Nationbildung. Sozialer Wandel und Geschichtsbewusstsein am Río dela Plata (1810-1916) 9783964567499

Im Vordergrund dieser Studie steht die Frage nach der Rolle der Historie bei der Entstehung und allmählichen Konsolidier

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Nationbildung. Sozialer Wandel und Geschichtsbewusstsein am Río dela Plata (1810-1916)
 9783964567499

Table of contents :
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
Abkürzungen
I. Theoretische Vorüberlegungen
II. Kategoriale Elemente des Nationbegriffs im La Plata-Raum nach 1810
III. Zur Genese und Struktur des historischen Diskurses nach 1810
IV. Provinz, Nation und Geschichtsanschauung
V. Die staatliche Organisation historisch-politischer Sozialisationsprozesse im 19. Jahrhundert
VI. Sozialer Wandel und neue politisch-soziale Funktionsansprüche an die Geschichte
VII. Kreolische Gesellschaft und europäische Zuwanderung
VIII. Parteipolitische Sichtweisen der Geschichte an zwei ausgewählten Beispielen
IX. Zusammenfassung
Quellen- und Literaturverzeichnis
Personenregister

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Michael Riekenberg

Nationbildung Sozialer Wandel und Geschichtsbewußtsein am Río de la Plata (1810-1916)

Herausgeber: Karl Kohut und Hans-Joachim König Publikationen des Zentralinstituts für Lateinamerika-Studien der Katholischen Universität Eichstätt Serie B: Monographien, Studien, Essays, 6 Publicaciones del Centro de Estudios Latinoamericanos de la Universidad Católica de Eichstätt Serie B: Monografías, Estudios, Ensayos, 6 P u b l i c a r e s do Centro de Estudos Latino-Americanos da Universidade Católica de Eichstätt Série B: Monografías, Estudos, Ensaios, 6

Michael Riekenberg

Nationbildung Sozialer Wandel und Geschichtsbewußtsein am Río de la Plata (1810-1916)

Vervuert Verlag • Frankfurt am Main 1995

Gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Riekenberg, Michael: Nationbildung : Sozialer Wandel und Geschichtsbewusstsein am Rio de la Plata : (1810 - 1916) / Michael Riekenberg - Frankfurt am Main : Vervuert, 1995 (Americana Eystettensia : Ser. B., Monographien, Studien, Essays ; 6) Zugl.: Eichstätt, Kath. Univ., Habil.-Schr., 1992 ISBN 3-89354-956-0 NE: Americana Eystettensia / B

© Vervuert Verlag, Frankfurt am Main 1995 Alle Rechte vorbehalten Printed in Germany

Inhaltsverzeichnis Vorwort

7

Abkürzungen

8

I.

Theoretische Vorüber legungen

9

II.

Kategoriale Elemente des Nationbegriffs im La Plata-Raum nach 1810

1.

Desintegration und regionale Interessendivergenzen

25

2.

Zur Genese des kreolischen Nationbegriffs

30

3.

Der politische oder staatsbürgerliche Nationbegriff

38

4.

Der naturalistische oder organische Nationbegriff

43

5.

Der romantisierende Nationbegriff

51

6.

Zwischenergebnis

61

III.

Zur Genese und Struktur des historischen Diskurses nach 1810

1.

Politischer Diskurs und historische Symbolik

63

2.

Kriegs Veteranen und Romantik als Trägergruppen des historischen Diskurses

72

3.

Verregelungen des historischen Diskurses

84

4.

Zwischenergebnis

90

IV.

Provinz, Nation und Geschichtsanschauung

1.

Die politische und sozialpsychologische Konstellation nach 18S2 und ihre Auswirkungen auf die Geschichtsbetrachtung

92

2.

Das Geschichtsbild des bonaerensischen Liberalismus

104

3.

Verschiebungen der inter-provinzialen Machtbalance nach 1862

110

4.

Die Geschichtsbilder der "montoneros"

115

5.

Die Geschichtsvorstellungen der modernisierungsorientierten Eliten im "Moral"

119

6.

Regiontypen und Geschichtsbewußtsein

125

7.

Zwischenergebnis

135

V.

Die staatliche Organisation historisch-politischer Sozialisationsprozesse im 19. Jahrhundert

1.

Zur Geschichte des schulischen Bildungswesens

137

2.

Historisch-politische Sozialisation im Schulbuch

142

3.

Historische Denkmäler

152

4.

Zum Verhältnis von Staat und Kirche

156

5.

Zwischenergebnis

163

VI.

Sozialer Wandel und neue politisch-soziale Funktionsanspruche an die Geschichte

1.

Die politisch-soziale Systemkrise um die Jahrhundertwende

166

2. 3. 4.

Sozialdisziplinierung und Geschichtsrevisionismus Die Institutionalisierung des historischen Diskurses Zwischenergebnis

174 187 196

VII.

Kreolische Gesellschaft und europäische Zuwanderung

1. 2. 3.

Zuwanderung und gesellschaftliche Konfliktpotentiale Die Re-Hispanisierung des Geschichtsbilds Der Einfluß der italienischen Zuwanderer auf die historische Symbolik Gauchokult und städtische Subkultur Zwischenergebnis

4. 5.

199 208 220 230 242

VIII. Parteipolitische Sichtweisen der Geschichte an zwei ausgewählten Beispielen 1. 2.

Die Sozialistische Partei Die Bürgerlich-Radikale Bewegung

246 258

3.

Zwischenergebnis

266

IX.

Zusammenfassung

270

Quellen- und Literaturverzeichnis

291

Personenregister

327

Vorwort Die vorliegende Untersuchung wäre ohne die Unterstützung verschiedener Personen und Institutionen nicht zustande gekommen, wofür ich mich an dieser Stelle herzlich bedanken möchte. Mein besonderer Dank gilt Herrn Prof. Dr. Hans-Joachim König, Katholische Universität Eichstätt, der die Entstehung dieser Studie mit großem Interesse und seinem wissenschaftlichen Rat begleitet sowie durch seine Ermutigung unterstützt hat. Eine große Hilfe erfuhr ich von Seiten meiner argentinischen Gesprächspartner, die durch ihre wissenschaftlichen Anregungen und weiterführenden Hinweise zum Gelingen dieser Arbeit beitrugen. Dies gilt insbesondere für Prof. Dr. José Carlos Chiaramonte, Direktor des Historischen Forschungsinstituts "Dr. Emilio Ravignani" in Buenos Aires, sowie seine Mitarbeiterin Frau Dr. Noemi Goldman; ferner für Frau Prof. Dr. Cecilia Braslavsky und ihre wissenschaftliche Mitarbeiterin Lic. Silvia Finocchio von der "Facultad Latinoamericana de Ciencias Sociales" in Buenos Aires, sowie schließlich für Prof. Fernando Devoto vom Institut "CEMLA". Anregungen verdanke ich ferner Frau Prof. Dr. Hilda Sabato, Universität Buenos Aires. Dank schulde ich auch den Mitarbeitern verschiedener Bibliotheken und Archive. Im deutschen Raum sind vor allem zu nennen die Bibliotheken des Georg-EckertInstituts in Braunschweig und des Iberoamerikanischen Instituts in Berlin. In Argentinien gilt mein Dank den Personen, die mir im Nationalarchiv und in der Nationalbibliothek sowie in den Bibliotheken der Historischen Akademie, des Instituts Ravignani, des Gewerkschaftsverbands CGT, des "Colegio Nacional de Buenos Aires" und des Nationalkongresses beratend zur Seite standen. Ergänzen möchte ich, daß diese Untersuchung ohne die wohlwollende Unterstützung von Herrn Prof. Dr. Ernst Hinrichs als Direktor des Georg-Eckert-Instituts in Braunschweig nicht hätte durchgeführt werden können. Herrn Prof. Dr. Karl Kohut und Herrn Prof. Dr. H.-J. König danke ich für die Aufnahme der Arbeit in die Reihe "americana eystettensia". Bei Frau Eva Vierring, Eichstätt, bedanke ich mich für die Erstellung des Manuskripts. Die Arbeit wurde im Herbst 1992 von der Geschichts- und Gesellschaftswissenschaftlichen Fakultät der Katholischen Universität Eichstätt als Habilitationsschrift angenommen. Hemmingen, im Frühjahr 1994 Michael Riekenberg

Abkürzungen AGN

Archivo General de la Nación

ANH

Academia Nacional de la Historia

BANH

Boletín de la Academia Nacional de Historia (vormals: Boletín de la Junta de Historia y Numismática Americana)

BIHAA

Boletín del Instituto de Historia Argentina y Americana Dr. Emilio Ravignani

EML

Estudios Migratorios Latinoamericanos

Gd

Geschichtsdidaktik

GG

Geschichte und Gesellschaft

GWU

Geschichte in Wissenschaft und Unterricht

HAHR

The Hispanic American Historical Review

HZ

Historische Zeitschrift

IEHS

Instituto de Estudios Histórico-Sociales (Tandil)

ISF

Internationale Schulbuchforschung

JBLA

Jahrbuch für Geschichte von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft Lateinamerikas

UCR

Unión Cívica Radical

ZfG

Zeitschrift für Geschichtswissenschaft

ZfP

Zeitschrift für Politik

ZfS

Zeitschrift für Soziologie

9

I. Theoretische Vorüberlegungen Beschäftigen wir uns mit der Geschichte oder den gesellschaftlichen Verhältnissen in anderen Weltregionen, so begegnen wir der Schwierigkeit, daß scheinbar identische Begriffe in den unterschiedlichen sozio-kulturellen Räumen divergierende Bedeutungen oder zumindest voneinander abweichende Konnotationen aufweisen können. Diese Sinndivergenzen bringen sich in erster Linie in dem Bereich der Alltagswelt zur Geltung, d.h. in jener vertrauten, den Menschen selbstverständlich erscheinenden und intersubjektiv gültigen "Routinewirklichkeit" des Lebens, die durch die Alltagssprache sinnhaft geordnet und objektiviert ist1. Sie können jedoch darüber hinaus auch in die wissenschaftliche Begriffsbildung Eingang finden, sofern deren Gegenstand gesellschaftlicher Natur ist. Denn während die Bedeutung der zur Erklärung physikalischer Phänomene verwendeten Begriffe zwischen den Wissenschaftssystemen der unterschiedlichen Gesellschaften standardisiert ist, trifft dies für die Begriffe, deren Funktion es ist, gesellschaftliche Phänomene zu benennen, nicht zu. Die Anbindung der Wissenschaft an die Alltagswelt, die sprachlich vermittelt ist, bewirkt vielmehr, daß die sozialwissenschaftlichen Begriffe vergleichsweise anfällig sind gegenüber den unterschwelligen Wahrnehmungsweisen und Deutungsmustern gesellschaftlicher Verhältnisse, wie sie in ihrem jeweiligen alltagsweltlichen Kontext gebräuchlich sind, und von denen sie in einem mehr oder minder starken Maße überformt werden können (vgl. Wygotski 1977). Der Begriff des Geschichtsbewußtseins bezieht sich auf das Verhältnis, durch das die Geschichte in der menschlichen Vorstellungswelt sinnhaft vergegenwärtigt wird. Nicht sein Gegenstandsbereich an sich, also das Verhältnis von Mensch bzw. Gesellschaft und Geschichte, wohl aber das Wissen darum, daß die Geschichte nur als eine gedeutete Rekonstruktion vergangener Realität ins Bewußtsein treten kann, ist ein spezifisch neuzeitliches Phänomen. Erst die Auflösung der strikten Trennung in die geschichtliche Begebenheit einerseits und die Kunde davon andererseits sowie die damit einhergehende, von Droysen formulierte Erfahrung, daß Geschichte nur das Wissen ihrer selbst sei, bildeten die Voraussetzung dafür, daß Geschichte zu einer "subjektiven Bewußtseinskategorie" werden konnte und die gesellschaftliche Wirklichkeit fortan als veränderbar und historisch vermittelt erfahren wurde2. Dies implizierte in der Konsequenz zweierlei, nämlich zunächst die Einsicht in die Selektivität, die in die Bedeutungszuweisungen an Geschichte bzw. in das Geschichtsbewußtsein eingeht und die im übrigen in der spanischen bzw. hispanoamerikanischen Begrifflichkeit (conciencia histórica, conciencia de la historia) deutlicher zum Ausdruck kommt als in dem deutschen Wort des Bewußtseins, weil der spanische Begriff aus dem lateinischen conscientia abgeleitet ist und einen enge-

1

Vgl. Berger/Luckmann 1980, 24f; Sprondel/Grathoff 1979. Zu der grundsätzlichen Unbestimmtheit des Alltagsbegriffs vgl. Elias 1978. 2 Vgl. Koselleck 1971, 6f; Droysen 1972, 62f.

10

ren Bezug zu dem diesem Begriff ursprünglich eigenen moralischen Element erkennen läßt. Ferner stellte dieser Prozeß die Voraussetzung dafür dar, daß die GeschichtsVorstellungen, wie die sozio-kulturellen Deutungs- und Orientierungsmuster oder das Wissen überhaupt, als eine eigenständige Schicht der gesellschaftlichen Wirklichkeit wahrgenommen und interpretiert werden konnten, die sich gleichsam zwischen die Menschen einerseits und die Welt, in der sie sich bewegen, andererseits einschob. Eine theoretische Reflexion dieses "gemeinten" Sinns, den Menschen sich selbst wie ihrer Welt zuschreiben, finden wir zuerst bei Max Weber (1973), der diese Sinnzuschreibungen als einen konstitutiven Faktor der gesellschaftlichen Wirklichkeit verstand3. Die Annahme, daß die in den Sprachzeichen und Symbolen sich manifestierenden Wissensbestände und Vorstellungsmuster eine Doppelfunktion besitzen, die sowohl in dem "Erfassen der objektivierten gesellschaftlichen Wirklichkeit" wie auch in dem "Produzieren eben dieser Wirklichkeit in einem" (Berger/ Luckmann 1980, 71) besteht, begegnet uns heute in unterschiedlicher Terminologie in verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen, wie der Sprachtheorie, der Sozialpsychologie oder der phänomenologisch verfahrenden Wissenssoziologie. Die Geschichtsvorstellungen können entsprechend als ein Teil der sozio-kulturellen Deutungs- und Orientierungsmuster interpretiert werden, die in einer Gesellschaft kursieren und die dazu beitragen, sozio-kulturelle Gruppen als "Interpretationsgemeinschaften" (Lorenzer 1977, 16) zu konstituieren. Der Status der sozio-kulturellen Deutungsund Orientierungsmuster ist dabei polyvalent. Einerseits beziehen sich die darin kursierenden Zeichen- und Symbolsysteme auf die gesellschaftliche Wirklichkeit, wobei der Grad ihrer Wirklichkeitskongruenz sehr unterschiedlich ausfallen kann4. Andererseits reduziert sich der Status der Geschichtsanschauungen oder der sozio-kulturellen Orientierungsmuster generell jedoch nicht darauf, weil es sich bei ihnen nicht allein um Zeichensysteme handelt, die auf etwas Anderes verweisen, sondern weil sie zugleich "Monumente" (Foucault 1981, 198) darstellen, über die sich soziale Zusammenhänge erst ausbilden. Das Geschichtsbewußtsein ist insofern intersubjektiv konstituiert, und das Geschichtenerzählen ist niemals nur deskriptiv und sachbezogen. Vielmehr "[...] dient die Erzählpraxis dem sich im Erzählprozeß erzeugenden Aufbau gemeinsamer temporaler und sozialer Orientierung" (Röttgers 1982, 235f). Für die hier vorliegende Untersuchung bedeutet dies, daß die Geschichtsanschauungen in ihrer Geltung als soziale Handlungen und im Hinblick auf ihre Funktionen im gesellschaftlichen Kommunikationsprozeß analysiert werden sollen, nicht aber bloß als Aussagen über eine gesellschaftliche Wirklichkeit, der sie selbst nicht angehört hätten.

5

Grundlegend zum Verhältnis von Bewußtseins vorgang und Gegenstandsbereich Dilthey

1970. 4

Vgl. Leithäuser 1979; Lenk 1979.

11

Der Entstehungskontext des Geschichtsbewußtseins im Sinn einer Bewußtseinskategorie spiegelt sich in der Definition wider, die der Begriff in der Geschichtswissenschaft erfährt. "Geschichtsbewußtsein im allgemeinsten Sinne", so etwa Theodor Schieder, "meint die ständige Gegenwärtigkeit des Wissens, daß der Mensch und alle von ihm geschaffenen Einrichtungen und Formen seines Zusammenlebens in der Zeit existieren, also eine Herkunft und eine Zukunft haben, daß sie nichts darstellen, was stabil, unveränderlich und ohne Voraussetzungen ist." Das Geschichtsbewußtsein wird damit als ein elementares menschliches Bedürfnis charakterisiert, Zeiterfahrung zu verarbeiten, ohne daß es sich deshalb jedoch auf diese anthropologische Dimension des Umgangs mit Zeit bzw. Geschichte reduzieren würde. Denn das Geschichtsbewußtsein beinhalte, so Schieder weiter, auch eine politische Komponente, sei doch die "Neigung, sich mit Geschichte zu beschäftigen, sehr oft, ja vorwiegend politisch motiviert". Eine besondere Bedeutung käme dabei dem risorgimiento bzw. den nationalen Bewegungen des 19. Jahrhunderts zu, die dazu geführt hätten, daß das Geschichtsbewußtsein mit dem Nationalbewußtsein "auch heute noch weitgehend gleichgesetzt wird" (1974, 78f). Uns begegnet in dieser Definition einerseits eine bereits partíale Bedeutungszuweisung an den Begriff des Geschichtsbewußtseins, der bestimmte Erfahrungen sozialer Wandlungsprozesse zugrunde liegen. Denn erstens reproduziert sie die neuzeitliche Zeiterfahrung, also die Einsicht in die Zeitbedingtheit und Veränderlichkeit aller Erscheinungen des menschlichen Lebens. Andere Möglichkeiten des Umgangs mit der Zeit bzw. der Zeitdeutung, wie sie in Gesellschaften auf einer anderen kulturellen Entwicklungsstufe ausgebildet wurden (vgl. Elias 1984, 117f), bleiben davon ausgegrenzt. Und zweitens rekurriert die Begriffsdefinition auf die spezifische historische Funktion des Geschichtsbewußtseins im Zuge der europäischen Nationbildungsprozesse5. Andererseits ist diese Definition des Begriffs Geschichtsbewußtsein jedoch zwischen den Wissenschaftlergemeinschaften unterschiedlicher Gesellschaften zugleich konsensfähig, weil sie zunächst einen common sense formuliert, was das moderne Zeitverständnis betrifft, und weil ferner das Geschichtsbewußtsein nicht allein in den europäischen Nationbildungsprozessen, sondern auch in denen der hispanoamerikanischen Gesellschaften nach 1810 oder denen der postkolonialen afrikanischen Gesellschaften (vgl. Jones 1990) eine wichtige Rolle als ein Instrument der sozialen und politischen Kohäsion und Legitimierung spielte. Diese Zusammenhänge zwischen der Hervorbringung einer historisch-politischen Symbolik und dem Nationbildungsprozeß im Gebiet des späteren Argentinien werden uns im Verlauf dieser Untersuchung ausführlich beschäftigen. Die Vieldeutigkeit des Nationbegriffs wie auch die Schwierigkeit, ihn näher zu

5 Zur Rolle der historischen Symbolik im deutschen Nationbildungsprozeß vgl. Mosse 1976; Nipperdey 1976; Hardtwig 1990.

12

definieren, sind dabei hinlänglich bekannt. Für den hispanoamerikanischen Raum wird diese Schwierigkeit dadurch potenziert, daß sich die klassische Definition der Nation, wie wir sie bei Friedrich Meinecke (1928) finden, an der Entwicklung der europäischen Nationen und Nationalstaaten orientierte und aus diesem Grund die gesellschaftspolitischen Entwicklungsprozesse in Hispanoamerika nicht oder nur ungenau abzubilden vermochte (vgl. Krebs 1974, 164f). Den Besonderheiten der Entwicklung im hispanoamerikanischen Raum scheinen demgegenüber solche Arbeiten in stärkerem Maße gerecht zu werden, die nach der Struktur gesellschaftlicher Prozesse fragen, die im modernen Sinn nationbildend wirken können, d.h. nach den konkreten entwicklungsgeschichtlichen Abläufen, dem politisch-sozialen Kontext und schließlich auch den Funktionen der Nationbildung (vgl. Habermas 1976, 327). Denn diese Fragerichtung vermag dem in der Forschung mittlerweile allgemein akzeptierten Umstand Rechnung zu tragen, daß die Staatsgründungen in Hispanoamerika nach 1810 nicht einer bereits vorab existierenden Nation nurmehr ihren politischen Ausdruck gaben, wie es die dortige Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts behauptet hatte, sondern daß umgekehrt die Staatenbildung erst als der Beginn einer bis dahin allenfalls rudimentär entwickelten und auf den vergleichsweise noch vagen Gefühlen einer regionalen oder amerikanischen Eigenart begründeten Nationbildung betrachtet werden kann. Der Nationbildungsprozeß im hispanoamerikanischen Raum trug den Charakter eines politischen Entwicklungsprojekts, wodurch die Frage aufgeworfen wird, was die kreolischen Eliten überhaupt um und nach 1810 unter der Nation verstanden und welche Entwicklungsvorstellungen sie mit der Nationbildung verbanden. Pauschal formuliert erscheint die Nationbildung als ein Teil umfassenderer sozialer Wandlungsprozesse, wobei unter dem Begriff Sozialer Wandel hier die gesellschaftlichen Entwicklungen verstanden werden, die mit der Modernisierung der politischen, ökonomischen und sozialen Verhältnisse seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts verbunden sind6. Aus dem Kreis der politischen Entwicklungsforschung wurde die These entwickelt, daß sich die politischen Entscheidungsträger jeder Gesellschaft im Zuge dieses sozialen Wandels mit bestimmten Entwicklungsaufgaben bzw. -krisen konfrontiert sehen, wie denen der Penetration und Integration, der Partizipation und Distribution sowie der Identitätsfindung und Legitimation, wobei die beiden letzten Entwicklungsprobleme als die wichtigsten Aufgaben der Nationbildung gelten. Die politische Entwicklungsforschung bietet damit ein allgemeines Kategoriengerüst an, durch das moderne Nationbildungsprozesse in den Zusammenhang sozialer Wandlungen eingeordnet werden können, sofern ihre überaus problematischen und teils heftig kritisierten modernisierungstheoretischen Grundannahmen (vgl. Nuscheier 1974, 196f) mitreflektiert bleiben.

6

Vgl. Flora 1974, 13; Zapf 1979, 13f, 506; Wehler 1975,1 lf, 59. Zur Entwicklung des Begriffs "Sozialer Wandel" Tjaden 1972, 122f.

13

Was die Frage nach dem Beitrag der historisch-politischen Symbolik zur Nationbildung betrifft, wird hier auf den kommunikationssoziologischen Ansatz (vgl. Deutsch 1966, 1972) zurückgegriffen. Danach vollzieht sich die Nationbildung, grob unterschieden, einmal Ober die Ausbildung integrierender Vorstellungsmuster, Begriffe und Symbole im "nationalen" Sinn, ein anderes Mal durch die soziologischen Komponenten dieses Vorgangs, d.h. die Ausdifferenzierung und Institutionalisierung der Kommunikationsformen und -wege, Ober die gemeinschafitsbildende Vorstellungen in dem Maße ausgetauscht werden können, daß sie in den alltäglichen Handlungen einer Gesellschaft zu einer Form des common sense werden (vgl. Katz 1982, 73). Eine Darlegung dieser Zusammenhänge hat Benedict Anderson in seiner Arbeit Ober "Die Erfindung der Nation" versucht. Anderson definiert die Nation als eine "vorgestellte politische Gemeinschaft", deren Siegeszug als die maßgebliche Form der kollektiven, politischen Selbstvergewisserung in modernen Gesellschaften säkulare Wandlungsprozesse zur Voraussetzung hatte, also insbesondere die Krise bzw. den Niedergang der religiösen Gemeinschaften sowie der dynastischen Reiche als die herausragenden Formen kultureller, sinnstiftender Systeme. Die Ausbildung der modernen Nation wird damit zunächst in einem besonderen historischen Entwicklungskontext verortet, der stichwortartig durch die Begriffe der neuzeitlichen Modernisierung, der Entwicklung des kapitalistischen Wirtschaftssystems sowie der politischen Revolutionen im 18. Jahrhundert benannt werden kann. Die Ausbildung der Nation bzw. die Erlangung der Fähigkeit, Wir-Gruppen als eine Nation zu denken, ist an die Institutionalisierung sozialer Interaktionsnetze gebunden, unter denen Anderson dem kapitalistisch organisierten Druckgewerbe bzw. dem Ausbau eines bürokratischadministrativen Systems eine besondere Bedeutung beimißt. Er illustriert diesen letzten Punkt anhand bestimmter "Alltagszeremonien", wie z.B. der des "Reisens" der Amtsträger oder der des Zeitunglesens, die den Zusammenhalt einer "säkularisierten, historisch gebundenen und vorgestellten Gemeinschaft" exemplarisch repräsentieren würden. Die darin produzierten Bilder und Vorstellungen müssen schließlich, soll von einer Nation gesprochen werden können, bestimmte inhaltliche Kriterien erfüllen, nämlich einmal die Abgrenzung von fest umrissenen, fremden Gemeinschaften einschließen und zum anderen die eigene, nationale Gemeinschaft als einen "Verbund von Gleichen" interpretieren (1988, 15, 41f). Zwar ist die Darstellung Andersons in den Teilen, in denen sie konkret auf Hispanoamerika eingeht, ungenau; vielleicht verkürzt sie die Prozesse der Nationbildung auch in ihrer historischen Dimension, weil sie nationale Regungen in vormodernen Zeiträumen nicht wahrnimmt7. Ihr heuristischer Wert für die hier behandelte Thematik liegt jedoch darin, daß sie erstens eine nähere Bestimmung des Nationbegriffs gestattet. Die Nation kann als ein

7

Vgl. Jaworski 1979, 401; Eichenberger 1991.

14

Zusammenschluß sozial, kulturell oder regional getrennter Gruppen definiert werden, die infolge "kommunikativer Integration" ein Zusammengehörigkeitsgefühl entwickeln und politische Entwicklungsaufgaben im Rahmen eines Nationalstaats mit dem "Anspruch auf Selbstbestimmung" (Dann 1978, 14) zu realisieren versuchen. Die von der politischen Entwicklungsforschung genannten Aufgabenbereiche, wie zum Beispiel die Errichtung einer Verwaltungsstruktur über das Staatsgebiet, die Integration einzelner Bevölkerungsgruppen in die politische Öffentlichkeit oder die Beteiligung der Staatsbürger an der politischen Herrschaft, können als Teilmomente dieser Entwicklung interpretiert werden, wobei das Ausmaß, in dem diese Entwicklungsaufgaben gelöst werden, über die Konsistenz oder aber Fragilität des Nationbildungsprozesses mitentscheiden. Zweitens betonen der kommunikationssoziologische Ansatz und konkret die Arbeit Andersons die Rolle, die die Entwicklung eines entsprechenden Begriffund Symbolapparats für den Nationbildungsprozeß spielt, ohne daß deshalb die Nationbildung auf einen bloß voluntaristischen Akt reduziert würde. Die Nation, so hat es den Anschein, stellt eines der gesellschaftlichen Phänomene dar, deren Entstehungsprozesse sich nicht auf die Vergesellschaftung von Menschen bzw. die Institutionalisierung ihrer Interaktionsbeziehungen eingrenzen lassen, sondern die sich erst über die Ausbildung einer "nationalen" Vorstellungswelt und die Kommunikation entsprechender, signifikanter Symbole innerhalb einer "nationalen" Trägergruppe zu konstituieren vermögen8. Auch die Nation ist in diesem Sinn eine Interpretationsgemeinschaft, die aus einem Kommunikationsverbund der Trägergruppen des "Nationgedankens" hervorgeht. Hinzuzufügen ist, daß die Bedeutung, die der Symbolik als konstitutives Element des Nationbildungsprozesses zukommt, sich zugleich auch aus den Veränderungen erklärt, die sich im Zuge der neuzeitlichen Modernisierungsprozesse und politischen Revolutionen im Gefüge der Herrschaftslegitimation vollzogen. Die emotionalen Bindungen, die politisch gefordert werden und zur Legitimität von Herrschaft beitragen, sind in den modernen Nationalstaaten stärker unpersönlicher Art und richten sich aus diesem Grund auf die "Symbole des Kollektivs", in denen sich dessen Souveränitätsanspruch repräsentiert. Diese Symbole oder auch Begriffe, wie im hispanoamerikanischen Raum etwa der der patria, werden zum "Brennpunkt" der emotionalen Bindung der Menschen an die Nation und sind entsprechend gefühlsmäßig besetzt, so wie es umgekehrt auch zu Versuchen kommt, diese emotionalen Bindungen an die Nation neuerlich zu personifizieren (vgl. Elias 1990, 189). Analog zu den beiden Dimensionen des kommunikationssoziologischen Nationbegriffs gibt es zumindest zwei unterschiedliche methodische Zugangsmöglichkeiten, um sich mit dem Thema Nationbildung zu befassen, und die Frage nach der Entfaltung einer historisch-politischen Symbolik im "nationalen" Sinn befaßt sich auch in dem Fall, daß sie die soziologischen Komponenten

' Vgl. Hobsbawm/Ranger 1984, 14; Hobsbawm 1990, 9, 18.

15

dieses Vorgangs zu berücksichtigen sucht (wie etwa die Zusammensetzung der "nationalen" Trägergruppen oder die Strukturen der Kommunikationsnetze, über die Geschichte vermittelt wurde), nur mit einem Ausschnitt des Nationbildungsprozesses. Dies wird sich der Leser dieser Arbeit ständig vor Augen halten müssen. Ist diese grundsätzliche Einschränkung der Untersuchung einmal akzeptiert, so bleibt zunächst zu konstatieren, daß diese Zusammenhänge von historisch-politischer Symbolik einerseits und Nationbildung andererseits in der hispanoamerikanischen Geschichtswissenschaft bislang kaum untersucht worden sind9. Der wissenschaftliche Sprachgebrauch über das Geschichtsbewußtsein ist bis heute zumindest in der argentinischen Geschichtswissenschaft unspezifisch. Der Begriff des Geschichtsbewußtseins oder ihm verwandte Termini, wie Geschichtsanschauungen, Geschichts vorstellungen oder Geschichtsbilder, werden dort primär im alltagssprachlichen Sinn benutzt. Die Begrifflichkeit ist vergleichsweise vage, weil sie, sieht man von der Rezeption älterer französischer Arbeiten (Aron 1961) ab, nicht Teil eines wissenschaftlich explizierten Begriffund Kategoriensystems darstellt. Erst in jüngster Zeit deutet sich auf diesem Gebiet einige Bewegung an, was auch mit der Rezeption neuerer Entwicklungen z.B. in der englischen oder französischen Geschichtswissenschaft zusammenhängt. Insbesondere jüngere Historiker sind darum bemüht, sich der Konstitutionsebene historischer Sinnbildungsleistungen zu nähern und den historischen Diskurs etwa auf seine linguistische Struktur oder auf seinen Symbolgehalt hin zu befragen und zu diesem Zweck auch theoretische Modelle, wie sie z.B. in der Sprach- oder Symboltheorie entwickelt wurden, für die Analyse nutzbar zu machen10. Die geringe Aufmerksamkeit, die das Geschichtsbewußtsein bislang in der argentinischen oder auch der Geschichtswissenschaft der meisten anderen hispanoamerikanischen Länder gefunden hat, drückt sich auch darin aus, daß sich bis heute nur wenige Arbeiten finden, die sich mit den unterschiedlichen Formen des Geschichtsbewußtseins, wie sie in den dortigen Gesellschaften anzutreffen sind, in der Form empirischer oder historisch-kritischer Untersuchungen beschäftigt hätten. Die Mehrzahl der vorhandenen Studien kann grob in zwei Gruppen unterschieden werden. Erstens handelt es sich um Analysen des Geschichtsverständnisses bzw. der Traditionen vor allem indianischer Bevölkerungsgruppen, wie es z.B. im andinen Raum der Fall ist. Diese Untersuchungen wurden in der Regel nicht von Historikern durchgeführt, sondern von Ethnologen, Soziologen oder auch Literaturwissenschaftlern. In methodischer Hinsicht sind sie mitunter nicht unproblematisch. Dies gilt zum einen hinsichtlich der methodischen Unwägbarkeiten, die generell mit den Befragungsver-

9 Wichtig in dieser Richtung bislang vor allem Vázquez de Knauth 1970. Stärker "ideologiekritisch" orientiert sind die Arbeiten des venezolanischen Historikers Carrera Damas 1968, 1973. 10 Vgl. etwa Goldman 1989; Imagen 1990.

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fahren der oral history verbunden sind und die im Fall der Aufarbeitung indianischer Traditionen durch den dabei auftretenden Kulturkonflikt zusätzlich an Bedeutung gewinnen können. Zum anderen ist einschränkend anzumerken, daß diese Arbeiten mitunter weniger dem kritisch-sozialwissenschaftlichen Interesse verpflichtet sind als vielmehr recht konkreten politischen Ansinnen. Die Aufarbeitung indianischer Traditionen stellt dann ein Mittel dar, um diese Bevölkerungsgruppen z.B. für die Durchsetzung politischer oder sozialer Zielsetzungen zu mobilisieren, wodurch Tendenzen zur historischen Mythenund Legendenbildung neuerlich befördert werden. Ein Beispiel hierfür bildet die "Wiederbelebung" der Legende des indianischen Kaziken Juan Tama bei den Paes-Indianern im kolumbianischen Cauca-Tal, die als Motivation wie auch als Legitimation dafür dient, Landbesitzrechte dieser Bevölkerungsgruppe gegenüber dem Staat geltend zu machen (vgl. Riekenberg 1990a, 121). In den Fällen, in denen sich zweitens die Historiker mit Fragen des Geschichtsbewußtseins beschäftigten, wandten sie ihr Augenmerk in erster Linie der Geschichte ihrer eigenen Disziplin und dem Verwissenschaftlichungsprozeß der Geschichtsschreibung zu. Die Qualität dieser Arbeiten fiel, mehr oder minder analog zu den unterschiedlichen Entwicklungsständen der Geschichtswissenschaft in den einzelnen hispanoamerikanischen Ländern, recht unterschiedlich aus. Ein klassisches Beispiel für diese Geschichten der Historiographie bildet die Studie des argentinischen Historikers Rómulo Carbia, die 1926 in der ersten Auflage erschien und die in der jüngeren Vergangenheit verschiedentlich nachempfunden und, auch unter einem politisch konträren Frageinteresse, fortgeführt wurde". Gemeinsam war der Mehrzahl dieser Arbeiten, daß sie ideengeschichtlich angelegt waren und ihr Frageinteresse vor allem den sprachlich elaborierten, mitunter ästhetisierten Formen der Geschichtsschreibung galt, wie sie von einer nur kleinen Bevölkerungsgruppe, nämlich den akademischen Eliten, hervorgebracht wurden. Die GeschichtsVorstellungen, die außerhalb der Historikergemeinschaften und von anderen sozio-kulturellen Gruppen oder Interessenverbänden hervorgebracht wurden bzw. eher alltagsweltlicher Art waren, wurden demgegenüber nahezu vollständig ignoriert. Wurde die politische Funktion der Geschichtsvorstellungen im Zuge der Nationbildung und des sozialen Wandlungsprozesses des Landes in der Geschichtswissenschaft thematisiert, so geschah dies vielfach selbst in politischer Absicht (vgl. Bottiglieri 1957, 93). Im Fall Argentiniens dokumentiert sich dies insbesondere anhand der sogenannten Revisionismusdebatte, die in häufig offen polemischer Form um die Bewertung der Politik der Caudillos des 19. Jahrhunderts geführt wurde, deren Kontroversen jedoch immer zugleich auch auf eine Bewertung der jeweils aktuellen politischen Auseinandersetzungen abzielten (vgl. Riekenberg 1993a). Kritischen Ansprüchen genügende Arbeiten jüngeren Datums, die sich explizit mit den politischen Funktionen des Geschichtsbe-

" Vgl. Tanzi 1976; Cuccorese 1975; Rama 1981; Giancllo 1951.

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wußtseins in der argentinischen Gesellschaft befassen würden, finden sich kaum. Dem Frageinteresse dieser Untersuchung am nächsten kommen die Beiträge von Diana Quattrocchi-Woisson (1987, 1992). Es ist möglich, daß auch politische Entwicklungen, wie z.B. die Errichtung unterschiedlicher Militärregierungen nach 1966 und die damit verbundenen hemmenden Einwirkungen auf die sozialwissenschaftliche Forschung, zur Erklärung dieses wenig befriedigenden Forschungsstands herangezogen werden müssen, sind solche politische Rahmenbedingungen doch einer kritischen Beschäftigung mit den in einer Gesellschaft herrschenden Geschichtsbildern nicht günstig. Die vorliegende Untersuchung gruppiert sich um eine Reihe von Fragestellungen und Hypothesen. Zwar stellt die Instrumentalisierung der Geschichte zum Zweck der Austragung politischer Interessengegensätze ein universales Phänomen dar, und einschränkend ist an dieser Stelle auch anzumerken, daß es bis heute an einer Gesamtdarstellung der hispanoamerikanischen Geschichtsschreibung fehlt (vgl. Pietschmann 1989, 308). Doch vor allem in der sozialbzw. politikwissenschaftlichen Literatur begegnet man verschiedentlich der Annahme, daß die politische Inanspruchnahme der Geschichte in Hispanoamerika generell von einer besonderen Intensität und Schärfe war. So schreibt etwa Hans-Jürgen Puhle, daß die politischen Systeme dort"[...] der Geschichte in größerem Umfang legitimatorische Funktionen zumuten als dies in Westeuropa oder den USA der Fall ist, vielleicht in einigen Fällen auch mehr als in anderen Regionen der 'Dritten Welt' [...], weil weder ihre machtpolitische noch ihre sozioökonomisch-technische Performance den Legitimationsbedarf deckt und weil vielfach auch ihre in politischer Hinsicht heroischen Epochen und gesellschaftlichen Glanzzeiten mehr in der Vergangenheit liegen als in der Gegenwart"12. Implizit ist damit eine zweite Hypothese verbunden: Weil der soziale Wandlungsprozeß in den hispanoamerikanischen Ländern in der Regel fragil und brüchig war und die Modernisierung mit neuen Formen der Marginalisierung oder auch sozio-kulturellen Regression einherging (vgl. Ribeiro 1983), wären die Geschichtsvorstellungen in erhöhtem Maße für politische Zwecke der Systemstabilisierung, des Konfliktmanagements oder der Verbrämung gesellschaftlicher Sachverhalte in Anspruch genommen worden. Das Geschichtsbewußtsein erscheint insoweit drittens als ein Element gesellschaftlicher Machtund Abhängigkeitsverhältnisse. Zwar beruht die Bedeutung von Symbolen auf sozialer Übereinkunft, doch die Interpretations- bzw. Definitionschancen, die einzelnen Menschen oder Gruppen bei den Prozessen symbolischer Bedeutungszuweisung an die gesellschaftliche Wirklichkeit eingeräumt werden, sind durch Machtverhältnisse vorstrukturiert und hierarchisch gegliedert. Die Macht- und Abhängigkeitsverhältnisse überformen die in einer Gesellschaft kursierenden

12 In: Riekenberg 1990a, 16. Es fügt sich dazu, daß der argentinische Historiker José Luis Romero (1987a, 13f) das Geschichtsbewußtsein in Argentinien pauschal als ein "militantes" Bewußtsein definierte.

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symbolischen Deutungs- und Orientierungsmuster und standardisieren sie sowohl hinsichtlich ihrer kommunikativen Funktionen wie auch in Bezug auf ihre "emotionalen" und "wertenden" Untertöne, wobei das Ausmaß, in dem dies der Fall ist, in den einzelnen sozio-kulturellen Räumen der Gesellschaft bzw. in ihren verschiedenen Schichten jeweils voneinander variieren kann (vgl. Elias 1989, 201). Diese allgemeinen Hypothesen werden im Zuge der Untersuchung zu prüfen sein. Die Fülle von Formen und gesellschaftlichen Bereichen, in denen das Geschichtsbewußtsein auftritt, macht es unumgänglich, den Gegenstandsbereich näher einzugrenzen. Zu diesem Zweck wird eine Unterscheidung in die im engeren Sinn alltagsweltlichen Formen des Geschichtsbewußtseins einerseits und die in der Sphäre der politischen Öffentlichkeit erzeugten Geschichtsvorstellungen andererseits vorgenommen. Die Öffentlichkeit ist hier in Anlehnung an Jürgen Habermas als ein sozialer Bereich definiert, der sich im Zuge gesellschaftspolitischer Wandlungs- und Modernisierungsprozesse seit ca. dem 18. Jahrhundert und zuerst im europäischen Raum auszubilden begann. Konstitutive Bestandteile dieses Prozesses waren die Entstehung eines modernen Staatswesens mit einer ständigen und kontinuierlichen Verwaltungstätigkeit, ferner die Ausdifferenzierung der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Beziehungen und insbesondere deren Auswirkungen auf die Struktur und den Fluß des Nachrichtenverkehrs bzw. der Kommunikationsnetze, sowie schließlich die Bildung neuer, bürgerlicher Gesellschaftsgruppen, die zur eigentlichen Trägergruppe einer kritischen Öffentlichkeit wurden. Die Entstehung einer "politisch fungierenden Öffentlichkeit" umfaßte neben der Ausbildung des staatlichen Bereichs der öffentlichen Gewalt den Prozeß des "Hineinwachsens eines räsonierenden Publikums in die Funktionen politischer Kontrolle". Idealtypische Formen der Institutionalisierung dieser Öffentlichkeit stellten vor allem das moderne Parlament sowie das vom Austausch der Privatkorrespondenzen sich abhebende, professionalisierte und gewerbsmäßig betriebene Pressewesen dar13. In Hispanoamerika bildete sich eine politische Öffentlichkeit in diesem Sinn mit der Entstehung eines städtischen Lesepublikums aus, das über den Bereich staatlicher bzw. kirchlicher Amtsträger hinausgriff und sich vom Typus des letrado colonial unterschied. Sie gruppierte sich um die Ausbildung des Zeitungswesens, wie dem "El Telégrafo Mercantil" am Rio de la Plata (1801-1802), und fand ihren institutionalisierten Ausdruck zunächst in den Clubs, dem Logenwesen oder den verschiedenen Patriotischen und Wirtschaftlichen Gesellschaften, die sich von dem kolonialen, religiös-rituell geprägten System der cofradías abhoben. Der Begriff des öffentlichen Geschichtsbewußtseins bezeichnet hier die Kommunikation von Geschichtsvorstellungen in der Sphäre der politischen

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Vgl. Habermas 1980, 28f, 76f; Hölscher 1979; Becher 1978. Eine erste Untersuchung zu diesem Thema in Argentinien findet sich bei Sabato 1992.

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Öffentlichkeit der Gesellschaft14. Unter dem Alltagsbewußtsein von Geschichte im engeren Sinn werden demgegenüber die Geschichtsvorstellungen verstanden, die eher privat als öffentlich rezipiert werden, wobei diese Unterscheidung, denken wir etwa an die Genese der Öffentlichkeit aus einem Diskurs raisonierender Privatleute heraus, zweifelsohne problematisch ist. Unabhängig davon ist diese Unterscheidung jedoch hier, sofern sie auf die Trennung zweier in der Tendenz verschiedener Umgangsweisen mit der Geschichte abzielt, in heuristischer Absicht nutzbringend, weil sie die Fragestellungen der Untersuchung einzugrenzen hilft. Denn indem der soziale Wandlungsprozeß in Anlehnung an die Arbeiten der politischen Entwicklungsforschung als eine Abfolge von unterschiedlichen Entwicklungsaufgaben verstanden wird, mit denen sich die Eliten in den einzelnen historischen Phasen konfrontiert sahen, erscheint es legitim, die Untersuchung auf die gesellschaftlichen Führungsgruppen zu konzentrieren, die den öffentlichen politischen Diskurs trugen und sich darin mit den Entwicklungsherausforderungen der Nationbildung und des sozialen Wandels der Gesellschaft auseinandersetzten15. Zwar kann der Prozeß der Nationbildung in Anbetracht einer solchen Eingrenzung des Frageinteresses zweifellos nicht umfassend betrachtet werden, weil offen bleibt, ob und in welchem Ausmaß die Bewußtseinsfiguren der politisch-sozialen Führungsgruppen etwa in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts auch andere Zonen und Schichten der Gesellschaft durchdrangen. Hier sind der Untersuchung aufgrund der Quellenlage Grenzen gesetzt. Aber der Umstand, daß schriftliche Selbstzeugnisse unterer Gesellschaftsgruppen vor allem im ländlichen Raum bis in das letzte Drittel des 19. Jahrhunderts hinein nicht oder allenfalls in rudimentärer Form vorliegen, weil die Schreibfähigkeit dieser Bevölkerungsgruppen noch nicht entwickelt war oder weil schriftliche Überlieferungen in diesen Gesellschaftskreisen nur einen geringeren kulturellen Nutzwert besaßen, ist auch als ein Hinweis auf die Existenz zwar fließender, aber gegebener sozialer Grenzen des Nationbildungsprozesses zu werten. Auch unter diesem Blickwinkel entpuppt sich der Nationbildungsprozeß in der kreolischen Gesellschaft als ein hegemoniales Unterfangen. Darüber, wie sich das Geschichtsbewußtsein zwischen Kontinuität und Wandel verhält, wissen wir wenig. Bewußtseinsstrukturen, so Jürgen Habermas, "entstehen" (Habermas 1976, 326), d.h. sie können nicht im eigentlichen Sinn erzählt werden, sondern bedürfen zu ihrer Beschreibung und Erklärung eines theoretischen Erklärungsgerüsts, das uns eine Idee darüber vermittelt, wie solche Entwicklungen und Veränderungen sich vollziehen können. Offenbar gibt es dabei Elemente der Geschichtsvorstellungen, die ihre Konsistenz erhärten, und die vor allem in den habituellen Komponenten des Geschichtsbewußtseins zu

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Vgl. Faber 1977; Bach 1977. Mit Erfolg hat Hans-Joachim König (1988b) diesen Ansatz auf die Analyse des Nationbildungsprozesses in Neu-Granada angewendet. 11

20 suchen sind, die ihrerseits darüber entscheiden, an welchen Erinnerungen die Menschen bzw. einzelne sozio-kulturelle Trägergruppen "Gefallen" (Le Goff 1992, 167f) finden und an welchen nicht. Bei diesen habituellen Komponenten handelt es sich um erlernte, unterschwellige Dispositionen und Schemata, die die Wahrnehmung und das Denken vorstrukturieren, und die eine vorreflexive Orientierungsmatrix darstellen, mit deren Hilfe sich die Menschen in ihrer gesellschaftlichen Wirklichkeit zurechtfinden. Diese habituellen Komponenten, die sich in der Form von Neigungen, Vorlieben oder Grundüberzeugungen äußern, sind, so Pierre Bourdieu, träge, d.h. sie verhalten sich gegenüber Krisen, bruchhaften Erfahrungen und kritischen Infragestellungen vergleichsweise resistent16. Diese Problematik ist möglicherweise im hispanoamerikanischen Raum wiederum von besonderer Bedeutung: Gerade in Bezug auf Hispanoamerika bestehe der Verdacht, so Hans-Jürgen Puhle, daß dort stereotype Vorstellungsmuster " [ . . . ] noch zusätzlich ins Gewicht fallen können in einem breiteren Zusammenhang traditionaler Einstellungen, Mentalitäten und Haltungen, die im Ganzen auch als bremsende und retardierende Faktoren in den Modernisierungs- und Entwicklungsprozessen der [dortigen] Gesellschaften wirken." (In Riekenberg 1990a, 13). Ähnlich spricht Hugo Mansilla (1989, 371) von der den sozialen Wandel hemmenden Rolle des "Langzeitgedächtnisses" hispanoamerikanischer Gesellschaften. Ungeachtet ihrer Trägkeit ändern sich jedoch im Zuge gesellschaftlicher Entwicklungsprozesse auch die habituellen Komponenten selbst. Fragen wir nach Erklärungsmodellen über die Habitusentwicklung und, worum es hier j a geht, deren Einfluß auf die Formung des Geschichtsbewußtseins, so finden sich die nach wie vor hilfreichsten Erklärungsansätze dazu bei Max Weber, der die abendländische Geschichte als eine Geschichte der Rationalisierung beschreibt, sowie bei Norbert Elias. Elias argumentiert, grob skizziert, daß in dem Maße, in dem die Gesellschaften sich im Zuge sozialer Wandlungsprozesse als zunehmend komplexe, ausdifferenzierte und arbeitsteilig organisierte Gebilde konsolidieren, auch die gesellschaftlichen Verhaltenszwänge, die auf den Menschen lasten, und die Abhängigkeiten, die diese untereinander ausüben, an Intensität zunehmen. Dies führe dazu, daß die Menschen in steigendem Maße dazu gezwungen würden, ihre Affekte und Emotionen zu zensieren sowie ihr Verhalten an den wachsenden sozialen Zwängen untereinander auszurichten, es über die gestiegene Komplexität des Gesellschaftsaufbaus hinweg zu bedenken und unbeherrschte Eingebungen und spontante Impulse schärfer und gleichmäßiger zu disziplinieren17. Dieser Prozeß der zunehmenden Regulierung der Standards der Affekt- und Verhaltenskontrolle, in dessen Verlauf Emotionen, Neigungen und Vorlieben zugleich kontrolliert wie auch kultiviert werden, wird

Vgl. Bourdieu 1974; Bohn 1991, 32ff. Vgl. Elias 1977, 1979, 1983. Zur näheren Diskussion wie auch Kritik dieser Theorie vgl. die beiden von Gleichmann u.a. herausgegebenen Bände (1979, 1988). 16 17

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hier als der soziale Bereich definiert, in dem sich die Habitusentwicklung primär abspielt18. Daß die Entwicklung der modernen Wissenschaften von diesen Prozessen nicht zu trennen ist, hat neben anderen Wolf Lepenies (1978) erläutert. Speziell für die Analyse des Geschichtsbewußtseins interessant sind die wissenssoziologischen bzw. lerntheoretischen Implikationen der Theorie von Elias. Diese lassen sich in der Frage zusammenfassen, wie die tiefe Affektgebundenheit und der ursprünglich massive Phantasiegehalt des menschlichen Wissens im Zuge der gesellschaftlichen Entwicklungsprozesse und des damit verbundenen Erreichens unterschiedlicher Distanzierungsniveaus, so etwa konkret im Verhältnis des Erzählers der Geschichte zu seinem Gegenstand, zunehmend neutralisiert und versachlicht wurden (vgl. Gleichmann 1988, 455). Im einzelnen berührt diese Frage, auf unser Thema bezogen, den Institutionalisierungs- und Professionalisierungsprozeß der Geschichtswissenschaft und die damit verbundene Verregelung des Kommunikationsverhaltens der Historiker untereinander, dann das Distanzierungsniveau, das in den einzelnen Geschichtserzählungen gegenüber dem erzählten Geschehen eingenommen wird, sowie schließlich das "Wirklichkeitsbewußtsein" (Pandel 1987,134), d.h. die jeweilige Grenzziehung zwischen dem, was als real bzw. als fiktiv in einer Gesellschaft betrachtet wird. Die habituellen Komponenten haben insofern Anteil an der Entscheidung darüber, welche Umgangsweisen mit der Geschichte überhaupt in einer Gesellschaft als orientierungsfähige Form der Geschichtsbetrachtung soziale Akzeptanz finden können, d.h. wo die Trennung zwischen "Geschichte" und "Fiktion" jeweils verläuft19. Die Frage nach den habituellen Komponenten des Geschichtsbewußtseins behandelt primär die Faktoren, die den Geschichtsvorstellungen Konsistenz und Dauerhaftigkeit verleihen. Betrachten wir umgekehrt die Frage, welche Faktoren die Veränderung von Bewußtseinsstrukturen anzuregen vermögen, so begegnen wir bei einem Überblick über die Theoriediskussion vor allem dem Konzept der Krise. Eine nähere Betrachtung des sozialwissenschaftlichen Krisentheorems zeigt, daß es in starkem Maße von Aussagen und Erklärungssätzen der Individualpsychologie geprägt wurde; besonders zu nennen ist in diesem Zusammenhang die Konzeption von Erik H. Erikson (1979), der sich mit Fragen der individuellen Identitätsbildung beschäftigte20. Dem Krisentheorem liegt die Annahme zugrunde, daß gesellschaftspolitische Umbruchphasen überlieferte sozio-kulturelle Deutungsmuster dysfunktional werden lassen und die Ausbildung neuer Orientierungen und Vorstellungen über den sozialen Wandlungsprozeß notwendig machen. Krisen werden dabei allgemein verstanden als "[...]

" An anderer Stelle habe ich versucht, die Eliassche Theorie auf die Analyse einer lateinamerikanischen Gesellschaftsgeschichte anzuwenden (Riekenberg 1990b). 19 Zur Problematik dieser Unterscheidung vgl. die Beiträge von RQsen und Jauss (in: Koselleck 1982). 20 Vgl. Wehler 1971, 20f; Iwand 1985, 76.

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Prozesse, die durch Störungen des vorherigen Funktionieren politisch-sozialer Systeme entstehen und dadurch gekennzeichnet sind, daß die systemspezifischen Steuerungskapazitäten nicht mehr ausreichen, sie zu überwinden, bzw. nicht mehr zur Anwendung gebracht werden" (Vierhaus 1978, 328f). GeschichtsVorstellungen werden, wie die politische Symbolik generell, in solchen Konstellationen, so die Hypothese, gesellschaftlich wichtig: "Der erste Schritt in der Überwindung der Krise besteht fast immer darin, daß eine Situation der 'unorganisierten Unsicherheit' übergeführt wird in eine Situation der 'organisierten Unsicherheit'; dies geschieht mit Hilfe von Symbolen: Metaphern, begriffliche Polaritäten, emotional appellative Wortprägungen, Fahnen und Spruchbänder, Prozessionen und andere Riten organisieren eine neue politische Einheit wenigstens 'im Geiste', wenn schon die bisherige Sozialorganisation zerbrochen oder jedenfalls unübersichtlich geworden ist" (Bühl 1988, 195). Eine Aussage darüber, in welcher Richtung die Veränderung sozio-kultureller Orientierungsmuster bzw. die der historisch-politischen Symbolik in solchen Krisenkonstellationen angestoßen wird, beinhaltet diese Hypothese jedoch noch nicht. Zumindest aus der Vorurteilsforschung ist bekannt, daß gerade die beschleunigten Modernisierungsprozesse der Gesellschaften und die damit verbundene, zunehmende Komplexität der sozialen Wirklichkeit den "[...] Bedarf der Gesellschaftsmitglieder an schlüssigen, harmonisierenden und entlastenden Symbolen und Ritualen anschwellen läßt" (Edelman 1976, X), was der historischen Mythen- und Legendenbildung entgegenkommen mag. Insbesondere der Stereotypenbildung kommt dabei die Funktion zu, uneindeutige bzw. unüberschaubar gewordene Situationen der Alltagswirklichkeit zu strukturieren und im Rückgriff auf hergebrachte Bilder und Erklärungsmuster verständlich zu machen (vgl. Einwanderung 1985, 85f). Soziale Krisensituationen müssen in diesem Sinn nicht zu einer Veränderung der Geschichtsvorstellungen oder anderer sozio-kultureller Deutungs- und Orientierungsmuster in Richtung einer höheren Wirklichkeitskongruenz führen, sondern können umgekehrt auch Regressionsprozesse bzw. die damit verbundene Aktualisierung und Verhärtung überkommener, traditionaler Anschauungsweisen bewirken. Die vorliegende Arbeit bezieht sich auf das Gebiet des heutigen Argentinien. Die Untersuchung umfaßt etwa den Zeitraum von 1810 bis 1916, d.h. sie setzt mit der Unabhängigkeitskrise ein und verfolgt die gesellschaftspolitische Funktion der Geschichtsvorstellungen im Prozeß der sogenannten Nationalen Organisation Argentiniens, der gemeinhin mit der Föderalisierung der Stadt Buenos Aires im Jahr 1880 in institutioneller Hinsicht als abgeschlossen gilt, um daran anschließend auf die beschleunigten sozialen Wandlungsprozesse des Landes gegen Ende des 19. Jahrhunderts und deren Folgewirkungen für das Verhältnis von Geschichte und Gesellschaft einzugehen. Dieser Periodisierung liegt die Annahme zugrunde, daß sich grob zwei unterschiedliche Krisenkonstellationen in der Entwicklung der Region im 19. und frühen 20. Jahrhundert nachweisen lassen. Die erste war zuerst politischer Art und beruhte auf dem Bruch der kreolischen Gesellschaft mit Spanien und den mit dem poli-

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tischen Projekt der Staats- und Nationbildung verbundenen Entwicklungsproblemen, während die zweite in erster Linie ein Produkt der sozialen Wandlungsprozesse des Landes darstellte, die gegen Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts neue gesellschaftliche Ordnungs- und politische Regulierungsprobleme aufwarfen und konkret auch der Frage nach der Identität der argentinischen Nation eine neue Aktualität verliehen (vgl. Eisenstadt 1979, 72). Der Kontinuität bzw. dem Wandel des Geschichtsbewußtseins, seiner gesellschaftspolitischen Funktion und schließlich der "Richtung", in die sich die Geschichtsvorstellungen in den Krisen- und Umbruchphasen im 19. und frühen 20. Jahrhundert jeweils entwickelten, soll in dieser Untersuchung nachgegangen werden. Die zeitliche Eingrenzung der Arbeit besitzt dabei, wie alle Periodisierungen, ihre Tücken. Zwar ist es, wenngleich auch die Unabhängigkeitsbewegung ihre Vorgeschichte besaß, schnell begründbar, die Untersuchung um 1810 einsetzen zu lassen. Sehr viel weniger plausibel ist es jedoch, den Zeitraum um 1916 als eine Zäsur im Entwicklungsprozeß Argentiniens anzusehen. Zwar dokumentierte der Regierungsantritt der Radikalen Partei im Jahr 1916, daß eine Entwicklungsphase Argentiniens an ihr Ende gekommen war21, aber konkret die politisch-soziale Krisenkonstellation des Landes war dadurch allenfalls vorübergehend gelöst und zog sich, nach einer Phase der Beruhigung in den zwanziger Jahren, mit den ihr eigenen Entwicklungs- und Integrationsproblemen im Grunde in die dreißiger und vierziger Jahre des 20. Jahrhunderts hinein fort. Der Abschluß der Untersuchung um etwa 1916 herum beruht insofern auf der Überlegung, daß mit den Zentenarfeiern des Jahres die Diskussion der Geschichte in der politischen Öffentlichkeit und der damit verbundene Versuch, die historische Symbolik an die sozialen Wandlungsprozesse des Landes anzugleichen, vorerst ihren Höhepunkt überschritten, ohne daß damit eine Epochengrenze behauptet werden soll, die in der Tat fragwürdig wäre. Die Auswahl der Quellen orientierte sich an der Maßgabe, das in der politischen Öffentlichkeit diskutierte Geschichtsbewußtsein zu untersuchen. Dazu dienten neben der Geschichtsschreibung vor allem die Kultur- und Tageszeitungen, die politischen Reden und Parlamentsdebatten sowie die politischen Proklamationen. Darin wurden historische Bilder, Verweise oder Erzählungen, und sei es auch nur in der Form von Versatzstücken und Argumentationssplittem, benutzt, um durch die Einführung historischer Beispiele, die Konstruktion von Analogien, die Inanspruchnahme von in die Gegenwart einmündenden Trends oder aber die Behauptung von historischen Sinnzusammenhängen die Geschichte als Argument im Sinn der unterschiedlichen

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Quattrochi-Woisson (1992) behandelt den Zeitraum von 1916 bis 1955 und schließt insofern in zeitlicher Hinsicht an diese Untersuchung an. Die Autorin begründet den Beginn ihrer Untersuchung im Jahr 1916 damit, daß dem politischen Machtantritt der Radikalen in der Geschichtsbetrachtung eine Hinwendung zum Revisionismus entsprochen hätte (10, 76). Vgl. zu dieser Arbeit auch meine Rezension in "Neue Politische Literatur", 1994.

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politischen Interessenlagen zu verwerten. Hinzuweisen bleibt abschließend darauf, daß die zitierten Quellentexte überwiegend in der spanischen Fassung wiedergegeben werden. Da in der Analyse der Geschichtsvorstellungen die jeweils verwendete Begrifflichkeit von großer Bedeutung ist, schien es notwendig, die Zeitgenossen im Originalton zur Sprache kommen zu lassen, um Fehlerquellen auszuschließen22.

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Bei den Editionen von Quellentexten handelt es sich in der Regel bereits um Fassungen, die an die moderne spanische Schreibweise angeglichen sind.

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II. Kategoriale Elemente des Nationbegriffs im La Plata-Raum nach 1810 1. Desintegration und regionale Interessendivergenzen Die hispanoamerikanische Unabhängigkeitsbewegung des frühen 19. Jahrhunderts führte nicht allein zur Ausbildung neuer Staaten im südlichen und mittleren Amerika, sondern stellte zugleich eine Phase in einem umfassenden Prozeß politischer Desintegration dar. Indem die von der spanischen Krone kontrollierten und seit den bourbonischen Reformen zunehmend zentralistisch organisierten Verwaltungsstrukturen zerstört oder geschwächt wurden und die traditional gültige Form zentralstaatlicher Regierung ihre Legitimation verlor, legte die Unabhängigkeitsbewegung die bis dahin latenten, dezentralisierend wirkenden und regional oder lokal geprägten Machtstrukturen innerhalb der Region frei1. Daraus erwuchs ein Trend zur inneren politischen Zersetzung, zumindest Destabilisierung der Region, der die Geschichte der meisten hispanoamerikanischen Staaten über weite Strecken des 19. Jahrhunderts maßgeblich beeinflußte. Die Faktoren, die den politischen Desintegrationsprozeß in Hispanoamerika nach 1810 begünstigten, waren vielfältig. Teilweise handelte es sich um bereits in der Kolonialzeit angelegte Trends zum Partikularismus, die durch die naturräumlichen und siedlungsgeographischen Faktoren, die administrativen Strukturen und die nur losen wirtschaftlichen Beziehungen der einzelnen Teilregionen untereinander genährt wurden2. Daneben entstanden neue Desintegrationsfaktoren im Verlauf der Unabhängigkeitsbewegung, die, sehen wir von Mexiko ab, ihre Impulse von lokalen Eliten in voneinander isolierten, städtischen Räumen bezog, sowie in der Phase der daran sich anschließenden Bürgerkriege, die eine Verschiebung der gesellschaftlichen Machtpotentiale in den ländlichen Raum begünstigten und dadurch zugleich das politische Gewicht semi-autonomer Herrschaftsgebilde im Landesinnern potenzierten. Vielfach führte dies zum Aufstieg ziviler und militärischer Caudillos, die sich auf ein in der Regel regionales Netz von Klientel- und Patronagebeziehungen stützen konnten (vgl. Lynch 1987). In einer grundlegenden Arbeit, die 1939 erstmals erschien, hat sich Ricardo Zorraquín Becú (19S8) mit dem Problem des politischen Regionalismus im La Plata-Raum befaßt. Der Autor setzte an den siedlungsgeographischen Besonderheiten des späteren Argentinien an, das in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts aus dem peruanischen bzw. chilenischen Raum heraus und entlang der Flußläufe in nordwestlicher Richtung besiedelt wurde (vgl. Zapata 1978, 73). Die Abgeschiedenheit der kolonialen Städte wie ihre defizitären Wirtschafts- und

1

Zum Stand der Forschung vgl. Navarro Garcia 1989. Zur Desintegration des spanischen Kolonialreichs in Amerika nach der Unabhängigkeit vgl. Halperin Donghi 1981, 79f; 1985a; Wolff 1969; Lynch 1973. Zum Intendantensystem vgl. Pietschmann 1972. 2 Vgl. Buisson/Schottelius 1980, 112; Pietschmann 1980, 65.

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Kommunikationsbeziehungen untereinander hätten dazu geführt, daß die Städte im Landesinnern die Vorherrschaft über die sie jeweils umgebenden ländlichen Räume und entsprechend "autarke" Machtpositionen gewonnen hätten. Aus diesem Typus der Stadtkolonisation (der im übrigen für den gesamten hispanoamerikanischen Raum charakteristisch war) erkläre sich zunächst eine ausgeprägte Tendenz zum städtischen "Lokalismus", in der sich auch altspanische Traditionen zur Geltung gebracht hätten, sowie die Genese der späteren provinzialen Eigeninteressen. Zu einem genuin politischen Problem wäre diese Konstellation jedoch erst in dem Maße geworden, wie die Regierungen in Buenos Aires zuerst nach der Errichtung des Vizekönigreichs Río de la Plata im Jahr 1776 und dann im Gefolge der Unabhängigkeitsbewegung nach 1810 versuchten, diese lokalen Machtgefüge unter ihre Kontrolle zu bringen. Wirtschaftliche Interessengegensätze zwischen Buenos Aires, das den Freihandel favorisierte, und den Provinzen im Landesinnern, deren Gewerbe von dem protektionistischen Zollwesen profitierte, wie auch kulturelle Entwicklungsunterschiede hätten eine politische Verständigung zwischen den einzelnen Provinzen nach 1810 zusätzlich erschwert. Der Versuch der revolutionären junta in Buenos Aires, im Zuge der Unabhängigkeitsbewegung ein zentralisiertes Staatsgebilde aufrechtzuerhalten, das nur den partialen Interessen dieser Provinz zu dienen schien und dessen revolutionärer Anstrich den sozio-kulturellen Verhältnissen und Traditionen der agrarischen Gesellschaften im Landesinnern überdies fremd war, hätte vor diesem Hintergrund zu dem offenen Ausbruch der regionalen Interessenkonflikte geführt. Obwohl die Studie von Zorraquín Becú die wirtschaftlichen Interessengegensätze in der Region in ihre Betrachtung einbezog und aus diesem Grund gegenüber älteren, institutionengeschichtlichen Interpretationen, die den Konflikt zwischen den verschiedenen Provinzen als natürliches Produkt der kolonialen Verwaltungsuntergliederungen interpretierten, einen beträchtlichen Fortschritt darstellte, haben neuere Untersuchungen dieses Bild teils modifiziert, teils ergänzt. Dies gilt zunächst für stärker sozialgeschichtlich orientierte Fragestellungen, die auf die Bedeutung lokaler Klientel- und Patronagebeziehungen im Prozeß der politischen Desintegration der Region hinwiesen (vgl. Halperin Donghi 1972). Femer betrifft es die Analyse der wirtschaftlichen Entwicklungen selbst. So argumentiert José Carlos Chiaramonte (1983, 61, 82), daß die Handelsbeziehungen zwischen den einzelnen Städten und ihren ländlichen Umfeldern nicht in dem Maße lose waren, wie Zorraquín Becú vermutete, und sieht gerade in dem merkantil-kommerziellen Charakter der "Provinzbourgeoisien" den Kern ihres "regionalen Partikularismus" angelegt. Schärfer betont wird auch die Divergenz der wirtschaftlichen Entwicklungsprozesse. Von besonderer Bedeutung war dabei die Verschiebung des Wirtschaftsraums, die sich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts abzuzeichnen begann. Hatte die wirtschaftliche Prosperität der Region bis dahin von der Versorgung der Märkte in HochPeru abgehangen und sich aus diesem Grund, was die Ressourcennutzung wie auch die Siedlungsstruktur betraf, um eine Nord-West-Achse gruppiert, die von

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Buenos Aires nach Potosí reichte, so verlagerte sie sich nach ca. 1750 in die atlantischen Regionen, also die Provinz Buenos Aires und das litoral, d.h. das Rußdreieck zwischen dem Río Paraná, dem Rio Uruguay und dem Rio de la Plata, sowie in die dort betriebene, exportorientierte Viehwirtschaft. Die Einrichtung des Vizekönigreichs 1776 und die darin betriebene Liberalisierung des Handels wie die Unabhängigkeitsbewegung, die die traditionellen Handelsbeziehungen in den hochperuanischen Raum kappte, beschleunigten diesen Prozeß. Buenos Aires, bis dahin ein "Appendix" (Cortés Conde 1979, 30) des dortigen Minenwesens, wurde im Zuge dieser wirtschaftsräumlichen Achsenverschiebung endgültig zu dem Entwicklungszentrum im La Plata-Gebiet (vgl. Garavaglia 1985). Die Provinzen im Andenraum wurden umgekehrt in eine tiefe Krise gestürzt, von der sie sich im Grunde erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu erholen vermochten, sofern sie über neue Produkte, wie etwa den Zucker in der Provinz Tucumán (Santamaría 1986), einen Zugang zum Weltmarkt oder zu dem allmählich entstehenden Binnenmarkt Argentiniens fanden. Auch auf der Atlantikseite der Region verlief die Entwicklung jedoch keinesfalls gleichförmig, zumindest nicht in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Vor allem die Bürgerkriege, die sich nach 1813 über diesen Raum ausbreiteten, führten dazu, daß einzelne Provinzen, wie etwa Santa Fe, verarmten, während andere, wie etwa Corrientes, ihren Wohlstand und auch ihr politisches Gewicht nur mühsam zu erhalten vermochten, und wieder andere, wie Entre Ríos, nach dem Abschluß einer politisch-militärischen Konsolidierungsphase zu wachsendem Reichtum gelangten. Der große Gewinner dieser Entwicklungen aber war in jedem Fall Buenos Aires, das von den Bürgerkriegen weitgehend verschont blieb und aus den Zerstörungen in der Landwirtschaft und der Vernichtung der Viehbestände in den benachbarten Provinzen neue Gewinne zog. Dabei kam es jedoch auch innerhalb der wirtschaftlichen Führungsgruppen der Provinz Buenos Aires zu unterschiedlichen Interessenkonstellationen, die sich überdies im Zuge der Entwicklungen um und nach 1810 jeweils wandeln konnten (vgl. Zorraquin Becú 1961). Dies galt zunächst für die Händler, die die traditionelle Elite der Stadt bildeten, die jedoch untereinander hierarchisiert waren und abhängig von ihrer Stellung innerhalb der Vermarktungsketten besondere Gruppeninteressen verfolgen konnten3, und die überdies durch das Eindringen englischen Handelskapitals im frühen 19. Jahrhundert beträchtlich geschwächt wurden. Ihren sozialen und politischen Einfluß konnten in dieser Situation nur die Händler wahren, die kapitalkräftig genug waren, um in den Landerwerb und die gewinnbringende Viehwirtschaft Geld zu investieren. Die Struktur der bonaerensischen Elite änderte sich im Zuge dieser Prozesse. Hatten gegen Ende des 18. Jahrhunderts noch, sehen wir von den hohen Beamten und Dienstleistungsgruppen ab, weitgehend die Händler den gewichtigsten Einfluß in der Stadt ausgeübt,

}

Vgl. Socolow 1978, 108f. Institutionengeschichtlich die Arbeit von Tjarks 1962.

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während es sich bei den Grundbesitzern um eher randständige Gruppen gehandelt hatte, so bildete sich seit der ersten Dekade des 19. Jahrhunderts zunehmend der Typ des estanciero-comerciante als die gesellschaftlich mächtigste Figur aus. Betroffen von dieser Expansion der Viehbesitzungen (estancias) und der ihr angeschlossenen Verarbeitungsunternehmen (saladero) und Handelsfirmen waren auch die Teile der traditionellen Führungsgruppen, die eine stärkere Streuung der ländlichen Besitzverhältnisse sowie eine Diversifikation der Agrarproduktion befürworteten (vgl. Scobie 1971, 17f, 76f). Die Zollpolitik, die die Provinzregierung betrieb, orientierte sich vor diesem Hintergrund in erster Linie an den Exportinteressen der Viehwirtschaft und geriet dadurch zugleich zu einem der wichtigsten Konfliktpotentiale in der Region. Denn nicht allein, daß sie dem einheimischen Manufakturwesen und auch den Agrarproduzenten keinen hinreichenden Schutz vor europäischen Importen bot; wichtiger war vielmehr noch der Umstand, daß die Stadt Buenos Aires, weil über ihren Hafen weitgehend der gesamte Außenhandel der Region abgewickelt wurde, dadurch auch die Möglichkeit besaß, letztendlich die wirtschaftlichen Entwicklungschancen der einzelnen Provinzen im Landesinnern zu steuern und zu kontrollieren4. Diese Strukturen sowie die Interessengegensätze, die mit den divergierenden wirtschaftlichen Entwicklungen verbunden waren, stellten den wohl wichtigsten Nährboden für die interprovinzialen Konflikte dar, die die politische Geschichte des La Plata-Raums über die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts hinausgehend beherrschten. Die Konsolidierung der nach 1810 neugeschaffenen Staaten und die Neutralisierung der politischen Desintegrationstendenzen in ihrem Innern gestaltete sich in den einzelnen Regionen Hispanoamerikas unterschiedlich, stellte jedoch einen in der Regel mühseligen und nicht immer erfolgreichen Prozeß dar. Während z.B. in Chile der vergleichsweise geschlossene Charakter der vielfach in sich verschwägerten weißen Oberschicht dazu beitrug, Staat und Gesellschaft im 19. Jahrhundert eine größere Stabilität zu verleihen, und während in anderen Regionen, wie in Bolivien, caudillistische Führergestalten die territoriale Integrität des Staatsgebietes wahrten, brachten sich die Interessen regionaler oder auch lokaler gesellschaftspolitischer Kräftegruppen mit besonderer Schärfe im zentralamerikanischen und nordandinen Raum sowie in der La Plata-Region zur Geltung. Die politischen Desintegrationsbestrebungen fanden in diesen Regionen erst in dem Maße ihren Abschluß, wie der Versuch regionaler Eliten zur politischen Hegemonisierung der Gesellschaft erfolgreich war. Konkret im Gebiet des späteren Argentinien konnte die Bildung von Staat und (in politischinstitutioneller Hinsicht) "Nation" erst in dem Maße durchgesetzt werden, wie die von einem regionalen Kräftezentrum, nämlich der Provinz Buenos Aires, verfolgten Entwicklungsstrategien sich als die Handlungsmuster erwiesen, die die größte Passung zu einer gegenüber dem 18. Jahrhundert geänderten Welt-

4

Vgl. frühzeitig dazu Alvarez 1914, 118f. Femer Chiaramonte 1971, 12ff.

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marktstruktur aufwiesen, und alternative Entwicklungskonzepte "nach außen", wie sie z.B. die andinen Provinzen über Chile und den Pazifikraum versuchten, scheiterten. Die Führungsgruppen im Landesinnern bzw. im litoral wurden dadurch zu der Akzeptanz einer Form der "nationalen Lösung" gebracht, die auf einer Hierarchisierung der einzelnen Regionen und ihrer jeweiligen Interessenlagen beruhte, die jedoch insofern als inter-provinzial und in diesem Sinn gesamtgesellschaftlich sinnvoll und nutzbringend erschien, wie sie die vergleichsweise größten Entwicklungsperspektiven für den gesamten Wirtschaftsraum zu versprechen schien. Die weitgehende Kontrolle, die Buenos Aires über die Außenhandelsbeziehungen der Region und die damit verbundenen Einkünfte ausübte, stellte dabei eine maßgebliche Voraussetzung dafür dar, daß nach der Jahrhundertmitte, als der Weltmarkt der einheimischen Agrarproduktion neue Entwicklungsperspektiven eröffnete und der Staat zunehmend die Funktion eines Trägers "nachholender Entwicklung" (Senghaas 1982, 57) wahrnahm, das sogenannte Projekt der nationalen Organisation Argentiniens über die politischen Regionalismen zu triumphieren vermochte. Zunächst die Loslösung von Spanien, dann der politische Desintegrationsprozeß im Gebiet des vormaligen Vizekönigreichs konfrontierten die politischen Führungsgruppen der Region mit der Notwendigkeit, Vorstellungen zu entwickeln und in Begriffen zu fassen, die den jeweils angestrebten gesellschaftspolitischen Entwicklungs- und Kohäsionsprozessen dienlich waren. Das gedankliche Konstrukt, das dazu verwendet wurde, bildete der Begriff der Nation. Angesichts der Schwäche ökonomischer bzw. allgemein sozialer Verflechtungen zwischen den einzelnen Landesteilen, ferner in Anbetracht der geringen vertikalen Integration der unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen bzw. sozialen Schichten und schließlich auch aufgrund der kulturellen Homogenität der politischen Eliten, die in allen Teilen des hispanoamerikanischen Raums mehr oder minder spanischen Ursprungs waren, gestaltete sich die Ausbildung eines nationalen Selbstverständnisses als ein komplizierter Vorgang. Erst allmählich vermochten es die Eliten, ein teils vages, teils ambivalentes Vorstellungsgeflecht zu entwickeln, das aus notwendigen politischen Abgrenzungen und wünschenswerten symbolhaften Integrationsleistungen in Bezug auf die eigene, "nationale" Gemeinschaft bestand. Dieser Prozeß war weder kontinuierlich noch homogen, sondern von politischen Rivalitäten beherrscht, von Brüchen durchzogen und von Enttäuschungen begleitet. Es sei, so die bonaerensische Zeitung "El Censor" am 14. März 1816, der Beachtung wert, daß man auch sechs Jahre nach der Revolution noch immer nicht wisse, "wer und was" man sei, daß es noch immer keine Verfassung gäbe, von der her man das politische und soziale Dasein bestimmen könne, und daß man nach wie vor, auch wenn das Gegenteil behauptet würde, das eigene "Land" nicht kennen würde. Die Frage, welches Verständnis von Nation die kreolischen Führungsgruppen im La Plata-Gebiet um und nach 1810 entwickelten, kann auf zumindest zwei Weisen beantwortet werden. Einmal ist es möglich, zu analysieren, worauf, d.h. auf welches territoriale oder politische Gebilde sich der Nationbegriff bezog.

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Chiaramonte (1989, 71) nennt in diesem Zusammenhang drei Formen eines nationalen Selbstverständnisses, die sich in der Region am Rio de la Plata nach 1810 ausbildeten und die untereinander in Konkurrenz standen, nämlich den Amerikagedanken, die provinziale Identität und schließlich die Vorstellung einer argentinischen oder rioplatensischen Nation. Er beschreibt ferner eine Phasenfolge hinsichtlich der Entwicklung des nationalen Selbstverständnisses. Im öffentlichen politischen Diskurs nach 1810 habe zunächst der Gedanke einer amerikanischen Identität überwogen, ehe sich in den zwanziger Jahren zunehmend ein provinziales Selbstverständnis ausgebildet habe, bis sich schließlich im Zeitraum nach 1852 das Bild einer argentinischen Nation zu entfalten und zu konsolidieren vermochte. Obwohl durch die Analyse provinzialer Verfassungstexte belegt, läßt diese Darstellung Fragen offen. Um die vielleicht wichtigste zu nennen: Stellte der gesellschaftspolitische Entwicklungsprozeß der Region zwischen 1810/20 und 18S2 nur oder primär einen Prozeß der Auflösung der Region in voneinander unabhängige, selbständige und eine eigenständige nationale Identität beanspruchende Provinzstaaten dar, wie Chiaramonte es behauptet? Oder vollzogen sich in der Vorstellungswelt der kreolischen Eliten nicht auch homogenisierende Entwicklungen, die das politische Projekt der nationalen Organisation, das nach der Jahrhundertmitte betrieben wurde, in legitimatorischer Hinsicht vorbereiteten und insofern auch mittelbar erst ermöglichten? Einen Aufschluß darüber läßt eine Analyse der Faktoren zu, die im zeitgenössischen Denken als nationbildend interpretiert wurden. Unter dieser Fragestellung ist es möglich, wiederum drei Typen des Nationgedankens zu unterscheiden, wobei auch diese Untergliederung, wie alle Versuche einer historischen Typologisierung, ungenau ist und nur als eine mehr oder minder grobe Orientierungshilfe fungiert. Es handelt sich dabei um den politischen bzw. staatsbürgerlichen, den naturalistischen oder organischen sowie den romantisierenden Nationbegriff. Jeder dieser drei Typen einer "nationalen" Selbstinterpretation kann ferner wiederum bestimmten gesellschaftspolitischen Entwicklungsphasen der kreolischen Gesellschaft im La Plata-Gebiet in dem Zeitraum nach 1810 bzw. den darin sich zur Geltung bringenden politischen Interessenkonstellationen zugeordnet werden. 2. Zur Genese des kreolischen NationbegrifTs Indem im hispanoamerikanischen Raum die Staatsgründungen den Nationbildungsprozessen vorgängig waren, fehlte den kreolischen Eliten der Region (wie im übrigen auch den amerikanischen Repräsentanten in Cadiz3) anfänglich die deutliche Vorstellung einer eigenen, von Spanien getrennten Nation. Die Erklärungen der revolutionären junta in Buenos Aires waren, was die Vor-

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Varela Suances-Carpegna (1983, 221) schreibt dazu: "[...] los diputados americanos, a diferencia de los realistas y liberales, no expusieron de un modo explícito y directo un determinado concepto de Nación".

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Stellung einer besonderen Gemeinschaft der Provinzen im La Plata-Raum betraf, in begrifflicher Hinsicht zunächst vage6. Obwohl bereits in der Kolonialzeit, und dies insbesondere im mexikanischen bzw. peruanischen Raum, eine auf Amerika bzw. auf einzelne Regionen darin bezogene Nationvorstellung vereinzelt formuliert worden war7, bezog sich der Begriff der Nation in der Anfangsphase der Unabhängigkeitsbewegung um 1810 im La Plata-Raum in erster Linie auf Spanien bzw. auf die politische Einheit zwischen dem iberischen Mutterland und seinen überseeischen Besitzungen. Dies galt natürlich zuerst für die spanischen Repräsentanten der Krone selbst, wie den Vizekönig Baltazar de Cisneros, der am 21. Mai 1810 in einem Schreiben an den spanisch dominierten Stadtrat von Buenos Aires den Gehorsam der Einwohner gegenüber den Anordnungen der "obersten nationalen Regierung" anmahnte: [...] á fin de que nada se ejecute ni acuerde que no sea en obsequio del mejor servicio de nuestro amado Soberano, el Sr D. Fernando VII, integridad de estos sus dominios y completa obediencia al supremo gobierno nacional que lo representa durante su cautividad pues que, como V.E. sabe bien, es la monarquía una é indivisible [...] (Mabragaña 1910, I 17). Diese Nationvorstellung wurde jedoch auch von führenden kreolischen Repräsentanten im La Plata-Raum benutzt. So sprach die Erklärung der Junta Provisional vom 27. Mai 1810 von den "dominios de América" und den "dominios europeos" Ferdinands VII. als den beiden Bestandteilen der einen "Nación" (Fuentes 1982, 7). In einem Brief vom Juli 1809 an die Infantin Carlota konnte Manuel Belgrano, auf Spanien gemünzt, von "meiner Nation" sprechen, so wenn er von "[...] mi amor, respeto y fiel vasallage á V.A.R., única Representante legitima que, en el dia, conozco de mi Nación" (RuizGuiñazu 1952, 389) schrieb, und ähnlich verband Deán Funes, der später Córdoba in der revolutionären junta repräsentierte, im Februar 1810 das "nationale Interesse" mit dem des Throns: Desde que adberti que se iva asercando el tiempo en que los esfuerzos de la lealtad española podían salir frustrados en una lid tan desigual con el Tirano, me juzgue en la obligación de preparar los ánimos de mis compatriotas, haciéndoles consevir, que solo en V.A. podian aliar su ultimo acilo la justicia, el Ínteres nacional, y la gloria del Trono (Ruiz-Guiñazu 1952, 391).

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Die Erklärung "La Junta Provisional Gubernativa del Río de la Plata a nombre del señor don Fernando VII" vom 6. September 1810 z.B. sprach von der "organización de los pueblos que se asocien a la capital", begründet auf den "[...] principios de una inalterable unión y fraternidad de todos los pueblos." (Silva 1973, I 15). 7 Vgl. Corbató 1943, 381f; Brading 1991, 293ff.

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Für die kreolischen FGhrungsgruppen im La Plata-Gebiet war der Nationgedanke in dem Anfangsstadium der Unabhängigkeitsbewegung zwischen ca. 1808 und 1812 als begrifflicher Bezugspunkt bzw. als Legitimationsgrundlage für die Politik der revolutionären junta, die am 25. Mai 1810 als Reaktion kreolischer Bürger und Milizoffiziere auf die Nachricht von der Besetzung Südspaniens durch napoleonische Truppen gegründet wurde, nur eingeschränkt handhabbar. Die Nation existierte im kreolischen Denken um 1810 primär als spanische; der Nationbegriff war besetzt und insofern auch kontraproduktiv, d.h. politisch gegebenenfalls brauchbar als Instrument gegen die Souveränitätsbestrebungen der kreolischen Eliten in Amerika. Die Entwicklung des Nationbegriffs in Spanien ist bis heute nur unzureichend untersucht; einiges deutet daraufhin, daß sich ein modernes Nationverständnis, das sprachlich-kulturelle Elemente mit territorialen Zuordnungen verknüpfte, dort frühzeitig, d.h. bereits im 16. Jahrhundert, zu entwickeln begann (vgl. Pietschmann 1986, 61). Der Gedanke eines einheitlichen spanischen Nationalstaates, der die überseeischen Gebiete umfaßte, scheint allerdings erst in der Phase des aufgeklärten spanischen Absolutismus unter der Regentschaft Karls III. (1759-1788) und dem damit verbundenen Bürokratisierungsschub Durchsetzung gefunden und die traditionelle Konzeption der durch die Person des Königs verbundenen, unterschiedlichen reinos ersetzt zu haben (vgl. Halperin Donghi 1961, 176f). Besondere Erwähnung verdient in diesem Zusammenhang ein von Campomanes und José Moñino (Conde de Floridabianca) erarbeitetes Gutachten, das diese am 5. März 1768 auf einer Sitzung des Consejo Extraordinario vorlegten. Darin wurde, auch um einen befürchteten Abfall der amerikanischen Gebiete zu verhindern, eine Reihe von Reformmaßnahmen erörtert, die auf die Schaffung eines spanisch-amerikanischen "cuerpo unido de Nación" (Konetzke 1983, 309f) abzielten. Diese Vorstellungen, die aus den bourbonischen Reformbemühungen hervorgingen, wurden über spanische Beamte zumindest in Teilen Amerikas verbreitet und fanden hier auch unter aufklärerischen, frühliberalen Kreolen Anhänger (vgl. Pietschmann 1990, 26f). Allerdings war dies offenbar in den einzelnen Regionen sehr unterschiedlich der Fall8, und umgekehrt konnten die aufklärerisch-frühliberalen Vorstellungen auch im anti-spanischen Sinn interpretiert werden. Zumindest überrascht es nicht, daß auch die (für das kreolische Denken insgesamt nicht repräsentative) "Representación de la Diputación americana a las Cortes de España" vom 1. August 1811 die amerikanischen Provinzen dem spanischen, monarchischen Nationalstaat zurechnete (vgl. Varela Suances-Carpegna 1983, 223), entstammten die Abgeordneten doch größtenteils dem aufgeklärt-frühliberalen Milieu, das die bourbonischen Reformen in

' Socolow ( 1987) glaubt nach 1778 im La Plata-Raum gerade eine schärfere Entfremdung zwischen den Beamten und den lokalen Eliten feststellen zu können. Anders war scheinbar wiederum die Situation in Chile (Barbier 1980, 1920, wo die Beamten von der lokalen Elite assimiliert wurden.

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Amerika, regional unterschiedlich, geschaffen hatten. Zugleich trägt dieser Charakter des bourbonischen Nationgedankens als Ausdruck einer Modernisierungspolitik "von oben" möglicherweise zur Erklärung dessen bei, daß die "Nation", zumindest was den La Plata-Raum betraf, in den Provinzen des Landesinnern bzw. unter der ländlichen Bevölkerung als ein hegemoniales Konzept empfunden werden konnte. Der Begriff nación konnte dort, mit einem maskulinen Artikel gebräuchlich, pauschal das Fremde bezeichnen und wurde in der Folgezeit in den sogenannten textos gauchescos in diesem Sinn als Synonym für den abwertenden Begriff des gringo gebraucht (vgl. Santillán 1959, V 445). Als Bezugsgröße des politischen Wir-Gefühls fungierte in den politischen Verlautbarungen der junta um und unmittelbar nach 1810 einerseits das "Volk" (pueblo), anfänglich häufig auch nur das Volk oder die Bevölkerung von Buenos Aires. In dieser Terminologie drückten sich zwar bereits eine Distanzierung von Spanien und das Gefühl einer besonderen, partialen Zusammengehörigkeit sowie ein damit verbundener, potentieller Souveräntitätsanspruch aus. Zugleich legten die Erklärungen der junta jedoch die Vorstellung der fortdauernden Zugehörigkeit der Region zu der einen spanischen Nation nahe, indem die Aufrechterhaltung der Integrität der dominios bzw. des Königreichs als Aufgabe der kreolischen Regierung bezeichnet wurde9. Bekannt ist, daß sich darin die legitimatorischen Zwänge kenntlich machten, die auf der kreolischen JuntaBewegung lasteten, bzw. umgekehrt auch die Legitimationsbedürfnisse, die ihre Mitglieder empfanden. Insbesondere die Anwälte und Beamten, die in den juntas tätig waren, entwickelten auf dem Hintergrund ihrer beruflichen Sozialisation ein massives Interesse daran, politische Maßnahmen oder Entwicklungen in ihrer Rechtmäßigkeit zu begründen, was insbesondere auch im Hinblick auf die allmähliche Ausformulierung eines "nationalen" Souveränitätsanspruchs in den amerikanischen Gebieten galt10. Eine instruktive Illustration dieser Legitimationszwänge und -bedürfnisse findet sich in dem "Manifiesto que hace á las naciones el Congreso General Constituyente de las Provincias Unidas del Río de la Plata, sobre el tratamiento y crueldades que han sufrido de los españoles y motivado la declaración de su independencia" (Mabragaña 1910,1, 134f) aus dem Jahr 1817, in der die Versammlung, auch vor dem Hintergrund einer befürchteten europäischen Intervention und im Rahmen der Diskussion um die konstitutionelle Verfassung der "Nation", sich gegen die von der spanischen Krone erhobene Anschuldigung der "Rebellion" verteidigte und die Motive der

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"Acta de Instalación de la Junta Provisoria Gubernativa", 25.5.1810; "Proclama de la Junta Provisoria Gubernativa", 25.5.1810 (Mabragaña 1910, I 57f, 61). 10 Anschaulich dazu die "Introducción" des "Reglamento de la División de Poderes sancionado por la Junta conservadora", 30.9./29.10.1811 (Fuentes 1982, 38), in dem der "Nation" als einer "personaje moral" das Recht zugesprochen wurde, "[...] a establecerse un gobierno".

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Unabhängigkeitserklärung der Provinzen am Rio de la Plata aus dem Jahr 1816 darlegte. Spanien, so die Argumentation, sei seit der Conquista eine destruktive Macht gewesen, wie sich in der "Ausrottung" der eingeborenen Bevölkerung gezeigt habe. Die "apathische" Kolonialzeit habe zur Stagnation der Entwicklung der amerikanischen Gebiete geführt. Dies gelte nicht allein für den wirtschaftlichen Bereich, sondern auch für die Kolonisierung des Denkens der amerikanischen Bevölkerung. Amerika habe wiederholt die Gelegenheit besessen, die eigene Unabhängigkeit zu erringen, dies aber aus Treue gegenüber der Krone unterlassen. Auch die Gründung der Junta-Bewegung nach 1808 sei allein aus dem Motiv erfolgt, die Rechte Ferdinands VII in Amerika zu wahren, doch diese Treue sei durch die Spanier nur mit Krieg, Mord und Tyrannei beantwortet worden. Zu ergänzen bleibt, daß sich in dieser Erklärung eine Reihe von Topoi finden, die in der Geschichtsschreibung später aufgegriffen wurden. Andererseits wurde zur Benennung politischer Identitätsgefühle der Begriff der patria benutzt. Dieser Begriff griff auf ein vaterländisches Gefühl zurück, das vor allem in der Wertschätzung des eigenen Landes und dem Gefühl der Zugehörigkeit zu einer besonderen Region begründet war, was sich auf eine umgrenzte Provinz oder Landschaft innerhalb Amerikas oder auch den Amerikagedanken insgesamt bezog. Er drückte die Verbundenheit mit der Heimat bzw. mit der Gegend aus, in der man geboren war". Eine Definition des Begriffs der patria in diesem Sinn findet sich bereits in der ersten Auflage des Diccionario der Königlich-Spanischen Akademie von 1726, und in gleicher Weise identifizierte auch das Manifest der Asamblea General Constituyente von 1813 die patria mit der "tierra, en que hemos nacido". Der Begriff der patria konnte darüber hinaus jedoch auch das Bewußtsein patriarchalischer Herrschaftsgewalt, ökonomischer Sonderinteressen und eher informell, z.B. verwandtschaftlich strukturierter Beziehungssysteme im regionalen Maßstab anklingen lassen. Unter dem Begriff patriotismo wurde in der Vorgeschichte der Unabhängigkeitsbewegung das Ansinnen verstanden, im Rahmen der spanischen Monarchie zum Wohl und zur Entwicklung der eigenen Region beizutragen. Erst in der Folgezeit, d.h. nach 1810, erhielt der Begriff zunehmend politische Konnotationen im Sinn einer explizit gegen Spanien gerichteten, staatsbürgerlichen Tugend12. Dieses Verständnis der patria prägte auch den Amerikagedanken, der in kategorialer Hinsicht ähnlich konzipiert war und der in den Proklamationen bzw. politischen Verlautbarungen nach 1810 einen herausragenden Platz in der Bezeichnung des kreolischen Selbstverständnisses einnahm. Die Vorstellung der

" So konnte der Begriff der patria auch synonym zu dem des Hauses verwendet werden, wie etwa auf der Sitzung des Stadtrats von San Luis am 11.3.1742 (Actas Capitulares 1980, 273). 12 Zu dem stärker staatsbürgerlich gewendeten Begriff des Patriotismus und der "moralischen Emphase" darin in der europäischen Entwicklung vgl. Vierhaus 1987, 97.

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patria war in diesem Fall an die über "das Wohl und das Glück Amerikas",3 gebunden. Der Amerikagedanke ging auf die bereits in der Kolonialepoche und insbesondere in dem letzten Drittel des 18. Jahrhunderts erworbenen Vorstellungen der Kreolen über den Eigenwert bzw. die Besonderheiten und die damit verbundenen Entwicklungsmöglichkeiten der amerikanischen Region zurück (vgl. Vial Correa 1966, 110). Seinen Hintergrund bildeten in gesellschaftspolitischer Hinsicht die Rivalitäten, die sich zwischen den in Amerika gebürtigen Kreolen und den dort tätigen Spaniern entwickelten und die für die Ausbildung eines rudimentären kreolischen Eigenbewußtseins in maßgeblicher Weise verantwortlich waren. Diese Konkurrenzen beruhten vor allem auf wirtschaftlichen Interessengegensätzen, Disproportionalitäten bei der Ämtervergabe sowie den damit verbundenen Ressentiments auf Seiten der Kreolen gegenüber einer persönlichen Benachteiligung oder politischen Abhängigkeit. Sie verschärften sich im Zuge der bourbonischen Reformpolitik und der damit verbundenen Anstrengungen zu einer Effektivierung der zentralstaatlichen Aufsicht über die überseeischen Gebiete. Die bourbonischen Reformen begünstigten jedoch mittelbar auch in anderer Hinsicht die Entfaltung bzw. Stärkung des kreolischen Eigenbewußtseins. Zu nennen wäre hier zuerst die aus primär ökonomischen Erwägungen heraus betriebene Erforschung der materiellen Ressourcen der amerikanischen Regionen, die über die Beschäftigung mit ihren geographischen, biologischen oder physikalischen Gegebenheiten dazu beitrug, die Identifizierung der Kreolen mit den Räumen, in denen sie geboren waren, zu fordern und ihr Vertrauen in die natürlichen Entwicklungsressourcen Amerikas zu steigern. Auch aufgrund der Einflüsse einer im hispanoamerikanischen Raum (wie auch in Spanien) pragmatisch und utilitaristisch gewendeten Aufklärung14, definiert Gerbi (1955, 229) dieses kreolische, vorrevolutionäre Bild der patria als "[...] amoroso reconocimiento de los recursos minerales, de las peculiaridades climáticas, de la fauna y la flora indígenas"15. Nicht selten waren es Spanier selbst, wie der von der Krone mit Arbeiten zur Grenzmarkierung beauftragte Marineoffizier Félix de Azara im La Plata-Gebiet, die diese Kenntnisse um die Gegebenheiten und Entwicklungspotentiale der Region vertieften. Zu erwähnen wäre in diesem Zusammenhang ferner die Ausweisung der Jesuiten aus Amerika. Einige von ihnen kritisierten die in Europa kursierenden, negativen Ansichten über Amerika, wie die Buffons, De Pauws, William Robertsons und anderer, und brachten eine

13 Vgl. das Sitzungsprotokoll der "Asamblea General Constituyente" v. 30./31.1.1813 (Fuentes 1982, 83). 14 Vgl. dazu Chiaramonte 1982, 1989. Zur spanischen Aufklärung Sarrailh 1957; Juretschke 1960; Palacio Atard 1974. Allgemein zu den Einflüssen der Aufklärung im hispanoamerikanischen Raum Whitaker 1961; Humphrey/Lynch 1965; Aldridge 1971. Regional zugeschnitten Keeding 1983. 15 Góngora (1981, 11) spricht vom "regionalismo natural".

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nostalgische Apologie der amerikanischen Regionen hervor, die das kreolische Selbstwertgefühl steigerte. Auf die Gegebenheiten einer Provinz oder engeren Region bezogen, repräsentierten diese Anschauungen, was die Ausbildung des amerikanischen Selbstverständnisses betraf, eine "regionalistische, pränationale Phase" (Battlori 1953, 171). In kategorialer Hinsicht waren diese Formen eines kreolischen Eigenbewußtseins, wie sie sich in dem letzten Drittel des 18. Jahrhunderts entwickelten, naturalistisch geprägt, d.h. sie nahmen eine organische Beziehung zwischen naturhaften, z.B. physikalischen oder geographischen Gegebenheiten einerseits und sozialen Phänomenen andererseits an. Diese Denkfigur wurde in den Auseinandersetzungen mit den europäischen Urteilen über Amerika entwickelt und griff, nun allerdings unter den Vorzeichen der kreolischen Interessenlage, auf die sogenannten Klimatheorien zurück16. Der Amerikagedanke war von seiner Anlage her als begriffliches Abgrenzungsinstrument gegen Spanien konzipiert. Diese negativ determinierte Funktion des Amerikagedankens dokumentierte sich auch darin, daß er nach dem Ende einer unmittelbaren Bedrohung für das La Plata-Gebiet durch eine spanische Intervention neuerlich wieder in Phasen der Konflikte mit europäischen Staaten von besonderer legitimatorischer Bedeutung werden sollte. Für den Fall der rioplatensischen Geschichte in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts trifft dies insbesondere auf die Regierungszeit von Juan Manuel de Rosas als Gouverneur der Provinz Buenos Aires und außenpolitischer Repräsentant der Konföderation (1829/1835-1852) zu, als französische und englische Kriegsschiffe zwischen 1838 und 1840 bzw. 1845 und 1848 den Hafen der Stadt Buenos Aires bzw. die La Plata-Mündung blockierten. Rosas bot dies die Gelegenheit, sich auch gegenüber seinen innenpolitischen Gegnern als Verteidiger Amerikas und der "fundamentalen Prinzipien der Emanzipation der Neuen Welt"17 hervorzuheben, um dadurch zugleich den inneren Zusammenhalt der Konföderation zu festigen und die Hegemonialrolle von Buenos Aires in der Region zu unterstreichen. Salvador María del Carril, ein politischer Widersacher Rosas', schrieb dazu 1845: "Rosas hace grandes esfuerzos por nacionalizar su causa o americanizarla y no del todo infructuoso" (Rodríguez 1921, II400). Der Amerikagedanke oder, wie es hieß, "la causa santa de América", avancierte in diesem Kontext zu dem zentralen Motiv des administrativ propagierten kollektiven Selbstgefühls und appellierte an die idealistischen Zielvorstellungen, die im politischen Diskurs mit ihm verbunden waren. Daß Rosas eine revolutionäre Rhetorik zu entfalten verstand (vgl. Resnick 1965), dokumentierte sich im übrigen auch in Ansätzen zu einer Kalenderreform: Seinen Regierungserklärungen war regelmäßig eine

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Vgl. Klemperer 1915, II 142f; Shackleton 1961, 302ff; Clostermeyer 1983, 139ff. Über den Einfluß Montesquieus auf führende Figuren der argentinischen Unabhängigkeitsbewegung, wie Mariano Moreno, Pinedo 1938, 11; Puiggros 1960, 13, 30f. ' 7 "Mensaje del Gobernador Juan Manuel de Rosas al abrir las sesiones de la legislatura de la provincia de Buenos Aires", 27.12.1838 (Mabragaña 1910,1 384).

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Datierung vorangestellt, die das Jahr von der Mairevolution, der Unabhängigkeitserklärung und der Begründung der Konföderation her zählte. So hieß es etwa zu Beginn der Regierungserklärung von 1849: "Buenos Aires, Diciembre 27 de 1849, Año 40 de la Libertad, 34 de la Independencia y 20 de la Confederación Argentina" (MabragaSa 1910, II 251). Die Vorstellung einer eigenständigen, von Spanien getrennten, im zeitgenössischen Denken "amerikanischen" Nation findet sich erstmals offen ausgebildet in der Proklamation zur Einberufung einer Generalversammlung vom 24. Oktober 1812'*, d.h. wenige Tage nachdem die eher radikalen militärischen Kräfte in Buenos Aires unter maßgeblichem Einfluß der Logia Lautaro die Regierungsgewalt übernommen hatten. Die Nationbildung wurde aus der Unabhängigkeitsbewegung hergeleitet; der Text des Aufrufs schloß Spanien bzw. die alte Ordnung mit dem aus dem Kontext der Französischen Revolution überlieferten Begriff des antiguo régimen explizit aus der neuen Vorstellungsgemeinschaft aus und erfüllte damit eine konstitutive Bedingung des Nationgedankens, nämlich die Abgrenzung von einer anderen Nation bzw. Fremdgruppe. Die Spanier fungierten nunmehr als "äußere Feinde", ihre Regierung als "Tyrannen", das ehemalige Mutterland als Quell der Grausamkeit und der Barbarei (ferocidad; barbarie peninsular). Inhaltlich basierte die Nationvorstellung auf der Annahme einer gemeinsamen amerikanischen Identität der kreolischen Gesellschaft, also "los sentimientos é ideas de los americanos". In der Folgezeit wurde diese amerikanische Identitätsvorstellung jedoch in zunehmendem Maße auf das La Plata-Gebiet oder auch nur einzelne Regionen darin eingegrenzt. Die "Gaceta de Buenos Aires" unterschied in diesem Sinn am 21. März 1821 in "nuestro pueblo" und dem "de lo América", die Zeitung "El Montonero" in Córdoba trennte in ihrer Ausgabe vom 30. Dezember 1823 die einzelne Provinz ("territorio en que nacimos") von dem verbindenden "genio americano" insgesamt. Kossok (1984, 165) spricht in diesem Zusammenhang von einer wachsenden "Nationalisierung" der Unabhängigkeitsbewegung, d.h. einen Prozeß der sich verschärfenden Ausgrenzung "nationaler" Identitätsgefühle aus dem übergreifenden Amerikagedanken. In der Region des Rio de la Plata wurde dieser Prozeß vor allem auch durch die Konflikte mit Brasilien beschleunigt, die es notwendig machten, ein nationales Selbstverständnis gegen ein anderes, "feindliches" lateinamerikanisches Land abzugrenzen. So hieß es in dem "Circular a los gobernadores de las provincias interiores" (Rodríguez 1921, I 19 lf), das die Regierung in Buenos Aires am 18. Dezember 1826 und auf dem Hintergrund eines Krieges mit Brasilien an die Provinzgouverneure richtete, daß durch die brasilianische "Bedrohung" die unabhängige Existenz der Nation gefährdet sei, die so viele Opfer erbracht habe, um ihre Unabhängigkeit zu

" "[...] de haber conducido á los pueblos del Río de la Plata á la dignidad de una Nación legítimamente constitutida [...]". Vgl. "Convocatoria á elecciones para Diputados á la Asamblea General", Buenos Aires, 24.10.1812 (Mabragaña 1910,1 73).

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erringen. In dieser Stunde der Gefahr rechne Buenos Aires auf den Beistand der anderen Provinzen, handele es sich bei dem Konflikt mit Brasilien doch um ein gemeinsames "nationales" Anliegen ("este empeño vigorosamente nacional"). 3. Der politische oder staatsbürgerliche Nationbegriff Der Nationbegriff repräsentierte im kreolischen Sinn nach 1812 die neue politische Ordnung und besaß dadurch revolutionäre Inhalte. Der Begriff der Nation wurde entsprechend, betrachten wir den Zeitraum zwischen ca. 1812 und 18IS, in kategorialer Hinsicht zunächst im politischen Sinn, d.h. die Nation als eine primär politisch verfaßte Gemeinschaft definiert. Dazu zählten eine noch unscharfe Trennung der Begriffe des Staates und der Nation bzw. der Gesellschaft, ferner der Appell an die Errichtung bzw. Aufrechterhaltung einer zentralen Regierungsgewalt als maßgebliches Mittel nationaler Kohäsion" sowie schließlich der Rekurs auf den Begriff des Staatsbürgers (ciudadano), dessen Souveränität ein Charakteristikum der neuen politischen Organisation sei. Schlüsselbegriffe, wie die der razón publica, des voluntad general oder des pacto social, sowie ikonographische Symbole, wie die phrygische Mütze im Siegel der Asamblea von 1813, stützten dieses Nationkonzept ab und verwiesen zugleich auf dessen Prägung durch die Denktraditionen der Französischen Revolution, in deren Verlauf in der Nationalversammlung von 1789 der citoyen aus dem Status des Stadtbürgers in den des Staatsbürgers erhoben worden war. Zwar ist in der Forschung umstritten, in welchem Maße die kreolischen Eliten und auch ihre "jakobinischen" Elemente, wie Moreno, Castelli oder Monteagudo, die Denktraditionen der französischen Aufklärung bzw. die der Revolution von 1789 rezipiert hatten und ob z.B. der Gedanke des Gesellschaftsvertrags, der von ihnen vertreten wurde, nicht in stärkerem Maße von der spanischen Scholastik geprägt war20. Hier bleibt zu konstatieren, daß der politisch gemünzte, staatsbürgerliche Nationgedanke in stärkerem Maße der Vorstellungswelt der liberalen und aufklärerisch gesonnenen Elite der Stadt Buenos Aires, weniger der der Bevölkerung im Landesinnern entsprach. Die Vorstellungen über einen nationalen Entwicklungsprozeß vermittels zentralstaatlicher, administrativer Lenkung, und der politische Hegemonialanspruch der Urbanen, liberalen Führungsgruppe von Buenos Aires waren insoweit eng miteinander verwobeni21. Beispielhaft repräsentiert findet sich diese politische Anschauung in der Zeitung El Independiente die zwischen 1815 und 1817 in Buenos Aires erschien, und in der

19 Alberdi (1917, 133) schrieb 1853, die Republik habe bis 1821 keine andere Regierung als die "nationale bzw. zentrale" gekannt. 30 Vgl. Humphreys 1956, 87. Einen stärkeren Einfluß der altspanischen Staats- und Rechtsauffassungenauf die kreolischen SouveränititäsgedankensiehtLevene(1947). Skeptisch zur Beurteilung der aufklärerischen (französischen) Einflüsse auf das hispanoamerikanische Denken auch Dealy (1968, 46). 21 So schrieb Mariano Moreno (1961, 219) am 18.10.1810 in der "Gaceta de Buenos Aires": "Buenos Aires ha enseñado a la América lo que puede esperar de sí misma [...]".

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Anklänge an das "jakobinische" Gedankengut, ein liberales Selbstverständnis und eine offene Parteinahme für eine zentralistische Organisation des Landes ("...que ese espíritu provincialista, estrecho y antiliberal, disolverá al Estado"22) zusammenfielen. So wurden in der Zeitung die "Reichen" kritisiert, die der Revolution nicht wohlwollend gegenüberstünden, eine sozial "egalitäre" Gesellschaftsordnung propagiert und neben den Bürgerrechten des ciudadano die Garantie individueller Freiheiten, die Pressefreiheit, die representative Regierungsform und das Prinzip der Gewaltenteilung hervorgehoben23. Im La Plata-Gebiet bzw. konkret in Buenos Aires fand die Entfaltung des Staatsbürgerbegriffs ihre Grundlage in der Entstehung einer neuen Sphäre der politischen Öffentlichkeit gegen Ende des 18. Jahrhunderts. Dazu zählten die Ausbildung des Zeitungswesens, die 1801 mit der Gründung des Telégrafo Mercantil, Rural, Político-económico e Historiográfico del Río de la Plata einsetzte (vgl. Frizzi de Longoni 1947, 35), ferner die Institutionalisierung von Orten politischer Kommunikation, wie es im März 1811 mit der Einrichtung eines festen Diskussionskreises im Kaffeehaus Marco geschah, und schließlich die Gründung politisch-literarischer Gesellschaften, so der 1812 unter dem Einfluß von Monteagudo gegründeten Sociedad Patriótica-literaria. In sozialer Hinsicht entstammten die Trägergruppen dieser neuen politischen Öffentlichkeit vor allem Familien von Beamten, Anwälten bzw. Notaren und Kaufleuten. Ihr Selbstverständnis gruppierten sie um das Bild eines individuellen, freien und "öffentlichen" Bürgers sowie die Überzeugung, daß dessen Kommunikation mit Gleichen den Ort der Entstehung einer öffentlichen Meinung darstellen würde, die Herrschaft letztendlich erst legitimieren und den Einzelnen in den ciudadano transformieren würde. Der Gedanke des ciudadano und die daraus hervorgehende Vorstellung einer Staatsbürgernation umfaßte pauschale Freiheits vorstellungen und einen Anspruch bürgerlicher Gleichheit und politischer Partizipation. Der Begriff des ciudadano war jedoch zunächst unklar, und seine Definition bzw. auch rechtliche Fixierung (carta de ciudadanía) konnte unterschiedlichen politischen Interessenkonstellationen folgen (vgl. Vogel 1991). Ein vergleichsweise enges, auf antispanischen Motiven beruhendes Verständnis des Staatsbürgerbegriffs legte Mariano Moreno nahe, der die Dichotomie zwischen den Spaniern und den in Amerika geborenen Kreolen hervorhob, wodurch allein die Kreolen als potentielle Staatsbürger in Betracht kamen. Frühzeitig meldeten sich jedoch auch andere Stimmen in der politischen Öffentlichkeit zu Wort. So publizierte die "Gaceta de Buenos Aires" am 17. September 1810 einen Beitrag, in dem argumentiert wurde, daß nicht allein die Kreolen, sondern all die als Patrioten zu gelten hätten, die den La Plata-Raum als ihre patria betrachten würden. Nicht zuletzt militärische Erwägungen führten dazu, daß dieses breitere Verständnis

22 a

Ausgabe v. 14.3.1815. Vgl. die Ausgaben v. 10.1.1815,24.1.1815,21.1.1815, 12.9.1815.

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des "Patrioten" in der Folgezeit in die Diskussion des Staatsbürgerbegriffs einging. Die Regierung erließ im Mai 1815 ein Dekret, in dem neben den Kreolen auch alle Ausländer, die länger als vier Jahre in Amerika lebten, die "naturalisierten" Spanier sowie die freien Schwarzen und Mulatten als wehrfähig erklärt wurden. Das Estatuto Provisional von 1816 regelte die Staatsbürgerschaft weitgehend in Anlehnung an diese Bestimmung, wenngleich es schärfere Vorbehalte gegenüber einem Erwerb der Staatsbürgerschaft durch Spanier geltend machte, solange Spanien die Unabhängigkeit der Provinzen am La Plata nicht anerkannt habe. Wurde Spaniern die Staatsbürgerschaft konzediert, so setzte das die Anerkennung besonderer Verdienste voraus. Martin Güemes, der Gouverneur von Salta, begründete so z.B. 1816 die "Gewährung" einer carta de ciudadanía für einen spanischen Offizier damit, daß dieser nachdrücklich seine Bereitschaft unter Beweis gestellt habe, "[...] resistir con las armas qualesquiera agresiones que se intenten contra la patria por los españoles, ú otra nación extranjera" (Documentos 1974, 56). 1818 erschien in Buenos Aires kurzzeitig die Zeitung El Español Patriota, die von spanischen Liberalen herausgegeben wurde und sich gegen die "despotische" Regierung Ferdinands VII. richtete. Die teils provisorischen Verfassungen, die sich die einzelnen Provinzstaaten nach 1819 gaben und die eigene Staatsbürgerschaften reklamierten, lehnten sich weitgehend an diese Überlegungen an. Dies gilt z.B. für das "Reglamento provisorio para el regimen y administración de la provincia de Córdova" von 1821 bzw. das "Reglamento provisorio constitucional de la provincia de Corrientes" aus dem gleichen Jahr. Umfassender formulierte das "Estatuto provisorio de la provincia de Santa Fe" (Silva 1937, I 403f) von 1819: "Todo americano, es ciudadano [...]" Nur wenige Angehörige der kreolischen Elite gingen anfänglich so weit, daß sie auch der indianischen Bevölkerung staatsbürgerliche Rechte konzedierten; erst unter dem Einfluß der jakobinischen Kräfte und auf dem Hintergrund der angestrebten politischen Mobilisierung der Indios gegen Spanien dekretierte die Asamblea von 1813 dann die Gleichstellung der Indianer mit den anderen Staatsbürgern. Das wechselhafte politische Geschehen, wie es die Entwicklung in Buenos Aires zwischen 1810 und 1820 charakterisierte, blieb auch von Kontroversen darüber geprägt, welche Bevölkerungsgruppen in sozialer Hinsicht als "Souverän" zu gelten hatten24. Beharrlich brachten sich darin restriktive Vorstellungen zur Geltung, vor allem im Urbanen Raum, während die Führungsgruppen im Landesinnern aufgrund politisch-militärischer Mobilisierungsabsichten in den zwanziger Jahren stärker egalitäre Konzepte vertreten sollten. Als

24

Vgl. Minguet 1973, 60f. Botana (1977, 54, 64) schreibt, daß die "alte", von Rousseau übernommene Unterscheidung in den "citoyen" und den "habitant" das politische Denken im späten 18. und 19. Jahrhundert beherrscht habe. Auch die Geschichtsschreibung nahm später diese liberalen Vorbehalte auf: "No puede haber gobierno libre y honrado sino allí donde la disciplina de los partidos esté concentrada en las clases superiores" (López 1926, IX 54).

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Wahlbürger galten zunächst allein die städtischen vecinos, d.h. "la parte principal y más sana del vecindario" (1810) bzw. "los vecinos libres y patriotas" (1813)25. Die bonaerensische Verfassung von 1821 hob diese Beschränkungen auf und verordnete das allgemeine Männerwahlrecht. Auf dem Congreso General Constituyente (1824-1826) forderte dann wiederum der Deputierte Castro (Silva 1937, I 801), daß diejenigen von den mit der Staatsbürgerschaft verbundenen politischen Rechten ausgenommen sein müßten, "[...] que no tienen todavía una voluntad bastantemente ilustrada por la razón". Der Versuch der Liberalen, auf diesem Kongreß die unteren Bevölkerungsgruppen, wie die Landarbeiter oder Soldaten, vom Wahlrecht auszuschließen, stieß aber auf den Widerstand der föderalistischen Kräftegruppen und insbesondere der caudillistischen Führergestalten, die ihren politischen, "akklamatorischen" (Vedoya 1980, 20) Rückhalt stärker bei diesen Bevölkerungsteilen besaßen. So kritisierte Manuel Dorrego 1824 (Díaz 1983,25) das liberale Vorhaben als eine "aristokratische" Politik: He aqui la aristocracia, la más terrible terrible, porque es la aristocracia del dinero. Echase la vista sobre nuestro país pobre y las demás clases y se advertía quiénes van a tomar parte en las elecciones. Exclúyanse las clases que se expresa en el artículo; es una pequeñísima parte del país [...] ¿Es esto posible en un país republicano? [...] ¿Es posible que los aslariados sean buenos para lo que es penoso y odioso en la sociedad, pero que no puedan tomar parte en las elecciones? Bei diesen Versuchen zur sozialen Eingrenzung staatsbürgerlicher Rechte spielten sowohl überkommene Standesdünkel, elitäre Erziehungskonzeptionen im staatspatriotischen Sinn wie schließlich auch die Ängste eine Rolle, die die Unabhängigkeitsbewegung und die damit einhergehende soziale Mobilisierung in den Kreisen der kreolischen Elite hervorgerufen hatte. Die Gruppe im Café Marco bzw. in der Sociedad Patriótico-literaria, die maßgeblich an der Propagierung des Staatsbürgergedankens beteiligt war und die Sociedad als "Schule des Patriotismus"26 definierte, verstand sich selbst als den eigentlichen Interpreten des voluntad general. Pilar González Bernaldo hat den in sozialer Hinsicht segregierten und in politischer Hinsicht zunehmend konspirativen Charakter dieser Vereinigungen beschrieben, die sich vor allem in der Arbeitsweise der Logia Lautaro, die zwischen 1812 und 1815 die Regierungspolitik kontrollierte, dokumentierten. Der Staatsbürgergedanke war insofern ambivalent: Er repräsentierte den Souveränitätsanspruch des neuen Staatswesens im La Plata-Raum bzw. in der Folgezeit, vor allem seit den zwanziger Jahren, den der

25

Ais kurzer Übert>lick Díaz 1983 , 21f. Bernardo de Monteagudo, "Oración inaugural en la apertura de la Sociedad Patriótica", 13.1.1812 (Romero/Romero 1977,1 300).

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einzelnen Provinzstaaten innerhalb der Region, die eigene Staatsbürgerschaften vergaben; er implizierte einen neuen Legitimitätsgrund von Herrschaft und versprach breitere politische Partizipationsrechte; er konnte aber auch im engeren Sinn eines Elitenselbstkonzepts interpretiert werden. In diese Richtung deutete auch die zeitgenössische Unterscheidung in den ciudadano einerseits und die habitantes de la campaña andererseits, die neben sozialen auch regionale Abgrenzungen umfassen konnte. Ignacio NúSez, der an den Treffen im Café Marco teilgenommen hatte, gebrauchte in seinen "Noticias históricas de la República Argentina" den Begriff des pueblo im Sinn von "Stadt" (González Bernaldo 1991,23), worin sich die Schwierigkeit ausdrückte, das überkommene und lokal begründete Identitätsgefühl in Richtung eines Nationgedankens im modernen Sinn zu überschreiten und breitere Bevölkerungsgruppen, nicht aber einen engen und mehr oder minder elitären Zirkel politischer Öffentlichkeit in Buenos Aires, als Träger der politischen Souveränität zu denken. Dies führte im übrigen auch dazu, daß man umgekehrt das Bild der Stadt und ihrer Viertel als eine Metapher benutzen konnte, um sich den Begriff der Nation zu veranschaulichen. Güemes (Documentos 1974, 168) schrieb in diesem Sinn am 27. September 1817 an Belgrano: "Las Provincias dice Cicerón deben mirarse como los diferentes barrios de una misma ciudad [...]" Die Übertragung der Nationvorstellung von der Provinz oder auch nur der Stadt Buenos Aires auf das Gebiet des ehemaligen Vizekönigreichs war insofern nicht zwangsläufig, was die Zeitung "El Independiente" am 10. Januar 1815 rückblickend in den Worten kommentierte, daß um 1810 selbst der Begriff der patria unklar und ohne "festen Sinn" gewesen sei. Die Hinzuziehung von Repräsentanten aus dem Landesinnern zu der junta in Buenos Aires, die im Oktober 1810 vollzogen wurde, entsprang machtpolitischem Kalkül, nicht aber "nationalen" Erwägungen, d.h. sie wurde von der sogenannten konservativen Gruppe um Saavedra in der Absicht betrieben, den politischen Einfluß der "Jakobiner" und konkret den Morenos in der Regierung zu begrenzen. Zu ergänzen bleibt, daß das Gewicht lokaler Identifikationen auch damit zusammenhing, daß die aufgeklärten bonaerensischen Ökonomen in der ausgehenden Kolonialzeit die Stadt Buenos Aires und ihr Umland als ein Zentrum des Welthandels definiert hatten, das über genügend Ressourcen verfügen würde, um die privilegierte Stellung in der Region für den eigenen Vorteil zu nutzen. Auch Susan Socolow (1978, 112, 170) glaubt, in ihrer Untersuchung über die bonaerensischen Händlergruppen ausgeprägt lokalistische Identitätsgefühle feststellen zu können. Diese "lokalistische Mentalität" (Socolow) war politisch insofern wichtig, als führende Figuren der Unabhängigkeitsbewegung selbst Kaufleute waren, wie Cornelio Saavedra und Juan Martin de Pueyrredon, oder aus Händlerfamilien stammten, wie Manuel Belgrano, Hipólito Vieytes und Bernardino Rivadavia. Diese Identifikationen mit Buenos Aires bzw. die Überzeugung, daß die Stadt bzw. Provinz allein über ein genügendes wirtschaftliches Entwicklungspotential verfügen würde, stellte eine wichtige Grundlage

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dafür dar, daß der föderalistische Gedanke nach ca. 1815 auch innerhalb der bonaerensischen Elite zunehmend Zustimmung finden konnte. 4. Der naturalistische oder organische NationbegrifT Die politisch geprägte, staatsbürgerliche Nationvorstellung stand in Konkurrenz zu anderen Entwürfen des Nationgedankens, die die Nation in kategorialer Hinsicht nicht als den Zusammenschluß der Staatsbürger unter einer einheitlichen Regierung, sondern als ein Resultat naturhafter, gewachsener Entwicklungsprozesse interpretierten. Diese Rivalität unterschiedlicher Nationvorstellungen hing zunächst mit der Fraktionierung der politischen Eliten und insbesondere den Vorbehalten zusammen, die die Führungsgruppen im Landesinnern wie auch konservative Kreise innerhalb der Stadt Buenos Aires gegenüber den "Jakobinern" hegten. Begünstigt wurde die Entwicklung dieser organischen Nationbetrachtung durch die Traditionen des kreolischen Eigenbewußtseins, die in dem Begriff der patria fortlebten und auf die klimatischgeographischen Gegebenheiten der Region rekurrierten. Seinen maßgeblichen Rückhalt fand dieses Nationverständnis jedoch in den Befürchtungen, daß die politische Entwicklung und nicht zuletzt die Mobilisierung der bis dahin abhängigen Bevölkerungsgruppen, insbesondere im Landesinnern, nicht zu kontrollieren wären und die Region letztlich in die Anarchie stoßen würden. Diese sozialen Ängste hatten sich bereits im Vorfeld der Unabhängigkeitsbewegung zur Geltung gebracht. Als englische Truppen 1806 Buenos Aires besetzten, klagte Juan Martin de Pueyrredón, der an der Organisation des militärischen Widerstands maßgeblich beteiligt war, die Engländer an, die Entfesselung eines "sozialen Krieges" im La Plata-Raum zu planen, und behauptete, daß die englische Invasion allein der Befreiung der Sklaven diente, die in der Wirtschaft der Region eine wichtige, von der Forschung bislang vielleicht unterschätzte Rolle (vgl. Garavaglia/Gelman 1989) spielten. Um diese Vorwürfe zu entkräften und das spanisch-kreolische Widerstandspotential zu schwächen, proklamierte der englische General Beresford daraufhin, "[...] the Inhabitants might command the protection of His Majesty's Government against the insults of their Slaves" (Ferns 1960, 30). Diese sozialen Ängste waren nicht auf die konservativen Kreise innerhalb der Elite begrenzt, sondern die Besorgnisse um die Aufrechterhaltung von Ordnung und Autorität reichten quer durch die unterschiedlichen Fraktionen der kreolischen Elite. Anfänglich bezogen sie sich vor allem auf die Mobilisierung bis dahin marginaler Gesellschaftsschichten. So beschrieb José Pedro de Agrelo (González Bernaldo 1991, 19), der dem Tribunal de Seguridad Pública angehörte, rückblickend die Befürchtungen der Eliten nach 1810, daß der "Pleb" die Schwächung der staatlichen Autorität ausnutzen und die Ordnung umstürzen könne. Als ein Ordnungsproblem wurde auch die sich beschleunigende Trennung von Staat und Gesellschaft empfunden, d.h. die Dekorporierung des gesellschaftlichen Handelns, wodurch der einzelne zu dem privaten Bürger eines Staates wurde, dessen Verhalten nicht länger durch verfaßte Ordnungen zu

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regulieren war. Diese Individualisierung des Bürgers wurde negativ wahrgenommen: San Martin sprach 1816 von den partikularen Interessen, die den Zusammenschluß zur Nation verhindern würden27, und Urquiza sollte später als Staatspräsident der Konföderation und im Rückblick auf die sogenannte Anarchisierung der Region im frühen 19. Jahrhundert formulieren: "El egoismo produjo la anarquía"28. Dieser Prozeß, also die Ausbildung von Eigen- und Gruppeninteressen, die den gesellschaftlichen Zusammenhang auflösen und dadurch in politischer Hinsicht die Anarchisierung der Region begünstigen würden, schien durch die "jakobinischen", staatsbürgerlichen Interpretationen des Nationkonzepts zusätzlich forciert zu werden. Cornelio de Saavedra, der führende Repräsentant des konservativen Flügels der kreolischen Elite von Buenos Aires, stellte in einem Schreiben vom Januar 1811 (Ruiz-Guiñazu 1952, 384) zumindest entsprechende Zusammenhänge her: El Systhema Robespierriano q® se quería adoptar en esta, la imitación de [la] rebolución francesa q° intentaba tener pr modelo, gracias a Dios que han desaparecido [...] Los Pueblos deben ya comprehender que la Ley y la Justicia son unicam* las reglas que dominan; q° las pasiones los odios y particulares intereses eran monedas reservadas a los tpos. de la corrupción é intrigas, y de consiguiente diametralmente opuestos a los del exercicio délas virtudes. Im gleichen Sinn monierte Pazos Silva in der Zeitung "El Censor" im März 1812, daß die Französische Revolution demonstriert habe, welche Gefahren die Existenz einer Sphäre der politischen Öffentlichkeit mit sich bringe, die nicht vom Staat kontrolliert werde. Und Tomás Manuel de Anchorena, ein einflußreiches Mitglied der kreolischen Elite, formulierte rückblickend in einem Brief an Rosas (Saldias 1906, 381), daß die "jakobinischen" Lehren nur dazu gedient hätten, "[...] p" disolver los pueblos, y formarse de ellos grandes conjuntos de locos furiosos y de bribones". Die natürliche Ordnung von Staat und "Nation" und die individuellen Interessen und Meinungen erschienen breiten Teilen der kreolischen Elite als miteinander unverträglich29. Die Sorge um den Bestand der Ordnung stellte einen der wichtigsten Beweggründe für die Renaissance organischer Gesellschaftslehren nach etwa 1815 dar. Einen Beleg dafür finden wir zunächst in dem Bild des Staates bzw. der Nation als eine politische Maschine. Die Verwendung der Maschinenmetapher zur Bezeichnung politischer Prozesse verfügte über eine lange Tradition; der Begriff der machina mundi läßt sich bis in die Antike zurückverfolgen. Descartes unternahm den Versuch, natürliche Prozesse nach den Gesetzen der

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Brief San Martins an Tomás Godoy Cruz, Mai 1816 (Romero/Romero 1977, 213f). Proklamation Urquizas v. 21.2.1852 (Silva 1937,1 572). 29 Vgl. Dealy 1968, 44; Morse 1967; Mansilla 1989; Véliz 1980. 28

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Mechanik zu erklären und Körper und Maschine in diesem Sinn gleichzusetzen. Hobbes übertrug diesen Gedanken auf die politische Sphäre und definierte den Staat als einen politischen Körper. Eine strikte Trennung zwischen organischen und mechanischen Prozessen kannte dieses Vorstellungsmuster nicht. Die Maschinenmetapher, die im 18. Jahrhundert im europäischen Denken ihre Blüte erlebte, begriff das politische System dagegen zunehmend als eine von der Vernunft diktierte und erst herzustellende Ordnung und löste sich insofern allmählich von dem überkommenen Bild des politischen Körpers. Dieser Antagonismus verschärfte sich in dem Maße, wie die Maschinenmetaphorik, insbesondere im Zuge der europäischen Romantik, einen negativen Beigeschmack erhielt, indem ihr das Element des Leblosen attribuiert wurde. Herder sprach in diesem Zusammenhang von der "brechlichen Maschine" (Barnard 1964, 76). Die Maschinenmetapher verschob sich in ihrem semantischen Gehalt zunehmend dahin, daß sie als Gegenbild eines organisch begründeten und sich nun gegenüber dem Maschinenbild "antithetisch" entwickelnden Gesellschaftsverständnisses fungierte, so wie auch das Bild des politischen Körpers seine mechanistischen Implikationen verlor. Diese Kritik kulminierte in der Romantik, die die rational-konstruierten Systeme durch "natürliche" und gewachsene Formen der menschlichen Gemeinschaft zu überwinden trachtete (vgl. Stollberg-Rilinger 1986). Im zeitgenössischen Kontext stellte der Rückgriff auf die Maschinenmetapher, vermutlich nicht zufällig, ein Krisenphänomen dar. Aus diesem Grund auch war die Maschinenmetapher, wurde sie im kreolischen Diskurs gebraucht, schärfer im traditionalen, "organischen" Sinn gewendet, weil sie als ein gedankliches Instrument zur Harmonisierung der aufgebrochenen Interessenkonflikte herangezogen wurde. Sie wurde in den politischen Situationen aktualisiert, in denen die regionalen Machtinteressen das von den Unitaristen betriebene Projekt der Nationbildung ernsthaft gefährdeten oder aber entscheidend zurückgeworfen hatten. So hieß es in in der Eröffnungssitzung des Nationalkongresses, der am 12. Mai 1817 in Buenos Aires tagte: Pueblo heróico de Buenos Aires! Respetables Corporaciones! Teneis delante á la Soberanía de las Provincias Unidas de Sud América [...] viene á situarse en un pueblo que siendo por su ilustración el mejor centinela de nuestras operaciones, es por su opulencia el foco de la revolución, y el centro de los recursos. De aquí deben salir las providencias rápidas, los socorros abundantes, el entusiasmo patriótico, el ejemplo en la subordinación a las autoridades. En una palabra Buenos Aires debe vivificar la complicada máquina de este Estado naciente, como el sol al universo [...] (Mabragaña 1910, I 122f). War in dieser Erklärung der Begriff der politischen Maschine noch zuerst auf den Staat bezogen, so bezog das Manifest der Honorable Junta de Representantes der Provinz Buenos Aires vom 28. September 1820 (Mabragaña 1910,

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I 177) den Begriff explizit auch auf die Nation: "La Nación [...] divida en fragmentos esa máquina política [...]" Diese Terminologie, hier in metaphorischer Wendung, konzedierte dem aktuellen politischen System Attribute der Leblosigkeit, worin sich der Bedeutungswandel des Maschinenbegriffs bereits abspiegelte, hielt jedoch letztendlich noch an dem Verständnis der Staatsmaschine als eines organischen, politischen Körpers fest. Nach dem Muster einer Kosmologie erschienen der Staat bzw. die Nation als eine natürliche und zugleich streng hierarchische Ordnung. Im zeitgenössischen Kontext fungierten diese Denkfiguren, d.h. das Bild der Nation als eines Körpers, die damit verbundene harmonistische Auffassung von der politischen Entwicklung, die Betrachtung der Gesellschaft als ein wohlgeordnetes, konzentrisches Universum und schließlich die Aufhebung von sozialen oder regionalen Interessengegensätzen in einem einheitlichen Gemeininteresse als Idealbilder von Staat und Gesellschaft, die im übrigen enge Bezüge zu einer monarchischen Lösung der konstitutionellen Frage aufwiesen. Die Erörterung einer monarchischen Staatsform wurde offen 1816 auf dem Kongreß von Tucumán aufgeworfen 30 . Wie bei allen wichtigen Kontroversen im politischen Diskurs der kreolischen Elite waren auch in diesem Fall nicht allein die sozialen Ordnungsprobleme im Innern, sondern auch die außenpolitische Konstellation von zentraler Bedeutung. Der Monarchiegedanke diente, wie die Ausführungen Belgranos auf dem Kongreß in Tucumán belegen, in den Augen seiner Vertreter auch der politischen Aussöhnung mit dem inzwischen restaurativen Europa 31 . Erörtert wurde in diesem Zusammenhang auch die Einsetzung eines Inca als Staatsoberhaupt. Dies korrespondierte primär der Interessenlage der Kreolen im hoch-peruanischen Raum, weil diese, durch Verwandtschaftsbeziehungen mit den dortigen indianischen Eliten verbunden, eigene Machtansprüche in legitimatorischer Hinsicht auf das Imperium der Inka zurückzuführen suchten (vgl. O'Phelan Godoy 1984, 66f). Die Deputierten aus Buenos Aires widersetzten sich diesem Gedanken, mußten sie davon doch eine Schwächung ihrer Macht und ihres Einflusses befürchten. Tomás Manuel de Anchorena, dessen Familie eng mit dem Aufschwung der Viehwirtschaft in der Provinz Buenos Aires verwoben war, argumentierte denn auch in Tucumán (und in Anlehnung an Montesquieu), daß die unterschiedlichen Naturbedingungen innerhalb der Region und die damit verbundene Verschiedenheit der Bräuche der Etablierung einer inkaischen Monarchie entgegenstünden und deshalb nur eine föderative Regelung annehmbar sei (vgl. Domínguez 1861, 408f). Die Art und Weise, wie die Maschinenmetapher im politischen Diskurs gebraucht und ausgelegt wurde, ist als ein Indiz dafür zu werten, daß sich in dem Zeitraum nach 1815/16 eine zunehmende Abkehr von dem staatsbürgerlichen

Vgl. Kahle 1983, 1987; Puente Candamo 1948, 203ff. Vgl. Manuel Belgrano, "Informe al congreso de las Provincias Unidas sobre el establecimiento de una monarquía", 6.7.1816 (Romero/Romero 1977, II 210). 30 31

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Nationgedanken und umgekehrt eine Renaissance organischer Auffassungen über den Staat bzw. die Nation vollzogen. Hatte es in der Gaceta de Buenos Aires noch 1815 geheißen, daß eine Nation nichts anderes sei als der Zusammenschluß der Bevölkerung und Provinzen unter einer "gemeinsamen zentralen Regierung", so formulierte die Zeitung am 21. März 1821: "Para determinar la forma de gobierno más conveniente á una nación, es necesario observar sus cualidades físicas, y sus habitudes morales, su clima, su población, sus costumbres, su religión, y otros mil circumstancias [...]" Diese überkommenen, organischen Komponenten des Nationgedankens gewannen in dem Maße im politischen Denken an Einfluß, wie der staatsbürgerliche Nationgedanke in die Krise geriet, weil die regionalen wie auch die sozialen Konflikte sich verschärften und weil die einzelnen Provinzen um und nach 1820 ihre Entwicklungsoptionen über eine eigenständige politische Organisation in der Form unabhängiger und selbständiger Staaten wahrzunehmen versuchten. In legitimatorischer Hinsicht notwendig wurden damit aus der Perspektive der provinzialen Führungsgruppen heraus stärker segregierende Elemente, die es gestatteten, die eigene Provinz als eine selbständige, autonome Einheit zu denken, und diese Faktoren einer provinzialen Identitätsverbürgung suchte man in den "gewachsenen" bzw. den physikalischen, geographischen und klimatischen Bedingungen der einzelnen Teilregionen. Betrachten wir diese Verschiebung dessen, was als die die Nation konstituierenden Elemente betrachtet wurde, so kulminierte dieser Prozeß in den Krisenjahren 1819/182052. In diesem Zeitraum fand der Desintegrationsprozeß der Region, der in der Loslösung Paraguays bzw. der hoch-peruanischen Gebiete aus der politischen Struktur des ehemaligen Vizekönigreichs sowie in dem nach 1813 eskalierenden Interessenkonflikt zwischen Buenos Aires einerseits und den patriotischen Kräften in der Banda Oriental (Uruguay) andererseits seinen Ausgang genommen hatte, zu einem ersten Höhepunkt. Der Versuch, eine einheitliche staatliche Organisation in den Grenzen des ehemaligen Vizekönigreichs aufrechtzuerhalten, scheiterte vorerst endgültig: Anfang Februar 1820 besiegten die Truppen der Provinzen von Entre Ríos und Santa Fe in der Schlacht bei Cepeda die der Provinz Buenos Aires und bewirkten dadurch die Auflösung der Zentralregierung im "nationalen" Maßstab. Buenos Aires konstitutierte sich als unabhängige Provinz und unterzeichnete am 23. Februar 1820 den Vertrag von Pilar, der das vorläufige Ende des Staatenbunds der Provinzen am Rio de la Plata und damit einer "nationalen" Regierung besiegelte, zugleich jedoch eine Phase der Prosperität in der Provinz Buenos Aires einleitete.

31 Die bonaerensische Zeitung "El Imparcial" v. 19.12.1820 sprach von dem "unheilvollen" Jahr 1820, von dem Triumph der "Zwietracht" und der "Leidenschaften", von der Herrschaft des "Chaos, der Auflösung und des Todes" und dem "Bruderkrieg".

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Der politisch geprägte Nationbegriff und die Vorstellung der Nation als ein Produkt mehr oder minder natürlicher, gewachsener Entwicklungen oder auch kultureller Gemeinsamkeiten polarisierten sich aufgrund dieser Entwicklung zunehmend, so daß sie sich schließlich im öffentlichen politischen Diskurs als zwei alternative und einander ausschließende Formen der Gemeinschaftsvorstellung gegenüberstanden. Prägnant formulierte diesen Antagonismus der Deputierte der Provinz Salta, der Geistliche José Ignacio Gorriti, auf den Sitzungen des Congreso Constituyente (1824-1826): "De dos modos puede considerarse la nación, ó como gentes que tienen un mismo origen y un mismo idioma, aunque de ellas se formen diferentes estados, ó como una sociedad ya constituida bajo el régimen de un solo gobierno" (Ravignani 1937,1 1325). Im gleichen Zeitraum erfuhr der Begriff der patria eine Renaissance. Anders als im Vorfeld der Unabhängigkeitsbewegung, als der Begriff der patria das Ansinnen ausgedrückt hatte, im Rahmen der spanischen Monarchie zur Entwicklung Amerikas beizutragen, war er nun jedoch als Ausdruck der provinzialen Eigeninteressen und Identitätsvorstellungen konzipiert. In den politischen Erklärungen der dreißiger und vierziger Jahre finden sich vielfach Formulierungen, denen als Bezugspunkt der patria entweder die eigene Provinz oder aber Amerika zugrunde lagen ("del pueblo porteño, del continente empero"33), ohne daß sich sozusagen dazwischen die Vorstellung einer rioplatensischen Nation befunden hätte. In kategorialer Hinsicht war der provinziale Begriff der patria weiterhin naturalistisch geprägt, d.h. er definierte die vorgeblich unter den geographischklimatischen Gegebenheiten entstandenen Eigentümlichkeiten des Brauchtums, der Mentalität oder sozialer Verhaltensformen als die natürlichen und auch in politischer Hinsicht gemeinschaftsbildenden Faktoren. Zwar gab es auch innerhalb der Provinzeliten im Landesinnern Gruppen, die, z.B. aufgrund ihrer Abhängigkeit von Buenos Aires oder weil sie sich von einer zentralistischen Lösung Vorteile versprachen, an dem politisch geprägten Nationverständnis festzuhalten suchten, wie es sich z.B. in dem Estatuto Provisorio der Provinz Entre Ríos vom 4. März 1822 dokumentierte, in der die Provinz als Teil einer gemeinsamen Nation unter dem Dach eines Generalkongresses definiert wurde. Auch spielte eine Rolle, daß die Provinzen im Landesinnern vielfach untereinander in militärische Konflikte verwickelt waren und es darin von Vorteil sein konnte, ein Bündnis mit dem mächtigen Buenos Aires zu suchen. Aber gemeinhin korrespondierte das "natürliche" Bild der politischen Gemeinschaft im Zeitraum nach 1820 in erster Linie den einzelnen, isolierten provinzialen Interessenkonstellationen, weil die provinzialen Souveränitätsansprüche kaum anders als über den Hinweis auf die gewachsenen und spezifischen Bedingungen der einzelnen Teilregionen zu begründen waren.

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Brief Florencio Varelas an Félix Frías, 6.6.1839 (Rodríguez 1922, III 189).

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Der Begriff der patria und die damit verbundenen Konnotationen eines naturalistischen Nationbegriffs fanden sich entsprechend zunächst in der Presse im Landesinnern, wo man argumentierte, daß die politische Ordnung den "costumbres en que han estado y están los pueblos" sowie den "particulares exigencias" der einzelnen Provinzen entsprechen müsse34. Eine Verwendung in diesem Sinn fand der Begriff der patria aber auch umgekehrt in Buenos Aires, wo der Verweis auf die "situación local", also insbesondere die Funktion als Hafenstadt, und den Reichtum der Provinz dazu herangezogen wurden, um ihre Sonderrolle in der Region zu begründen35. Die Verbreitung des Begriffs der patria im politischen Diskurs der Elite von Buenos Aires profitierte dort ferner von der wirtschaftlichen Prosperität der Provinz nach 1820. Nicht zuletzt die Entlastung des Budgets von den immensen Militärausgaben, die die Kriegführung zum Zweck einer nationalstaatlichen Regelung im zentralistischen Sinn mit sich gebracht hatte, trug dazu bei. Das politische Entwicklungskonzept einer provinzialen patria wurde aus diesen Gründen auch in den bonaerensischen Führungsgruppen zunehmend mit Sympathie betrachtet, und die dortigen Eliten benutzten, ähnlich wie die im Landesinnern, die Natur, das Klima und die anderen physikalischen Bedingungen als Legitimationsmuster dazu, um die Privilegien der Provinz, also vor allem ihre Verfügung über Zölle und Steuern, gegenüber den Ansprüchen der anderen Provinzen zu verteidigen. Die Natur, so hieß es in der "Gaceta de Buenos Aires" vom 15. Dezember 1819, habe Buenos Aires den Hafen und damit eine natürliche "Überlegenheit" gegenüber den anderen "Völkern" der Region gegeben, und das Ansinnen der Provinzen im Landesinnern, eine "physische Gleichheit" herstellen zu wollen (also an den Zolleinkünften beteiligt zu werden), wäre gegen den "Ratschlag der Natur" selbst: Los federalistas quieren no sólo que Buenos Aires no sea la Capital, sino que, como perteneciente a todos los pueblos, divida con ellos el armamento, los derechos de aduana y demás rentas generales: en una palabra, que se establezca una igualdad física entre Buenos Aires y las demás provincias, corrigiendo los consejos de la naturaleza que nos ha dado un puerto y unos campos, un clima y otras circunstancias que le han hecho físicamente superior a otros pueblos, y a la que por las leyes inmutables del orden del Universo, está afectada cierta importancia moral de un cierto rango. Den Gedanken einer interprovinzialen Gemeinschaft bzw. einer "nationalen", rioplatensischen oder argentinischen Identität schloß der Begriff der patria, in den einzelnen Provinzverfassungen in unterschiedlichem Maße, nicht aus, worin sich auch die zeitgenössische Ungewißheit darüber ausdrückte, ob und inwieweit

34 55

"EI Republicano" (Córdoba) v. 13.4.1830. "El Abogado Nacional" v. 15.10.1818.

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die einzelnen Provinzen Ober eigene bzw. selbständige Entwicklungsmöglichkeiten verfügten, die nicht von Buenos Aires aus kontrolliert waren. Diese Vorstellungen über eine rioplatensische Identität waren jedoch vage und politisch unverbindlich. Klang der Gedanke einer rioplatensischen oder argentinischen Nation an, so geschah dies vor allem in der Form von Metaphern, wie Wiedergeburt der Nation, Körper der Nation, Söhne des Vaterlands oder auch "Mutterliebe". Berger/Luckmann (1980, lOOf) unterscheiden vier Ebenen der Legitimation, nämlich den Rekurs auf das Verwandtschafts Vokabular, regelhafte "Lebensweisheiten", explizite und geschlossene "Legitimationstheorien" sowie schließlich übergreifende "Traditionsgesamtheiten", die über die Alltagserfahrung hinausreichen und religiöser oder semi-religiöser Art sein können. Das "Vokabular der Verwandtschaft" stellt, diesem Modell zufolge, in der Hierarchie der unterschiedlichen Formen der sozio-kulturellen bzw. politischen Legitimation die unterste und einfachste Ebene legitimierender Erklärungen dar. Es fügt sich in diese Typologie, daß im zeitgenössischen politischen Diskurs der Kreolen insbesondere auf die Familienmetaphorik zurückgegriffen wurde, um der möglichen Schaffung einer "nationalen" Gemeinschaft und den damit verbundenen, vagen Optionen einer sozialen und politischen Integration Ausdruck zu geben. Zwar gab es soziale Gruppen, wie den katholischen Klerus, deren Gesellschaftsbild ohnehin organisch geprägt war und die die Vorstellungen der politischen Ordnung bzw. der Nation von daher traditionell in Analogie zu familiären Strukturen interpretierten. Dies galt nicht allein für die konservativen Gruppen des Klerus, wie den aus La Rioja stammenden Castro Barros (17771849), der das Familienmodell vor allem als Gegenbild zu gesellschaftlichen Ordnungsproblemen verwendete (vgl. Tonda 1961), sondern auch für modernisierungsorientierte Geistliche, wie Juan Ignacio Gorriti (1770-1842), der in gleicher Weise die Nationvorstellung aus dem Modell der Familie herzuleiten suchte (vgl. Gorriti 1916, 40f). Darüber hinaus spiegelten sich in dem Gebrauch der Familienmetaphorik im politischen Diskurs um und nach 1820 jedoch nunmehr der rudimentäre Charakter des Nationbildungsprozesses selbst, ferner die noch unklare Vorstellung von Nation überhaupt sowie schließlich die labile politische Balance zwischen den Provinzen wider, die es den zeitgenössischen Eliten nicht ermöglichten oder aber zumindest nicht angeraten erscheinen ließen, ihre vagen Nationvorstellungen in einer anderen Form als der von Metaphern, Bildern oder Analogien zu vertreten. Die Umschreibung der Nation mittels der Familienmetaphorik korrespondierte der rudimentären Institutionalisierung "nationaler" Beziehungen, wie sie sich in dem inter-provinzialen Pakt- und Vertragssystem der zwanziger und dreißiger Jahre darstellten. Der Verwendung der Familienmetaphorik kam dabei entgegen, daß diese, aus dem antiken Denken überliefert und durch die Aufklärung wie auch die Romantik neuerlich aktualisiert, ein in der politischen Kultur Hispanoamerikas geläufiges Argumentationsmuster darstellte, galt Spanien doch als die madre patria und hatte die Unabhängigkeitsbewegung umgekehrt das Bild des Erwachsenwerdens der Amerikas dazu benutzt, um die politische

SI Emanzipation von Spanien zu legitimieren (vgl. Lowenthal Felstinger 1983, 159f). Insofern war sie in hohem Maße konsensfähig, d.h. Politiker ganz unterschiedlicher Couleur konnten auf sie zurückgreifen. Rosas sprach ebenso von der "argentinischen Familie"36 wie Bernardino Rivadavia von den "Brudervölkern" im Landesinnern37. Dies verdeutlicht zugleich, daß die Familienmetaphorik (oder auch die Körpermetaphorik) ambivalent war, d.h. sowohl analog den provinzialen Eigeninteressen, etwa im Sinn der Beziehung gleichberechtigter Teile eines Ganzen, wie auch im zentralistischen oder unitaristischen Sinne, also als Betonung der patriarchalischen Autorität einer Zentralregierung, gelesen werden konnte. So sprach Rivadavia anläßlich seiner Wahl zum Staatspräsidenten 1826 von der Notwendigkeit, der Nation einen "Kopf" (Buenos Aires) zu geben, um darin das zentralisierende Ansinnen seiner Politik zu legitimieren38. Und umgekehrt hielt auch Quiroga, der Gouverneur von La Rioja und ein entschiedener Widersacher Rivadavias, an dem Gedanken einer Einheit der "Völker einer Familie" fest, lehnte den verfassungsgebenden Kongreß von 1824-1826 jedoch als Ausdruck des bonaerensischen "Despotismus" und als neuerlichen Versuch der dortigen, liberalen Elite ab, das Landesinnere zu "versklaven"39. Die Familienmetaphorik stellte insofern eine unter wechselnden Vorzeichen benutzbare Begrifflichkeit dar, was den Zeitgenossen im übrigen bewußt war. So hieß es in der Kritik der föderalistischen Presse am Kongreß von 1824-1826, daß die Kindheitsmetapher, die die Zentralisten gebrauchten, um das Verhältnis zwischen Buenos Aires und den Provinzen zu umschreiben, allein eine Verbrämung der politischen Vormachtansprüche der liberalen Führungsgruppe in Buenos Aires darstellen würde: Seguramente es bellísima la idea de tal infancia! porque si al abrigo del especioso petesto de infancia, deben esos seSores [Rivadavia] conducir á los pueblos con cuidado como á los niños, es indispensable que también les den sus buenos pescozones de cuando en cuando, para que anden ciegamente por donde se les mande, y no por donde ellos quieran y les convenga40. 5. Der romantisierende Nationbegriff Neuerlich veränderte sich die Nationvorstellung zu Beginn der dreißiger Jahre des 19. Jahrhunderts, was auch mit der psychologischen Konstellation der Eliten

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"Mensaje del Gobernador Juan Manuel de Rosas", 1.1.1837 (Mabragaña 1910,1312). Vgl. die "Mensaje..." von Bernardino Rivadavia v. 5.5.1823 bzw. 3.5.1824 (Mabragaña 1910,1 194, 202). M Rede Rivadavias anläßlich seiner Wahl zum Präsidenten der "Provincias Unidas del Río de la Plata" v. 8.2.1826 (Silva 1937, I 788). 39 Vgl. das Schreiben Quirogas vom 10.1.1830 an General Paz, in dem Quiroga die Grundgedanken seiner föderalistischen bzw. anti-bonaerensischen Anschauungen darlegte (Silva 1938, I 305f.). 40 "La Verdad sin Rodeos" (Córdoba) v. 6.1.1827. 37

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zusammenhing. Dies galt insbesondere für die Enttäuschungen über die politische Entwicklung der Region. Die politische Situation erschien auf dem Hintergrund der Eskalation der Bürgerkriege und der politischen Instabilität zumindest Teilen der Elite mitunter in einem derartigen Maße ausweg- und perspektivlos, daß die Bildung der Nation zu einer mehr oder minder fernen Utopie zu geraten drohte. Eine anschauliche Illustration dieser psychologischen Konstellation findet sich bereits in einem Schreiben des Generals Marcos Balcarce vom 3. Januar 1821 an den Gouverneur von Córdoba (Ravignani 1937, I 657), in dem es hieß: "En nada estoy tan empeñado como en que amanezca cuanto antes el dia en q e podamos llamarnos Nación, bajo cualquier [!] forma de Gob.no sancionado por sus Representantes, y en q.e empecemos á ser felices, despues de haber llorado tantos desgracias". Die Kette der Bürgerkriege ließ innerhalb der politisch-sozialen Führungsgruppen, und dies gilt auch für ihre zentralistisch gesonnenen Teile, das Bedürfnis nach einem Modell bzw. einer Vorstellung nationaler Entwicklung entstehen, die den tatsächlichen Gegebenheiten der Region angepaßt schien. Entsprechend verlagerten sich neuerlich die Perspektive, unter der die gesellschaftspolitische Entwicklung wie auch der Prozeß der Nationbildung betrachtet wurden, sowie die kategorialen Elemente, mit deren Hilfe die Nationvorstellung inhaltlich aufgefüllt wurde. Dies galt vor allem in dem Sinn, daß die Sphäre der staatlichen Politik generell, was ihre mögliche Funktion als ein, wie es der staatsbürgerliche Nationgedanke vorausgesetzt hatte, Instrument der nationalen Kohäsion und Entwicklung betraf, in zunehmendem Maße mit Mißtrauen und Skepsis betrachtet wurde. So machte bereits das Manifest der Honorable Junta de Representantes de la provincia de Buenos Aires vom 28. September 1820 (Mabragaña 1910,1 175f) die "gewalttätigen" Einwirkungen der Politik für die Brüche und Rückschritte im "nationalen" Entwicklungsprozeß verantwortlich. In der damit anklingenden Gegenüberstellung von den natürlichen Prozessen der Nationbildung einerseits und den gewalttätigen und destruktiven Einwirkungen der Politik andererseits findet sich eine Argumentationsfigur, die in dem romantischen Denken und konkret der Herderschen Geschichtsphilosophie, die über zeitweilig in Paris lebende Kreolen, wie Echeverría, bzw. über Chile Eingang in das La Plata-Gebiet fand41, zu ihrer Entfaltung gebracht wurde. Herder interpretierte die Nation als ein Lebewesen, als eine Individualität höherer Ordnung, die genuin nicht politischen Charakters sei. Die Nation galt ihm als eine natürliche Ordnung, deren Entstehung er von dem "täuschenden

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Über den Einfluß von Herders "Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit" (1784/85), die 1827 von Edgar Quinet ins Französische übersetzt wurden, auf das kreolische Denken in der La Plata-Region vgl. Stoetzer 1988, 649; Alberini 1930, 25.

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trostlosen Wege" ihrer politischen Geschichte abhob42. Im La Plata-Gebiet datierte die bewußte Rezeption der europäischen, vor allem französischen Romantik auf den Beginn der dreißiger Jahre des 19. Jahrhunderts. Echeverría publizierte seine ersten Gedichte im Mai bzw. Juni 1831 in der Zeitung "La Gaceta Mercantil", und im Dezember des Jahres veröffentlichte die Zeitschrift "El Lucero" einen programmatischen Artikel zur Geschichte des Romantizismus. Diese neue Bewegung fand ihren organisatorischen Ausdruck in der Gründung des Salón Literario in Buenos Aires im Jahr 1837, aus dem dann die Asociación de la Joven Argentina bzw. Asociación de Mayo hervorging. Obwohl ursprünglich um literarische und kulturelle Themen zentriert, war der argentinische Romantizismus eine eminent politische Bewegung. Einer ihrer Repräsentanten, Andrés Lamas, formulierte dies in den Worten, daß das romantische Denken keine l'art pour l'art darstellen würde, sondern vielmehr dazu diene, die Menschen von der überkommenen, "rückständigen" Routine zu befreien und in diesem Sinn die gesellschaftliche Modernisierung zu fördern43. Dieser politische Impetus richtete sich zunächst gegen Spanien. Das Ziel der argentinischen Romantiker war es, nun auch auf dem geistigen und intellektuellen Gebiet die Emanzipation von dem früheren Mutterland zu vollziehen, die die Revolution vom Mai 1810 im politischen Bereich vollbracht habe. Die Hinwendung zur Romantik erschien dabei als das geeignete Mittel, sich von der vorgeblich aus der Kolonialgeschichte überlieferten, geistigen Bevormundung durch Spanien und dem Fortwirken der die Entwicklung hemmenden Bräuche und Gewohnheiten zu befreien, die als eine Hypothek auf den "jungen" Ländern und Nationen zu lasten schienen. Die damit verbundene Suche nach neuen und gleichsam autochthonen Begriffen und Gedanken umfaßte sowohl Bestrebungen zur Formulierung einer eigenständigen Politik und Gesetzgebung wie auch zur Schaffung einer "nationalen" Literatur44, die dem Selbstverständnis der amerikanischen Gesellschaften Ausdruck zu geben verstand, und reichte schließlich bis hin zu der Diskussion einer spezifischen, vom Kastellanischen unterschiedenen argentinischen Nationalsprache (vgl. Crawford 1961, 13f). Die sogenannte Generation der Romantiker von 1837 formulierte damit eine Frage, die bereits im Diskurs der kreolischen Eliten anläßlich der Legitimation der Unabhängigkeitsbewegung eine Rolle gespielt hatte und die auch in der Folgezeit (und im Grunde bis heute) in der Diskussion um das Selbstverständnis der amerikanischen Nationen von zentraler Bedeutung sein sollte, nämlich die nach dem Besonderen oder Eigentümlichen, das den neuen Gesellschaften bzw. Nationen eigen sei und das sie von Spanien bzw. Europa unterscheiden würde.

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Zitiert in Vogt 1967, 86. Zu Herder vgl. Metz 1986. "El Iniciador" (Montevideo) v. 15.4.1838. 44 Vgl. Miguel Cañé, "Literatura", in: "El Iniciador" (Montevideo) v. 15.5.1838, sowie Félix Frías, "La poesía nacional", ebenda, Ausgabe v. 1.9.1838. 43

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Darüber hinaus bezogen die Romantiker in zunehmendem Maße in den innergesellschaftlichen Konflikten der Region Position. Am 6. Dezember 1829 war Juan Manuel de Rosas erstmals zum Gouverneur der Provinz Buenos Aires gewählt worden, der in den Augen der Gruppe um Echeverría, Alberdi, Sarmiento etc. zunehmend die politische Reaktion schlechthin verkörperte und die Errungenschaften der Mairevolution von 1810 zu paralysieren drohte. Zugleich waren die kritischen Intellektuellen der Generation von 1837 jedoch gezwungen anzuerkennen, daß das unitaristische Modell der politischen Entwicklung und Modernisierung gescheitert war, weil es, wie man glaubte, die soziale und politische Wirklichkeit der Region nicht hinreichend in Betracht gezogen hatte. Das romantische Denken gewann aufgrund dieser Konstellation eine besondere Funktion. Zwar rezipierte es das europäische Denken, zumindest ausschnitthaft, aber seine Dynamik bezog es aus der genuin amerikanischen Frage, warum die Mairevolution von 1810 nicht zu dem erhofften Fortschritt des Landes, sondern in den Bürgerkrieg geführt hatte, und wie sich dieser "Rückfall" der Region in die "Barbarei" und die Traditionen des "alten Spanien"43 erkläre. Die Romantik konturierte sich damit als die Bereitschaft bzw. das Bestreben eines Teils der Urbanen, liberal gesonnenen und modernisierungsorientierten Elite, die gesellschaftlichen Verhältnisse im Landesinnern und die Gegebenheiten in den ländlichen Regionen überhaupt zur Kenntnis zu nehmen, um darauf aufbauend eine der Wirklichkeit der Region angemessene politische Entwicklungsstrategie konzipieren zu können (vgl. Echeverría 1940, 206ff). In seinem 1837 verfaßten "Fragmento preliminar al estudio del Derecho" versuchte Juan Bautista Alberdi, der Arbeit des Salón Literario ein entsprechendes Programm zu geben. Alberdi nahm einen gesetzmäßigen Entwicklungsprozeß der Gesellschaften an, in dessen Verlauf die Nationbildung sich als eine Form der Individualisierung nationaler Gemeinschaften gemäß ihren jeweiligen Anlagen und Besonderheiten vollziehen würde. In dem Vortrag, den Alberdi anläßlich der Eröffnung des Salón Literario 1837 hielt, sprach er von der Notwendigkeit eines Vergleichs "[...] de nuestro desarrollo histórico, con la ley filosófica de todo progreso nacional." (Weinberg 1977, 143). Zu diesen Voraussetzungen sich individualisierender Nationbildungsprozesse zählte Alberdi die Einflüsse von Natur und Territorium, die des Klimas und demographischer Faktoren sowie die Traditionen einer Gesellschaft. Eine erfolgreiche Nationwerdung setze voraus, daß diese Entwicklungsbedingungen der Nation begriffen würden, was Echeverrías Forderung entsprach, sich der gesellschaftlichen Realität zuzuwenden. Dieser Erkenntnisprozeß sei Aufgabe der Philosophie bzw. konkret der Geschichtsphilosophie, die das Prinzip der eigenen "Nationalität" zu entdecken und es den politischen Entscheidungsträgern bewußt zu machen

45

So Sarmiento in "La Gaceta del Comercio" v. 28.10.1843.

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habe, damit die Politik in Einklang mit den Gesetzen historischer Entwicklung zu bringen sei 46 . Auf die Implikationen dieser Anschauung im Hinblick auf die Entwicklung des historischen Diskurses wird im folgenden Kapitel zurückzukommen sein. Hier bleibt zunächst nur festzuhalten, daß der sich damit entwickelnde, romantisierende Nationbegriff im zeitgenössischen Kontext neue politische Handlungsoptionen eröffnete. Seine erste Funktion bestand darin, den Nationbildungsprozeß aus seinem Kontext politischer Fehlentwicklungen zu lösen und statt dessen als ein Produkt naturhafter, einer inneren Logik gehorchender Entwicklungs- oder auch Wachstumsprozesse darzustellen, die sich unabhängig und gleichsam unterhalb der Ebene der Politik vollziehen würden. Zweitens bestand eine wichtige Leistung dieses Denkens darin, die Nationvorstellung neuerlich zu verzeitlichen. Die organische (vgl. Ambros 1963) bzw. naturalistische Nationvorstellung, die die Nation als ein Produkt klimatisch-geographischer Gegebenheiten oder in der Form der Familienmetaphorik umschrieb, hatte entwicklungsgeschichtliche Vorstellungen paralysiert oder aber auf naturale Zeitvorstellungen zurückgegriffen, soweit der Begriff der Nation als eine prozeßhafte Kategorie begriffen wurde. Zwar war auch der romantisierende Nationbegriff von diesem organischen Gesellschaftsverständnis geprägt. Aber anders als der organische Nationgedanke war sein romantisierendes Äquivalent, indem es nunmehr auch die Geschichte in kategorialer Hinsicht als ein nationbildendes Element definierte, in höherem Maße dazu brauchbar, zeitlichen Wandel bzw. historische Veränderungsprozesse in einem Bild von Entwicklung zu integrieren. Drittens schließlich eröffnete dieses Nationverständnis damit neuerlich politische Handlungsperspektiven, sofern diese nur auf der "richtigen" Kenntnis der gesellschaftlichen Bedingungen und der Gesetzmäßigkeiten dieser Prozesse beruhten. Die romantisierende Nationvorstellung war damit, zumindest langfristig, dazu tauglich, innerhalb der politischen Eliten einen Konsens über die eigene Geschichte zu befördern und die Geschichte dadurch in politischer Absicht wieder für das Projekt der Nationbildung legitimationsfähig zu machen. Die Hinwendung zum romantisierenden Nationverständnis setzte um 1830/1831 ein, als in der politischen Öffentlichkeit auf die gemeinsame Geschichte der Region als ein politisch verbindendes Moment hingewiesen wurde47. Im Rahmen des politischen Diskurses formulierte der Gouverneur der Provinz Corrientes, Pedro Ferré, dieses neue, romantisierende Konglomerat nationbildender Faktoren, also das Zusammenspiel von Herkunft, Geschichte, Brauchtum, Sprache und Religion, erstmals explizit im Jahr 1831, wobei er den entwicklungsgeschichtlichen Aspekt dieser Faktoren betonte:

Vgl. Ciapuscio 1985; Terán 1988. Vgl. etwa "La Aurora Nacional" (Córdoba) v. 15.12.1830, über "un pueblo á quien la misma suerte [...] ha unido con los demás pueblos". 44 47

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Los pueblos estaban obligados a reunirse en cuerpo de nación por la fuerza irresistible del instinto, que inspiraba esta necesidad a hombres que habitaban un mismo continente, que tienen los mismos hábitos y costumbres, que habían mezclado su sangre en el largo período de más de trescientos aSos, que se comunican entre sí por relaciones de interés, que hablan un mismo idioma; y finalmente, que profesan una misma religión y un mismo culto: elementos todos que habían producido una masa inmensa de simpatías y de afecciones personales (Chiaramonte 1989b, 91). Fragen wir nach den Gründen, warum der romantisierende Nationbegriff nach 1830 in Gebrauch kam und warum er offenbar zuerst in den politischen Führungsgruppen von Corrientes Anklang fand, so sind verschiedene Faktoren zu berücksichtigen. Die Wirtschaft von Corrientes, die noch stärker nach merkantilistischen Prinzipien funktionierte und in stärkerem Maße als die in den Nachbarprovinzen diversifiziert war (vgl. Chiaramonte 1991a), hatte unter der Freihandelspolitik von Buenos Aires in besonderem Maße zu leiden, die, so die Kritik, allein dem Wohl der porteños gedient, die "Industrie" im Landesinnern jedoch ruiniert und die dortigen Provinzen ausgesogen habe48. Ferré suchte aus diesem Grund das Heil der Provinz in zwei Maßnahmen, nämlich einmal einer protektionistischen Politik, ein anderes Mal in einer politischen Koalition der Provinzen gegen die bonaerensische Freihandelspolitik. Der politische Gebrauch des romantisierenden Nationbegriffs war damit von Beginn an in eine konkrete wirtschaftliche wie auch politische Interessenkonstellation eingebunden, die aber in sich ambivalent und widersprüchlich war, weil die Bestrebungen zur Abschottung der Provinz mit dem Ziel kollidierten, über ein inter-provinziales Bündnis den bonaerensischen Hegemonialanspruch zu brechen. Die Kritik an Buenos Aires hatte dabei primär ökonomische Aspekte im Auge, d.h. insbesondere die bonaerensische Kontrolle des Außenhandels sowie der Zölle, die von den Eliten im Landesinnern bereits in den zwanziger Jahren als eine neue Form des "Kolonialismus" bezeichnet worden war, da sie die von der "Natur und der Vernunft" diktierte Gleichheit der Provinzen zerstören würde49. Die Verteilung der nationalen Einkünfte zugunsten von Buenos Aires, begründet in seiner Lage an der La Plata-Mündung, ließe, so die gängige Argumentation, nicht zu, daß die anderen Provinzregierungen eine Politik zum Wohl ihrer Regionen betreiben könnten ("Todos los pueblos consumen y todos producen, todos concurren al

" Vgl. dazu die Schreiben Manuel Leivas (Corrientes) und Juan Bautista Marina v. 9.3.1832 bzw. 20.3.1832 an Tadeo Acuña (Silva 1937, I 2750- Diese Briefe wurden der Öffentlichkeit bekannt und riefen in der bonaerensischen Presse wie auch konkret seitens Rosas' eine scharfe Reaktion hervor. Pedro Ferré stellte sich daraufhin in einem Schreiben v. 22.6.1832 an Rosas hinter Leiva und dessen Anklage der bonaerensischen Politik (Silva 1937,1 281t). 49 "El Filantrópico 6 el Amigo de los Hombres" (Córdoba) v. 15.1.1824.

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trafico con el extrangero, y solo Buenos Ayres disfruta los derechos de importación"50). Die Verantwortung dafür wurde, auch zum Zweck der Mobilisierung der Bevölkerung gegen die bonaerensische Politik, der "oligarchischen" Elite von Buenos Aires zugesprochen, die die Rechte der Provinzen im Landesinnern "vergewaltigen" würde51. In letzter Konsequenz erschien Buenos Aires als eine neue Kolonialmacht oder auch als "neues Cadiz" in der Region52. Der Amtsantritt von Rosas als Gouverneur von Buenos Aires im Jahr 1829, der damit verbundene Triumph der Föderalisten in der Provinz und die 1830 vorgenommene Neuverhandlung des inter-provinzialen Pakt-und Vertragssystems ließ den Führungsgruppen im Landesinnern und konkret Ferré die Gelegenheit günstig erscheinen, die Stellung der Provinzen zueinander neu zu regeln. Diese Konstellation stellte den politischen Hintergrund für die Rezeption des romantisierenden Nationbegriffs in der politischen Öffentlichkeit dar. Zum einen profitierte seine Verbreitung dabei von den Ermüdungen der Bürgerkriege und den Wünschen nach der Errichtung einer stabilen Ordnung. Die Provinzen im Innern, so der Finanzminister der Provinz Buenos Aires am 25. Juni 1830 in einem Brief an Rosas, "nunca han estado tan uniformes en un sentimiento. Están cansadas de mudanzas, y desazones, están temerosas de la anarquía, y su miseria las trae desesperadas [...]" (Nicolau 1989, 63). Die potentielle Funktion der romantisierenden Nationvorstellung bestand zum anderen darin, eine neue Form der ökonomischen und politischen Organisation der Region zu begründen, die zwei Prämissen umschloß. Die erste bestand in der Einsicht, daß die Provinzen im Landesinnern als vereinzelte Staatsgebilde nicht über die notwendigen Ressourcen verfügten, um sich selbständig und gegen Buenos Aires zu entwickeln. Entsprechend wandte sich die politische Argumentation gegen die "Isolation", in die die Provinzen durch die Bürgerkriege getrieben worden seien, und die ihrer Entwicklung abträglich wären53, und insoweit bestand das politische Ziel in dem Zusammenschluß der Region, der das Landesinnere "untrennbar" mit Buenos Aires verbinden würde54. Zweitens wurde jedoch ein Gleichheitsprinzip der Provinzen geltend gemacht, das sich gegen die Privilegien und die Hegemonie von Buenos Aires richtete. Dieser Gleichheitsanspruch war nunmehr aber nicht länger über die natürlichen Bedingungen in der Region begründbar, hatte man doch gerade deren Verschiedenheit bis dahin hervorgehoben, um die Autonomie der einzelnen Provinzen zu rechtfertigen. Es war deshalb in legitimatorischer Hinsicht notwendig, nunmehr zum Zweck der Integration der Region auf andere, verbindende und egalisierende Faktoren zurück-

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"El Filantrópico ó el Amigo de los Hombres" (Córdoba) v. 9.5.1824. "La Verdad, sin Rodeos" (Córdoba) v. 24.12.1826 bzw. v. 4.3.1827. 52 So die Formulierung in "La Aurora Nacional" (Córdoba) v. 24.12.1830; vgl. ferner "La Aurora Nacional" (Córdoba) v. 29.12.1830: "Las leyes coloniales rigen aun en el consejo de Buenos Aires [...]". 53 So in dem Artikel "Aislamiento" in: La Aurora Nacional" (Córdoba) v. 31.12.1830. 54 "La Aurora Nacional" (Córdoba) v. 1.12.1830. 51

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zugreifen, wie sie der romantisierende Nationbegriff etwa über den Verweis auf die gemeinsame Sprache oder Geschichte beinhaltete. Der romantisierende Nationbegriff war also nivellierender Art, während der organische oder naturalistische Nationbegriff demgegenüber in stärkerem Maße segregierend gewirkt hatte. Sein politisches Komplement fand der romantisierende Nationbegriff nunmehr, nach 1830, darin, daß die Nationbildung als ein Vertragswerk der Provinzen behandelt wurde, d.h. als eine inter-provinziale Ordnung zum wechselseitigen Nutzen. Die Provinzen im Landesinnern würden voller "Enthusiasmus" jedes politische "Projekt" unterstützen, so der bonaerensische Finanzminister in dem bereits zitierten Brief an Rosas von 1830, "[...] que se les presenta un orden de mutuo sostén" (Nicolau 1989,64). Die Motive, die in dieses politische Projekt der Nationbildung eingingen, blieben (sehen wir von den politischen Ordnungsvorstellungen ab) in erster Linie wirtschaftlicher Art. Die Nationbildung blieb auch in ihrer romantisierenden Variante an die Interessen der sozialen Führungsgruppen gebunden, und die Nation wurde weiterhin aus deren Perspektive betrachtet und definiert. Insofern führte der romantische Nationbegriff nicht zu dem Idealbild einer auch in sozialer Hinsicht integrierten Nation: Die "Nation" blieb ein Elitenprojekt. Deshalb war es auch möglich, daß z.B. noch der "Almanaque Nacional" von 1856, der als aufklärerische Kalenderliteratur nützliche Kenntnisse und moralisierende Belehrungen zusammenstellte und bereits in einem Zeitraum erschien, als sich die romantisierende Nationvorstellung in der politischen Öffentlichkeit der Region weitgehend durchgesetzt hatte, die "Nation" ganz aus der Perspektive der Händlergruppen beschrieb, so wenn es hieß: "Sobre todo, la primera obligación de todo hombre es conocer el país en que ha nacido: conocer su forma física; los productos que encierra; el valor de ellos; el modo como se compran y venden; la manera como se transportan" (o.S.). Die auf dem romantisierenden Nationbegriff begründete Verschiebung von den provinzialen Gemeinschaftsvorstellungen zu einem "nationalen" oder argentinischen Selbstverständnis war zunächst zweifelsohne brüchig. Dies lag zuerst daran, daß die Identifikationen mit der provinzialen patria weiterhin überwogen, d.h. der politische Zusammenschluß der Region in erster Linie aus der spezifischen Interessenkonstellation der einzelnen Provinz heraus gedacht wurde, insoweit er dieser Vorteile zu bringen versprach. Eine "nationale" Trägergruppe, die den Nationgedanken im überregionalen Maßstab zu repräsentieren vermocht hätte, existierte, sieht man von akademischen Zirkeln ab, auch in den vierziger Jahren nicht. Auch Ferré (1990, 21) sprach weiterhin von der Provinz Corrientes als "mi patria". Zweitens spielte eine Rolle, daß die Hoffnungen, die man 1831 in das inter-provinziale Pakt- und Vertragssystem gesetzt hatte, sich nicht erfüllten, weil, so der Vorwurf Ferrés (1990, 69) im Jahr 1845, auch Rosas an dem überkommenen bonaerensischen Hegemonialanspruch festgehalten, den Reichtum der Region monopolisiert und sich, wie es ohnehin die Art der Bewohner von Buenos Aires wäre, als legitimen Erben Ferdinands VII. gefühlt und gebärdet, d.h. Kolonialpolitik betrieben habe.

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Hinzu kamen drittens schließlich allgemeine Gründe, wie z.B. der demographische Faktor. Die europäische Zuwanderungsbewegung, die im litoral bereits in den vierziger Jahren gezielt gefördert wurde, erschwerte es, die Nation bzw. den Gedanken einer argentinischen Nationalität aus einer gemeinsamen Geschichte der Bürger herleiten zu wollen. So beklagte Sarmiento schon 18S2 dieses Problem, eine "[...] fuerte unidad nacional" errichten zu müssen, "sin tradiciones, sin historia y entre individuos venidos de todos los puntos de la tierra" (Botana 1977, 320). Ungeachtet dieser Schwierigkeiten, Konflikte und Vorbehalte setzte sich die romantisierende Nationvorstellung jedoch in den vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts allmählich in der politischen Öffentlichkeit durch. Die Gründe dafür waren unterschiedlich gelagert. Von grundlegender Bedeutung war der Umstand, daß die wirtschaftlichen Entwicklungsperspektiven, die die Integration der Region in eine geänderte Weltmarktstruktur versprachen, entsprechende politische Begleitmaßnahmen unumgänglich erscheinen ließen. Die nationale Organisation der Region und die Entwicklung der wirtschaftlichen Ressourcen galten zunehmend als untrennbar miteinander verwoben. Die inter-provinzialen Konflikte und Bürgerkriege und letztlich die gesamte provinziale Kleinstaaterei wurden vor diesem Hintergrund von den modernisierungsorientierten Eliten in den einzelnen Teilregionen als zunehmend dsyfunktional empfunden. Hinzu kamen politische Motivationen, die ihren gemeinsamen Nenner in der sich ausbreitenden Opposition gegen die Regierung von Rosas an der Spitze der Provinz Buenos Aires hatten. Für die politischen Widersacher von Rosas, die sich überwiegend im Exil in Montevideo, Chile oder auch Bolivien befanden, zeichnete sich erstmals nach 1845 die Möglichkeit ab, Urquiza, zu diesem Zeitpunkt Gouverneur der Provinz Entre Ríos und eine der mächtigsten Figuren im litoral, für eine Koalition gegen Rosas zu gewinnen. Die Emigrantengruppen benutzten den romantisierenden Nationbegriff vor diesem Hintergrund als legitimatorische Klammer einer anti-rosistischen Koalition, deren Verwirklichung sie anstrebten. Valentin Aisina, zu diesem Zeitpunkt in Montevideo lebend, schrieb 1851 in diesem Sinn an Félix Frías (Rodríguez 1922, III 487), daß unabhängig von seinem bisherigen politischen Verhalten (dies bezog sich auf die bis dahin praktizierte Unterstützung Rosas' durch Urquiza) nun derjenige "Argentinier" sei, der zum Sturz des "Monstrums", also Rosas, beitragen würde. Anders gelagert war die Interessenkonstellation im Landesinnern. Der romantisierende Nationgedanke und die Vorstellung einer nunmehr "argentinischen" Gemeinschaft (dieser Begriff fand im politischen Diskurs seit etwa 1826 zunehmend Verwendung) richteten sich nicht allein gegen das System von Rosas, sondern zielten grundsätzlich gegen die Vormachtstellung der Provinz Buenos Aires. Die "argentinische" Nationvorstellung, die zugleich eine Rücknahme provinzialer Identitäts- und Loyalitätsgefühle beinhaltete, gab der Absicht der Provinzgouverneure Ausdruck, Buenos Aires unter die Kontrolle einer "nationalen" Regierung zu zwingen. Die verfassungsgebende Versammlung, die 1852 nach dem Sturz von Rosas zusammentrat, wurde aus diesem Grund von vornherein

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als Repräsentant der "nationalen" Interessen definiert (was sie im übrigen von dem Kongreß von 1824 bis 1826 unterschied, wo die Ansicht, daß die Deputierten die Nation, nicht aber die Provinzen vertreten würden, noch heftigen Widerspruch hervorgerufen hatte). 1852 demgegenüber war diese Kontroverse im Sinn der "Nation" entschieden, und zwar nunmehr von Seiten der Provinzeliten her. So begrüßte Urquiza die Deputierten auf der Eröffnungssitzung als "Deputierte der Nation" (Silva 1937, I 861). Und im gleichen Sinn argumentierte der Deputierte Zapata auf der Sitzung vom 22. April 1853, daß es notwendig sei, das nationale Identitätsgefühl von der Provinz auf die Konföderation zu übertragen. Jeder müsse sich "mas argentino que provinciano" fühlen, "[...] corno debemos serio todos" (Ravignani 1937, IV 496). Die Propagierung des romantisierenden Nationbegriffs ging damit neuerlich auf politische Interessenlagen zurück, die in sich heterogen waren und nur vorübergehend, d.h. zu Beginn der fünfziger Jahre, ein einendes Band in der Opposition zu Rosas fanden. Das anti-rosistische Bündnis zerbrach im Frühjahr 1852 jedoch schnell, als Rosas ins Exil nach England gezwungen wurde und nunmehr die neue politische Klasse in Buenos Aires, die sich in erster Linie aus den vormaligen Emigrantenkreisen zusammensetzte, mehrheitlich nicht dazu bereit war, auf den bonaerensischen Hegemonialanspruch in der Region zu verzichten. Buenos Aires erklärte sich nach der sogenannten Septemberrevolution von 1852 neuerlich zum unabhängigen Staat, wodurch der Konflikt zwischen der Provinz und dem Landesinnern (Konföderation) in eine neue Phase trat, ohne daß die Provinzen im Landesinnern jedoch über die Ressourcen verfügt hätten, um diesen Konflikt längere Zeit durchzustehen. Aus dieser Situation heraus suchte die Regierung der Konföderation nunmehr Ende der fünfziger Jahre die endgültige politische Entscheidung im Konflikt mit Buenos Aires. Am 26. März 1858 schrieb Urquiza an Alberdi, daß man nun nicht länger warten könne und die "Situation" entschieden werden müsse (Mayer 1963, 563), und in einem Brief im Mai des Jahres fügte er hinzu, daß die "Frage der argentinischen Nationalität" jetzt endgültig zu regeln sei (Mayer 1963, 569). Der Kongreß der Konföderation autorisierte am 20. Mai 1859 die Regierung, auf friedlichem oder auf gewalttätigen Wege die nationale Integrität des Landes herzustellen und die "abtrünnige" Provinz Buenos Aires in die nationale Ordnung einzugliedern. Der romantisierende Nationgedanke diente in dieser politischen Konstellation von Seiten der Führungsgruppen im Landesinnern dazu, die Einbindung der Provinz Buenos Aires in einen gemeinsamen argentinischen Nationalstaat zu legitimieren, der unter der Kontrolle der nicht-bonaerensischen Eliten stehen sollte, während er von den zentralistischen Gruppen in Buenos Aires dazu benutzt wurde, um den Zusammenschluß des Landes unter der Vorherrschaft der eigenen Provinz zu legitimieren. Er umfaßte, bezogen auf die kategorialen Elemente der Nation, die sprachlich-kulturellen Aspekte, ferner den Hinweis auf die gemeinsame, "heilige" Geschichte (Revolution von 1810) sowie die traditional gebräuchlichen klimatisch-

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geographischen Faktoren, die ihrerseits als Determinanten verbindender Bräuche, Lebensweisen und charakterlicher Dispositionen galten: La Provincia de Buenos Aires, que con nosotros adquirió glorias inmarcesibles, que como nosotros, soportó el yugo ominoso de una larga dictatura; esa hermosa provincia, cuyo destino es uno con el nuestro, porque no podemos renegar los juramentos hechos en los días santos de la revolución de 1810; porque la sangre, el idioma, la religión, la geografía, nos han impuesto leyes á las cuales seria insensatez querer substraerse; esa rica provincia, que tantas y tan verdaderas simpatías cuenta en la Confederación, no forma hoy, de hecho, parte de la comunidad argentina55. Entschieden wurde dieser Konflikt militärisch: 1861 besiegte die Nationalgarde von Buenos Aires die Truppen der Konföderation in der Schlacht bei Pavón. 6. Zwischenergebnis In dem Zeitraum nach 1810 bildete sich zuerst ein politisch geprägter Nationbegriff aus, der in erster Linie von den aufklärerisch und liberal gesonnenen Teilen der Elite von Buenos Aires getragen wurde. Dieser Nationgedanke gruppierte den Prozeß der Nationbildung um die Errichtung einer zentralstaatlichen Regierungsgewalt, die die Nation in der Form eines Staatsbürgerkörpers zu integrieren suchte. Er korrespondierte insoweit dem Hegemonialanspruch der politischen Klasse von Buenos Aires. Die Gründung sich als unabhängig deklarierender Provinzstaaten innerhalb der Grenzen des ehemaligen Vizekönigreichs wie auch die Verschärfung der sozialen Konflikte forcierten seit ca. 1815, und verstärkt nach der Krise von 1820, die Zuwendung zu einem organischen Nationverständnis. Dieses bildete die zeitgenössischen Reaktionen auf die sogenannte Anarchisierung der Region ab und wurde insbesondere zur Legitimation der provinzialen Eigeninteressen benutzt. Das inter-provinziale Pakt- und Vertragssystem wie die Umschreibung der Nation mittels der Familienmetaphorik stellten in diesem Zeitraum die rudimentären Bindungen eines nationalen Gemeinschafts Verständnisses dar, das über die einzelnen Provinzstaaten hinausging. Das romantisierende Nationverständnis, das seit den frühen dreißiger Jahren entfaltet wurde, gestaltete sich im zeitgenössischen Kontext letztlich als das geeignete Begriffsinstrument, um die nationalstaatliche Organisation der Region in der Vorstellungswelt der politischen Öffentlichkeit als einen Entwicklungsprozeß zu begreifen. Die romantisierende Nationvorstellung reagierte auf die krisenhafte Entwicklung der Region und bezog daraus auch ihre spezifisch kreolischen, von der europäischen Romantik verschiedenen Konnotationen. Sie vermochte ihre integrierende Funktion in dem Maße auszu-

55

"Mensaje del Vicepresidente de la Confederación Argentina Salvador María del Carril al abrir las sesiones del congreso legislativo federal", 15.5.1859 (Mabragaña 1910, III 145).

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füllen, wie zunächst die Urbanen, moderaisierungsorientierten Teile der Elite versuchten, in der Formulierung ihrer EntwicklungsVorstellungen die Realitäten des Landesinnern zu berücksichtigen, und wie schließlich die wirtschaftlichen und politischen Interessenlagen der modernisierungsorientierten Teile der Provinzeliten den politischen Zusammenschluß der Region begünstigten. Der romantisierende Nationgedanke schuf in gedanklicher Hinsicht die Voraussetzung dafür, daß die Bildung einer argentinischen Nation vorstellbar und im Kontext des interprovinzialen Vertrags- und Paktsystems als eine Ordnung wechselseitigen Vorteils verhandelbar blieb. Die Geschichte des Nationbegriffs im La Plata-Raum zwischen 1810 und 1852 illustriert, daß der Nationgedanke nicht den begrifflichen Ausdruck einer irgendwie gearteten "nationalen" Bewegung der kreolischen Eliten darstellte. Der Nationgedanke war vielmehr ein begriffliches Instrument zur Legitimation politischer Machtverhältnisse und zur Kontrolle regional bzw. sozial begründeter Konfliktpotentiale (vgl. Carrera Damas 1976, 785). Seine Funktion bestand darin, aus der Kolonialzeit überlieferte Machtstrukturen, die unter anderem auf einer regionalen Hierarchisierung beruhten, je nach der politischen Interessenkonstellation zu konservieren oder aber in Frage zu stellen. Dieses Projekt der "nationalen Organisation" vermochte es nicht, die Separationsbestrebungen unterschiedlicher Regionen, wie im hoch-peruanischen Raum, in Uruguay oder in Paraguay, zu verhindern. Im Gebiet des heutigen Argentinien war es jedoch in dem Maße erfolgreich, wie das Landesinnere es nicht vermochte, dem bonaerensischen Entwicklungsmodell eine insbesondere auch in wirtschaftlicher Hinsicht perspektivreiche Alternative entgegenzusetzen. Der Prozeß der sogenannten nationalen Organisation des Landes, der nach 1850, als Urquiza den Widerstand gegen Rosas offen zu organisieren begann, einsetzte, sanktionierte damit letztlich in politischer Hinsicht die Verschiebungen des Wirtschaftsraums, die sich seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zur Geltung gebracht und die Entwicklungsperspektiven der Region auf die atlantische Seite der Region und deren Einbindung in den Weltmarkt verschoben hatten.

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HI. Zur Genese und Struktur des historischen Diskurses nach 1810 1. Politischer Diskurs und historische Symbolik Die Gesamtheit des Diskurses ist in den einzelnen historischen Epochen unterschiedlich gegliedert, d.h. die einzelnen Diskurstypen oder auch Gattungen, wie im 19. Jahrhundert die Wissenschaft, Literatur, Religion oder "Politik", teilen das Feld des Diskurses in variierenden Mustern unter sich auf. Diskursive Formationen bilden sich dadurch aus, daß sie einen eigenen Gegenstandsbereich zu konstituieren vermögen, indem sie einerseits in der Form Beziehungen zwischen einzelnen Phänomenen oder Teilbereichen der Wirklichkeit herstellen, daß diese als Teil einer zusammenhängenden Betrachtungsweise erscheinen, und indem andererseits disparate Begriffe aus diesen Aussagesystemen ausgeschieden werden. Indem der Diskurs die Formationsregeln, die er hervorbringt, selbst zum Gegenstand der Reflexion macht, entwickelt er sich zur Disziplin. Diese Unterscheidung von Diskurs und Disziplin erscheint hier sinnvoll, um Frühformen der Geschichtsschreibung im 19. Jahrhundert von ihrer späteren Verwissenschaftlichung abzugrenzen*. Der Begriff des historischen Diskurses bezeichnet im allgemeinsten Sinn den Prozeß, in dem GeschichtsVorstellungen hervorgebracht und verhandelt werden. In analytischer Hinsicht ist diese Bestimmung jedoch noch wenig nützlich, weil es im La Plata-Raum die Geschichte im Sinn einer eigenständigen, separierten diskursiven Formation in dem Zeitraum nach 1810 zunächst nicht gab. Die Gesamtheit des Diskurses in der kreolischen Gesellschaft war zu diesem Zeitpunkt anders untergliedert, d.h. vor allem die "Politik" und die "Literatur" teilten sich die Aufgabe, historische Aussagen, soweit sie gesellschaftlich abgefragt wurden, zu treffen und etwas über Geschichte zu sagen. Geschichtsvorstellungen kamen entsprechend nur in mehr oder minder fragmentarischer Form in der Öffentlichkeit vor. Ein historischer Diskurs bildete sich in Abgrenzung dazu erst in dem Maße aus, wie drei Kriterien einigermaßen erfüllt wurden. Zunächst mußten diejenigen, die sich mit der Geschichte befaßten, partíale Kommunikationsbeziehungen untereinander errichten, die primär der Verständigung über die Geschichte dienten. Dies geschah anfangs in informeller Art, d.h. in Gesprächskreisen und privaten Korrespondenzen, ehe diese Kommunikationsstrukturen allmählich institutionalisiert wurden. Als eine Zäsur in diesem Prozeß erscheint die Gründung des Historisch-Geographischen Instituts in Buenos Aires 1854, das einen arbeitsteiligen Gesprächs verbünd der Historiker (also derjenigen, die sich irgendwie mit Geschichte befaßten) herzustellen, ein "gleiches Denken" im Hinblick auf die Arbeitsweisen der Geschichtsschreibung zu fixieren und insofern der Gruppe

' Vgl. Foucault 1974, 1981. Diese Definition unterscheidet sich von der von Habermas (Ders./Luhmann 1979, 197), wonach dem "Diskurs" an sich die "Problematisierung des Geltungsanspruchs von Sätzen" eigen sei.

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der Geschichtsschreiber auch eine spezifische Identität zu verleihen suchte2. Später, seit den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts, kam die Publikation kultureller Fachzeitschriften hinzu, die der Historiographie in den Regel einen breiten Raum einräumten. Dieser Prozeß implizierte zweitens die Entwicklung bestimmter Regeln, Aussagetypen sowie Signifikanzkriterien, was die Hervorbringung wie auch die soziale Gültigkeit historischer Aussagen betraf. Insofern entwickelte der historische Diskurs den Anspruch auf Regelsetzungen historiographischen Arbeitens und in diesem Sinn, wenngleich lange Zeit nur in rudimentärer Form, auch auf Theoriebildung über historische Sinnbildungsleistungen. Schließlich ging die Ausbildung des historischen Diskurses mit der Hervorbringung eigener Funktionsleistungen des Geschichtsbewußtseins einher, wie insbesondere die der historischen Traditionsbildung, so daß die Geschichte nicht länger allein tagespolitischen Zwecken unterlag. Im Diskurs der politisch-sozialen Führungsgruppen um 1810 stand die Geschichte gänzlich im Zeichen unmittelbar politischer Funktionszuweisungen. Die historischen Aussagen befaßten sich dabei vor allem mit zwei Themenbereichen, nämlich der politischen Abgrenzung von Spanien sowie der Würdigung der Unabhängigkeitsbewegung, die als das maßgebliche Identifikationsmuster von Staat und Nation definiert wurde. Im Schatten der Tagespolitik sprachen die Eliten damit bereits die beiden großen geschichtlichen Themenbereiche an, die auch in der Folgezeit und über das 19. Jahrhundert hinaus die öffentliche historische Diskussion bestimmen sollten. Einmal handelte es sich dabei um die Frage nach dem historischen Erbe der Gesellschaft, also um die Einflüsse und Auswirkungen der spanischen bzw. umgekehrt der autochthonen Traditionen, die im übrigen nicht im engen Sinn als indianische diskutiert werden mußten, ein anderes Mal um die Suche nach den genuin nationalen und Kontinuität verbürgenden Traditionen der eigenen Geschichte, die sich in erster Linie um die Ereignisse der Jahre 1810 bzw. 1816 ranken sollten. In dem Manifest vom 25. Oktober 1817 (Mabragaña 1910, I 135), in dem der Congreso General Constituyente angesichts einer befürchteten europäischen Intervention die ein Jahr zuvor erklärte Unabhängigkeit der Region vor dem Ausland zu rechtfertigen suchte, findet sich eine komprimierte Anhäufung der Legitimationsmuster, die im kreolischen Denken für die Abgrenzung von Spanien herangezogen und später auch von der Geschichtsschreibung aufgenommen wurden. Die spanische Eroberung Amerikas wurde darin als ein Akt der Gewalttat, der Ausrottungspolitik und der Zerstörung angeprangert, dessen Charakteristika auch die folgenden drei Jahrhunderte der "apathischen" Kolonialzeit geprägt hätten. Die Erklärung von 1817 griff damit eine Argumentation auf, die auch auf dem Kongreß von Tucumán im Jahr 1816 verwendet und in dem die spanische Kolonialpolitik als Aggression verurteilt worden war,

2 Die "Bases orgánicas del Instituto Histérico-Geográfico del Río de la Plata" (3.9.1854) wurden im Band 3 (1941) des Anuario de Historia Argentina nachgedruckt.

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während die Unabhängigkeitsbewegung umgekehrt nur als der legitime Rückgewinn zuvor verlorener Rechte erschien: "[...] declaramos solemnemente á la faz de la tierra que es voluntad unánime é indubitable de estas Provincias, romper los violentos vínculos que las ligaban á los Reyes de EspaSa, recuperar los derechos de que fueron despojadas"3. Die Erklärungen von 1816/17 stellten die Unabhängigkeitsbewegung damit in eine Kontinuität zur präkolumbischen Geschichte bzw. in die eines traditionalen amerikanischen Widerstands gegen die spanische Imperialmacht4. Dieses indigene Argumentationsmuster, dessen Funktion darin bestand, den LoslösungsprozeB von Spanien durch den Rückgriff auf eine eigenständig-amerikanische, aber unterdrückte Geschichte zu legitimieren, trug in der Folgezeit im La Plata-Raum allerdings nicht sehr weit. Zwar postulierten Dekrete der ersten patriotischen Regierungen, nicht zuletzt in der Absicht einer Mobilisierung der indianischen Bevölkerung gegen die Spanier, wie auch die Erklärung der Asamblea von 1813 oder die Verfassungen von 1819 und 1853 die Gedanken der Befreiung und des Schutzes der Indianer wie die ihrer rechtlichen Gleichstellung, doch der sich entwickelnden Vorstellung von einer nationalen Gemeinschaft im La Plata-Gebiet galt die indianische Bevölkerung als etwas im Grunde Fremdes. Dies lag zum einen an dem sozialen und kulturellen Entwicklungsstand der indianischen Völker, auf die die Spanier nach 1516, als eine Expedition unter Juan Díaz de Solis erstmals das Gebiet am Rio de la Plata erreicht hatte, getroffen waren. In den Regionen des Chaco oder der Pampa repräsentierte die soziale und politische Organisation der teils nomadisierenden und vielfach kriegerischen indianischen Bevölkerungen nicht den Entwicklungsstand, wie ihn z.B. das zentralisierte Staatswesen der Inka im andinen Raum aufwies. Diese sozio-kulturellen Unterschiede, die in der Regel zwischen den im Hochland ansässigen indianischen Bevölkerungen Amerikas und denen in klimatischgeographisch anders strukturierten Regionen bestanden, waren für die Ausbildung eines politischen Selbstverständnisses in den jungen Republiken nach 1810 nicht ohne Bedeutung. Denn der legitimatorische Rückgriff auf die indianischen Bevölkerungen und deren kulturelle Standards war nur dann einigermaßen plausibel vorzubringen, wenn die spanische Administration der Kolonialzeit mit einem (in der spanisch-kreolischen Perspektive) in der präkolumbischen Zeit bereits vergleichsweise entwickelten sozialen und politischen System kontrastiert werden konnte, wie es in Mexiko oder Peru der Fall war. Hinzu kam im La Plata-Raum das Problem der indianischen Grenze: Die kriegerischen indianischen Völker im Gebiet der Pampa entzogen sich der

' "Acta de la Indpendencia", 9.7.1816 (Mabragana 1910,1 96). Der Vorwurf, daß die Inka-Krone durch die spanischen Monarchen usurpiert worden sei, war bereits in den Aufstandsbewegungen in Peru in den achtziger Jahren des 18. Jahrhunderts vorgebracht worden. Minguet (1982,22) spricht diesbezüglich vom "patriotisme archéologique". 4

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Aufsicht durch die Kolonialverwaltung bzw. später die republikanischen Regierungen und leisteten der spanischen bzw. kreolischen Gesellschaft bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts hinein einen mehr oder minder beständigen militärischen Widerstand. Auch aus diesem Grund bestand zwischen der kreolischen Gesellschaft und der indianischen Bevölkerung ein gebrochenes Verhältnis. Anders als in Mexiko oder im Andenraum, wo die demographische Struktur der Bevölkerung dazu beitrug, daß auch von kreolischer Seite die Frage nach der Rolle des indianischen Elements in dem Idealbild der eigenen Nation aufgeworfen werden konnte oder auch mußte (vgl. König 1991), galt die Behandlung der indianischen Bevölkerung den politischen Entscheidungsträgern im Gebiet des Rio de la Plata als ein letztlich militärisch zu lösendes Problem. Dies war auch deshalb der Fall, weil die kreolischen Eliten aus legitimatorischen Interessen daran interessiert waren, die Beziehung der kreolischen zu den indianischen Gesellschaften als einen Konflikt zwischen zwei "Welten" darzustellen, nämlich der europäischen, zivilisierten einerseits und der wilden und barbarischen andererseits, um aus diesem Grund die primär ökonomisch motivierten Expansionsbewegungen in die indianischen Siedlungsgebiete hinein zu rechtfertigen. Die Frage nach einer indianisch geprägten Identität der eigenen Nation und nach ihren präkolumbischen Traditionen war vor diesem Hintergrund in der kreolischen Gesellschaft am Rio de la Plata, verglichen etwa zu Mexiko, von nur geringerer Bedeutung und wurde letztlich nicht ernsthaft verfolgt. Das schloß allerdings nicht aus, daß die politische Propaganda versuchte, das indianische Element für die eigenen Zwecke zu instrumentalisieren, wie jüngst auch Ripodaz Ardanaz (1993) anschaulich beschrieben hat. Dies galt zunächst für die Auseinandersetzung mit Spanien. So beendete Bernardo de Monteagudo seinen Aufruf "A los pueblos interiores" vom 24. Januar 1812 (Romero/ Romero 1977 I, 296) mit den Worten, daß man unabhängig sein oder aber sterben werde, wie die inkaischen Helden, und Déan Funes erklärte in seiner "Oración patriótica" (vgl. Carbia 1939, 79), die er am 25. Mai 1814 in der Kathedrale von Buenos Aires las, daß die "Eingeborenen" vor ihrer Christianisierung durch die Spanier glücklicher gelebt hätten als in dem Zeitraum danach. Diese Instrumentalisierung der indianischen Kulturen oder Traditionen fand sich ferner auch in der Phase der Bürgerkriege, als verbündete oder sogenannte christianisierte Indianertruppen auf Seiten der einzelnen Bürgerkriegsparteien kämpften 5 . Die Abgrenzung von Spanien implizierte umgekehrt die identifikationssuchende Hinwendung zu der Unabhängigkeitsbewegung, die bereits frühzeitig als das zentrale Ereignis der amerikanischen Geschichte überhaupt interpretiert wurde. Bereits am 1. Juli 1812 beauftragte das Triumvirat in Buenos Aires den

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Zum Problem der indianischen Grenze vgl. Riekenberg 1993b, 1993c. Dort auch weitere Literaturhinweise.

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Geistlichen Fray Julián Perdriel, eine Geschichte über "nuestra feliz revolución" zu schreiben, "[...] para perperpetuar la memoria de los héroes, las virtudes de los hijos de la América del Sud, y la época gloriosa de nuestra independencia civil" (Caillet-Bois 1960, 20). Insbesondere die politischen Kräftegruppen, die eine staatsbürgerliche Nationvorstellung verfolgten, betrachteten die Beschäftigung mit der Geschichte der Unabhängigkeitsbewegung als eine Möglichkeit, um im politisch-erzieherischen Sinn tätig werden zu können und staatspatriotische Tugenden zu verbreiten. Dieser Zweck, wie die Zeitung "El Independiente" am 17. Januar 1815 schrieb, "ciudadanos decididos" im aufgeklärten und liberalen Sinn heranzubilden, schien vor allem durch die Hervorhebung der Heldengestalten der Unabhängigkeitsbewegung realisierbar zu sein, denen frühzeitig die Funktion zugedacht wurde, identitätsstiftende Traditionen zu fixieren und politisch-staatsbürgerliche Verhaltensweisen in vorbildhafter Form zu repräsentieren. Es sei notwendig, so etwa die Zeitung "El Abogado Nacional" am 24. Dezember 1818, über das Leben der "Männer", die als Revolutionäre agierten, zu schreiben und ihre "patriotischen" Verdienste hervorzuheben. Auf die Initiative Monteagudos hin beschloß die Asamblea im August 1813, das "Martyrium" der Revolution wie auch die Namen ihrer Helden in Aufzeichnungen festzuhalten, und 1826 erwog die Regierung Rivadavias die Errichtung eines Denkmals für die precursorses6, ohne daß dieses Vorhaben allerdings aufgrund der politischen Differenzen zur Ausführung gekommen wäre. Die "nationale" Geschichtsanschauung, die dadurch erste Konturen erhielt, war bruchstückhaft und im Grunde punktuell. Indem die kreolischen Eliten der spanischen Kolonialzeit alle positiven Züge absprachen und die Unabhängigkeitsbewegung von 1810 aus der historischen Kontinuität hinausrückten, galt die Mairevolution von 1810 als das eigentliche Begründungsmoment der nationalen Geschichte. "Siempre que las Provincias Unidas volviendo atrás sus ojos", so die Provinzversammlung von Buenos Aires im September 1820, "recuerden el hermoso oriente de su gloria en 1810" (Mabragaña 1910, I 175). Ein, was das Geschichtsverständnis betraf, Elitenkonsens war darüber jedoch nicht zu begründen. Dies lag zunächst daran, daß die Geschichte der Region selbst nach 1810 in einem derartigen Maße konfliktträchtig war, daß der Appell an historische Traditionen, die die politische und nationale Einheit der Region hätten verbürgen können, auf dem Hintergrund der wirklichen politischen Entwicklungen wenig überzeugend war. Die häufigen Macht- und Regierungswechsel, die sich im Zuge der Bürgerkriege in den einzelnen Provinzen vollzogen, führten ferner dazu, daß die jeweils die Regierungsgewalt innehabenden Fraktionen, soweit sie die Geschichte als Legitimationsinstanz nutzten, vor allem damit befaßt waren, eigene, segregierende Traditionsmuster zu entwerfen. Als z.B. die

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"Los nombres de los autores de nuestra feliz revolución deben pasar a la posteridad [...]" (Silva 1937,1 839).

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unitaristischen Truppen unter dem Befehl des General Paz im Jahr 1829 Córdoba eroberten, schrieb die Zeitung "Córdoba Libre" in ihrer Ausgabe vom 26. Juni: "Los dias 22 y 23 de junio de 1829 deben formar una época célebre en los fastos de nuestra historia." Partiale, nur lokal Geltung beanspruchende historische Traditionsmuster oder Symbole, die militärisch-politische Machtgewinne in einer Teilregion als historische Zäsuren oder neue Epochenbeginne auszugeben suchten, überlagerten insofern vielfach die potentiell gemeinschaftsverbürgende Geschichte im nationalen Sinn, wie die Mairevolution von 1810. Die Erinnerung an die Helden und die Geschehnisse der Mairevolution von 1810 sei, so denn auch die Kritik in der "Gaceta Mercantil" vom 25. Mai 1826, von dem "Chaos", das in der Region herrsche, vollständig "überdeckt" worden. Hinzu kam schließlich der vielfach kriegerische Charakter der Gesellschaft nach 1813 bzw. 1820, der dazu führte, daß die militärischen Erwägungen und vor allem die Fähigkeit, breitere, abhängige Bevölkerungsgruppen zu mobilisieren, in den Vordergrund des politischen Interesses rückten. Im Zuge dieser kriegerischen Wirren wurde die Geschichte in ihrer Funktion als eine Legitimationsinstanz un- oder zumindest weniger wichtig, so daß die Phase der Bürgerkriege sich im nachhinein auch als eine Phase des Geschichtsverlusts in der politischen Öffentlichkeit der Region darstellt. Eine nicht unwichtige Rolle spielte darin die Errichtung caudillistischer Systeme, die auf dem Hintergrund der politischen Legitimitätskrise nach 1810, des Zerfalls administrativer Strukturen, der Verlagerung politischer Einflußdifferentiale in das Landesinnere sowie schließlich der Militarisierung der Gesellschaft vorübergehend eine große Bedeutung im Hinblick auf die politische Organisation der Provinzen und die Wahrnehmung sozialer Kontroll- und Disziplinierungsaufgaben erlangten. Zwar verzichteten die einzelnen caudillistischen Führergestalten nicht zwangsläufig auf den Gebrauch einer historischen Symbolik für politisch-soziale Zwecke, aber gemeinhin ist festzustellen, daß die Geschichte einen nur geringeren Stellenwert in der caudillistischen Rhetorik besaß. Dies mag an verschiedenen Gründen gelegen haben, wie der personalen Ausrichtung der caudillistischen Systeme oder auch deren charismatischen Komponenten, die schärfer auf die Einzigartigkeit des einzelnen Caudillo und das Niedagewesene denn auf Traditionen und Kontinuitäten abhoben (vgl. Kahle 1980). Vor allem aber dürfte auch das Bestreben der caudillistischen Führergestalten eine Rolle gespielt haben, nicht allein über eine politische Begrifflichkeit oder das Versprechen sozialer Distributionsleistungen, sondern auch über kulturelle Identifikationen mit den abhängigen Bevölkerungsgruppen Loyalitäten aufzubauen. Es würde an dieser Stelle zu weit führen, die Herrschafts- wie auch Machtmechanismen, die die caudillistischen Systeme nach ca. 1813 entwickelten, im einzelnen beschreiben zu wollen. Hier muß der Hinweis genügen, daß die caudillistischen Führerfiguren im La Plata-Raum, zumindest ihre in politischer Hinsicht wichtigsten Vertreter, in der Regel den sozialen Eliten der Region angehörten oder aber eng an sie angeschlossen waren. Die caudillistischen Systeme wirkten in einer gesellschaftlichen Transformationsphase, die zwischen

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dem Bruch der kolonialstaatlichen Ordnung und der Konsolidierung der republikanischen Ordnung lag. Sie nutzten dabei bestehende administrative, juristische oder auch militärische Strukturen, wie das Milizwesen, agierten darüber hinaus jedoch auch abseits dieser institutionalisierten Herrschaftskanäle, weil die Aufgaben der militärischen Mobilisierung oder der sozialen Kontrolle abhängiger Bevölkerungsgruppen darüber entweder nicht oder nur unzureichend zu erbringen waren. Die caudillistischen Systeme wirkten in diesem Sinn in politisch-sozialer Hinsicht organisierend und stabilisierend, konnten jedoch in den Fällen, da sie eine weitergehende Autonomie von den traditionalen Elitegruppen erreichten, auch zur Veränderung überkommener Machtverhältnisse beitragen, wie es etwa in der Provinz Santa Fe der Fall war (vgl. Busaniche 1969). Die caudillistischen Führergestalten verfugten über unterschiedliche Machtpotentiale, die von den Klientel- und Patronagebeziehungen über soziale Distributionsleistungen bis hin zu offenen Gewaltmaßnahmen reichen konnten. Das Verhaltensmuster der kulturellen Identifikation stellte eines dieser Machtpotentiale dar. Der Zweck der kulturellen Identifikation bestand darin, die Kluft, die in sozialer Hinsicht zwischen den Caudillos bzw. den Elitegruppen und der abhängigen Bevölkerung vor allem im ländlichen Raum bestand, über symbolische Handlungen zu verringern, ohne daß deshalb die bestehende soziale Hierarchie in Frage gestellt worden wäre. Die Caudillos vollzogen zu diesem Zweck symbolische Assimilierungsprozesse an das ländlichmarginale Milieu, d.h. sie bauten sowohl im sprachlichen Bereich wie auch auf der Ebene der Verhaltensmuster Identifikationen mit abhängigen Sozialgruppen auf, um auf diese Weise wechselseitige Akzeptanzgefühle zu schaffen und politische Loyalitäten zu erzeugen. Der General Päz (1992, 23) schilderte entsprechende Verhaltensweisen bei Martin Güemes, der die Milizen in der Provinz Salta kommandierte7, und berühmt ist in diesem Zusammenhang auch die Äußerung von Juan Manuel de Rosas (Sampay 1972, 132), daß er keine Kosten scheuen und alles unternehmen werde, um in seinem Verhalten und seiner Sprache so zu werden wie seine "Gauchos" selbst. Neben der "Politik" war es vor allem die Literatur, die historische Aussagen machte, und es verdient dabei Beachtung, daß wir ähnlichen Verschiebungen von einer schärfer politisch-historischen Symbolik hin zu kulturellen Identifikationen, wie sie im Zuge der Bürgerkriege in der politischen Öffentlichkeit stattfanden, auch in der Literatur begegnen. In den volkstümlichen Literaturformen, also vor allem den Gedichten und Liedern (cielitos), überwog anfangs der politisch-heroische Impetus. Die frühen cielitos waren auf den Unabhängigkeitskampf bezogen, richteten sich gegen Spanien und propagierten den Gedanken einer amerikanischen Identität und Nation. Beispiele dafür bilden der 1816 in Buenos Aires erschienene, anonym verfaßte "Cielito de la

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"Principió por identificarse con los gauchos, adoptando su traje en la forma [...], afectando todas las maneras de aquellas gentes poco civilizadas".

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independencia"' sowie die frühen Arbeiten Bartolomé Hidalgos (1788-1822), der nach 1814 seine "cielitos patrióticos" schrieb. Dazu zählten u.a. der "Cielito a la venida de la expedición española al Río de la Plata" (1819), der eine anti-spanische Propaganda betrieb9, sowie der "Cielito patriótico para contar la acción de Maipú" (1818), der den Feldzug San Martins im chilenischen Raum glorifizierte. In dem Maße, wie die politisch-legitimatorischen Abgrenzungsleistungen gegenüber Spanien an Bedeutung verloren und die Bürgerkriege zum beherrschenden Thema in der Region wurden, änderte sich auch die Thematik der volkstümlichen Literatur. An die Stelle der patriotischen Liturgie und Symbolik, die auf literarischem Gebiet im Grunde das Komplement zu dem staatsbürgerlichen Nationgedanken und den staatspatriotischen Erziehungsvorstellungen im politischen Diskurs dargestellt hatte, trat nun stärker das Gauchomotiv. Nach 1820 verfaßte Hidalgo seine "Diálogos gauchescos", und im gleichen Jahr publizierte der Franziskaner Padre Castañeda seinen "Desengañador gauchi-político". In der Folgezeit setzte sich, unter wechselnden politischen Vorzeichen, diese Strömung einer literarisch verfahrenden Verklärung des Gaucho in den textos gauchescos fort, deren bekannteste Repräsentanten zunächst Hidalgo, später Hilario Ascasubi (1807-1875), der in Montevideo einschlägige Zeitungen und Schriften, wie "El Gaucho en campaña" (1839), publizierte (vgl. Estrada 1912, 149), sowie Estanislao del Campo (1834-1880) waren. In diesem Zeitraum, der ca. von 1820 bis in die Phase der Konfrontation zwischen der Konföderation und Buenos Aires in den fünfziger Jahren reichte, verfolgte die literatura gauchesca primär politische Propaganda- bzw. unmittelbar militärische Mobilisierungsfunktionen im Dienst der einzelnen Bürgerkriegsparteien. Die Verfasser dieser Texte entstammten dem städtischen Milieu und waren mitunter den akademischen Eliten zugehörig, wie Ascasubi, der aus Córdoba stammte, sich u.a. zu Studienreisen in Europa aufhielt, 1832 nach Montevideo emigrierte und in politischer Hinsicht auf der Seite des bonaerensischen Liberalismus stand. Der spezifische Charakter dieser Arbeiten bestand darin, daß entweder die Figur des Gaucho als stoffliches Motiv gewählt oder aber versucht wurde, die Texte im Rückgriff auf den Soziolekt der Gauchos zu verfassen. Die Verfasser versuchten dabei, sich an das Traditionsverständnis der Gauchos bzw. das, was man dafür hielt, anzulehnen und die mündlichen Überlieferungsformen zu wahren. Daraus resultierte eine Präferenz für literarische Formen, die erzähl- oder vortragbar waren. Antonio Machado sprach später davon (Poesía gauchesca 1977, XXXVIII), daß die literatura gauchesca die "Geschichte singen" würde.

* "Viva la Patria patriotas/ [...] Viva la Nueva Nación/ Cielito, cielo dichoso/ Cielo del americano" (Rojas 1917, 268). 9 "Ellos dirán: Viva el Rey/ nosotros: La independencia/ [...] No queremos españoles/ que nos vengan a mandar/tenemos americanos/ que nos sepan gobernar" (Poesia gauchesca 1977, 3f).

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Die Texte gewannen dadurch in thematischer und stilistischer Hinsicht einen "folklorischen" Charakter (Rojas 1917, 544), d.h. sie vollzogen das Verhaltensmuster der kulturellen Identifikation, wie es in der politischen Öffentlichkeit und in der caudillistischen Rhetorik Verbreitung fand, im literarischen Diskurs nach. Einen "populistischen" Nationbegriff verbreiteten sie deshalb, wie Nicolas Shumway (1991, 73) behauptet, allerdings nicht, ging es den Verfassern doch darum, die im Zuge der Unabhängigkeits- und Bürgerkriege mobilisierte Landbevölkerung für die jeweiligen politisch-militärischen Zwecke der einzelnen Bürgerkriegsparteien zu gewinnen, ohne deshalb die Nation von neuen, unteren sozialen Trägergruppen her definieren zu wollen. Im Zuge der dreißiger und vierziger Jahre des 19. Jahrhunderts entwickelten sich vor diesem Hintergrund Buenos Aires und das politisch opponierende Montevideo zu den beiden Zentren der Produktion von textos gauchescos im La Plata-Raum. Auch die Teile der Elite, die mit diesem Schrifttum nicht unmittelbar zu tun hatten, erkannten frühzeitig die propagandistische Bedeutung dieser Literatur, die über lose Blätter zu verbreiten versucht wurde und, wie Rojas (1917, 390f) behauptet, im Landesinnern breite Resonanz fand. Valentin Aisina sprach 1848 davon, daß die literatura gauchesca, weil sie "so viel Anklang" unter der "ungebildeten Klasse" der Gesellschaft besitze, einer "scharfsichtigen Verwaltung" dazu dienen könne, "diese Massen zu erziehen", und Juan María Gutiérrez sprach im gleichen Sinn von der potentiellen politisch-pädagogischen Funktion der Texte, "[...] a convertir los espíritus de la gran mayoría del país a los dogmas de la revolución" (Poesía gauchesca 1977, XVIII). Die Entwicklungen im politischen Diskurs wie auch in der Literatur deuten daraufhin, daß die Bürgerkriegskonstellation die Ausbildung eines historischen Diskurses, der sich um 1812 bereits in ersten Umrissen abzuzeichnen begonnen hatte, zurückwarf. Dabei ist festzuhalten, daß sich parallele Entwicklungen zwischen den einzelnen diskursiven Formationen vollzogen. Denn so wie der staatsbürgerliche Nationbegriff im politischen Diskurs und die cielitos patrióticos im Bereich der Literatur mehr oder minder komplementäre Phänomene dargestellt hatten, so fand auch das organische Nationverständnis, das in den zwanziger Jahren dominierte und stärker auf die gewachsenen und naturhaften Komponenten gesellschaftlicher Entwicklung abhob, seine literarische Entsprechung in den textos gauchescos und deren folklorischen Anstrichen. Und es fügt sich schließlich auch in dieses Schema, daß sich die Aufgliederung der Gesamtheit des kreolischen Diskurses in den dreißiger Jahren, als der romantisierende Nationbegriff in der politischen Öffentlichkeit der Region Verbreitung fand und damit zugleich die historische Traditionsbildung als nationbildender Faktor an politischem Wert gewann, neuerlich änderte. Neben die "Politik" und die "Literatur" trat nunmehr auch die "Geschichte".

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2. Kriegsveteranen und Romantiker als Trägergruppen des historischen Diskurses Auf dem Hintergrund der politischen Desintegrationsprozesse und Bürgerkriegswirren setzte die Ausgestaltung eines historischen Diskurses zunächst die Disposition einzelner oder auch von Gruppen voraus, durch die Unsicherheiten und Brüche der politischen Entwicklung hindurch und ungeachtet der Unwägbarkeiten der Gegenwart die Ereignisse nach 1810 überhaupt als "Geschichte" wahrnehmen und im Sinn einer historischen Betrachtungsweise organisieren zu können. Ferner war es notwendig, wollte man zu einer Geschichtsbetrachtung im nationalen Sinn gelangen, die Summe einzelner, auch disparater Ereignisse und Entwicklungen in einem übergreifenden Bild zu synthetisieren. Bis dahin war die Pluralform "Geschichten" noch durchaus gebräuchlich, wenn von den jüngsten politischen Ereignissen in der Region die Rede war, was darauf hindeutet, daß die Vorstellung nur einer, "nationalen" Geschichte ähnlichen Entwicklungsschwierigkeiten unterlag wie die Ausbildung des Nationbegriffs selbst. Insofern mußte, sobald es um die Geschichte ging, die Pluralform "Geschichten" in einem Kollektivsingular aufgelöst werden, sollte das Bild einer Nationalgeschichte überhaupt vorstellbar und politisch nutzbar werden10. Die ersten, die dies vermocht hätten, d.h. die sich in einer hinreichenden Distanz zu den zeitgenössischen Geschehnissen "fühlten", um diese überhaupt in "Geschichte" zu überführen, wären, so Tulio Halperin Donghi (1961, 7), "die Männer von 1837" gewesen, also die Generation der argentinischen Romantiker um Esteban Echeverría, Juan Bautista Alberdi, Juan María Gutiérrez und Domingo Faustino Sarmiento. Dieses Urteil begründet sich vermutlich vor allem auf Alberdis "Fragmento" von 1837. Alberdi stellte darin der "Geschichtsphilosophie" die Aufgabe, ein Bewußtsein vom nationalen Entwicklungsprozeß der Gesellschaft und dessen Gesetzmäßigkeiten zu gewinnen, um auf dieser Basis ein der Region angemessenes politisches Entwicklungskonzept erstellen zu können. Alberdi forderte damit die Entwicklung einer "Geschichtsphilosophie", die über die Reflexion der politischen Entwicklung in der Region ein Verständnis der Besonderheiten des Nationwerdungsprozesses im La Plata-Raum ermöglichen sollte. Der historische Diskurs gewann damit erstmals eine eigene Struktur, indem er, ganz eingebunden in das politische Interesse der "Generation von 1837" an einer Erfassung der gesellschaftlichen Wirklichkeit, eine rudimentär-theoretische Begründung wie auch die Zuweisung eines eigenen Gegen-

10 So schrieb die Zeitung "El Investigador" (21.12.1823), die in Córdoba erschien, von "las historias, que son la escuela del género humano [...]". Koselleck (1971, 6f) interpretiert den Gebrauch der Pluralform als den Ausdruck einer vorneuzeitlichen Geschichtserfahrung. Im La Plata-Raum dürfte ihr Gebrauch in den zwanziger Jahren sich aber eher aus den Bürgerkriegswirren und den Zerfallstendenzen der Region erklärt haben. So stammt die zitierte Formulierung in "El Investigador" aus einem Artikel, der mit "Anarquía" überschrieben war und die Bürgerkriege zum Thema hatte.

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standsbereichs fand. Insoweit wäre Halperin Donghi zuzustimmen, daß die Romantiker die erste Generation dargestellt hätten, die das zeitgenössische Geschehen aus einer historischen Perspektive heraus zu betrachten suchten. Einschränkend ist allerdings anzumerken, daß Alberdis "Fragmento" von 1837 zunächst einmal nur eine Absichtserklärung darstellte und die Romantiker es zumindest vorerst nicht vermochten, diesen selbstformulierten, theoretischen Anspruch der Geschichtsbetrachtung in die Praxis umzusetzen. Ihre Geschichtsschreibung zumindest der vierziger und frühen funfeiger Jahre blieb, wie sie selbst konzedierten, primär politische "Polemik"11, was sicherlich damit zusammenhing, daß die Mehrzahl ihrer Vertreter Ende der dreißiger Jahre ins Exil ging und von dort aus aktiv in die politischen und militärischen Auseinandersetzungen mit der bonaerensischen Regierung unter Juan Manuel de Rosas eingriff. In Montevideo formierte sich eine "Argentinische Legion", die an der Verteidigung der Stadt gegen Rosas bzw. dessen Parteigänger, den General Oribe, teilnahm und in deren Reihen nicht wenige Repräsentanten der sogenannten Generation von 1837 kämpften. Bartolomé Mitre z.B., den Romantikern verbunden und später die Führungsgestalt der argentinischen Geschichtsschreibung im 19. Jahrhundert, kommandierte in diesem Zeitraum eine Artilleriebatterie in Montevideo12. Die Unparteilichkeit, Leidenschaftslosigkeit und distanzierte Reflexionsfähigkeit, die Alberdi für sich und seine Mitstreiter im Salon Literario reklamiert hatte, konnten sich angesichts dieser Entwicklung, mochte auch der Wille dazu vorhanden sein, nicht oder nur schlecht entfalten. Hinzu kommt jedoch noch ein weiterer Grund, der gegen die Argumentation von Halperin Donghi spricht. Denn die Romantiker stellten (was dieser übersieht) nicht die einzige gesellschaftliche Gruppe dar, die in der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre eine gedankliche Aufarbeitung der Geschichte anstrebte und in diesem Sinn die Geschichte als eine diskursive Formation abzugrenzen begann, sondern das gleiche Bestreben erwuchs zeitgleich auch in einem anderen Personenkreis. Dabei handelte es sich um Veteranen der Unabhängigkeits- und Bürgerkriege, die aufgrund der erlebten Enttäuschungen und der Unsicherheiten über die weitere politische Entwicklung nach "Lehren" in der Geschichte suchten, um kommenden Generationen die eigenen Irrtümer und Fehler im "Labyrinth" der Politik zu ersparen. Der Ausgangspunkt dieses Geschichtsinteresses findet sich erstmals dokumentiert in einem Brief des Generals Tomás

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Vgl. das Schreiben Sarmientos an den General Paz (22.12.1845), daß sein Buch über den Caudillo Facundo Quiroga politisch-propagandistische Absichten verfolgen würde (Verdevoye 1988, 384). 12 1844 erschien in Montevideo die "Instrucción práctica de Artillería para el uso de los Señores oficiales, escrita por Bartolomé Mitre, Sargento Mayor de artillería ligera". Esteban Echeverría nannte Mitre einen "artillero científico" (Levene 1944, 33).

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Guido vom September 1836 an den General Miller (Rodríguez 1922, III 161f), in dem es hieß: La América está de transito en sus formas políticas y en su organización social. Muchos laureles amontonados, muchas coronas cívicas arruinadas, muchas reputaciones problemáticas, muchos ensayos legislativos frustrados completamente; por ñn, el sello de la versatilidad y la inconstancia en todos los elementos orgánicos, ofrecen un manantial copioso al historiador y al político, y preparan una gloria sólida al que dé un hilo a la generación actual, para recorrer tan vasto laberinto y deducir de los errores pasados los medios prácticos de obrar para lo venidero con sólido provecho de la Patria. [...] y mi profundo interés desde el retiro en que vivo, por cuanto contribuya a aleccionar a los que nos sucedan, sobre nuestra historia contemporánea. Solamente asi podrán aprovechar nuestros hijos, de los escombros de que verán cubierto a su país, y apartarse de los caminos que conducen al precipicio. Wir sehen, daß sich zeitgleich, also in den Jahren 1836/37, zwei unterschiedliche Strömungen eines historischen Diskurses zu entwickeln begannen, die beide den Anspruch erhoben, die Geschichte der Region aus einer distanzierten Perspektive zu betrachten und sinnhaft zu ordnen, die sich jedoch zugleich in vielfältiger Hinsicht unterschieden. Die Romantiker waren vor allem jüngere Intellektuelle, ihr Geschichtsinteresse war theoretisch umrissen, ihr Erkenntnisziel bestand in der Analyse der historischen Gesetzmäßigkeiten des nationalen Entwicklungsprozesses. Die zweite Gruppe setzte sich aus altgedienten Offizieren zusammen, ihr Geschichtsinteresse war stärker lebensweltlicher Art, ihr Erkenntnisziel bestand in der Aufarbeitung der persönlichen, biographischen Erlebnisse, die ihnen allerdings gleichzeitig als repräsentativer Teil einer "nationalen" Geschichte galten. Die notwendige Distanz gegenüber dem Geschehen wurde in beiden Fällen über biologische Faktoren reklamiert. Nur handelte es sich dabei bei den Romantikern um die "Jugend", die den notwendigen Abstand zur Tagespolitik verbürgen würde, während die Kriegsveteranen umgekehrt das eigene Alter und die damit verbundene Zurückgezogenheit von der Tagespolitik bemühten. So argumentierte der General Paz (1992, 5), der seine "Memoiren" zwischen 1839 und 1849 verfaßte, daß er nun über etwas schreibe, was bereits solange zurückliege, daß er von den "Leidenschaften", die die Ereignisse im Moment ihres Geschehens ausgelöst hätten, nicht mehr berührt sei, und der General Tomas Iriarte (1858, Ilf) hob hervor, daß er nun erst, im "Winter des Lebens", die Geschichte sachlich und frei von Emotionen und "Illusionen" zu betrachten in der Lage sei. Diese Unterschiede in der Begründung des historischen Diskurses waren nicht ohne Belang. Denn daraus entwickelten sich zwei unterschiedliche Formen der Geschichtsbetrachtung, die jeweils eine nachhaltige Wirkung auf die Entwicklung des historischen Diskurses ausübten. Zumindest kurzfristig war die

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Geschichtsschreibung der Kriegs Veteranen, der actores y testigos'3, von prägenderer Kraft, weil aus ihren Reihen bereits historische Arbeiten hervorgingen, als die Romantiker noch primär den Anspruch erhoben, daß Geschichte geschrieben werden müsse, und weil ihre Arbeiten überdies der verbreiteten Auffassung entsprachen, daß nur derjenige Geschichte wahrheitsgetreu schreiben könne, der sie selbst erlebt habe. Exemplarisch verdichtet finden sich in den einleitenden Worten, die der General Tomás Guido (1864, 321f) einem Beitrag in der "Revista de Buenos Aires" voranstellte, die Denkfiguren, die den Historikertypus des actor y testigo prägten, nämlich der Stolz auf die persönliche Teilhabe an den "herausragenden" historischen Geschehnissen der Unabhängigkeitskämpfe, die in der historischen Erinnerung aufbrechende emotionale Bewegtheit, die Konzeption der Geschichte als ein um das Handeln herausragender Akteure zentriertes "Drama" sowie schließlich der das eigene Handeln rechtfertigende Impetus des Chronisten: Yo no he hecho sino escogerlos [die Dokumente] con piadoso mano, y con el corazon conmovido [...] Ademas, por que no confesarlo? mezclado personalmente á los acontecimientos que decidieron la libertad de Chile, del Peni, de Quito, y por tanto de la emancipación del contingente; actor en el gran drama que empezó en Buenos Aires, terminando en los campos de Ayacucho, siento una grata expansión al rememorar los tiempos que fueron, [...] revindicando en mi favor los antecedentes que me ligan á ese periodo de una época eminentemente histórica. Die Geschichtsschreibung der actores y testigos trug dazu bei, Traditionen zu entwerfen, indem sie die Ereignisse der Unabhängigkeitsbewegung in einen Erzählzusammenhang rückte und insoweit eine sinnhafte Konstruktion historischer Geschehensabläufe zu betreiben suchte. Indem diese Chronisten jedoch über etwas schrieben, an dem sie persönlich aktiv beteiligt gewesen waren, war ihre Erzählung erstens partial, weil sie, wie der General Paz in seinen "Memorias" formulierte, nur das berichteten, was sie selbst erlebt hatten oder was in unmittelbarem Bezug dazu stand (Barba 1976, 299), und zweitens unterlag ihre Erzählung immer auch einer anderen Motivation als der der Traditionsbildung, nämlich der einer retrospektiven Rechtfertigung des eigenen Handelns oder auch desjenigen der Kampfgefährten, Freunde oder Familienangehörigen in dieser Geschichte. So begründete Tomás Guido die Publikation von Dokumenten über das Kriegsgeschehen in Chile im Jahr 1818 damit, daß Manuel de Olazábal diese Ereignisse in einem Artikel in der Zeitung "Tribuna" vom Dezember 1863 unzutreffend dargestellt und seine (Guidos) Verdienste nicht gewürdigt habe, und in der Historiographie des 19. Jahrhunderts finden sich

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Dazu zählten vor allem die Generäle Iriarte (1794-1876), Paz (1791-1854), Guido (1788-1866) und der Oberst Olazäbal (1800-1872).

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zahlreiche weitere Beispiele für diese Motivationsstruktur von Geschichtsschreibung14. Die Geschichtsschreibung gestaltete sich vor diesem Hintergrund als ein Disput um persönliche Rechtfertigungen: Unverhüllte Identifikationen mit historischen Figuren, emotionale Reminiszenzen und persönliche Wertungen vergangener Geschehnisse flössen offen in die Darstellung ein. Der Anspruch einer Augenzeugen-Authentizität begegnet uns nicht allein in der kreolischen Geschichtsschreibung, sondern läßt sich bis in die Antike und, was die neuzeitliche europäische Geschichtsschreibung betrifft, zumindest bis in das 18. Jahrhundert hinein rückverfolgen. Es ist jedoch vielleicht eine Eigentümlichkeit der kreolischen Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts, daß diese Nähe, die für die Beziehung zwischen dem Historiker und dem von ihm erzählten Geschehen beansprucht wurde, lange Zeit als ein Authentizitätskriterium der Geschichtsdarstellung betrachtet und dementsprechend positiv gewichtet wurde. Mitunter führte der Authentizitätsanspruch der Augenzeugen-Historiographie zu kapriolenhaften Argumentationen. Das prominenteste Beispiel dafür ist der neben Mitre bedeutendste argentinische Historiker des 19. Jahrhunderts, Vicente Fidel López (1815-1903). López argumentierte 1881 in seiner "Revolución Argentina" (II, lf), daß seine Geschichtsschreibung die "lebendige Erinnerung" an die Revolution atme, weil er als Kleinkind dem Geschehen beigewohnt und ungeachtet seines damals noch "unbewußten Alters" den "Lärm der Kämpfe" und den damit verbundenen "Schimmer der Glorie" als "Zeuge" unmittelbar erlebt habe (was im übrigen auch deshalb nicht sein konnte, weil die Unabhängigkeitskämpfe gegen die royalistischen Truppen primär im Norden der Region, also in den Provinzen Tucumán, Salta und Jujuy, nicht aber in Buenos Aires geführt worden waren). Vicente Fidel López stilisierte damit das Beteiligtsein an der Geschichte bzw. ihr unmittelbares Erleben zu einem abstrusen Wert. So dürfte der Umstand, daß López im Jahr 1810 noch nicht geboren war, eine nicht unwichtige Rolle bei seiner Entscheidung gespielt haben, das Jahr 1820, nicht aber 1810, in das Zentrum seiner Betrachtungen über die "argentinische Revolution" zu stellen. Zugleich rückte er die Geschichtsschreibung damit in die Nähe einer Form der historischen Überlieferung, wie sie in Gesellschaften praktiziert wurde, die entweder keine Schrift kannten oder aber Traditionen über eine Priesterkaste und in der Form sakraler Texte übermittelten. Das Wissen von dem, so López, was die Väter getan hätten, müßte über die Söhne aufbewahrt und an die folgenden Generationen der Kinder und Enkelkinder weitergegeben werden, um die Erinnerung daran vor dem Aussterben zu bewahren. Die Auffassung von López über die Prozesse

14 Vgl. z.B. die Besprechung Lucio V. MansUlas über Manuel Bilbaos "Historia de Rosas" und die Kritik an dieser Rezension durch Nicomedes Antelo, die 1869 in der'Revista de Buenos Aires" erschienen. Vgl. ferner auch Guido y Spano (1864, 161 f); Vicuna Mackenna (1864, 156).

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historischer Bewußtseinsbildung, die im übrigen verbreitet war15, war insofern im Grunde enthistorisierend. Sie ging von der Existenz eines hermetisch geschlossenen, statischen Geschichtsbildes aus, das in einer vorgeblich authentischen Form über die Generationen hinweg verlängert und unverändert erhalten werden müsse. Die "Revolución Argentina" gerann damit zu einem Ursprungsmythos der Sakralgemeinschaft der argentinischen Nation, worin vermutlich auch ihre eigentliche Funktion gelegen haben dürfte. Die Geschichtsschreibung der actores y testigos und die daraus hergeleiteten Signifikanzkriterien, die der Geschichtsbetrachtung unterlegt wurden, trugen dazu bei, den historischen Diskurs auf naturale Kategorien zu begründen. In diesem Sinn blockierte sie den Verwissenschaftlichungsprozeß der Geschichtsschreibung. Zu diesen naturalen Kategorien zählten das Alter, das eine neutrale Betrachtung der Geschichte vorgeblich erst ermöglichen würde, der Generationenbegriff, in dem die Verknüpfungen von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zusammenfielen, sowie die Gedächtnisarbeit, die als Forschungsmethode verstanden wurde. Begünstigt wurde dadurch eine genealogische Strukturierung der Geschichte, die das Bestreben einschloß, etwa bei López (1916, II 279), die nationale Geschichte gleichsam in die Form einer Familiengeschichte zu gießen bzw. familiäre Traditionen mit der Nationalgeschichte gleichzusetzen. Damit wurde es zugleich möglich, einzelne Familiengruppen als Träger des nationalen Entwicklungsprozesses erscheinen zu lassen, was in vermittelter Form auch zur Legitimation der politisch-sozialen Strukturen und der in sozialer Hinsicht ungleich verteilten politischen Mitwirkungs- und Entscheidungsmöglichkeiten dienen konnte. Insofern erfüllte die Geschichtsbetrachtung, die aus der Tradition der actores y testigos herrührte, auch hochgradig politische Funktionen, und wir werden später sehen, daß diese genealogische Geschichtsinterpretation im Zuge der sozialen Wandlungsprozesse der Gesellschaft und auf dem Hintergrund der massiven europäischen Zuwanderung gegen Ende des 19. Jahrhunderts eine wichtige neue Funktion auszuüben beginnen sollte, indem sie nunmehr zur Festigung des kreolischen Selbstbewußtseins wie auch zur politischen Marginalisierung der Einwanderergruppen herangezogen werden konnte. In engem Bezug zur Geschichtsschreibung der actores y testigos, aber keineswegs allein von dort ableitbar, stand auch das Übergewicht biographischer Formen in der Geschichtsdarstellung16, worunter hier pauschal die Konzentration der Geschichtsdarstellung um die Erlebnisse eines "Ich" verstanden werden. Dazu zählten die Autobiographie, die jedoch niemals als rein per-

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Auch Pedro Ferré (1990, 21) begründete seine "Memoiren" dadurch, dafl er über die Geschichte seiner Heimatprovinz erzählen wolle, "[...] antes que acaban de faltar los sujetos que pueden testificarlos". '* Carbia (1939, 199) schreibt, daß im 19. Jahrhundert über 300 historische Biographien in Argentinien erschienen.

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sönliche Erinnerung konzipiert war, sondern immer zugleich auch "Geschichte" schrieb17; ferner die Beschreibung der politischen und vor allem militärischen Geschichte aus der erinnernden Perspelctive des Teilnehmenden daran, sowie schließlich die Form der historischen Biographie selbst, deren bekannteste Beispiele wir in den Arbeiten Bartolomé Mitres über die Unabhängigkeitshelden Belgrano und San Martin sowie (mit Einschränkungen) in dem Buch Domingo Faustino Sarmientos über den General und Caudillo von La Rioja, Facundo Quiroga, finden. Fragen wir nach den Gründen, warum in so massiver Form biographische Verläufe thematisiert wurden, so ist es notwendig, verschiedene potentielle Funktionsleistungen der (auto-) biographischen Darstellung zu unterscheiden. Daß darin äußere Einflüsse eine Rolle spielten, wie die europäischen Vorbilder der Geschichtsschreibung (vgl. Engel-Janosi 1979), ist unbestritten. Wahrscheinlich ist auch, daß darin die Traditionen einer literarischen Beschäftigung mit der Geschichte fortwirkten, was im übrigen in ähnlicher Form wiederum auch für die europäische Historiographie des 19. Jahrhunderts galt. Eine Reihe von Historikern, wie z.B. Bartolomé Mitre, kamen erst über die Beschäftigung mit der Literatur zur Geschichtsschreibung. Diese Traditionen einer literarischen Beschäftigung mit der Geschichte begünstigten die zu beobachtende Präferenz der Historiker für bestimmte Darstellungsmodi der Geschichte, wie die bildhafte Portraitierung der nationalen Heldengestalten (precursores) oder die Strukturierung der Geschichte um dramatische Handlungssequenzen. Vermutlich entsprach die biographische Methode ferner auch dem vergleichsweise losen Gesellschaftsaufbau. Die sozialen Beziehungen und Abhängigkeitsverhältnisse waren in der Gesellschaft im La Plata-Gebiet, zumindest was weite Strecken des 19. Jahrhunderts betraf, in traditional stärkerem Maße um familiäre Bande und eher informell strukturierte Beziehungen des Klientel- und Patronagewesens organisiert. Der gesellschaftspolitische Entwicklungsprozeß stellte sich den Zeitgenossen aus diesem Grund und in Anbetracht der nur geringen Ausdifferenzierung der sozialen Beziehungen sowie der vergleichsweise losen innergesellschaftlichen Verflechtungen weniger als ein Kräftespiel vergleichsweise anonymer gesellschaftlicher Faktoren oder Institutionen dar, sondern erschien in stärkerem Maße als das Objekt des Handelns einzelner Personen bzw. familienartig strukturierter Kräftegruppen, was einer personenzentrierten Betrachtungsweise von Gesellschaft und Geschichte entgegenkam. Vermutlich wichtiger noch waren jedoch zwei andere Optionen der biographischen Darstellungsweise. Erstens stellten die historischen Biographien ein Hilfsmittel oder auch ein Brückenelement dar, was die Aufgabe betraf, mehrsträngige und voneinander getrennte "Geschichten" in nur einer, "nationalen" Traditionslinie zu integrieren. Das Problem, eine integrierte Nationalgeschichte zu schreiben, wurde insofern nicht unbedingt in der Weise gelöst, daß man

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Vgl. Prieto 1982; Halperin Donghi 1982, 326.

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unterschiedliche soziale Gruppen, Räume und Sphären, wie die politischen, wirtschaftlichen oder kulturellen Entwicklungen, in einer Zusammenschau betrachtet hätte. Vielmehr wurde auch ein umgekehrter Weg eingeschlagen, d.h. die "nationale" Geschichte wurde in den Lebensgeschichten einzelner Heldengestalten komprimiert, die die nationalen Werte exemplarisch repräsentieren würden, und erst die Addition dieser individuellen Lebensverläufe führte zur vermeintlichen Synthese einer Nationalgeschichte. Die Nationalgeschichtsschreibung gewann dadurch einen liturgischen Charakter, und ihr vollendetster Ausdruck sollte das nationale Pantheon werden, also eine Art Olymp der precursores. Zweitens besaßen die biographischen Arbeiten aber auch eine potentielle Funktion der Selbstdarstellung. Dies galt offenkundig für die autobiographischen Texte bzw. die Memoirenliteratur, traf darüber hinaus jedoch auch für die historischen Biographien selbst zu. Für die Historikergeneration, die die vermeintliche nationale Inkubationsphase der Unabhängigkeitskämpfe nur aus der Erzählung kannte, stellte die biographische Konzeption der Geschichte ein geeignetes Instrumentarium dar, um Zugehörigkeitsgefühle in ihre Geschichtsdarstellung zu verlagern und sich selbst als legitime Erben nationaler Traditionen und Größe auszuweisen. So reklamierte Mitre anläßlich der Einweihung eines Denkmals für den Unabhängigkeitshelden Manuel Belgrano im Jahr 1873 (Mitre 194S, 90) eine unmittelbare, intime Beziehung zu dem Objekt seines historiographischen Hauptwerks und deklarierte sich nicht allein als den Historiker Belgranos, sondern zugleich auch als dessen "dankbarer Sohn": "General Belgrano! [...] yo, tu humilde historiador y uno de tus hijos agradecidos, te saludo grande y padre de la patria." Der Intimitätsanspruch, den die Historikergeneration der actores y testigos gegenüber der Geschichte beansprucht hatte, findet sich in diesen Worten in modifizierter Form wieder. Ähnlich wie die actores y testigos waren auch die Repräsentanten der Generation von 1837 keine Historiker, sondern Literaten bzw. Schriftsteller, Essayisten und Journalisten. Sie brachten zunächst keine genuine, geschweige denn wissenschaftliche Historiographie hervor, thematisierten jedoch die jüngere Geschichte des Landes in einer Reihe von Gedichten, Romanen oder Theaterstücken, wie "La revolución de 1810" von Alberdi oder "Cuatro épocas" von Mitre, die 1839 bzw. 1840 in der Casa de Comedia in Montevideo uraufgeführt wurden, sowie in Zeitungsartikeln und Essays. Obwohl in der Mehrzahl gegen Ende der dreißiger Jahre des 19. Jahrhunderts unter der Regierung von Rosas ins Exil gezwungen und insbesondere in Montevideo sowie in Santiago de Chile bzw. Valparaiso wirkend, übten sie eine massive Einflußnahme auf die Entwicklung des historischen Diskurses aus. Die herausragenden, weil das offizielle Geschichtsbewußtsein nachhaltig prägenden Werke stellten dabei die 1845 abgeschlossene, als Monographie erstmals in Paris erschienene Arbeit Domingo Faustino Sarmientos über den im Jahr 1835 ermordeten Caudillo von La Rioja, Juan Facundo Quiroga, sowie Mitres "Belgrano" dar, der in einer ersten Fassung 1858 erschien. Sarmientos "Facundo" (1952) war dabei im Grunde keine historiographische, sondern eher eine soziologische Arbeit, wurde jedoch

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in der Folgezeit als Geschichtsschreibung rezipiert. Möglicherweise trug dazu der Umstand bei, daß Sarmiento aufgrund seines "Facundo", den Charles de Mazade 1846 in Paris in der "Revue des Deux Mondes" rezensierte, im folgenden Jahr in das "Institut Historique" (nach 1872: "Société des Études Historiques") aufgenommen wurde (Verdevoye 1959,544f). Der "Facundo" war für die Ausbildung des offiziellen Geschichtsverständnisses im späteren Argentinien von außerordentlichem Einfluß". Das Anliegen Sarmientos war es zunächst, über die Biographie Quirogas die gesellschaftliche und politische Wirklichkeit der Region zu interpretieren und eine soziale Psychologie ihrer Gesellschaft zu entwerfen. In Bezug auf das von ihm verwendete Theoriegerüst der Untersuchung stand Sarmiento noch ganz im Bann der Klimatheorien. Er ging von einem beherrschenden Einfluß der naturräumlichen und klimatischen Lebensbedingungen auf die soziale Organisation der Gesellschaft und die "Moral" der Menschen aus, die davon determiniert seien. Die Weite der ländlichen Regionen Argentiniens, die geringe Bevölkerungsdichte im Landesinnern, die defizitären Kommunikationswege und die Isolation der einzelnen Städte hätten der Lebensweise der ruralen Bevölkerung, also der sogenannten Gauchos, einen "asiatischen" oder "beduinenhaften" Charakter verliehen. Sarmiento leitete daraus einen Konflikt zwischen dem "barbarischen" Land einerseits und der "zivilisierten" Stadt andererseits ab und ordnete diesen verschiedenen Gesellschaften innerhalb der Region repräsentative Menschentypen zu19. Die Funktion der biographischen Methode bestand im "Facundo" darin, historische Figuren als repräsentative Ausdrucksformen ihrer Lebensbedingungen zu skizzieren und soziale Verhältnisse insoweit zu "erklären". Facundo Quiroga wäre, wie auch Rosas, eine Personifikation der primitiven Barbarei gewesen, der die gewalttätigen und anarchischen Instinkte der gauchos malos potenziert hätte20. Die erste genuin historische Arbeit, die in der Tradition des romantisierenden Denkens entstand, war der "Belgrano" Mitres. 1821 in Buenos Aires geboren, zählte Bartolomé Mitre nicht mehr zu der Historikergeneration der actores y testigos und repräsentierte bereits die nachfolgende Generation republikanischer Historiker. Mitre war, dem gängigen Urteil nach, nicht allein der Begründer der modernen argentinischen Geschichtsschreibung, sondern zugleich eine der wichtigsten Gestalten der politischen Öffentlichkeit Argentiniens in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts (vgl. Robinson 1982). Als ranghoher Militär,

" Vgl. Estrada 1896, 257; Peña 1977, 25; Avellaneda 1910,1 10. 19 Sarmiento verwendete damit eine begriffliche Polarisierung, die im zeitgenössischen politischen Diskurs gängig war. Die Zeitung "El Tiempo" z.B. sprach 1829 im Hinblick auf die kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen Unitaristen und Föderalisten von dem "lucha de la anarquia contra el orden, de la ignorancia contra la civilización", bzw. von der "la guerra de la barbarie contra la ilustración" ("El Tiempo" v. 27.1.1829 bzw. 11.3.1829). M Vgl. Verdevoye 1988, 361 f; Reichardt 1979, 265f.

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einflußreicher Politiker, Staatspräsident Argentiniens zwischen 1862 und 1868, Senator und Begründer der angesehenen und großen Tageszeitung "La Nación" (1870) übte Mitre nicht allein innerhalb der Geschichtsschreibung, sondern darüber hinaus in der politischen Öffentlichkeit des Landes einen phasenweise maßgeblichen Einfluß aus. Mitres Studien über die Unaboohängigkeitshelden Manuel Belgrano und San Martin erschienen 1858 bzw. 188721. Insbesondere der "Belgrano" übte auf die Geschichtsschreibung eine große Wirkung aus und wurde auch in den Schulen des Landes bis in die jüngste Vergangenheit hinein als Lektüre verwendet. Das Anliegen Mitres war es, eine "Nationalgeschichte" zu schreiben, ging Mitre doch von einer konstitutiven und nicht weiter hinterfragbaren Einheit des Landes und der Existenz einer gemeinsamen, argentinischen Nation aus22. In diesem Sinn, d.h. in der Betonung des argentinischen Nationalgedankens, war Mitre ein prononcierter Nationalist, wobei er den Nationbildungsprozeß jedoch allein aus der Perspektive der bonaerensischen Elite zu betrachten vermochte23. Belegt findet sich diese "nationalistische" Perspektive im übrigen auch in der rigiden Ausgrenzung der argentinischen Nation aus dem übergreifenden Konzept des Amerikagedankens, die Mitre betrieb und die insbesondere dann sinnfällig wird, wenn wir die Ansichten Mitres mit denen seiner zeitgenössischen Historikerkollegen in Chile, wie Diego Barros Arana, Benjamin Vicuña Mackenna und Miguel Luis Amunátegui, vergleichen. Denn während Mitre nachdrücklich in die "nationale", argentinische patria einerseits und Amerika andererseits unterschied (was ihm im übrigen den Vorwurf Vicuña Mackennas eintrug, daß man am Rio de la Plata den Amerikagedanken nicht richtig verstanden habe24), postulierten die chilenischen Historiker demgegenüber in weitaus stärkeren Maße das Gefühl einer amerikanischen Identität bzw. den Gedanken einer

21 Die "Historia de Belgrano y de la independencia argentina" erschien 1858 unter dem Titel "Biografía del general Belgrano" in der ersten Auflage. Eine erweiterte Fassung folgte im Jahr 1876, ehe die Arbeit im Jahr 1887 ihre endgültige Form erhielt. Die "Historia de San Martín y de la emancipación sudamericana" erschien erstmals 1887, in der zweiten Auflage 1890. 22 So in dem "Discurso pronunciado en la sesión del 4 de marzo de 1854 en la Asamblea General Constituyente" (Mitre 1902, I 51). 23 "Pero como Buenos Aires era un centro de vida orgánica [...] resultaba de aquí que la federación que en el Paraguay se convertía en tiranía, en las provincias orientales en semibarbarie o bandolerismo, y en otras en aislamiento inerte o descomposición social, en Buenos Aires se transformaba en principio de vida fecundo [...] Buenos Aires, que había sido la ciudadela de la independencia, el nervio de la autoridad [...] era, como lo seria siempre, el núcleo indisoluble de la nacionalidad argentina." (Mitre 1941, VIII, 271ff). 24 Brief Benjamin Vicuña Mackennas an Mitre, 10.3.1874 (Mitre 1912, XXI 52).

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amerikanischen patria*5. Zu mutmaßen ist, daß nicht zuletzt die unterschiedlichen politischen Entwicklungen in Chile bzw. in Argentinien den Hintergrund dieser sich auseinander bewegenden IdentitätsVorstellungen darstellten. Während sich in Argentinien das politische Entwicklungsprogramm der liberalen Eliten nach 1861 durchsetzte, Buenos Aires seinen Hegemonialanspruch militärisch sanktionierte und Mitre selbst zum Staatspräsidenten avancierte, waren die liberal gesonnenen chilenischen Historiker von dem autokratischen Regierungssystem ihres Landes letztlich enttäuscht und sahen ihre politischen Entwicklungsvorstellungen nicht realisiert. Der Amerikagedanke bot sich den chilenischen Historikern in dieser politischen Konstellation als Rückzugsgebiet gegenüber der Entwicklung im eigenen Land bzw. als Stütze eigener Identitätsvorstellungen aniÄ. Indem in der veränderten politischen Situation der sechziger und siebziger Jahre des 19. Jahrhunderts die, soweit es die Funktion der Geschichte in der Öffentlichkeit betraf, Aufgabe der historischen Traditionsbildung die der unmittelbaren politischen oder auch militärischen Mobilisierung einzelner Bevölkerungsgruppen verdrängte, ging es für die Historiker zunehmend darum, konsensfähige Geschichtsbilder zum Zweck der Konsolidierung von Staat und Nation zu entwerfen. So definierte Juan María Gutiérrez 1863 in einem Brief an Mitre (Mitre 1912, XXI 185) die Geschichte nunmehr als "[...] la estatua de la imagen de la patria." Und ähnlich begrüßte Benjamin Vicuña Mackenna 1874 in einem Schreiben an Mitre (Mitre 1912, XXI 56) dessen Absicht, die Geschichte San Martins zu schreiben, da Mitre auf dem Gebiet der "Literatur" nun die Arbeit zu Ende führen müsse, die er als Militär begonnen habe: Termine la gran empresa de su talento y de su espada, que es á mi juicio la de fundar la historia nacional como literato, y la de encarrilar la revolución de que usted ha nacido desde el 11 de septiembre de 1852, en el carril por el cual Belgrano había empujado la revolución de que él, á su turno, había sido símbolo y caudillo en 1810. In dem Vorwort zu der Auflage des "Belgrano" von 1876 (Romero 1956, 127) äußerte Mitre denn auch die Hoffnung, daß diese Arbeit dazu beitragen möge, das argentinische Nationalbewußtsein zu entwickeln, die innere Zerrissenheit der Gesellschaft zu überwinden und vorbildhafte, staatsbürgerliche Tugenden (virtud republicana) und Eigenschaften zu entfalten. Die in den romantisierenden

M

Vgl. Diego Barros Arana an Mitre, 8.9.1860 ("honor americano"); ders. an Mitre, 28.8.1875 ("la gloria de la patria americana"); Miguel Luis Amunátegui an Mitre, 1.8.1876 ("nuestra patria comdn, la América"); Benjamin Vicuña Mackenna an Mitre, 28.12.1863 ("Como americano..."). Die Briefe sind zitiert in Mitre 1912, XX 17, 45, 123; Mitre 1912, XXI 16. 26 Mellafe (1958,17) führt das amerikanische Selbstverständnis Barros Aranas m. E. allzu eng auf einen enzyklopädischen Wissensanspruch zurück.

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Traditionen stehende Geschichtsschreibung blieb damit ein eminent politisches Unterfangen mit nunmehr nur neuen FunktionsansprGchen. Dies lag nicht zuletzt auch daran, daB dem Umgang mit der Geschichte noch keinerlei wissenschaftliche Infrastruktur zugrunde lag. Weder handelte es sich bei denjenigen, die Geschichte schrieben, um professionelle Historiker, die in ihrer Disziplin vollzeitliche Karrieren zu durchlaufen vermochten, noch waren Ausbildungsgänge im universitären Bereich institutionalisiert, die ein geregeltes Studium der Geschichte ermöglicht hätten. Der historische Diskurs fand insofern, was das 19. Jahrhundert betraf, keinen oder einen nur geringen institutionellen Röckhalt im Universitätsbereich, an dem die Jurisprudenz und die Medizin dominierten27, und er rückte, soweit er sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu etablieren vermochte, zunächst in eine Nische der politischen Öffentlichkeit. Seine Foren bildeten das Publikationswesen und hier vor allem die Kulturzeitschriften, die nach 1861 bzw. 1863 erschienen. Die "Revista del Rio de la Piata" verfügte um 1870 über ca. 250 Abonnenten, die "Revista de Buenos Aires" über ca. 700 2 '. Zwar waren diese Zeitschriften nicht ausschließlich historiographisch orientiert, sondern sie versuchten, ein breiteres Spektrum kultureller Themen zu behandeln. Sie boten jedoch den Ort für historische Abhandlungen, Rezensionen und auch Quelleneditionen. Gemeinhin blieb der historische Diskurs jedoch noch weitgehend in die Kommunikationsstrukturen des politischen Diskurses eingebunden, was sich auch in der Biographie der einzelnen Historiker abspiegelte. Daß sich Angehörige der politischen Klasse als Historiker betätigten, war ein gewohntes Bild. Diejenigen, die Geschichte schrieben, hatten dieses Fach nicht studiert, sondern verfügten über andere Ausbildungsgänge und berufliche Wirkungsfelder, wobei studierte Juristen, die dann politische Karrieren einschlugen, überwogen. Aufgrund ihrer sozialen Herkunft und Ausbildung, ihrer politischen Tätigkeit sowie mehr oder minder gemeinsamer Grundüberzeugungen über die Entwicklungsperspektiven des Landes einte diese Gruppe von Historikern eine verbindende "Kollektivmentalität" (Bradford Burns 1978), die nicht zuletzt deshalb für die Ausbildung der in der Öffentlichkeit kursierenden Geschichtsanschauungen von großer Bedeutung war, weil diese Geschichtsschreiber über den Zugang zu den Foren der politischen Öffentlichkeit, wie die Tagespresse, das Publikationswesen oder die Parlamentssitzungen, verfügten. Auch unter die-

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So wurden an der Universität Buenos Aires zwischen 1821 und 1920 insgesamt 3.450 juristische Dissertationen eingereicht (zum Vergleich: von 1821 bis 1862 22 theologische Dissertationen); nach 1912 gewann die Medizinische Fakultät ein Übergewicht. An der "Facultad de Filosofía y Letras", die 1895 eingerichtet wurde, wurde im Jahr 1901 die erste Dissertation eingereicht; bis 1919 waren es insgesamt 37, wovon sich 12 auf historische Themenstellungen bezogen, davon wiederum 4 auf die Geschichte der Revolution von 1810. Vgl. Candioti 1920, 33f, 589, 705f, 1097f. a Vgl. die Übersicht über die "Lista de los Señores Suscriptores", die im Bd. 2 (1871, 164f) der "Revista del Rio de la Plata" erschien, sowie Maeder 1962, 752.

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sem Blickwinkel ist der Begriff des Historikers ungenau, wenn von der Gruppe der Geschichtsschreiber im 19. Jahrhundert gesprochen wird; richtiger wäre es, von dem Typus des Politiker-Historikers zu sprechen. Die ersten, allmählichen Verwissenschaftlichungstendenzen der Geschichtsschreibung im 19. Jahrhundert standen entsprechend unter vielfältigen Vorbehalten. 3. Verregelungen des historischen Diskurses Das Ende der offen kriegerischen Konflikte zwischen den Provinzen nach 1862 sowie die im Zuge der im gleichen Jahr einsetzenden sogenannten Nationalen Organisation Argentiniens immer dringlicher werdende Notwendigkeit, der Nation auch ein nationales Geschichtsbild zu geben, stellten die Voraussetzung dafür dar, daß die überkommenen Regeln des historischen Diskurses zunehmend diskussionswürdig wurden. Im Hintergrund der Kontroversen, die dadurch ausgelöst wurden, standen letztendlich die beiden unterschiedlichen Entwicklungsstränge der Geschichtsschreibung, wie sie sich in den dreißiger Jahren auszubilden begonnen hatten, und im Zentrum der nun einsetzenden Diskussion um Methodenfragen der Geschichtsschreibung standen die Begriffe der Biographie und der pasiones (Leidenschaften). Der zunehmenden Kritik an der biographischen Methode lag dabei die Annahme zugrunde, daß diese nicht dazu geeignet sei, die, wie es im Prozeß der nationalstaatlichen Konsolidierung des Landes von den politischen Führungsgruppen erwünscht war, nationale Geschichte umfassend und mit der notwendigen Integrationskraft darzustellen. Ähnlich verhielt es sich mit dem Begriff der pasiones, der ein Relikt der Bürgerkriegsjahre darstellte. Im politischen Diskurs nach 1810 hatte er dazu gedient, um insbesondere die politischen Bewegungen der Caudillos im Landesinnern und die Unterstützung, die sie unter den ländlichen Bevölkerungsgruppen fanden, als Ausdruck ungezügelter und egoistischer Instinkte zu diskreditieren. Dieser im politischen Diskurs begründete Vorwurf, daß die pasiones nur partíale Interessen abbilden würden, diente nunmehr im historischen Diskurs in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts dazu, um solche Formen der Geschichtsschreibung zu kritisieren, die nicht unter Absehung von der eigenen Person geschrieben worden seien. In besonderer Schärfe verurteilte Alberdi, der vielleicht skeptischste Geist innerhalb des argentinischen Bildungsbürgertums im 19. Jahrhundert, die tatsächliche Entwicklung der Geschichtsschreibung seit den dreißiger Jahren. Alberdi war in Tucumán geboren und lebte zwischen 1838 und 1879 weitgehend außerhalb Argentiniens, was zur Erklärung seiner kritischen Distanz gegenüber dem Projekt der Nationbildung von Buenos Aires aus beitragen mag. Aus diesen politischen Gründen, d.h. aufgrund der Sympathie für die 1861 niedergeworfene Regierung der Konföderation in Paraná und der Vorbehalte, die Alberdi umgekehrt gegenüber der Politik des bonaerensischen Liberalismus empfand, richtete sich die Kritik Alberdis, soweit es die Geschichtsschreibung betraf, insbesondere gegen Mitre, so in seinem "Belgrano y sus historiadores". Alberdi warf darin Mitre vor, eine moderne Form der historischen Legendenbildung zu betreiben.

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Die biographische Arbeitsweise Mitres und anderer Historiker würde die geschichtlichen Zusammenhänge verzeichnen. Sachlich nicht gerechtfertigt, läge das eigentliche Ziel dieser Heldenepik mitunter auch nur darin, Denkmäler der Größe und Macht zu entwerfen, an deren Ausstrahlung die Historiker aus persönlichen Motiven heraus zu partizipieren versuchten. Anzumerken ist allerdings, daß diese Schriften Alberdis erst postum erschienen29 und insofern, denken wir etwa an das Verhältnis Mitres zu Belgrano, eine zwar scharfsinnige, in der Öffentlichkeit aber wirkungslose Kritik darstellten. Für die Entwicklung des historischen Diskurses wichtiger war aus diesem Grund ein Aufsatz, den 1864 der spätere Staatspräsident Argentiniens und Rektor der Universität Buenos Aires, Nicolás Avellaneda, in der Zeitung "El Correo del Domingo" publizierte (Avellaneda 1988, 167). Avellaneda, im übrigen wie Alberdi aus Tucumán stammend, attackierte darin in ähnlich scharfer Form die zeitgenössische Historiographie, wobei er sich sowohl gegen die Geschichtsschreibung der actores y testigos wie auch die biographische Methode Mitres und anderer richtete. Die argentinische Geschichte wäre noch nicht geschrieben. Die, die dies betrieben hätten, hätten es aus der "politischen Leidenschaft" heraus und für Zwecke der öffentlichen "Agitation" getan oder aber ihren Studien nur "flüchtige Tage" und die "letzten Stunden" eines ermüdeten Lebens gewidmet. Die von den actores y testigos für sich beanspruchten Vorzüge ihres Arbeitens verkehrten sich damit bei Avellaneda in einen Nachteil, in dem sich die gesamte Entwicklungsproblematik der Geschichtsschreibung abbildete. Einmal handelte es sich dabei um die fehlende Professionalisierung der Geschichtsschreibung, ein anderes Mal um ihre Unfähigkeit, der neuen und nach 1862 immer dringenderen Funktion nationaler Traditionsbildung und Konsensstiftung gerecht zu werden: La historia argentina no ha sido aún escrita. Nuestros hombres de letras, entregados los unos por la pasión política o por el sentimiento del deber a las agitaciones de la vida pública, arrebatados los más de su grado por el torbellino, viajeros pacíficos en una nave que azotaban las tempestades, no han podido dedicar a su estudio sino días fugitivos o las últimas horas de una existencia fatigada. En la imposibilidad de acometer la gran empresa, han escrito entonces Biografías, narrando los hechos históricos para mostrar en su desenvolvimiento la influencia decisiva de sus personajes, levantados a alturas fantásticos por la pasión siempre creciente del escritor. Tal es el carácter esencial de la Biografía: apasiona por su héroe.

v

Die Kritik des "Belgrano" oder auch der gegen Sarmiento gerichtete Text "Facundo y su biögrafo" erschienen erst zwischen 1895 und 1901.

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Betrachten wir die Entstehungsgeschichte des "Belgrano" zwischen 1858 und 1887, so wird deutlich, daß auch Mitre die Beschränkungen der biographischen Methode zunehmend zu einem Problem wurden. Mitre selbst beschrieb dies in dem Bild eines allmählichen Erkenntnisprozesses, der sich im Zuge seiner Auseinandersetzung mit dem Gegenstand, also der Rolle Belgranos in der Unabhängigkeitsbewegung, ausgebildet habe. Anders als bei Avellaneda, dessen Kritik an der biographischen Methode vor allem politisch motiviert war, weil, wie er 1877 in einem Brief an Benjamin Vicuña Mackenna ausführte (Avellaneda 1910, III 101), das daraus entstehende Geschichtsbild notwendig partial sein müsse und insofern in nationaler Hinsicht keine genügende Integrationskraft besitze ("...las biografías sean deficientes en sus pormenores", die Geschichtsdarstellung deshalb "incompleto"), argumentierte Mitre in seinen "Comprobaciones históricas" von 1881 (Mitre 1942, XI 299) also an diesem Punkt bereits wissenschaftsimmanent: Al principio sólo pensamos escribir una biografía para una publicación ilustrada. Al compulsar la masa de documentos nuevos que removimos, el asunto nos dominó y fuimos arrastrados por las comentes en que sucesivamente íbamos entrando; entonces tuvimos la primera revelación del gran cuadro de la historia, dentro del cual colocamos la figura del personaje que debía ocupar el primer plao. Al realizar este plan, [...] vimos que no era posible escribir la vida del protagonista sin hacer la historia del pueblo en cuyo medio se movía. De aquí surgió naturalmente el asunto, el argumento del libro, que era el desarrollo gradual de la idea de la independencia argentina. Der Wert der historischen Biographie war damit relativiert. José Manuel Estrada (1896, II 211) formulierte dies einige Jahre später in dem berühmten Satz: "Estudiamos la historia de un pueblo y no la biografía de sus caudillos." Das nationale Geschichtsbild, das es im Zuge des nationalstaatlichen Konsolidierungsprozesses zu erstellen galt, vertrug sich, so nunmehr die sich bildende Meinung, nicht länger mit der offenen Polemik und der unverhüllt parteiischen Wertung historischer Geschehnisse, wie es in den politisch gemünzten Streitschriften der dreißiger oder vierziger Jahre der Fall gewesen war. Und dieses Verdikt betraf auch die von persönlichen Erinnerungen und emotionalen Reminiszenzen geprägten Geschichtsdarstellungen der actores y testigos. Die zeitgemäße, nationale Geschichtsbetrachtung mußte vielmehr den Anspruch erheben, sowohl ein neutrales wie auch ein umfassendes, in der zeitgenössischen Terminologie als "komplett" apostrophiertes Bild der nationalen Geschichte zu entwerfen, das allen Mitgliedern der nationalen Gemeinschaft oder "Familie" gerecht würde. Mitres Forderung, daß die historische Arbeitsweise auf der Kenntnis "aller" Quellen beruhen müsse (worüber sich Vicente Fidel López im übrigen zu Recht mokierte), erschien insofern als die Möglichkeit, eine vorgeblich rein sachliche und über partíale Erinnerungen hinausgehende,

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objektive und umfassende Geschichte zu schreiben ("escribir esa historia, tan correcta y tan completa como es posible..."30), wie es das politische Projekt der Nationbildung in Argentinien notwendig erscheinen ließ. Die Forderung, daß die Geschichte aus den Quellen heraus geschrieben werden müsse, stellte den wichtigsten Beitrag Mitres zur Verwissenschaftlichung der argentinischen Geschichtsschreibung dar. Der Quellengedanke war gegen die bis dahin verbreitete Anschauung gerichtet, daß die Verwebung des Historikers in das Geschehen, d.h. die Identität von historischem Akteur und Chronisten, nicht eine Einschränkung des Werts seiner Erzählung darstellen, sondern im Gegenteil erst deren Authentizität und Wahrheitsgehalt verbürgen würde. Indem Mitre das Studium der Quellen über das persönliche Erleben von Geschichte stellte, befreite er die Historiker nicht allein aus ihrer Sorge, wie sie etwa Vicente Fidel López umtrieb, daß mit dem Tod der Generation der actores y testigos auch das Wissen um die Geschichte verlorengehen könne, sondern er eröffnete dadurch einer neuen Generation von Historikern zugleich erst die Möglichkeit, Geschichte überhaupt schreiben zu können. Die Gründe dafür, daß Mitre die historische Forschung um den Quellengedanken zentrierte, waren vielfältig. Zweifelsohne war von Bedeutung, daß Mitre selbst, 1821 in Buenos Aires geboren, nicht mehr zu der Historikergeneration der actores y testigos zählte. Dies war ein einfacher, aber wichtiger Grund dafür, den Zugriff auf die Geschichte bzw. das Erzählen davon von der persönlichen Gedächtnisarbeit zu trennen, um es neu und anders zu begründen. Auch spielten neuerlich politische Gründe eine Rolle. Südamerika, so Mitre 1875 in einem Brief an Barros Arana (Mitre 1912, XX 54), leide unter der Unkenntnis seines eigenen Wesens, und das, was es über sich wisse, verdanke es europäischen Gelehrten, wie Alexander von Humboldt. Die Quellenarbeit stellte vor diesem Hintergrund und ganz im romantischen Sinn ein notwendiges Instrument dar, um den Besonderheiten Amerikas ("propia substancia") nachzugehen und die Eigentümlichkeiten der nationalen Traditionen zu erforschen, die letztlich die Trennung von Spanien hervorgebracht hätten. Die Geschichtsschreibung wurde für Mitre damit zu einer empirischen Wissenschaft. Dies meint nicht, daß es den Historikern gelungen wäre, den selbstformulierten Anspruch, unparteilich zu schreiben, annähernd einzulösen oder aber zumindest die eminent politischen Implikationen des eigenen Denkens zu reflektieren. Es bedeutet auch nicht, daß in methodischer Hinsicht ein kritisches Verfahren zur Erschließung und Interpretation der Quellen verbindlich gemacht worden wäre. Die Quellenarbeit war in der Regel ähnlich unreflektiert wie der gesamte politische Deutungskontext der Geschichte und konzentrierte sich auf eher handwerkliche Fähigkeiten, im günstigsten Fall auf einen

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So die Formulierung in dem Brief von Bartolomé Mitre an Diego Barros Arana, 7.7.1886. Das Schreiben wurde im Bd. 1 (1886, 336) der "Revista Nacional" veröffentlicht.

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positivistischen Empirismus31. Ungeachtet dessen bleiben jedoch zwei Leistungen des Quellengedankens festzuhalten. Erstens trug er dazu bei, die Identität der Historikers auf die Kenntnis und Einhaltung von Regeln historischen Arbeitens zu beziehen, mochten diese auch teils erst in rudimentärer Form ausformuliert, teils problematisch sein. Und zweitens beförderte der Quellengedanke dadurch die Abgrenzung einer besonderen Sphäre der Beschäftigung mit der Geschichte einerseits von der Alltagswelt andererseits, also von dem, was Mitre 1864 in seinen "Estudios históricos sobre la Revolución Argentina" (1942, X 302) als den "vulgären" Umgang mit der Geschichte und ihrer Überlieferung von "Mund zu Mund" abtat. In die gleiche Richtung wirkte, das bleibt zu ergänzen, der allmähliche Ausbau des Archiv- und Bibliothekswesens. Das Archiv der Provinz Buenos Aires wurde nach 1852 reorganisiert und 1858 unter die Leitung von Manuel Ricardo Trelles gestellt, der auf dem Gebiet der Quellenpublikation, die allerdings quisquilienhaft betrieben wurde, außerordentlich rege war (vgl. Torre Revello 1938). Die Bibliotheken wurden 1872 zur Sammlung von Handschriften angewiesen; 1873 wurde erstmals die Kopie von in spanischen Archiven befindlichen Dokumenten erörtert, was im übrigen in erster Linie auf dem Hintergrund der Grenzstreitigkeiten mit Chile geschah32. Frühzeitig und mehr oder minder parallel zu dem Aufschwung des Quellengedankens vollzog sich auch die Rezeption des positivistischen Gedankenguts durch die Historiker. Wichtige Anstöße in diese Richtung hatte wiederum Mitre gesetzt, indem er die Revolution von 1810 in den "Estudios históricos" (1942, X 275f) als eine sowohl politische wie auch "soziale" Bewegung definierte, getragen von der "Leidenschaft der Massen". Diese Auffassung über den Charakter historischer Prozesse hatte ihre Vorläufer in den Arbeiten europäischer Historiker, die Mitre bekannt waren, wie Buckle, der in seiner "History of Civilization in England" (1857-61) das Studium der Massen empfohlen hatte, oder Hippolyte Taine, der die Untersuchung der sozialen Kräfte in den Vordergrund des historischen Interesses stellte. Diese Wertung der Revolutionsgeschichte warf die Frage auf, wie diese "sozialen Kräfte" und "kollektiven Bewegungen" (Mitre), die der Revolution ihre Kontur verliehen hätten, beschreibbar waren, entzog sich ihre Darstellung doch der überkommenen biographischen Methode. Mitre (1942, XI 329) sah eine Antwort

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Komprimiert finden sich die von Mitre ausgehenden Prämissen zur Quellenarbeit und insbesondere der Glaube, daß die Quellen die Geschichte "wahrheitsgemäß" und in einem "harmonischen Gesamtbild" erscheinen lassen würden, bei Fregeiro 1882, 291f. 32 Vgl. dazu die "Mensaje" Avellanedas vor dem Kongreß am 4.7.1878 (Avellaneda 1910, XI 231), in der es hieß: "Las cuestiones de límites entre la República Argentina y algunas naciones vecinas [...] merecen ser estudiados por todos los medios que están al alcance del Gobierno. [Los] documentos presentados [...] necesitan completarse con otros no menos importantes, que deben existir en los archivos de nuestro país y en los de la monarquía española".

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auf diese Frage in der von ihm als "historisch-analytisch" bezeichneten Methode, der es um die Erkenntnis der "Gesetze" ginge, die die historische Entwicklung steuern würden. Frühe Anklänge an die positivistische Terminologie waren dabei unverkennbar: Mitre definierte die Geschichte als "positive Wissenschaft", die die "natürliche Ordnung" und "Evolution" der Ereignisse mittels der "logischen Koordination" von Ursachen und Wirkungen, der "Deduktion" und des "Vergleichs" beschreiben würde. In diesem Zusammenhang bezeichnete Mitre (1942, XI 360) die Geschichtswissenschaft auch als eine "experimentelle Methode der Beobachtung", und es fügt sich in dieses Bild, daß er in seinen Arbeiten eine umfangreiche Metaphorik verwendete, die der Physik oder auch der Biologie entlehnt war. Wie bei einer Vielzahl der politisch liberal gesonnenen Historiker des 19. Jahrhunderts, findet sich bei Mitre eine bereits in den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts einsetzende Hinwendung zu einem positivistischen Wissenschaftsverständnis, das von romantisierenden Reminiszenzen geprägt blieb. Dies dokumentierte sich neben anderem auch in dem Gebrauch des Fortschrittbegriffs, der im politischen Diskurs eine allgemeine Orientierungsfunktion gewann, und dessen Attraktivität für die Historiker darin bestand, daß er die Geschichte als einen gesetzmäßig verlaufenden, evolutionären Prozeß erscheinen ließ33. Denn dadurch wurde es möglich, die nationale Geschichte zu harmonisieren, d.h. die auf der Ebene der politischen Ereignisgeschichte angesiedelten Brüche der nationalen Entwicklung von den gleichsam unterhalb davon sich vollziehenden, naturwüchsigen Entwicklungsprozessen zu trennen. Neuerlich dokumentierte sich diese Betrachtungsweise des Nationbildungsprozesses in der benutzten Metaphorik. Avellaneda z.B. sprach in einer Rede vor der Abgeordnetenkammer 1860 (Avellaneda 1945, 17) von der "langen Nacht" der Bürgerkriege, und Mitre definierte die Phase der sogenannten Anarchisierung der Region nach 1820 in einer Rede vor dem Kongreß 1862 (Mabragana 1910, III 167f) als eine nur "vorübergehende Sonnenfinsternis", aus der die Nation letztlich und zwangsläufig gestärkt hervorgegangen wäre. Indem die historischen Entwicklungen als solche gesetzmäßiger Art deklariert wurden, war der Nationbildungsprozeß, der tatsächlich erst militärisch sanktioniert worden war, seiner Kontingenz enthoben. Die aus politisch-legitimatorischen Gründen notwendige

33 Der Gebrauch der Begriffe "Zivilisation" und "Fortschritt" im kreolischen Diskurs des 19. Jahrhunderts wäre einer gesonderten Betrachtung Wert. Hier muß der Hinweis genügen, daß der Zivilisationsbegriff eine dynamische Kategorie darstellte, indem er das politische Programm umriß, die Gesellschaft von ihren rückständigen Bräuchen und Gewohnheiten zu befreien. Entsprechend wurde er auch häufig in der Verbform benutzt, etwa von Echeverría (vgl. Mayer 1963, 16S). Die Ersetzung des Zivilisation- durch den Fortschrittsbegriff spiegelte die politische Konsolidierung der argentinischen Gesellschaft nach 1862 ab. Die gesellschaftliche Entwicklung wurde darin nurmehr als die Entfaltung und Vervollkommnung gegebener Zustände interpretiert, so daß der Fortschrittsbegriff (entgegen unserem Begriffsverständnis) stärker statische Komponenten enthielt.

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Behauptung, daß sich im Mai 1810 eine bereits existierende Nation von der Unterjochung durch Spanien befreit habe, wurde zugleich bestätigt. Zumindest war der an die Unabhängigkeitsbewegung sich anschließende Zerfall der Region nicht länger ein Gegenbeweis gegen diese Behauptung. Die Bürgerkriege, die caudillistischen Herrschaften, die gesellschaftspolitischen Desintegrationsprozesse, all das wären, so Andrés Lamas (1872, 506), die "logische" Konsequenz des "[...] antiguo régimen en todos los hábitos, en todas las ideas, en todas las formas sociales y políticas" gewesen. Was geschah, hätte geschehen müssen: "La guerra civil y el caudillaje eran lójicos; pero de ello tenia que resultar lo que resultó [...]". 4. Zwischenergebnis Frühzeitig fanden sich im La Plata-Raum, zumindest von Seiten der "jakobinischen" Gruppe in Buenos Aires, Bestrebungen, die Geschichte als Mittel einer staatspatriotischen Erziehung in Anspruch zu nehmen. Der Desintegrationsprozeß in der Region, die Bürgerkriege sowie die Errichtung caudillistischer Systeme warfen diesen Prozeß zurück und führten in der politischen Öffentlichkeit teils zu einem Geschichtsverlust, teils zu einer Auflösung der bis dahin rudimentär umrissenen "nationalen" Geschichte in eine Vielzahl von Einzelgeschichten. Erst mit der Diskussion des romantisierenden Nationgedankens und dem damit verbundenen Bedeutungsaufschwung historischer Traditionsmuster für die Identitätsbildung von Staat und Nation trat die "Geschichte" als eine eigenständige diskursive Formation neben die "Politik" und die "Literatur". Als Zäsur in diesem Prozeß können die Jahre 1836/37 gelten, als sich zwei unterschiedliche Entwicklungsstränge der Geschichtsbetrachtung auszuformen begannen. Die actores y testigos und ihre Form des historischen Arbeitens erwiesen sich dabei als eine Hypothek des Verwissenschaftlichungsprozesses der Historiographie. Dies betraf die Funktionsleistungen der Geschichtsschreibung, die historische Methode wie auch die Strukturierung der Geschichtsanschauungen selbst. Die Vorgaben der actores y testigos begünstigten, was diese Komponenten des historischen Diskurses betraf, ein Übergewicht personaler Rechtfertigungsmotive, die Fiktionalisierung der Geschichtserzählung sowie das Festhalten an naturalen Ordnungskategorien der Geschichte. Der allmähliche, über das ganze 19. Jahrhundert hinweg rudimentäre Verwissenschaftlichungsprozeß der Geschichtsschreibung bezog seine Impulse stärker aus dem romantisierenden Entwicklungsstrang des historischen Diskurses, den die "Generation von 1837" und konkret Alberdi erstmals in theoretischer Hinsicht zu umreißen versucht hatten. Dieser Verwissenschaftlichungsprozeß (von einer Disziplinwerdung kann erst für das frühe 20. Jahrhundert gesprochen werden) entwickelte sich zögerlich, was an unterschiedlichen Faktoren lag. Teils standen auch die Historiker, die diese Entwicklung repräsentierten, im Bann des Authentizitätsanspruchs der Augenzeugen-Historiographie, teils hielten sie an literarischen Traditionen der Geschichtsdarstellung fest. Vor allem aber besaßen auch die Romantiker ein ungebrochenes Verhältnis

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zu den politischen Funktionsleistungen der Geschichtsschreibung, was nicht zuletzt in ihrer konkreten Biographie bzw. in den symbiotischen Beziehungen, mitunter auch der Identität, zwischen Historiker und politisch-sozialen Führungsgruppen begründet lag. Wichtige Impulse bezog der Verwissenschaftlichungsprozeß der Historiographie aus dem Quellengedanken wie aus der Rezeption des positivistischen Gedankenguts, wobei die veränderten politischen Funktionsansprüche an die Geschichtsschreibung diesen Prozeß nachdrücklich förderten. Die Konsolidierung von Staat und Nation nach 1862 stellte auch der Geschichtsbetrachtung neue Signifikanzkriterien, wollte sie in politisch-sozialer Hinsicht Akzeptanz erzielen. Die Geschichtsschreibung mußte ihren partialen wie auch polemisierenden Charakter aufgeben, zumindest zurückstellen, und überdies die Nationbildung in historischer Perspektive von ihrer Kontingenz entlasten. Die mit dem Quellengedanken verbundenen Konnotationen einer leidenschaftslosen, unparteiischen und "kompletten" Geschichtsdarstellung bildeten ebenso wie der Fortschrittsbegriff und die damit einhergehende Rezeption positivistischen Gedankenguts recht genau diese neuen Funktionsansprüche ab, die die politischen Führungsgruppen nach 1862 an das "nationale" Geschichtsbild und dessen potentielle Integrations- und Stabilisierungsleistungen herantrugen.

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IV. Provinz, Nation und Geschichtsanschauung 1. Die politische und sozialpsychologische Konstellation nach 1852 und ihre Auswirkungen auf die Geschichtsbetrachtung In sozialwissenschaftlichen Arbeiten findet sich häufig die These, daß die hispanoamerikanischen Gesellschaften sich nur unzureichend oder partial modernisiert hätten. Wenn man fragt, wie dieses Phänomen erklärt wird, so trifft man regelmäßig auf den Begriff der politischen Kultur oder ihm verwandte Termini, also die Formen und Strukturen politischer Konfliktregelung und Entscheidungsfindung, in denen sich in den dortigen Gesellschaften überkommene sozio-kulturelle Orientierungs- und Verhaltensmuster behaupten würden. Diese sozio-kulturellen Muster und Orientiemngswerte hätten sich gegenüber den ökonomisch-technischen Entwicklungsvorgängen mehr oder minder resistent verhalten bzw. mit Modernisierungsschüben in anderen Bereichen der hispanoamerikanischen Gesellschaften nicht Schritt gehalten. In politischer Hinsicht sei dies wichtig, weil überkommene Einstellungen, Attitüden oder Mentalitäten, und mit vielleicht geringerem Gewicht eben auch überkommene historische Orientierungsmuster und Traditionen, den Entwicklungsprozeß dieser Länder gehemmt, gar blockiert hätten1. Daß dieses Erklärungsmuster einen Teil Berechtigung besitzt, dürfte unbestritten sein. Unbefriedigend daran ist jedoch, daß es die Ursachen für konkret die Beharrungskraft tradierter Geschichtsvorstellungen, um die es hier geht, primär in Faktoren sucht, die außerhalb dieser historischen Bilderwelt und ihrem Entstehungsprozeß selbst liegen, wie etwa in der politischen Inanspruchnahme der Geschichts vorstellungen oder der verzögerten Verwissenschaftlichung der Geschichtsschreibung. Weitgehend unberücksichtigt bleibt demgegenüber die Frage, ob die Zählebigkeit der überkommenen, im 19. Jahrhundert entwickelten Geschichtsvorstellungen nicht auch etwas mit den Strukturen und sozialen Funktionsleistungen dieser frühen historischen Bilderwelt selbst zu tun hatte. Es gehört zu den weithin gesicherten Ergebnissen der Individual- wie auch der Sozialpsychologie, daß die sogenannten formativen Anfangsphasen in der Entwicklung von Individuen wie auch Gruppen eine große Bedeutung besitzen und von nachhaltig prägender Wirkung sind. Dies gilt möglicherweise auch für das Geschichtsbewußtsein. Germán Colmenares z.B. geht von dieser Annahme aus, wenn er schreibt (1987, l l f ) , daß es sich bei den Geschichtsanschauungen, die im 19. Jahrhundert von der hispanoamerikanischen Geschichtsschreibung entwickelt wurden, um ein "erstes Bild der neuen Nationen von sich selbst" gehandelt habe, weshalb diese historischen Bilder und Deutungsmuster auch in der Folgezeit und bis in die jüngste Vergangenheit oder gar Gegenwart hinein so "ungeheuer einflußreich" gewesen seien. Diese Erklärung sucht die Gründe

1

Vgl. die Argumentation Puhles (in Riekenberg 1990a, 13); Mols 1985, l l f ; Mansilla 1989, 371f; 1991, 64.

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für die Resistenz, die die überkommenen historischen Vorstellungsmuster gegenüber den sozialen Wandlungs- und Modernisierungsprozessen der Gesellschaft an den Tag legten, nicht primär in der politischen Inanspruchnahme der Geschichte, die insbesondere unter autoritären Regimen dazu fuhren konnte, daß historische Mythen und Legenden aus Motiven der Systemstabilisierung oder der sozialen Konfliktverschleierung immer neu reproduziert wurden. Sie sucht diese Gründe auch nicht in den zeitlichen Verzögerungen oder Defiziten im Prozeß der Verwissenschaftlichung der historischen Forschung und Lehre, wodurch die Heranführung der Geschichtswissenschaft an neue, zeitgemäßere Fragestellungen erschwert wurde. Sie behauptet vielmehr, daß die Gründe für die langfristige Stabilität der kreolischen Geschichtsanschauungen in der formativen Anfangsphase des historischen Diskurses im frühen 19. Jahrhundert selbst zu suchen sind, und verweist damit auf die eher unterschwelligen, sozialpsychologischen Bedürfniskonstellationen, die sich in der Hervorbringung einer "nationalen" Geschichtsanschauung in Hispanoamerika zur Geltung brachten. Welche psychologischen Mechanismen und Motivationslagen, so wäre also zu fragen, gingen in die formative Anfangsphase des historischen Diskurses im La Plata-Raum ein, und welche Auswirkungen ergaben sich daraus für die Entwicklung des historischen Diskurses. Es ist zunächst möglich, die formative Anfangsphase des historischen Diskurses in zeitlicher Hinsicht recht genau einzugrenzen. Ihr Beginn lag, wie gesehen, in den Jahren 1836/37, als sich die Geschichte im Sinn einer diskursiven Formation auszubilden begann. Ihr Abschluß lag in den späten fünfziger Jahren des 19. Jahrhunderts, als zunächst das Historisch-Geographische Institut in Buenos Aires gegründet wurde (1854), von Mitre in seinem "Belgrano" der erste Versuch einer synthetisierenden Nationalgeschichtsschreibung unternommen wurde (1857/58) sowie die ersten Schulgeschichtsbücher erschienen (1858). Angezeigt war damit, daß sich innerhalb der politisch-sozialen Führungsgruppen die bis dahin keineswegs selbstverständliche Anschauung durchzusetzen begann, daß die "Nation" zum Zweck ihrer Konsolidierung und Entwicklung auch ein nationales Geschichtsbild benötigte. Aus dieser Ansicht ergab sich erst die Legitimität eines gesonderten historischen Diskurses im Rahmen der politischen Öffentlichkeit. Die Hintergründe für diese Entwicklung waren politischer Art und lagen in dem Konflikt zwischen der Konföderation und Buenos Aires und den damit verbundenen Bedürfnissen begründet, den jeweils eigenen politischen Machtanspruch, wie ihn die Regierungen in Paraná bzw. in Buenos Aires vertraten, auch in historischer Hinsicht zu legitimieren. Geschichte wurde damit etwa seit der Mitte der fünfziger Jahre politisch wichtig, und dies galt auch für die Eliten im Landesinnern, die aus Gründen, auf die noch zurückzukommen sein wird, der Geschichtsbetrachtung bis dahin skeptisch oder ablehnend gegenübergestanden hatten, und die nunmehr in dem Maße, wie der Konflikt zwischen der Konföderation und Buenos Aires auf eine politisch-militärische Entscheidung hinauslief, in gleicher Weise wie die politische Klasse in Buenos Aires ein nationales

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Geschichtsbewußtsein anzumahnen begannen und argumentierten, daß eine Nation ohne Geschichte nicht bestehen könne. So hieß es in der in Córdoba erscheinenden Zeitung "El Imparcial" am 9. Juli 1858, daß die historischen Gedenktage, die an die Leiden, die Glorie und den Fortschritt der Menschheit erinnern, das "Brot" bilden würden, von dem sich die "Gesellschaften" ernährten: Hay en la historia de los pueblos dias cuyo imperecedero recuerdo son el apoteosis mas acabado de su nobleza, de su dignidad, y del grandioso fin de la humanidad toda; dias, que simbolizan sus sufrimientos, sus glorias y su progreso; dias, en fin, que son el verdadero pan de las sociedades, y sin las que no existen moralmente. Todas las naciones del mundo se alimentan de esos recuerdos [...] ¿Qué seria esta República sin los recuerdos del 9 de Julio? Betrachten wir die in den fünfziger Jahren einsetzende Entstehung des nationalen Geschichtsbilds auf dem Hintergrund der politischen Regionalismen im La PlataRaum, so ist es zunächst zum besseren Verständnis dieser Entwicklung hilfreich, sich die unterschiedlichen Entwicklungsstandards der einzelnen Provinzen in der Region vor Augen zu führen. Grob zu unterscheiden sind dabei drei Regiontypen. Erstens handelte es sich um die zentralen Zonen, also Regionen, die von der Intensivierung des Agrarexports auf der Grundlage der Freihandelspolitik nach 1810 profitierten, in denen vergleichsweise stabile Elitegruppen in politischer und sozialer Hinsicht dominierten und in deren inneren Metropolen, wie in der Stadt Buenos Aires, die Außenhandelsbeziehungen, die Finanztransfers sowie teils auch das Verwaltungshandeln zusammenliefen. Zweitens fanden sich Schwellenzonen, in denen die Elitegruppen bemüht waren, entweder einen Anschluß an diese Entwicklungen zu finden oder aber den Verlust überkommener Einflußmöglichkeiten und Machtchancen durch wirtschaftliche Umstrukturierungen und politische Neuorientierungen zu kompensieren. Drittens schließlich existierten randständige Zonen, die entweder traditionell im Abseits der gesellschaftspolitischen Entwicklung gestanden hatten oder aber durch den Bruch der kolonialstaatlichen Ordnung, die Verlagerung der kolonialen Handelsrouten und De-Industrialisierungsprozesse im häuslichen und Manufakturbereich marginalisiert wurden2. Die Fragilität des Nationbildungsprozesses nach 1810 rührte nun aber nicht allein aus diesen unterschiedlichen Entwicklungsstandards innerhalb der Region her. Sie wurde vielmehr auch dadurch verschärft, daß die einzelnen Regionen sich nach 1810 ungleich entwickelten, wie etwa im litoral, wo Santa Fe aufgrund der Bürgerkriegsverwüstungen vorübergehend auf einen eher randständigen Status abzusinken drohte, während andere Provinzen, wie

2

Diese Begrifflichkeit weckt möglicherweise Assoziationen an dependenztheoretische Ansätze, die nicht beabsichtigt sind. Die Begriffe wurden hier gewählt, weil es an präziseren Begriffen fehlt.

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zunächst Corrientes und später Entre Ríos, aufgrund wirtschaftlicher Entwicklungsschübe die politische Kraft gewannen, um den Hegemonialanspruch von Buenos Aires zu unterschiedlichen Zeitpunkten herauszufordern. Hinzu kam, daß sich diese regional ungleichen Entwicklungsstandards ständig verschoben und im Fluß befanden, was einer der Gründe dafür war, daß sich innerhalb der Region keine Trägergruppe im "nationalen" Sinn auszubilden vermochte. Die einzelnen Provinzeliten waren zuerst regionalen Interessen verpflichtet und von daher gar nicht oder nur bedingt in der Lage, ein übergreifendes Projekt der "Nation" politisch zu repräsentieren. Dies galt auch für die bonaerensische Elite, die spätestens nach dem Scheitern der unitaristischen Politik Rivadavias 1826 einen schärfer autonomistischen Kurs einschlug. Dies erklärt zugleich, warum das politische Projekt der Nationbildung den Charakter inter-provinzialer Verträge und Absprachen annahm, d.h. als ein Modernisierungskonzept "von oben" konzipiert war, das letztlich über den Staat organisiert wurde. Spätestens nach 1862 wurde damit eine politische Entwicklung durchgesetzt, die in den randständigen Zonen und mitunter auch weiterhin in Teilen der Eliten in den Schwellenregionen unpopulär war bzw. als eine innere Kolonisierung des Landes empfunden wurde, wodurch in den sechziger und siebziger Jahren eine Reihe von Aufständen und Erhebungen im Landesinnern ausgelöst wurden. Die fünfziger Jahre standen ganz im Zeichen des offenen Machtkampfs zwischen den Eliten in den zentralen und den Schwellenzonen um die Vorherrschaft in Staat und zu bildender Nation. Zur wichtigsten politischen Gegenkraft zu Buenos Aires entwickelte sich seit den frühen vierziger Jahren die Provinz Entre Ríos, was in erster Linie mit wirtschaftlichen Faktoren, wie der Förderung der Viehwirtschaft und der Anwerbung europäischer Zuwanderer zum Zweck der Agrarkolonisation, zusammenhing. Die hierarchisch-militärische Organisation der Provinz, die um das Milizwesen gruppiert war, dessen Kommandeure sowohl militärische wie auch politische Funktionen ausübten und die über ein starkes lokales Prestige verfügten, trug zugleich zur Stabilisierung der inneren politischen Verhältnisse bei. Die Prosperität der Provinz, die auch auf den intensiven Handelsbeziehungen mit den Nachbarprovinzen, Uruguay und Buenos Aires beruhte, zog ferner intellektuelle, "föderalistisch" gesonnene Kreise nach Entre Ríos bzw. dessen Hauptstadt Paraná an (vgl. Bosch 1978, 177ff). Die Provinz entwickelte sich aufgrund dieser Faktoren in den vierziger Jahren zur politischen Führungskraft unter den nicht-bonaerensischen Provinzen. 1851 schloß Urquiza, der Gouverneur von Entre Ríos, ein Bündnis mit Brasilien und Uruguay, dem dann auch Corrientes beitrat, um, wie Urquiza in einer Proklamation vom 5. April 1851 formulierte (Silva 1937, I 433), dem "bedrohlichen Ehrgeiz des Gouverneurs von Buenos Aires", also Rosas, endgültig "Einhalt zu gebieten." Im Februar 1852 besiegten die Verbündeten in der Schlacht bei Caseros die Truppen von Buenos Aires. Rosas selbst wurde ins Exil nach England getrieben, und Truppenkontingente aus den Provinzen Corrientes und Entre Ríos besetzten die Stadt Buenos Aires. Im Juni des Jahres jedoch lehnte die Provinzver-

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Sammlung von Buenos Aires das Abkommen von San Nicolás ab, das Urquiza mit den Provinzgouverneuren im Landesinnern geschlossen hatte und das auch im Hinblick auf befürchtete Expansionsbestrebungen Brasiliens die "nationale Organisation" Argentiniens unter der Führung der Konfoderationsregierung in Paraná vorsah. Der politische Widerstand, der sich in Buenos Aires gegen das Abkommen von San Nicolás formierte, richtete sich in erster Linie gegen die darin bekundete Absichtserklärung der Provinzgouverneure, die Kontrolle, die Buenos Aires über den Außenhandel wie auch vermittels der Zölle über einen Großteil der Staatseinkünfte ausübte, der Zentralregierung zu übereignen. Die Ablehnungsfront, die sich in Buenos Aires gegen das Abkommen von San Nicolás entwickelte, setzte sich aus unterschiedlichen Gruppen und Motiven zusammen. Das Offizierskorps befürchtete eine Verschiebung der militärischen Kräftepotentiale zuungunsten von Buenos Aires. Vor allem die Grundbesitzer und Händler sorgten sich in erster Linie um die wirtschaftlichen Privilegien der Provinz und waren gewillt, gegebenenfalls die politische Abtrennung der Provinz einer "nationalen" Lösung vorzuziehen, die für sie mit Nachteilen verbunden war. Und die eigentliche politische Klasse schließlich, die sich vor allem aus Juristen, Staatsbediensteten und Milizkommandeuren zusammensetzte und in der nun die nach dem Sturz von Rosas aus dem Exil Zurückgekehrten den Ton angaben, setzte weiterhin auf eine "nationale" Lösung unter der Hegemonie von Buenos Aires. Zur Führungsfígur dieser Gruppe wurde Bartolomé Mitre, dessen liberale Partei sich vor allem auf die Mobilisierung der städtischen Bevölkerung und den militärischen Schutz der Nationalgarde stützte, wobei der politische Liberalismus, sehen wir von anti-klerikalen Komponenten ab, weitgehend als ein Synonym für die Freihandelspolitik und die Integration der Region in den Weltmarkt sowie als Gegengewicht zu den vorgeblich rückständigen, caudillistischen Herrschaftsgewalten im Landesinnern begriffen wurde. Im Juni des Jahres 1852, als die Provinzversammlung von Buenos Aires das Abkommen von San Nicolás diskutierte, waren es nicht zuletzt die PolitikerHistoriker, die die ablehnende Haltung dagegen begründeten und durchsetzten. Dazu zählten etwa Miguel Esteves Saguf, Sohn eines spanischen Händlers, Jurist und Mitbegründer des Historisch-Geographischen Instituts 1854, der (1980, 83) Urquiza seine Kollaboration mit Rosas vorwarf ("Urquiza había sido un sanguinario caudillo y fuerte columna de Rosas..."), sowie natürlich Mitre. Der mächtige Mann der Nation, so Mitre in seiner "Rede gegen das Abkommen von San Nicolás" 1852 (Mitre 1945, 2ff) vor den bonaerensischen Deputierten, sei nun Urquiza, ein Caudillo, der im Bund mit Rosas gestanden habe. Wer, so die rhetorische Frage, garantiere, daß damit tatsächlich die "Freiheit" gesiegt habe. Oder würde nicht vielmehr nur eine neue "Diktatur" geschaffen werden, die nunmehr Buenos Aires nicht unter die Knechtschaft eines Tyrannen (Rosas), sondern unter die der Provinz Entre Ríos bzw. der Caudillos im Landesinnern zwingen würde? Es fehlte auch innerhalb der politischen Klasse von Buenos Aires deshalb nicht an Stimmen, die in der Politik Mitres weniger eine ernsthafte Sorge um die politische Verfassung der Gesellschaft als vielmehr persön-

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liehe Machtgelüste am Wirken sahen und die auf einen Ausgleich mit der Regierung in Paraná drangen. Dazu zählte auch Vicente Fidel López, der die Tragik der Situation vor allem in der FGhrungsschwäche Urquizas begründet sah, wodurch die Chance zu einer nationalen Organisation des Landes auf konstitutioneller Grundlage vertan würde3. López auch, der später als Außenminister der Konföderation fungierte und 1861 neuerlich ins Exil nach Montevideo ging, hielt 18S2 in der Provinzversammlung von Buenos Aires eine mutige Rede (Silva 1937, I 671), in der er ungeachtet tumultartiger Zustände die Partei Mitres angriff und ein Bekenntnis zur Politik der Regierung in Paraná ablegte: "[...] Pero alzo mi voz también para decir que mi patria es la República Argentina y no Buenos Aires." Es mag hier dahingestellt sein, in welchem Verhältnis die überkommene Furcht vor einer neuerlich "caudillistischen" Regierung, die lokalpatriotischen Reminiszenzen oder aber persönliche Machtambitionen im Einzelfall jeweils zueinander standen. Festzuhalten ist, daß der politische Widerstand in Buenos Aires gegen die Regierung in Paraná, begünstigt durch eine Meuterei der in Buenos Aires stationierten Truppen aus dem litoral, in die Revolution vom September 1852 führte. Während Vicente Fidel López (Rodríguez 1922, III 599) verbittert kommentierte, daß es sich dabei um eine "provinzialistische Bewegung" gehandelt habe, und Urquiza von einer "subversiven Bewegung" (Silva 1937,1 861) sprach, stellte der bonaerensische Liberalismus in einer Erklärung der Abgeordnetenkammer vom September 1852 (Silva 1937, II 706) die Septemberrevolution des Jahres in die Tradition der Mairevolution von 1810: "Esta revolución legítima por sus causas, gloriosa por sus medios, grande por sus fines [...], no es sino la continuación de la inmortal revolución de 1810." Buenos Aires erklärte sich am 19. September 1852 neuerlich zum selbständigen Staat und gab sich 1854 eine eigene Verfassung. Dieser Konflikt zwischen der Konföderation und Buenos Aires, der dadurch eskalierte, wurde letztlich militärisch gelöst. Nach wechselndem Schlachtenglück besiegte im September 1861 die von Bartolomé Mitre geführte Nationalgarde der Provinz Buenos Aires, der auch italienische Freiwillige (garibaldinas) angehörten, die Truppen der argentinischen Konföderation in der Schlacht bei Pavón. Die "Infanterie der Zivilisation", so später die bonaerensische Zeitung "La Nación Argentina" am 24. Oktober 1863 als Referenz an die italienischen Freiwilligen, habe darin über die "wilde" Kavallerie der "Gauchomassen" triumphiert. In der nachfolgenden Wahlversammlung von 1862 wurde Mitre zum Präsidenten der Republik gewählt. Die Bundesregierung verlegte ihren Sitz von Paraná nach Buenos Aires, das bis 1880 provisorisch die Funktion der Hauptstadt ausüben sollte. Der Versuch Urquizas, das Kräftegewicht im La Plata-Raum zuungunsten von Buenos Aires zu verschieben, war damit gescheitert.

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5990-

Vgl. den Brief von Vicente Fidel López an Alvear, 5.10.1852 (Rodríguez 1922, III

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Im Gefolge der Schlacht von Caseros verstand es die politische Klasse in Buenos Aires, Rosas in der politischen Öffentlichkeit völlig zu stigmatisieren. Die Wunden, die die Bürgerkriege, die eigene Verfolgung und das Exil geschlagen hatten, taten sich nun in einer erbitterten, mitunter haßerfüllten Ablehnung der Regierung von Rosas und seiner Herrschaft (rosismo) kund. Rosas galt als Tyrann, seine Amtszeit als barbarisches Intermezzo zwischen der glorreichen Unabhängigkeitsbewegung von 1810/1816 und dem Prozeß der Nationalen Organisation nach 1852/54. Und ähnlich argumentierten auch die Führungsgruppen im litoral, die den Sturz von Rosas nachträglich zu legitimieren hatten. Im öffentlichen politischen Diskurs war damit ein Konsens vorformuliert, der den Rahmen dessen absteckte, was über die Geschichte der Region in den dreißiger und vierziger Jahren gedacht werden durfte. Die Geschichte der Regierung Rosas war darin nicht diskussionsfähig, wollte man die Geschehnisse der Jahre 1851/52 als den Beginn einer neuen Entwicklungsphase im Nationbildungsprozeß ausgeben. Sozial gefordert waren vielmehr in der Regel rituelle und liturgiehafte Verurteilungen und Verdammungen des "Tyrannen" bzw. (von der bonaerensischen Warte aus betrachtet) der "Caudillos" insgesamt. Ein gemeinsames, nationales Geschichtsbild der einzelnen Provinzeliten entwickelte sich daraus jedoch vorerst nicht. Denn erstens waren die Motive, die die Ablehnung des rosismo begründeten, in den Führungsgruppen der einzelnen Provinzen unterschiedlich gelagert. Und zweitens unterschieden sich die einzelnen Teile der Elite auch in der Art und Weise, in der sie mit der jüngsten Geschichte der Region allein umgehen zu können glaubten. In einer Analyse der zeitgenössischen autobiographischen Literatur kommt Adolfo Prieto (1982, 78) zu dem Schluß, daß die Regierungszeit von Rosas, auch aufgrund der Schärfe ihrer Repressionsmethoden, unter den politischen Führungsgruppen der Region eine tiefgehende "Traumatisierung" ihres Kollektivbewußtseins bewirkt habe. Betrachten wir den politischen Diskurs, so finden sich in der Tat Äußerungen, die diese Aussage zu bestätigen scheinen. Zu nennen sind dabei insbesondere die Verdrängungsprozesse gegenüber der jüngeren Geschichte der Region, die sich für den Zeitraum nach 1852 in den politischen Proklamationen und Meinungsbekundungen nachweisen lassen. Die persönlichen Verstrickungen in den Machtapparat des rosismo, den weite Teile der Eliten und insbesondere die großen Viehzüchter in Buenos Aires lange Zeit, mitunter bis 1852, als einen Ordnungsgaranten unterstützt hatten, sowie der nunmehr, also nach 1852, in der politischen Öffentlichkeit erzeugte Rechtfertigungsdruck für dieses Verwalten schufen das Bedürfnis, die jüngste Vergangenheit in der eigenen Vorstellungswelt zu neutralisieren und dadurch mögliche Konsequenzen daraus, nicht zuletzt auch solche persönlicher Art, zu verdrängen. Paradigmatisch umschrieb der aus Córdoba stammende Jurist und Verfassungsrechtler Dalmacio Vélez Sarsñeld, der unter Rosas in Buenos Aires gearbeitet hatte (vgl. Chaneton 1937, I 170f), diese Haltung 1852 am 1. Mai 1852 in der von ihm herausgegebenen Zeitung "El Nacional". Die jüngste Geschichte beinhalte nur "traurige" Geschehnisse und besitze aus diesem Grund

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kein Recht, der kommenden Epoche "Lehren" zu erteilen. Dies stellte nur eine verklausulierte Formulierung dafür dar, daß diese Geschichte keiner Thematisierung würdig und deshalb zu vergessen sei: "Para su [El Nacional] grande objeto nada le sirven [...] ejemplos tristes de una ¿poca que no tiene derecho a dar lecciones a la época venidera. " Dieses Bedürfnis, die jüngste Geschichte zu verdrängen, brachte sich vor allem unter der politischen Anhängerschaft Urquizas zur Geltung (zu der im übrigen auch Vêlez Sarsfield nach 1852 zählte4), was offenbar daher rührte, daß Urquiza, wie die anderen Provinzgouverneuere im Landesinnern, bis 1851 einen engen Verbündeten von Rosas dargestellt hatte. Für Urquiza wurde das "Vergessen" der Geschichte nach 1852 und die damit verbundene Zerstörung der Erinnerung zu einem Teil seiner politischen Programmatik, weil, wie er in einer Proklamation vom Februar 1852 (Silva 1937,1572) formulierte, die Geschichte der Region doch nur ein allzu "blutiges und barbarisches Schauspiel" darstellen würde. Urquiza proklamierte aus diesem Grund das "ley de olvido", das nicht allein im juristischen Sinn, d.h. als Amnestiegesetzgebung, inteipretiert wurde, sondern das darüber hinaus auf die gesamte Vergangenheitsbewältigung gemünzt war. Die Geschichtserinnerung, so die Argumentation Urquizas in seiner Regierungserklärung vom 22. Oktober 1854 (Mabragaña 1910, III 17) sei in der gegebenen politischen Konstellation nur vorstellbar als Ausdruck des "Hasses" bzw. einer "krankhaften" Neigung zur Schuldzuweisung an andere, weshalb die politische Aussöhnung in der Region das Vergessen der Vergangenheit einschließen müsse: La Constitución, confirmando el programa de Mayo, quiere y prescribe la concordia y el olvido de lo pasado. ¿Habrá alguno que no sienta como nosotros, que tiene necesidad de olvido y de concordia? [...] La fusión y el olvido es hoy la ley providencial que rige la conciencia de los argentinos, y si en algunas raras localidades se siente todavía la necesidad de aborrecer y de odiar, es aquella mórbida reminiscencia que acusa la presencia y aun los dolores de un miembro separado ya por la amputación. Diese Strategie, sich über historische Verdrängungsprozesse von der Hypothek einer belastenden Vergangenheit zu befreien, schwächte sich erst ab im Zuge der sich verschärfenden Konfrontation mit Buenos Aires und den damit wachsenden Zwängen für die Konföderationsregierung, die eigene Politik nunmehr auch in historischer Hinsicht zu legitimieren. Notwendig wurde damit auch eine Rückwende zur Geschichte, und diese Wende hin zur Geschichte vollzog sich konkret in den Jahren 1857/58. Mitunter griffen die Führungsgruppen in den Provinzen auf rituelle Handlungen zurück, um die Abkehr von der bis dahin

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"El Nacional" v. 16.4.1852: "El general Urquiza principia ya la grande obra de la Constitución de la República, y 'El Nacional' [...] va a acompañarle desde el primer dia".

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praktizierten Politik der Geschichtsverdrängung zu legitimieren und ihr einen symbolhaften Ausdruck zu geben. So dekretierte, um auf diese Weise die Aussöhnung mit der Geschichte zu demonstrieren, die Provinzregierung von La Rioja Anfang 1857 (Registro 1857/59, II 2f) für den 28. Februar des Jahres die nachträgliche Durchführung eines symbolischen Begräbnisses und einer Trauerfeier für alle Opfer der Bürgerkriege in der Provinz, gleich auf welcher Seite sie gekämpft hatten. Denn, so das Dekret, unabhängig davon, auf welcher Seite sie gestanden hätten, wären doch alle Soldaten oder Milizionäre in dem Glauben gestorben, nur für ihre patria einzutreten. Verfügt wurde, daß alle Bediensteten der Konföderation und der Provinzregierung sich zu der "Begräbnisfeier" in der Hauptkirche der Provinzhauptstadt einzufinden hatten. Die Politik der Geschichtsverdrängung wurde dadurch in einer religiös-rituellen, Versöhnung beanspruchenden Handlung aufgehoben. Ein ähnlicher Gesinnungswandel und ein neues Geschichtsinteresse dokumentierten sich auch in anderen Beispielen. So gebrauchte die in Córdoba erscheinende Zeitung "El Imparcial" in ihrer Ausgabe vom 9. Juli 1857 den Begriff des Vergessens ab 1857 nicht mehr in Bezug auf die jüngere Geschichte der Region insgesamt, sondern nurmehr im Hinlick auf die überkommenen, wechselseitigen Ressentiments der politischen Kontrahenten, die es in einem Akt der Aussöhnung zu überwinden gelte, wolle man die "ewige Einheit" der Nation herbeiführen. Und im Jahr 1858 ordnete Urquiza dann die Restaurierung des einzigen Personendenkmals an, das bis dahin im Landesinnern errichtet worden war, nämlich desjenigen für den Caudillo von Entre Ríos, Franciso Ramírez, das diesem 1827 in seiner Geburtsstadt Concepción del Uruguay erstellt worden war. Ramírez war 1819/20 maßgeblich an der Niederwerfung der Zentralregierung in Buenos Aires durch die Truppen aus dem litoral beteiligt gewesen und hatte 1820 die selbständige Republik Entre Ríos proklamiert. Das Denkmal von Ramirez wurde 1858 mit drei Aufschriften versehen. Die erste erinnerte an den dessen Kampf gegen die Royalisten und dann die Truppen des bonaerensischen Direktorats 1819, die zweite rief allgemein die Erinnerung an die patriotischen Heldengestalten an, und die dritte schließlich erinnerte an den Aufruf Urquizas vom Mai 1851, Rosas zu stürzen. Urquiza stellte sich bzw. die Politik der Konföderation in den fünfziger Jahren damit in die Traditionen des entre-rianischen Föderalismus, der sowohl gegen die äußere (Spanien) wie auch die innere Tyrannei in der Region (Buenos Aires) gerichtet sei. Ein Ausdruck der sich ändernden Einstellung zur Geschichte im Umfeld der Konföderationsregierung war schließlich auch die Gründung des "Instituto Histórico-Geográfíco de la Confederación Argentina" im Jahr 1860 in Paraná, dem Juan Pujol und Vicente G. Quesada vorstanden. Das Institut in Paraná versuchte, ein Gegenmodell zu der Geschichtsbetrachtung zu schaffen, die aus der Perspektive des bonaerensischen Liberalismus geschrieben wurde. Entsprechend formulierte am 31. Mai 1860 in der Zeitung "El Nacional Argentino" Juan Francisco Seguí, ein Mitglied des Instituts in Paraná, das dessen zentrale Aufgabe nicht allein im "Studium der nationalen Geschichte" bestünde, sondern

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auch in der Beschreibung der wertvollen Bodenreichtümer in den Provinzen, worin sich einer der Topoi des Denkens im Landesinnern ausdrückte, nämlich die Überzeugung, daß diese Provinzen in ihren wirtschaftlichen Entwicklungsmöglichkeiten durch die Hegemonie von Buenos Aires blockiert würden. Hervorzuheben ist, daß die "nationale" Geschichte nicht auf den Zeitraum nach 1810 reduziert, sondern bis auf die spanischen Eroberungen zurückgeführt wurde ("El pasado del Pueblo Argentino, como Nación independíente, no tiene sino medio siglo; pero su verdadera historia . ..remonta a la época del descubrimiento y conquista de América"), was auch als ein Hinweis darauf zu lesen ist, daß die Eliten im Landesinnern, im Unterschied zu den Liberalen in Buenos Aires, ein ungebrocheneres Verhältnis zu den spanischen Traditionen und Kultureinflüssen in der Region besaßen. In Zusammenhang mit der Gründung des Instituts stand auch die Herausgabe der "Revista del Paraná", die zwischen dem Februar und September 1861 unter der Leitung Vicente G. Quesadas erschien. Neben dem Ziel, wie es im "Prospecto" der Zeitschrift in ihrem ersten Heft (1861, 1) hieß, über eine Versachlichung der Geschichtsschreibung zum Prozeß der Nationbildung beizutragen, war vor allem beabsichtigt, die Geschichte der einzelnen Provinzen aufzuarbeiten und ihren Beitrag zum nationalen Entwicklungsprozeß zu würdigen. Sowohl das Institut wie die Zeitschrift waren von nur kurzer Dauer, was mit den politischen Entwicklungen und dem Triumph von Buenos Aires über die Konföderation in der Schlacht von Pavón zusammenhing. Dieses Bild von anfänglichen Geschichtsverdrängungen und einer erst vergleichsweise späten Zuwendung zur Geschichte stellt sich anders dar, wenn wir die Entwicklung in Buenos Aires betrachten. Zumindest die neue politische Klasse der Stadt, die sich in erster Linie aus den ehemals Emigrierten zusammensetzte, besaß ein ungebrocheneres Verhältnis zur jüngsten Geschichte der Region. Durch den rosismo in persönlicher Hinsicht nicht kompromittiert, war es für diese Gruppen möglich, Geschichte relativ unbefangen in politischlegitimatorischer Absicht abzurufen. Das Vergessen der Geschichte, das Urquiza propagierte, war für diese Teile der Elite weder ein in der eigenen Biographie begründetes Bedürfnis noch erschien es ihnen in politischer Hinsicht funktional. Er wolle, so z.B. Tomás Iriarte (18S8, 231f), nicht glauben, daß das Vergessen der Vergangenheit den einzigen Weg darstellen würde, um der Nation eine Zukunft zu verschaffen ("No queremos creyendo,... que aquellos males...no tienen otro correctivo para el porvenir, que el olvido absoluto del pasado"). Der Gedanke einer, wie Adolfo Prieto schreibt, Traumatisierung des Kollektivbewußtseins war deshalb auch diesen Gruppen nicht fremd. Nur handelte es sich dabei nicht um einen, wie der Begriff des Traumas voraussetzt, unbewußt verlaufenden Reaktionsbildungsprozeß, sondern vielmehr um ein Instrument in den politischen Auseinandersetzungen, das, sei es bewußt oder unterschwellig, in den Reihen der politischen Elite von Buenos Aires dazu benutzt werden konnte, um den politischen Widersacher oder Konkurrenten zu diskreditieren und auf diese Weise seinen Einfluß und sein gesellschaftliches Ansehen zu

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mindern. Traumatisierung, sofern es sie gab, wurde in diesem Sinn auch geschaffen. Einen Eindruck davon geben die massiven persönlichen Rechtfertigungszwänge und Schuldzuweisungen, die in den fünfziger Jahren erhoben wurden, und die das Klima der politischen Öffentlichkeit in Buenos Aires über lange Jahre beherrschten. Exemplarisch dafür stehen die Vorwürfe, die Carlos Tejedor, auch er der "Generation von 1837" zugehörig und später Gouverneur der Provinz, 1857 in der Provinzversammlung von Buenos Aires erhob. Im Zuge der Debatten, die in diesem Jahr von den Abgeordneten um die Eröffnung eines Gerichtsverfahrens gegen Rosas geführt wurden, erörterte Tejedor den Gedanken, ob man der Gesellschaft von Buenos Aires nicht insgesamt eine kriminelle Komplizenschaft mit Rosas vorhalten müsse ("...que todos los ciudadanos son sus cómplicesMÎ), wobei bei der Wortwahl vielleicht auch eine Rolle spielte, daß Tejedor zu diesem Zeitpunkt den Lehrstuhl für Strafrecht an der Universität Buenos Aires innehatte. Diese Schuldzuweisungen und Vorwürfe beschäftigten die politische Elite von Buenos Aires nachhaltig. Félix Frías z.B., der unter dem General Lavalle gegen Rosas gekämpft und dann zuerst nach Bolivien und später nach Chile emigriert war, fühlte sich ungeachtet dieser politisch makellosen Biographie genötigt, seine persönliche Integrität in der Provinzversammlung neuerlich zu legitimieren6, und José Manuel Estrada sah sich noch 1868 in seinen Vorlesungen zur argentinischen Geschichte (1896, II 455) veranlaßt, konkret auf die von Tejedor angesprochenen Vorwürfe einzugehen: "¿Rosas tuvo cómplices, ó sólo él es responsable de su despotismo?". Von kaum zu überschätzender Bedeutung war in diesem Zusammenhang das Gerichtsverfahren, das in den fünfziger Jahren gegen Rosas in Buenos Aires angestrengt wurde. Der Strafprozeß entzündete sich an der Frage, ob die Enteignung des Besitzes von Rosas, den die Provinzregierung vorgenommen hatte, rechtmäßig war. Die tatsächliche Bedeutung des Verfahrens ging jedoch weit über diese juristische Problematik hinaus. Der Prozeß mündete in eine generelle Kriminalisierung des rosismo ein, und die richterlichen Instanzen verfügten im Grunde historische Interpretationsmuster, die die Geschichtsschreibung über Rosas nachdrücklich prägten (vgl. Ravignani 1945, 16f). Hinzu kam, daß die politische Öffentlichkeit nachhaltig mit der Erinnerung an den rosismo konfrontiert wurde, zog sich doch das Verfahren, rechnen wir die Vorbereitungen hinzu, über nahezu acht Jahre hin. Interessanter als die tatsächlichen oder vorgeblichen Straftatbestände, die Rosas zur Last gelegt wurden, sind dabei für unsere Fragestellung die Geschichtsanschauungen, die in dem Verfahren zur

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Zitiert ist diese Formulierung in dem "Enjuiciamento de Rosas" (Mitre 1945, 33). "Cuando los verdugos derramaban la sangre argentina, yo me encontré con los que protestaban contra la tiranía en cinco campos de batalla, enfrente de aquellos verdugos. Ya que se me obliga a recordar esto, lo hago, porque es un antecedente que me honra." (Vgl. Mitre 1945, 30f). 6

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Sprache kamen und die darin gleichsam eine richterliche Weihe erhielten. Ausführlicher auf die Geschichte der Region ging der Ankläger Emilio Agrelo ein, wobei seine historischen Darstellungen grob drei Teile umfaßten. Zunächst wurde Rosas die alleinige Schuld an den Brüchen des politischen Entwicklungsprozesses in der Region wie an der "Tyrannei" insgesamt zugeschrieben. So habe Rosas "die Samen der Zwietracht" gesät und dadurch die "Argentinier" in einen ständigen Bruderkrieg verstrickt. Dieser ausschließlich individalisierenden Schuldzuweisung entsprach es, daß die (repressive) Herrschaftsstruktur des rosismo allein aus pathologischen Persönlichkeitsmerkmalen Rosas' hergeleitet wurde. Rosas erschien als eine "diabolische" Figur voller "sadistischer" Neigungen. Zweitens wurden die Bürger von Buenos Aires für unschuldig an der Tyrannei erklärt. Die Menschen seien durch die Grausamkeiten von Rosas "konsterniert" und vor "Angst" gelähmt gewesen, weshalb sie keinen Widerstand gegen die Tyrannei geleistet hätten. Drittens schließlich wurde, was die Konzeption des Geschichtsbewußtseins betraf, die Erinnerung an den rosismo zu einem "ewigen Mahnmal" erklärt: Sie müsse von Generation zu Generation übertragen und fixiert werden, um auf diese Weise den Völkern als abschreckende Lehre zu dienen7. Die politischen Diskussionen, die um die Eröffnung des Gerichtsverfahrens gegen Rosas geführt wurden, und der Strafprozeß selbst hatten einen maßgeblichen Anteil daran, daß in der politischen Öffentlichkeit von Buenos Aires ein geistiges Klima entstand, in dem wechselseitige Schuldvorwürfe und persönliche Rechtfertigungszwänge gedeihen konnten. Dies geschah in einem derart starken Maße, das das Geschichtsbewußtsein der Eliten nachhaltig von diesem Wechselspiel aus Schuldzuweisungen bzw. Rechtfertigungsbedürfnissen sowie persönlichen Integritätsbeteuerungen überformt wurde. Im politischen Diskurs lassen sich diese Mechanismen wenigstens bis in die siebziger Jahre des 19. Jahrhunderts hinein nachverfolgen. Die sozialpsychologische Konstellation, die daraus entstand, brachte für den historischen Diskurs zwei Konsequenzen mit sich. Die erste hatte unmittelbare Auswirkungen auf die Inhalte der Geschichtsbetrachtung. Der soziale Zwang, die Geschichte der Bürgerkriege, der Caudillos und der Regierungszeit von Rosas nach den politisch "richtigen" Vorgaben zu ordnen, führte dazu, daß insbesondere in der autobiographischen Literatur in massiver Form Legendenbildung betrieben wurde. Mitunter ist es heute nicht mehr möglich zu unterscheiden, ob z.B. die Geschichtsschreibung ihre Verdikte über Rosas aus den Aussagen der Zeitzeugen bezog, oder ob umgekehrt diese Zeitzeugen die Urteile der frühen Geschichtsschreibung ihren Erzählungen zugrunde legten, um diese dann episch auszuschmücken. Vermutlich griffen beide Prozesse ineinander. Die zweite Konsequenz betraf die Trägergruppen des historischen Diskurses. Die Folgewirkungen der Regierungszeit von Rosas

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Die Anklageschrift und die richterlichen Begründungen sowie die Prozeßgeschichte finden sich in Causa criminal 1975.

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durchdrangen die politische Kultur und nicht zuletzt auch die Geschichte der einzelnen Elitefamilien in einem derartigen Maße, daß die Geschichtsbetrachtung nicht allein als eine historische Traditionsbeschaffung für das soziale und politische System betrieben wurde, sondern daß sie darüber hinaus auch das gesellschaftliche Ansehen und die politischen Einflußpotentiale dieser Familien unmittelbar berührte. Im politischen Diskurs blieb der einzelne über seine Biographie oder Familiengeschichte angreifbar, oder aber er konnte sie umgekehrt zu legitimatorischen Zwecken im Sinn des eigenen Fortkommens nutzen. Die Geschichtsschreibung wurde dadurch zu einem Unterfangen, das über den engen Kreis der "Historiker" hinausging, d.h. zu einem Anliegen, an dem die Angehörigen der politischen Klasse insgesamt interessiert waren. Das Phänomen, daß Politiker Geschichte schrieben und als Historiker fungierten, erfuhr durch diese Konstellation in den fünfziger Jahren eine neue Dynamik8. 2. Das Geschichtsbild des bonaerensischen Liberalismus Der sozialpsychologische Komplex aus Verdrängungen, Schuldzuweisungen und Rechtfertigungszwängen war im politischen Diskurs nach 1852 zum Zweck der Austragung politischer Rivalitäten und persönlicher Antipathien wirkungsvoll zu handhaben. Sein Manko bestand jedoch darin, daß er wenig dazu beitrug, eine historische Traditionsbildung im positiven Sinn zu schaffen und die Integration der Gesellschaft zu fördern. Teile der politischen Elite erkannten dieses Problem frühzeitig. Insbesondere Mitre und der unter seiner Führung stehende Flügel des bonaerensischen Liberalismus waren im Grunde nicht daran interessiert, die Konflikte innerhalb der Gesellschaft von Buenos Aires bzw. die Fraktionierung unter den politischen Kräftegruppen zu verschärfen, war davon doch nur eine Schwächung der Provinz in der Auseinandersetzung mit der Konföderation zu erwarten. In der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre, als sich sowohl die Konfrontation mit der Regierung in Paraná wie auch die inneren Zwistigkeiten in Buenos Aires zwischen Nationalisten und Autonomisten verschärften, bemühte sich Mitre aus diesem Grund, innerhalb der bonaerensischen Gesellschaft einen Konsens über ihre eigene Geschichte zu stiften. Dieser Konsens mußte in Anbetracht der politischen Konstellation der fünfziger Jahre zwei Bedingungen

* Ein repräsentatives Beispiel hierfür war Bernardo de Irigoyen (1822-1906), der einer sozial angesehenen Familie von Buenos Aires entstammte. Sowohl unter Rosas als auch unter Urquiza war er im diplomatischen Dienst tätig gewesen, weshalb er später große Schwierigkeiten hatte, innerhalb der politischen Klasse von Buenos Aires wieder Anerkennung zu finden. Nach 1870 bzw. 1873 war Irigoyen Abgeordneter in der Provinzversammlung von Buenos Aires bzw. der nationalen Deputiertenkammer, ehe er von Roca zum Außenminister ernannt wurde. 1851 bereits verfaßte Irigoyen eine Studie über San Maitin, später folgten Arbeiten über den Unabhängigkeitshelden Monteagudo sowie eine biographische Studie über den 1889 verstorbenen Delfín Gallo. Irigoyen nutzte diese historische Arbeiten primär zum Zweck politischer Loyalitätsbekundungen. Vgl. allgemein Barroetaveña 1910.

IOS erfüllen. Erstens sollte er auch die Teile der Elite, die durch ihre Unterstützung von Rosas politisch kompromittiert waren, von ihrer belastenden Vergangenheit befreien, wovon Mitre sich nicht zuletzt auch eine breitere Unterstützung seiner Politik versprach. Zweitens war es sein Ziel, die autonomistisch gesonnenen Elitegruppen der Stadt für eine "nationale" Lösung des Konflikts mit der Konföderation zu gewinnen, wozu es notwendig war, den Bürgern von Buenos Aires ihr Selbstverständnis als politische Führungskraft der Nation zurückzugeben, das unter dem Stigma des rosismo litt. Aus dieser konkreten politischen Interessenlage heraus betrieb Mitre ein Programm der inneren Versöhnung der Provinz, in dem dem Entwurf einer konsensfahigen Geschichtsbetrachtung eine zentrale Bedeutung beikam. Erstmals entstand ein "nationales" Geschichtsbild, das angesichts der politischen Konstellation, aus der heraus es produziert wurde, zugleich ein getreues Abbild der politischen Interessenlage des bonaerensischen Liberalismus in diesem Zeitraum darstellte. Mitre benutzte zu diesem Zweck die Zeitung "Los Debates", die er 1852 in Buenos Aires begründet hatte. Es ist aufschlußreich, sich mit den wichtigsten Beiträgen, die Mitre darin über die Geschichte der Region schrieb, näher zu befassen, weil diese Artikel dem "Belgrano" und den späteren Bemühungen Mitres zur Verwissenschaftlichung der Geschichtsschreibung in zeitlicher Hinsicht vorangingen und weil sie die konkrete politische Interessenkonstellation wie auch die Motivationen verdeutlichen, denen das mitristische, "nationale" Geschichtsbild ursprünglich entsprang. Am 26./27. Mai 1857 erschien in "Los Debates" ein Beitrag über "La tradición de Mayo", in dem Mitre die Gründzüge dieses GeschichtsVerständnisses umriß. Mitre gab darin einen kurzen Abriß der Geschichte der Region zwischen 1810 und 1852, die er als eine Auseinandersetzung zwischen dem Freiheitsstreben einerseits und der Sklaverei und Barbarei andererseits interpretierte. Bemerkenswert waren, sehen wir von der gewalttätigen und klischeehaften Sprache ab, zwei Dinge. Erstens wies Mitre, was nicht überraschte, die Schuld an den Bürgerkriegen allein den "föderalistischen Horden", den "neuen Attilas", zu, als deren Archetypus ihm der Caudillo der Banda Oriental, Gervasio Artigas, galt. Zweitens suchte Mitre nach den Kontinuitäten der Mairevolution von 1810 und fand diese in der Politik des Staatspräsidenten Rivadavia in den zwanziger Jahren. Rivadavia sei der "Messias" gewesen, der den revolutionären Idealen treu geblieben wäre, so wie Buenos Aires angesichts der caudillistischen Erhebungen im Landesinnern zum Refugium der Maitraditionen geworden wäre. Bedenken wir, daß Mitre von dem intellektuellen Milieu des argentinischen Romantizismus geprägt war, so ist es bemerkenswert, daß er damit eine Umkehrung der Geschichtsbewertungen traf, die die "Generation von 1837" vorgenommen hatte. Denn die Romantiker hatten nicht allein versucht, den Gegensatz von Unitaristen und Föderalisten in einer Synthese aufzuheben; sie hatten darüber hinaus die unitaristische Politik und konkret auch die Rivadavias als gegenüber den Realitäten der Region fremd und unangemessen verurteilt.

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Mitre verstand es mit dieser Argumentation nicht allein, eine Traditionslinie des Freiheitskampfes in der Region zu entwerfen, die von der Mairevolution über die unitaristische Politik bis in die Gegenwart der fünfziger Jahre reichte, und die sich, später bis zu der Schlacht von Pavón hin verlängert, zu einem Topos des mitristischen Geschichtsbilds verfestigte9, sondern er vermochte es zugleich, über ein dichotomes Geschichtsbild die Konföderation in die Nachfolge der caudillistischen Gewaltpraxis und Anarchisierungsbestrebungen zu rücken. Das Verhältnis von Unitaristen und Föderalisten war damit, was das Geschichtsverständnis betraf, umgekehrt: Die 1837 von den Romantikern totgesagte, unitaristische Politik war rehabilitiert, und der Sieg, den die verbündeten Truppen unter Urquiza 18S2 über Rosas errungen hatten, erschien nur als eine neuerliche, modifizierte Bedrohung der bonaerensischen Gesellschaft durch die föderalistischen, "barbarischen" Kräfte des Landesinnern. Die Ablehnung des Abkommens von San Nicolás, der Widerstand gegen Urquiza und letztlich auch der Hegemonialanspruch von Buenos Aires gegenüber der Konföderation waren insoweit legitimiert. Nicht geleistet war in dieser Argumentation bis dahin jedoch eine andere, im politischen Kontext der fünfziger Jahre nicht minder wichtige Aufgabe, nämlich die, die Provinz und deren politische Elite von dem Makel zu befreien, daß Buenos Aires der Hort des rosismo gewesen war. Diesem Problem nahm sich Mitre in einem Artikel an, der drei Wochen später am 18. Juli 1857 unter der Überschrift "Una época. La tiranía y la resistencia" in "Los Debates" erschien. Es fügt sich in das Bild, daß Mitre dazu die Debatten in der Provinzialversammlung von Buenos Aires und konkret die von Carlos Tejedor erörterten Schuldvorwürfe gegen die bonaerensische Gesellschaft zum Anlaß nahm, verhielten sich diese doch entgegengesetzt zu der Ansicht Mitres und seiner Partei, daß Buenos Aires die Schule der argentinischen Nation sei. Tejedor, so der Ausgangspunkt der Argumentation Mitres, habe eine kriminelle "Gemeinschaft zwischen der Tyrannei und dem Volk" unterstellt. Dieser Vorwurf sei eine "schwere Ungerechtigkeit" und würde die historischen Zusammenhänge nur aus einem sehr engen Blickwinkel erfassen. Die zentrale Frage wäre, worin die bonaerensische Geschichte des letzten Vierteljahrhunderts bestanden, d.h. was sie zu einer "Epoche" gemacht habe: Die Tyrannei Rosas oder aber der Widerstand gegen diese Tyrannei? Zur Beantwortung dieser Frage entwarf Mitre eine lange Auflistung des Widerstands gegen Rosas, die letztlich alle Bürger der Stadt bzw. Provinz umfaßte. Aus dieser Auflistung entstand der Mythos einer Provinz bzw. einer Stadt, deren Menschen sich in ihrer Gesamtheit in mehr oder minder offener Form im Widerstand gegen Rosas befunden hätten. Nicht der Widerstand, so das Fazit Mitres, sei ein vereinzeltes historisches Geschehen,

9

In dem Artikel "Primero de Enero" zog "La Nación" v. 1.1.1863 eine Traditionslinie, die über die Mairevolution, die "unitarios" von 1826 und die "revolucionarios" vom September 1852 zu den "campeones" von 1861 führte.

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sondern die Tyrannei von Rosas; nicht Rosas sei die Epoche, sondern der Widerstand, und diese Epoche setze sich nun, nach 1852, fort. Mitres Geschichtsbild übte damit nicht allein eine politische Integrations-, sondern zugleich auch eine psychologische Entlastungsfunktion aus. Und in den beschwörenden Worten, die den Artikel abschlössen, bekannte Mitre zugleich in frappierender Offenheit den politischen Glaubenscharakter seines Geschichtsbilds: "Si asf no fuese, debiéramos renegar del porvenir de la patria". Das nationale Geschichtsbild, d.h. die versuchte Versöhnung der Nation mit dem bonaerensischen Hegemonialanspruch, wie es hier erstmals ausformuliert wurde, war zweifelsohne grob und rudimentär. Viele Fragen blieben offen, und entsprechend unsicher war die historische Argumentation in der Folgezeit häufig auch da, wo sie sich innerhalb der von Mitre gesteckten Pflöcke bewegte. So ging z.B. der Leitartikel der Zeitung "La Nación Argentina", in der am 9. Juli 1863 an die Unabhängigkeitserklärung erinnert wurde, vergleichsweise ausführlich auf die Diskussion des Monarchiegedankens in Tucumán 1816 ein und ließ in seinen Formulierungen die Verunsicherungen erkennen, denen die precursores in dieser Frage unterlegen waren10. Solche Bemerkungen oder Wertungen, die geeignet waren, das Ansehen der precursores zu schmälern, sollten später, als die Geschichtserinnerung konsolidierter und die Geschichte entsprechend geglätteter war, in den offiziösen Verlautbarungen und den ihnen nahestehenden Presseberichten fehlen. Festzuhalten bleibt jedoch, daß Mitre einen Interpretationsrahmen der Geschichte absteckte, der in der Folgezeit von anderen aufgegriffen, verstärkt und ausgeschmückt wurde. Wir begegnen diesem Geschichtsbild in der Historiographie, aber auch in den autobiographischen Erinnerungen und Memoiren, die ihm über ihre literarischen Mittel eine zusätzliche, suggestive Kraft verliehen. Ein Beispiel dafür bilden die Memoiren Ernesto Quesadas (Pseudonym: Victor Gálvez), die 1883 (657ff) in der "Nueva Revista de Buenos Aires" abgedruckt wurden. Ihr erster Teil erschien unter dem Titel "La mashorca en Buenos Aires. Una tarde en 1840", in dem das "Trauma Rosas" in der Gestalt lyrisierender Töne und trivial-poetischer Stimmungsbilder ausgemalt wurde und die Stadt zur Zeit der Regierung von Rosas wie von einem äußeren Feind besetzt erschien: "La ciudad de Buenos Aires estaba silenciosa, las calles sin gente, y los pocos, muy pocos que por necesidad ó por miedo salian, iban á los sitios solitarios [...] La ciudad estaba silenciosa, parecia una población que duerme, ó un pueblo que medita amedrentado, recogido dentro de cada lugar en las horas solemnes que preceden á las grandes catástrofes [...] La Mashorca, dominaba la ciudad."

10 "[...] la idea de levantar un solio á los destronados Incas de la América. Se creía que era una guerra de razas la gran lucha de los principios, y el ídolo deforme del indigena intentaba suplantar el simbolo regenerador de la libertad. El testamento de Mayo prevaleció sin embargo [...]"

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Vergegenwärtigen wir uns, wann dieses Geschichtsbild entworfen wurde, warum dies geschah und welchen Zwecken es diente, so mag es überraschen, daß es in der Folgezeit und bis weit in das 20. Jahrhundert hinein einen so starken Widerhall in der offiziellen Geschichtsbetrachtung fand und langfristig betrachtet im Grunde die Umrisse dessen, was als "das" nationale Geschichtsbild betrachtet wurde, abzustecken vermochte. Betrachten wir den Entwicklungskontext der Geschichtsschreibung in den fünfziger Jahren jedoch näher, so findet sich neben den psychologischen Entlastungs- und auch Verdrängungsleistungen des mitristischen Geschichtsbilds eine Reihe weiterer Gründe, die zur Erklärung dieses Phänomens beitragen können. Von herausragender Bedeutung war es zweifelsohne, daß es Mitre gelungen war, die liberale Politik der fünfziger Jahre als Fortsetzung der Mairevolution von 1810 darzustellen, was auch in der Organisation der historischen Symbolik sichtbar wurde. Während Urquiza 1858 die Restaurierung des Denkmals für Ramírez anordnete, d.h. eine historische Figur als Legitimationsinstanz anrief, deren politisches Wirken primär mit der Provinz Entre Ríos verbunden war und die offenkundig ein lokalpatriotisches Gepräge aufwies, projektierte die Munizipalität von Buenos Aires 1860 die Errichtung zweier Denkmäler für Belgrano und San Martin", deren Handeln, zumindest das San Martins, in der politischen Öffentlichkeit in weitaus stärkerem Maße mit der politischen Emanzipation der Region insgesamt oder gar Amerikas verbunden war. Der Anspruch der bonaerensischen Elite, die "Nation" bzw. deren Geschichte zu repräsentieren, war dadurch zwar nicht glaubwürdiger, aber zumindest sinnfälliger, und der militärische Sieg in Pavón verlieh diesem Geschichtsbild schließlich die sozial nötige Autorität und Geltungskraft. Angesichts der Unterschiede im Umgang mit der Geschichte, die zwischen der politischen Öffentlichkeit in Paraná und der in Buenos Aires bestanden, verwundert es ferner nicht, daß die nachdrücklichsten Impulse zu einer Förderung der historischen Forschung von Buenos Aires ausgingen. Die politische Klasse der Stadt besaß ein besonderes Interesse daran, den Prozeß der hegemonialen Nationbildung von einer inneren Metropole aus historisch zu legitimieren, um ihm dadurch in der Retrospektive seinen gewaltsamen und insofern auch kontingenten Charakter zu nehmen. An der Gründung des HistorischGeographischen Instituts 1854 wirkten eine Reihe der wichtigsten Vertreter der politischen Elite der Stadt mit. Dazu zählten neben Mitre u.a. auch Valentin Aisina, Dalmacio Vélez Sarsfield, Carlos Tejedor, Tomas Iriarte, Nicolás Calvo, Miguel Esteves Saguf und Thomas S. Anchorena. Auch die unterschiedlichen, historischen und kulturellen Themen gewidmeten Fachzeitschriften, die nach 1863 erschienen, wurden in Buenos Aires publiziert. Diese Konzentration der historischen Forschung auf Buenos Aires wurde schließlich dadurch begünstigt, daß sich die Stadt seit den frühen sechziger Jahren als das geistig-

" Vgl. dazu den Beitrag in der Zeitung "La Tribuna" v. 23.3.1860

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intellektuelle Anziehungszentrum der Region erwies. Seit der Herauslösung des Vizekönigreichs am Rio de la Plata aus der Hegemonie Limas stellte Buenos Aires den maßgeblichen Kontaktpunkt zwischen der Region einerseits und Europa andererseits dar. Im Verlauf des 19. Jahrhunderts wurde diese Mittlerfunktion von Buenos Aires in dem Maße gestärkt, wie die Stadt im Zuge der ökonomischen Entwicklungsprozesse ihre hegemoniale Rolle gegenüber dem Landesinnera auszubauen vermochte. Die Kommunikation mit den europäischen Hauptstädten funktionierte vielfach besser als mit Teilen des eigenen Hinterlands bzw. den Regionen im Landesinnern, und diese Entwicklungen bewirkten, daß Buenos Aires die "intellektuellen Talente" (Scobie 1971,109) des Landes anzog. Den Zeitgenossen galt Buenos Aires als Modell einer "kosmopolitischen" Gesellschaft12, d.h. als kultureller Raum, der weltoffen war und in wissenschaftlicher oder kultureller Hinsicht an den neuesten Entwicklungen in Europa partizipierte. Nicht wenige der historischen Bücher, die von kreolischen Intellektuellen im La Plata-Raum geschrieben wurden, hatten ihre erste Auflage in einem Pariser Verlag. Dies führte, was vor dem Hintergrund des Konflikts zwischen Buenos Aires und den anderen Provinzen auch von politischer Bedeutung war, dazu, daß die Geschichte der Region in erster Linie von Historikern geschrieben wurde, die in Buenos Aires lebten. Sofern diese Geschichtsschreiber nicht ohnehin die politischen Anschauungen des bonaerensischen Liberalismus teilten, war ihnen das Landesinnere zumindest aufgrund ihrer kulturellen Wertvorstellungen und der Kommunikationsstrukturen, in denen sie sich bewegten, weitgehend fremd. Die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auf dem Gebiet der Geschichtsschreibung tonangebenden Historiker stammten überwiegend aus Buenos Aires oder, wie demente L. Fregeiro (1853-1923) und Andrés Lamas (1817-1891), aus einem anderen städtischen Zentrum, nämlich Montevideo. Und es entbehrt vor diesem Hintergrund nicht der Logik, daß die erste seriöse Regionalgeschichte für das Landesinnere, die aus der Kenntnis lokaler Archive heraus geschrieben wurde (Groussac 1981), von einem Einwanderer verfaßt war, nämlich dem in Toulouse geborenen und 1866 nach Argentinien zugewanderten Paul Groussac (1848-1929). Dies trug im übrigen dazu bei, daß Groussac in einer späteren gesellschaftlichen Entwicklungsphase, in der die kulturpolitische Diskussion in Argentinien in stärkerem Maße auf das Landesinnere und dessen kulturelle Werte hin gerichtet war, seinen Zeitgenossen als "más nacional [...] que muchos de nuestros literatos nativos" erscheinen sollte13.

12 Vgl. N. Avellaneda, "Discurso pronunciado en el banquete del Teatro Variedades", 14.8.1874(1945, 73). 13 Lucio Vicente López, der Sohn von Vicente Fidel López, in "La Prensa" v. 10.10.1884. In ähnlich lobendem Sinn auch Miguel Cañé in einem Brief an Manuel Lafpez (April 1884), in: AGN, Archivo Paul Groussac, Correspondencia 1881-1829, Sala VII Leg 1 - 3015, No. 37, Bl. 4, sowie Roque Sáenz Peña an Paul Groussac (15.5.1910), ebd., Bl.

2.

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3. Verschiebungen der inter-provinzialen Machtbalance nach 1862 In Buenos Aires sahen sich Mitre und seine Liberale Partei bereits zu Beginn der sechziger Jahre mit einer zunehmenden Erosion ihrer politischen Macht konfrontiert. 1862 zerfiel der bonaerensische Liberalismus in die Nationalisten einerseits, denen Mitre vorstand, und die Autonomisten unter Adolfo Aisina (1829-1877) andererseits. Während der mitristische Flügel der Liberalen vor allem die Importhändler- und Vermarktungsgruppen der Stadt repräsentierte, die ihre Interessen in Mitres Programm (Öffnung der Region gegenüber dem Weltmarkt, Freihandelspolitik, hegemoniale Nationbildung von Buenos Aires aus, Schaffung eines nationalen Binnenmarkts) vertreten sahen, sammelten sich in der Partei Aisinas recht heterogene Gruppen, wie eher protektionistisch orientierte Teile des Handwerks, des Manufakturwesens und auch der Agrarwirtschaft, ferner Gruppen der studierenden Jugend, die sich an dem konservativ-aristokratischen Gepräge des Mitrismus stießen, und schließlich auch ehemalige Anhänger von Rosas, die sich durch die Partei Mitres politisch benachteiligt fühlten (vgl. Ferrari/ Gallo 1980, 91f). Verantwortlich für diese Polarisierung des Liberalismus, in deren Folge die politische Bedeutung der Partei Mitres mehr und mehr schwand, waren verschiedene Gründe. Eine Rolle spielte sicherlich die Instabilität des politischen Parteienwesens, das sich in den fünfziger Jahren auszubilden begann. Die Parteien verfügten über keinerlei feste Organisation; sie gruppierten sich in der Form sogenannter Clubs, d.h. als lose Gefolgschaften politischer Führergestalten, die den Zusammenhalt ihrer Anhängerschaft über personale Loyalitäten und das Klientel- und Patronagewesen zu betreiben suchten. Dabei standen die politischen Führungsgruppen nach 1862 primär vor der Aufgabe, die überkommenen lokalen Kräftezentren unter ihre Kontrolle zu bringen und in die sich allmählich konsolidierende, nationalstaatliche Ordnung einzufügen. Aus dieser politischen Konstellation heraus entstand das System des caciquismo, in dem die lokalen Machthaber nicht länger die höchsten Autoritäten innerhalb der einzelnen Regionen darstellten, sondern in dem sie vielmehr als Mittlergruppen innerhalb der staatlichen Ordnung fungierten, d.h. die Kontrolle einzelner Regionen mit der übergeordneten Herrschaftsgewalt der Zentralregierung zum wechselseitigen Nutzen und zur reziproken Vorteilsbeschaffung zu verbinden suchten14. Der nationalstaatliche Integrationsprozeß beruhte noch weitgehend auf dem Zusammenschluß lokaler Mächtegruppen, und er funktionierte nur in dem Maße, wie es gelang, diese hierarchisch anzuordnen, um ihre zentrifugalen Wirkungskräfte zu bannen. Daraus entstand eine pyramidenhafte, vertikale Herrschaftsstruktur, in der politische Loyalitäten über familiäre und clanhafte Beziehungen (vgl. Rivero Astengo 1944), Absprachen zwischen den einzelnen Elitengruppen und unterschiedliche Formen der Patronage, der Begünstigungen

14

157.

Vgl. Kem 1973; Strickon/Greenfield 1972. Für den La Plata-Raum Botana 1977, 74,

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bei der Ämtervergabe oder der Zuweisung staatlicher Gelder hergestellt wurden, während die Kaziken vor Ort umgekehrt für die Sicherung der politischen Unterstützung und insbesondere die Mobilisierung der Wählerstimmen zuständig waren. Verbreitet war vor diesem Hintergrund die Praxis des Wahlbetrugs. Erste Irritationen hatte in der Elite von Buenos Aires ausgelöst, daß Mitre nach der Schlacht bei Pavón nicht die militärische Gunst der Stunde zur endgültigen Verankerung der Vormachtstellung von Buenos Aires in der Region genutzt hatte. Mitre begründete diese Politik durch eine enge Auslegung der Verfassung von 1853, der der Bundesregierung nur unter bestimmten Bedingungen (Gefährdung der inneren Ordnung der Provinz; äußere Bedrohung, insbesondere Kriegszustand) das Recht zusprach, in den Provinzen zu intervenieren. Unmittelbar im Anschluß an die Schlacht bei Pavón wandte sich Mitre dagegen, dieses Interventionsrecht zu mißbrauchen (vgl. Sommariva 1929, I 132f). Mitre signalisierte dadurch den Eliten im Landesinnern, daß er an der konstitutionellen Organisation der Nation festhalten wollte, worin er die Grundlage einer Politik der nationalen Versöhnung sah. Den ernsthaften und tiefgehenden Bruch innerhalb des bonaerensischen Liberalismus bewirkte jedoch erst die Hauptstadtfrage. Mitre war Anfang der sechziger Jahre zum Zweck der nationalstaatlichen Konsolidierung bereit, die Autonomie von Buenos Aires aufzugeben und die Provinz unter die direkte Regierungsgewalt der Bundesregierung zu stellen. Diese Überlegung löste den heftigen Widerstand der Autonomisten in Buenos Aires aus, die um die traditionellen Privilegien der Provinz bangten und in der Politik Mitres einen Verrat an seinen eigenen Prinzipien sahen. Die Provinzversammlung weigerte sich, dieser Maßnahme zuzustimmen, und Mitre beugte sich schließlich dem Votum der Delegierten. Die Bundesregierung, die ihren Sitz von Paraná nach Buenos Aires verlegte, arbeitete fortan unter provisorischen Bedingungen. Ungeachtet des Nachgebens von Mitre hatte sich jedoch über diese Kontroverse ein tiefer Riß durch die liberale Partei gezogen. Zu einem zunehmend wichtigen Machtfaktor avancierte in den sechziger Jahren die Armee. Nach 1865 hatte die Armee im Krieg der Triple Alianza gegen Paraguay den ersten modernen Krieg in der Geschichte des Landes zu führen, und im Zuge dieses Konflikts steigerte die Armee ihr politisches Gewicht weiter. Hinzu kam, daß die Armee gleichzeitig im Landesinnern, sei es gegen die Erhebungen der montonerosIS, sei es gegen die Kriegszüge indianischer Völker, als Ordnungsgarant fungierte. Von erheblicher Wirkung war darüber hinaus die sozialpsychologische Konstellation, die sich im ParaguayKrieg ausbildete. Der Krieg war unpopulär, langfristig und auch für die argentinische Seite verlustträchtig. Insbesondere das junge Offizierskorps wurde von einer tiefgehenden Unzufriedenheit erfaßt, die sich einerseits gegen das alte, mitristische Offizierskorps richtete, das bereits in Pavón gekämpft hatte,

1S

Vgl. dazu das Kapitel 4.4 dieser Albeit.

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andererseits jedoch auch gegen die traditionellen, föderalistischen Kräfte gewendet war, die der Sympathie mit den Erhebungen der montoneros im Landesinnern verdächtig waren, zu deren Bekämpfung immer wieder Truppen von der paraguayischen Front abgezogen werden mußten. Daraus erwuchs innerhalb des Offizierskorps eine politisch oppositionelle Strömung, die nach einem dritten Weg zwischen dem mitristischen Nationalismus und dem traditionellen, provinzialen Föderalismus suchte16. In der Konsolidierung der nationalstaatlichen Ordnung Gbte die Armee eine Schlüsselfunktion aus. Bereits 1868 setzte die Armee auf Betreiben des Obersten Lucio Mansilla, eines Neffen von Juan Manuel de Rosas, die Wahl Sarmientos, der aus San Juan stammte, zum Präsidenten der Republik durch. 1874 vereitelte die Armee den Versuch Mitres, durch einen bewaffneten Aufstand die Präsidentschaftskandidatur des aus Tucumán stammenden Nicolás Avellaneda zu vereiteln. Zu einer zunehmend wichtigen Figur avancierte dabei der General Julio A. Roca, der 1843 in Tucumán geboren war. Roca repräsentierte die neue, jüngere Generation des Offizierskorps, die um 1840 geboren war und die sich über ihre gemeinsamen Erlebnisse im Paraguay-Krieg sowie die Feldzüge gegen die montoneros und die indianischen Völker eng verbunden fühlte. Bei diesen Offizieren handelte es sich zumeist um die Söhne einflußreicher Provinzfamilien, die nach ihrer militärischen Karriere vielfach hohe politische Ämter bekleideten. Die Struktur, die diese Gruppe von Offizieren verband, rührte vor allem aus der Hierarchie der militärischen Kommandostellen an der indianischen Grenze her, der Roca nach dem Paraguay-Krieg als Befehlshaber vorstand. Zu dieser Gruppe zählten etwa Eduardo Racedo, 1843 in Paraná geboren, unter Roca Befehlshaber der comandancia de la frontera für den Abschnitt San Luis/Córdoba und nach 1883 Gouverneur der Provinz Entre Ríos, oder Napoleón Uriburu, der einer einflußreichen Familie in Salta entstammte, vorübergehend die Nordgrenze kommandierte und später Gouverneur in Formosa wurde17. Diese Offiziersgruppe sicherte Roca seinen Einfluß in der Armee und verschaffte ihm gleichzeitig über ihre familiären Beziehungen zu den Provinzeliten einen gewichtigen politischen Rückhalt bei seinen politischen Ambitionen. 1877 wurde Roca zum Kriegsminister im Kabinett Avellanedas ernannt, 1879/80 brachte er die letzten großen Feldzüge gegen die indianischen Völker erfolgreich zum Abschluß. 1880 schlugen Truppen unter dem Befehl Rocas den Aufstand der Nationalgarde von Buenos Aires nieder, die sich unter

16

Vgl. Terzaga 1976,1 197ff; Rouquii 1981,1 78. Vgl. Terzaga 1976, II 124ff. Eine wichtige Figur war in diesem Zusammenhang auch Alvaro Barros, der in den sechziger Jahren die Südgrenze der Provinz Buenos Aires kommandierte und 1874 zum Provinzgouverneur aufstieg. Barros unterstützte das konstitutionalistische Projekt der Nationbildung und hielt 1874 Avellanedo als rechtmäßig gewähltem Präsidenten die Treue gegen Mitre. Zu den Vorbehalten von Barros gegen Mitre vgl. Barros 1975, 51ff. 17

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dem Kommando des Provinzgouverneus Carlos Tejedor gegen die Föderalisierung der Stadt empörte, worin sich letztmals das provinziale Eigeninteresse von Buenos Aires in kriegerischer Form entlud. Im gleichen Jahr trat Roca das Amt des Staatspräsidenten an. Der Nationalstaat im Sinn der Konstitution von 1853 wurde damit endgültig konsolidiert, und der nach 18S2 bzw. 1862 eingeleitete Prozeß der Nationalen Organisation in politisch-institutioneller Hinsicht wurde zum Abschluß gebracht (vgl. Galindez 1945). Der politische Erosionsprozeß des Mitrismus, die Ausbildung des caciquismo und der Machtgewinn der Armee stellten die wichtigsten Gründe dafür dar, daß sich das Kräfteverhältnis zwischen den Provinzen in den siebziger Jahren neuerlich zugunsten des Landesinnern verschob. Dieser Prozeß vollzog sich eher schleichend und wenig spektakulär. Er stellte eine modifizierte Variante der nationalstaatlichen Entwicklung dar, die auf einer Unterordnung der provinzialen Eigeninteressen unter die der Zentralregierung beruhte, die jedoch zugleich prononciert konstitutionalistisch war. Der Grundgedanke dieser Variante der politischen Nationbildung bestand darin, im Interesse der nationalstaatlichen Konsolidierung das Prinzip der Unterordnung der Provinzen gegenüber der Nation nun nicht länger allein gegen die montoneros oder randständige Zonen, sondern nunmehr auch gegenüber der Provinz Buenos Aires durchzusetzen. In dieser Zentralisierungspolitik verbarg sich jedoch zugleich die Absicht, die politischen Einflußmöglichkeiten und staatlichen Ressourcen wie das Patronagewesen und die sozialen Karrierechancen neu zu verteilen. Die Provinzeliten und vor allem die Führungsgruppen im litoral änderten insofern seit den späten sechziger Jahren ihre politische Strategie, d.h. sie versuchten nicht länger, Buenos Aires über die offene Konfrontation zu schwächen, sondern es über die Einbindung der Provinz in die verfassungsmäßige Ordnung zu kontrollieren. In der Armee besaß dieses Konzept einen wichtigen Rückhalt, und in politischer Hinsicht fand es seinen organisierten Ausdruck in der von Córdoba ausgehenden Bildung der "Liga de Gobernadores", in der sich eine Reihe der sozial mächtigsten und einflußreichsten Familien aus den Provinzen des litoral zusammenschlössen. Unter der Führung von Juárez Celman, der Gouverneur von Córdoba und ein Schwagers Rocas war, schickte sich die Liga in den siebziger Jahren an, die politischen Entscheidungszentren der Nation vermittels des Systems des caciquismo und mit Hilfe der militärischen Rückendeckung durch die Militärkommandanturen an der Grenze unter ihre Kontrolle zu bringen (vgl. Díaz de Molina 1972, I 22ff).. Die Liga setzte sowohl die Wahl Avellanedas im Jahr 1874 wie auch die Rocas im Jahr 1880 zum Staatspräsidenten durch. In der Liga fanden sich zunächst die traditionellen Eliten im litoral repräsentiert, wie etwa die Viehzüchter und Händler der Provinz Entre Ríos, die 1861 die militärisch sanktionierte Hegemonie von Buenos Aires hatten anerkennen müssen. Die wirtschaftliche Entwicklung Argentiniens und insbesondere der Boom der Agrarexportwirtschaft führten jedoch dazu, daß verspätete Provinzeliten, wie in Córdoba oder Santa Fe, aufgrund der Prosperität ihrer Provinzen nach 1862 wieder neu an Gewicht gewannen und damit auch einen

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zunehmenden Einfluß auf die politischen Entscheidungswege und die staatlichen Formen des Klientel- und Patronagewesens auszuüben suchten. Die siebziger Jahre des 19. Jahrhunderts sahen insofern den Machtzuwachs von Elitegruppen, die aus prosperierenden Zonen der Schwellenregionen stammten. In politischer Hinsicht näherten sich diese Gruppen im Grunde den Entwicklungsvorstellungen des bonaerensischen Liberalismus weitgehend an. Zwar hatten die Führungsgruppen in den Provinzen im Landesinnern lange Zeit wirtschaftsprotektionistische Maßnahmen und Mittel der Staatsintervention in das Wirtschaftsleben erwogen, und solche Vorstellungen fanden in der politischen Öffentlichkeit in wirtschaftlichen Krisenzeiten, wie es um 1866 oder 1873 der Fall war, immer wieder Gehör. Generell setzte sich jedoch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein Trend dahingehend durch, daß die modernisierungsorientierten Elitegruppen in den Schwellenregionen sich weitgehend die Entwicklungsvorstellungen des bonaerensischen Liberalismus zu eigen machten. Die Freihandelspolitik, die enge Verbindung zu den europäischen Märkten sowie die Anziehung ausländischen, vor allem englischen Kapitals, das in die Infrastruktur, das Kreditwesen und die Vermarktungsunternehmen floß, lag weitgehend auch im Interesse der expansionsorientierten Viehzüchter und Agrarproduzenten in Entre Ríos, Santa Fe oder Córdoba, und es fand auch Unterstützung bei den mit dem Zuckeranbau befaßten Agrarindustriellen in Tucumán, die sich über den englischen Kapitalimport eine infrastrukturelle Anbindung ihrer Region an den Weltmarkt sowie verbesserte Einfuhrmöglichkeiten für benötigte Manufakturprodukte versprachen. Aus diesen wirtschaftlichen Interessenkonstellationen, die die Importhändler, Vermarktungsgruppen und Finanziers in Buenos Aires, die exportorientierten Agrarproduzenten im litoral und die Agrarindustriellen in Tucumán verbanden, erwuchs zunächst das gemeinsame Interesse an der Schaffung eines Binnenmarkts im nationalen Rahmen und, darüber vermittelt, auch das an einer Konsolidierung der nationalstaatlichen Ordnung. Der inter-provinziale Vertragscharakter des Nationbildungsprozesses, der auf die Paktsysteme in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zurückging, wurde deshalb nicht grundsätzlich modifiziert. Aber er erfuhr einen gewichtigen Auftrieb, weil zunächst die Weltmarktlage dem nationalstaatlichen Konsolidierungsprozeß in Argentinien günstig war und weil es ferner nunmehr möglich wurde, daß einzelne regionale Eliten in den Schwellenregionen, wie die in Córdoba oder in Tucumán, gerade aufgrund ihrer provinzialen Eigeninteressen als politische Mittlergruppen bzw. als eine Art Transmissionsriemen im Nationbildungsprozeß fungieren konnten. Daß sie im Zuge dieser Entwicklungen einen stärkeren Einfluß auf Staat und Regierung auszuüben suchten, war nur folgerichtig, fungierte der Staat doch spätestens seit den frühen sechziger Jahren als Entwicklungs- und Modernisierungsträger in der Region. Der Staat erlangte damit eine Bedeutung als Verteilerstelle von Ressourcen und Entwicklungsoptionen, die seine Kontrolle für die expansionsorientierten Eliten wichtig machte. Politisch strittig war deshalb weniger das "liberale" Entwicklungsmodell an sich als vielmehr die politische und soziale Distribution der Einkünfte, Privilegien und Entwicklungs-

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möglichkeiten, die damit verbunden war, und die den überkommenen Konflikten zwischen den Provinzen ihre fortdauernde Vitalität verlieh. 4. Die Geschichtsbilder der "montoneros" Indem der Staat als Träger der Entwicklung fungierte und die nationalstaatliche Konsolidierung mit einer Modernisierung "von oben" einherging, traf seine Politik nach 1860 in den randständigen Zonen der Region auf den schärfsten Widerstand. Die schroffste politische Gegenkraft zum bonaerensischen Liberalismus bildeten in den sechziger und siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts die montoneros, und analog dazu fand der Versuch, das Geschichtsbild der Nation von der Perspektive des Landesinnern her zu strukturieren, in diesen Bewegungen ihre wichtigste politisch-soziale Trägergruppe. Die Rebellionen der montoneros, deren bekannteste die von Angel Vicente Peñaloza in La Rioja (1863), Felipe Varela in Cuyo (1866/67) und López Jordán in Entre Ríos (1870) waren, knüpften an das klassische Muster der caudillistischen Erhebungen und der Rivalitäten zwischen dem Landesinnern und der Provinz Buenos Aires an. Vor allem die Bewegung Peñalozas stand noch gänzlich unter den Nachwirkungen der Konfrontation zwischen Buenos Aires und der Konföderation in den fünfziger Jahren und dem Eindruck der Schlacht bei Pavón (vgl. Bollo Cabrios 1967). Bis in die Sprachregelungen und die politische Symbolik hinein, also die Identifikation der patria mit der Provinz oder die Vorstellung der Nation als "Familie"18, läßt sich dies dokumentieren. Und José Hernández, später Verfasser des berühmten Versepos "Martín Fierro", kommentierte die Niederwerfung des Aufstands durch die bonaerensischen Expeditionstruppen und den Tod Peñalozas in seinen "Rasgos biográficos" ganz im Stil der überkommenen, gewalttätigen Sprache der Bürgerkriege und unter Verwendung der propagandistischen Sprachformeln des rosismo: "Los salvajes unitarios están de fiesta. Celebran en estos momentos la muerte de uno de los caudillos más prestigioso, más generoso y más valiente que ha tenido la República Argentina [...] La sangre de Peñaloza clama verganza"19. Obwohl die Bewegungen der montoneros sich als eine Reaktion auf die militärische Durchsetzung der Vormacht von Buenos Aires in der Region verstanden, stellten sie, ordnen wir sie in den größeren Kontext der sozialen und wirtschaftlichen Wandlungsprozesse ein, bereits primär Abwehrkämpfe ländlicher Interessengruppen gegen die Expansionsbewegung einer kapitalistisch organisierten Agrarexportwirtschaft dar, die zuerst von Buenos Aires aus kontrolliert wurde, ehe die Eliten des litoral in zunehmendem Maße daran partizipierten. In politischer Hinsicht waren die Erhebungen der montoneros der

" Vgl. General Angel Vicente Peñaloza, "Proclama", nachgedruckt in: Proyecto 1980, 232. " Dieser Auszug aus J. Hernández, Rasgos biográficos del General Angel Vicente Peñaloza (Paraná 1863), ist nachgedruckt in: Proyecto 1980, 143f.

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Versuch "traditional" organisierter, caudillistischer Herrschaftsgewalten im Landesinnern, ihr politisches Einflußpotential innerhalb des Gesellschaftsaufbaus auf einer "mittleren" Ebene zu wahren oder auch neuerlich auszudehnen20; in sozial-ökonomischer, auch kultureller Hinsicht, war es ihr Bestreben, die von den zentralen Zonen ausgehende Penetration der Region im Sinn der liberalen Modernisierungspolitik abzuwehren. Dies meint nicht, daß die montoneros deswegen schlechthin modernisierungsfeindlich gewesen wären. Ihr Widerstand richtete sich vielmehr gegen die Kontrolle der wirtschaftlichen und politischen Entwicklung des Landes durch die bonaerensische Elite, wodurch alternative Entwicklungsmöglichkeiten für das Landesinnere etwa über die traditionellen Handelswege in den chilenischen und pazifischen Raum blockiert, zumindest benachteiligt schienen. Daß es sich dabei nicht allein um hypothetische Entwicklungsperspektiven für die andinen Provinzen handeln würde, schien konkret durch den kalifornischen Goldrausch bestätigt, an dem der Andenraum kurzzeitig durch den Agrarexport partizipiert hatte. Diese Konstellation erklärt, warum die montoneros und insbesondere die Bewegung Varelas einerseits eine breite Unterstützung im Landesinnern fanden. Sie umfaßte zunächst die abhängigen ländlichen Bevölkerungsgruppen und im übrigen auch umfangreiche Teile des niederen Klerus, die aufgrund der überkommenen, auch kulturellen Ressentiments gegenüber dem Liberalismus und konkret Buenos Aires die montoneros unterstützten. Sie bezog ferner die Gruppen ein, die an einer protektionistischen Wirtschaftspolitik interessiert waren, wie die städtischen Handwerker. Unter Peñaloza z.B. kämpften Einheiten, die die Handwerkervereingung in Córdoba aufgestellt hatte. Und schließlich erfuhr sie auch in den Kreisen der Provinzeliten im andinen Raum Unterstützung, die ihre wirtschaftlichen Hoffnungen auf den chilenischen bzw. pazifischen Raum setzten und auch aus diesem Grund gegen Buenos Aires opponierten. Einen modernisierungsfeindlichen Charakter besaßen die montoneros insofern nur insoweit, wie man das bonaerensische Entwicklungsmodell als verbindlich setzte, was jedoch im Kontext der sechziger Jahre bereits zunehmend für die Führungsgruppen im litoral zutraf und was erklärt, warum es den montoneros nicht gelang, diese Gruppen und insbesondere Urquiza zu einer offen politischen und militärischen Unterstützung der Aufstände zu bewegen. Anders als Ende der vierziger und Anfang der fünfziger Jahre, als Urquiza noch als ein wichtiger Motor der Koalition gegen Buenos Aires gewirkt hatte, war er weder 1863 noch 1866 bereit, seinen Einfluß und sein Charisma, das er im Landesinnern besaß, zugunsten der montoneros in die Waagschale zu werfen. Diese Enttäuschungen über die Haltung Urquizas lagen im übrigen auch dem Aufstand López Jordans 1870 zugrunde, in dessen Verlauf Urquiza den Tod fand. Die Bewegungen der sechziger Jahre waren damit andererseits, ungeachtet ihrer regionalen Ausdehnungen, in sozialer Hinsicht von vornherein isoliert.

20

Vgl. Bosch 1971; McLynn 1982.

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Insbesondere wurde deutlich, daß die modernisierungsorientierten Eliten im litoral, was den Konflikt zwischen Buenos Aires und dem Landesinnern betraf, mittlerweile auf der Seite des bonaerensischen Liberalismus standen, profitierten sie doch in zunehmendem Maße von den Entwicklungsoptionen der für den Weltmarkt produzierenden Agrarexportwirtschaft und den einsetzenden ausländischen Kapitalanlagen. Alternative EntwicklungsVorstellungen, wie sie die montoneros repräsentierten, also etwa im Hinblick auf einen stärkeren Wirtschaftsprotektionismus oder einen engeren Anschluß des La Plata-Gebiets an den pazifischen Wirtschaftsraum, fanden unter den Eliten im litoral immer weniger Anklang. Hinzu kam, daß die Eliten in Buenos Aires wie auch die im litoral die Überzeugung teilten, daß die Organisation des Nationalstaates und ein Ende der Kleinstaaterei überfällig seien, wollte man die wirtschaftlichen Expansionskräfte des Landes freisetzen, und daß ein neuerlicher Rückschlag in diesem Prozeß dazu führen würde, daß Argentinien gegenüber den Konkurrenten auf dem Weltmarkt hoffnungslos ins Hintertreffen geraten würde. Aus legitimatorischen Gründen wie zum Zweck der militärischen Mobilisierung appellierten die montoneros an ein historisches Selbstverständnis, das der Geschichtsanschauung des bonaerensischen Liberalismus entgegengesetzt war. Die montoneros griffen dabei auf die GeschiehtsVorstellungen zurück, die bereits in den zwanziger und dreißiger Jahren in der politischen Öffentlichkeit im Landesinnern hervorgebracht worden waren und in denen Buenos Aires als eine neue Kolonialmacht dargestellt worden war, die die Provinzen im Landesinnern versklaven wolle21. Besonders deutlich fiel dieser Rückgriff auf die überkommenen, anti-bonaerensischen Ressentiments der Bürgerkriegszeit bei Felipe Varela aus. In einem im Januar 1868 in Potosí (Bolivien) verfaßten Manifest griff Varela die Hegemonialpolitik von Buenos Aires und insbesondere die Kontrolle der Zolleinkünfte als eine neue Form "kolonialer" Herrschaftspraxis an. Buenos Aires sei nunmehr die "Metropole", die früher Spanien dargestellt habe, weshalb der "Krieg" von 1866/67, also der Aufstand der montoneros, nur eine Neuauflage der Revolution von 1810 darstellen würde. Wäre es damals, 1810, um die Unabhängigkeit der "amerikanischen Kolonien" von Spanien gegangen, so handele es sich nunmehr darum, den Unabhängigkeitskampf der Provinzen am La Plata gegen Buenos Aires zu führen. Und es fügt sich in dieses Denkmuster, daß Varela bewußt an den Amerikagedanken anknüpfte, um seine

}l "[Buenos Aires] dicta leyes y exige los mismos juramentos de obediencia, en que los españoles legitimaban la tiranía de sus reyes" ("El Montonero", Córdoba, v. 30.12.1823); "Esto propiamente es aporteñar á las provincias" ("El Investigador", Córdoba, v. 17.5.1824); "[...] que esté realmente persuadida de que los habitantes de todas las provincias son unos bestias" ("La Verdad sin Rodeos", Córdoba, v. 17.12.1826); "Si el gobierno de Buenos Aires quiere tener esclavos [...], las provincias quieren ser libres" ("La Verdad sin Rodeos", Córdoba, v. 24.12.1826).

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Politik zu legitimieren, indem er das Manifest von 1868 (1968, 83f) unter den Ausruf "¡Viva la Unión Americana!" stellte. Es ist zum besseren Verständnis dieser historischen Argumentation und insbesondere der Bedeutung des Amerikagedankens notwendig, sich neuerlich den transandinen Hintergund der Bewegung Varelas vor Augen zu halten. Varela hatte seine Bewegung zuerst von chilenischem Gebiet aus vorgetragen, und eine Anzahl chilenischer Freiwilliger zählte auch zu seiner Truppe. Mitte der sechziger Jahre war es zu einem neuerlichen militärischen Konflikt zwischen Chile bzw. Peru und Spanien gekommen. Während 1865 der Krieg der Dreierallianz gegen Paraguay eröffnet wurde, erklärte Chile im gleichen Jahr Spanien den Krieg. Diese Konstellation schürte im andinen Raum die Erinnerungen an die Unabhängigkeitsbewegung und den damit verbundenen Amerikagedanken, und die Ablehnung des Krieges gegen Paraguay erfuhr dadurch zusätzliche Nahrung, weil er vor diesem Hintergrund als ein offenkundiger politischer Irrweg erschien. Anstatt die Kräfte des republikanischen Amerika zusammenzuschließen, beteilige sich die Regierung in Buenos Aires, so der Vorwurf, an der Seite der brasilianischen Monarchie daran, einen "Bruderkrieg" zu führen. Auch in Buenos Aires selbst führte dies zu Protesten. Am 5. Juni 1866 kam es, angeführt von Veteranen der Unabhängigkeitskriege, zu denen auch Iriarte und Olazábal zählten, zu einer Demonstration für die "Rettung" des republikanischen Amerika. Artikel in der Tagespresse, wie in "La América", bezichtigten Mitre eines anti-nationalen Bündnisses mit Brasilien. Und Nicasio Oro ño, Gouverneur von Santa Fe, prangerte an, daß im Krieg gegen Paraguay ein Brudervolk vernichtet würde, um einem Land zum Triumph zu verhelfen (Brasilien), das auf dem System der Sklaverei begründet sei22. Die Bewegung Varelas war insofern in einen größeren außenpolitischen Kontext eingeordnet, und die historisch-politischen Legitimationsmuster, die Varela benutzte, appellierten grundsätzlicher an die republikanischen, auch revolutionären Traditionen der Region, die sich im Amerikagedanken verdichteten. Sowohl der Paraguay-Krieg wie auch die passive Haltung der Regierung in Buenos Aires gegenüber dem chilenisch-spanischen Konflikt wurden dabei als ein weiteres Indiz dafür gewertet, daß die bonaerensischen Eliten keinerlei Sensibilität für die Situation der andinen Provinzen besitzen würden, worin sich zugleich die einseitige und als hegemonial empfundene Ausrichtung der Politik auf die atlantische Seite des La Plata-Raums und die damit einhergehende, innere Kolonialisierung der westlichen Regionen dokumentieren würden. Indem die montoneros in wirtschaftlicher und gesellschaftspolitischer Hinsicht bereits von der Entwicklung überholte Bewegungen darstellten, fand auch ihr Geschichtsbild im politischen Diskurs längerfristig keinen Widerhall. Im Gegenteil: Die militärische Unterdrückung der montoneros führte dazu, daß auch die historisch-politischen Legitimationsmuster, derer sie sich bedient

22

Vgl. Guido y Spano 1866; Proceso 1968; McLynn 1984, 95f.

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hatten, der Repression verfielen. Dies trug dazu bei, daß die historischen Werteund Orientierungsmuster, die die montoneros repräsentierten, also der Rückgriff auf die föderalistischen Traditionen im Sinn der provinzialen Eigeninteressen, die Identifikationen mit der provinzialen patria, der Amerikabegriff als Synonym revolutionär-republikanischer Traditionen und die Ablehnung von Buenos Aires als innere Metropole und Kolonialmacht, zuerst durch ihre militärischen Niederlagen und dann durch den die Modernisierungspolitik "von oben" her begleitenden Prozeß der kulturellen Hegemonisierung von Buenos Aires aus zugedeckt und verschüttet wurden. Dies geschah in einem derartigen Maße, daß nicht wenige Historiker die Existenz dieses Geschichtsbildes, das einen eigenständigen Kontinuitätsstrang historischen Denkens im Landesinnern repräsentierte, völlig übersehen und behaupten sollten, daß in Argentinien überhaupt erst der Gauchokult oder die sogenannte Revision des Caudillismusbildes nach 188023 eine historische Betrachtungsweise vom Landesinnern aus begründet hätten. 5. Die Geschichtsvorstellungen der modernisierungsorientierten Eliten im "litoral" In den Wahlen von 1874 gelang es den Provinzeliten in den Schwellenzonen, den aus Tucumán stammenden Nicolás Avellaneda als Staatspräsidenten durchzusetzen. Der Versuch Mitres, dies durch einen bewaffneten Aufstand zu verhindern, wurde von der Armee vereitelt. Die Regierung Avellanedas sah sich bei ihrem Amtsantritt mit einer in wirtschaftlicher wie politischer Hinsicht schwierigen Situation konfrontiert. Die Wirtschaftskrise von 1873 dauerte an, so daß soziale Unruhen befürchtet wurden, und hinzu kam die Drohung der Mitristen, ihr Heil in einer neuerlichen Revolution zu suchen. Angesichts der akuten Gefahr einer wirtschaftlichen Destabilisierung der Region und des drohenden Ausbruchs eines neuen Bürgerkriegs mehrten sich Mitte der siebziger Jahre die Stimmen, die eine neue Politik der nationalen Versöhnung anmahnten, die dann im Oktober 1877 durch politische Absprachen zwischen Avellaneda, Mitre und Aisina beschlossen wurde. Dies hob die politischen Interessengegensätze zwischen den einzelnen Provinzen nicht auf, sondern strukturierte deren Behandlung nurmehr in neuer Form. Ein wichtiges Ziel der Liga bestand dabei darin, den bonaerensischen Parteien die Legitimation zu entziehen, sich offen gegen die Bundesregierung zu stellen, um sie auf diese Weise in die konstitutionelle Ordnung der Nation einzubinden, und dieses Bestreben, den bonaerensischen Liberalismus dazu zu bewegen, die politische Kontrolle des Nationbildungsprozesses durch die Liga zu tolerieren, bestimmte das politische Geschehen in der zweiten Hälfte der siebziger und in den frühen achtziger Jahren. Das Projekt der politischen Versöhnung, das letztlich die Paralysierung oder, wie es in einem Schreiben Bouquets 1878 an Roca (Roca 1983, 27) hieß, die

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Vgl. die Kapitel 6 und 7 in dieser Arbeit.

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"Umarmung" der bonaerensischen Parteien bezweckte, beinhaltete dabei auch die Suche nach Geschichtsbildern, die für diese politischen Zwecke brauchbar waren. Die gesellschaftspolitischen Leistungserwartungen, die an das Geschichtsbild der Versöhnung gestellt wurden, umfaßten zwei Aspekte. Einerseits war vom Standpunkt der Bundesregierung und der hinter ihr stehenden "Liga de Gobernadores" aus eine Revision der mitristischen Geschichtsanschauungen politisch notwendig. In den fünfziger Jahren konzipiert, waren sie in ihrer Anlage allzu sehr von der spezifischen Interessenkonstellation des bonaerensischen Liberalismus geprägt. Die jüngsten Kräfteverlagerungen innerhalb der Region spiegelten sie nicht ab. Andererseits war es jedoch politisch nicht opportun, die Nation auf ein historisches Selbstverständnis verpflichten zu wollen, das primär oder gar ausschließlich vom Landesinnern her konzipiert gewesen wäre. Politisch notwendig war vielmehr ein nationales Geschichtsbild, das einerseits über die notwendige Integrationsfähigkeit verfügte, um die sogenannte Versöhnungspolitik in sich abzubilden und die nationalstaatliche Zentralisierungspolitik in legitimatorischer Hinsicht abzustützen, und das andererseits den politischen Kräfteverschiebungen und nicht zuletzt auch dem gewichtigen Bedeutungszuwachs der Armee Rechnung trug. Aus diesen Vorgaben und gestützt durch das politische Programm der nationalen Versöhnung entstand nach 1877 eine allmähliche Kodifizierung des offiziellen Geschichtsbewußtseins von Staat und Nation, das sich in der Gestalt eines nationalen Pantheons niederschlug. In ähnlicher Form wie Mitre, der in den fünfziger Jahren aus seiner Funktion als politische Führungsgestalt des bonaerensischen Liberalismus heraus Geschichte geschrieben hatte, war es in den siebziger Jahren Nicolás Avellaneda, der sich in seiner Rolle als Staatspräsident des Landes dieser Aufgabe im politischen Diskurs annahm. Der Gouverneur von Buenos Aires, Carlos Tejedor, kommentierte 1881 sarkastisch (1911, 51), Avellaneda habe sich in seiner Tätigkeit als Staatspräsident überhaupt nur mit der Geschichte der Nation beschäftigt und nichts anderes getan, als historische Gedenkfeierlichkeiten zu organisieren. Avellaneda war 1836 in Tucumán geboren (weshalb er im übrigen Groussacs "Ensayo histórico sobre el Tucumán" überschwenglich lobte), ging nach dem Studium der Jurisprudenz 1857 nach Buenos Aires und lehrte dort das Fach Politische Ökonomie an der Universität. 1865 wurde er Abgeordneter im Parlament der Provinz Buenos Aires und bekleidete dort 1866, in der Regierung Aisina, seinen ersten Ministerposten, zuständig für das Innere. In der Regierung Sarmientos hatte er das Amt das Kultus- bzw. Erziehungsministers inne, ehe er 1874 zum Staatspräsidenten gewählt wurde. Avellaneda verkörperte insofern in seiner Biographie recht genau den Anschluß der Schwellenzonen an die Zentralregion Buenos Aires und die damit verbundene Funktion provinzialer Eliten, wie der in Tucumán, als Transmissionsriemen im Nationbildungsprozeß. Obwohl er insoweit eine Art politische Kompromißlösung darstellte, genoß Avellaneda das Vertrauen der Liga. Seine stärker provinziale Betrachtungsweise der Geschichte verdeutlichte sich u.a. in einer 1882 publizierten "Antwort an Sarmiento" (1988,

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15lf), in der er gegen den bonaerensischen Hegemonialanspruch und die Glorifizierung der Rolle, die die Stadt in der Unabhängigkeitsbewegung gespielt habe, argumentierte, daß nicht Buenos Aires, sondern die Provinzen im Landesinnern die Hauptlast des Kampfes gegen die Royalisten bzw. gegen Spanien getragen hätten. Die politische Konstellation nach 1875 und die eher schleichende Verschiebung der politischen Entscheidungsbefugnisse in die Hände der Führungsgruppen im litoral ließ, was das offizielle Geschichtsbewußtsein von Staat und Nation anging, nur eine mehr oder minder moderate Kritik am Mitrismus zu. Die Kontroverse, die daraus hervorging, wurde um die innere Hierarchie des nationalen Pantheons geführt, also der Sammlung vorbildhafter Heldengestalten, an dessen politisch-pädagogischem Sozialisationswert weder die Liga noch die Eliten in Buenos Aires Zweifel hegten. Konkret ging es dabei weniger um die Zusammensetzung dieses Pantheons an sich als vielmehr um die Frage, wer an dessen Spitze stand, nämlich entweder Rivadavia, den Mitre als "Vater" der Nation und politischen "Messias" betrachtete, oder aber San Martin, den Avellaneda zum "ersten Argentinier" erklärte24. Es fügte sich dabei günstig, daß sich Ende der siebziger Jahre die beiden Zentenarfeiern anläßlich der Geburt San Martins (1778) und Rivadavias (1780) näherten, so daß sich die inhaltliche Orientierung der Kontroverse auf diese beiden Figuren möglicherweise auch aus diesem zufälligen Zusammentreffen zweier Gedenkdaten erklärte. Es waren vor allem drei Gründe, die der Glorifizierung San Martins von Seiten der Bundesregierung zugrunde lagen25. Erstens stammte San Martin, worauf zurückzukommen sein wird, aus einem Dorf der Provinz Corrientes, weshalb die Eliten im Landesinnern sich in stärkerem Maße mit seiner Person zu identifizieren vermochten. Zweitens hatte sich San Martin 1819 gegen die Anordnungen der Regierung in Buenos Aires geweigert, mit seinen Truppen in die Bürgerkriegskämpfe einzugreifen, weshalb er dazu prädestiniert schien, als eine gleichsam über den Parteien stehende Symbolfigur der nationalen Aussöhnung zu fungieren. San Martin, so demente L. Fregeiro (1882, 295), sei eine Figur, "[...] cuyo prestigio moral estuviese arriba de las intrigas de circulos estrechos y de ambiciones desmedidas." Und drittens schließlich war San Martin, anders als Rivadavia oder Belgrano, ein Berufsoffizier gewesen. Seine Hervorhebung als der eigentliche argentinische Nationalheld stellte von daher

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Vgl. "Oración pronunciada en la Plaza de la Victoria de Buenos Aires el 20 de mayo de 1880, al presentar la plancha y distribuir la medalla conmemorativa del centenario de Rivadavia" (Mitre 1945, 143) sowie "Proclama del Presidente de la República á sus conciudadanos invitándolos á repatriar los restos del General San Martín, S.4.1877" (Avellaneda 1910, II 183). 25 Vgl. "Mensaje del Presidente de la República Nicolás Avellaneda al abrir las sesiones del congreso argentino en mayo de 1878" (Mabragaña 1910, III 472) über die Zentenarfeier San Martíns ais "[...] fiesta de la conciliación".

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zunächst eine Konzession an die politisch zunehmend wichtige Rolle dar, die die Armee im Prozeß der nationalen Organisation seit Mitte der sechziger Jahre spielte, und der in legitimatorischer Hinsicht Rechnung zu tragen war. Darüber hinaus appellierte sie, zumindest unterschwellig, an die Traditionen politischmilitärischer OrdnungsVorstellungen, sozialer Disziplinierung und autokratischer Führungsbefugnis, die man in San Martin repräsentiert sah und an deren Hervorhebung den Eliten vor dem Hintergrund der Krise von 187S und befürchteter sozialer bzw. politischer Unruhen gelegen sein mußte. Was demgegenüber Rivadavia betraf, war das Bild ambivalenter. Zwar bestritt auch Avellaneda Rivadavia nicht seinen Platz im nationalen Pantheon, hielt ihm jedoch, ähnlich wie die Romantiker der dreißiger Jahre, eine unrealistische und damit die Nation zersetzende Politik vor, so in einer rede vor dem Parlament 1862 (Avellaneda 1945, 32): "La República Unitaria, trazada por el pensamiento gigantesco de Rivadavia, se había lanzado a provocar a los desiertos [...] La patria argentina quedó, pues, destrozada en mil jirones [...]" Daß Rivadavia ungeachtet dessen in den siebziger Jahren auch über die Reihen des bonaerensischen Liberalismus hinaus politisch akzeptanzfähig war, beruhte vor allem darauf, daß er als ein Repräsentant politischer Modernisierungsvorstellungen galt, was ihn auch für die Eliten im litoral als historische Leitfigur konsensfähig werden ließ. Zwar gab es auf dem Hintergrund der politischen Kontroversen umgekehrt Stimmen, die Avellaneda und der Liga das Recht absprachen, sich überhaupt auf Rivadavia zu berufen. So kommentierte Carlos Tejedor (1911,51) die Ehningen Rivadavias, die Avellaneda 1879 veranlaßte, mit den Worten: "[El] honor de Rivadavia, era la burla más atroz que podía infligirse al pueblo de Buenos Aires". Tejedor sah darin nur ein politisch motiviertes Kalkül der Liga, den bonaerensischen Liberalismus seiner historischen Identität zu berauben. Konkret Mitre sah sich jedoch zu Konzessionen veranlaßt. Diese betrafen zunächst das Bild Rivadavias. In den fünfziger Jahren hatte Mitre Rivadavia nicht allein als den herausragenden argentinischen Staatsmann bezeichnet, sondern ihn darüber hinaus auch als Identifikationsobjekt für das Offizierskorps darzustellen versucht. Rivadavia, so Mitre 1857 (Proyecto 1980, 185), wäre "el ultimo representante de nuestra grandeza militar" bzw. "el último capitán general de los ejércitos de la nación argentina" gewesen. Das politische Interesse dieser Argumentation hatte dabei offenkundig darin bestanden, das Offizierskorps mit den unitaristischen Traditionen zu versöhnen und es dadurch zugleich zur Unterstützung des bonaerensischen Liberalismus im Konflikt mit der Konföderation anzuhalten. 1880 dagegen bezeichnete Mitre Rivadavia nurmehr als "el más grande hombre civil de la tierra de los argentinos"26. Zwar war diese Begrifflichkeit weiter gefaßt und zielte generell auf die staatsbürgerlichen

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"Oración pronunciada en la Plaza de la Victoria de Buenos Aires el 20 de mayo de 1880, al presentar la plancha y distribuir la medalla conmemorativa del centenario de Rivadavia" (Mitre 1945, 143).

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Tilgenden Rivadavias ab. Dennoch zeichnete sich in der Wortwahl und insbesondere in dem, was nicht gesagt wurde, eine Verschiebung des Bewertungsrasters ab, die nicht zufällig war. Die Formulierung von 1880 stellte eine Konzession an die veränderte politische Kräftekonstellation dar. Sie trug den Identifikationen mit San Martin Rechnung, die sich innerhalb des Offizierskorps durchgesetzt hatten und die sich nunmehr die Liga in politischer Hinsicht nutzbar machte, und sie spiegelte indirekt den Machtverlust wieder, den der bonaerensische Liberalismus und konkret die Partei Mitres in den siebziger Jahren erfahren hatten. Was umgekehrt die Bewertung San Martins betraf, ist zunächst festzuhalten, daß über den Kult um San Martin in der politischen Öffentlichkeit Argentiniens weitgehend in Vergessenheit geraten ist, daß San Martin in den Kreisen der argentinischen Emigranten in den vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts bzw. innerhalb der politischen Klasse von Buenos Aires nach 1852 keineswegs gut angesehen war, weil man ihn der Sympathie für Rosas verdächtigte. Einen Eindruck dieser Vorbehalte gibt ein Brief Valentin Aisinas, den dieser im November 1850 an Félix Frías richtete (Rodríguez 1922, III 485f) und in dem er beschrieb, wie man in den argentinischen Emigrantenkreisen über San Martin dachte: Como militar fué intachable, un héroe; pero en lo demás era muy mal mirado de los enemigos de Rosas. Ha hecho un gran daño a nuestra causa con sus prevenciones, casi agrestes y serviles, contra el extranjero, copiando el estilo y fraseología de aquel [...] Por supuesto en el diario me ha guardado de decir nada de esto. Wie der zuletzt zitierte Satz belegt, gelangten diese Vorbehalte, vertraulich geäußert, nicht an die Öffentlichkeit, weil dies in politischer Hinsicht nur nachteilig gewesen wäre. Vielmehr waren auch die Emigrantengruppen bzw. später die politische Klasse von Buenos Aires und konkret Mitre bemüht, das Gedenken an San Martin und das Ansehen, das dieser genoß, für die eigenen politischen Zwecke zu nutzen. Das erste Personendenkmal, das in Buenos Aires errichtet wurde, galt San Martin. Die Planungen dafür begannen 1860, und die Arbeiten wurden 1862 abgeschlossen. In der Rede anläßlich der Denkmalseinweihung hob Mitre (1902, 208f) die Verdienste San Martins um die Befreiung Amerikas vom spanischen Joch hervor. Zu bedenken ist, daß die Initiative zur Errichtung des Denkmals für San Martin noch in die Phase der offenen Konfrontation zwischen Buenos und der Konföderation fiel und daß den bonaerensischen Liberalen in diesem Zeitraum in politischer Hinsicht sehr daran gelegen war, die eigene Partei und Politik als legitime Erben des Unabhängigkeitskampfes von 1810 bzw. der Befreiung Amerikas insgesamt darzustellen, die untrennbar mit dem Namen San Martins verbunden waren. Ungeachtet der Huldigungen, die San Martin nach seinem Tod von Seiten des bonaerensischen Liberalismus erfuhr, deutet jedoch einiges darauf hin, daß die Vorbehalte seinem politischen Wirken gegenüber nicht ausgeräumt waren. So argumentierte Mitre noch um 1877 in der Frage der Repatriierung der Reste San Martins

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(1945, 92f) , daß dieser, anders als Rivadavia, kein "Messias" und von keinem "politischen Credo" oder "sozialen Idealen" geleitet gewesen sei. Vergleichen wir dies mit der Bewertung Rivadavias durch Mitre, so war diese Wortwahl zweifelsohne nicht zufällig und ließ eine vorsichtige Distanzierung gegenüber San Martin erkennen. Daß die Vorbehalte, die innerhalb der politischen Klasse von Buenos Aires gegenüber San Martin kursierten, durch die Politik der Versöhnung hinfällig wurden, ist ferner fraglich. 1883 legte die Munizipalität der Stadt einen Plan für die Errichtung eines Denkmals zur Erinnerung an die Mairevolution vor. Vorgesehen war, in dieses Denkmal die Statuen der politischen Führungsgestalten von 1810 wie auch die der Heerführer des Unabhängigkeitskampfes zu integrieren. Aufgelistet hatte die Munizipalität, was diese Statuen betraf, jedoch nur die Namen zweier Offiziere, nämlich die Belgranos und des Admiráis Brown, während der San Martins fehlte (vgl. Lamas 1884, 407f). Daß es sich dabei um eine schlichte Vergeßlich- oder Schludrigkeit handelte, ist mehr als unwahrscheinlich. Das politische System Argentiniens beruhte in den achtziger Jahren auf einer neuen Machtverteilung zwischen den Provinzen. Davon profitierten in erster Linie die Eliten in den Schwellenzonen und insbesondere die in Córdoba, denen Roca und Juárez Celman über verwandtschaftliche Bande eng verbunden waren. Die wirtschaftliche Prosperität der achtziger Jahre trug jedoch dazu bei, daß diese Umverteilungen des politischen Einflusses auch den Eliten in Buenos Aires erträglich waren, weil die Nachteile, die ihnen aus dieser Konstellation entstanden, weder in wirtschaftlicher noch in sozialer Hinsicht gravierend waren. Dies war zumindest solange nicht der Fall, wie die Wirtschaftskonjunkur anhielt. Auf dem Gebiet der historischen Symbolik findet sich eine recht genaue Abbildung dieser politischen Konstellation, also des Grundkonsenses zwischen den Führungsgruppen in Buenos Aires und denen im litoral einerseits wie auch des gestiegenen Selbstgefühls konkret der Elite in Córdoba andererseits, in den Denkmalserrichtungen des Jahres 1887. Am 18. Dezember des Jahres wurden parallel die Denkmäler für den General Paz in Córdoba und den General Lavalle in Buenos Aires eingeweiht, wobei der Staatspräsident Juárez Celman die Laudatio in Córdoba hielt, während der Vizepräsident Carlos Pellegrini und Mitre in Buenos Aires sprachen. Sowohl Paz wie Lavalle repräsentierten die unitaristische Position in der Bürgerkriegsphase, wobei Paz jedoch, im Gegensatz zu Lavalle, aus Córdoba stammte. Die Denkmalseinweihungen wurden von den politischen Führungsgestalten dazu benutzt, um die Entwicklungsund Modernisierungspolitik der achtziger Jahre in die unitaristischen Traditionen der zwanziger Jahre zu stellen. Darin dokumentierte sich, in welchem Ausmaß sich die modernisierungsorientierten Eliten im litoral mittlerweile mit dem ursprünglich bonaerensischen Entwicklungsprojekt in der Region identifizierten, und es verdeutlichte sich darüber hinaus das Gewicht, das die unterschiedlichen Fraktionen der Elite der staatlichen Zentralisierungspolitik beimaßen. Strittig blieb allein der Beitrag, den die einzelnen Prövinzen dazu geleistet hatten. Während Juárez Celman in Córdoba die Erinnerung an Paz dazu benutzte, um

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das politische Gewicht der cordobensischen Elite auch in historischer Hinsicht zu legitimieren und die Traditionen einer ordnenden und zentralisierenden Politik vom Landesinnern her hervorzuheben, betonte Mitre weiterhin, so in seiner Rede "La estatua de Lavalle" (1960, XVII 326) die überkommene, nationale Führungsrolle von Buenos Aires ("Lavalle, es la personificación en mármol del porteño poseído de espíritu nacional"). 6. Regiontypen und Geschichtsbewußtsein Die ungleiche Entwicklung der einzelnen Provinzen im La Plata-Raum führte dazu, daß sich in den einzelnen Regionen auch unterschiedliche Formen der Geschichtsbetrachtung ausbildeten. Damit ist nicht allein gemeint, daß die politisch-sozialen Kräftegruppen in den einzelnen Teilregionen auch konträre Geschichtsvorstellungen entwickeln konnten, was, denken wir z.B. an die Bewegungen der montoneros im Landesinnern, offenkundig der Fall war. Die Differenzen reichten vielmehr tiefer, d.h. sie betrafen die Art und Weise, wie in den einzelnen Provinzen die politischen Meinungsträger überhaupt zu der Geschichte standen und inwieweit sie in der Lage waren, die Geschichte als ein Konzept zu benutzen, das ihnen bzw. "ihrer" Provinz Identität verlieh, ihr Selbstbewußtsein stützte und ihr politisches Handeln zu legitimieren vermochte. Und es hat den Anschein, daß diese Fähigkeit oder auch Nichtfähigkeit, historische Traditionen zu evozieren und darüber provinziale Identitäten zu begründen, auch etwas mit dem jeweiligen Entwicklungsstandard zu tun hatte, der in wirtschaftlicher und sozio-kultureller Hinsicht in den einzelnen Provinzen erreicht wurde. Dies galt offenkundig für die Interpretationschancen, die einzelne Elitegruppen im Hinblick auf die "nationale" Geschichte besaßen und die von der politischen oder auch wirtschaftlichen Kräfteverteilung in der Region abhängig waren. Es galt jedoch auch in Bezug auf das provinziale Selbstkonzept, das die lokalen Eliten entwickelten, d.h. ihre Fähigkeit, sich in historischer Perspektive vor sich selbst zu definieren. Auch diese Chancen zur symbolischen Bedeutungsverleihung an die Geschichte der eigenen Provinz blieben daran gebunden, ob und inwieweit es die einzelnen Eliten vermochten, politischen Einfluß zu gewinnen, wirtschaftliche Entwicklungen zu realisieren und Organisationsleistungen in sozialer und kultureller Hinsicht zu verwirklichen. In den randständigen Zonen, so die Vermutung, blieb das historische Selbstkonzept der Provinzeliten dabei fremdgeleitet und abhängig, während die Eliten in den Schwellenregionen eher über die Möglichkeit verfugten, eigenständige Betrachtungsweisen der provinzialen wie auch der nationalen Geschichte zu entwickeln. Im Fall der Provinz La Rioja, die in wirtschaftlicher Hinsicht rückständig, von den Bürgerkriegswirren arg in Mitleidenschaft gezogen und deren innere politisch-soziale Organisation vom Caudillismus geprägt war, handelte es sich um eine marginale Zone in der Region. La Rioja verfugte über keinerlei autonome Entwicklungsmöglichkeiten und war stattdessen, was die Möglichkeiten zur wirtschaftlichen Expansion und staatlichen Konsolidierung betraf, auf

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politische Bündnisse mit anderen Provinzen angewiesen. Die Frage, welche Rückwirkungen sich aus dieser Konstellation und den damit verbundenen Abhängigkeiten für die Bewußtseinslage der lokalen Elite von La Rioja ergaben, ist nicht mit letzter Sicherheit zu beantworten. Aber es ist doch auffällig, daß sich in dem dortigen GeschichtsVerständnis, zumindest soweit es sich in den offiziellen Verlautbarungen der Provinzregierungen abspiegelte, keinerlei Hinweise darauf finden, daß es zur Ausbildung eines besonderen, provinzialen Selbstverständnisses gekommen wäre, das die politischen Handlungsoptionen oder auch Entwicklungsvorstellungen in irgendeiner Form auf eine eigene, partiale Geschichte der Region bezogen hätte. Eine besondere Wertschätzung spezifisch riojanischer Traditionen, gleich ob sie tatsächlich oder vermeintlich gewesen wären, bzw. ein Konzept provinzialer Identität, das auf der Vorstellung begründet gewesen wäre, daß die Provinz oder ihre Bevölkerung in irgendeiner Form besondere Verdienste für die politische Entwicklung der Region am La Plata geleistet hätten, existierten dort offenbar nicht. Historische Vorbilder, Traditionen und Wertorientierungen waren stattdessen außengeleitet, d.h. dem historischen Selbstverständnis anderer Provinzen bzw. dem der dortigen politischen Entscheidungsträger entliehen. Abhängig von den politischen Kräftekonstellationen konnten diese historischen Orientierungsmuster variieren. Und möglicherweise brachte es die abhängige Lage der Provinz dabei auch mit sich, daß es im Zuge dieser Anleihen "fremden" Geschichtsbewußtseins zu Prozessen der Überidentifikation kam, d.h. die Geschichtsvorstellungen, die vor dem Hintergrund der Bürgerkriege zuerst in anderen Zonen der Region entwickelt worden waren, in La Rioja dann in besonderer Schärfe vertreten wurden. Mitte der fünfziger Jahre fanden sich in den offiziösen Verlautbarungen der Provinzregierung nur sporadische Hinweise auf die Geschichte. Die konzipierte Traditionslinie, die sich daraus ablesen läßt, reichte über die Mairevolution von 1810 und die Unabhängigkeitsbewegung von 1816 hin zur Konstitution von 1853, war La Rioja doch Bestandteil der Konföderation27. Dieses Bild änderte sich in scharfer Form im Jahr 1858, also analog zu der Zuspitzung des Konflikts zwischen der Konföderation und Buenos Aires. Hatte ein Dekret der Provinzregierung zu Anfang des Jahres 1857 (Registro 1857/59, II 8) noch verfügt, das Gedenken an die Mairevolution von 1810 und die Unabhängigkeitserklärung von 1816 feierlich zu begehen, so wurden beide Ereignisse gut ein Jahr später als traditions- und gemeinschaftsstiftende Erinnerungen einer argentinischen Nation verworfen. Am 25. April 1858 richtete die Provinzregierung von La Rioja ein Schreiben an den Innenminister der Konföderation (Registro 1857/59, II 254f), Santiago Derqui, in dem eine nunmehr unnachgiebige Politik gegenüber Buenos

27 Vgl. die Dekrete v. 24.S.18S4 Ober die Maifeier des Jahres und v. 8.7.1855, in dem es hieß: "Considerando: que el dia de mañana 9 de Julio es el dia grande y glorioso para la Argentina, tanto más, cuanto se une a aquellos antecedentes de inmortal recuerdo la jura de nuestra Constitución política, sancionada el 1° de Mayo de 1853." Registro 1854/56,1 177.

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Aires befürwortet wurde. Buenos Aires, so der Vorwurf, würde die "Einkünfte, die Armee und die Diplomatie" der Nation spalten. Die Konföderation schulde Buenos Aires gar nichts; im Gegenteil würde Buenos Aires danach streben, die Souveränität der argentinischen Nation zu "usurpieren" und dadurch die Interessen einer Minderheit über die der dreizehn anderen argentinischen Provinzen zu stellen. Diese Politik von Buenos Aires habe Tradition. Weder der 25. Mai 1810 noch der 9. Juli 1816 hätten den Provinzen im Landesinnern ihre Freiheit gebracht. Vielmehr seien sie nach 1810 von der kolonialen Abhängigkeit in die nur um so schlimmere von Buenos Aires geraten. Frei seien die Provinzen erst seit dem Sieg von Caseros über Rosas, während von der Unabhängigkeit nach 1810 allein Buenos Aires im Hinblick auf den Handel, die Einkünfte und seine politische Bedeutung profitiert hätte: "[...] La independencia del año 10 parece que fué proclamada para Buenos Aires solamente, porque ella solo gozó del comercio exterior, de la civilización, de las rentas, de la representación nacional, y ella solo se hizo rica y grande á la par que dejaba á sus hermanas en la miseria." Es ist bemerkenswert, daß die Provinzregierung von La Rioja, die 1858 unter der Führung des Generals Manuel Vicente Bustos stand, in diesem Schreiben eine Kritik an der bonaerensischen Politik vorbrachte, die sich zwar, was die Erwähnung der ökonomischen oder politischen Benachteiligungen des Landesinnern durch Buenos Aires betraf, mit den Anschauungen der Konföderationsregierung bzw. den traditionell im Landesinnern kursierenden Ablehnungen von Buenos Aires deckte, die jedoch in Bezug auf die Geschichtsbetrachtung an Schärfe weit darüber hinausging. Sowohl die Mairevolution von 1810 wie die Unabhängigkeitserklärung von 1816 wurden zu einem Bestandteil der bonaerensischen Traditionen erklärt und damit aus dem potentiellen historischen Selbstverständnis einer argentinischen Nation ausgeklammert. Die Konföderationsregierung stand demgegenüber auf dem Standpunkt, daß die Schlacht bei Caseros wie auch die Verfassungsgebung von 1853 in der Tradition des Mai von 1810 stehen würden. In dem Schreiben der Provinzregierung von La Rioja erschienen dagegen erst Caseros als der eigentliche Nullpunkt der nationalen Geschichte und Urquiza, der Gouverneur von Entre Ríos, als precursor der Nation. Wir finden darin Identifikationen mit einem historischen Geschehen (Caseros) bzw. mit historischen Figuren (Urquiza), die der riojanischen Geschichte unmittelbar fremd waren, hatte die Provinz doch keinerlei Beitrag zum Sturz von Rosas im Jahr 1852 geleistet. Dieser Faktor, also die Anleihe von der eigenen Provinzgeschichte äußerlichen Traditionen, wie der Umstand, daß die Provinzregierung in ihrer anti-bonaerensischen Haltung so weit ging, auch die Unabhängigkeitsbewegung von 1810/1816 aus dem historisch-politischen Selbstverständnis der "Nation" zu streichen, deuten auf solche Prozesse der Überidentifikation mit einem politischen Leitbild hin, wie sie oben erwähnt wurden. Die Klärung der Frage, ob es sich dabei um strukturelle Komponenten des Geschichtsbewußtseins abhängiger Elitegruppen in

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randständigen Zonen handelte, bliebe einer genaueren, komparativen Betrachtung mehrerer Provinzen vorbehalten. Ganz anders stellte sich das Bild in Corrientes dar. Corrientes zählte aufgrund seines relativen wirtschaftlichen Wohlstands in den zwanziger und frühen dreißiger Jahren, ferner wegen der Stabilität seiner politisch-sozialen Elitegruppen in diesem Zeitraum und schließlich auch aufgrund seiner Führungsrolle, die es wenigstens phasenweise in der Opposition zu Buenos Aires spielte, zu den Schwellenregionen im La Plata-Raum. Entsprechend betont fiel das historischpolitische Selbstbewußtsein der politischen Führungsgruppe in Corrientes aus. Dies dokumentierte sich darin, daß sich in dem politischen und später auch historischen Diskurs, wie er in Corrientes geführt wurde, nicht allein die im Landesinnern mehr oder minder gängigen, anti-bonaerensischen Topoi fanden, sondern daß der Provinz vielmehr ein aktiver und eigenständiger Beitrag zur politisch-sozialen Entwicklung der Nation konzediert wurde, was bis hin zur Reklamierung eines nationalen Führungsanspruchs reichen konnte. Weil Corrientes bereits in den zwanziger und dreißiger Jahren gegen die bonaerensische Politik opponiert hatte, und weil Corrientes mit seinen Truppen am Sturz von Rosas im Jahr 18S2 beteiligt gewesen war, besaßen die correntinischen Elitegruppen auch in den fünfziger Jahren ein ungebrochenes Verhältnis zur Geschichte ihrer Provinz. Anders als im Umkreis der Konföderationsregierung in Paraná bestand deshalb in den fünfziger Jahren in Corrientes kein Anlaß dazu, historische Verdrängungsleistungen zu vollziehen, war die Geschichte der Provinz doch im Grunde nicht durch frühere Kollaborationen mit dem rosismo belastet. Corrientes, so hieß es später in der Zeitung "La Nueva Epoca" vom 22. Dezember 1861, habe nur allzu oft "allein" gegen den Tyrannen Rosas gestanden und alles in diesem Kampf geopfert ("Corrientes luchando contra el tirano de la República muchas veces sola, lo sacrificó todo..."'. Dies erklärt, warum sich die Führungsgruppen der Provinz, ähnlich wie die Liberalen in Buenos Aires, frühzeitig in den fünfziger Jahren auf historische Traditionen als Legitimationsmuster ihrer Politik zu beziehen vermochten und eine Politik der Geschichtsverdrängung überflüssig war. So erschienen bereits im Mai 1853 in der wichtigsten Zeitung von Corrientes, die im übrigen den programmatischen Namen "La Libre Navegación de los Ríos" trug, eine Reihe von Artikeln, die ein nationales Geschichtsbild zu entwerfen suchten, das aus der Sicht von Corrientes konzipiert war. In der Ausgabe vom 1. Mai des Jahres griff die Zeitung den föderalistischen Verfassungsgedanken auf und betonte nachdrücklich die Besonderheiten der einzelnen Provinzen im La Plata-Raum und damit auch die Legitimation ihrer partialen Sonderinteressen im Rahmen der Konföderation. Zur Begründung wurde die Klimatheorie Montesquieus herangezogen, nach der unmittelbare Beziehungen zwischen den klimatisch-geographisch-naturräumlichen Lebensbedingungen und den Formen politischer Regierung bestehen würden. Im politischen Diskurs war diese Argumentation nicht neu. Im Gegenteil: Der Rückgriff auf die Klimatheorie Montesquieus und die vergleichsweise prononcierte

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Anbindung der Nationvorstellung an naturhafte Faktoren stellten angesichts des Entwicklungsstands des Nationbegriffs eher einen Rückschritt dar, d.h. ein Wiederaufgreifen der vor-romantischen Nationidee, die im politischen Diskurs bereits überwunden schien. Aber in diesem Fall diente der Rückgriff auf die Klimatheorie und ihre potentiell segregierenden Elemente dazu, erstens die Richtigkeit der föderativen Verfassungsgebung zu belegen und zweitens den Eigenwert der einzelnen Provinzen, und natürlich in erster Linie den von Corrientes selbst, gebührlich hervorzuheben. Das darin verborgene provinziale Identitätsgefühl und nicht zuletzt auch der Stolz auf die Geschichte der eigenen Provinz, der diesem politischen Selbstbewußtsein zugrunde lag, trat offen in einem Artikel zutage, der eine Woche später anläßlich des Gedenkens der Schlacht von Caseros erschien. In diesem Datum, so die Zeitung "La Libre Navegación de los Ríos" am 8. Mai 1853, verdichte sich die "Geschichte und die Religion" von Corrientes. Am 3. Mai solle der "Fahnen" gedacht werden, die in den "blutigen Kämpfen gegen die Tyrannei" den Truppen vorangetragen worden waren. Und niemand brauche zu fragen, um welche Fahnen es sich dabei gehandelt hätte: Es wären die "glorreichen Fahnen" von Corrientes gewesen. Ähnlich wie die Elite in Buenos Aires beanspruchte damit auch die in Corrientes einen historisch legitimierten Führungsanspruch im Hinblick auf die Entwicklung von Staat und Nation. Die Zeitung "La Unión Aijentina", die am 6. Oktober 1860 in Corrientes erschien, sprach davon, daß Corrientes das Schicksal der Nation "verwahren" würde. Entsprechend unvoreingenommener verhielt man sich zur Mairevolution von 1810, da der politische Anspruch, die nationalen Traditionen der Region an hervorragender Stelle zu repräsentieren, nicht damit vereinbar gewesen wäre, diese Traditionen, wie es in La Rioja geschah, pauschal verwerfen zu wollen. Die Mairevolution habe die Befreiung von dem "kolonialen Joch" der Spanier gebracht und ein "kolossales" Werk dargestellt. Die "großen Patrioten" von 1810 hätten die argentinische Nation begründet ("Ellos...nos hicieron Nación"). Aber diese Traditionen des politischen Freiheitskampfes würden nicht durch Buenos Aires fortgesetzt werden, sondern durch die Verfassungsgebung der Konföderation vom 1. Mai 1853 ("La obra comenzada el 25 de Mayo del año 10 debia terminarse el I o de Mayo del 53 ")M. Geschaffen waren damit zwei unterschiedliche Formen des nationalen GeschichtsVerständnisses. Das erste, das von den Liberalen in Buenos Aires konzipiert wurde, reichte vom Mai 1810 über den Juli 1816 zur bonaerensischen Septemberrevolution von 1852, später bis hin zur Schlacht von Pavón 1861; das Geschichtsbild der Konföderation, das zuerst von den correntinischen Eliten formuliert wurde, verlief demgegenüber vom Mai 1810 und den Juli 1816 über die Schlacht von Caseros 1852 bis hin zur Verfassungs-

* Vgl. den Artikel "El 25 de Mayo", der am 25.5.1853 in der Zeitung "La Libre Navegación de los Ríos" (Corrientes) erschien.

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gebung vom Mai 1853. Die politische Opposition zu Buenos Aires führte dabei auch dazu, daß Artigas, der neben Rosas die schärfste Ablehnung seitens des bonaerensischen Liberalismus erfuhr, in Corrientes zu einer positiven Traditionsfigur des Föderalismus erklärt wurde. Artigas sei der Bolívar am Rio Uruguay gewesen, dem die Republik Uruguay ihre "Nationalität" zu verdanken habe. Artigas, so die Zeitung "La Unión Arjentina" am 5. April 1860, habe das Prinzip der "lokalen Unabhängigkeit" gegenüber dem "unitaristischen Zentralismus" von Buenos Aires verkörpert und eine gerechte Sache vertreten. Dieser historisch-politische Kult, der insbesondere um die Schlacht von Caseros und die Rolle der correntinischen Truppen darin entfaltet wurde, setzte sich auch in der Folgezeit fort. Dies galt zunächst für die Presse, so die Zeitung "El Comercio", die die Nachfolge der "La Libre Navegación de los Ríos" antrat, und im Jahr 1854 in der Ausgabe vom 2. Februar Caseros als "[...] el más grande cambiamiento político y social para los pueblos argentinos después de la revolución del año 10"29 feierte. Aber auch in den offiziellen Verlautbarungen arbeiteten die Führungsgruppen der Provinz daran, Corrientes eine besondere historische Identität zu verleihen und den Beitrag der Provinz für den Freiheitskampf in der Region hervorzuheben. So erklärte eine Gruppe von Honoratioren im September 1859 in einer Eingabe an die Provinzregierung (Registro 1878, 269), daß der unvergeßliche Sieg von Caseros, zu dem das "heroische correntinische Volk" beigetragen habe, nicht dadurch in der Geschichte befleckt werden dürfe, daß er einer einzelnen Provinz (Buenos Aires) die Gelegenheit zur Abspaltung von der Nation geben würde. Hinzu kam ferner vor allem der Kult um San Martin, der Ende der fünfziger Jahre entwickelt wurde und der darauf begründet war, daß San Martin aus der Provinz Corrientes stammte. Im August 1859 ordnete die Provinzregierung die Wiedererrichtung der inzwischen verfallenen Siedlung an, in der San Martin geboren war, und im Februar 1860 wurde die Umbenennung des Ortsnamens in San Martin verfügt. Zu ergänzen bleibt, daß die Provinzregierung von Corrientes auch in den späten siebziger Jahren und auf dem Hintergrund der Aufwertung San Martins im Geschichtsbild der Versöhnungspolitik unter Avellaneda bestrebt war, die eigene Provinz als "Wiege" der Heldengestalt gewürdigt zu wissen30. Stärker auf das Bemühen, eine spezifisch correntinische Geschichte zu konzipieren und daraus ein provinziales Selbstkonzept abzuleiten, zielten schließlich die Feierlichkeiten, die die Provinzregierung erstmals 1857 zum Gedenken an das milagro de la cruz dekretierte. Dabei handelte es sich um eine aus der frühen Kolonialgeschichte überlieferte Legende. Die ersten spanischen Siedler

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Zur Feier der Mairevolution vgl. auch "25 de Mayo", in: "La Opinión" (Corrientes) v. 25.5.1857; zur Würdigung der Unabhängigkeitserklärungvon 1816 vgl. "Nueve de Julio", in: "El Comercio" (Corrientes) v. 8.7.1855. 30 So hieß es in einem Dekret v. 29.1.1878: "Que siendo la Provincia de Corrientes la cuna de aquel capitán ilustre [...]" (Registro 1878, 269).

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hätten an der Stelle, an der dann die Stadt errichtet wurde, ein Holzkreuz aufgestellt. Kriegerische Indianer hätten versucht, dieses Kreuz zu verbrennen, was aber nicht gelungen wäre, woraufhin sie ihren Widerstand aufgegeben und sich den Spaniern ergeben hätten. Die Provinzregierung griff 1857 diese Legende auf und verfügte (Registro 1857, 186) das Gedenken an "[...] la gloriosa victoria que nuestros padres consiguieron de las nómadas tribus salvajes". In historischer Hinsicht identitätsverbürgende, allein die Geschichte der Provinz betreffende Elemente wurden damit weit in die Kolonialgeschichte zurückverlegt, d.h. das milagro de la cruz erschien als Anfangspunkt einer spezifisch correntinischen Geschichte. Die Bezeichnung der Konquistadoren als "Väter" der Provinz ist dabei als ein neuerliches Indiz dafür zu werten, daß die Provinzeliten im Landesinnern der Kolonialgeschichte und den spanischen Traditionen der Gesellschaft offenbar nicht die Ablehnungen entgegenbrachten, wie es bei den liberalen Eliten in den Urbanen Zentren der Fall war. Die auch in diesem Fall letztlich politisch motivierten Versuche, Corrientes einerseits eine eigene Geschichte und Tradition zu geben und andererseits zugleich in der Geschichte der argentinischen Nation die Rolle von Corrientes gebührend zu würdigen, mitunter gar einen Führungsanspruch gegenüber der Nation daraus abzuleiten, wurden durch die Schlacht bei Pavón 1861 gebrochen. So propagierte die Zeitung "La Nueva Epoca" am 15. Januar 1862 in Umkehrung der bis dahin gängigen historisch-politischen Argumentationsmuster die Unterwerfung der Provinz unter den bonaerensischen Hegemonialanspruch ("...nuestra ilustre hermana Buenos Ayres, honor de nuestra patria, iniciadora de nuestra gloria y cultura, y único santuario enfín en que había quedado libre el Fuego Sagrado de la libertad arjentina"). Aber die bis dahin betriebenen Versuche, der Provinz eine historische Identität zu schaffen, die die Möglichkeit eröffnete, die Nation aus der Perspektive der provinzialen patria zu betrachten, hatte offenbar bereits derartig starke Wirkungen in der politischen Kultur der Provinz hinterlassen, daß Corrientes in der Folgezeit auch für die wissenschaftsorientierte Geschichtsschreibung zu einer Art Heimstatt stärker provinzialer Betrachtungsweisen der Nationalgeschichte werden konnte. Ein frühes Beispiel dafür findet sich in den Arbeiten Vicente G. Quesadas, der, obwohl in Buenos Aires geboren, in der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre des 19. Jahrhunderts öffentliche Ämter in Corrientes ausübte und als Abgeordneter die Provinz in der Nationalversammlung vertrat. Im August 1861 veröffentlichte Quesada (1861, 42f) in der "Revista del Paraná" eine Nachrede auf Juan Pujol, den vormaligen Gouverneur von Corrientes, in der er den Beitrag Pujols zur Modernisierung der Provinz, seinen Lokalpatriotismus sowie sein Bestreben, zur Nationbildung in der Region beizutragen, würdigte. Quesada stützte damit das Bild, daß Corrientes einen eigenständigen und wichtigen Beitrag zur Entwicklung der Nation geleistet habe. In den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts erschienen dann verschiedene Arbeiten von Manuel Mantilla, der der wichtigste correntinische Historiker in diesem Zeitraum war. Beachtung verdient vor allem eine Auseinandersetzung mit Mitres "San Martin", die 1889 erschien, und in der

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Mantilla (1889, 266f) kritisierte, daß Mitre San Martín nicht hinreichend gewürdigt habe. In dieser Kritik spiegelten sich einerseits Teile des correntinischen Selbstverständnisses ab, das San Martin als "Sohn" der eigenen Provinz begriff. Zum anderen begegnen wir darin den bereits skizzierten Kontroversen um die Figur San Martins und seine Stellung in der Hierarchie der nationalen oder auch amerikanischen Heldengestalten, die auf dem Hintergrund der überkommenen politischen Kontroversen zwischen dem bonaerensischen Liberalismus und dem Landesinnern zu lesen war. Schließlich ist, was die Betrachtung der Nationalgeschichte aus der Perspektive von Corrientes betraf, die rechtsgeschichtliche Arbeit von Hernán F. Gómez hervorzuheben, die im Jahr 1916 erschien. Gómez verwies auf den föderalistischen Geist der Verfassung von 1853, der jedoch in der Folgezeit durch eine eminent zentralistische Gesetzgebung ausgehöhlt worden sei. Notwendig sei es, zu diesen föderalistischen Grundsätzen der republikanischen Verfassung zurückzukehren, wozu die Geschichte des Föderalismus aus der Sicht der Provinzen aufgearbeitet werden müsse, um das ursprüngliche Anliegen dieser Politik überhaupt zu verstehen. Gómez wandte sich deshalb erstens gegen die gängige Nationalgeschichtsschreibung, die "ausschließlich" von Buenos Aires aus verfaßt worden sei. Zweitens hob Gómez den Beitrag von Corrientes für die nationalstaatliche Entwicklung hervor. Dies habe zunächst im militärischen Sinn gegolten, d.h. correntinische Milizen hätten von Beginn an auf der Seite der patriotischen Truppen gekämpft und später einen entscheidenden Beitrag zum Sturz von Rosas geleistet; es habe jedoch auch im Hinblick auf die Entwicklung des politischen Denkens und des Verfassungsrechts gegolten. José Simón García de Cossío, der Corrientes in der junta von 1810 in Buenos Aires repräsentierte, habe, so Gómez, die "Grundsteine des argentinischen Föderalismus" gelegt. Corrientes, so das Fazit, habe immer an der Spitze des Freiheitsstrebens in der Region und der Verteidigung der provinzialen Rechte gestanden31. Ähnlich wie im Fall der Provinz Corrientes handelte es sich auch bei der Provinz Córdoba um eine Schwellenregion im La Plata-Raum. Allerdings ist es notwendig, hier genauer zu differenzieren. Die politische Bedeutung von Córdoba beruhte maßgeblich auf seiner überkommenen Bedeutung als ein Zentrum der staatlichen und kirchlichen Administration in der Kolonialzeit. Im Gefolge der Unabhängigkeitsbewegung verlor diese Rolle Córdobas weitgehend an Gewicht, und erschwerend kam hinzu, daß die Provinz aufgrund der Verschiebung der Handelswege und der Bürgerkriegswirren tiefe Einbrüche in ihre wirtschaftliche Struktur erfuhr und zunehmend pauperisiert wurde. Córdoba drohte vorübergehend auf den Status einer eher randständigen Zone abzusinken,

Jl Gómez 1916, 33, 41. Vgl. auch ders. 1928, II 14: "Corrientes [...] fue el primer estado que organizó un congreso provincial en 1814; fue el primero en darse una constitución política en 1821 - y fue el nervio de la individualidad provinciana con su cruzada imperecedera contra la tiranía de Rosas".

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was neben den wirtschaftlichen Depressionen vor allem an den ununterbrochenen internen Machtquerelen der lokalen Eliten lag, die, anders als in Corrientes, nicht zu einem inneren politischen Konsens fanden. Auch in den fünfziger Jahren des 19. Jahrhunderts blieb Córdoba aufgrund dieser internen Zwistigkeiten ein unsicherer Kantonist im politischen Gefüge der Konföderation. Diese Situation änderte sich erst seit den späten sechziger Jahren, als es die lokalen Elitegruppen zuerst vermochten, aufgrund wirtschaftlicher Umstrukturierungen in steigendem Maße an den Erträgen der Agrarexportproduktion zu partizipieren, um dann später einen beträchtlichen Einfluß auf die Politik der Liga zu gewinnen. Daß der damit verbundene Aufschwung eines cordobensischen Selbstbewußtseins maßgeblich auf die Prosperität der Provinz seit den siebziger Jahren zurückgeführt werden kann, verdeutlicht sich in der Provinzgeschichte von Mariano Pelliza, die 1890 erschien. Aus dieser Entwicklungsgeschichte der Provinz dürften sich auch die zwei Charakteristika des provinzialen Selbst- und Geschichtsverständnisses erklären, wie es in dortigen Elitekreisen hervorgebracht wurde. Zunächst verwundert es aufgrund der bis in die sechziger Jahre hineinreichenden inneren politischen Instabilität der Provinz nicht, daß es lange Zeit kaum Versuche der dortigen Eliten gab, etwa im Rückgriff auf die kolonialgeschichtliche Bedeutung der Region ein provinziales IdentitätsVerständnis auszubilden. Bis in den Beginn der achtziger Jahre hinein zeichnete sich deshalb die historisch-politische Symbolik, wie sie in Córdoba hervorgebracht wurde, dadurch aus, daß sie im Grunde die jeweils offiziell gültigen Positionen im politischen Diskurs bloß übernahm und reproduzierte. Daß dieses Verhalten, dem von Elitegruppen in den randständigen Zonen nicht unähnlich, etwas mit den inneren Spaltungen und der Schwäche der lokalen Eliten in Córdoba zu tun hatte, scheint plausibel. In den fünfziger Jahren fanden sich entsprechend in den offiziösen Verlautbarungen der Provinzregierung die Geschichtsvorstellungen der Konföderation, also der Entwurf einer Traditionslinie, die vom Mai 1810 über die Unabhängigkeitserklärung von 1816 bis hin zur Schlacht von Caseros reichte32. Nach der Schlacht bei Pavón 1861 übernahm die Provinzregierung, auch unter dem Druck der mitristischen Kräfte in Córdoba, dann das bonaerensische Geschichtsbild. Ein Manifest der Provinzversammlung, das Ende 1861 proklamiert wurde (Registro 1856-1870, 263f), sprach von dem "heroischen Triumph" in Pavón und der politischen Führungsrolle von Buenos Aires. Die Presse, wie die Zeitung "El Pueblo Soberano" am 27. November 1861, lobte ähnlich die "Hilfe", die Buenos Aires den Völkern der Region habe zukommen lassen. Allein die in Córdoba traditionell einflußreichen klerikalen Kreise nahmen hierin eine andere Haltung ein. So polemisierte die katholische Zeitung "Los Principios" später offen gegen eine allzu

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Vgl. die Dekrete v. 4.7.1856, 30.1.1857, 22.5.1857 und 21.5.1858, die sich auf die entsprechenden Gedenkfeierlichkeiten anläßlich dieser drei Daten bezogen (Registro 1856-1870, 16, 43, 46, 86.

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enge Anlehnung an das Gedankengut des bonaerensischen Liberalismus und konkret auch das Geschichtsbild Mitres33. In der Provinzgeschichte von Ignacio Garzón (1898, I 95ff) führten diese katholischen Vorbehalte gegenüber dem bonaerensischen Liberalismus dazu, daß auch Garzón, ähnlich wie die correntinischen Historiker, dann versuchte, eine spezifisch cordobensische Identität stärker aus den kolonialgeschichtlichen Traditionen der Provinz und dem Wirken föderalistischer Überzeugungen herzuleiten. Anders verhielt sich das Geschichtsinteresse der Provinzregierungen von Córdoba, das im Grunde aber erst in den achtziger Jahren eine eigenständige Form anzunehmen begann, als die Führungsgruppe der Provinz angesichts ihrer nunmehr gestiegenen politischen Macht- und Einflußmöglichkeiten auch die Fixierung besonderer, provinzialer Traditionen anstrebte. Diese zielten jedoch darauf ab, sich einer provinzialen Identität zu versichern, die keinerlei Reibungsflächen gegenüber der liberalen Nationalgeschichtsschreibung aufwies. Vielmehr war das Geschichtsbild daraufhin konzipiert, das provinziale Selbstkonzept in die herrschende Auffassung von der Nation einzufügen und von dort her zu definieren. Dieses provinziale Geschichtsverständnis, das in den achtziger Jahren entwickelt wurde, war entsprechend darauf gerichtet, Córdoba als einen Hort der verfassungsrechtlichen Organisation der Nation darzustellen. Unverkennbar sind dabei die Zusammenhänge, die zwischen diesem Geschichtsbild und dem Machtantritt der Regierung Roca 1880 bestanden. Córdoba erschien als die disziplinierte, "zivile" Provinz, die sich reibungslos in den Prozeß der nationalstaatlichen Organisation eingefügt und damit Beispiele eines vorbildlichen staatsbürgerlichen Verhaltens und des Gehorsams gegenüber den legitimen Gewalten gegeben hätte. Entsprechende Vorgaben der provinzialen Geschichtsinterpretation fanden sich erstmals in der Regierungserklärung Miguel Juárez Celmans, zu diesem Zeitpunkt Gouverneur der Provinz, im Jahr 1881. Juárez Celman verurteilte darin (Registro 1879-1881, 659f) den Aufstand der bonaerensischen Nationalgarde unter Carlos Tejedor von 1880. Córdoba, die traditionell am wenigstens "militarisierte" Provinz der Nation, die keine andere als die "legale" Autorität akzeptieren würde, habe sich anders als Buenos Aires um die Verteidigung der Verfassung verdient gemacht: Córdoba, la Provincia menos militarizada de la República, la única quizá que no alberga en su seno la personalidad de un caudillo militar [...]; Córdoba que no reconoce otro prestigio que el de la autoridad legalmente constituida, fué la primera en enviar sus legiones al teatro de los sucesos, con tal rapidéz, tal órden y decisión, que ha sorprendido y merecido el aplauso de las

33 So in den Artikeln "25 de Mayo", "Mitre", "La glorificación de Mitre", "Glorificación del Gral. Mitre", "Las ovaciones al Gral. Mitre" und "Belgrano, Alberdi, Mitre", erschienen in "Los Principios" (Córdoba) v." 25.5.1901, 27.6.1901, 12.6.1901, 19.6.1901, 21.6.1901, 22.6.1901.

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Provincias hermanas y la gratitud sincera del Gobierno de la Nación. Diese Topoi, also die Selbstdarstellung Córdobas als ein Garant der politischen Ordnung und der Respektierung der legalen Autoritäten sowie als ein beispielhaftes Exempel für das Verhältnis von Nation und Provinz, standen auch in den Reden anläßlich der Einweihung des Denkmals für den General Paz 1887 im Vordergrund. Der Geistliche Pera betonte die Rolle von Paz in der Bekämpfung der anarchischen, glaubenslosen "montoneros del caudillaje" (Registro 1887, 428f), und ähnlich erschien Paz in der Rede des Provinzgouverneurs D.A. Olmos als Garant der staatlichen Ordnung und "Zivilisation" (Registro 1887, 435). Auch Juárez Celman schließlich würdigte die staatsbGrgerlichen Qualitäten von Paz (Registro 1887, 436f). Führergestalten der cordobensischen Geschichte erfuhren damit eine späte Würdigung durch die lokalen Eliten. Der Entwurf eines provinzialen Selbstkonzepts in historischer Perspektive blieb jedoch ganz in die zeitgenössischen Bemühungen zur Konsolidierung der zentralstaatlichen Organisation und den Anmahnungen des Gehorsams gegenüber der Regierung Roca eingebunden. Das provinziale Selbst- und Geschichtsverständnis enthielt insofern keine autonomen Elemente, wie es in Corrientes der Fall war, sondern die Traditionen Córdobas stellten sich als eine vorbildhafte Exemplifizierung der nationalen Politik dar und erfuhren allein von dort her ihre Würdigung. Im Grunde wurde damit die Provinzgeschichte gänzlich von dem Bestreben nach einer Legitimierung und Stabilisierung der Regierung Roca nach 1880 her konzipiert, was insofern jedoch plausibel war, als der cordobensische Elitenclan am meisten von dessen Regierung profitierte. 7. Zwischenergebnis Die fünfziger Jahre des 19. Jahrhunderts bildeten im La Plata-Raum die Zeitphase, in der die formative Anfangsphase des historischen Diskurses zu Ende ging und die Konturen des "nationalen" Geschichtsbilds fixiert wurden. Dieses nationale Geschichtsbild, das in diesem Zeitraum in Umrissen entstand, wies jedoch zwei Charakteristika auf. Erstens ging es aus der konkreten politischen Interessenkonstellation des bonaerensischen Liberalismus in den fünfziger Jahren hervor, und zweitens unterlag es zugleich einer spezifischen psychologischen Motivationslage. Auf dem Hintergrund der in der politischen Öffentlichkeit der Region kursierenden Rechtfertigungszwänge und Schuldzuweisungen übte das Geschichtsbild auch Entlastungsfunktionen aus, die es, was seine Funktionsweise betraf, in die Nähe psychologischer Abwehrmechanismen rückte. Möglicherweise erklärt sich hieraus ein Teil der späteren Beharrungskraft dieser Geschichtsvorstellungen. Das Geschichtsbewußtsein besaß in den fünfziger Jahren eine eminent wichtige Funktion als politisches Entwicklungsinstrument, zumindest was den bonaerensischen Liberalismus betraf. Der Prozeß der hegemonialen Nationbildung von Buenos Aires aus wurde, was das Geschichtsverständnis betraf, von

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einem Prozeß der kulturellen Hegemonisierung begleitet. Betroffen davon waren vor allem die Geschichtsanschauungen, die die nationale Geschichte aus der Perspektive des Landesinnern und in offener Konfrontation zu Buenos Aires inteipretierten. Die Traditionen dieses Geschichtsverständnisses gingen (zumindest) bis in die zwanziger Jahre des 19. Jahrhunderts zurück und fanden nach 1862 ihre wichtigste Trägergruppe in den montoneros. Im Zuge der militärischen Niederwerfung der montoneros wurden diese Geschichtsvorstellungen vorübergehend weitgehend aus dem politischen Diskurs ausgeschieden. Die siebziger Jahre sahen eine neuerliche, schleichende Verschiebung der Kräftebalance zwischen den Provinzen. Die krisenhafte Entwicklung um die Mitte der siebziger Jahre führte in politischer Hinsicht zum Zwang der sogenannten nationalen Versöhnung, in der sich auch die Gemeinsamkeiten ausdrückten, die sich hinsichtlich der Ordnungs- und EntwicklungsVorstellungen der Gesellschaft bis dahin zwischen den modernisierungsorientierten Eliten im litoral und denen in Buenos Aires ausgebildet hatten. Die Politik der nationalen Versöhnung schuf insoweit auch die Voraussetzungen für die allmähliche Kodifizierung eines "nationalen" Geschichtsbilds. Der Disput über das nationale Geschichtsbild, der in dieser Phase geführt wurde und um 1878/80 kulminierte, war wenig spektakulär. Er stellte sich vordergründig als ein Streit um Nuancen dar, die im nachhinein fast als belanglos anmuten mögen. Ungeachtet dessen dokumentierten sich darin, also in der Kritik an Rivadavia einerseits und der zunehmenden Glorifizierung San Martins andererseits, die politische Krise des bonaerensischen Liberalismus, der gestiegene politische Einfluß der Führungsgruppen in den Schwellenzonen des Landes wie nicht zuletzt auch die Macht der Armee in Staat und Nation. Die politische Entwicklung Argentiniens stand bis 1880 weitgehend unter dem Eindruck des Verhältnisses von Staat, "Nation" und Provinz. Die unterschiedlichen Einflußmöglichkeiten, die die einzelnen Führungsgruppen in den Provinzen auf diese Entwicklung besaßen, bildeten sich dabei auch in der Art und Weise ab, wie sie jeweils mit der Geschichte umzugehen vermochten. Eine komparative Betrachtungsweise zeigt, daß offenbar Korrelationen zwischen den Interpretationschancen der nationalen Geschichte bzw. der Fähigkeit zur Entwicklung eines provinzialen Selbstbewußtseins in historischer Perspektive einerseits und dem politischen Einflußpotential der lokalen Führungsgruppen bzw. dem allgemeinen Entwicklungsstandard der einzelnen Provinz in wirtschaftlicher und sozio-kultureller Hinsicht andererseits bestanden. Die ungleiche Entwicklung der einzelnen Teilregionen im La Plata-Raum führte insoweit auch zu heterogenen Formen der Geschichtsbetrachtung.

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V. Die staatliche Organisation historisch-politischer Sozialisationsprozesse im 19. Jahrhundert 1. Zur Geschichte des schulischen Bildungswesens Die liberale Erziehungspolitik im 19. Jahrhundert stand in den aufklärerischen Denktraditionen. Der Grundgedanke der aufklärerischen Bildungsidee war, daß der Mensch ein Wesen sei, das angeleitet, unterrichtet und erzogen werden könne, um seine Fähigkeiten auch im Dienst des Ganzen, also der Gesellschaft, zu entfalten. In der ausgehenden Kolonialzeit wurden diese Bildungsideale in Hispanoamerika vor allem im Hinblick auf die Förderung der Wirtschaft und des Handels diskutiert. Der aufgeklärte Gedanke von der Bildbarkeit des Menschen besaß darüber hinaus jedoch auch politische Implikationen. Die Ansicht Montesquieus, daß die öffentliche Rolle der Erziehung erst dann erfüllt sei, wenn die Bürger die Gesetze und das Vaterland lieben würden, ließ die Nationalerziehung im Sinn der Weckung eines Nationalgefühls oder auch des Staatspatriotismus möglich werden (vgl. Vierhaus 1991). Angesichts der Fragilität von Staat und "Nation" nach 1810 besaß dieser Gedanke auch im La Plata-Raum Attraktivität und wurde dort frühzeitig vor allem von den sogenannten Jakobinern rezipiert. An die Stelle der utilitaristischen Bildungsvorstellungen rückten nach 1810 zunehmend politische Sozialisationsabsichten, d.h. die "Revolutionierung" der Bevölkerung trat als Ziel staatlicher Erziehungspolitik neben oder auch über das der gesellschaftlichen "Modernisierung" (Weinberg 1984, 85). Die schulische Erziehung sollte den einzelnen auf seine Rolle in der politischen Öffentlichkeit vorbereiten. So begründete auch Manuel Belgrana die Einrichtung öffentlicher Schulen in der Provinz Jujuy, die er 1813 veranlaßte, unter anderem damit, daß sie zur Bildung eines staatsbürgerlichen Bewußtseins anleiten sollten (vgl. Solari 1949, 41). Diese frühen Ansätze, das öffentliche Schulwesen auszubauen und im Sinn der staatspatriotischen Erziehung zu nutzen, blieben, sehen wir von der Tätigkeit Rivadavias in den zwanziger Jahren als Minister und Gouverneur der Provinz Buenos Aires ab, sporadisch und punktuell. Die Gründe dafür lagen vor allem in den Bürgerkriegen. Die Gelder, die in den Bildungsbereich flössen, standen den für militärische Zwecke verausgabten Beträgen in starkem Maße nach, und vielfach wurde das Schulwesen auch in die Verantwortung der Kirche übergeben, zumindest in den ländlichen Regionen. Zurückgeschraubt wurden damit auch die Erwartungen, die an das Bildungswesen gerichtet wurden. Einerseits handelte es sich dabei um eher sozialpädagogische Begleitmaßnahmen zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung bzw. zur Kompensierung der Auswirkungen, die die Kriegswirren auf die soziale Organisation der Gesellschaft hatten. So forderte der Stadtrat von Santa Fe 1817 die Einrichtung von Erziehungsanstalten für verwahrloste und vagabundierende Jugendliche (vgl. Ascolani 1991, 21). Anderseits wurde beabsichtigt, über die schulische Unterrichtung auch politische Loyalitäten mit der jeweiligen Regierung herzustellen. Aber auch in Bezug auf diese politischen Sozialisationszwecke

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wurde die Funktion der Schule nicht sonderlich hoch eingeschätzt, wie es sich in der Vernachlässigung des Bildungswesens unter der Regierung von Rosas in Buenos Aires dokumentierte. Erst der Sturz von Rosas im Frühjahr 185? und die Bemühungen zur Nationalen Organisation des Landes stellten die Voraussetzung dafür dar, daß die Sphäre der politischen Öffentlichkeit, die diskursive Legitimationsbeschaffung und damit auch die Organisation dauerhafter, staatlich institutionalisierter Bildungsprozesse wieder an Gewicht gewannen. Allerdings blieb die Situation aufgrund der Konfrontation zwischen der Konföderation und Buenos Aires brüchig. Die Zeitung "La Nación Argentina" kommentierte diesen in den fünfziger Jahren anhaltenden Schwebezustand zwischen dem Trend zu einer stärker diskursiven Konfliktregulierung einerseits und der latenten Gewaltbereitschaft andererseits am 19./20. März 1863 rückblickend in den Worten: "Puede decirse que los discursos en el parlamento, los escritos en la prensa, el voto en los comicios públicos, todos llevaban al cinto la espada que á cada paso se desnudaba en los sitios y en los campos de batalla." Seit den frühen fünfziger Jahren gewannen die Erziehungsvorstellungen der Romantiker einen maßgeblichen Einfluß auf die Bildungspolitik. Die Romantiker förderten einmal den Professionalisieningsprozeß der Pädagogik. Marcos Sastre (1809-1867), in dessen Buchhandlung der Salón Literario 1837 gegründet worden war und der in den fünfziger Jahren das Erziehungswesen in der Provinz Entre Ríos leitete, vertrat z.B. den Gedanken, daß das Unterrichten eine Vollzeitbeschäftigung sein müsse und die Lehrer systematisch ausgebildet werden müßten. Von Bedeutung war in diesem Zusammenhang auch die Einsetzung Sarmientos in die Leitung der Schulverwaltung der Provinz Buenos Aires 18S6. Sarmiento gab u.a. der Entwicklung der Schulbuchproduktion einen gewichtigen Anstoß, weil er die Erstellung von Büchern für das Lesen- und Schreibenlernen forderte, die dazu in pädagogischer Hinsicht geeignet seien. 18S8 gründete Sarmiento die Zeitschrift "Anales de la Educación Común", die später von Juana Manso de Noronha geleitet wurde und deren Zweck darin bestand, einen festen Diskurs über Erziehungsfragen zu etablieren (vgl. Galván Moreno 1944, 205). Zum anderen orientierte der Einfluß der Romantiker die Bildungsvorstellungen neuerlich auf die gesellschaftlichen Modernisierungsziele hin. Bildungsprozesse, so die Überzeugung, würden einen elementaren Faktor für die Modernisierung des Landes darstellen. Insbesondere Sarmiento, der als Lehrer in San Juan gearbeitet hatte, knüpfte an das Schulwesen die Hoffnung, daß es dazu beitragen würde, die Bräuche, Gewohnheiten und Mentalitäten der Menschen zu ändern, d.h. die Gesellschaft über individuelle Sozialisationsprozesse von ihren überkommenen, "rückständigen" Verhaltensformen und Denkgewohnheiten zu befreien, die eine Erblast der Kolonialgesellschaft und des spanischen Einflusses darstellen würden. Die Bildungspolitik konzentrierte sich damit auf die Charakterbildung in der Tradition eines moralisierenden Pädagogikverständnisses und war in diesem Sinn vergleichsweise unpolitisch, was zugleich zur Erklärung dessen beiträgt, daß die historisch-politische Sozialisation und

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konkret der Geschichtsunterricht in dem Zeitraum zwischen etwa 1860 und 1880 ein nur verhältnismäßig geringes Gewicht in den staatlichen Curricula besaßen. Geschichtskenntnisse wurden, soweit sie überhaupt zur Sprache kamen, stärker im Rahmen des Lese- oder Literaturunterrichts vermittelt (vgl. Szuchman 1990). Zwar ist zu konstatieren, daß im Jahr 1858 die Produktion von Schulbüchern zur Geschichte Argentiniens einsetzte. Die Anstöße dazu gingen jedoch nicht von staatlicher Seite aus, sondern beruhten auf der Initiative einzelner. Diese frühen Geschichtsbücher erfüllten eine Doppelfunktion. Einerseits dokumentierten sie das ganz pragmatische Bedürfnis, die Geschichte und insbesondere die als anarchisch empfundenen Geschehnisse der Bürgerkriegszeit zu ordnen, um sie dadurch überhaupt lehrbar zu gestalten und Traditionen zu fixieren. Andererseits war die Funktion dieser Bücher selbst politisch, d.h. sie griffen die politisch motivierten Geschichtsdeutungen, wie sie innerhalb des bonaerensischen Liberalismus oder aber im Umfeld der Konföderationsregierung hervorgebracht wurden, auf und entwarfen daraus eine "nationale" Geschichtsbetrachtung, die einen Anspruch auf Verbindlichkeit erhob. Insofern war die zeitliche Übereinstimmung zwischen dem Anfang der Schulbuchhistoriographie und dem starken Interesse an der Geschichte, das um 1857/58 in der politischen Öffentlichkeit einsetzte, nicht zufällig. Stand die staatliche Schulpolitik in den sechziger und siebziger Jahren unter dem Eindruck der gesellschaftlichen Modernisierungserwartungen und moralisierender Belehrungen, so verschob sich dieses Bild neuerlich in den frühen achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts. Die Administration Roca betrachtete die Schule wieder stärker im staatspatriotischen oder nationalerzieherischen Sinn, wobei deutlich der Ordnungsbegriff überwog. Die Ausbildung staatsbürgerlicher Fähigkeiten zielte nicht darauf ab, ein in politischer Hinsicht innovatives Verhaltenspotential hervorzubringen, wie es nach 1810 noch schärfer der Fall gewesen war, sondern beabsichtigte nunmehr die Einfügung der Heranwachsenden in das bestehende politisch-soziale System, um dadurch zu dessen Stabilisierung beizutragen. Der Hintergrund dieser bildungspolitischen Maßnahmen lag zunächst in der Konsolidierung der nationalstaatlichen Organisation nach 1880 und dem Bestreben der Regierungen Roca und später Juárez Celman, die zentralstaatliche Regierungsgewalt, die damit verbundene Verteilung der politischen Machteinflüsse zwischen den Provinzeliten und letztlich auch das damit verwobene System des caciquismo zu konsolidieren. Der Bildungspolitik der frühen achtziger Jahre kam insoweit eine politische Kohäsions- und Stabilisierungsftinktion zu. Es entbehrt dabei nicht der Ironie, daß im Zuge dieser Entwicklung und auf dem Hintergrund der politisch-sozialen Ordnungsabsichten auch Stimmen laut wurden, die vor einer übermäßigen Identifikation der Jugendlichen mit den Heldengestalten der Unabhängigkeitsbewegung, die an anderer Stelle immer wieder gefordert wurde, warnten. "Unser Amerika", so der Staatspräsident Carlos Pellegrini 1891 (Mabragaña 1910, V 47f), benötige keine "großen Amerikaner noch Befreier" im Stil eines Bolívar oder San Martin,

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sondern durchschnittliche Bürger, die "gleichmäßig", ruhig und friedfertig ihre politischen Rechte und staatsbürgerlichen Pflichten ausüben würden. Über die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts hinaus bestand ein öffentliches Erziehungswesen in Argentinien nur rudimentär. Als das Erziehungsministerium 1863 (vgl. Memoria 1900) statistische Angaben von den Provinzregierungen über die Schülerpopulationen erbat, waren die Ergebnisse vor allem im Landesinnern katastrophal. Der Gouverneur von San Juan berichtete, daß von 1S.S31 schulpflichtigen Kindern nur 643 eine Art von Schule besuchten, und in San Luis waren es ca. 70 bis 80 von insgesamt 7.000 bis 8.000. In La Rioja existierte überhaupt kein Schulwesen. In der Provinz Buenos Aires betrug der Anteil der Schüler an der Gruppe der Schulpflichtigen 186S knapp 5%; günstiger sah es in der Stadt Buenos Aires aus, wo die Quote 1869 bei ca. 20% lag. Die Volkszählung von 1869 stufte 80% der Bevölkerung als nicht alphabetisiert ein. Die Anstrengungen, die zur Beschulung staatlicherseits unternommen wurden, waren nach dem Ende des Kriegs der Triple Alianza beträchtlich, wurden jedoch von der demographischen Entwicklung überholt. Die Analphabetenquote lag 1914 im Landesdurchschnitt bei ca. 35%, ñel im Landesinnern jedoch weitaus höher aus (Santiago del Estero und Jujuy jeweils ca. 65%; Salta 54%; Tucumán 51 %). In Buenos Aires betrug sie demgegenüber 18% (Tedesco 1986, 133f). Im Jahr 1862, als Mitre das Amt des Staatspräsidenten antrat, existierten im Gebiet der Föderation nur zwei Sekundärschulen, die aus Bundesmitteln gefördert wurden, nämlich das Colegio de Monserrat in Córdoba sowie das 1849 durch Urquiza begründete Colegio de Concepción del Uruguay, das sich in seiner Konzeption an dem französischen lycée orientierte und später als Modell der staatlichen Sekundärschulen fungierte (vgl. Roig 1972). Im Jahr 1863 veranlaßte die Regierung Mitre die Gründung des Colegio Nacional in Buenos Aires, dem nach 1865 entsprechende Einrichtungen in anderen Provinzen folgten. Als Sekundärschule bereitete das Colegio Nacional auf das Universitätsstudium vor. Die Funktion der Schule war, zumindest in der ursprünglichen Konzeption Mitres, explizit politisch konzipiert, was im übrigen auch bereits für das Colegio de Concepción del Uruguay gegolten hatte, das Kinder der Elitefamilien auf politische Führungsaufgaben innerhalb der Konföderation vorbereiten sollte. Aus dieser politischen Funktionszuweisung an das Sekundarschulwesen erklärte sich zugleich die besondere Förderung, die die Regierung Mitre diesem Schultyp in Vergleich zu dem Primarbereich zukommen ließ1. Die Sekundärschulen sollten dazu dienen, mittels einer humanistischen Bildungskonzeption und im Sinn der Elitenbildung die Schulabgänger darauf vorzubereiten, im Anschluß an das Universitätsstudium leitende Funktionen innerhalb

1

Hodge (1987, 47) argumentiert, daß diese Diskrepanz möglicherweise nicht so stark ausgefallen wäre, wenn die Staatsfinanzen durch den Krieg der "Triple Alianza" nicht in dem Maße in Mitleidenschaft gezogen worden wären.

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der staatlichen Administration auszuüben (vgl. Solari 1949, 204). Die Schulen richteten sich dabei insbesondere auch an die Jugendlichen, deren Eltern den sozialen und politischen FChrungsschichten im Landesinnern angehörten und die über schulische Sozialisationsprozesse in eine von Buenos Aires aus kontrollierte Strulctur politisch-sozialer Karrieren überfuhrt werden sollten. Unter diesem Gesichtspunkt betrachtet, bestand die politische Funktion der colegios darin, zur Schwächung besonderer politischer oder kultureller Identitäten im Landesinnern beizutragen, wobei offen bleibt, wie erfolgreich diese Politik war. Skepsis ist hier angebracht, benutzte doch etwa das colegio in Mendoza zunächst chilenische Lehrbücher, nicht aber die bonaerensischer Verlage. Unter der Regierung Sarmientos autorisierte der Kongreß ferner Ende 1869 die Gründung der Escuelas Normales. Dieser Schultyp diente der Ausbildung von Lehrern für den Primarschulbereich, worin sich die Aufmerksamkeit dokumentierte, die Sarmiento, seit 1868 Staatspräsident des Landes, der Alphabetisierung und Erziehung breiter Bevölkerungsschichten widmete. Hinsichtlich der Gestaltung des Geschichtsunterrichts ist zu konstatieren, daß Absolventen der Lehrerbildungsanstalten auch in dem Bereich der Geschichtsschulbuchproduktion tätig wurden, wodurch die bis dahin ausschließlich historiographische Konzeption der Bücher durch pädagogische Fragestellungen und Kriterien ergänzt und der Kreis derjenigen, die Geschichte schrieben, erweitert wurde. Auch Frauen, wie Juana Manso de Noronha oder später Tomasa Sánchez, die als Lehrerin am colegio in Concepción del Uruguay tätig war, zählten dazu. Sowohl an den Sekundärschulen wie den Lehrerbildungsanstalten wurde der Geschichtsunterricht als Pflichtfach eingerichtet. Geschichte wurde dabei jedoch anfangs in erster Linie als Universalgeschichte, d.h. vor allem antike bzw. europäische Geschichte unterrichtet, während das Gewicht der nationalen bzw. amerikanischen Geschichte vergleichsweise gering war. Ein eigenständiges Fach für argentinische Geschichte und staatsbürgerliche Erziehung wurde am Colegio Nacional in Buenos Aires erstmals durch ein Dekret der Regierung vom 23. Februar 1869 geschaffen. Die Lehrpläne wurden in der Folgezeit häufig modifiziert (vgl. Cassani 1938), wobei diesen curricularen Veränderungen grob zwei Entwicklungstrends eigen waren. Erstens wurde das Gewicht des Fachs Geschichte in den Lehrplänen generell gestärkt, und zweitens gewann die Betrachtung der argentinischen Geschichte darin eine immer größere Bedeutung gegenüber der Universalgeschichte2. Als Zäsur in dieser Entwicklung kann

2 In den colegios stieg die Stundenzahl, die dem Geschichtsunterricht, auf mittlerweile sechs Schuljahre verteilt, gewidmet war, von insgesamt 12 Wochenstunden im Jahr 1874 auf 17 im Jahr 1879 und 18 im Jahr 1888, ehe sie 1891 auf 14,5 Stunden zurückging. Im Jahr 1884 wurde erstmals der Stundenanteil der Universalgeschichte von dem für argentinische und amerikanische Geschichte übertroffen, und im Jahr 1888 standen 12 Wochenstunden für argentinische und amerikanische nur 6 Stunden für allgemeine Geschichte gegenüber (Tedesco 1986, 119).

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ungefähr das Jahr 1880 gelten. Erst danach erschien der Geschichtsunterricht nicht länger als untergeordnetes Beiwerk moralisierender, die Charakterbildung betreffender Erziehungsanstrengungen, sondern gewann eine zentrale Stellung im Rahmen der Nationalerziehung und der staatlich kontrollierten, politischen Sozialisationsabsichten. 2. Historisch-politische Sozialisation im Schulbuch Die vergleichsweise geringe Bedeutung des Schulwesens im La Plata-Raum in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts drückte sich unter anderem darin aus, daß es eine Schulbuchproduktion bis in die fünfziger Jahre hinein kaum gab. Auch Geschichtslehrbücher waren weitgehend unbekannt, und historisch-politische Kenntnisse oder Wertorientierungen wurden, sehen wir von dem Buch von Deán Funes ab, allenfalls im Leseunterricht oder in grober Form in den Katechismen vermittelt. Das erste Buch, das dabei Verwendung fand, war der "Tratado de las Obligaciones del Hombre, adoptado por el Exmo. Cabildo para el uso de las escuelas de esta capital". Dabei handelte es sich um eine um Paragraphen und Artikel geordnete Form des Katechismus, der zur moralischen Erziehung beitragen wollte. Verfaßt war das Buch von dem spanischen Geistlichen Juan Escofquiz (1762-1820), der in der Jugend Ferdinands VII. dessen Hauslehrer gewesen war; den Nachdruck des Textes hatte der Stadtrat von Buenos Aires bereits im November 1810 beantragt. Politische Aussagen im Sinn eines kreolischen Staatspatriotismus enthielt der Text naturgemäß nicht. Unterschieden waren vielmehr drei Verhaltenssphären ("I. Obligaciones para con Dios: II. Obligaciones respecto de nosotros mismos: III. Obligaciones para con los demás hombres"), wobei die christlich-ethisch bzw. religiös bezogenen "Pflichten" an der ersten Stelle standen, den größten Teil des Textes einnahmen und der Propagierung der katholischen Glaubenslehre und daraus abgeleiteter Verhaltensmuster dienten. Eigentlich politische Aussagen enthielt der Text nur in den Paragraphen VI ("Respecto al Soberano y sus ministros") und VII ("Respecto a la patria"), d.h. auf insgesamt drei von 142 Seiten. Daß das Buch, das im Grunde den Gehorsam gegenüber der Krone anmahnte, noch 1816 in Buenos Aires erscheinen konnte, ist bemerkenswert, mag aber erstens an dem Fehlen an Unterrichtsmaterialien und zweitens daran gelegen haben, daß der Text pauschal den "respecto a nuestro gobierno" (98) propagierte, d.h. den spanischen Monarchen nicht namentlich erwähnte. Dennoch bleibt zu konstatieren, daß die konservativen Elitegruppen, die den Stadtrat von Buenos Aires beherrschten, offenbar an einem Lehrbuch Gefallen finden konnten, das über moralisierende Erörterungen auf die Schaffung eines pauschalen Gehorsams gegenüber der Regierung abzielte. In dieses Bild fügt sich auch, daß der Stadtrat Anfang Februar 1811 200 Exemplare des von Moreno übersetzten Contrat social von Rousseau, den die "jakobinischen" Kreise als Schullektüre verwendet sehen wollten, an das Druckhaus zurückgehen ließ. Im republikanischen Sinn konzipiert war demgegenüber der "Catecismo Político Cristiano", der 1810 in Chile verfaßt wurde und gegen Ende des Jahres

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auch in den La Plata-Raum Eingang fand. Ziel des Katechismus, dessen Autorenschaft bis heute umstritten ist, war es, im chilenischen Raum für die Einrichtung einer "nationalen", zentralistisch ausgerichteten junta nach dem Vorbild von Buenos Aires zu werben. Der Text warb für einen staatsbürgerlichen Nationgedanken bzw. aufklärerische Erziehungsvorstellungen im staatspatriotischen Sinn. In formaler Hinsicht war er nach dem Wechselspiel von Frage und Antwort aufgebaut. Er stellte zuerst unterschiedliche Regierungsformen vor, wie die Monarchie, den "Despotismus" und die Republik, um dann ihre Nach- und Vorteile abzuwägen und schließlich ein Plädoyer für die "republikanische Regierung" zu halten. Ein breites Gewicht legte der Katechismus auf die Legitimierung einer anti-spanischen und gegen die Krone gerichteten Politik, in der der Gedanke des Gesellschaftsvertrags eine zentrale Rolle spielte. Welche Verbreitung dieser Text in Buenos Aires fand, ist unklar. Den wohl wichtigsten politischen Katechismus, der im La Plata-Raum von kreolischer Seite aus verfaßt wurde, stellte Esteban Echeverrías "Manual" dar. Geschrieben wurde dieser Text aber erst im Jahr 1844. Der Katechismus Echeverrfas hatte einen ähnlichen Aufbau wie der "Tratado" von 1816, aber die historisch-politischen Erörterungen beanspruchten bei Echeverría 28 von 79 Seiten und stellten den inhaltlichen Schwerpunkt dar. Grob untergliedert, verfolgte Echeverría drei Ziele. Zunächst diente der Rekurs auf die christliche Moral nicht der Propagierung religiöser Gefühle, sondern umgekehrt der Anbindung der patria an religiöse Vorstellungen und damit ihrer Sakralisierung ("...lo que llamamos el Culto de la Patria, porque entendemos que el amor a la patria, para ser fecundo, debe tomar el carácter de una religión racional"; VI). Zweitens ging es Echeverría darum, die Mairevolution von 1810, deren Gedenken durch die Bürgerkriege "verschüttet" sei, zu "rehabilitieren". Und drittens schließlich verfolgte Echeverría das Ziel, staatsbürgerliche Tugenden und Verhaltensweisen im Sinn der staatspatriotischen Erziehung zu propagieren, "[para] fundar la Democracia" (37). Eigentlich narrative Teile über die Geschichte fanden sich in dem Buch deshalb noch nicht; ihnen begegnen wir erstmals in einem Text von Marcos Sastre (1900, 40f), der 1856 in der ersten Auflage erschien und einen kurzen kulturgeschichtlichen Abriß über die Guarani-Indianer enthielt. Diese Tradition politischer Katechismen wurde, in veränderter Form, in den neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts wiederaufgegriffen, als verstärkt Bücher zur staatsbürgerlichen Erziehung erschienen. Besonders hervor taten sich auf diesem Gebiet einmal José Manuel Eizaguirre, ein Journalist baskischer Herkunft, der mit der Tageszeitung "La Prensa" zusammenarbeitete und mitristisch gesonnen3 war, und dann Andrés Ferreyra, ein in Buenos Aires geborener Lehrer und später Generalinspekteur des "Consejo Nacional de Educación". Eizaguirre konzipierte in seinem Lehrbuch ein organisches Gesellschaftsmodell,

3

Vgl. die Referenz an Mitre (Eizaguirre 1894, 109).

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indem er die Nation als den Zusammenschluß der einzelnen "Heimstätten" bzw. Familien definierte. Bezüge auf die Geschichte waren spärlich, was auch für die StaatsbfirgerkundebGcher Ferreyras galt, der vor allem Themen alltagsweltlicher Art vorstellte, um daraus Verhaltenslehren abzuleiten und darzulegen. Dieses Prinzip fand sich auch in den späteren Büchern Ferreyras (1915, 1916). Die Geschichte besaß insofern in den staatsbürgerkundlichen Büchern, die nach 1890 erschienen, einen nur geringen Stellenwert. Vielmehr überwog darin weiterhin ein moralisierender Grundton, um die Kinder zu einem in ethischer Hinsicht "richtigen" Verhalten anzuleiten. Der "Respekt gegenüber der Ordnung" stand dabei bei dem Versuch, den "Geist" und die "Fähigkeiten des argentinischen Staatsbürgers" zu entwickeln, an oberster Stelle der politischen Werteskala (Ferreyra/Suárez 1892, IXff). Dieses geringe Interesse der staatsbürgerkundlichen Bücher an der Geschichte erklärte sich aus verschiedenen Gründen, so auch aus lernpsychologischen Erwägungen, da es umstritten war, inwieweit Kinder im Primariabereich überhaupt die kognitive Fähigkeit besitzen würden, Geschichte aufzufassen. Wichtiger allerdings dürfte die politische Konstellation gewesen sein. Die Konzentration der Texte auf die Aufstellung von eher allgemeinen Verhaltensmaßregeln sollte eine formale Disziplin und Gehorsamsbereitschaft einüben, an der den politischen Führungsgruppen auf dem Hintergund der um und nach 1890 sich verschärfenden sozialen Konfliktpotentiale in der Gesellschaft nachhaltig gelegen war. Die staatsbürgerkundlichen Texte der neunziger Jahre verfolgten insofern primär das Ziel der Sozialdisziplinierung, nicht das der historischen Identitätsbildung. Eine Kodifizierung des "nationalen" Geschichtsbilds betrieben die Geschichtslehrbücher. Die ersten Schulbücher zur argentinischen Geschichte erschienen nach 18S8, d.h. sie wurden noch vor der Schlacht von Pavón konzipiert und auf den Markt gebracht. Was ihre politischen Identifikationen und konkret die Verwendung des Nationbegriffs anging, konnten sie aus diesem Grund recht unterschiedlich ausfallen. So vertrat Edelmiro de Casas Redruello in seinem Lehrbuch "Glorias de Buenos Aires" (1861, 3f) noch eng lokalpatriotische Vorstellungen, die auf die Schaffung eines bonaerensischen Nationalbewußtseins abzielten ("Ilustre Buenos Aires: voy á cantar tus glorias ..., patria amada"). Was die Stoffverteilung betraf, besaß die Behandlung der Unabhängigkeitsbewegung ein deutliches Übergewicht. Die Bücher der actores y testigos befaßten sich, weil ihre Geschichtsschreibung auf ihren persönlichen Erlebnissen der Geschichte beruhte, ausschließlich mit diesem Zeitraum: Iriarte behandelte die Jahre 1818 bis 1825, und Deán Funes die von 1816 bis 1818 bzw., in der Erweiterung des Textes durch Zinny, bis 1828. Verglichen zu diesen Büchern stellte die Arbeit von Luis L. Domínguez (1861) einen beträchtlichen Fortschritt dar. Domínguez (1819-1898), u.a. in Regierungsämtern bzw. im diplomatischen Dienst tätig, behandelte auf insgesamt ca. 500 Seiten den Zeitraum zwischen 1492 und 1820, wovon ca. 20% den Entdeckungen und der kolonialen Gesellschaftsordnung gewidmet waren, 20% dem Vizekönigreich bzw. den bourbonischen Reformen und 60% der Unabhängigkeitsbewegung zwischen 1810 und

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1820. Aufschlußreich ist, daß Domínguez in einer späteren Ausgabe des Buches von 1868 den Darstellungszeitraum bis zum Jahr 1807, also den Zeitpunkt der zweiten englischen Invasion, begrenzte. Diese Zurücknahme des Erzählzeitraums drückte die Schwierigkeiten aus, ein Bild der republikanischen Geschichte nach 1810 zu zeichnen, das im Argentinien der sechziger Jahre politisch konsensfähig war. Im allgemeinen lassen sich zwei Trends in der Schulbuchhistoriographie zwischen etwa 1860 und 1880 beobachten. Erstens wurde der Erzählzeitraum, ohne daß dies allerdings für alle Bücher gegolten hätte, in zunehmendem Maße in die jüngste Geschichte der Region hinein verlängert. Während die von Juan María Gutiérrez verfaßte "Historia argentina", die 1862 erstmals erschien, im Jahr 1810 endete, behandelten Estradas "Lecciones" von 1868 den Zeitraum von 1492 bis 18S2, und Juana Manso de Noronha, deren erste Ausgabe ihres "Compendio" aus dem Jahr 1862 bis 1816 reichte, behandelte in der achten Auflage des Buches von 1881 den Zeitraum bis 1874. Zweitens ist festzustellen, daß sich in den Texten die Gewichtung zwischen der kolonialen und der republikanischen Geschichte zugunsten der ersteren verschob. Hatte der Zeitraum um und nach 1810 bei Casas Redruello ca. 75% und bei Domínguez ca. 60% des Textes ausgemacht, so umfaßte er in der ersten Auflage des Buches von Manso de Noronha ca. 55%, bei Gutiérrez ca. 50% und bei Pressinger nurmehr 40%. Zwar ist einschränkend anzumerken, daß die hier vorgenommene Quantifizierung mitunter ungenau ist, was insbesondere damit zusammenhängt, daß in den Büchern auch Zeiträume vor 1810 als Teil der Unabhängigkeitsbewegung behandelt wurden, wie etwa die englischen Invasionen von 1806/07. Dennoch zeichnete sich in den Büchern ein Trend dahingehend ab, daß die Darstellung der Kolonialgeschichte an Gewicht gewann, was mittelfristig auch mit der Neubewertung des hispanischen Erbes der Gesellschaft im Zuge der sozialen Wandlungsprozesse und der europäischen, vor allem italienischen Zuwanderung zusammenhing. Auf diesen Punkt wird später noch ausführlicher zurückzukommen sein. Was den Begriff der Nation betraf, wie er in den Büchern verwendet wurde, fand sich die engste Anlehnung an den politischen Diskurs der kreolischen Eliten um und nach 1810 bei den Autoren, die der Generation der actores y testigos zugehörig waren. Im Rückgriff auf die zeitgenössische Terminologie wurde die Nation in diesen Büchern in vager Form als "Familie" umrissen4. Entsprechend dem Fortgang der politischen Entwicklung fanden sich in den Schulbüchern, die nach 1860 geschrieben wurden, Bemühungen, den Nationbegriff zu präzisieren. So argumentierte Manso de Noronha (1862, 43), ohne dies allerdings näher zu erläutern, daß sich im Zuge der Kolonialgeschichte der "Keim der Nation" bereits entwickelt habe. Interessant ist, daß in späteren

4

Funes 1875, 30: "La disputa del los orientales con la capital era una querella de familia [...]"; Iriarte 1858, 38: "[...] la familia argentina".

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Auflagen (1881, 37) des Buchs diese Formulierung verändert wurde: An die Stelle des Begriffs der Nation wurde der des Volkes gesetzt ("... ese elemento en germen era el Pueblo"). Darin dokumentierte sich ein Zugeständnis an die Realität der Staats- und Nationbildung in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, vor allem jedoch eine Hervorhebung der Tätigkeit Mitres als "Organisator" (1881,144) der Nation nach 1862. Gutiérrez argumentierte in seinem Lehrbuch, daß sich im Zuge der Kolonialgeschichte eine Verbundenheit der Kreolen mit ihren Geburtsregionen entwickelt habe, und definierte die englischen Invasionen von 1806/07 als Anstoß für die Ausbildung eines eigenständigen Nationalbewußtseins im politischen Sinn. Eine zentrale Rolle spielte für Gutiérrez (1877, 96) dabei der Begriff der Volkssouveränität, deren Entfaltung als Kriterium der Nationwerdung fungierte. Domínguez (1861, 110) ging, auch dies ein Beleg seiner differenzierteren Betrachtungsweise der Kolonialgeschichte, sowohl auf den Beitrag der Jesuiten wie auch den der spanischen Beamten, wie Azara, auf die Entwicklung eines kreolischen Eigenbewußtseins im amerikanischen Raum ein und hob die wirtschaftliche Entwicklung im Vizekönigreich hervor, die die Emanzipationsbewegung befördert hätte. Eine zentrale Funktion als nationbildendes Element wies Domínguez den militärischen Auseinandersetzungen und Grenzstreitigkeiten mit den Portugiesen im 18. Jahrhundert in der Banda Oriental zu. Die Darstellung von Estrada unterschied sich in einem wesentlichen Punkt von der in den anderen BGchern. Während es bis dahin in den Schulbüchern üblich war, den Caudillos die alleinige politische Verantwortung für die sogenannte Anarchie in der Region nach 1813 bzw. 1820 zuzuschreiben und ihre Gefolgschaften, die sogenannten Gauchos, als barbarische Banden zu verurteilen, hob Estrada die Gauchos umgekehrt als das eigentliche Element einer argentinischen Nationalität hervor: "La naciónera gaucha en su elemento más abundante y varonil [...]" (Estrada 1898, II 10). Die Argumentation Estradas stellte damit eine Verschiebung der Perspektive dar, unter der die Geschichte der Region nach 1810 gemeinhin betrachtet wurde, weil nunmehr die ländlichen Gebiete und die darin lebenden, unteren Bevölkerungsgruppen an Stelle der Stadt und ihrer Eliten als die eigentlichen Bewegkräfte der nationalen Entwicklung sowie als das Herkunftsmilieu bzw. als die Träger nationaler Werte erschienen. Indem die Nation als gaucha definiert wurde, hinterfragte Estrada das politisch-historische Selbstverständnis des bonaerensischen Liberalismus wie allgemein das aristokratische Geschichtsverständnis der politischen Führungsgruppen. Insofern begegnen wir in dem Geschichtsbild Estradas einer frühen Form des sogenannten Geschichtsrevisionismus5. Die Politik der Regierung, die Konsolidierung von Staat und Nation auch durch den Ausbau des Geschichtsunterrichts zu fördern, gab der Schulbuchproduktion seit den achtziger Jahren einen Aufschwung. Nicht allein, daß die Zahl der geschriebenen Schulbücher anstieg; zu konstatieren ist vielmehr auch,

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Vgl. dazu das Kapitel 6.2 in dieser Arbeit.

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daß sich die fuhrenden, liberalen Historiker unter die Schulbuchautoren einreihten oder aber zumindest um eine Popularisierung ihrer Geschichtsbilder bemühten. Vicente Fidel López publizierte 1896 ein Lehrbuch zur argentinischen Geschichte. Im Jahr 1906 wurden postum Mitres "Páginas de historia" veröffentlicht, die zwar kein Lehrbuch darstellten, die jedoch die zentralen Aussagen seines Geschichtsbilds in kurzen Beiträgen zusammenzustellen und in populärer Form aufzubereiten suchten. "El General Mitre deseaba", so Roberto Payró in dem Vorwort, "que á través de estos escritos se leyese la historia patria como una novela". Deutlich wurde das Bemühen der Historiker, Geschichte nunmehr, auch aufgrund der zunehmenden Lesefähigkeit größerer Bevölkerungskreise, in pädagogischer oder aber popularisierter Form aufzubereiten und dadurch dem national-erzieherischen Anliegen, das verstärkt von politischer Seite aus vorgetragen wurde, gerecht zu werden. Die Konzeption des nationalen Geschichtsverständnisses blieb darin jedoch die alte. Die Bücher von López und Mitre, aber auch die anderer Autoren6, ordneten die nationale Geschichte weitgehend um die Unabhängigkeitsbewegung und betrachteten das Problem der Nationbildung mehr oder minder ausschließlich unter dem Gesichtspunkt des Verhältnisses von Staat, Nation und Provinz, während demgegenüber die soziale Dimension der Nationbildung wie auch die durch die massive europäische Zuwanderung aufgeworfenen Integrationsprobleme des Landes vollständig ausgeblendet blieben. Die Geschichtsbücher ließen die nationale Geschichte, abhängig von der politischen Betrachtungsweise und den damit verbundenen Sympathien für die Konföderation oder aber den bonaerensischen Liberalismus, in die Geschehnisse der Jahre 1851/52 oder aber 1861/62 einmünden. Dies galt auch für den Fall, daß Ereignisse aus den siebziger oder achtziger Jahren behandelt wurden, da die Präsidentschaften Mitres (1862-1868), Sarmientos (1868-1874) und Avellanedas (1874-1880) nur als kontinuierliche Fortsetzung der zuvor getroffenen politischen Grundsatzentscheidungen galten. Der Prozeß der Nationalen Organisation wurde insofern verklärt und als ein völlig konfliktfreies, sich progressiv entwickelndes Geschehen dargestellt. Die Bücher hielten an der Dominanz der politischen Ereignisgeschichte, mitunter auch der Kriegsgeschichte fest und verfolgten eine personalisierende Geschichtsbetrachtung7, die die Merkmale der argentinischen Nation in einem Pantheon vorbildlicher Heldenfiguren zu komprimieren versuchte. Aus diesen Übereinstimmungen in der Geschichtsdarstellung schließen zu wollen, daß sich nach ca. 1860 ein mehr oder minder einheitliches und festgefügtes, liberales Geschichtsbild in den Büchern ausgebildet habe, ist deshalb jedoch nicht möglich. Vielmehr kennzeichnete die Bücher eine nicht unbeträcht-

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Beispielhaft Errotaberea 1910. Vor allem jedoch das Buch von Grosso, das 1893 in der ersten Auflage erschien und noch 1961 in einer erweiterten und modifizierten Fassung verlegt wurde. 7 Etwa Fregeiro 1894; Avellaneda 1902.

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liehe Spannbreite der Geschichtsinterpretation. Eigentlich mitristisch war nur das "Compendio" von Manso de Noronha, die ihr Buch im übrigen auch Mitre gewidmet hatte. Fragen wir nach den Gründen, die die Unterschiede in der Geschichtsdarstellung erklären, so sind eine Reihe von Faktoren zu nennen. Zuerst ist zu berücksichtigen, daß die Bücher in unterschiedlichen Entwicklungsphasen der Gesellschaft geschrieben wurden. Die Schulbücher von Domínguez und Manso de Noronha z.B., die 1861 bzw. 1862 erschienen, spiegelten noch den offenen Interessenkonflikt zwischen Buenos Aires und der Konföderation ab. Der Beitrag der Geschichtsschreibung bestand in diesem Zeitraum noch primär in der Ordnung der Geschichte und der Verbindlichmachung als national gesetzter Traditionen und damit verbundener, politischer EntwicklungsVorstellungen. Bei den späteren Büchern stand demgegenüber die gesellschaftspolitische Stabilisierungsfunktion im Vordergrund. Die, pauschal formuliert, frühen Bücher betonten, was mutmaßlich auch mit den biographischen Erfahrungen ihrer Verfasser zu tun hatte, die diskontinuierlichen, bruchhaften oder auch stationären Elemente des GeschichtsVerlaufs. Im Zuge der weiteren Schulbuchproduktion gewann demgegenüber das Bild eines mehr oder minder kontinuierlichen Entwicklungsprozesses an Gewicht, das in ein progressistisch konzipiertes Geschichts- und Gegenwartsverständnis einmündete. In Zusammenhang mit dem Geschichtsverlaufsbild standen die Begriffe, die in den Büchern die Geschichtsinterpretation ordneten und die in der Regel dichotomisch angelegt waren. Die klassische Begriffspolarisierung in Kreolen oder Patrioten einerseits und Spanier oder Europäer andererseits, die anzeigte, daß die Geschichte primär auf die Unabhängigkeitsbewegung hin geschrieben war, wurde in dem Maße, wie die Autoren ihre Geschichtsinterpretation auf die Nationale Organisation und die damit verbundenen Entwicklungsprobleme des Landes hin orientierten, durch andere Begriffsdichotomien überlagert. Diese Dichotomie zentrierte sich, in wechselnder Terminologie, um die Begriffe der Ordnung einerseits und der Anarchie andererseits. Gutiérrez (1877, 190) resümierte, daß die Geschichte der Region in nichts anderem bestanden habe als in der "[...] lucha entre los pueblos y la autoridad central, entre los caudillos y las libertades que ellos negaban á los individuos". Pressinger sprach ebenso wie Estrada von der Polarität von Ordnung und Anarchie. Indem in den Büchern die Aufgabe, die Unabhängigkeitsbewegung zu legitimieren, zunehmend durch den Anspruch ersetzt wurde, den politischen Institutionalisierungsprozeß Argentiniens hervorzuheben und zu beschreiben, veränderte sich schließlich auch die Wertung der Geschichte. Dies galt insbesondere im Hinblick auf die Kolonialgeschichte, die in den frühen Büchern noch mehr oder minder pauschal verworfen oder angegriffen wurde, während in der Folgezeit stärker nach den Traditionen einer politischen Organisation Argentiniens vor 1810 gesucht wurde. Eine nicht unwichtige Rolle spielte die konkrete Biographie des Schulbuchautors oder, allgemeiner formuliert, der Generationenwandel derjenigen, die Geschichtslehrbücher schrieben. Die unterschiedlichen Distanzierungsniveaus gegenüber dem erzählten Geschehen, die damit zusammenhingen, nahmen in

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gleicher Weise wie die politischen Überzeugungen der Autoren auf die Gestaltung der Lehrbücher Einfluß. Der Umstand z.B., daß die legitimatorischen Abgrenzungszwänge gegenüber Spanien in den frühen Büchern noch ein außerordentlich hohes Gewicht besaßen, ist auch aus biographischen Faktoren zu erklären. Dies gilt natürlich für die Bücher der actores y testigos, aber auch für Manso de Noronha oder Domínguez, die in einem intellektuellen Milieu aufgewachsen waren, in dem die Auseinandersetzung mit Spanien noch in stärkerem Maße ein Thema des politischen Diskurses dargestellt hatte, als dies in den siebziger oder achtziger Jahren der Fall war. Auch in diesem Punkt illustriert sich ein Wandel der gesellschaftspolitischen Legitimationsansprüche, d.h. die Abgrenzungszwänge gegenüber Spanien traten für jüngere Autoren in den Hintergrund gegenüber dem Bedürfnis, den Prozeß der nationalen Organisation zu beschreiben und zu legitimieren. Hinzu kam die Ausbildung sektorialer Betrachtungsweisen der Geschichte, die die Spannbreite der Geschichtsdarstellungen ausweiteten. Damit ist gemeint, daß die Historiker bzw. Schulbuchautoren über verschiedene Gruppenloyalitäten verfügen konnten, aus denen wiederum unterschiedliche Interpretationen der Geschichte hervorgingen. Ein Beispiel hierfür bildete Antonio Luna, in dessen Lehrbuch (1878, 208) sich eine sehr positive Wertung Urquizas fand und der die Schlacht von Pavón im anti-bonaerensischen Sinn als Niederlage der "Nation" bezeichnete. Dies erklärte sich dadurch, daß Luna, der als Lehrer an dem von Urquiza begründeten Colegio in Concepción del Uruguay gearbeitet hatte, die Geschichte aus der Perspektive einer Provinz im litoral betrachtete. Neben Buenos Aires verfügten auch andere, wenngleich nicht alle Provinzen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts über eine eigene Geschichtsschulbuchproduktion, in der sich die unterschiedlichen, provinzialen Sichtweisen der Geschichte und die überkommenen Ablehnungen des Hegemonialanspruchs von Buenos Aires niederschlagen konnten. Das Lehrbuch von Manuel Soria z.B., 1891 in Catamarca erschienen, war von einer offen anti-bonaerensichen Haltung geprägt, und dem Buch von Toledo Hidalgo, 1905 in Córdoba erschienen, lagen noch in starkem Maße lokalpatriotische Identifikationen zugrunde: "La patria es Buenos Aires para los porteños, son las provincias de Cuyo para los mendocinos y sanjuaninos, es San Luis para los púntanos [...]" (39). Neben diesen Formen sektorialer Betrachtungsweisen, denen provinziale Identifikationen oder Lokalpatriotismen zugrunde lagen, fanden sich solche, die die Interessenlagen einzelner gesellschaftlicher Interessensphären oder auch Institutionen abspiegelten. Dazu zählte zunächst die katholische Kirche, deren Kritik am bonaerensischen Geschichtsbild aus den konfessionellen Überzeugungen, den Vorbehalten gegen das Freimaurertum führender Politiker und den Zweifeln an einem gesellschaftlichen Modernisierungsprozeß genährt wurde, der zum Zerfall der sozialen Ordnung und der traditionellen Werte der Gesellschaft führen würde. Allerdings ist festzustellen, daß die Geschichtslehrbücher, die von Geistlichen geschrieben wurden, wie das des Jesuiten Vicente Gambón, kaum von den gängigen, liberalen Geschichtsdeutungen abwichen. Dies hing mit dem

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beschriebenen Bestreben kirchlicher Kreise zusammen, auch über die Geschichtsbetrachtung politische Loyalitätsbeweise zu erbringen. So überging der Ergänzungsband Gambóns (1905), der den Zeitraum von 1852 bis 1905 behandelte, das Verhältnis von Kirche und Staat und, worauf im folgenden Kapitel noch näher eingegangen wird, konkret den "Kulturkampf" der achtziger Jahre völlig. Einen potentiellen und zunehmend wichtigen Produzenten sektorialer Geschichtsanschauungen stellte dann das Militär bzw. das Offizierskorps dar. Auf dem Gebiet der historisch-politischen Symbolik wurde die Armee frühzeitig zu einem Träger sektorialer Geschichtsanschauungen, d.h. das Zusammenspiel von steigendem politischen Einfluß, militärischem Korpsgeist und allmählicher Professionalisierung des Offizierskorps brachte ein besonderes Selbstverständnis der Militärs hervor, das sich auch in der Ausbildung einer partialen Betrachtungsweise der Geschichte niederschlug. Erste Ansätze dazu hatten sich bereits in den Arbeiten der actores y testigos gefunden, so etwa bei Iriarte (1858, 42), der auf dem Hintergrund der Militarisierung der Gesellschaft nach 1810 und der Bürgerkriege die soldatischen Tugenden als Trägerelemente einer argentinischen Nationalität darstellte. In dem 1880 publizierten Geschichtslehrbuch von Agustín Pressinger, der als Dozent an der Militärakademie tätig war, ñnden wir diesen Gedanken erweitert. Pressinger ordnete die Armee in ein "hidalgisches" Selbstverständnis der Nation ein und entwarf damit eine spezifisch militärisch geprägte Traditionslinie, die über die spanischen Heerführer der Eroberungen und die militärischen Unabhängigkeitshelden bis in das sich professionalisierende Offizierskorps der achtziger Jahre hinein verlief. Das Offizierskorps bezog aus diesem Geschichtsbild einen Teil seines Selbstverständnisses als gesellschaftspolitischer Ordnungsfaktor und legitimierte daraus zugleich frühzeitig sein Eingreifen in die Politik. Indem die Armee seit den sechziger Jahren der eigentliche Garant der nationalstaatlichen Konsolidierung war, wurde es möglich, die Armee als Keim der Nation zu interpretieren bzw. Armee und Nation überhaupt zu identifizieren. "Hoy", so ein hoher Offizier 1911, "el ejército es la nación, [...] que le asegura la cohesión de sus partes y la preserva de choques y caídas" (Rouquié 1981,183). Im Zuge der sozialen Wandlungsprozesse der Gesellschaft und der europäischen Einwanderungsbewegung gewann diese Ansicht im frühen 20. Jahrhundert darüber hinaus eine zusätzliche Bedeutung. Die Armee erschien dem Offizierskorps nun nicht länger allein als der Inbegriff der nationalen Ordnung, sondern darüber hinaus auch als eine zentrale Sozialisationsinstanz der Nation, weil sie, wie es in einer Ansprache an die Kadetten 1915 hieß, aus einem "hybriden und konfusen Bevölkerungskonglomerat", das die soziale Ordnung wie auch die Kultur des Landes bedrohen würde, erst argentinische Staatsbürger machen würde. Diese politisch-pädagogische Funktion, die die Armee für sich reklamierte und die sich im übrigen auch darin dokumentierte, daß

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Offiziere als Autoren von Schulgeschichtsbüchern fungierten*, richtete sich dabei sowohl gegen die "barbarischen" Rekruten aus dem Landesinnern wie auch gegen die Söhne der "exotischen" Zuwanderer (Rouquié 1981,1 84). Das Offizierskorps beanspruchte damit für die Armee eine hervorgehobene Stellung als eigentliche Trägergruppe der Nation wie auch als nationale Integrationskraft, wobei die Abwehr gegen eine vorgebliche Überfremdung der Nation und ihrer Werte durch die europäische Zuwanderung eine zunehmend wichtige Rolle spielte. In historischer Perspektive pflegte das Offizierskorps den Kult der militärischen Heldenfiguren und insbesondere den des Generals San Martin. So schlug die Offizierskommission, die 1877 den Lehrplan der Militärakademie überarbeitete, vor, den Geschichtsunterricht auf die großen Schlachten und die "Geschichte der großen Generäle, die sie führten", zu begrenzen (Garcia Enciso 1970, 567). Die Geschichtsvorstellungen des Offizierskorps waren insoweit kongruent zu der offiziellen patriotischen Liturgie, beanspruchten aber eine Art Führungsrolle für die militärischen Heidenfiguren im "Olymp" der Nation. Mitunter führte dies zwischen Offizieren und Historikern zu einem kuriosen Wettbewerb um Superlative. So pries der Oberst Mosconi (Mosconi 1938, 23) den General San Martin 1918 in den Worten, er sei "[...] el más grande, el más virtuoso, el más justo, el más inteligente, el más modesto, el más sobrio, el más desinteresado, el más sagaz, el más infatigable y el más clemente de sus [der Nation] hijos." Schließlich fallen in diese Rubrik sektorialer Geschichtsanschauungen auch die Bücher, die eine spezifische politische Interessenkonstellation abbildeten und nicht etwa die Legitimation von Staat und Nation an sich, sondern die einer konkreten Regierung bezweckten. Dies war bei Mariano Pelliza (1837-1902) der Fall, der ein Offizierssohn, Schüler von Vicente Fidel López und Parteigänger des Generals Roca war. Pelliza betrieb zuerst in seinem "El Argentino", 1885 geschrieben, eine offene Legitimation der Regierung Roca bzw. der Politik der Liga. Dazu zählten die Betonung des Militärs bzw. des Offizierskorps als Entwicklungsfaktor der Nationwerdung, dann der Entwurf eines integrierenden nationalen Pantheons, an dessen Spitze San Martin stand ("el campeón argentino"; 79), ferner die Einfügung Rocas in dieses Pantheon, weil dieser die Feldzüge gegen die indianische Bevölkerung 1879/80 kommandiert hatte, sowie schließlich die Unterstreichung der Rolle, die die Provinzeliten im nationalen Entwicklungsprozeß spielten. In dem Buch "Glorias argentinas" (1889) führte Pelliza diese Anschauungen weiter aus, wobei vor allem die Bewertung Rivadavias, der "schwere Fehler" begangen habe, sowie die bewußt gegen Mitre

* Neben Pressinger (1880) ist hier das Buch des Obersten Juan M. Espora (1907) zu nennen, das die Nationalgeschichte als "Titanenkampf (50 militärischer Heldenfiguren deutete, wozu im übrigen auch Roca zählte (148f).

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gerichtete Wortwahl über San Martin Erwähnung verdienen'. Die Bücher Pellizas bildeten insoweit im Schulbuchbereich die regierungsamtliche Interpretation der Geschichte unter den Regierungen von Roca (1880-1886) und Juárez Celman (1886-1890) wohl am genauesten ab. Andere Bücher folgten hier demgegenüber der Sichtweise des bonaerensischen Liberalismus, was mitunter nur an den Feinheiten der Wortwahl deutlich wurde, so wenn etwa Aubin (1897, 69, 76) San Martin als "el más ilustre caudillo argentino" bezeichnete, Rivadavia aber als "quizá el más ilustre de todos". 3. Historische Denkmäler Für den Zeitraum von 1810 bis 1860 können für den La Plata-Raum nur drei historische Denkmäler nachgewiesen werden. Dabei handelte es sich um die sogenannte Maipyramide, die auf die Initiative des Stadtrats hin im Mai 1811 in Buenos Aires errichtet wurde, ferner das Denkmal für Francisco Ramírez, das 1827 in Concepción del Uruguay aufgestellt und 1858 auf die Veranlassung von Urquiza hin restauriert wurde, sowie schließlich ein Denkmal, das 1828 in Corrientes erstellt wurde und an die Gründung der Stadt erinnern sollte. Umfangreicher gestaltet sich das Bild, wenn man die Grabstätten und ihre Gestaltung hinzuzieht. 1822 wurde auf Betreiben Rivadavias hin in Buenos Aires der Nordfriedhof (heute: Recoleta) angelegt, auf dem auch, wie es in der Zeitung "El Argos" im November des Jahres hieß, die "verdienten" ciudadanos ihre Ruhestätte finden sollten (vgl. Espantoso 1992, 4). Bis in die sechziger Jahre hinein fanden die Gräber jedoch kaum eine symbolische Ausgestaltung, die an eine breitere Öffentlichkeit gerichtet gewesen wäre. Erst danach ging man zur Errichtung von gestalteten Grabstätten, auch Mausoleen, über, die in Stein gehauene Standfiguren oder Büsten und auch Aufschriften aufwiesen, wodurch die Grabstätte zu einem potentiell öffentlichen Monument erweitert wurde. Die Errichtung der Maipyramide stand im Kontext der Maifeierlichkeiten des Jahres, die der Stadtrat von Buenos Aires auf seiner Sitzung vom 21. März 1811 beschlossen hatte. Es wäre, so der Stadtrat (Payró 1972, 30), "[...] indispensable necesario haver al público un recuerdo del grande y primer dia de su regeneración política", wobei das Ziel dieser Feiern darin bestünde, "[imprimir] en el corazón de nuestros compatriotas la idea de conservar á cualquier costa la livertad de estas regiones." Der Stadtrat verfügte dazu die Errichtung einer "Pyramide", versehen mit "Hieroglyphen", die auf den Gegenstand der Feierlichkeiten hinweisen würden. Über den Symbolgehalt des Denkmals kam es jedoch zu Kontroversen. Der Stadtrat hob primär auf die lokalpatriotischen Traditionen ab, d.h. das Denkmal sollte an den Kampf von Buenos Aires gegen die englischen Invasionen 1806/07 sowie an die Rolle der Stadt im Mai 1810 erinnern. Die junta dagegen, der auch die Repräsentanten aus dem

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Zu San Martin hieß es, daß dieser (und eben nicht Rivadavia) "el mesias de la libertad" (65, 118) gewesen sei.

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Landesimiern angehörten, forderte den Stadtrat auf, auf eng lokalistische Bezüge in den Feierlichkeiten zu verzichten und allein den Geschehnissen der Mairevolution zu gedenken, die hinsichtlich der politischen Entwicklung von überregionaler Bedeutung waren. Diese Ansicht setzte sich letztlich durch; die Pyramide wurde, auch aufgrund der Kürze der zur Verfügung stehenden Zeit, bis zum 25. Mai 1811 in einer einfachen Form zur Ausführung gebracht, versehen allein mit der Aufschrift "25. Mai 1810". Die Errichtung des Denkmals war mit den politischen Festlichkeiten von 1811 verbunden, zu denen im übrigen noch der Vorbeizug der königlich-spanischen Standarte zählte. Die Verbindung von Denkmal und politischem Fest bewirkte, daß die historisch-politische Symbolik der Maipyramide, die ohnehin allgemein gehalten war, variabel blieb. Die politische Sinnstiftung, die das Denkmal betrieb, blieb offen und hing im Grunde jeweils davon ab, für welche Feierlichkeiten sie gerade als Kulisse diente. In formal-gestalterischer Hinsicht drückte sich dies darin aus, daß das Denkmal an den einzelnen Seiten Flächen bot, die zum Anbringen von Plakaten, Fahnen oder Emblemen geeignet waren. Die Maipyramide wurde sowohl von den "jakobinischen" oder unitaristischen Kräften der Stadt für ihre Festlichkeiten genutzt und jeweils entsprechend ausgeschmückt, so etwa anläßlich der Unabhängigkeitserklärung von 1816 oder des Sieges bei Chacabuco 1817, wie auch von den föderalistischen Kräften und konkret der Regierung Rosas. So waren bei den Feierlichkeiten vom Juli 1838 u.a. die Aufschriften an dem Denkmal angebracht "Unitarios temblad", "Odio a los Unitarios", "Religiòn - Columna del Estado" und "Sin orden no hay patria" (vgl. Zabala 1962, 43). Im Jahr 1839 überwogen demgegenüber stärker allegorische Bilder, d.h. die Aufschriften "Dorrego", "Quiroga", López" und "Heredia", die an caudillistische Führergestalten der föderalistischen Partei erinnerten, waren um Figuren, wie Jupiter, der als Ordnungsmacht dargestellt war, Heiligenbilder und föderalistische Embleme ergänzt (Zabala 1962, 55). Die Maipyramide wurde also von den einzelnen politischen Kräftegruppen für ihre politische Propaganda benutzt, besaß in diesem Zeitraum aber noch keine feste, dauerhafte Symbolik. Der einzig konstante Symbolgehalt der Pyramide, nämlich der Verweis auf die Mairevolution von 1810, war für unterschiedliche historisch-politische Deutungen und Traditionsbildungen nutzbar. Zu einem Nationaldenkmal wurde die Maipyramide erst in den fünfziger Jahren, nach dem die Munizipalität von Buenos Aires 1856 den Umbau der Pyramide veranlaßt hatte. Mit den Planungen dazu wurde Prilidiano Pueyrredón beauftragt, dessen Modell die Anlage eines Gartens, die Pflanzung von Bäumen und die Erstellung zweier Brunnen an den Seiten des Denkmals vorsah. Das Denkmal wurde dadurch zu dem Teil einer Anlage, die seinen sakralen, kultisch-religiösen Charakter unterstrich und einen Raum schuf, der zur politischen

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Andacht einlud10. An der Spitze der Pyramide wurde ein Sonnenrelief eingefügt, hinzu kamen fünf allegorische Figuren, die den Handel, die Landwirtschaft, die Künste, die Wissenschaft sowie die Freiheit symbolisierten, und die von dem Franzosen Joseph Dubourdieu angefertigt waren. Die Freiheit wurde durch eine Frauengestalt dargestellt, die, in Anlehnung an die Allegorie der französischen Revolution, aufrecht stehend die phrygische Mütze trug und in der linken Hand das Nationalwappen, in der anderen eine Lanze hielt. Das Denkmal erhielt dadurch einen geschlossenen, permanenten Sinngehalt, der auf die Mairevolution von 1810 als Ursprung der politischen Freiheit verwies sowie das republikanische Staatswesen mit dem Freiheitsgedanken verband, und der ergänzende Beschriftungen überflüssig bzw. dysfunktional werden ließ. Die allegorische Gestaltung der Freiheit, wie sie in dem bonaerensischen Maidenkmal vorgenommen war, gewann in der Folgezeit einen vorbildhaften und paradigmatischen Charakter für andere Denkmalsgestaltungen in der Region, so wie es auch zur gängigen Praxis wurde, daß französische Künstler und Bildhauer mit den entsprechenden Arbeiten beauftragt wurden. Der Gedanke, historische Denkmäler als "gewollte Erinnerungsstätten" (Boockmann 1981, 232) zu errichten und in dem Denkmal eine politische Idee symbolisch zu repräsentieren, setzte sich in der politischen Öffentlichkeit Argentiniens erst in der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre durch, als zuerst Urquiza bzw. die Munizipalität von Buenos Aires sowie im Jahr 1856 auch die Stadtverwaltung von Dolores, im Süden der Provinz Buenos Aires gelegen, die Gestaltung von Denkmälern veranlaßten. In Buenos Aires handelte es sich dabei zunächst um die Umgestaltung der Maipyramide, die 1856 in Angriff genommen wurde, und dann um das Denkmal für San Martin, das 1862 eingeweiht wurde, bzw. das für Belgrano, das, weil man hier nicht auf Steuergelder, sondern auf Spenden aus der Bevölkerung zurückgriff, erst 1873 fertiggestellt wurde. Geschaffen war damit die Form des Nationaldenkmals, d.h. die bleibende Veranschaulichung des Nationalgedankens in symbolhafter Gestalt. In Argentinien nahm das Nationaldenkmal überwiegend die Form des Heldendenkmals an", d.h. die precursores erschienen als repräsentative Verkörperung oder, wie Mitre (1945, 86) anläßlich der Einweihung des Denkmals für Belgrano 1873 formu-

10 Der sakrale Charakter des Geschichtsbilds fand im Denkmalswesen generell seinen deutlichsten Ausdruck. Vgl. dazu auch die Rede, die der Staatspräsident Sarmiento 1873 anläßlich der Einweihung des Denkmals für Belgrano hielt (1951, XXI 330ff), und in der sich eine Fülle von Reminiszenzen an religiöse Gefühle und Stimmungen fanden: "La República Argentina ha sido trazada por la regla y el compás del Creador del universo [...] He ahí, en esos millares de naves, nuestros misioneros hasta el seno de América. Ved ahí en la masa de este pueblo, el ejecutor de la grande obra, acudiendo de todas partes a alistarse en nuestras filas, y [...] hacerse miembro de la congregación humana que lleva por enseña en la procesión de los siglos hacia el engrandecimiento pacífico, la bandera biceleste y blanca". " Vgl. zum Begriff des Nationaldenkmals und seiner einzelnen Typen Nipperdey 1976, 134f.

1SS lierte, als "Idealtyp" der Nation. Die Heldendenkmäler galten als Kristallisationspunkte der angestrebten nationalen Identifikationen und sollten politisch-pädagogische Vorbilder sinnhaft repräsentieren. Neben San Martin und Belgrano handelte es sich dabei zunächst um Rivadavia, später dann um Paz und Lavalle, Adolfo Aisina, Carlos Tejedor sowie den Bürgermeister von Buenos Aires, Torcuato de Alvear. 1879 und im Kontext der Kontroversen um das Geschichtsbild der Versöhnungspolitik wurde anläßlich der Repatriierung der Reste von San Martin in Buenos Aires ein Mausoleum errichtet, das von dem Franzosen Carrier Belleuse entworfen wurde. Vorgesehen war, daß in der allegorischen Gestaltung die unterschiedlichen Bevölkerungskomponenten (las razas) der drei südamerikanischen Republiken Berücksichtigung finden sollten, an deren politischer Befreiung von Spanien San Martin beteiligt gewesen war. Der mit den Verhandlungen von argentinischer Seite aus beauftragte Minister, Mariano Balcarce, setzte jedoch durch, daß in der Gestaltung des Mausoleums alle Bezüge, auch solche demographischer Art, auf die spanische Kolonialgeschichte vermieden wurden (vgl. Bedoya 1981). Im Jahr 1900 wurde in Buenos Aires ein Denkmal für Sarmiento errichtet, das von dem französischen Bildhauer Auguste Rodin gestaltet war, der den Gegensatz zwischen Zivilisation und Barbarei, für den Sarmientos politisches Denken in der Öffentlichkeit stand, in der Allegorie des griechischen Gottes Apollo abbildete, zu dessen Füßen eine besiegte Schlange lag, die das Chaos, das Dunkle und die Ignoranz symbolisieren sollte. Die Zentenarfeiern von 1910 bzw. 1916, in deren Umfeld die Geschichte in der politischen Öffentlichkeit breit diskutiert wurde, führten dann insofern zu einer Modifikation der Denkmalsgestaltungen, als die Darstellung einzelner Heroen in den Hintergrund rückte. Die Errichtung des Denkmals für Moreno, das 1910 in Buenos Aires eingeweiht wurde, markierte den vorläufigen Abschluß dieser Phase, in der das offizielle Geschichtsbild der Nation in einem Pantheon nationaler Heldengestalten zusammengefaßt wurde. Demgegenüber traten nach etwa 1910 Aspekte der politischen Institutionengeschichte in der Denkmalsgestaltung in den Vordergund. Dies galt für das "Monumento a los dos Congresos", das zwischen 1908 und 1914 in Buenos Aires errichtet wurde, oder die Ausgestaltung der "Casa de la Independencia" in Tucumán 1916. Darin dokumentierte sich das Bestreben der politischen Führungsgruppen, im Sinn der Stabilisierung der politischen Ordnung eine Traditionslinie zu zeichnen, deren Achse der politische Institutionalisierungsprozeß der "Nation" darstellte. Zu erwähnen bleibt abschließend, daß die von der liberalen Geschichtsschreibung verfemten Caudillos des Landesinnern aus diesem Prozeß gesteuerter Geschichtserinnerung lange Zeit ausgespart blieben. Ein Denkmal für Urquiza wurde erst Anfang der dreißiger Jahre in Buenos Aires erstellt, das für Estanislao López in Santa Fe folgte 1942.

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4. Zum Verhältnis von Staat und Kirche Auf dem Hintergrund der staatlichen Zentralisierungspolitik um und nach 1880 wie auch der Ausbildung sektorialer Betrachtungsweisen der Geschichte stellt sich die Frage, wie sich das Verhältnis von Staat bzw. Liberalismus und Kirche gestaltet. Im 19. Jahrhundert besaß der politische Liberalismus im La PlataRaum, wie vermutlich in ganz Hispanoamerika12, weniger den Charakter einer identitätsverbfirgenden Weltanschauung für bestimmte soziale Gruppen als vielmehr den eines Repertoires von Begriffen und Vorstellungen, die, in wechselnder Form und mit wechselndem Interesse, aktualisiert werden konnten. Dennoch ist es möglich, eine Reihe von Charakteristika dieses kreolischliberalen Denken zu benennen, dessen Eigentümlichkeiten sich wiederum aus seinem Entstehungskontext um und nach 1810 erklären. Dazu zählten, grob umrissen, die Vorbildfunktion, die die nordamerikanische bzw. die nordwesteuropäischen Gesellschaften für den kreolischen Liberalismus ausübten; ferner seine "nationalerzieherische Orientierung" (Werz 1991, SO), die dem Staat eine Schlüsselfunktion bei der Modernisierung des Landes zuwies; dann die Vorbehalte gegen die Ausdehnung demokratischer Mitwirkungsrechte, die sich aus dem engumgrenzten Charakter der politischen Öffentlichkeit wie auch den durch die "Anarchisierung" der Region nach 1819/20 freigesetzten Ängsten innerhalb der Eliten erklärten; schließlich die Zurückhaltung in der Kritik der Kirche, zumindest der katholischen Religion, die sich die Liberalen auferlegten. Bekannt ist, daß Mariano Moreno in der spanischen Übersetzung des Contrat social, die er anfertigte, die gegen die Religion gerichteten Aussagen Rousseaus wegließ. Die Verfassung von 1853 legte fest, daß der argentinische Staatspräsident katholischen Glaubens sein müsse. Manifest wurde das liberale Denken, auch auch auf dem Hintergrund der überkommenen Kritik an den spanischen Monopolrechten, vor allem im wirtschaftlichen Bereich, d.h. in den Forderungen nach der Freiheit der wirtschaftlichen Betätigung und der Freizügigkeit des Warenaustauschs, wobei diese Forderungen auch hier auf die Interessenlagen der Agrarexporteure und Händlergruppen zugeschnitten waren. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nahm der Liberalismus zunehmend positivistisches Gedankengut in sich auf, wozu die Interpretation des Positivismus in Hispanoamerika als eine pragmatische, modernisierungsorientierte Lehre beitrug. Der Einfluß des Positivismus bestärkte die laizistischen Elemente, die es im kreolischen Liberalismus bis dahin zwar auch gegeben hatte, wie es der starke, bis heute für den Zeitraum nach 1850 aber unerforschte Einfluß des

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Eine Geschichte des Liberalismus im 19. Jahrhundert ist bis heute für Hispanoamerika nicht geschrieben worden. Soweit man sich damit befaßte, geschah dies primär auf dem Gebiet der Ideen- und Verfassungsgeschichte.

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Freimaurerwesens innerhalb der politischen Klasse13 belegte, die jedoch erst in der Konfrontation zwischen dem säkularisierten Staat und der Kirche nach 1880 zum offenen Ausbruch kamen. Der Hintergrund dieser Entwicklung lag in der Konsolidierung der nationalstaatlichen Organisation nach 1880 und dem damit verbundenen Bestreben der Administration Roca, die Autorität der Zentralregierung zu festigen und die Nation zu integrieren. Zwar zielten diese staatlichen Integrationsleistungen in den achtziger Jahren noch primär auf die regionale Konfliktkonstellation im Land ab, d.h. die Aufgabe nationaler Integration wurde nicht in sozialer Hinsicht verstanden, sondern blieb weiterhin auf das Verhältnis von Zentralregierung und Provinzen und dessen Regulierung bezogen. Indem es sich dabei jedoch um die Stabilisierung einer politischhierarchischen Ordnung handelte, beanspruchte der Staat Eingriffs- und Ordnungsrechte, die auf die Kontrolle breiter sozialer Bereiche hinausliefen. Auch die Kirche wurde in dieser Konstellation von den Anstrengungen der Administration, die staatliche Autorität zur Geltung zu bringen und die "Nation" in ihrem Innern zusammenzuschließen, berührt. Die um 1884 betriebene Einführung der Zivilehe und des Zivilregisters sowie die Maßnahmen, die in dem Gesetz 1420 gegen den Religionsunterricht an den Schulen erlassen wurden, lösten einen "Kulturkampf' aus, in dem das bis dahin ohnehin fragile Bündnis von Staat und Kirche auseinanderzubrechen drohte. Ähnlich wie die Geschichte des Liberalismus ist auch die der Kirche bzw. des Katholizismus im 19. Jahrhundert wenig erforscht (vgl. Pietschmann 1984, 3). Die Kirche stand, was den La Plata-Raum betraf, in einem gespannten Verhältnis zum Liberalismus. Die Gründe dafür waren teils historischer Art, weil die Kirche, ungeachtet der Teilnahme von Geistlichen an der Unabhängigkeitsbewegung, in stärkerem Maße mit den hispanischen Traditionen der Gesellschaft identifiziert wurde. Die Motivationen von zumindest Teilen des Klerus, die Unabhängigkeitsbewegung zu unterstützen, sind bis heute nicht völlig geklärt bzw. werden kontrovers diskutiert, was auch damit zusammenhängt, daß es tatsächlich unterschiedliche Motivationsstrukturen gab. Einerseits fanden sich eher demokratische Überzeugungen, so bei Juan Ignacio Gorriti. Gorriti war ein überzeugter Anhänger des politischen Föderalismus und nicht zuletzt aus diesem Grund ein entschiedener Gegner des späten spanischen Kolonialsystems, weil er allein in dem föderativen System den Bestand persönlicher Freiheitsrechte wie auch den Schutz individueller Entfaltungsmöglichkeiten garantiert sah. Umgekehrt gab es Geistliche wie Padre Castañeda oder

13 Eine Übersicht Ober die Verwebung der politischen Führungsgruppen im La Plata-Raum mit dem Logenwesen, keine Analyse, findet sich bei Lappas 1966; Auza 1975, 27f; Maguire 1970.

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Castro Barros, die stärker in den autoritären Denktraditionen standen14. Die anti-spanische Haltung richtete sich in diesem Fall gegen die bourbonische Reformpolitik, die im hispanoamerikanischen Raum zunächst den Jesuitenorden, dann allgemein die verschiedenen Immunitäten des Klerus und die kirchliche Gerichtsbarkeit betraf, und den damit verbundenen, aufklärerischen Impetus. Die Unabhängigkeitsbewegung wurde vor diesem Hintergrund auch als eine politische Möglichkeit interpretiert, zu einem organischen Gesellschaftsmodell zurückzukehren, in dem der Kirche bzw. der Religion eine einflußreiche Rolle zufallen würden. Castro Barros z.B. unterstützte aus diesem Grund auf dem Kongreß in Tucumán 1816 den Monarchiegedanken. Hinzu konnten andere Motive, auch solche persönlicher Art kommen, wie z.B. Karriereerwartungen im Zuge der Unabhängigkeitsbewegung (vgl. Halperin Donghi 1985c). Ungeachtet der Teilhabe von Klerikalen an der Unabhängigkeitsbewegung blieb der politische Einfluß der Kirche im La Plata-Raum, sehen wir insbesondere von Córdoba oder aber von den Einwirkungen einzelner Geistlicher auf caudillistische Führergestalten ab, schwach. Dies hing mit dem überkommenen Verhältnis von Staat und Kirche im hispanoamerikanischen Raum, der extensiven Ausnutzung ihrer Patronatsrechte durch die spanische Krone und dem Bemühen zusammen, die Kirche der Staatsautorität zu unterwerfen. Die republikanischen Regierungen im La Plata-Raum versuchten in der Regel, an dieser Politik eines Staatskirchentums festzuhalten. Eine Rolle spielte ferner, daß der kirchliche Einfluß hier seine politische Bastion in Córdoba hatte (vgl. Tonda 1972), das einen traditionellen Gegenpart zu Buenos Aires darstellte, in dem Zeitraum nach 1810 jedoch aufgrund der Bürgerkriege, wirtschaftlicher Rezessionen und innenpolitischer Kontroversen zunehmend an Gewicht verlor. Schließlich kam hinzu, daß zumindest Teile des Klerus aufgrund der Rolle der Kirche unter der Regierung von Rosas (vgl. Bruno 1975, X) den liberalen Elitegruppen nach 1852 als politisch kompromittiert galten, worunter der soziale und politische Status der Kirche litten. Diese politische Schwäche der Kirche war mitverantwortlich dafür, daß Kirchenkreise vielfach bestrebt waren, über politische Loyalitätsbeweise die Stellung der Kirche gegenüber dem Staat zu verbessern und die Kirche als einen funktionalen Part im politisch-sozialen Entwicklungsprozeß der Region darzustellen. Die Religion und die patria hätten, so z.B. Fray Mamerto Esquiú (1826-1883), später Bischof von Córdoba, in seinen "patriotischen" Predigten des Jahres 1853 (1968, lOff), identische Ziele. Die Kirche teile die Abneigung gegen das "tyrannische" Spanien wie auch die politische Zielsetzung von "Fortschritt" und "Freiheit". Frühzeitig versuchte die

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Sehr anschaulich dazu ist die Artikelserie, die Padre Castañeda 1825 in der in Córdoba erscheinenden Zeitung "Derechos del Hombre" schrieb, und in der er den Verfall des "orden gentilicio" von vor 1810 beklagte, eine "aufklärerische Bevormundung" ablehnte und konkret den Gedanken des Gesellschaftsvertrags heftig attackierte ("Derechos del Hombre" v. 30.11.1825 und 15.1.1826).

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Kirche dabei, in Analogie zu ihrem Ideal politisch-sozialer Konfliktlosigkeit, sich als Ordnungsgarant darzustellen15. Aus diesem Ordnungsgedanken und dem damit verbundenen, organischen Gesellschaftsverständnis heraus erwuchsen jedoch zugleich auch Bruchstellen gegenüber der liberalen Politik. Der liberalen Modernisierungsstrategie wurde mit Vorbehalt begegnet, befürchtete man davon doch einen Zerfall der Gesellschaft und der sozialen Werte. Félix Frías z.B., der die Revolution von 1848 in Paris erlebte, wurde dadurch zu einer scharfen anti-liberalen Haltung gebracht, die sich in der Betonung einer organischkorporativen Gesellschaftslehre und in der Forderung nach einer christlichmoralisierenden Erziehung der Bevölkerung ausdrückten, um dadurch dem Zerfall der Werte, der Familie und des Staates Einhalt zu gebieten (Proyecto 1980, 40f). Auch Estrada (1953, 130f) kritisierte 1880, daß sich die Gesellschaft in einem ähnlichen Zustand wie im Jahr 1820 befände und ihre "Harmonie" und "Ordnung" durch die politischen "Intrigen" zerstört würden. Während Frías in seiner Kritik primär von organisch-korporativen Ordnungsvorstellungen ausging, hatte Estrada, der den "demokratischen" Flügel des politischen Katholizismus (Iglesias 1991, 259) repräsentierte, bei seiner Kritik in erster Linie das politische System des caciquismo und die damit verbundene Praxis des Wahlbetrugs vor Augen. Estrada gilt als der prominenteste Vertreter desjenigen Rügeis des Katholizismus, der zwischen den sechziger und frühen achtziger Jahren den Ausgleich mit dem politischen Liberalismus suchte. Estrada (1842-1894) unterrichtete seit 1869 staatsbürgerliche Erziehung am Colegio Nacional von Buenos Aires, ehe er 1876 Direktor dieses Instituts wurde. 1875 erhielt er den Lehrstuhl für Verfassungsrecht an der Universität Buenos Aires und gehörte später als Abgeordneter der "Unión Católica" dem Kongreß an. Zwischen 1866 und 1868 publizierte Estrada in der "Revista Argentina" unter dem Titel "Lecciones sobre la historia de la República Argentina" eine Vorlesungsreihe über argentinische Geschichte, die im Bildungsbürgertum von Buenos Aires großes Aufsehen erregte. Estrada relativierte darin nicht allein den politischen Hegemonialanspruch von Buenos Aires, sondern er versuchte insbesondere, die föderalistischen Traditionen der Region als ein natürliches Produkt der argentinischen Verhältnisse zu legitimieren. Die genuin religiösen Komponenten dieses Geschichtsverständnisses lagen dabei nicht, wie vermutet werden könnte, in einer positiven Bewertung der Kolonialgeschichte, die auch für Estrada (1896, II V) "undankbar und steril" blieb. Estrada ging es vielmehr darum, die positivistische Gesellschaftsauffassung mit der katholischen Lehre zu versöhnen. Estrada hielt dazu an dem Bild eines progressiven, gesetzmäßigen Geschichtsverlaufs fest, beharrte jedoch darauf, daß diese "Gesetze" von Gott gesetzt (1953, 103) seien. Die Geschichte war, wie die Gesellschaft, hierarchisch geordnet, wobei Estrada drei

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"[...] sin leyes no hay patria, no hay verdadera libertad: existen solo pasiones, desorden, anarquía, disolución, guerra" (Esquiú 1968, 22).

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Ebenen unterschied, nämlich die Idee als Emanation Gottes, die historischen Entwicklungsgesetze (hier kam die positivistische Geschichtsbetrachtung zu ihrem Recht) sowie schließlich das Handeln der menschlichen Akteure. Diese Trilogie benutzte Estrada in wechselnder Terminologie und konkret auch zur Legitimation der Unabhängigkeitsbewegung. Das Volk, so Estrada (1896, II 336), sei die Kraft gewesen, die Gott in die Hand der Revolutionäre gegeben habe, wodurch die Heldengestalten der Unabhängigkeitsbewegung, gleichsam auf der mittleren Ebene der hierarchischen Geschichtsordnung angesiedelt, als Interpreten der göttlichen Idee wie auch als Vollstrecker der historischen Entwicklungsgesetze erschienen. Diese Anpassungsleistungen katholischer Kreise an den politischen Liberalismus funktionierten einigermaßen bis in die frühen achtziger Jahre hinein, ehe es über die laizistische Politik der Administration Roca und insbesondere die Bildungspolitik zum offenen Konflikt kam. Die Verbannung des Religionsunterrichts aus dem Lehrplan war erstmals auf dem Ersten Südamerikanischen Kongreß für Pädagogik empfohlen worden, der 1881 in Buenos Aires tagte, und hatte dann auf dem Argentinischen Kongreß für Pädagogik 1882 kontroverse Diskussionen ausgelöst. Die liberale Tagespresse, wie "La Nación", die ebenso wie ihr katholischer Gegenpart massiv in diese Auseinandersetzungen eingriff (vgl. Pérez Vassolo 1983), bezeichnete in ihrer Ausgabe vom 5. Juli 1883 den Religionsunterricht an den Schulen als ein "Attentat auf das Gewissen", eine "Verschwörung gegen die Freiheit" und weder mit dem "wissenschaftlichen Geist" noch der Fortschrittsidee insgesamt vereinbar. In den Erörterungen des entsprechenden Gesetzentwurfs (Dekret 1420) im Parlament, die im Juli 1883 bzw. Juni 1884 stattfanden, prallten die liberalen und katholischen Auffassungen in einer bis dahin nicht bekannten Schärfe aufeinander. Die Abgeordneten griffen dabei in ihren Redebeiträgen in einem derartig starken Maße auf die Geschichte als Legitimationsinstanz der eigenen Argumentation zurück, daß die parlamentarische Auseinandersetzung phasenweise den Charakter einer historischen Kontroverse annahm. Der Abgeordnete Pedro Goyena, ein Repräsentant der konzilianten, sogenannten Liberal-Katholiken und aktiver Mitarbeiter an der katholischen Tageszeitung "La Unión", bezeichnete die Debatte am 6. Juli im Parlament denn auch als einen "historischen Diskurs" (Debate 1984,1 96). Der Rückgriff auf die Geschichte, den im übrigen Goyena in die Debatte einführte, besaß von katholischer Seite aus drei Funktionen. Erstens war er legitimatorischer Art, d.h. er wies den Katholizismus bzw. die Tätigkeit der Kirche als ein zivilisierendes Element aus, das durchaus zum "recht verstandenen" Fortschritt des Landes beigetragen habe. Zweitens diente der Rückgriff auf die Geschichte dem politischen Loyalitätsbeweis der Kirche. Die "gloriosen Traditionen" der Nation seien von dem Wirken des religiösen Gedankens nicht zu trennen. Dies gelte für die Mairevolution von 1810 und insbesondere die precursores selbst, Belgrano und San Martin, deren Tätigkeit von einem tiefen religiösen Glauben erfüllt gewesen sei. Drittens schließlich beanspruchte Goyena auch eine positive Funktion der Kirche bei den aktuellen sozialen Ordnungspro-

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blemen der Gesellschaft. Die Religion sei ein Ordnungsfaktor, die dazu beitrage, den gesellschaftlichen "Organismus" zu stabilisieren und die über ihre moralisierende Wirkung die "Harmonie" des "sozialen Ganzen" verbürgen würde (Debate 1984, I, 41ff).. Goyena versuchte damit, die unterschiedlichen Richtungen des katholischen Denkens, wie es sich im 19. Jahrhundert im La Plata-Raum ausgebildet hatte, in einer Synthese zusammenzufassen. Einerseits rekurrierte er auf die stärker demokratischen oder revolutionären Anschauungen, die Teile des Klerus, wie Gorriti, in die Nähe der aufklärerisch-liberalen EntwicklungsVorstellungen gerückt hatten. Andererseits hob er die sozialen Ordnungsvorstellungen hervor, wie sie von Deán Funes bzw. Castro Barros und später von Félix Frías vertreten worden waren, die ein organisches, autoritär geprägtes Gesellschaftsbild vor Augen hatten. Die Argumentation Goyenas löste in der Abgeordnetenkammer (wie auch in der Presse16) seitens der liberalen Abgeordneten eine heftige Reaktion aus, wobei sich die Debatte auf die Rolle der Kirche in der Kolonialgeschichte und auf die Bedeutung der Religion in der Unabhängigkeitsbewegung von 1810 konzentrierte. Am schärfsten fíel die Antwort von Emilio Civit aus, einem Gefolgsmann Rocas und politischer Représentant der herrschenden Familienclans in der Provinz Mendoza. Civits Argumentation griff die politischen Legitimationsmuster auf, die die kreolischen Eliten unmittelbar nach 1810 entwickelt hatten. Dazu zählten die scharfe, anti-spanische Haltung, die Identifikation mit einem patriotisch gefaßten Amerikagedanken sowie die politisch instrumentalisierte Nutzung der präkolumbischen Kulturen und Traditionen. Die conquista sei ein Akt offener Gewalt gewesen, und die Herrschaftsordnung, die die spanische Krone im BGndnis mit der katholischen Kirche errichtete, habe allein der Unterdrückung und Ausbeutung Amerikas gedient, nicht aber dessen Zivilisierung. Bezogen auf die Unabhängigkeitsphase bestritt Civit einen positiven Beitrag des Klerus bzw. der Religion zum politischen Emanzipationsstreben Amerikas. Belgrano sei zwar Katholik gewesen, aber kein "Papist", und San Martin habe als Anhänger des Logenwesens und des aufklärerischen Denkens der Religion ferngestanden. In zwei Punkten ging Civit schließlich über die von Goyena angesprochenen Punkte hinaus. Erstens erweiterte er das Pantheon nationaler Heldengestalten, das Goyena angerufen hatte, um die Figur Rivadavias, der ganz in der Tradition des freiheitlich-liberalen und antiklerikalen Denkens gestanden habe. Und zweitens ging er auf die Regierungszeit von Rosas ein, in der sich die Kirche als offener Kollaborateur der Tyrannei 16 So faßte Mitre das liberale Denken nochmals in "La Nación" v. 24.6.1884 zusammen: "Las autoridades superiores de la Iglesia Católica fueron un enemigo abiertamente declarado, poderoso, terrible, sanguinario y hasta sacrilego a veces contra la revolución americana. La Santa Sede, en la órbita de su prepotente acción entonces, las autoridades de España, y todos los arzobispos, obispos, cabildos, clero regular y secular y cuantas instituciones poseía la Iglesia, hiecieron causa común con el Rey de España, para venver la revolución y mantener al pueblo americano en la esclavitud del colono [...]".

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entpuppt habe. Der Katholizismus, so Civits Fazit, sei der Feind jeglicher Freiheit: "[La] religión católica es enemiga y combate todas las libertades" (Debate 1984,1 87ff). Goyena konzedierte in seiner Antwort, daß es in der Kolonialgeschichte zu Ungerechtigkeiten, Mißständen und Deformationen des Missionsgedankens gekommen sei. Aber gerade die Kirche, und hier verwies Goyena (Debate 1984, I 97f) auf Las Casas, habe als Sprachrohr und Verteidiger der unterdrückten indianischen Bevölkerung fungiert. Grundsätzlich gäbe es keinen Zweifel daran, daß erst die conquista der amerikanischen Region eine neue Welt des "Fortschritts" eröffnet habe. Die Verwendung des Fortschrittsbegriffs (der ultramontane Abgeordnete Achával Rodríguez sprach weiterhin nur von der "zivilisierenden" Rolle der Kirche17) wie auch der Bezug auf Las Casas, der gerade den liberalen Historikern als Kronzeuge der spanischen Gewalttaten galt, dokumentierten neuerlich die defensive Haltung Goyenas, der wiederholt Loyalitätsbeweise gegenüber dem offiziösen Geschichtsverständnis in seine Argumentation einbaute. Bezogen auf die Revolution von 1810 hielt Goyena (Debate 1984, I 98f) daran fest, daß es sich nicht um eine "atheistische" Bewegung gehandelt habe, sondern daß sie durch das religiöse Denken inspiriert gewesen sei. Im übrigen könne das geistig-soziale Leben in der Kolonialzeit nicht in dem Maße erdrückend gewesen sein, wie Civit behauptet hatte: Das koloniale Erziehungssystem, von den religiösen Orden dominiert, habe immerhin solche Heidenfiguren wie Moreno erst hervorgebracht. Und Goyena verwies darauf, daß die Führer des Unabhängigkeitskampfes, konkret auch San Martin, durchaus begriffen hätten, daß die Religion eine wichtige Funktion erfülle, was die Wahrung der sozialen Ordnung betraf. Was schließlich die Regierung von Rosas betraf, diese "schreckliche Diktatur" eines "barbarischen Caudillo", führte Goyena zwei Überlegungen ins Feld. Erstens sei die Tyrannei von Rosas erst ein Produkt der verfehlten Politik der Liberalen gewesen. Und zweitens sei es die Kirche gewesen, die unter Rosas die "Moral" der Gesellschaft aufrechterhalten und verhindert hätte, daß sie bis in ihre Wurzeln korrumpiert worden sei (Debate 1984, I lOOff). Der Kulturkampf der achtziger Jahre führte zu einer zeitweilig schärferen Polarisierung zwischen den Liberalen und der Kirche. Auf dem Gebiet der historischen Symbolik drückte sich dies auch darin aus, daß die Identifikationen der Liberalen mit den Traditionen der Französischen Revolution, die bis dahin vielfach als eine Zeit des politischen Terrors und des Ordnungsverlustes interpretiert worden war, neuerlich wuchsen. Dies dokumentierte sich im Jahr 1889 anläßlich der Zentenarfeiern der Revolution. Carlos Pellegrini erklärte in der Zeitung "El Río de la Plata" vom 2. Juli 1889 die Mairevolution zu einem Kind der großen Revolution in Frankreich, und ähnliche Analogiebildungen zwischen der französischen und der Mairevolution betrieb auch die liberale Tagespresse.

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Rede am 14.7.1883. In Debate 1984, II, 268.

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Die katholische Seite befand sich in der Debatte von 1883/84 in einer politisch schwächeren Position, woraus sich das von Goyena demonstrierte Bestreben erklärte, auf die Geschichte als Argumentationsinstanz auszuweichen und die Geschichtsvorstellungen als politische Loyalitätsbeweise einzusetzen. Zu diesem Zweck benutzte Goyena konsensfähige und identitätsverbürgende Begriffe (Fortschritt) wie auch historische Themenbereiche (Revolution von 1810), um die politische Verträglichkeit zwischen Liberalismus und Katholizismus zu beweisen. Weiter noch ging in diesem Zusammenhang der Abgeordnete Centeno, der zwar für die Wahrung des "heiligen [katholischen] Erbes" (Debate 1984, II 316) der Nation eintrat, in einer Abwägung des "religiösen" und des "patriotischen" Gedankens jedoch dem letzteren den Vorzug gab. Centeno griff dazu auf das Beispiel Garibaldis zurück, der als nationaler Revolutionär in Italien wie auch durch seinen Beitrag zur Verteidigung der Stadt Montevideo gegen Rosas dem Patriotismus unschätzbare Dienste erwiesen habe. Garibaldi habe, so Centano, das Papsttum bekämpft, aber in Anbetracht seiner Verdienste bei der Erringung der "Freiheit und der Einheit seines Vaterlands" sei das unbedeutend (Debate 1984, II 315). Centeno konzedierte damit eine Wertehierarchie, die die weltlichen Gedanken der Freiheit und der patria über die religiösen Glaubensüberzeugungen stellte, und paßte sich damit in die dem liberalen Denken entnommene Hierarchisierung der Perspektiven ein, von denen her Geschichte betrachtet wurde. Die Kontroversen zwischen Liberalismus und Katholizismus und konkret der Kulturkampf der achtziger Jahre führten insofern nicht dazu, daß aus den katholischen Kreisen heraus das liberale Gesellschaftsmodell grundlegend in Frage gestellt worden wäre. Die Verschärfung der politischen Konflikte stießen vielmehr neue Anpassungsleistungen von katholischer Seite aus an den Staat an, soweit es das Gebiet der historischen Symbolik betraf. Offenbar wurde die Geschichte dazu benutzt, um allgemeine politische Loyalitätsbeweise zu erbringen. Eine spezifische katholische Geschichtsbetrachtung existierte insofern nicht, sieht man davon ab, daß die katholische Position eine stärkere Identifikation mit den kolonialgeschichtlichen Traditionen der Gesellschaft und dem zivilisierenden Einfluß der spanischen Kultur aufwies. 5. Zwischenergebnis Analog zur Ausbildung der staatsbürgerlichen Nationvorstellung und des staatspatriotischen Erziehungsgedankens gab es nach 1810 frühzeitig Bemühungen, historisch-politische Bildungsprozesse zu institutionalisieren und die Grundlagen einer staatspatriotischen Erziehung zu schaffen. Diese Bestrebungen standen jedoch im Kontext der innenpolitischen Auseinandersetzungen und der Unklarheiten und Divergenzen darüber, was denn die "Nation" überhaupt war, und blieben zunächst sporadisch und punktuell. Die Phase der Bürgerkriege stellte dann einen Bruch in der Organisation staatlich kontrollierter Sozialisationsvorgänge dar, so wie sie insgesamt das Interesse an der Geschichte minderten. Erst in dem Zeitraum um 1858 setzte in der politischen Öffentlichkeit, wie bereits im vorigen Kapitel gezeigt worden ist, ein neues Geschichtsinteresse ein. Dieser

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Befund bestätigt sich auch im Bereich der Geschichtsschulbuchproduktion oder des Denkmalswesens. Politisch notwendig wurde es nun, ein "nationales" Geschichtsbild in zumindest Umrissen zu entwerfen, das in den innenpolitischen Auseinandersetzungen zwischen Buenos Aires und der Konföderation brauchbar war und die eigene Politik jeweils als die "nationale" Politik auszugeben erlaubte. Sowohl auf dem Gebiet der einsetzenden Schulbuchproduktion wie auch des Denkmalwesens war die politische Klasse von Buenos Aires dabei vergleichsweise erfolgreicher, was die Reklamierung "nationaler" Traditionen für die eigene Politik betraf, während die Führungsgruppen der Konföderation, wie die Restaurierung des Denkmals für Ramirez zeigte, stärker provinzial geprägte Traditionsmuster entwarfen. Auch die Geschichtslehrbücher, die nach 18S8 geschrieben wurden, waren durchaus kontrovers und stellten nicht einfache Repliken des bonaerensischen, mitristischen Geschichtsbilds dar. Die Schulbuchhistoriographie verhielt sich zumindest in Teilen sperrig zur regionalen Hegemonisierung der Gesellschaft, hatte aber Anteil an ihrer sozialen Hierarchisierung. Die Fixierung auf die Unabhängigkeitsbewegung und später auf den politischen Institutionalisierungsprozeß Argentiniens verlieh der Schulbuchgeschichtsschreibung und dem nationalen Selbstbild, das darin entworfen wurde, ungeachtet seiner Divergenzen einen eminent kreolischen Charakter, der auf dem Hintergrund der europäischen Zuwanderung der Realität der Bevölkerungszusammensetzung in Argentinien spätestens in den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts nicht mehr entsprach. Auch die sektorialen Betrachtungsweisen der Geschichte, die sich bis dahin ausbildeten, blieben, was die sozialen und kulturellen Gegensätze innerhalb der Gesellschaft betraf, Teil eines Elitenkonsenses, der allein im Kulturkampf der achtziger Jahre vorübergehend verlorenzugehen drohte und der im Bezug auf die Unabhängigkeitsbewegung, die sogenannte Nationale Organisation Argentiniens und die liberalen Modernisierungsvorstellungen seinen gemeinen Nenner besaß. Die progressistische Gesellschaftsauffassung der liberalen Eliten und die Überzeugung, daß die politisch-soziale Ordnung durch den Fortschritt des Landes gleichsam von selbst und automatisch sanktioniert würde, führte in der Phase der sogenannten Nationalen Organisation zwischen ca. 1860 und 1880 dazu, daß die Modernisierung der Gesellschaft, nicht aber das Ansinnen nationaler Identitätsbildung im Mittelpunkt der staatlichen Bildungspolitik stand. Entsprechend gering war der Geschichtsunterricht in den staatlichen Lehrplänen gewichtet. Dies änderte sich erst um und nach 1880. Der Geschichte wurde nunmehr die Aufgabe zugewiesen, zur nationalen Identitätsbildung und vor allem zur Integration der Gesellschaft und zur politisch-sozialen Stabilisierung beizutragen. Im Grunde wurde erst in diesem Zeitraum und als Folge der sogenannten Politik der Versöhnung der späten siebziger Jahre ein offizielles historisches Selbstbild von Staat und Nation entworfen. Analog zu den staatlichen Zentralisierungsbemühungen der achtziger Jahre griff es auf die unitaristischen Traditionen in der Region zurück, wodurch das mitristische Geschichtsbild eine späte Anerkennung erfuhr, die aber auf einer nunmehr anderen politischen Inter-

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essenlage und Kräfteverteilung als in den fünfziger Jahren beruhte und insofern nicht vollständig war. Die Merkmale der Nation verdichteten sich in dem beispielhaften Wirken der precursores, wovon das historische Denkmalswesen nur der sinnfälligste Ausdruck war. Die Nation blieb damit, was die historischpolitische Vorstellungswelt betraf, auf partíale soziale Trägergruppen eingegrenzt, was im Zuge der sozialen Wandlungsprozesse der Gesellschaft in dem Zeitraum nach 1880 zu neuen Konflikten führen sollte.

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VI. Sozialer Wandel und neue politisch-soziale Funktionsansprüche an die Geschichte 1. Die politisch-soziale Systemkrise um die Jahrhundertwende Das Ziel der liberalen Entwicklungspolitik in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bestand darin, Argentinien möglichst schnell in ein hochentwickeltes Sozial- und Staatswesen nach dem Muster der nordwesteuropäischen Industrienationen umzuformen. Dieses Entwicklungsprojekt war als eine Modernisierungspolitik "von oben" konzipiert und unterlag etwa im Hinblick auf die politische Partizipation breiterer Bevölkerungsgruppen oder die soziale Integration der Gesellschaft vielfaltigen Beschränkungen. Für die politischen Führungsgruppen standen, was die Entwicklungsprobleme des Landes betraf, die Ausdehnung der nationalen Souveränität über die indianischen Siedlungsgebiete sowie die Konsolidierung der staatlichen Zentralgewalt gegenüber den Provinzen im Vordergrund des Interesses. Mit den sogenannten Wüstenfeldzügen von 1879/80 sowie der Föderalisierung der Stadt Buenos Aires im Jahr 1880 wurden diese beiden Aufgaben jeweils mit Hilfe des Militärs erfolgreich abgeschlossen. Nach 1880 bildete sich eine bis dahin nicht gegebene Konzentration von politischen Machtpotentialen in den Händen der Zentralregierung aus, die auf einer vertikalen Hierarchisierung politisch-sozialer Einflußsphären beruhte und die sich in einer zunehmenden staatlichen Interventionspolitik gegenüber den Provinzen wie in einer verschärften Durchdringung des gesellschaftlichen Bereichs durch staatliche Regulierungen zur Geltung brachte. In politischinstitutioneller Hinsicht war die Phase der Nationbildung damit zu einem vorläufigen Abschluß gebracht, so daß die politischen Führungsgruppen erwarten konnten, nun in eine Phase der Konsolidierung von Staat und Nation einzutreten. Der soziale Wandel, der zeitgleich zu den politischen Entwicklungen in der Region nach 1850 verlief, warf jedoch zugleich neue Ordnungs- und Entwicklungsprobleme auf, die sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts in einer krisenhaften Konstellation verdichteten und die scheinbare Symmetrie der Entwicklung tiefgreifend störten. Diese krisenhafte Zuspitzung der Entwicklung brachte sich dabei in drei Teilbereichen der gesellschaftlichen Entwicklungsprobleme zur Geltung, nämlich der Regulierung der politischen Mitspracherechte breiterer Bevölkerungsgruppen, dann der sozialen und kulturellen Integration vor allem der entstehenden Industriearbeiterschaft bzw. der Einwanderergruppen in den städtischen Räumen und schließlich in den Verunsicherungen, die das Selbstbild der "Nation" auf dem Hintergrund der massiven europäischen Zuwanderungen erfuhr. Die in der Öffentlichkeit des Landes um die Jahrhundertwende geführte Diskussion um die historisch-politische Symbolik stellte einen recht genauen Indikator dieser Entwicklungskrise dar, zumal in der Diskussion des nationalen Selbstverständnisses nicht allein die Frage nach der Identität der Nation, sondern, wie zu zeigen sein wird, auch die sich verschärfenden sozialen Ordnungsprobleme des Landes eine zentrale Rolle spielten.

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Der soziale Wandel Argentiniens in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts war vielschichtig. Dies rührte daher, daß darin Prozesse am Wirken waren, die sich teils komplementär zueinander verhielten, teils voneinander divergierten, und die überdies auf unterschiedlichen Zeitschienen historischer Entwicklungsabläufe angesiedelt waren (vgl. Cortés Conde/ Gallo 1967). Prozesse von wachsender Dynamik vollzogen sich neben solchen, die an Kraft und Wirkung verloren. Grob können dabei zwei Entwicklungstrends voneinander unterschieden werden. Zunächst, weil in historischer Hinsicht älter, handelte es sich dabei um die zähen, teils sich allmählich erschöpfenden, teils durch Anpassungsleistungen überdauernden Widerstände traditionaler Strukturen auf lokaler oder regionaler Ebene gegenüber den Expansionsbewegungen der von der Atlantikregion aus kontrollierten Agrarexportwirtschaft und der zentralstaatlichen Administration. Demgegenüber standen die ökonomischen Wachstums- und sozialen Wandlungsprozesse der Gesellschaft, die sich nach 1850 entfalteten und etwa nach 1880 beschleunigten (vgl. Di Telia 1966). Das Politikverständnis der liberalen Elitegruppen zielte dabei darauf ab, die politischen und infrastrukturellen Voraussetzungen zu schaffen, die die erstrebte Entwicklung des Landes "nach außen" erforderte. Dazu zählten die Anziehung ausländischer Ressourcen, d.h. vor allem europäischen Kapitals wie auch europäischer Arbeitskräfte, sowie die Einpassung der Region in das sich seit ca. dem Beginn der weltwirtschaftlichen Strukturkrise nach 1873 modifizierende System der internationalen Arbeitsteilung, wobei die Beziehungen zwischen Argentinien und England ein herausragendes Gewicht erlangten. Die politische Bedeutung von Buenos Aires bzw. der Provinzen im litoral hatte in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts nicht zuletzt von der Expansion der Viehwirtschaft abgehangen. Im Jahr 1852, als Rosas gestürzt wurde, befand sich diese wirtschaftliche Struktur jedoch bereits im Wandel begriffen. In diesem Zeitraum setzte zunächst die Expansionsphase der Schafzucht bzw. des Exports von Wolle zu den europäischen Märkten ein (vgl. Sabato 1981). Die Schafeüchter und Wollproduzenten wurden schnell zu einer der wichtigsten wirtschaftlichen Interessengruppen innerhalb der Region, wovon auch die Gründung der "Sociedad Rural" 1866 Zeugnis ablegte, die maßgeblich auf das Betreiben der Schafzüchter hin zustande kam. Die "Sociedad Rural" erwies sich in der Folgezeit als eine modernisierungsorientierte und zugleich auch flexible Interessenvereinigung von Grundbesitzern und Agrarproduzenten, die bestrebt war, die Passung der einheimischen Agrarproduktion an die sich wandelnde Nachfrage des Weltmarkts zu sichern (Imaz 1971, 132ff). Von zunehmender Bedeutung wurde ferner in dem Maße, wie der Ausbau des Eisenbahnnetzes im Landesinnern und die Aufnahme der Dampfschiffahrt im überseeischen Handelsverkehr neue Transportmöglichkeiten schufen, der Anbau von Getreide, vor allem Weizen und Mais, das in den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts erstmals aus den Küstenprovinzen exportiert werden konnte. War das Bild der Pampa, soweit sie bewirtschaftet wurde, um die Mitte des 19. Jahrhunderts noch von der Viehhaltung geprägt, so wurde sie in der Folgezeit zunehmend kultiviert. In der

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Provinz Santa Fe wurden 1872 20.000 Tonnen Weizen produziert, und bis 1891 stieg diese Menge auf 500.000 Tonnen. Europäische Arbeiter, vor allem italienische Zuwanderer oder auch Wander- bzw. Saisonarbeiter, wurden auf den Feldern beschäftigt, brachliegende Böden im befristeten Pachtverfahren vergeben und dadurch einer Nutzung zugänglich gemacht. Im Zuge des Getreidebooms verschoben sich die Anbauflächen mehr und mehr nach Süden, in die angestammten Viehzuchtregionen der Provinz Buenos Aires. In den neunziger Jahren des 19. Jahrhunderte übertraf der Weizenanbau, der im Süden der Provinz Buenos Aires betrieben wurde, bereits den in Santa Fe oder in den anderen Provinzen des litoral (vgl. Scobie 1964, 42ff). Dieser um 18S0 einsetzende Strukturwandel der Agrarexportwirtschaft hatte vielfältige soziale und politische Auswirkungen. Zunächst führte er zur Schwächung bzw. Zersetzung der bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts noch vorherrschenden Form traditionaler, caudillistischer Herrschaftsgewalten im Landesinnern. Rationellere Formen der Viehhaltung sowie der Aufschwung der Schafhaltung und später des Getreideanbaus und die damit sich verändernde Struktur der ländlichen Arbeitsformen führten dazu, daß der semi-nomadisierende Viehtreiber, der bis dahin den Kern der Gefolgschaft ländlicher Caudillos gebildet hatte, zu einem zunehmend anachronistischen Sozialtyp wurde und allmählich aus dem Bild der ländlichen Gesellschaft verschwand. Den Caudillos wurde dadurch nicht allein eine wichtige Basis ihres Machtpotentials entzogen, sondern die Umstrukturierungen innerhalb der Agrarwirtschaft führten darüber hinaus dazu, daß die Fähigkeit wie die Disposition der großen Viehzüchter zum Unterhalt eines militärischen Gefolgschaftswesens schwanden. Der damit verbundene kriegerisch-caudillistische Habitus sowie die Bereitschaft zur politisch motivierten Gewaltausübung auf der Basis lokaler oder regionaler Machtgefuge wurden abgeschwächt. Der von ökonomischen Erwägungen geleitete Ausbau der Infrastruktur und die Einführung damit zusammenhängender technischer Neuerungen, wie z.B. durch den Eisenbahnbau oder durch die Einrichtung des Telegraphenwesens, bewirkten zugleich, daß die Kontrolle der staatlichen Zentralgewalt über das Landesinnere wuchs, wodurch der Prozeß der nationalstaatlichen Organisation konsolidiert wurde. Die letzten traditionalen, d.h. semi-autonom konzipierten und militärisch abgesicherten caudillistischen Herrschaftsgewalten wurden in den siebziger Jahren zerstört, als die Armee die Aufstände von López Jórdan in Entre Ríos niederwarf und in der Provinz Santiago del Estero intervenierte, wo die Familie Taboada, unitaristisch gesonnen und von den Liberalen in Buenos Aires bis dahin als politische Bündnispartner protegiert, seit den frühen fünfziger Jahren die Herrschaftsgewalt ausgeübt hatte. Inwieweit dabei der Ausbau der Infrastruktur die nationale Integration tatsächlich beförderte, bliebe genauer zu untersuchen. Hier ist nur festzuhalten, daß diese Entwicklungen von den politischen Führungsgruppen als ein wichtiger Faktor der Nationbildung interpretiert wurden. So argumentierte der Staatspräsident Avellaneda im Mai 1880 vor dem Kongreß (Mabragaña 1910, III S18), daß das Telegraphenwesen und die Eisenbahnen die Bevölkerung

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und die Provinzen untereinander vereint hätten, und im gleichen Sinn äußerte sich Roca in seiner Regierungserklärung von 1880'. Die Funktion der Agrarexportwirtschaft als Entwicklungsmotor führte dazu, daß die wirtschaftliche Dynamik der Region an den Vieh- bzw. Agrarsektor gebunden blieb. Dies hatte nicht allein Konsequenzen für die gesamte Wirtschaftsstruktur des Landes, weil die Elitegruppen wenig Interesse daran zeigten, Gewinne z.B. im industriellen Sektor zu investieren. Die Industrieunternehmen, soweit sie in der Vorkriegszeit entstanden, blieben weitgehend an den Agrarkomplex und dessen Erfordernisse gebunden, d.h. die Unternehmen konzentrierten sich auf den infrastrukturellen sowie den Vermarktungsbereich. Darüber hinaus waren damit auch politisch-soziale Auswirkungen verbunden, weil erstens die agrarischen Eliten langfristig ihren bestimmenden politischen Einfluß behaupteten, und weil zweitens auch die mittelständisch-urbanen Gruppen, die entstanden, in ihren Verdienst- und Karriereerwartungen auf die Expansion der Agrarexportwirtschaft und die damit verbundene Verteilung staatlicher und privater Gelder fixiert waren. Der mittelständisch-urbane Sektor, der bereits in der Vorkriegszeit in den städtischen Zentren, wie Buenos Aires, ein beträchtliches quantitatives Gewicht besaß, repräsentierte insofern weniger ein Modell eigenständig-bürgerlicher Entwicklung, als vielmehr eine Form der Expansion von Dienstleistungsgruppen, die vor allem im administrativen, im Finanz- und im Vermarktungsbereich tätig waren, und die in mehr oder minder direkter Abhängigkeit von dem Agrarkomplex bzw. dem damit verwobenen Regierungsapparat standen. Zugleich übte der Staat eine in sozialer Hinsicht wichtige Funktion als Verteiler von Einkünften und Karrieren aus. Die Entstehung mittelständischer Gruppen hing, sehen wir von der mit der Kolonisationspolitik der Provinzregierung und den niedrigeren Bodenpreisen zusammenhängenden Ausbildung eines bäuerlichen Mittelstands im Süden der Provinz Santa Fe ab, ebenso wie die städtischer Arbeitergruppen vor allem mit der europäischen Einwanderung und den damit verbundenen Urbanisierungsprozessen zusammen. Die Expansion der Agrarexportwirtschaft und die mit der Aufhebung der indianischen Grenze mögliche Erschließung des Landes gingen mit einem tiefgreifenden Wandel der demographischen Verhältnisse einher. Verantwortlich dafür waren primär die Entwicklungsvorstellungen der liberalen Elite, die die beschleunigte Modernisierung der Gesellschaft und die Nutzung ihrer wirtschaftlichen Ressourcen vor allem durch die Förderung der europäischen Zuwanderung zu realisieren suchten. Aufgrund der Bodenkonzentration und der

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"El que haya seguido con atención la marcha de este país, ha podido notar [...] la profunda revolución económica, social y política que el camino de hierro y el telégrafo operan a medida que penetran en el interior. Con estos agentes poderosos de la civilización se ha afianzado la unidad nacional, se ha vencido y exterminado el espíritu de montonera y se ha hecho posible la solución de problemas que parecían irresolubles, por lo menos al presente." ("La Prensa" v. 13.10.1880).

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agrarischen Besitzverhältoisse führte die Zuwanderungsbewegung zu einem beschleunigten Verstädterungsprozeß2, wobei ausländische Bevölkerungsgruppen, vor allem Italiener, zeitverzögert dann Spanier, in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg in den Ballungsräumen des litoral und in der Stadt Buenos Aires vorübergehend die Bevölkerungsmehrheit darstellten. Die städtischen Räume gerieten damit zunehmend zu den neuen Brennpunkten der sozialen und politischen Konfliktpotentiale. Befördert wurde durch diese Prozesse schließlich auch die soziale Ausdifferenzierung der städtischen Gesellschaft, die auf der Expansion des Dienstleistungssektors wie in geringerem Maße auch auf der allmählichen Ausdehnung des Industriesektors begründet war. Einwanderergruppen bildeten dabei den Grundstock der entstehenden Arbeiter- bzw. auch anarchistischen Bewegung und waren, in sozialer Hinsicht vielfach aufstiegsorientiert und in wirtschaftlicher Hinsicht risikobereit, an der Ausbildung städtisch-mittelständischer Gruppen maßgeblich beteiligt. Dazu zählten mittlere und höhere Angestellte und Beamte, ferner Freiberufliche sowie schließlich neben Kaufleuten auch die frühe Industrieunternehmerschaft, die sich in der Vorkriegszeit zu über 75% aus Ausländern zusammensetzte. Diese Prozesse des sozialen Wandels in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, die hier grob und nur insoweit, wie sie für das Thema dieser Untersuchung von Interesse sind, umrissen wurden, wurden in der argentinischen Geschichtsschreibung traditionell und aus politisch-legitimatorischen Gründen heraus als eine homogene, kontinuierliche und progressive Entwicklung dargestellt3. Neuere Arbeiten, wie etwa die von Cortés Conde/ Gallo (1967), betonen demgegenüber den fragilen oder auch krisenhaften Charakter dieser Prozesse, wobei vor allem auf die Rückwirkungen des sozialen Wandels auf die Stabilität des politischen Systems hingewiesen wird. Halperin Donghi (1981, 329) z.B. spricht von dem Zerfall der konservativ-oligarchischen Ordnung, den er konkret auf das Jahr 1904 veranschlagt, als die von Roca und Juárez Celman verfeinerten Strukturen des caciquismo an politischer Bindung und Integrationskraft verloren bzw. Teile der politischen Führungsgruppen gewahr wurden, daß die staatliche Ordnung und die Herrschaftslegitimation auf einer allzu engen und brüchigen Basis beruhten. Von einer umfassenden Krise von Staat und Gesellschaft kann deshalb sicherlich nicht gesprochen werden, was nicht zuletzt daran lag, daß der wirtschaftliche Aufschwung des Landes, von mehr oder minder kurzzeitigen Rezessionen abgesehen, bis im Grunde in die zwanziger Jahre des 20. Jahrhunderts hinein ungebrochen andauerte. Zutreffender dürfte es vielmehr

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Hatten 1869 noch 72% der Einwohnerschaft Argentiniens auf dem Land gelebt, so konzentrierten sich 1914 bereits 53 % der Bevölkerung in den Städten, wozu im übrigen auch die Binnenmigration in die wirtschaftlichen Entwickjungszentren beitrug. ' Paradigmatisch in dieser Richtung bereits Quesada (1881), der den Zeitraum zwischen 1862 und 1880, ungeachtet nur "charakterlicher" Unterschiede der Präsidenten, als eine linear-gleichförmige Entwicklung beschrieb.

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sein, von einer im Gefolge des beschleunigten sozialen Wandels nach 1880 sich ausbildenden politisch-sozialen Systemkrise zu sprechen, wobei an dieser Stelle offen bleiben muß, welche Tiefe und Schärfe diese Krise erreichte und ob und inwieweit sie eine Gefährdung für den Bestand der politischen Ordnung heraufbeschwor4. Der Begriff der politisch-sozialen Systemkrise wird hier nach Rudolf Vierhaus (1978, 323) definiert durch das "Hervortreten neuer sozialer Interessen und Ideen und neuer Eliten", dann durch "stärker werdende Desintegrationstendenzen" und den "Ansehenverlust überlieferter Normen, sozialer Hierarchien und Institutionen", sowie schließlich durch die "damit eintretenden Legitimationsschwierigkeiten" des politisch-sozialen Systems. Anfänglich wurde das im Zuge des sozialen Wandels sich entwickelnde politisch-soziale Krisenpotential noch weitgehend von den klassischen Konflikten und Entwicklungsproblemen der kreolischen Gesellschaft überdeckt, die sich um das Verhältnis von Staat, "Nation" und Provinz drehten. Allerdings ist es notwendig, hier zwischen den einzelnen sozialen Gruppen der kreolischen Gesellschaft genauer zu unterscheiden. Die engeren Elitenkreise, die vor allem mit dem Grundbesitz und der Vermarktung der Agrar- und Viehprodukte verflochten waren, nahmen das aus dem sozialen Wandel und der Zuwanderung hervorgehende gesellschaftliche Konfliktpotential vergleichsweise spät wahr, was auch daraus herrührte, daß diese Kreise sich in ihrem sozialen Status und ihren politischen Einflußmöglichkeiten durch diese Entwicklungen vorerst nicht betroffen fühlen mußten. Anders verhielt es sich demgegenüber mit den eher mittelständischen Gruppen der kreolischen Gesellschaft, zu denen auch der Dienstleistungssektor sowie bildungsbürgerlicheKreise gehörten, die frühzeitiger gewahr wurden, daß für sie mit der Zuwanderung auch die Entstehung neuer sozialer Rivalitäten und Statusunsicherheiten verbunden war. Die Wahrnehmung der gesellschaftlichen Entwicklungsprobleme war insofern seitens der verschiedenen sozialen Gruppen unterschiedlich, weshalb auch die Reaktionen darauf zeitverzögert einsetzten. Dies galt auch noch für das Jahr 1890, in dem sich die in der Entstehung begriffene politisch-soziale Systemkrise erstmals verdichtete. Unter den

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In der Forschung ist der Charakter der krisenhaften Entwicklungsprozesse gegen Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts bislang nicht hinreichend geklärt. Dies liegt auch daran, daA der Zeitraum zwischen etwa 1880 und 1920 in der neueren argentinischen Geschichtswissenschaft bislang wenig untersucht worden ist. Soweit heute in der Forschung der krisenhafte Charakter der Entwicklung Argentiniens um die Jahrhundertwende beschrieben wird, bezieht sich die Argumentation in erster Linie auf die enger politische Sphäre. Unklar ist auch, in welchem Verhältnis real-krisenhafte Entwicklungen im wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Bereich einerseits und der gesamte Komplex der Krisenperzeption zueinander standen. Anscheinend gab es, was die Wahrnehmung der Krise betraf, gravierende Unterschiede innerhalb der politisch-sozialen Führungsgruppen,was auch erklärt, daß eher optimistische Grundhaltungen neben pessimistischen Einstellungen existierten.

ni Regierungen von Roca und Juárez Celman hatte sich in den achtziger Jahren der Einfluß der Provinzeliten im Landesinnern, vor allem der in Córdoba, auf die politischen Entscheidungszentren der Nation verstärkt, was diesen Gruppen zugleich die Möglichkeit eröffnete, in größerem Maße an der Prosperität zu partizipieren, die das Wirtschaftswachstum mit sich brachte. Der beschleunigte Wirtschaftsaufschwung in den achtziger Jahren, der maßgeblich auf die englischen Kapitalinvestitionen und die italienische Zuwanderung zurückzuführen war, dämpfte zunächst die Konfliktpotentiale ab, die diese Umverteilungsprozesse der politischen Entscheidungsbefugnisse und staatlichen Revenuen mit sich brachten. Zugleich war die staatliche Administration jedoch gezwungen, in immer größerem Ausmaße Ausgaben zu tätigen, um den unterschiedlichen Ansprüchen, die mit dieser Entwicklungspolitik einhergingen, Rechnung zu tragen, und die damit verbundenen Patronage-, Versorgungs- und auch Strukturmaßnahmen, vor allem im Bereich des Kommunikations- und Transportwesens, zu finanzieren. Argentinien erlebte seine Gründerjahre: Die Geld Verknappung, die Spekulationen im wirtschaftlichen Sektor, die Tätigkeit privater Emissionsbanken sowie die zunehmende Verschuldung führten unter der Regierung von Juárez Celman zu einem inflationären Prozeß, der sich in der Wirtschaftskrise von 1890 entlud (vgl. Rato de Sambucetti 1971). Diese Krise bewirkte, daß die Umverteilung der politischen Entscheidungsgewalt und staatlichen Revenuen sowie die Privilegienvergabe zugunsten der Eliten im Landesinnern von anderen Teilen der Elite nicht länger akzeptiert wurde, woraus die sogenannte Revolution von 1890 hervorging, die zwar scheiterte, Juárez Celman aber zum Rücktritt zwang. Diese Revolution wurde von einer heterogenen Kräftekonstellation getragen, der teils ältere, teils neureiche Elitegruppen angehörten, die sich durch die Politik von Roca und Juárez Celman und die Privilegierung des cordobensischen Elitenclans benachteiligt fühlten. Die überkommenen Konflikte zwischen den einzelnen Provinzeliten und konkret die Vorbehalte der bonaerensischen Führungsgruppen gegen eine allzu starke Beschneidung ihrer politisch-sozialen Machtbefugnisse gingen insoweit in die Revolution von 1890 ein (vgl. Etchepareborda 1968, 99). Darüber hinaus wirkten an der Revolution jedoch auch bereits Urbane, mittelständische sowie in geringerem Maße auch Zuwanderergruppen mit, worin sich erstmals das soziale Aufstiegs- wie auch das politische Partizipationsbestreben dieser Bevölkerungsschichten in der politischen Öffentlichkeit des Landes dokumentierte. Nachteilig wirkte sich für Juárez Celman schließlich auch aus, daß er in der Zahlungskrise von 1890 zuerst die englischen Kapitalinteressen und Zinsforderungen zu befriedigen und den Schuldendienst fortzuführen suchte (vgl. Sommi 1957, 75f), wodurch die revolutionäre Bewegung des Jahres, die gegen diese Politik opponierte, einen nationalistischen Anstrich erhielt, der ihr politische Sympathien vor allem im jüngeren Offizierskorps einbrachte (vgl. Romero 1969, 14f). Das vielleicht wichtigste Ergebnis der Revolution von 1890 war die Bildung der BürgerlichRadikalen Partei (Union Cívica Radical), die unter der Führung von Hipólito Yrigoyen in der Folgezeit eine unnachgiebige Oppositionspolitik gegenüber den

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die Regierungsgewalt unter sich aufteilenden Elitegruppen verfolgte und sich insbesondere für eine Ausweitung der politischen Mitwirkungsrechte für mittelständische Gruppen einsetzte. Unterhalb der Beruhigung der politischen Verhältnisse, die in den neunziger Jahren mit der wirtschaftlichen Erholung des Landes einherging, wirkten die in der Revolution von 1890 freigesetzten Konfliktpotentiale fort bzw. verschärften sich. Für die politischen Führungsgruppen des Landes stellte sich die krisenhafte Zuspitzung dieser Entwicklung dabei in drei Aufgabenbereichen dar. Erstens handelte es sich dabei um die anstehende Demokratisierung des politischen Systems und die Erweiterung der politischen Partizipationsmöglichkeiten für breitere Bevölkerungsgruppen, die in dem Maße an Bedeutung gewannen, wie das von der Liga begründete, lose Bündnis der führenden Familienclans in den Provinzen und das damit verbundene System des caciquismo an Stabilität und Integrationskraft verloren. Die Kritik an dem Wahlbetrug der sogenannten Oligarchie und das Bestreben, die politischen Einflußpotentiale umzuverteilen, spielten konkret in den verschiedenen Revolutionsversuchen der neunziger Jahre und zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine zentrale Rolle, die von der "Union Cfvica Radical" (UCR) ausgingen. 1894 forderte der Staatspräsident Luis Säenz Pena eine Reform der Wahlgesetzgebung (Mabragana 1910, V 149), um dadurch die Legitimation der politischen Ordnung zu erhöhen und einen alternativen politischen Entwicklungsweg zwischen, wie er sich ausdrückte, revolutionärem Umsturz und oligarchischer Ordnung zu beschreiten. Die Wahlrechtsreform von 19125 bildete den vorläufigen Abschluß dieser Entwicklung. Zugleich eröffnete dieses Gesetz den Bürgerlich-Radikalen den Weg zum politischen Machtgewinn: In den Wahlen von 1916 erhielt Yrigoyen, der Vorsitzende der UCR, eine knappe Mehrheit und übernahm das Amt des Staatspräsidenten, womit die politischen Machtverteilungen, wie sie sich seit dem Prozeß der sogenannten Nationalen Organisation in Argentinien ausgebildet hatten, aufgelöst wurden. Neben der politischen Partizipationsproblematik war es zweitens die Frage des sozialen Ordnungserhalts, die die kreolischen Eliten zunehmend beunruhigte und die in ihren Augen eng mit der Einwanderungsbewegung verknüpft war. Die europäische Zuwanderung beförderte den sozialen Ausdifferenzierungsprozeß und damit auch das Entstehen neuer sozialer Interessen und Ideen sowie neuer Eliten. Dies galt für den mittelständischen Sektor im Urbanen Bereich wie auch hinsichtlich der Entstehung einer organisierten Arbeiterbewegung, die aus der politischen Aktivität europäischer Zuwanderer maßgebliche Impulse erhielt. Diese Prozesse erweiterten und verschärften die Konfliktpotentiale der kreolischen Gesellschaft und beförderten in sozialer wie

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Die Wahlrechtsreform von 1912 verkündete das allgemeine Wahlrecht, schloß aber die Frauen und Zuwanderer weiterhin davon aus. Der Anteil der Wähler an der Gesamtbevölkerung Argentiniens blieb verhältnismäßig niedrig und lag bei den Präsidentschaftswahlen von 1916 in Buenos Aires oder Santa Fe bei etwa 10%.

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politischer Hinsicht das Gewicht desintegrierender Tendenzen. Die überkommene Hierarchie innerhalb von Staat und Gesellschaft sah sich in Frage gestellt, und die politischen Führungsgruppen versuchten, durch repressive Gesetzesmaßnahmen zu Beginn des 20. Jahrhunderts, die sich gegen die anarchistische bzw. die Arbeiterbewegung richteten, die Maßnahmen zum sozialen Ordnungserhalt zu verschärfen. Drittens schließlich wurde die Zuwanderungsbewegung auch zunehmend als eine Gefahr für den Bestand der "Nation", ihrer Werte und ihres Zusammenhalts empfunden, worauf in dem folgenden Kapitel noch ausführlicher eingegangen wird. Betrachten wir diese Entwicklungen im Überblick, so ist zu konstatieren, daß das politisch-soziale System gegen Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts an Legitimation und Integrationsfahigkeit verlor. Als ungefähre Eckdaten dieses Prozesses können einerseits die Revolution von 1890, andererseits die Wahlrechtsreform von 1912 gesetzt werden, wobei an dieser Stelle die Frage dahingestellt sein mag, ob man nicht gar von einer dauerhafteren politischsozialen Destabilisierung ausgehen müßte, die, durch eine Beruhigung in den zwanziger Jahren unterbrochen, bis in die vierziger Jahre des 20. Jahrhunderts hineinreichte, ehe sie im Peronismus eine vorübergehende Lösung fand. Die politisch-soziale Systemkrise stellte sich dabei um die Jahrhundertwende nicht allein als eine politische Partizipationskrise dar, wie sie sich in den zunehmenden Kritiken an der Wahlmanipulierung und dem gesamten System des caciquismo, den Diskussionen um die Wahlrechtsreform und den Erörterungen des Wahlrechts für die ausländischen Bevölkerungsgruppen abbildete. Sie trug vielmehr überdies die Züge einer Integrations- und Legitimitätskrise, worauf der Prestigeverlust der traditionalen politischen Führungsgruppen und die damit verbundene Forderung nach einer "Moralisierung" der Politik (Zorraquin Becd 1960, 29), die von der Bürgerlich-Radikalen Partei aufgeworfen wurde, hinwiesen. Und sie führte schließlich auch, was mit den demographischen Veränderungen der Gesellschaft zusammenhing, in eine Identitätskrise der Nation bzw. ihrer Trägergruppen, in der vor allem bildungsbürgerliche Gruppen die überkommenen Werte- und Orientierungsmuster hinterfragten und die Frage nach einer Neubestimmung des nationalen Selbstverständnisses aufwarfen. Etwas überspitzt bezeichnet Natalio Botana (1977, 15) diese Identitätskrise um die Jahrhundertwende als eine "Erosion aller überkommenen Übereinkünfte". 2. Sozialdisziplinierung und Geschichtsrevisionismus Als Folge der politisch-sozialen Krisenkonstellation gegen Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts stellten sich die Integrationsprobleme der Gesellschaft den politischen Führungsgruppen in neuer Form. Dabei tendierten die politischen Eliten dazu, die Verantwortung für die politisch-sozialen Entwicklungsprobleme der Gesellschaft den Einwanderern zu geben, die als Trägergruppen der radikalen Arbeiterbewegung sowie als Entstehungsreservoir der sozial marginalen, potentiell als subversiv verdächtigen Bevölkerungsgruppen im städtischen Bereich galten (vgl. Solberg 1969, 215). Die Frage der Sozial-

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disziplinierung zog in dieser Konstellation zunehmend das Augenmerk der politischen Öffentlichkeit auf sich, und zu Beginn des 20. Jahrhunderts schuf der Staat durch verschiedene Gesetze, wie das "Ley de residencia" von 1902 oder das "Ley de defensa social" von 1911, die Voraussetzungen dafür, um mit größerer Härte gegen die anarchistische bzw. die Arbeiterbewegung vorgehen zu können (vgl. Ruibal 1990). Die Politik der Sozialdisziplinierung wirkte darüber hinaus jedoch auch in den gesamten Bereich der staatlich organisierten Sozialisation hinein und betraf insofern auch die Sphäre der symbolischen Konsensbeschaffung. Dies galt explizit für das staatliche Schulwesen und, zumindest in vermittelter Form, auch für den Wissenschaftsbetrieb. Damit soll nicht behauptet werden, daß die Entwicklung des Wissenschaftsbetriebs nach etwa 1890, soweit es die gesellschaftskundlichen Fächer betraf, ausschließlich als eine Form des sozio-kulturellen Krisen- und Konfliktmanagements interpretiert werden könnte (vgl. Godio 1974, 148). Vielmehr wurde der Positivismus, der sowohl in der Geschichtsschreibung wie in den anderen gesellschaftskundlichen Bereichen rezipiert wurde und das wissenschaftliche wie auch das politische Denken nach 1880 beherrschte, von Beginn an auch krisenunabhängig, d.h. als ein Mittel zur Modernisierung der Gesellschaft, zur besseren Organisation sozialer Handlungsprozesse sowie zur Effektivierung und Rationalisierung der wissenschaftlichen Forschung und Lehre interpretiert. Aber es bleibt zu konstatieren, daß sowohl die Frage nach einer wirksameren Sozialdisziplinierung wie auch die Identitätskrise der Nation, die vor allem in den von bildungsbürgerlichen Gruppen ausgehenden, kulturpolitischen Diskussionen um die Inhalte der argentinischen Nationalitätsvorstellung, die sogenannte argentinidad, Gestalt annahmen, den Wissenschaftsbetrieb berührten und zuerst dem Institutionalisierungsprozeß der Soziologie, dann der zeitversetzten Professionalisierung der Geschichtswissenschaft wichtige Impulse gaben. Hervorzuheben sind dabei die anfänglich engen Beziehungen, die in personaler wie auch in konzeptioneller Hinsicht zwischen Soziologen und Historikern bestanden und die es notwendig machen, sich zunächst etwas näher mit der Entwicklung der Soziologie als Universitätsdisziplin zu befassen. Der Begriff der Disziplinierung wurde zuerst von Max Weber in die Sozialwissenschaften eingeführt. Weber (1980, 681ff) leitete die "Disziplin" aus der römischen Kriegsdisziplin her und definierte den sozialen Disziplinierungsprozeß als eine "Ablichtung" der Körper und Formung der Affekte, d.h. als eine tiefgreifene Einübung in sozial geforderte Verhaltensweisen, die ihrerseits Gehorsam hervorbringt (vgl. Cancik 1986). Weber ordnete diesen Disziplinierungsprozeß in einen umfassenderen Vorgang ein, nämlich die Ausbildung der abendländischen Kultur bzw. des okzidentalen Rationalismus, in dem unterschiedliche Entwicklungen zusammenfielen, wie der Mentalitätenwandel, die Versachlichung der Herrschaftsbeziehungen oder die Veränderungen der Arbeitsorganisation und der Wirtschaftsweise. Es erscheint deshalb notwendig, den Begriff der Sozialdisziplinierung etwas genauer von den ihm verwandten Termini abzugrenzen, wie etwa den Begriffen der Rationalisierung oder auch der Zivilisierung.

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Hilfreich ist zu diesem Zweck der Ansatz von Gerhard Oestreich (vgl. Schulze 1987), der die Sozialdisziplinierung auf die sozialen Wandlungsprozesse zu beziehen suchte, wie sie sich in den europäischen Gesellschaften seit der frühen Neuzeit zur Ausbildung brachten, also den Übergang von der agrarischen zur bürgerlichen und Urbanen Gesellschaft und das damit verbundene Auftreten neuer sozialer Ordnungsprobleme. Für unsere Fragestellung ist dabei vor allem von Interesse, daß die Sozialdisziplinierung bei Oestreich, obwohl sie in historischer Perspektive in die Entstehungsgeschichte der modernen Staaten zurückreicht, als eine "Reaktion auf Wandel und Entwicklung" (Schulze 1987, 292) verstanden wird, was sie von den schärfer autonomen Rationalisierungsprozessen im Weberschen oder den Zivilisationsschüben im Eliasschen Sinn unterscheidet. Indem die Sozialdisziplinierung als ein Vorgang interpretiert wird, der "nicht gradlinig" verläuft, sondern sich in "Schüben" vollzieht (Schulze 1987, 266), ist es ferner möglich, historische Phasen oder Zeitabschnitte zu identifizieren, in denen sich die Sozialdisziplinierung als ein vorrangiges Entwicklungsproblem in einer Gesellschaft darstellte oder aber von den politischen Eliten zumindest in diesem Sinn interpretiert wurde. Gemeinhin handelte es sich dabei entweder um politische Krisenkonstellationen, in denen Herrschaftsbeziehungen ihre Legitimation einbüßten, oder aber um beschleunigte soziale Wandlungs- und Modernisierungsprozesse, in deren Folge soziale Ordnungsprobleme an Gewicht gewannen, weil die bis dahin gängigen sozialen Strukturen und die Regeln gesellschaftlichen Verhaltens aufgelöst wurden oder aber an Funktionalität verloren. Beide Prämissen treffen in mehr oder minder starker Form auch auf die politisch-soziale Systemkrise Argentiniens um die Jahrhundertwende zu. In einem engen Zusammenhang mit der Verschärfung der sozialen Ordnungsprobleme der kreolischen Gesellschaft seit den achtziger Jahren stand die Etablierung der Soziologie als wissenschaftliche Disziplin an den argentinischen Universitäten. Die ersten Anstöße dazu gingen dabei aus der Jurisprudenz und konkret auch aus der Kriminalistik hervor. Antonio Dellepiane, der als erster Hochschullehrer nach 1895 an der Universität Buenos Aires soziologische Themen in die Lehre einführte (und der später vorübergehend der Historischen Akademie vorstand), hatte sich 1894 mit einer kriminalsoziologischen Arbeit promoviert, und Ernesto Quesada, der nach 1904 den Lehrstuhl für Soziologie an der gleichen Hochschule innehatte, hatte ebenso wie die neuen Soziologen Agustín García, Rodolfo Rivarola oder José Nicolás Matienzo Rechtswissenschaften studiert. Der erste soziologische Lehrstuhl, der im Jahr 1897 an der Universität Buenos Aires eingerichtet wurde, firmierte als Lehrstuhl für Anthropologie und Kriminalsoziologie (vgl. Soler 1959, 157ff), ehe im folgenden Jahr eine rein soziologische Professur eingerichtet wurde. Diese Herkunft der Soziologie aus der Jurisprudenz bzw. der Kriminalistik hatte verschiedene Gründe. Zunächst spielten europäische Einflüsse eine Rolle. Der Verwissenschaftlichungsprozeß der Soziologie stand unter dem Einfluß der italienischen Strafrechtslehre und Kriminalistik von Cesare Lombroso, die

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bereits frühzeitig juristische mit anthropologischen Fragestellungen zu koppeln suchte. Zweitens war das traditionell starke Gewicht von Bedeutung, das die Rechtwissenschaft bzw. ihre Absolventen sowohl im universitären Bereich wie auch in der politischen Öffentlichkeit der Gesellschaft spielten und das sich bis in die Kolonialgeschichte, zumindest aber bis in die Phase der bourbonischen Reformpolitik zurückverfolgen läßt. Vielfach in politischen Ämtern und administrativen Dienstleistungsbereichen tätig, besaß diese Gruppe von Juristen ein unmittelbares Interesse daran, sich mit den politischen Entwicklungsproblemen des Landes und deren Ursachen zu befassen. Die genuin soziologische Frage nach der Realität der gesellschaftlichen Verhältnisse, ihren Konfliktpotentialen und entwicklungshemmenden Strukturen stieß in diesen Kreisen auf ein besonderes Interesse. Drittens schließlich ist der soziale Wandlungsprozeß der Gesellschaft mit seinen Folgewirkungen zu nennen. Zunächst führte die Verschärfung der sozialen Konfliktpotentiale, die seitens der politischen Eliten primär als eine Form der Delinquenz definiert wurden, dazu, daß die gesellschaftlichen Ordnungsprobleme vorrangig aus der Perspektive des Strafrechts und der Kriminalistik betrachtet wurden. Zugleich machten es die zunehmende Komplexität des Gesellschaftsaufbaus und insbesondere die Verstädterungsprozesse, in deren Verlauf die sozialen Verhältnisse an Komplexität gewannen und unüberschaubarer wurden, jedoch notwendig, die mit der Erkenntnis der gesellschaftlichen Wirklichkeit befaßten Einrichtungen und Institutionen auszubauen und ihre Arbeitsweise zu professionalisieren. Im Wissenschaftsbereich führten diese Zwänge zu einer zunehmenden Ausdifferenzierung der gesellschaftskundlichen Disziplinen, zur arbeitsteiligen Organisation der Forschung und zur Einrichtung von Spezialdisziplinen, wofür auch der Herauslösungsprozeß der Soziologie aus der Jurisprudenz stand. Allgemein auf die Erklärung der sozialen Konfliktpotentiale und der unerwünschten Folgen des Modernisierungsprozesses hin orientiert, führte der Einfluß der italienischen Strafrechtslehre wie das Gewicht der ursprünglich juristisch bzw. kriminologischen Fragestellungen dazu, daß sich das Interesse der neueren Soziologie auf das Betreiben von Milieustudien richtete, um die Entstehung und Formen der Delinquenz beschreibbar und dadurch in der Konsequenz auch kontrollierbar zu machen. Die Aufmerksamkeit galt insbesondere den Lebensbedingungen der städtischen Unterschichten, dem Pauperismus und seinen Ausdrucksformen sowie der Kriminalitätssteigerung im Urbanen Bereich: Der Verdreifachung der Bevölkerung der Stadt Buenos Aires zwischen 1887 und 1912 stand eine Versiebenfachung der Kriminalitätsrate gegenüber (vgl. Blackwelder/Johnson 1982). Als Schiene zwischen den Sozialwissenschaften einerseits, denen es um die Erkenntnis der gesellschaftlichen Verhältnisse ging, und den staatlichen Organen andererseits, die mit deren Kontrolle und Ordnung befaßt waren, fungierten besondere Institutionen, wie das 1907 gegründete Institut für Kriminologie, das der Justizverwaltung unterstand und von dem Soziologen José Ingenieros geleitet wurde.

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Neben den Juristen übten die Mediziner einen maßgeblichen Einfluß auf die Entwicklung der frühen Soziologie aus. Eine Schlüsselrolle spielte darin der "Circulo Médico Argentino", den José María Ramos Mejía (1849-1914), auch er im übrigen später Mitglied der Historischen Akademie, gründete. 1881 veröffentliche Inocencio Torino in der "Nueva Revista de Buenos Aires" einen Beitrag über die positivistische Evolutionslehre und die Medizin, in der er den gesellschaftlichen "Organismus" oder "Körper" unter Verwendung sozialdarwinistischer Anschauungen beschrieb und politisch-soziale Konflikte als Krankheitsphänomene definierte. Diese Tendenz, soziale Entwicklungen mit Hilfe medizinischer Kategorien und Deutungsmuster zu interpretieren (vgl. Hudson 1910, 33f), begünstigte eine stärker biologistische Interpretation des positivistischen Denkens, etwa in Anlehnung an Spencer und Darwin, während die Lehren von Comte in Argentinien nur einen geringeren Einfluß ausübten (vgl. Graham 1990, 2f). Ferner trug diese Entwicklung dazu bei, daß der Rassenbegriff in der Erklärung von Gesellschaft und dann auch von Geschichte eine Aufwertung erfuhr. Das "Erbe" und die "Rasse", so etwa Carlos Octavio Bunge (1918, 116), seien der Schlüssel, um das "Rätsel" der politisch-sozialen Entwicklung zu lösen. Der Inhalt des Rassenbegriffs war dabei unklar und vage, weshalb er im übrigen auch, worauf Zimmermann hinweist, nicht zwangsläufig stigmatisierende oder xenophobe Züge tragen mußte, sondern von ganz unterschiedlichen sozialen und politischen Gruppen und auch im Rahmen sozialreformerischer Konzeptionen benutzt werden konnte (vgl. Zimmermann 1992, 24). Bis dahin hatte der Rassenbegriff primär im kulturellen Sinn Anwendung gefunden, und Erziehungsprozesse konnten in diesem Sinn auch weiterhin als ein Mittel zur "rassischen" Verbesserung der Gesellschaft erscheinen, wie es z.B. bei Agustín Alvarez (1906, 153), auch er Soziologe und Vizepräsident der Universität La Plata, der Fall war ("Una raza de hombres no se mejora durablemente por la cruza...como los ganados, sino por la mejora de sus propias ideas, sentimientos y costumbres"). Ein grober Überblick über die Verwendung des Rassenbegriffs6 deutet jedoch darauf hin, daß er im Zuge der Rezeption des positivistischen Denkens eine zunehmend biologistische Interpretation erfuhr, d.h. die Rasse über die Erbanlagen definiert wurde. Dies galt nicht allein in individueller Hinsicht, sondern auch, was für die Geschichtsschreibung wichtig wurde, in Bezug auf kollektive Gruppen, wie Ethnien oder Nationalitäten. In der Bewertung der Zuwanderungsbewegung, die sich de facto aus dem südeuropäischen und vor allem italienischen, nicht aber (wie von politischer Seite ursprünglich erhofft worden war) aus dem nordeuropäischen Raum rekrutierte,

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Eine systematische Untersuchung des Begriffs der "raza", seiner Entwicklung und seiner Verwendung im öffentlichen Diskurs Argentiniens steht bislang noch aus. Der Beitrag von Aline Helg, "Race in Argentina and Cuba, 1880-1930: Theory, Policies and Populär Reaction" (in: Graham 1990) bezieht sich allein auf die Arbeiten von Sanniento, Carlos Octavio Bunge und José Ingenieros und ist viel zu oberflächlich.

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spielte dieses Interpretationsmuster ebenso wie in der Betrachtung der anarchistischen und der Arbeiterbewegung eine wichtige Rolle. Die soziologische Betrachtungsweise gab der Geschichtsschreibung in verschiedener Hinsicht neue Impulse. Der positivistische Evolutionsgedanke, die biologistische Interpretation sozialer und auch psychologischer oder mentaler Konstellationen und die Frage nach ihren Determinierungsfaktoren, die in der zeitgenössischen Soziologie wie auch Medizin kursierten, führten zunächst dazu, daß man sich intensiver mit dem "Erbe" der Gesellschaft und ihren ethnischdemographischen Komponenten befaßte. Die langzeitigen Entwicklungslinien der "Nation" gerieten dadurch wieder stärker in das Blickfeld der historisch interessierten Soziologen wie auch der Historiker selbst, was im übrigen auch ein neues Licht auf die Kolonialgeschichte warf. Ferner sollte die Frage der Sozialdisziplinierung auch in historischer Perspektive eine stärkere Beachtung finden. Berührt davon wurde vor allem die Interpretation des Caudillismus in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, weil die caudillistischen Führergestalten nunmehr als politische Figuren erscheinen konnten, die es vermocht hatten, die "anarchischen" Bevölkerungsgruppen im Landesinnern erfolgreich zu kontrollieren. Und schließlich führte das Interesse an biologischen, rassischen, mentalen oder psychologischen Faktoren dazu, daß die kategorialen Deutungsmuster der Geschichtsschreibung erweitert und (obgleich in stereotyper Form) andere Themenstellungen, wie solche kultur- oder mentalitätsgeschichtlicher Art, behandelt wurden. Die eng politik- und militärgeschichtliche Betrachtungsweise der Geschichtsschreibung wurde dadurch in Frage gestellt, und zugleich sahen sich die Historiker mit methodischen Herausforderungen konfrontiert, die eine Selbstverständigung über das eigene Wissenschaftsverständnis zunehmend dringlich machen sollten. Eine wichtige Rolle in diesen Entwicklungen spielte José María Ramos Mejfa, der Medizin studiert hatte, sich dann auf dem Gebiet der Neuro- bzw. Psychopathologie spezialisierte und zwischen 1908 und 1912 dem höchsten staatlichen Gremium für Schul- und Erziehungsfragen, dem "Consejo Nacional de Educación", vorstand. 1878 bereits erschien der erste, von Ramos Mejfa verfaßte Band über "Las neurosis de los hombres célebres en la historia argentina", zu dem Vicente Fidel López das Vorwort schrieb, worin sich dokumentierte, daß diese Form des biologistisch-positivistischen Denkens und konkret auch die damit verbundene Interpretation sozialer Konflikte als gesellschaftliche Krankheitsbilder auch unter älteren Historikern mit Interesse verfolgt wurden (vgl. Terán 1987, 18). Auch Sarmiento lobte das Erscheinen des Buchs in der Zeitung "El Nacional" vom 7. November 1878 nachdrücklich und gab damit dem in den historisch interessierten Kreisen in diesem Zeitraum verbreiteten Gedanken Ausdruck, daß eine Koppelung von "Medizin" und "Geschichte" den Verwissenschaftlichungsprozeß der Geschichtsschreibung vorantreiben würde. 1899 publizierte Ramos Mejía seine Studie über "Las Multitudes Argentinas". Ramos Mejía stellte sich darin, in Anlehnung an die Massenpsychologie von Le Bon (vgl. Freud 1970, l l f ) , die Frage nach der "Regierbarkeit der Massen" in

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der argentinischen Gesellschaft und bildete in seiner Fragestellung damit recht präzise die zeitgenössischen politisch-sozialen Integrationsprobleme Argentiniens gegen Ende des 19. Jahrhunderts ab: "Tres puntos hay allí que studiar [...] I o la multitud en sí [...] 2° los hombres que proceden de ella [...] 3° los dominadores de la multitud, los que, surgido o no de ella, han tenido calidades de cierto orden que les ha permitido dominarlas, dirigirlas y, a veces, transformarlas" 7 . Le Bon hatte den "Massen" ein unstrukturiertes Denken zugeschrieben. Sie würden ihre Vorstellungswelt in der Form von Bildern und Imaginationen organisieren, die nicht rational seien. In der Konsequenz beinhaltete diese Aussage die These, daß die Massen auch nur in dem Maße regier- oder lenkbar seien, wie es den sozialen und politischen Führungsgruppen gelänge, diese Bilderwelt zu beeindrucken bzw. zu formen. Nur derjenige, der die Imagination der Massen beherrsche, so Le Bon, beherrsche auch die Regierungskunst. Die historische Symbolik und Bilderwelt gewann damit, zumindest für einen Teil der positivistischen Denker, eine neue Bedeutung als mögliches Mittel der Sozialdisziplinierung. Und konkret lenkte es ihr Interesse auf die Caudillos, denen es ja vermeintlich gelungen war, das Problem zu lösen, das Le Bon ansprach, nämlich eine affektive, symbiotische Beziehungen zu den "Massen" einzugehen und sie in der Form personaler Gefolgschaften unter ihre Kontrolle zu bringen. 1907 publizierte Ramos Mejía die dreibändige Ausgabe des "Rosas y su tiempo", das unmittelbar in die zeitgenössischen Kontroversen um die Bewertung der Caudillos und konkret die Person von Rosas im argentinischen Nationbildungsprozeß eingriff und die politische Geschichte der Region aus der Psychologie der "Massen" zu erklären suchte. Den mutmaßlich größten Einfluß auf die Geschichtsschreibung im Sinn dieser "medizinisch-historischen" Betrachtungsweise (Carbia 1937, 269) nahm Lucas Ayarragaray. Ayarragaray publizierte 1904 seine Arbeit über "La anarquía argentina y el caudillismo", die zugleich die kenntnisreichste Untersuchung darstellte, die im Rahmen dieses Denkansatzes hervorgebracht wurde. Ayarragaray war, wie Ramos Mejía, Arzt und ferner Abgeordneter im Nationalkongreß. Aufschlußreich ist zunächst ein Überblick über die wissenschaftlichen Autoritäten, auf die Ayarragaray sich in seiner Arbeit stützte, und bei denen es sich um Spencer, den er in der Einleitung ausführlich zitierte, Le Bon, Darwin und Gobineau handelte. Aus dieser Lektüre entstammten zugleich die Kategorien, die das Bild, das Ayarragaray vom Geschichtsverlauf entwarf, vorstrukturierten. Sein Ziel bestand darin, die psychologischen Komponenten aufzuweisen, die sich in den Ursprüngen der Nationbildung zur Geltung gebracht und diese vorgeprägt hätten ("...los elementos psicológicos, que presidieron el desarrollo de los orígenes nacionales", V). Die historischen Geschehnisse verknüpfte Ayarragaray in dem Bild eines deterministisch angelegten Evolutionsprozesses:

7

Der Text ist hier zitiert nach den Auszügen bei Terän (1987, 63).

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"Bajo el deterninismo de las disposiciones adquiridas y tradicionales, hizo su evolución el espíritu nacional" (1904, 19). Diese Betrachtungsweise der Geschichte brachte verschiedene Konsequenzen mit sich. Zunächst lenkte der Evolutionsgedanke den Blick auf die Kolonialgeschichte und das hispanische "Erbe" der Gesellschaft, das bei Ayarragaray allerdings vollständig negativ bewertet blieb. Die in dem spanischen Geist oder in der spanischen Mentalität (espíritu castellano) angelegten Tendenzen zum Autoritarismus und zur sozialen Dissoziierung seien in der Unabhängigkeitsbewegung durch den Sturz der Zentralgewalt freigelegt worden und hätten die "anarchische" Entwicklung der Region am Rio de la Plata prädisponiert. Die Revolution von 1810 war damit in ihrer Bedeutung relativiert, weil sie nicht, wie die liberale Historiographie des 19. Jahrhunderts behauptet hatte, einen radikalen Bruch mit der kolonialen Vergangenheit dargestellt habe, sondern vielmehr, so Ayarragaray, noch ganz von den spanischen Traditionen befangen gewesen sei. In diesem Milieu politischer Unreife ("analfabetismo cívico argentino", 21) habe der Caudillismus nur das zwangsläufige und logische Produkt des ethnischen und psychologischen Erbes der Gesellschaft dargestellt: "En ningún momento fué el caudillo, un producto artificial y una expresión aislada, sino el resultado del determinismo histórico, y de una lenta evolución, de factores étnicos y psicológicos" (100). Indem Ayarragaray nach den geistigpsychologischen, auch "mentalen" Faktoren im historischen Entwicklungsprozeß fragte und diese zugleich im Sinn einer biologistischen Evolutionslehre zu interpretieren versuchte, spielte schließlich auch der Rassenbegriff in seiner Arbeit eine zentrale Rolle. Ayarragaray benutzte den Rassenbegriff dabei im biologischen (sangre) und zugleich explizit wertenden Sinn, d.h. er unterteilte die Bevölkerung in "minderwertige" Rassen einerseits, zu denen er vor allem (die Argumentation enthielt auch anti-semitische Anklänge) die Indianer und Afrikaner rechnete, ferner die "bastardisierten" Gruppen, d.h. die Mestizen, sowie andererseits die biologisch höherwertigen "Weißen". Insofern, so Ayarragaray, wäre es möglich, die politischen Probleme Argentiniens im 19. Jahrhundert letztlich auf den "psychologisch-biologischen" Bevölkerungsfaktor und dessen "minderwertigen und bastardisierten" Charakter (276f) zurückzuführen. Dies gelte nicht allein für Argentinien, sondern für den gesamten hispanoamerikanischen Raum, in dem allein Chile eine Ausnahme darstellen würde, dessen politische Stabilität sich, und hier zitierte Ayarragaray Gobineau, aus der baskischen Herkunft seiner Bewohner und der geringen Intensität rassischer Vermischungsprozesse in der chilenischen Koloialgeschichte erklären würde®.

* Im gleichen Jahr, in dem Ayarragaray "La anarquía argentina" veröffentlichte, publizierte der Chilene Nicolás Palacios seine "Raza chilena". Palacios behauptete eine Abstammung der frühen, aus Nordspanien stammenden Siedler Chiles von den in rassischer Hinsicht höherwertigen Goten. Indem diese sich mit einer gleichfalls höherwertigen Rasse,

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In dieser biologistischen Konzeption der Geschichte, die, wie Ayarragaray formulierte, nach der "Morphologie" der Gesellschaft und ihren pathologischen Elementen und Krankheitsbildern fragte, bestand ein enger Bezug zwischen dem historischen Frageinteresse und dem in der Öffentlichkeit formulierten Interesse an wirksamen Formen der Sozialdisziplinierung. Im Vordergrund des historischen Interesses stand dabei die Bewertung des Caudillismus, wobei die nach medizinischen Kategorien verfahrende Betrachtungsweise einer allmählichen Umbewertung des Caudillismusbildes in zumindest drei Punkten Vorschub leistete. Dies galt erstens in der Hinsicht, daß das Bestreben, Milieustudien gleichsam in der diachronen Perspektive zu verlängern, es ermöglichte, die Caudillos in den zeitgenössischen Entwicklungskontext ihrer sozialen Lebenswelt zu stellen und sie dadurch von den personalen Schuldzuschreibungen und moralisierenden Verdikten zu befreien, unter die sie spätestens in den fünfziger Jahren des 19. Jahrhunderts gefallen waren. Zweitens, und damit zusammenhängend, lenkten diese Milieustudien das Augenmerk wieder in stärkerem Maße auf die autochthonen Entwicklungskomponenten der Gesellschaft, was in politischer Hinsicht einer Wiederaufwertung des Landesinnern und konkret auch der föderalistischen Traditionen der Region zugute kam. Und drittens schließlich wurde der Caudillismus nicht länger als ein kontingentes und der nationalen Geschichte äußerliches Phänomen betrachtet, was zugleich den Zwang verschärfte, die Caudillos in das Bild des nationalen Entwicklungsprozesses zu integrieren. Die Kritikbereitschaft an der liberalen Geschichtsbetrachtung, die Ayarragaray als die historisch-politische "Mythologie" Argentiniens bezeichnete, wurde dadurch befördert. Diese Kritik an der liberalen Geschichtsbetrachtung, die gegen Ende des 19. Jahrhunderts von akademischen Gruppen vorgebracht wurde, wird in der argentinischen Geschichtswissenschaft mit dem Begriff der Revisionismusdebatte belegt. Betrachten wir die bekanntesten revisionistischen Arbeiten, die in diesem Zeitraum zwischen etwa 1880 und 1905 entstanden, so finden sich darin eine Reihe der Überlegungen, die von soziologischer oder auch medizinischer Seite aus auf die Geschichtsschreibung einwirkten, wieder, und sei es auch in abgeschwächter oder modifizierter Form. Die von Adolfo Saldías verfaßte "Historia de Rosas y de su época" etwa, die zuerst zwischen 1881 und 1887 in Paris erschien, stellte sich die Aufgabe, die sozialen Faktoren zu analysieren, die als Rahmenbedingungen des Regimes von Rosas fungiert hatten, wodurch die Regierungszeit von Rosas in der Retrospektive an Normalität gewann. In seiner "La evolución republicana", 1906 publiziert, zog Saldías den Schluß, daß es

nämlich den Araukanern, vermengt hätten, wäre ein überlegener Typ des (chilenischen) Mestizen entstanden. Palacios suchte dies auch durch eine Kriminalitätsstatistik zu beweisen, nach der die überwiegende Mehrzahl der Straftaten 1896 in Chile von italienischen und spanischen Einwanderern begangen worden wären, nicht aber von den eingesessenen Mestizen.

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nicht gerechtfertigt sei, den Caudillos die Schuld an der "argentinischen Anarchie" zuzuweisen; vielmehr trage die Urbane, liberale Elite selbst aufgrund ihres Unverständnisses der politisch-sozialen Gegebenheiten der Region die maßgebliche Verantwortung für diese Entwicklung (241). Auch Ernesto Quesada, von der Jurisprudenz kommend, verstand seine Arbeit über Rosas, 1898 in einer ersten Fassung erschienen, als einen Beitrag zur Erklärung der "soziologischen Evolution Argentiniens", in dem Rosas als ein Geschöpf seiner Zeit bzw. als ein Produkt der argentinischen Gesellschaft erschien (1926, 27, 38). Und David Pena schließlich, der im Jahr 1903 an der Universität Buenos Aires seine Vorlesungen über Facundo Quiroga, den Caudillo von La Rioja und Verbündeten von Rosas hielt, nahm die Frage nach dem Herkunfitsmilieu der Caudillos auf, um von dort her und in einer betont gegen Buenos Aires gerichteten Perspektive (Pena war 1862 in Rosario geboren) die Funktion der Caudillos als Interpreten der ländlichen Massen und ihrer Interessen zu beschreiben. Weil die sogenannte Revisionismusdebatte nicht allein in der engeren Historiographie, sondern auch in der Literatur und Kulturpolitik und, längerfristig betrachtet, auch in den neuen Medien, wie im Rundfunk oder der historischen Spielfilmproduktion, ausgetragen wurde, ist die Literatur darüber mittlerweile unübersehbar. Ein kritischer Gesamtüberblick über die Diskussion fehlt jedoch bis heute, so daß sich die instruktivsten Abhandlungen darüber nach wie vor in den Aufsätzen von Kroeber (1960) und Halperin Donghi (1985d) finden. Kroeber unterteilt die Revisionismusdebatte in zwei Phasen, worin er mit der Mehrzahl der einschlägigen, im übrigen zumeist polemischen Arbeiten zu dieser Thematik übereinstimmt9. Die erste, "moderate" Phase des Revisionismus datiert Kroeber auf die achtziger Jahre des 19. Jahrhunderts. Moderat wäre diese Form des historischen Revisionismus in dem Sinn gewesen, daß seine Repräsentanten, wie Ernesto Quesada, Adolfo Saldias oder David Pena, noch dem progressiven, liberalen Entwicklungsgedanken des 19. Jahrhunderts verpflichtet gewesen wären. Diese frühe Form des Revisionismus, so Kroeber, war primär darauf gerichtet, den Beitrag des Landesinnern zum Nationbildungsprozeß in angemessener Form darzustellen. Die zweite Phase des Revisionismus ist bei Kroeber nicht deutlich abgegrenzt. Sie setzte spätestens in den zwanziger Jahren ein, als nationalistische Intellektuelle, wie Manuel Gälvez, Leopoldo Lugones und Carlos Ibarguren, die Frage nach einer in politischer Hinsicht autoritären Kontrolle der sozialen Ordnungsprobleme Argentiniens aufwarfen. Im Gegensatz zu dem Revisionismus der achtziger Jahre sei dessen zweite Phase von einem pessimistischen Weltgefühl und autoritären politischen Ordnungsvorstellungen getragen worden (Kroeber 1960, 15).

9 Eine sehr analoge Darstellung der Revisionismusdebatte zu Kroeber findet sich bei Etchcpareborda 1972. Ähnlich, aber offen polemisch, der Beitrag von Norberto D'Atri, "El revisionismo histórico. Su historiografía'' (in: Jauretche 1982), sowie Rosa 1968.

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Halperin Donghi befaßt sich in seinem Aufsatz nur mit dieser zweiten Phase des Revisionismus, vielleicht, weil er die Diskussionen der achtziger Jahre nicht als eigentlichen "Revisionismus" betrachtet, da Rosas in diesem Zeitraum überwiegend eine negative Figur blieb. Halperin Donghi ordnet den Geschichtsrevisionismus in einen grundlegenden Wandel der historischen Betrachtungsweise in Argentinien im frühen 20. Jahrhundert ein. Im Gegensatz zu der liberalen Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts betrachteten die Revisionisten, so Halperin Donghi, die Entwicklung des Landes als gescheitert. Ihre Kritik galt dabei der Außenabhängigkeit Argentiniens wie der vermeintlichen Dekadenz des politischen, liberalen Systems. Verdichtet fanden sich diese Entwicklungen für die Revisionisten in der Weltwirtschaftskrise von 1929/30, die Halperin Donghi als eigentlichen Auslöser der revisionistischen Geschichtsschreibung ansieht, weil daraus die Suche nach einem autoritären, "postdemokratischen" Entwicklungsmodell (1985d, 11) erst ihre Impulse bezogen habe. Auf die Geschichte gemünzt, habe dies zu einer Umbewertung der caudillistischen Führergestalten des 19. Jahrhunderts gefuhrt. Konkret das Herrschaftssystem von Rosas erschien den Revisionisten als das "verlorene Paradies", weil es Rosas ihrer Uberzeugung nach erstens gelungen sei, eine starke, über den gesellschaftlichen Klassen stehende politische Führerschaft zu errichten, und weil er zweitens den ausländischen Pressionen, wie etwa in der französisch-englischen Seeblockade um 1838 und 1845, widerstanden und dadurch frühzeitig eine "anti-imperialistische" Politik (11) begründet habe. Es gibt also offenkundig recht unterschiedliche Vorstellungen, was denn überhaupt "Revisionismus" war oder auch nicht war und welche politischen Interessenkonstellationen darin einflössen, was einige Bemerkungen dazu notwendig macht. Zunächst macht der Begriff der Revisionismusdebatte nur dann einen Sinn, wenn man voraussetzt, daß es eine dem Revisionismus vorgängige, homogene und mehr oder minder festgefügte, offizielle Interpretation der Geschichte gab, die überhaupt zu revidieren war. In diesem Punkt jedoch sitzt Kroeber, wie andere auch, einer verbreiteten Fiktion auf. Denn erstens war dies nicht der Fall, weil das mitristische Geschichtsbild, dem gemeinhin dieser Monopolcharakter im Hinblick auf die Deutung der Nationalgeschichte zugesprochen wird, eine solche Monopolstellung in den siebziger und achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts nicht besaß. Zweitens wäre es auch für den Fall, daß man sich Kroebers Kriterien zu eigen machte (also eine nachträgliche Aufwertung der Rolle, die das Landesinnere im Nationbildungsprozeß spielte, als Geschichtsrevisionismus definiert) notwendig, bereits die frühen sechziger Jahre als Beginn der Revisionismusdebatte anzusetzen. Bereits 1864 veröffentlichte die Zeitung "El Nacional" in Buenos Aires eine anonyme Kritik an dem "Belgrano" Mitres. Der Verfasser, bei dem es sich um den aus Córdoba stammenden Verfassungsrechtler Dalmacio Vêlez Sarsfield handelte, warf Mitre darin eine ungerechte Betrachtung von Martin Güemes vor, den Mitre pauschal zu den Caudillos gezählt habe. Der Beitrag von Güemes (der den Kampf gegen die Royalisten in der Provinz Salta organisiert hatte) zur Verteidigung der

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Unabhängigkeitsbewegung sei dadurch nicht gewürdigt, und insgesamt würde Mitres "Belgrano", so der Vorwurf von Vêlez Sarsfield, der Politik des Landesinnern Unrecht tun. Diese Kritik löste eine Kontroverse aus (vgl. Châneton 1937, II 478f), die Mitre und Vêlez Sarsfield 1864 in den Zeitungen "El Nacional" bzw. "Naciön Argentina" austrugen, und die Mitre im gleichen Jahr in einer gesonderten Publikation dokumentierte. Abgesehen davon, daß Mitre (1942, XXI 345) sich im Zuge dieser Diskussion zu Konzessionen veranlaßt sah, was sein Bild von Güemes wie auch das der Gauchos anging ("...los gauchos de Güemes.. .merecen ciertamente encontrar un historiador que los salve del olvido"), bleibt festzuhalten, daß sich in dieser Kontroverse bereits die wesentlichsten Streitpunkte zur Geltung brachten, die auch die historischen Debatten nach 1880 bestimmen sollten. Dabei handelte es sich um die Bewertung des Beitrags der Provinzen im Landesinnern zum politischen Entwicklungsprozeß der Nation sowie um die Beurteilung der Rolle der Caudillos in diesem Prozeß. "Neu" an der Revisionismusdebatte nach 1880 war insofern nicht, daß darin eine Umwertung der Geschichte aus der Perspektive des Landesinnern vorgenommen wurde, die es bis dahin nicht gegeben hätte. Neu waren vielmehr die politisch-sozialen Funktionserwartungen, die die sogenannten Revisionisten an die Geschichtsschreibung herantrugen. Das heißt nicht, daß im Geschichtsrevisionismus nach 1880 die überkommenen Konflikte zwischen Buenos Aires und dem Landesinnern keine Rolle gespielt hätten. Dies war zweifelsohne der Fall, und der Amtsantritt der Regierung Roca bot vor allem bildungsbürgerlichen Gruppen aus dem Landesinnern die Möglichkeit, Vorbehalte gegenüber einer von Buenos Aires aus konzipierten Geschichtsbetrachtung nunmehr offener und unverhüllter vorzutragen, als es zuvor in der Phase der Versöhnungspolitik in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre der Fall gewesen war. Wichtiger aber scheint mir, daß die Revisionisten versuchten, über die Suche nach historischen Vorbildern für die erfolgreiche Kontrolle der "Massen" eine Antwort auf die Verschärfung der sozialen Ordnungsprobleme der Gesellschaft zu geben. In diesem Sinn erwuchs der Geschichtsrevisionismus erst aus dem Bestreben, die Geschichtsbetrachtung zu aktualisieren, d.h. die Geschichte von den gegenwärtigen Entwicklungsproblemen Argentiniens her zu betrachten. Denn bei der Frage nach der sozialen Ordnungsfunktion der Caudillos, die die Revisionisten aufwarfen, handelte es sich nicht um ein mehr oder minder esoterisches Unterfangen von Halb-Historikern. Vielmehr wurde um die Jahrhundertwende in den Kreisen der politischen Elite selbst und unter ausdrücklicher Berufung auf die Massenpsychologie von Le Bon die Frage gestellt, ob und inwieweit die caudillistischen Herrschaftssysteme des frühen 19. Jahrhunderts historische Erfahrungen bereitstellen würden, die für die aktuellen Entwicklungsprobleme der Gesellschaft und die Bekämpfung ihrer "sozialen Krankheiten" brauchbar wären. So erklärte Roque Sâenz Pena (1952, 28), später Staatspräsident des Landes, im Wahlkampf vom Oktober 1903, daß die soziologische und historische Forschung den Prämissen

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Le Bons folgen solle, und er verwies in diesem Zusammenhang auch konkret auf die Bedeutung der caudillistischen Systeme als Gegenstand der Forschung: Ahí tenéis la senda ingrata de la degeneración; no la busquéis en leyes que se volverían fatales [...]; buscadla donde la encuentra el sociólogo Le Bon: en lo que él llama la constitución mental, que es el carácter permanente y estable de las razas y de las sociedades [...] Los caudillos argentinos tuvieron siempre su razón de existir, o por su época embrionaria o por sus calidades de atracción personal o de dominio; a los unos, los más rudimentarios, los formó su poder físico y el empuje de la lanza; a los otros, su valor legendario; a los últimos, a los más cercanos, el poder de su palabra o la fuerza vibrante de sus escritos, enunciando los pródromos del gobierno libre; la sinceridad, la fe notoria, caucionada por la palabra y el honor, luciéronlos el centro de las mesnadas y formaron su prestigio para actuar sobre las multitudes. Die Geschichtsrevisionisten waren insofern sehr viel dichter an den gesellschaftspolitischen Funktionserwartungen, die an die Geschichte gerichtet wurden, "dran" als etwa die klassisch-liberale Geschichtsschreibung des Landes. Dabei blieben die Revisionisten der achtziger und neunziger Jahre (und dies unterschied sie vom Geschichtsrevisionismus um und nach 1930) noch weitgehend den Wertmaßstäben des liberalen Entwicklungsmodells der Gesellschaft verbunden, worin sich im übrigen auch der grundsätzliche Konsens abbildete, der zwischen den einzelnen Fraktionen der politisch-sozialen Elite des Landes in diesem Zeitraum bestand. Dies erklärt zugleich, warum es den frühen Revisionisten nach 1880 nicht darum ging, die Caudillos als (gescheiterte) Repräsentanten eines alternativen gesellschaftspolitischen Entwicklungswegs in Anspruch zu nehmen, wie es nach 1930 der Fall war, sondern warum sie vielmehr versuchten, die Caudillos von den Etiketten der Anti-Moderne, der Anarchie, der Unwissenheit und der Barbarei zu befreien, die ihnen die liberale Geschichtsschreibung angeheftet hatte. Damit änderte sich jedoch zugleich auch das Legitimationsmuster des historisch-politischen Entwicklungskonzepts. Der Rekurs auf die Caudillos und die Emphase, die, entgegen den bis dahin verbreiteten Vorstellungen, auf den Beitrag der Caudillos zur Nationbildung und zur gesellschaftlichen Entwicklung gelegt wurde, suggerierte zugleich die Vorstellung, daß es sich bei der Modernisierung des Landes um ein genuin kreolisches Entwicklungsprojekt gehandelt habe, nicht aber um eine Kopie europäischer Modelle. In der zeitgenössischen Krisenkonstellation um die Jahrhundertwende barg dieses Postulat einer authentisch-kreolischen und insofern auch autonomen Modernisierungspolitik recht konkrete politische Implikationen. Erstens beinhaltete es eine zumindest potentielle Antwort auf die Frage, was die Nation sei bzw. wer diese Nation überhaupt definieren könne. Angesichts der beschleunigten sozialen Wandlungsprozesse und in Anbetracht der demographischen Entwicklungen wurde die Nation in ihrer kreolischen Geschichte und

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Tradition zu verankern gesucht. Der Rückgriff auf die traditionalen Werte- und Verhaltensmuster, die gemeinhin mit den Caudillos bzw. generell den sozio-kulturellen Gegebenheiten im Landesinnern assoziiert wurden, trug dazu bei, Elemente einer noch immer (oder schon wieder) fragmentarischen nationalen Identität zu bewahren. Die immer unüberschaubareren Folgen des sozialen Wandlungsprozesses, auch im Hinblick auf mögliche Prozesse der Identitätsdiffusion, wurden dadurch abzudämpfen versucht. Zweitens stellte der Geschichtsrevisionismus damit, und sei es auch nur unterschwellig, einen Abwehrmechanismus gegen eine befürchtete Überfremdung der "Nation" durch die Zuwanderer dar. Im politischen Sinn stellte er den Beitrag der Einwanderergruppen zur Modernisierung des Landes in Frage, zumindest relativierte er deren Bedeutung. Im sozialen Sinn verteidigte er den hergebrachten Status der kreolischen Eliten bzw. der ihr angeschlossenen Gruppen gegenüber den Zuwanderern. Unter diesem Gesichtspunkt betrachtet, handelte es sich beim Geschichtsrevisionismus um eine frühe Auseinandersetzung mit Problemen der Identitätsdiffusion und der Statusunsicherheit, die der soziale Wandel und die europäische Zuwanderung zunächst für mittelständische Gruppen aufwarfen. Daß der Geschichtsrevisionismus maßgeblich in akademischen Kreisen Unterstützung fand, die aus dem Landesinnern stammten, fügt sich in dieses Bild, mußten sich diese Gruppen doch durch das Auftreten von neuen Eliten von Zuwanderern in Buenos Aires sowohl in kultureller wie auch in sozialer Hinsicht am ehesten bedroht fühlen. 3. Die Institutionalisierung des historischen Diskurses Die Entwicklung der Soziologie gab nicht allein der Ausbildung des Geschichtsrevisionismus wichtige Anstöße. Darüber hinaus begünstigte sie auch, zumindest indirekt, den Institutionalisierungsprozeß der Geschichte, weil die soziologischen Ansätze der Geschichtsbetrachtung in den engeren Kreisen der Historiker das Bedürfnis aufwarfen, sich der Besonderheiten ihres Fachs und damit auch ihres eigenen wissenschaftlichen Profils zu versichern. Diese Aufgabe, die im Grunde ohnehin anstand, wurde nun dadurch dringlich, daß nach ca. 1880 von soziologischer oder auch medizinischer Seite aus Modelle an die Geschichtsschreibung herangetragen wurden, die die überkommenen Anschauungen und Verfahrensweisen der Historiker zurückwiesen und dadurch letztendlich auch die Frage nach der Trennlinie zwischen Geschichtswissenschaft und Soziologie aufwarfen. So wandte sich etwa Ramos Mejía (1907, I 4) explizit gegen den Quellengedanken, der sich bis dahin gerade als eine Art Paradigma des neueren historischen Arbeitens zu etablieren vermocht hatte, und bezeichnete seine Arbeit über Rosas als eine soziologische Interpretation der Geschichte, die sich von der "Tyrannei des Dokuments" befreien müsse. Und Ayarragaray (1904, VII) sprach ähnlich von der "intuitiven" Methode", die notwendig sei, wolle man die psychologischen Komponenten in der Geschichte verstehen. Diese Ansichten und Kritiken stießen in Teilen der Historikerkreise das Bemühen an, als

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übertrieben oder auch "absurd" empfundene Annahmen10 des positivistischen Denkens über den Geschichtsverlauf zurückzuweisen und eine Selbstvergewisserung der historischen Disziplin zu betreiben. Neuerlich können dabei grob zwei Strömungen unterschieden werden, die in dieser Konstellation den Institutionalisierungsprozeß der Geschichte förderten. Einmal handelte es sich dabei um solche Historikerkreise, die eher dem politischen als dem historischen Diskurs im engeren Sinn verpflichtet waren. Aus dieser Gruppe, aus der wiederum Mitre hervorragte, ging Anfang der neunziger Jahre die Gründung der späteren Historischen Akademie hervor. Ein anderes Mal handelte es sich um jüngere Historiker, deren Interesse vorrangig dem Verwissenschaftlichungsprozeß der Geschichtsschreibung galt, und die später als die eigentliche Trägergruppe fungierten, was die Institutionalisierung der Geschichte im Universitätsbereich anging. Der Akademiegedanke11, der im La Plata-Raum seinen Vorläufer in den Historisch-Geographischen Instituten besaß, die nach 1843 in Montevideo und nach 1854 in Buenos Aires vorübergehend existiert hatten, wurde um 1890 neu aufgegriffen. Seit 1892 fand sich in Buenos Aires, zunächst in privater Runde, ein Gesprächskreis aus Historikern bzw. Numismatiken) zusammen, dem neben Mitre u.a. Alejandro Rosa, Angel Justiano Carranza, demente L. Fregeiro, Ernesto Quesada, Enrique Peña, José Marcó del Pont sowie der Chilene José Toribio Medina angehörten. Bereits im Juni des Jahres wurden regelmäßige Treffen vereinbart, ehe sich die Gesprächsrunde Mitte 1893 als "Junta de Numismática Americana" konstituierte. In der Akademie wurde später ein Disput um die Frage geführt, wem das Verdienst ihrer Gründung zustehe: Ernesto Quesada gestand dieses dem chilenischen Historiker Toribio Medina zu, andere, wie Antonio Dellepiane, nannten demgegenüber Mitre. Diese Variante setzte sich als die offizielle Version durch12. Sowohl für die Entwicklung der Akademie wie auch für die des historischen Diskurses insgesamt war diese Frage nicht ohne Belang: Die Hervorhebung Mitres als Gründerfigur ordnete sich in eine generelle Tendenz der Akademie ein, sich das mitristische Geschichtsbild zu eigen zu machen und es als die offizielle Variante der argentinischen Nationalgeschichte zu konsolidieren. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts setzte der Versatzungsprozeß der Akademie ein. 1901 wurden ein erster Vorstand gebildet und Mitre zum Präsidenten gewählt. Dieses Amt behielt er bis zu seinem Tod im Jahr 1906 inne. Ende 1902 wurde ein erstes Statut verabschiedet, das verschiedentlich, vor allem im Jahr 1917, überarbeitet wurde. Es unterschied in ordentliche und angeschlossene bzw. korrespondierende Mitglieder und begrenzte zugleich deren Zahl. Ende 1917 wurden auch die Aufnahmeregelungen für die Akademie präzisiert und

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So die Kritik Paul Groussacs an Ramos Mejfa (Carbia 1937, 266). " Vgl. allgemein zur Geschichte der Akademie Hartmann/Vierhaus 1977; Kraus 1963. 11 Vgl. Binayän 1920; Gandia 1936; Levene 1957, 146.

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u.a. festgelegt, daß die neuen, ordentlichen Mitglieder über die wissenschaftliche Arbeit ihres jeweiligen Vorgängers, dessen Platz sie einnahmen, zu referieren hatten. In diesen Versatzungen dokumentierte sich das steigende gesellschaftliche Ansehen der Akademie, das Zugangsregelungen notwendig machte; es illustrierten sich darin zugleich auch spezifische Selektions- wie auch Sozialisationsmechanismen, die auf die Akademiemitglieder einwirkten. In diesem Zusammenhang fallen auch die Preisschriften, die in erster Linie als ein Instrument der Wissenschaftsförderung dienten. Im Hochschulbereich waren solche premios bereits seit 1887 vergeben worden, wobei sich ein nicht vollständiger Überblick über die prämierten Arbeiten bei Marcial R. Candioti (1920, 622ff) findet. Eine Arbeit zur historischen Thematik wurde anscheinend erstmals im Jahr 1914 ausgezeichnet, und zwar durch die Rechtsfakultät der Universität Buenos Aires. Es handelte sich dabei um die Dissertation von Santiago Baqué über den Einfluß Alberdis auf die politische Organisation des Staates. Die Tätigkeit der Akademie konzentrierte sich frühzeitig auf zwei Bereiche, in denen sich bereits ihre gesonderte Stellung zwischen Wissenschaft und Politik abbildete. Einerseits befaßte sich die Akademie seit Beginn des 20. Jahrhunderts mit der Sammlung, Sichtung und Herausgabe von kolonialzeitlichen Chroniken sowie den Zeitungen aus dem Zeitraum der Unabhängigkeitsbewegung, worin zunächst ihr vielleicht wichtigster Beitrag zur Entwicklung der Geschichtsschreibung lag. Eine eigene Zeitschrift unterhielt die Akademie erst seit 1924 ("Boletín de la Junta de Historia y Numismática Americana"), die Raum für wissenschaftliche Beiträge, Personalia sowie Informationen über die Tätigkeit der Akademie bot. Andererseits griff die Akademie aktiv in die in der politischen Öffentlichkeit geführten Diskussionen über die Geschichte ein. Die Akademie ergriff dabei entweder selbst die Initiative, so wenn sie Vorschläge unterbreitete, was die Errichtung von Denkmälern, Reformen des Geschichtsunterrichts oder Benennungen von Straßen betraf. Oder aber die Akademie wurde staatlicherseits als Konsultationsinstanz in Anspruch genommen, soweit es die politische Entscheidung von Fragen betraf, die etwas mit dem offiziellen historischen Selbstverständnis der Nation zu tun hatten. In diesen Zusammenhang gehörte ferner auch die journalistische Tätigkeit einer Vielzahl von Akademiemitgliedern, die sich als historische Kolumnisten in den Tageszeitungen, vor allem in der im Besitz der Familie Mitre befindlichen "La Nación", betätigten. Aus diesem Zusammenspiel von Initiativen der Akademie oder auch einzelner ihrer Mitglieder und der gesellschaftlichen Nachfrage nach ihrem historischen Sachverstand erwuchs ein dichtes Kommunikationsnetz zwischen der Akademie, dem Staat und den Foren der politischen Öffentlichkeit des Landes. Antonio Dellepiane konnte aus diesem Grund 1913 (Actas 1911-16, 233) erklären, daß die Akademie sich zu einer angesehenen und renommierten Institution entwickelt habe, "[...] en la cual el Gobierno de la Nación deposita su máxima confianza, encargándole la ejecución de los actos más delicados, que importan a veces hasta la consagración de reputaciones históricas", und Enrique

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de Gandía (1936, LIV) lobte rückblickend ähnlich die Entwicklung der Akademie zu einem "Beratungsgremium der öffentlichen Gewalt". Gefördert wurde diese Verwebung von Akademie und Politik bzw. Staat durch ihre Mitgliederstruktur. In sozialer Hinsicht gehörten die Mitglieder der Akademie überwiegend den Elitegruppen der Gesellschaft an, und sie übten zugleich vielfach politische Ämter aus, waren im diplomatischen Dienst tätig oder wirkten als Abgeordnete. Ricardo Levene hob denn auch 1938 rückblickend hervor, daß die Akademie sich seit ihrer Gründung nicht allein aus herausragenden Historikern zusammengesetzt habe, sondern zugleich auch aus "hervorragenden Staatsbürgern" (Gandia 1936, LXXXI). Die Akademie konturierte sich vor diesem Hintergrund zwar nicht als abgeschlossene, aber als eine in sozialer Hinsicht elitäre Gemeinschaft. Auffallend ist allerdings, daß ihr kaum Repräsentanten der Kirche bzw. der Armee angehörten. Zu den wenigen Ausnahmen zählten der General José Ignacio Garmendia, der 1906 das Amt des Akademiepräsidenten innehatte, und Monseñor Pablo Cabrera, in den zwanziger Jahren Erzbischof von Córdoba. Die Gründe dafür, daß zumindest die Offiziere, die auch als Geschichtsschreiber tätig waren, der Akademie fernblieben, sind unklar; möglicherweise hingen sie mit dem seit den siebziger Jahren gespannteren Verhältnis zwischen dem Mitrismus und der Armee zusammen. Im Fall der Kirche erklärte sich die Distanz vermutlich durch das in politischer Hinsicht liberale Selbstverständnis der Akademie. Allerdings ist zu konstatieren, daß der Anspruch der Akademie, die, wie es hieß, nationalen Werte in ihrer Gesamtheit zu repräsentieren, eine gewisse Meinungsvielfalt eröffnete und auch die Möglichkeit dafür schuf, daß sich unterschiedliche politische oder auch wissenschaftliche Positionen in der Akademie zur Geltung zu bringen vermochten. Emilio Ravignani z.B., neben Ricardo Levene (von 1927 bzw. 1934 bis 1959 Präsident der Akademie) die große Historikerfigur des Landes in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, gehörte der Radikalen Partei an. Zumindest in ihren Anfängen war die Akademie eine eng bonaerensische Institution. Erst im Jahr 1915 warf Martiniano Leguizamón die Frage auf, ob nicht auch Historiker aus dem Landesinnern, wie Bernardo Frías (Salta) oder Juan Alvarez (Santa Fe), als angeschlossene Mitglieder der Akademie beitreten sollten. 1917 schlug David Peña vor, historische Forschungseinrichtungen im Landesinnern zu errichten. Diese Initiative blieb jedoch ohne Folgen, worin sich das offenbar nur schleppende Interesse der Akademie an einer Ausweitung ihrer Arbeit über Buenos Aires hinaus dokumentierte. Diese Situation änderte sich erst Ende der zwanziger Jahre, als auf die Initiative Levenes hin "Filialen" der Akademie in anderen Provinzen eingerichtet wurden, so zuerst 1928 in Córdoba, wobei der Filialcharakter der regionalen Akademien und die damit gegebene Abhängigkeit von der Akademie in Buenos Aires alsbald zu Kontroversen führte und ihre Umwandlung in "autonome Institutionen" diskutiert wurde (vgl. Gandía 1936, LXXI). In politischer Hinsicht mit dem bonaerensischen Liberalismus verwoben, in institutioneller Hinsicht auf die Hauptstadt konzentriert, wirkte die Akademie

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aktiv an der Konsolidierung eines nationalen Geschichtsbilds im mitristischen Sinn mit. Zwar hatte die Akademie im Juli 1902 beschlossen (Actas 1901-05, 226), daß sie gegenüber der Geschichtsschreibung keine Richterfunktion ausüben wolle ("...porque la Junta no es tribunal de verdad histórica"), doch tatsächlich fanden sich in der Folgezeit wiederholt Beispiele dafür, daß die Akademie in Bezug auf historische Kontroversen Resolutionen faßte, die einen der kontroversen Standpunkte zum verbindlichen erklärten. Eine der ersten dieser Kontroversen stand im Kontext des Geschichtsrevisionismus. Im Jahr 1906 schlug eine Reihe von Akademiemitgliedern vor, David Peña in die Institution aufzunehmen. Peña hatte zuvor seine Vorlesungen über Facundo Quiroga als Buch publiziert, das die Urteile der liberalen Geschichtsschreibung über den Caudillo von La Rioja kritisierte. Nach kontroversen Diskussionen wurde die Mitgliedschaft Peñas zwar akzeptiert, was jedoch dazu führte, daß Juan J. Biedma aus Protest aus der Akademie austrat. Ferner stand die Aufnahme Peñas unter dem Vorbehalt, daß Carlos Urien, auch er Mitglied der Akademie, ein Gutachten schreiben sollte, das die Gegenargumente zu Peñas Thesen zusammenfaßte. Urien legte diese Arbeit im Juni 1907 der Akademie vor, wo sie unter großem Beifall aufgenommen wurde1 "El Doctor Urien lee en seguida los tres primeros capítulos de un libro sobre Quiroga [...] y en el que se propone refutar el libro del doctor David Peña y hacer verdadera luz sobre la personalidad moral del caudillo. Es muy aplaudido por todos los asistentes" (Actas 1906-08, 332). Eine ähnliche Debatte entzündete sich im Jahr 1913 über den Caudillo der Banda Oriental, José Artigas, der in der mitristischen Geschichtsschreibung als Prototyp des anarchischen und anti-national gesonnenen Caudillo schlechthin galt. Das Akademiemitglied Decoud referierte in der Akademie über ein Buch von Gregorio Rodríguez zu diesem Thema und stellte dabei die These auf, daß Artigas zwar im föderalistischen Sinn an der Autonomie der Provinzen gelegen war, daß seine politische Absicht jedoch nicht darin bestanden habe, die politischen Beziehungen zu Buenos Aires vollständig abzubrechen bzw. die nationale Einheit des späteren Argentinien zu zerstören. Artigas, so Decoud, habe nur die Interessen seines Volkes verteidigt, wäre jedoch kein Separatist gewesen (Actas 1911-16, 25lf). Berührt war damit ein zentraler Nerv des mitristischen Geschichtsbilds, und die dadurch ausgelöste Kontroverse wurde durch eine Resolution der Akademie entschieden, in der es hieß, daß Artigas bewußt die Abtrennung der Banda Oriental betrieben und aus diesem Grund eine destruktive Figur gewesen sei. Der Hinweis von Decoud und auch von Lafone Quevedo (Actas 1911-16, 254), daß solche Resolutionen nach dem eigenen Beschluß der Akademie vom Juli 1902 nicht zulässig seien, änderte daran nichts. Die Akademie betrieb damit spätestens seit den Anfängen des 20. Jahrhunderts die Kodifizierung eines nationalen Geschichtsbilds, das sich eng an die mitristischen Anschauungen anlehnte und sich gegen deren Kritiker richtete. Der Geschichtsrevisionismus wurde aus diesem Geschichtsverständnis ausgegrenzt, was darauf hinwies, daß die politische Elite von Buenos Aires und die ihr verbundenen bildungsbürgerlichen Gruppen erstens eine historische Aufwertung

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des Caudillismus und des Landesinnern nach wie vor ablehnten und damit zweitens auch die von den Revisionisten im Bereich der historisch-politischen Symbolik vorgeschlagene Antwort auf die Identitätskrise der Nation nicht oder nur eingeschränkt nachzuvollziehen bereit waren. Eine Zäsur in dieser Entwicklung stellte das Jahr 1906 dar, als zwei Ereignisse zusammenfielen, die zwar im Grunde nichts miteinander zu tun hatten, die beide jedoch auf ihre Weise dazu beitrugen, die Renaissance der mitristischen Geschichtsanschauungen in der offiziellen Geschichtsbetrachtung des Landes zu beschleunigen. Zunächst verstarb Mitre Anfang des Jahres, und einige Zeit später brach dann, als die zweite Amtszeit Rocas auslief und Figueroa Alcorta zum Staatspräsidenten gewählt wurde, das bis dahin von der Liga kontrollierte System politischer Absprachen und Kontrollen endgültig auseinander. Der Tod Mitres eröffnete zunächst die Möglichkeit, seine Person in das Pantheon der nationalen Heldengestalten aufzunehmen. So identifizierte Carlos Pellegrini, eine der politisch einflußreichsten Persönlichkeiten Argentiniens um die Jahrhundertwende, in seinem Nekrolog (1959,249) Mitre mit der "politischen Geschichte des argentinischen Volkes im 19. Jahrhundert". Eine enge Anbindung des offiziellen Geschichtsverständnisses an die mitristischen Anschauungen betrieb dann auch der Staatspräsident Figueroa Alcorta selbst. Bereits wenige Wochen nach dem Tod Mitres nutzte José Figueroa Alcorta (1933, 111) die Regierungserklärung vom Mai 1906 dazu, um Mitre in das semi-religiös angelegte nationale Pantheon einzuführen ("Es que él era nuestra reliquia...") und ihn nicht allein als einen herausragenden Gelehrten, sondern auch als einen der wichtigsten Faktoren der politischen Ordnung und Stabilität in der Geschichte des Landes zu würdigen. Diese Laudatio war angesichts der politischen Biographie Mitres zwar fragwürdig, auf dem Hintergrund der zeitgenössischen Krisenkonstellation und des damit verbundenen Bestrebens, die Geschichte primär zum Zweck des politischsozialen Ordnungserhalts in Anspruch zu nehmen, jedoch erklärbar. Die neue Würdigung der mitristischen Geschichtsvorstellungen, die damit verbunden war und die nach 1906 dazu führte, daß das mitristische Geschichtsbild nunmehr tatsächlich zum offiziellen historischen Selbstbild von Staat und "Nation" geriet, war insofern politisch motiviert. Die wichtigste politische Funktionsleistung des mitristischen Geschichtsbilds bestand dabei vielleicht darin, daß es, anders als die neueren Arbeiten der positivistischen Geschichtsbetrachtung, die unter dem Einfluß der Soziologie oder der Medizin standen, an einer narrativen Struktur der Geschichte und damit auch an ihrer letztlich harmonischen Gesamtkomposition festhielt. Dies galt vor allem für Mitres "Belgrano", der in seiner Konzeption einem bürgerlichen Entwicklungs- oder Bildungsroman nicht unähnlich war. In historischer Perspektive eröffnete der Rückgriff auf Mitres Geschichtsanschauungen den politischen Führungsgruppen des Landes die Möglichkeit, die aktuellen Entwicklungsprobleme der Gesellschaft, wie man sie zu Beginn des 20. Jahrhunderts wahrnahm, in eine Kontinuität nationalstaatlicher Entwicklung zu stellen, die man bei Mitre beispielhaft beschrieben und geordnet fand. In narrativer Hinsicht geschlossen und, was die Beschrei-

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bung der politisch-sozialen Konflikte und die Entwicklung der Nation im 19. Jahrhundert betraf, "equilibrierend"13 angelegt, konnte der "Belgrano" den politischen Entscheidungsträgern zum Modell einer Nationalgeschichte werden, die die Option auf die auch zukünftige Integrität, Harmonie und Zielgerichtetheit der politischen Entwicklung des Landes in sich barg. Die Einordnung sozialer Konflikte und politischer Interessengegensätze in ein progressives Bild des GeschichtsVerlaufs, der von den aristokratischen FGhrungsgruppen kontrolliert wurde, entsprach ferner recht genau der Einstellung, mit der die politischen Führungsgruppen der aktuellen Systemkrise des Landes begegneten. In gewisser Hinsicht war die Renaissance des Mitrismus insofern das Mittel, mit dem die eher zukunftsoptimistischen Teile der sozialen Elite und der politischen Klasse auf dem Gebiet der historisch-politischen Legitimation von Staat und Nation operierten, während dem Geschichtsrevisionismus oder dann auch dem Kulturnationalismus ein stärker pessimistisches und konfliktbeladenes Bild der Gesellschaft zugrunde lagen. Daß Mitres Geschichtsanschauungen darüber hinaus traditionell dazu bestimmt gewesen waren, den Hegemonialanspruch von Buenos Aires gegenüber dem Landesinnern zu wahren, geriet ihnen nach dem Machtverlust des cordobensischen Eliteclans im Jahr 1906 schließlich zusätzlich zum Vorteil. Daß das mitristische Geschichtsbild als ergänzungs- oder erweiterungsbedürftig betrachtet wurde, schloß dies deshalb nicht aus. Allzu deutlich war, zumindest für historisch geschultere Augen, daß der "Belgrano", was die Beschreibung des politisch-sozialen Kräftespiels betraf, eine Komplexitätsreduzierung betrieben hatte, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts aufgrund der sozialen Wandlungsprozesse der Gesellschaft nicht aufrechtzuerhalten war. Insbesondere die jüngere, wissenschaftsorientierte Historikergeneration suchte aus diesem Grund, das nationale Geschichtsbild durch die Betrachtung der politischen Institutionengeschichte sowie die Einbeziehung kultur- oder wirtschaftsgeschichtlicher Fragestellungen zu ergänzen, auch zu korrigieren. Diese Tendenz fand ihren wichtigsten Rückhalt nicht in der eher konservativen Akademie, sondern im universitären Bereich und in dem dort sich anbahnenden Institutionalisierungsprozeß der Geschichtswissenschaft. Nach 1906 wurde an der staatlichen Universität in La Plata eine Sektion für Philosophie, Geschichte und Sprachen eingerichtet, die die besondere Förderung durch Joaquín V. González, den Gründungspräsidenten, genoß. Im Jahr 1908 beauftragte die Universität Ernesto Quesada mit einer umfassenden Inspektion der deutschen Hochschulen, um sich über die dortige Konzeption der universitären Lehre im Bereich der Geschichtswissenschaften zu informieren. Quesada legte seine Eindrücke in einem voluminösen Band vor, der 1910 erschien, und forderte darin eine völlige Reorganisation der historischen Lehre. Besonders beeindruckt zeigte sich Quesada von der Seminarmethode sowie von der kausal-genetischen

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Vgl. Halperin Donghi, in Ferrari/Gallo 1980, 832.

194 Betrachtungsweise historischer Prozesse, w i e Karl Lamprecht sie in Leipzig zu praktizieren versuchte 14 . A n der Universität Buenos Aires wurde bereits im Jahr 1905 die Sektion für Geschichte innerhalb der Fakultät für Philosophie und Sprachen gegründet, der zuerst Luis Maria Torres vorstand. Ende 1921 wurde die Historische Abteilung an der Universität Buenos Aires in ein Historisches Forschungsinstitut umgewandelt, das dann unter der Leitung von Emilio Ravignani stand. Seit 1922 gab das Institut eine eigene Zeitschrift heraus ("Boletín del Instituto de Investigaciones históricas"), die von Emilio Ravignani, Juan Canter und D i e g o Luis Molinari betreut wurde 15 . In wissenschaftstheoretischer Hinsicht und im Hinblick auf die Abgrenzungszwänge gegenüber der Soziologie bestand die wichtigste Leistung dieser zumeist jüngeren Historiker darin, daß sie die Quellenarbeit zu entwickeln versuchten. Insoweit waren sie Anhänger Mitres, und die Renaissance des mitristischen Geschichtsbilds, die nach 1906 einsetzte, fand hierin ihre zweite, sozusagen wissenschaftsimmanente Motivation. D i e Quellenarbeit wurde als das Instrument betrachtet, das eine spezifisch historische Arbeitsweise zu begründen half, wodurch zugleich der eigenständige Charakter der Geschichtswissenschaft in

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Ricardo Levene etablierte nach 1920 als Dekan der Fakultät in La Plata die Seminarmethode wie auch die Kurse zur Quellenlektüre und -kritik in der Ausbildung der Studenten und richtete überdies Lehrstühle für argentinische und neuere amerikanische Geschichte ein. 15 Aus dem Forschungsinstitut an der Universität Buenos Aires einerseits und der Historischen Abteilung in La Plata andererseits entwickelten sich zwei miteinander konkurrierende Strömungen der Geschichtsschreibung, für die stellvertretend die Namen Ravignanis und Levenes standen. Die Differenzen, die zwischen ihnen bestanden, waren teils politisch begründet: Ravignani, ein Sohn italienischer Einwanderer, stand der Radikalen Partei nahe und wurde später auch als deren Abgeordneter in das Parlament gewählt, während Levene, obwohl parteipolitisch nicht gebunden, de facto mit der Politik der konservativen Eliten sympathisierte und um 1906 als Parteigänger Pellegrinis galt (Heras 1961, 16). Die Divergenzen betrafen jedoch auch das historische Erkenntnisinteresse selbst. Anders als Levene betrachtete Ravignani die Vorgaben, die Mitre der nationalen Geschichtsbetrachtung gesetzt hatte, mit einer tiefen Skepsis. Ravignani setzte sich das Ziel, die Politik der Caudillos, die von der mitristischen Geschichtsbetrachtung stigmatisiert worden waren, einer nüchternen Betrachtung zu unterziehen (Ravignani 1924/25, 101). Verglichen zu Ravignani war Levene (1885-1959) sicherlich die wichtigere Figur, weil er nicht allein der Geschichtsschreibung, wie Ravignani auch, neue Impulse setzte, sondern weil er darüber hinaus den Institutionalisierungsprozeß der Geschichtswissenschaft in stärkerem Maße förderte und (vor allem als Präsident der Historischen Akademie) in massiverer Form Einfluß auf das in der politischen Öffentlichkeit diskutierte Geschichtsbewußtsein nahm. Levene promovierte 1906, ganz im positivistischen Entwicklungskontext der Wissenschaften, mit einer Arbeit über "Las leyes sociales". 1912 wurde er zum Assistenzprofessor für Rechtsgeschichte an der juristischen Fakultät der Universität Buenos Aires berufen, um anschließend auch in dem Lehrkörper der geisteswissenschaftlichen Fakultäten in Buenos Aires und La Plata Aufnahme zu finden. Über Levenes Beziehung zur Universität La Plata, die er in den dreißiger Jahren leitete, vgl. Levene (1935). Als kurzer Überblick Mariluz Urquijo (1959).

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Angrenzung zur Soziologie gewahrt blieb. Nicht zufallig war insofern die von Luis María Torres ausgehende Initiative der Philosophischen Fakultät an der Universität Buenos Aires, die Archive im Landesinnern zu erschließen, was nach 1909 in systematischer Form in Angriff genommen wurde (vgl. Koch 1924). Das Bestreben der jfingeren Historiker, ihre Disziplin zu professionalisieren, war eng mit dem Quellengedanken, der Verbesserung der wissenschaftlichen Standards der Quelleneditionen sowie den Verfahren der Quellenkritik verbunden. Vor diesem Hintergrund erschließt sich auch die Bedeutung, die der Kongreß für Sozialwissenschaften in Tucumán im Jahr 1916 für das Selbstverständnis der Historiker besaß. Bereits der Themenüberblick der historischen Sektion verdeutlichte das Bestreben der nachrückenden Historikergeneration, sich über Methodenfragen ihres Fachs zu versichern. Luis María Torres referierte in Tucumán grundsätzlich über die Bedeutung der Quellen für die Forschung, Ravignani beschrieb Techniken der Archivarbeit, Carbia befaßte sich mit den bibliographischen Hilfsmitteln, und Molinari sprach über die Ansprüche an eine kritische, quelleneditorische Arbeit. In Tucumán wurde damit erstmals das methodische Regelwerk der Geschichtsforschung fixiert und der Wissenschaftsanspruch des historischen Arbeitens uneingeschränkt von dort aus begründet. Daß dies, wie Halperin Donghi moniert (1986, 489), eine methodische Verengung der Geschichtswissenschaft mit sich brachte, weil sie sich damit ausdrücklich von der Soziologie abgrenzte, ist unstrittig. Aber man könnte diese Kritik auch positiv formulieren: Im Zuge ihrer Anstrengungen zur Verwissenschaftlichung der Geschichte war den Historikern an der Stabilisierung ihres Fachs gelegen, dessen Konturen man durch die soziologischen Fragestellungen gerade gefährdet sah und die man über rigide methodische Regelsetzungen zu fixieren suchte. Aus wissenschaftstheoretischen (und teils sicherlich auch aus politischen) Gründen am mitristischen Geschichtsbild orientiert, bemühte sich die jüngere Historikergeneration um eine Ausweitung der historischen Fragestellungen, die dem veränderten Charakter der zeitgenössischen Gesellschaft Rechnung trugen. Versucht wurde eine "integrale Rekonstruktion" (Heras 1961, 26) der Vergangenheit, also der Entwurf eines mehrschichtigen, in sich aber weiterhin geschlossenen und letztlich harmonisch gerundeten Geschichtsbilds. Dabei versuchte diese Historikergruppe auch, ihre Ansichten auf dem Schulbuchsektor zu verbreiten. Dies galt zunächst für Ricardo Levenes "Lecciones", die wirtschaftsgeschichtliche Teile enthielten, 1913 in der ersten Auflage erschienen und bis in die fünfziger Jahre hinein zu einem der erfolgreichsten Schulbücher wurden. Es traf vor allem jedoch für das von den Historikern an der Universität Buenos Aires, also Torres, Carbia, Ravignani und Molinari im Jahr 1917 verfaßte "Manual" zu, das in seiner Konzeption den ersten tiefen Bruch mit der bis dahin gängigen Form der Schulbuchgestaltung darstellte und der Schulbuchhistoriographie unter fachwissenschaftlichem Aspekt neue Standards setzte, ohne daß sich diese allerdings in der Folgezeit durchgesetzt hätten. In dem Vorwort zu dem Lehrbuch beanspruchte die Autorengruppe, daß die wissenschaftliche Erar-

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beitung der Nationalgeschichte nunmehr erst beginnen würde. Zwar gäbe es wichtige Vorarbeiten, und Mitres "Belgrano" sei ein "fundamentales" Werk (I, 13), aber die Wissenschaft habe sich weiterentwickelt. Dies gelte insbesondere für die Quellenarbeit sowie die bibliographischen und anderen Hilfsmittel des historischen Arbeitens. Ferner sei es notwendig, die gängige Reduzierung der Geschichte auf die politische und Kriegsgeschichte aufzuheben, um stattdessen die Geschichte in ihren unterschiedlichen Dimensionen zu erfassen, d.h. die Beziehungen zwischen der Politik, Wirtschaft, der "sozialen Organisation", der Kunst, Literatur und Religion zu untersuchen (I, 16f). Der Anspruch, die Geschichte wahrheitsgetreu aus den Quellen zu erarbeiten und in ihrer Gesamtheit darzustellen, deutet auf die nach wie vor in diesem Geschichts- und Wissenschaftsverständnis enthaltenen positivistischen Elemente hin. Zugleich dokumentierten sich in ihm jedoch auch in vermittelter Form die Erfahrungen der Historiker um die gewachsene Komplexität des Gesellschaftsaufbaus im frühen 20. Jahrhundert. Die Berücksichtigung wirtschafte- und kulturgeschichtlicher Fragestellungen in der Geschichtsbetrachtung reflektierte die zunehmenden Verflechtungen, die zwischen den einzelnen gesellschaftlichen Teilbereichen bestanden und die die überlieferte Form der personalen Geschichtsbetrachtung und der nur politischen Ereignisgeschichte dysfunktional werden ließen, wollte die Geschichtsschreibung sozial verwertbare Orientierungsmuster entwerfen. Die wissenschaftsorientierte Geschichtsschreibung des frühen 20. Jahrhunderts stellte insofern den Versuch dar, auf dem Hintergrund der sozialen Erfahrungen in einer zunehmend komplexen Gesellschaft auch ein mehrschichtigeres und ausdifferenzierteres Geschichtsverständnis zu entwickeln, ohne deshalb auf die Komposition eines harmonischen Gesamtbilds zu verzichten. Eine Antwort auf die Identitätskrise der Nation beinhaltete dieses Verfahren jedoch allenfalls in formaler Hinsicht; notwendig war darüber hinaus auf dem Hintergrund der Verunsicherungen des nationalen Selbstverständnisses und insbesondere der massiven Zuwanderung auch eine inhaltliche Neubestimmung der argentinidad. 4. Zwischenergebnis Die sozialen Wandlungsprozesse, die im La Plata-Raum um die Mitte des 19. Jahrhunderts einsetzten und sich nach etwa 1880 beschleunigten, mündeten gegen Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts in eine politisch-soziale Systemkrise ein. Die politischen Führungsgruppen des Landes sahen sich damit mit neuen Entwicklungsproblemen konfrontiert, die stichwortartig um die Begriffe der politischen Partizipation, der sozio-kulturellen Integration und der Identitätsbildung gruppiert werden können. Die politisch-soziale Systemkrise ließ neue Anstrengungen zur Sozialdisziplinierung vor allem im städtischen Raum notwendig werden. Sie warf mit zeitlicher Verzögerung und auf dem Hintergrund der massiven europäischen Zuwanderung auch die Frage nach dem historischen Selbstverständnis der Nation auf. Die Auswirkungen, die sich daraus für den Wissenschaftsbetrieb

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ergaben, waren unterschiedlich. Unmittelbare Zusammenhänge bestanden zwischen den politischen Erfordernissen an eine wirksamere Sozialdisziplinierung und dem Institutionalisierungsprozeß der Soziologie an den Universitäten in den neunziger Jahren. Aus der Soziologie sowie auch aus Ärztekreisen gingen neue Anstöße zur Geschichtsinterpretation hervor, so über eine Art historische Milieukunde oder die Frage nach dem Verhältnis von FGhrer und Masse, die als ein Wegbereiter des Geschichtsrevisionismus fungierten. Analog dazu, daß in der politischen Öffentlichkeit des Landes die klassischen Konflikte zwischen Staat, "Nation" und Provinz die Wahrnehmung der neuen Entwicklungsprobleme, die aus dem beschleunigten sozialen Wandel des Landes herrührten, noch bis wenigstens in die zweite Hälfte der achtziger Jahre hinein überlagerten, war auch der Geschichtsrevisionismus mehrdeutig. Einerseits trug er dazu bei, die Geschichte der Nation stärker vom Landesinnern her zu betrachten; andererseits stellte er eine frühe Reaktion auf die sich anbahnende Identitätskrise der Nation und die Statusverunsicherungen innerhalb der kreolischen Gesellschaft dar. Zumindest ein Teil der Geschichtsrevisionisten betrieb insofern eine Aktualisierung der Geschichtsbetrachtung, indem sie diese an die gegenwärtigen Entwicklungsprobleme Argentiniens heranzuführen suchten. Indem die Geschichtsrevisionisten zugleich jedoch eine Umkehr zu den eher traditionalen, vermeintlich autochthonen Elementen und Werten der nationalen Geschichte praktizierten, fanden sie unter den modernisierungsorientierten politischen Führungsgruppen des Landes nicht die hinreichende Akzeptanz. Offenbar betrachteten wichtige Teile der Elite den Geschichtsrevisionismus als eine zusätzliche Verunsicherung hergebrachter Traditions- und Wertemuster, die angesichts der krisenhaften Entwicklung des Landes und den Infragestellungen des nationalen Selbstkonzepts eher als dysfunktional und als eine überflüssige Relativierung ohnehin wankender politisch-historischer Orientierungsmarken erlebt wurden. Dies erklärt die Verwerfungen, die der Geschichtsrevisionismus letztlich von Seiten der politischen Entscheidungsträger erfuhr. Die Beziehungen zwischen der politisch-sozialen Krisenkonstellation und dem Institutionalisierungsprozeß der Geschichtswissenschaft waren demgegenüber weniger direkt, was nicht zuletzt daran lag, daß die Disziplinwerdung der Geschichte erst aus den Abgrenzungszwängen gegenüber der Soziologie wichtige Impulse bezog. Eine Zäsur bildete darin der Zeitraum um 1906, als unter der Regierung von Figueroa Alcorta eine offizielle Renaissance des mitristischen Geschichtsbilds einsetzte und zugleich die Geschichte im Universitätsbereich etabliert wurde. Für die politischen Entscheidungsträger lag die Attraktivität der mitristischen Geschichtsanschauungen vor allem darin, daß sie die Nationalgeschichte als einen Prozeß erscheinen ließen, der in eine harmonische Gesamtkomposition eingebunden blieb und die aktuellen gesellschaftspolitischen Entwicklungsherausforderungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts dadurch in eine langzeitige, identitätsverbürgende Kontinuitätslinie nationaler Entwicklung zu integrieren versprach. Im Kontext der politisch-sozialen Systemkrise zu Beginn des Jahrhunderts fungierte das mitristische Geschichtsbild für die politischen

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Führungsgruppen offenkundig dazu, sich der kontinuierlichen und stabilisierenden Traditionen von Staat und Nation zu versichern und insbesondere die überkommenen, modernisierungsorientierten Entwicklungsvorstellungen über die zeitgenössische Krisenerfahrung hinweg aufrechtzuerhalten. Für die jüngere Generation der wissenschaftstheoretischen Historiker waren demgegenüber eher die wissenschaftstheoretischen Implikationen des mitristischen Geschichtsbilds wichtig. Der Ansatz Mitres, die Erklärung historischer Entwicklungen auf die Quellenarbeit zu stützen, stellte ein wichtiges Mittel zum wissenschaftlichen community-building dar, an dem den Historikern auch auf dem Hintergrund der Auseinandersetzung mit der Soziologie in starkem Maße und dringlicher als je zuvor gelegen war. Ungeachtet dessen ließ die krisenhafte Entwicklungssituation des Landes jedoch auch Modifizierungen des mitristischen Geschichtsbild notwendig werden, wie im folgenden zu zeigen ist.

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VII. Kreolische Gesellschaft und europäische Zuwanderung 1. Zuwanderung und gesellschaftliche Konfliktpotentiale Spätestens seit der ausgehenden Kolonialzeit wurde die geringe Bevölkerungszahl im Vizekönigreich von den reformerischen Teilen der Verwaltung wie auch den Meinungsführern der Händlergruppen und Agrarproduzenten als eines der wichtigsten Hemmnisse für die Entwicklung der Region interpretiert. Die dünne Besiedlung des Landes außerhalb der demographischen Verdichtungszentren erschien zunächst in wirtschaftlicher Hinsicht als ein Entwicklungsproblem. Während sich die ortsansässigen Eliten in den "Representaciones" der labradores (1793) bzw. der hacendados (1794) den physiokratischen Gedanken zu eigen machten, daß der Reichtum der Region in der Fruchtbarkeit ihres Bodens begründet liege (vgl. Chiaramonte 1982), woraus das kreolische Eigenwertgefühl neue Impulse bezog, waren der Ausdehnung der Agrarwirtschaft aufgrund des Arbeitskräftemangels zugleich enge Grenzen gesetzt. Auch militärische Erwägungen spielten eine Rolle. Die geringe Bevölkerungsdichte ließ eine dauerhafte Sicherung der indianischen Grenze nicht zu, und überdies kursierte in den administrativen Führungsgruppen die Furcht, daß man in einer massiveren Auseinandersetzung mit der portugiesischen Kolonialmacht im brasilianischen Raum, als es bis dahin bei den militärischen Konflikten um die Kolonie Sacramento, am Nordufer des Río de la Plata gelegen, der Fall gewesen war, nicht standhalten könne. Und schließlich kamen ordnungspolitische Überlegungen zum Tragen, d.h. die Verwaltung betrachtete weite Teile des Landesinnern als eine "Wüste" {desierto), die sich ihrer Kontrolle und Aufsicht entzogen und Delinquenten als Rückzugsgebiete dienten. Klagen darüber, daß randständige, dispersierte Gruppen der Landbevölkerung mit kriegerischen indianischen Völkern kollaborieren und unter dem Befehl ihrer Kaziken an militärischen Streifzügen teilnehmen würden, fanden sich bis in die siebziger Jahre des 19. Jahrhunderts. Der politischen Forderung, die Einwanderung zu fördern und eine neue Phase der Kolonisation einzuleiten, lagen insofern unterschiedliche Motivationen zugrunde. Hipólito Vieytes, einer der aufklärerischen Ökonomen, versprach sich davon eine Diversifikation der Agrarstruktur, einen Aufschwung des Getreideanbaus sowie, darüber vermittelt, auch eine Stabilisierung des einheimischen Manufakturwesens gegenüber der europäischen Konkurrenz (vgl. Weinberg 1956). Die Verwaltung hatte demgegenüber primär die Probleme der sozialen Kontrolle im Landesinnern vor Augen, die durch die dünne Besiedlungsstruktur und die Zerstreuung der Bevölkerung verschärft würden (vgl. Halperin Donghi 1976, 438f). Diese Gemengelage aus unterschiedlichen Faktoren, die die sozialen Ordnungsprobleme der Gesellschaft, die Sicherung der indianischen Grenze und die wirtschaftlichen Entwicklungsmöglichkeiten der Region betrafen, fand sich auch in dem politischen Diskurs der kreolischen Eliten nach 1810 wieder. Aber im Gefolge der Unabhängigkeitsbewegung gewannen diese Überlegungen einen neuen Stellenwert, d.h. sie wurden in ein übergreifendes Konzept gesell-

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schaftspolitischer Modernisierungsvorstellungen eingebunden, von dem her die Ziele der Einwanderungspolitik nunmehr definiert wurden. Zumindest den liberalen Elitegruppen erschien die Einwanderungsbewegung als ein maßgeblicher, häufig als der wichtigste Faktor, um die Modernisierung des Landes voranzutreiben und das politische Projekt der Nationbildung zu realisieren. Denn erstens, so die Überzeugung, könne solange nicht von einer Nation die Rede sein, wie es aufgrund der geringen Bevölkerungszahl nicht möglich sei, daß diese Nation ihr eigenes Territorium auch wirklich in Besitz nehmen würde. "La República Argentina", so Juan María Gutiérrez, zu diesem Zeitpunkt Innenminister, im Jahr 1852 vor der bonaerensischen Provinzversammlung (Ravignani 1937, IV 320), "es un vasto desierto. La materia primera de toda nación, que es la población, apenas está representada en la Provincia de Buenos Aires [...]" Und zweitens galt die Einwanderungsbewegung als eine zivilisierende Komponente, von der positive Einflüsse auf den gesamten Bereich des sozialen Verhaltens der Bevölkerung bzw. der gesellschaftlichen Organisation ausgehen würden, und die es erst ermögliche, die überkommenen, vorgeblich rückständigen Traditionen der spanischen Kolonialzeit zu überwinden und eine moderne Nation im Sinn des nordwesteuropäischen Modells aufzubauen. Die Einwanderung sei, so Bernardino Rivadavia, selbst Sohn eines spanischen Händlers, bereits 1818 (Bagú 1966, 128f), "[...] el medio más eficaz, y acaso único, de destruir las degradantes habitudes españolas y la fatal graduación de castas, y de crear una población homogénea, industriosa y moral, única base sólida de la Igualdad, de la Libertad, y consiguientemente de la Prosperidad de una nación." Allerdings ging es den liberalen Eliten nicht um eine Förderung der Zuwanderung schlechthin: Politisch erwünscht war vielmehr allein die Anziehung von Zuwanderern aus dem nordwesteuropäischen Raum, da diese in mentaler und kultureller Hinsicht die notwendigen Dispositionen für ein modernes Wirtschaftsgebaren und Sozialverhalten und für die Entfaltung einer bürgerlichen politischen Kultur mit sich bringen würden. Die Beendigung der Bürgerkriege nach 1861 sowie Entwicklungen außerhalb Argentiniens, wie der nordamerikanische Bürgerkrieg, ermöglichten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine massive Einwanderungsbewegung, nachdem sich bis dahin nur kleinere Ausländergruppen, so englische Kaufleute in der Provinz Buenos Aires, italienische Schiffer im litoral (vgl. Bosch 1975) und Agrarkolonisten in den Provinzen Santa Fe und Entre Ríos, in der Region niedergelassen hatten. Während 1869 die Zahl der Einwanderer in Argentinien bei ca. 300.000 lag und damit bereits 12,1 % der Gesamtbevölkerung ausmachte, zählte der Zensus von 1914 eine Gesamtbevölkerung von 7.885.237 Menschen, wobei 30,3% der Einwohner des Landes von Einwanderern gestellt wurden (Germani 1968, 185). Einzelne Räume, wie die Stadt Buenos Aires bzw. die Urbanen Zentren im litoral, wie Rosario, verzeichneten dabei in dem Zeitraum vor 1914 einen Bevölkerungsanteil von Zuwanderern, der bei über 50% der Einwohnerschaft lag. Zwangsläufig brachte diese Entwicklung politisch-soziale Folgewirkungen mit sich, die von den kreolischen Führungsgruppen weder vor-

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hergesehen noch erwünscht waren. Denn zum einen wurden dadurch, zumindest langfristig, Prozesse der Identitätsdiffusion angestoßen, weil die Zuwanderung das ethnische und auch soziale Gepräge der Gesellschaft veränderte und weil die eingesessene Bevölkerung überdies in einzelnen Regionen in den Status einer Minderheitengruppe geriet. Die Zuwanderung führte insofern auch dazu, daß die Frage nach dem Charakter der argentinischen Nation, ihren Traditionen und Werten, neuerlich an Aktualität gewann, und die Diskussion um die argentinidad, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts die politische Öffentlichkeit Argentiniens in so starker Form beschäftigen sollte, stellte maßgeblich eine Reaktion auf die Zuwanderung dar. Zum anderen brachte die massive Einwanderungsbewegung, die sich in der Realität in erster Linie aus dem südeuropäischen Raum, d.h. vor allem Italien und Spanien rekrutierte, eine Verschärfung der sozialen Konflikte mit sich. Eine maßgebliche Rolle spielten dabei die ländlichen Eigentumsverhältnisse. Die einwandernden Arbeitskräfte wurden häufig als Saisonarbeiter beschäftigt, teils erhielten sie zeitlich befristete Pachtverträge über Ländereien, wodurch die Kultivierung bis dahin brachliegender oder nur extensiv genutzter Ländereien gefordert wurde, ohne daß sich jedoch die Besitzverhältnisse über den Boden entscheidend geändert hätten. Daraus erklärten sich der hohe Anteil von Rückwanderern, der zu beobachten war1, wie auch das Phänomen der golondrina, d.h. der Beschäftigung italienischer Saisonarbeiter, die nur zu den Erntezeiten nach Argentinien einreisten. Kleinbäuerliches oder mittleres Eigentum im ländlichen Raum entstand nur in geringerem Rahmen, wie etwa im Süden der Provinzen Santa Fe und Córdoba, was auch mit dem regional unterschiedlichen Niveau der Bodenpreise zusammenhing. Dies führte dazu, daß die Einwanderer in großer Anzahl und entgegen den ursprünglichen Planungsvorstellungen der staatlichen Administration in den Urbanen Bereich, d. h. die Region Buenos Aires bzw. die Städte des litoral wanderten, wo sie im Manufakturwesen, Handel und Dienstleistungssektor tätig wurden, also in Bereichen, die mehr oder minder parallel zu der Prosperität der Agarexportwirtschaft expandierten. Die Zuwanderung entwickelte sich damit mehr und mehr zu einem Urbanen Phänomen (vgl. Nascimbene 1988). Sie verschärfte das Ubergewicht der atlantischen Region über das Landesinnere bzw. das der Städte über den ländlichen Raum. Die Einwohnerzahl von Buenos Aires stieg von ca. 187.000 im Jahr 1869 über 500.000 (1880) auf ca. 1.350.000 im Jahr 1913; die Provinzen Buenos Aires, Santa Fe, Córdoba und Entre Ríos, die 1869 48% der Gesamteinwohnerzahl Argentiniens umfaßten, steigerten diesen Anteil bis 1914 auf 72%. Mehr oder minder analog dazu wurden auch die klassischen Strukturprobleme der kreolischen Gesellschaft, also die Rivalitäten

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Zwischen 1880 und 1930 betrug der Saldo zwischen italienischen Zu- und Rückwanderern 52%; in der wirtschaftlichen Krisensituation des Jahres 1890 kehrten 97,7% der italienischen Einwanderer nach Italien zurück (Devoto/Rosoli 1985, 68).

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zwischen den Provinzen, die inter-fraktionellen Auseinandersetzungen der Elite und die Gefahr caudillistischer Erhebungen, durch neue politisch-soziale Konfliktpotentiale überlagert, die in den Folgewirkungen der Zuwanderung auf die Ausdifferenzierung der Sozialstruktur, die gesellschaftliche Akzeptanz politischer Machtverteilungen oder die Entstehung einer Arbeiterbewegung begründet waren. Die soziale und politische Brisanz dieser Entwicklung blieb den Eliten lange Zeit verborgen. Vielleicht waren sie in ihren mittel- und längerfristigen Konsequenzen anfänglich nicht absehbar; vielleicht spielte eine Rolle, daß etwa das soziale Aufstiegsstreben von Zuwanderern, das zunächst die Aufmerksamkeit wie auch die Besorgnis politischer Beobachter auf sich zog, eher den mittelständischen Gruppen der kreolischen Gesellschaft bedrohlich wurde, nicht jedoch den engeren Zirkeln der Elite selbst. Zumindest ist zu konstatieren, daß es zunächst diese mit der sozialen Elite verbundenen, aber zugleich von ihr abhängigen Gruppen waren, wie Mitglieder der politischen Klasse selbst, dann Teile des administrativen Dienstleistungssektors sowie auch akademische Kreise, die als erste eine ablehnendere Haltung gegenüber den Zuwanderern entwickelten, da diese einen Zugang zu dem mittelständischen Wirtschaftssektor sowie den Dienstleistungs- wie auch akademischen Berufen suchten. Aber auch andere Motive für früh-xenophobe Reaktionen waren denkbar, wie etwa die kulturellen Ressentiments, die innerhalb der Provinzeliten gegenüber der Politik des bonaerensischen Liberalismus kursierten und die auf die Zuwanderer übertragen werden konnten. Eine Sondergruppe in dieser sich bildenden Ablehnungsfront gegen die Zuwanderung stellte schließlich der kreolische Klerus dar, der bereits in den siebziger Jahren scharfe Angriffe konkret gegen die italienischen Immigranten richtete2. Auch in diesem Fall spielte die Sorge um die eigene Besitzstandswahrung eine hervorgehobene Rolle. Die Nuntiatur in Buenos Aires setzte sich in starkem Maße für die italienische Gemeinschaft im La Plata-Raum ein, und die Kongregation der Salesianer verstand es, kirchliche Aufgabenfelder, wie das kirchliche Schulwesen für die Einwanderergruppen oder die Missionstätigkeit in Patagonien, weitgehend zu monopolisieren. Kreise des kreolischen Klerus erlebten diese Ausdehnung des italienischen Einflusses teils skeptisch, teils offen ablehnend. Hinzu trat ein weiteres Motiv, nämlich die innerhalb des kreolischen Klerus kursierenden Vorbehalte gegenüber einer Bevormundung durch die vatikanische Hierarchie, die insofern auf die italienischen Zuwanderer übertragen werden konnten, als, worauf Daniel Santamaria hinweist, im kreolischen Denken eine pauschale Identifikation zwischen dem Katholizismus einerseits und Italien andererseits bestand (vgl. Santamaria 1990, 145). In den engeren Elitekreisen wurde die Zuwanderung demgegenüber erst seit der zweiten Hälfte der achtziger Jahre als ein politisch-soziales Problemfeld

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In der katholischen Zeitung "Los Intereses Argentinos" v. 18.2.1870 etwa wurden die Italiener pauschal als "Banditen" bezeichnet.

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wahrgenommen. Ein Indiz dafür war die Diskussion um eine "automatische" Naturalisierung der Zuwanderer bzw. den Erwerb der argentinischen Staatsbürgerschaft, die um das Jahr 1890 herum geführt wurde (vgl. Di Telia 1989). Eher reformorientierten Kreisen der politischen Klasse Argentiniens erschien die Ausschließung breiter Bevölkerungskreise vom Wahlrecht als ein Faktor, der zur Destabilisierung der Gesellschaft beitragen würde, zumindest aber der Förderung der Integration der Zuwanderer in die Nation nicht förderlich sei. Die Revolution von 1890, an der auch Einwanderer beteiligt waren, sowie die Sympathie, die Teile der italienischen Presse für die sich bildende sozialistische Bewegung erkennen ließen, führten jedoch dazu, daß die politischen Entscheidungsträger diese Frage seit dem Spätsommer 1890 zunehmend kühler behandelten (vgl. Gandolfo 1991, 46f). Nachteilig wurde insbesondere der italienischen Bevölkerungsgruppe angelastet, daß sie ihre Ziele auf der Straße durchzusetzen versuchen würde, wodurch politische Unruhen und soziale Unordnung nur gefördert würden. Die einflußreiche Zeitung "La Nación" schlug deshalb vor, daß man ohnehin nur den gebildeten und wohlhabenden Angehörigen der italienischen Nationalitätengruppe ein aktives Wahlrecht konzedieren solle, nicht aber der Gesamtheit der Bevölkerungsgruppe (Gandolfo 1991, 46). Konkrete Maßnahmen erwuchsen aus dieser Diskussion nicht. Auch die Wahlrechtsreform von 1912 schloß die Einwanderer in der ersten Generation, die die argentinische Staatsbürgerschaft nicht erworben hatten, weiterhin vom Wahlrecht aus. Die Fähigkeit der argentinischen Gesellschaft zu einer, wie es in der zeitgenössischen Terminologie hieß, Assimilation der Zuwanderergruppen und einer automatischen Auflösung der sozialen Konfliktpotentiale im Fortgang des wirtschaftlichen und sozialen Entwicklungsprozesses wurde in den kreolischen Elitengruppen zunehmend skeptisch beurteilt. Bereits im Jahr 1889 erklärte das "Departamento General de Inmigración" die Anwerbung italienischer Einwanderer für "unangebracht" (vgl. Devoto 1989, 137), und 1890 gab Juárez Celman in seiner Regierungserklärung (Mabragaña 1910, IV, 343) erstmals von höchster staatlicher Seite aus dem Gedanken Ausdruck, daß eine Integration der europäischen Zuwanderer in ihrer Gesamtheit weder möglich noch wünschenswert sei. Im Jahr 1902 urteilte dann Roca, daß die Zuwanderungsbewegung das gleiche soziale Konfliktpotential wie in den europäischen Industriegesellschaften hervorbringen würde, weshalb besondere, repressive Gesetzesmaßnahmen unerläßlich seien. Und konkret zählte Roca bei den zu beobachtenden politischsozialen Desintegrationstendenzen, für die er die Zuwanderer verantwortlich machte, Phänomene wie die kulturelle Heterogenität insbesondere in der Hauptstadt, gewalttätige Verletzungen der öffentlichen Ordnung (MabragaSa 1910, V 23), die Streikbewegungen der Arbeiterschaft sowie allgemein die Zunahme der

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"Delinquenz" (Mabragaña 1910, V 30) auf. Auch in akademischen und bildungsbürgerüchen Kreisen wurde diese Problematik intensiv diskutiert3. Die politische Integrationsabsicht gegenüber den Zuwanderern schlug damit seit etwa der ersten Zuspitzung der politisch-sozialen Systemkrise des Landes in der Revolution von 1890 in Teilen der Elitegruppen und der mittelständischen Kreise in Abgrenzungsbestrebungen, Stigmatisierungen und auch xenophobe Reaktionen um. Allerdings waren die einzelnen Einwanderergruppen in unterschiedlichem Maße davon betroffen. Die Vorbehalte, die in der politischen Öffentlichkeit zum Ausdruck gebracht wurden, galten neben eher marginalen Einwanderergruppen, wie etwa solchen aus dem osteuropäischen Raum, vor allem den Italienern, während sich das Bild der spanischen Zuwanderung günstiger gestaltete. In politischer Hinsicht reagierten die kreolischen Führungsgruppen dabei zunächst im Bereich der Bildungspolitik auf diese Entwicklungen, worin sich das Bestreben kundtat, die Regulierung des sozialen und politischen Konfliktpotentials in einen Bereich begleitender Erziehungsmaßnahmen zu verschieben, wovon die Struktur der überkommenen Ordnung nicht berührt wurde (vgl. Bunge 1910). Hatte Roca 1881 (Mabragaña 1910, IV 21) den staatlich kontrollierten Prozessen historisch-politischer Sozialisation noch das Ziel gestellt, zur Ausmerzung der "Keime der Anarchie" in Argentinien beizutragen (was nur eine Verklausulierung dafür darstellte, daß die Dispositionen für provinziale Insurrektionen abgebaut werden sollten), so gab Juárez Celman der Erziehungspolitik 1888 erstmals eine neue, nunmehr konkret auf die Zuwanderungsproblematik gemünzte Stoßrichtung. Ein Land, das "jährlich Tausende von Menschen aller Rassen" anziehe, müsse, so der Staatspräsident, seine "Kultur" stärken (Mabragaña 1910, IV 251f). Und ein Jahr später sprach Juárez Celman (Mabragaña 1910, IV 332) im gleichen Sinn von einer notwendigen Erziehung zum "Patriotismus", die er als ein Korrektiv gegen die Einwanderungsbewegung und die dadurch angestoßenen Integrationsprobleme der Gesellschaft verstand. Im Zusammenhang mit der Einwanderungsbewegung hatte das Erziehungswesen bereits im Jahr 1881 die politische Aufmerksamkeit auf sich gezogen. In diesem Jahr führte die italienische Bevölkerungsgruppe in Buenos Aires den Ersten Italienischen Kongreß für Pädagogik durch. Obwohl auf dem Kongreß beschlossen wurde, daß an den italienischen Schulen, die teils von den Unterstützungs- und Hilfsvereinen der italienischen Nationalitätengruppe, teils

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Auf dem Kongreß in Tucumán 1916 konstatierte der Jurist Carlos O. Malagarriaga, "[...] que la asimilación del extranjero al medio social americano no existe o no ha sido bastante completa" (Memoria 1917, 354). Aufschlußreich ist in diesem Zusammenhang auch eine Befragung über die Einwanderungspolitik (La inmigración 1919), die das 1910 gegründete "Museo Social Argentino", eine Art sozialwissenschaftliches Institut, im Jahr 1918 unter renommierten Bürgern von Buenos Aires durchführte. Häufig fanden sich in den Antworten sozialdarwinistische Anschauungen, die eine "rassische" Selektion der Zuwanderer befürworteten.

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von der Kirche und insbesondere der Kongregation der Salesianer getragen wurden, die Unterrichtung in spanischer Sprache und argentinischer Geschichte Berücksichtigung finden sollte, sparte die bonaerensische Presse im Vorfeld nicht mit kritischen Bemerkungen. Die Zeitung "El Nacional" warnte am 13. bzw. 19. Januar 1881 vor den Gefahren, die eine "enseñanza italianizante" und der damit verbundene Autbau eines "Italien in Amerika" für die Nation mit sich bringen würden. Diese Ablehnungen gegenüber einer Bildungspolitik, die von anderen ethnischen oder Nationalitätengruppen konzipiert war und nicht der Kontrolle des Staates unterlag, setzten sich in der Folgezeit fort. José A. Natale z.B., der im Jahr 1907 vom "Consejo Nacional de Educación" mit der Begutachtung des außerordentlich erfolgreichen, aus dem Italienischen übersetzten Lesebuchs "Corazón" beauftragt wurde, erklärte, daß das Buch "sehr italienisch", deshalb "unseren" Gefühlen fremd und jede Imitation des Textes gefahrlich sei ("...el original es bien italiano, demasiado italiano...Toda imitación de 'Corazón' es peligrosa - en él todo es italiano"4). Nach 1888 gewann die staatliche Erziehungspolitik einen zunehmend nationalistischen Grundton, der nunmehr aber neue Konnotationen besaß, d.h. nicht länger auf die Integrationsprobleme des Landes in regionaler Hinsicht abzielte. Diese Politik war auch auf außenpolitische Entwicklungen, so die Grenzstreitigkeiten mit Chile in diesem Zeitraum, zurückzuführen, lag jedoch in erster Linie in der Furcht begründet, daß die Zuwanderung zu einer Zersetzung der nationalen Einheit des Landes und zu einem Verlust des nationalen Selbstverständnisses führen würde. Im Bildungsbereich dokumentierte sich diese Furcht gegen Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts in einem Bündel von Erlassen und Gesetzesvorschriften, die bei Escudé (1990) näher beschrieben sind. 1899 verfügte die Regierung, daß nur eingesessene Argentinier (nativos) Geschichte und Geographie an den Schulen unterrichten dürften. Im März 1900 wurde das Singen der Nationalhymne und anderer "patriotischer" Lieder zu einem obligatorischen Bestandteil des Primariaunterrichts erklärt. 1902 wurden alljährliche schulische Festveranstaltungen anläßlich der Mairevolution von 1810 und der Proklamation der Unabhängigkeit von 1816 dekretiert. 1908 bzw. 1909 wurden diese Bestimmungen durch die Einführung weiterer Gedenktage ergänzt, so die Einrichtung der Semana de Mayo, dann den 2. November ("Dia de los muertos por la patria") bzw. den 20. Juni ("Jura de la bandera"). Ihren Höhepunkt fand diese Entwicklung hin zu einer nationalistischen Ausgestaltung des Unterrichts in dem Wirken der sogenannten Kulturnationalisten, wie Ricardo Rojas (vgl. Glaubert 1963), sowie in der Tätigkeit des "Consejo Nacional de Educación" zwischen 1908 und 1912, als José María Ramos Mejía dem Gremium vorstand. Rojas (1882-1957), ein Repräsentant der Elitegruppen im Landesinnern (sein Vater war Gouverneur der Provinz Santiago del Estero) und später Lehrstuhl-

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Vgl. dazu die No. 419 der Zeitschrift "El Monitor de la Educación Comun" (1907), 299ff.

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inhaber für argentinische Literatur an der Universität Buenos Aires, beschäftigte sich in seinen Schriften vor allem mit der Rehabilitierung des spanischen wie auch des indianischen Erbes der Nation, ferner mit der Rolle der Provinzen im Entwicklungsprozeß der Region sowie mit Fragen der Erziehung. In seinen Schriften verdichtete sich die Ablehnung, die die jüngeren, aristokratischen Kreise der Provinzeliten gegen das "kosmopolitische" Buenos Aires und die davon vermeintlich ausgehende Zerstörung der nationalen Werte und Traditionen empfanden, woraus sich im übrigen vielerlei Überschneidungen mit dem sogenannten Geschichtsrevisionismus ergaben. "Nosotros", so Rojas (1912, 163), "queremos ver nuestro pasado como hombres de América. Bárbaros, para mi, son los 'extranjeros' del latino [...]" Anders als andere Kulturnationalisten plädierte Rojas dabei allerdings für eine Integration der Zuwanderer in die argentinische Gesellschaft, nicht aber für deren Ausgrenzung. Im Jahr 1909 publizierte er "La restauración nacionalista", in dem er die Erfahrungen zusammenfaßte, die er bei einer vom Staatspräsidenten Figueroa Alcorta angeordneten Informationsreise über die Erziehungssysteme in einzelnen europäischen Ländern gewonnen hatte. Seine besondere Aufmerksamkeit galt dem Geschichtsunterricht, dem er die Funktion beimaß, zur Integration der Zuwanderer beizutragen, der aber in Argentinien in einem verheerenden Zustand sei und dessen Versagen darin, eine "patriotische" Erziehung zu gewährleisten, auch ein Grund für die Revolution von 1890 dargestellt habe. Rojas reklamierte, daß vor dem Hintergrund der Zuwanderungsbewegung, dieser "kosmopolitischen Invasion", die "Achse" des Geschichtsunterrichts die spanische Geschichte und Kultur sein müsse, wolle man die eigene Nationalität erhalten (1909, 316ff). Der bis dahin übliche, um die Heroen von 1810 und die Schlachtengemälde des Unabhängigkeitskampfes zentrierte Unterricht, erschien ihm dazu allerdings untauglich: Notwendig sei es vielmehr, einen kulturgeschichtlichen Lehrgang anzubieten, der sich auf das hispanisch-lateinische Erbe der Gesellschaft konzentrieren würde (377). Rojas war damit eine der treibenden Kräfte, die auf dem Hintergrund der Zuwanderungsbewegung eine Re-Hispanisierung des nationalen Selbstbilds unterstützten. Ähnlich motivierte Überlegungen, die allerdings zu anderen Schlußfolgerungen führten, gab es auch im "Consejo Nacional de Educación". 1910 monierten Inspektoren des "Consejo" (1913, 8ff) bei einer Überprüfung des öffentlichen Schulwesens in Buenos Aires die fehlende Zuneigung von Lehrern und Schülern zu den "patriotischen Symbolen", die Tätigkeit zahlreicher Einwanderer als Lehrer sowie die Verwendung ausländischer, vor allem spanischer und französischer Schulbücher. Ramos Mejía, Präsident des "Consejo", zog daraus den Schluß, daß das Bildungswesen seine Funktion als Faktor zur Nationalisierung der Zuwanderergruppen nicht erfülle. Notwendig sei eine staatliche Aufsicht des privaten Schulwesens, ferner eine Reform insbesondere des Geschichtsunterrichts, dessen Stundenzahl zu erhöhen sei. Anders als Rojas und auch in Abgrenzung zu den Geschichtsrevisionisten plädierte der "Consejo" jedoch für die Beibehaltung der patriotischen Liturgie, wie sie die traditionelle

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liberale Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts entworfen hatte und die es nurmehr zu intensivieren gälte. Die Schule, so Mariano de Vedia in der Ausgabe des "El Monitor de la Educación Común" vom 31. Dezember 1907, sei für das Vaterland das, was die Kirche für die Religion darstelle. Ernesto A. Bavio, der 1909 zum Technischen Generalinspekteur des "Consejo" ernannt wurde, publizierte in der gleichen Zeitschrift am 30. Juni 1910 eine "Patriotische Lektion", die eine säkularisierte Form des Vaterunser darstellte ("San Martin, Moreno, Belgrano, Rivadavia/ padres ilustres de la República Argentina/ que moráis en las regiones excelsas de la inmortalidad en la historia/ fundadores de la libertad..."). Und im Jahr 1909 argumentierte auch Juan P. Ramos (1910,1 143ff) in einer für den "Consejo" ausgearbeiteten Denkschrift, daß die Schule ihr historisch-politisches Sozialisationsziel nur durch die Institutionalisierung eines "patriotischen Kults" erreichen könne ("...instaurar en la escuela el culto patriótico, el culto a los símbolos y a los héroes de la Patria, debemos hacer retener los hechos, las fechas y los nombres de nuestra historia nacional"). Ähnlich wie die Historische Akademie im akademischen Bereich setzte sich damit der "Consejo" im Erziehungsbereich für eine Abschließung des offiziellen Geschichtsbilds im klassisch-liberalen Sinn ein. Daß es ungeachtet dessen durchaus unterschiedliche Vorstellungen gab, was diese angestrebte Nationalisierung von Schule und Unterricht betraf, und daß konkret auch im "Consejo" eher konservative mit sogenannten radikal-demokratischen Kräften rivalisierten, soll uns an dieser Stelle nicht weiter interessieren. Festzuhalten bleibt, daß die Diskussion der argentinidad und die Frage nach der Nation und ihrem Charakter nach 1890 weitgehend im Kontext der Zuwanderungsbewegung und der dadurch sich verschärfenden sozialen, inter-kulturellen oder auch ethnischen Konflikte innerhalb der Gesellschaft standen. In der politischen Öffentlichkeit des Landes führte dies zu einem gesteigerten Interesse an der Geschichte der Region, und dieser Prozeß kulminierte im Umfeld der Zentenarfeiern von 1910. Die Antworten, die die kreolischen Eliten dabei auf die Frage nach der nationalen Identität und Geschichte zu geben suchten, fielen unterschiedlich aus, und es gab auch weiterhin einflußreiche und in politischer Hinsicht mächtige Kreise, wie etwa im Umkreis der Zeitung "La Nación", deren Entwicklungsoptimismus ungebrochen war und die daran festhielten, daß die massive Zuwanderungsbewegung letztlich durch die argentinische Gesellschaft assimilierbar sei und zum Wohl ihrer Entwicklung beitragen würde. Aber auch diese Kreise entzogen sich nicht der allgemein in der kreolischen Gesellschaft zu Beginn des 20. Jahrhunderts zu beobachtenden Tendenz, in der Reaktion auf die Zuwanderungsbewegung zu einer neuen, zumindest deutlicheren Definition dessen kommen zu wollen, was denn die argentinische Nation im Grunde eigentlich sei.

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2. Die Re-Hispanisierung des Geschichtsbilds Die Vorstellung, daß das Jahr 1810 einen Bruch aller bis dahin bestehenden Kontinuität dargestellt und eine neue Geschichte überhaupt erst begründet habe, gehörte zum mehr oder minder festen Überzeugungsrepertoire der liberalen Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts. Ihre Vertreter hatten ungeachtet ihrer internen, zumeist politisch motivierten Differenzen über die Konstruktion eines nationalen Pantheons und einer entsprechenden Symbolik versucht, dieses Nationverständnis zu konkretisieren, um es als legitimatorische Klammer im politischen Nationbildungsprozeß einsetzen zu können. Und es verwundert angesichts der Herkunft und der Traditionen dieses Geschichtsbilds nicht, daß die gleiche patriotische Liturgie auch im frühen 20. Jahrhundert bemüht wurde, um die nunmehr in anderer Form und Struktur sich darstellenden Integrationsprobleme der Gesellschaft in symbolischer Hinsicht zu bearbeiten. Wortführer der politischen Klasse, die Historische Akademie, der "Consejo Nacional de Educación" und die Tageszeitung "La Nación" waren dabei die wichtigsten Träger dieser patriotischen Geschichtsbetrachtung, und die Schriften Mitres stellten ihre wohl wichtigste Klammer dar. So veröffentlichte "La Nación" am 21. März 1890 unter der Überschrift "Enseñanza patriótica" einen Artikel, in dem die Übermittlung der "Opfer und Anstrengungen der Vergangenheit" sowie der Heldentaten der "Begründer der argentinischen Nationalität" um und nach 1810 als das geeignete Mittel dargestellt wurde, um den Zuwanderern einen Eindruck davon zu geben, was das Legat der argentinischen Nation ausmachen würde. Und ähnlich argumentierte auch die Tageszeitung "La Prensa" am 1. April 1910 auf dem Hintergrund der Zentenarfeiern von 1910 und dieses Mal im Hinblick auf die sozialen Konflikte des Landes, daß sich sowohl die "argentinischen Arbeiter" wie auch die Politiker des Landes auf die Mairevolution von 1810 und deren Traditionen besinnen sollten, um den sozialpolitischen Auseinandersetzungen Einhalt zu gebieten. Aber die veränderte gesellschaftspolitische Situation, die neuen Formen politisch-sozialer Integrationsprobleme und schließlich auch die sich damit ändernden Anforderungen an die historisch-politische Symbolik und ihre potentielle Funktion, sowohl ein nationales Wir-Gefühl zu schaffen wie auch soziale Ab- und Ausgrenzungsprozesse zu legitimieren, machten zugleich Erweiterungen, auch Modifikationen dieses Geschichtsbilds notwendig. Vor diesem Hintergrund entstand der Gedanke der vieja patria, der angesichts einer als allzu "kosmopolitisch" empfundenen Gegenwart des Landes den Mythos des alten, eigentlichen und "gesunden" Argentinien schuf. Exemplarisch stellte sich dies in dem Nekrolog des Staatspräsidenten Figueroa Alcorta vom Jahr 1906 (Figueroa Alcorta 1933, 143) auf den General Heras dar: Sin amenguar nuestro hermoso cosmopolitismo, hay que pensar más en ella; hay que mirar más hacia la vieja patria heroica, sencilla, fuerte, noble; hay que conservar en el presente la sensación moral y material exacta del punto de partida; hay que observar que solo á condición de mantener incólumes los títulos fundamentales de la

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nacionalidad, resulta luminosa y grande la visión del provenir! Y estas reliquias de un héroe, que llegan bendecidas por el sentimiento cívico de su posteridad, parece que trajeran consigo algo del ambiente sano, robusto, incontaminado, de aquellos viejos tiempos. In gewisser Hinsicht stellte der Topos der vieja patria das von der liberalen Geschichtsschreibung ausgehende Komplement zum Geschichtsrevisionismus dar, weil er wie dieser das Augenmerk der Betrachter auf die Entwicklungsprozesse der Nation lenkte, die auf einer Ebene der langen Zeitdauer angesiedelt waren und über das Jahr 1810 hinaus in die koloniale Geschichte der Region zurückgingen. Parallelen fanden sich darüber hinaus aber auch im Hinblick auf die politisch-sozialen Funktionsleistungen, wie sie beiden Formen der Geschichtsbetrachtung zugeschrieben wurden. Denn auf dem Hintergrund der sozialen Wandlungsprozesse der Gesellschaft und der europäischen, vor allem italienischen Zuwanderung barg auch der Topos der vieja patria, wie der Geschichtsrevisionismus selbst, die Option sozialer Abgrenzungsleistungen gegenüber den Einwanderern, indem er ein eng kreolisches, von den Zeitgenossen als hidalgisch tituliertes Geschichtsverständnis hervorbrachte. Diese Abgrenzungsfunktion des hidalgischen Geschichtsbilds war doppelter Art. Einerseits richtete sie sich gegen die sozialen Aufstiegsbestrebungen und Karrierebemühungen der Zuwanderer. Das hidalgische Geschichtsverständnis beinhaltete die Vorstellung, daß den eingesessenen kreolischen Gruppen die eigentlichen Verdienste um die Entwicklung des Landes zukämen und daß sich in der Gesellschaft im La Plata-Raum ein traditionell verbundenes und zugleich verdientes System von "blutsmäßig" zusammengeschlossenen Familien ausgebildet habe, die über ein großes soziales Prestige verfügten, und von dessen Zugang die erst seit kurzer Zeit im Land befindlichen Immigranten von vornherein ausgeschlossen wären (vgl. Prieto 1982, 156ff). Andererseits reproduzierte das hidalgische Geschichtsverständnis zugleich auch die Ängste, die in den kreolischen Elitekreisen im Zuge der Verschärfung der politischsozialen Systemkrise des Landes vor sozialen Unruhen und vor einer Zersetzung der "Nation" kursierten. Es implizierte modellhafte Vorstellungen einer Gesellschaftsordnung, die organisch konzipiert und streng hierarchisch angelegt war und die nunmehr, wie es schien, unter dem Zuzug immer größerer Einwanderermassen endgültig zu zerbrechen drohte. Eine wichtige Trägergruppe dieser Anschauungen waren die sogenannten Kulturnationalisten (vgl. Rock 1987), also die intellektuelle Gruppe, die sich erstmals um die Kulturzeitschrift "Ideas" zusammenschloß, die zwischen 1903 und 1905 in Buenos Aires erschien (vgl. Gálvez 1961, 41f). Bei ihren Repräsentanten handelte es sich vor allem um jüngere Intellektuelle, die aus Familien der Provinzeliten stammten, wie den erwähnten Rojas, dann Manuel Gálvez aus Entre Ríos, Emilio Becher aus Rosario, Carlos Ibarguren aus Salta und schließlich Leopoldo Lugones aus Córdoba. Diese Gruppe um die Zeitschrift "Ideas" repräsentierte zunächst eine kulturkritische, bewußt anti-positivistische Strömung

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des politischen Denkens. Ihre Anhänger waren entsprechend ihrer sozialen Herkunft mehrheitlich aristokratisch-elitär gesonnen, und sie versuchten, das eigene Selbstverständnis auf die kolonialen Traditionen der Gesellschaft oder auch das Wirken der ersten Konquistadoren zurückzuführen, als deren Nachfahren man sich verstand (vgl. Cardenas/ Payá 1978), worin sich im übrigen auch neuerlich der zwanglosere Umgang von Angehörigen der Provinzeliten mit der kolonialgeschichtlichen Vergangenheit dokumentierte, dem wir bereits mehrfach begegnet sind. Der Zuwanderungsbewegung standen die Kulturnationalisten, sehen wir von Rojas oder dem jungen Lugones ab, meist skeptisch, mitunter offen feindselig gegenüber. So schrieb Arturo Reynal O'Connors in der Zeitschrift "Ideas" (1905, 259), daß durch die Zuwanderung die argentinische Nation untergehen würde, und Emilio Becher bezeichnete die argentinische Gesellschaft in einem Beitrag in der Zeitung "La Nación" vom 20. Juni 1906 als einen nurmehr abstrusen "Turm von Babel". Die notwendige, innere Regeneration der Gesellschaft erhofften sich die sogenannten Kulturnationalisten durch einen Rückgriff auf das hispanische Erbe der Gesellschaft und die überkommenen "patriotischen" Gefühle, wobei es allerdings beträchtliche Differenzen darüber gab, welche Rolle man darin dem Staat beimaß und ob der Geschichtsschreibung oder aber nicht vielmehr der Literatur die Aufgabe zufallen würde, nationale Werte und Traditionen hervorzubringen und darzustellen. Der militanteste Kopf dieser Gruppe war wohl Manuel Gálvez3, der im Jahr 1910 und im Hinblick auf die Zentenarfeiern sein "Diario de Gabriel Quiroga" publizierte. Gálvez verherrlichte darin die vieja patria vor der Zuwanderung, die zwar arm, ohne Ansehen und politischer Macht gewesen sei, die jedoch ein "nationaler Geist" erfüllt habe, der zwischenzeitlich völlig verlorengegangen sei. Und Gálvez (1910,51ff) entwarf eine Hierarchie nationaler Werte und Traditionen, die über das Argentinische und das Amerikanische auf das Spanische und Latinische in der eigenen Geschichte zurückging: Hasta hace pocos años el país era pobre, carecía de fuerza y de prestigio, tenía escasa población [...] Pero entonces, en cambio, había un espíritu nacional, el patriotismo exaltaba á nuestros soldados y á nuestros escritores, ideales de patria se dilataban por todas las comarcas del territorio, eramos argentinos y no europeos [...] El nacionalismo significa ante todo un amor serio y humano hacia la raza y hacia la patria [...] Nos recuerda que somos latinos, pero antes españoles, pero antes aún americanos y antes de todo argentinos para que, sacando de nuestra conciencia colectiva, de nuestra historia, de nuestra estirpe y de nuestro ambiente, lo argentino, lo americano, lo español y lo latino.

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Gdlvez schlug u.a. einen Krieg gegen Brasilien vor, um dadurch Argentinien ein in nationaler Hinsicht integrierendes "Erlebnis" zu verschaffen (vgl. Gälvez 1910,11t).

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Anschauungen dieser Art häuften sich, wie Adolfo Prieto nachweist, in der autobiographischen Literatur gegen Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts sowie gemeinhin in den literarischen Schriften von Angehörigen der sozialen Elite des Landes, was auch damit zusammenhing, daß eine Reihe der Kulturnationalisten, wie Lugones oder Gálvez, unter dem Eindruck des europäischen fin de siècle (vgl. Meyer-Minnemann 1979) weniger in der Geschichtsschreibung als vielmehr in der fiktionalen Erzählung das geeignete Medium zur Wiedererweckung des argentinischen Nationalempfindens sahen (vgl. Onega 1982). Eingang fand das kreolisch-hidalgische Selbstverständnis jedoch auch unmittelbar in die Geschichtsschreibung. So ging etwa Dardo Corvalán Mendilaharsu, der aus Entre Ríos stammte und nach dem Studium der Jurisprudenz politische und diplomatische Tätigkeiten ausübte, in seinem Buch über "Die Epoche von Rosas" (1913) auch auf die Rolle ein, die der General Manuel Corvalán, mit dem Verfasser verwandt, unter Rosas gespielt hatte. Auffallend ist dabei der Stellenwert, den der Verfasser den Hinweisen auf die Abstammung der Corvaláns oder anderer aus den alteingesessenen, verdienten Familien im La Plata-Raum beimaß. Sich wiederholende Formulierungen, wie: "Manuel Corvalán [...] pertenece a familias de ilustre antigüedad, de las más aparentadas en América, [...] Don Antonio Crespo pertenecía a una ilustre y antigua familia del litoral" (19ff) , waren dabei als ein verklausulierter Hinweis darauf zu lesen, daß diese Familien und ihre Nachfahren aufgrund ihrer Herkunft Verdienste wie auch Privilegierungsansprüche besitzen würden, von denen die Zuwanderer von vornherein ausgeschlossen wären. Das hidalgische Geschichtsverständnis diente hier vorrangig der sozialen Statusverteidigung der eingesessenen kreolischen Familien; es begünstigte dadurch aber auch Diskriminierungen und Ablehnungen der Zuwanderer, vor allem der Italiener. Das hidalgische Geschichtsverständnis bedingte eine Neuinterpretation des hispanischen Erbes der Gesellschaft. Das Bild Spaniens bzw. der spanischen Kultur und Tradition stand in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts unter dem Eindruck der Unabhängigkeitsbewegung und der dadurch notwendigen politischen Abgrenzungszwänge, und entsprechend negativ war es gefaßt. Allerdings ist zu konstatieren, daß das Bild Spaniens im La Plata-Raum nicht in dem Maße ins Negative gekehrt wurde, wie es in anderen Regionen Hispanoamerikas der Fall war. Möglicherweise hing dies damit zusammen, daß Buenos Aires selbst nach der Unabhängigkeitsbewegung keine spanische reconquista erfahren hatte und die kriegerischen Auseinandersetzungen mit den Royalisten auf die Banda Oriental und die vergleichsweise abgelegenen Provinzen im Norden des ehemaligen Vizekönigreichs begrenzt waren. Zwar war das Denken der kreolischen Elite anti-spanisch geprägt. Aber konkret das mitristische Geschichtsbild beanspruchte für den La Plata-Raum im Vergleich zu den anderen Teilen Amerikas bestimmte Entwicklungsbesonderheiten, die demographischer, sozialer

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und ökonomischer Art waren und aus der Kolonialgeschichte herrührten6. Mitre versuchte daraus eine Sonderrolle Argentiniens im Emanzipationsprozeß Amerikas herzuleiten, und insoweit barg das mitristische GeschiehtsVerständnis von Beginn an potentielle Möglichkeiten, hispanische Traditionen in das nationale Selbstbild zu integrieren und in der Betrachtung der nationalen Geschichte über den vermeintlichen Nullpunkt von 1810 hinaus in die Kolonialgeschichte zurückzugehen, sofern die politischen Rahmenbedingungen dies, wie es dann in der Systemkrise Argentiniens um die Jahrhundertwende der Fall war, opportun erscheinen ließen. In Buenos Aires führten zunächst die Niederwerfung des Regimes von Rosas sowie die Konfrontation mit der Regierung in Paraná in den fünfziger Jahren zu einer Lockerung der anti-spanischen Haltung. Parallel zur Errichtung eines spanischen Konsulats in Buenos Aires wurde der spanischen Bevölkerungsgruppe der Aufbau eines eigenen Vereins- und Pressewesens konzediert. Die Führungsgruppe der spanischen Gemeinschaft engagierte sich schnell in der politischen Öffentlichkeit, wobei ihr Interesse nicht zuletzt darauf gerichtet war, auf dem Gebiet der politischen und kulturellen Symbolik die überkommenen Negativzeichnungen Spaniens zu revidieren. So erschien bereits in der ersten Ausgabe der Zeitung "Revista Española" im November 1852 eine Kritik an einer allegorischen Darstellung, die die bonaerensische Nationalgarde benutzte und die eine Kriegerin zeigte, zu deren Füßen ein besiegter Löwe lag, worin der Sieg der Unabhängigkeitsbewegung über Spanien symbolisiert werden sollte. Ferner galt bereits zu diesem Zeitpunkt das Interesse der spanischen Publizisten in Buenos Aires der leyenda negra, die kritisiert wurde. Und schließlich widmete man sich auch den im Alltag kursierenden, abwertenden Witzen über die Spanier (chistes de gallegos) und führte dazu Auseinandersetzungen mit der einheimischen, kreolischen Presse (vgl. Moya 1989, 503f). Ungeachtet dieser Organisation- und Artikulationsmöglichkeiten, die der spanischen Bevölkerungsgruppe nach 1852 eingeräumt wurden, blieb das Verhältnis zwischen der politischen Elite in Buenos Aires und den Meinungsführern der spanischen Einwohnerschaft distanziert. Dies lag an den aus der Unabhängigkeitsbewegung überkommenen Ablehnungen Spaniens, erklärte sich aber auch aus dem politischen Profil der spanischen Bevölkerungsgruppe, in der in zunehmendem Maße Galizier, Basken und Katalanen vertreten waren (vgl. Yañez Gallardo 1989). Diese Gruppen waren gegenüber dem spanischen Liberalismus als eine vermeintlich nur neue Spielart des kastellanischen Zentralismus ablehnend eingestellt, und insbesondere die Basken bildeten darüber hinaus die Trägergruppe einer monarchischen und betont katholischen Gesinnung. Die,

6 Das galt etwa für den Gedanken, daß sich im La Plata-Raum eine sozial egalitärere Gesellschaft als in anderen Teilen Amerikas entwickelt habe, was wiederum dazu gefühlt habe, daß diese Gesellschaft in besonderem Maße über demokratische Dispositionen verfügen würde.

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worauf noch zurückzukommen ist, politischen Sympathien der bonaerensischen Elitengruppe lagen auch aus diesem Grund zunächst auf der Seite der italienischen Bevölkerungs- und ihrer mazzinianischen Führungsgruppe, der man sich in politischer Hinsicht eng verbunden fühlte, während der spanischen Bevölkerungsgruppe der Geruch einer anti-liberalen Gesinnung anhaftete. So führte die Zeitung "La Tribuna", die in den sechziger Jahren das Gedankengut des bonaerensischen Liberalismus am heftigsten verteidigte, in diesen Jahren eine kontinuierliche, polemische Auseinandersetzung mit den Spaniern, die man etwa in der Ausgabe vom 22. Juni 1864 als "potentielle Verräter" an der Sache Argentiniens betrachtete. Erschwerend hinzu kamen in den sechziger Jahren die Abenteuer der spanischen Amerika-Politik und konkret die Bombardierung Valparaisos durch spanische Schiffe, die auch im La Plata-Raum ein Wiederaufleben der anti-spanischen Ressentiments begünstigten (vgl. Pérez-Prado 1973). Mehr oder minder analog zu der Bildung einer neuen Gruppe politischer Entscheidungsträger in Buenos Aires in den siebziger Jahren änderte sich jedoch auch allmählich das Verhältnis der einheimischen Elite zu der spanischen Bevölkerungsgruppe. Dies lag zum einen daran, daß die Provinzeliten, die nach 1874 einen wachsenden Einfluß auf die politischen Entscheidungsprozesse auszuüben begannen, sich aufgrund ihres kulturellen Selbstverständnisses den spanischen Traditionen der Gesellschaft enger verbunden fühlten als die Urbane Elite von Buenos Aires. Und zum anderen bewirkte die zunehmend reservierte Haltung gegenüber den italienischen Zuwanderern und das daraus hervorgehende Interesse an der argentinidad und den Traditionen der Nation, daß das hispanische Erbe der Gesellschaft allmählich aufgewertet wurde und als ein identitätsverbürgendes und in sozio-kultureller Hinsicht stabilisierendes Moment eine positivere Betrachtung erfuhr. Eine Zäsur in dieser Entwicklung stellten neuerlich die sich abzeichnende Verschärfung der sozialen Konfliktpotentiale des Landes dar. So erklärte der argentinische Generalkonsul in Barcelona bereits im Jahr 1885 (Moya 1989, 507), daß sich in Argentinien mehr und mehr die Überzeugung durchsetzen würde, daß die "Republik mit Menschen unserer eigenen Rasse", also Spaniern, zu besiedeln sei, die fähig wären, dem "Einfluß der italienischen Immigration" Einhalt zu gebieten. 1899 wurde dann in Buenos Aires gemeinsam von Notabein der spanischen Bevölkerungsgruppe und Angehörigen der bonaerensischen Elite, wie den Ministern Eduardo Wilde und Estanisiao Zeballos, die "Sociedad Hispano-Argentina Protectora de los Inmigrantes Españoles" ins Leben gerufen, worin sich die Entstehung eines neues Bündnisses zwischen der kreolischen Führungsgruppe und den Meinungsführern einer Zuwanderergruppe abbildete. Auf dem Gebiet der historischen Symbolik führte die Verschärfung der politisch-sozialen Systemkrise des Landes zu einer allmählichen Re-Hispanisierung des offiziellen Geschichtsbewußtseins. Die Kräfte, die auf kreolischer Seite eine Re-Hispanisierung des nationalen Selbstverständnisses betrieben, waren unterschiedlicher Herkunft. Neben den Eliten im Landesinnern, die in intellektueller

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Hinsicht vor allem durch die Kulturnationalisten repräsentiert wurden, zählten dazu auch hauptstädtische Kreise bzw. Teile der klassisch-liberalen Geschichtsschreibung. Frühzeitig, zu diesem Zeitpunkt allerdings noch recht isoliert, forderte Manuel Ricardo Trelles eine Überprüfung des in den liberalen Geschichtsanschauungen transportierten Spanienbilds. In einem Schreiben an das Innenministerium vom 10. Dezember 1867 (vgl. Molina 1954, 375) monierte er die "Verirrungen" in der Darstellung Spaniens, die nicht das Resultat historischer Forschung sondern vorgefertigte Urteile darstellen würden. Auch Vicente Fidel López (1926, IX 60) entwickelte dann in seiner "Historia de la República Argentina" zwar kein pro-spanisches GeschichtsVerständnis, relativierte aber zumindest die offenen Ablehnungen der spanischen Traditionen ("...dentro del nuevo Rivadavia, subsistían en toda su pureza los rasgos del genio español"). Pro-spanisch waren ferner auch Teile des Geschichtsrevisionismus gesonnen, wie Ernesto Quesada, der auf einer Veranstaltung der "Asociación Patriótica Española" im Jahr 1900 die "Wiedergeburt der hispanischen Rasse" feierte. Quesada (1901, 74f) verglich dort die zivilisatorische Leistung Spaniens in Amerika mit den "homerischen Unternehmungen" des alten Rom. Die spanische Kolonialgeschichte biete aufgrund ihrer christianisierenden Komponenten wie auch der Indianerschutzgesetzgebung der Krone vorbildhafte Beispiele für humanitäre Anstrengungen. Amerika und Spanien seien durch die Rasse, das "Blut" und die gemeinsame "glorreiche Geschichte unseres hidalgischen Geschlechts" verbunden. Hinzu kamen schließlich die politischen Führungsspitzen der "Liga", wie zunächst Avellaneda, dann Roca, die eine Re-Hispanisierung der politischen und kulturellen Orientierungsmuster der Nation zu betreiben suchten. So setzte sich Roca 1900 vor dem Parlament (Mabragaña 1910, V 361) für eine Überprüfung der offen anti-spanischen Teile der Nationalhymne ein und erinnerte in diesem Zusammenhang an die "engen Bande", die Argentinien mit seiner madre patria verbanden. Die Führungsgruppe der spanischen Gemeinschaft in Buenos Aires nahm dies zum Anlaß, die "confraternidad hispano-argentina" und insbesondere die freundschaftlichen Beziehungen zur Regierung Roca hervorzuheben (Asociación 1901, 8f)- Das Dekret der Regierung Roca vom 30. März 1900, das das Singen längerer, antispanischer Teile der Nationalhymne bei offiziellen Anlässen verbot, wurde als ein Beleg dafür gewertet, daß Argentinien und Spanien sich wie zwei Söhne einer Mutter zueinander verhalten würden (Asociación 1901, 52f). Diese Tendenz zu einer Re-Hispanisierung des nationalen Selbstverständnisses erreichte im Umfeld der Zentenarfeiern von 1910 ihren vorläufigen Höhepunkt und erfaßte in diesem Zeitraum breite Teile der politischen Öffentlichkeit7. Eine zentrale Rolle spielte in diesem Prozeß der Besuch der Infantin

7

Roque Sáenz Peña etwa, von einer Spanienreise zurückgekehrt, beschwor 1909 im Präsidentschaftswahlkampfdie "Aussöhnung" zwischen Act madre patria und Argentinien und die in der "Rasse" und dem "Ideal der Latinität" begründeten Gemeinsamkeiten beider Völker

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Isabela und deren Teilnahme an den Gedenkfeierlichkeiten für die Mairevolution im Jahr 1910, der in der Presse und der politischen Öffentlichkeit ein breites Echo auslöste und einer Fülle fraternisierender Bekundungen den Weg ebnete. Auch die klassisch-liberale "La Nación" schrieb später am 9. Juli 1916, "[...] ninguna manifestación de la amistad de España fué más grata para los argentinos que la venida de la Infante Isabel, tia de Alfonso XIII, a las fiestas del centenario de Mayo en 1910." Massendemonstrationen der spanischen Bevölkerungsgruppe, an denen auch die Republikaner teilnahmen, trugen dazu bei, dem hispanistischen Denken und den Bestrebungen zu einer Aufwertung des kulturellen Erbes Spaniens Nachdruck zu verleihen. In seiner BegrCßung der Infantin appellierte der Staatspräsident Figueroa Alcorta (1933, 237f) an die Gemeinsamkeiten mit der madre patria, die in dem gemeinsamen "alma latina" begründet seien. Im Spanischen Club sprach Figueroa Alcorta (1933, 285f) später von den "orfgenes naturales" und "destinos comunes de la raza", die Argentinien und Spanien einten, und Estanislao Zeballos (1912, 577), zuvor Außenminister und Mitglied des Spanischen Clubs, erklärte im gleichen Jahr, daß die Argentinier allein in Spanien die "Wurzeln unserer Zivilisation" finden könnten. Die Tendenzen zu einer Re-Hispanisierung des nationalen Geschichtsbilds ließen auch die Historische Akademie nicht unberührt. Pro-hispanische Kräfte hatten sich in der Akademie bereits Jahre zuvor geregt, als die Errichtung eines Denkmals für den Gründer von Buenos Aires, Juan de Garay, diskutiert worden war. 1905 griff Juan J. Biedma dieses Thema in der Akademie neuerlich auf (Actas 1901-06, 269) und verband dabei in seiner Argumentation gegen den "Kosmopolitismus" bzw. konkret die italienischen Zuwanderer gerichtete Anschauungen mit Anklängen an die hidalgische Geschichtsbetrachtung: En la República, y particularmente en Buenos Aires, el cosmopolitismo impera en forma alarmante, [Biedma] dice que en nuestras principales plazas existen monumentos a Mazzini y Garibaldi, mientras que muchos de nuestros próceres permanecen olvidados, opina, pues, que tenemos el deber de [...] honrar a los fundadores de Buenos Aires cuyos méritos no discute. Um und nach 1910 betrieb die Historische Akademie dann gezielt den Aufbau von Verbindungen nach Spanien und die Annäherung an dortige akademische Kreise. Im September 1909 hielt der spanische Historiker Rafael de Altamira einen Vortrag in der Akademie in Buenos Aires, und Marcelino Menéndez y Pelayo wurde als korrespondierendes Mitglied in die Akademie aufgenommen. Diese Politik der Etablierung von Kontakten sollte zehn Jahre später durch die Aufnahme fester Beziehungen zwischen der Akademie in Buenos Aires und der Historischen Akademie in Madrid konsolidiert werden, nachdem es anfänglich

(Sáenz Peña 1952, 44).

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zu Verstimmungen gekommen war. Die Madrider Akademie hatte in einem "Reglamento para la constitución en los estados hispano-americanos de las academias de la historia, correspondientes de la de Madrid" aus dem Jahr 1888 festgelegt, daß die amerikanischen Akademien das Statut der Madrider Akademie zu übernehmen hatten, wogegen sich die Akademie in Buenos Aires verwahrte. Verhandlungen zwischen Roberto Levillier, Akademiemitglied, zu diesem Zeitpunkt argentinischer Handelsattaché in Spanien und später Leiter der Kongreßbibliothek, sowie der Akademie in Madrid führten 1920 dazu, daß die spanische Seite die Eigenständigkeit der Bonaerenser Institution anerkannte und auf der Grundlage "[...] de todos los intereses de la fraternidad de sangre y de raza" die Aufnahme gleichberechtiger Beziehungen vorschlug, "que debe[n] perpetuamente existir entre la antigua madre común y sus hijas independientes del Nuevo Mundo" (Gandía 1936, LVIII). In der Re-Hispanisierung des nationalen Selbstverständnisses bzw. der hispanistischen Wendung der argentinidad fanden sich unterschiedliche Bilder und Vorstellungsmuster, die zum Beweis der argentinisch-spanischen Gemeinsamkeiten herangezogen werden konnten. Dazu zählten zunächst kulturelle Komponenten, wie die Sprache, das Brauchtum und die Religion, oder die verbindende Geschichte. Eine zentrale Bedeutung gewannen ferner der Rassenbegriff bzw. ihm verwandte Termini, wie die hispanisch-lateinische "Seele" (Figueroa Alcorta), das "Wesen" (López), das "Blut" (Joaquín V. González) oder das "hidalgische Geschlecht" (Quesada). Diese Begrifflichkeit war, grob unterschieden, auf zwei verschiedene Weisen zu interpretieren. Einmal handelte es sich dabei um eine kulturelle Deutung des Rassenbegriffs, die das hispanische Erbe der Gesellschaft in den traditionellen Verbindungen Argentiniens mit der madre patria, der Zugehörigkeit zu einer sprachlich, mental und politisch verknüpften "Familie" und den gemeinsamen zivilisatorischen "Wurzeln" (Zeballos) begründet sah. Die "rassischen" Gemeinsamkeiten, die behauptet wurden, waren insofern eher kultureller Art. Dieses historisch-kulturelle Verständnis des Hispanismus habe, so Fredrick Pike (1971, 129ff) auch von der spanischen Seite aus überwogen. Zum anderen fand sich das Bestreben, über ein spirituelles Erleben oder sogenanntes Erfühlen des Bodens, der Kultur und der Rasse zu einer Definition des nationalen Wesens zu gelangen, die mystische Elemente enthielt und in eine biologistische Interpretation des Rassenbegriffs überzugehen vermochte. Dazu trugen Teile der Soziologie und insbesondere auch die Einführung medizinischer Kategorien in die Geschichts- und Gesellschaftsanalyse bei. In diesem Fall konnte der Rassenbegriff dazu verwendet werden, um vermeintlich biologisch angelegte Höher- bzw. Minderwertigkeiten nationaler oder ethnischer Gruppen zu behaupten. Das Bild des spanischen Erbes der Gesellschaft fungierte hier offen als eine Art Schutzmantel gegen die sozialen und kulturellen Erosionsprozesse der Gesellschaft, die "fremde" Bevölkerungsgruppen in sie hineintragen würden. Die Gründe für diese Re-Hispanisierung des nationalen Selbstverständnisses, die in dem Zeitraum um 1910 ihren Höhepunkt erfuhr und die verglichen zum

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politischen Diskurs der kreolischen Eliten im frühen 19. Jahrhunderts und den Topoi der liberalen Geschichtsschreibung eine drastische Umkehr überkommener Wertemuster anzeigte, waren unterschiedlich und konnten in den einzelnen sozialen Trägergruppen oder auch den verschiedenen intellektuellen Strömungen des hispanistischen Denkens verschieden akzentuiert sein. Generell wird man jedoch konstatieren können, daß enge Zusammenhänge mit der politisch-sozialen Krisenkonstellation des Landes bestanden, d.h. bereits länger angelegte Bestrebungen zu einer Wiederaufwertung der spanischen Traditionen des Landes erst in dem Moment in der politischen Öffentlichkeit und breiteren akademischen und bildungsbGrgerlichen Kreisen zum Durchbruch kamen, als das traditionelle und in vielerlei Hinsicht ja ohnehin recht fragmentarische Selbstbild der Nation zunehmend verunsichert wurde. Das Auftreten neuer sozialer Ordnungsprobleme, die durch den europäischen, vor allem italienischen Zuwanderungsprozeß aufgeworfene Frage nach der argentinidad und schließlich auch Ressentiments und Abwehrbewegungen gegenüber den sozialen Aufstiegsbestrebungen von Einwanderern und "fremden" Emporkömmlingen fielen darunter. Die Rückbesinnung auf die spanischen Traditionen der Gesellschaft, den hidalgischen Stolz und patriarchalische Sozialsysteme fungierte zugleich auch als ein Modell, zumindest ein Legitimationsinstrument, für die politisch angestrebte Konsolidierung bzw. den Erhalt einer organischen, in sich harmonischen und zugleich hierarchisierten Gesellschaftsstruktur. Prozesse der Identitätsdiffusion, politische Stabilisierungsabsichten und soziale Abgrenzungsbedürfhisse kreolischer Kreise fielen insofern eng ineinander. Hinzu kamen jedoch schließlich auch außenpolitische Entwicklungen, die einer Neuinterpretation des Spanienbilds und des hispanischen Erbes der Nation günstig waren. Dazu zählte zunächst der nordamerikanisch-spanische Krieg von 1898 (vgl. Wehler 1974, 190ff), der einerseits verdeckte Identifikationen mit Spanien freilegte und der andererseits auch latente Vorbehalte gegenüber dem anglophonen Entwicklungsmodell der Gesellschaft, wie sie unter den traditionellen Kritikern des bonaerensischen Liberalismus kursierten, aktivierte. Hispanistisches Denken und ein "anti-imperialistischer" Impetus, der sich nunmehr zunehmend gegen die USA richtete und der in dem geschwächten Spanien nicht länger ein Feindbild zu sehen vermochte, vermischten sich darin*. Hinzu kam ferner die von Spanien aus vorgetragene Offensive des Hispanismus selbst, die einem in Spanien neuerlich erwachenden Interesse an Lateinamerika Ausdruck gab, erhofften sich einflußreiche Kreise in Spanien doch aus der

' Wichtige Impulse erfuhr diese Anschauung auch aus der hispanoamerikanischen Literatur des fin de siècle, wie etwa dem Essay "Ariel" von José Enrique Rodo, der den Lehrstuhl für Literatur an der Universität Montevideo innehatte. Auf den literarischen Diskurs um die Jahrhundertwende und seinen Beitrag zur Ausbildung einer neuen Form des nationalen Selbstverständnisses in Hispanoamerika kann im Rahmen dieser Arbeit nicht weiter eingegangen werden.

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Rückbesinnung auf Lateinamerika und die Gemeinsamkeiten der Hispanität einen Ausweg aus der 1898 offen ausgebrochenen Identitätskrise Spaniens. Befördert wurde die Verbreitung des Hispanitätsgedankens schließlich auch durch den Ersten Weltkrieg, als interessierte Kreise im La Plata-Raum versuchten, die argentinische Regierung zu einem Kriegseintritt an der Seite der Entente zu bewegen und in propagandistisch-legitimatorischer Hinsicht zu diesem Zweck auch auf den Gedanken der Hispanität bzw. Latinität zurückgegriffen. So schrieb "La Nación" am 9. Juni 1917, daß Argentinien mit den Völkern gleicher Rasse, wie etwa Frankreich, solidarisch sein und als Mitglied der "gran familia latina" in den Krieg gegen Deutschland eintreten müsse. Ähnlich argumentierte in seiner Ausgabe vom 17. März 1916 auch das Wirtschaftsfachblatt "The Review of the River Plate", das englischen Finanzkreisen nahestand und von daher pro-hispanischer oder pro-latinischer Sympathien von vornherein nicht verdächtig war. Aber vor dem Hintergrund des Kriegsgeschehens in Europa begrüßte auch diese Zeitung im März 1916 den Kriegseintritt Portugals, um daran die suggestive Frage anzuschließen, ob Brasilien nicht bald seinem ehemaligen Mutterland in diesem Schritt folgen wolle. Und anläßlich der Gedenkfeiern für die Unabhängigkeitserklärung in Tucumán reduzierte die Zeitung in einem Artikel vom 14. Juli 1916 die Unabhängigkeitsbewegung im La Plata-Raum auf die bloß politische Trennung zweier "Regierungen", nicht aber Völker oder Nationen ("...between two Governments whose political Separation 100 years ago has just been conmemorated"). Nahegelegt wurde damit der Fortbestand einer engen Bindung zwischen Argentinien bzw. Amerika und Spanien, was die Aufforderung einschloß, daß Argentinien einen stärkeren Anteil an dem Schicksal der romanisch-lateinischen Nationen im Weltkrieg nehmen müsse. Während von kreolischer Seite in der Re-Hispanisierung der nationalen Traditionen Argentiniens ein symbolisches Instrument gesehen wurde, das, je nach der politischen Interessenlage, für die Versicherung des eigenen Selbstverständnisses, politische OrdnungsVorstellungen oder soziale Abgrenzungsleistungen funktional sein konnte, benutzten es die Führungsgruppen der spanischen Bevölkerungsgruppe in Buenos Aires umgekehrt zur Verstärkung des eigenen Prestiges innerhalb der kreolischen Gesellschaft. Die spanische Elite in Buenos Aires profitierte dabei von der zunehmenden Ablehnung, auf die die italienische Einwanderung in der politischen Öffentlichkeit stieß, und vermochte es im Zuge dieser Entwicklung, das Gewicht des Hispanitätsgedankens im historisch-politischen wie auch kulturellen Selbstverständnis der kreolischen Führungsgruppen zu stärken. Ihr besonderes Interesse galt dabei weiterhin zunächst der leyenda negra, die nicht allein im amerikanischen Raum als ein Stigma der spanischen Geschichte und Kultur fungierte. Sowohl spanische Kreise im hispanoamerikanischen Raum wie auch hispanistisch gesonnene Gruppen in Spanien versuchten durch unterschiedliche Mittel, wie z.B. die Vergabe historischer Preisschriften, eine Revision der leyenda negra zu bewirken. Auch die Mission Rafael Altamiras in den La Plata-Raum zwischen

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1909 und 1910 war von der Absicht geprägt, das Bild eines zivilisierten und sich neuerlich modernisierenden Spaniens unter den dortigen politischen und akademischen Führungsgruppen zu propagieren (vgl. Pike 1971, 146ff). 1916 erhielt dann Miguel de Unamuno die Gelegenheit, sich ausführlich in der Tageszeitung "La Nación" (Ausgabe vom 12. Februar) zu dieser Thematik zu äußern und die "Legende einer Tyrannei Spaniens in Amerika" zu kritisieren. Diese Bemühungen zu einer Revision der leyenda negra stießen auch bei argentinischen Intellektuellen und Historikern und konkret auch in der Historischen Akademie in Buenos Aires auf Resonanz, wobei sich die Kritik auf die gebräuchlichen Schulbücher konzentrierte. Besonders hervor tat sich auf diesem Gebiet Rómulo D. Carbia (1918, 259), der 1918 die "hispanophobe" Haltung der Schulbuchtexte verurteilte. Im Jahr 1919 forderte José Antonio Amuchástegui, Historiker an der Universität Buenos Aires, eine Überprüfung des Spanienbilds in den argentinischen Geschichtsbüchern, die in ihrer Darstellung der Tatsache Rechnung tragen müßten, daß der Quell der argentinidad nicht in Frankreich, Italien oder England liege, sondern in Spanien (vgl. Pike 1971, 193). Daneben entzündete sich ein Disput über den Begriff Lateinamerika, für dessen Ersetzung durch den Terminus Hispanoamerika die spanische Seite plädierte. Den Anstoß dazu hatte ein Aufsatz von Aurelio Espinosa gegeben, der spanischer Herkunft war und an der Universität Stanford, USA, unterrichtete. Espinosa argumentierte, daß nicht Frankreich oder Italien, sondern Spanien die hispanoamerikanische Kultur hervorgebracht habe. Der Artikel erschien 1918 in der Zeitschrift des nordamerikanischen Spanischlehrerverbands und wurde im folgenden Jahr in Buenos Aires in der "Revista de Derecho, Historia y Letras" nachgedruckt sowie auch in der Form von losen Blättern verbreitet. Eine ähnliche Kontroverse lag schließlich auch dem Streit um Kolumbus und seine galizische oder aber genuesische Herkunft zugrunde, die unmittelbar die Rivalität zwischen der spanischen und der italienischen Elite im La Plata-Raum um den Einfluß auf die kreolische, historisch-politische Symbolik bzw. in Bezug auf die eigene soziale Akzeptanz durch die kreolische Gesellschaft berührte. Nachdem dieser Disput bereits seit Beginn des Jahrhunderts in der italienischen und spanischen Tagespresse geführt worden war, publizierte Celso García del Riega 1914 eine Auflistung von Gründen, die die spanische Herkunft von Kolumbus beweisen sollten. Rafael Calzada (1920, 18ff), Präsident des Spanischen Clubs in Buenos Aires und massiv anti-italienisch gesonnen, griff später diese Arbeit "meines exzellenten Freundes" Riega auf und führte sie fort. Inwieweit diese Schriften ihre kreolischen Leser überzeugten, mag hier dahingestellt bleiben. Festzuhalten bleiben zwei Ereignisse aus dem Jahr 1917, die bekundeten, in welchem Ausmaß die Re-Hispanisierung des Geschichtsbewußtseins in der politischen Öffentlichkeit Argentiniens bis dahin fortgeschritten war. Zuerst handelte es sich um die Einweihung des Denkmals für Juan de Garay, das auf eine Initiative der "Asociación Patriótica Española" hin errichten worden war. Luis Rufo, Präsident der "Asociación", bezeichnete Garay bei der

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Einweihungsfeier sowohl als Spanier als auch als porteño, also Einwohner von Buenos Aires, und versuchte dadurch, der Vorstellung einer gemeinsamen und verbindenden Identität zwischen Argentinien und Spanien Ausdruck zu geben. Llambias, Bürgermeister von Buenos Aires, beschwor in seiner Rede, die in der Zeitung "La Nación" am 11. Juni 1917 wiedergegeben wurde, im gleichen Sinn das Bild einer durch das "Blut" und die Geschichte verbundenen Gemeinschaft von Spaniern und Argentiniern ("Españoles! Sabed que...esta Argentina cuya sangre es sangre vuestra, ha de perpetuar en los tiempos las glorias de vuestra España"). Dann erklärte die radikale Regierung Yrigoyens im Jahr 1917 den 12. Oktober nicht unter dem Namen "Día de Colón", sondern unter dem des "Día de la Raza" zum argentinischen Nationalfeiertag. Diese Benennung richtete sich offen gegen die italienische Bevölkerungsgruppe im La Plata-Raum und band das nationale Selbstverständnis an die spanischen Traditionen des Landes. 3. Der Einfluß der italienischen Zuwanderer auf die historische Symbolik Die kreolischen Eliten konnten sich das Verhältnis von argentinischer Nation und europäischer, vor allem italienischer Zuwanderung nur in der Form einer entweder gelungenen oder aber gescheiterten Assimilation vorstellen. Zugrunde lag dem ein Nationkonzept, das statisch war. Es setzte auf der Seite der Einwanderer die Auflösung ihrer historisch-politischen bzw. kulturellen Identität voraus, sollte die Integration in die argentinische Gesellschaft glücken. Im günstigsten Fall führte dies zu einer Einpassung der Zuwanderer in die bestehende Gesellschaft, d.h. zu einem Vorgang, der von den eingesessenen Eliten als konfliktfrei erlebt und deshalb in dem Bild des Rassentiegels verklärt wurde. Dieses Bild gab der Idealvorstellung der liberalen Eliten Ausdruck, wonach der Einwanderungsprozeß in einer sozio-kulturellen Amalgamierung bei einer gleichzeitigen Bestandssicherung des politisch-sozialen Systems einmünden würde. Im negativen Fall einer gescheiterten Integration oder Assimilierung wurde den Zuwanderergruppen die Schuld daran attribuiert, weil sie sich durch Abschließungsprozesse und Verweigerungshaltungen, durch die Errichtung eigener Schulen oder die Nichtannahme der Staatsbürgerschaft selbst von der Gesellschaft abgrenzen würden (vgl. Sarmiento 1928, 299f). Die Verantwortung für den Integrations- oder auch Nicht-Integrationsprozeß der Zuwanderer wurde damit allein in deren Verantwortungsbereich verlagert, was auch beinhaltete, daß die Beziehungen zwischen den einzelnen Nationalitätengruppen, Ethnien oder auch kulturellen Konfigurationen im La Plata-Raum nicht als ein wechselseitiger Interaktionsprozeß wahrgenommen und interpretiert wurden, sondern als ein eindimensionaler Vorgang. Daß dieses Bild, das im übrigen mitunter bis heute in der Forschung kursiert (vgl. Miguez 1991), irreführend ist, daß also auch die Entwicklung des kreolischen Selbstverständnisses auf die politische wie auch soziale und kulturelle Aktivität der Zuwanderergruppen bezogen war und sich erst in der Kommunikation damit und über die Ausbildung wechselseitiger Fremd- und Selbstbilder zu definieren vermochte, verdeutlicht sich bei einer

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Betrachtung des Verhältnisses von kreolischer Gesellschaft und italienischer Einwanderergruppe. Die beiden wichtigsten Nationalitätengruppen unter den Zuwanderern bildeten die Italiener, die bis 1880 im Jahresdurchschnitt bis zu 65% der Einwanderer stellten, und die Spanier, deren Zuwanderungsrate sich zwischen 1895 und 1914 vervierfachte, wodurch sie in quantitativer Hinsicht die italienische Einwanderung im frühen 20. Jahrhundert zu egalisieren vermochten (vgl. Sánchez-Albornoz 1988, 215f). Der Begriff der Nationalitätengruppe ist, werden die Regionalismen im italienischen oder im spanischen Raum in Rechnung gestellt, allerdings ungenau. Und auch aufgrund der sozialen Unterschiede unter den Zuwanderern wäre es verfehlt, hier den Eindruck zu erwecken, als hätten in sich homogene Einwanderergruppen im La Plata-Raum existiert. Der Begriff der Nationalitätengruppe ist deshalb nur mit verschiedenen Einschränkungen verwendbar. Er bezeichnet hier die aus Zuwanderern zusammengesetzten Teilbevölkerungen in der staatlich verfaßten kreolischen Gesellschaft, die nach ihrem jeweiligen Herkunftsland unterschieden werden. Er setzt voraus, daß diese einzelnen Nationalitäten- bzw. Zuwanderergruppen eine Vorstellung ihrer gemeinsamen Herkunft besaßen, ein Zusammengehörigkeitsgefühl entwickelten und sich über Bezüge auf gemeinsame historische oder kulturelle Komponenten definierten. Eine Nationalitätengruppe konnte sich nach dieser Definition erst in dem Maße ausbilden, wie sie durch partíale, gemeinsame Institutionen und Sozialgefüge verbunden wurde. Sie konnte sich ferner in unterschiedliche ethnisch-kulturelle Untergruppen untergliedern, wie es z.B. im Verhältnis der spanischen Nationalitätengruppe zu ihren baskischen, katalanischen etc. Bevölkerungsteilen der Fall war. Für Teile der Zuwanderer konnten diese ethnisch-kulturellen Untergruppen in stärkerem Maße identitätsverbürgend wirken als die Nationalitätengruppe selbst (vgl. Heckmann 1988). Eine in diesem Sinn italienische Nationalitätengruppe im La Plata-Raum entstand in den fünfziger Jahren des 19. Jahrhunderts, als es den politischen Meinungsführern unter den italienischen Zuwanderern gelang, mehr oder minder geschlossene politische Klientelverbände unter ihren Landsleuten zu bilden. Von zentraler Bedeutung war darin der Einfluß einer republikanisch-mazzinianisch gesonnenen, aus politischen Emigranten gebildeten Führungsgruppe unter den italienischen Zuwanderern von Buenos Aires, die sich zunächst vor allem aus Handwerkern, Seeleuten und Händlern zusammensetzten. Seit den späten sechziger Jahren fragmentarisierte sich diese politische Elite der italienischen Zuwanderergruppe aufgrund der politischen Entwicklungen in Italien, ehe in den späten siebziger Jahren ein Bündnis aus Monarchisten und moderaten Republikanern den beherrschenden Einfluß unter der italienischen Nationalitätengruppe im La Plata-Raum auszuüben begann (vgl. Devoto 1989b).

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Die liberal gesonnene, bonaerensische Elite fühlte sich dem republikanischunitaristischen Flügel des risorgimiento, wie Mazzini ihn repräsentierte9, in politischer Hinsicht eng verbunden. Die Teilnahme italienischer Republikaner und konkret die Garibaldis an der Verteidigung von Montevideo gegen die Anhänger von Rosas sowie die Rolle italienischer Freiwilliger in der Schlacht von Pavón (vgl. Gradenigo 1987) gab diesen politischen Ubereinstimmungen nachdrücklich Ausdruck. Dieses Bündnis zwischen bonaerensischen Liberalen und radikalen italienischen Republikanern beruhte auf der Gemeinsamkeit der politischen Überzeugungen und Entwicklungsvorstellungen, d.h. den liberaldemokratischen, den laizistischen, mitunter freimaurerischen, und schließlich den unitaristischen Überzeugungen, die beide Gruppen teilten. Enge soziale oder auch familiäre Beziehungen, so die zwischen dem genuesischen Händler G. Caprile und der Familie Bartolomé Mitres, taten ein Übriges. Die Beziehung zwischen den kreolischen, liberalen Elitegruppen in Buenos Aires und der italienischen Bevölkerungsgruppe war aufgrund dessen zunächst unproblematisch, ja freundschaftlich, und die Tätigkeit der Mazzinianer, die seit den fünfziger Jahren in Buenos Aires eine eigene politische Infrastruktur aufbauten und 1858 die "Unione e Benevolenza"10 gründeten, die als Dachorganisation der seit ca. 1850 bestehenden italienischen Hilfs- und Unterstützungsvereine fungierte, besaß die Unterstützung der dortigen liberalen Führungsgruppe. Seit Beginn der sechziger Jahre zeichnete sich eine Trendwende in dieser Beziehung ab, die mit unterschiedlichen Faktoren zusammenhing. Zunächst spaltete sich nach 1861 nicht allein der bonaerensische Liberalismus, sondern zugleich auch die republikanisch-mazzinianische Gruppe, die in einen moderaten und einen radikalen Flügel zerfiel. Mitglieder der "Unione e Benevolenza" gründeten 1861 mit Unterstützung des italienischen Konsuls in Buenos Aires die pro-monarchistische Vereinigung "La Nazionale Italiana", die, immer mit der Förderung des Konsulats, die Auseinandersetzung um die politische Vorherrschaft über die italienische Nationalitätengruppe im La Plata-Raum aufnahm. 1864 wurde der radikale, "unversöhnliche" Flügel der Republikaner aus der "Unione e Benevolenza" ausgeschlossen, die ihrerseits einen zunehmend moderaten Kurs einschlug und die politische Aussöhnung mit dem unter der monarchischen Ägide sich vollziehenden Nationbildungsprozeß in Italien betrieb. Die bis dahin engen Beziehungen zwischen der bonaerensischen Elite und der italienischen Führungsgruppe lockerten sich im Zuge dieser Entwicklungen zunehmend, zumal beide Gruppen in ihren jeweiligen Sphären politischer Öffentlichkeit an Einfluß verloren. Im La Plata-Raum verlor der Mitrismus zunehmend an politischem Gewicht, und zuerst die Präsidentschaft Avellanedas, dann die Rocas bewirkten, daß sich das Profil der politischen Klasse in Buenos

' Vgl. Lill 1986, l l l f ; Procacci 1983 , 248f. 10 Den Einfluß der Mazzinianer auf diese Organisation und ihren explizit politischen Charakter beschrieb später die italienische Zeitung "La Patria" v. 18.7.1877 bzw. 18.7.1880.

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Aires veränderte. Der wachsende Einfluß der "Liga" bzw. der Provinzeliten führte dazu, daß die radikal-republikanischen Kreise innerhalb der italienischen Bevölkerungsgruppe sich fortan mit einer Gruppe politischer Entscheidungsträger konfrontiert sahen, zu der sie keinerlei traditionelle Beziehungen unterhielten. Und umgekehrt wurde die Erosion der engen, kreolischitalienischen Elitebeziehungen auch dadurch befördert, daß die Einigung Italiens unter der monarchischen Ägide die politischen Entscheidungsträger in Argentinien aus diplomatischen Gründen dazu veranlaßte, normale Beziehungen mit der italienischen Regierung und ihren Vertretern im La Plata-Raum zu suchen. Zu dem Zeitpunkt, da die italienische Einwanderungsbewegung in quantitativer Hinsicht neue Dimensionen erreichte, war das politisch-ideologische Bündnis zwischen den kreolischen und italienischen Elitegruppen also bereits zerbrochen, und diese Konstellation stellte eine der wichtigsten Voraussetzungen dafür dar, daß anti-italienische Ressentiments im La Plata-Raum Verbreitung finden konnten. Ihr Komplement fanden diese Prozesse umgekehrt in einer schärferen Abgrenzung der italienischen Nationalitätengruppe von der kreolischen Gesellschaft, die die monarchistisch gesonnenen Kreise der italienischen Führungsgruppe in Buenos Aires mit der Unterstützung des Konsulats seit den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts zu betreiben suchte. Das zentrale Ereignis stellte in diesem Prozeß die Einnahme Roms durch monarchistische Truppen im September 1870 dar. Die republikanischen Kräfte wurden dadurch zu einer zunehmend moderaten und versöhnlichen Haltung bewegt, was sich auch in der Entwicklung der historisch-politischen Symbolik, wie sie das italienische Presse- und Organisationswesens im La Plata-Raum hervorbrachte, abbildete. Während in den fünfziger und sechziger Jahren noch die republikanisch-revolutionären Ideale der Mazzinianer überwogen hatten, gewannen in der Folgezeit die monarchischen Einflüsse zunehmend an Boden. Dies galt zuerst für die Person Victor Emmanuelles. Während Mazzini und Garibaldi zuvor, so in der Zeitung "La Patria" vom 5. Mai 1877, als Vorkämpfer der "nationalen Einheit" und Träger des "Nationalbewußtseins" in Italien bezeichnet worden waren, rückte Victor Emmanuele später an die Spitze der Hierarchie nationaler Heldenfiguren. In die gleiche Richtung zielten Huldigungen an die Politik Piamonts 1821, wie es etwa in der Zeitung "La Patria degli Italiani" vom 11. März 1905 nachzulesen ist. Ferner avancierte der XX. Settembre, der an die Eroberung Roms und damit einen politisch-militärischen Erfolg der Monarchie erinnerte, zu dem wichtigsten historischen Gedenktag unter den italienischen Zuwanderern1 Garibaldi selbst wurde demgegenüber im Zuge dieser Entwicklungen zunehmend

11

"La Patria" v. 19.9.1880 schrieb, daß der 20. September das bedeutendste aller historischen Ereignisse im 19. Jahrhundert darstellen würde. "La Patria degli Italiani" v. 16.9.1912 forderte zur Feier des 20. September als Geburtstag der Nation im "italienischen Sinn" auf.

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die Funktion einer Integrationsfigur zugewiesen, was seine Bedeutung für die nationale Einigung Italiens zwar nicht minderte, aber doch relativierte. 1895 ehrte "La Patria degli Italiani" in der Ausgabe vom 11. Oktober Garibaldi als "treuen Freund" und Gefolgsmann Victor Emmanuelles und erklärte, daß sich das italienische resorgimiento in diesen beiden Namen verdichten würde, während Mazzini nurmehr in einer angehängten Formulierung erwähnt wurde. Garibaldi repräsentierte, zumindest soweit es die Vorstellung der italienischen Elitegruppen im La Plata-Raum betraf, die Versöhnung zwischen den republikanischen und den monarchischen Kreisen, was seinen realen Hintergrund darin hatte, daß Garibaldi die Politik der Krone Savoyens unterstützte. Titulierungen Garibaldis als "Held der zwei Welten"12 erinnerten dabei auch an die Rolle, die Garibaldi in Amerika gespielt hatte. Die Bedeutung Mazzinis relativierte sich im Zuge dieser Entwicklungen, wurde deshalb jedoch nicht bedeutungslos, wie die Errichtung eines Denkmals für Mazzini 1878 in Buenos Aires, das durch italienische Vereine finanziert wurde, belegte. Allerdings zielte diese Denkmalserrichtung weniger auf die Würdigung der Rolle Mazzinis im italienischen resorgimiento als vielmehr auf die Hervorhebung der vormals engen Verbindungen zwischen kreolischer Bevölkerung und italienischen Zuwanderern ab. Das Denkmal für Mazzini und die damit verbundene Symbolik betrieben insofern weniger eine Traditionsstiftung innerhalb der italienischen Nationalitätengruppe. Vielmehr handelte es sich dabei bereits um eine Verteidigung des sozialen und politischen Status, den die italienische Bevölkerungsgruppe und konkret ihre republikanischen Führungsgruppen bis dahin in der politischen Öffentlichkeit von Buenos Aires besessen hatten. Auf kreolischer Seite löste die Denkmalserrichtung heftige Kontroversen aus. Die italienische Zeitung "La Patria" kommentierte dies im Vorfeld am 1. Februar 1877 mit den Worten, daß es befremdend sei, was in der politischen Öffentlichkeit einer so "kosmopolitischen" Stadt wie Buenos Aires nunmehr geschehe. Mazzini sei Italiener, aber er sei auch "Kosmopolit" und ein "Apostel der Demokratie", weshalb die Kritik von argentinischer Seite an dem Denkmal nicht zu verstehen sei. Die bonaerensischen Liberalen der mitristischen Richtung unterstützten weiterhin das Vorhaben, wobei sie an die politische Freundschaft zwischen Mazzinianern und Mitristen erinnerten. So erklärte José María Gutiérrez in seiner Rede anläßlich der Denkmalseinweihung, die in "La Prensa" vom 19. März 1878 abgedruckt wurde: Cuando sobre la cubierta de los navios que hacen rumbo a nuestras playas [...] el viagero se pregunta a quien conmemora esa grande y bella estatua que se ofrece la primera a sus miradas, [...] cuando sepa que esa efigie no es la de Rivadavia, ni la de San Martín, ni la de Belgrano, cuando inquiera que la de un pensador nacido en otro

12

Etwa in "La Patria" v. 5.5.1877; "La Patria degli Italiani" v. 8.7.1905.

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hemisferio, levantada como prenda de fraternidad, ofrecida por los italianos a los argentinos. Hervorzuheben sind dabei solche Formulierungen wie "fraternidad" oder "sol de la libertad", die die verbindenden Gemeinsamkeiten des freimaurerischen Denkens betonten. Insbesondere dieser Aspekt der Traditionsstiftung, den das Denkmal besaß, provozierte den Widerstand katholischer Kreise. Die Meinung unter den "Argentiniern" über das Denkmal, so "La Prensa" am 16. März 1878, sei auch deshalb so geteilt, weil es "religiöse Gefühle" verletze. Die politische Identität der italienischen Zuwanderergruppe, die die Mazzinianer vor dem Hintergrund ihres Bündnisses mit dem bonaerensischen Liberalismus noch stärker über universal-freiheitliche Werte zu begründen versucht hatten, wurde unter dem Einfluß monarchistischer Kreise nunmehr schärfer auf die italienische Nation bzw. einen italienischen Nationalismus hin zu konzipieren versucht. Italien, "unser weit entferntes Vaterland", müsse, so "La Patria" 1880, stolz sein können auf das Verhalten der Italiener in Amerika13. Und "wir", die Italiener, seien nur "Zuschauer und unparteiische Beobachter" dessen, was in Argentinien geschehe14. Seinen Höhepunkt erreichte dieses Bestreben zu einer Re-Nationalisierung der italienischen Bevölkerungsgruppe im italienischen Sinn in den achtziger Jahren, was zwangsläufig zu einer Verschärfung des kreolisch-italienischen Konflikts führen mußte, da die ersten Verunsicherungen kreolischer Führungskreise über die Stabilität von Staat, Gesellschaft und "Nation" nunmehr mit einem wachsenden Selbstbewußtsein der italienischen Monarchisten zusammenfielen. Die Feierlichkeiten zum 20. September etwa schlössen im Jahr 1884 große Demonstrationen der italienischen Bevölkerungsgruppe, das Singen der italienischen Hymne sowie Grußworte italienischer Offizieller ein13. Als im Sommer 1890 auch innerhalb der italienischen Gemeinschaft in Buenos Aires eine Diskussion um den Erwerb der argentinischen Staatsbürgerschaft geführt wurde, publizierte das Bulletin der italienischen Hilfs- und Unterstützungsvereine, "L'Eco delle Societá Italiane", einen Aufruf von 64 italienischen Notabein, vor allem Großhändlern, in dem die Naturalisierungskampagne als anti-patriotisch abgelehnt wurde. Es gäbe, so die Argumentation, nur ein Vaterland, dem die Menschen durch ihre Geburt, ihr Blut, die Religion, die Sprache und die gemeinsame Geschichte verbunden wären, und das man nicht einfach wechseln könne, und diese patria sei Italien (vgl. Gandolfo 1991, 50f). Italien, nicht aber Argentinien, war das Referenzobjekt, auf das sich, soweit es nach den Vorstellungen der in wirtschaftlicher und sozialer Hinsicht mächtigsten Familien der italienischen Gemeinschaft im La Plata-Raum ging, die historisch-politischen und nationalen Identifikationen richten sollten, und in gleicher Weise waren die Kontroversen, die in der

" "La Patria" v. 18.7.1880; im gleichen Sinn "La Patria degli Italiani" v. 1.5.1895. 14 "La Patria Italiana" v. 13.10.1885. 11 Vgl. die Berichte in "La Prensa" v. 19., 20. und 21.9.1884.

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politischen Öffentlichkeit der italienischen Gemeinschaft geführt wurden, in erster Linie auf die Entwicklungen in Italien bezogen. Gerade dieser Umstand jedoch ließ das politische Bestreben der monarchistischen Führungsgruppe der Italiener, eine italienische Nationalität unter den Zuwanderern in Buenos Aires zu konservieren, der politischen Klasse in Argentinien zusätzlich suspekt werden. Denn nicht allein, daß sie sich, was den politischen Einfluß auf die italienische Nationalitätengruppe betraf, dadurch mit einer rivalisierenden Elite konfrontiert sah, die sich ihrem Einfluß weitgehend entzog. Erschwerend kam vielmehr hinzu, daß nationalistische Kreise in Italien selbst gegen Ende des 19. Jahrhunderts den politischen Anspruch auf ein Groß-Italien zu formulieren begannen, in dem die Existenz großer italienischer Bevölkerungsgruppen auch im überseeischen Raum als ein Vehikel expansionistischer Machtträume fungieren konnte (vgl. Bertoni 1992, 85f). Die Beharrungskraft eines italienischen Nationalbewußtseins unter den Zuwanderern erschien den politischen Entscheidungsträgern in Buenos Aires insofern nicht allein im Hinblick auf die inneren Integrationsprobleme der argentinischen Nation, sondern auch in außenpolitischer Hinsicht als zunehmend problematisch, was auch die bereits erwähnte scharfe Kritik erklärt, die der Erste Italienische Kongreß für Pädagogik 1891 in Buenos Aires seitens der einheimischen Presse erfuhr. Was das Bild betraf, das sich die Führungsgruppen der italienischen Gemeinschaft von der kreolischen Gesellschaft machten, ist es vereinfacht möglich, drei Satz- oder Aussagemuster voneinander zu unterscheiden. Diese Aussagen oder Anschauungen können ferner jeweils verschiedenen gesellschaftspolitischen Entwicklungsphasen zugeordnet werden, in denen sie zugleich auch unterschiedliche soziale Funktionsleistungen ausübten. Das erste Aussagemuster lautete, daß Argentinien von Italien lernen könne. Es war vor allem in dem Zeitraum gebräuchlich, in dem die italienischen Führungsgruppen einen gewichtigen Einfluß in der politischen, auch militärischen Geschichte der Region spielten und in dem die Beziehungen zu den kreolischen Entscheidungsträgern eng waren oder aber die italienische Bevölkerungsgruppe zumindest noch nicht unter massiveren Ablehnungen seitens der kreolischen Eliten zu leiden hatte. Dieser Zeitraum reichte ca. von den fünfziger bis in die siebziger Jahre des 19. Jahrhunderts. In inhaltlicher Hinsicht zählte zu diesem Aussagemuster vor allem eine scharfe Ablehnung der spanischen, auch klerikalen Traditionen der Gesellschaft im La Plata-Raum16. Die Kolonialgeschichte habe dazu geführt, daß die Region in ihrer Entwicklung und Modernisierung den Prozessen in Europa und auch denen in Italien nachhinken würde. Die Phase der caudillaje habe ein übriges dazu

16 Vgl. "La Patria" v. 8.5.1877 über den "religiösen Fanatismus" und die Intoleranz der Jesuiten. Die "soziale Organisation" der Gesellschaft sei durch die Kolonialgeschichte verzögert worden ("La Patria" v. 25.5.1877).

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bewirkt17. Alle südamerikanischen Staaten würden aus diesen Gründen, wie "La Patria" am 1. Februar 1877 schrieb, "Defekte" in ihrer Entwicklung aufweisen. Italien erschien demgegenüber als eine Gesellschaft, die bereits ein höheres politisch-soziales Entwicklungsniveau erreicht habe und insofern Beispiele für den politischen Nationbildungs- und den gesellschaftlichen Modernisierungsprozeß in Argentinien setzen könne. Das zweite Aussagemuster hob demgegenüber die Gleichheit zwischen Argentinien und Italien hervor. Beide Länder würden über eine ähnliche Geschichte und gemeinsame historische Erfahrungen verfügen, die ihre Völker verbinden würden. Diese Argumentation war bereits stärker defensiv gewendet und spiegelte die auf der italienischen Bevölkerungsgruppe lastenden, im Zuge der sozialen Wandlungsprozesse sich verschärfenden Zwänge ab, Ablehnungen der Italiener durch die kreolische Gesellschaft zu begegnen. Sie postulierte Verbundenheiten zwischen Argentinien und Italien, um auf diese Weise politisch-sozialen Ausgrenzungsprozessen, Diskriminierungen oder xenophoben Verhaltensweisen, die von kreolischer Seite aus gegen die italienische Bevölkerungsgruppe vorgetragen wurden, ihre Legitimation zu entziehen. Dieses Argumentationsmuster kannte drei Varianten, nämlich zunächst die negativ formulierte Erfahrung, daß auch Italien, wie der La Plata-Raum, lange Zeit durch "ausländische" Mächte unterdrückt worden sei. Kein Volk könne deshalb, so etwa "La Patria Italiana" am 23. Mai 1890, so gut wie die Italiener verstehen, was in den Argentiniern vorginge und welche Hoffnungen sie an die Entwicklung ihres Landes knüpften. Positiv formuliert lautete diese Argumentation, daß Italien und Argentinien vor den gleichen Entwicklungsproblemen stehen würden. Es fänden sich z.B. vielerlei "Berührungspunkte" zwischen den Entwicklungsaufgaben des italienischen risorgimiento einerseits und dem Prozeß der nationalstaatlichen Organisation in Argentinien nach 1861 andererseits". Zunehmend an Gewicht gewann schließlich, was dieses Gleichheitspostulat betraf, der Rassenbegriff: Italiener und Argentinier würde ein gemeinsamer "Rasseninstinkt"19 verbinden; beide Völker seien von gleichem "Blut"20; ihr "spontanes Bündnis" beruhe auf dem "gemeinsamen Blut"21 und den Verbundenheiten der "latinischen Rasse"22. Dieses Gleichheitspostulat konnte auch in anderen Formen auftreten, so z.B. in einem gemeinsamen, Italiener und Argentinier verbindenden Heldenkult, wie es etwa in dem von dem italienischen Einwanderer F.A. Berra verfaßten Lesebuch für Primarschulen, "Ejercicios de

17 "La Patria" v. 1.2.1877; femer "La Patria" v. 20.5.1880 über die "Baibarei" der Caudillos. " Vgl. "La Patria" v. 17.10.1880. " "La Patria degU Italiani" v. 2.10.1895. 20 "La Patria degli Italiani" v. 1.7.1900. 21 "La Patria degli Italiani" v. 8.5.1910. 22 "La Patria degli Italiani" v. 14.7.1915.

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Lectura", der Fall war, in dem San Martin und Garibaldi als ebenbürtige Komplemente erschienen (1890, 105). Das dritte Argumentationsmuster schließlich lautete, daß Argentinien eine Schuld an Italien bzw. den Italienern abzutragen habe. Es war in unterschiedlichen Konstellationen verwendbar, d.h. es konnte sowohl den Überlegenheitsanspruch italienischer Elitegruppen repräsentieren wie auch defensive Funktionen der Statusverteidigung und der Abwehr xenophober Reaktionen wahrnehmen. Offenbar überwog dabei die letztere Funktionsleistung, denn es hat den Anschein, daß dieses Argumentationsmuster erst seit dem Ende des 19. Jahrhunderts eine stärkere Verwendung fand. Dazu zählten zunächst pauschale Vorhaltungen, die an die vermeintliche oder tatsächliche "Undankbarkeit" der argentinischen Seite gerichtet waren. Hätten die Argentinier vergessen, so z.B. "La Patria" am 12. Mai 1877 in einem Artikel über "Mazzini in Buenos Aires" und in Anspielung auf die Rolle italienischer Freiwilliger in Montevideo und Pavön, wieviel Blut die Italiener für sie vergossen hätten? Oder: Die Italiener hätten nicht allein mit ihren Opfern und ihrem Blut, sondern auch mit ihrem "Intellekt" und ihrer "Arbeit" zur Befreiung und Entwicklung Argentiniens beigetragen23. Die "Sache der Freiheit Argentiniens" habe keine treueren und größeren Verteidiger gehabt als in den Italienern24. Ferner gehörte zu diesem Argumentationsmuster auch der Hinweis auf die italienische Abstammung von Heldengestalten der argentinischen Geschichte, so im Fall Belgranos25, Castellis und Albertis26 oder auch des Chronisten Pedro de Angelis27. Und schließlich ist in diesem Zusammenhang auch die Hervorhebung von Kolumbus28 zu nennen, dem die Italiener 1914 ein Denkmal in Buenos Aires erstellten und auf den, wie es hieß, die Zivilisation im La Plata-Raum bzw. in Amerika letztlich erst zurückgehen würde. Generell kann festgestellt werden, daß die defensiv gemünzte Argumentation im Diskurs der italienischen Führungsgruppen nach etwa 1890 zunehmend überwog, worin sich die Veränderungen im Selbst- und Fremd Verständnis abbildeten, die sich im Zuge der sozialen Wandlungsprozesse und des damit verbundenen Anwachsens der sozialen Konfliktpotentiale in Argentinien zwischen der kreolischen Gesellschaft und den italienischen Zuwanderern abspielten. Die Versuche zur Konservierung einer italienischen Nationalität unter den Zuwanderern stützte sich neben dem Pressewesen vor allem auf die Hilfs- und Unterstützungsvereine, soweit sie nicht der sozialistischen bzw. anarchistischen

23

"La Patria degli Italiani" v. 18.5.1910. "La Patria degli Italiani" v. 17.10.1915. 25 Vgl. den Beitrag "Ein Mausoleum für den General Belgrano", in: La Patria degli Italiani v. 2.10.1895. 26 "La Patria degli Italiani" v. 25.5.1910. 27 "La Patria degli Italiani" v. 23.5.1910. B "[...] der große Italiener Cristobal Kolumbus", in: "La Patria" v. 16.10.1880; vgl. auch "La Patria degli Italiani" v. 24.5.1910. 24

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Arbeiterbewegung oder aber den an Bedeutung verlierenden republikanischen Clubs nahestanden. Im Jahr 1906 bestanden allein in der Stadt Buenos Aires 62 italienische Hilfsvereine, die nicht nach dem Berufsgruppenprinzip, sondern als ethnische bzw. Nationalitätenorganisationen organisiert waren und nach den Angaben von Devoto/Rosoli (1985, 149) 45.000 Mitglieder zählten (Provinz Buenos Aires: 133 Vereine mit 38.000 Mitgliedern; Provinz Santa Fe: 56 Vereine mit 11.500 Mitgliedern). Im Unterschied zu den Vereinen, die der Arbeiterbewegung nahestanden, überwog in diesen Organisationen die politische Absicht, zur, wie es im Statut der "Societä XX Settembre" hieß, "Aufrechterhaltung der italienischen Nationalität" beizutragen (Devoto/ Rosoli 1985,163). Die italienische Presse sprach im gleichen Sinn von der Verteidigung der "italienischen Würde"29. Diese Absicht bezog sich konkret auf die Förderung des italienischen Sprachgebrauchs und die Vermittlung der nationalen Traditionen Italiens, z.B. anhand entsprechender Gedenkfeierlichkeiten. Betroffen von diesen politischen Direktiven im national-italienischen Sinn war auch das von den Hilfsvereinen unterhaltene private Schulwesen, das nach 1866 im Primarsektor entstand und mit italienischen Büchern arbeitete. Luigi Favero weist allerdings daraufhin, daß dieses Vereinsschulwesen primär der Vermittlung der Kulturtechniken und anderer Kenntnisse diente, die als notwendige Voraussetzungen für den beruflichen Aufstieg der Einwanderer angesehen wurden, und daß ferner die Bedeutung dieser Schulen sank. 1897 zählten sie in Buenos Aires 3.200 Schüler, 1913 dagegen nurmehr 1.800. Dies hing einerseits mit der Bildungspolitik der argentinischen Regierung und der Einführung des obligatorischen und kostenlosen Schulunterrichts nach 1884 zusammen, hatte andererseits aber vermutlich auch damit zu tun, daß die italienischen Eltern sich bewußt wurden, daß schulische Karrieren im einheimischen Bildungssystem bessere soziale Aufstiegsmöglichkeiten für ihre Kinder versprachen. Klerikal-italienische Stimmen monierten aus diesem Grund denn auch, daß die in Argentinien geborenen Kinder der italienischen Auswanderer keine Italiener sein wollten und das Gefühl der italianidad ablehnen würden (vgl. Devoto/ Rosoli 1985, 223). Damit deutet sich jedoch ein neuer Problembereich an, der vor allem mit der sozialen Heterogenität der italienischen Bevölkerungsgruppe zu tun hatte und in etwa in die Frage gefaßt werden kann, wie erfolgreich denn die monarchistisch gesonnene Führungsgruppe der Italiener überhaupt in ihrem Bestreben war, ein italienisches Nationalbewußtsein unter ihren Landsleuten zu verbreiten bzw. zu erhalten. Diese Frage kann sicherlich nicht ohne eine genauere soziologische Betrachtung etwa des italienischen Vereinswesens und seiner Entwicklung beantwortet werden, an der es noch fehlt, führt uns im Rahmen dieser Untersuchung jedoch zunächst zu einem der merkwürdigsten Phänomene, die es zu erklären gilt, nämlich den Gauchokult im Argentinien der Jahrhundertwende.

29

"Ai lettori", in: "La Patria degli Italiani" v. 1.1.1911.

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4. Gauchokult und städtische Subkultur FCr den Zeitraum nach etwa 1880 läßt sich eine zunehmende Verländlichung des Geschichtsbilds urbaner Bevölkerungsgruppen in Argentinien feststellen. Diese Verländlichung der historischen Bilderwelt stellte eine symbolische Reaktion auf die sozialen Wandlungsprozesse der Gesellschaft dar und äußerte sich in zwei Prozessen, nämlich einmal in der Entstehung des Geschichtsrevisionismus, ein anderes Mal in der Stilisierung des Gaucho zum Prototypen der argentinidad. Während es sich bei dem Geschichtsrevisionismus jedoch um eine Bewegung akademischer Kreise handelte, ging die Hinwendung zur Gauchofigur zuerst von unteren städtischen Bevölkerungsgruppen aus. Die Dynamik, die der Prozeß der Verländlichung des Geschichtsbilds um die Jahrhundertwende gewann, stand insofern nicht ausschließlich, ja nicht einmal primär in dem Kontinuitätsstrang des traditionellen, föderalistischen Denkens, wie es sich über das 19. Jahrhundert hinweg in wechselnder Intensität im Landesinnern behauptet hatte. Der Verländlichungsprozeß des Geschichtsbilds nach ca. 1880 erhielt vielmehr durch neue soziale Trägergruppen wichtige Impulse, nämlich untere Kreise des städtischen Mittelstands, Teile der anarchistischen Arbeiterbewegung sowie randständige Gruppen im Urbanen Raum, unter denen die Einwanderer wiederum eine maßgebliche Rolle spielten. Analog zu diesen Unterschieden in den sozialen Trägergruppen reagierte der Gauchokult, der dabei entstand, auf andere Entwicklungsherausforderungen als etwa die Debatte um das Caudillismusbild, wie sie im Geschichtsrevisionismus geführt wurde. Der Gauchokult resultierte nicht aus der Wahrnehmung sozialer Konfliktpotentiale "von oben" her, sondern er stellte eine Interpretation der gesellschaftlichen Wirklichkeit auf dem Hintergrund von Prozessen der De-Kulturation oder der Identitätsdiffussion unter Migranten und Zuwanderern dar. Der Entwicklungsrhythmus, dem die Geschichtsvorstellungen in der politischen Öffentlichkeit Argentiniens unterlagen, änderte sich dadurch. Er richtete sich nun auch nach Maßgaben aus, die soziale Gruppen setzten, die zu dieser Elite keinen Zugang hatten. Die sich im Zuge der sozialen Wandlungsprozesse vollziehende Ausdifferenzierung des Gesellschaftsaufbaus wurde von einer Diversifikation der kulturellen Konfigurationen begleitet, womit schichten- oder gruppenspezifische, zwar veränderbare, aber relativ konstante Systeme sinnhafter, symbolischer Zeichen, Einstellungen und Manifestationen gemeint sind (vgl. Kocka 1979, 8). Dies galt zunächst für die entstehende Industriearbeiterschaft im städtischen Raum, so in Buenos Aires oder in Rosario, die ein eigenes Organisationswesen hervorbrachte und es vermochte, darüber eigene Kulturformen (vgl. Lepenies 1979) zu inszenieren. Allerdings wissen wir darüber bislang wenig: Die Forschung hat sich lange Zeit nicht bis diesem Thema beschäftigt, was mit der späten Rezeption sozialwissenschaftlicher Fragestellungen in der argentinischen Geschichtswissenschaft zusammenhängt. Erste, neuere Arbeiten zu dieser Thematik, wie der von Diego Armus (1990) zusammengestellte Sammelband über die städtische Lebenswelt und die "Volkskultur", lassen viele Fragen offen, und dies gilt auch

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für Arbeiten, die sich im engeren Sinn mit der Arbeiterkultur in argentinischen Industriestädten befassen30. Etwas günstiger gestaltet sich die Forschungslage in Bezug auf die zwanziger Jahre dieses Jahrhunderts (vgl. Gutiérrez/ Romero 1989). Ferner, und von der Entstehung einer städtischen Arbeiterkultur kaum zu trennen, spielten in diesem Zusammenhang die demographischen Bewegungen eine Rolle, also einerseits die Binnenmigration und andererseits die europäische Zuwanderung. In beiden Fällen führten die Wanderungsbewegungen für die davon Betroffenen zu der Auflösung überkommener sozialer Lebenszusammenhänge und Alltagswelten. Daß damit in mehr oder minder starkem Maße Prozesse der De-Kulturation sowie der Identitätsdiffusion verbunden waren, scheint plausibel31. Die Ansiedlung im fremden städtischen Raum brachte sowohl für die Migranten wie für die Zuwanderer das Bedürfnis nach der Entwicklung neuer gemeinschaftsbildender Vorstellungen mit sich. Notwendig dazu war die Ausbildung einer sozio-kulturellen Symbolik, die identitätsstützend zu fungieren, die sowohl soziale Integrations- wie auch Abgrenzungsbestrebungen zu repräsentieren und die schließlich auch, soweit es gewollt war, Assimilierungsbestrebungen darzustellen vermochte. Der in sozialer Hinsicht heterogene und zudem multi-kulturelle Charakter der argentinischen Gesellschaft um die Jahrhundertwende brachte es dabei, was die gesamte Forschung erheblich erschwert, mit sich, daß hier sehr unterschiedliche und facettenreiche Lösungen denkbar waren. Identitäten im städtischen Raum konnten in sozialer und räumlicher Hinsicht eng begrenzt sein, d.h. sie erstreckten sich offenbar mitunter nur über die als nachbarschaftliche Gemeinschaft empfundenen Anwohner eines Stadtviertels oder auch weniger Straßenzüge (vgl. Scobie 1977, 275). Eine offenbar wichtige Funktion als Mittel zur Selbstdarstellung wie auch zur Projektion angestrebter Identifizierungen kam dabei aber in einem offenbar breiteren Rahmen dem Gauchokult zu. So konstatierte Ernesto Quesada (1902, SOf), als er sich in einer Untersuchung mit den einzelnen städtischen Kulturformen beschäftigte, verblüfft und im Grunde ohne Erklärung die Existenz einer breiten städtischen Subkultur, deren gemeinsamer Nenner die Verherrlichung des Gaucho war. Dieser Gauchokult fand seine Anhänger zunächst vor allem in unteren Kreisen des Urbanen Mittelstands, stand nach den Beobachtungen Quesadas aber mitunter auch dem kriminellen Milieu nahe. Und eine zentrale Rolle spielten darin wiederum, so Quesada, die Zuwanderer bzw. "Italiener". Die Gauchofigur avancierte seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts zu dem eigentlichen Mythos des nationalen Selbstverständnisses in Argentinien, wobei sich in diesem Prozeß nicht das einzige, aber unbestritten das prominenteste Beispiel dafür findet, wie es fachfremden Motivationslagen und

50

Vgl. den Literaturbericht in der No. 3 von BIHAA (1991). Vgl. dazu das Gutachten, das Bialet Masse (1986, I 30) im Jahr 1904 im Auftrag der Regierung Ober die Lage der Arbeiterschaft in Argentinien anfertigte. 31

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Interessenkonstellationen gelang, historische Deutungsmuster zu entwickeln, die dem historischen Diskurs gleichsam "von außen", etwa aus der Folklore heraus, verbindliche Vorgaben setzten32. Die Anfänge dieses Prozesses lassen sich recht genau bestimmen und reichen in den Zeitraum nach 1810 zurück. Eine Schrittmacherfunktion übte dabei der literarische Diskurs aus, d.h. die Produktion von vor allem Gedichten und Liedern, die die Gauchos zum Thema hatten und worauf bereits im Verlauf dieser Untersuchung eingegangen wurde. Betrachten wir die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts, so gingen neuerlich vom literarischen Diskurs und konkret von dem 1872 von José Hernández (18341886) verfaßten Versepos "Martín Fierro" die ersten Impulse zur Propagierung des Gauchobilds aus (vgl. Grossmann 1975). Was die Beziehung zwischen dem "Martín Fierro" und dem politisch-sozialen Entwicklungsprozeß der Gesellschaft betrifft, ist der elegisch-nostalgische Charakter des Textes dem Leser vergleichsweise schnell zugänglich. Hernández, 1834 in Buenos Aires geboren, war ein überzeugter politischer Gegner des bonaerensischen Liberalismus. Insbesondere Mitre galt seine scharfe Kritik, die sich im übrigen auch auf die mitristischen Geschichtsanschauungen erstreckte (vgl. Zorraquín Becú 1972, 215). 1858 mußte Hernández aus politischen Gründen Buenos Aires verlassen. Anfang der sechziger Jahre finden wir ihn als Parteigänger der montoneros, später als Anhänger López Jordans in Entre Ríos (vgl. Chávez 1959, 3lf). Die Niederwerfung der montoneros in den sechziger Jahren, die Konsolidierung des Nationalstaates sowie die sich beschleunigende Expansionsbewegung der von der Atlantikseite aus kontrollierten Agrarexportwirtschaft besiegelten in den sechziger Jahren das Ende des offenen Widerstands im Landesinnern gegen das liberale Entwicklungsprojekt. In der Figur des Gaucho "Martín Fierro" spiegelten sich diese politisch-sozialen Entwicklungsschübe und die Penetration des Landesinnern durch das liberale Entwicklungsprojekt in vermittelter Form ab. Die Figur des Fierro, der von den Behörden unberechtigt verfolgt und zum Militärdienst an der indianischen Grenze zwangsrekrutiert wurde, war eine tragische Gestalt, in deren persönlichem Schicksal sich die hegemoniale Politik gegenüber dem Landesinnern wie auch die Gewalt der politischen Zentralisierungsbestrebungen exemplarisch verdichteten. "Es", so Hernández 1872 in einem Brief an José Z. Miguens (Castagnino 1964, 80) über seine Figur, "un pobre gaucho [...] No le niegue su protección, usted que conoce bien todos los abusos y todas las desgracias de que es víctima esta clase desheredada de nuestro país". Darüber hinaus stand der "Martín Fierro" jedoch in einem komplexeren politischen Aussagekontext, auf den jüngst Tulio Halperin Donghi aufmerksam gemacht hat. Halperin Donghi (1985b, 225) ordnet das Wirken von Hernández in die Ausbildung einer "ruralistischen Ideologie" ein, deren maßgebliche Propagandisten er im Umkreis des 1866 gegründeten Interessenverbands der Agrar-

31

Vgl. zu dem historischen Realitätsgehalt des Gauchobilds Riekenberg 1992b.

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Unternehmer und Viehzüchter, der "Sociedad Rural", ansiedelt. 1869 begründete Hernández in Buenos Aires die Zeitung "Río de la Plata", die sich, wie es in dem Editorial vom 23. September des Jahres hieß, als einzige Zeitung verstand, die die "ländlichen Interessen" vertreten würde. Die politischen Forderungen, die Hernández nach 1869 in dieser Zeitung erhob, konzentrierten sich auf die Senkung der Exportsteuern, die Dezentralisierung der Verwaltungsstrukturen sowie eine Reform des Zwangsrekrutierungswesens für die indianische Grenze, auf Maßnahmen vorschlage also, die zuerst ländlichen Bevölkerunsgruppen bzw. den Eliten in den Schwellenregionen zugute gekommen wären. Insoweit bestanden enge Berührungspunkte zwischen den Ansichten von Hernández und den Reform Vorschlägen, die modernisierungsorientierte und innovativ gesonnene Grundbesitzer nach 1866 in den "Anales de la Sociedad Rural Argentina" verbreiteten. Der "Martín Fierro" formulierte insofern nicht ausschließlich das Traditions- und Gesellschaftsverständnis von eher randständigen, unteren Bevölkerungsgruppen im Landesinnern, das durch die militärische Niederlage der montoneros vorübergehend verschüttet wurde. Er stand vielmehr auch im Kontext der Suche nach gesellschaftspolitischen Entwicklungs- wie auch Modernisierungsoptionen, wie sie den Interessenlagen der modernisierungsorientierten Elitegruppen in den Schwellenregionen entsprachen. Insofern war der "Martín Fierro" zwar aus der Perspektive des Landesinnern konzipiert, stand dem von Buenos Aires aus konzipierten, liberalen Entwicklungsprojekt jedoch nicht so fern, wie es vielfach behauptet wurde. Dies erklärt im übrigen auch, warum die Anschauungen, die Hernández hegte, später von den Vertretern des Geschichtsrevisionismus als eine nur andere Spielart des politischen Mitrismus kritisiert werden konnten (vgl. Peña 1968, 40ff). Einen bruchhaften Charakter gegenüber der liberalen Gesellschafts- und Geschichtsanschauung besaß der "Martín Fierro" jedoch in zumindest einer Hinsicht. In dem Epos von Hernández erschien der Gaucho nicht länger als eine heroisch-militärische Figur, wie es noch bei Hidalgo oder Ascasubi und den anderen Vertretern der literatura gauchesca in der Bürgerkriegszeit der Fall gewesen war, sondern er behandelte die Gauchofigur als einen sozialen Typus und rückte dadurch die sozialen Verhältnisse im Landesinnern in das Zentrum der Darstellung. Der "Martín Fierro" eröffnete dadurch neue Aussagemöglichkeiten über den Nationbildungsprozeß in der Region. Nicht allein, daß Hernández auf den hegemonialen Charakter wie auch die sozialen oder kulturellen Kosten des politischen Nationbildungsprojekts von Buenos Aires aus verwies. Bedeutsamer wurde, daß Hernández die Nation über eine soziale Trägergruppe zu begreifen suchte, was sich explizit gegen das aristokratisierende Selbstverständnis der Elitegruppen richtete, gleich welcher politischer Couleur sie waren. Zwar fanden sich in dem Zeitraum um und nach 1870 auch innerhalb der Geschichtsschreibung Versuche, die Nation als gaucha zu definieren, wie es bei den "Lecciones" von Estrada oder auch bei Vicente Fidel López der Fall war, der 1881 in seiner "Revolución Argentina" (II, 56) den Gaucho als Inbegriff argentinischer Wertvorstellungen darstellte ("...esa

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encarnación original de las fuerzas intrínsecas del pueblo argentino"). Aber diesen Interpretationen lag noch vollständig oder zumindest weitgehend das traditionelle Bild des Gaucho als eine heroisch-militärische Figur zugrunde, wie es im politischen Diskurs bzw. in der literatura gauchesca nach 1810 entwickelt worden war. Die Tendenz, einen Sozialtypus zum prócer zu stilisieren und als Verkörperung der argentinischen Nationvorstellung zu betrachten, nahm dagegen erst mit dem "Martín Fierro" ihre ersten Anfänge. Die Wirkung, die der "Martín Fierro" auf den historischen Diskurs der Elitegruppen ausübte, war vermutlich auch aus diesem Grund anfangs gering, so wie insgesamt zu konstatieren bleibt, daß er in diesem Zeitraum von den sozialen oder akademischen Eliten des Landes nur oberflächlich rezipiert und schnell wieder vergessen wurde33. Die Bedeutung des "Martín Fierro" bestand vielmehr darin, daß er Anteil an der Ausbildung einer städtischen Subkultur hatte, die sich um die im Zuge der Wandlungen der Agrarstruktur spätestens 1880 in sozialer Hinsicht anachronistisch gewordene Figur des Gaucho rankte und die, weil sie überdies in starkem Maße von Einwanderergruppen getragen wurde, zu einem der erstaunlichsten Phänomene in der argentinischen Sozialgeschichte des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts zählt. Und dies gilt um so mehr, als das Bild, das im "Martín Fierro" von den Einwanderen gezeichnet worden war, eher negativ und vorurteilsbeladen ausfiel. Möglich wurde diese Entwicklung durch die Urbanisierungsprozesse sowie auch die staatlichen Alphabetisierungskampagnen und Anstrengungen im Bildungsbereich, die zur Entstehung eines neuen Lesepublikums nach ca. 1880 und darüber vermittelt zu Strukturwandlungen der politischen Öffentlichkeit im städtischen Raum führten. Die in diesem Zeitraum einsetzende Expansion wie auch Diversifikation des Zeitungsmarkts sowie des Publikations- und Bibliothekswesens, die Adolfo Prieto (1988, 36ff) anhand eindrucksvoller Zahlen dokumentiert, zeigten an, daß das Lesen als eine Form kulturellen Verhaltens nunmehr zumindest im Urbanen Raum über die engeren Kreise der Elite bzw. der mittelständischen Gruppen in andere Schichten, wie die Arbeiterschaft oder auch sozial marginale Kreise der Gesellschaft, übergriff. Der literatura gauchesca, vielfach in der Form loser Blattsammlungen publiziert, entstand dadurch ein breites Publikum, und ihre Schriften avancierten, wovon auch die zeitgenössischen Fachzeitschriften, wie das "Anuario Bibliográfico", Zeugnis ablegten, zu den Texten, die in unteren und abhängigen städtischen Bevölkerungsgruppen die größte Verbreitung fanden (vgl. Prieto 1988, 56f). Damit entstand im Argentinien des ausgehenden 19. Jahrhunderts eine spezifische Form des criollismo, also eine romantisierende Verklärung der überkommenen ländlichen Sozialverhältnisse und Lebensformen in der Pampa, die sich um eine mystifizierte Gauchofigur zentrierte, die ferner über ein eigenes Kommunikationsnetz verfügte, zu dem triviale Literaturformen, das Straßentheater oder

JJ

Vgl. Prieto 1956, 67; 1988, 52f.

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der Karneval und schließlich auch ein folklorisches Clubwesen gehörten, und die sich, was ihr Publikum betraf, nicht ausschließlich, aber in starkem Maße an die unteren Bevölkerungsgruppen im städtischen Raum richtete. Zum wichtigsten Vertreter dieser Richtung des criollismo wurde Eduardo Gutiérrez, der zwischen 1879 und 1886 sechzehn Erzählungen zur Gauchothematik schrieb, wie "El Chacho" und "Los montoneros", die sich auf den gescheiterten Aufstand Peñalozas bezogen, dann "Santos Vega" und vor allem "Juan Moreira", der in diesem Zeitraum allein vier Auflagen erfuhr. Ähnlich wie im Fall des "Martín Fierro" von Hernández handelte es sich auch bei "Juan Moreira" um die Gestalt des edlen, von der Obrigkeit verfolgten Gaucho. In beiden Texten lag der Schwerpunkt der Darstellung auf der moralischen Integrität, der Würde und dem natürlichen Gerechtigkeits- und Freiheitsempfinden des Gaucho, und beide Texte hoben auch den Verlust an sozialer Identität und Gebundenheit hervor, den der Zugriff der Staatsgewalt und allgemein die gesellschaftlichen Modernisierungsprozesse für die Protagonisten der Erzählungen mit sich brachten. Anders als der "Martín Fierro" war die Figur des "Juan Moreira" jedoch der Rebell und soziale outlaw. Während "Fierro" in die Armee eingezogen wurde, ungeachtet seiner persönlich schmerzhaften Erfahrungen jedoch einen neuen Weg der Integration in die Gesellschaft und der Aussöhnung mit der Staatsgewalt suchte, entzog sich die literarische Figur des "Moreira" diesen Mechanismen und starb schließlich in einem Gefecht mit den Polizeieinheiten. Gutiérrez selbst interpretierte diese abweichenden Handlungsmuster in den Worten (vgl. Prieto 1988, 95), daß es für den Gaucho nur zwei realhistorische Entscheidungsmöglichkeiten gegeben habe, nämlich die Wahl zwischen dem Verbrechen oder aber dem Eintritt in das Linienregiment ("...uno es el camino del crimen...; otro, es el camino de los cuerpos de línea"). Gutiérrez plädierte dabei für den ersten Weg. Der "Moreira" eröffnete seinem Publikum damit potentiell neue Identifizierungsmöglichkeiten, die über den "Fierro" hinausgingen. In beiden Fällen waren eher nostalgische Reaktionen denkbar, die möglicherweise in erster Linie die Gruppen der Binnenmigranten ansprachen, die die durch die Wandlungen der Agrarstruktur hervorgebrachten Zerstörungen der traditionalen Formen sozialer Organisation im Landesinnern mitunter noch aus der eigenen Anschauung kannten, und denen der criollismo nun im städtischen Raum eine Stütze überkommener Identitätsvorstellungen offerierte. Diese romantisierend-nostalgische Komponente des Gauchobilds konnte jedoch auch von Einwanderergruppen aufgegriffen werden, die die Gauchofigur als eine symbolhafte Repräsentation der argentiniäad wahrnahmen. Die Gauchofigur vermochte in diesem Fall als eine Versinnbildlichung dessen zu fungieren, wohin die Zuwanderer, die integrationsund assimilationswillig waren, überhaupt ihre Eingliederungsbestrebungen richten bzw. woran sie sich orientieren sollten, soweit es um die Anpassung an das argentinische Selbstverständnis, die Geschichte und die Kultur des Landes und um die Absicht zur Integration in diese Gesellschaft ging. Immerhin bot die Gauchofigur, soweit sie als Repräsentant typisch nationaler, argentinischer

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Werte begriffen wurde, den Vorteil, daß sie den Zuwanderern in der Regel in sozialer Hinsicht sehr viel näher stand als die Heroengestalten der Unabhängigkeitsbewegung, die von offizieller Seite aus als Inbegriff des Argentiniertums und als nationales Identifikationsobjekt angeboten wurden. Darüber hinaus enthielt der "Moreira" jedoch, und dies unterschied ihn vom "Fierro", auch eine Komponente der Sozialrebellion, die es den abhängigen kreolischen Migrantengruppen erlaubte, offene oder unterschwellige Widerstände gegen das gesellschaftliche Modernisierungsprojekt symbolisch zu realisieren, und die es umgekehrt den Einwanderergruppen gestattete, von der kreolischen Gesellschaft erfahrene Ablehnungen oder soziale Diskriminierungen symbolisch zu kompensieren. Und denkbar war schließlich auch, daß die Gauchofigur, etwa im Kontext der vieja patria oder auch des Geschichtsrevisionismus, als Repräsentation der kreolischen Geschichte und kreolischer Wertvorstellungen in Anspruch genommen wurde und von dort aus Abgrenzungsfunktionen gegenüber den Zuwanderern und ihren sozialen Assimilierungs- und Aufstiegsbestrebungen erfüllte. Die Gauchofígur beinhaltete insofern potentiell sehr unterschiedliche Identifikationsangebote und divergierende soziale Funktionsleistungen, die von der Identitätssuche bis hin zur symbolischen Verarbeitung sozialer Konflikte reichten und die sehr unterschiedliche soziale Integrations- wie auch Abgrenzungsleistungen zu erfüllen und ganz verschiedene gesellschaftliche Gruppen anzusprechen vermochten. Diese Spannbreite ihres Symbolgehalts trug zweifelsohne zu ihrer Popularität wie auch zur Verbreitung des Gauchokults in der Vorstellungswelt ganz unterschiedlicher sozialer Gruppen im Urbanen Raum bei und stellte eine der wichtigsten Voraussetzungen dafür dar, daß die Gauchofigur längerfristig zu einem zentralen Topos des argentinischen Selbstverständnisses geraten konnte. Bei dem Gauchokult im Urbanen Bereich handelte es sich um eine "inszenierte Kultur" (Keil/Ickstadt 1979, 117), die über einen eigenen institutionellen Rückhalt verfügte. Dazu zählten, wie schon erwähnt, nicht allein triviale Literaturformen, sondern auch die Organisation von Festumzügen, die Überformung des Karnevals oder der Jahrmärkte durch die Gauchothematik, das Straßen- und volkstümliche Theater (eine Theaterfassung des "Moreira" erschien 1884) sowie die nach 1890 sich bildenden centros criollos, eine Form des folklorischen Clubund Vereinswesens, von denen zwischen 1899 und 1914 allein in Buenos Aires 268 Einrichtungen existierten (vgl. Prieto 1988, 129f). Dieses institutionelle Netz des Gauchokults begründete im städtischen Bereich einen gegenüber den anderen kulturellen Konfigurationen autonomen Bereich der Kommunikation und Selbstvergewisserung wie auch der Traditionsbildung. Die Gauchofigur rückte in das Zentrum der darin konzipierten Geschiehtsvorstellungen. "Hoy", so etwa die Zeitschrift "La Pampa" am 29. Juni 1904, "el gaucho argentina ha desaparecido de nuestras fértiles campiñas [...] Pero en cambio vive latente en la memoria de los argentinos y constituye [...] una de las tradiciones más augusta y más bella de encantos de la historia de nuestro pueblo." Getragen wurde diese Bewegung in erster Linie von randständigen und Arbeitergruppen sowie unteren

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Gruppen des städtischen Mittelstands; erst später sollte der criollismo auch von den Elitegruppen aufgegriffen werden. Ernesto Quesada (1902,36f) beklagte die "kolossale" Popularität des Gauchokults gerade im Hinblick auf die "niederen" Leidenschaften der städtischen "Massen". Aus dieser kulturellen Sphäre der Gesellschaft kamen seit den achtziger und neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts zugleich die massivsten Bestrebungen, den nunmehr als soziale Figur interpretierten Gaucho als Prototypen des argentinischen Nationalgedankens zu definieren. Der Gaucho, so die Argumentation in dem Rundbrief eines Clubs von 1902 (vgl. Prieto 1988, 130), sei "[...] el comienzo de nuestra vida como nación, la raíz y el tronco de la nacionalidad argentina." Anfänglich als eine bloß triviale oder, wie es im "Anuario Bibliográfico" von 1887 (vgl. Prieto 1988, 56) hieß, "vulgäre" Variante von Literatur betrachtet, wurde den Eliten die Ausbildung dieser Sphäre einer städtischen Subkultur zunehmend problematisch. Dies hing zunächst mit den Berührungspunkten zusammen, die diese kulturelle Konfiguration mit der Arbeiterbewegung und insbesondere anarchistischen Kreisen aufwies. Die Zeitschrift "La Pampa" z.B., die 1903 begründet wurde und sich im Untertitel als Organ der centros criollos bezeichnete, wandte sich explizit auch an die Arbeitergruppen34, und die anarchistischen Gruppen griffen umgekehrt den criollismo auf und versuchten, ihm einen Sozialrevolutionären Inhalt zu geben. Die Gauchos galten den anarchistischen Gruppen als Exempel einer unterdrückten, von der kapitalistischen Entwicklung der Region zerstörten Sozialgruppe und Kultur. In den vermeintlichen Verhaltensmustern und Lebensformen der Gauchos, wie ihrer Ungebundenheit, ihrem Individualismus, ihrer rebellischen Grundhaltung oder ihrem angeblich spontanen Freiheitsstreben, sahen die Anarchisten vielerlei Berührungspunkte zu ihren eigenen Auffassungen und politischen Zielvorstellungen. Die überwiegend agrarische Herkunft der anarchistisch gesonnen Arbeiter und die damit verbundenen Reminiszenzen an die ländliche Lebensweise kamen dem entgegen. Vor allem jedoch mußte das sozialrebellische Element, das den Gauchos in der literatura gauchesca anhaftete, anziehend auf die anarchistischen Kreise wirken, in denen die gewalttätige, spontane Revolte oder auch das soziale Banditentum, von denen zumindest Teile der textos gauchescos handelten, eine hohe politische Zustimmung erfuhren. Heute seien die Anarchisten, so "El Perseguido", die Zeitung einer spanischen Anarchistengruppe, am 18. Mai 1890, die Vagabunden und "Übeltäter", wie es früher die Gauchos gewesen seien. Es fügt sich dazu, daß "La Protesta", die wichtigste anarchistische Zeitung, die 1897 unter der Leitung von Alberto Ghiraldo begründet wurde, seit dem Jahr 1904 eine wöchentliche Beilage publizierte, die den Titel "Martín Fierro" trug und die von den engen Beziehungen Ausdruck gab, die zwischen der anarchistischen Bewegung und dem Gauchokult bestanden. Anar-

14 Vgl. die Gedichte "Luchemos" und "Obreros" bzw. den Leitartikel "Obreros! Venid!", in: "La Pampa" v. 8.5.1904, 27.7.1904 und 30.11.1904.

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chistische Gruppen hatten einen beträchtlichen Anteil an der Verbreitung von Texten zur Gauchothematik35. Eng mit diesem Phänomen zusammen hing ferner die andere Befürchtung der politischen Führungsgruppen, daß nämlich der Gauchokult sozialen EntdisziplinierungsschCben Vorschub leisten würde. Konkret der moreirismo erschien als eine Verherrlichung delinquenten Verhaltens angelegt, und zeitgenössische Beobachter verfolgten mit Sorge den hohen Grad an Identifikation und emotionaler Bewegtheit, den die Vorführung des "Moreira" auf Vorstadtbühnen oder Jahrmärkten unter den Zuschauern auszulösen vermochte und der sich auch in anschließenden Auseinandersetzungen mit der Polizei entladen konnte. Von dort aus war es nur ein kleiner Schritt, den criollismo städtischer Randgruppen als eine, wie es in "La Nación" vom 21. Februar 1906 hieß, nur neue Form des sozialen "Bandenwesens" im Urbanen Bereich wahrzunehmen. "La Nación" verurteilte deshalb am 24. März 1896 "[esos] tipos sanguinarios y brutales, como [...] Juan Moreira, que no perdían ocasión de asaltar policías, matar soldados." Auch die Kriminalsoziologen, wie Eusebio Gómez oder José Ingenieros, betrachteten den moreirismo zunehmend als ein Delinquenzphänomen, wodurch neuerlich, wenngleich von einer anderen Warte her, das Problem der Sozialdisziplinierung aufgeworfen war. Es hat insofern, soweit der bisherige Forschungsstand ein Urteil darüber zuläßt, den Anschein, daß sich im ausgehenden 19. Jahrhundert über den criollismo eine Form der abweichenden, mitunter offen oppositionellen Gesellschafts- und auch Geschichtsanschauung ausbildete, die von unteren Bevölkerungsgruppen im städtischen Raum getragen wurde. Oppositionell war dieses Identitätskonzept in zweierlei Hinsicht. Einerseits und von der Warte unterer kreolischer Bevölkerunsgruppen her konnte es sich gegen das offizielle Verständnis von Staat, Nation und gesellschaftlicher Modernisierung richten, wobei die Identifikationen mit der Gauchofigur dazu herhielten, an die verklärten Zustände einer vor-modernen Epoche zu erinnern. Insoweit barg der Gauchokult auch, wenngleich nur in rudimentärer Form, die Option einer Revision der Geschichtsanschauungen "von unten" her, wobei allerdings fraglich bleibt, ob und inwieweit seinen Trägergruppen dies und auch die politischen Konsequenzen einer solchen Form des Geschichtsrevisionismus bewußt waren. Andererseits und von der Warte der Zuwanderergruppen und konkret der "Ita-

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Die "Carta Gaucha" z.B. erschien 1921 in einer vierten Auflage von 20.000 Exemplaren, die kostenlos verteilt wurde (Crusao 1921). Über die Identifizierung von Anarchisten und Gauchos wurden die Landarbeiter darin (3) zur "sozialen Revolution" aufgefordert: "Ya aura resulta que a mis amigos los anarquistas les da dao por haser una cantida e libritos pa repartirlos por todas partes y pa que todos los criollos del campo puedan ler esta carta. Ellos disen q'es bueno que todos lleguen a conoser las cosas buenas que ha escrito un gaucho trabajador que sabe lo q'es la vida e los pobres; y también pa que todos compriéndan lo q'es la revolución social [...] Es por eso que se precisa saber q'es y cómo se hase la revolusión, ya la 'Carta Gaucha' les dise clarito a los gauchos lo q'esti mal y lo q'está bien, como pa qu'elijan".

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liener" aus, die, darf man den Beobachtungen Ernesto Quesadas trauen, eine zentrale Trägergruppe des criollismo bildeten, ist die Expansion des städtischen Gauchokults jedoch auch auch als ein Indiz dafür zu werten, daß der Versuch zu einer Konservierung eines italienischen Nationalbewußtseins, wie es die monarchistisch gesonnenen Führungskreise dieser Nationalitätengruppe versuchten, wenig erfolgreich war. Oppositionell war der criollismo in diesem Fall nicht in dem Sinn, daß er die soziale Hierarchie der Gesellschaft in irgendeiner Form in Frage gestellt hätte. Oppositionell war er jedoch insofern, als er dokumentierte, daß zumindest Teile der italienischen Zuwanderer sich über Anpassungen an die und symbolische Identifikationen mit der Geschichte und Kultur ihres Gastlandes zu assimilieren bzw. zu integrieren versuchten. Der Gauchokult stellte in diesem Sinn ein populäres Gegenkonzept zu Formen eines nationalistisch-italienischen Denkens dar, wie es von der italienischen Elite in Buenos Aires propagiert wurde, worin sich zugleich die BrGche, sozialen Divergenzen und unterschiedlichen Zukunftsvisionen kundtaten, die innerhalb der italienischen Nationalitätengruppe bestanden. Daß dieser Befund durch genauere sozialhistorische Untersuchungen Oberprüft werden müßte, wurde bereits erwähnt. Ob und inwieweit der criollismo der Elite, der sich in der Folgezeit ausbildete, eine Reaktion auf diese Entwicklungen in unteren gesellschaftlichen Gruppen und die damit verbundenen Herausforderungen der offiziellen historisch-kulturellen Symbolik darstellte, ist im nachhinein kaum zu beantworten. Es ist jedoch auffällig, daß sich im frühen 20. Jahrhundert eine neue Variante der offiziellen Zelebrierung des Gauchobilds ausbildete, die im Jahr 1913, als Ricardo Rojas den Lehrstuhl für argentinische Literatur an der Universität Buenos Aires übernahm und Leopoldo Lugones seine öffentlichen Vorträge über den "Martin Fierro" hielt, schließlich manifest wurde und die in mehrfacher Hinsicht Berührungspunkte zu dem criollismo aufwies, wie er im subkulturellen städtischen Milieu kursierte. Allerdings handelte es sich dabei nicht um dessen einfache Verlängerung oder Reproduktion: Der criollismo der Eliten, wie er um 1913 entstand, griff die Gauchosymbolik vielmehr von einer anderen Interessenwarte bzw. mit anderen politisch-sozialen Funktionszuschreibungen auf, als dies etwa in anarchistischen oder sozial randständigen Kreisen der städtischen Gesellschaft der Fall war. Und im Vordergrund des Interesses stand hierbei das Motiv, die sozialrebellischen Züge des Gauchokults aufzufangen und die Gauchosymbolik im Sinn der Sozialdisziplinierung umzuinterpretieren. Dies war zumindest bei Lugones offenkundig der Fall, der bestrebt war, ein Gauchobild zu entwerfen, das seiner potentiell delinquenten Züge entleert war und stattdessen als symbolhaftes Modell der Einfügung abhängiger Sozialgruppen in ein hierarchisiertes Gesellschaftsgefüge zu fungieren vermochte. Bereits im Jahr 1905 hatte Lugones seinen "La guerra gaucha" publiziert, an dem er seit 1897 gearbeitet hatte und in dem er eine Heroisierung von Güemes und seiner Gauchos in der Provinz Salta betrieb. Diese Darstellungsweise stellte, was das kreolische Geschichtsbild betraf, noch nichts grundsätzlich Neues dar, handelte

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es sich hierbei doch um die klassische Version des Gauchobilds als eine militärische Heldenfigur. Aufmerksamkeit verdient jedoch der Umstand, daß das Buch, das in einer ersten Auflage von 1.500 Exemplaren erschien, kaum in den Buchhandel gelangte, sondern weitgehend von den staatlichen Behörden, d.h. dem Kriegsministerium, dem Erziehungsministerium, dem "Consejo Nacional de Educación" sowie den Bibliotheken aufgekauft wurde. Darin dokumentierten sich sowohl die gestiegene Aufmerksamkeit der politischen Entscheidungsträger für die Funktion des Gauchobilds in der Gesellschaft wie auch das Bestreben, eine bestimmte, Verbindlichkeit beanspruchende Version dieser Symbolik über die staatlich kontrollierten Sozialisationskanäle zu vertreiben, um die Verarbeitung des Gauchomotivs nicht allein anarchistischen oder eher sozial randständigen Gruppen zu überlassen. Im Jahr 1913 dann griff Lugones in den Vorträgen, die er vor einem ausgewählten Publikum und in Anwesenheit des Staatspräsidenten Roque Sáenz Peña und seiner Minister im Theater "Odeón" in Buenos Aires hielt, auf diese Thematik zurück. Lugones (1916, I 6) interpretierte darin den "Martín Fierro" von José Hernández als die authentische Darstellung des argentinischen Nationalcharakters ("la obra particularmente argentina"). Die Gauchofigur des "Fierro" wurde dabei von Lugones einer ästhetisierenden Betrachtungsweise unterzogen und das Epos selbst in die Tradition des antiken, "hellenistischen" Denkens gestellt. Auf dem Hintergrund der Zuspitzung der politisch-sozialen Konfliktpotentiale und der Diskussion um die argentinidad, die anläßlich der Zentenarfeiern von 1910 ihren Höhepunkt erfuhr, leistete die Argumentation von Lugones in legitimatorischer Hinsicht dreierlei. Erstens löste Lugones die Gauchofigur aus ihren bloß militärisch-kriegerischen Konnotationen, die sie im kreolischen Geschichtsbild bis dahin besessen hatte. Die Gauchofigur wurde, was das politisch-soziale Legitimationsinteresse der Eliten betraf, in neuer Form, d.h. als eine soziale Kategorie verwendbar. Zweitens bewirkte die Ästhetisierung des Gauchobilds, die Lugones betrieb, daß der Gaucho nicht als die Figur erschien, in der sich die Brüche des sozialen Wandlungsprozesses der Gesellschaft exemplarisch verdichten würden, wie es in den novelas gauchescas der achtziger Jahre der Fall war. Die ästhetisierende Interpretation der Gauchofigur schuf vielmehr die Voraussetzung dafür, daß dieses Gauchobild einen deutlichen Abstand zu der Gauchosymbolik wahrte, wie sie im subkulturellen Bereich der städtischen Gesellschaft kursierte. Diese Betrachtungsweise korrespondierte dem Interesse der Eliten, sich über die kulturelle Symbolik einer eigenen, traditionalkreolischen Identität zu versichern. Ausdrücklich grenzte Lugones aus diesem Grund sein Gauchobild gegen das des "überseeischen Plebs" (7) ab. Und drittens schließlich stand die Gauchomythologie von Lugones ganz im Zeichen der akuten politischen und sozialen Stabilisierungszwänge, d.h. konkret die Unterordnung der Gauchos unter ihre caudillistischen Führergestalten fungierte als Modell einer erfolgreichen und weiterhin gültigen politischen und sozialen Hierarchisierung des Landes. Die Rettung der Freiheit in Amerika, so Lugones, sei unzweifelhaft ein Werk der Gauchos gewesen. Aber die historische Größe

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der Gauchos sei nur deshalb möglich gewesen, weil sie ihre Führung durch einen überlegenen, "weißen" Sozialtyp akzeptiert und niemals versucht hätten, dessen "Schirmherrschaft" über sich selbst in Frage zu stellen oder sich mit ihm auf eine Stufe zu stellen: "Los gauchos aceptaron, desde luego, el patrocinio del blanco puro con quien nunca pensaron igualarse política o socialmente" (60). Die politische Botschaft an das zeitgenössische Publikum und konkret die Ministerriege der Regierung, die seinen Vorträgen beiwohnte, war auf dem Hintergrund der sozialen Konflikte im Innern der Gesellschaft nicht zu überhören. Lugones reduzierte den Gaucho auf eine Gefolgschaftsfigur der politischen und sozialen Eliten des Landes. Zugleich entwarf er damit für die zeitgenössische Gesellschaft das Modell einer streng hierarchisierten, patriarchalischen Gesellschaftsordnung, was alsbald von nationalistischen Gruppierungen aufgegriffen werden sollte. Nationalistische Gruppen forderten erstmals 1916 in Eingaben an den Nationalkongreß die Errichtung eines "monumento al gaucho"36. Die Botschaft der Gauchosymbolik, die in anderen sozialen Trägergruppen eher eine Ausdrucksform des Sozialprotests darstellen konnte, verkehrte sich damit in ihr Gegenteil, was erst die Voraussetzungen dafür schuf, daß sie auch für die politischen Führungsgruppen des Landes zu einem akzeptanzfähigen Teil der nationalen Geschichte und Symbolik werden konnte. In den engeren Bereich der offiziellen Geschichtsbetrachtung und der institutionalisierten Formen der Geschichtsinterpretation, wie sie die Historische Akademie oder der Universitätsbereich repräsentierten, drang der Gauchokult deshalb jedoch nicht ein bzw. traf dort auf vielerlei Vorbehalte. Bereits 1872 hatte Mitre, nachdem ihm Hernández ein Exemplar des "Martín Fierro" zugesandt hatte, in seinem Dankschreiben (vgl. Rojas 1917, S62) Bedenken angemeldet. Er glaube, so Mitre, daß dieses Buch etwas zuviel des "Naturalismus" und des "Lokalkolorits" enthalte. Und als im Jahr 1916 im Kongreß die zitierte Eingabe nationalistischer Gruppierungen zur Errichtung eines Denkmals für den Gaucho diskutiert wurde, hielt Carlos Maria Urien (1916) dazu in der Historischen Akademie einen Vortrag, in dem er von den klassischen Positionen des liberalen Geschichtsbilds her diesen Vorschlag entschieden zurückwies. Der Gaucho sei, so Urien, ebenso wie sein Pendant, der "caudillo gaucho", eine destruktive und anarchische Figur. Einen irgendwie positiven Beitrag zur Entwicklung der Nation hätten die Gauchos nicht geleistet, und dies gelte auch für die Unabhängigkeitskriege. Denn in dem Moment, da der "hombre de la campaña" in die Truppen San Martins, Alvears usw. eingetreten sei, habe er, so die Argumentationsfigur von Urien, aufgehört, ein Gaucho zu sein: "En los ejércitos de la independencia [...] nunca hubo gauchos" (lOf). Die klassisch-liberale Geschichtsinterpretation hielt damit an ihren Verdikten über den Gaucho und den "caudillo gaucho" fest, worin sowohl politische Motive wie auch die Vorbehalte der wissenschafts-

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Petition der "Federación de Asociaciones patrióticas" (Diario 1916,1 384).

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orientierten Geschichtsbetrachtung gegenüber den folklorischen Elementen des Gauchokults eine Rolle spielten. Nicht die Historiker, sondern kulturnationalistische Schriftsteller waren dafür verantwortlich, wenn der criollismo nach 1910 auch in Teile der Elitegruppen und in deren historisches Selbstbild Einzug zu halten vermochte. 5. Zwischenergebnis Die Diskussion der argentinidad, die um die Zentenarfeiern von 1910 herum ihren Höhepunkt erreichte, stellte eine Reaktion auf die krisenhafte Zuspitzung der sozialen Wandlungsprozesse der Gesellschaft und auf die politisch-sozialen Folgewirkungen der demographischen Entwicklung im Argentinien der Jahrhundertwende dar. Notwendig wurde es auf dem Hintergrund dieser Prozesse, das überkommene Bild der Nation, ihrer Geschichte und Kultur zu überprüfen und nach Vorstellungsmustern und Traditionen zu suchen, die dazu tauglich schienen, die aktuellen sozialen Ordnungs- und politischen Integrationsprobleme des Landes im Bereich der historisch-politischen und kulturellen Symbolik aufzufangen. Die Diskussion der argentinidad erfüllte dabei, soweit es den Elitendiskurs betraf, unterschiedliche Funktionen. Grundsätzlich handelte es sich darum, sich der Vorstellung und des Begriffs einer argentinischen Nation zu versichern, deren Bestand Kreise der akademischen und politischen Eliten durch die Zuwanderung bedroht sahen. Möglich war es auch, daß in der Diskussion des nationalen Selbstbilds das Bedürfnis überwog, die überkommenen Privilegien und den sozialen Status der kreolischen Gruppen zu schützen und Ab- und Ausgrenzungsprozesse gegenüber Zuwanderergruppen symbolisch zu vollziehen. Denkbar war schließlich ferner, daß in den damit verbundenen Hinwendungen zu der Geschichte vor der Immigration und zu den traditionellen "nationalen" Werten Modelle einer politisch-sozialen Ordnung und Hierarchie gesucht wurden, die als Lösungen für die aktuellen Integrations- und Entwicklungsprobleme des Landes verstanden wurden. Betrachten wir die historisch-politische Symbolik, die im Zuge der Diskussion um die argentinidad hervorgebracht wurde, so lassen sich grob drei Bildkonfigurationen unterscheiden, die allerdings nicht strikt voneinander getrennt waren, sondern ineinander übergehen konnten. Erstens handelte es sich dabei um die überkommene patriotische Liturgie, an deren historisch-politischen Sozialisationswert die Eliten aus dem Bedürfnis nach Stabilität und Kontinuität verbürgenden Orientierungsmustern heraus auch in den Anfängen des 20. Jahrhunderts festhielten, die jedoch nun von der Auflistung der Heldengestalten auf das Konzept der vieja patria hin erweitert wurde. Möglich wurde es damit, das nationale Pantheon um neue Gruppen (Gauchos) und Wertvorstellungen (Hispanitätsgedanke) zu erweitern. Zweitens handelte es sich um den Komplex aus Geschichtsrevisionismus und Kulturnationalismus, die zwar nicht ineinander fallen mußten, aber vielfältige Berührungspunkte zueinander aufwiesen. Ungeachtet verschiedener Divergenzen (der Kulturnationalismus reagierte eher auf die durch die Zuwanderung angestoßenen Verunsicherungen des Nation-

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konzepts, der Geschichtsrevisionismus eher auf die sozialen Ordnungsprobleme; der Kulturnationalismus erhoffte sich die angestrebte Regeneration der Nation eher aus der Literatur als aus der Geschichtsschreibung) war beiden Strömungen gemeinsam, daß sie in erster Linie von Angehörigen der Provinzeliten vertreten wurden und daß sie ferner aus der Symbiose von Caudillo und Gaucho das Modell einer patriarchalischen Gesellschaftsstruktur formten. Und drittens schließlich begegnen wir der hidalgischen Geschichtsauffassung, die in ähnlicher Form wie die anderen Geschichtsbilder auf die sozialen Ordnungsprobleme der Gesellschaft und die befürchtete Zersetzung der Nation im Gefolge der Zuwanderung reagierte, die jedoch schärfer den Charakter einer sozialen Statusverteidigung der eingesessenen, kreolischen Familien trug. Insofern deckte die Diskussion der argentinidad eine Spannbreite politisch-sozialer FunktionsansprGche an die nationale Traditionsbildung ab, wodurch recht unterschiedliche politische Interessen- und soziale Trägergruppen angesprochen werden konnten, wobei der gemeinsame Nenner dieser Entwicklung in einer mehr oder minder starken Aufwertung der hispanischen Traditionen des Landes und in einer mehr oder minder ausgeprägten Verländlichung der Geschichtsvorstellungen lag. Die politisch-soziale Systemkrise der argentinischen Gesellschaft gegen Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts führte insofern auch zu einer Modifizierung der historisch-politischen Symbolik, doch es drängt sich der Eindruck auf, daß sowohl das Konzept der vieja patria wie auch der Komplex aus Caudillo und Gaucho oder die hidalgische Geschichtsbetrachtung eher regressive Phänomene darstellten. Prozesse der Identitätsdiffusion, soziale Ordnungsängste sowie Bedürfnisse zur sozialen Status- und Privilegienverteidigung bildeten auf Seiten der kreolischen Elitegruppen die wichtigsten Motivationen, die dem zugrunde lagen. Die politisch-soziale Systemkrise stieß insofern keinen oder einen nur geringen Wandel der historischen Sinnbildungsmuster in dem Sinn an, daß die Wirklichkeitskongruenz der überkommenen Geschichtsanschauungen erhöht worden wäre. Im Hinblick auf die sozialen Orientierungsfunktionen der Geschichte propagierten die kreolischen Elitegruppen vielmehr in unterschiedlichen Varianten das Ideal einer vergangenen Gesellschaft. Ähnlich verhielt es sich in Bezug auf die innergesellschaftlichen Kommunikationsfunktionen der Geschichte. Die zentralen Entwicklungsprobleme Argentiniens um die Jahrhundertwende, also die Förderung der gesellschaftlichen Integration, die Herstellung eines Konsenses zwischen den einzelnen sozialen und Nationalitätengruppen sowie die Erweiterung der politischen Partizipationsmöglichkeiten, wurden in der Sphäre der historischen Symbolik nicht gelöst. Vielmehr begünstigten die Geschichtsanschauungen in symbolischer Hinsicht gegenüber breiten Teilen der Zuwanderer Prozesse der Ausgrenzung und Diskriminierung; im günstigsten Fall wurde ein Verhältnis der politisch-sozialen Über- und Unterordnung propagiert. Die Diskussion um die argentinidad stellte einen Interaktionsvorgang dar, an dem verschiedene soziale, ethnische und Nationalitätengruppen partizipierten, und sei es nur in recht indirekter oder vermittelter Form. Am deutlichsten

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illustrierte sich dies in der Kultivierung der Gauchosymbolik, die im Grunde zuerst von abhängigen, mitunter randständigen Bevölkerungsgruppen im Urbanen, subkulturellen Milieu ausging, ehe sie von Kreisen der Elite aufgegriffen und für ihre eigenen Zwecke zu verwenden versucht wurde. Ähnliche Interaktionsprozesse zeigten sich jedoch auch in der Kommunikation historisch-politischer Symbole, wie sie zwischen der kreolischen Gesellschaft und den Führungsgruppen der italienischen und spanischen Zuwanderer stattfand. In diesen Interaktionen und wechselseitigen Selbst- und Fremddefinitionen bildeten sich die zunehmende Komplexität des Gesellschaftsaufbaus bzw. die wachsenden wechselseitigen Abhängigkeiten zwischen den einzelnen sozialen Gruppen vor allem im Urbanen Raum ab, wodurch sowohl die Struktur der politischen Öffentlichkeit wie auch das Zusammenspiel der einzelnen kulturellen Konfigurationen verändert wurden. Der historische Diskurs überschritt damit in sozialer Hinsicht die engen Zirkel der Elitenkreise und der ihnen angeschlossenen akademischen und bildungsbürgerlichen Dienstleistungsgruppen, worin sich in vermittelter Form auch die politischen Mitspracheforderungen breiterer Bevölkerungskreise und die zögerlichen politischen Demokratisierungsbestrebungen niederschlugen. Offen und im eigentlichen Sinn pluralistisch wurde der historische Diskurs deshalb jedoch nicht, weil erstens die politisch-sozialen Eliten die Interpretationsgewalt über die Geschichte weitgehend behielten und die Struktur des historischen Diskurses in sozialer Hinsicht rigide hierarchisiert blieb, und weil zweitens die schärfsten Infragestellungen der klassisch-liberalen Geschichtsanschauungen in diesem Zeitraum aus dem Bereich der Literatur vorgebracht wurden. Die Integrationsleistungen, die der historische Diskurs erbrachte, waren deshalb vermutlich geringer als erhofft, und zwar nicht allein in sozial vertikaler Hinsicht, sondern auch in Bezug auf die Elite selbst. Die politisch-soziale Systemkrise Argentiniens stellt sich im nachhinein auch als eine Übergangsphase dar, in der der Konsens, der bis dahin innerhalb der politisch-sozialen Führungsgruppen des Landes über die eigene Geschichte herrschte, allmählich verlorenging, was offenkundig damit zusammenhing, daß sich auch die Vorstellungen über die weitere Entwicklung Argentiniens im Verlauf dieser Systemkrise auseinander bewegten. Zwar waren die Konflikte, die damit entstanden, noch vergleichweise verdeckt, und noch hatte es den Anschein, als würden die verschiedenen Interessenlagen der einzelnen Elitegruppen und der ihnen angeschlossenen mittelständischen Gruppen sich zur Deckung bringen lassen. Auch auf dem Gebiet des historischen Diskurses schien sich eine solche neue Synthese zu finden, eben das Konzept der vieja patria, in der die neuen Bilder und Symbole zusammenlaufen würden, und entsprechend optimistisch, teils auch selbstgefällig, gestalteten sich die Zentenarfeiern von 1910 in der politischen Öffentlichkeit. Tatsächlich jedoch waren diese neue historischen Bilder, Symbole und Deutungsmuster bereits in einem hochgradigen Maße polyvalent, weil sich in ihnen auch in dem Fall, da sie eine breite Zustimmung erfuhren, ganz unter-

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schiedliche Auslegungen und politsch-soziale Funktionsansprüche an die Geschichte verbergen konnten. Diese Polyvalenz unterschied die neuen historischen Symbole von der hergebrachten Bilderwelt der klassisch-liberalen Geschichtsbetrachtung, deren Geschichtsaussagen zwar nicht unumstritten, aber vergleichsweise eindeutig gewesen waren. Die Synthese der nationalen Geschichte, wie sie im Konzept der vieja patria versucht wurde, stellte insofern eine fiktive und fragile Gemeinsamkeit dar, was das Bild der Nation und ihrer Geschichte und zukünftigen Entwicklung betraf37. Damit führte die politischsoziale Systemkrise Argentiniens um die Jahrhundertwende, ähnlich wie im Bereich der politischen Öffentlichkeit selbst, auch auf dem Gebiet der historischen Symbolik zu einem Verlust an Konsens und Identität. Ein Indiz dafür war, daß der historische Diskurs eine Reihe historischer Symbole und Anschauungen nicht länger zu integrieren vermochte bzw. daß neben die "Geschichte" neuerlich die "Literatur" trat, soweit Aussagen über die nationale Geschichte getroffen wurden.

" Zum Zerfall dieser Synthese und zu den offen politischen Kontroversen um die Geschichte nach 1916 vgl. Quattrocchi-Woisson 1992.

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Vin. Parteipolitische Sichtweisen der Geschichte an zwei ausgewählten Beispielen 1. Die Sozialistische Partei In der politischen Öffentlichkeit Argentiniens bewegte sich die Bewertung der Einwanderungsbewegung zwischen den Modernisierungserwartungen, die daran geknüpft waren, und der Wahrnehmung der sozialen Konfliktpotentiale, die sich in der Form autonomer Prozesse daraus entwickelten. Die Befürchtung, daß die massenhafte europäische Zuwanderung vor allem im städtischen Raum die Ursache sozialer Unordnung darstellen und die Stabilität von Staat, Nation und Gesellschaft zerrütten würde, färbte zunehmend auf das Bild ab, das sich die politischen Führungsgruppen von der Einwanderung machten. Die Zuwanderung wurde dabei nicht allein dazu herangezogen, um Formen des Pauperismus oder der Delinquenz zu erklären, sondern sie erschien den kreolischen Eliten auch als auslösendes Moment bzw. konstitutiver Träger der Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung bzw. der sozialistischen und anarchistischen Strömungen. Daß die Zuwanderer den hauptsächlichen Anteil an der Begründung der argentinischen Arbeiterbewegung besaßen, ist in der Forschung unumstritten (vgl. Falcön 1984). Dies war zunächst darauf zurückzuführen, daß Teile der Einwanderergruppen bereits im europäischen Raum mit den Organisationsformen und Ideologien der Arbeiterbewegung vertraut geworden waren und diese Kenntnisse und Erfahrungen nun in die La Plata-Region transportierten. Hervor taten sich dabei zunächst kleinere Gruppen gewerkschaftlicher oder politischer Aktivisten, die in der sozialistischen oder anarchistischen Bewegung in Europa mitgewirkt hatten und häufig aufgrund politischer Repressionen diese Länder hatten verlassen müssen. Der "Club Vorwärts" z.B., der 1882 in Buenos Aires von deutschen Einwanderen, die vor der Bismarckschen Sozialistengesetzgebung geflohen waren, begründet wurde, spielte eine wichtige Vorläuferrolle bei der Gründung der Sozialistischen Partei, und die italienischen Anarchisten Enrique Malatasta, der 1885 zuerst nach Montevideo und dann nach Buenos Aires emigrierte, wo er die Zeitung "Questione Sociale" herausgab, oder Pedro Gori, der sich zwischen 1898 und 1902 in Argentinien aufhielt, hatten maßgeblichen Anteil an der Organisation der anarchistischen Gruppierungen (vgl. Spalding 1970, 19). Ferner war von Bedeutung, daß die Zuwanderer in quantitativer Hinsicht ein deutliches Übergewicht im Industriesektor besaßen (vgl. Sabato/ Romero 1992). Dies galt im übrigen nicht allein in Bezug auf die Lohnabhängigen, sondern auch hinsichtlich der Eigentümer. Im Jahr 1914 waren 76% der Unternehmen, die im Zensus als Industriebetriebe deklariert wurden und vor allem im Nahrungsmittel- bzw. Textilbereich sowie im Bausektor angesiedelt waren, im Besitz von Ausländern, überwiegend Zuwanderern, worin sich im übrigen auch dokumentierte, daß die sozialen Mobilitätschancen im städtischen Raum für diese Gruppen größer waren als im Landesinnern. Was die Entwicklung der argentinischen Arbeiterbewegung angeht, sind verschiedene Phasen zu unterscheiden. Gemeinhin wird der Beginn des Organi-

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sationswesens auf das Jahr 18S7 datiert, als sich der Verband der bonaerensischen Drucker konstituierte, der im Jahr 1878 auch den ersten Streik in der Geschichte der Region organisierte. Der Verband fungierte anfänglich noch primär als Unterstützungsverein und trug in diesem Sinn zunächst keinen gewerkschaftlichen Charakter. Die zweite Phase in der Entwicklung der organisierten Arbeiterbewegung setzte Ende der achtziger bzw. Anfang der neunziger Jahre des 19. Jahrhunderts ein und reichte ca. bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs, wobei die konkreten Eckdaten, die gesetzt werden, abhängig davon variieren, ob die Zuwanderungsbewegung, die Entwicklung der politischen bzw. gewerkschaftlichen Organisationsformen der Arbeiterschaft oder aber das Streikwesen als maßgebliche Kriterien der Periodisierung herangezogen werden. Korzeniewicz (1989, 90) z.B. sieht den Zeitraum um 1887 als Beginn einer Phase der verstärkten gewerkschaftlichen Organisation der Arbeiterschaft, zunehmender Streikbewegungen und staatlicher Interventionen in Arbeitsfragen an, während Matsuhita (1983, 23) das Jahr 1891 hervorhebt, in dem mit der Gründung der "Federación de Trabajadores de la Región Argentina" erstmals versucht wurde, verschiedene gewerkschaftliche Branchenorganisationen in einem Dachverband zusammenzufassen. Spalding setzt den Beginn dieser zweiten Phase der Arbeiterbewegung auf das Jahr 1890 an, nach dem das gewerkschaftliche und politische Organisationswesen der Arbeiterschaft an Kontur gewann, und datiert ihr Ende auf das Jahr 1912, als die Sozialistische Partei sich aufgrund der Wahlrechtsreform im parlamentarischen Bereich zu etablieren vermochte. Von geringfügigen Abweichungen abgesehen, wird also der Zeitraum zwischen ca. 1890 und 1912 als eine Phase der zunehmenden Organisation der Arbeiterbewegung, der sich intensivierenden sozialen Konflikte sowie der steigenden staatlichen Intervention im Arbeitsbereich betrachtet, was sich im übrigen mit der zeitlichen Eingrenzung der politisch-sozialen Systemkrise der Gesellschaft deckt, wie sie oben vorgenommen wurde. In der Entwicklung der argentinischen Arbeiterbewegung werden zumindest drei politisch-ideologische Richtungen unterschieden. Die in historischer Hinsicht älteste Gruppierung bildete die anarchistische Strömung, die, über italienische und spanische Zuwanderer vermittelt, bereits in den siebziger Jahren im La Plata-Raum erstmals in Erscheinung trat. Die Anarchisten stellten, wenngleich neuerdings vor einer Überschätzung ihres Einflusses gewarnt wird (Thompson 1984, 82), mittelfristig zugleich die stärkste Gruppierung innerhalb der Arbeiterbewegung dar, spätestens nachdem es ihnen gelungen war, weitgehend die Kontrolle über den wichtigsten gewerkschaftlichen Dachverband, die 1901 gegründete "Federación Obrera Argentina" (seit 1904: "Federación Obrera Regional Argentina"), zu gewinnen. Das starke Gewicht der Anarchisten in der argentinischen Arbeiterbewegung hing zunächst mit der Bedeutung der anarchistischen Bewegung in den Herkunftsländern der italienischen und vor allem spanischen Arbeiter zusammen. Hinzu kam die Struktur des frühen Industriesektors in Argentinien, der vielfach noch handwerklicher Art war. Das Gewicht der Kleinbetriebe und die damit verbundene Individualisierung der Arbeiter

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begünstigten die Rezeption anarchistischer Überzeugungen, die die Rolle des Individuums im gesellschaftlichen Bereich betonten. Schließlich mochte die politische Ausgrenzung der Zuwanderer und ihr Ausschluß vom Wahlrecht eine Rolle spielen, die den Einfluß der prinzipiell staatsfeindlichen Ideologie der Anarchisten auf die Arbeiterschaft beforderten. Politisch verwandt mit der anarchistischen Bewegung war die syndikalistische Strömung, die sich auf die Gewerkschaften als maßgebliche Organisationsform der politisch-sozialen Interessenauseinandersetzungen wie auch als Modell der angestrebten, zukünftigen Verfassung der Gesellschaft stützte. Wie die Anarchisten profitierten auch die Syndikalisten, die 1903 aus einer Gruppe dissidenter Sozialisten hervorgingen, von der Zunahme der spanischen Zuwanderung nach etwa 1900 (vgl. Germani 1969). Im Jahr 1905 übernahmen die Syndikalisten die Kontrolle über den gewerkschaftlichen Dachverband U.G.T., aus dem 1909 der "Congreso Obrero Regional Argentino" hervorging. Die beiden wichtigsten gewerkschaftlichen Organisationen, F.O.R.A. bzw. C.O.R.A., standen damit nach 1909/10 unter der Kontrolle der Anarchisten bzw. Syndikalisten, während die Sozialisten ihren Einfluß auf die Gewerkschaftsbewegung vorübergehend nahezu vollständig verloren. Welche Stärke die Gewerkschaftsbewegung erreichte, ist unklar. Für das Jahr 1907 gab die sozialistische Zeitung "La Vanguardia" einen Organisationsgrad der bonaerensischen Arbeiterschaft von ca. 30% an; diese Zahl ist jedoch wohl überhöht (vgl. Spalding 1970, 92f). Während in der anarchistischen bzw. der syndikalistischen Bewegung italienische und spanische Zuwanderer dominierten, stand die sozialistische Bewegung anfänglich mehr unter dem Einfluß deutscher Emigranten. Dies galt für den "Club Vorwärts" wie auch die Zeitung "El Obrero", die zwischen 1890 und 1892 erschien, eines der wichtigsten, frühen Propaganda- und Organisationsmittel der Arbeiterbewegung darstellte und unter der Leitung des deutschstämmigen Bergbauingenieurs und Geologen Germán Ave Lallemant stand. Lallemant unterhielt enge Beziehungen zum deutschen Sozialismus und dessen revisionistischen Flügel. Im Unterschied zu den Anarchisten und Syndikalisten betonten die Sozialisten die Bedeutung des politischen Parteienwesens und des parlamentarischen Reformismus. 189S wurde auf die Initiative Juan B. Justos, der von Beruf Arzt war, die Sozialistische Partei (zuerst: Sozialistische Arbeiterpartei Argentiniens) gegründet, als deren Organ "La Vanguardia" fungierte, die 1894 erstmals erschien und anfänglich gleichfalls unter der Leitung Justos stand. Die Sozialistische Partei stellte die erste moderne Partei in der Geschichte Argentiniens dar. Sie war nicht als loser Unterstützungsverein einer caudillistischen Führerfigur konzipiert, sondern vielmehr über ein politisches Programm, parteiinterne Wahl verfahren und kollektive Führungsgremien organisiert. Der reformerisch-legalistische Kurs der Sozialisten führte 1904 zu einem ersten Erfolg, als ihr Kandidat Alfredo L. Palacios in einem Wahlbezirk von Buenos Aires zum Abgeordneten im Nationalkongreß gewählt wurde. Nach der Wahlrechtsreform von 1912 stiegen die Sozialisten vorübergehend zur stärksten politischen Kraft in Buenos Aires auf, 1913 zogen

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sie mit Enrique del Valle Iberlucea zudem in den Senat ein. Ihr politischer Einfluß beschränkte sich jedoch fast ausschließlich auf die Hauptstadt, und zudem verloren sie nach 1905 nahezu jeglichen Einfluß auf die Gewerkschaftsbewegung. Verantwortlich dafür war in erster Linie der eher mittelständische Charakter der Partei, der sich, im Zuge ihrer Entwicklung und durch die ersten parlamentarischen Erfolge bestärkt, zunehmend zur Geltung brachte. Bei den Führungsfiguren der Sozialisten handelte es sich um Politiker berufsbürgerlicher Herkunft, die dem Urbanen Mittelstand angehörten und in sozialer Hinsicht aufstiegsorientiert waren. Nicolás Repetto, 1874 in Buenos Aires geboren, und Enrique Dickmann, der aus Rußland nach Argentinien einwanderte, waren, wie Justo, Arzte. Hinzu kamen vor allem jüngere Juristen, wie Alfredo L.Palacios, Enrique del Valle Iberlucea, der in Spanien geboren war und im Alter von vier Jahren 1882 nach Argentinien kam, Mario Bravo, der 1882 in Tucumán geboren war, und Antonio de Tomaso, 1889 als ein Sohn italienischer Zuwanderer in Buenos Aires geboren (vgl. Walter 1977, 34ff). Als Reservoir der Führungsgremien der Partei fungierte vor allem das "Centro Universitario Socialista", was zur Entfremdung der Partei von der militanten gewerkschaftlichen Arbeiterbewegung beitrug. Einer der wichtigsten Unterschiede zwischen der politischen Arbeiterbewegung, wie sie die Anarchisten, Syndikalisten und Sozialisten repräsentierten, und dem nach dem Nationalitätenprinzip strukturierten Hilfs- und UnterstGtzungsvereinswesen der Zuwanderer bestand darin, daß die organisierte Arbeiterbewegung nicht die europäischen Herkunftsländer der Einwanderer, sondern Argentinien als den Bezugspunkt ihres Handelns und ihres politischen Selbstverständnisses betrachtete. Diese Hinwendung zu Argentinien, die Teilhabe an den politischen Geschicken des Landes und die damit verbundenen Identifikationen mit der dortigen Gesellschaft setzten zugleich auch die Ausbildung einer Geschichtsanschauung voraus, die die historisch-politische Identität der jeweiligen Arbeiterorganisation bzw. ihrer Mitgliedschaft auf die Entwicklung der argentinischen Nation zu beziehen vermochte. Diese Identifikationen mit der argentinischen Gesellschaft beinhalteten jedoch zugleich zumindest zwei verschiedene Funktionserwartungen, nämlich einmal eine Demonstrationsfunktion gegenüber den politischen Eliten, die die Arbeiterbewegung als etwas der kreolischen Gesellschaft im Grunde Fremdes auszugrenzen und als anti-patriotische Kraft zu stigmatisieren versuchten, ein anderes Mal eine Kohäsionsfunktion nach innen, setzte sich die Mitgliedschaft der sozialistischen oder Arbeiterorganisationen doch aus recht unterschiedlichen Nationalitäten- bzw. ethnischen Untergruppen zusammen, die es zusammenzuschließen galt. Aus diesen unterschiedlichen Funktionsansprüchen, die den Identifikationsleistungen mit der argentinischen Nation zugrunde lagen, entstand ein ambivalentes historisches Selbstkonzept, das zu Kontroversen führen sollte. Beispielhaft dokumentierte sich dies in der Entwicklung der Sozialistischen Partei: Einerseits reklamierten die Sozialisten für sich "internationalistische" Traditionen der Arbeiterbewegung, wie sie auch in der Sozialistischen Inter-

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nationale kursierten; andererseits waren sie zunehmend bemGht, auch sogenannte fortschrittliche Traditionen der argentinischen Geschichte für sich zu beanspruchen1. Diese Identifikationen mit der kreolischen Geschichte und Nation bildeten sich erst allmählich in der Arbeiterbewegung und, was ihre einzelnen politischen Strömungen betraf, in zeitversetzter Form aus. In ihrer FrGhphase überwog noch eine ausgesprochen "internationalistische" Betrachtungsweise. In der sozialistischen Zeitung "El Obrero" fungierten zunächst die sozialistische Internationale bzw. generell die "proletarische Klasse" als Identifikationsobjekte des eigenen Denkens2, und jegliche Identifizierung mit der kreolischen Geschichte oder der argentinischen Nation wurde zurückgewiesen, so etwa in "El Obrero" vom 14. März 1891 ("El proletariado no tiene patria, no tiene nacionalidad"). Auch "La Vanguardia" lehnte noch am 2. November 1895 alle "lokalen" Faktoren als Bezugspunkte der eigenen politischen Identität ab und verwies stattdessen auf die "universale" sozialistische Bewegung, der allein man sich zugehörig fühlen würde. Juan B. Justo (1902, 31), der Parteivorsitzende der Sozialisten, erklärte auf einer Versammlung im Jahr 1902 im gleichen Sinn: "Contra el orgullo y el gusto por la prepotencia nacional, verdadero provincialismo, [...] el Socialismo deduce la solidaridad obrera cosmopolita [...]" Eine allmähliche, gemäßigt-nationalistische (vgl. Baily 1984, 14f) Wendung der Sozialistischen Partei setzte nach der Jahrhundertwende ein. Eine Schlüsselrolle spielte darin der Zweite ParteikongreB von 1898, der die Partei auf einen legalistisch-reformerischen Kurs festlegte. Spalding (1970, 56) weist, was die Gründe für diese Entwicklungen betrifft, auf die sozio-kulturellen Assimilierungsbestrebungen der Einwanderer sowie auf die sich verändernde Zusammensetzung der Arbeiterschaft hin, in die gegen Ende des Jahrhunderts in steigendem Maße auch kreolische Migranten aus dem Landesinnern Eingang fanden. Daneben dürften jedoch auch legitimatorische Gründe von Bedeutung gewesen sein. Erstens war es wohl kein Zufall, daß die argentinizaciön der sozialistischen Gesellschafts- und Geschichtsauffassung in zeitlicher Hinsicht mit den verstärkten Bemühungen des Staates zur sozialen Kontrolle und Disziplinierung der Arbeiterbewegung zusammenfiel. Die Repressionspolitik des Staates, die sich nach 1900 u.a. in der wiederholten Verkündigung des Ausnahmezustands oder dem ley de residencia, das Aktivisten der Arbeiterbewegung mit der Ausweisung bedrohte, kundtat, ließ es für die Sozialisten angeraten erscheinen, den "nationalen" oder

1 Vgl. etwa zu den Identifikationen mit der Mairevolution von 1810 "La Vanguardia" v. 25.5.1909. Ähnlich argumentierten auch die Anarchisten. Alberto Chiraldo (1912, 44f), der nach 1904 die anarchistische Zeitung "La Protesta" leitete, konzedierte, daß die "hombres de Mayo" eine "misión libertadora" erfüllt hätten, um daran die rhetorische Frage anzuschließen, "[...] quienes son los verdaderos continuadores de la obra iniciada por esos antepasados cuyas figuras se glorifica" (nämlich die anarchistische "falange juvenil"). 2 Vgl. "Nuestro programa", in: "El Obrero" v. 12.12.1890.

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patriotischen Charakter der eigenen Bewegung zu unterstreichen. Der zweite Grund zur argentinizaciön der sozialistischen Anschauungen fand sich in dem mittelständisch-berufsbürgerlichen Charakter der parteipolitischen Führungsgremien bzw. in der Funktion der Partei, die sozialen Aufstiegsbestrebungen von Zuwanderergruppen in politischer Hinsicht zu vertreten. Der legalistische und reformerische Kurs der Sozialistischen Partei setzte auf die Akzeptanz der eigenen Bewegung durch die eingesessenen Elitegruppen des Landes und dokumentierte zugleich die eigene Bereitschaft zur Assimilierung, mit der man sowohl soziale wie auch politische Erwartungen und Aufstiegshoffhungen verknüpfte. Die politisch-soziale Akzeptanz der sozialistischen Bestrebungen, die man anstrebte, setzte jedoch Identifikationsbeweise mit der kreolischen Gesellschaft voraus, wollte man politisch glaubwürdig sein. Die damit verbundenen Legitimationszwänge brachten die Sozialisten gerade auf dem Sektor der historisch-politischen Symbolik in eine auffällig defensive Position gegenüber den kreolischen Eliten, die sich bei den anderen Strömungen der Arbeiterbewegung, wie den Anarchisten, zumindest nicht in diesem Ausmaß fand, was auch daran lag, daß sich deren Anpassungsprozesse an die Gesellschaft langsamer und unter größeren politisch-ideologischen Vorbehalten vollzogen. Diese Anpassungsleistungen an die kreolische Gesellschaft fanden sich insbesondere unter den sozialistischen Kongreßabgeordneten und Senatoren, Personen also, die in sozialer wie auch politischer Hinsicht bereits vergleichsweise privilegiert waren. So erklärte Alfredo L. Palacios 1912 in einer Rede im Kongreß (o.J., 13ff), daß er vor allem "Argentinier" sei und daß die Sozialisten den "ernsthaften Fortschritt" der argentinischen Demokratie wie auch der argentinischen "Nationalität" anstreben würden. Eindringlich dokumentierte sich das damit verbundene Wechselspiel von Stigmatisierungserfahrungen und Assimilierungsbestrebungen, Identifikationsbekundungen und Rechtfertigungszwängen, mit denen sich die Sozialisten und insbesondere die Zuwanderer unter ihnen konfrontiert sahen, in der ersten Rede, die Enrique del Valle Iberlucea 1913 im Senat hielt (o.J., 7ff), und die vollständig von dem Bemühen überformt war, die Zugehörigkeit der eigenen Person und Partei zu diesem traditionell aus kreolischen Honoratioren zusammengesetzten Gremium zu legitimieren. Del Valle leitete seine Rede mit einer uneingeschränkten Identifikation mit der kreolischen Geschichte und Gesellschaft ein. Daran schloß sich eine Begründung dafür an, warum er das "Recht" besitze, in Bezug auf Argentinien den Begriff der patria zu benutzen, was del Valle zu einer detaillierten Aufzählung all der Stationen aus dem eigenen Lebensweg veranlaßte, die sein Argentiniersein beweisen würden. Das Hauptanliegen von del Valle bestand dann darin, die Sozialisten als eine staatstragende Kraft auszuweisen. Den Beitrag der Sozialisten zur Entwicklung von Staat und Nation sah er dabei vor allem in der Volkserziehung, die die eigentlich revolutionäre Tat darstellen würde, sowie in dem Einsatz der Sozialisten für die Integration der Einwanderer. Beides würde erst einen "gesunden Nationalismus" begründen, "[...] para que nuestra

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República pueda ser en el concierto de las naciones libres la grande y gloriosa nación de que habla la canción de la patria." In der Entwicklung der Sozialistischen Partei dokumentierte die Rede del Valles einen besonders krassen Fall legitimatorischer Anpassungsleistungen an die kreolische Elite. Unumstritten waren diese Anschauungen innerhalb der Partei jedoch nicht, und die Kontroversen entzündeten sich konkret an dem Begriff der patria bzw. der Nation, seiner Rolle in der sozialistischen Programmatik sowie an dem Verhältnis von Nationalismus und Internationalismus, wobei diese Diskussion nicht zufällig im Umfeld der Zentenarfeiern von 1910 und der dadurch ausgelösten Welle patriotischer Bekundungen in der politischen Öffentlichkeit des Landes offen ausbrach3. Eingeleitet wurde diese Diskussion bereits durch einen Artikel, der am 20. Mai 1909 unter der Überschrift "La Patria" in "La Vanguardia" erschien. Der oder die Redakteure argumentierten darin noch ganz im klassischen Sinn des internationalistischen Denkens, wie es die Frühphase des sozialistischen Organisationswesens mit seiner schärfer revolutionären Rhetorik gekennzeichnet hatte, und wiesen die "bürgerliche", nationalistische Verwendung des Begriffs der patria zurück. Drei Tage später fand in den Räumen der italienischen "Unione e Benevolencia" eine Veranstaltung der Sozialisten statt, in der die Führungsspitzen der Partei anläßlich der sich ankündigenden Zentenarfeiern neuerlich auf die Thematik eingingen und kontroverse Ansichten vorbrachten. Nicolás Repetto lehnte nicht allein die offizielle Betrachtungsweise der Mairevolution ab, die ihre "Helden" entworfen und zu wahren "Übermenschen" stilisiert habe, sondern relativierte darüber hinaus die Bedeutung der Ereignisse von 1810 selbst. Einen sozialen Charakter habe die Revolution nicht gehabt, vielmehr hätte die "revolutionäre Bourgeoisie" eine tiefe "Abneigung" gegenüber dem Volk empfunden, und dies gelte auch für die sogenannten jakobinischen Kräfte um Moreno. Er sei, so fuhr Repetto fort, "befriedigt" darüber, daß er Argentinier sei, aber dies beruhe nicht auf den historischen Traditionen des Landes, sondern auf den Fortschritten, die im Verlauf des 19. Jahrhunderts erreicht worden seien. Diese Fortschritte seien jedoch kein Verdienst der Kreolen, sondern ein Resultat der Anstrengungen, die die "Ausländer" zur Entwicklung der Wirtschaft und Gesellschaft unternommen hätten4. Alfredo L. Palacios konzedierte in seiner Rede, daß die Revolution von 1810 keine "wirkliche Volksbewegung" dargestellt habe. Aber auf dem Hintergrund der anti-sozialistischen Propaganda sei es notwendig, daß die Sozialisten den ihnen anhaftenden Geruch der Vaterlandslosigkeit und einer "antipatriotischen" Gesinnung ablegen würden, um sich in die Traditionen der Mairevo-

3

Dazu, daß die ganze Diskussion über die patria den Sozialisten auch durch die "Regierung" und deren Bemühungen zu einer Verstärkung der patriotischen Liturgie im Vorfeld der Zentenarfeiern aufgezwungen worden sei, vgl. den Beitrag "De la patria y del patriotismo", in: "La Vanguardia" v. 28.5.1909. 4 "La Vanguardia" v. 25.5.1909.

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lution und das damit verbundene Konzept der patria zu stellen. Ähnlich argumentierte auch de Tomaso5. In der Partei lösten diese Beiträge und insbesondere der von Palacios eine rege Diskussion aus, die sich in einer Vielzahl von Leserbriefen dokumentierte, die, entgegen den Gepflogenheiten der Redaktion, im Mai und Juni 1909 in "La Vanguardia" abgedruckt wurden. Die Standpunkte, die darin vertreten wurden, reichten von einer strikten Ablehnung des "Patriotismus" bis hin zu einer Identifikation mit der kreolischen patria6. Die Redaktion von "La Vanguardia" schloß diese Debatte am 5. Juni 1909 ab und wandte sich in einer Erklärung gegen die Auffassung von Palacios, die die Sozialistische Partei auf eine politisch-historische Symbolik verpflichten würde, die den Interessen der Arbeiterschaft fremd sei. Auch Adolfo Dickmann (1933, 15) wandte sich später gegen die "Scharlatanerien" der sich um 1910 en vogue befindlichen patriotischen Liturgie, wie sie staatlicherseits verkündet wurde ("...formas verbales y charlatanescas del patrioterismo oficial"). Obwohl die Debatte damit zu einem scheinbaren Abschluß gekommen war, schwelten die Konflikte innerhalb der Partei fort. Hinter der Frage nach dem Verhältnis zur Mairevolution von 1810 und der kreolischen Geschichte der Region verbargen sich unterschiedliche Vorstellungen über das Selbstverständnis, die politische Strategie und die EntwicklungsVorstellungen der Partei. Während die sogenannten banderistas die Identifikation mit der kreolischen patria als einen notwendigen Bestandteil ihrer legalistisch-reformerischen Politik verstanden, der die Partei in politischer und sozialer Hinsicht erst akzeptanzfähig machen würde, verfolgten die "Internationalisten" eine kompromißlosere Haltung, die den zukünftigen Erfolg der Bewegung allein auf den zunehmenden politischen Einfluß der Arbeiterschaft, ihrer Organisationen und Kampfformen zu begründen suchte. In der Folgezeit setzte sich der patriotisch-reformerische Flügel um die banderistas zunehmend durch, was auch mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs und der Bereitschaft der sozialistischen Parteien in Europa zusammenhing, die Politik ihrer Regierungen zu unterstützen. In Argentinien wurde die Frage nach dem Verhältnis von "Patriotismus" und "Internationalismus" dadurch in neuer Schärfe aufgeworfen. Berührt war davon auch der innere Zusammenhalt der Sozialistischen Partei wie der Arbeiterorganisationen allgemein, da teils überkommene Verbundenheiten von Zuwanderern mit ihren Herkunftsländern, teils unterschiedliche politische Sympathien mit den kriegführenden Parteien darin zu Divergenzen und

1

"La Vanguardia" v. 27.5.1909. "[...] no destruimos el concepto'patria'" ("La Vanguardia" v. 27.5.1909);"[...] nuestra labor tiende a organizar definitivamente la nacionalidad argentina" ("La Vanguardia" v. 30.5.1909); "[...] la independencia 'argentina' señala exclusivamente la emancipación de la burguesía criolla" ("La Vanguardia" v. 30.5.1909); "En la propaganda socialista, los símbolos patrióticos no nos son necesarios [...]" ("La Vanguardia" v. 2.6.1909); "La bandera argentina no es otra cosa que el símbolo político del gobierno [...]" ("La Vanguardia" v. 5.6.1909). 6

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Spannungen führten. Die Identifikationen mit Argentinien erschienen den Führungsgremien der Sozialisten auch vor diesem Hintergrund als ein brauchbares Mittel, um interne Antagonismen zu fiberspielen. Zu ergänzen ist, daß aufgrund dieser Entwicklungen eine Gruppe von Dissidenten 1914 aus der Partei austrat, die später bei der Gründung der Kommunistischen Partei Argentiniens im Jahr 1919 mitwirkten. Das Geschichtsverständnis der Sozialisten war anfänglich um historische Kategorien und Betrachtungsweisen gruppiert, die gänzlich den Theoriediskussionen der Internationale entstammten. Dieses Geschichtsverständnis war von Beginn an, was mit dem Einfluß der deutschen Bernheimianer zusammenhing, als ein Evolutionskonzept verfaßt. In einem programmatischen Artikel von "El Obrero" etwa, der am 12. Dezember 1890 erschien, tauchte wiederholt der Begriff der sozialen Evolution auf, während der Revolutionsbegriff gänzlich fehlte. Dieses evolutionäre Geschichtskonzept rückte die Parteiideologie von vornherein in die Nähe der positivistischen Gesellschaftslehre (vgl. Puiggros 1967, 63f), die im zeitgenössischen Kontext breit rezipiert wurde. Ein wichtiger Repräsentant dieses positivistischen Gedankenguts war auch Juan B. Justo selbst, der Begründer der Sozialistischen Partei. In seinem theoretischen Hauptwerk über "Theorie und Praxis der Geschichte" befaßte sich Justo (1938) ausführlich mit den "biologischen Grundlagen" historischer Entwicklungen, wobei er sich nicht zuletzt auf Spencer und Darwin bezog. Hervorgebracht wurden dadurch ein organisches Evolutionsverständnis, das dem legalistisch-reformerischen Kurs der Parteiführung entsprach, der Glauben an die Gesetzmäßigkeit "soziologischer" Abläufe7, eine linear-progressistische Gesellschaftsauffassung, aber auch die Verwendung einer medizinischen Begrifflichkeit oder Metaphorik zur Beschreibung historisch-politischer Phänomene, so im Bild der sozialen Strukturen als eines "Blutkreislaufs" (Justo 1938, 23). Auch der Rassenbegriff spielte in diesem Zusammenhang eine Rolle und fand, obwohl er nicht zum Zweck des Beweises einer angeblichen Höher- oder aber Minderwertigkeit ethnischer Gruppen gebraucht wurde, eine mitunter problematische Anwendung. So reagierte "La Vanguardia" auf die bereits erwähnte, 1918 vom "Museo Social Argentino" durchgeführte Befragung über die Zukunft der Einwanderungspolitik in Argentinien (La inmigración 1919, 175) mit der Argumentation, daß diese dazu beitragen müsse, daß sich im Land "[...] una raza de hombres sanos de cuerpo y mente" niederlassen würde. Was die Interpretation der argentinischen Geschichte anging, versuchten die Sozialisten zunächst, Parallelen zu den Phasierungen der europäischen Geschichte herzustellen, wie sie im dortigen Sozialismus kursierten. Die spanische Kolonialzeit galt, wie es in "El Obrero" vom 12. Dezember 1890 hieß, als rückständige, "feudale" Epoche, die sich im Caudillismus bis in die

7

"[...] las mismas leyes que presiden todos los fenómenos sociológicos"; "La Vanguardia" v. 1.5.1908.

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zeitgenössische argentinische Gesellschaft hinein verlängert habe, und die Mairevolution von 1810 habe den ersten Versuch zu einer bürgerlichen Verfassung der Gesellschaft dargestellt. Dieses grobe Interpretationsraster der kreolischen Geschichte fand sich auch in "La Vanguardia" wieder, die ähnlich scharf gegen die vor-modernen Traditionen Argentiniens polemisierte. Argentinien wGrde sich, so hieß es in der ersten Ausgabe der Zeitung, in einem Prozeß grundlegender sozialer Wandlungen und Modernisierungen befinden, die in erster Linie auf die ökonomische Expansion und die europäische Zuwanderung zurückzuführen seien. Das "alte kreolische Element, [...] rückschrittlich und barbarisch", sei jedoch unfähig, diesem Prozeß eine Richtung zu weisen, die zu einer "höherwertigen sozialen Ordnung" führen würde 8 . Die kreolische Geschichte des 19. Jahrhunderts sei, so "La Vanguardia" am 11. Februar 1905, primär eine Geschichte der Gewalt, der "Willkür von Lanze und Säbel", und die caudillistischen Herrscher, gleich ob Rosas, Güemes oder andere, hätten ihre eigenen, kleinen "Feudalreiche" zu errichten gesucht: Nada más doloroso y cruento que la sucesiva reproducción de matanzas humanas que llena de tanto atractivo fúnebre la corta pero sangrienta historia de esta joven nacionalidad, desde losalbores de su emancipación política hasta nuestros mismos días. Es la lucha más pertinaz y terrible que han librado los elementos bárbaros de un pueblo, demoliendo su riqueza nacional y su bienestar, en aras del más repugnante caudillismo, sometiendo al arbitro de la la lanza y el sable, de la horda en un principio, y de la fuerza militar asalariada más tarde [...] Las provincias argentinas, malgrado sus fértiles colonias agrícolas y ganaderas [...], son siempre la presa de un pequeño grupo de audaces que rigen sus destinos, sólidamente defendidos por los elementos que restan del bárbaro gauchaje primitivo, inconsciente sostén y víctima de los desmanes del caudillo. Desde Güemes hasta cualquiera de los gobernantes provinciales del día, pasando por la larga serie de los bárbaros [...], tales como Quiroga, Aldao, Rosas y Urquiza, nuestro ambiente político no ha sufrido grandes modificaciones. Las provincias son siempre pequeños feudos. Das sozialistische Geschichtsbild war von einer strikt anti-spanischen Haltung geprägt, weil man in den spanischen Traditionen der Gesellschaft ihre Rückständigkeit angelegt sah ("La herencia española ha impreso...el fanatismo" 9 ). Spanien erschien als Quelle religiöser Intoleranz und politischer Repression10. Dann richtete sich das sozialistische GeschichtsVerständnis, zumindest was den

* "La Vanguardia" v. 7.4.1894 bzw. v. 9.5.1897. 9 "La Vanguardia" v. 8.7.1906. 10 Vgl. "La Vanguardia" v. 12.8.1906.

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Zeitraum bis 1909 betraf, gegen die patriotische Liturgie der kreolischen Eliten. So mokierte sich "La Vanguardia" am 8. November 1902 auf dem Hintergrund der Diskussion um die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht über eine Rede des Generals Capdevila im Parlament, der den "Veteranenkult" betrieben hätte und der an die Existenz einer "speziellen Klasse von Argentiniern" glauben würde, die die Vorsehung dazu berufen habe, "glorreiche Seiten unserer Geschichte" zu schreiben. Explizit kritisiert wurde auch der Geschichtsunterricht, der die Heldenverehrung betreiben, die Schlachtengemälde in den Vordergrund nicken und damit nur ein verzerrtes Bild der patria und ihrer Geschichte zeichnen würde, so in "La Vanguardia" vom 26. September 1906: Para inculcar estás máximas se recurre á la historia, pero á la historia exclusivamente militar; y el niño aprende, repitiendo nombres guerreros, que solo la espada ha realizada epopeyas y que á sus esfuerzos se debe la grandeza del país. De ahi que al falso concepto de la 'patria' - tal como se explica en la escuela - vaya unida también la tendencia del militarismo [...], en que se glorifique á algún 'héroe' ó se conmemore una batalla. Auffällig ist, daß der Begriff der Barbarei bzw. ihm verwandte Termini in der sozialistischen Presse vielfach Anwendung fanden, um die kreolische Gesellschaft zu charakterisieren. Diese Begrifflichkeit war dem kreolischen Geschichtsbild und konkret der Arbeit Sarmientos über Facundo Quiroga entlehnt. In dem Rückgriff auf Sarmiento dokumentierten sich das modernisierungsorientierte Selbstverständnis der Sozialisten ("Actuamos con un criterio modernísimo..."11) wie auch eine progressistische Gesellschaftsauffassung, die, indem sie die Verdienste um den Fortschritt der Gesellschaft allein der europäischen Einwanderung zusprach, Berührungspunkte zu den traditionalen EntwicklungsVorstellungen des kreolischen Liberalismus, zumindest in den Varianten Alberdis und Sarmientos, aufwies. Dies galt auch für den Erziehungsgedanken, der in der sozialistischen Ideologie eine zentrale Rolle spielte und der sowohl im Hinblick auf den notwendigen Ausbau der Allgemeinbildung wie auch hinsichtlich der politischen Erziehung und der Hebung des Standards der politischen Kultur interpretiert wurde, die von den Caudillos völlig untergraben worden wäre ("...grupos de caudillos venales y corrompidos, á los que la falta de toda educación política en el pueblo"12). Insoweit bestanden eine Reihe von Berührungspunkten zu den klassischen Modernisierungsvorstellungen des argentinischen Liberalismus wie auch zu den darin gängigen, anti-spanischen und anti-caudillistischen Ressentiments. Dies erklärt, warum "La Vanguardia" in ihrem Feuilleton am 20. Juli 1908 mit dem Abdruck des "Facundo" von Sarmiento begann.

" Mario Bravo in "La Vanguardia" v. 10.9.1908. 12 "La Vanguardia" v. 18./19.1.1909.

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Das sozialistische Geschichtsbild verfügte damit über Komponenten einer progressistischen, positivistisch geprägten Gesellschaftsauffassung, die im Zusammenspiel mit der europäischen Herkunft weiter Teile der Parteimitgliedschaft bewirkten, daß man den im Umfeld der Zentenarfeiern von 1910 sich intensivierenden Bemühungen der kreolischen Eliten, das Konzept der argentinidad im Rückgriff auf die mehr oder minder autochthonen Traditionen der Region aufzufüllen, distanziert gegenüberstand. So mokierte sich Carlos Caminos am 28. Mai 1909 in "La Vanguardia" über die Politik der Regierung, alles aus dem historischen Selbstverständnis der Nation zu streichen, was nicht "nativer Prägung" sei, und Nicolás Repetto wandte sich in diesem Zusammenhang am 25. Mai 1909 in "La Vanguardia" auch konkret gegen die Mystifizierung der Gauchofigur, die im subkulturellen Milieu der Hauptstadt zu beobachten war und dann von den Eliten aufgegriffen wurde: No es con exceso de símbolos y cánticos patrióticos con los que se mistifica á nuestros niños en las escuelas, que se va a dar la noción de indiscutible importancia que tienen los hechos y los hombres de la Revolución. No es con lágrimas por la desaparición de la guitarra y su substitución por el acordeón que van á hacer patria los 'nacionalistas' que pretendan detener la invasión de los extranjeros en todas las manifestaciones de la actividad humana. Del esfuerzo mancomunado de los trabajadores conscientes argentinos y extranjeros ha de surgir para nuestro país el progreso político tan necesario que condiga con su actual desarrollo político. In diesem progressistischen Gesellschafts Verständnis der Sozialisten, das dem liberalen Denken um die Mitte des 19. Jahrhunderts nicht fernstand, und in der damit verbundenen ablehnenden Haltung gegenüber den autochthonen oder nativen Elementen der spanisch-kreolischen Geschichte lag der wichtigste Unterschied, der zwischen der sozialistischen Geschichtsbetrachtung und der der Anarchisten bestand. Die Sozialisten, in ihrer Argumentation dem Zivilisierungskonzept von Sarmiento verwandt, lehnten die vorgeblich genuin kreolischen Traditionen der Region und insbesondere die Figuren des Caudillo und des Gaucho als mögliche historische Identifikationsobjekte ab. Der Gaucho galt als Teil der vor-modernen, caudillistischen Sozial- und Herrschaftsorganisation und als Relikt einer blutigen, gewalttätigen und barbarischen Geschichte. In dem Artikel "La gauchocrasia", der am 6./7. Januar 1908 in "La Vanguardia" erschien, wurde diese Anschauung erstmals zusammenfassend dargelegt und insbesondere das Zusammenspiel zwischen der Willkür- und Gewaltpraxis der Obrigkeit und der Unterstützung durch die Gauchos kritisiert, die den "Reibungen" der Zivilisation mit "verblüffender Hartnäckigkeit" widerstanden hätten. Sowohl der Begriff des Caudillo wie auch der des Gaucho fanden in "La Vanguardia" häufig Anwendung, um Ubergriffe der Polizei in der Gegenwart

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zu verurteilen ("los abusos que cometen las policías gauchas..."13). Ähnlich negativ gestaltete sich aber auch das Bild der indianischen Kulturen und Völker. Zwar wurde konzediert, daß die Indianer von der spanischen Kolonialherrschaft unterdrückt und "ausgebeutet" worden seien14, doch erschien die indianische Bevölkerung darin nur als das Opfer einer zu verurteilenden Politik, nicht aber in irgendeiner Hinsicht als traditionsverbürgendes Element. 2. Die Burgerlich-Radikale Bewegung Neben der expandierenden Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung war es die Bürgerlich-Radikale Partei (UCR), deren Politik nach 1890 die größte Beunruhigung innerhalb der an der Macht befindlichen Elitegruppen auslöste. "La Unión Cívica", so Eduardo Wilde in einem Brief an Roca vom November 1890 (Publicaciones 1967, VII 41), "ha nacido como la revolución en Francia y si ustedes [dies bezog sich auf Roca und Carlos Pellegrini, der nach den Rücktritt Juárez Celmans 1890 das Amt des Staatspräsidenten antrat] se descuidan van a tener hasta la guillotina puesta en acción por los Robespierre, Marat, Desmoulins y comparsa." Zwar war dieser Vergleich zwischen den Oppositionellen von 1890 und den Radikalen der Französischen Revolution überzogen und fehl am Platz; er ist jedoch insofern aufschlußreich, als er die Furcht der traditionellen Eliten dokumentierte, daß sich in der Revolution von 1890 ein drohender Kollaps der politischen Ordnung anzukündigen schien. Die sogenannte Revolution von 1890 stellte ein kurzzeitiges Bündnis heterogener sozialer Kräfte und politischer Interessengruppen dar. Dazu zählten zunächst Teile der historisch älteren Eliten selbst, die sich durch die Verteilung der staatlichen Gelder und die Ämterpatronage zugunsten der Provinzen im litoral und insbesondere Córdobas, die Juárez Celman betrieb, benachteiligt fühlten. Die inflationäre Entwicklung in den späten achtziger Jahren wie auch die Wirtschaftskrise von 1890 ließen diese Politik aufgrund der Verknappung der zur Verfügung stehenden Ressourcen und wegen der damit einsetzenden Verteilungskämpfe Teilen der Elite, vor allem in Buenos Aires, untragbar werden. Hinzu kamen Gruppen der neureichen Elite, die von dem Wirtschaftsboom der achtziger Jahre profitiert hatten und die sich von den traditionellen Eliten diskriminiert fühlten und ihren Wohlstand in sozialer wie politischer Hinsicht nicht hinreichend repräsentiert sahen. Ferner fand die Revolution Unterstützung bei katholischen Gruppen, die sich davon eine Umkehr, zumindest Abschwächung der laizistischen Regierungspolitik erhofften. José Manuel Estrada (1953, 264) z.B., der nach der Polemik um das Gesetz 1420 Mitte der achtziger Jahre von der Regierung Roca relegiert worden war und seinen Lehrstuhl an der Universität Buenos Aires aufgeben mußte, erklärte auf einer Veranstaltung der "Unión Cívica" seine Sympathie mit der Radikalen

13 14

"La Vanguardia" v. 13.2.1907. "La Vanguardia" v. 19.2.1908.

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Bewegung und ihrem Widerstand gegen die "oligarchische" und "tyrannische" Politik der Regierung. Dann sind auch die Unzufriedenheiten mittelständischer Gruppen zu nennen, zu denen auch bereits europäische Zuwanderer zählten, deren Kritik sich gegen die Beschneidung ihrer politischen Einflußmöglichkeiten und die Begrenzungen ihrer sozialen Aufstiegschancen richtete. Und schließlich fand die Revolution vor allem Unterstützung in Kreisen der studierenden Jugend, die damit die Hoffnung auf eine politische Erneuerung verband, die sich gegen die überkommene Struktur der politischen Ordnung, die Machtausübung enger, geschlossener Elitenzirkel und die gängige Praxis des Wahlbetrugs richtete15, die darüber hinaus jedoch das gesamte, "materialistische" Denken der staatlichen Modernisierungspolitik nach 1880 in Frage stellte und in einer kulturkritischen Betrachtungsweise nach Idealen Ausschau hielt, die das nationale Selbstverständnis neu verbürgen würden16. Diese früh-nationalistische Komponente der Radikalen Bewegung trug im übrigen auch dazu bei, daß sie innerhalb der Armee, und hier insbesondere im jüngeren Offizierskorps, Unterstützung fand, weil dort die Beteuerung der Radikalen, über die Rückkehr zu den klassischen Werten und Idealen der Revolution von 1810 zu einer moralischen Erneuerung der Gesellschaft finden zu wollen, auf Sympathie traf (vgl. Caballero 1951, 39). Obwohl die Revolution von 1890 ein in sozialer wie auch politischer Hinsicht recht heterogenes Bündnis abbildete, trug sie noch primär den Charakter einer kreolischen, vielfach von Honoratioren unterstützten Bewegung, die gegen die Verteilung sozialer Karriere- und politischer Machtchancen opponierte. Die Revolution stieß unter den flexibleren Kreisen der politischen Entscheidungsträger Bestrebungen an, über ein neues System politischer Absprachen wie auch begrenzter Reformen die politisch-soziale Ordnung zu stabilisieren, wobei die Wahlrechtsproblematik in das Zentrum dieser Überlegungen rückte. In welchem Verhältnis dabei demokratische Überzeugungen einerseits und ein nur taktisches

15

Daß diese Kritik in die inneren Elitenzirkel selbst hineinreichte, dokumentierte sich in der Rechtfertigung, die Aristóbulo del Valle (1845-1896), promovierter Jurist, Mitglied der bonaerensischen Elite, nach 1876 Senator bzw. nach 1880 Parlamentspräsident und Lehrstuhlinhaber für Verfassungsrecht an der Universität Buenos Aires, in den Sitzungen des Senats v. 9. und 11. Juni 1891 für den Revolutionsversuch von 1890 vorbrachte. Die Revolutionäre von 1890 könnten ein natürliches, in ihrer patriotischen Gesinnung begründetes Widerstandsrecht gegen eine Regierungspolitik für sich in Anspruch nehmen, die, von Skandalen geprägt, ins Elend führen würde (del Valle o.J., 88f, 139). Vgl. auch das "Manifiesto de la Junta Revolucionaria" v. 26.7.1890 (Romero 1969, 280). 16 Vgl. dazu etwa die Rede, die Lucio V.López am 24. Mai 1890 in der Universität Buenos Aires hielt, und in der es hieß: "¿Qué creencias tenemos? Este pueblo no cree en nada, or por lo menos ha dejado de creer [...] Entonces yo digo, señores, que es gran deber, gran virtud, gran imperio, volver al pasado, inspirarnos en la influencia clásica de la revolución argentina, defender a la América del materialismo que la amenaza [...]" Die Rede ist nachgedruckt im Bd. II, BIHAA (1957), 394f.

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Machtkalkül zum Zweck des Erhalts einer bedrohten Ordnung andererseits standen, ist in der Forschung weiterhin umstritten. Auf jeden Fall führten die Auseinandersetzungen um die Wahlrechtsfrage und die damit verbundene Kritik an der Verlängerung der überkommenen Formen des Wahlbetrugs und der politischen Absprachen in engen Elitezirkeln dazu, daß das von der "Liga" aufrechterhaltene System der Machtverteilung zunehmend brüchig wurde. Eine zentrale Rolle spielten diese Problematik und die Fragen nach der politischen Partizipation breiterer Bevölkerungskreise und der Legitimation der staatlichen Ordnung jedoch auch umgekehrt in der Entstehung der Radikalen Bewegung selbst. Diskutiert wurde diese Thematik bereits Anfang der siebziger Jahre im "Club 25 de Mayo", der sich innerhalb der autonomistischen Partei Aisinas in Buenos Aires konstituiert hatte und dem nicht allein Pellegrini oder Aristóbulo del Valle, sondern auch die späteren Führungsgestalten der Radikalen Partei, Leandro N. Alem und Hipólito Yrigoyen, angehörten. Der "Club 25 de Mayo" repräsentierte einen Flügel jüngerer, nachrückender Vertreter der politischen Klasse von Buenos Aires, die in sozialer Hinsicht meist aus den reichen und einflußreichen Familien der Provinz stammten und das charakteristische, auf die politische Laufbahn vorbereitende Studium, zumeist der Jurisprudenz, absolvierten, die darüber hinaus aber über reformerische Vorstellungen verfugten, die sich gegen die politische Praxis der Ämtervergabe und des Pätronagewesens bzw. deren Auswüchse richteten. Begründet wurde die Radikale Bewegung zunächst 1889, als sich die "Unión Cívica de la Juventud" organisierte, und dann endgültig 1891, als die "Unión Cívica Radical" unter der Führung Leandro N. Alems aus dem losen Revolutionsbündnis von 1890 ausscherte und die Politik der Absprachen mit der Regierung nicht länger mittrug. In der älteren Geschichtsschreibung wurde die Radikale Partei als eine Bewegung des Urbanen Mittelstands interpretiert, die die politischen Partizipationsbestrebungen dieser Gruppe, die im Zuge des Urbanisierungsprozesses und der Ausdehnung des administrativen bzw. des Dienstleistungssektors zunehmend an Gewicht gewann, organisiert und repräsentiert hätte17. Neuere Untersuchungen haben dieses Bild jedoch modifiziert. So wiesen Ezequiel Gallo und Silvia Sigal bereits Mitte der sechziger Jahre nach, daß es sich bei den argentinischen Radikalen um eine Koalition unterschiedlicher sozialer Gruppen handelte, die zwar auch die Unterstützung von städtisch-mittelständischen Schichten und einzelnen Zuwanderergruppen in diesem Bereich (vgl. Snow 1972, 24) besaß, deren Führung jedoch stärker in den Händen ländlicher Elitegruppen lag (vgl. Di Telia 1966, 169). Dem sozial heterogenen Charakter der UCR und den Motivationen, die mittelfristig das politische Bündnis aus Teilen der Agrarelite und urbaner Mittelschicht innerhalb der Radikalen Bewegung begründeten, gilt das Interesse David Rocks. Rock sieht die Grundlage dieser Koalition in dem

17

Vgl. dazu das Kapitel "The rise of Radicalism - an historiographical note" (Rock 1975a, 279ff).

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besonderen Charakter der mittelständischen Schichten in Argentinien begründet, die sich, anders als im westeuropäischen Raum, nicht im Zuge der mit der Industrialisierung einhergehenden Verbürgerlichung der Gesellschaft entwickelten, sondern vielmehr als ein "Appendix" des Agrarkomplexes konstituierten (vgl. Rock 1975b, 68). Der mittelständisch-urbane Bereich war, so Rock, um den administrativen, Dienstleistungs- und Finanzsektor konzentriert, dessen Entwicklung abhängig war von der Dynamik der Agrarexportproduktion und den davon ausgehenden Impulsen auf den Vermarktungs- bzw. staatlichen Infrastrukturbereich. Für die Struktur wie auch die politischen Intentionen der städtisch-mittelständischen Gruppen brachte dies verschiedene Konsequenzen mit sich. Zunächst handelte es sich dabei um eine soziale Gruppe, die nicht im enger produktiven Bereich der Gesellschaft tätig war, sondern in erster Linie von staatlichen Revenuen lebte. Rock (1975b, 69) beziffert den Umfang dieser Gruppe von Beamten und berufsbürgerlichen Schichten im Jahr 1914, bezogen auf die Beschäftigungsstruktur in der Stadt Buenos Aires, auf ca. 15% der berufstätigen Bevölkerung, während die Angestellten im privaten Wirtschaftssektor zu diesem Zeitpunkt nur ca. 8% der Beschäftigten umfaßten. Damit handelte es sich bei dem städtischen Mittelstand vielfach um Beschäftigte, die vom Staat und seiner Beschäftigungspolitik abhängig waren. Über das Erziehungswesen und den Hochschulbereich regelte der Staat den Zugang zu den einzelnen bürgerlichen Berufen, und darüber hinaus kontrollierte er durch seine Einstellungspolitik den Zugang zum Verwaltungsbereich, der sich der abhängigen Mittelschicht als die in der Regel wichtigste Möglichkeit des beruflichen und sozialen Aufstiegs darstellte. Schließlich erklärten sich aus dieser Konstellation auch die politischen Zielvorstellungen des städtischen Mittelstands. Diese richteten sich nicht gegen die Struktur der Wirtschaft als Agrarexportunteraehmen, und konkret die Radikale Partei verfolgte insofern auch keinerlei politische Programmatik, die sich gegen die Interessen der Viehzüchter und großen Weizenanbauer und der internationalen Vermarktungsunternehmen gerichtet hätte (vgl. Smith 1967). Die mittelständische Interessenlage zielte vielmehr auf eine weitere Expansion der Agrarwirtschaft ab, weil man sich davon eine Erhöhung der staatlichen Ausgaben, eine Expansion des Dienstleistungsbereichs und eine Vergrößerung der eigenen Sozialchancen versprach. Die politische Auseinandersetzung zwischen den eingesessenen Eliten und den mittelständischen Gruppen entzündete sich dabei in erster Linie an der Verteilung der staatlichen Revenuen und sozialen Karrierechancen. Vor diesem Hintergrund ist auch die von der Radikalen Partei unterstützte Universitätsreform von 1918 zu sehen, in der es den Studenten darum ging, über eine Reform der Studiengänge, die Erwirkung demokratischer Mitspracherechte sowie die Einflußnahme auf die Berufungspolitik die Barrieren abzubauen, die ein traditionell eng mit der Elite verwobener Lehrkörper gegenüber den sozialen Aufstiegs- und Karrierreerwartungen neuer mittelständischer Gruppen, zu denen mittlerweile auch bereits in Argentinien geborene Kinder von Einwanderern zählten, errichtet hatte.

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Die Radikalen repräsentierten insofern eine neue Form politischer Allianzen, die Teile der Agrareliten mit dem Urbanen Mittelstand verbanden und in die staatliche Bürokratie und deren militärische Teile hineinreichten, und in denen sich der Versuch von Teilen der Elite dokumentierte, die Mobilisierung breiterer Bevölkerungsgruppen für das Erreichen ihrer politisch-sozialen Ziele zu nutzen. Längerfristig gewannen die mittelständischen Gruppen ein stärkeres Gewicht in der Partei, so wie sie seit etwa der Wahlrechtsreform von 1912 auch versuchte, über einen stärkeren Appell an die städtischen Unterschichten ihre Unterstützungsbasis zu verbreitern. Die These von Rodgers (1988, 63), daß die Radikalen auch eine Brückenfunktion zwischen der "argentinischen Geschichte" und dem sozialen "Transplantat" der Zuwanderergruppen ausgeübt hätten, dürfte dabei allerdings nur mit Einschränkung gültig sein, weil die Radikalen auch xenophobe Züge aufwiesen und sich, was ihre politischen Mobilisierungsversuche anging, auf dem Hintergrund der Wahlrechtsregelung nur an die zweite Einwanderergeneration richteten. Die politische Programmatik der Radikalen konzentrierte sich anfänglich um die Wahlrechtsfrage und die Ausdehnung der politischen Partizipationsmöglichkeiten auf breitere Bevölkerungsgruppen, die "Moralisierung" der Politik sowie die Wahrung der munizipalen und provinzialen Autonomie1*. Die Radikale Partei verfügte damit in ihren Ursprüngen über massive föderalistische Komponenten, die sich gegen den staatlichen Zentralisierungsanspruch richteten (vgl. Alem 1954, 146) und in denen sich auch der schärfer kreolische Charakter ihrer Bewegung abbildete. Ein geschlossenes politisches Programm brachte die Radikale Partei jedoch nicht hervor, was zum einen mit den Entwicklungstraditionen und Gepflogenheiten des politischen Parteienwesens in Argentinien zusammenhing, zum anderen möglicherweise aber auch darauf zurückzuführen war, daß die Radikale Partei ein Bündnis unterschiedlicher sozialer Gruppen repräsentierte, das lose und fragil war und das eine allzu eindeutige Festlegung auf bestimmte politische Leitsätze kaum vertrug. Ahnlich unscharf wie die politische Programmatik war auch die historischpolitische Symbolik, die die Radikalen benutzten. Die zentrale Rolle spielte in der radikalen Propaganda und Rhetorik der Begriff der Moral, die, so Yrigoyen in seiner Regierungserklärung von 1921 (Mazo 1945, 49), die Basis aller Politik und des sozialen Fortschritts sei. Die Partei sprach in diesem Sinn von einer Restaurierung des regulären "institutionellen Lebens" in der Politik, die notwendig sei19. Die Kritik der Radikalen griff auf ein Unbehagen an dem politischen System und der politischen Kultur des Landes zurück, das in der poli-

" Vgl. dazu das Manifest des Nationalen Komittees der UCR v. 2.7.1891 (Mazo 1957, I 308019 "Caita orgänica nacional" v. 17.11.1892 (Mazo 1957, I 3120-

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tischen Öffentlichkeit verbreitet war20 und das in dem Maße in die flexibleren Kreise der politischen Entscheidungsträger übergriff, wie die Verschärfung der sozialen Konflikte innerhalb der Gesellschaft neue politische Integrationsbemühungen notwendig werden ließ. Vor diesem Hintergrund stellten sich die Radikalen als die Kraft zur moralischen Erneuerung und zur politischen Integration Argentiniens dar. "Moral und Charakter", so Yrigoyen (Gallo 1921, 51) würden der Politik der "Nation" fehlen. Historische Symbole und Legitimationsmuster spielten demgegenüber in der Radikalen Partei anfänglich eine nur vergleichsweise geringe Rolle, und ihrem Gebrauch lag offenbar weniger die Funktion zugrunde, die innere Kohäsion der Partei voranzutreiben, als vielmehr die, auf der Ebene der Perzeption der politisch-sozialen Krise Argentiniens um die Jahrhundertwende zu deren Verschärfung beizutragen. So wurde etwa die Praxis des Wahlbetrugs als die "argentinische Bastille" bezeichnet, die es zu erstürmen gelte, oder es hieß in einem Brief Yrigoyens vom Februar 1906 (Yrigoyen 1923, 18f), daß Argentinien sich nunmehr in der schärfsten innenpolitischen Auseinandersetzung seit den Tagen der Mairevolution von 1810 befinden würde. Das Organisationskomitee der Radikalen Partei in Buenos Aires sprach im Dezember 1897 von einer Epoche der "Zersetzung" (Mazo 19S7, I 322), um den Zustand des Landes zu charakterisieren. Die historischen Parallelen, die gezogen wurden, dienten insofern primär dazu, in der politischen Öffentlichkeit das Krisenbewußtsein und die Verunsicherungen über die Zukunft Argentiniens zu schüren. Die politische Absicht, die sich darin verbarg, bestand in der Destabilisierung der politischen Ordnung, die die Radikalen aus machtpolitischem Kalkül zu betreiben suchten. Die Funktion, der eigenen politischen Bewegung ein historisch-politisches Selbstverständnis zu geben, erfüllte die historische Symbolik in der Radikalen Partei demgegenüber zunächst nicht oder allenfalls in rudimentärer Form, wobei über die Gründe für dieses Desinteresse an der Geschichte (und hier gibt es im übrigen deutliche Parallelen zu der späteren Anfangsphase des Peronismus) nur Vermutungen angestellt werden können. Wahrscheinlich spielte eine Rolle, daß die Führungsspitzen der Radikalen ihre Propaganda darauf abstellten, daß sich die Partei als etwas völlig Neues und ihre Politik als ein Neuanfang der nationalen Geschichte darstellten21, weshalb der Rückgriff auf historische Traditionsmuster als eher dysfunktional erschien. Die Radikalen setzten die Revolution von 1890 als einen neuen Nullpunkt der nationalen Geschichte, so daß das Geschichtsbild stärker bruchhaft ausfiel und identitätsverbürgende, langzeitige und kontinuierliche Entwicklungen zwangsläufig negiert werden mußten, weil die Geschichte nach 1810 mehr oder minder als eine Geschichte der Dekadenz

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"La corrupciönpolitica avanza, [...] el fraudees practicado oficialmentc" ("La Prensa" v. 4.3.1889); vgl. auch die Kritik an der "farsa electoral", in: "La Prensa" v. 30.9.1908. 21 So hatte Leandro N. Alem von der Revolution im Jahr 1890 als der "Neugeburt" Argentiniens gesprochen. Vgl. die Rede im Senat v. 6.6.1891 (Alem 1954, 173).

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und des Wertezerfalls betrachtet wurde. Möglicherweise lag das geringe Interesse der Radikalen an der Geschichte aber auch daran, daß die städtischen Unterschichten in ihrem politischen Kalkül zunächst eine nur untergeordnete Rolle spielten, weshalb sie anfangs darauf verzichteten oder auch gar nicht dazu in der Lage waren, etwa eine stärker nationalistische Rhetorik zu entwickeln, auch im historischen Sinn, um die städtischen Untergruppen anzusprechen und in die radikale Bewegung zu integrieren. Auch in der Phase, in der die Radikalen erstmals verstärkt versuchten, städtische Untergruppen für sich zu gewinnen, also etwa in dem Zeitraum um und nach 1912, geschah dies zunächst in erster Linie durch die Übertragung traditioneller Formen des Klientel- und Patronagewesens in den städtischen Raum, nicht aber über die Ausbildung einer nationalistischen Propaganda und Rhetorik. Indem die Geschichte eine nur geringe Rolle darin spielte, der Radikalen Partei eine politische Identität und ein Selbstkonzept zu vermitteln, wurde es notwendig, zu diesem Zweck auf andere Symbolfiguren zurückzugreifen. Als Geschichtsersatz fungierte dabei zunächst das charismatische Gepräge Yrigoyens, der seit 1898 die Partei führte. Yrigoyen wurde in der radikalen Propaganda zu einer unbestechlichen, moralisch integeren und caudillistischen Vorbildern nicht unähnlichen Führerfigur stilisiert, der persönliche Machtgelüste fremd wären22. Zweitens spielten religiöse Motive eine Rolle. Die Partei war durch ein semi-religiöses Selbstverständnis gekennzeichnet, wie die Bezeichnung der Mitglieder als "correligionarios" oder Hinweise auf einen vermeintlich "apostolischen" Auftrag der Partei23 anzeigten. Diese semi-religiöse Terminologie diente sowohl der Mystifizierung der radikalen Politik, die Yrigoyen kultivierte, wie auch der Begründung emotional gefärbter Beziehungen zwischen der politischen Führungsfigur und ihrer Gefolgschaft, die für die Stabilisierung der Partei wichtig waren, weil ihr Zusammenhalt nur in geringerem Maße über die politische Programmatik oder stabile Organisationsstrukturen verbürgt war. Die moralisierende Politikkritik, das religiöse Sendungsbewußtsein und der Charakter der Radikalen Partei als eine politische Bewegung griffen hier ineinander. Drittens schließlich spielten philosophische Anschauungen und konkret die Einflüsse der Philosophie und Sozialethik von Karl Christian Friedrich Krause eine Rolle, worauf Carlos Stoetzer (1988, 661) aufmerksam gemacht hat. Yrigoyen, so Stoetzer, erhob den Krauseschen Begriff der Solidarität zu dem der "christlichen Brüderlichkeit". Der Rückgriff auf die Philosophie Krauses und die religiöse Gestimmtheit, die Yrigoyen verband, übten verschie-

32 Vgl. dic Rede Yrigoyens am 22.3.1916 (Gallo 1921, 41): "Mi pensamiento no fué jamas gobernar el país, sino el de la concepción de un plan reparatorio fundamental al que, según mi juicio, debí inmolar el desempeño de todos los poderes oficiales [...] Mi credo, ante todo, ha sido el de un desagravio al honor de la Nación y el de la restauración de su vida moral y política, a cuyo fin me coloqué entonces, como siempre, en el plano superior de las abstracciones, asumiendo las actitudes y responsabilidades consiguientes". a Vgl. die Rede Yrigoyens am 22.3.1916 (Gallo 1921, 42).

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dene Funktionen aus. So erschien der krausismo als eine Möglichkeit, die zur Regeneration des politisch-sozialen Systems notwendigen, "idealistischen" Anschauungen und Werte hervorzubringen, wie es etwa für den Moralbegriff galt. Vor allem jedoch schien der krausismo auch Antworten auf die politischsoziale Systemkrise und die Desintegrationsprozesse der Gesellschaft zu geben, indem er das Ideal einer natürlichen, harmonischen und solidarischen Gesellschaftsordnung verkündete. Stärker historische Bezüge gewannen die Radikalen im Grunde erst nach dem Regierungsantritt im Jahr 1916, indem sie nunmehr eine stärker nationalistische Rhetorik dazu zu benutzen suchten, um die Integration von Staat und Nation voranzutreiben und gleichzeitig von den sozialen Spannungen im Innern der Gesellschaft abzulenken. Hinzu kam, daß mit dem Übertritt der Radikalen aus ihrer Bewegungs- in die Regimephase auch die Legitimierungsbedürfnisse im Hinblick auf ihre Regierungspolitik wuchsen, wodurch die Geschichte wieder in stärkerem Maße nachgefragt wurde. Eine wichtige Rolle kam dabei der Renaissance des Amerikagedankens zu, worin die Studentenbewegung von 1918, die in Córdoba ihren Ausgang hatte, eine Schrittmacherfunktion ausübte. Von ihren Wortführern, wie Gabriel del Mazo, der 1918 in Córdoba immatrikuliert war und den Radikalen angehörte, wurde diese Bewegung über ihre enger studentischen und sozialen Belange hinausgehend als eine politische Erneuerungsbewegung des Landes definiert24. Die amerikanische Geschichte, so del Mazo (19SS, 20f), sei eine Geschichte der kulturellen Überfremdung und der Außenabhängigkeit der Region, die von der liberalen Geschichtsschreibung "sophistisiert" worden sei. Die Rückkehr zum "Mythos" Amerika stelle den bis dahin beispiellosen Versuch dar, das "Authentische" der eigenen Kultur und Geschichte zurückzugewinnen und endlich zu verwirklichen. Allein die Universitäten, "intellektueller Ausdruck" der merkantilen und fremdorientierten Oligarchien und Schaltstellen der "Macht und der sozialen Privilegien", würden sich "im Namen Europas" gegen diese notwendige Entwicklung stemmen und die Jugend weiterhin in einer geistigen Bevormundung zu halten suchen. Amerika sei ein Konglomerat "kolonialer Länder"; die Rückkehr zur "authentischen Kultur" und zur "sozialen Gerechtigkeit" sei die einzige Möglichkeit, Strukturen "wiederherzustellen", die genuin amerikanisch seien. In dem Amerikagedanken findet sich der genuine Beitrag, der im Umkreis der Radikalen Partei und konkret der von ihr beeinflußten Studentenbewegung von 1918 in Bezug auf die Aktualisierung der historisch-politischen Symbolik in Argentinien im frühen 20. Jahrhundert hervorgebracht wurde. Darin verbarg sich eine Kritik an dem europäischen Entwicklungsmodell der Nation und an der "Oligarchie", die als Mittlergruppe von der Außenabhängigkeit der Nation

24 Was dem Land fehle, so der Studenten fuhrer Deodoro Roca 1918 in Córdoba, seien "amerikanische Menschen". Vgl. "Discurso de clausura del Congreso de Estudiantes", Córdoba 30./31.7.1918 (Romero 1969, 293).

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profitiert habe. Der Amerikagedanke forderte eine grundlegende, geistigkulturelle Erneuerung des Landes, die als die Voraussetzung dafür betrachtet wurde, daß sich die argentinische Nation wie auch die anderen Länder im mittel- und südamerikanischen Raum eigenständig entwickeln und ihre inneren Probleme in angemessener, "solidarischer" Weise lösen könnten. Der Amerikagedanke wies Übergänge in den Geschichtsrevisionismus wie auch in den Kulturnationalismus auf, soweit diese eine "anti-imperialistische" Prägung besaßen. In politisch-sozialer Hinsicht war er als ein Instrument konzipiert, um die Integration der Nation voranzutreiben, die Kritik an den traditionellen Eliten Argentiniens zu legitimieren und von den sozialen Konflikten im Innern der Gesellschaft abzulenken. Vor dem Hintergrund des Weltkriegs und dann auch der Russischen Revolution fungierte der Amerikagedanke femer als Bezugspunkt einer nationalistischen Bewegung, die sich zuerst in studentischen und bildungsbürgerlichen Kreisen auszuformen begann, frühzeitig jedoch auch Unterstützung im Offizierskorps oder in verunsicherten Teilen der Elite selbst fand. Diese nationalistische Bewegung griff in die Radikale Partei hinein, diente darüber hinaus aber von Beginn an auch als Sammelpunkt für politische Kräfte, die sich nicht in den Radikalismus integrieren ließen. Mittelfristig trug der Amerikagedanke dazu bei, die späteren national-populistischen Bewegungen in Argentinien in den dreißiger und vierziger Jahren vorzubereiten. Dabei handelte es sich um politisch organisierte Strömungen sozial heterogener Gruppen im Urbanen Raum, deren wichtigste Trägergruppen die städtischen Mittelschichten waren, die ihren Zusammenhalt weniger über institutionelle Faktoren als über den Anschluß an charismatisch wirkende Führerfiguren und den gemeinsamen Bezug auf bestimmte Grundanschauungen fanden, wobei in Argentinien die konkret gegen England gerichtete Version eines "anti-imperialistischen" Gedankenguts und die Kritik an der mit den ausländischen Kapitalinteressen verbündeten, einheimischen "Oligarchie" eine zentrale Rolle spielen sollten2*. Festzuhalten bleibt, daß der Radikalismus nur einen Vorläufer späterer nationalpopulistischer Bewegungen darstellte und im engeren Sinn nicht dazugehörig war, was vor allem daran lag, daß er weiterhin auf einem engen Bündnis mit historisch älteren Elitegruppen beruhte und keinerlei grundlegende Abkehr von dem liberalen Entwicklungsmodell bzw. keine umfassende Mobilisierung unterer städtischer Bevölkerungsgruppen betrieb. 3. Zwischenergebnis In der politisch-sozialen Systemkrise Argentiniens um die Jahrhundertwende kulminierten die Schwierigkeiten der traditionellen Führungsgruppen, die Integration und Stabilität von Staat, Nation und Gesellschaft aufrechtzuerhalten. Ein Ausdruck davon waren die Entstehung und Entwicklung der Bürgerlich-

25

Vgl. Troncoso 1957; Ioncscu/Gellncr 1969; lanni 1975; Breitling 1987.

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Radikalen und der Sozialistischen Partei, die sich gegen die bestehende Verteilung politischer Macht- und sozialer Karrierechancen richteten und in denen die neuen politischen Mitspracheforderungen vor allem mittelständischer Gruppen ihren Ausdruck fanden. Obwohl sie in konspirativen und putschartigen Methoden ihre Ziele durchzusetzen suchten, stellten die Radikalen im engeren Sinn keine revolutionäre Bewegung dar, weil sie die Struktur des sozialen und politischen Systems nicht grundsätzlich in Frage stellten. Die Radikalen organisierten in erster Linie die Ressentiments sich benachteiligt führender Elitegruppen wie die sozialen Aufstiegserwartungen mittelständischer Gruppen, vor allem auch von Einwanderern der zweiten Generation, versuchten darüber hinaus längerfristig aber auch, sich eine politische Klientel innerhalb der Arbeiterschaft und randständiger Gruppen im städtischen Raum zu schaffen. Die Radikalen profilierten sich als eine moralisierende Erneuerungsbewegung des politischen Systems, was ihre Anziehungskraft für intellektuelle Gruppen aus dem kulturkritischen Milieu wie auch Teile des jüngeren Offizierskorps erklärte. Der Radikalismus wies Übergänge zu den frühen nationalistischen Bewegungen auf, ohne daß er diese zu integrieren vermochte. Was die Entwicklung des Geschichtsverständnisses der Radikalen betrifft, können grob zwei Phasen unterschieden werden, die ungefähr durch die Zäsur von 1916 getrennt sind. In seiner Bewegungsphase spielte die historische Symbolik für das politische Selbstverständnis des Radikalismus eine nur untergeordnete Rolle und wurde, was ihre potentiellen Funktionen der Identitätsbildung und der inneren Kohäsion betraf, weitgehend durch charismatische Bezüge, religiöse Anschauungen und ein philosophisch-sozialethisches Gedankengut ersetzt. Zeitlos anmutende Werte, wie die Moral oder die Solidarität, standen, was ihr Gewicht als politische Legitimationsmuster betraf, über historischen Traditionsbezügen. Das Selbstverständnis der Radikalen als eine politische Erneuerungsbewegung stand hier dem Bezug auf die Geschichte entgegen. Erst der Amerikagedanke, der im zeitgenössischen kulturkritischen Milieu hervorgebracht wurde und in der Zeit des Ersten Weltkriegs an politischer Bedeutung gewann, enthielt wieder stärker historische Bezüge. Der zwar nicht grundsätzlich neue, aber von den Radikalen in der politischen Öffentlichkeit mit dem größten Gewicht hervorgebrachte Beitrag zu der Aktualisierung des kreolischen Geschichtsbilds bestand darin, daß neben die überkommene patriotische Liturgie, den Gedanken der Hispanität oder den Gauchokult nunmehr auch die "anti-imperialistischen" Komponenten des Amerikagedankens traten. Die historische Rhetorik der Radikalen gewann damit einen stärker nationalistischen Grundton, was mutmaßlich damit zusammenhing, daß sie etwa seit der Wahlrechtsrefom von 1912 bzw. spätestens seit ihrem Regierungsantritt im Jahr 1916 versuchten, ihre politische Anhängerschaft auch in die städtischen Untergruppen hinein auszudehnen. Teile der Radikalen und insbesondere ihre studentischen

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Gruppen wurden damit zu Vorläufern späterer national-populistischer Bewegungen. Der Amerikagedanke erfüllte dabei die Funktion, dem politischen Anspruch der Erneuerung oder auch "Wiedergeburt" der Nation im Bereich der historisch-politischen Symbolik Ausdruck zu geben und in politisch-sozialer Hinsicht die innere Integration der Gesellschaft voranzutreiben, worin sich Funktionen der Legitimierung des Regimes, der Ablenkung von den inneren sozialen Konflikten des Landes und des Auffangens von in der Gesellschaft kursierenden Modernisierungsängsten vermengten. Während es sich bei den Radikalen um eine primär kreolische Bewegung handelte, fand sich ein von Beginn an bewußtes Eintreten für die Interessen der Zuwanderer demgegenüber innerhalb der Arbeiterbewegung und der Sozialistischen Partei. Die Geschichte des Landes wurde in diesem Fall aus ihrem eng kreolischen Kontext herauszulösen versucht, um statt dessen das Zusammenwirken unterschiedlicher Ethnien und Nationalitäten zu begründen. Einschränkend ist jedoch zweierlei anzumerken. Zunächst stand das Geschichtsverständnis konkret der Sozialistischen Partei, zumindest ihrer Führungsgruppen, in einer engen Nähe zu den klassischen Modernisierungsvorstellungen des kreolischen Liberalismus. Dies galt insbesondere für die Bewertung der Zuwanderungsbewegung oder auch des Bildungswesens als maßgebliche Faktoren des gesellschaftlichen Modernisierungsprozesses, und es traf ferner auch für die Ablehnungen des kolonialgeschichtlichen Erbes der Gesellschaft und der caudillistischen "Barbarei" zu, die sich bei den Sozialisten fanden. Dann ist zu konstatieren, daß der legalistisch-reformerische Charakter der Sozialisten, die soziale Struktur ihrer Führungsgruppe und die Assimilierungsbestrebungen der mittelständischenbzw. der Arbeiterelitegruppen einen "Verbürgerlichungsprozeß" (Spalding) der Partei anstießen, der auf dem Gebiet der historischpolitischen Symbolik zu engen Anlehnungen an die Bilderwelt der kreolischen Eliten führte. Einen Beleg dafür bildeten die Identifikationen mit der kreolischen patria, die um die Zentenarfeiern von 1910 herum einsetzten und die das ursprüngliche, schärfer "internationalistische" Gedankengut der Sozialisten zunehmend überformten. Spezifische Traditionen der Arbeiterbewegung repräsentierte das sozialistische GeschichtsVerständnis, zumindest längerfristig, nicht, was in erster Linie an der sozialen Zusammensetzung der Partei, ihrer vorübergehend wachsenden Distanz gegenüber der Gewerkschaftsbewegung sowie ihrer politischen Funktion lag, Aufstiegs- und Assimilierungsbestrebungen mittelständischer, vielfach zugewanderter Gruppen in der ersten Generation, zu organisieren. Weil soziale Aufstiegserwartungen sowohl innerhalb der Radikalen wie auch der Sozialistischen Partei als wichtiges Motiv ihrer Oppositionspolitik fungierten, führte dies auf dem Gebiet der historisch-politischen Symbolik in beiden Fällen zu Anpassungsleistungen an die traditionellen Geschichtsanschauungen der kreolischen Eliten, wodurch die Beharrungskraft und Zählebigkeit dieser Formen des Geschichtsbewußtseins gestärkt wurden.

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Etwas anders verhielt sich dies in der syndikalistischen und anarchistischen Bewegung, in der sich ein internationalistisch gefärbtes Gedankengut und schroffe Ablehnungen aller "patriotischen" Anwandlungen schärfer hielten. Identifikationen mit der kreolischen Geschichte bildeten sich jedoch auch hierin aus, vor allem Ober die Gauchosymbolik. Allerdings waren diese Identifikationen eher negativer Art, d.h. auf die Verlierer und Opfer des Modernisierungsprozesses im La Plata-Raum gerichtet.

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IX. Zusammenfassung Es gibt unterschiedliche Fragestellungen und methodische Zugangsmöglichkeiten, von denen her der Prozeß der Nationbildung im hispanoamerikanischen bzw. im La Plata-Raum analysiert werden kann. Und es steht außer Frage, daß ein einigermaßen abgerundetes Bild der Nationbildung erst dann zu gewinnen ist, wenn auch die soziologischen Komponenten dieses Prozesses in die Analyse einbezogen würden, also insbesondere das soziale Gefüge nationaler Trägergruppen, dann die Entwicklung der Institutionen und Organisationen, über die nationale Gemeinschaftsvorstellungen in der politischen Öffentlichkeit vertreten wurden, und schließlich die Strukturen des Kommunikationswesens, die zu dem Zusammenschluß gesellschaftlicher Gruppen und Räume im nationalen Sinn beitrugen. Die vorliegende Untersuchung beschäftigt sich mit der politisch-sozialen Funktion der historischen Symbolik, der Rolle der GeschichtsVorstellungen im Prozeß der Nationbildung und schließlich den Veränderungen, die die Geschichtsanschauungen im Zuge der sozialen Wandlungsprozesse in der politisch fungierenden Öffentlichkeit im La Plata-Raum bzw. im späteren Argentinien erfuhren. Insofern verfolgt sie, und das gilt es von vornherein in Betracht zu ziehen, eine spezifische Fragestellung und behandelt nur einen Ausschnitt des Nationbildungsprozesses im späteren Argentinien nach 1810. Aber es gibt eine Reihe von Gründen, die dieser Betrachtungsweise ihre Legitimation verschaffen. Dazu gehört zunächst die grundsätzliche Auffassung, daß die Interpretationsund Deutungsmuster, wie sie in der Vorstellungswelt sozio-kultureller Gruppen kursieren, Anteil haben an der sinnhaften Konstituierung der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Diese Auffassung formulierte zuerst Max Weber, ehe sie im Umkreis des symbolischen Interaktionismus bzw. der phänomenologisch verfahrenden Wissenssoziologie weiterentwickelt worden ist. Die historische bzw. die historisch-politische Symbolik besitzen in diesem Sinn einen Status als soziale Handlungen, d.h. die auf die Geschichte gemünzten Zeichen- und Symbolsysteme tragen zur Ausbildung gesellschaftlicher Verhältnisse und Strukturen bei. Dies impliziert zweitens, daß die Nation als eine besondere Interpretationsgemeinschaft definiert werden kann. Die Nation stellt in diesem Sinn ein Produkt sozialer Kategorisierungen dar, in deren Verlauf Wir- und Fremdgruppen voneinander getrennt und politisch-soziale Zusammengehörigkeitsgefühle und Identitätsvorstellungen geschaffen werden. Die kategorialen Elemente, die der Nationvorstellung zugrunde liegen, variieren dabei in den einzelnen historischen Entwicklungskonstellationen und Zeitabschnitten, woraus jeweils Rückschlüsse auf den Stand des Nationbildungsprozesses und die darin einfließenden politischen Interessenkonstellationen gezogen werden können. Es erschien aus diesem Grund für die Analyse des Nationbildungsprozesses gewinnbringend, sich näher mit den Vorstellungen und gedanklichen Konnotationen zu befassen, die einzelne soziale Gruppen in unterschiedlichen Phasen des gesellschaftspolitischen Entwicklungsprozesses mit dem Nationbegriff und dem Konzept

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nationaler Entwicklung verbanden und die Frage zu stellen, wann, in welcher Form und mit welchen Motiven gesellschaftliche Kräftegruppen danach strebten, ihre Politikentwürfe mit dem Attribut des Nationalen auszuschmücken. Und drittens schließlich sind die Besonderheiten des Nationbildungsprozesses im hispanoamerikanischen Raum in Betracht zu ziehen, der, weil die Staatsgründungen nach 1810 der Nationbildung vorangingen, sich als eine Form der politischen und sozialen Modernisierung "von oben" darstellte. Die politischen und sozialen Eliten der Region, zumindest wichtige Teile von ihnen, begriffen die Nationbildung als ein Instrument, um die gesellschaftlichen Entwicklungsherausforderungen zu meistern. Auch dieser Umstand verweist den Betrachter auf die Frage, wie diese Gruppen in ihrer Funktion als politische Entscheidungsträger die Nationvorstellung handhabten, wie sich der Nationgedanke in der politisch fungierenden Öffentlichkeit veränderte und welche konkreten politischen Konstellationen und Interessenlagen diesen Entwicklungen oder auch Veränderungen jeweils zugrunde lagen. Der Nationbildungsprozeß besaß im Gebiet des späteren Argentinien den Charakter eines politischen Entwicklungs- und Modernisierungsprojekts. Von dieser Prämisse ausgehend war es möglich, die Fragestellung und den Untersuchungsgegenstand näher einzugrenzen. Von Interesse waren die Geschichtsanschauungen, die in den Gruppen der politischen Entscheidungsträger, die mit der Lösung der politisch-sozialen Entwicklungsprobleme der Gesellschaft befaßt waren, bzw. in den ihnen angeschlossenen bildungsbürgerlichen und akademischen Kreisen kommuniziert wurden. Hinsichtlich des Gegenstandsbereichs wurden damit die eher alltagsweltlichen Formen und Funktionen des Geschichtsbewußtseins aus der Betrachtung ausgeklammert. Der zumindest bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts in sozialer Hinsicht eng gefaßte Charakter der politischen Öffentlichkeit, die sich überdies in den wenigen städtischen Zentren des Landes konzentrierte, wie der hegemoniale Charakter des Nationbildungsprozesses brachten es mit sich, daß die Untersuchung sich in erster Linie mit den historischen Argumentationsfiguren befaßte, wie sie im Elitenbewußtsein hervorgebracht wurden. Dies änderte sich erst in dem Maße, wie die steigende Komplexität des Gesellschaftsaufbaus im Verbund mit anderen Faktoren, wie etwa der Ausdehnung der Lesefahigkeit in sozialer Hinsicht, zu einer Ausdifferenzierung der politischen Öffentlichkeit führte. Der Untersuchung lagen vier Hypothesen zugrunde. Die erste und einfachste lautete, daß Geschichtsvorstellungen im Zuge der Entwicklung der kreolischen Gesellschaft im La Plata-Raum nach 1810 politische Funktionen ausübten, wobei zu fragen war, um welche Funktionen es sich dabei handelte und wann sich diese aufgrund welcher politisch-sozialer Konstellationen und Interessenlagen in welcher Form verdichteten. Die zweite Hypothese ging davon aus, daß aufgrund der Fragilität des Nationbildungs- und gesellschaftspolitischen Entwicklungsprozesses, der den hispanoamerikanischen Gesellschaften für das 19. und 20. Jahrhundert gemeinhin in der Literatur attribuiert wird, die Geschichtsvorstellungen als ein Mittel zur fiktiven Integration der Gesellschaft benutzt wurden und in

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starkem Maße Funktionen der Konfliktverschleierung zu erfüllen hatten, wovon umgekehrt die Struktur des Geschichtsbewußtseins berührt wurde. Hier blieb zu fragen, in welcher Art und Weise politische Funktionsansprüche an die Geschichte die Strukturen des Geschichtsbewußtseins prägten. In der dritten Hypothese wurde angenommen, daß politisch-soziale Krisenkonstellationen zu einem Wandel der in der Gesellschaft gebräuchlichen historischen Bilder und Orientierungsmuster führten, weil diese in krisenhaften Entwicklungsphasen ihre Funktion als politische Legitimationsinstrumente und als Orientierungsmuster über die gesellschaftliche Wirklichkeit verloren oder zumindest einbüßten. In welche Richtung sich solche Wandlungen des Geschichtsbewußtseins bewegten, blieb zu untersuchen. Viertens schließlich wurde angenommen, daß habituelle Komponenten mit darüber entschieden, welche Formen der Geschichtsbetrachtung in sozialer Hinsicht akzeptanzfähig waren, wobei diese habituellen Komponenten als ein Kräftefaktor angesehen wurden, die den Wandel kollektiver Bewußtseinsstrukturen gehemmt, zumindest verlangsamt hätten. Versucht werden sollte, den Einfluß solcher habituellen Komponenten und ihre Auswirkungen auf das Geschichtsbewußtsein nachzuweisen. Im Gebiet des späteren Argentinien stellte der Nationbildungsprozeß nach 1810 in mehrfacher Hinsicht ein hegemoniales Unternehmen dar. Dies galt zuerst in Bezug auf die sozialen Trägergruppen des Nationgedankens. Die Unterschiede zwischen Stadt und Land, die ungleichen kulturellen Entwicklungsstandards zwischen den sozialen Schichten, wie sie sich z.B. in der sozialen Verteilung der Lesefähigkeit dokumentierten, und schließlich die Verteilung der politischen Machtchancen und Abhängigkeitsverhältnisse sowie die damit einhergehenden Begrenzungen der politischen Öffentlichkeit bewirkten, daß die Diskussion des Nationgedankens und die Entwicklung eines politischen Projekts der Nationbildung zunächst ein ausschließlicher Bestandteil des Elitendiskurses waren. Als Träger des Nationgedankens fungierten dabei städtische, berufsbürgerliche Kreise, wie die Juristen, denen auch auf dem Hintergrund ihrer beruflichen Sozialisation an einer Legitimierung der neu zu schaffenden politischen Ordnung gelegen war, dann Händlergruppen, vor allem im Importsektor, die an der Herstellung eines mehr oder minder homogenen und von Handelsbeschränkungen freien Wirtschaftsraums interessiert waren, der über die Grenzen der einzelnen Provinzen hinausgriff, sowie schließlich auch Teile der Grundbesitzer und Viehzüchter, die aus unterschiedlichen Motiven eine politische Ordnung der Region im nationalen Sinn unterstützen konnten. Allerdings ist festzuhalten, daß diese Zuordnung des Nationgedankens zu einzelnen sozialen Gruppen nicht so eindeutig war, wie sie hier erscheint. Zumindest die bonaerensische Elitengruppe gestaltete sich im frühen 19. Jahrhundert als ein Verbund von Familien, die sowohl in der Viehwirtschaft wie auch im Handel tätig waren. Die wirtschaftlichen Interessenlagen konnten sich entsprechend variabel gestalten, und dieser Umstand wie auch die traditionell starken Identifikationen der örtlichen Elite mit dem Handelsplatz Buenos Aires führten dazu, daß unterschiedliche politische Ausgestaltungen des Nationgedankens

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denkbar waren. So fanden sich anfänglich Begrenzungen der Nationvorstellung auf den städtischen Bereich von Buenos Aires, worin möglicherweise auch die aus der frühen Kolonialgeschichte herrührende, begriffliche Identifikation zwischen "Republik" und "Stadt" nachwirkte, dann zentralistische Nationvorstellungen im staatsbürgerlichen Sinn oder aber "föderalistische" Konzeptionen der Nationidee, die auf die autonomen und eigenständigen Entwicklungsmöglichkeiten der einzelnen Provinzen abhoben. Indem der Nationgedanke im Elitendiskurs verhandelt wurde, stellte er nicht das einende Band einer irgendwie gearteten politisch-sozialen Bewegung dar. Bünde, Vereine, Gesellschaften oder Organisationen, die sich den Nationgedanken zu eigen gemacht und breitere Gruppen in seiner Propagierung vereint hätten, existierten in Argentinien bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts hinein nicht. Auch die frühen patriotischen Gesellschaften, wie die 1812 von Monteagudo gegründete Patriotisch-literarische Gesellschaft, oder der spätere Salón Literario der sogenannten Romantikergeneration von 1837 stellten enge Zirkel studentischer Kreise und städtischer Honoratioren sowie einzelner Sympathisanten im Landesinnern dar, die dazu neigten, sich als genuine Repräsentanten des voluntad general und als elitäre Führungsgruppen der Nation zu definieren. Krasser noch trat dieser sozial enge Charakter der Trägergruppen nationaler Entwicklungsvorstellungen in der Tätigkeit des Logenwesens hervor, so insbesondere in dem geheimbundartigen Zusammenschluß der Logia Lautaro, die zwischen 1812 und 1815 einen maßgeblichen Einfluß auf die bonaerensische Politik ausübte. Das nationale Gedankengut griff, über den politischen Diskurs und literarische Formen vermittelt, offenbar nur langsam und allmählich in breitere Bevölkerungsgruppen über1. Die Presse, studentische Kreise, politische Clubs, die

1

Vor allem im Rahmen der argentinischen Literaturgeschichte hat es Versuche gegeben, sich mit der Frage zu befassen, welche Geschichtsanschauungen im frühen 19. Jahrhundert in Kreisen der abhängigen und randständigen ländlichen Bevölkerungsgruppen im La Plata-Raum kursierten. Als Quelle dienten dazu vor allem die Sammlungen der "cantares históricos", wie sie etwa von Juan Alfonso Carrizo (1924, 1937, 1964) oder Olga Fernández Latour (1960) herausgegeben wurden. Zwar ist es aufgrund der methodischen Einschränkungen und Vorbehalte, denen die Analyse des "volkstümlichen" Gedanken- und Ideenguts aufgrund seiner Überlieferungsgeschichte unterliegt, nur unter großen Vorbehalten möglich, hier Aussagen treffen zu wollen. Doch die Untersuchung der "cancioneros históricos" deutet zumindest daraufhin, daß der Nationgedanke und die patriotische Liturgie, die in seinem Umfeld entwickelt wurden, unter den ländlich-abhängigen Bevölkerungsgruppen auf eine nur geringe Resonanz stießen. Während die Mairevolution von 1810 oder die Unabhängigkeitserklärung von 1816 im historisch-politischen Selbstverständnis der Elitegruppen einen hervorragenden Platz einnehmen und in der Regel als Kristallisationspunkte des Nationgedankens fungierten, finden sich in dem volkstümlichen Liedgut historischen Inhalts kaum Bezüge auf diese Geschehnisse. Die Geschichtsvorstellungen der unteren Bevölkerungsgruppen im ländlichen Raum waren anscheinend eher um anthropologische Themen strukturiert, d.h. auf Grunderfahrungen des menschlichen Daseins und deren

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in den fünfziger oder sechziger Jahren entstanden, und schließlich das Offizierskorps, das im Zuge des Kriegs der Triple Alianza gegen Paraguay nach 1865 eine zunehmend wichtige politische Rolle spielte, fungierten nach der Mitte des 19. Jahrhunderts als die wichtigsten Multiplikatoren nationaler Ordnungs- und EntwicklungsVorstellungen. Vereine, Gesellschaften oder Bewegungen, die das nationale Gedankengut vertraten und in sozialer Hinsicht heterogene, vertikal angesiedelte Gesellschaftsgruppen repräsentierten, entstanden schließlich erst seit etwa den neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts. In diesem Zeitraum begann der Nationbegriff jedoch bereits neue Funktionen auszuüben, die auf dem Hintergrund der sozialen Wandlungsprozesse der Gesellschaft und insbesondere der europäischen Zuwanderungsbewegung zu interpretieren sind. Die "nationale" Bewegung des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts oder analog dazu entstehende früh-nationalistische Strömungen stellten keine emanzipatorische Bewegung dar, sondern die Propagierung der Nationidee bzw. des Gedankens der argentinidad fungierten in diesem Zeitraum bereits primär als ein Ausdruck sozialer Modernisierungsängste bzw. als ein Mittel der sozialen Statusverteidigung gegenüber der europäischen Zuwanderungsbewegung. Hegemonial verlief der Nationbildungsprozeß im Gebiet des späteren Argentinien auch in regionaler Hinsicht. Die unterschiedlichen Interessenkonstellationen einzelner Teilregionen im La Plata-Raum, wie sie von den lokalen Elitegruppen interpretiert wurden, und die Interessenkonflikte zwischen den einzelnen Provinzen prägten die dortige Geschichte im 19. Jahrhundert weitgehend. Dies geschah in einem derartigen Maße, daß die politischen Entscheidungsträger nachhaltig auf diese Formen gesellschaftlicher Ent-

gedankliche Bewältigung gerichtet oder aber auf außeralltägliche Geschehnisse hin orientiert (vgl. Carrizo 1945; Becco 1960). Auch das breite Interesse, das die Figur des Caudillo von La Rioja, Facundo Quiroga, im volkstümlichen Liedgut fand (vgl. Latour 1960, 42ff) hatte wohl weniger etwas mit seinen politischen Anschauungen als vielmehr mit den übematürlich-magischen Fähigkeiten zu tun, die ihm attribuiert wurden, und die das Interesse der Foklore an seiner Person weckten. Die Strukturen des Geschichtsbewußtseins der einzelnen Sozialgruppen scheinen insofern Differenzen aufgewiesen zu haben, und entsprechend variierten auch seine Formen und Funktionen. Unter den abhängigen und des Lesens und Schreibens unkundigen Gruppen im ländlichen Raum war das Geschichtsbewußtseinoffenbar schärfer als eine Form der Informationsvermittlung und des mündlichen Überlieferungswissens konzipiert, weniger als ein Mittel der Legitimationsbeschaffung und Traditionsbildung im politischen Sinn (vgl. Becco 1972). Zu ergänzen bleibt, daß der Gebrauch des Argentinienbegriffs im volkstümlichen Liedgut erstmals für das Jahr 1831 nachzuweisen ist (vgl. Carrizo 1924, 31) und damit recht genau in den Zeitraum fiel, in dem im politischen Diskurs der romantisierende Nationbegriff hervorgebracht wurde. Da bei dem historischen Liedgut jedoch in der Regel unklar ist, welche Gruppen es hervorbrachten und welche regionale Verbreitung es fand, muß offenbleiben, ob es sich hierbei nur um eine zufällige zeitliche Parallele handelte oder ob dieses zeitliche Zusammentreffen als ein Indiz dafür zu werten ist, daß der Elitendiskurs und das volkstümliche Gedankengut enger zusammenhingen, als vielfach vermutet wird.

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Wicklungsprobleme fixiert blieben, was möglicherweise zur Erklärung dessen beiträgt, daß sie den veränderten Entwicklungsherausforderungen, die der soziale Wandlungsprozeß mit sich brachte, mehr oder minder unvorbereitet gegenüberstanden und erst vergleichsweise spät darauf reagierten. Die Hintergründe dieser inter-provinzialen Interessenkonflikte lagen einerseits in den Verschiebungen der wirtschaftlichen und politischen Entwicklungsdynamik auf die atlantische Seite der Region, die spätestens in der Gründung des Vizekönigreichs La Plata von 1776 manifest wurden, andererseits in den ungleichen Entwicklungen einzelner Zonen, die sich daran anschlössen. Aufgrund dieser Entwicklungen bildeten sich Teilregionen im La Plata-Raum, die hinsichtlich ihrer wirtschaftlichen Entwicklungsstandards, der Machtchancen und politischen Einflußmöglichkeiten ihrer Eliten sowie mitunter auch in Bezug auf ihre soziokulturellen Niveaus grob in drei Regiontypen unterschieden werden können. Dazu zählten zunächst die zentralen Zonen, wie die Provinz Buenos Aires und phasenweise städtische Räume im litoral, dann die Schwellenzonen, wie in der Regel die Provinzen im litoral, später auch Tucumán, sowie schließlich die peripheren Zonen im Andenraum bzw. im Landesinnern. Die Elitegruppen in diesen Regionen konnten über unterschiedliche Interessenlagen und divergierende gesellschaftspolitische bzw. wirtschaftliche Entwicklungsvorstellungen verfügen. Die, wie es in der zeitgenössischen Terminologie hieß, Auseinandersetzungen zwischen den Föderalisten und den Unitaristen, hinter dem sich letztlich die Auseinandersetzung der Provinzen im Landesinnern mit dem bonaerensischen Hegemonialanspruch sowie den Privilegien der Hafenstadt verbarg, dokumentierten dies ebenso wie die Befürwortung protektionistischer Maßnahmen durch Interessengruppen insbesondere im Landesinnern, die mit der bonaerensischen Freihandelspolitik kollidierte. Hinzu kam, daß es sich bei diesen Kräfte- und Interessenverteilungen innerhalb der Region nicht um ein statisches Beziehungsgeflecht handelte, sondern daß sich vielmehr Wandlungen und Entwicklungen darin vollzogen. Dies galt zunächst in der Hinsicht, daß einzelne Provinzen, wie Córdoba, an Gewicht und Einfluß verlieren konnten und auch aufgrund ihrer inneren Instabilität auf, was ihre wirtschaftliche Bedeutung und ihr politisches Machtpotential in der Region betraf, einen eher peripheren Status abzurutschen drohten. Córdoba verlor aufgrund dieser Entwicklungen seinen Führungsanspruch unter den nichtbonaerensischen Provinzen, und an seine Stelle trat zunächst, weil seine Eliten einen inneren Konsens aufrechtzuerhalten vermochten und die diversifizierte Wirtschaftsstruktur der Provinz eine größere Stabilität verlieh, Corrientes. Seit den vierziger Jahren dann gewann Entre Ríos zunehmend an Bedeutung, was vor allem damit zusammenhing, daß die dortigen Elitegruppen es durch wirtschaftliche Umstrukturierungen vermochten, in wachsendem Maße an den Gewinnen zu partizipieren, die die extensiv betriebene Viehzucht in der Region abwarf. Ferner hing dieser Wandel der provinzialen Interessenkonstellationen auch damit zusammen, daß sich die Struktur der Elitegruppen in den einzelnen Provinzen ändern konnte. Mitunter führte der Bruch der kolonialen Ordnung

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dazu, daß überkommene Eliten ihren Einfluß fast vollständig verloren und durch neue Gruppen ersetzt wurden oder daß sie in politischer Hinsicht von neuen Kräftegruppen abhängig wurden, wie es in La Rioja oder auch in Santa Fe der Fall war, wo caudillistische Führergestalten, die sich auf das Offizierskorps der Milizen stützten, zu den politischen Entscheidungsträgern aufstiegen. Die unterschiedlichen regionalen Entwicklungsstandards waren zunächst für die Strukturen des Geschichtsbewußtseins der einzelnen Elitegruppen in der Region nicht ohne Bedeutung. Die Strukturen des Geschichtsbewußtseins differierten nicht allein in sozialer Hinsicht, sondern auch zwischen den einzelnen Teilregionen im La Plata-Raum. Es zeigte sich nicht allein, daß nur die Elitegruppen in den führenden, politisch einflußreichen und wirtschaftlich mehr oder minder prosperierenden Zonen die Fähigkeit besaßen, nationale Traditionsmuster und Geschichtsvorstellungen mit dem Anspruch auf Verbindlichkeit vorzugeben. Vielmehr beeinflußte der Entwicklungsstandard in den einzelnen Teilregionen auch das Vermögen der jeweiligen Eliten, überhaupt ein provinziales Selbstkonzept hervorzubringen und historische Traditionen zu diesem Zweck zu organisieren. Die politischen Machtpotentiale, wirtschaftlichen Entwicklungsoptionen und auch sozio-kulturellen Entwicklungsstandards waren insofern Faktoren, die das Selbstbewußtsein der Elitegruppen bzw. der politischen Entscheidungsträger in den einzelnen Provinzen beeinflußten und, darüber vermittelt, Auswirkungen auf ihre Chancen tätigten, in historischer Perspektive provinziale Identitätsvorstellungen zu entwerfen und "Geschichte" überhaupt zu schreiben. Ferner brachten die Entwicklungsunterschiede wie auch Interessendivergenzen zwischen den einzelnen Provinzen auch verschiedene Konsequenzen für das politische Projekt der Nationbildung im später argentinischen Raum mit sich. Vor allem erschwerten bzw. verzögerten sie die Ausbildung sozialer Gruppen oder auch politischer Bewegungen, die in der Lage gewesen wären, ein übergreifendes Konzept der Nation in politischer Hinsicht zu repräsentieren und zu vertreten. Der Nationgedanke war ein begriffliches Konstrukt, das zwar von unterschiedlichen Gruppen oder auch Fraktionen der Eliten benutzt wurde, das jedoch eng an die provinzialen Interessenkonstellationen gebunden blieb und, sehen wir von den legitimatorischen Abgrenzungsleistungen gegenüber Spanien ab, als Mittel der politischen Kontrolle sozialer und regionaler Konfliktpotentiale fungierte. Der Disput um die "Nation" bzw. den nationalen Entwicklungsweg wurde letztlich um die Frage geführt, welche partialen Interessenlagen einzelner Provinzeliten oder auch Elitenbündnisse sich durchzusetzen und das politische Projekt der Nationbildung zu hegemonisieren vermochten. Das politische Projekt der Nationbildung vermochte aufgrund dessen nur in dem Maße zu reüssieren, wie der Nationgedanke zwischen den einzelnen Provinzeliten politisch verhandelbar wurde, d.h. die Nation, wie es der Finanzminister der Provinz Buenos Aires Anfang der dreißiger Jahre formulierte, als eine "Ordnung zum wechselseitigen Nutzen" der einzelnen Provinzen erschien. Dies setzte eine Abschleifung der inter-provinzialen Interessengegensätze voraus. Dazu trugen verschiedene Faktoren bei, so auch außenpolitische Komponenten, wie die Furcht

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vor einer möglichen brasilianischen Expansionspolitik, die sowohl im litoral wie auch in Buenos Aires eine Rolle spielte. Von zentraler Bedeutung waren jedoch die wirtschaftlichen Entwicklungsperspektiven, die sich der Region über ihre Einbindung in den Weltmarkt boten, und die begleitende Maßnahmen hinsichtlich der Schaffung eines Binnenmarkts, der Pazifizierung der Gesellschaft in ihrem Innern, des Ausbau der Transport- und Kommunikationswege und insbesondere auch in Bezug auf die Schaffung einer staatlichen Zentralgewalt notwendig werden ließen. Diese wirtschaftlichen Entwicklungsoptionen führten im Einklang mit den politischen Ordnungsbedürfnissen dazu, daß auch die Eliten im litoral, die zunehmend an der Expansion der Viehwirtschaft und des Getreideanbaus zu partizipieren versuchten, ein Modell der nationalstaatlichen Organisation zu akzeptieren begannen, das weitgehend den Entwicklungsvorstellungen des bonaerensischen Liberalismus angepaßt war. Widerstände dagegen fanden sich vor allem in den peripheren Zonen, wie die Erhebungen der montoneros dokumentierten. Zwar waren diese Bewegungen nicht einfach modernisierungsfeindlich, wie mitunter bis heute behauptet wird. Aber im zeitgenössischen Entwicklungskontext der Region richteten sie sich gegen die wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklungsdynamik, wie sie zuerst von Buenos Aires und dann auch von den Provinzen im litoral ausging, was dazu führte, daß sie letztendlich randständige Bewegungen blieben. Zugleich entstanden im Zuge der Expansionsbewegungen der Agrarexportwirtschaft und der Partizipation an ihren Vorteilen und Gewinnchancen, die sie den Elitegruppen im litoral oder später etwa auch den Zuckerproduzenten in Tucumän eröffneten, Mittlergruppen, die als Träger des Nationbildungsprozesses fungierten. Diese Mittlergruppen waren dadurch charakterisiert, daß sie aufgrund ihrer wirtschaftlichen Interessenkonstellationen und unter gleichzeitiger, zumindest vorübergehender Beibehaltung ihrer lokalistischen oder regionalen Identifikationen den Nationbildungsprozeß im zentralstaatlichen Sinn förderten und unterstützten. Der sowohl in sozialer wie auch in regionaler Hinsicht hegemoniale Charakter des Nationbildungsprozesses findet sich auch in den historischen Anschauungsmustern, die in der politischen Öffentlichkeit als Mittel einer "nationalen" Selbstversicherung und Traditionsbeschaffung kursierten, wieder. Betrachten wir die Entwicklung der Nationvorstellung und die Beziehungen, die zwischen ihr und der historisch-politischen Symbolik bestanden, so können verschiedene Phasen unterschieden werden. Bereits frühzeitig fanden sich Bemühungen, auch über die Geschichte, und hier in erster Linie die Mairevolution und ihre Heldenfiguren, die Lostrennung von Spanien zu begründen und den Gedanken einer rioplatensischen Nation zu evozieren. Diese Bestrebungen verdichteten sich erstmals um 1813, ihre Träger waren Urbane, "jakobinisch" gesonnene Kreise, und der Nationbegriff wurde in dieser Phase im staatsbürgerlichen Sinn definiert und über erste Ausformungen einer patriotischen Liturgie auszufüllen versucht. Welchen Grenzen dieses Nationverständnis dabei noch unterlag, verdeutlichte sich nicht allein in den Schwierigkeiten, überhaupt eine

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Nation unabhängig von der spanischen zu denken. Sie illustrierten sich auch darin, daß die Nationvorstellung, zumindest anfänglich, auf die Vorstellung der "Stadt" beschränkt bleiben konnte. Der staatsbürgerliche Nationbegriff verhielt sich kongruent zu den Vorstellungen der Kreise der bonaerensischen Elite, die eine zentralistische Politik betrieben, d.h. die "nationale" Organisation des ehemaligen Vizekönigreichs unter der Kontrolle von Buenos Aires und seiner aufklärerischen Gruppen zu bewerkstelligen suchten. Der Ausbruch der Bürger- und inter-provinzialen Kriege führte dazu, daß die Geschichte, was ihre potentiellen Funktionen als Mittel der Legitimation und Identitätsbildung anging, in der politischen Öffentlichkeit an Bedeutung verlor. Der Zerfall der Region in voneinander unabhängige Provinzstaaten brachte eine Renaissance der Idee der patria mit sich. Diese war in kategorialer Hinsicht auf naturhafte Faktoren begründet und segregierend angelegt. Der Geschichtsverlust, der sich parallel dazu in der politischen Öffentlichkeit vollzog und der im übrigen auch in den zeitgenössischen Zeitungen der zwanziger Jahre konstatiert wurde, hing mit verschiedenen Faktoren zusammen. Der Rückgriff auf die Geschichte im Sinn eines die politische Gemeinsamkeit der Provinzen verbürgenden Erfahrungshintergrunds lag nicht im Interesse der Mehrzahl der einzelnen Provinzeliten. In den Fällen, da an die Geschichte appelliert wurde, geschah dies vielfach zu dem Zweck, partiale Traditionsmuster, die nur für eine Provinz oder mitunter gar nur für einen einzelnen caudillistischen Herrschaftsverband Gültigkeit beanspruchten, hervorzurufen. Die "nationale" Geschichte, die im Diskurs der sogenannten jakobinischen Kreise um 1813 bereits in rudimentärer Form umrissen worden war, zerfiel dadurch neuerlich in vereinzelte Geschichten. Schließlich überlagerten militärische Mobilisierungsbedürfhisse der einzelnen Bürgerkriegsparteien die politischen Legitimationsansprüche, die an die Geschichte bis dahin bereits herangetragen worden waren. Das Zusammenspiel all dieser Faktoren bewirkte, daß die politische Funktion der Geschichtsbetrachtung in den zwanziger Jahren vergleichsweise unwichtig und nebensächlich wurde. Verantwortlich dafür war nicht allein das kriegerische Milieu der Gesellschaft an sich, sondern auch der Boom caudillistischer Herrschaftsgewalten in der Region. Die häufig in die frühneuzeitliche spanische bzw. in die Kolonialgeschichte zurückreichenden Elemente caudillistischen Verhaltens verdichteten sich nach 1813 zu caudillistischen Herrschaftssystemen. Diese Systeme wirkten in einer Transformationsphase der gesellschaftspolitischen Entwicklung, die zwischen dem Bruch der kolonialstaatlichen Ordnung und der Etablierung des republikanischen Nationalstaats lag. Ihre Funktion bestand darin, die Schwäche politischer Institutionen zu kompensieren, d.h. die in sozialer Hinsicht zunehmend unruhigen, abhängigen Bevölkerungsgruppen insbesondere im Landesinnern über unterschiedliche Machtmechanismen zu binden, und zur gleichen Zeit militärische Mobilisierungsleistungen zu erbringen. Aus dieser doppelten Funktion, abhängige Gruppen sowohl zu mobilisieren wie auch in politischsozialer Hinsicht zu kontrollieren, erwuchsen das spezifische Einflußpotential

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wie auch der gegenüber den traditionellen Elitegruppen mitunter semi-autonome Status caudillistischer Herrschaftsgewalten, vermochten doch die staatlichen Institutionen diese Aufgaben nicht oder nur unzureichend zu erfüllen. Historische Bilder und Legitimationsmuster verloren in dieser Situation an Wert, einmal, weil die caudillistischen Systeme stärker auf personale Loyalitäten bezogen waren, dann, weil neue Formen der LoyalitätsVersicherung, wie etwa die kulturellen Identifikationen, an Gewicht gewannen. Es ist interessant zu konstatieren, daß diese Veränderungen im politischen Diskurs ihre Entsprechung im literarischen Diskurs fanden, in dem in den zwanziger Jahren die literatura gauchesca, die in gleicher Weise militärische Mobilisierungsabsichten und soziale Kontrollfunktionen einerseits und, was ihre sprachliche Struktur und ihren semantischen Gehalt betraf, kulturelle Identifikationen andererseits miteinander verband, an die Stelle der frühen staatspatriotischen Texte und Erziehungsvorstellungen trat. Es ist möglich, die Phasen, in denen die Geschichte neuerlich an Wert in der politischen Öffentlichkeit gewann, recht genau einzugrenzen. Zum einen handelte es sich dabei um den Zeitraum um 1836/37, zum anderen um den um 1857/58. Die Trägergruppen dieser Entwicklung waren allerdings unterschiedlich gelagert. Im ersten Fall handelte es sich um bildungsbürgerliche Zirkel, die um den Salón Literario gruppiert waren, bzw. um die Veteranen der Unabhängigkeits- und Bürgerkriege, die aus einer biographischen Perspektive heraus ihre Erfahrungen aufzuarbeiten und die jüngste Geschichte zu ordnen suchten und die nach Entwicklungslinien einer "nationalen" Geschichte fragten. Im zweiten Fall waren es die politischen Entscheidungsträger selbst, wie die Elitegruppen in Buenos Aires oder Corrientes und dann auch in Paraná, die aus politischen Erwägungen heraus bestrebt waren, ihren politischen Handlungen vermittels historischer Argumentationen die Weihe einer "nationalen" Interessenrepräsentation zu verleihen. Das Wirken der sogenannten Romantiker von 1837 bzw. der actores y testigos begründete noch keine nationale Geschichtsbetrachtung, die im politischen Sinn unmittelbar Wirkung erzielt hätte. Ihr Verdienst bestand vielmehr darin, daß sie, nachdem die Geschichte bis dahin mehr oder minder ausschließlich innerhalb der "Politik" und der "Literatur" behandelt worden war, einen eigenständigen historischen Diskurs in rudimentärer Form zu begründen vermochten. Insbesondere die Romantiker formulierten den Anspruch auf historische Reflexion und Sinnbildung, also das Ansinnen, mit dem lebensweltlichen Zeitkontinuum zu brechen und Geschichte über die Analyse ihrer vermeintlichen Entwicklungsgesetzmäßigkeiten neu zu arrangieren. Diese Entwicklung verlief nicht losgelöst von den politischen Diskussionen und konkret der Debatte um den Nationbegriff in der politischen Öffentlichkeit, ohne daß diese Zusammenhänge den zeitgenössischen Akteuren deshalb bewußt gewesen sein müssen. Ungeachtet dessen ist es jedoch zumindest auffällig, daß der historische Diskurs sich in dem Zeitraum zu entwickeln begann, in dem in der politischen Öffentlichkeit der Region, und hier zunächst in Corrientes, der ro-

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mantisierende Nationbegriff von politischen Entscheidungsträgern aufgegriffen und vertreten wurde. Die Geschichte bzw. das historische Traditionsverständnis wurde damit als ein konstitutiver Faktor der Nationbildung interpretier- und nutzbar. Die nivellierenden Züge, die dem romantisierenden Nationverständnis eigen waren und in denen sich bereits die Interessenangleichungen zwischen den Elitegruppen in den zentralen und den Schwellenzonen der Region andeuteten, stellten die Vorbedingung dafür dar, daß das politische Interesse an einer nationalen Geschichtsbetrachtung wuchs. Dieser Prozeß verlief weder gleichförmig noch linear aufsteigend, sondern wurde durch die bruchhaften Komponenten der politischen Entwicklung beeinträchtigt. Dazu zählten insbesondere die Enttäuschungen über das inter-provinziale Paktsystem, wie sie sich im litoral nach 1830 ausbildeten, der andauernde politische Hegemonialanspruch, den die Regierung von Rosas vertrat, und die schließlich damit verbundene Fortdauer der Konflikte zwischen den Provinzen. Zum Durchbruch kam der Gedanke einer nationalen Geschichtsbetrachtung letztlich erst in den fünfziger Jahren. Nach 1857 ist in der politischen Öffentlichkeit das Zusammentreffen unterschiedlicher Anzeichnen für ein steigendes Geschichtsinteresse zu konstatieren, das nicht mehr zufällig war. Neben den Beiträgen Mitres in der Zeitung "Los Debates" und den, was den Wert historischer Traditionen für die politische Entwicklung der Region betraf, analog dazu sich verändernden Kommentaren in der nicht-bonaerensischen Provinzpresse zählten dazu vor allem das Interesse an historischen Denkmalsgründungen, dann der Aufwand, der in Corrientes um den Geburtsort von San Martin getrieben wurde, und schließlich auch der Beginn einer Geschichtsschulbuchproduktion, die 1858 einsetzte. Nach wie vor war die "nationale" Geschichtsbetrachtung jedoch von den provinzialen Interessenkonstellationen und insbesondere der Konfrontation zwischen Buenos Aires und der Konföderation überlagert, die beide für sich reklamierten, die wahren Interessen und Geschicke einer argentinischen Nation zu vertreten. Das nationale Geschichtsbild, dessen Grundlinien in diesem Zeitraum von den politischen Eliten fixiert wurde, war insofern hochgradig politisch und von der konkreten Interessenlage der Konfliktparteien in der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre des 19. Jahrhunderts geprägt. Ungeachtet dessen gingen aus diesen Kontroversen die Grundzüge des späteren offiziellen Geschichtsverständnisses Argentiniens hervor. Es zeigte sich im Verlauf der Untersuchung, daß eine Vielzahl unterschiedlicher politischer Funktionsansprüche in die Geschichtsbetrachtung eingehen konnten. Dazu zählten natürlich Legitimationsbedürfnisse oder Identifikationsbestrebungen, aber auch Demonstrationsabsichten oder politisch-soziale Kontrollund Regulierungsziele. In den fünfziger Jahren, als das nationale Geschichtsbild erstmals einigermaßen fixiert und geordnet wurde, lagen jedoch nicht allein solche elementar politischen Motivationen, sondern in beträchtlichem Maße auch psychologische Komponenten der Geschichtsbetrachtung zugrunde. Der Entwurf eines nationalen Geschichtsbilds nach 1857 war nicht von der Einwirkung psychologischer Abwehrmechanismen, also Verdrängungs- und Rechtfertigungs-

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bedürfnissen, Schuldprojektionen und persönlichen Entlastungswünschen, zu trennen, die aus der Geschichte der Bürgerkriege und insbesondere aus den Verwebungen einzelner Elitegruppen in die nunmehr verfemte Herrschaftsordnung von Juan Manuel de Rosas herrührten. Vorübergehend wurden dadurch auch Prozesse der GeschichtsVerdrängung angestoßen, weil die Geschichte sich Teilen der Elite, vor allem im Landesinnern, weniger als eine Legitimationsinstanz denn als eine belastende Hypothek darstellte. Diese unterschwelligen, psychologischen Motivationen, die in die Geschichtsbetrachtung eingingen, mußten auf der Ebene ihrer Gegenstandsrepräsentation eine Fiktionalisierung der Geschichte begünstigen. Hinzu kam ferner der Einfluß habitueller Komponenten auf das Geschichtsbewußtsein. Die Bürgerkriegssituation, das damit verbundene kriegerische Milieu und der geringe Standard der innergesellschaftlichen Pazifizierung in der Region berührten auch die kollektiven Bewußtseinsstrukturen und konkret die Kriterien, die der sozialen Akzeptanz der Geschichtsschreibung zugrunde lagen. Zumindest bis in die sechziger Jahre des 19. Jahrhunderts hinein waren die gesellschaftlichen Zwänge, die diejenigen, die Geschichte schrieben, zu einer Selbstkontrolle offen parteiischer oder persönlicher Bewertungen und Meinungsbekundungen anhielten, nur schwach ausgebildet. Die, wie Halperin Donghi schreibt, "Gewalttätigkeit" der Sprache im historischen Diskurs, der Verlust an Empathie und das geringe Distanzierungsniveau gegenüber dem erzählten Geschehen legten davon Zeugnis ab. Die Fiktionalisierungsbereitschaft der frühen Geschichtsschreiber wurde dadurch vermutlich zusätzlich befördert. Der sogenannte Prozeß der nationalen Organisation, wie das politische Projekt der Nationbildung in der argentinischen Geschichtsschreibung benannt wird, ging seit den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts mit einer neuerlichen Verlagerung der Kräfteverhältnisse zwischen den Provinzen einher. Die Schwächung des bonaerensischen Liberalismus in seiner mitristischen Variante, die Partizipation der Eliten in den Schwellenzonen an den Erträgen der Agrarexportwirtschafit, ihre Entwicklung zu nationalen Mittlergruppen sowie schließlich der steigende Einfluß, den die Provinzeliten, gestützt auf das Offizierskorps der comandancias de la frontera, auf die Armee gewannen, waren die wichtigsten Variablen in diesem Prozeß. In politischer Hinsicht setzte sich die "konstitutionalistische" Lösung des Nationbildungsprojekts durch, die auf einem Zentralisierungsschub der Staatsgewalt beruhte und ihren institutionellen Rückhalt in dem von der "Liga de los gobernadores" begründeten und später von Roca und Juárez Celman verfeinerten System des caciquismo fand, das eine Form des staatlich organisierten Klientel- und Patronagewesens und der vertikalen Hierarchisierung regionaler Einflußpotentiale darstellte. Diese Entwicklung brachte, was den Bereich der historisch-politischen Symbolik betraf, zunächst eine moderate Modifizierung der mitristischen Geschichtsanschauungen von offizieller Seite aus mit sich. Dies dokumentierte sich in dem Bilderstreit, der um die Bewertung Rivadavias und San Martins geführt wurde und der im übrigen in der Forschung bislang weitgehend übersehen bzw.

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als bedeutungslos übergangen wurde. Ferner verdichtete sich das nationale Geschichtsverständnis auf dem Hintergrund der sogenannten Politik der nationalen Versöhnung nunmehr zu seiner offiziellen Variante, d.h. es wurde eine verbindliche nationale Lithurgie geschaffen, die um ein Pantheon nationaler Heldengestalten gruppiert war und die in dem Denkmalswesen oder auch in der Schulbuchhistoriographie ihren deutlichsten Ausdruck erhielt. Der Nationgedanke und die nationale Geschichtskonzeption erhielten sakrale Züge. Dieses offizielle Geschichtsverständnis rankte sich um die Mairevolution und die Unabhängigkeitserklärung, den Sturz von Rosas und die Verfassung von 1853. Es enthielt Kompromisse, so z.B. in der Beurteilung des Caudillo von Salta, Güemes, wie auch Interpretationsspielräume, so insbesondere hinsichtlich der Bewertung des Beitrags der Provinzen im Landesinnern zur Nationbildung sowie in Bezug auf die Gewichtung einzelner Daten und Geschehnisse, wie etwa der Schlacht von Pavón 1861. Insofern war das offizielle Geschichtsbild nicht hermetisch geschlossen. Aber es war von einem Grundkonsens liberaler Entwicklungsvorstellungen geprägt, d.h. mehr oder minder scharf gegen die koloniale Geschichte der Region und die caudillistischen Herrschaftssysteme in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts gerichtet und an dem Vorbildcharakter der nordwesteuropäischen Modernisierungsprozesse orientiert. Die Geschichtsvorstellungen wurden grundsätzlich zu politischen Zwecken benutzt und eingesetzt, aber sie erfüllten in den unterschiedlichen Entwicklungsphasen der argentinischen Gesellschaft verschiedene Funktionen. Einem Übergewicht von legitimatorischen Funktionen der Geschichte begegnen wir etwa in der Frühphase des Nationbildungsprojekts um 1813 wie auch in der Inkubationsphase "nationaler" Geschichtsvorstellungen um 1857/58. In den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts verschoben sich die Funktionserwartungen, die die Elitegruppen mit den GeschichtsVorstellungen verbanden, demgegenüber zunehmend in den Bereich der politisch-sozialen Stabilisierung, des Ordnungserhalts und dann auch der Sozialdisziplinierung. Integrationsfunktionen überlagerten insofern, pauschal formuliert, die potentiellen Legitimationsfunktionen der Geschichte. Die Geschichte erfuhr in diesem Zeitraum, d.h. seit etwa der Mitte der achtziger Jahre des 19. Jahrhunderts, neuerlich eine steigende Beachtung in der politischen Öffentlichkeit, nachdem sie in den sechziger und siebziger Jahren aufgrund der Verbreitung des positivistischen Gedankenguts und der damit verbundenen, progressistischen Gesellschaftsauffassung vorübergehend an politischem Wert eingebüßt hatte. Indizien dafür waren die Ausweitung des Geschichtsunterrichts an den staatlichen Schulen, der sogenannte Geschichtsrevisionismus sowie schließlich die allmählich sich intensivierenden Insti tutionalisierungsschübe der Geschichtsschreibung, zuerst in Form der Historischen Akademie bzw. Junta, später im Universitätsbereich. Auch in diesem Zeitraum blieben die Geschichtsbetrachtung und das Geschichtsinteresse zunächst noch weitgehend von den inter-provinzialen Konfliktkonstellationen in der Region geprägt. Insbesondere die erste Administration Rocas (1880-1886) interpretierte die gesellschaftlichen Entwicklungsprobleme unter dem Eindruck

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des Aufstands der bonaerensischen Nationalgarde von 1880, der sich gegen die Trennung von Stadt und Provinz Buenos Aires gerichtet hatte, noch überwiegend aus dem Blickwinkel möglicher regionaler Interessendifferenzen. Die Aufgabe der Integration von Staat und Gesellschaft, die in den achtziger Jahren das Handeln der politischen Entscheidungsträger bestimmte, war insofern noch primär horizontal angelegt, d.h. auf das Verhältnis von Staat, Nation und Provinzen gerichtet. Diese Konstellation änderte sich mit der Verschärfung der sozialen Konfliktpotentiale der Gesellschaft im Zuge der sozialen Wandlungs- und Modernisierungsprozesse. Diese Prozesse kulminierten in einer politisch-sozialen Systemkrise des Landes, als deren Eckdaten hier die Jahre 1890 und 1912 gesetzt wurden und in der die Legitimationsschwierigkeiten des politischsozialen Systems, politische Partizipationsansprüche breiterer Gesellschaftsgruppen, Unzufriedenheiten mit dem praktizierten System des caciquismo und soziale Ausdifferenzierungsprozesse, in deren Zuge zugleich neue Eliten auf den unterschiedlichen Ebenen der sozialen Hierarchie entstanden, zusammenfielen. Die politischen Entscheidungsträger sahen sich damit mit neuen Entwicklungsaufgaben und vor allem auch mit neuen Aufgaben der politisch-sozialen Integration konfrontiert, und diese Problematik floß konkret in die Diskussionen um das Argentiniertum, die Nation und ihre Geschichte ein, die im Umfeld der Zentenarfeiern von 1910 in der politischen Öffentlichkeit ihren Höhepunkt fanden. Die Diskussion der argentinidad stellte im Bereich der historisch-politischen Symbolik die Reaktion auf die sozialen Wandlungs- und Modernisierungsprozesse Argentiniens und die dadurch hervorgerufenen Integrationsprobleme der Gesellschaft dar. Von zentraler Bedeutung waren darin die Verunsicherungen über das nationale Selbstverständnis, die die massive europäische Zuwanderung und deren politische und sozio-kulturelle Folgewirkungen hervorriefen. Der historische Diskurs, wie er in der politischen Öffentlichkeit geführt wurde, differenzierte sich spätestens seit den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts mehr oder minder analog zu der wachsenden Komplexität des Gesellschaftsaufbaus und zu den Prozessen sozialer Stratifikation aus. Diese Ausdifferenzierung des historischen Diskurses bewirkte im Zusammenspiel mit den Verunsicherungen, die das nationale Selbstkonzept auf dem Hintergrund der europäischen Zuwanderung und der politisch-sozialen Krisenkonstellation erfuhr, daß die bis dahin mehr oder minder deutlich gegebene Zuordnung bestimmter Geschichts Vorstellungen zu jeweils spezifischen politisch-sozialen Trägergruppen verlorenging. Dabei spielte zum einen eine Rolle, daß nunmehr auch soziale oder kulturelle Gruppen, die nicht dem engeren Zirkel der Eliten oder der ihnen angeschlossenen Gruppen angehörten, eigene oder partiale Geschichts Vorstellungen öffentlichkeitswirksam zu artikulieren vermochten. Dies galt längerfristig bereits für die aus Zuwanderern zusammengesetzten ethnischen oder Nationalitätengruppen, die, in der Form politischer Klientelverbände seit den fünfziger Jahren des 19. Jahrhunderts organisiert, in einem Prozeß

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wechselseitiger Identitätszuschreibungen mit den kreolischen Führungsgruppen standen. Ahnliche Prozesse verlängerten sich nunmehr jedoch bis in den städtisch-mittelständischen und gar den subkulturellen, Urbanen Bereich hinein, wie die Entwicklungsgeschichte des Gauchokults in Argentinien dokumentiert, der anfänglich eher ein Symbol des Sozialprotests unterer Bevölkerungsgruppen darstellte, ehe er von Kreisen der Elite aufgegriffen und für ihre politischen Zwecke zu nutzen versucht wurde. Und zu nennen ist in diesem Zusammenhang schließlich auch die Ausbildung sektorialer Betrachtungsweisen der Geschichte, wie sie sich im 19. Jahrhundert bereits in den Kreisen des Offizierskorps und der Kirche entwickelt hatten und die sich dann auch in parteipolitischer Hinsicht zur Geltung brachten. Der historische Diskurs wurde damit Teil eines komplexen InteraktionsVorgangs; zumindest mehrten sich die Interdependenzen, wechselseitigen Abhängigkeiten und politisch-sozialen Rücksichtnahmen, denen auch in der Erörterung des nationalen Geschichtsbilds von Seiten der politischen Entscheidungsträger Rechnung zu tragen war. Ungeachtet dessen blieb der historische Diskurs in sozialer Hinsicht hierarchisch strukturiert. Zum anderen faserte der historische Diskurs an seinen Rändern immer weiter aus, worin sich auch die wachsenden Ungewißheiten über die Zukunft Argentiniens ausdrückten, die innerhalb der politischen Führungsgruppen und einzelnen Elitefraktionen zu kursieren begannen und die zuerst von bildungsbürgerlichen Gruppen ausformuliert wurden. Neben die klassisch-liberalen Geschichtsanschauungen traten nunmehr Strömungen des Geschichtsrevisionismus oder des Kulturnationalismus bis hin zu Frühformen national-populistischer Geschichtsvorstellungen, wie sie sich ansatzweise im Gauchokult und prononcierter dann in der Propagierung des Amerikagedankens finden konnten. Um eine Orientierung über diese Entwicklungen zu ermöglichen, wurde versucht, einzelne Motivationslagen zu unterscheiden, die in die Gestaltung der Geschichtsanschauungen eingingen. Neben den überkommenen Legitimierungs-, Integrations- und Stabilisierungsansprüchen, wie sie etwa staatlicherseits an die Geschichte herangetragen wurden, handelte es sich dabei grob um drei Komponenten, wobei hinzuzufügen ist, daß diese nicht strikt voneinander geschieden waren, daß sie von den einzelnen sozialen Träger- und politischen Interessengruppen unterschiedlich ausgelegt werden konnten und daß sie in den einzelnen Entwicklungsabschnitten der Gesellschaft zwischen etwa 1880 und 1916 schließlich von jeweils unterschiedlichem Gewicht sein konnten. Dazu zählte erstens und weiterhin das Interesse vor allem jüngerer Repräsentanten der Provinzeliten, die gesellschaftspolitischen Entwicklungsleistungen der Provinzen im Landesinnern in der Geschichtsbetrachtung aufzuwerten und ihre Führungsgruppen in historischer Perspektive zu rehabilitieren. Im Kontext der politisch-sozialen Systemkrise des Landes gewannen diese eher überkommenen Motive der Geschichtsbetrachtung jedoch zugleich eine neue Dimension, d.h. die klassischen Kritiken an der Hegemonialpolitik von Buenos Aires konnten nun auf den "Kosmopolitismus" der städtisch-liberalen Führungsgruppen, ihr Einstehen für die Zuwanderungspolitik sowie den gesamten Komplex der

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Außenabhängigkeit Argentiniens und des liberalen Entwicklungskonzepts ausgedehnt werden. Zweitens handelte es sich im engeren Sinn um die sozialen Folgewirkungen des gesellschaftlichen Entwicklungsprozesses, die Entwicklung Argentiniens hin zu einer "Massengesellschaft" und die damit aufgeworfenen Probleme im Hinblick auf die Demokratisierung des politischen Systems und die Fragen der Sozialdisziplinierung. Und drittens schließlich sind die Abgrenzungsbedürfnisse kreolischer Gruppen gegenüber den Zuwanderern und deren soziale Aufstiegsbestrebungen, die vor allem in den mittelständischen kreolischen Gruppen als bedrohlich empfunden wurden, und die damit verbundenen Motive zur sozialen Statusverteidigung zu nennen. Das nationale Geschichtsbild, wie es von offizieller Seite proklamiert wurde und das auf den klassisch-liberalen Geschichtsanschauungen aufgebaut war, vermochte diese unterschiedlichen Funktionsansprüche, die an die Geschichte herangetragen wurden, nicht mehr abzudecken. Notwendig wurden deshalb Modifikationen der offiziellen Geschichtsanschauung, die allerdings eher als eine Erweiterung denn als eine Reform des Geschichtsbilds zu charakterisieren sind. In gewisser Hinsicht ist es möglich, als Oberbegriff für diese Veränderungen das Konzept der vieja patria anzusehen, das bereits in seiner Formulierung das Bestreben der Elitegruppen wie auch anderer kreolischer Kreise verdeutlichte, den in der Gegenwart beobachtbaren sozialen Konfliktpotentialen der Gesellschaft und den politisch-sozialen Desintegrationstendenzen das Idealbild einer überkommenen, vergangenen Gesellschaftsordnung entgegenzusetzen, die in politischer Hinsicht als organisch geprägt und in sozialer Hinsicht als streng hierarchisiert galt. Ein Teil der in der zeitgenössischen politischen Öffentlichkeit diskutierten Umdeutungen der Geschichte ließ sich in dieses Konzept der vieja patria einfügen und integrieren, wobei es allerdings erhebliche Divergenzen zwischen der klassisch-liberalen Geschichtsschreibung, den Geschichtsrevisionisten oder, soweit sie auf dem Gebiet der Geschichte argumentierten, den Kulturnationalisten gab, was die Schärfe, Reichweite und Zielsetzungen betraf, mit denen die überkommenen Geschichtsvorstellungen einer Überprüfung unterzogen wurden. Darunter fielen zunächst das sich im Zuge der Diskussion um die argentinidad und im Hinblick auf das Selbstkonzept der Nation sich ändernde Spanienbild bzw. die Neubewertung des hispanischen Erbes der Gesellschaft. Diese hispanistische Wende, zumindest Korrektur des Geschichtsbilds wurde auch von den Trägern der traditionell-liberalen Geschichtsschreibung unterstützt, wie der Historischen Akademie oder der im Besitz der Familie Mitres befindlichen Tageszeitung "La Naciön". Eine Schlüsselrolle kam in diesem Prozeß zunächst dem spanisch-nordamerikanischen Konflikt von 1898, dann dem Besuch der spanischen Infantin anläßlich der Zentenarfeiern von 1910 zu. Im Hinblick auf die sozialen Wandlungsprozesse Argentiniens konnten der Hispanisierung des Geschichtsverständnisses zugleich, so in der Form des sogenannten hidalgischen Geschichtsbilds, Abgrenzungsbemühungen und Bestrebungen zur Privilegienverteidigung von Seiten der eingesessenen kreolischen Eliten gegenüber den Zuwanderern entsprechen. Ferner dokumentierten sich

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darin Bemühungen, dem Nationverständnis in historischer Perspektive länger zurückreichende Entwicklungslinien zu verschaffen, um auf diese Weise den kontinuierlichen Charakter des gesellschaftlichen Entwicklungsprozesses zu unterstreichen und die aktuellen Verunsicherungen des nationalen Selbstkonzepts zu kompensieren. Die Geschichtswissenschaft griff diesen Aspekt vor allem im Bereich der politischen Institutionengeschichte auf. Der Rahmen des klassischliberalen Geschichtsverständnisses wurde dabei endgültig an dem Punkt überschritten, an dem der Hispanitäts- oder auch der nunmehr "anti-imperialistisch" konzipierte Amerikagedanke dazu benutzt wurden, um die gesamte politische Orientierung der liberalen Eliten auf das nordwesteuropäische Modernisierungsmodell hin in Frage zu stellen. Ähnlich ambivalent verhielt sich die Diskussion der Gauchomythologie. Das Interesse an der Gauchofigur stand, was das Geschichtsbewußtsein der Eliten betraf, in unmittelbarem Zusammenhang mit der Problematik der Sozialdisziplinierung und der Frage nach dem, wie es in Anlehnung an Le Bon hieß, Verhältnis von Führer und Masse. Das Interesse daran, auch im Bereich der historischen Symbolik an einer Hierarchisierung der Gesellschaft festzuhalten und in der Geschichte nach Modellen der erfolgreichen Sozialdisziplinierung zu suchen, bewirkte zugleich, daß nunmehr auch die Caudillos als soziale Figuren erscheinen konnten, die die Disziplinierung sozial unruhiger, abhängiger Bevölkerungsgruppen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts beispielhaft und erfolgreich bewerkstelligt hätten. Die Fähigkeit der klassisch-liberalen Geschichtsbetrachtung, diese neuen Zusammenhänge und symbolischen Sinnstiftungen in ihr Geschichtskonzept zu integrieren, blieb jedoch beschränkt. Die Impulse dazu, die Gauchofigur im Sinn eines Sozialtypus in das nationale Pantheon aufzunehmen, gingen nicht von der um ihren wissenschaftlichen Status bemühten Geschichtswissenschaft aus, der die Gauchofigur aufgrund ihrer folklorischen und offenkundig fiktionalen Komponenten verdächtig war, sondern von Kreisen kulturkritisch gesonnener Schriftsteller. Und was die Rehabilitierung der Caudillos betraf, beschränkte sich diese im offiziellen Geschichtsverständnis auf die historischen Figuren, die sich in die liberale Interpretation des Nationbildungsprozesses vergleichsweise zwangslos einfügen ließen, wie es etwa mit Martin Güemes der Fall war. Der Geschichtsrevisionismus blieb damit, obwohl er zumindest in Teilen eine Aktualisierung der Geschichtsbetrachtung zu betreiben und die "Geschichte" an die zeitgenössischen Entwicklungsprobleme Argentiniens um die Jahrhundertwende heranzuführen suchte, aus dem offiziellen Geschichtsbild weitgehend ausgegrenzt, was vermutlich damit zusammenhing, daß er von den politischen Führungsgruppen als eine überflüssige, zusätzliche Relativierung ohnehin wankender Geschichtsbilder und Traditionsmuster angesehen wurde und weil ferner deutlich wurde, daß etwa das ursprünglich aus dem Interesse an der Sozialdisziplinierung herkommende Interesse an einer Neubewertung der Caudillos allmählich in eine Ablehnung des gesamten liberalen Entwicklungsmodells des Landes umschlagen konnte.

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Das Konzept der vieja patria konnte insofern in unterschiedlicher Form ausgestaltet werden, und die neue Synthese einer nationalen Geschichtsbetrachtung, die damit versucht wurde, war aufgrund der Polyvalenz der hervorgebrachten Bilder scheinbar, fragil und schnell vorübergehend. Gemein war diesen einzelnen Formen oder auch Richtungen der Geschichtsbetrachtung jedoch, daß sie stärker die nativen Traditionen des Landes hervorhoben und ferner eine Verländlichung des Geschichtsbilds begünstigten, um auf diese Weise auf die politisch-sozialen Krisenerfahrungen und die Verunsicherungen des nationalen Selbstkonzepts eine Antwort zu finden. Die politisch-soziale Krisenkonstellation gegen Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts stieß insofern zwar einen Wandel oder auch eine Aktualisierung des hergebrachten nationalen Geschichtsbilds in der politischen Öffentlichkeit an, aber dies führte in der Regel nicht dazu, daß die Orientierungskapazität der historischen Symbolik über die gesellschaftliche Wirklichkeit in dem Sinn größer wurde, daß sie an die Ergebnisse der sozialen Wandlungsprozesse angeglichen worden wäre. Die Tabuisierung der Zuwanderung im Geschichtsbewußtsein war dafür nur das eklatanteste Beispiel. Motive des politischen Ordnungserhalts, der sozialen Konfliktverschleierung und der Statusverteidigung führten im Verbund mit Modernisierungs- und Konfliktängsten im Bereich der historisch-politischen Symbolik vielmehr zu eher regressiven Prozessen. Mit diesem Begriff soll hier nicht den problematischen Vorannahmen irgendwelcher Modernisierungstheorien das Wort geredet werden. Auch soll den zeitgenössischen politischen Entscheidungsträgern Argentiniens nicht im nachhinein der Vorwurf gemacht werden, daß sie von der heutigen Warte aus konstruierte Entwicklungsmodelle verspielt hätten, was absurd wäre. Gemeint ist vielmehr, daß sich im Bereich der historisch-politischen Symbolik die Zuwendung zu einer vergangenen und in der Retrospektive verklärten Gesellschaftsordnung vollzog, die als vermeintliches Gegenmodell zu der befürchteten Zersetzung der Nation in der Gegenwart diente, die aber in ihrer Orientierungskapazität über die gesellschaftliche Wirklichkeit der aktuellen Struktur der argentinischen Gesellschaft nicht entsprach und die sich überdies, was im Rahmen einer historisierenden Kritik schwerer wiegt, mit den eigenen Modernisierungserwartungen, die die politischen Führungsgruppen hegten, nicht vertrug. Zentrale Entwicklungsaufgaben der in sozialer Hinsicht fragilen und in ethnisch-kultureller Hinsicht heterogenen Gesellschaft, wie sie das Argentinien der Jahrhundertwende darstellte, wurden insofern nicht gelöst. An Stelle der Förderung der sozialen Integration und Konsensfindung propagierte die historische Symbolik vielfach ein Modell kultureller Ausgrenzung, rigider sozialer Über- und Unterordnung sowie paternalistisch-politischer Gehorsamsbereitschaft. Anders verhielt sich dies in den Fällen, da die Wahrnehmung der politischsozialen Systemkrise Argentiniens die Ausbildung früher nationalistischer Bewegungen und, was die historische Symbolik betraf, von Frühformen eines national-populistischen Geschichtsverständnisses anstieß. Einen wichtigen Anstoß dazu gab der Radikalismus, weil er die politischen Partizipationsansprüche

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breiterer Bevölkerungsgruppen zu organisieren vermochte und eine neue Form des politischen Bündnisses repräsentierte, das Teile der Elite mit vor allem städtisch-mittelständischen Gruppen verband und auch in untere städtische Bevölkerungskreise hineinzureichen vermochte. Diese neue politische Bündniskonstellation und die sich darin vollziehende Mobilisierung breiter Bevölkerungsgruppen ließen zugleich neue Formen der historisch-politischen Sinnstiftung notwendig werden. Das Hauptanliegen der Radikalen, einmal an die Macht gelangt, bestand jedoch darin, die Geschichte zum Zweck der Integration der Nation, zur Eindämmung der sozialen Konflikte im Innern der Gesellschaft und zum Abbau von Entwicklungsängsten, wie sie in der Gesellschaft kursierten, zu nutzen. Früh-nationalistische Gruppierungen, die zuerst von bildungsbürgerlichen Gruppen und studentischen Kreisen getragen wurden und teils in den Radikalismus hineinragten, teils in scharfer Opposition zu ihm standen, sahen sich darin jedoch nicht repräsentiert und begannen, aus den Topoi des Geschichtsrevisionismus und Kulturnationalismus bzw. im Rückgriff auf den Hispanitäts- oder den Amerikagedanken ein grundsätzliches Gegenbild zur offiziellen Geschichtsbetrachtung zu entwerfen, in dem sich eine prinzipielle Ablehnung des bisherigen Entwicklungswegs Argentiniens verbarg. Die politisch-soziale Systemkrise des Landes um die Jahrhundertwende brach damit nicht allein den bis dahin vorhandenen politischen Grundkonsens unter den Führungsgruppen Argentiniens auf, sondern führte auch auf dem Gebiet der historischen Symbolik zu Verunsicherungen, Konsens Verlusten und Identitätsstörungen. In gewisser Hinsicht zerfiel der historische Diskurs, der zwischen ungefähr 1857/58 und den achtziger Jahren geformt und konsolidiert worden war, in sich polarisierende Teilgebiete, wovon die Polyvalenz der historischen Symbolik selbst und die Entstehung einer neuen Rivalität zwischen "Geschichte" und "Literatur", was die Aufgabe einer nationalen Traditionsbildung anging, Zeugnis ablegten. Und insofern ist es auch möglich, das sich verstärkende und dann in den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts kulminierende Bestreben von Staat und Historischer Akademie, die klassisch-liberalen Geschichtsanschauungen festzuschreiben, als den Versuch zu interpretieren, das um und nach 1910 auseinandergebrochene Gefüge des historischen Diskurses wieder zusammenzuschließen und die Definitionsgewalt der "offiziellen" Organe der Geschichtsbetrachtung über die Nationalgeschichte zu wahren bzw. wiederherzustellen. Die Zählebigkeit, die das klassisch-liberale GeschichtsVerständnis, das in seinen Grundzügen in den fünfziger Jahren des 19. Jahrhunderts entwickelt worden war, entfaltete, bestand insofern nicht darin, daß es sich gegenüber den sozialen Wandlungsprozessen des Landes und insbesondere der politisch-sozialen Systemkrise Argentiniens um die Jahrhundertwende vollständig resistent verhalten hätte oder daß es in der Lage gewesen wäre, alle Gegenentwürfe der Geschichte entweder überflüssig zu machen oder aber in sich zu integrieren. Zählebig war es vielmehr in dem Sinn, daß es einerseits neuere Strömungen der Geschichtsinterpretation in Teilen zu absorbieren vermochte und daß es andererseits als eine Art Gravitationszentrum fungierte, was die Diskussion der

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historischen Symbolik in der politischen Öffentlichkeit anging. Dies erklärte sich aus mehreren Gründen. Der erste lag in den Strukturen des Geschichtsbewußtseins und dem Gewicht, das psychologische Komponenten bis hin zu unmittelbar psychologischen Abwehrmechanismen darin spielten. Die Entwicklung des nationalen Geschichtsverständnisses in Argentinien besaß zwei formative Phasen. Zunächst handelte es sich um die Inkubationshase der nationalen Geschichtsbetrachtung, die in den fünfziger Jahren lag, dann um die Phase der Überprüfung und Aktualisierung des Geschichtsbilds, die sich um 1910 verdichtete. In beiden Fällen ist zu konstatieren, daß sich neben den unmittelbar politischen Funktionszuweisungen an die Geschichte in jeweils massiver Form unterschwellige, psychologische Bedürfnisse der Geschichtsinterpretation zur Geltung brachten. Während darunter in den fünfziger Jahren in erster Linie Verdrängungs-, Projizierungs- und persönliche Rechtfertigungsmechanismen fielen, waren es gegen Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts vor allem die durch die Modernisierungsängste ausgelösten Regressionswünsche, die die Geschichtsbetrachtung vorstrukturierten. Die Annahme ist naheliegend, daß diese psychologischen Komponenten sich als nachhaltig hemmende Faktoren erwiesen, was eine mögliche Reform und soziale Überwindung der überkommenen Geschichtsvorstellungen betraf. Zweitens trug der sozial hierarchisierte und in ethnisch-kultureller Hinsicht heterogene Charakter der Gesellschaft zu der Stabilisierung einer überkommenen und, wofür der Gauchokult beispielhaft steht, auf dem Hintergrund der sozialen Wandlungsprozesse der Gesellschaft zunehmend anachronistisch werdenden historischen Symbolik bei. Zwar kam es unter den abhängigen sozialen Gruppen, den anderen kulturellen Konfigurationen oder, sofern sie institutionell verfaßt waren, den ethnischen und Nationalitätengruppen auch zur Ausbildung rivalisierender Geschichtsanschauungen. Auffallend ist jedoch, daß das kreolische Geschichtsverständnis diesen Bildern gegenüber eine starke Anziehungskraft ausübte. Die Gründe hierfür lagen in den sozialen Aufstiegserwartungen, die sowohl die Zuwanderergruppen wie auch politisch oppositionelle Bewegungen, also insbesondere die mittelständischen Kräfte in der Sozialistischen und in der Radikalen Partei, mit ihrem politischen Engagement verknüpften, sowie in der sozio-kulturellen Assimilierungsbereitschaft dieser Gruppen, die damit verbunden war. Beide Faktoren begünstigten die Ausbildung sozio-kultureller Anpassungsleistungen und -gesten, die in der Hoffnung auf eine soziale Entlohnung erbracht wurden. Insbesondere für die Zuwanderergruppen war es notwendig, demonstrative Bekundungen ihrer Identifikationen mit der argentinischen patria im affirmativen Sinn zu erbringen, und die historische Symbolik eignete sich (wie sich ja auch bereits im Kulturkampf der achtziger Jahre gezeigt hatte) als ein solcher Anpassungsgestus in besonderem Maße, weil sie den Dissenz im tagespolitischen Geschäft nicht berührte. Dies führte dazu, daß ganz unterschiedliche politische, soziale oder kulturelle Gruppen sich auf das kreolische Geschichts- und Traditionsverständnis hin zubewegten und die gleichen Ahnen und historischen Vorbilder für ihre Zwecke bemühten, wie es

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die eingesessenen Eliten taten. Zentrale Topoi des offiziellen Geschichtsbilds wurden damit aus den sozialen Aufstiegserwartungen anderer sozialer Gruppen heraus bestärkt, nicht aber relativiert. Drittens schließlich waren es die politischen Gründe und die Anstrengungen zur Verteidigung des liberalen Entwicklungsmodells, die größere Teile der politischen Führungsgruppen dazu veranlaßten, die klassisch-liberalen Geschichtsbilder zu konservieren. Denn nicht allein, daß die klassisch-liberale Geschichtsbetrachtung in der politisch-sozialen Systemkrise des Landes um die Jahrhundertwende die Identität zu wahren und die Kontinuität ihrer Entwicklung zu bekräftigen, also die dringend erforderliche Stabilisierung der Gesellschaft in symbolischer Hinsicht zu gewährleisten schien. Hinzu kam vielmehr, daß die klassisch-liberalen Geschichtsanschauungen, obwohl sie letztlich ein Produkt der Bürgerkriegsepoche Argentiniens darstellten, im zeitgenössischen Kontext um die Jahrhundertwende und im Vergleich zu den teils kulturkritischen, teils kulturpessimistischen Geschichtsdeutungen der Revisionisten oder Kulturnationalisten das einzige Geschichtsbild darstellten, das im Grunde von einem tiefen Zukunftsoptimismus geprägt war und damit das Versprechen auf eine schnelle Überwindung der Krise in sich barg.

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Sofern nicht anders erwähnt, erschienen die Zeitungen in Buenos Aires. Die mit * gekennzeichneten Zeitungen wurden zitiert nach dem im "Boletín del Instituto de Historia Argentina y Americana" (Suplemento) publizierten "Inventario de Documentos publicados".

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Personenregister Agrelo, Emilio 92 Agrelo, José Pedro 43 Alberdi, Juan Bautista 54f., 60, 72f., 79, 84f., 89, 256 Alem, Leandro N. 260 Alsina, Adolfo 110f., 119 Alsina, Valentín 71, 108, 123 Altamira, Rafael 215, 218 Alvarez, Augustín 178 Alvarez, Juan 190 Alvear, Torcuata 155 Amuchástegui, José Antonio 219 Amunátegui, Miguel Luis 81 Anchorena, Tomás Manuel 44, 46, 108 Anderson, Benedict 13f. Angelis, Pedro 228 Artigas, José Gervasio 105, 130, 191 Ascasubi, Hilario 70, 233 Avellaneda, Nicolás 85f., 89, 112f., 119-122, 168, 214, 222 Ayarragaray, Lucas 180-182, 187 Azara, Félix 35, 146 Balcarce, Marcos 52 Balcarce, Mariano 155 Barros Arana, Diego 81, 87 Bavio, Ernesto A. 207 Becher, Emilio 209f. Belgrano, Manuel 31f., 42, 46, 78f., 81, 108, 121, 124, 137, 154f., 160, 207, 228 Belleuse, Carrier 155 Beresford, General 43 Berra, Francisco 227 Biedma, Juan J. 191, 215 Bolívar, Simón 130, 139 Botana, Natalio 174 Bouquet, Charles 119 Bravo, Mario 249 Brown, Admiral 124 Buckle, Henry Thomas 88 Buffon, Georges Luis Leclerc, Comte de 35

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Bunge, Carlos Octavio 178 Bustos, Manuel Vicente 112 Cabrera, Pablo 190 Calvo, Nicolás 107 Calzada, Rafael 219 Campo, Estanislao 70 Campinos, Carlos 257 Campomanes, Pedro Rodríguez, Graf von 32 Canter, Juan 174 Capdevila, General 256 Caprile, Gentile 222 Carbia, Rómulo 16, 195, 219 Carlota, Infantin 31 Carranza, Angel Juliano 188 Carril, Salvador María 36 Casas Redruello, Edelmiro 144 Castañeda, Francisco 70, 157 Castelli, Juan José 38, 228 Castro Barros 50, 158, 161 Centeno, Abgeordneter 163 Cisneros, Baltazar 31 Civit, Emilio 161f. Colmenares, Germán 92 Comte, Auguste 178 Corvalán, Manuel 211 Corvalán Mendilaharsu, Dardo 211 Crespo, Antonio 211 Darwin, Charles 178, 254 Dellepiane, Antonio 176, 189f. Derqui, Santiago 126 Descartes, René 34 Díaz de Solis, Juan 65 Dickmann, Enrique 249, 253 Domínguez, Luis L. 144-146, 149 Dorrego, Manuel 41, 153 Doubourdieu, Joseph 154 Droysen, Johann Gustav 9 Echeverría, Estebán 52-54, 72, 143 Eizaguirre, José Manuel 143 Elias, Norbert 20f. Erikson, Erik H. 21

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Escoíquiz, Juan 142 Espinosa, Aurelio 219 Esquiú, Mamerto 158 Estrada, Juan Manuel 86, 102, 146, 148, 159f., 233, 258 Favero, Luigi 229 Ferdinand VII., König von Spanien 31, 34, 40, 58, 142 Ferré, Pedro 55f., 58 Ferreyra, Andrés 143f. Figueroa Alcorta, José 192, 197, 206, 208 Fregeiro, demente 109, 121, 188 Frías, Andrés 139 Frías, Bernardo 190 Frías, Félix 59, 102, 123, 159, 161 Funes, Deán Gregorio 31, 66, 142, 144, 161 Gallo, Ezequiel 260 Gálvez, Manuel 183, 209-211 Gambón, Vicente 149f. Gandia, Enrique 182 Garay, Juan 215, 219 García, Juan Agustín 176 García, de Cossio, José Simón 132 García del Riega, Celso 219 Garzón, Ignacio 134 Garibaldi, Giuseppe 163, 223f., 228 Garmendia, José Ignacio 190 Ghiraldo, Alberto 237 Gobineau, Joseph Arthur, Comte de 181 Gómez, Eusebio 238 Gómez, Hernán 132 González, Joaquín V. 193 Gonzalo Pinaldo, Pilar 41 Gori, Pedro 246 Gorritti, José Ignacio 48f., 161 Goyena, Pedro 160-163 Groussac, Paul 109 Güemes, Martín 40, 42, 69, 184f., 239, 255, 282, 286 Guido, Tomás 74f. Gutiérrez, Eduardo 235f. Gutiérrez, Juan María 71f., 82, 145f., 200 Habermas, Jörgen 18f. Halperin Donghi, Tulio 72f., 184, 195, 232, 281

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Heras, General 208 Hernández, José 115 , 232f., 235, 240 Herder, Johann Gottfried 45, 52 Hidalgo, Bartolomé 70f., 233 Hidalgo, Toledo 145 Hobbes, Thomas 45 Humboldt, Alexander von 87 Ibargueren, Carlos 183, 209 Isabela, Infantin 214f. Ingenieros, José 177, 238 Iriarte, Tomás 74, 101, 108, 118, 150 Juárez Celman, Miguel 113, 124, 135, 139, 170, 172, 203f., 258, 281 Justo, Juan B. 248-251,254 Karl III., König von Spanien 32 Kolumbus, Christopher 219, 228 Krause, Karl Christian F. 264 Lallemant, Germán 248 Lamas, Andrés 53, 90, 109 Lamprecht, Karl 194 Las Casas, Bartolomé de 156 Lavalle, Juan 102, 124, 155 Le Bon, Gustave 179f., 185f. Leguizamón, Martiniano 190 Levene, Ricardo 190f., 195 Levillier, Roberto 216 Lombroso, Cesare 176 López, Estanislao 155 López, Vicente Fidel 76f., 86f., 97, 147, 151, 179, 214, 233 López Jordán 115f., 168, 232 Lugones, Leopoldo 183, 209-211, 239-241 Luna, Antonio 149 Machado, Antonio 70 Mansilla, Lucio 112 Manso de Noronha, Juana 138, 141, 145, 148f. Mantilla, Manuel 131f. Marat, Jean Paul 258 Matienzo, José Nicolás 176 Mazade, Charles 80 Mazo, Gabriel 265

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Mazzini, Giuseppe 222-224 Meinecke, Friedrich 12 Menéndez y Pelayo, Marcelino 207 Miguens, José 232 Miller, General 74 Mitre, Bartolomé 73, 76, 78-82, 84-89, 93, 95-97, 104-108, 110-112, 119125, 131f., 134, 140, 146-148, 151, 154, 184f., 188f., 192, 197f., 208, 212, 222, 241, 280, 285 Molinari, Diego Luis 194f. Moñino, José 32 Monteagudo, Bernardo 38f., 66f. Montesquieu, Charles, Baron de la Brfede et de 128, 138 Moreno, Mariano 38f., 42, 142, 155f., 162, 207. 252 Mosconi, Oberst 151 Natale, José 205 Nuñez, Ignacio 42 O'Connors, Arturo R. 210 Oestreich, Gerhard 176 Olazábal, Manuel 75, 118 Oribe, General 73 Oroño, Nicasio 118 Palacios, Alfredo L. 248f., 251f. Payró, Roberto 147 Paz, José María 68f., 74f., 124, 135, 155 Pellegrini, Carlos 124, 139, 162, 192, 258, 260 Pelliza, Mariano 151f. Peña, David 183, 191 Pe5a Enrique 188 Peñaloza, Angel Vicente 115f., 235 Perdriel, Julián 67 Pont, José Marco 188 Pressinger, Augustin 145, 148, 150 Prieto, Adolfo 98, 101, 211 Pueyrredón, Juan Martín 42f. Pueyrredón, Prilidiano 153 Puhle, Hans-Jürgen 17, 20 Pujol, Juan 100, 131 Quattrocchi-Woisson, Diana 17 Quesada, Ernesto 107, 176, 188, 193, 214, 231, 237, 239

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Quesada, Vicente G. 100f., 131 Quiroga, Juan Facundo 51, 78-80, 153, 183, 191, 256 Racedo, Eduardo 112 Ramírez, Francisco 100, 152, 164 Ramos, Juan P. 207 Ramos Mejía, José María 178-180, 187, 205f. Ravignani, Emilio 190, 194f. Repetto, Nicolás 249, 252, 257 Rivadavia, Bernardino 42, 51, 105, 121-124, 136, 151f., 161, 200, 207, 281 Rivaróla, Rodolfo 172 Robertson, William 35 Robespierre, Maximilian 258 Roca, Julio A. 112f., 119, 124, 135, 139, 151f., 157, 161, 169f., 172, 185, 192, 203f., 214, 222, 258, 28lf. Rock, David 260f. Rodin, Auguste 151 Rodríguez, Achaval 162 Rodríguez, Gregorio 191 Rojas, Ricardo 205f., 209f., 239 Rosa, Alejandro 188 Rosas, Juan Manuel 36, 44, 54, 57-60, 62, 69, 73, 79f., 95f., 98f., 102f., 105-107, 110, 112, 127f., 130, 138, 158, 161-163, 180-184, 187, 211, 222, 255, 280f. Rousseau, Jean-Jacques 142, 156 Rufo, Luis 219 Saavedra, Cornelio 42, 44 Sáenz Peña, Luis 173 Sáenz Peña, Roque 185, 240 Sagui, Miguel Esteves 96, 108 Saldías, Adolfo 182f. Sánchez, Tomasa 141 San Martín, General 44, 70, 78, 82, 108, 121-124, 130-132, 139, 151f., 154f., 160, 162, 207, 228, 241, 280f. Santamaría, Daniel 202 Sarmiento, Domingo Faustino 54, 72, 78-80, 112, 138, 141, 147, 179, 256 Sastre, Marcos 138, 143 Schieder, Theodor 11 Seguí, Juan Francisco 100 Sigal, Silvia 260 Sorie, Manuel 149 Spencer, Herbert 178, 254 Stoetzer, Carlos 264

333

Taboada, Familie 168 Tama, Juan 16 Taine, Hippolyte 88 Tejedor, Carlos 102, 106, 113, 120, 122, 155 Tomaso, Antonio 249, 253 Tonino, Inocencio 178 Toribio Medina, José 188 Torres, Luis María 194f. Trelles, Manuel Ricardo 88, 214 Unamuno, Miguel 219 Uriburu, Napoleón 112 Urien, Carlos 241 Urquiza, Justo José 44, 59f., 62, 95-97, 99f., 106f., 116, 127, 140, 149, 152, 155 Valle, Aristóbulo 260 Valle Iberlucea, Enrique 249-251 Varela, Felipe 115-118 Vedia, Mariano 207 Vélez Sarsfíeld, Dalmacio 98f., 108, 184f. Vicuña Mackenna, Benjamín 81f., 86 Vieytes, Hipólito 42, 199 Viktor Emanuel 223f. Weber, Max 10, 175, 270 Wilde, Eduardo 213, 258 Yrigoyen, Hipólito 172f., 220, 260, 262-264 Zeballos, Estanislao 213, 215 Zinny, Antonio 144 Zorraquín Becú, Ricardo 25f.

americana eystettensia Publikationen des Zentralinstituts für Lateinamerika-Studien der Katholischen Universität Eichstätt Herausgegeben von Karl Kohut und Hans Joachim König

A. AKTEN 1. D.W. Benecke; K. Kohut; G. Mertins; J. Schneider; A. Schräder (eds.): Desarrollo demográfico, migraciones y urbanización en América Latina. 1986 (erschienen im F. Pustet-Verlag Regensburg als Bd. 17 der Eichstätter Beiträge) 2. Karl Kohut (Hrsg.): Die Metropolen in Lateinamerika — Hoffnung und Bedrohung für den Menschen. 1986 (erschienen im F. Pustet-Verlag Regensburg als Bd. 18 der Eichstätter Beiträge) 3. Jürgen Wilke/Siegfried Quandt (Hrsg.): Deutschland und Lateinamerika. Imagebildung und Informationslage. 1987 4. Karl Kohut/Albert Meyers (eds.): Religiosidad popular en América Latina. 1988 5. Karl Kohut (Hrsg.): Rasse, Klasse und Kultur in der Karibik. 1989 6. Karl Kohut/Andrea Pagni (eds.): Literatura argentina hoy. De la dictadura a la democracia. 1989 7. Karl Kohut (Hrsg.) in Zusammenarbeit mit Jürgen Bahr, Ernesto Garzón Valdés, Sabine Horl Groenewold und Horst Pietschmann: Der eroberte Kontinent. Historische Realität, Rechtfertigung und literarische Darstellung der Kolonisation Amerikas. 1991 7a. Karl Kohut (ed.) en colaboración con Jürgen Bähr, Ernesto Garzón Valdés, Sabine Horl Groenewold y Horst Pietschmann: De conquistadores y conquistados. Realidad, justificación, representación. 1992 8. Karl Kohut (ed.): Palavra e poder. Os intelectuais na sociedade brasileira. 1991 9. Karl Kohut (ed.): Literatura mexicana hoy. Del 68 al ocaso de ¡a revolución. 1991 10. Karl Kohut (ed.): Literatura mexicana hoy II. Los de fin de siglo. 1993 11. Wilfried Floeck/Karl Lateinamerikas. 1993

Kohut

(Hrsg.):

Das

moderne

Theater

12. Karl Kohut/Patrik von zur Mühlen (Hrsg.): Alternative Lateinamerika. Das deutsche Exil in der Zeit des Nationalsozialismus. 1994

13. Karl Kohut (ed.): Literatura colombiana hoy. Imaginación y barbarie. 1994 14. Karl Kohut (Hrsg.): Von der Weltkarte zum Kuriositätenkabinett. Amerika im deutschen Humanismus und Barock. 1995

B. MONOGRAPHIEN, STUDIEN, ESSAYS 1. Karl Kohut: Un universo cargado de violencia. Presentación, aproximación y documentación de la obra de Mempo Giardinelli. 1990 2.

Jürgen Wilke (Hrsg.): Massenmedien in Lateinamerika. Erster Band: Argentinien — Brasilien — Guatemala — Kolumbien — Mexiko. 1992

3.

Ottmar Ette (ed.): La escritura de la memoria. Reinaldo Arenas: Textos, estudios y documentación. 1992

4. José Morales Saravia (Hrsg.): Die schwierige Modernität Lateinamerikas. Beiträge der Berliner Gruppe zur Sozialgeschichte lateinamerikanischer Literatur. 1993 5. Jürgen Wilke (Hrsg.): Massenmedien in Lateinamerika. Zweiter Band: Chile-Costa Rica-Ecuador-Paraguay. 1994 6.

Michael Riekenberg: Nationbildung, Sozialer Wandel und Geschichtsbewußtsein am Rio de la Plata (1810-1916). 1995

C. TEXTE 1. José Morales Saravia: La luna escarlata. Berlin Weddingplatz. 1991 2.

Carl Richard: Briefe aus Columbien von einem hannoverischen Officier an seine Freunde. Neu herausgegeben und kommentiert von Hans-Joachim König. 1992

3.

Sebastian Englert, OFMCap: Das erste christliche Jahrhundert der Osterinseln 1864-1964. Neu hg. v. Karl Kohut. 1995