ordnung im Mittelalter

93

Sachsenspiegel Bettina Fentzke

Die Sachsenspiegel-Forschung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 Takeshi Ishikawa

Die innere Struktur des mittelalterlichen Rechts. Das Beispiel des Sachsenspiegels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

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Inhalt

Jens Ivo Engels Zum historischen Quellenwert von Bildern. Das Beispiel des Sachsenspiegels . 153

Moderne Methodendiskussion Johannes Liebrecht Das gute alte Recht in der rechtshistorischen Kritik . . . . . . . . . . . . . . . .. 185 Andrea Pawlowski Mentalitäten und Lebensformen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 205 Jörg Riegel Ethnologie und Rechtsgeschichte. Möglichkeiten des interdisziplinären Kontaktes mit der Rechtsethnologie ... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 229

Abkürzungen Africa AHR AKG BDIDR BDLG CT DA FmaSt Francia GWU History HJB HRG HZ IURA Labeo LexMA MGH MGH Cap. Const. DD F.1. SS MIÖG ND Past&Present RE RHDFE RHMC

RJ

TR Traditio Viator VSWG VuF WdF ZGO

Journal of the international African Institute American Historical Review Arbeiten zur Kirchengeschichte Bulletino dell'istituto di diritto romano Blätter zur deutschen Landesgeschichte Codex Theodosianus Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters Frühmittelalterliche Studien Francia. Forschungen zur westeuropäischen Geschichte Geschichte in Wissenschaft und Unterricht History . Journal of the Historical Association Historisches Jahrbuch der Görres-Gesellschaft Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte Historische Zeitschrift Rivista internazionale di diritto romano e antico Labeo. Rassegna di diritto romano Lexikon des Mittelalters Monumenta Germaniae Historica MGH Leges. Capitularia regum Francorum MGH Leges. Constitutiones et acta publica imperatorum et regum MGH Diplomata. Die Urkunden Friedrichs I. MGH Scriptores Mitteilungen des Instituts für österreichische Geschichtsforschung Neudruck Past and Present. A Journal of Scientific History Paulys RealencycIopädie der cIassischen Altertumswissenschaft Revue historique du droit francais et etranger Revue d'histoire moderne et contemporaine Romanistisches Jahrbuch Tijdschrift voor rechtsgeschiedenis Studies in Ancient and Medieval History , Thought and Religion Medieval and Renaissance studies Vierteljahresschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte Vorträge und Forschungen Wege der Forschung Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins

XII

Abkürzungen

ZHF ZRG.GA KA RA

Zeitschrift für historische Forschung Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte. Germanistische Abteilung Kanonistische Abteilung Romanistische Abteilung

Die Vulgarrechtsdiskussion Von Holger Schmidt

I. Einleitung I 1. Die Entdeckung und Rekonstruktion des Vulgarrechts

Der Fund der Digesten Justinians im 11. Jahrhundert löste eine zunächst in Pavia und Bologna, bald schon in ganz Europa betriebene, Jahrhunderte währende Erforschung des römischen Rechts aus. Doch erst Mitte des 20. Jahrhunderts gelang es, eine der Ausprägungen dieses Rechts zu erschließen: das Recht der vorjustinianischen Spätantike, vom Protagonisten seiner Rekonstruktion "Vulgarrecht" genannt. Diese Bezeichnung trägt der Erkenntnis Rechnung, daß die ausfindig gemachte Entwicklungsstufe des römischen Rechts gekennzeichnet ist von der Preisgabe klassischer Errungenschaften zugunsten laienhafter Vereinfachungen: ein Niedergang, vergleichbar der Regression der Sprache dieser Epoche, dem sogenannten Vulgärlatein. Die Tatsache, daß nicht schon die frühere Forschung das Vulgarrecht bemerkt hatte, läßt sich mit ihrem andersartigen erkenntnisleitenden Interesse erklären 2 : Noch bis zur vergangenen Jahrhundertwende war der Blick der Pandektistik ausschließlich auf klassisches römisches Recht gerichtet wegen dessen Bedeutung für die Konstituierung neuen Rechts 3 • Auch die Erkenntnis, daß Justinians Werk nicht direkt klassisches römisches Recht überliefert, sondern vielmehr interI Einführend zu Vulgarrecht und Vulgilrrechtsdiskussion: Max Kaser, Art. Vulgarrecht, in: RE XVIII, 1967, Sp. 1283 ff.; einen ersten Uberblick verschaffen u.a. Jochen Martin, Spätantike und Völkerwanderung, 3. Auf!. 1995, S. 204 ff., sowie Theo Mayer-Maly, Art. Römisches Vulgarrecht, in: HRG IV, 1990, Sp. 1132 ff. 2 Hierzu und zu weiteren Ursachen: Franz Wieacker, Textstufen klassischer Juristen, 1960, S. 10 ff.; vgl. zum folgenden auch Karlheinz Misera & Ralph Backhaus, Ernst Levy und das Vulgarrecht, in: Wilhelm Doerr (ed.), Semper apertus - 600 Jahre Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg III, 1985, S. 194 f. Allgemein zur Entdeckungsgeschichte des Vulgarrechts: Franz Wieacker, Vulgarismus und Klassizismus im Recht der Spätantike, 1955, S. 7 ff. 3 Im Laufe der letzten Jahrhunderte gab es freilich vereinzelt Ansätze zu einer vornehmlich historischen Betrachtung des römischen Rechts, etwa zur Zeit der Eleganten Jurisprudenz; vgl. Wieacker, Textstufen (oben Fn. 2), S. 9 mit Fn. 2.

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Holger Schmidt

poliertes, hatte insofern nicht die Perspektive erweitert, als somit zwar die Änderungen berücksichtigt wurden, die dem klassischen Recht bis zur justinianischen Kompilation widerfahren waren, jedoch nur zu eben dem Zweck, klassisches Recht aufzuspüren. Die Beschäftigung mit dem römischen Recht war also rein dogmatisch motiviert. So begnügte man sich mit der Annahme, die nunmehr aufgedeckten Abänderungen seien "Tribonianismen"4, und sah folglich für die Zuordnung des Rechts der Digesten nur zwei Möglichkeiten: "either classical or lustinian law, an alternative hardly entitled to credence, since the period from about A.D. 240 to 530 [ ... ] was thereby left unaccounted [ ... ]"5. In dieser Lage stiess mit Heinrich Brunner bezeichnenderweise ein Germanist als erster auf vulgares Recht6 . Als indes die Arbeiten zur Erstellung des BGB zum Abschluß kamen, fand sich die deutsche Romanistik als historische Disziplin wieder, offen für neue Fragestellungen. Nun wurde beispielsweise das Recht in den römischen Provinzen thematisiert7 ; die nachklassischen Neuerungen erschienen auf volksrechtliche Einflüsse rückführbar . Den eigentlichen Ausgangspunkt für die umfassende wissenschaftliche Ergründung des präjustinianischen Rechts bildete erst ein 1928 von Levy in Oslo gehaltener Vortrag 8 , bei dem eine selbständige Fortentwicklung des Rechts in Westrom belegt werden konnte. Levy ging fortan die große Aufgabe an, das vulgare Sachen- und Obligationenrecht zu rekonstruieren. Die in zwei Werken präsentierten Ergebnisse dieser Arbeit 9 revolutionierten nicht nur die InterpolationenforschunglO , sondern wirkten auf die Sicht der spät antiken Kultur im ganzen. Endlich sind die über das Vulgarrecht gewonnenen Erkenntnisse auch für die Germanistik bedeutsam geworden, insofern nämlich mit ihrer Hilfe die Abhängigkeit der Leges barbarorum vom römischen Recht nachgewiesen und letztlich die Brücke vom antiken zum mittelalterlichen Recht geschlagen werden konnteli.

Ibd., S. 12. Ernst Levy, West Roman Vulgar Law - The Law of Property, Philadelphia 1951, S. I. 6 Heinrich Brunner, Zur Rechtsgeschichte der römischen und germanisch~n Urkunde I, 1880, S. 113, 139. 7 Ludwig Mitteis, Reichsrecht und Volksrecht, 1891. 8 Ernst Levy, Westen und Osten in der nachklassischen Entwicklung des römischen Rechts, in: ZRG. RA 49, 1929, S. 230 ff. 9 Levy, Vulgar Law (oben Fn. 5); ders., Weströmisches Vulgarrecht - Das Obligationenrecht, 1956. 10 Und folglich auch die Bewertung der Leistung lustinians: Froher hatten "Byzantiner" und "Tribonian" gestanden für "etwas, das der Kategorie der Schimpfworte zum mindesten nahe" kam (Helmut Coing, (Rez.) "Levy, Vulgar Law", in: ZRG. RA 69,1952, S. 485; ibd. ff. auch allgemein zu den Auswirkungen der Vulgarrechtsforschung). 11 Die Leges hatten zuvor als weitgehend authentische Zeugnisse altgermanischen Rechts gegolten, vgl. den Abriß der Forschungsgeschichte bei Hermann Nehlsen, Sklavenrecht zwischen Antike 4

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Die Vulgarrechtsdiskussion

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2. Der Stand der Vulgarrechtsdiskussion die Disposition vorliegender Arbeit

Diese so folgenschwere neue Sichtweise löste eine lebhafte Diskussion aus. Vornehmlich stand aber nicht der Levysche Befund selbst in Rede, sondern seine Bezeichnung als "Vulgarrecht". Dem einen galt sie als Schlüssel zum Verständnis der entdeckten Phänomene, dem anderen aber als Irreführung, ja es wurde bezweifelt, daß "Vulgarrecht" überhaupt als "Recht" anzusehen sei l2 • Schon hier wird deutlich: Keineswegs ging es um eine bloße fa~on de parler. Hinter der terminologischen Zuordnung stand vielmehr der Versuch, die Materie auszuwerten, Levys Ergebnisse zu definieren und zu begreifen und sie in ihrer Bedeutung zu ermessen; denn "jede sinnvolle Benennung setzt eine eindeutige Referenz voraus zwischen dem bezeichnenden Wort (significans, definiens, explanans) und dem bezeichneten Gegenstand (significatum, definiendum, explanandurn)" 13. Überdies liegt die Bedeutung der Vulgarrechtsdiskussion nicht zuletzt auch darin begründet, daß sie die Romanistik aus dem Kanon ihrer üblichen Themen hinaus zu Fragestellungen grundSätzlicher Art führte l4 • Auch deshalb scheint es lohnend, den Weg, den die Kontroverse nahm, nachzuzeichnen. Vor allem aber bieten neuere Quellenstudien allen Anlaß, den Streitstand zu vergegenwärtigen. Sie stellen mitunter bereits Levys Befund in Frage und erschüttern mithin das Fundament auch der Begriffsdiskussion. Welches Bild sich nach alldem ergibt, sei im folgenden untersucht.

und Mittelalter, 1972, S. 38 ff. Nunmehr erwies sich der Zusammenhang zwischen römischem Recht und Leges jedoch als so eng, daß "man zweifelt, ob sich das spezifisch Germanische überhaupt wird ermitteln lassen, sofern nicht malbergische Glossen oder andere germanische Rechtswörter einen Anhaltspunkt bieten" (Karl Kroeschell, Deutsche Rechtsgeschichte I, 10. Aufl., 1992, S. 56). Grundlegend hierzu bereits Ernst Levy (Reflections on the first "Reception" of Roman Law in Germanic States, in: AHR 48, 1942, S. 20 ff. = Gesammelte Schriften I, 1963, S. 201 ff.), der diese "erste Rezeption" des römischen Rechts für nicht weniger bedeutend hält als die bislang einzig als solche erkannte. So auch Franz Wieacker (Recht und Gesellschaft in der Spätantike, 1964, S. 80): Das Vulgarrecht habe" die geistige Schonfrist für die volle Aneignung des klassischen Erbes" geschaffen, "die wie eine Art weltgeschichtlicher Rechtfertigung des Vulgarismus" erscheine. Vgl. aus der Fülle der Beiträge zum römischen Recht im frühen Mittelalter insbesondere: Jean Gaudemet, Survicances romaines dans le droit de la monarchie franque du V''''' au X''''' siecle, in: TR 23, 1955, S. 149 ff.; Alvaro D'Ors, EI C6digo de Eurico, Rom u.a. 1960, passim; Karl Kroeschell, Söhne und Töchter im germanischen Erbrecht, in: Wilhelm-Ebel-Gedächtnisschrift, 1982, S. 87 ff.; Harald Siems, Bemerkungen zu sunnis und morbus sonticus, in: ZRG. RA 103, 1986, S. 409 ff.; Theo Mayer-Maly, Pactum, Tausch und laesio enormis in den sog. leges Barbarorum, in: ZRG. RA 108, 1991, S. 213 ff., Artur Völkl, Der Kauf im Westgotenrecht, in: ZRG. RA 110, 1993, S. 427 ff.; weitere Literatur bei Franz Wieacker, Vulgarrecht und Vulgarismus, in: Studi Biscardi I, Mailand 1982, Fn. 29. 12 Von Archi und Pugliese, s. unten II 5. 13 Wieacker, Vulgarrecht und Vulgarismus (oben Fn. 11), S. 38. 14 Gewürdigt von Theo Mayer-Maly, "Inchiesta", in: Labeo 7, 1961, S. 349.

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Holger Schmidt

11. Die Vulgarrechtsdiskussion als Begriffsdiskussion (= die Vulgarrechtsdiskussion i.e.S.) 1. Ernst Levy Levy bezeichnete den Gegenstand seiner Forschung als "Vulgarrecht" in der Absicht, dessen charakteristischstes Merkmal hervorzuheben und ihm somit gerecht zu werden 15, was Begriffe wie etwa "postklassisch ", "präjustinianisch" oder andere rein negative Definitionen nicht zu leisten vermögen 16. Bei seiner Begriffsbestimmung sprach Levy selbst wesentliche Sachprobleme an, die im Laufe der Vulgarrechtsdiskussion aufgegriffen werden sollten: etwa das Verhältnis des Vulgarrechts zu offiziellem und Volksrecht oder die Frage, ob das Vulgarrecht als eigenständiger Normenkomplex anzusehen ist. So verwendete Levy den Ausdruck Vulgarrecht für praktisch geübtes, nicht jedoch für offiziell gesetztes Recht 17 • Kriterium für die Zuordnung zum Vulgarrecht war für Levy nämlich nicht nur die Substanz, sondern auch die Geltungsweise: Habe ein Rechtssatz vulgaren Ursprungs Aufnahme in offizielles Recht gefunden, so sei "it's own vulgar law character [ ... ] terminated through the official sanction" 18. Volksrecht bezog Levy dagegen grundSätzlich mit ein, da es gleichermaßen von klassischem römischem Recht abweiche und nur anderen Ursprungs sei, insofern es auf volks- und provinzialrechtlicher Tradition, nicht aber minderen Fähigkeiten beruhe 19. Letztere sah Levy als Ursache für die Entstehung des übrigen Vulgarrechts an: "Gleichgültigkeit oder geradezu Abneigung gegen präzise, eindeutig bestimmbare Rechtsbegriffe" habe die Urheber vulgarer Regelungen erfülltz°.

"To do justice to the peculiarities", Levy, Vulgar Law (oben Fn. 5), S. I. "To replace the negative characterization with a positive one", Ibd., S. 2. 17 "Vulgarrecht" bezeichnet also keineswegs das gesamte nachklassische Recht; andererseits habe es "Vulgarrecht" nicht nur in nachklassischerZeit gegeben: " [... ] not all vulgar law is postclassical; even less is every postciassical innovation of vulgar law character" (Ibd., S. 2). 18 Ibd., S. 4. 19 Ibd., S. 5 ff., verkennt Levy nicht die Bedeutung des Unterschiedes, der darin liegt, daß es sich (mit Mitreis, oben Fn. 7, S. 5) im einen Fall um "entartetes römisches Recht", im anderen letztlich um überhaupt kein römisches Recht handelt. Sich um die Trennung vulgar- und volksrechtlicher Elemente zu bemühen, heiße jedoch - wegen der anzunehmenden vielfältigen Durchdringung beider - der sekundären Frage der Herkunft nachgehen. In Konsequenz zählt Levy freilich "reines" Volksrecht nicht dem Vulgarrecht zu. 20 Levy, Vulgarrecht (oben Fn. 9), S. 5. Indes geht es Levy nicht um die Ergründung der tieferen Ursachen oder gar deren Bewertung. Auch versteht er das Vulgarrecht aus der spätantiken Geschichte heraus und erkennt dessen Leistung als Anpassung an die sozialen Verhältnisse und die Bedürfnisse der Zeit. Darüber hinaus kommt er gar zu einer positiven Sicht, indem er bereits die große Bedeutung des Vulgarrechts für die mittelalterliche Rechtsentwicklung ermißt (Vulgar Law, oben 15

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Die Vulgarrechtsdiskussion

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Daß in den Fällen, in denen er den Begriff anwendet, dies zu Recht geschehe, belegt Levy zudem mit dem Ausmaß der vulgaren Prägung, welches so groß sei, daß er von einem eigenständigen Normenkomplex ausgeht, vergleichbar dem ius gentium oder dem ius honorarium 21 • Überdies weitete Levy sein Vulgarrechtskonzept, das er erst auf Westrom beschränkt gesehen hatte, später auch auf den Osten aus 22 • Zunächst erfuhren Levys Thesen weitgehende Zustimmung. Auf baldigen Widerspruch stieß jedoch die Annahme, daß Kaiserrecht vom Vulgarrecht auszunehmen sei. Gaudemet wandte ein, Levy selbst stütze seine Untersuchungen mitunter auf Kaiserkonstitutionen23 • Dies wäre freilich unproblematisch, wenn die Gesetze eine vulgare Praxis widerspiegelten. Nun mag eine gewisse Wahrscheinlichkeit dafür sprechen, daß vulgare Rechtsphänomene etwa in provinzieller Praxis entstanden sind und nicht in der offiziellen Rechtsetzung ihren Ursprung haben24 • Diese Annahme ist gleichwohl hypothetisch. So betont Gaudemet weiter, die vorhandenen Quellen gäben zu wenig Aufschluß über die tatsächliche Rechtsübung25 • Schwerer noch wiegt das theoretische (nämlich von einer möglichen Bestätigung der von Levy postulierten Reihenfolge des Aufkommens von Vulgarismen unabhängige) Argument Grossos, letztlich komme es auf die Substanz, nicht die Entstehungsweise des jeweiligen Rechtssatzes an26 . Levy hat diese Substanz genau bestimmt, indem er die typischen Merkmale des Vulgarrechts aufzeigte. Diese finden sich im Kaiserrecht gleichermaßen27 • Sollte aber allein die Substanz entscheidend für die Verwendung von "vulgar" sein, so dürfte dieser

Fn. 5, S. )5), und versteht somit das Vulgarrecht nicht nur als "Phase des Niedergangs, sondern auch des Ubergangs" (Misera & Bac/ehaus, oben Fn. 2, S. 199); hierzu schon oben Fn. 11. 21 Levy, Vulgarrecht (oben Fn. 9), S. 9 . .. 22 Ernst Levy, West-östliches Vulgarrecht und lustinian, in: ZRG. RA, 76, 1959, S. 1 ff. Ostliches Vulgarrecht sei vom hellenistischen Recht abgrenzbar (S. 24 ff.) und "in Sache, Termini und Ursprung dem westlichen [Vulgarrecht] wesensgleich" (S. 14). Zustimmend Hans Julius Woljf, Das Vulgarrechtsproblem und die Papyri, in: ZRG. RA, 91, 1974, S. 54 ff. 23 Jean Gaudemet, (Rez.) "Levy, Vulgar Law", in: RHDFE 31, 1953, S. 296. Wie Levy aber Henri Uvy-Bruhl, "Inchiesta", in: Labeo 7, 1961, S. 58. 24 Mitunter erbrachte Levy den Nachweis, indem er zeigte, daß bestimmte Gesetze von bestehenden vulgaren Regelungen ausgehen (Ernst Levy, Römisches Vulgarrecht und Kaiserrecht, in: BDIDR 62, 1959, S. 1). Freilich kann nicht für jeden Einzelfall originäres Vulgarrecht in den Gesetzen ausgeschlossen werden. 25 Gaudemet (oben Fn. 23), S. 296. 26 Giuseppe Grosso, (Rez.) "Levy, Vulgarrecht", in: IURA 8, 1957, S. 490. 27 Daß kaiserliches Recht von vulgarer Substanz sei, bestreitet Levy nicht und räumt ein, vom Inhalt her eliibrige sich eine Ausnahme des Kaiserrechts; vgl. Ernst Levy, (Rez.), "Gaudemet, Formation", in: ZRG. RA 75, 1958, S. 455. 2 Kroes