Geschichtsbewusstsein und Zukunftserwartung in Pietismus und Erweckungsbewegung 9783666558429, 9783525558423, 9783647558424

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Geschichtsbewusstsein und Zukunftserwartung in Pietismus und Erweckungsbewegung
 9783666558429, 9783525558423, 9783647558424

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Arbeiten zur Geschichte des Pietismus

Im Auftrag der Historischen Kommission zur Erforschung des Pietismus Herausgegeben von Hans Schneider, Christian Bunners und Hans-Jürgen Schrader Band 59

Vandenhoeck & Ruprecht

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Geschichtsbewusstsein und Zukunftserwartung in Pietismus und Erweckungsbewegung Herausgegeben von Wolfgang Breul und Jan Carsten Schnurr

Vandenhoeck & Ruprecht

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Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft

Mit 5 teilweise farbigen Abbildungen Umschlagabbildung: Illustration aus Johann Albrecht Bengel, Erklärte Offenbarung Johannis oder vielmehr Jesu Christi (Auszug). Mit freundlicher Genehmigung durch Frau Heike Heuser, Universitätsbibliothek Marburg. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. ISBN 978-3-525-55842-3 ISBN 978-3-647-55842-4 (E-Book) Ó 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen/ Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Satz: Konrad Triltsch Print und digitale Medien GmbH, Ochsenfurt Druck und Bindung: CPI buchbücher.de gmbh, Birkach Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

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Umseitige Abbildung aus: Johann Albrecht Bengel: Erkl•rte Offenbarung Johannis oder vielmehr Jesu Christi. Aus dem revidirten Grund-Text ìbersetzet, durch die prophetische Zahlen aufgeschlossen und allen, die auf das Werk und Wort des HErrn achten, und dem, was vor der Thìr ist, wìrdiglich entgegen zu kommen begehren, vor Augen geleget. Stuttgart 31758 (1740).

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Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Hartmut Lehmann Pietismusforschung nach dem Cultural Turn . . . . . . . . . . . . . . .

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Geschichtsbewusstsein und Zukunftserwartung im Pietismus . . 27 Wolf-Friedrich Schäufele Geschichtsbewusstsein und Geschichtsschreibung um 1700 . . . . . . .

29

Heike Krauter-Dierolf Hoffnung künftiger besserer Zeiten Die Eschatologie Philipp Jakob Speners im Horizont der zeitgenössischen lutherischen Theologie . . . . . . . . . . . . . . . . .

56

Wolfgang Breul August Hermann Franckes Konzept einer Generalreform . . . . . . . .

69

Jonathan Strom Krisenbewusstsein und Zukunftserwartung bei Friedrich Breckling . .

84

Douglas H. Shantz Radical Pietist Eschatology as a Complex Phenomenon Differing Chiliastic Views in Jakob Böhme, J.W. Petersen, and Conrad Bröske . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 Claudia Drese Der »Faden« der Geschichte Zur Evaluation der Vergangenheit durch den Halleschen Pietismus

. . 115

Dietrich Meyer Chiliastische Hoffnung und eschatologische Erwartung innerhalb der Brüdergemeine und der Mission bei Zinzendorf und Spangenberg . . . 129

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Inhalt

Daniel Fulda Wann begann die ›offene Zukunft‹? Ein Versuch, die Koselleck’sche Fixierung auf die ›Sattelzeit‹ zu lösen . 141

Geschichtsbewusstsein und Zukunftserwartung in der Erweckungsbewegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 Manfred Jakubowski-Tiessen Zeit- und Zukunftsdeutungen in Krisenzeiten in Pietismus und Erweckungsbewegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 Ulrich Muhlack Die Brüder Leopold und Heinrich Ranke im Spannungsfeld von evangelischer Erweckung und historischem Denken . . . . . . . . . . . 192 Jan Carsten Schnurr »Das predigt uns diese Geschichte laut« Geschichtsbewusstsein und Geschichtsschreibung der Erweckungsbewegung im deutschen Vormärz . . . . . . . . . . . . . . 221 Michael Kannenberg »… aber das Grübeln habe ich seitdem aufgegeben« Individualisierung und Spiritualisierung der Zukunftserwartungen am Beispiel des württembergischen Millenaristen Johann Jakob Friederich 235 Judith Becker Zukunftserwartungen und Missionsimpetus bei Missionsgesellschaften in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . 244 Fred van Lieburg Erinnerung, Erweckung und Erwartung im niederländischen Protestantismus 1813 – 1848 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271 Lucian Hölscher Die Nähe des Endes: Pietistische und säkulare Zukunftsentwürfe in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289

Geschichtsläufe und Lebensläufe . . . . . . . . . . . . . . . . . . 301 Hans-Jürgen Schrader Kanonische neue Heilige Sammelbiographien des Pietismus und der Erweckungsbewegung . . . 303

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Inhalt

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Christine Lost »Die Brüdergemeine ist meine eigentliche Heimat …« Zukunftserwartung und Lebensweg in Herrnhuter Lebensläufen . . . . 339 Shirley Brückner Die Providenz im Zettelkasten Divinatorische Lospraktiken in der pietistischen Frömmigkeit . . . . . 351 Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 367 Ortsindex . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 369 Personenindex

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 372

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Vorwort

Die Forschung zu Pietismus und Erweckungsbewegung hat in den vergangenen Jahren verstärkt kulturgeschichtliche Fragestellungen einbezogen.1 Zu den Brennpunkten der neueren kulturgeschichtlichen Diskussion zählen auch die Themenfelder »Geschichtsbewusstsein« und »Zukunftserwartung«. Sie sind für das Verständnis des Pietismus im 17./18. und der Erweckungsbewegung im 19. Jahrhundert grundlegend, denn die beiden großen evangelischen Erneuerungsbewegungen waren nicht allein durch ihr Erleben geistiger und gesellschaftlicher Umbrüche, sondern auch durch ihren ausgeprägten Bezug zur Bibel permanent auf Fragen der Geschichte gewiesen. Vor diesem Hintergrund entwickelten Pietisten und Erweckte Vergangenheitsbilder, Zeitdeutungen und Endzeitvorstellungen, die die weitere Kirchen- und Geistesgeschichte beeinflussten und die zum Teil bis heute fortwirken. Untersuchungen verschiedener Disziplinen haben hier in den letzten Jahren neue Einsichten gebracht. Viele von ihnen werden in diesem Band vorgestellt, miteinander in Beziehung gesetzt und um neue Aspekte und Fragestellungen erweitert. Der Band soll so zugleich Zwischenbilanz und Ausgangspunkt neuer Forschungen sein. Die hier versammelten Beiträge gehen auf eine internationale und interdisziplinäre Tagung zurück, die unter der Verantwortung der EvangelischTheologischen Fakultät Mainz und des Interdisziplinären Zentrums für Pietismusforschung Halle vom 23. bis 25. März 2011 in den Franckeschen Stiftungen zu Halle an der Saale stattfand. Dabei kamen neben renommierten Pietismusforschern und Kulturhistorikern auch mehrere Nachwuchswissenschaftler zu Wort. Die für die Konzeption der Tagung wichtige Gegenüberstellung von Pietismus (um etwa 1700) und Erweckungsbewegung (um etwa 1830) bildet die Grundstruktur dieses Bandes. Sie macht Kontinuitäten und Diskontinuitäten sichtbar, die in der Pietismusforschung bislang noch kaum wahrgenommen wurden. Das Nebeneinander von Geschichtsbewusstsein und Zukunftserwartung wiederum trägt der Tatsache Rechnung, dass die beiden Felder als zwei Formen von Zeitwahrnehmung unmittelbar miteinander verbunden sind. Neben dem einleitenden Überblick zur »Pietismusforschung nach dem Cultural Turn« sind in diesem Band acht bzw. sieben Aufsätze zu Ge1 Vgl. dazu den Beitrag von Hartmut Lehmann in diesem Band.

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Vorwort

schichtsbewusstsein und Zukunftserwartung im Pietismus und in der Erweckungsbewegung versammelt. Dabei werden bewusst auch Fachdiskussionen, die über die Pietismusforschung im engeren Sinn hinausgreifen, etwa Debatten zur Historiographiegeschichte und ihren Protagonisten sowie zur Koselleck’schen These von der »Öffnung der Zukunft«, aufgenommen und weitergeführt. Ein abschließender Abschnitt mit drei Beiträgen behandelt unterschiedliche Formen biographischer Geschichtsdeutung, die jeweils beide Frömmigkeitsbewegungen betrafen. Der für den ersten Hauptteil vorgesehene Beitrag über Gottfried Arnolds Unparteyische Kirchen- und KetzerHistorie (1699/1700) musste aufgrund einer längeren Erkrankung des Autors leider entfallen. Unser Dank gilt den Autorinnen und Autoren der Beiträge, die ihre spezifische Perspektive und Fachkompetenz in ein facettenreiches Gesamtbild eingebracht und an etlichen Stellen Neuland für die Forschung betreten haben. Erwähnen möchten wir auch Ulrich Gäbler (Basel), Thomas K. Kuhn (Greifswald), Achim Landwehr (Düsseldorf) und Gerhard Maier (Tübingen), welche die Gesprächsleitung einzelner Sektionen der Tagung und weitere Vortragsteile übernahmen und zur Diskussion wesentlich beitrugen. Dem Publikationsausschuss der Historischen Kommission zur Erforschung des Pietismus danken wir für die Aufnahme des Bandes in die Reihe Arbeiten zur Geschichte des Pietismus. Ein besonderer Dank gilt auch der Deutschen Forschungsgemeinschaft, welche die Tagung in Halle und den Druck des Sammelbandes großzügig gefördert hat. Hans Joachim Selzer (Driedorf-Roth) hat einen namhaften Betrag zur Drucklegung des Tagungsbandes beigesteuert, wofür wir ebenfalls herzlich danken. Bei Tagungsorganisation und weiteren Aufgaben haben uns Christian Soboth, Annegret Jummrich (beide Halle), Rachel Friedrich und Andrea Sudiana (beide Mainz) mit Rat und Tat unterstützt. Das Register hat Christoph Becker (Mainz) erstellt. Christoph Spill als zuständiger Fachlektor sowie weitere Mitarbeiter von Vandenhoeck & Ruprecht haben die Entstehung dieses Buches kompetent begleitet. Mainz / Gießen im Juni 2013

Wolfgang Breul Jan Carsten Schnurr

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Hartmut Lehmann

Pietismusforschung nach dem Cultural Turn

In den vergangenen drei Jahrzehnten wurden in einem geradezu atemberaubenden Tempo immer wieder neue Vorschläge für eine Neuorientierung der kulturwissenschaftlichen Forschung vorgelegt. Kein angekündigter und anscheinend dringend gebotener Paradigmenwechsel war aber von Dauer ; kein Turn innerhalb des immer weiter verzweigten Systems von Cultural Turns, der nicht bald von weiteren Turns in Frage gestellt wurde. Englische, amerikanische, französische, italienische und auch einige deutsche Soziologen und Anthropologen beteiligten sich an diesem Wettlauf mit nicht nachlassendem Eifer ebenso wie Sprach- und Literaturwissenschaftler. Selbst Kunst- und Musikhistoriker meldeten sich zu Wort. Ohne Scheu wurde vor allem von Literaturwissenschaftlern proklamiert, nach Jahrzehnten der methodologischen Stagnation ginge es nun um »produktive Grenzüberschreitungen, Internationalität, Perspektivenvielfalt und Pluralisierung der kulturwissenschaftlichen Landschaft«1. Keiner der Propheten der schönen neuen Welt einer Erkenntniserweiterung mit Hilfe der Kulturwissenschaften weinte der sozialgeschichtlichen Forschung, die noch wenige Jahre zuvor als entscheidende Perspektive jeder historischen Arbeit gepriesen worden war, eine Träne nach. Warum die in den letzten Jahren und Jahrzehnten unter dem Label des Cultural Turn proklamierte kulturwissenschaftliche Forschung eine so faszinierende Anziehungskraft ausübte, wissen wir bis heute nicht eigentlich, und ebenso sind meines Wissen bisher die Ursachen für den rasanten Perspektivenwechsel innerhalb der neuen, mit dem Begriff Cultural Turn prägnant bezeichneten, aber zugleich sehr vielgestaltigen Forschungsrichtung noch nicht erforscht. Vielleicht verführte die Abschottung und doch stets vorhandene Konkurrenz zwischen einzelnen geistes- und sozialwissenschaftlichen Disziplinen dazu, unkonventionelle neue methodische Ziele zu proklamieren, die dem eigenen Fach eine Führungsrolle verschaffen sollten. Vielleicht lud eine allzu lange aufgestaute Unzufriedenheit mit den traditionellen geisteswissenschaftlichen Methoden geradezu zu neuen Experimenten ein. Möglicherweise führte aber auch die verschärfte Konkurrenz in den jeweiligen Fächern dazu, dass ambitionierte junge Forscherinnen und Forscher die Grenzen zwischen den Disziplinen in Frage stellten. Denn indem sie sich auf 1 Ansgar Nìnning und Vera Nìnning (Hg.): Konzepte der Kulturwissenschaften. Theoretische Grundlagen – Ansätze – Perspektiven. Stuttgart 2003, 2.

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Hartmut Lehmann

provokante Weise mit neuen Ideen hervortaten und neue methodische Zugangsweisen propagierten, konnten sie relativ rasch ein eigenes Profil gewinnen und in der jeweiligen nationalen sowie auch in der internationalen Wissenschaftsszene bekannt werden. Doch diese Fragen sollen uns hier nicht weiter interessieren. Ich wurde von den Herausgebern dieses Bandes vielmehr gebeten, nach der möglichen Bedeutung, das heißt nach dem möglichen Innovationspotential des Cultural Turn für die Pietismusforschung zu fragen. Anders formuliert: Was können Pietismusforscher von den diversen Vorschlägen für eine Neuorientierung der Kulturwissenschaften lernen, und was kann die Pietismusforschung insgesamt profitieren, wenn man sich auf die Fragen einlässt, die im Zuge der Diskussionen über den Cultural Turn aufgeworfen wurden. Genauer gefasst: Welche dieser Vorschläge versprechen, wenn man sie auf Themen aus der Geschichte des Pietismus anwendet, neue, vielleicht sogar grundlegend neue Einsichten. Ebenso wichtig ist aber auch die umgekehrte Frage, ob sich denn der Aufwand überhaupt lohnt, wenn man die im Rahmen des Cultural Turn formulierten Perspektiven in die Pietismusforschung einführt, von einer Übernahme der teilweise höchst komplizierten neuen Terminologie ganz zu schweigen. Um die Dimensionen des Problems anzudeuten, das es zu diskutieren gilt, wenigstens einige kurze Bemerkungen zu den wichtigsten Zielsetzungen, die von den verschiedenen Vertretern des Cultural Turn und des eng damit verschwisterten Linguistic Turn benannt werden2. Es gelte alle überlieferten Texte noch viel genauer als bisher zu lesen, da nur auf diese Weise deren eigentliche Bedeutung sichtbar werde, so die Vertreter des Interpretive Turn. »Close reading« und »thick description« heißen die von dem in Princeton lehrenden Anthropologen Clifford Geertz propagierten Zauberformeln. Alle Aussagen sollten genau beobachtet, analysiert und hinterfragt werden, so die damit zusammenhängende Forderung nach einem Reflexive Literary Turn. Alle Handlungen, Ausdrucksformen und Rituale besäßen eine eigene Bedeutung, die man nur erkenne, wenn man die Forderung eines Performative Turn ernst nehme. Allen Bildern eigneten eigene Sinngehalte, so die Vertreter des Aesthetic oder Iconic Turn. Noch stärker als bisher sollte man sich mit Raumvorstellungen befassen, mit realen ebenso wie mit imaginären Räumen, so die Aufforderung der Vertreter des Spatial Turn. Alle Kommunikationsformen seien besonders zu untersuchen. Das ist dann der Ansatzpunkt im Medial Turn. Insbesondere gelte es in einer global gewordenen Kulturwissenschaft nicht mehr nur von der Ersten auf die Dritte Welt zu blicken, sondern sich auch die Sicht der Dritten Welt zu eigen zu machen. Das steht im Zentrum sowohl des Global Turn wie dann auch des Postcolonial Turn, und besonders seien in diesem Zusammenhang die Probleme einer Übersetzung von einer Sprache und Kultur in eine andere Sprache und Kultur sorgfältig zu reflektieren, das ist dann der Trans2 Dazu Doris Bachmann-Medick: Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften. Hamburg 2006, 32009.

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Pietismusforschung nach dem Cultural Turn

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lational Turn. Im Anschluss an die Erkenntnisse von Maurice Halbwachs verweisen Vertreter des Cultural Turn insbesondere auf Theorien des kulturellen Gedächtnisses, auf separate und exklusive Erinnerungsorte und Erinnerungsformen ebenso wie auf explizite wie implizite Erinnerungsakte, das sind die in den vergangenen Jahren vor allem von Aleida und Jan Assmann ausgeloteten Varianten des Mnemonic Turn. Bestimmte Begriffe und bestimmte Sichtweisen haben im Rahmen des Cultural Turn eine besondere Bedeutung erlangt, so zum Beispiel Perzeption und Memoria, Identität und Mentalität, Performanz und Repräsentation. Wer diese Stichworte benützt, hat, so scheint es, den Sinn des Cultural Turn verstanden. An dieser neuen Terminologie scheiden sich aber nicht selten die Wissenschaftlergenerationen. Doch nun zum eigentlichen Thema. Mit einer ironischen Distanz zu den diversen Forderungen, die von den Vertretern des Cultural Turn vorgetragen werden, ist es dabei freilich nicht getan. Es gilt vielmehr, diese Vorschläge als wissenschaftliche Herausforderungen durchaus ernst zu nehmen. Nur dann profitiert man von dem wissenschaftlichen Potential, das in ihnen steckt. Ehe ich einige Schlussfolgerungen diskutiere, versuche ich, an sechs Beispielen zu zeigen, welche neuen Perspektiven sich möglicherweise für die Pietismusforschung ergeben, wenn man die Fragen aufgreift, die von den Kulturwissenschaften im Zuge des Cultural Turn aufgeworfen werden. Erstes Beispiel: die Anregungen aus den Diskussionen im Rahmen des Spatial Turn. Für die Pietisten ist es kennzeichnend, dass sie nicht reale und imaginäre Räume unterscheiden, so wie das in Beiträgen zum Spatial Turn regelmäßig geschieht. Für die Pietisten sind vielmehr alle Räume, in denen sie sich bewegen und in denen sie sich orientieren, reale Gegebenheiten. So kennen die Halleschen Pietisten etwa sehr wohl die tatsächliche geographische Distanz von Halle nach Berlin oder auch den Umfang des brandenburgisch-preußischen Staates, in dem Halle liegt und in dem die meisten Absolventen der Franckeschen Stiftungen eine Anstellung fanden. Genauso real ist für sie aber auch die heilsgeschichtliche Kategorie des Reiches Gottes. Denn Halle ist für sie ein Stützpunkt in diesem Reich. Alles, was in Halle geschieht, soll nach ihrer Überzeugung einen Beitrag zum weiteren Aufbau des Reiches Gottes leisten. Und dieses Reich Gottes ist viel größer und viel wichtiger als BrandenburgPreußen. Überall dort, wo Brüder und Schwestern leben und sich für den Aufbau des Reiches Gottes engagieren, sind für sie weitere Stützpunkte des Reiches Gottes. Seit 1707 gehört dazu mit Tranquebar sogar ein Ort im fernen Südindien, seit den 1730er Jahren die neugegründete britische Kolonie Georgia. Das durchaus spannende Problem, das sich in diesem Zusammenhang stellt und das bisher noch nicht genügend Beachtung gefunden hat, ist die Frage, wie Hallesche Pietisten den Gegensatz und den Zusammenhang zwischen diesen verschiedenen Räumen verstanden und von Fall zu Fall beurteilten. Welche Kategorie hatte für sie denn Priorität, wenn zu entscheiden war, ob sie sich nach den Gegebenheiten der realen politischen und wirtschaftlichen Welt richten sollten oder nach den Erfordernissen, die der weitere Aufbau des

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Hartmut Lehmann

Reiches Gottes an sie stellte. Konkret: Hat August Hermann Francke den preußischen König Friedrich Wilhelm I. getäuscht, als dieser von ihm nach 1713 verlangte, seine Aktivitäten auf Brandenburg-Preußen zu konzentrieren, Francke aber trotzdem seine internationalen Beziehungen nicht kappte? Oder sah Francke diesen Gegensatz gar nicht, weil er glaubte, seine Verpflichtungen seinem König gegenüber ließen sich in heilsgeschichtlicher Hinsicht sehr wohl mit seiner Arbeit für das Reich Gottes verbinden? Auf diese Fragen haben wir bislang noch keine schlüssigen Antworten. Wie kaum betont werden muss, waren die Raumvorstellungen der Herrnhuter auf eine geradezu dramatische Weise viel weiter als diejenigen ihrer Brüder in Halle. Denn schon nach wenigen Jahren hatte das Reich Gottes, dem Zinzendorf ebenso wie vor ihm schon Francke dienen wollte, eine globale Dimension. Die Herrnhuter schufen Missionsstationen auf allen Kontinenten der Welt, Australien bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts ausgenommen3. Gewiss: manche dieser Stationen waren winzige Punkte auf großen Kontinenten, so dass von einer eigentlichen Durchdringung oder gar nachhaltigen Beeinflussung der Menschen in diesen fremden Welten nicht die Rede sein kann. Herrnhuter Brüder und Schwestern konnten aber in dem Bewusstsein leben, sie würden allen Völkern der Welt das Evangelium bringen. Wichtig ist auch die Beobachtung, dass Zinzendorf es nicht bei der Errichtung von Missionsstationen beließ, sondern dass er weitere Gemeinorte gründete, weitere Stützpunkte, von denen aus die Arbeit der Herrnhuter organisiert werden konnte. In einem sehr viel höheren Maß als die Pietisten in Halle waren die Herrnhuter deshalb von den politischen Grenzen ihrer Zeit unabhängig. Als Zinzendorf in den späten 1730er Jahren im Alten Reich auf immer mehr Widerstände stieß, überlegte er vorübergehend sogar, die eigentliche Zentrale der gesamten Herrnhuter Missionsarbeit nach Bethlehem in Pennsylvania zu verlegen und damit in ein Gebiet, in dem er weitestgehend von politischem Druck befreit sein würde. Die Grundprobleme, die sich bei einer Diskussion der Raumvorstellungen der Pietisten stellen, sind damit benannt: Wie ergänzen sich im Selbstverständnis der Pietisten die verschiedenen Räume, in denen sie leben? Wann und wo kommt es zu Konflikten zwischen der Notwendigkeit, politische Grenzen zu respektieren, und dem Wunsch, die Grenzen des Reiches Gottes auszudehnen? Zu diesem Komplex gibt es auch Beispiele aus der Geschichte des 19. Jahrhunderts. Was hieß es beispielsweise für die Basler Mission, die nach ihrem eigenen Verständnis ganz dem Aufbau des Reiches Gottes gewidmet war, dass in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts die meisten der in Basel ausgebildeten Missionare von englischen Missionsgesellschaften eingestellt, in britischen Kolonien eingesetzt und auf diese Weise Teil der 3 Dazu grundlegend Gisela Mettele: Weltbürgertum oder Gottesreich. Die Herrnhuter Brüdergemeine als globale Gemeinschaft 1727 – 1857. Göttingen 2009. Siehe besonders 277 ff. die »Übersicht über die weltweiten Siedlungen und Missionsstationen 1727 – 1857«.

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Pietismusforschung nach dem Cultural Turn

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Machtausübung innerhalb des britischen Imperiums wurden?4 Ein weiteres Beispiel. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts versuchten verschiedene europäische Mächte ebenso wie die USA, in China Fuß zu fassen. Waren sich die evangelischen Missionare, die in China dienten und von denen viele zu den Pietisten gerechnet werden können, bewusst, wie weit ihre Arbeit politischen und wirtschaftlichen Interessen zugute kam, die mit der Ausbreitung des Reiches Gottes überhaupt nichts zu tun hatten5. Für fromme Christen ist das Reich Gottes auch noch in unserer Gegenwart eine Realität, die ebenso real ist wie die reale politische und wirtschaftliche Welt. Ein junger Mann, der einer Pfingstgemeinde angehört, erzählte mir vor einiger Zeit begeistert, wo Gott, so seine Worte, in unseren Tagen ungeahnte neue Erweckungen schaffe, und dann zählte er einige Landschaften und Orte auf. Er nannte eine Stadt in Kansas, die San Francisco Bay Area, Orte in Südkorea, Taiwan und Brasilien. Das sind in seinen Augen in unserer Gegenwart die in heilsgeschichtlicher Hinsicht entscheidenden Räume. Dort passiert gegenwärtig das, wovon das weitere Schicksal der ganzen Menschheit abhängt. Wichtig sind seiner Meinung nach nicht die Aktionen der großen Mächte, nicht die Staaten, wo politische Revolutionen passieren, nicht die Regionen, wo weiteres Öl gefunden wird – weder Ägypten, noch Libyen oder Afghanistan. Gottes Reich hat für ihn eine andere Dimension und er zögert, scheint mir, nicht, sein Leben ganz nach dieser anderen Dimension auszurichten. Zweites Beispiel: der neue Blick auf die Bedeutung der Kommunikation. Pietismusforscher wissen seit langem, wie wichtig die Kommunikation zwischen erweckten Brüdern und Schwestern von Anfang an war. Die von Johannes Wallmann edierten Briefe von Philipp Jakob Spener zeigen überaus deutlich, wie eng die Verbindung von Spener mit Hunderten von frommen Männern und Frauen war. Wenn erst einmal der komplette Briefwechsel von Spener, von August Hermann Francke sowie auch der ausgedehnte Briefwechsel von Zinzendorf im Druck vorliegen – man wagt kaum zu hoffen, dass diese Projekte in absehbarer Zeit erfolgreich durchgeführt werden –, erst wenn also die Briefwechsel der führenden Pietisten ediert sind, kann man diesen Komplex insgesamt beurteilen. Immerhin gibt es auf diesem Gebiet aber bemerkenswerte Fortschritte. So kommt die Edition des Bengel-Briefwechsels gut voran, und zu begrüßen ist es auch, dass Ulrike Gleixner das gesamte Korrespondentennetz der »Halleschen Berichte« erschließen möchte6. Rainer Lächele verdanken wir eine genaue Analyse der »Sammlung auserlesener 4 Im Archiv der Basler Mission liegt reiches Material, dessen Auswertung eine Antwort auf diese Frage möglich machen würde. 5 Eine Antwort auf diese Frage ist wesentlich schwieriger, da sie umfangreiche Recherchen in zahlreichen Missionsarchiven voraussetzt. 6 Ulrike Gleixner: »Expansive Frömmigkeit. Das hallische Netzwerk der Indienmission im 18. Jahrhundert«. In: Heike Liebau, Andreas Nehring und Brigitte Klosterberg (Hg.): Mission und Forschung. Translokale Wissensproduktion zwischen Indien und Europa im 18. und 19. Jahrhundert. Tübingen 2010, 57 – 66.

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Hartmut Lehmann

Materien zum Bau des Reichs Gottes« in den Jahrzehnten von 1730 bis 17607. Der gesamte Bereich der »Erbauungszeitschriften als Kommunikationsmedium des Pietismus«, so der Untertitel der Arbeit von Lächele, ist aber noch lange nicht erschlossen. Besonders viel wäre hier noch für das 19. und auch für das 20. Jahrhundert zu leisten8. Um den Forderungen des medial turn zu genügen, wäre zum Beispiel aber zu fragen, wie weit die pietistischen Kommunikationsmedien und die pietistischen Kommunikationsusancen die pietistische Vorstellung vom Reich Gottes geprägt, gar konstituiert haben. Zu erforschen wäre insbesondere, ob und wie weit sich diese Vorstellungen in dem Maße änderten, in dem sich auch die Formen und die Reichweite pietistischer Medien änderten, von den erwähnten »Halleschen Berichten« im 18. Jahrhundert bis hin zu den elektronischen Medien, die von den späten Nachfolgern des Pietismus im späten 20. Jahrhundert und zu Beginn des 21. Jahrhunderts auf virtuose Weise zur Verbreitung ihrer Botschaft eingesetzt werden. In diesem Bereich bleibt, so scheint mir, noch viel zu tun. Drittes Beispiel: die von Pietisten geschriebenen, verbreiteten und gelesenen Texte. Unter dem Titel »Die Sprache Canaan. Pietistische Sonderterminologie und Spezialsemantik als Auftrag der Forschung« hat Hans-Jürgen Schrader im vierten Band der »Geschichte des Pietismus« auf eindrucksvolle, präzise Weise die Fragen diskutiert, die es in diesem Zusammenhang zu bedenken gilt9. Sowohl Anhänger wie Gegner hätten, so Schrader, »das Bewusstsein einer ausgeprägten Eigensprachlichkeit der pietistischen Erwecktenkreise« besessen. Dazu habe, so weiter Schrader, »ein beständiges metaphorisches Adaptieren biblischer Formeln und Wendungen« gehört, ferner »ein Einmischen von gemeinsprachlich unbekannten Wörtern und eine hemmungslose Lust am Allegorisieren«. Für die »Weltkinder« sei diese Sprache kaum verständlich gewesen. »Den entschiedenen Christen aller Couleurs« hätte sie aber, so Schrader, als »Erkennungszeichen und Passepartout einer innigen Herzensverständigung« gedient. Schrader geht ein auf »Fremdbezeichnungen und Eigenwahrnehmungen« und markiert die »Varianzpotentiale der Pietistensprache«. Ausführlich diskutiert er die Meriten, die August Langen schon vor einem halben Jahrhundert mit seiner großen Un7 Rainer L•chele: Die ,Sammlung auserlesener Materien zum Bau des Reichs Gottes‘ zwischen 1730 und 1760. Erbauungszeitschriften als Kommunikationsmedium des Pietismus. Tübingen 2006. 8 Einzelne Studien liegen aber vor, so etwa Tania Ünlìdag: Mentalität und Literatur. Zum Zusammenhang von bürgerlichen Weltbildern und christlicher Erziehungsliteratur im 19. Jahrhundert am Beispiel der Wuppertaler Traktate. Köln 1993. 9 Hans-Jìrgen Schrader : »Die Sprache Canaan. Pietistische Sonderterminologie und Spezialsemantik als Auftrag der Forschung«. In: Hartmut Lehmann (Hg.): Geschichte des Pietismus, Bd. 4: Glaubenswelt und Lebenswelten. Göttingen 2004, 404 – 427, Zitate 404 f., 416. Siehe auch Hans-Jìrgen Schrader : »Die Sprache Canaan. Auftrag der Forschung«. In: Udo Sträter u. a.(Hg.): Interdisziplinäre Pietismusforschungen. Beiträge zum Ersten Internationalen Kongress für Pietismusforschung 2001. Tübingen 2005, Bd. 1, 55 – 81.

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Pietismusforschung nach dem Cultural Turn

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tersuchung über den Wortschatz des Pietismus erworben hat10 und die weiteren Forschungen auf diesem Gebiet. Das alles ist hier nicht zu wiederholen. Nachdrücklich unterstreiche ich aber Schraders Forderung, es gelte auch der »Individualsprache« einzelner Pietisten die notwendige Aufmerksamkeit zu schenken. Man wird es mir nachsehen, wenn ich als gebürtiger Reutlinger mit Blick auf die württembergischen Pietisten ergänze, dass sich auch eine genauere Erforschung der pietistischen Regionalsprachen lohnen würde. Nur wer das alte, inzwischen teilweise schon vergessene schwäbische Idiom beherrscht, kann, so scheint mir, die Texte von Oetinger oder von Johann Michael Hahn verstehen. Auch auf den weiten Bereich der pietistischen Literatur will ich hier nicht ausführlich eingehen. An dieser Stelle kann ich vielmehr wiederum auf HansJürgen Schraders bahnbrechende Arbeiten hinweisen11. In dem bereits erwähnten vierten Band der »Geschichte des Pietismus« hat er Gattungen und Leistungen der pietistischen Literatur sowie deren literaturgeschichtliche Bedeutung beschrieben12. Deshalb brauche ich hier für die weitere Erforschung der Wirkung pietistischer Texte im 18. Jahrhundert nicht eigene Vorschläge machen. Betonen möchte ich jedoch, dass wir über die Bedeutung der pietistischen Buch- und Traktatproduktion des 19. und des 20. Jahrhunderts bisher noch nicht besonders viel wissen. Dafür gibt es, so scheint mir, durchaus nachvollziehbare Gründe. So dürfte die schiere Fülle sowie auch der repetitive Charakter der einschlägigen Publikationen viele Forscher davon abschrecken, sich mit diesem Thema zu beschäftigen. Dazu kommt, dass die meisten Texte heute nur noch schwer erreichbar sind, da die großen Bibliotheken die religiöse Trivialliteratur beziehungsweise das, was die auf dem Gebiet der »klassischen Literatur« geschulten Bibliothekare als religiöse Trivialliteratur einstuften, nicht sammelten. Man ist also auf besondere Bestände angewiesen, so wie sie zum Beispiel in der Diakonissenanstalt in Kaiserswerth zu finden sind oder auch im Archiv des Gnadauer Gemeinschaftsverbandes13 und bei der Liebenzeller Mission. Bei einer Erschließung dieser Materialien dürfte die größte Schwierigkeit darin bestehen, dass für »fromme Literatur«, wenn ich sie verkürzt so bezeichnen darf, seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts ein lebendiger transatlantischer Markt bestand. Für die Bekehrungsarbeit geeignete erbauliche Geschichten wurden übersetzt und übernommen, ohne dass dies besonders angemerkt wurde. Manche Geschichten wanderten hin und her, von London nach Basel, von Basel nach Amsterdam, von Amsterdam nach Philadelphia und von dort wieder zurück nach London. Wer sich 10 Tübingen 1954, 21968. 11 Vor allem Hans-Jìrgen Schrader: Literaturproduktion und Büchermarkt des radikalen Pietismus. Johann Henrich Reitz’ ›Historie der Wiedergeborenen‹. Göttingen 1989. 12 Hans-Jìrgen Schrader : »Die Literatur des Pietismus – Pietistische Impulse zur Literaturgeschichte. Ein Überblick«. In: Hartmut Lehmann (Hg.), Geschichte des Pietismus, Bd. 4: Glaubenswelt und Lebenswelten. Göttingen 2004, 386 – 403. 13 Für diesen Hinweis danke ich Klaus vom Orde.

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in diesem komplexen Gelände auskennen will, muss mit Bibliotheken und Archiven auf beiden Seiten des Atlantiks vertraut sein und sich in Europa nicht nur mit deutschen und Schweizer Beständen beschäftigen, in denen Materialien der evangelikalen, charismatischen und fundamentalistischen Gruppierungen hinterlegt sind, sondern auch mit den entsprechenden Sammlungen in den Niederlanden und in Großbritannien. Viertes Beispiel: alle Aspekte, die im Rahmen des Cultural Turn unter dem Begriff des »Habitus« diskutiert werden sowie neuerdings auch in der sogenannten kulturwissenschaftlichen Fremdheitsforschung, der Xenologie. Was wissen wir über das kulturell Eigene im Pietismus, was über das für die Pietisten kulturell Fremde? Gewiss, aus einigen württembergischen Dörfern des 18. und des 19. Jahrhunderts ist bekannt, dass ein Teil der Familien in die »Stund« ging, während andere sich im »Wirtshaus« trafen. Hier kann man relativ leicht nachvollziehen, wie die einen über die anderen redeten und was die einen von den anderen hielten: Das ist Vorurteilsforschung in einem begrenzten lokalen Alltagsrahmen. Bekannt ist auch, dass im Vormärz aufgeklärte Liberale über die Pietisten als »Mucker« spotteten und als diejenigen bezeichneten, die nie lachten, eintönige Kleider trugen und mit leidgeprüfter frommer Miene und in gebeugter, geradezu demütiger Haltung fleißig, brav und treu ihrer Arbeit nachgingen. Dabei wussten manche der Liberalen durchaus, dass die Frommen sich ihnen überlegen fühlten und sie als Weltkinder verachteten, die in der Hölle landen würden. Was wissen wir aber tatsächlich über die Kleidung der Pietisten, was über ihre Ess- und Trinkgewohnheiten, was über ihre Kindererziehung, was über die Mentalität der Jugendlichen, was über ihren Tagesablauf, über ihre Arbeitseinstellung, kurzum: wie gut sind wir über die Fülle der verschiedenen Faktoren informiert, die in der Summe den von Pierre Bourdieu proklamierten Habitus konstituieren? Wie exklusiv waren die Pietisten in diesen Dingen? Wie weit partizipierten sie an allgemeinen Trends und Moden? Vor dreißig Jahren ist Martin Scharfe einigen dieser Fragen in seiner nach wie vor wichtigen kleinen Kultur- und Sozialgeschichte des Pietismus nachgegangen14. Seither ist aber nur wenig zu diesem Thema erschienen. Immerhin liegen wenigstens einige pietistische Tagebücher vor, die interessante Aufschlüsse geben15, und immerhin hat sich Christel Köhle-Hezinger auf dem Zweiten Internationalen Pietismuskongress 2005 mit dem Lebensstil und den Hinterlassenschaften der Pietistin Marie Frech beschäftigt, die von 1895 bis 1995 lebte16. Hinzuweisen ist in diesem 14 Martin Scharfe: Die Religion des Volkes. Kleine Kultur- und Sozialgeschichte des Pietismus. Gütersloh 1980. 15 Besonders wichtig sind die Talheimer Wochenbücher 1817 – 1829 der Beate Hahn Paulus, hg. v. Ulrike Gleixner, Göttingen 2007. 16 Christel Kçhle-Hezinger: »Die Welt der frommen Dinge. Wege des popularen Pietismus im 20. Jahrhundert«. In: Udo Sträter u. a. (Hg.): Alter Adam und Neue Kreatur. Pietismus und Anthropologie. Beiträge zum II. Internationalen Kongress für Pietimsusforschung 2005. Tübingen 2009, Bd. 2, 585 – 594.

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Zusammenhang auch auf die vorzügliche Studie von Jeff Bach über Ephrata17. Kaspar von Greyerz hat vor kurzem ein Buch über »Passagen und Stationen. Lebensstufen zwischen Mittelalter und Moderne« publiziert, in dem er auf der Basis autobiographischer Quellen dem Verständnis bäuerlicher und bürgerlicher Kreise von Geburt und Taufe, von Kindheit und Jugend, von Gesellenzeit und Studium, von Verlobung und Heirat, von Ehe, Haushalt und Familie sowie von Alter und Tod nachgeht18. Speziell auf den Pietismus geht er nicht ein. Ich würde mir aber ein Buch wünschen, in dem die von ihm gestellten Fragen auch für pietistische Kreise untersucht werden. Fünftes Beispiel: das Spannungsfeld von Erinnerung, Zeitverständnis und Heilserwartung, also der große Bereich des pietistischen Geschichtsbewusstseins und der pietistischen Zukunftserwartung. Die Beiträge dieses Bandes sind diesem Themenbereich gewidmet. Ich wiederhole deshalb an dieser Stelle nur noch einmal die entscheidenden Stichworte: Geschichtsbild, Geschichtsschreibung und Geschichtskonstruktion; Krisenbewusstsein und Zukunftserwartung; die Hoffnung besserer Zeiten, Eschatologie, Millennarismus, vulgo: Chiliasmus; Zukunftsdeutung und Zukunftskonzepte. In seinem Beitrag zum vierten Band der »Geschichte des Pietismus« hat Ulrich Gäbler die verschiedenen pietistischen Vorstellungen von vergangener und künftiger Zeit nicht nur in die Geschichte des Protestantismus von der Reformation bis ins 18. Jahrhundert eingeordnet, sondern auch entsprechende Aussagen aus der Zeit der Erweckungsbewegung behandelt. Außerdem hat er einen Ausblick auf den Zusammenhang von Fortschrittsglauben und Krisenbewusstsein im amerikanischen Evangelikalismus gegeben19. Auch diese Zusammenhänge brauche ich deshalb hier nicht noch einmal zu referieren. Ergänzend möchte ich aber auf drei Aspekte hinweisen. Zunächst scheint mir der Hinweis wichtig, dass für die Pietisten jedweder Richtung der Glaube an die heilsgeschichtliche Zeit eine für die Gestaltung ihres Lebens überragende Bedeutung besaß. Gewiss: auch Pietisten konnten den Kalender nicht manipulieren. Winter waren Winter und Sommer waren auch für die frommsten Pietisten eben Sommer. Ebenso hatte auch für die Pietisten jeder Tag nur 24 Stunden. Aber so einfach waren die Dinge offensichtlich nicht. Wie lange dauerten für Chiliasmusgläubige tatsächlich tausend Jahre? Tausend mal 365 Tage oder unter Umständen doch wesentlich kürzer, da Gott als Herr über die Zeiten auch frei über die Dauer von Monaten und Jahren und somit auch über die Dauer von tausend Jahren verfügen konnte? Auch das eigene Lebensalter wurde unterschiedlich beurteilt. Was für fromme Pietisten zählte, waren nur die Jahre seit ihrer »Wiedergeburt« im Glauben, die Jahre seit dem 17 Jeff Bach: Voices of Turtledoves. The Sacred World of Ephrata. University Park 2003. HansJürgen Schrader danke ich für diesen Hinweis. 18 Kaspar von Greyerz: Passagen und Stationen. Lebensstufen zwischen Mittelalter und Moderne. Göttingen 2010. 19 Ulrich G•bler: »Geschichte, Gegenwart, Zukunft«. In: Hartmut Lehmann (Hg.): Geschichte des Pietismus, Bd. 4: Glaubenswelt und Lebenswelten. Göttingen 2004, 19 – 48.

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Zeitpunkt ihrer Erweckung und Bekehrung. Was aber war, wenn sich die Wiedergeburt gewissermaßen in mehreren Schüben in mehreren Jahren nacheinander ereignete? Halten wir den entscheidenden Punkt fest. Unabhängig davon, ob die Pietisten an die nahe Wiederkunft Christi glaubten oder aber bereit waren, geduldig auf den Tag des Gerichts zu warten, war für sie die heilsgeschichtliche Zeitperspektive der Maßstab, nach dem sie ihr Leben ausrichteten. Das heißt, sie lebten in dem Bewusstsein, dass sie die 24 Stunden jedes Tages nützen mussten, um sich für das ewige Heil zu qualifizieren. Zeit war für sie also kostbar. Weltkinder verschwendeten in ihren Augen demgegenüber die ihnen von Gott geschenkte Zeit, nicht so sie selbst, die Pietisten. Und das heißt weiter, dass ihr irdisches Leben nach ihrer Überzeugung nur eine Durchgangsstation war, auf die erst das eigentliche Leben, so hofften sie, nämlich das Leben mit Gott folgen würde. Der den Pietisten eigene Zeithorizont erstreckte sich von den Anfängen der Welt bis an deren Ende. Ihre Zeitvorstellungen gingen dabei über in ihre besondere Erinnerungskultur. Mit großer Selbstverständlichkeit erinnerten sie sich an das Handeln Gottes mit den Menschen, so wie es im Alten Testament dokumentiert war. Ebenso selbstverständlich nahmen sie die Vorläufer der eigenen Bewegung in ihr Geschichtsbild auf. Das waren die »Zeugen der Wahrheit«, die die Mühsalen des »engen Weges« nicht gescheut hatten und die vor ihnen hin zum Reich Gottes gepilgert waren. Für die Pietisten des 18. Jahrhunderts waren das vor allem Johann Arndt und Philipp Jakob Spener. Die Pietisten des 19. Jahrhunderts sollten dann auch Francke, Zinzendorf, Tersteegen, Bengel und Oetinger in den Kanon ihrer Heiligen aufnehmen. Gewiss: bestimmte Gruppierungen innerhalb der pietistischen Bewegung pflegten ihre eigenen Formen der Erinnerung. Wie Gisela Mettele vor kurzem gezeigt hat, war die Brüdergemeine eine »Erzählgemeinschaft«, in der das autobiographische Schreiben eine soziale Praxis war und in der das Redigieren der Lebensläufe dem Ziel diente, das gemeinsame Erinnern zu stärken20. Solche Sonderformen der Erinnerung will ich gar nicht abstreiten. Mit Nachdruck möchte ich aber unterstreichen, dass der Pietismus insgesamt trotz aller Erinnerungsvarianten von Anfang an eine exklusive Erinnerungsgemeinschaft war. Man gehörte nur dazu, wenn man diese exklusive Erinnerung hochhielt, wenn man die Vorväter würdigte. Ebenso wichtig war für die Pietisten jedoch auch das Vertrauen in die Zukunft, das heißt die Hoffnung auf das weitere Wachsen des Gottesreiches und auf das ewige Leben. Der Pietismus war somit auch eine exklusive Hoffnungsgemeinschaft. Zur Erinnerung gehörte die Hoffnung. Aus beiden Perspektiven, aus der Erinnerung sowie aus der Hoffnung holten sie die Kraft, allen Anfeindungen zu trotzen und die Pflichten des Alltags zu meistern. Es ist schade, dass Maurice Halbwachs und Aby Warburg sich nicht mit dem Pie20 Mettele, Weltbürgertum, Teil IV: Gedächtnis, 191 – 268.

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tismus beschäftigt haben. Hätten sie es getan, dann hätte Halbwachs den Pietismus als ein hervorragendes Beispiel für »m¦moire collective« würdigen können und Warburg die Bibliothek der Franckeschen Stiftungen in Halle als einen nicht minder hervorragenden Ort des kulturellen Gedächtnisses. Mein sechstes und letztes Beispiel behandelt ein Thema, das in der neueren Kulturwissenschaft bisher keine große Rolle spielt, das aber viel über die Pietisten aussagt: es ist die religiöse Vorstellungswelt der Pietisten. Es handelt sich dabei, so ist ausdrücklich zu betonen, nicht um erfundene Geschichten, nicht um Phantasien oder Imaginationen. Denn für die Pietisten war lebendig und wahr, was sie beispielsweise in zwei von ihnen mit Eifer immer wieder studierten Texten lesen konnten: im 24. Kapitel des Matthäusevangeliums und in der Offenbarung des Johannes. Dabei stellte sich für sie – und zwar von Generation zu Generation, um 1700 ebenso wie um 1800 und auch noch um 1900 – die drängende Frage, wie weit das, was sie da lasen, bereits auf ihre eigene Gegenwart zutraf. Zeitbeobachtung wird dabei zur Zeitzeichendeutung. Nur einige Stichworte, um die Dimensionen dessen anzudeuten, was fromme Pietisten verarbeiten mussten, wenn sie sich mit diesen Texten auseinandersetzten. Bei Matthäus ist von den Gräueln der Verwüstung die Rede, die der Wiederkunft Christi vorangingen, und von der großen Trübsal, die dann einsetze. Sonne und Mond verlören ihren Schein, die Sterne fielen vom Himmel. Und während alle Geschlechter auf der Erde heulten, erscheine der Menschensohn in den Wolken des Himmels mit großer Kraft und Herrlichkeit. Und er werde Engel mit hellen Posaunen senden, um die Auserwählten zu sammeln. Wie wir aus den Forschungen von Manfred Jakubowski-Tiessen wissen, erregten im 17. ebenso wie im 18. und dann auch noch im 19. Jahrhundert Nachrichten von Naturkatastrophen die Pietisten ganz besonders. So fragten sie sich beispielsweise, was die große Sturmflut von 1717, die sogenannte Weihnachtsflut, bedeute, bei der Tausende von Menschen ihr Leben verloren. War das ein Strafgericht, mit dem Gott die sündige Menschheit bestrafte, um sie wieder auf den rechten Weg zurückzuführen, oder handelte es sich bei dieser Katastrophe um einen untrüglichen Vorboten des nahenden Jüngsten Gerichts?21 Noch viel drastischer sind die Ausführungen in der Offenbarung des Johannes. Noch viel faszinierender sind die in diesem Buch beschriebenen Endzeitszenarien. Selbst ein gelehrter Geist wie Johann Albrecht Bengel konnte der Versuchung nicht widerstehen, die einzelnen historischen Perioden sowie auch die Ereignisse seiner eigenen Zeit mit dem zu korrelieren, was in einzelnen Kapiteln der Johannesoffenbarung beschrieben wird. Für weniger gelehrte Pietisten war das, was sie da lasen, zutiefst aufregend, Anlass zu großer Angst ebenso wie zu nicht minder großen Hoffnungen. Natürlich ließ sich bei Betrachtungen dieser Art trefflich spekulieren: Wer war denn der 21 Manfred Jakubowski-Tiessen: Sturmflut 1717. Die Bewältigung einer Naturkatastrophe in der Frühen Neuzeit. München 1992. Siehe auch seinen Beitrag in diesem Band.

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falsche Prophet, von dem da die Rede war, wer gar der Antichrist, was bedeuteten die Posaunen, was konnte, ja musste man mit den großen Plagen identifizieren. Die einschlägigen zeitgenössischen Aussagen sind häufig nicht einfach zu entschlüsseln, da die Vorstellungen vom nahen Ende der Welt und der bevorstehenden Wiederkunft Christi für viele der Erweckten eine Art Arkanwissen war, das sie nicht öffentlich ausbreiten und mit den Weltkindern teilen wollten. Michael Kannenberg verdanken wir aber sehr prägnante Analysen dieser Thematik für die Periode von 1818 bis 184822. Manche Autoren äußerten sich aber auch sehr deutlich. In einem Büchlein aus dem Jahre 1814, das 1818 in zweiter Auflage erschien23, räsonniert beispielsweise der Bönnigheimer Küfermeister Christian Armbruster offensichtlich unter dem Einfluss von Bengel über »Die sieben lezten Posaunen oder Wehen wann sie anfangen und aufhören und von den 70 Danielischen Wochen und 42 prophetischen Monaten: von der Zahl 666 als das Mahlzeichen des Thiers; von dem Gläsern Meer; von den zwey Zeugen; von der Zukunft Christi in welchem Jahr und Monat dieselbe erfolgen soll; von dem tausendjährigen Reich und ewigen Evangelium; Gok und Magok und jüngsten Gericht«, und dies alles sei, so der schwäbische Handwerker mit Nachdruck, »aus der heil.(igen) Schrift bewiesen«24. Armbruster ließ seine Leser wissen, die gegenwärtige Weltordnung ginge im Laufe des Jahres 1836 zu Ende. Gott werde 1837 »seine Tenne fegen und den Weizen in seine Scheuer sammeln«25. Ich kann Armbrusters Ausführungen, die in den 1820er Jahren in Württemberg in separatistischen Konventikeln gelesen wurden26, hier nicht im Einzelnen kommentieren. Nur so viel: Mit viel Aufwand legte Armbruster noch einmal dar, was Bengel schon drei Generationen zuvor berechnet hatte. Ohne Zögern setzte Armbruster auch die Ereignisse in Frankreich seit 1789 und vor allem seit dem Aufstieg von Napoleon in eine direkte kausale Verbindung mit Ankündigungen in der Offenbarung des Johannes, und zwar nicht auf eine allgemeine Weise, sondern jeweils bezogen auf bestimmte Verse in bestimmten Kapiteln. Die Weltgeschichte, die er erlebt hatte, liefert für ihn somit entscheidende Beweise für die Richtigkeit der heilsgeschichtlichen Voraussagen. Entscheidend war bei Armbrusters Zeitzeichendeutung die für alle Überlegungen dieser Art typische Grundannahme, in der »letzten Zeit« wachse das Böse noch stärker als das Gute, 22 Michael Kannenberg: Verschleierte Uhrtafeln. Endzeiterwartungen im württembergischen Pietismus zwischen 1818 und 1848. Göttingen 2007. 23 Siehe dazu auch Kannenberg, Uhrtafeln, 161 f. Kannenberg ist die 2. Auflage aus dem Jahre 1818, die ich zufällig besitze, nicht bekannt. Er erwähnt zwar, dass es von der Schrift von 1814 bis 1830 mehrere Nachdrucke gab, geht aber davon aus, dass eine 2. Auflage erst 1830 in Reading in Pennsylvania herauskam. Richtig ist sein Hinweis, Armbrusters Schrift sei häufig fälschlicherweise Jung-Stilling zugeschrieben worden. 24 Germanien 1818. Vom Verfasser abgezeichnet mit Binnigheim im Mai 1813. Der 1750 geborene Armbruster war 1815 verstorben. Die 2. Auflage muss von dritter Hand vorbereitet worden sein. 25 So im Vorwort. 26 Belege bei Kannenberg, Uhrtafeln, 162.

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so dass die verbliebenen Kinder Gottes mit bisher ungeahnten Formen der Verfolgung rechnen müssten. Gerade in dieser allenthalben vom »Abfall« von Gott gekennzeichneten Situation gelte es für Gottes Kinder aber, so schwer es ihnen auch falle, die Treue zu bewahren. Gott werde nämlich für den gerechten Lohn zu der von ihm bestimmten Zeit schon sorgen, ebenso wie für den endgültigen Fall Babels und für die Sammlung der Juden in Jerusalem. Das waren Szenarien von einmaliger Faszination. Um es etwas salopp zu formulieren: Pietisten, die Texte wie die Schrift von Christian Armbruster lasen, brauchten keinen Robinson Crusoe und keinen Don Quichotte. Die religiöse Welt, in der sie ihre Gedanken schweifen lassen konnten, war phantastischer als alles, was ihnen die Schriftsteller ihrer Zeit bieten konnten, und hatte zudem den Vorteil, dass diese phantastischen Geschichten sie unmittelbar persönlich angingen, weil sie von ihrem künftigen Heil berichteten. Eine Frage schließt sich an diese Beispiele unmittelbar an, die Frage nämlich, wie weit die Pietisten, wenn man alle von mir hier behandelten Aspekte berücksichtigt, als eine besondere Gruppe anzusprechen sind, die sich auf eine überaus distinkte Weise von allen anderen sozialen, kulturellen und religiösen Gruppierungen ihrer Zeit unterscheidet. Fast bin ich versucht zu fragen, ob man die Pietisten nicht als eigene Ethnie bezeichnen sollte, weil sie sich in Sprache und Habitus sowie auch in Zeitverständnis und Zukunftserwartung sehr deutlich von ihren Zeitgenossen unterschieden. Die in der neueren Kulturwissenschaft diskutierten Perspektiven helfen, so meine ich, eine Antwort auf diese Frage zu finden. Denn diese Überlegungen legen nahe, dass es eben nicht genügt, von kirchentreuen Pietisten und radikalen Separatisten zu sprechen, so wie das in der Pietismusforschung üblicherweise geschieht; dass es auch nicht ausreicht, die Kontroversen innerhalb der pietistischen Bewegung zu thematisieren, auf die in einigen Gegenden besonders signifikante Rolle der Konventikel hinzuweisen sowie auch auf Produktion und Konsum von Erbauungsliteratur. Die von mir in aller gebotenen Kürze benannten Fragestellungen, die in den Kulturwissenschaften nach dem Cultural Turn diskutiert werden, helfen vielmehr, den Kern dessen, was das Pietistsein ausmacht, noch schärfer zu fassen, noch besser zu verstehen als bisher. Die Pietisten waren, so könnte man es auf eine kurze Formel bringen, innerhalb der neueren Kirchen- und Religionsgeschichte eben etwas ganz Besonderes. Die Unterscheidung zwischen dem Alten Adam und der Neuen Kreatur ist, so fürchte ich, nicht besonders hilfreich, um dieses Besondere zu charakterisieren27. Besser wäre es, nicht nur vom Alten Adam und von der Neuen Kreatur zu reden, also das Thema der Wiedergeburt ins Zentrum der Betrachtungen zu stellen, sondern den Gegensatz zwischen Weltkindern und den Kindern Gottes zu betonen. Denn von zentraler Bedeutung sind meines 27 Es ist allerdings nicht zu bestreiten, dass auf dem Zweiten Internationalen Pietismuskongress im Jahre 2005 einige Vorträge gehalten wurden, die unsere Kenntnis dieser Zusammenhänge vertiefen. Siehe Str•ter u. a. (Hg.), Alter Adam.

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Erachtens die exklusive Heilserwartung und das daraus abgeleitete exklusive Sozialverhalten der Pietisten sowie der offensichtliche Zusammenhang von spezifischen Konventionen, die ihren Alltag prägten, mit ebenso spezifischen religiösen Erwägungen, die weit über den Tag hinaus gerichtet sind. Damit komme ich zum Schluss. Ich fasse meine Ergebnisse kurz zusammen. Deutlich dürfte geworden sein, dass die Fragestellungen, die in den vom Cultural Turn geprägten neueren Kulturwissenschaften erörtert werden, teilweise durchaus auch in der neueren Pietismusforschung Beachtung gefunden haben. Zwar wird die besondere Terminologie, die von den Vertretern des Cultural Turn propagiert wird, von Pietismusforschern in der Regel nicht benützt. Man könnte, wenn man es wollte, aber die Gedankengänge, Argumentationen und Ergebnisse der Pietismusforschung durchaus in diese Sondersprachen übersetzen. Zu den einschlägigen Forschungen würde ich vor allem die Studien von Hans-Jürgen Schrader über die Sprache der Pietisten rechnen sowie die Überlegungen, die in diesem Band über Geschichtsbewusstsein und Zukunftserwartung in Pietismus und Erweckungsbewegung vorgelegt werden. Daneben gibt es allerdings in der Pietismusforschung durchaus auch einige Bereiche, in denen die Fragestellungen der neueren Kulturwissenschaften bisher noch nicht, oder doch nur unzureichend, angewandt worden sind. Das, was wir bisher über den für die Pietisten typischen Habitus wissen, würde ich dazu rechnen, auch die bisherige Erforschung ihrer Raumvorstellungen. Es wäre allerdings falsch zu glauben, mit der Konzentration auf Themen des Cultural Turn wären in der Pietismusforschung alle anderen Probleme erledigt. So sind beispielsweise noch längst nicht alle Fragen erforscht, die es aus sozialhistorischer Sicht zu klären gilt, auch wenn auf diesem Gebiet in den letzten Jahren einige Fortschritte zu verzeichnen sind. Was mir sinnvoll und wichtig erscheint, ist nicht die Alternative: sozialgeschichtliche oder kulturgeschichtliche Vorgehensweise, sondern eine produktive Verbindung beider Forschungsbereiche: das heißt kulturhistorische Forschungen, die die sozialgeschichtlichen Dimensionen der jeweiligen Themen angemessen reflektieren, sowie sozialgeschichtliche Forschungen, die kulturhistorische Aspekte berücksichtigen, wobei genuin religiöse Probleme keinesfalls vernachlässigt werden sollten. Für die Pietismusforschung dürften sich aus dieser Kombination spannende neue Herausforderungen ergeben. Noch ein letztes Wort. Als ich von den Herausgebern dieses Bandes vor vielen Monaten gebeten wurde, mein Thema zu benennen, formulierte ich zögernd und vielleicht etwas zu vorsichtig: Ja, es gebe viele Fragen, wenn man sich mit der Bedeutung des Cultural Turn für die Pietismusforschung beschäftige, bisher aber erst einige wenige Antworten. Nachdem ich mich gründlicher in diese Materie eingearbeitet habe, würde ich diese Formulierung gerne ändern. »Pietismusforschung nach dem Cultural Turn«: Ja, es gibt viele Fragen, aber es gibt inzwischen durchaus auch schon eine ganze Reihe bemerkenswerter Antworten.

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Geschichtsbewusstsein und Zukunftserwartung im Pietismus

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Wolf-Friedrich Schäufele

Geschichtsbewusstsein und Geschichtsschreibung um 1700

Im Vorfeld des Jahres 1700 machte sich erstmals jene eigentümliche Faszination bemerkbar, die seither – je länger, desto mehr – jede Jahrhundertwende neu ausgelöst hat.1 Selbst wenn man von allfälligen apokalyptischen Erwartungen absieht, erscheinen Jahrhundertwenden als Symboldaten und als emblematische Epochenmarker. Dem Kirchen- und Theologiehistoriker fallen dabei nicht zuletzt bahnbrechende literarische Werke ein, deren Erscheinen mehr oder minder zufällig mit Jahrhundertwenden zusammenfiel. Für die Jahrhundertwende 1799/1800 sind dies Schleiermachers Reden Über die Religion, ein Jahrhundert darauf Harnacks Wesen des Christentums. Mit der Jahrhundertwende 1699/1700 ist in gleicher Weise Gottfried Arnolds Unparteyische Kirchen- und Ketzer-Historie verbunden. Auch wenn es ein Zufall sein mag, dass wir mit diesem exponierten Datum gerade ein Werk der Kirchengeschichtsschreibung verbinden, so kann uns diese Tatsache doch als Anlass dienen, Stand und Entwicklung von Geschichtsbewusstsein und Geschichtsschreibung im späteren 17. und im frühen 18. Jahrhundert zu überblicken. Vollständigkeit ist dabei nicht zu erzielen. Es kann im Folgenden nur darum gehen, die wesentlichen Trends aufzuzeigen und die wichtigsten Autoren und Werke in Erinnerung zu rufen.

1. Die Voraussetzungen: Krise und Krisen im »langen 17. Jahrhundert« Das 17. Jahrhundert war eine Zeit tiefgreifender politischer und geistiger Umwälzungen, die von den Zeitgenossen als krisenhaft empfunden wurden.2 Aus der angelsächsischen Forschung nach dem Zweiten Weltkrieg stammt die 1 Manfred Jakubowski-Tiessen: Eine alte Welt und ein neuer Himmel. Zeitgenössische Reflexionen zur Jahrhundertwende 1700. In: Ders. [u.a.] (Hg.): Jahrhundertwenden. Endzeit- und Zukunftsvorstellungen vom 15. bis zum 20. Jh. Göttingen 1999 (Veröffentlichungen des MaxPlanck-Instituts für Geschichte 155), 165 – 186, hier: 166. 2 Vgl. z. B. Heinz Schilling: Aufbruch und Krise. Deutschland 1517 – 1648. Berlin 1988, 372 – 396; Manfred Jakubowski-Tiessen (Hg.): Krisen des 17. Jh. Interdisziplinäre Perspektiven. Göttingen 1999.

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These, es habe sich bei allen diesen Krisen und Wandlungserscheinungen letztlich um Aspekte einer einzigen, umfassenden »Krise des 17. Jahrhunderts« gehandelt.3 In Deutschland hat vor allem Hartmut Lehmann diese Position mit Nachdruck vertreten.4 Ob die These von einem einzigen großen Krisenzusammenhang tragfähig ist, erscheint fraglich und ist hier nicht zu entscheiden. Für unsere Zwecke mag es genügen, die wichtigsten Krisensymptome und Wandlungen der Zeit kurz in Erinnerung zu rufen. Charakteristisch für das »lange 17. Jahrhundert«, das gewöhnlich von 1580 bis 1720 datiert wird, ist vor allem eine lang andauernde und ganz Europa erfassende wirtschaftliche und soziale Krise. Man wird nicht fehlgehen, in der sogenannten »Kleinen Eiszeit«, die besonders zwischen 1570 und 1630 und zwischen 1675 und 1730 zu empfindlichen Kälteperioden führte, einen der auslösenden Faktoren für diesen Wandel zu erkennen.5 Jedenfalls kam es zu einem erheblichen Rückgang der Bevölkerung und der landwirtschaftlichen wie handwerklichen Wirtschaftsproduktion, der von sozialen Verwerfungen und Aufständen begleitet war. Nicht zuletzt wird die Virulenz der Hexenverfolgungen im 17. Jahrhundert auch von daher zu erklären sein. Hatte zu Beginn der Frühen Neuzeit vor allem der Mittelmeerhandel prosperiert, so wuchs nun das wirtschaftliche und politische Gewicht Nordwesteuropas. Politisch war das 17. Jahrhundert eine Zeit der Kriege, insbesondere der Religionskriege – oder, um präzise zu sein, der bewaffneten Konflikte mit religiöser Komponente. Im Dreißigjährigen Krieg wurden religiöse und politische Konflikte zwischen den europäischen Mächten in einem blutigen und viele Zeitgenossen traumatisierenden Waffengang ausgetragen. Mit dem Westfälischen Frieden, der dem großen Morden Einhalt gebot, kam zugleich der achtzigjährige Krieg der Niederlande um ihre Unabhängigkeit von Spanien und die Freiheit des reformierten Bekenntnisses an sein Ende. Etwa zur gleichen Zeit tobte in England der Bürgerkrieg; auch er hatte mit dem Gegensatz zwischen königstreuen Anhängern der anglikanischen Episkopalkirche und presbyterianisch gesinnten puritanischen Republikanern eine starke religiöse Komponente. Die Enthauptung König Karls I. am 30. 1. 1649 war ein in ganz Europa beachtetes Fanal. Unterdessen baute in Frankreich Ludwig XIV., der Roi-Soleil, innenpolitisch Zug um Zug seine absolutistische Herrschaft aus und setzte dabei zunehmend die Hugenotten unter Druck – bis hin zur Aberkennung ihrer bisherigen Rechte durch das Edikt von Fontainebleau 3 Eric J. Hobsbawm: The General Crisis of the European Economy in the 17th Century. In: Past & Present 5, 1954, 33 – 53; ders.: The Crisis of the 17th Century (II). In: Past & Present 6, 1954, 44 – 65; Hugh R. Trevor-Roper: The General Crisis of the 17th Century. In: Past & Present 16, 1959, 31 – 64. 4 Hartmut Lehmann: Das Zeitalter des Absolutismus. Gottesgnadentum und Kriegsnot. Stuttgart [u.a.] 1980 (Christentum und Gesellschaft 9); ders.: Die Krisen des 17. Jh. als Problem der Forschung. In: Jakubowski-Tiessen, Krisen, 13 – 24. 5 Vgl. Wolfgang Behringer : Kulturgeschichte des Klimas. Von der Eiszeit zur globalen Erwärmung. München 2007, 117 – 222.

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1685, wodurch es zu einer Massenauswanderung verfolgter Protestanten in andere europäische Länder kam. Außenpolitisch ging die französische Expansion vor allem auf Kosten des Reiches. Nicht minder folgenreich als die wirtschaftlichen und politischen waren die geistigen und religiösen Bewegungen der Zeit. Ob und inwieweit diese – wenigstens auch – als kompensatorische Antworten auf äußere Krisenerfahrungen zu verstehen sind6, bedürfte einer eingehenderen Prüfung. Fest steht, dass sich auch hier bedeutende Umbrüche vollzogen. Schrittmacher der Entwicklung waren die im 17. Jahrhundert aufblühenden Naturwissenschaften. Nur drei willkürlich gegriffene Schlüsseldaten seien hier genannt: 1633 machte das Heilige Offizium Galileo Galilei wegen seines Bekenntnisses zum kopernikanischen Weltsystem den Prozess, 1687 publizierte Isaac Newton seine Forschungsergebnisse zur Gravitation und zur Mechanik, gegen Ende des Jahrhunderts entwickelten Newton und Leibniz die Infinitesimalrechnung. 1652 wurde in Schweinfurt die später nach Halle verlegte Leopoldina gegründet, 1660 in London die Royal Society, 1700 in Berlin die Königlich-Preußische Akademie der Wissenschaften. Nach den großen geographischen Entdeckungen zu Beginn der Neuzeit vermehrte sich das Wissen über fremde Erdteile und Völker rasch weiter. Die Fortschritte der Chronologie während des 17. Jahrhunderts und der vermehrte Gebrauch von Uhr und Kalender begannen das Zeitempfinden zu verändern.7 Auf dem Gebiet der Philosophie ging dem Aufschwung rationaler, empirischer Naturbetrachtung die Begründung des neuzeitlichen Rationalismus durch Descartes parallel. Mit Descartes und Spinoza, mit Edward Herbert of Cherbury, Thomas Hobbes und John Locke begann in den Niederlanden und England die europäische Aufklärung. Schwerer zu überschauen und von Spannungen, ja teilweise geradezu von Selbstwidersprüchen geprägt war die kulturelle und religiöse Entwicklung. Die Barockkultur des 17. Jahrhunderts bewegte sich zwischen den Extremen einer schrankenlosen, sinnenfrohen Lebensbejahung einerseits und einer düster gestimmten Besinnung auf die Eitelkeit (vanitas) und Vergänglichkeit alles Irdischen andererseits. Auf religiösem Gebiet zeigte sich schon früh ein Ungenügen an der Lebens- und Glaubenspraxis der konfessionalisierten Kirchentümer. Nach einer bekannten These von Winfried Zeller kam es um 1600 in der dritten Generation des Luthertums zu einer »Frömmigkeitskrise«, die durch das Empfinden einer tiefen Diskrepanz zwischen der reformatorischen Rechtfertigungslehre und der vielfach kritikwürdigen Lebensführung der evangelischen Christen ausgelöst wurde.8 Artikuliert und überwunden 6 So etwa Schilling, Aufbruch, 392 – 396; Lehmann, Krisen, 18. 7 Jakubowski-Tiessen, Alte Welt, 167 – 170. 8 Winfried Zeller : Protestantische Frömmigkeit im 17. Jahrhundert. In: Ders.: Theologie und Frömmigkeit. Gesammelte Aufsätze [Bd. 1], hg. von Bernd Jaspert. Marburg 1971, 85 – 116; Ders.: Die »alternde Welt« und die »Morgenröte im Aufgang«. Zum Begriff der »Frömmigkeitskrise« in der Kirchengeschichte. In: Ders.: Theologie und Frömmigkeit. Gesammelte Aufsätze. Bd. 2, hg. von Bernd Jaspert, Marburg 1978, 1 – 13. – Vgl. Johannes Wallmann: Refle-

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wurde diese Krise nach Zeller durch die Neuausrichtung der Frömmigkeit, wie sie durch die erbaulichen Schriften von Philipp Nicolai, Johann Arndt und Valerius Herberger befördert und verbreitet wurde. Nun sind Begriff und Konzept der »Frömmigkeitskrise« neuerdings mit guten Gründen kritisiert worden9, und auch ein ursächlicher Zusammenhang mit der allgemeinen Krisenerfahrung der Zeit ist nicht von vorneherein von der Hand zu weisen. Gleichwohl steht die Tatsache einer auch krisenhaft empfundenen Transformation des religiösen Empfindens und der religiösen Praxis während des 17. Jahrhunderts außer Frage. Insgesamt lässt sich eine Tendenz zur Verinnerlichung beobachten, die nicht nur das deutsche Luthertum, sondern unterschiedliche Konfessionskulturen in ganz Europa erfasste. Erwähnt seien hier der englische Puritanismus, die niederländischen nadere reformatie, die Arndtsche Frömmigkeitsbewegung und der Pietismus. Zur gleichen Zeit regten sich im Katholizismus in Gestalt des französischen Jansenismus und des spanischen und französischen Quietismus mehr oder weniger verwandte Tendenzen. Neben diesem Zug zur religiösen Verinnerlichung ist das 17. Jahrhundert zugleich von einer teils dazu gegenläufigen, teils damit komplementären anderen Bewegung geprägt: derjenigen einer weitgreifenden Säkularisierung des Denkens. Gerade die Erfahrungen der blutigen Religionskriege und teilweise wohl auch die des Hexenwahns waren dazu angetan, bei vielen Zeitgenossen einen Überdruss an konfessionellem Hader, ja bisweilen am konfessionalisierten Christentum überhaupt zu erwecken. Nicht die Religion, sondern das Recht musste nun das Zusammenleben fundieren. Mehr und mehr gewann die Vorstellung einer allein von der Vernunft geleiteten Ordnung des menschlichen Zusammenlebens an Attraktivität. Die Aufklärung versprach, nach der Finsternis von Dünkel und Aberglaube ein neues Zeitalter des Lichts heraufzuführen.

2. Momente der Kontinuität: Theologische Universalgeschichtsschreibung und apologetisch-polemische Kirchengeschichtsschreibung Es liegt auf der Hand, dass die beiden komplementären Tendenzen der religiösen Konzentration und Verinnerlichung einerseits und der Säkularisierung und Enttheologisierung der Welt andererseits nicht ohne Folgen für Geschichtsschreibung und Geschichtsbewusstsein bleiben konnten. Allerdings xionen und Bemerkungen zur Frömmigkeitskrise des 17. Jh. In: Jakubowski-Tiessen, Krisen, 25 – 42. 9 Markus Matthias: Gab es eine Frömmigkeitskrise um 1600? In: Hans Otte/Hans Schneider (Hg.): Frömmigkeit oder Theologie. Johann Arndt und die »Vier Bücher vom wahren Christentum«. Göttingen 2007, 27 – 44.

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waren die Veränderungen im Einzelnen oft unspektakulär und das Tempo des Wandels gemächlich. Der Übergang von der theologisch bestimmten Geschichtsauffassung des konfessionellen Zeitalters über die des Pietismus zur säkularisierten Geschichtsauffassung der Aufklärung vollzog sich nicht revolutionär, als kopernikanische Wende, sondern evolutionär im Sinne einer allmählichen Transformation. Neben innovativen Impulsen konnten sich noch längere Zeit Momente der Kontinuität behaupten. Ungeachtet der neuen naturwissenschaftlichen Erkenntnisse und der Ausweitung des geographischen Horizonts infolge der Entdeckungen der frühen Neuzeit blieben die ältere, theologisch bestimmte Universalgeschichtsschreibung mitsamt dem ihr zugrunde liegenden biblisch-augustinischen Geschichtsbild einerseits und die apologetisch-polemisch verzweckte konfessionelle Kirchengeschichtsschreibung andererseits bis gegen Ende des 17. Jahrhunderts und teilweise auch darüber hinaus weithin einflussreich.

2.1 Die theologisch bestimmte Universalgeschichtsschreibung Für die mittelalterliche Geschichtsanschauung bezeichnend war das Programm einer »Weltgeschichte als Heilsgeschichte«, das in den großen Weltchroniken der Zeit eindrucksvoll ausgearbeitet wurde. Politische und kirchliche Geschichte waren hier zu einer universalen, nach theologischen Gesichtspunkten erschlossenen Gesamtschau zusammengefasst. Doch schon im Hochmittelalter setzte eine Gegenbewegung gegen die völlige theologische Indienstnahme der Historie ein, die sich im italienischen Renaissance-Humanismus fortsetzte. Am Beginn der Neuzeit erschien die Beschäftigung mit der Geschichte bereits als ein mehr oder minder eigenständiges Wissensgebiet und Praxisfeld. An die Stelle der großen universalgeschichtlichen Entwürfe traten nun vorzugsweise selbständige Orts- und Nationalgeschichten, die im Rahmen von politischen Emanzipationsbestrebungen legitimatorische Funktion annehmen konnten. Mit Reformation und Gegenreformation fand diese Tendenz zur Säkularisierung der Geschichtsbetrachtung ein Ende. Durch den Protestantismus kam es zu einer Erneuerung der alten, theologisch bestimmten Universalgeschichtsschreibung.10 Heilsgeschichte und Weltgeschichte, Kirchengeschichte und politische Geschichte waren hier zusammengenommen und unter ein einheitliches, theologisch bestimmtes Erkenntnisinteresse gestellt: beide sollten durch den Nachweis des Geschichtshandelns Gottes den Glauben stärken und dem Leser Exempel guten und schlechten Handelns vor Augen stellen. Der 10 Wolf-Friedrich Sch•ufele: Theologie und Historie. Zur Interferenz zweier Wissensgebiete in Reformationszeit und Konfessionellem Zeitalter. In: Irene Dingel/Ders. (Hg.): Kommunikation und Transfer im Christentum der Frühen Neuzeit. Mainz 2008 (VIEG Beih. 74), 129 – 156, hier: 138 – 143.

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chronologische Rahmen der Darstellung war durch das biblisch-augustinische Geschichtsbild bestimmt, wonach die Geschichte mit der Weltschöpfung einen absoluten Anfang und mit dem Weltende ein absolutes Ende hatte; zwischen dem ersten und dem zweiten Kommen Christi waren wesentlich neue geschichtliche Entwicklungen nicht mehr zu erwarten.11 Auch zur Binnenperiodisierung der Geschichte dienten biblische Schemata; allerdings gewöhnlich nicht mehr das auf Augustinus zurückgehende, aus einer Allegorese der SechsTage-Schöpfung gewonnene Schema der sechs (bzw. sieben) Weltzeitalter, sondern bevorzugt das von Hieronymus aus den Prophezeiungen in Daniel 2 und 7 abgeleitete Modell der vier Weltreiche (vier Monarchien)12 ; für die Heilsgeschichte führte Melanchthon eine Dreiteilung in Anschluss an das apokryphe sogenannte Vaticinium Eliae ein.13 Geographisch beschränkte sich die Darstellung zunächst noch auf die bald so genannte »alte Welt«. Die maßgeblichen Werke dieser erneuerten theologischen Universalgeschichtsschreibung schufen Philipp Melanchthon (1497 – 1560) und Johannes Sleidanus (1506 – 1566). Nicht zufällig handelt es sich dabei um Lehrbücher für den akademischen Unterricht. Melanchthons vierbändiges lateinisches Chronicon Carionis (erstmals Wittenberg 1558 – 1565) war aus seinen eigenen universalgeschichtlichen Vorlesungen hervorgegangen und von seinem Schwiegersohn Caspar Peucer zu Ende geführt worden und blieb bis weit ins 17. Jahrhundert für den universitären Geschichtsbetrieb, der im protestantischen Raum zunehmend mit eigenen universalgeschichtlichen Professuren an den philosophischen Fakultäten institutionalisiert wurde, bestimmend.14 Auch das zweite reformatorische Lehrbuch der Weltgeschichte, das bereits 1556 erstmals publizierte kleine Kompendium De quatuor summis imperiis von Sleidanus, fand bis ins späte 17. Jahrhundert in der gesamten protestantischen Welt – und in einer überarbeiteten Form sogar bei den Jesuiten – Verwendung.15 11 Wolf-Friedrich Sch•ufele: »Defecit Ecclesia«. Studien zur Verfallsidee in der Kirchengeschichtsanschauung des Mittelalters. Mainz 2006 (VIEG 213), 33 – 37. 12 Willy Schottroff: Art. »Weltreiche«. In: RGG3 6, 1962, 1633 f. 13 Adalbert Klempt: Die Säkularisierung der universalhistorischen Auffassung. Zum Wandel des Geschichtsdenkens im 16. und 17. Jh. Göttingen [u.a.] 1960 (Göttinger Bausteine zur Geschichtswissenschaft 31), 23 – 27. 14 Hildegard Ziegler: Chronicon Carionis. Ein Beitrag zur Geschichtsschreibung des 16. Jh. Halle/S. 1898 (Hallesche Abhandlungen zur neueren Geschichte 35), 11 – 35, hier: 35 – 62; Gotthard Mìnch: Das Chronicon Carionis Philippicum. Ein Beitrag zur Würdigung Melanchthons als Historiker. In: Sachsen und Anhalt 1, 1925, 199 – 283, hier: 257 – 283. Zur Fortsetzung durch Peucer vgl. Uwe Neddermeyer: Kaspar Peucer (1525 – 1602). Melanchthons Universalgeschichtsschreibung. In: Heinz Scheible (Hg.): Melanchthon in seinen Schülern. Wiesbaden 1997, 69 – 101. 15 Notker Hammerstein: Art. »Sleidan«. In: Rüdiger vom Bruch/Rainer A. Müller (Hg.): Historiker-Lexikon. Von der Antike bis zur Gegenwart. München 22002, 308; Walter Friedensburg: Johannes Sleidanus. Der Geschichtsschreiber und die Schicksalsmächte der Reformationszeit. Leipzig 1935 (SVRG 157); Emil Menke-Glìckert: Die Geschichtsschreibung der Reformation und Gegenreformation. Bodin und die Begründung der Geschichtsmethodologie durch Bartholomäus Keckermann. Habilitationsschrift Leipzig 1912. Osterwieck/Harz 1912. ND

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Ja, noch in den letzten Jahrzehnten des 17. Jahrhunderts entstanden vielbeachtete neue Entwürfe einer theologischen Universalgeschichte. Am bedeutendsten ist der 1681 erstmals publizierte Discours sur l’Histoire universelle des französischen Prinzenerziehers und nachmaligen Bischofs von Meaux Jacques B¦nigne Bossuet (1627 – 1704).16 In Reaktion auf die Bibelkritik eines Richard Simon wird hier abermals das Programm einer Weltgeschichte als Heilsgeschichte durchgeführt, hinter der als Wirkursache der souveräne Wille Gottes steht. Gedacht war der Discours als Lehrbuch für die Unterweisung des Dauphins, inhaltlich beansprucht er sonst keine Originalität. Eduard Fueter hat ihn mit wenigen Worten scharf abgefertigt: »Sein [= Bossuets] Discours ist kein Geschichtswerk. Er ist eine Predigt, in der der kirchliche präparierte Geschichtsstoff die Stelle des Bibeltextes einnimmt«.17 Es zeigt sich also, dass die Grundideen der von der Reformation erneuerten theologischen Universalgeschichtsschreibung vor 1700 noch eine robuste Persistenz besaßen. Auch das biblisch-augustinische Geschichtsbild als solches schien zunächst von den philosophischen und naturwissenschaftlichen Neuaufbrüchen und von der Erweiterung des geographischen Gesichtsfeldes durch die Entdeckungen in Amerika und Asien unberührt. So konnte Emanuel Hirsch die »merkwürdige« Tatsache konstatieren, dass im 17. Jahrhundert »der biblische Rahmen der Weltgeschichte« »auch bei den Vertretern der neuen Wissenschaft« noch seine unangefochtene Geltung behauptet habe.18 2.2 Die polemisch-apologetisch verzweckte Kirchengeschichtsschreibung Die Behandlung der Kirchengeschichte war im Reformationszeitalter nicht etwa ganz in der neubegründeten theologischen Universalgeschichte aufgegangen. Seit der Mitte des 16. Jahrhunderts zeigten sich vielmehr Bestrebungen, sie zu einem selbständigen Erkenntnisgegenstand aufzuwerten. Ursächlich dafür war die polemisch-apologetische Verzweckung der Kirchengeschichte.19 Das von Matthias Flacius Illyricus (1520 – 1575) angeregte und konzipierte Riesenwerk der Magdeburger Zenturien (1559 – 1574), das von einem Bearbeiter- und Autorenkollektiv um Johannes Wigand (1523 – 1587) und Matthäus Judex (1528 – 1564) ausgearbeitet wurde, bot die erste umfassende selbständige Darstellung der Kirchengeschichte seit Eusebius von Caesarea.20 Dabei stand freilich weni-

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Leipzig 1971, 85 f.; Emil Clemens Scherer: Geschichte und Kirchengeschichte an den deutschen Universitäten. Ihre Anfänge im Zeitalter des Humanismus und ihre Ausbildung zu selbständigen Disziplinen. Freiburg i. Br. 1927, 46 – 48. Jean Meyer: Bossuet. Paris 1993, 160 – 164. Eduard Fueter: Geschichte der neueren Historiographie. München/Berlin 1911, 291. Emanuel Hirsch: Geschichte des neuern evangelischen Theologie im Zusammenhang mit den allgemeinen Bewegungen des evangelischen Denkens. Bd. 1. Gütersloh 31964, 217. Sch•ufele, Theologie und Historie, 147 – 154. Thomas Lau: Art. »Magdeburger Centurien«. In: Volker Reinhardt (Hg.): Hauptwerke der

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ger die Rekonstruktion historischer Entwicklungen an sich, als vielmehr die praktische Erschließung von im Sinne des strengen Luthertums kontroverstheologisch verwertbarem Material im Vordergrund des Interesses.21 Katholischerseits verfolgte das groß angelegte Gegenwerk des Oratorianergenerals Cesare Baronio (Caesar Baronius, 1538 – 1607), die 1588 – 1607 in 12 Bänden publizierten Annales ecclesiastici, einen ähnlichen Plan.22 Beide Werke erschienen durch ihre imponierende Materialfülle lange als nicht überholbar und blieben bis ins 17. Jahrhundert konkurrenzlos. Auch hier war es Bossuet, der noch gegen Ende des 17. Jahrhunderts die alte apologetisch-polemisch verzweckte Kirchengeschichte erneuerte. Seine 1688 erstmals erschienene Histoire des variations des ¦glises protestantes23, die die Geschichte des Protestantismus von seiner Vorbereitung durch die mittelalterlichen Sekten bis zu den französischen Religionskriegen darlegte, war zwar kein bloßes Repertorium für historisches Argumentationsmaterial, aber durchaus auf die Zwecke der Kontroverstheologie abgestellt. Die Unbeständigkeit und innere Widersprüchlichkeit des Protestantismus diente Bossuet hier zum Beweis seines Irrtums. Hinter der Reformation stehe das Grundprinzip der Befreiung von jeder Autorität, das auf lange Sicht notwendig zu Atheismus und politischem Umsturz führen müsse. Literarische Reaktionen von protestantischer Seite ließen nicht lange auf sich warten. Manche davon nahmen geradezu den Charakter von konkurrierenden Historiographien an, so die 1690 in Paris erschienene Histoire de la religion des Êglises r¦form¦es des Hugenottenpastors und späteren niederländischen Staatshistoriographen Jacques Basnage (1653 – 1723) und die 1703 in Amsterdam gedruckte Histoire des variations de l’Êglise gallicane von Jean-Baptiste Renoult.24 In ähnlicher Weise veranlasste die 1680 in Paris gedruckte, wissenschaftlich ganz unbedeutende Histoire du Luth¦ranisme des Jesuiten Louis Maimbourg (1610 – 1686) den ehemaligen Gothaer und Zeitzer Geheimrat und Kanzler und späteren Gründungskanzler der Universität Halle Veit Ludwig von Seckendorff (1626 – 1692) zur Abfassung seines Commentarius historicus et

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Geschichtsschreibung. Stuttgart 1997, 407 – 411; Albrecht Beutel: Art. »Centuriae Magdeburgenses«. In: Michael Eckert [u.a]. (Hg.): Lexikon der theologischen Werke. Stuttgart 2003, 73. – Vgl. Heinz Scheible: Die Entstehung der Magdeburger Zenturien. Ein Beitrag zur Geschichte der historiographischen Methode. Gütersloh 1966 (SVRG 183); Ronald Ernst Diener: The Magdeburg Centuries. A Bibliothecal and Historiographical Analysis. ThD-Thesis (masch.) Harvard Divinity School. Cambridge, Mass. 1978. Klempt, Säkularisierung, 146. Mario Turchetti: Art. »Baronio«. In: Reinhardt, Hauptwerke, 42 – 45; Harald Dickerhof: Art. »Baronius«. In: Vom Bruch/Mìller, Historiker-Lexikon, 19 f.; Klaus Ganzer: Art. »Annales Ecclesiastici«. In: Eckert, Lexikon, 25. Mario Turchetti: Art. »Jacques-B¦nigne Bossuet, Histoire des variations des ¦glises protestantes«. In: Reinhardt, Hauptwerke, 59 – 62; Alfred R¦belliau: Bossuet, historien du Protestantisme. Êtude sur l’»Histoire des variations« et sur la controverse entre les protestants et les catholiques au dix-septiÀme siÀcle. Paris 31909. Turchetti, Bossuet, 62.

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apologeticus de Lutheranismo seu de reformatione (Leipzig 1688 – 1692 u. ö.), der mit der Fülle des darin versammelten Aktenmaterials noch lange grundlegend für jede Beschäftigung mit der Reformation blieb.25 Alle diese Autoren und ihre Werke stehen der älteren konfessionellen Kirchengeschichtsschreibung darin nahe, dass sie nicht zuerst einem genuin historischen, sondern einem kontroverstheologischen Interesse dienen. Man hat sie daher gewöhnlich als Epigonen der älteren Auffassung abqualifiziert, und als solche würden sie zunächst die Persistenz dieser älteren, theologischen Geschichtsauffassung belegen. Tatsächlich lassen sich aber auch schon Spuren des Neuen entdecken – oft unspektakulär und subtil, aber unverkennbar. Namentlich Bossuet zeigt sich bereits von der von Frankreich ausgehenden Verwissenschaftlichung der Geschichtsschreibung berührt. Dafür spricht schon rein äußerlich die Akribie, mit der er seine Quellen nachweist, dafür spricht aber auch das in der Auswahl dieser Quellen feststellbare Bemühen um eine gewisse Objektivität und um eine Versachlichung der Debatte. Doch auch die systematische archivalische Sammeltätigkeit eines Seckendorff weist klar über die älteren Vorbilder hinaus. Dieselbe Ambivalenz eignet auch der an der Jahrhundertschwelle erschienenen Unparteyischen Kirchen- und Ketzer-Historie Gottfried Arnolds. Auch ihm geht es ja nicht um die Geschichte an sich, sondern um den Nachweis, dass das wahre Christentum das Geistchristentum und jegliche Institutionalisierung von Leben und Lehre als solche bereits Apostasie sei. Eduard Fueter hat Arnold daher mit einem gewissen Recht auf dieselbe Stufe wie die Bearbeiter der Magdeburger Zenturien gestellt. »Er ist nur insofern ein Neuerer, als er die Vergangenheit ebenso rücksichtslos vom Standpunkt des Pietismus aus kritisierte wie die Zenturiatoren von dem des Altluthertums aus«.26 Ja, in der historischen Methode und Kritik bleibe er sogar hinter ihnen zurück. »Sein Werk gehört eher in eine Geschichte der kirchlichen Polemik als der Kirchengeschichtsschreibung«.27 Andererseits enthält Arnolds Geschichtswerk aber doch Ansatzpunkte, die bereits auf die pragmatische Kirchengeschichtsschreibung der Aufklärung vorausweisen und auf die wir unten zurückkommen müssen.

25 Fueter, Historiographie, 267. 26 Fueter, Historiographie, 268. 27 Ebd.

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3. Die vierfache Auflösung des biblisch-augustinischen Geschichtsbildes In und unter der Persistenz des Alten brach sich im ausgehenden 17. und beginnenden 18. Jahrhundert in Geschichtsschreibung und Geschichtsbewusstsein das Neue Bahn. Unter dem Eindruck der vielfältigen Krisenerfahrungen des 17. Jahrhunderts wurde auch das Geschichtsdenken Zug um Zug säkularisiert und aus den alten religiösen Bindungen befreit.28 Mit Jean Bodin (ca. 1530 – 1596) war bereits kurz nach der Mitte des Reformationsjahrhunderts ein bedeutender Kritiker der von der Reformation erneuerten theologischen Universalgeschichtsschreibung auf den Plan getreten. In seiner Methodus ad facilem historiarum cognitionem von 1566, einer frühen Historik, entwickelte er im Anschluss an ältere humanistische Ideale das Programm einer politischen, für die rechte Führung des Staatswesens nutzbar gemachten Geschichte.29 Allein diese historia humana, also die profane, vom Handeln der Menschen bestimmte und rein immanent zu beschreibende politische Geschichte sei Gegenstand des Historikers. Von ihr kategorial zu unterscheiden seien die historia naturalis, die Bodin den Naturwissenschaftlern, und die historia divina, die er den Theologen überlassen wollte. Damit redete Bodin einer konsequenten Säkularisierung der Weltgeschichte das Wort. Dazu passt die Tatsache, dass er gegen Sleidanus vehement die Brauchbarkeit des biblischen Periodisierungsschemas der vier Weltreiche bestritt.30 Doch auch den eschatologischen Horizont der bisherigen Universalgeschichtsschreibung verbannte Bodin zusammen mit der theologischen Deutungsperspektive aus der ihm vorschwebenden Geschichtsschreibung; damit wird hier der für das biblisch-augustinische Geschichtsbild konstitutive absolute Endpunkt der Geschichte stillschweigend in eine unbestimmte Ferne hinausgeschoben. Doch nicht nur von solchen grundlegenden programmatischen Überlegungen aus, sondern auch durch die Erweiterung der geographischen und literarischen Kenntnisse und die aufkommende Bibelkritik, wie sie etwa durch das berühmte Dictionnaire historique et biblique (1692 – 1695) von Pierre Bayle kolportiert wurde, sah sich das biblisch-augustinische Geschichtsbild bald immer stärkeren Scherkräften ausgesetzt.31 Vier bedeutsame Veränderungen begannen sich seit dem 17. Jahrhundert zu vollziehen: die Eskamotierung des absoluten Anfangs der Geschichte in der Weltschöpfung, die 28 Dazu im Ganzen immer noch grundlegend Klempt, Säkularisierung. 29 Mario Turchetti: Art. »Jean Bodin, Methodus ad facilem historiarum cognitionem«. In: Reinhardt, Hauptwerke, 55 – 58, hier: 57; Fritz Renz: Jean Bodin. Ein Beitrag zur Geschichte der historischen Methode im 16. Jahrhundert. Diss. Univ. Leipzig 1905; Menke-Glìckert, Geschichtsschreibung, 108 – 121; Klempt, Säkularisierung, 42 – 44. 30 Klempt, Säkularisierung, 50 – 53. 31 Vgl. Gustav Adolf Benrath: Art. »Geschichte/Geschichtsschreibung/Geschichtsphilosophie VII/1: 16. bis 18. Jahrhundert«. In: TRE 12, 1983, 630 – 643, hier: 633 – 636.

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Eskamotierung des absoluten Endes der Geschichte im Jüngsten Gericht, das Aufkommen der Fortschrittsidee und die Ablösung biblisch-theologischer Periodisierungsschemata durch das dreigliedrige Schema Altertum – Mittelalter – Neuzeit.

3.1 Die Eskamotierung des absoluten Anfangs der Geschichte in der Weltschöpfung Die neuen geographischen und literarischen Erkenntnisse ließen bald die Vorstellung eines festen, auf Grund der alttestamentlichen Chronologien datierbaren Anfangspunktes der Weltgeschichte problematisch erscheinen.32 Der Keim zur Auflösung der alttestamentlichen Chronologie war bereits in der biblischen Überlieferung selbst enthalten. Schon in der Alten Kirche waren die Differenzen in der Chronologie zwischen dem hebräischen (»masoretischen«) Text des Alten Testaments und der griechischen Septuaginta diskutiert worden. Letztendlich war die christliche Chronologie den hebräischen Datierungen gefolgt. Mit dem humanistischen Rückgang auf die Quellen wurden die deutlich höheren Jahreszahlen im griechischen Text nun wieder als Problem empfunden. In der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts wurden vor allem in den Niederlanden und dann auch in Frankreich teilweise heftige Auseinandersetzungen um die »wahre Weltära« geführt,33 die letztlich zu keinem Ergebnis führten, aber die Glaubwürdigkeit der Bibel als Geschichtsquelle erheblich erschütterten. Als auf Dauer einziger Ausweg bot sich den Historikern der Verzicht auf eine absolute, in Jahren seit der Weltschöpfung gerechnete Weltära an. Stattdessen konnte man einzelne Ereignisse der vorchristlichen Geschichte mehr oder weniger präzise durch eine vom Fixpunkt der Geburt Christi ausgehende Rückwärtszählung datieren. Spiegelsymmetrisch zur bereits länger üblichen Zählung der Jahre seit Christi Geburt begann sich seit dem 17. Jahrhundert die Jahreszählung ante Christum natum durchzusetzen. Nach einigen Vorläufern im Mittelalter begegnete diese sogenannte retrospektive Inkarnationsära erstmals prominent bei dem Jesuiten Dionysius Petavius (1583 – 1652) in seinem Rationarium Temporum (1633). 1659 wurde sie von dem Leidener Historiker Georg Hornius aufgegriffen, 1681 von Bossuet in seinem Discours sur l’Histoire universelle. Im Laufe des 18. Jahrhunderts setzte sich die retrospektive Inkarnationsära in Westeuropa allgemein durch, während man in Deutschland noch länger an der traditionellen Weltära festhielt. Faktisch war damit einer der beiden archimedischen Punkte des biblisch-augustinischen Geschichtsbildes, die präzise datierbare göttliche Weltschöpfung, eskamotiert worden. Ein in diesem Zusammenhang bedeutsames Problem, das erstaunlicherweise 32 Das Folgende nach Klempt, Säkularisierung, 81 – 89. 33 Klempt, Säkularisierung, 97 – 105.

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erst spät und allmählich ins Bewusstsein der Historiographen trat, war die Tatsache, dass durch die Entdeckungen der Frühen Neuzeit in Amerika, Afrika und Ostasien ganze Erdteile und Völker bekannt geworden waren, die nicht in der biblischen Geschichte vorkamen und deren Geschichtserzählungen und Chronologien nicht mit dem biblischen Geschichtsbild vereinbar waren. Wo das Problem überhaupt empfunden wurde, versuchte man gewöhnlich, mit harmonisierenden Umdeutungen auszukommen. Noch die englische Universal History from the earliest account of time to the present (London 1735 – 1765), ein umfangreiches Gemeinschaftsunternehmen einer Reihe von Gelehrten um George Sale, George Psalmanazar und Archibald Bower, die 1744 von Sigmund Jakob Baumgarten in deutscher Übersetzung herausgegeben wurde, versuchte in diesem Sinne, den legendären Gründer des chinesischen Reiches Fo-Hi mit Noah zu identifizieren.34 Eine ingeniöse Lösung für die anstehenden Probleme versprach die 1655 von dem hugenottischen Bibliothekar Isaac de la PeyrÀre (1594 – 1676) erstmals anonym publizierte Präadamiten-Hypothese.35 Danach hatte die Geschichte der Völkerwelt mit der im ersten Schöpfungsbericht der Genesis geschilderten Weltschöpfung begonnen. Die im davon streng zu trennenden zweiten Schöpfungsbericht der Genesis dargestellte Erschaffung Adams sowie die gesamte darauf gegründete alttestamentliche Chronologie beziehe sich demgegenüber allein auf die Entstehung und Geschichte des erwählten jüdischen Volkes. Demnach konnte es lange vor Adam und der alttestamentlichen Geschichte Menschen und menschliche Geschichte gegeben haben, was die Integration außerbiblischer Überlieferungen in das christliche Geschichtsbild ermöglichte. Diese Möglichkeit war freilich theologisch teuer erkauft – waren damit doch auch der Sündenfall und die Sintflut zu Ereignissen der jüdischen Partikulargeschichte degradiert. Letztlich fand La PeyrÀre, der schließlich zum Katholizismus konvertierte und als Laienbruder im Pariser Oratorium lebte, mit seiner kühnen Hypothese keine Nachfolger. Im Endergebnis zeigte sich, dass das geschlossene biblische Geschichtsbild durch keinen noch so kühnen interpretatorischen Griff mit den außerbiblischen Geschichtsüberlieferungen zu vereinbaren war.

3.2 Die Eskamotierung des absoluten Endes der Geschichte im Jüngsten Gericht

Ähnlich wie die Vorstellung eines absoluten Anfangs der Weltgeschichte trat allmählich auch die apokalyptische Erwartung des absoluten Endes der Geschichte in den Hintergrund. Stattdessen griff nun eine innergeschichtliche Zukunftserwartung Raum. 34 Fueter, Historiographie, 322 f. 35 Praeadamitae; Systema theologicum ex Praeadamitarum hypothesi (beide 1655). Vgl. Klempt, Säkularisierung, 89 – 96.

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Auch dabei handelte es sich um einen längeren Prozess, der nicht auf eine einzige Ursache zurückgeführt werden kann. Die Reformation hatte bekanntlich zu einer akuten Erneuerung und Verschärfung der apokalyptischen Naherwartung des Jüngsten Tages geführt. Auf die Entlarvung des päpstlichen Antichrists mussten – so war Luther, so waren die übrigen Reformatoren überzeugt – alsbald der eschatologische Endkampf und die Parusie Christi zum Gericht folgen. Auch wenn das genaue Datum des Jüngsten Tages nicht zu ermitteln war, so galt es doch als ausgemacht, dass die irdische Geschichte binnen kurzem an ihr Ende kommen würde. Aufseiten der römischen Kirche war eine vergleichbar hochgespannte apokalyptische Erwartung die Ausnahme – ein Beispiel, das die Regel bestätigt, bilden die Schriften des Juristen Theodor Graminaeus (geb. ca. 1530)36 –, doch wurden in der konfessionellen Polemik auch hier immer wieder einmal eschatologische Töne angeschlagen. Die apokalyptische Erwartung der Reformation bewegte sich bei all ihrer praktischen Brisanz durchweg im Rahmen des biblisch-augustinischen Geschichtsbildes. Dem ehedem von Augustinus verworfenen Chiliasmus – der an Apk 20 anschließenden Erwartung eines Tausendjährigen Reiches oder, allgemeiner gesprochen, einer künftigen innergeschichtlichen Heilszeit – erteilten auch die Reformatoren eine Absage. Damit grenzten sie sich von Vertretern einer »radikalen Reformation« wie Thomas Müntzer und manchen täuferischen Gruppen ab. Tatsächlich war das Millennium nach augustinischer wie reformatorischer Überzeugung in Gestalt der Kirche bereits angebrochen, und nur die Wiederkunft Christi stand noch aus. Mit dem 17. Artikel des Augsburger Bekenntnisses erlangte die reformatorische Absage an den Chiliasmus Bekenntnisrang.37 Es ist wenig verwunderlich, dass sich die von der Reformation ausgelöste apokalyptische Naherwartung nicht auf Dauer behaupten konnte. Seit der Entlarvung des römischen Antichrists war Jahrzehnt um Jahrzehnt ins Land gegangen, ohne dass die Parusie Christi erfolgte. In den Religionskriegen der verschiedenen europäischen Länder hatte sich nicht der apokalyptische Endkampf vollzogen, vielmehr hatte man Friedensregelungen finden müssen, die notgedrungen die Kohabitation mit dem konfessionellen Gegner ermöglichten und perpetuierten. Auf der anderen Seite hatten sich auch die Hoffnungen auf eine spürbare Hebung der Kirche durch die Reformation zerschlagen: der Lebenswandel der evangelischen Gläubigen war oft nicht besser als derjenige der Katholiken, die erhoffte Bekehrung der Juden und Heiden war ausgeblieben. Zwei mögliche Bewältigungsstrategien boten sich in dieser Lage an, und beide wurden innerhalb des Protestantismus ergriffen. Der orthodoxe »Ma36 Ralf-Peter Fuchs: Das Wüten des bösen Feindes. Glaubensgegner, Hexen und der Antichrist in der Welt des Theodorus Graminaeus. In: Wolfram Brandes/Felicitas Schmieder (Hg.): Antichrist. Konstruktion von Feindbildern. Berlin 2010, 219 – 234. 37 BSLK 72,14 – 18.

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instream« hielt an der traditionellen Enderwartung fest, wonach die irdische Geschichte mit der Wiederkunft Christi zum Jüngsten Gericht enden werde, rechnete mit diesem Ende der Geschichte aber nicht mehr für die allernächste Zukunft, sondern für einen nicht näher bestimmbaren künftigen Zeitpunkt. Anstelle der universalen Eschatologie trat die individuelle Eschatologie, das Schicksal des einzelnen Gläubigen nach dem Tod, in den Fokus der frommen Erwartung. Stillschweigend wurde der Zeitpunkt des Endes von Welt und Geschichte in eine immer fernere Zukunft verschoben – hierin eine Tendenz, die bereits in vorreformatorische Zeit zurückreichte,38 aufnehmend und erneuernd. Die zweite, in gewisser Weise »reaktionäre« Bewältigungsstrategie bestand in der Erneuerung des altkirchlichen Chiliasmus.39 Den biblischen Anhaltspunkt dafür bot die Weissagung vom Tausendjährigen Reich im 20. Kapitel der Johannes-Apokalypse. Wenn man die Fesselung Satans und den Anbruch der Tausend Jahre nicht nach dem Vorgang Augustins auf die Zeit der Kirche deutete, sondern als ein noch ausstehendes eschatologisches Geschehen verstand, ergab sich daraus eine grundlegend veränderte Geschichtsperspektive. Denn nun war vor dem Ende der Welt und der Geschichte noch eine Heilszeit von längerer Ausdehnung – die tausend Jahre waren nicht unbedingt wörtlich zu nehmen –, zu erwarten. Hatte Thomas Brightman (1562 – 1607) in seinem Apokalypse-Kommentar von 1607 noch gemeint, dass das Millennium im Jahre 1300 bereits begonnen habe, so verlegte Joseph Mede (1586 – 1638) seinen Beginn in die nahe Zukunft. In Deutschland waren der reformierte Herborner Theologieprofessor Johann Heinrich Alsted (1588 – 1633) mit seiner Diatribe de mille annis apocalypticis (1627) und der lutherische Sulzbacher Kanzleirat und christliche Kabbalist Christian Knorr von Rosenroth (1636 – 1689) mit seiner Eigentlichen Erklärung über die Gesichter der Offenbarung S. Johannis (1670) Wegbereiter des erneuerten Chiliasmus. Folgenreich wurde die Rezeption chiliastischer Ideen durch Philipp Jakob Spener (1635 – 1705).40 In seiner orthodoxen Straßburger Zeit ein Verächter des Chiliasmus, war Spener durch Johann Jakob Schütz (1640 – 1690) auf die chiliastischen Lehren Knorrs von Rosenroth aufmerksam geworden. Seit 1674 war er selbst von der »Hoffnung besserer Zeiten« erfüllt, die zum wesentlichen Movens seiner Bestrebungen einer pietistischen Kirchenreform wurde und an der er zeitlebens mit nur geringen Variationen festhielt. Die eschatologische Enderwartung Speners kann als postmillenniarisch charakterisiert werden. 38 Reinhart Koselleck: Vergangene Zukunft der frühen Neuzeit. In: Ders.: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. Frankfurt a.M. 1989, 17 – 37, hier : 24. 39 Zum Folgenden Ulrich G•bler: Geschichte, Gegenwart, Zukunft. In: Hartmut Lehmann (Hg.): Geschichte des Pietismus. Bd. 4: Glaubenswelt und Lebenswelten. Göttingen 2004, 19 – 48; Hans Schneider: Die unerfüllte Zukunft. Apokalyptische Erwartungen im radikalen Pietismus um 1700. In: Jakubowski-Tiessen, Jahrhundertwenden, 187 – 212. 40 Heike Krauter-Dierolf: Die Eschatologie Philipp Jakob Speners. Der Streit mit der lutherischen Orthodoxie um die »Hoffnung besserer Zeiten«. Tübingen 2005 (BHTh 131). Vgl. auch den Beitrag von Krauter-Dierolf in diesem Band.

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Demnach sollte noch vor der Parusie Christi ein besserer, höherer Zustand der Kirche auf Erden erreicht werden, indem sich die neutestamentlichen Verheißungen des Niedergangs des römischen »Babel« und der Bekehrung der Juden zu Christus erfüllen würden. Damit war das Ende der Geschichte in eine fernere Zukunft verlegt. Mehr noch, es war nun ein Raum für eine positive Weltgestaltung aus dem christlichen Glauben heraus eröffnet, die Zukunft war zur Aufgabe menschlichen Planens und Handelns geworden. Nach und neben Spener war es vor allem das Ehepaar Petersen, das sich der Verbreitung chiliastischer Gedanken verschrieben hatte.41 Einzelheiten ihrer eschatologischen Erwartung können hier außer Acht bleiben. Von Bedeutung ist, dass die Konzeption der Petersens im Unterschied zu Spener prämillenniarisch angelegt war. Danach musste zuerst die Parusie Christi mitsamt der ersten Auferstehung und dem ersten Gericht erfolgen, bevor das Millennium beginnen konnte; dieses würde schließlich mit einem zweiten Gericht enden. Eine derartige prämillenniarische Erwartung war weniger geeignet, Impulse für ein weltgestaltendes Wirken in der Gegenwart freizusetzen als der Postmillenniarismus Speners. Hinsichtlich des Geschichtsbewusstseins liefen freilich beide Konzeptionen gleichermaßen darauf hinaus, das Ende der Welt und ihrer Geschichte in eine fernere Zukunft hinauszuschieben. Die chiliastische Zukunftserwartung ist zum wesentlichen Merkmal des Pietismus geworden – sei es im Sinne des Postmillenniarismus Speners, sei es im Sinne des Prämillenniarismus der Petersens. Damit hat der Pietismus wesentlich dazu beigetragen, einen qualitativ wie quantitativ bedeutsamen innergeschichtlichen Zukunftshorizont zu eröffnen und den zweiten chronologischen Fixpunkt des biblisch-augustinischen Geschichtsbildes, das unmittelbar bevorstehende Weltende, zurücktreten zu lassen. Wo man dann, wie Johann Albrecht Bengel, womöglich sogar mit zwei zukünftigen Millennien zu je tausend Jahren Dauer rechnete42, hatte das Weltende jeden unmittelbaren Einfluss auf das aktuelle Geschichtsbewusstsein eingebüßt. Im Zusammenwirken zwischen prolongierter orthodoxer Enderwartung und pietistischem Chiliasmus mit den allgemeinen Tendenzen einer Säkularisierung und Enttheologisierung der Historie kam es so stillschweigend zur Eskamotierung der Vorstellung von einem absoluten Ende der Geschichte. Auch die Rückzugsgefechte »moderner« Theologen, die, häufig von der Physikotheologie geprägt, versuchten, die traditionelle christliche Eschatologie durch die Aufnahme von naturwissenschaftlichen Überlegungen zu retten, vermochten daran nichts zu ändern. Im Gegenteil – wie Matthias Pohlig gezeigt hat, waren gerade solche Unternehmungen im Ergebnis dazu angetan, die Vorstellung vom Ende vollends zu säkularisieren, indem sie das Weltende

41 G•bler, Geschichte, 25 – 29. 42 G•bler, Geschichte, 33 – 36.

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aus einer überweltlichen Veranstaltung der göttlichen Heilsgeschichte zu einem Element der Naturgeschichte machten.43

3.3 Die Öffnung eines innergeschichtlichen Erwartungshorizonts und das Aufkommen der Fortschrittsidee Mit der eben beschriebenen Eskamotierung des absoluten Endes der Geschichte ging eine qualitative Veränderung in der Wahrnehmung des Geschichtsverlaufs selbst einher. Im Rahmen des biblisch-augustinischen Geschichtsbildes war die Gegenwart, wie immer man die Universalgeschichte auch periodisieren mochte, Teil einer letzten Geschichtsepoche, innerhalb derer substantiell Neues oder Anderes nicht zu erwarten stand. Demgegenüber eröffneten schon die chiliastischen Erwartungen, wie sie im Pietismus gepflegt wurden, die Möglichkeit einer prinzipiell andersartigen innergeschichtlichen Zukunft. Doch auch abseits von derartigen inhaltlich präzise bestimmten Erwartungen begann sich im 18. Jahrhundert ein neues, »offenes« Geschichtsbewusstsein zu verbreiten. Maßgeblich dafür waren die Erfahrungen einer säkularen Beschleunigung der geschichtlichen Zeit, wie sie Reinhart Koselleck für die beginnende Moderne konstatiert hat.44 Das erhöhte Tempo technisch-wissenschaftlicher Innovationen, aber auch politischer, wirtschaftlicher und sozialer Entwicklungen ließ die Distanz, ja Differenz der eigenen Gegenwart gegenüber der Vergangenheit in bislang ungekannter Weise spürbar werden. Gleichzeitig wurde die Zukunft als offener, von der Vergangenheit abgegrenzter Raum für neuartige Erfahrungen entdeckt. Die beiden metahistorischen Grundkategorien zur Thematisierung geschichtlicher Zeit, »Erfahrung« und »Erwartung«, traten, um abermals mit Koselleck zu reden, mit dem Beginn der Moderne auseinander.45 Beides, die Verzeitlichung der Geschichte und die Öffnung des Zukunftshorizonts, haben ein eigentlich geschichtliches Denken allererst ermöglicht. Gewöhnlich wird diese grundlegende Transformation des Zeit- und Geschichtsempfindens erst für den späteren Verlauf des 18. Jahrhunderts konstatiert. Nach neueren Forschungen von Daniel Fulda46 scheint sie jedoch schon um 1700 eingesetzt zu haben. Der neue, veränderte »Erwartungshorizont« fand seinen zusammenfas43 Matthias Pohlig: »The greatest of all Events«. Zur Säkularisierung des Weltendes um 1700. In: Ders. [u.a.] (Hg.): Säkularisierungen in der Frühen Neuzeit. Methodische Probleme und empirische Fallstudien. Berlin 2008 (ZHF Beih. 41), 331 – 370. 44 Reinhart Koselleck: Gibt es eine Beschleunigung der Geschichte? In: Ders.: Zeitschichten. Studien zur Historik. Frankfurt a.M. 2000, 150 – 176. Vgl. Hartmut Rosa: Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne. Frankfurt a.M. 2005. 45 Reinhart Koselleck: »Erfahrungsraum« und »Erwartungshorizont« – zwei historische Kategorien. In: Ders.: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. Frankfurt a.M. 1979, 349 – 375. 46 Siehe den Beitrag von Daniel Fulda in diesem Band.

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senden programmatischen Ausdruck in der Idee des Fortschritts. Für die vormoderne Geschichtsanschauung galt bekanntlich die Überzeugung von der Überlegenheit des Älteren, Ursprünglichen. Jede Abweichung vom normativen Ursprung der Geschichte musste demnach zwangsläufig Minderung und Verschlechterung bedeuten. »Das Ältere ist das Bessere«, so lautete das Credo dieser seit dem Altertum allgemein geteilten Anschauung.47 In der Frühen Neuzeit wurde dieses Credo dauerhaft in sein Gegenteil verkehrt.48 Seitdem gilt das Neue als das Bessere. Wo die ältere Geschichtsanschauung mit Kreislauf- oder Verfallsmodellen arbeitete, brach sich nun eine dezidierte innergeschichtliche Verbesserungs- und Fortschrittserwartung Bahn. Ein Markstein auf dem Weg zu dieser neuen, fortschrittsoptimistischen Geschichtsauffassung war die am Ende des 17. Jahrhunderts in Frankreich ausgetragene Querelle des Anciens et des Modernes.49 Dabei ging es um den Vorbildcharakter der Literatur des klassischen Altertums. Am 27. Januar 1687 rezitierte der Dichter Charles Perrault (1628 – 1703) in der Acad¦mie FranÅaise ein Preisgedicht auf den seit 44 Jahren regierenden »Sonnenkönig« Ludwig XIV. (reg. 1643 – 1715) vor: Le siÀcle de Louis le Grand. Darin stellte er das Zeitalter Ludwigs dem klassischen augusteischen Zeitalter gleich und erklärte, die Menschen der Antike seien wohl groß und verehrungswürdig gewesen, aber eben doch nur Menschen mit ihren Schwächen und den Neueren nicht unbedingt überlegen; ihr Vorbild konnte daher für die Gegenwart nicht mehr verbindlich sein. 1688 entfaltete und verschärfte Perrault diese These in seinem vierbändigen Werk ParallÀle des anciens et des modernes. Unterstützung erfuhr er darin unter anderem durch Bernard Le Bovier de Fontenelle (1657 – 1757) und Jean Desmarets de Saint-Sorlin (1595 – 1676). Dagegen beharrten bedeutende Literaten wie Nicolas Boileau (1636 – 1711), Jean Racine (1639 – 1699), Jean de La Fontaine (1621 – 1695) und Jean de La BruyÀre (1645 – 1696) auf der Überlegenheit des klassischen Altertums. In den folgenden Jahrzehnten wurden in verschiedenen europäischen Ländern ähnliche Auseinandersetzungen dieser Art geführt. In England war dies die seit 1690 ausgetragene, von Jonathan Swift so genannte Battle of the Books. In der von 1713 bis 1716 wieder in Frankreich entflammten Querelle d’HomÀre standen der Rang Homers und die Möglichkeit oder Notwendigkeit, ihn zu verbessern, zur Debatte. Nach Deutschland wurde die Problematik durch Johann Christoph Gottsched (1700 – 1766) und durch Johann Joachim Winckelmanns (1717 – 1768) Gedancken über die Nachahmung der Griechischen Wercke in der Mahlerey und Bildhauer-Kunst (1755) übertragen. 47 Sch•ufele, »Defecit ecclesia«, 18 – 22; Wolf-Friedrich Sch•ufele: Der »Pessimismus« des Mittelalters. Mainz 2006 (Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz: Abhandlungen der geistes- und sozialwissenschaftlichen Klasse 7/2006), 21 – 23. 48 Vgl. Wolf-Friedrich Sch•ufele: Zur Begrifflichkeit von »alt« und »neu« in der Frühen Neuzeit. In: Christoph Kampmann [u.a.] (Hg.): Neue Modelle im Alten Europa. Traditionsbruch und Innovation als Herausforderung in der Frühen Neuzeit. Köln [u. a.] 2012, 13 – 29. 49 Till R. Kuhnle: Art. »Querelle«. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik 7, 2005, 503 – 523.

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Waren diese Diskurse zunächst auf das Gebiet der Kunst beschränkt, so wurden die Grundgedanken bald auch auf andere Gebiete des gesellschaftlichen und geistigen Lebens übertragen. Die endgültige und sozusagen klassische Formulierung erhielt die neue Fortschrittsidee 1794 durch Condorcet in seiner Esquisse d’un tableau historique des progrÀs de l’esprit humain; sie gehört seitdem »zum innersten Wertekanon der Moderne«50. Danach ist die Geschichte ein ständiges Fortschreiten zum Besseren, ein prinzipiell unabschließbarer Prozess der geistigen, sittlichen, technischen, politischen und sozialen Vervollkommnung. Ein Ende der Geschichte ist hier weder erreichbar noch auch nur wünschbar. Insofern beförderte das Aufkommen der Fortschrittsidee auch noch zusätzlich die oben erwähnte Eskamotierung des zweiten chronologischen Fixpunktes des biblisch-augustinischen Geschichtsbildes. 3.4 Die Ablösung biblisch-theologischer Periodisierungsschemata Charakteristisch für das biblisch-augustinische Geschichtsbild war die Verwendung biblisch-allegorischer Schemata zur Binnenperiodisierung des Geschichtsverlaufs gewesen.51 Dabei konnten verschiedene Modelle nebeneinander Verwendung finden; gemeinsam war ihnen aber stets, dass die jeweilige Gegenwart in die letzte Geschichtsperiode vor dem Weltende fiel. Lange hatte das Schema der sechs bzw. sieben Weltzeitalter dominiert, und noch die berühmte Weltchronik des Nürnberger Humanisten Hartmann Schedel (1440 – 1514) von 1493 war nach diesem Gliederungsprinzip angelegt.52 Praktisch von weitaus größerer Bedeutung für die Geschichtsschreibung der Frühen Neuzeit wurde indessen das Schema der vier Weltreiche (vier Monarchien), wie es z. B. dem erwähnten Kompendium des Sleidanus zugrunde lag. Demnach war die Weltgeschichte durch die Aufeinanderfolge der Weltreiche der Assyrer, Perser, Griechen und Römer strukturiert. Mit der Herrschaft der Römer hatte das letzte Weltzeitalter begonnen, und es würde andauern, solange das im römischdeutschen Kaiserreich fortdauernde Imperium Romanum Bestand hatte. Es war vor allem diese politisch brisante Verknüpfung des Vier-Monarchien-Schemas mit der politischen Legitimierung des sakral verstandenen Heiligen Römischen Reiches, die bereits den Unmut Bodins erregt hatte. Doch auch in der Praxis erwies sich das Weltreiche-Schema als zunehmend schlechter handhabbar. Denn der weitaus größte Teil des historischen Wissens war hier der vierten und letzten Ordnungskategorie zugeordnet, während die ersten drei relativ kurz abzuhandeln waren. Im Zuge des allgemeinen Trends 50 Walter Sparn/Gerrit Walther: Art. »Fortschritt«. In: Enzyklopädie der Neuzeit 3, 2006, 1079 – 1084, hier: 1079. Vgl. Matthias Arning: Die Idee des Fortschritts. Der sozialphilosophische Entwurf des Marquis de Condorcet als alternative Snythesis-Vorstellung zum Konzept der politischen Tugend. Frankfurt a.M. [u.a.] 1998 (EHS 31,355). 51 Sch•ufele, Pessimismus, 28 f. 52 Klempt, Säkularisierung, 23.

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zur Säkularisierung erscheint es nur folgerichtig, dass um die Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert als letztes der biblischen Gliederungsschemata zur Periodisierung des Geschichtsverlaufs auch das Vier-Weltreiche-Schema nach und nach preisgegeben wurde. Als letzter prominenter Verteidiger der Weltreiche-Lehre trat 1712 der Wittenberger Theologe und Historiker Johann Wilhelm Jan auf.53 Doch führte er zu diesem Zeitpunkt kaum mehr als ein Nachhutgefecht, selbst wenn das Weltreiche-Schema in der historiographischen Praxis vereinzelt noch bis ins 19. Jahrhundert Verwendung fand. Ansätze eines alternativen, nicht mehr dem biblischen Rahmen verpflichteten Periodisierungsmodells hatte bereits der Humanismus entwickelt. Entsprechend seiner spezifischen Anschauung der Kulturgeschichte, die auf die idealisierte klassische Antike ein »finsteres Mittelalter« als Verfallszeit folgen ließ, bevor die eigene Gegenwart das Wiederaufleben der antiken Kunst und Kultur erlebte, bildete er eine dreigliedrige Periodisierung aus, die freilich zunächst nur auf die Literaturgeschichte angewendet wurde; Uwe Neddermeyer spricht von der »philologischen« oder »quellenkritischen Trias«.54 In Weiterbildung dieser »philologischen Trias« etablierte sich dann in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts auch in der allgemeinen Historiographie die uns heute noch selbstverständliche Dreierperiodisierung in Altertum, Mittelalter und Neuzeit.55 Die 1666 erschienene Universalgeschichte Arca Noae des Leidener Historikers Georg Hornius (geb. 1670) folgte zwar noch dem WeltreicheSchema, war aber schon in historia vetus, medium aevum und historia nova unterteilt.56 Zum Durchbruch kam die neue Dreierperiodisierung dann gegen Ende des Jahrhunderts unter protestantischen Historikern der Universitäten Halle, Wittenberg, Leipzig und Jena. Der Gymnasialrektor und spätere Hallesche Geschichtsprofessor Christoph Cellarius (1638 – 1707) benutzte sie als erster zur Einteilung seiner Universalgeschichte, die von 1685 – 1696 in drei Bänden mit den Titeln Historia antiqua, Historia medii aevi und Historia nova erschien. Maßgeblich für den Erfolg dieser Trias wurde das mittlerweile unangefochtene Bewusstsein, in einer gegenüber früheren Geschichtsperioden »neuen« Zeit zu leben. In der modernen Geschichtswissenschaft ist das klassische Dreierschema modifiziert worden – vor allem durch die Unterteilung der »Neuzeit« durch eine weitere Modernisierungsschwelle, die von Reinhart Ko53 Antiquae et pervulgatae de quatuor Monarchiis sententiae, 1712, 21728. Vgl. Klempt, Säkularisierung, 58. 54 Uwe Neddermeyer: Das Mittelalter in der deutschen Historiographie vom 15. bis 18. Jh. Geschichtsgliederung und Epochenverständnis in der frühen Neuzeit. Köln/Wien 1988 (Kölner Historische Abhandlungen 34), 24 – 32. 55 Vgl. Klempt, Säkularisierung, 75 – 80; Wolf-Friedrich Sch•ufele: Das Bild des Mittelalters in der protestantischen Kirchengeschichtsschreibung. In: Kerstin Armborst-Weihs/Judith Becker (Hg.): Toleranz und Identität. Geschichtsschreibung und Geschichtsbewusstsein zwischen religiösem Anspruch und historischer Erfahrung. Göttingen 2010 (VIEG Beih. 79), 109 – 138, hier: 110 – 114. 56 Ulrich Knefelkamp: Das Mittelalter. Stuttgart 2003, 13.

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selleck so genannte »Sattelzeit«, in (Frühe) Neuzeit und Neueste Zeit und durch die Einführung der sogenannten Zeitgeschichte –, doch wurde es bei aller berechtigten Kritik nicht grundsätzlich preisgegeben. Unterhalb der Ebene der Dreierperiodisierung setzte sich seit der Wende zum 18. Jahrhundert die Einteilung der Geschichte nach Jahrhunderten durch. Rein mechanisch gehandhabt, hatte sie bereits – ohne die seither damit verbundene Emphase – den Magdeburger Zenturien als Rubrizierungsmittel gedient. Mit der zunehmenden inhaltlichen Aufladung der Jahrhundertwenden seit 1700 drängte sich die Verwendung der Säkularrechnung zur Geschichtsperiodisierung dann förmlich auf. Auch sie dient bis heute als probates Gliederungsprinzip, auch wenn es sich eingebürgert hat, in der Abgrenzung der Jahrhunderte flexibel zu verfahren und z. B. ein »langes 19. Jahrhundert« von einem »kurzen 20. Jahrhundert« zu unterscheiden. Mit der Einführung der dreigliedrigen Geschichtsperiodisierung und der Jahrhundertrechnung war nun auch die Binnengliederung des Geschichtsverlaufs säkularisiert, d. h. von biblischen Vorgaben und Deutemustern gelöst worden. Die biblische Heilsgeschichte diente nicht länger als hermeneutischer Schlüssel für die »Profangeschichte«, deren Gliederung stattdessen aus ihren eigenen Bewegungsgesetzen abgeleitet werden sollte.

4. Die Verwissenschaftlichung der Geschichtsschreibung Wie konnte eine aus den chronologischen und geographischen Begrenzungen und aus den inhaltlichen Bestimmungen des biblisch-augustinischen Geschichtsbildes befreite Geschichtsschreibung aussehen? Im 17., vor allem aber im 18. Jahrhundert bildete sich in einem längeren Prozess eine neue Form der Historiographie heraus, für die in methodischer Hinsicht eine Verwissenschaftlichung und in inhaltlicher Hinsicht eine Ablösung religiös-theologischer durch immanent-pragmatische Deutungen kennzeichnend wurde. Was das erste, die Verwissenschaftlichung der Geschichtsschreibung, betrifft, so setzte diese im 17. Jahrhundert in Frankreich ein.57 Bereits Leibniz brachte diese Entwicklung mit dem Vorbild der in dieser Zeit aufblühenden exakten Naturwissenschaften in Verbindung.58 Wirklich setzten der Aufschwung der Astronomie, der Physik und der Mathematik neue Standards wissenschaftlicher Präzision, die alsbald auch von Wissenschaften wie der Philosophie und der Geschichte als wünschenswert angesehen wurden. Nicht zuletzt der philosophische Neuansatz von Descartes – der der Geschichte den Charakter einer Wissenschaft absprach, da sie nicht in der Lage sei, deduktive 57 Fueter, Historiographie, 307 – 311; anders Christian Simon: Historiographie. Eine Einführung. Stuttgart 1996, 63. 58 Fueter, Historiographie, 312.

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demonstrierbare Wahrheiten zu finden – leistete der Forderung nach präziser, methodisch gesicherter Wissenschaftlichkeit Vorschub.59 Zwei historiographische Großunternehmen in Frankreich, beide gestützt auf die Infrastruktur monastischer Gemeinschaften, setzten die neuen Standards, die bald in allen europäischen Ländern für historisches Arbeiten verbindlich werden sollten. An erster Stelle zu nennen sind hier die Mauriner von Saint-Germain-des-Pr¦s in Paris, die sich mit ihren Bemühungen um eine systematische und vollständige Sammlung der besten (Kirchen-) Geschichtsquellen einen Namen machten.60 War in der Tradition des Humanismus die Geschichtsschreibung im Wesentlichen als eine poetisch-literarische Aufgabe verstanden worden, die auch der schöpferischen Phantasie des Historiographen Raum ließ, so wurde nun der uns heute selbstverständliche Quellenbezug der Geschichtsschreibung eingefordert. In der praktischen Erschließung und Edition der Quellen haben die Mauriner Großes geleistet. Ihr bedeutendster Vertreter war Jean Mabillon (1632 – 1707). 1667 publizierte er eine Edition der Schriften Bernhards von Clairvaux, von 1668 bis 1701 gab er die aus den Quellen geschöpften Lebensbeschreibungen der Heiligen des Benediktinerordens heraus. 1703 begann er mit der Herausgabe der groß angelegten Annales ordinis s. Benedicti (1703 – 1739), von deren sechs Bänden er die ersten vier noch selbst publizieren konnte. Fueter nannte dieses Werk »das Meisterstück der neuen gelehrten Geschichtsschreibung«61. Auch um die Entwicklung der historischen Hilfswissenschaften machten sich Mabillon und die Mauriner verdient; seine De re diplomatica libri sex (1681) begründeten die moderne Diplomatik und Paläographie. Doch nicht nur methodische Klarheit und Umsicht bei der Sammlung der besten Quellen zeichneten Mabillons Arbeit aus. Obwohl die Mauriner durchaus das Ziel verfolgten, den katholischen Glauben gegen die Anwürfe der Protestanten zu verteidigen, enthielten sie sich aller Gehässigkeit und groben Polemik und bemühten sich aufrichtig um Objektivität. Dahinter stand ein vielleicht naiver Glaube daran, die geschichtliche Wahrheit auf der eigenen Seite zu haben; im Endergebnis tat die ruhige Sachlichkeit ihrer historischen Arbeit den Editionen und Geschichtswerken der Mauriner gut. Das zweite historiographische Großunternehmen, das zur Verwissenschaftlichung der Geschichtsschreibung beitrug, war die Edition der Acta Sanctorum durch die Jesuiten um Jean Bolland (1596 – 1665) .62 Die 1643 in 59 Horst Walter Blanke: Historiographiegeschichte als Historik. Stuttgart-Bad Cannstatt 1991 (Fundamenta Historica 3), 93. 60 Ren¦-Prosper Tassin: Histoire litt¦raire de la Congr¦gation de Saint Maur, ordre de Saint Beno„t. Paris 1770; Jean-Claude Fredouille (Hg.): Les Mauristes — Saint-Germain-des-Pr¦s. Actes du colloque de Paris (2 d¦cembre 1999). Paris 2001; Manfred Weitlauff: Die Mauriner und ihr historisch-kritisches Werk. In: Georg Schwaiger (Hg.): Historische Kritik in der Theologie. Beiträge zu ihrer Geschichte. Göttingen 1980, 153 – 209. 61 Fueter, Historiographie, 313. 62 Robert Godding [u.a.] (Hg.): Bollandistes, saints et l¦gendes. Quatre siÀcles de recherche.

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Antwerpen begonnene Sammlung von Heiligenlegenden wird von den sogenannten Bollandisten nach einer Unterbrechung in den Jahren 1794 – 1837 bis heute fortgesetzt. Dabei ging es nicht einfach um größtmögliche Vollständigkeit. Bemerkenswert ist die Freimütigkeit, mit der die überlieferten Quellen von den Bollandisten der historischen Kritik unterzogen wurden. Der humanistischen und reformatorischen Kritik an den mittelalterlichen Legenden glaubte man am besten begegnen zu können, indem man die anstößigsten und unwahrscheinlichsten Quellen ausschied und nur die ursprünglichen Überlieferungen gelten ließ. Mauriner und Bollandisten haben mit dem Prinzip der vollständigen Sammlung der besten Quellen, der freimütigen Anwendung der historischen Quellenkritik und dem Bemühen um Objektivität der Darstellung den Grundstein für eine neue, stärker verwissenschaftlichte Geschichtsschreibung gelegt. Auf dieser Basis entstanden in der Folge zunächst in Frankreich moderne Geschichtsdarstellungen.63 Dem in Port Royal erzogenen Jansenisten Louis-S¦bastien Le Nain de Tillemont (1637 – 1698) sind eine römische Kaisergeschichte und eine Kirchengeschichte der ersten sechs Jahrhunderte zu verdanken.64 Wirkungsmächtig wurde auch die bis 1414 reichende zwanzigbändige Kirchengeschichte des Prinzenerziehers Claude Fleury (1640 – 1723), die von 1691 bis 1720 erschien. Nach und nach begannen die neuen Grundsätze die historiographische Arbeit dann auch in anderen Ländern Europas zu beeinflussen. Bald machte die wissenschaftliche Kritik, die sich erfolgreich Teile der kirchlichen Überlieferung unterworfen hatte, auch vor den biblischen Geschichtserzählungen nicht mehr Halt. Meilensteine für diesen weiteren Erfolg der historischen Kritik bildeten das Erscheinen der Histoire critique du Vieux Testament (1678) und der Histoire critique du texte du Nouveau Testament (1689) des Oratorianers Richard Simon (1638 – 1712)65 sowie von Pierre Bayles (1647 – 1706) Dictionnaire historique et critique (1692 – 1695)66.

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Bruxelles 2007; Jan M. Sawilla: Antiquarianismus, Hagiographie und Historie im 17. Jahrhundert. Zum Werk der Bollandisten. Ein wissenschaftshistorischer Versuch. Tübingen 2009 (Frühe Neuzeit 131). Fueter, Historiographie, 311 – 315. Histoire des Empereurs et des autres princes qui ont regn¦ durant les six premiers siÀcles de l’Êglise (1690 – 1738); M¦moires pour servir — l’histoire eccl¦siastique des six premiers siÀcles (1693 – 1712). Sascha Mìller: Kritik und Theologie. Christliche Glaubens- und Schrifthermeneutik nach Richard Simon (1638 – 1712). In: Münchner Theologische Zeitschrift 56, 2005, 212 – 224. Hans Bots (Hg.): Critique, savoir et ¦rudition — la veille des LumiÀres. Le »Dictionnaire historique et critique« de Pierre Bayle (1647 – 1706). Actes du colloque international, NimÀgue octobre 1996. Amsterdam 1998.

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Geschichtsbewusstsein und Geschichtsschreibung um 1700

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5. Pragmatisch-immanente Geschichtsdeutung Man darf nicht meinen, dass die ältere Geschichtsschreibung alles innerweltliche Geschehen ausnahmslos und direkt auf das Wirken jenseitiger Mächte zurückgeführt und die Historie so gleichsam unablässig sub specie aeternitatis betrachtet hätte. Insofern bot die historiographische Praxis gegenüber den religiös-theologisch bestimmten Grundauffassungen über Wesen und Verlauf der Geschichte immer auch Freiräume für eine stärker säkulare Betrachtung. Doch mit der Auflösung des biblisch-augustinischen Geschichtsbildes und dem Plausibilitätsverlust der hergebrachten religiösen Geschichtsauffassung musste nun die Historie insgesamt anders, das heißt säkular, gedeutet und beschrieben werden. Die Geschichtsschreibung war herausgefordert, immanente, innerweltliche Begründungen und Deutungen des Geschehens zu finden. Waren bisher im letzten Grunde Gott und sein Widersacher, der Teufel, als die Beweger und Protagonisten alles Geschehens zu denken, so schenkten die Historiographen nun den einzelnen menschlichen Akteuren der Geschichte und den innerweltlichen Kausalitäten größeres Augenmerk. Die beteiligten menschlichen Individuen mit ihren jeweiligen Motiven und Interessen wurden jetzt als die entscheidenden Instanzen geschichtlicher Entwicklungen erkannt. Entstanden ist diese sogenannte »pragmatische« Geschichtsdeutung in Frankreich. Schon die von Bodin konzipierte historia humana hatte in diese Richtung gezielt. 1671 formulierte C¦sar Vichard de Saint-R¦al in seiner Abhandlung De l’usage de l’histoire programmatisch: »Savoir, c’est conna„tre les choses par leurs causes […], ¦tudier l’histoire, c’est ¦tudier les motifs, les opinions et les passions des hommes, pour en conna„tre tous les ressorts, les tours et les d¦tours, enfin toutes les illusions qu’elles savent faire aux esprits, et les surprises qu’elles font aux coeurs«.67

Für die Profanhistoriographie der Aufklärung war die pragmatische Geschichtsdeutung, wonach sich der Geschichtsverlauf weltimmanent durch Kausalbeziehungen nach dem Muster von Ursache und Wirkung hinreichend und vollständig erklären lasse, das allgemein anerkannte Paradigma. Doch auch in die sich verselbständigende Kirchengeschichtsschreibung fand es bald Eingang; einen Markstein auf diesem Wege stellte, wie wir unten noch sehen werden, in gewisser Weise und durchaus entgegen der Intention ihres Autors die bereits erwähnte Kirchen- und Ketzerhistorie Gottfried Arnolds dar. Eine nicht zu unterschätzende Folge der weltimmanenten, an Kausalbeziehungen orientierten Pragmatik war die Wahrnehmung der Geschichte als eines organisch zusammenhängenden Ganzen. Hatten ältere Geschichtsdarstellungen innerhalb des ihnen vorgegeben chronologischen Rasters die historischen 67 Zitiert nach Simon, Historiographie, 64.

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Materialien im Wesentlichen unverbunden nebeneinandergestellt und die »Geschichten« oder »Historien« – ursprünglich wurde das Wort nur im Plural verwendet – je für sich als politische oder moralische Exempel ausgebeutet, so verbreitete sich nun die Vorstellung von »der Geschichte« oder »Historie« im Singular als eines zusammenhängenden, durch strenge Kausalbeziehungen verknüpften Ereigniszusammenhangs. Das Aufkommen des Kollektivsingulars »die Geschichte« ist als Indiz für diese neue Einsicht zu werten.68 An die Stelle der großen heilsgeschichtlichen Deutungsperspektiven konnten in der Folge nach und nach andere, weltimmanente »große Erzählungen« treten. Die alte Geschichtstheologie wich – nach Leibniz und Vico vollends mit Voltaire (1694 – 1778) und seiner Philosophie de l’histoire (1765) – der Geschichtsphilosophie.69 Im Geist der Aufklärung war es vor allem die Fortschrittsidee, die zum organisierenden Prinzip der Geschichtsdarstellung avancieren konnte, später, in der marxistischen Historiographie, der historisch-dialektische Materialismus. Im Ganzen wird man jedoch in der historiographischen Praxis eine gewisse Zurückhaltung gegenüber derartigen Versuchen einer neuerlichen universalgeschichtlichen Perspektivierung konstatieren müssen. Thematisch kam es im 17. und frühen 18. Jahrhundert in der profanen Historiographie zu einer Spezialisierung und Diversifizierung, das Interesse verlagerte sich fort von der Universalgeschichte und der Geschichte des Altertums hin zur politischen Geschichte der Neuzeit; aus dem Dienst der Poetik und der Theologie trat die Geschichtswissenschaft nun in den Dienst des Staatsrechts.70

6. Verselbständigung und Enttheologisierung der Kirchengeschichtsschreibung Auch wenn sich infolge der Reformation zum Zweck kontroverstheologischer Auseinandersetzung eine selbständige Kirchengeschichtsschreibung entwickelt hatte, so blieb die Kirchengeschichte doch zunächst systematisch und institutionell ein Bestandteil der Universalgeschichte, wie sie an den protestantischen Universitäten, vielfach mit besonderen Lehrstühlen, an der philosophischen Fakultät betrieben wurde. Erst seit dem Dreißigjährigen Krieg brach die alte Universalgeschichte endgültig auseinander. Während sich die politische Geschichtsschreibung immer stärker in den Dienst praktischer juristischer oder politischer Zwecke stellte, kam es im Gegenzug zu einer 68 Joachim Knape: »Historie« in Mittelalter und früher Neuzeit. Begriffs- und gattungsgeschichtliche Untersuchungen im interdisziplinären Kontext. Baden-Baden 1984 (Saecula spiritalia 10). 69 Klempt, Säkularisierung, 128 – 130. 70 Blanke, Historiographiegeschichte, 93; Scherer, Geschichte, 135 – 213.

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Verselbständigung der Kirchengeschichte, die an den protestantischen Universitäten von der philosophischen zur theologischen Fakultät überwechselte.71 1650 wurde in Helmstedt erstmals eine Professur für Kirchengeschichte an der theologischen Fakultät eingerichtet, im Jahr darauf in Gießen, danach in rascher Folge in Heidelberg, Marburg und Jena. Damit gelangte eine Tendenz zur Herrschaft, die bereits in Melanchthons lateinischem Chronicon Carionis angelegt war, wo politische und Heilsgeschichte im Sinne der ZweiRegimenten-Lehre Luthers unterschieden waren.72 In Fortführung dieser Tendenz hatte 1599 der Jenaer Historiker Elias Reusner (1555 – 1612) sein universalgeschichtliches Lehrbuch von vornherein in eine kirchengeschichtliche und eine profangeschichtliche Sektion unterteilt – eine Dichotomie, die sich bereits im Titel niederschlug: Isagoges historicae libri duo, quorum unus ecclesiasticam, alter politicam continet historiam … (Jena 1599, 21609).73 Drei Jahrzehnte später behandelte Johannes Micraelius (1596 – 1658) in Stettin Profan- und Kirchengeschichte schon in getrennten Lehrbüchern.74 Die institutionelle Emanzipation der Kirchengeschichte von der politischen Geschichte und ihre Verankerung in der Theologie führte nun aber nicht etwa, wie man meinen könnte, dazu, dass sich die alten Prinzipien der theologischen Geschichtsdeutung wenigstens auf dem umschränkten Feld der kirchlichen Historiographie auf Dauer gegen den Zug zur Säkularisierung behauptet hätten. Tatsächlich lässt sich auch in der protestantischen Kirchengeschichtsschreibung ein allmähliches Abrücken von den bisherigen theologischen Deutungsmustern beobachten. Auch in der Kirchengeschichte wurden nun zunehmend innerweltliche Momente als Ursachen geschichtlicher Tatsachen und Entwicklungen in den Blick genommen. Zugleich kam eine – allerdings nur langsam voranschreitende – Entkonfessionalisierung und Objektivierung der Geschichtsschreibung in Gang, die nicht zuletzt auch durch den allgemeinen Trend zur Verwissenschaftlichung der Historiographie gefördert wurde. Diese Entwicklung ist bereits in der Historiographie des Pietismus zu greifen. Obwohl zahlreiche prominente Vertreter des kirchlichen Pietismus, allen voran Spener, originelle und differenzierte Geschichtsanschauungen hegten, sind bedeutende Kirchengeschichtswerke praktisch nur aus dem radikalen, kirchenkritischen Pietismus hervorgegangen. Das prominenteste Beispiel ist die bereits erwähnte Unparteyische Kirchen- und Ketzer-Historie Gottfried Arnolds. Der konfessionelle Standpunkt ist hier zugunsten eines spiritualistischen Geistchristentums aufgegeben, was zwar inhaltlich zu revolutionären Umwertungen innerhalb der Geschichtserzählung führte, letztlich aber, wie oben bereits festgestellt, nur die Ersetzung einer theologischen Deutungsperspektive durch eine andere bedeutete. Mehr noch: So wirkungsmächtig die Kirchen- und Ketzer71 72 73 74

Zum Folgenden Scherer, Geschichte, 213 – 273; Sch•ufele, Theologie und Historie, 145 f. Scherer, Geschichte, 105. Vgl. Klempt, Säkularisierung, 34. Klempt, Säkularisierung, 41 f. Klempt, Säkularisierung, 47.

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historie in bestimmter Hinsicht auch war, so wenig konnte sie doch in ihrer genialen Einseitigkeit, die keinen Raum für die äußere, institutionell verfasste Kirche ließ, für eine erneuerte Kirchengeschichtsschreibung im Grundsatz beispielgebend wirken.75 Gleichwohl vermochte Arnold mit seinem Werk bedeutende innovatorische Impulse zu geben. Indem er einen Standpunkt über den »Parteien« und mithin auch über und jenseits der kirchlichen Institutionen einnahm, rückte er – stärker noch als die seit dem 16. Jahrhundert florierenden protestantischen Märtyrerbücher, die die Menschen in erster Linie als Zeugen der wahren Lehre der eigenen Konfession in Anspruch nahmen – die Einzelnen mit ihrem persönlichen Glauben und ihrer persönlichen Frömmigkeit in den Mittelpunkt der Betrachtung. Diese biographische Konzentration auf die einzelnen Frommen und ihr Leben bahnte den Weg für eine psychologisch und moralisch urteilende Deutung der Geschichte aus dem Handeln menschlicher Akteure heraus.76 Dieser biographische Zug, der in gewissen Grenzen bereits eine immanente Deutung des Geschichtsverlaufs zuließ, blieb für die pietistische Geschichtsschreibung bis hin zur Historie der Wiedergebohrnen (1717) von Johann Heinrich Reitz (1665 – 1720) und Gerhard Tersteegens (1697– 1769) Auserlesenen Lebensbeschreibungen heiliger Seelen (1733 – 1743) bestimmend. Noch stärker auf eine immanente Deutung der Geschichte ausgerichtet war die von der beginnenden Aufklärung beeinflusste pragmatische Kirchengeschichtsschreibung. Während die 1719 erschienene Introductio in memorabilia ecclesiastica historiae sacrae Novi Testamenti von Christian Eberhard Weismann (1677 – 1747)77 noch vergleichsweise konventionell war, kann der anderthalb Jahrzehnte jüngere Johann Lorenz von Mosheim (1693 – 1755) mit seinen zahlreichen Lehrbüchern zur Kirchengeschichte zu Recht als Bahnbrecher dieser Richtung gelten.78 Anstatt wie die früheren Darstellungen seinen Stoff bloß chronologisch aneinanderzureihen, bemühte er sich um den Aufweis der in den historischen Erscheinungen wirkenden Kräfte und Motive, um die Demonstration von Kausalzusammenhängen in der Geschichte. Man kann Mosheim mit einem gewissen Recht vorhalten, dass seine Erklärungen mitunter »außerordentlich dürftig, platt und parteiisch«79 seien. Doch mit seinen Geschichtswerken hat er wesentlich zu dem beigetragen, was Ferdinand Christian Baur den »allmähligen Übergang aus der dualistischen Weltanschauung zu dem Begriff der geschichtlichen Entwicklung« genannt hat.80 75 Walter Nigg: Die Kirchengeschichtsschreibung. Grundzüge ihrer historischen Entwicklung. München 1934, 96 f. 76 Emanuel Hirsch: Geschichte des neuern evangelischen Theologie im Zusammenhang mit den allgemeinen Bewegungen des evangelischen Denkens. Bd. 2. Gütersloh 31964, 270 – 273. 77 Peter Meinhold: Geschichte der kirchlichen Historiographie. Bd. 1. Freiburg/München 1967 (Orbis Academicus 3/5), 458 – 465. 78 Nigg, Kirchengeschichtsschreibung, 100 – 118. 79 Fueter, Historiographie, 271. 80 Ferdinand Christian Baur : Die Epochen der kirchlichen Geschichtsschreibung. Tübingen 1852. ND Darmstadt 1962, 108.

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Hatte die Kirchengeschichtsschreibung im Reformationszeitalter eine dienende Funktion für die Dogmatik und die Kontroverstheologie ausgeübt, so kam es im Laufe des 18. Jahrhunderts schließlich sogar dahin, dass die Ergebnisse der kirchlichen Historiographie und insbesondere der neu entwickelten Dogmengeschichtsschreibung kritisch gegen die Glaubenslehre gewendet werden konnten.81 Damit war ein langwieriger, in seinen einzelnen Schritten oft überraschend unspektakulärer Transformationsprozess zu einem im Ganzen gesehen grundstürzenden Ergebnis gelangt – ein Prozess, dessen untergründige Dynamik Geschichtsschreibung und Geschichtsbewusstsein um 1700 ihren Stempel aufgedrückt hat.

81 Sch•ufele, Theologie und Historie, 146 f.

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Heike Krauter-Dierolf

Hoffnung künftiger besserer Zeiten Die Eschatologie Philipp Jakob Speners im Horizont der zeitgenössischen lutherischen Theologie

»Und wenn morgen die Welt unterginge, so wollen wir doch heute noch unser Apfelbäumchen pflanzen.« Wer so spricht – wahrscheinlich war es ja nicht Luther –, geht davon aus, dass ein Zusammenhang zwischen unserer Zukunftserwartung und unserem Handeln in der Gegenwart besteht. Wenn man damit rechnet, dass morgen die Welt untergeht, hat das normalerweise Einfluss auf das Handeln in der Gegenwart. Dieser »normale« Zusammenhang von Zukunftserwartung und Gegenwartshandeln kann aber, so suggeriert das Zitat, durchbrochen werden. Die Zukunftserwartung muss das Handeln in der Gegenwart nicht notwendig bestimmen, der Mensch kann sich dagegen wehren, kann durch eine paradoxe Symbolhandlung diesen Zusammenhang durchbrechen. Er ändert die Zukunft dadurch zwar (wahrscheinlich) nicht, lässt sich aber auch nicht von ihr paralysieren. Philipp Jakob Spener hätte im Angesicht des Weltuntergangs kein Apfelbäumchen gepflanzt. Sein Apfelbäumchen, die Postillenvorrede mit ihren Vorschlägen zur Besserung des gegenwärtigen schlechten Zustands der Kirche, pflanzte er erst, als er nicht mehr damit rechnete, dass morgen die Welt unterginge. Erst als er – wohl im Laufe des Jahres 1674 – zu der Gewissheit gekommen war, dass Gott einen besseren Zustand der Kirche herbeiführen werde, dass es Hoffnung auf bessere Zeiten für die Kirche gebe, legte er Anfang 1675 seine später als Pia Desideria1 bekanntgewordene Programmschrift vor.2 Das war keine paradoxe Symbolhandlung, sondern ein umfassendes Reformprogramm, mit dem Spener zur Mitwirkung an der Besserung aufrief. Bei Spener bestand ganz klar ein Zusammenhang zwischen der erwarteten Zukunft und dem Handeln in der Gegenwart. Im Folgenden soll gezeigt werden, dass bei 1 Philipp Jakob Spener: Pia Desideria: oder Hertzliches Verlangen/ Nach Gottgefälliger Besserung der wahren Evangelischen Kirchen/ sampt einigen dahin einfältig abzweckenden Christlichen Vorschlägen. Frankfurt a.M.: Johann David Zunner 1676. Kritische Ausgabe: Kurt Aland (Hg.): Die Werke Philipp Jakob Speners. Studienausgabe I,1. Gießen 1996. 2 Vgl. zu den Pia Desideria und ihrer Entstehung Johannes Wallmann: Postillenvorrede und Pia Desideria Philipp Jakob Speners. Einige Beobachtungen zu Veranlassung, Verbreitung und Druck der Programmschrift des lutherischen Pietismus. In: Ders.: Pietismus und Orthodoxie. Gesammelte Aufsätze 3. Tübingen 2010, 22 – 39; Heike Krauter-Dierolf, Die Eschatologie Philipp Jakob Speners. Der Streit mit der lutherischen Orthodoxie um die »Hoffnung besserer Zeiten«. Tübingen 2005, 25 – 29.

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Hoffnung künftiger besserer Zeiten

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Spener die Zukunftserwartung darüber hinaus Auswirkungen auf sein Bild von der Vergangenheit hatte. Dazu wird untersucht, wie Spener und seine Gegner im Zusammenhang mit der Auseinandersetzung um Speners Zukunftshoffnung um die Verortung des Tausendjährigen Reichs nach Apk 20 stritten. Vor dem Streit muss aber der eigentliche Gegenstand des Streits, Speners Zukunftserwartung, die Hoffnung besserer Zeiten, vorgestellt werden.

1. Speners Behauptung der Hoffnung künfftiger besserer Zeiten (1693) Spener hatte sich erstmals in seinen Pia Desideria öffentlich zu seiner Hoffnung besserer Zeiten geäußert. Dies hatte zu mancherlei Kritik geführt, auf die Spener in zahlreichen Briefen reagierte.3 Öffentlich äußerte er sich aber längere Zeit nicht mehr zu diesem Thema. Das änderte sich mit der Behauptung der Hoffnung künfftiger besserer Zeiten4, die zur Neujahrsmesse 1693 herauskam. Die Behauptung ist keine systematische Darstellung der Lehre von der Hoffnung künftiger besserer Zeiten. Diese Lehre wird in der Schrift als gegeben vorausgesetzt; es geht – wie der Titel schon zeigt – nicht primär um ihre Darstellung und Begründung, sondern um ihre Verteidigung gegen einen Zukunftspessimismus, der meint, zum Ende hin werde alles immer schlimmer. Spener wollte zeigen, dass und warum die allgemeine Erklärung von Lk 18,8, die als Argument gegen die Hoffnung besserer Zeiten angeführt wurde, falsch sei. In Lk 18,8 heißt es: »Doch wann des menschen Sohn kommen wird/ meynest du/ dass Er auch werde glauben finden auff erden?« Die Stelle wurde auf die Wiederkunft Christi zum Jüngsten Gericht gedeutet, die nach Ansicht der lutherischen Theologie der Zeit unmittelbar bevorstand. Entsprechend sah man in dem Vers vorausgesagt, dass es zu dieser Zeit nur wenige Gläubige in der Welt geben werde. Mit dieser Deutung und deren Widerlegung beschäftigt sich Spener über weite Teile seiner Behauptung.5 Zugleich erläutert und begründet er seine Zukunftshoffnung in dieser Schrift ausführlicher, als er es je zuvor öffentlich getan hatte. Dass er gleichwohl immer wieder den Charakter der Schrift als Verteidigungsschrift unterstreicht und betont, keine vollständige Darlegung und Begründung seiner Hoffnung besserer Zeiten geben zu wollen,6 dürfte streittaktische Gründe 3 Vgl. dazu Krauter-Dierolf, Eschatologie Speners, 34 – 81. 4 Philipp Jakob Spener : Behauptung Der Hoffnung künfftiger Besserer Zeiten/ In Rettung Des ins gemein gegen dieselbe unrecht angeführten Spruchs Luc. XIIX, v.8. […]. Frankfurt a.M.: Johann David Zunner 1693. Vgl. zu dieser Schrift Krauter-Dierolf, Eschatologie Speners, 146 – 172 5 Vgl. v. a. Spener, Behauptung, 117 – 183. 6 Vgl. z. B. Philipp Jakob Spener : Gründliche Beantwortung dessen/ was Herr D. Augustus Pfeiffer […] in der vorrede seiner so genanten Klugheit der Gerechten/ und Hr. D. Joh. Georg

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haben. Zum einen lässt es Spener nicht als den erscheinen, der die Auseinandersetzung begonnen hat, zum anderen entbindet es ihn von der Pflicht, seine Zukunftshoffnung systematisch und vollständig darzustellen und zu begründen, was ihm angesichts der Unsicherheiten, die er in dieser Lehre in vielen Punkten noch hatte,7 wahrscheinlich schwergefallen wäre und ihn auf jeden Fall in sehr viel höherem Maße angreifbar gemacht hätte. Die in der Behauptung aufgrund der Disposition des Werkes relativ ungeordnet dargestellte Zukunftshoffnung soll im Folgenden knapp vorgestellt werden. Dabei wird auch gleich darauf eingegangen, an welchen Stellen sich Veränderungen gegenüber den Pia desideria und brieflichen Äußerungen Speners aus den Jahren 1675 bis ca. 1690 zeigen. Diese Veränderungen sind aus zwei Gründen wichtig: Zum einen für die Frage nach einer eventuellen Entwicklung von Speners Zukunftshoffnung, zum anderen für die Frage, warum sich ausgerechnet an die Veröffentlichung der Behauptung ein heftiger Streit anschloss. 1.1 Gestalt der Zukunftshoffnung Das primäre Objekt der Zukunftshoffnung in der Behauptung ist die Kirche.8 Nur an wenigen Stellen – unter anderem im Titel der Schrift – redet Spener allgemein von einer Verbesserung der »Zeiten«9 bzw. »in der Welt«10. Der Gesamtduktus der Ausführungen zeigt aber, dass das elliptisch gesprochen ist, das heißt Spener erwartet bessere Zeiten für die Kirche. Speners Zukunftshoffnung ist dezidiert ekklesiologisch qualifiziert.11 Gegenüber den Pia Desideria und den Briefen zeigt sich keine Veränderung, auch dort ist die Kirche das Objekt der Zukunftshoffnung.12 Zum Zeitpunkt der erwarteten Besserung äußert sich Spener in der Be-

7 8 9 10 11

12

Neumann […] in einer disputatione de Chiliasmo ut vocant subtilissimo, der hoffnung künfftiger besserer zeiten entgegen zu setzen/ sich unterstanden. Frankfurt a.M.: Johann David Zunner 1694, 94. Insbesondere im Blick auf die Auslegung von Apk 20 war er nach wie vor unsicher, vgl. Spener, Behauptung, 175 f. Vgl. Spener, Behauptung, 1, 5, 150 f., 159, 166 f., 182 f., 281. Vgl. Spener, Behauptung, Titel, 157, 280. Vgl. Spener, Behauptung, 120 f. Das unterstreicht auch Albrecht Beutel, Spener und die Aufklärung. In: Dorothea Wendebourg (Hg.): Philipp Jakob Spener – Leben, Werk, Bedeutung. Bilanz der Forschung nach 300 Jahren. Tübingen 2007, 205 – 226, hier 220. Dass es auch der Behauptung nicht um eine allgemeine »Weltbesserung« geht ist festzuhalten gegen Kevin R. Baxter : Spener’s Eschatology. In: Udo Sträter (Hg.): Interdisziplinäre Pietismusforschungen. Beiträge zum Ersten Internationalen Kongress für Pietismusforschung 2001. Band 1. Tübingen 2005, 145 – 154. Für Baxter ist die »Weltbesserung« konstitutiv für den Chiliasmus (146) und er sieht in der ekklesiologischen Engführung der Pia desideria ein wichtiges Argument gegen deren chiliastischen Charakter (147), während er die Behauptung als »truly chiliastic« (148) bezeichnet. Spener, Pia Desideria, 43, bestimmt die Koordinaten seiner Zukunftshoffnung mit der knappen Formel, Gott habe »noch einigen besseren zustand seiner Kirchen hier auff Erden versprochen«.

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hauptung nur zurückhaltend, es wird aber deutlich, dass es ihm um die innergeschichtliche Zukunft geht.13 Er rechnet auch damit, dass die erwartete Veränderung nicht mehr allzu weit entfernt ist.14 In den Pia Desideria ist die Zeitangabe noch unkonkreter, aber auch dort wird deutlich, dass es Spener um die innergeschichtliche Zukunft geht. Im Blick auf die Frage, was genau zu erhoffen ist, bleibt Spener in der Behauptung zunächst recht unbestimmt. Meist spricht er von einer positiven Veränderung im Vergleich zur Gegenwart: Die Zukunft werde besser, seliger, herrlicher, glücklicher ; zu erwarten sei etwas Gutes, ein »herrliche[r] zustand der kirchen«15, ja allgemein »viel herrliches«16 und Glückseligkeit. Auch in den Pia Desideria hatte Spener das zu Erwartende mit Hilfe komparativischer Formulierungen als Verbesserung im Vergleich zur Gegenwart beschrieben, ähnlich in den Briefen. In der Behautpung wird er aber im Blick auf das, was zu erwarten ist, etwas konkreter, wenn er nämlich die Verheißungen des Alten und Neuen Testaments anführt, die seiner Meinung nach noch nicht erfüllt sind, aber noch vor dem Ende der Welt erfüllt werden müssen.17 1.2 Begründung der Zukunftshoffnung Als wichtigste Argumente für seine Zukunftshoffnung nennt Spener in der Behauptung die Verheißungen der Bekehrung der Juden und des Falls Babels.18 Aus diesen beiden Verheißungen hatte Spener seine Zukunftshoffnung auch in den Pia Desideria und den Briefen abgeleitet.19 Daneben führt Spener in der Behauptung zahlreiche weitere in seinen Augen noch unerfüllte alt- und neutestamentliche Verheißungen an. Die wichtigste dieser Stellen ist Apk 20. Zu dieser Stelle äußert sich Spener in der Behauptung nur relativ zurückhaltend und erklärt, dass er nicht von sich behaupten könne, die ganze Offenbarung oder auch nur dieses Kapitel restlos zu verstehen.20 Sicher ist er sich aber, dass es sich auch hier um eine noch unerfüllte Verheißung handelt. Die in Apk 20 erwähnten tausend Jahre könnten nicht schon vorüber sein, wie die lutherische Theologie seiner Zeit weithin behauptete.21 13 Explizit erklärt Spener, Behauptung, 166, die Hoffnung solle sich »in der welt« erfüllen. 14 Vgl. Spener, Behauptung, 5: »Wann dann nicht anders möglich ist/ als dass wir zu einer zeit leben/ da uns die erfüllung mancher göttlichen weissagungen/ zwar auch von schwehren trübsalen und straffgerichten/ aber wiederum hernach von herrlicherem zustand der Kirchen/ nahe seyn mag«. 15 Spener, Behauptung, 159. 16 Spener, Behauptung, 170. 17 Vgl. Spener, Behauptung, 152 – 182. 18 Vgl. Spener, Behauptung, 150 f. 19 Vgl. dazu Krauter-Dierolf, Eschatologie Speners, 72 – 78. 20 Vgl. Spener, Behauptung, 175 f. 21 Vgl. Spener, Behauptung, 178 – 181.

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Spener hatte Apk 20 zuvor nicht öffentlich mit seiner Zukunftshoffnung in Verbindung gebracht. Auch in seinen Briefen hatte er es vermieden, explizit einen Zusammenhang zwischen dieser Hauptstelle des Chiliasmus und seiner Zukunftshoffnung herzustellen.22 Spener beschränkt sich in der Behauptung aber nicht darauf, die alttestamentlichen Verheißungen und Apk 20 neu zu interpretieren, womit er sich teilweise in eine nicht unproblematische Tradition begibt23. Er begründet auch, warum er glaubt, eine über die bisherige Auslegung hinausgehende Interpretation geben zu können, warum also die Erkenntnis bei der Auslegung größer geworden sei. Die Erkenntniszunahme hängt für Spener mit dem Herannahen des Verheißenen zusammen. Angesichts der Nähe der Erfüllung verschiedener Verheißungen schenke Gott immer mehr Erkenntnis hinsichtlich derselben: »So dann nicht zu zweiffeln ist/ dass der Herr sein licht immer in mehrere seelen geben/ und ihnen seine weissagungen/ die lang unverstanden geblieben waren/ deutlicher zu gewissem verstand offenbahren wird«24. Dieser Punkt ist in seiner Sprengkraft kaum zu unterschätzen. Durch die Annahme, es gebe Erkenntnisfortschritt, bestand immer die Möglichkeit, dass die ursprünglich für falsch gehaltene Aussage in Wahrheit die richtige war. Damit aber wurde letztlich der in der lutherischen Theologie der Zeit gültige Wahrheits- und Orthodoxiebegriff in Frage gestellt.

1.3 Zusammenfassung Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Spener seine Zukunftshoffnung in der Behauptung im Vergleich zu seinen bisherigen öffentlichen Äußerungen sehr viel ausführlicher darstellt und begründet. Veränderungen zeigen sich hauptsächlich an zwei Punkten: Erstens führt Spener zur Begründung seiner Hoffnung weitere alttestamentliche Verheißungen und vor allem Apk 20 an, zweitens konkretisiert er dadurch, wenn auch nur indirekt und nach wie vor sehr zurückhaltend, seine inhaltlichen Ausführungen zur Zukunftshoffnung. Kevin R. Baxter25 hat, einen Gedanken Kurt Alands aufnehmend, behautet, Speners Eschatologie habe sich nach den Pia Desideria nochmals grundlegend 22 Vgl. dazu Krauter-Dierolf, Eschatologie Speners, 30 – 32; 35 – 41; 54 – 64. 23 Vgl. zu traditionell zur Begründung des Chiliasmus herangezogenen Bibelstellen August Pfeiffer: Antichiliasmus, oder Erzehlung und Prüfung des betrieglichen Traums Derer so genannten Chiliasten […]. Lübeck: Peter Böckmann 1691, Kap. 5 – 9. 24 Spener, Behauptung, 5. 25 Kevin R. Baxter : From Cooperative Orthodox Optimism to Passive Chiliasm: The Effects of the Evolution in Spener’s Zukunftshoffnung on his Expectations, Ideas, Methods and Efforts in Church Reneval. Ann Arbor 1993 (Mikrofiche); die wichtigsten Thesen sind zusammengefasst in Ders., Spener’s Eschatology. Dort wird die zweite der vier von Baxter konstatierten Phasen der Eschatologie Speners allerdings nicht als orthodox optimism, sondern als »Spener’s Orthodox Speculation period« (154) bezeichnet.

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verändert. In den Pia Desideria vertrete Spener nur einen orthodox optimism, in der Behauptung von 1693 hingegen lehre er eindeutig chiliastisch. Die Lehre Speners in der Behauptung kann man sicher als »chiliastisch« bezeichnen. Allerdings kann man meines Erachtens nicht behaupten, dass Speners Zukunftshoffnung im Vergleich zu den Pia Desideria wesentlich verändert worden wäre, sondern sie wurde in der Behautpung lediglich weiter entfaltet und vertieft. Auch die gegenüber den Pia Desideria auffälligste Änderung, der Rekurs auf Apk 20, ist nichts anderes als eine solche Vertiefung.

2. Die orthodoxe Kritik an Speners Zukunftshoffnung 2.1 Apk 20 als zentraler Punkt der Auseinandersetzung Die Herausgabe der Behauptung führte zu einer mehrjährigen literarischen Auseinandersetzung, in deren Verlauf insgesamt mindestens 23 Schriften veröffentlicht wurden, darunter drei ausführliche Schriften und verschiedene Vorreden aus Speners eigener Feder.26 Speners wichtigste Gegner in dieser Auseinandersetzung waren der Lübecker Superintendent August Pfeiffer (1640 – 1698)27 sowie der Wittenberger Theologieprofessor Johann Georg Neumann (1661 – 1709)28. Überblickt man die Auseinandersetzung, so stellt man fest, dass die Kritik im Lauf der Zeit immer grundsätzlicher und schärfer wurde. Zunächst ging es 26 Vgl. zu dieser Auseinandersetzung Martin Gierl: Pietismus und Aufklärung. Theologische Polemik und die Kommunikationsreform der Wissenschaft am Ende des 17. Jahrhunderts. Göttingen 1997 (VMPIG 129), passim (siehe Register); Krauter-Dierolf, Eschatologie Speners, 173 – 284. 27 August Pfeiffer war ein ausgewiesener Kenner – und Kritiker – des Chiliasmus. Unter dem Einfluss seines Lehrers Abraham Calov hatte er sich in den frühen 1660er Jahren von den chiliastischen Positionen distanziert, die er in seiner Jugend- und Studienzeit unter dem Einfluss seines Informators Johannes Cavenius vertreten hatte. Fortan war er ein scharfer Kritiker des Chiliasmus. 1691 verfasste er eine umfangreiche antichiliastische Schrift, den »Antichiliasmus oder Erzehlung und Prüfung des betrieglichen Traums Derer so genannten Chiliasten Von der noch zukünfftigen Tausendjährigen güldenen Zeit…«. Vgl. zu Leben und Werk Pfeiffers Wolf-Dieter Hauschild: Kirchengeschichte Lübecks. Christentum und Bürgertum in neun Jahrhunderten. Lübeck 1981, 312; Adolf Schimmelpfennig: Art. »August Pfeiffer«. In: ADB 25, 1887, 631 f.; Johannes Wallmann: Art. »Pfeiffer, August«. In: RGG4 6, 2003, 1231. 28 Johann Georg Neumann hatte in Wittenberg studiert und war ab 1684 Adjunkt der dortigen philosophischen Fakultät, ab 1690 Professor der Poesie und Bibliothekar der Universität. 1692 wurde er unter Caspar Löscher zum Doktor der Theologie promoviert und lehrte dann als Professor an der theologischen Fakultät. Vgl. zu Leben und Werk Neumanns Johannes Wallmann: Art. »Neumann, Johann Georg«. In: RGG4 6, 2003, 230 f.; Ders.: Wittenberger Orthodoxie im Kampf gegen den pietistischen Chiliasmus. Johann Georg Neumanns (1661 – 1709) Auseinandersetzung mit Philipp Jakob Spener. In: Ders., Pietismus und Orthodoxie, 349 – 368.

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um exegetische Einzelfragen – ganz ähnlich wie in den brieflichen Anfragen an die Pia Desideria in den 70er und 80er Jahren. Schon bald kam aber ein Punkt dazu, durch den sich die Auseinandersetzung um die Behauptung grundlegend von den Diskussionen der 70er und 80er Jahre unterscheidet: Spener wurde immer wieder vorgeworfen, eine heterodoxe Lehre – den Chiliasmus – zu vertreten. Diese Kritik stützte sich hauptsächlich auf Speners neue Argumentation mit Apk 20. Hat sich die Zukunftshoffnung in der »Behauptung« also doch verändert? Oder lässt es sich anders erklären, warum Speners Lehre – im Unterschied zu den Jahren nach 1675 – nun so heftig angegriffen wurde? Betrachtet man die Landkarte der religiösen Ideen und Bewegungen, so zeigen sich 1692 wesentliche Veränderungen gegenüber 1675. Vielerorts tauchte nun chiliastisches Gedankengut auf, auch und gerade bei mit Speners neuer Bewegung in Verbindung gebrachten Gruppen und Personen. Auch wenn hier, wie Spener immer wieder unterstreicht, teilweise weit über seine Zukunftshoffnung hinausgehende Gedanken vertreten wurden, wurde Spener von seinen Gegnern doch damit in Verbindung gebracht und für diese Entwicklung verantwortlich gemacht. Für diese Einschätzung spricht, dass Spener seine Behauptung explizit in den Zusammenhang der um den Chiliasmus bereits entstandenen Unruhe stellte und von vornherein als Verteidigungsschrift konzipierte.29 Dass viele Gegner Speners ihre Kritik hauptsächlich auf Apk 20 stützten, liegt daran, dass diese Stelle als »Hauptwehre«30 des in CA 17 verworfenen Chiliasmus galt, die schon in früheren Auseinandersetzungen mit dem Chiliasmus eine wichtige Rolle gespielt hatte. An dieser Stelle wurde Speners »Heterodoxie« für seine Gegner besser sicht- und vor allem (an-)greifbar als an jedem anderen Punkt. Dass Apk 20 so stark ins Zentrum der Auseinandersetzung rückte, dürfte also in hohem Maße streittaktisch motiviert gewesen sein.

2.2 Die Auseinandersetzung um die Verortung des Tausendjährigen Reichs Die Auslegung von Apk 20 war zwischen Spener und seinen Gegnern in verschiedenen Punkten strittig. Im Folgenden soll die Diskussion um die Ver29 Vgl. Philipp Jakob Spener : Völlige Abfertigung Herrn D. Augusti Pfeiffers […] in dessen Scepticismo Tripartito geführter falscher und ungerechter Beschuldigungen […], Frankfurt a.M.: Johann David Zunner 1697, 192. 30 Vgl. Pfeiffer, Antichiliasmus, 179. Dies hängt wohl damit zusammen, dass sich »seit Ende des 16. Jahrhunderts und dann verstärkt im 17. Jahrhundert ein Strom chiliastischer Zukunftshoffnung bildet, für den Apk 20 wenn nicht die, so jedenfalls eine zentrale Stelle bildet«, Johannes Wallmann: Pietismus und Chiliasmus. Zur Kontorverse um Philipp Jakob Speners »Hoffnung besserer Zeiten«. In: Ders.: Theologie und Frömmigkeit im Zeitalter des Barock. Gesammelte Aufsätze. Tübingen 1995, 390 – 421, hier 417. Davon unberührt bleibt, dass es daneben auch chiliastische Hoffnungen gab, für die Apk 20 keine oder nur eine unbedeutende Rolle spielte, vgl. ebd., 413 – 417.

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ortung des Tausendjährigen Reichs näher betrachtet werden. Zum einen ist dies der entscheidende Punkt bei der Frage, ob es sich bei einer Lehre um »Chiliasmus« handelt oder nicht. Die in vielen Einzelheiten divergierenden zeitgenössischen Chiliasmusdefinitionen treffen sich mehrheitlich darin, »dass ein reich von tausend jahren seyn werde«31. Zum anderen ist dieser Punkt für unser Thema besonders interessant, zeigt sich doch hier, wie sich unterschiedliche Zukunftskonzeptionen auf die Deutung der Vergangenheit auswirken. Wie zu ihrer Zeit üblich vertraten sowohl Spener als auch seine Gegner eine welt- und vor allem kirchengeschichtliche Deutung der Apokalypse, die die einzelnen Bilder der Apokalypse mit Ereignissen der Vergangenheit und der Gegenwart in Verbindung brachte. Speners Gegner rechneten – wie Spener selbst vor seiner eschatologischen Wende32 – mit dem nahen Jüngsten Tag. Dass die tausend Jahre von Apk 20 in der Vergangenheit zu verorten waren, war folglich nahezu selbstverständlich. So schreibt Pfeiffer in seinem Antichiliasmus, einer noch vor der Auseinandersetzung mit Spener entstandenen umfangreichen antichiliastischen Schrift: »Was nun ferner die Application dieser Weissagung/ oder ihre Erfüllung betrifft/ so setze ich voraus/ dass diese […] tausend Jahre schon erfüllet und vorbey seyn.«33 Kein Wort dazu, warum er dies voraussetzt. Mit der genauen Datierung tat man sich allerdings schwer, so muss auch Pfeiffer eingestehen, dass die Ausleger in diesem Punkt »sehr discrepant«34 seien. Er stellt verschiedene Datierungen vor.35 Sie reichen von der Verortung des Reichs zwischen der Geburt Christi und dem Jahr 1000 bis zur Verortung zwischen 629 (Sieg Ostroms über das Perserreich) und 1629, dem Jahr, »da die Papistische Verfolgung in vollen Schwang kommen«36, ja es findet sich sogar eine Verortung der tausend Jahre zwischen der Reformation und dem Jahr 2517. Die Mehrzahl der Ausleger – so auch alle Gegner Speners in der Auseinandersetzung um die Behauptung – vertrat aber die Ansicht, dass die tausend Jahre ungefähr die Zeit zwischen dem Regierungsantritt Konstantins d.Gr. und der Eroberung des byzantinischen Reichs durch die Türken ab dem 14. Jahrhundert

31 Philipp Jakob Spener: Die Freyheit Der Gläubigen/ Von dem Ansehen der Menschen In Glaubens-Sachen/ In gründlicher Beantwortung der so genanndten Abgenöthigten SchutzSchrifft […]. Frankfurt a.M.: Johann David Zunner 1691, 64. 32 Vgl. zu den frühen Frankfurter Jahren Speners Johannes Wallmann: Philipp Jakob Spener und die Anfänge des Pietismus. Tübingen 21986, 196 – 354. Die von Wallmann ebd., 328 – 330, vorgeschlagene Datierung der eschatologischen Wende Speners hat sich nach einer längeren Kontroverse zwischen Kurt Aland und Wallmann in der Forschung inzwischen durchgesetzt. Vgl. zu Einzelheiten der Wende Speners sowie weiterer Literatur Krauter-Dierolf, Eschatologie Speners, 10 – 15. 33 Pfeiffer, Antichiliasmus, 190. 34 Pfeiffer, Antichiliasmus, 191. 35 Vgl. Pfeiffer, Antichiliasmus, 191 f. 36 Pfeiffer, Antichiliasmus 192. Gedacht ist hier wohl an das Restitutionsedikt von Kaiser Ferdinand II.

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umfassten, die genauen Jahresangaben schwanken auch hier wieder.37 Bemerkenswert ist, dass alle von Pfeiffer angeführten Ausleger die tausend Jahre wörtlich nehmen. Nur beiläufig erwähnt werden diejenigen, die die tausend Jahre »indefinite, für eine ungewisse/ jedoch lange/ Zeit angenommen«38. Positionen, die im Sinne von 2Petr 3,8 mit einem tausendjährigen Reich von ganz anderer Dauer rechnen, spielen offensichtlich überhaupt keine Rolle. Spener äußerte sich zur Verortung des Tausendjährigen Reichs lange nicht explizit. Aus verschiedenen Bemerkungen geht aber hervor, dass er ab Mitte der 70er Jahre damit rechnete, dass das Tausendjährige Reich noch zu erwarten sei. So identifiziert er in einem Brief an Johann Ludwig Hartmann aus dem Jahr 1675 die von ihm erwartete zukünftige bessere Zeit implizit mit dem Tausendjährigen Reich von Apk 20, wenn er Gog und Magog mit der der besseren Zeit folgenden Phase des erneuten Unglaubens nach Lk 18,8 gleichsetzt.39 Dass Spener die in Apk 20 erwähnten Zeiten noch erwartet, lässt sich auch aus einem Brief an Johann Wilhelm Petersen aus dem Jahr 1677 schließen. Dort erklärt Spener, er verstehe Apk 20 nicht, hoffe aber darauf, dass beim Näherkommen jener Zeit die Verheißungen besser verstanden werden könnten.40 1685 erklärt er dann explizit, dass die tausend Jahre schon vorbei seien, komme ihm »nicht glaublich vor/ obwohl die meiste auslegungen es asseriren«41. 1689 gibt er sich noch sicherer : »[D]aß solche tausend jahr […] bereits verflossen sollen seyen/ wie die meiste unsrige lehren/ kann ich nicht finden oder begreiffen. Denn wo man deroselben erfüllung suchen will/ schicket sichs übel/ man wolle denn die vornehmste krafft allen worten nehmen/ und damit den spöttern der schrifft desto mehr ursach zu spotten geben. So müssen sie also noch zu erwarten seyn.«42 Aus diesen Äußerungen ist ersichtlich, dass Spener mit seinen Gegnern die Voraussetzung, dass die Apokalypse welt- und kirchengeschichtlich zu deuten ist, teilt. Was er aber nicht unhinterfragt akzeptiert ist die Annahme, dass das Tausendjährige Reich schon vergangen sei. Auch in der Behauptung ist Speners Zurückhaltung bei der Deutung der Apokalypse noch erkennbar.43 Sicher ist er sich aber, dass es sich bei Apk 20 37 Vgl. Pfeiffer, Antichiliasmus, 192 – 197; Johann Georg Neumann: Disputatio II. Antichiliasitica, De regno chiliastarum jam dudum praeterlapso. Ex Apocal. XX. […]. Wittenberg: Christian Kreusig 1694, 59; Johann Simon: Ungrund der Hoffnung zukünfftiger besserer Zeiten/ In Rettung des Spruchs Luc. 18,8. und Beantwortung der vor sothane Hoffnung von Hn. D. Philipp Jacob Spenern […] unlängst angeführten Schein-Gründe gezeiget. Dresden: Johann Christioph Mieth und Johann Christoph Zimmermann 1693, 155. 38 Pfeiffer, Antichiliasmus, 191. 39 Philipp Jakob Spener: Briefe aus der Frankfurter Zeit 1666 – 1686, bisher 5 Bde., hg. von Johannes Wallmann. Tübingen 2000 – 2010, Bd. 2, Nr. 45, 38 – 45. 40 Spener: Briefe Frankfurter Zeit, Bd. 3, Nr. 8, 114 – 124 (13. 2. 1677). 41 Philipp Jakob Spener: Theologische Bedencken/ Und andere Brieffliche Antworten […], 4 Teile, Halle: Waysen-Haus 1700 – 1702, Bd, 1/I, 214 (1685). 42 Spener, Theologische Bedencken, 4, 627 (29. 7. 1689). 43 Vgl. Spener, Behauptung, 175 f.

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um eine noch unerfüllte Verheißung handelt. Die tausend Jahre könnten nicht schon vorüber sein. Erklärungen, die dies behaupteten, würden durch die Erfahrung widerlegt: »[D]ann wir müssen entweder den worten des heil. Geistes allzu viel gewalt thun/ oder sie zeigen uns hier eine zeit einer solcher grossen herrlichkeit und sicherheit der kirchen/ die wir von Johannis zeiten biß hieher nirgend finden.«44 Dieser Aussage Speners wird von allen Gegnern nachdrücklich widersprochen, Neumann widmet ihr mit De regno chiliastarum jam dudum praeterlapso sogar eine eigene Disputation.45 Unumstößlich halten sie daran fest, dass die Vorhersagen von Apk 20 schon erfüllt seien, und versuchen, dies aus der Geschichte darzulegen. Dabei betonen sie, dass in Apk 20 keine völlige, sondern nur eine relative Sicherheit verheißen werde: Der Satan solle nicht völlig gebunden werden, sondern lediglich so, dass er die Heiden nicht mehr zu einer allgemeinen Verfolgung der Christenheit verführe.46 Dies sei in der Zeit zwischen Konstantin und der Eroberung Konstantinopels gegeben.47 Spener fällt es relativ leicht, dies zu widerlegen: »Es ist falsch/ dass von zeiten Constantini an/ biß Muhamed der II. 1453 Constantinopel gewonnen/ die kirche in Orient/ nemlich was die verfolgung der unglaubigen anlangt/ ruhe gehabt. Und sind es keine minutiae, nach Hr. D. Pf[eiffers] redens-art/ was sie erlitten.«48 Spener belegt dies mit der Aufzählung einer Reihe von Verfolgungen in der fraglichen Zeit, wobei er eine stupende Kenntnis der Geschichte des Orients zeigt.49 Er kommt zu dem provozierenden Schluss: »Also dass wir sagen mögen/ wo der schluß der tausend jahr nach Hn. D. Pf[eiffers] willen auff die eroberung Constantinopels gesetzt wird/ dass das gegentheil dessen/ was er damit verlangt/ folge; nemlich so lang noch solche 1000. jahr gewähret/ so haben die unglaubige feinde […] immer die Christen in den morgenländern geplagt/ und ein land nach dem andern unter sich bezwungen; nach dem schluß aber solcher 1000 jahr hat die morgenländische kirche zwar noch biß daher unter ihrer dienstbarkeit seufftzen müssen/ so sie auch noch thun muß/ aber keine neue offentliche feindseligkeit oder verfolgung von ihnen mehr erdulden dörffen«.50

Spener, Behauptung, 180 f. S.o. Anm. 37. Vgl. Simon, Ungrund der Hoffnung, 155 f. Vgl. neben Simon auch Neumann, De regno chiliastarum, 58 – 77; August Pfeiffer: Scepticismus Spenerianus Tripartitus, Oder Gründlicher Beweiß/ Daß Hr. D. Phil. Jac. Spener in Außlegung der H. Schrifft/ Glaubens- und Gewissens-Sachen/ auff unterschiedliche Art ungewiß und zweiffelhafft verfahre […]. Lübeck: Johann Wiedemeyer 1696, I/358 f.; Ernst Christian Boldig, Schlechte Hoffnung I. Besserer Zeiten der Kirchen/ so wohl II. Einer grossen Bekehrung der Juden/ als III. Gäntzlichen Unterganges des Antichristischen Babels Vor dem Jüngsten Tage und Ende der Welt […]. Kopenhagen: Johann Melchior Liebe 1696, 88 f. 48 Spener, Völlige Abfertigung Pfeiffers, 116. 49 Vgl. Spener, Völlige Abfertigung Pfeiffers, 116 – 119. 50 Spener, Völlige Abfertigung Pfeiffers, 119 f. 44 45 46 47

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3. Beobachtungen 1. Sowohl bei Spener als auch bei seinen Gegnern ist zu beobachten, dass ihre Zukunftskonzeptionen Auswirkungen auf die Deutung der Vergangenheit haben. Dies hängt damit zusammen, dass beide Seiten Zukunft, Gegenwart und Vergangenheit mit Hilfe der Johannesapokalypse deuten, die sie als weltund kirchengeschichtliches Kompendium lesen. Entsprechend schlägt sich ein verändertes Konzept von einer der Zeiten – in unserem Fall der Zukunft – in einer Veränderung der Zuordnung einzelner Bilder der Apokalypse zu dieser Zeit nieder, was wiederum Auswirkungen auf die Zuordnung der Bilder zu den beiden anderen Zeiten und folglich auch auf deren Deutung hat. 2. In gewisser Weise erkennen das auch Spener und sein Gegner Pfeiffer. Sie sind sich einig, dass es bei der Auslegung der Johannesapokalypse unter anderem deshalb zu Fehlgriffen kommt, weil Ausleger »ihre eigne praejudicia oder vorgefassete Meynungen hineinbringen/ gaffen auff das/ was sie sich einbilden und in diesem Buch nicht zu finden ist«51. Solche Fehlgriffe macht selbstredend immer nur die andere Seite. Pfeiffer führt verschiedene Beispiele an, so »die jenigen/ welche die Offenbahrung Johannis oder gewisse Stücke und Weissagungen derselben auff Personen und Dinge ziehen/ die sie gerne sehen und haben wollen.«52 Und Spener stellt fest: »Welches […] exempel Hr. D. Pfeiffer an sich selbst/ gibet/ welchen die vorgefaßte einbildung dass die kirche nichts erfreulichers in dieser zeit zu erwarten habe/ hindert/ die warheit des H. Geistes nach der analogie der harmonie auch der alten Propheten einzusehen.«53 3. Pfeiffers Zukunftserwartung – die Naherwartung des Jüngsten Tages – steht und fällt mit der Auslegung von Apk 20. Bei einer Verortung des Tausendjährigen Reichs in der Zukunft wäre eine solche Naherwartung nahezu ausgeschlossen, deshalb muss er alles tun, um das Tausendjährige Reich in der Vergangenheit zu verorten. Bisweilen wirkt das recht gezwungen. Es führt außerdem dazu, dass er die Vergangenheit insgesamt deutlich positiver bewertet als Spener. Eine Ausnahme bildet hier nur die apostolische Zeit, die Spener ebenfalls positiv sieht. Auffällig ist, dass die Reformation bei der Frage nach der Verortung des Tausendjährigen Reichs keine Rolle spielt. 4. Im Lauf der Zeit wird Spener bei der Frage der Verortung des Tausendjährigen Reichs immer sicherer. In vielen anderen Punkten der Auslegung von Apk 20 bleibt er aber unsicher.54 Seine Gegner werfen ihm dies als »Scepticismus« vor.55 Für Spener hingegen ist dies nur die Kehrseite seiner Annahme, es gebe Erkenntniszunahme. Wenn bestimmte Weissagungen erst angesichts 51 Pfeiffer, Scepticismus, I/128 f., zustimmend zitiert bei Spener, Völlige Abfertigung Pfeiffers, 371 f. 52 Vgl. Pfeiffer, Scepticismus I/130. 53 Spener, Völlige Abfertigung Pfeiffers, 372. 54 Vgl. Spener, Völlige Abfertigung Pfeiffers, 248. 55 Vor allem von Pfeiffer, Scepticismus, passim.

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der Nähe der Erfüllung richtig verstanden werden, bedeutet das umgekehrt, dass in der Gegenwart eben noch nicht alles richtig erkennbar ist, dass es noch Unsicherheiten gibt, dass bei der Auslegung mancher Stellen noch kein endgültiges Urteil möglich ist. 5. Die bisherige Betrachtung hat uns insofern weitergebracht, als klar gesagt werden kann, dass Spener die tausend Jahre von Apk 20 als noch ausstehend betrachtet. Er lehrt also, wie er selbst auch zugesteht, chiliastisch.56 Wenn er die Bezeichnung »Chiliasmus« für seine Lehre dennoch strikt ablehnt, dann deshalb, weil häufig nicht zwischen den verschiedenen Ausprägungen des Chiliasmus unterschieden wird, sondern alles als Chiliasmus Bezeichnete als irrig gilt: »[S]o kann mir auch nicht verdacht werden/ wo ich meine lehr/ da ich die tausend jahr Offenb. 20. noch vorzustehen glaube/ nicht gern mit dem nahmen Chiliasmi belegen laße/ nachdem derselbe nunmehr insgemein nicht anders alß irriger meinung pflegt beygelegt zu werden/ da man sonst vor demselben keinen abscheu haben würde/ wo man die bedeutung an sich selbs allein ansehen wolte.«57 Um der wissenschaftlichen Klarheit willen scheint es mir gleichwohl sinnvoll, für Speners Lehre den Begriff »Chiliasmus« zu verwenden, allerdings näher bestimmt als postmillenniarischer Chiliasmus. Der postmillenniarische Chiliasmus ist die Spielart des chiliasmus futuri temporis, die die Parusie erst nach Ende des Tausendjährigen Reichs erwartet. Speners Zukunftslehre ist damit begrifflich klar unterschieden von prämillenniarischen Konzeptionen wie der von Johann Wilhelm und Johanna Eleonora Petersen, zum anderen ist sie klar getrennt von der von der lutherischen Orthodoxie vertretenen Konzeption, die das Tausendjährige Reich als bereits vergangen betrachtet. 6. Gleichwohl ist Apk 20 für Speners Zukunftshoffnung nicht konstitutiv. Er zieht die Stelle ja auch erst relativ spät für seine Argumentation heran, seine Lehre von der Hoffnung besserer Zeiten ist da schon längst ausgeformt. Seine »besseren Zeiten« sind auch bei einer Verortung des Tausendjährigen Reichs in der Vergangenheit denkbar. In dem oben bereits erwähnten Brief von 1689, in dem er sich sehr sicher gibt, dass die tausend Jahre noch nicht vorbei seien, erklärt er Apk 20 als für seine Lehre von der Hoffnung besserer Zeiten letztlich irrelevant und verweist zur Begründung seiner Zukunftshoffnung auf andere Verheißungen der Schrift: »[E]s mag mit diesen tausend jahren seyn/ wie es will/ überzeuget uns die schrifft anderswo ziemlich klar/ dass noch eine zeit vorstehe/ da unterschiedliche herrliche verheissungen Gottes an der kirchen auff erden erfüllet werden sollen«58. 7. Man kann bei Spener sicher noch nicht von einer »offenen Zukunft«59 56 57 58 59

Vgl. Spener, Beantwortung, 108. Spener, Beantwortung, 108. Spener, Theologische Bedencken, 4, 628. Vgl. den Beitrag von Daniel Fulda in diesem Band.

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sprechen, aber die frühere Geschlossenheit wird aufgebrochen. Die Gegenwart gerät wieder in Bewegung, Neues wird möglich – es ist Zeit, Apfelbäumchen zu pflanzen.

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Wolfgang Breul

August Hermann Franckes Konzept einer Generalreform

Das Jahr 1700 war für den radikalen Pietismus ein entscheidendes Jahr. Die von Spener eingeleitete Neuorientierung der Eschatologie im Luthertum1 hatte chiliastischen Erwartungen im Pietismus den Weg bereitet. Hans Schneider hat in einem wegweisenden Aufsatz beschrieben, wie sich diese chiliastischen Strömungen im radikalen Pietismus auswirkten. Es gab: – separatistische Tendenzen, wie sie erstmals in Frankfurt 1682 greifbar sind, – ekstatische Erscheinungen wie die sogenannten »begeisterten Mägde« in Quedlinburg, Halberstadt, Gotha und Erfurt, – heilsgeschichtlich-apokalyptische Spekulationen unter philadelphischem Einfluss und schließlich – die Erwartung des Anbruchs einer neuen Zeit im Jahr 1700, dem »annus climacterius«. Doch blieben die auf das Jahr 1700 zulaufenden Hoffnungen nicht weniger radikaler Vertreter des Pietismus »unerfüllte Zukunft«.2 Auch für August Hermann Francke war 1700 ein entscheidendes Jahr. Seit der Verleihung der kurfürstlichen Privilegien im Jahr 1698 hatten die Angriffe auf Waisenhaus und Schulen in Glaucha wieder zugenommen. Francke hatte Anfang 1699 mit scharfen Invektiven gegen die Pfarrerschaft der Stadt Halle Öl ins Feuer gegossen. Dank der geschickten Steuerung des Konflikts bei der Berliner Führung durch Spener und Paul von Fuchs konnte Francke seine 1 Vgl. Hans Schneider : Die unerfüllte Zukunft. Apokalyptische Erwartungen im radikalen Pietismus um 1700. In: Manfred Jakubowski-Tiessen [u.a.] (Hg.): Jahrhundertwenden. Endzeitund Zukunftsvorstellungen vom 15. bis zum 20. Jahrhundert. Göttingen 1999, 187 – 212; wiederabgedruckt in: Hans Schneider: Gesammelte Aufsätze, Bd. I: Der radikale Pietismus, hg. v. Wolfgang Breul u. Lothar Vogel (Arbeiten zur Kirchen- und Theologiegeschichte 36). Leipzig 2011, 378 – 404, hier 379 f; Heike Krauter-Dierolf: Die Eschatologie Philipp Jakob Speners. Der Streit mit der lutherischen Orthodoxie um die »Hoffnung besserer Zeiten« (Beiträge zur historischen Theologie 131). Tübingen 2005, 10 – 33; zur Diskussion bis in die 1690er Jahre 34 – 81. 2 Vgl. Schneider, Unerfüllte Zukunft, bes. 401 – 404; ders.: Der radikale Pietismus im 17. Jahrhundert. In: Martin Brecht u. a. (Hg.): Geschichte des Pietismus, Bd. I: Der Pietismus vom siebzehnten bis zum frühen achtzehnten Jahrhundert. Göttingen 1993, 391 – 437, hier 407 – 421; ders.: Der radikale Pietismus im 18. Jahrhundert. In: Martin Brecht u. Klaus Deppermann (Hg.): Geschichte des Pietismus, Bd. II: Der Pietismus im 18. Jahrhundert. Göttingen 1995, 107 – 197, bes. 107 – 109.

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zwischenzeitlich gefährdete Position nicht nur behaupten, sondern sich sogar weitgehend durchsetzen.3 Francke hatte in den Jahren zuvor im Dialog mit Spener deutliche Sympathien für die chiliastischen Erwartungen der Radikalen erkennen lassen. Über dieser Frage wäre es 1695/96 beinahe zum Bruch mit Spener gekommen, weil jener eindringlich vor dem »chiliasmo«4 des Ehepaars Petersen warnte. Francke stand mit dem Ehepaar Petersen, das »zu den führenden Theoretikern des Chiliasmus«5 in Deutschland gehörte und in Brandenburg-Preußen Aufnahme gefunden hatte6, in enger Beziehung7. Gegenstand des Konflikts war offenkundig8 nicht die Lehre vom Millennium selbst, sondern deren Erweiterung um die Lehre von der Wiederbringung (Apokatastasis), die Johann Wilhelm und Johanna Eleonora Petersen seit 1694/95 unter dem Einfluss philadelphischer Schriften vertraten9. Obwohl Francke in dieser Auseinan3 Vgl. Klaus Deppermann: Der hallesche Pietismus und der preußische Staat unter Friedrich III. (I.). Göttingen 1961, 119 – 140; Martin Brecht: August Hermann Francke und der Hallische Pietismus. In: Ders., Geschichte des Pietismus I (wie Anm. 2), 440 – 539, hier 497 f; Helmut Obst: August Hermann Francke und die Franckeschen Stiftungen in Halle. Göttingen, 2002, 26 – 29. 4 Vgl. Udo Str•ter: Spener und August Hermann Francke. In: Dorothea Wendebourg (Hg.): Philipp Jakob Spener – Leben, Werk, Bedeutung. Bilanz der Forschung nach 300 Jahren (Hallesche Forschungen 23). Tübingen 2007, 89 – 104, hier 89 – 93, 103 f; s. u. Anm. 9. 5 Schneider, Unerfüllte Zukunft (wie Anm. 1), 383. Vgl. zum Ehepaar Petersen Markus Matthias: Johann Wilhelm und Johanna Eleonora Petersen. Eine Biographie bis zur Amtsenthebung Petersens im Jahre 1692 (AGP 30). Göttingen 1993; Dietrich Blaufuss: Art. »Petersen, Johann Wilhelm und Johanna Eleonora Freiin von und zu Merlau, verh. Petersen«. In: TRE Bd. 26 (1996), 248 – 254 (Lit.); zu Johanna Eleonora Petersen Ruth Albrecht: Johanna Eleonora Petersen. Theologische Schriftstellerin des frühen Pietismus (AGP 45). Göttingen 2005, 38 – 120. 6 Zur Entlassung Johann Wilhelm Petersens aus dem Superintendentenamt in Lüneburg und der Ansiedlung des Ehepaars unweit von Halle in Niederdodeleben bei Magdeburg vgl. Matthias, Petersen, 217 – 330; Blaufuss, Petersen (wie Anm. 5), 250 f. 7 Johann Wilhelm Petersen war Taufpate von Franckes am 21. März 1696 geborenen Sohn Gotthilf August († 2. 9. 1769); vgl. Johannes Wallmann (Hg.): Philipp Jakob Spener. Briefwechsel mit August Hermann Francke. 1689 – 1704, in Zusammenarbeit mit Veronika Albrecht-Birkner. Tübingen 2006, 447 mit Anm. 10 (Francke an Spener, Glaucha, 24. März 1696). 8 Der Briefwechsel zwischen Spener und Francke ist nur unvollständig überliefert; vgl. Str•ter, Spener (wie Anm. 4), 93. Die Passagen in den überlieferten Briefen geben nur einen unvollständigen Eindruck von der Auseinandersetzung. Eine eingehende Untersuchung, die hier nicht geleistet werden kann, hätte darüber hinaus auch den nicht edierten Briefwechsel Speners und Franckes mit dem Ehepaar Petersen sowie die einschlägigen Schriften heranzuziehen; vgl. Universitätsarchiv Halle, Rep. 27, Nr. 1159. 9 Vgl. allgemein Albrecht, Schriftstellerin (wie Anm. 5), 233 – 301; Walter Nordmann: Die Eschatologie des Ehepaares Petersen, ihre Entwicklung und Auflösung. In: ZVKGS 26 (1930), 83 – 108; 27 (1931), 1 – 19, 83 – 100, hier 1 – 6. Auf einen nicht erhaltenen Brief Franckes hatte Spener am 19. Oktober 1695 aus Berlin geantwortet: »Daß im übrigen geliebter Bruder von dem Chiliasmo nunmehr erkantnus habe, hat mir bereits Herr D. Petersen, als er hier war, nachricht gegeben«. Spener erkundigte sich, ob Francke »es in allem mit Herrn D. Petersen halte, oder nur zum theil«, Wallmann, Briefwechsel Francke, 408,107 f, 111 f (Nr. 110, Berlin, 19. Oktober 1695). Spener warnte Francke nachdrücklich vor öffentlicher Zustimmung zur Lehre vom »zustand der seelen nach dero abschied« (Wallmann, Briefwechsel Francke, 409,126; Nr. 110,

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dersetzung Speners eindringliche Ermahnung, mit solchen Vorstellungen nicht an die Öffentlichkeit zu treten, deutlich zurückwies, ist er dieser Warnung seines väterlichen Ratgebers de facto doch gefolgt.10 Francke hat sich in den nachfolgenden Jahren offensichtlich von den chiliastischen und apokalyptischen Vertretern des Pietismus distanziert11, während diese mit Blick auf das nahende »annus climacterius« ihre theologischen Vorstellungen radikalisierten, ihren Enthusiasmus steigerten und die separatistischen Tendenzen verstärkten.12 Das Jahr 1700 markiert daher für beide eine Zäsur – für die Radikalen mit ihren eschatologischen Erwartungen, auch wenn es noch eine Reihe von Jahren dauerte, bis die enthusiastischen Phänomene abklangen13, aber auch für August Hermann Francke: In den Frühjahrsmonaten des »annus climacterius« formulierte er – soweit wir wissen – erstmals sein Konzept einer umfassenden Erneuerung der Christenheit und einer erfüllten Zukunft.

I Im Frühjahr 1700 steuerte Franckes Konflikt mit der Hallenser Pfarrerschaft auf eine friedliche Beilegung zu, vorangetrieben durch eine Regierungskom-

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Berlin, 19. Okt. 1695), wie sie Johanna Eleonora Petersen in einer noch unveröffentlichten Schrift vertreten habe; vgl. Wallmann, Briefwechsel Francke, 425,40 – 48 (Nr. 114, Spener an Francke, Berlin, 31.12. 1695). Am 29. Februar übersandte Spener einen Aufsatz mit der Überschrift »Anmerckungen über den Zustand der seelen nach dem todt«; vgl. Wallmann, Briefwechsel Francke, 429 mit Anm. 2 (Nr. 115, Berlin); Archiv der Franckeschen Stiftungen Halle, Hauptarchiv (künftig: AFStH) A 125, S. 133. In einer diplomatisch formulierten, aber gleichwohl scharfen Antwort bekundete Francke am 7. März, dass seine Haltung in dieser Sache »immota« sei; Wallmann, Briefwechsel Francke, 434,15. Als Knecht Gottes sorge er sich nicht um die Haltung des Hofes, von dem er bislang ohnehin nur eine kärgliche Entlohnung erhalten habe. Speners ängstliche Briefe hätten ihn mehrfach der Glaubensfreude und -kraft beraubt. In seiner Antwort vom 10. März suchte Spener den Dissens zu überbrücken; vgl. Wallmann, Briefwechsel Francke, 433,1 – 436,76; 443,31 – 42 (Nr. 116, Glaucha; Nr. 117, Berlin). Die Debatte wird in der überlieferten Korrespondenz nicht wieder aufgenommen. Dies wird exemplarisch erkennbar an Franckes Distanzierung von seiner »Deborah« Adelheid Sibylla Schwartz; vgl. Ulrike Witt: Bekehrung, Bildung und Biographie. Frauen im Umkreis des Halleschen Pietismus (Hallesche Forschungen 2). Halle 1996, 53 – 58; Ryoko Mori: Begeisterung und Ernüchterung in christlicher Vollkommenheit. Pietistische Selbst- und Weltwahrnehmungen im ausgehenden 17. Jahrhundert (Hallesche Forschungen 14). Tübingen 2004, 220 f, 223 f; allgemein 204 – 224. Ein eindrückliches Beispiel für diese Tendenzen bildet der Herborner Theologieprofessor Henrich Horche, der bereits für 1697 den Beginn der endzeitlichen Ereignisse erwartete und schließlich wegen seiner radikalen Auffassungen und wegen seines Aufrufs, »Babel«, die Konfessionskirchen, zu verlassen, seines Amtes enthoben wurde; zu Horche und einer Fülle weiterer Beispiele vgl. Schneider, Unerfüllte Zukunft (wie Anm. 1), 387 – 392. Vgl. Schneider, Unerfüllte Zukunft, 403 f.

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mission unter pietismusfreundlicher Leitung. Im Juni 1700 wurde dieser letzte große Konflikt zwischen Francke und den Vertretern der lutherischen Orthodoxie in Halle und im ehemaligen Herzogtum Magdeburg durch einen Formelkompromiss weitgehend zugunsten Franckes beendet. Diesen sich abzeichnenden Erfolg im Rücken formulierte Francke ein Reformprogramm mit einer groß angelegten Perspektive. Am 1. Mai 1700 schrieb er darüber erstmals an Philipp Jakob Spener in Berlin: »Ich bringe jetzo zu Papier, wie nach Endigung der Commission was sehr heylsames S[eine]r Churfürstlichen Durchlaucht könne an Hand gegeben werden 1. für das ministerium. 2. für diese Stadt. 3. für die universität. 4. für das Land. 5. für ganz Teutschland, und angränzende Länder und Reiche. Es ist alles so beschaffen, daß ich den effect hoffe«14.

Francke hoffte darauf, dass sich die Regierungs-Kommission, die zur Schlichtung des Streits eingesetzt war, nach dessen Beendigung bei der brandenburg-preußischen Führung für seinen Entwurf verwenden könnte. Diese Hoffnungen auf eine Unterstützung durch die Regierung in Berlin erfüllten sich nicht im gedachten Umfang. Francke hat gleichwohl seinen Entwurf über lange Zeit weiter verfolgt und entwickelt. Die erste uns überlieferte Fassung liegt in der Schrift »Project. Zu einem Seminario Universali oder Anlegung eines Pflantz-Gartens, von welchem man eine reale Verbesserung in allen Ständen in und auserhalb Teutschlandes, ja in Europa und allen übrigen Theilen der Welt zugewarten«15 vor. Sie ist auf das Frühjahr 1701 zu datieren und richtet sich nun nicht mehr an den brandenburg-preußischen Regenten, sondern an finanziell potente Unterstützer16. Franckes »Project zu einem Seminario Universali« stimmt in seiner Grundkonzeption wiederum überein mit einer deutlich umfangreicheren Reformschrift, für die sich in der Forschung die Bezeichnung »Großer Aufsatz« eingebürgert hat. Francke hat sie selbst als Fortschreibung der Projektschrift von 1701 charakterisiert.17 Der »Große Aufsatz« hat bis 1719 14 Wallmann, Briefwechsel Francke, 744,4 – 8 (Nr. 213, Halle, 1. Mai 1700). 15 August Hermann Francke: Werke in Auswahl, hg. v. Erhard Peschke. Berlin 1969, 108 – 115; vgl. Paul Raabe/Almut Pfeiffer (Bearb.): August Hermann Francke 1663 – 1727. Bibliographie seiner Schriften (Hallesche Quellenpublikationen und Repertorien 5). Tübingen 2001, Nr. F 41.1. Die Schrift wird im Folgenden zur Unterscheidung von anderen Projektschriften Franckes als »Projekt zu einem Seminario Universali« bzw. kurz als »Universalprojekt« bezeichnet; zu den übrigen Projektschriften vgl. Peter Weniger: Anfänge der »Franckeschen Stiftungen«. Bemerkungen zur Erforschung der Geschichte der Glauchaschen Anstalten in ihrem ersten Jahrzehnt. In: PuN 17 (1991), 95 – 120, 102 – 113; Wallmann, Briefwechsel Francke, 744 Anm. 4 (Nr. 213). 16 Für die Kontinuität des »Projects« zu Franckes Reformvorhaben aus dem Jahr 1700 spricht die Ausrichtung auf Halle, die Universität, Deutschland und die angrenzenden Länder. 17 Francke berichtet, dass er »das erste Project« (August Hermann Francke: Schrift über eine Reform des Erziehungs- und Bildungswesens als Ausgangspunkt einer geistlichen und sozialen Neuordnung der Evangelischen Kirche des 18. Jahrhunderts. Der Große Aufsatz, hg. v. Otto

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mehrere Überarbeitungen erfahren, die jedoch nicht zu wesentlichen Änderungen führten18. Der universale Horizont und die Grundstruktur der Argumentation, die Francke erstmals im »Projekt zu einem Seminario Universali« 1701 entwickelte und anschließend im »Großen Aufsatz« fortschrieb, hat seine Arbeit in Universität und Anstalten somit wenigstens zwei Jahrzehnte begleitet. Sie kann als der Leitrahmen seiner Arbeit verstanden werden, auch wenn er nur einem kleinen Personenkreis bekannt wurde. Die Grundzüge dieses Leitrahmens möchte ich im Folgenden vorstellen.

II Ausgangspunkt von Franckes Überlegungen ist die Annahme einer generellen Krise, welche die Evangelische Kirche und die Christenheit insgesamt erfasst habe. »Daß nicht allein insgemein in der Welt, sondern auch in der so genannten Christenheit und in der Evangelischen Kirchen selbst alles in einem verderbten Zustande und schrecklichen Verfall liege, mögen auch die jenigen, denen Gott die Augen nur ein wenig geöffnet, gar leicht erkennen.«19

Klugerweise unterscheidet Francke zwischen Erbsünde und allgemeinem Niedergang der Christenheit. Während die Erbsünde allen Menschen, auch den Frommen, anhafte, habe sich Gott in der Christenheit einen frommen Rest bewahrt, der nicht dem allgemeinen Verfall erlegen sei. In Regier-, Lehr- und Hausstand habe sich Gott jeweils einen »Samen« übrigbehalten für das künftige Aufblühen der Christenheit. Die Unterscheidung zwischen Erbsünde und allgemeinem Verfall der Christenheit eröffnet somit einen Ansatz für menschliches Handeln, für eine umfassende Reform. Die Feststellung einer allgemeinen Krise war um 1700 allerdings nichts Neues. Am Ende eines Jahrhunderts, das in der Mitte Europas von Klimaschwankungen, Kriegen, Seuchen, Bevölkerungsrückgang und einer lange Podczeck [ASAW.PH 53,3], Berlin 1962, 54,7) trotz positiver Rückmeldungen bis Anfang 1704 zur Seite gelegt habe. Das Gespräch mit einigen »Gönnern und Freunden« habe ihn jedoch Anfang 1704 veranlasst, die Schrift wieder in die Hand zu nehmen. Es habe ihn getröstet, dass »manches, so damals projectiret« (Francke, Der große Aufsatz, 54,16 f), in Universität und Anstalten nun verwirklicht sei. Dies habe ihn »auffgemuntert, das vorige project nach dem gegenwärtigen Zustande und meiner itzigen Einsicht mit reiffer Überlegung einzurichten, und so dann daßelbige christlichen Gönnern vor Augen zu legen« (Francke, Der große Aufsatz, 55,10 – 12). – Außerdem hat Francke eine zweite, kurz nach der ersten Fassung des »Universalprojekts« entstandene Projektschrift herangezogen, das sog. »Anstaltsprojekt«; vgl. Francke, Der große Aufsatz, 24 (Otto Podczeck); Weniger, Anfänge (wie Anm. 15), 104 – 113. 18 Zu den Überarbeitungen des »Großen Aufsatzes« der Jahre 1709, 1711 und 1716 und ihrem Hintergrund vgl. Francke, Der große Aufsatz, 17 – 23 (Podzceck). 19 Francke, Der große Aufsatz, 70,6 – 9.

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andauernden wirtschaftlichen Depression gekennzeichnet war,20 konnte sich Francke auf eine beachtliche theologische Krisenliteratur zurückbeziehen. Er nennt unter anderem Johann Valentin Andreae (1586 – 1654), Joachim Betke (1601 – 1663), Theophil Großgebauer (1627 – 1661), Veit Ludwig von Seckendorff (1626 – 1692), Ahasver Fritsch (1629 – 1701) und Philipp Jakob Spener.21 Francke stellt sich in eine lange Reihe von Kritik und Reformvorschlägen im kirchlichen Raum, knüpft aber nur sehr allgemein an diese Tradition an. Auch seine Krisenanalyse ist nicht sehr detailreich. Bemerkenswert ist vor allem, dass er die Ursache für das allgemeine Verderben anders als beispielsweise Spener nicht in allen Ständen gleichermaßen sucht, sondern auf den Lehrstand fokussiert. Man solle die Krise des Lehrstands »nicht allein als einen Theil des allgemeinen Verderbens« sehen, »sondern in demselben habe man den Grund des Verderbens am allermeisten zu suchen«22. Die Universität, Franckes primärer Erfahrungsraum seit Beginn seines Studiums, bildet dabei den Kern des Problems, weil fast alle geistlichen und weltlichen Ämter mit ihren Absolventen besetzt werden. »Die Universitaeten sollten die eigentlichen Pflantz-Gärten seyn, und gleichsam die Baum-Schulen Gottes, wordurch alles

20 Hartmut Lehmann hat das 17. Jahrhundert daher in sozialpsychologischer Perspektive unter die Trias »Not, Angst, Hoffnung« gestellt; vgl. Hartmut Lehmann: Das Zeitalter des Absolutismus. Gottesgnadentum und Kriegsnot (CG 9). Stuttgart u. a. 1980, 105 – 169. Zu den klimatischen Veränderungen vgl. Hubert H. Lamb: Klima und Kulturgeschichte. Der Einfluß des Wetters auf den Gang der Geschichte. Hamburg 1989, 232 – 266; Hartmut Lehmann: Frömmigkeitsgeschichtliche Auswirkungen der »Kleinen Eiszeit«. In: Wolfgang Schieder (Hg.): Volksreligiosität in der modernen Sozialgeschichte (GeGe, Sonderheft 11). Göttingen 1986, 33 – 50, wiederabgedruckt in: Ders.: Religion und Religiosität in der Neuzeit. Historische Beiträge. Göttingen 1996, 62 – 82; zur demographischen Entwicklung Christian Pfister: Bevölkerungsgeschichte und historische Demographie 1500 – 1800 (Enzyklopädie Deutscher Geschichte 28). München 1994, 12 – 18. – Der Westfälische Friede brachte ein Ende der Kriegshandlungen lediglich im Reich; an dessen Peripherie setzten sich die Kriegshandlungen bis zum Ende des Nordischen Kriegs (1700 – 1720/21) und des Spanischen Erbfolgekriegs (1701 – 1714) fort; vgl. Heinz Schilling: Höfe und Allianzen. Deutschland 1648 – 1763 (Siedler Deutsche Geschichte 6). Berlin 1994, 257 – 270, 275 – 280. 21 Francke erwähnt außerdem Johann Arndt und Jean Fr¦d¦ric Ostervald (1663 – 1747), einen aus Neuch–tel (Schweiz) stammenden Vertreter der Reformorthodoxie; vgl. Rudolf Dellsperger : Der Beitrag der »vernünftigen Orthodoxie« zur innerprotestantischen Ökumene. Samuel Werenfels, Jean-Fr¦d¦ric Ostervald und Jean-Alphonse Turrettini als Unionstheologen. In: Ders.: Kirchengemeinschaft und Gewissensfreiheit. Studien zur Kirchen- und Theologiegeschichte der reformierten Schweiz. Ereignisse, Gestalten, Wirkungen (Basler und Berner Studien zur historischen und systematischen Theologie 71). Bern u. a. 2001, 51 – 65. 22 Francke, Der große Aufsatz, 73,3 f. Diese Formulierung widerspricht jeder Nivellierung der Kausalität, wie sie Carl Hinrichs: Die universalen Zielsetzungen des Halleschen Pietismus. In: ders., Preußentum und Pietismus. Der Pietismus in Brandenburg-Preußen als religiös-soziale Reformbewegung. Göttingen 1971, 1 – 125, hier 53 f., andeutet. Im »Projekt zu einem Seminario Universali« verzichtet Francke gänzlich auf Ausführung seiner Kritik an Regier- und Hausstand, indem er den Lehrstand direkt für die allgemeine Krise verantwortlich macht: »Es ist offenbar, daß der Grund alles Verderbens in dem höchst verderbten Lehr Stande zu suchen, welches aus allen Seculis in der Kirchen Historie erhellet«. Francke, Werke in Auswahl (wie Anm. 15), 108.

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gebauet, gebeßert und fruchtbar gemacht würde«23. Dass die Universitäten solche fruchtbaren Pflanzgärten, Seminaria, nicht sind, bedarf nach Francke »keiner Erleuchtung zu erkennen, und wäre gewiß eine große Blindheit so mans ferner darauff wollte ankommen lassen«24. Indem Francke die Ursachen für die Generalkrise der Christenheit vor allem beim Lehrstand sucht, bietet er schon den Ansatzpunkt für eine Lösung. Francke schlägt in der Projektschrift von 1701 vor, ein Seminar, einen Pflanzgarten, zu errichten, der so »eingerichtet wäre, und unter Göttlichem Seegen so ämsig, sorgfältig und weißlich gepflantzet und gewartet würde, daß man aus demselbigen stets, und von Zeit zu Zeit wohlgerathene Pflantzen und Bäume heraus nehmen, an andere Orte, und in andere Länder ja in alle theile der Welt, und unter alle Nationes versetzen, und von Ihnen ihre völligen Früchte erwarten, und mit Freuden geniessen könnte«25.

Ein Universal-Seminar soll Ausgangspunkt der Erneuerung der Christenheit sein. Von ihm erwartet Francke die »treuen und guten Arbeiter«26, die in Schulen und Kirche fehlen – nicht nur für das eigene Land, sondern für alle Nationen. Die Idee eines solchen Nationen- oder Universalseminars war um 1700 keineswegs etwas Neues. Bereits seit dem beginnenden 17. Jahrhundert hatte die Idee einer länder- und konfessionsübergreifenden Gelehrtengesellschaft vor allem in Akademikerkreisen abseits der etablierten Universitäten an Bedeutung gewonnen.27 Sie spielte in den Bestrebungen um eine umfassende 23 Francke, Der große Aufsatz, 77,13 f.; vgl. 82,16 – 19. »Seminarium« lat.: Baum- oder Pflanzschule. 24 Francke, Werke in Auswahl, 109. 25 Ebd. 26 Vgl. ebd. 27 Diese Entwicklung wurde durch humanistische Einflüsse, die Hinwendung führender Wissenschaftler zur experimentellen Erforschung der Natur, ein eschatologisches Bewusstsein, in einer neuen, letzten Zeit zu leben, und einen gewissen Gegensatz zum »neuscholastischen« Lehrbetrieb an den Universitäten gefördert; vgl. allgemein Ludwig Hammermayer: Akademiebewegung und Wissenschaftsorganisation. In: Erik Amburger u. a. (Hg.): Wissenschaftspolitik in Mittel- und Osteuropa. Berlin 1976, 1 – 84, hier 3 – 13; Gerhard Kanthak: Der Akademiegedanke zwischen utopischem Entwurf und barocker Projektemacherei. Zur Geistesgeschichte der Akademiebewegung des 17. Jahrhunderts (Historische Forschungen 34). Berlin 1987; Notker Hammerstein: Innovation und Tradition. Akademien und Universitäten im Heiligen Römischen Reich deutscher Nation. In: HZ 278 (2004), 591 – 623, hier 591 – 602; Lehmann, Absolutismus (wie Anm. 20), 154 – 161; zur Kontinuität wissenschaftlicher Sozialisationsformen zwischen Antike und Neuzeit Laetitia Boehm: Organisationsformen der Gelehrsamkeit im Mittelalter. In: Klaus Garber/Heinz Wismann (Hg.): Europäische Sozietätsbewegung und demokratische Tradition. Die europäischen Akademien der Frühen Neuzeit zwischen Frührenaissance und Spätaufklärung, Bd. 1 (Frühe Neuzeit 26). Tübingen 1996, 65 – 111. Zur italienischen Akademiebewegung und insbesondere zur »Accademia Platonica« in Florenz vgl. Sebastian Neumeister: Von der arkadischen zur humanistischen res publica litteraria. Akademie-Visionen des Trecento. In: Garber/Wismann Bd. 1, 171 – 189; August Buck: Die humanistischen Akademien in Italien. In: Fritz Hartmann/Rudolf Vierhaus (Hg.): Der Akade-

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Reform von Kirche und Gesellschaft eine wichtige Rolle. Dies lassen besonders deutlich die utopischen Entwürfe des frühen 17. Jahrhunderts erkennen. Gelehrte Kollegien oder Bruderschaften nahmen beispielsweise in den idealen Gegenwelten der »Nova Atlantis« des Francis Bacon oder der »Christianopolis« des Johann Valentin Andreae eine Schlüsselposition ein.28 Es hat aber auch nicht an Versuchen gefehlt, dieser zentralen Position akademischer Gelehrtengesellschaften einen Ort in der Realität zu geben. Johann Valentin Andreae wollte zu Beginn des Dreißigjährigen Kriegs eine Gelehrtensozietät gründen, scheiterte jedoch vermutlich an der Kriegssituation und den Widerständen in Tübingen.29 Vor und nach dem Dreißigjährigen Krieg förderte die Rosenkreuzerbewegung über Ländergrenzen hinweg den Sozietätsgedanken.30 Andreae gehörte wiederum zu ihren Initiatoren, Comenius war von ihr ebenso beeinflusst wie noch die Gründung der »Royal Academy of London for Improving Natural Knowledge« (1660/62). Nach dem Dreißigjährigen Krieg entstand im deutschsprachigen Raum eine ganze Reihe von gelehrten Sozietäten. In Brandenburg-Preußen wurde auf Initiative des schwedischen Adligen Benedikt Skytte 1667 ein kurfürstliches Patent für die Gründung einer Universität der Völker erlassen. Die »Universitas Brandenburgica Gentium, miegedanke im 17. und 18. Jahrhundert (Wolfenbütteler Forschungen 3). Bremen/Wolfenbüttel 1977, 11 – 25; Paul Oskar Kristeller: The Platonic Academy of Florence. In: Renaissance News 14 (1961), 147 – 159; Manfred Lentzen: Die humanistische Akademiebewegung des Quattrocento und die Accademia Platonica in Florenz. In: Garber/Wismann Bd. 1, 190 – 213; Horst Heintze: Regionale Aufgliederung früher Renaissance-Akademien. Die Pontaniana und die Pompiana. In: Garber/Wismann Bd. 1, 214 – 237. Zur naturwissenschaftlichen Neuorientierung im 17. Jahrhundert vgl. Klaus Fischer: Die neue Ordnung des Wissens. Experiment – Erfahrung – Beweis – Theorie. In: Richard van Dülmen/Sina Rauschenbach (Hg.): Macht des Wissens. Die Entstehung der modernen Wissensgesellschaft. Köln u. a. 2004, 155 – 185. 28 Vgl. Brian Vickers: English Science, Bacon to Newton. Cambridge 1987, 23 – 44 (Bacon); Richard van Dìlmen: Reformationsutopie und Sozietätsprojekte bei Johann Valentin Andreae. In: Francia 6 (1978), 299 – 318, hier 308 – 312, 316 f. 29 Vgl. Martin Brecht: Das Aufkommen der neuen Frömmigkeitsbewegung in Deutschland. In: Ders. u. a. (Hg.), Geschichte des Pietismus 1 (wie Anm. 2), 113 – 203, hier 160 f.; van Dìlmen, Reformationsutopie (wie Anm. 28), 310. 30 Wilhelm Kìhlmann charakterisiert die Rosenkreuzerbewegung als eine »Gesellschaft, die nur als Vision und Hoffnungsbild zerstreuter Intellektueller des frühen 17. Jahrhunderts bestand und von der doch dauernde Impulse auf die europäische Sozietätsbewegung des 17. und noch des 18. Jahrhunderts ausgingen. Sinn, Programm, Hintergrund und Dynamik dieser imaginären Gesellschaft markieren den Kontinuitätszusammenhang eines vom RenaissancePlatonismus gespeisten Christentums«, Sozietät als Tagtraum – Rosenkreuzerbewegung und zweite Reformation, in: Garber/Wismann Bd. 2 (wie Anm. 27), 1124 – 1151, hier 1124; vgl. die drei Initiationsschriften der imaginären Rosenkreuzergesellschaft, die im 17. Jahrhundert eine enorme publizistische Debatte auslösten, die Allgemeine und General-Reformation, der gantzen weiten Welt …, Kassel: Wilhelm Wessel 1614; VD 17, Nr. 1: 077709 S; Fama Fraternitatis, Oder Brüderschafft/ des Hochlöblichen Ordens des R. C. An die Häupter/ Stände und Gelehrten Eu ropæ. Kassel: Wilhelm Wessel 1614; Chymische Hochzeit: Christiani Rosencreütz. Anno 1459. Straßburg: Lazarus Zetzners Erben 1616; VD 17, Nr. 23: 279666 R; vgl. 23: 000604 B; Fama fraternitatis (1614), hg. v. Richard van Dülmen (QFWKG 6). Stuttgart 31981. Vgl. exemplarisch Wilhelm Kìhlmann: Art. »Rosenkreuzer«. In: TRE Bd. 29 (1998), 407 – 413 (Lit).

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Scientiarum et Artium« sollte die angesehensten und wohlhabendsten Männer Westeuropas mit ihren Familien versammeln, um mit schriftstellerischen, künstlerischen und gewerblichen Leistungen für den Fortschritt der Menschheit zu arbeiten.31 Diese weit ausgreifenden Pläne scheiterten zwar – vor allem, weil es Skytte nicht gelang, bedeutende Gelehrte für sein Vorhaben zu gewinnen. Eine Generation später aber wurden ähnlich gelagerte Pläne unter der Führung von Gottfried Wilhelm Leibniz in Berlin mit der Gründung der Akademie der Wissenschaften im Jahr 1700 Wirklichkeit;32 August Hermann Francke gehörte zu den frühen Mitgliedern. Francke war mit diesen Plänen offensichtlich vertraut. Wie Spener schätzte er die Schriften Johann Valentin Andreaes, ebenso die des Comenius. Mit Leibniz stand er seit 1697 in Korrespondenz. Franckes Bezug zu den Reformentwürfen des 17. Jahrhunderts und insbesondere zu den Akademieplänen bedürfen jedoch einer genaueren Untersuchung. Dabei würden vermutlich auch deutliche Differenzen zu Tage treten. So war Franckes Reformkonzept nicht nur auf Gelehrte ausgerichtet, sondern auf einen breiteren Adressatenkreis. Wichtiger aber war noch eine andere Differenz, auf die ich nun eingehen möchte.

31 Vgl. Friedrich Arnheim: Freiherr Benedikt Skytte (1614 – 1683), der Urheber des Planes einer brandenburgischen »Universal-Universität der Völker, Wissenschaften und Künste«. In: Beiträge zur brandenburgischen und preußischen Geschichte. FS Gustav Schmoller. Leipzig 1908, 65 – 99, bes. 85 – 90; Adolf Harnack: Geschichte der Königlich Preussischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Berlin 1900, Bd. I/1, 1 f; Bd. II, 3 f; Wolfgang Neugebauer: Zentralprovinz im Absolutismus. Brandenburg im 17. und 18. Jahrhundert (Bibliothek der Brandenburgischen und Preußischen Geschichte 5; Brandenburgische Geschichte in Einzeldarstellungen 4). Berlin 2001, 100 f; Hugo Landwehr: Die Kirchenpolitik Friedrich Wilhelms, des Großen Kurfürsten. Berlin 1894, 345 – 350. 32 Vgl. Hans-Stephan Brather (Hg.): Leibniz und seine Akademie. Ausgewählte Quellen zur Ge schichte der Berliner Sozietät der Wissenschaften. 1697–1716. Berlin 1993. Francke wurde als abwesendes Mitglied aufgenommen; vgl. Brather, Leibniz, 347; Ines Bçger: »Ein seculum … da man zu Societäten Lust hat«. Darstellung und Analyse der Leibnizschen Sozietätspläne vor dem Hintergrund der europäischen Akademiebewegung im 17. und frühen 18. Jahrhundert, Bd. 1. München 1997; Werner Schneiders: Societätspläne und Sozialutopie bei Leibniz, studia leibnitiana 7 (1975), 58 – 80, bes. 63 – 71, 74 f; Hinrichs, Zielsetzungen (wie Anm. 22), 38 – 41. Zu Leibniz’ frühen Akademieplänen vgl. Gottfried Wilhelm Leibniz: Grundriß eines Bedenkens von Aufrichtung einer Sozietät. In: Ders.: Sämtliche Schriften und Briefe (Akademieausgabe), Bd. IV/1: Politische Schriften 1667 – 1676. Darmstadt 1931, 530 – 543; vgl. auch 543 – 552; Conrad Grau: Zur Vor- und Frühgeschichte der Berliner Sozietät der Wissenschaften im Umfeld der europäischen Akademiebewegung. In: Garber/Wismann 2 (wie Anm. 27), 1381 – 1412; Bçger, Sozietätspläne Bd. 1, 54 – 75.

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III Philipp Jakob Spener war in den »Pia Desideria« auch auf die Frage eingegangen, ob seine Erwartung einer besseren Zeit für die Kirche hier auf Erden Chance auf Realisierung habe. Er hatte dafür auf die Anfänge der Christenheit, auf die Urgemeinde, verwiesen. Francke führte ein anderes Argument zur Antwort auf diese Frage an. Nach seiner Auffassung befand sich sein Entwurf für ein Universalseminar nicht mehr im reinen Projektstadium. Es handele sich nicht mehr um »eine rem publicam Platonicam oder in bloßer Einbildung bestehende Sache«33. Vielmehr gebe es bereits einen Ort, »da ein würcklicher Anfang zu allen diesen Seminariis gemachet«34. Diesen Anfang sieht Francke in den Glauchaer Anstalten und in der Universität Halle. Das Projekt zu einem Seminario universale ist damit keine U-Topie35 mehr, es hat einen Ort in der Wirklichkeit. Francke wahrt bei dieser »Ver-Ortung« des Universal-Seminars die Unterscheidung von Gotteswerk und Menschenwerk. Er vermeidet es in der Projektschrift durchgängig den Erfolg von Schulen, Waisenhaus und Universität in Halle als sein eigenes Werk, das seiner Mitarbeiter oder der Hallenser Universitätsdozenten zu beschreiben. Das ungeahnte Wachstum von Anstalten und Universität lasse vielmehr erkennen, »daß Gott selbst mit im 33 Francke, Werke in Auswahl, 112. Der Begriff war im damaligen Sprachgebrauch Topos für einen bloß in der Einbildung bestehenden Sachverhalt; vgl. Udo Str•ter : Der Hallische Pietismus zwischen Utopie und Weltgestaltung, in: Ders. u. a. (Hg.): Interdisziplinäre Pietismusforschungen. Beiträge zum Ersten Internationalen Kongress für Pietismusforschung 2001 (Hallesche Forschungen 17, 1 u. 2). Tübingen 2005, 19 – 36, hier 26. Mit einer ähnlichen Formulierung weist Spener mögliche Einwände gegen seine »Hoffnung besserer Zeiten« zurück; vgl. Philipp Jakob Spener : Pia desideria, hg. v. Kurt Aland (KlT 170). Berlin 31964, 47,31 (47,30 – 48,1). 34 Francke, Werke in Auswahl, 110; Archiv der Franckeschen Stiftungen Halle, Wirtschaftsarchiv (künftig AFStW) II/–/10, Bl. 3v (Franckes »Anstaltsprojekt«, 1701). »Der Begriff ›Project‹ war an der Wende zum 18. Jahrhundert omnipräsent. Er gehört dem Wirtschaftsleben an, war zunächst nicht selten mit der Konnotation des Unseriösen behaftet, die im Wort ›Projektenmacher‹ Ausdruck findet«, Str•ter, Weltgestaltung (wie Anm. 33), 33; vgl. ders.: August Hermann Francke und seine »Stiftungen« – einige Anmerkungen zu einer sehr bekannten Geschichte. In: Paul Raabe u. a. (Hg.): Vier Thaler und sechzehn Groschen. August Hermann Francke. Der Stifter und sein Werk (Kataloge der Franckeschen Stiftungen 5). Halle/Saale 1998, 15 – 31, 26 – 29; sowie der um 1700 weit verbreitete »Essay on Projects« (1697) von Daniel Defoe (1661 – 1731), deutsch: Über Projektemacherei (An Essay on Projects), unveränderter Nachdruck der Übersetzung von Hugo Fischer, Leipzig 1890, eingeleitet von Harry Schmidtgall. Wiesbaden 1975; Johann Heinrich Zedler : Art. »Projectenmacher«. In: Grosses vollständiges Universallexicon aller Wissenschafften und Künste, Bd. 29 (1741), 784. 35 Wörtlich: kein Ort, ohne Ort; der Begriff wurde durch Thomas Morus’ (1477/78 – 1535) »Utopia« (1516) geprägt; vgl. Thomas More: Utopia, hg. v. Edward Surtz, New Haven 1976; Thomas Morus: Utopia, übers. v. Gerhard Ritter. Darmstadt 1979; Geoffrey Rudolph Elton: Thomas More. In: Martin Greschat (Hg.): Gestalten der Kirchengeschichte, Bd. 5: Reformationszeit I, Stuttgart u. a. 1981, 89 – 103, hier 91 f.

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Werck sey«36, die Mitarbeiter seien lediglich »getreue Knechte« oder »Werkzeuge« Gottes37. Ihr selbstloser Einsatz, Gottvertrauen und die Harmonie untereinander sowie die bereits erkennbaren Früchte weisen für ihn in diese Richtung. Dass »der lebendige Gott hieselbst zu Halle« gehandelt habe, lasse sich aber vor allem aus der Entwicklung der Anstalten aus sehr bescheidenen Anfängen erkennen. Ähnlich dem Senfkorn des biblischen Gleichnisses zeige sich hier ein Wachstum, das »öffters über allem Begriff menschlicher Vernunfft gegangen«38 sei. »Denn wie der Welt Brauch ist, ihre Dinge groß anzufangen, die doch ein schlechtes Ende nehmen«, schreibt Francke erläuternd im »Großen Aufsatz«, »so ist im Gegentheil Gottes Brauch, sein Werck klein und gering anzufangen, aber es hingegen über Menschen Gedencken und wider das Urtheil der blinden Vernunft desto herrlicher hinaus zu führen«39.

Es ist Franckes Überzeugung, dass Gott mit Universität und Anstalten in Halle aus unscheinbaren Anfängen die Generalreform eingeleitet hat, die über den engeren Raum hinaus zu wirken beginnt und alle Länder des Reichs und darüber hinaus erreichen wird. Es liegt nahe, diese gewagte geschichtstheologische Spekulation auf dem Hintergrund einer chiliastisch geprägten Eschatologie zu sehen. Spener hatte mit seiner »Hoffnung besserer Zeiten« einen »eschatologischen Paradigmenwechsel«40 eingeleitet. Von Speners allgemeiner Erwartung eines besseren Zustands der Kirche hier auf Erden war es nur ein kleiner, aber entscheidender Schritt zur Annahme, dass diese Erneuerung bereits begonnen hat. Francke dürfte sich bewusst gewesen sein, dass eine solche Konkretion eschatologischer Erwartungen für eine breitere Öffentlichkeit äußerst anstößig war. In seiner Projektschrift spricht er nur in verklausulierter Form von Anstalten und Universität als Orten, an denen die Realisierung der Generalreform bereits begonnen habe. Projektschrift und »Großer Aufsatz« wurden zudem zu Lebzeiten Franckes nie gedruckt, sondern handschriftlich an einen kleinen Kreis von Sympathisanten und Förderern verbreitet. Einer breiteren Öffentlichkeit wurden nur die rückblickenden Schriften vorgelegt, die »Historische Nachricht« (1697) und die vielfach aufgelegten »Fußstapffen« (seit 1701). Am bereits Geschehenen sollten sie demonstrieren, dass Gott in der Entwicklung der Anstalten jenseits menschlicher Erwartungen und vernünftiger ökonomischer Planung »bereits so manche Spur seines Göttlichen Segens habe 36 Francke, Werke in Auswahl, 110. 37 Francke, Werke in Auswahl, 111. In der Einleitung des »Großen Aufsatzes« (»Zuversichtliche Anrede«) schreibt Francke: »Und ob gleich Gott seine Werckzeuge, wie seine Gewohnheit ist, dabey gebrauchet hat, so ist doch das Werck selbst denenselben gar nicht zuzuschreiben«, 40,9 f. 38 Francke, Werke in Auswahl, 110. 39 Francke, Der große Aufsatz, 40,5 f.22 – 25; zum Senfkorngleichnis vgl. 144,13 f; Mk 4,31 f parr. 40 Schneider, Unerfüllte Zukunft (wie Anm. 1), 208.

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blicken lassen«41. Franckes Blick nach vorn dagegen sollte »wegen der großen Boßheit der Welt […] nicht jederman vor die Augen«42 gelegt werden.

IV Der Blick nach vorn, die Perspektive der universalen Reform und der Blick zurück auf die »Fußstapffen« Gottes werden von Francke verbunden in der Gegenwart als Zeit zum Handeln. Wie bei Spener43 fungiert die eschatologische Perspektive wesentlich als Appell zum tätigen Engagement für die Reform in der Gegenwart – gestützt durch den Anfang, der bereits gemacht ist. Die Christen sollen sich in den – durch den Segen auf der bisherigen Arbeit in Halle – vorgezeichneten Bahnen engagieren. »Warum hat« Gott »dieses alles gethan«, fragt Francke in der »Zuversichtlichen Anrede« des »Großen Aufsatzes«, »ohne darumb, daß er die Spur gleichsahm zeiget, in welcher man seine Fußstapffen mercken und denenselben einfältiglich, doch sowohl mit sorgfältiger Bewahrung des Gewißens, als christlicher Vorsichtigkeit, folgen solle«44.

Die Gegenwart bietet große Gelegenheit zur Rettung vieler tausend Seelen, wie er den Adressaten seiner beiden Schriften mit großer Dringlichkeit nahezubringen sucht. Francke schildert zunächst die erstaunlichen Anfänge von Schulen, Waisenhaus und Universität in Glaucha und Halle und anschließend deren Defizite in differenzierter Form. Diesem Mängelkatalog wird nachfolgend eine Reihe von ebenfalls differenzierten Verbesserungsvorschlägen gegenübergestellt. Dieses schon in der Projektschrift zu findende Schema hat Francke im »Großen Aufsatz« in ausgearbeiteter und umfangreicher Gestalt vorgelegt. Verschiedene weitere Projektschriften sind hier eingeflossen.45 Entsprechend finden sich im »Großen Aufsatz« unter anderem Vorschläge für einen Ausbau des Collegium orientale und die Aufnahme ausländischer Kollegiaten, einen 41 August Hermann Francke: Die Fußstapffen Des noch lebenden und waltenden liebreichen und getreuen GOTTES / Zur Beschämung des Unglaubens / und Stärckung des Glaubens / Durch den Ausführlichen Bericht Vom Wäysen=Hause / Armen=Schulen / und übriger Armen=Verpflegung Zu Glaucha an Halle / Wie selbige fortgesetzet biß Ostern Anno 1701 […], Glaucha: Waisenhaus 1701, 113. 42 Francke, Werke in Auswahl, 115. 43 Spener, Pia desideria (wie Anm. 33), 43,23 – 49,5. 44 Francke, Der große Aufsatz, 61,38 – 40. 45 Vgl. das »Project wie die zu Glaucha an Halle, zur beßerung in allen ständen fundirte anstalten unter dem segen Gottes zu erweitern und zu ihrem rechten endzweck aus zuführen«, AFStW, II/ –/10, Bl. 1 – 32 (Konzept vom Frühjahr 1701), 68 – 111 (Ausfertigung vom Mai 1702); vgl. Raabe/ Pfeiffer (wie Anm. 15), Nr. F 44.2; zur Datierung vgl. Weniger, Anfänge (wie Anm. 15), 105. Weitere Projektschriften sind genannt bei Raabe/Pfeiffer, Nr. F 6.1.

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Ausbau des Lehrerseminars, einen Ausbau der Handwerksausbildung im Waisenhaus, die Einführung des Stehsatzes in der Druckerei zur Herstellung günstiger Bibeln und eine Lehrplanreform an theologischer und philosophischer Fakultät. Deutlich stellt Francke auch die internationalen Kontakte und Bemühungen heraus. Das Collegium orientale solle »gleich einem SenffKörnlein bald zu einer großen Pflantze«, zu dem angestrebten »Seminarium Nationum«, anwachsen, von dem »eine herrliche influenz zu einer allgemeinen Verbeßerung in der Welt«46 zu erwarten sei. Francke kann dafür auf die internationale Nachfrage nach Halleschen Absolventen47 und die Aufnahme englischer, griechischer und tartarischer Schüler am Collegium orientale verweisen48. So wird deutlich, dass es in der Tat nicht um eine civitas Platonica geht, sondern um ein Reformkonzept, das auf Realisierung zielt. Das Adjektiv »real« avancierte kaum zufällig zu den Lieblingsvokabeln Franckes.49

V August Hermann Franckes Konzept einer Generalreform knüpft in mehrfacher Hinsicht an Philipp Jakob Spener an. Wie jener geht er von einer allgemeinen Krise der christlichen Kirche aus und erwartet eine künftige Besserung (hier auf Erden). Auch die Verknüpfung der chiliastisch getönten »Hoffnung besserer Zeiten« mit einem Handlungsimpuls für die Christen der Gegenwart ist bei Francke zu finden. Deutlich setzt Francke aber auch eigene Akzente. Diese sind vor allem in drei Punkten zu sehen: 1. Francke lokalisiert die Krise der Christenheit nicht mehr in den drei Ständen der lutherischen Ständelehre gleichermaßen, sondern primär im Lehrstand, dem daher auch bei ihrer Behebung eine besondere Rolle zukommt. Man geht vermutlich nicht fehl, wenn man darin auch einen Reflex von Franckes Biographie sieht, die im Erwachsenenalter vorwiegend im universitären Raum angesiedelt war und seit seiner Bekehrung ein starkes pädagogisches Interesse erkennen lässt.50 46 Francke, Der große Aufsatz, 144,13 – 15; vgl. a. a. O., S. 143 f; Franckes Ausführungen im »Großen Aufsatz« stehen in gewisser Spannung zu seinen Aussagen in der Diskussion mit Hiob Ludolf d.Ä. (1703); vgl. Otto Podczeck: Die Arbeit am Alten Testament in Halle zur Zeit des Pietismus. Das Collegium Orientale theologicum A. H. Franckes. In: WZ(H).GS 7 (1958), 1059 – 1078, hier 1063 – 1066. Die gegenüber dem »Großen Aufsatz« abweichende Betonung der philologischen Ausbildung im »Collegium Orientale Theologicum« könnte in der unterschiedlichen Funktion der Schriftstücke begründet sein. 47 Francke nennt Ungarn, Siebenbürgen, Holland, England, Dänemark, Schweden, Moskau, Italien und den Orient; vgl. Francke, Der große Aufsatz, 123,31 – 33. 48 Vgl. Francke, Der große Aufsatz, 50,22 – 51,17; 96,8 – 97,11, 144,4 – 8. 49 Vgl. Hinrichs, Zielsetzungen (wie Anm. 22), 45, 60. 50 Dies illustriert insbesondere Franckes Hamburger Episode; vgl. Friedrich de Boor: A.H.

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2. Anders als bei Spener haben für Francke die »besseren Zeiten für die Kirche hier auf Erden« bei der Abfassung seiner Projektschriften bereits begonnen. Im Wachstum von Schulen und Waisenhaus aus bescheidensten Anfängen erblickte er die Voraussetzung für ein Universalseminar, von dem die erwartete weltweite Besserung der Christenheit ausgehen konnte. Francke knüpfte der Sache nach an die Sozietäts- und Akademietradition des 17. Jahrhunderts an. Ihre theologische Pointe erhielt diese Position aber darin, dass sie »Gott mit im Werk« sah. Auch wenn Francke diese riskante geschichtstheologische Aussage abfederte51, erweckte sie doch den Eindruck, Gottes Handeln in der Welt eindeutig identifizieren zu können. Die von Francke erwartete grundlegende Erneuerung der Christenheit nahm eben nicht irgendwo, sondern in Glaucha und Halle ihren Anfang. Mit dieser ›Verortung‹ des Anfangs der Generalreform war das Franckesche Projekt keine U-Topie mehr, sondern Teil, mehr noch: Ausgangspunkt der umfassenden göttlichen Reform. 3. Diese Lokalisierung der generellen Erneuerung erlaubte es, die Reformschritte auf Halle zu richten und damit weit über Spener hinaus zu konkretisieren. Mit Blick auf die Generalreform konnte Francke neue Professuren, eine Erweiterung des Lehrerseminars, neue Drucktechnik für die Waisenhausdruckerei oder Ähnliches fordern. Franckes Vorstellung der Generalreform konkretisierte sich in zahlreichen Einzelprojekten, -vorhaben und -initiativen. Die weltweite Erneuerung setzte sich aus vielen kleinen Schritten zusammen, die nach Franckes Auffassung »Gottes Fußstapffen« folgten. In diesem Sinne waren »Vier Taler und sechzehn Groschen« ein beachtliches Kapital.52 Überblickt man die Leistungen August Hermann Franckes und seiner Mitarbeiter, dann ist Beachtliches geschaffen worden. Dies dokumentiert exemplarisch das Gebäudeensemble der Franckeschen Stiftungen, das nun nach zwei Jahrzehnten der Renovierung in neuem Glanz erstrahlt. Doch zu einer umfassenden Erneuerung der Christenheit haben diese beeindruckenden Aktivitäten nicht geführt. Das Jahr 1700 war weder der Anfang der Generalreform noch des Millenniums. Franckes Zuspitzung der Hoffnung besserer Zeiten auf Universität, WaiFranckes Hamburger Aufenthalt im Jahre 1688 als Beginn seiner pädagogischen Wirksamkeit. In: Rosemarie Ahrbeck u. Burchard Thaler (Hg.): August Hermann Francke 1663 – 1727 (Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Wissenschaftliche Beiträge 1977/37 [A 39]). Halle 1977. 51 Francke unterschied deutlich Gotteswerk und Menschenwerk, indem er sein Handeln und das seiner Mitarbeiter lediglich als »Werkzeug« des göttlichen Handelns interpretierte. 52 Vgl. August Hermann Francke: Die Fußstapffen Des noch lebenden und waltenden liebreichen und getreuen GOTTES / Zur Beschämung des Unglaubens / und Stärckung des Glaubens / Durch den Ausführlichen Bericht Vom Wäysen=Hause / Armen=Schulen / und übriger Armen=Verpflegung Zu Glaucha an Halle / Wie selbige fortgesetzet biß Ostern Anno 1701 …, Glaucha: Waisenhaus 1701, 16.

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senhaus und Schulen in Halle und Glaucha als deren Ausgangspunkt hat beachtliche Energien freigesetzt. Diese Operationalisierung millenaristisch getönter Erwartungen aber bedeutete bis zu einem gewissen Grad auch deren Eingehen in weltliches Handeln und auf lange Sicht ihre Säkularisierung.

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Krisenbewusstsein und Zukunftserwartung bei Friedrich Breckling

Friedrich Breckling war einer der buntesten und schreibfertigsten Figuren unter den deutschen Kirchenkritikern der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts. Er war ein begabter Polemiker, dessen Angriff auf die etablierten Kirchen – vor allem auf die Evangelische Kirche – eine Heftigkeit und Intensität besaß, die seine Verbündeten überraschen konnte und seinen Gegnern ermöglichte, ihn mit allerlei Radikalen und Schwärmern in einen Topf zu werfen. Er pflegte den Dissens und stellte denen Zuflucht bereit, die mit der Amtskirche uneins waren. Aber unter dieser Wolke von Polemik und überzogener Rhetorik ist Breckling in seiner Persönlichkeit und Theologie schwer zu fassen. Manfred Jakubowski-Tiessen hat kürzlich festgestellt, dass der Kupferstich, der lange Zeit als das einzige Bildnis Brecklings galt, tatsächlich das Bildnis eines anderen Pfarrers ist, das für Breckling wiederverwendet wurde.1 Das ist ein passendes Indiz dafür, wie schwierig es manchmal ist, ein schärferes Bild von Breckling zu gewinnen. Er war eine eklektische Figur und stützte sich auf viele nonkonformistische Strömungen, vorrangig aus dem Luthertum, aber auch aus der hermetischen Tradition. Seine Veröffentlichungen waren diffus. Oft wiederholten sie Themen aus früheren Schriften, aber dann mit einem anderen Aufbau oder in einer ganz anderen Weise. Diese Schwierigkeiten erklären zum Teil, warum Breckling in der Literatur lange nur unzulänglich behandelt wurde.2 1 Das von Andreas Luppius 1692 gestochene Bildnis Brecklings ist eindeutig eine Zweitverwendung eines viel früheren Kupferstiches von Johann Koch, der 1648 den Pfarrer Lambert Alardus abbildete. Selbst der Leitspruch ist der gleiche: »Domine scis quod amem te.« Dazu Manfred Jakubowski-Tiessen: Fromme Orthodoxie, Pietismus, und Aufklärung. In: Stephan Richter (Hg.): Schleswig-Holstein Topographie. Bd. 6. Flensburg 2006, x–xiv, hier xi. 2 In den letzten Jahren gibt es neues Interesse an Breckling, unter anderem eine kommentierte Ausgabe seiner autobiographischen Chronik, Friedrich Breckling: Autobiographie. Ein frühneuzeitliches Ego-Dokument im Spannungsfeld von Spiritualismus, radikalem Pietismus und Theosophie. Hg. v. Johann Anselm Steiger. Tübingen 2005; mehrere Artikel: Brigitte Klosterberg: Provenienz und Autorschaft. Die Quellen von, zu, und über Friedrich Breckling in Bibliothek und Archiv der Franckeschen Stiftungen. In: PuN 33, 2007, 54 – 70; Magdolna Veres: Johann Amos Comenius und Friedrich Breckling als »Rufende Stimme aus Mitternacht«. In: PuN 33, 2007, 71 – 83; Cornelia Hopf: Handschriftliche Brecklingiana in der Forschungsbibliothek Gotha. In: PuN 33, 2007, 48 – 53; Jonathan Strom: Jacob Fabricius, Friedrich Breckling und die Debatte um Visionen und neue Offenbarungen. In: Der radikale Pietismus. Perspektiven der Forschung. Hg. v. Wolfgang Breul [u.a.]. Göttingen 2010, 249 – 269; und jüngst einen Sammelband Brigitte Klosterberg u. Guido Naschert (Hg.): Friedrich Breckling

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Krisenbewusstsein und Zukunftserwartung bei Friedrich Breckling

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Ein besonders schwieriges Thema ist Brecklings Chiliasmus oder Millenarismus. Es wird oft angenommen, dass er am Anfang seiner Veröffentlichungen ein strenger Chiliast war.3 Aber während Brecklings Anschauungen vom Chiliasmus oft als allgemein bekannt gelten,4 gibt es bis jetzt wenige Untersuchungen seiner Ansichten innerhalb des Spektrums der verschiedenen Auffassungen des Chiliasmus im 17. Jahrhundert. Im Folgenden möchte ich die Entwicklung von Brecklings Chiliasmus beschreiben, vor allem in den ersten Jahren der 1660er Jahre, als er in kurzer Zeit einen expliziten Prämillenarismus entwickelte und eine neue Zukunft auf Erden erwartete. Breckling verzichtet von da an nicht mehr auf diesen Prämillenarismus, spielte allerdings später einige seiner radikaleren Schlussfolgerungen herunter. Brecklings Übernahme dieser Spielart des Chiliasmus sagt viel über sein Schriftverständnis, sein anti-konfessionelles Luthertum und sein Verständnis von der Funktion und den Grenzen des Dissenses.

I. Biographischer Überblick Breckling wurde 1629 in Handewitt nahe Flensburg geboren.5 Sein Vater war Pfarrer, und auch mütterlicherseits war er mit der Geistlichkeit SchleswigHolsteins verwandt. Wie er selbst berichtet, wurde er früh auf eine Laufbahn als Geistlicher vorbereitet.6 Er fing seine Studien an der Universität Rostock an und führte sie an den Universitäten in Königsberg, Leipzig, Wittenberg und schließlich Gießen fort, wo er 1653 seinen Magistergrad erwarb. Zu der Zeit arbeitete er eng mit dem Paracelsisten und hermetischen Philosophen Johann

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(1629 – 1711). Prediger, »Wahrheitszeuge« und Vermittler des Pietismus im niederländischen Exil. Halle 2011 (Kleine Schriftenreihe der Franckeschen Stiftungen 11). Brecklings Nachlass ist Gegenstand eines DFG-Projekts am Forschungszentrums Gotha: »Erschließung, Auswertung und Analyse eines europäischen Netzwerkes des protestantischen Nonkonformismus um 1700 ausgehend von Friedrich Brecklings Catalogus testium veritatis« (Laufzeit 2010 – 2012). Siehe z. B. Veres, Comenius (s. Anm. 2), 75. Impliziert ist das auch bei Steiger, Autobiographie (s. Anm. 2), 132. Differenzierter dagegen bei Wilhelm Kìhlmann: Frühaufklärung und chiliastischer Spiritualismus – Friedrich Brecklings Briefe an Christian Thomasius. In: Friedrich Vollhardt (Hg.): Christian Thomasius (1655 – 1728). Neue Forschungen im Kontext der Frühaufklärung. Tübingen 1997, 179 – 234, hier 200 f. Johannes Wallmann: Reich Gottes und Chiliasmus in der lutherischen Orthodoxie. In: ders.: Theologie und Frömmigkeit im Zeitalter des Barock. Gesammelte Aufsätze. Tübingen 1995, 105 – 123, hier 120 f. Grundlegend für Brecklings Biographie ist noch immer die ältere Darstellung: L.J. Moltesen: Fredrik Brekling. Et Bidrag til Pietismens Udviklings Historie. Kopenhagen 1893. Siehe auch John Bruckner : Art. »Friedrich Breckling«. In: Biographisches Lexikon für Schleswig-Holstein und Lübeck. Bd. 7, 1985, 33 – 38; Dietrich Blaufuss: Art. »Breckling, Friedrich«. In: TRE 7, 1981, 150 – 153. Forschungsbibliothek Gotha (im Folgenden FB Gotha), Chart. A. 306, 182.

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Tacke zusammen.7 Breckling führten seine Gelehrtenreisen weit durch Deutschland. In Hamburg erlebte er 1655 eine Art Bekehrung, als er sich vor allem mit den Büchern von Tauler, Arndt und Luther intensiv beschäftigte. Diese Autoren, schrieb er später, hätten ihn »zum Lebendigen Glauben aufgewecket«.8 Zur gleichen Zeit begegnete er den kirchenkritischen Werken von Joachim Betke und Christian Hoburg, die ihn von dem »heutigen Verfall, sonderlich unter den Priestern und Academischen Studenten« zunehmend überzeugten.9 Eine Transformation vollzog sich über die nächsten anderthalb Jahre, als er durch das Rheinland, Norddeutschland und Amsterdam reiste. Vor allem in Amsterdam traf er, unter anderen, Peter Serrarius, Christian Hoburg und Ludwig Friedrich Gifftheil. Breckling verehrte Gifftheil. Bei ihm, schrieb Breckling, habe er »das recht lebendige Werck und Oraculum Gottes also gefunden… wie wir es aus den Propheten gelernet und wiederzufinden … gewünschet«.10 1657 kehrte Breckling zurück nach Schleswig-Holstein, wo er die Folgen des Nordischen Kriegs hautnah miterlebte. Zwei Jahre später wurde er als Hilfsprediger in Handewitt ordiniert mit der Aussicht, dass er seinem Vater nachfolgen würde.11 Fast sofort aber fing Breckling an, die Geistlichkeit heftig zu kritisieren, die er für den Verfall der Kirche verantwortlich machte.12 Brecklings Kritik eskalierte derart, dass die Obrigkeit im März 1660 seine Verhaftung anordnete. Er wurde festgenommen, konnte aber entweichen und floh über Hamburg nach Amsterdam, wo er freundliche Unterstützung im Kreis um Peter Serrarius und Johann Amos Comenius fand.13 Relativ schnell fand Breckling eine Stelle an der lutherischen Gemeinde in Zwolle. Die acht Jahre als Pfarrer dort bildeten die fruchtbarste Zeit im langen Leben Brecklings, während der er über 25 Schriften veröffentlichte. Seine Karriere als Pfarrer endete 1668 durch Konflikte mit der Gemeinde und mit dem lutherischen Konsistorium in Amsterdam.14 Er zog 1672 nach Amsterdam, wo er für Drucker arbeitete und von der Gunst seiner Gönner lebte. 1690 siedelte er nach Den Haag über, wo er bis zu seinem Tod 1711 blieb. Während Brecklings Einfluss nach der Zeit in Zwolle vor allem publizistisch nachließ, 7 Zu Tacke und Breckling s. Moltesen, Fredrik Brekling (s. Anm. 5), 32 f; FB Gotha, Chart. A. 306, 183; Guido Naschert: Breckling als Netzwerker des Protestantischen Nonkonformismus. In: ders./Brigitte Klosterberg (Hg.), Friedrich Breckling (s. Anm. 2), 3 – 17, hier 7. 8 FB Gotha, Chart. A 306, 185; s. auch Naschert, Breckling als Netzwerker (s. Anm. 7), 8 f. 9 FB Gotha, Chart. A 306, 185. 10 Ebd. 11 Moltesen, Fredrik Brekling (s. Anm. 5), 40. 12 Ausführlich zu dieser Episode Moltesen, Fredrik Brekling (s. Anm. 5), 41 – 56. Siehe auch Viktoria Francke: »Sahe dass ich durch gleiche Flucht seine Wahrheit Retten.« Brecklings Selbstdarstellung als verfolgter Anhänger Christi in seinen frühen Traktaten der 1660er Jahre. In: Klosterberg u. Naschert, Friedrich Breckling (s. Anm. 2), 49 – 60. 13 Moltesen, Fredrik Brekling (s. Anm. 5), 57. 14 Paul Estie: Die Entlassung Friedrich Brecklings als Pfarrer der Lutherischen Gemeinde zu Zwolle, 1667 – 1668. In: PuN 18, 1992, 9 – 39.

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blieb er eine zentrale Figur in Netzwerken von Nonkonformisten und zunehmend auch Pietisten.

II. Kritik der Geistlichkeit Brecklings unerbittliche Kritik der Geistlichkeit gehört zu den vehementesten des 17. Jahrhunderts. In der Veröffentlichung, die zum Teil sein Exil auslöste, dem Speculum seu Lapis Lydius Pastorum (1660), macht er die Geistlichkeit für den Schaden der Kirche verantwortlich. Im persönlichen Leben seien die Geistlichen korrupt. Sie versagten in der Anwendung der Kirchenzucht.15 Auf der Kanzel seien sie unfähig.16 Statt Menschen zu wahrem Christentum anzuleiten, führten sie diese in die Irre. Sie lehrten nach dem Buchstaben ihrer fleischlichen Begierden und nicht nach dem wahren Geist.17 In einem Brief, den Breckling an die verschiedenen geistlichen Ministerien in Deutschland schickte, macht er die Geistlichkeit für diese argen Zustände in der Kirche verantwortlich und fragt sich, »ob nicht Gott uns prediger die fast ewigste und meiste Ursache aller Sünden und Straffen über seinen Weinberg« zuschreibe. Er stellt die Frage, ob die Taten der Geistlichen denn nicht eher denen des Antichrists ähneln als denen Christi.18 Kritik an der Geistlichkeit und vor allem an den Prälaten artikulierte Breckling seine ganze Karriere hindurch. Das Predigtamt, behauptete er, sei wie das Auge der Kirche, das das Licht zum geistlichen und politischen Körper führe. Sollte das Predigtamt defekt sein, bleibe der Körper in Dunkelheit.19 Während Brecklings scharfe Kritik zu der Annahme führen könnte, dass seine antiklerikale Rhetorik, ähnlich wie bei Hoburg und den Quäkern, grundsätzlich sei und auf eine Ablehnung des ordinierten Amts hindeute, ist der Zweck von Brecklings vernichtender Kritik tatsächlich der, seine Kollegen zu bewegen, tiefgehende Reformen anzugehen, die Wege der Pharisäer zu verwerfen und Buße zu tun. Brecklings Kritik der Geistlichen resultiert nicht aus einem niedrigen Ansehen des geistlichen Amts, sondern vielmehr aus einem 15 Friedrich Breckling: Speculum Seu Lapis Lydius Pastorum: Darinnen alle Prediger und Lehrer dieser letzten Welt sich beschawen/ und nach dem Gewissen/ als für Gottes alles sehenden und richtenden Augen/ ohne Heucheley ihrer selbst/ ernstlich prüfen und examiniren sollen/ Ob sie rechte … Prediger/ Lehrer/ Bischöffe und Superintendenten seyn … Denen Frommen/ und die sich von dem Geist Gottes lehren und straffen lassen/ zu Christ-brüderlicher Erinnerung … vor Augen gestellet. Amsterdam 1660, 210. 16 Breckling, Speculum (s. Anm. 15), 17, 18, 27, 231. 17 Breckling, Speculum (s. Anm. 15), 3 f. 18 Brecklings Brief vom Februar 1662 in: Archiv der Hansestadt Lübeck (=AHL), Hanneken Nachlass 36. Ein ähnlicher Brief befindet sich in der Staatsbibliothek zu Berlin, Preußischer Kulturbesitz (=Stabi Berlin), Francke Nachlass 7/7: 16. 19 Breckling, Speculum (s. Anm. 15), [A8r].

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hohen Ideal, nach dem die Pfarrer sich richten und grundlegend bessern sollen.20

III. Chiliastische Anschauungen? Brecklings Ausführungen über die Endzeit im Speculum sind nicht chiliastisch oder millenarisch, wenigstens nicht im engeren Sinn des Wortes.21 Er vertrat eine Erwartung des nahe bevorstehenden Gerichts, aber dieses ist eine eher konventionelle prophetische Apokalyptik, wie z. B. Robin Barnes sie beschrieben hat.22 Es war für Breckling klar, dass sich das jüngste Gericht näherte, und in Vorbereitung darauf hoffte er, dass seine Kritik zur Buße und Bekehrung führen würde.23 Die Wiederkunft Christi und sein Gericht würden den Leiden der Kreuz-Kirche ein Ende machen und ein neues Zeitalter wäre damit eingeführt. Aber dieses war kein sichtbares Reich innerhalb der menschlichen Zeitrechnung, sondern das ewige Reich Christi. Breckling bereitete es in seinen eschatologischen Erörterungen keine Schwierigkeiten, Luthers Ansichten über die Endzeiten und das Jüngste Gericht heranzuziehen.24 Soweit folgte Breckling in seinen Frühschriften seinem Mentor Gifftheil, 20 Dazu Brecklings Brief (s. Anm. 18). 21 Die Definitionen des Chiliasmusbegriffs variieren in der Literatur stark. Der aus dem Griechischen abgeleitete deutsche Begriff Chiliasmus wird meistens als Äquivalent für den lateinisch abgeleiteten englischen Begriff millenarianism verstanden, obwohl beide Sprachen direkt die verwandten Begriffe chiliasm und Millenarismus kennen. Hier werden die beiden nicht grundsätzlich unterschieden. Beide weisen auf ein tausendjähriges Reich auf Erden, in dem aber die Dauer von tausend Jahren (manchmal: sehr) verschieden konstruiert sein kann, wie auch die Art der Herrschaft und der Zeitpunkt der Wiederkunft Christi unterschiedlich angesetzt werden können. Zur Diskussion des Begriffs Chiliasmus vgl. Johannes Wallmann: Pietismus und Chiliasmus: Zur Kontroverse Philipp Jacob Speners »Hoffnungen auf bessere Zeiten«. In: ders.: Theologie und Frömmigkeit im Zeitalter des Barock: gesammelte Aufsätze. Tübingen 1995, 390 – 421, bes. 410 – 417. Wallmann zieht ein flexibleres Verständnis vor. Im Gegensatz dazu plädiert Howard Hotson für ein engeres Verständnis von Chiliasmus oder millenarianism: »Its defining characteristic is the position taken with regard to the thousand year period, described in the twentieth chapter of Revelation, in which Satan is bound and the resurrected saints reign with Christ. […] Only the view that the thousand years of Apocalypse 20 is still to be awaited on earth in the future can be defined as millenarian in the strict theological sense, which must be the primary sense when discussing the Christian theological tradition with any degree of scholarly precision.« Howard Hotson: Paradise postponed: Johann Heinrich Alsted and the Birth of Calvinist Millenarianism. Dordrecht 2000, 18. Zur weiteren Differenzierung siehe die hilfreiche Diskussion bei Lutz Greisiger: Chiliasten und »Judentzer« – Eschatologie und Judenmission im protestantischen Deutschland des 17. und 18. Jahrhunderts. In: Kwartalnik Historii Z˙ydûw/ Jewish History Quarterly 4, 2006, 535 – 575, hier 540 f. 22 Dazu Barnes, der prophetische und gnostische Formen der Apokalyptik unterscheidet. Robin Bruce Barnes: Prophecy and Gnosis: Apocalypticism in the Wake of the Lutheran Reformation. Stanford 1988, 13 – 16. 23 Breckling, Speculum (s. Anm. 15), 344. 24 Breckling, Speculum (s. Anm. 15), 365.

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dessen eigene Prophezeiungen nie eine explizite chiliastische Erwartung beinhalteten.25 Natürlich könnte man behaupten, dass ein implizierter Chiliasmus präsent sei, auch wenn Breckling zögerte, ihn zum Ausdruck zu bringen.26 Einiges spricht aber dagegen. 1. Auch wenn man Breckling als eklektisch, inkonsequent und unmäßig ansehen möchte, hatte er doch keinerlei Neigung, radikale Meinungen herunterzuspielen. Seine Rhetorik war schon Anfang der 1660er Jahr so aufgeladen – er identifizierte ohne weiteres die evangelische Kirche in Deutschland mit Babel und dem Antichristen –, dass kaum anzunehmen ist, dass er gezögert hätte, Chiliasmus explizit zu befürworten, nur weil dies zu heikel sei. 2. Man könnte vielleicht annehmen, dass ihm zu dieser Zeit chiliastische Theorien nicht bekannt waren. Breckling hat aber sicherlich mehrere chiliastische Theorien in den späten 1650er und zu Anfang der 1660er Jahre gekannt. Zu seinen engsten Kontakten in Amsterdam gehörten zu jener Zeit Johann Amos Comenius und Peter Serrarius, beide prominente chiliastische Denker, deren Ansichten Breckling nur sehr schwer hätten verborgen bleiben können,27 vor allem die seines Freundes Serrarius, der 1657 eine öffentliche Debatte darum geführt hatte.28 Van der Wall betont, dass zu dieser Zeit chiliastische Ideen in den Niederlanden besonders weit verbreitet waren.29 25 Narbuntowicz bezeichnet Gifftheil als Chiliasten und stützt sich dabei auf Ernst Eylenstein, aber er scheint Eylenstein zu missdeuten. Eylenstein war viel vorsichtiger und findet bei Gifftheil weder eine irdische Herrschaft Christi noch ein tausendjähriges Reich. Herbert Narbuntowicz: Reformorthodoxe, spiritualistische, chiliastische und utopische Entwürfe einer menschlichen Gemeinschaft als Reaktion auf den Dreißigjährigen Krieg. Freiburg i.Br. 1994, 117 – 118. Vgl. aber Ernst Eylenstein: Ludwig Friedrich Gifftheil. Zum mystischen Separatismus des 17. Jahrhunderts in Deutschland. In: Zeitschrift für Kirchengeschichte 41, 1922, 1 – 62, hier 37, 61. Siehe auch Gibson, bei dem es ambivalent bleibt, ob Gifftheil zu dem Aufschwung von »millenarian speculation in the 1640s and 1650s« beigetragen hat. K. Gibson: Apocalyptic and Millenarian Prophecy in Early Stuart Europe. Philip Ziegler, Ludwig Friedrich Gifftheil and the Fifth Monarchy. In: Bertrand Traithe/Tim Thornton (Hg.): Prophecy : The Power of Inspired Language in History, 1300 – 2000. Thrupp 1997, 71 – 85, hier 77, 79. Ohne Frage besaß Gifftheil jedoch chiliastisches Potenzial. 26 Zur Problematik der Definition von Chiliasmus s. oben, Anm. 21. 27 Ernestine Van der Wall: Mystical Millenarianism in the Early Modern Dutch Republic. In: John Christian Laursen/Richard H. Popkin (Hg.): Millenarianism and Messianism in Early Modern European Culture, vol. IV: Continental Millenarians: Protestants, Catholics, Heretics. Dordrecht 2001, 37 – 47, hier 39. 28 Serrarius veröffentlichte seine eigenen chiliastischen Anschauungen 1657: Petrus Serrarius: Assertion Du RÀgne De Mille Ans, ou de la Prosp¦rit¦ De L’Eglise De Christ en la Terre. Amsterdam 1657. Zur Beziehung Brecklings zu Serrarius s. a. Ernestine Van der Wall: De Mystieke Chiliast Petrus Serrarius (1600 – 1669) en zijn Wereld. Diss. Leiden 1987, 303 – 313. 29 Van der Wall, Mystical Millenarianism (s. Anm. 27), 37 f. Während Van der Wall die Entstehung dieser chiliastischen Ideen von außerhalb der Niederlande betont, behauptet Fix, dass unter den Kollegianten ein eigentümlicher inländischer Chiliasmus zu finden sei. Andrew Fix: Dutch Millenarianism and the Role of Reason: Daniel De Breen and Joachim Oudaan. In: John Christian Laursen/Richard H. Popkin (Hg.): Millenarianism and Messianism in Early Modern European Culture, vol. IV: Continental Millenarians: Protestants, Catholics, Heretics. Dordrecht 2001, 49 – 55. Beide weisen darauf hin, wie breit chiliastische Ideen damals in den Niederlanden

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Zudem ist es auch wahrscheinlich, dass Breckling chiliastische Theorien radikaler deutscher Theologen gekannt haben muss, wie z. B. diejenigen Paul Felgenhauers, den Breckling aber wegen seiner visionären Ansichten früh verworfen hat. Möglich ist auch, dass gescheiterte Berechnungen in Brecklings Augen chiliastische Theorien diskreditierten, wie zum Beispiel das deutsche Clavis Apocalyptica, nach dem das tausendjährige Reich 1655 hätte anfangen sollen.30 Sogar die 1660 erfolgte Veröffentlichung des Chiliasmus Sanctus von Georg Lorenz Seidenbecher, der später Breckling entscheidend beeinflusste, schien anfänglich keine starke Wirkung auf ihn auszuüben, auch wenn ihm diese Veröffentlichung wohl bekannt war.31 In Brecklings Veröffentlichungen aus den Jahren 1661 und 1662 sehe ich keine explizite Bewegung in eine chiliastische Richtung. Obwohl einige seine »Ruffende Stimme aus Mitternacht« als Beleg für seinen Chiliasmus sehen,32 bleibt nach meinem Verständnis die Eschatologie darin eine prophetische Apokalyptik ohne Chiliasmus. Zwar könnte man vielleicht die Vorstellung eines Reiches Christi auf Erden hineindeuten, das der von Breckling ausführlich beschriebenen Wiederkunft Christi folgen sollte,33 aber meines Erachtens sah Breckling hier die bevorstehende Zerstörung Babels und die Offenbarung »d[es] Jerusalem[s] Gottes vom Himmel«, ohne ein Reich Christi auf Erden anzunehmen, geschweige denn ein spezifisches tausendjähriges Reich. Zudem griff er in diesen Veröffentlichungen mehrmals Luther und dessen Urteil über die Endzeit und das Jüngste Gericht auf.34 In vielerlei

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verbreitet waren. Dazu verweist Van der Wall auf Breckling, der zu einer Liste prominenter Befürworter des Chiliasmus schrieb: »Darinn viele Zeugen des tausend jährigen Reichs Christi erzehlet werden, welches man hier in Holland und Engelland nicht allein öffentlich in Schrifften sondern auch auff den Cantzeln lehren, und einen jeden seiner Meinung hiervon gewiß sein lässet nach Rom. 14.« Friedrich Breckling: Synagoga Satanæ Satans-Schule/ Darin den heutigen deutschen Academien ihre Antichristische Verkehrtheit/ Phariseische Heucheley und Epicurische Greuel iederman zur Warnung vor Augen gestellet werden. [Amsterdam] 1666, ciiijr ; Van der Wall, De Mystieke Chiliast (s. Anm. 28), 631. Martin Mulsow: Who was the Author of the Clavis Apocalyptica of 1651? In: John Christian Laursen/Richard H. Popkin (Hg.): Millenarianism and Messianism in Early Modern European Culture, vol. IV: Continental Millenarians: Protestants, Catholics, Heretics. Dordrecht 2001, 57 – 75. [Georg Lorenz Seidenbecher:] Chiliasmus Sanctus: qui est Sabbatismus populo Dei relictus. Das ist Schrifftmäßige Erörterung der Frage: Was von den Tausend Jahren in der Offenbahrung Johannis Cap. 20 und von denen so genandten Chiliasten heutigs Tages. Eigentlich und nach inhalt Gottes Worts zu halten sey. Amsterdam 1660. Das Buch wurde unter dem Pseudonym Waremundus Freyburger veröffentlicht. Zu Breckling und Seidenbecher siehe unten. Vor allem Veres, Comenius (s. Anm. 2), 75. Veres bringt aber keine explizit chiliastischen Passagen bei, wenigstens im eigentlichen Sinne des Begriffs. Freilich ist ein klares Verständnis des Chiliasmusbegriffs entscheidend. Siehe dazu Anm. 28 und die Diskussion unten. Dazu seine Ausführungen in Friedrich Breckling: Ruffende Stimme aus Mitternacht, in dieser Mitternacht: An Ihre Königl. Majest. in Dänemarck, und alle Könige, Chur-Fürsten und Obrigkeiten nach Mitternacht. S.l. [1697, Erstausgabe 1661], 69. Vgl. z. B. Friedrich Breckling: Christus Triumphans Sub Cruce, Infirmitate, Stultitia, Humilitate, Mansuetudine, Simplicitate & Patientia … : Das Heimliche, für aller Welt und Vernunfft

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Hinsicht war Brecklings Rezeption Luthers hochselektiv und tendenziös, aber ihm war bewusst, dass Luther ein zukünftiges chiliastisches Reich nicht akzeptierte. Dies bedeutet jedoch nicht, dass Breckling völlig abgeneigt war, sich in eine chiliastische Richtung zu bewegen. Wie Studien über Joseph Mede und Johann Heinrich Alsted zeigen, entwickelten diese sich über einen längeren Zeitraum von einer prophetischen Apokalyptik hin zu einem expliziten Chiliasmus.35 Obwohl wir Brecklings frühe Reaktion auf Seidenbechers Traktat »Chiliasmus Sanctus« nicht kennen, wissen wir doch, dass er die Kontroversen über Seidenbechers Absetzung wegen seines Chiliasmus verfolgte.

IV. Seidenbecher und sein »Chiliasmus Sanctus« Geboren 1623, war Seidenbecher um einige Jahre älter als Breckling. Wie er hatte Seidenbecher auch Verbindungen zu nonkonformistischen Kreisen in Deutschland, vor allem zu Abraham von Franckenberg und Joachim Betke.36 Nach seinen theologischen Studien arbeitete er zuerst in der herzoglichen Bibliothek in Gotha. Danach bekam er 1655 eine Pfarrstelle in Unterneubrunn nahe Eisfeld. Er schrieb, er werde veranlasst, sich über den Chiliasmus zu äußern, weil viele fromme Laien von Geistlichen in die Irre geführt würden, die Daniel und das 20. Kapitel der Offenbarung Johannis missdeuteten und alle Ideen von einem kommenden Reich Christi verwürfen.37 Seidenbecher veröffentlichte seinen Chiliasmus Sanctus 1660 anonym in Amsterdam, wohl über die Vermittlung von Serrarius.38 Die grundsätzliche

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verborgene Geheimnis, Von dem Wunderbahren, Thörichten, Schwachen … Creutz-König Christo Jesu … Der heutigen gantzen Christenheit … vor Augen gestellet. S.l. 1661, 207. Auch wenn Breckling das Reich Christi 1662 in seinem Mysterium Magnum diskutierte, war es ein innewohnendes Reich und nicht mit einer chiliastischen Vision verbunden. Friedrich Breckling: Mysterium Magnum, Christus In Nobis: Das Unaußforschliche/ und für aller Welt Augen tieff verborgene Geheimnüß von der Gnaden reichen Einwohnung Christi in uns/ und unsere Vereinigung mit ihm durch den Glauben. S.l. [1662], 198 f. Zu Alsted siehe Hotson, Paradise (s. Anm. 21), 22 – 26. Jue beschreibt sogar Medes Zuwendung zum Chiliasmus als »a millenarian conversion«. Jeffrey Jue: Heaven upon Earth: Joseph Mede (1586 – 1638) and the Legacy of Millenarianism. Dordrecht 2006, 89 – 107. Zu Seidenbecher Ernestine Van der Wall: Chiliasmus Sanctus. De Toekomstverwachting van Georg Lorenz Seidenbecher (1623 – 1663). In: Nederlands Archief voor Kerkgeschiedenis 63, 1983, 69 – 83. Van der Wall erwähnt die Verbindung zu Joachim Betke, aber die Beziehung zu Abraham von Franckenberg, Jacob Böhmes Biografen, wäre auch wichtig, wenn nicht wichtiger. Franckenberg z. B. schrieb 1649 mehrere Briefe, um Seidenbechers Karriere zu fördern. FB Gotha, Chart. A291, Bl. 105, 107. Vgl. die Briefe von Seidenbecher an Betke im Jahre 1650, FB Gotha Chart. A291, Bl. 155, 156. Seidenbecher, Chiliasmus Sanctus (s. Anm. 31), 23 – 24. Van der Wall vermutet, dass Breckling Seidenbecher zur Veröffentlichung des Chiliasmus Sanctus verholfen habe, aber dies scheint mir aus zwei Gründen unwahrscheinlich. Erstens war

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Frage, die Seidenbecher stellte, war, ob das tausendjährige Reich in Offenbarung 20[,5] noch in der Zukunft zu erwarten sei. Im ersten Teil des Traktats behauptete er energisch auf der Basis seines Schriftverständnisses, dass in der Tat das tausendjährige Reich zukünftig sein müsse. Im zweiten Teil begegnete Seidenbecher dem Einwand, dass dieser Chiliasmus der orthodoxen Lehre zuwiderlaufe oder schädlich für Politik oder Gesellschaft sei. Wie Wallmann bemerkt, konnte Seidenbecher die fehlende Einmütigkeit unter den Orthodoxen über die Datierung eines bereits vergangenen Millenniums gut für sich ausnutzen.39 Seidenbecher entwickelte hier ein prämillenarisches Verständnis. Die Wiederkunft Christi ereignet sich am Anfang des tausendjährigen Reiches, und er herrscht dann über ein Reich auf Erden. Am Ende dieser sichtbaren Herrschaft folgt das Jüngste Gericht, und das ewige himmlische Reich tritt ein.40 Seidenbecher war aber mehr daran interessiert, die Wahrheit eines kommenden tausendjährigen Reiches zu begründen, als dass er ausführen wollte, was im Einzelnen in dieser Zeit passieren oder wann genau das neue Reich beginnen werde. Er war überzeugt, dass die Zeit bevorstehe, aber er vermied es, einen bestimmten Zeitrahmen dafür anzugeben. In seiner Diskussion verschiedener Chronologien des Millenniums von Alsted und anderen Chiliasten konstatiert Seidenbecher eher unverbindlich, dass man sehen müsse, »welcher weit oder nahe zum Ziel geschossen« habe.41 Seidenbecher teilte zwar Brecklings starke Kritik an der evangelischen Kirche, aber sein Ton war viel versöhnlicher als der Brecklings.42 Er forderte nicht, dass seine Ansichten für alle verbindlich sein sollten, und er bemühte sich, sein Verständnis des zukünftigen Reichs mit der lutherischen Tradition zu vereinbaren.43 Er wollte z. B. keinen Widerspruch zwischen seinem geistlichen Chiliasmus und der Verwerfung des fleischlichen Chiliasmus im Artikel 17 des Augsburger Bekenntnisses sehen.44 Van der Wall reiht ihn unter die

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Breckling damals kaum in Amsterdam angekommen, als das Buch erschien. Als neuer Exulant wäre er wohl nicht in der Lage gewesen, ein Manuskript sofort zum Druck bringen zu lassen. Zweitens geht aus einem Brief vom November 1660 hervor, dass Breckling und Seidenbecher sich nicht besonders gut kannten, z. B. bezüglich ihres Verhältnisses zu Joachim Betke. FB Gotha Ch. A291, Bl. 187 – 189. Außerdem ist überhaupt nicht klar, ob Breckling sich bis dahin chiliastischen Ideen angeschlossen hatte. Wallmann, Reich Gottes (s. Anm. 4), 119. Zu den orthodoxen Deutungen s. 109 – 112. Seidenbecher untersucht die verschiedenen Deutungen eines vergangenen Millenniums. Seidenbecher, Chiliasmus Sanctus (s. Anm. 31), 172 f. Dazu Seidenbecher, Chiliasmus Sanctus (s. Anm. 31), 319 – 320. Die Annahme eines früheren Gerichts ist hier impliziert; Van der Wall, Chiliasmus Sanctus (s. Anm. 36), 77. Seidenbecher, Chiliasmus Sanctus (s. Anm. 31), 279. Zu seinen kirchenkritischen Äußerungen, vor allem über die Geistlichkeit, siehe Seidenbecher, Chiliasmus Sanctus (s. Anm. 31), 67 – 85, 271 – 272. Van der Wall, Chiliasmus Sanctus (s. Anm. 36), 72, 82. In einem Brief vom 21. August 1661 an das Konsistorium in Gotha beteuert Seidenbecher, dass sein Verständnis vom 1000-jährigen Reich in Apk 20 mit der Augsburger Konfession vereinbar

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Vertreter eines mystischen, anti-revolutionären Chiliasmus ein, wie Peter Serrarius, mit dem Seidenbecher in engem Kontakt stand.45 Seidenbechers Buch Chiliasmus Sanctus blieb anonym, aber durch ein lateinisches Manuskript, das Seidenbecher über seinen Schwager in Umlauf setzte, wurde er bei dem Konsistorium in Gotha denunziert. Während des Prozesses verteidigte Seidenbecher seinen Chiliasmus ausdrücklich, aber Ende 1661 wurde er des Amtes enthoben. Das war die erste Absetzung eines Pfarrers in Deutschland wegen Chiliasmus.46 Danach kam Seidenbecher 1662 in die Niederlande und lernte dort Breckling persönlich kennen. Er predigte in Brecklings Gemeinde in Zwolle, und wir dürfen vermuten, dass die beiden sich intensiv über den Chiliasmus unterhielten. Aus einem Brief Seidenbechers an Breckling nach diesem Besuch entnehmen wir, dass Breckling vorhatte, Seidenbechers Ansichten im Druck zu verteidigen, und dass er schon Teile seines Manuskripts an Seidenbecher geschickt hatte. Einige Erklärungen Seidenbechers im Brief erscheinen in Brecklings späterer Schrift fast wörtlich.47

V. Breckling und »Christus Judex« Breckling baute in seinem 1663 erschienenen Traktat »Christus Judex … das Geheimnis des Reichs von der Monarchi Christi auff Erden« bewusst auf Seidenbechers »Chiliasmus Sanctus« auf. Er integrierte Seidenbechers Ansichten in sein eigenes Verständnis der Endzeit. Tatsächlich fand Breckling die biblisch fundierte Argumentation Seidenbechers so überzeugend, dass er selber wenig Zeit darauf verwandte, das tausendjährige Reich in der Zukunft sei. Abgedruckt in Gottfried Arnold: Fortsetzung und Erläuterung Oder Dritter und Vierdter Theil der unpartheyischen Kirchen- und Ketzer-Historie Bestehend Jn Beschreibung der noch übrigen Streitigkeiten im XVIIden Jahrhundert. Frankfurt a. Main 1729, IV:1159. Vgl. auch: Van der Wall, Chiliasmus Sanctus (s. Anm. 36), 74. 45 Van der Wall, Chiliasmus Sanctus (s. Anm. 36), 82. Zum größeren Zusammenhang des mystischen, antirevolutionären Chiliasmus im 17. Jahrhundert siehe Van der Wall, Mystical Millenarianism (s. Anm. 27), 37 – 46. 46 Veronika Albrecht-Birkner: Reformation des Lebens. Die Reformen Herzog Ernsts des Frommen von Sachsen-Gotha und ihre Auswirkungen auf Frömmigkeit, Schule und Alltag im ländlichen Raum (1640 – 1675). Leipzig 2002, 82. Der Prozess ist bei Arnold mit Quellen gut belegt und braucht hier nicht ausführlich beschrieben zu werden. Erwähnt sei lediglich, dass Seidenbechers Verurteilung Breckling tief beeindruckte. Arnold, Fortsetzung und Erläuterung (s. Anm. 44), IV:1151 – 1176. 47 Brief von Seidenbecher an Breckling vom 5. Mai 1663, FB Gotha, Chart. A291, 195 – 197. Exzerpte aus diesem Brief erscheinen in überarbeiteter, aber identifizierbarer Form in Friedrich Breckling: Christus Judex In & cum Sanctis contra Gentes, secundum Judicium & Justitiam. Das Geheimniß des Reichs von der Monarchi Christi auff Erden. Oder Von der wunderbahren und herrlichen Erscheinung Christi, in und mit seinen Heiligen, zum Gericht wieder die Heyden… S.l. 1663, 56 – 62.

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zu verteidigen oder die Gründe dafür ausführlich zu erklären. Stattdessen behauptete er mehrmals, dass diese Deutung »sonnenklar« in der Schrift zu finden sei.48 Wie Seidenbecher machte Breckling dieses Verständnis des zukünftigen Millenniums nicht zu einem Glaubensartikel,49 er verurteilte aber – typisch für Breckling – diejenigen hart, die diese Lehre nicht akzeptierten.50 Er warf den Gegnern vor, dass sie, wenn sie sein Buch und die »Lehre Johannis« widerlegten oder verketzerten, Gottes Wort verleugnen und sich selbst zu Lügnern, wenn nicht zu Antichristen, machen würden.51 Im Gegensatz zu Seidenbecher, der bemüht war, Diskrepanzen mit traditionellen Auffassungen zu glätten, war es Breckling klar, dass diese Deutung einen Bruch mit der Tradition mit sich brachte. Er erkannte, dass Johann Arndt und Martin Luther, sicherlich beide Vorbilder für Breckling, ein tausendjähriges Reich auf Erden »nicht haben begreiffen können«.52 Breckling war auch kritisch gegen viele, die ein zukünftiges Reich auf Visionen stützten, ein Standpunkt, den er mit dem frühen Chiliasten Kerinth53 in Zusammenhang brachte. Ob Breckling schon hier an Comenius dachte, dessen Ansichten über die Zukunft sich zum Teil auf Visionäre wie Mikulas Drabik stützten, ist unklar.54 In Christus Judex entwickelte Breckling also ein deutlich prämillenarisches Verständnis. Er kombinierte sein früheres Verständnis vom kommenden Gericht, stark angelehnt an Gifftheil, mit dem tausendjährigen Reich Seidenbechers. Folglich beschrieb Breckling zwei Gerichte.55 Das eine davon sei mit der ersten Wiederkunft Christi verbunden und stehe nahe bevor. Breckling betonte wiederholt, dass das erste Gericht und die Wiederkehr Christi unerwartet kommen würden: »Hier komt Christus«, schrieb er, »wie ein Blitz, wie ein Dieb in der Nacht, wie ein Fallstrick über die sichere Welt«56 – For-

48 49 50 51 52 53

Breckling, Christus Judex (s. Anm. 47), 28, 37, 226, 257, 308. Breckling, Christus Judex (s. Anm. 47), 35 – 36 (Vorrede). Breckling, Christus Judex (s. Anm. 47), 41 (Vorrede). Breckling, Christus Judex (s. Anm. 47), 263 – 265. Weiteres Beispiel 202 f. Breckling, Christus Judex (s. Anm. 47), 38 f (Vorrede). Zu Kerinth siehe Breckling, Christus Judex (s. Anm. 47), 236. Kerinths Chiliasmus ist in der Forschung umstritten. 54 Breckling äußerte sich kritisch über Comenius’ Beschäftigung mit Visionären. S. FB Gotha, Chart. A306, 143 f. Breckling schrieb: »[Comenius] Hätte, wenn er nicht darüber 1670 in Amsterdam gestorben, und seine Kräfte in den Visionibus Drabicii und anderer Leute offenbahrungen zu verthaidigen, alzuviel versenket, u[nd] den unum necessarium mit dem Ihm selbst von Got anvertrauter Pfünde darüber versinnet hätte, welche Er in s[einem] Alter von hinten zu wol eingesehen u[nd] offt hertzl. über so edler Gaben verschwendung und verlohren Zeit geseuffzet hat.« Siehe auch den Brief von ca. 1663, in dem Breckling Comenius’ Unterstützung für Drabik kritisierte. Johann Amos Comenius: Jana Amosa Komensk¦ho korrespondence, Bd. 1. Hg. von Jan Kvacˇala. Prag 1892, 287. 55 Das erste Gericht über die »Heyden« sei ein Vorbild für das Jüngste Gericht. Breckling, Christus Judex (s. Anm. 47), 31. 56 Breckling, Christus Judex (s. Anm. 47), 28.

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mulierungen, die er oft wiederholt.57 Das erste Gericht bildet die überragende Thematik des Buches. Hier würden die Antichristen aus allen Sekten, inklusive natürlich die aus der Babels- und Huren-Kirche der Evangelischen, erniedrigt und umgestürzt. Daraus ergeben sich für Breckling zwei große Perioden der christlichen Geschichte. Es gebe den »periodus crucis«, der bis zur ersten Wiederkehr Christi dauern werde, und den »periodus lucis«, der darauf folge, in dem Christus in Frieden und Ruhe mit den Heiligen herrschen werde.58 Nach diesem tausendjährigen Reich werde Satan mit Gog und Magog nochmals losgelassen. Endlich werde dann Christus im Jüngsten Gericht wieder erscheinen und »alle nach ihren Wercken richten«.59 Viel wesentlicher als bei Seidenbecher ist für Breckling die Rolle der Juden nach Römer 11.60 Die Bekehrung der Juden wird in Brecklings Verständnis des tausendjährigen Reiches stark betont. Er hebt hervor, dass während der ersten Periode der Kirche die Juden erniedrigt und »verstört« und die Heiden erhöht würden, im ersten Gericht werde dies umgekehrt und die Juden würden dann mit den Frommen erhöht und die Heiden »[z]erstört«.61 Der Kriegsgegner Breckling äußert sich kritisch zu Versuchen, dieses Gericht durch Gewalt herbeizuführen – dies warf er den münsterischen Täufern und Thomas Müntzer vor.62 Nach Breckling werden die »Creutz-Kinder« dann weiter bis zur Wiederkehr Christi leiden müssen,63 auch wenn sie weiterhin berufen sind, ihre Prophetie zu verkündigen. In diesem Sinn ist Brecklings Chiliasmus doch antirevolutionär, wie Van der Wall es nennt, aber das kommende Gericht ist dennoch in eine drohende Apokalyptik umgebildet – in der neuesten Literatur »catastrophic millenarianism« genannt –, in der die Weltmonarchien und Sekten bald gestürzt und durch die Herrschaft Christi und seiner Heiligen ersetzt werden, etwas, das bei Seidenbecher fast ganz zu fehlen scheint. Breckling betont, dass der Antichrist »im Geistlichen und im Weltlichen Stande«64 herrsche, und prophezeit ein Ende im Feuergericht und eine neu erblühende Welt: »Wenn die alte Heydnische Welt mit ihrer Ungerechtigkeit zu Ende kompt, oder durch den Feuereyfer Gottes verzehret wird, da sol die Erde, wie im Frühling nach dem Winter wieder gantz verneuert, und mit Gerechtigkeit und Warheit vom Himmel herab angezogen und geziehret werden.«65 Wenn auch nicht revolutionär im engeren Sinne, konnte eine solche 57 58 59 60 61 62 63 64 65

Breckling, Christus Judex (s. Anm. 47), 123, 193. Breckling, Christus Judex (s. Anm. 47), 34 . Breckling, Christus Judex (s. Anm. 47), 233 f. Breckling, Christus Judex (s. Anm. 47), 32 (Vorrede). Breckling erwähnt mehrmals »die Erlösung und Erhöhung der Juden und Frommen, in den Tausendjährigen Reich Christi«. Breckling, Christus Judex (s. Anm. 47), hier 56 (Vorrede); siehe auch 3. Breckling, Christus Judex (s. Anm. 47), 70, 75. Zu den »Creutz-Kindern«: Breckling, Christus Judex (s. Anm. 47), 17 (Vorrede); zur Kritik der falschen Christen, 75. Breckling, Christus Judex (s. Anm. 47), 26 f. Breckling, Christus Judex (s. Anm. 47), 211.

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Zukunftsperspektive doch weder die kirchlichen noch die weltlichen Obrigkeiten beruhigen.66 Warum hat Breckling zu diesem Zeitpunkt (1662/63) einen expliziten Chiliasmus angenommen? Viele haben darauf hingewiesen, dass chiliastisches Denken in Krisenzeiten florierte.67 Sicherlich empfand Breckling diese Jahre für sich selbst und für Nordeuropa als eine Krisenzeit. Seine Stelle in Zwolle blieb unsicher und er erlebte nach seinem Exil noch Schwierigkeiten mit der dänischen Obrigkeit. Er befand sich in einem bitteren Konflikt mit dem lutherischen Konsistorium zu Amsterdam. Mit anderen Gemeinden in den Niederlanden hatte er auch Streit.68 Die jüngsten Kriege in Nordeuropa und die Bedrohung der Türken in Osten sah er als deutliche Warnungen von Gott.69 Zwar vermögen diese Erfahrungen turbulenter Zeitläufte Brecklings Öffnung für neue Deutungen verständlich zu machen, sie reichen aber nicht aus, um die Änderung seiner Haltung zum Chiliasmus zu erklären. Denn weder war dieser Krisenzustand für Breckling etwas Neues, noch waren ihm bis zu dieser Zeit chiliastische Theorien unbekannt geblieben. Wichtiger scheinen mir zwei Faktoren. Erstens fand Breckling Seidenbechers tiefgreifenden Biblizismus überzeugend. Seidenbechers Chiliasmus verzichtet auf spekulative Numerologie oder Visionen. Es war ein biblisch fundiertes Verfahren, das Breckling sehr entgegenkam. Obschon Breckling oft mit Visionären und Spiritualisten in der Literatur in Verbindung gebracht wird, wandte er sich sehr früh nach seiner Ankunft in den Niederlanden entschieden gegen Nonkonformisten und Visionäre, die, wie er meinte, die 66 Im Gegensatz zu Ägypten oder Babel sieht Breckling jedoch die Möglichkeit, dass die heutige weltliche Obrigkeit nicht unbedingt die Befreiung der Kinder Gottes verhindern werde. Breckling, Christus Judex (s. Anm. 47), 215, 216. Seidenbecher kennt auch die Ausnahme eines frommen Regenten. Van der Wall, Chiliasmus Sanctus (s. Anm. 36), 77. Vgl. dagegen Wilhelm Kühlmann: »In Deutschland dürfte Breckling der letzte große Autor sein, dessen mystisches Christentum eine durchaus aktivistisch-revolutionäre Zielrichtung in sich barg: ›revolutionär‹ im wörtlichen Sinne verstanden, nämlich als Umwälzung tyrannischer Herrschaft in Staat, Kirche und Wissenschaft und damit als ›Zurückwälzung‹, als endzeitliche ›Restitution‹ eines apostolischen Christentums und eines adamischen Wissens.« Kìhlmann, Frühaufklärung (s. Anm. 3), 192. Kühlmann hat darin Recht, dass Brecklings Chiliasmus eine völlige Änderung von »Herrschaft« in der Zukunft beinhaltet, aber dies ist weit entfernt vom revolutionären Chiliasmus der Münsteraner oder der sogenannten Fifth Monarchy Men und anderen im England des 17. Jahrhunderts, den Breckling strikt ablehnt. 67 So jüngst Guibbory : »Like the Jewish belief that the Messiah’s coming is imminent, millenarianism flourishes in times of crisis, offering hope at a time when the world seems spiraling toward catastrophe. It gained encouragement in the seventeenth century as violence and war spread, in both England and Europe.« Achsah Guibbory : Christian Identity, Jews, and Israel in 17th-Century England. Oxford 2010, 187. 68 Breckling berichtet in dieser Zeit von »persecutio ex Dania«. Breckling, Autobiographie (s. Anm. 2), 26. Dazu auch Paul Estie: Die Auseinandersetzung von Charias, Breckling, Jungius und Gichtel in der lutherischen Gemeinde zu Kampen 1661 – 1668. In: PuN 16 (1990), 31 – 52, hier 33 – 41. 69 Breckling erwähnt im Norden den Krieg gegen Dänemark und Polen, Breckling, Christus Judex (s. Anm. 47), 124, wie auch im Osten die Bedrohung durch die Türken, 72 (Vorrede).

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Autorität der Schrift beeinträchtigen würden, vor allem die Quäker, aber auch einige Kollegianten und andere »Fladdergeister«, wie er z. B. Felgenhauer nannte.70 Freilich wollte er keine fleischlich-buchstäbliche Verwendung der Bibel. Treue zur Heiligen Schrift aber wurde in den 1660er Jahren ein Kennzeichen Brecklings und ein Grund, warum er sich immer wieder mit anderen Nonkonformisten überwarf.71 Seidenbecher, der ein viel kundigerer Schriftausleger als Breckling war, bot ihm eine Deutung, die viele »dunkele Stellen« der Schrift aufhellte, und erlaubte Breckling, Prophezeiungen aus der ganzen Bibel – vor allem aus dem Buch Daniel – mit denen in Offenbarung 20 in Einklang zu bringen.72 Ein zweiter Faktor war die unrechtmäßige Verfolgung Seidenbechers durch das Konsistorium in Gotha; wenigstens hat Breckling es so verstanden. Breckling war ein Kenner, oder vielleicht besser ein Liebhaber, des rechtschaffenen Dissenses. Dass Seidenbechers biblisch fundierte Argumentation so vehement von dem Konsistorium und den Theologen in Jena verworfen worden war, empörte Breckling und zeigte ihm deren antichristliche Haltung. Dementsprechend wurde diese unrechte Verwerfung selbst ein Beweis der Wahrhaftigkeit Seidenbechers. Zu dieser Zeit entwickelte Breckling ein dreifaches Verständnis des Ausgangs aus Babel. Zwei Formen dieses Ausgangs waren nun Breckling offenbar : Man könne Babel verlassen, indem man aus sich selbst und »in Christum geht«, also wahrhaft Buße tut. Oder man könne »Statt und Land« verlassen und ins Exil gehen, wofür man biblische Beispiele habe. Aber vielleicht war die für Breckling wichtigste Form des Ausstiegs noch eine andere: »Dieser Außgang, bestehet nun darin, daß ein jeder in seinem Ampt, Ohrt und Stande, so bald ihm Gott die Augen erleuchtet, das heutige Babelßwesen in allen Secten, Ständen und Oertern zu erkennen, nach dem Maaß seiner gabe, Liechts und von Gott anvertraweten Pfundes in seinem Gewissen durch Gottes Wort schüldig und verbunden ist, in solches Babelßwesen nicht mehr überein zu stimmen, noch dazu still zu schweigen, sondern dasselbe zu offenbahren, erinnern straffen, verstören und abzuschaffen.«73

70 Friedrich Breckling: Proeve Der hedensdaeghs alsoo ghenoemde Quakers, Collegianten … ende aller andere Gheesten: Of deselve uyt Godt zijn often niet. Amsterdam 1661. Deutsche Übersetzung 1665: Friedrich Breckling: Prüffung der heutigen Quacker, Collegianten, Socinianer, Zwickerschen, Felgenhaurischen und aller andern Geister, Ob sie aus Gott sind oder nicht. [Amsterdam] 1665. 71 Breckling betont immer wieder die Wichtigkeit der ganzen Schrift; wiederholt begegnen Passagen wie: »Weil an jenem Iota der Schrifft mehr als an aller Menschen leben, ja mehr denn an Himmel und Erden gelegen ist.« Breckling, Christus Judex (s. Anm. 47), 238. 72 Siehe vor allem Breckling, Christus Judex (s. Anm. 47), 60 f. 73 Friedrich Breckling: Mysterium Babylonis & Sionis … End-Urtheil über Babel, und Stimme vom Himmel. [Amsterdam] 1663, 104.

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Hier wird die Praxis des Dissenses beschrieben, und genau diese hatte Seidenbecher gewagt. Dass er sich geweigert hatte, seine Ansichten vor dem Konsistorium zu widerrufen, erhöhte ihn umso mehr in den Augen Brecklings. Seine Wende zu einem Prämillenarismus deckt sich fast genau mit dem Bekanntwerden von Seidenbechers Absetzung und dem nachfolgenden Besuch in den Niederlanden.

VI. Späterer Prämillenarismus Nach 1663 befürwortete Breckling in seinen Schriften konsequent einen Prämillenarismus und zweifellos trug er dazu bei, die Ansichten Seidenbechers und anderer, die chiliastische Positionen mit größerem akademischen Geschick verfochten, publik zu machen. Seidenbecher starb schon 1663, aber Verbündete in Deutschland, vor allem Heinrich Ammersbach in Halberstadt, veröffentlichten Verteidigungen des Chiliasmus, die Breckling und Seidenbecher in Schutz nahmen, obschon Ammersbach sich etwas kritisch zu Brecklings harten Denunzierungen aller Gegner äußern konnte.74 Breckling selber veröffentlichte 1666 eine Verteidigung von Seidenbecher, Ammersbach und seinen eigenen Schriften, betitelt »Synagoga Satanae«. Wie für Breckling typisch, war diese weniger eine differenzierte Verteidigung chiliastischer Theorien als ein Angriff auf die Kritiker und den akademischen Lehrbetrieb überhaupt, die ihre Autorität durch die Zensur und Unterdrückung anderer Meinungen missbrauchten.75 Spätere Veröffentlichungen der 1670er und 1680er Jahre über die Offenbarung Johannis deuten darauf hin, dass Breckling mit seinen frühen prämillenarischen Ansichten noch übereinstimmte, aber mit einigen Änderungen. Die erste skizzenhafte Schrift erschien 1678,76 während die zweite, aus74 Ammersbach veröffentlichte zwei Schriften zum Thema: Heinrich Ammersbach: Geheimnis der letzten Zeiten. Betr. die Sprüche H. Schrifft Joel 3, Apoc. 20, Zach. 14… S.l. 1665 und Heinrich Ammersbach: Betrachtung der Gegenwärtigen und künfftigen Zeiten: Zum Schlüssel der fürnemsten Geheimnissen, so in der Heiligen Schrifft Altes und Neues Testaments von den letzten Zeiten zu finden, und zur Prüffung derer bißher von vielen hin und wieder darüber ausgegebnen Bedencken, dienlich, daraus zu sehen, was von diesen und künfftigen Zeiten nach Anleitung des Göttlichen Worts und der Ersten Christlichen Kirchen zu hoffen, und wie die itzigen Schrifften darnach zu uhrtheilen. S.l. 1665. In letzterer Schrift kritisierte Ammersbach Breckling indirekt für seine »harten Worte«. Bl. B4v. 75 Friedrich Breckling: Synagoga Satanae, Satans Schule, Darin den heutigen deutschen Academien ihre antichristischen Censuren, welche die Universitäten Jehna, Marpurg, Helmstetd, Rinten, über Hrn. Henrici Ammersbach Geheimnis der letzten Zeite, wie auch über des S. Georg. Laurent. Seidenbechers Chiliasmum und über meinen Christum Judicem gestellet, wie solche Censuren wieder nach dem Liecht und Recht des Worts Gottes geprüffet und censuriret seyn. [Amsterdam] 1666. 76 Friedrich Breckling: Compendium Apocalypseos Reseratæ. Kurtzer Außzug Auß einem grössern Tractat, oder Außlegung über die Offenbahrung Johannis. S.l. 1678.

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führlichere um 1682 gedruckt wurde.77 Eine Dimension, die fast verschwindet, ist seine Zuversicht und Betonung der Bekehrung der Juden.78 Breckling teilte nie, soweit ich sehen kann, die positiveren Ansichten über die damaligen Juden, die vor allem Serrarius, aber auch Seidenbecher kennzeichneten, bei denen die Juden viel enger in die chiliastischen Theorien integriert waren.79 Breckling glaubte noch an die nahe Wiederkunft Christi, die letztlich »alle seine Feinde mit dem Schwerdt seines Mundes umbbringen« und seine Kirche wieder versammeln werde.80 Aber statt ein einmaliges dramatisches Gericht darzustellen wie in »Christus Judex«, betonte Breckling jetzt, dass Christus sein Werk schon »in viel verborgenen und offenbahren Gerichten« angefangen habe.81 Bernard McGinn behauptet, dass eine starke Apokalyptik, wie man sie auch bei Brecklings »Christus Judex« findet, ein sehr deterministisches Ge-

77 Friedrich Breckling: Revelatio Absconditorum & Futurorum Per Apocalypsin reseratam ad perspiciendum interiora Velaminis = Geistlicher Schlüssel zur Eröffnung des Himmels, Oder Offenbahrung des inwendigen Himmelreichs Christi und Höllen-reichs des Satans, in dem auswendigen Reich dieser Welt verborgen, aus ihren eigenen Früchten, Wercken, und Kennzeichen nach ihrem Anfang, Mittel und Ausgang in ihren siebenfachen Gestalten, Alter, Zeiten und wunderbahren Veränderungen. S.l. [1682]. Über die Datierung letzterer Schrift siehe Brecklings eigene Aussage in Breckling, Autobiographie (s. Anm. 2), 53. 78 In der ersten Schrift (Compendium) wird die Bekehrung der Juden nicht erwähnt. In der ausführlicheren Revelatio wird sie nur kurz angesprochen. Breckling, Revelatio Absconditorum (s. Anm. 77), 31. Dies bildet einen starken Gegensatz zur prominenten Stelle der Bekehrung der Juden in Christus Judex, Breckling, Christus Judex (s. Anm. 47), 285 – 308 und passim. 79 Zu Seidenbecher und den Juden siehe Van der Wall (s. Anm. 36), 79 – 80. Seidenbecher stützte sich auf einige jüdische Autoritäten, vor allem Menasseh ben Israel. Zum Teil beurteilte Seidenbecher Juden höher als Christen. Zu Serrarius siehe Van der Wall, Mystical Millenarianism (s. Anm. 27), 41 – 43. Ausführlich über Serrarius und sein Verhältnis zu Juden und der sabbathanischen Bewegung Van der Wall, Mystieke Chiliast (s. Anm. 28), 338 – 465. 80 Breckling. Revelatio Absconditorum (s. Anm. 77), 31. 81 Breckling, Revelatio Absconditorum (s. Anm. 77), 28. Brecklings Verhältnis zu den Juden bedarf weiterer Untersuchungen. Moltesen erzählt von Versammlungen bei Breckling in Amsterdam, denen Christen und Juden beiwohnten. Breckling soll versucht haben, über die Kabbala und Jacob Böhme einige Juden zu Christus zu führen, ohne jedoch auf der Taufe zu beharren, denn Breckling, so Moltesen, habe einen »en kristelig jøde for mange jødiske kristne« vorgezogen. Moltesen gibt leider keinen Beleg für diese Episode an. Moltesen, Fredrik Brekling (s. Anm. 5), 116. Moltesen nennt [Johann] Peter Späth (Moses Germanus), der zum Judentum konvertierte, einen Anhänger Brecklings. Er impliziert also eine offenere Haltung Brecklings gegenüber den Juden. Das Verhältnis von Breckling und Späth war aber in der Tat sehr angespannt, und Späth kritisierte Breckling hart und nannte ihn »[d]er grimmige Geister, alte Zänker«. Allison Coudert: Judaizing in the 17th Century, Francis Mercury von Helmont and Johann Peter Späth (Moses Germanus). In: Martin Mulsow and Richard Popkin (Hg.): Secret Conversions to Judaism in early modern Europe. Leiden 2004, 71. Zu Breckling und Späth siehe den kurzen Hinweis in Breckling, Autobiographie (s. Anm. 2), 70. Breckling hatte wenig Sympathie für Späth und denunzierte ihn als »abtrünnig« nach seiner Konversion. Theodor Wotschke: Der märkische Freundeskreis Friedrich Brecklings. In: Jahrbuch für Brandenburgische Kirchengeschichte 23, 1928, 134 – 203, hier 184. Auf jeden Fall scheint Breckling nicht die eher positiven Anschauungen über die Juden von Serrarius zu teilen. Vgl. Van der Wall, Mystical Millenarianism (s. Anm. 27), 41 – 43.

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schichtsbild habe.82 Wenn diese apokalyptische Naherwartung hier verringert wird und das Gericht und das darauffolgende Reich eher inwendig und mystisch gefasst werden – wie bei Serrarius –, führte das dann zu einem offeneren Blick in die Zukunft, wie Brecklings Biograf Moltesen andeutet. Das tausendjährige Reich wird erwähnt, aber es verdient bloß ein paar Zeilen – ein Zeichen dafür, wie wenig sich Breckling für diese Zukunft interessierte oder sie ausmalen wollte.83 Stattdessen zeigt Breckling hier ein reges Interesse, die Figuren und Sinnbilder in der Offenbarung mit der Geschichte der letzten 1660 Jahre zu synchronisieren, wie es zahlreiche Theologen vor und nach ihm getan haben.84 Er brachte die sieben Posaunen (Apk 8ff) mit den verschiedenen Epochen der Geschichte des Christentums in Verbindung. Hier ist nicht der Ort, dies ausführlich dazustellen, aber ich möchte auf einen Punkt aufmerksam machen, der für Breckling und unser Verständnis von ihm besonders wichtig ist: die besondere Rolle Luthers und des Seculum Reformationis, das für ihn am Ende der sechsten Posaune einsetzt. Nach Breckling konnten anfänglich Luther und andere Zeugen der Wahrheit, in denen »der Geist des Lebens« wie in der Apostelzeit wieder hervorgekommen sei, erfolgreich gegen das Papsttum und ihre Verfolger auftreten. Nach Brecklings Beschreibung »ist … ein grosses Erdbeben und Veränderung der Religion im Römischen Reich vorgegangen«. Dann aber sei die siebte Posaune ertönt und die Kreuz-Kirche – von Breckling identifiziert mit der Frau »mit Sonne bekleidet« aus Offenbarung 12 – anfänglich wiedererschienen, schnell aber hätten Konflikte und Verfall eingesetzt. Durch die Verfolgung des zehnhörnigen Drachen (Apk 12,3) seien viele zum Abfall gebracht worden und daraus seien »die Antinomer, Libertiner, Calvinisten, Wiederteuffer, und andere Secten gebohren« worden, die durch ihre »Lügen, Ihrrthumb und Meynungen« die Kreuz-Kirche und den Lauf des Evangeliums gehindert hätten.85 Der evangelischen Kirche sei es nicht besser gegangen, da sich »der ausgespeyete Unflat des Pabsthumbs« in ihr »wieder 82 In Bezug auf allgemeine christliche Geschichtsauffassungen, die eschatologisch sind, schreibt McGinn: »Apocalyptic eschatology, however, goes a step further in emphasizing a deterministic view of history. In apocalyptic eschatology the last things are viewed in a triple pattern of crisis–judgment–reward, and their imminence can be discerned in the events of the present through the revealed message found in the sacred book.« Bernard McGinn: Antichrist: Two Thousand Years of the Human Fascination with Evil. San Francisco 1994, 13. Summarisch zu diversen apokalyptischen Geschichtsbildern Thomas Robbins/Susan Palmer: Introduction: Patterns of Contemporary Apocalypticism. In: Dies. (Hg.): Millennium, Messiahs, and Mayhem: Contemporary Apocalyptic Movements. New York 1997, 4 – 6. 83 Moltesen behauptete, Breckling sei immer pessimistischer gegenüber der Möglichkeit eines neuen Millenniums im 17. Jahrhundert geworden und habe auf das kommende 18. Jahrhundert als saeculum reparationis omnis gehofft. Moltesen, Fredrik Brekling (s. Anm. 5), 115. Er zitiert leider keine Quelle und gibt auch sonst keinen Beleg dafür an. 84 Dieses Interesse an der Offenbarung Johannis bleibt auch später. Dazu Manfred JakubowskiTiessen: Der frühe Pietismus in Schleswig-Holstein. Entstehung, Entwicklung und Struktur. Göttingen 1983 (AGP 19), 34 f. Siehe auch Brecklings Briefwechsel mit J.W. Petersen. 85 Breckling, Revelatio Absconditorum (s. Anm. 77), 13.

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eingeschlichen« habe, so dass aus ihr ein »ärger[es] Antichristenthum« erwachsen sei als im Papsttum selbst.86 Dieses historische Bild der frühen Reformation Luthers, allerdings verzerrt und hoch idealisiert, ist ein wichtiger Hinweis auf Brecklings Selbstverständnis und seine dauernde Bindung an das, was ich als ein antikonfessionelles Luthertum beschreibe, eine Haltung, die ihm von anderen Nonkonformisten oft Schwierigkeiten einbrachte.

VII. Schluss Friedrich Breckling entwickelte einen expliziten Prämillenarismus ziemlich abrupt 1662/63. Als Denker war er nicht besonders originell – er war sehr von Seidenbechers Ausführungen abhängig, aber sein Verdienst war es, diese Ideen in der Zeit nach 1663 weithin zu publizieren, auch wenn seine begleitende Polemik einige »Kollateralschäden« mit sich brachte. Seine eigenen Ansichten wurden mit der Zeit etwas milder – eher in Richtung des mystischen und inwendigen Chiliasmus des Serrarius. Er hielt formell noch an seinem ausgeprägten Prämillenarismus fest, aber sein Interesse am eigentlichen tausendjährigen Reich, das nie stark gewesen war, trat noch weiter in den Hintergrund, und statt der Zukunft wandte er sich stärker der Geschichte zu, wobei die frühe Reformation Luthers von hoher Bedeutung wurde. Weiter zu verfolgen wäre, inwieweit Brecklings historisches Verständnis hier seinen geschichtstheologischen und geschichtsastrologischen Figuren aus seinem Nachlass entspricht, die Martin Mulsow kürzlich untersuchte.87 Der Vorgang hier ist exemplarisch für Breckling. Sein Verständnis von einer andauernden Krise in der Kirche machte ihn besonders empfänglich für die Ideen und Meinungen der Dissidenten, vor allem von denen, die von der etablierten Kirche verfolgt wurden oder sich als Oppositionelle verstanden. Während seines ganzen Schaffens pflegte Breckling Kontakt zu diesen Dissidenten und oft förderte er sie ausdrücklich. Aber nach dieser anfänglichen Begeisterung Brecklings erfolgte oft eine Umwertung, die durch sein Festhalten an der Schrift und an Elementen der lutherischen Theologie, vor allem bezüglich der Sakramente und des ordinierten Amts, bewirkt wurde, Charakteristika, die schon sehr früh bei ihm erscheinen. Diese Dynamik erklärt wenigstens teilweise, warum Breckling sich so oft mit anderen Dissidenten und Nonkonformisten überwarf, denen gegenüber er anfänglich sehr offen gewesen war, wie z. B. Christian Hoburg, Johann Georg Gichtel, Quirinius Kuhlmann oder die Labadisten, und warum er viele andere, wie Antoinette Bourignon, Jane Leade, Johannes Rothe und später sogar J.W. Petersen und 86 Breckling, Revelatio Absconditorum (s. Anm. 77), 14. 87 Martin Mulsow: Geschichtstheologische Figuren bei Friedrich Breckling. In: Klosterberg/ Naschert, Friedrich Breckling (s. Anm. 2), 61 – 67.

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Gottfried Arnold, stark kritisierte oder auf Distanz zu ihnen ging.88 Diese Radikalen und Nonkonformisten aber sahen nicht selten bei Breckling einen Mangel an Konsequenz, wie Gichtel einmal Breckling vorwarf: »Ihr wollet den Pelz waschen und nicht naß machen.«89 Es gab auf beiden Seiten Missverständnisse, auch wenn sie sich in manchen Fällen zeitweilig als produktiv erwiesen. Wie die Zuschreibung eines Kupferstichs manchmal in die Irre führt, kann auch eine oberflächliche Beurteilung von Brecklings Chiliasmus täuschen. Wenn man aber Brecklings Entwicklung näher betrachtet, kann die dezidierte Annahme seines Prämillenarismus zeigen, wie sein Verständnis der Zukunft und der Vergangenheit dadurch verändert wurde. Chiliasmus hat zwangsläufig einen Einfluss darauf, wie man sich die Zukunft vorstellt, aber es geht nicht nur um Apokalyptik oder Chiliasmus im Allgemeinen, sondern wie man das Gericht, die Wiederkunft Christi, und das kommende Reich versteht, die dann verschiedentlich auf die Zukunftserwartung wirken können.

88 Zu seiner Kritik an Leade, Bourignon, Rothe und den Labadisten siehe Brecklings »Catalogus Haereticorum, Ketzer-Historie dieser Zeiten«, FB Gotha Chart A 306, 215 – 231. Breckling kritisierte Petersen vor allem wegen dessen Beziehung zu Lead, lobte aber seine Befürwortung des Chiliasmus. Theodor Wotschke: Friedrich Brecklings niederrheinischer Freundeskreis. In: MHRK 21, 1927, 3 – 21, hier 20. Über Brecklings ambivalente Stellung zu Arnold siehe Theodor Wotschke: Der märkische Freundeskreis Brecklings (Fortsetzung). In: Jahrbuch für Brandenburgische Kirchengeschichte 24, 1929, 168 – 177, hier 170 f. 89 Gichtel an Breckling, undatiert. In Theodor Wotschke: Schwärmerbriefe. In: MRKG 29, 1935, 12 – 27, hier 19.

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Radical Pietist Eschatology as a Complex Phenomenon Differing Chiliastic Views in Jakob Böhme, J.W. Petersen, and Conrad Bröske In An Introduction to German Pietism (John Hopkins, 2013), I propose a taxonomy of four distinct streams of Radical Pietists: the Spiritualist-Alchemist stream, represented by Gottfried Arnold; the Millennialist stream, represented by the Petersens; the Conventicle stream, represented by Johann Jakob Schütz; and the Sect stream, represented by Alexander Mack and the New Baptists. Radical Pietist notions of renewal, and the strategies for attaining it, included a wide variety of possibilities. Some Radicals put stress upon the end times and millennial expectations; some stressed conversion and personal transformation; others stressed the priesthood of all believers; still others focused on founding a new church with new offices and membership. This diversity reflects the eclectic nature of Pietism and the various influences at work within it, whether Caspar Schwenckfeld, Jakob Böhme, Jane Leade, Jean de Labadie, Anna Maria van Schurman, the Bohemian Brethren, or the Mennonites. I now want to go a step further and suggest that within the Millennialist stream one can discern different nuances and understandings. Conrad Bröske observed this diversity himself: »The views of those who hope for improvement are not all the same, especially concerning this or that particular circumstance.« Bröske set his own eschatological understanding over against the views of Johann Konrad Dippel and Heinrich Horch.1 Orthodox Lutherans observed among the Pietists competing versions of how the end times would develop. The Wittenberg Orthodox theologian Neumann distinguished »crass«, »subtle« and »most subtle« chiliasm and gave examples for each. He labeled as crass chiliasm the views of the arch-heretic Cerinthus; among subtle chiliasts he included various Church Fathers; and under most subtle he put Johann Wilhelm Petersen.2 The Rostock theologian Johann Affelmann distinguished five different forms of chiliastic hope while Johann Gerhard spoke of a dozen different kinds of chiliasm – rejecting them all. Johann Gerhard distinguished between subtle chiliasm, which hopes for peaceful times 1 »Und sieht man also klar hierauß daß die Meinungen deren die auf Besserung hoffen nicht alle einerley seynd, insonderheit in diesen oder jenen particulier-Umbständen…« Conrad Brçske: Siebende Unterredung Zwischen einem Politico und Theologo, Offenbach: Bonaventura de Launoy, 1700, 12. See also 6 – 19. 2 Johann Wilhelm Petersen: Öffentliche Bezeugung vor der gantzen Evangelischen Kirche: Daß das Reich Jesu Christi…Weder mit den alten ketzerischen Irrthümern des Cerinthi noch mit den Jüdischen Fabeln einige Gemeinschafft habe. S.l. [Magdeburg] 1695, 11.

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for the church, and crass chiliasm; between a chiliasm before the resurrection and one after the resurrection (of the martyrs); between a theoretical chiliasm promoted in books and a practical, socially-disruptive chiliasm according to the manner of the Münster Anabaptists; between a chiliasm which is open-minded about the actual length of the thousand year kingdom and another form which figures it precisely at the thousand year term; between a chiliasm which includes all the pious among the members of the thousand year kingdom and a chiliasm which includes only the Jews or the martyrs.3 This study examines two representatives of the Millennial stream of Radical Pietism: Johann Wilhelm Petersen (1649 – 1727) and Conrad Bröske (1660 – 1713), from the Lutheran and Reformed traditions respectively. It shows that while these Radicals shared a common inheritance from Jakob Böhme, Jane Leade, and the Philadelphians, including a seven-fold scheme of world history and the imminent arrival of the Philadelphian age, their different social settings led them to different perspectives on what the future held.

The Eschatological Views of Jakob Böhme (1575 – 1624) & the English Philadelphians The precursors for Radical Pietist eschatology lay in Schwenckfeld, Böhme, and the English Philadelphians. The Schwenkfelders followed Joachim of Fiore in looking forward to the coming age of the Spirit and a »Philadelphian« church where love ruled.4 Fritz Heyer observed: »In contrast to Sebastian Franck, Schwenckfeld was not entirely satisfied that Christians should live scattered abroad with no pure gathering of the elect. Schwenckfeld saw in the scattered church merely a preliminary and temporary situation. Soon, by means of a new Pentecost, the Christians on earth would be 3 Johannes Wallmann: Reich Gottes und Chiliasmus in der lutherischen Orthodoxie. In: Ders.: Theologie und Frömmigkeit im Zeitalter des Barock. Tübingen 1995, 112 n. 29. 4 Valentin Crautwald: Epistola Ministri (1534). In: Corpus Schwenckfeldianorum, ed. by Elmer Schultz Johnson (hereafter: CS), Bd. VI. Leipzig 1922, 200 – 230 and Valentin Crautwald: Ein kürz Außlegung Der Offenbarünge Johannis (ca. 1536). In: CS XIX. Pennsburg 1961, 264 – 374. Crautwald, like Joachim of Fiore, »looked forward to a future age of the Spirit when the church would be properly re-established; both emphasized the role of ›new men‹ in inaugurating the future age; both foresaw a period of intense tribulation for the church in the near future preceding the age of the Spirit.« Crautwald’s humanism and reading of Joachim of Fiore shaped the Schwenkfeldian optimistic strain. Douglas H. Shantz: Crautwald and Erasmus. A study in humanism and radical reform in sixteenth century Silesia. Baden-Baden 1992, 163 – 175. On Joachim of Fiore see Marjorie Reeve: Joachim of Fiore and the Prophetic Future. London 1976, 13 – 17, 139 – 144, 165 and Ernst Benz: Ecclesia spiritualis. Kirchenidee und Geschichtstheologie der franziskanischen Reformation. Stuttgart 1934.

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gathered together. There were many signs that pointed to this, that Christ desired to gather his scattered church. [But] only God himself was able to restore it once again.«5

Some Schwenkfelders identified Schwenckfeld and Crautwald as the two witnesses of Revelation 11[:3] who would gather the restored church of new men.6 In the meantime, the Schwenkfelders met in conventicles in homes with like-minded believers. Letters were the chief means of sharing their experiences in the school of Christ and of knitting members together in a common identity.7 The Spiritualist idea of the coming restoration of the true church as the goal of history lived on in Böhme and his followers.8 In Görlitz, the young Jakob Böhme encountered the Spiritualism of Caspar Schwenckfeld; there were numerous followers of Schwenckfeld in the town, especially among the nobility. The Görlitz region was also a centre of Paracelsian thought. The town’s medical doctors, including Tobias Kober and Balthasar Walter, followed Paracelsian medicine and the Mayor supported publishing an edition of Paracelsus’ writings in Görlitz.9 Paracelsus had hoped for a coming golden age when reformers such as himself would be rewarded for enduring poverty and oppression.10 The Spiritualist idea of a coming restoration of the true church is evident in Böhme’s first book, Aurora [Dawn Rising]. The title, dawn or sunrise, has a double meaning: it refers to Böhme’s experience of personal illumination; it also points to a new age about to dawn, which Böhme called »a new Reformation.« »I live, said Böhme, in the hope of the day of perfection, which is now close at hand.«11 In a letter in 1620, Böhme discussed his hopes for the seventh day of Sabbath rest, »when the world stands at rest for another thousand years.« He found Scripture unclear as to »when the thousand years should begin, or 5 Fritz Heyer: Der Kirchenbegriff der Schwärmer. Leipzig 1939, 45 (my translation). 6 This was the view of Gregor Tag in 1549. See Valentin Crautwald: Ein kürz Außlegung Der Offenbarünge Johannis (ca. 1536). In: CS XIX. Pennsburg 1961, 260 f, 318; Shantz, Crautwald and Erasmus, 57 n.153, 168. 7 Caroline Gritschke: Via Media. Spiritualistische Lebenswelten und Konfessionalisierung. Berlin 2006, 83, 89, 128 – 145, 384. Schwenckfeld wrote hundreds of letters to friends in southern Germany. Letters were also essential to later Pietist networks. 8 Jakob Böhme and his disciples were a key link connecting the Schwenkfelders with later Pietist chiliasts. See Eberhard H. P•ltz: Zu Jakob Boehmes Sicht der Welt- und Kirchengeschichte. In: PuN 6, 1980, 133 – 163, esp. 145 f and n.36. 9 Andrew Weeks: Boehme: An Intellectual Biography. Albany 1991, 29 f. In 1612 Böhme made the acquaintance of Balthasar Walter, a Paracelsian physician and chemist. 10 Charles Webster: Paracelsus: Medicine, Magic and Mission at the End of Time. New Haven 2008, 234 – 239, 251. 11 »…daß der Leser wisse, worinnen meine Wissenschaft stehet, damit er nicht einen andern bei mir suche, der ich nicht bin, sondern der ich bin, der sind all Menschen, die in Christo Jesu unserm Könige ringen nach der Krone der ewigen Freuden, und leben in der Hoffnung der Vollkommenheit, welches Anfang ist am Tage der Auferstehung, welcher nun kurz vorhanden ist.« See Jakob Bçhme: Aurora, oder Morgenröte im Aufgang, ed. by Gerhard Wehr. Frankfurt 1992, 15, 219.

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exactly how long it should last, or how it would be constituted.«12 While confident that the time was near at hand, he believed that the year and day belonged to God and to those to whom God revealed his secrets. In his 1622 commentary on Genesis, Mysterium Magnum, Böhme spoke of the coming age of the Spirit when all things would be restored and paradise turn green once more. He looked for a new day for the Church when reborn believers from the different confessions would come together. The renewed Spiritual church would consist of members in whom Christ dwelt, a notion that echoes Schwenckfeld and the Spiritualists. At this time even »the Turks shall yet turn to become true Christians.«13 Böhme divided world history into a seven-fold scheme – from Adam in the garden of perfection, to disintegration, towards reintegration and the end of history.14 Böhme’s chiliasm was restrained, reflecting his confessed lack of insight and comprehension. He found Scripture to be contradictory and unclear on matters of eschatology and so came to this decision: »until it pleases God to open my eyes, I leave such things to my God and to those to whom he has given understanding.«15 Böhme’s later disciples, English Philadelphians such as John Pordage, Jane Leade, and Thomas Beverley, added detail and specificity to the picture Böhme had sketched.16 Leade taught that the pure Philadelphian Church would appear »within a short period«. »There may be some, at present living, who may come to be thus fully and totally redeemed; having ANOTHER BODY put on them, that is – one after the priestly order [of Melchizedek].« They will be gifted with divine sight into the secret things of God and will be able to prophesy clearly, not darkly and enigmatically. »Spirits that are thus purely begotten and born of GOD, can ascend to the new Jerusalem above, where their HEAD, in great majesty, doth reign, and receive THERE such a mission, whereby they shall be empowered to bring down to this world its transcendent glory …None, but those that have so ascended and received of his glory, 12 »Ich habe auch dessen keine Erkenntnis, weil es die Schrift nicht klar giebet, wann die tausend Jahr anheben oder was es für Jahre sind oder wie es damit bewandt sei.« Jakob Bçhme: Theosophische Sendbriefe, ed. by Gerhard Wehr. Frankfurt am Main 1996, 122 f. His friend Paul Kaym wrote a book on Revelation: The Thousand Year Sabbath (110, 125). 13 P•ltz, Zu Jacob Böhmes Sicht der Welt- und Kirchengeschichte, 145 f n.36 and Ariel Hessayon: »The Teutonicks Writings«. Translating Jacob Boehme into English and Welsh. In: ESOTERICA IX, 2007, 155. 14 P•ltz, Zu Jacob Böhmes Sicht der Welt- und Kirchengeschichte, 133 – 146. The seven ages of history are prefigured in the blessing of Jacob in Genesis 49. Jacob’s six sons, from Zebulon to Naphthali, portray the fall; Joseph, a type of Christ, portrays the reintegration (143, 145). 15 Bçhme, Theosophische Sendbriefe, 115, 125. Brecht goes too far when he argues that Böhme »was not able to accommodate in his system a 1000 year kingdom of Christ on earth.« See Martin Brecht: Die deutschen Spiritualisten des 17. Jahrhunderts. In: ders. (ed.): Der Pietismus im siebzehnten Jahrhundert. Göttingen 1993, 212. 16 Between 1644 and 1662 Böhme’s works were translated into English by John Sparrow and John Ellistone. See Hessayon, The Teutonicks Writings, 132, 140 – 150, 160.

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can descend again to communicate the same, being thereby his representatives upon the new earth, as subordinate Priests and Princes under him.«17

Leade and Beverley were confident that they lived in the time of preparation for the Church of Philadelphia, seeing themselves as God’s agents in heralding its arrival and pronouncing God’s judgment on those who were not among the true children of God.

The Eschatological Views of Johann Wilhelm Petersen (1649 – 1727) The most prolific late 17th century eschatologue was Johann Wilhelm Petersen. In 1685, over a period of some weeks, he and his wife discovered the truth of »the blessed thousand year kingdom« of Christ. In 1692 he began to produce what became an avalanche of works in defence of chiliastic doctrine.18 Petersen’s open advocacy of the thousand-year kingdom sparked chiliastic controversy within the Lutheran Church. »He confronted not only late Lutheran Orthodoxy, in theologians such as Johann Friedrich Mayer and Erdmann Neumeister, but also the conservative wing of Spener’s Pietism, in the Hamburg pastor Johann Winckler.«19 The prominence of Johann Wilhelm Petersen as an object of Orthodox criticism is evident in the Compendium by Georg Friederich Niehenck. Looking back over twenty years of chiliastic controversy, Niehenck wrote of Petersen’s »many writings in behalf of chiliasm.«20 In Niehenck’s documentation of Pietist errors in their own literature, Petersen’s works figured more prominently than those of anyone else. Niehenck addressed what he described 17 Jane Leade: »Sixty Propositions«. In: Theosophical Transactions of the Philadelphian Society, London: April 1697. http://www.passtheword.org/jane-lead/60-propositions.htm 4 April 2012. The First-Born Children of God will usher in The Kingdom of God’s Love to the inhabitants of the earth. These Chosen Ones are called Nazarites, Overcomers, and Melchizedek Priests. They are also described in Jane Leade: The Signs of the Times …. London: 1699, XV – XXII: »Commanders they shall be, both of what in the Upper World and in this Nether needful is. No need of taking thought for this or that, that belongs to the outward bodily State: For it will be given them as they stand united with Christ their Head to possess the Earth, and to inherit all things.« This notion can be found in Johann Georg Gichtel (1638 – 1710). J. Jìrgen Seidel: Zwischen Theosophie und Pietismus. Einblicke in die Korrespondenz der Schweizer »Gichtelianer«. In: Zwingliana XXXIV, 2007, 98. On the notion of an elite order of priests in the Petersens, see Ruth Albrecht: Johanna Eleonora Petersen. Göttingen 2005 (AGP 46), 176 – 180. 18 In 1719 Petersen reported 67 printed books and over 100 works in ms. ready for publication. See Johann Wilhelm Petersen: Lebens-Beschreibung Jo. Wilhelmi Petersen, Die zweyte Edition …. S.l. 1719, 397 – 402. 19 Johannes Wallmann: Der Pietismus. Göttingen 2005 (KIG O1), 149. 20 »Egit hac de materia in multis pro chiliasmo editis scriptis.« He explicitly credited Petersen with being the leading voice in defence of Chiliasm. Georg Friderick Niehenck (Rostock): Compendium errorum pietisticorum. Leipzig/Rostock: Joachim Wild 1710, 178, 180.

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as »the errors« of chiliasm. These included the following: The view that better times are to be expected before the last judgment; before the last judgment a mass conversion of Jews is to be expected; long before the last day, the kingdom of anti-Christ is to be completely destroyed; there is some kind of future kingdom of Christ before the last day.21 Niehenck’s main concern related to the postponement of the last day by positing so many intervening events. This postponement and the positive expectation of better times, conversion of Jews, and destruction of anti-Christ seemed far-removed from Luther’s sense of the impending, soon-coming last day. One of Petersen’s early millennialist writings was the Bekenntnüß von dem zukünfftigen herrlichen Reiche Jesu Christi of 1693 – a chiliast’s catechism.22 Petersen presented his eschatology in the traditional format, with 100 questions and answers, and included biblical proof-texts for the benefit of skeptics and sincere seekers of the truth. The Bekenntnüß offers a convenient introduction to the distinctive emphases of Petersen’s chiliasm. The content of the catechism falls under five main headings: First, Questions 1 – 4 consider what the Lutheran articles of faith have to say regarding the 1000 year reign of Christ. Does the teaching of a future kingdom of Christ appear in these articles and in the catechism? Is this doctrine necessary for salvation? Second, Q. 5 – 49, 57 – 60 discuss how the idea of a future millennial kingdom fits into the context of Christ’s heavenly reign and events such as the first resurrection, God’s judgment of the beast and the false prophet, and the last judgment. Third, Q. 50 – 56, 61 – 82 consider the nature and details of Christ’s millennial kingdom. Who will reign with Christ in his kingdom? Will his reign last for a literal thousand years? Will the kingdom of Israel be re-established? Will all Jews convert to Christ and return to the land of Israel? Will all nations and peoples convert and be in this kingdom? Fourth, Q. 83 – 96 consider what happens when the thousand years are completed. What occurs at the last judgment? What happens after that? Fifth, Q. 97 – 100 consider the kind of life one should live in view of such events. Petersen described the scenario of future events in impressive detail. Böhme’s modest restraint has been left behind. Petersen’s eschatological chronology has nine key events.

21 Niehenck, Compendium errorum pietisticorum, 174 – 180. 22 Johann Wilhelm Petersen: Bekenntnüß von dem zukünfftigen herrlichen Reiche Jesu Christi und der damit verbundenen Ersten Aufferstehung zum Unterricht aus den unmittelbahren Worten der heiligen Schrifft, und nach dem Zeugnüß der Warheit in Frag und Antwort gestellet. Magdeburg 1693.

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First, prior to the arrival of Christ’s kingdom, the gospel of the kingdom must be preached throughout the whole world as a witness to the nations. Matth. 24:14.23 Second, there will be a time of testing on the earth, a time of trouble such as has never before occurred. For 3 1/2 years the beast and the false prophet are wrathful against the elect and kill the saints. The two witnesses complete their work and are also killed.24 Third, the time of trouble will be followed by the resurrection of the two witnesses and the bodily resurrection of all the saints, who will meet Christ in the clouds and reign with Christ in judgment and in his thousand year kingdom.25 This is the first resurrection. Cf. I Thess. 4:16, 17. Fourth, the resurrected saints join Christ in exercising judgment over the Beast and the False Prophet. This judgment begins with the false churches, called in John’s Revelation »the woman« or spiritual Babylon, the mother of all whoredom and such horrible things. The woman sits on the red-coloured Beast and rules it as she wills.26 The first resurrection and judgment mark the end of the present world. The devil is then bound for a thousand years.27 Cf. Revelation 20:2, 3, 7, 10; Isaiah 24:21 – 23. Fifth, in the thousand year kingdom, Christ shares his rule with the 24 elders along with the apostles and all the martyrs.28 Cf. Revelation 5:10, 3:21, 20:4; Matt. 19:28. The children of the first resurrection receive all the promises given by Christ to the seven churches in the second and third chapters of Revelation. They represent the heavenly Jerusalem, or the Church above.29 Those children of God still on the earth comprise the earthly Jerusalem, or the Church below.30 During the thousand years, the Church above will rule along with Christ over the Church on the earth, and the latter will rule over the other peoples of the earth.31 Sixth, at this time the kingdom of Israel will be re-established. Acts 1:6, 7; Micah 4:8. There will be a universal conversion of Jews and a mass migration back to Israel.32 The converted Jews along with the Church on earth will become one people and there will be one Shepherd and one flock on the earth.33 Swords will be turned into plough shares and all wars will cease. Isaiah 2:4, 11:9, 25:7; Micah 4:3, 4; Revel. 15:4. 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33

Petersen, Bekenntnüß von dem zukünfftigen herrlichen Reiche Jesu, Question 16. Ibid., Q. 22, 23. Ibid., Q. 23 – 30. Ibid., Q. 23, 31 – 45. Ibid., Q. 47 – 49. Ibid., Q. 50 – 55. Ibid., Q. 62, 65, 67. Ibid., Q. 68. Ibid., Q. 82. Ibid., Q. 70, 71, 73. Ibid., Q. 75, 76.

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Seventh, when the thousand years are completed, Satan will be loosed from his prison for a short time, and will go to the four corners of the earth to seduce the heathen, and gather a huge army for a great battle. His army will surround Jerusalem. But then God will destroy it with fire from heaven.34 Revel. 20:8, 9; Daniel 2:44; Ezekiel 38:8, 9. Eighth, there comes the last great judgment.35 Revelation 8:1, 19:21. Satan will be cast into the lake of fire and sulphur, where the Beast and False Prophet already are, to be tormented day and night forever. Revel. 20:10. Then comes the last general resurrection of the remaining dead, of those who have remained in the first death for the thousand years. The books will be opened, and they will be judged according to their works. Those not found in the book of life are cast into the lake of fire. Revel. 20:12, 13, 15.36 Ninth, Christ then hands over the kingdom to the Father along with all rule and authority and power, and there will be a new heaven and a new earth.37 Several aspects of Petersen’s eschatology should be noted. First, it has features that one associates with pre-millennialism: a period of tribulation prior to the millennium, the first resurrection of the saints and martyrs prior to the millennium, and Christ’s coming for his saints and meeting them in the clouds. However, Christ does not return to earth with his saints nor intervene personally to inaugurate and rule over an earthly kingdom. He rules from heaven, not on the earth.38 A second noteworthy aspect is that Petersen’s millennial kingdom is distinctly Jewish, centred in Jerusalem and marked by the conversion of the Jewish people. A third observation is that critics of Petersen’s eschatology were concerned mainly with its implications for orthodox Christology. During the 1000 years would Christ continue to be an advocate for believers or not? During the 1000 years must not Christ be advocate and mediator rather than judge? After the expiry of the 1000 years would Christ reside on earth or in heaven? Is this doctrine of the kingdom of Christ so important that no one can be saved without it?39

34 35 36 37 38

Ibid., Q. 83 – 86. Ibid., Q. 45, 46. Ibid., Q. 87. Ibid., Q. 94, 95. Apk. 21:1, 5, 10 – 12 and I Cor. 15:24, 28. Premillennialists hold to a millennial reign of Christ where Christ is physically present and ruling on this earth in a Messianic Age before the eternal state. For Dispensationalists, God’s promises include a future millennial kingdom where Christ, upon His return, rules the world from Jerusalem for a thousand years. 39 Christian Neubauer : Sendschreiben an Herr Joh. Wilhelm Petersen, Doctor und Superintendens, … von einem der Gott Liebet. S.l. 1694, 65 – 68.

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The Eschatological Views of Conrad Bröske (1660 – 1713) Conrad Bröske studied theology at Marburg University and came from a family of Reformed preachers. At some point his thinking veered from the orthodox Reformed theology of his youth. One factor was his experience as Court Preacher to a Wetterau count who welcomed religious minorities, including Turkish refugees after the Habsburg victories in the 1680s.40 Other factors were his meeting with Thomas Beverley during a trip to England in summer of 1693, Bröske’s reading and translation of Beverley’s works, and events surrounding the baptism of a Turkish servant girl in Offenbach on October 21, 1694. Bröske’s sermon at the baptism treated her conversion as evidence of the second great conversion of the Gentiles and the dawning of the millennial age.41 On March 19, 1695, in the foreword to Beverley’s Zeit-Register, Conrad Bröske enthusiastically endorsed Beverley as an interpreter of prophetic scripture. He saw Beverley as uniquely gifted to explain biblical prophecy. »The nearer we come to the end of days, the greater the understanding we have to encourage us according to God’s promise in Daniel 12:4, 9, 10…For this reason Thomas Beverley the learned Englishman, in his own Patmos, has been moved to turn his zeal and thinking to the firm word of prophecy, and to investigate exactly what time the spirit of God is indicating in these prophetic works, and whether he is pointing to the signs of the present time in which we now live. This he has indeed discovered with the help of almighty God. He attained this knowledge through his diligent searching of the word of holy scripture, not through unusual revelations or dreams or visions or any other sources of inspiration.«42 40 Douglas H. Shantz: Between Sardis and Philadelphia. Leiden 2008, 50 f, 98 f. 41 Conrad Brçske: Hochgräffl. Hofprediger zu Offenbach am Mayn, In einer Predigt über Matth. VIII, 11. der 21. Winter-Monats 1694 Vorgestellt, und auff gnädigsten Befehl im Druck herausgegeben, zum Theil erfüllete und noch zu erfüllen bevorstehende Bekehrung der Heyden, samt einer aussführlichen Erzehlung der am selbigen Tage zu Offenbach einer Türken-Taufe, als einer gebohrnen Türkin die h. Taufe mitgetheilet worden. Offenbach: Bonaventura de Launoy 1694. 42 »Je näher wir auch zum Ende der Tage kommen, je grösseres Verstands haben wir uns nach Gottes seiner warhafftigen Verheissung zu getrösten, Dan. 12:4, 9, 10…Diese und dergleichen wichtige Ursachen und Gründe haben den vortrefflichen Englischen Gottes-gelehrten Herrn Thomas Beverley bewogen in einem rechten Patmos, seinen Fleiß und Gedancken gantz genau auff das veste Profetische Wort zu wenden und zu forschen, auff welche und welcherley Zeit der Geist Christus in demselbigen deute; um zu sehen ob er ersehen und zeigen könnte, die Zeichen der jetzigen Zeiten worinnen wir leben. Welche er auch durch Gottes deß Allerhöchsten Beystand so genau meynet gefunden zu haben, daß er mit grosser Krafft und Beweisung deß Geistes…Und ob er sich gleich keiner ausser-ordentlichen Offenbahrung weder durch Träume noch Gesichtere noch andere Eingebungen rühmet, sondern alleine das geoffenbarte Wort der H. Schrifft fleißig durchsuchet hat er sich doch verschiedene mahl unterwunden…« Conrad Brçske: Vorrede an den Leser. In: Thomas Beverley : Zeit-Register mit denen Zeichen der Zeiten, Vom Anfange bis ans Ende der Welt. Alles auß dieses Mannes verschiedenen herrlichen

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By the aid of God’s spirit, said Bröske, Beverley was able to discern in scripture the timeline of events from the beginning to the end of time—»the like of which has never before been seen.« Conrad Bröske’s belief in a coming thousand year kingdom on earth was expressed in an editorial comment in his translation of Thomas Beverley’s Zeit-Register. »Beverley is of the opinion that a thousand year kingdom of the Lord Jesus is still to be expected. This will include a renewal of all things, and a liberation of all creation from its misery. This is what he means by ›the great rest in the kingdom of the Lord Christ‹ which he explains from God’s word in a wonderful fashion. Beverley’s explanation is far removed from the errors of the so-called and hated Chiliasmus.«43

Bröske shared Beverley’s hopes for a true restored Christendom on earth. Bröske translated a sixteen page summary of Beverley’s teaching, which offered an overview of world history, portrayed visually in a table and circular illustration of 7,000 years of time. It nicely sums up Bröske’s own eschatological timetable. Beverley asserted that in five years, in the year 1700, the great revolution (Umdrehung) would come to pass, when the kingdoms of this world would pass away and become the kingdom of God and Christ.44 Beverley concluded from his calculations that he was living in the last six years before the arrival of Christ’s kingdom. He was as certain of his reading of the prophetical signs as he was in determining the arrival of spring each year. He knew this, »most certainly, and without fail,« and »without any chance of contradiction.«45 This revolution would bring with it the fall of the papacy, and soon after the fall of »the horror of Muhammad.« He likewise anticipated the downfall of »the whole set of Protestant dignitaries, of archbishops, bishops and the like« with the arrival of the new order of Philadelphian equality under the chief shepherd. In this new order, Beverley himself would be appointed a prophet of Christ. The gospel would be proclaimed to the ends of the earth, and heathen and Jews everywhere would come to Christ.46 The saints would then reign with Christ for a thousand years, and live in the new heaven and the new earth. They would live as Adam had lived in paradise before the fall. After the thousand years, the godless would be cast into the fire along with Satan, the beast and his prophets.47 Bröske’s eschatology included seven stages of preparation for Christ’s kingdom. First is the calling out of the Church of Philadelphia, the community

43 44 45 46 47

Schrifften zusammen gezogen und ins Hochteutsche gebracht Durch Konrad Brüßken Mit Vorrede an den Leser von Conrad Bröske. Frankfurt/Leipzig: Georg Henrich Oehrling 1695. Beverley, Zeit-Register, 5. Ibid., 5 f. Ibid., 10, 11, 14. Ibid., 16, 18 f. Ibid., 218 – 221.

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Radical Pietist Eschatology as a Complex Phenomenon

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of those who have resisted evil and have the Father’s name inscribed on their brow.48 Bröske saw evidences in his day of the beginnings of this stage: »There exists only an uncertain sound, as the voice of many waters, in the Pietists among the Lutherans, in the chiliasts among the Reformed, in the Quietists among the Roman Catholics, in the Philadelphians among the English, and in the general hope of better times within all Christendom.«49

Bröske hoped that soon this unclear voice would become »a beautiful, loving voice of unison in a pleasant tone« which the Philadelphians would sing so all the world could hear. The second stage is the preaching of the Gospel throughout the whole world and the conversion of the Jews and heathen. Third is the fall of the anti-Christian kingdom of Babylon, which in the not too distant future will come to pass. Fourth is the fall of the false church of Babel and of the false teachers who worship the image of the beast. Fifth and sixth are the first resurrection of the saints and martyrs who have died in the Lord and the arrival of Christ in his glorious kingdom. Seventh is the victory of Christ over the godless with the establishing of his kingdom.50 Bröske confessed that he was unsure of the details of God’s program in terms of when it would occur and who it included. In his eschatology, Bröske avoided committing himself to a specific timetable. He was more the pragmatic Chiliast than Petersen, reflecting his position as court preacher in Offenbach.51 In the Seventh Dialogue, the figure of the Politician plays the role of a skeptic who is concerned about the potential for political disturbance that is associated with chiliasm. When the Theologian asks the Politician what he means by chiliasm, the latter describes it in terms that call to mind the Anabaptists in Münster : »Chiliasm is a teaching which suggests that before the last day Christ will come and rule visibly on earth for a thousand years.« The Theologian protests, »This description is too narrowly defined.« Some chiliasts maintain that Christ will come visibly into his kingdom, but not on the earth; he will meet his saints in the clouds. Still others say that Christ will not appear visibly to assume his kingdom but will rule for a thousand years in a hidden, spiritual manner.52 Chiliasm comes in many varieties, Bröske observed. Another point of difference among chiliasts was whether political powers 48 Conrad Brçske: Dritte Unterredung Zwischen einem Politico und Theologo, von dem ersten Staffel der Vorbereitung zum Herrlichen Reiche Christi. Offenbach: Bonanventura de Launoy, 1698, 18 f. 49 Brçske, Dritte Unterredung, 25. 50 Conrad Brçske: Vierdte Unterredung Zwischen einem Politico und Theologo, von denen sechs Staffeln der Vorbereitung zum Herrlichen Reiche Christi. Offenbach: Bonaventura de Launoy, 1698, 4 – 26. 51 Shantz, Between Sardis and Philadelphia, 181 f. 52 Conrad Brçske: Siebende Unterredung Zwischen einem Politico und Theologo. Offenbach: Bonaventura de Launoy, 1700, 20 – 22.

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and rulers would continue to have a role in the millennial kingdom. Johann Konrad Dippel had brazenly attacked the authorities in both church and state and threatened them with God’s coming judgment.53 Such views were responsible for the widespread fear that Pietists resembled the sixteenth century radicals in not acknowledging constituted authorities.54 Bröske again took a pragmatic approach to the matter and distanced himself from the views of more radical Philadelphians such as Horch and Dippel. In the Fifth Dialogue, the Theologian assures the Politician that when the fourth monarchy falls and rulers are judged prior to Christ’s kingdom, only the godless rulers will be destroyed. »The godly kings will remain and their glory brought into Christ’s kingdom.«55

Conclusion Petersen and Bröske were among the first in Germany to take up the Philadelphian eschatology. Both were impacted by the legacy of Jakob Böhme and their reading of English Philadelphian literature; both followed a sevenfold scheme of church history based upon Revelation 2 and 3; both believed the Philadelphian age was imminent; and they shared an ecumenical spirit that found God’s children in all religious confessions. But there are differences as well, reflecting their different social contexts. Petersen the scholar was obsessed with determining the eschatological chronology as precisely as possible. Bröske the court preacher was more pragmatic and avoided committing himself to an overly precise chronology. Another difference is that Petersen’s eschatology reflected his interest in Judaism and his association with Jewish rabbis and synagogues.56 Bröske’s eschatology reflected his experience of baptizing a Turkish servant girl in the cosmopolitan, multi-ethnic setting of the Ysenburg Court. Bröske saw her as just the first of a great host of Muslim converts who would then become part of the new Philadelphian church of peace and unity on earth. 53 Johann Konrad Dippel attacked the authorities in church and state in Johann Konrad Dippel: Christenstadt auf Erden ohne gewöhnlichen Lehr-, Wehr- und Nährstand. S.l. 1700. »Hand in Hand damit ging die Leugnung aller Autorität in Staat und Kirche, die Verwerfung der vom kirchlichen Pietismus unangetastet gelassenen Ständeordnung.« See Johannes Wallmann: Kirchengeschichte Deutschlands seit der Reformation. 4. Aufl. Tübingen 1993, 143. 54 Brçske, Siebende Unterredung, 7. »Dann diese Leute welche so grosse Unruhe verursachen durch ihre besondere Meinung vom herrlichen Reiche Christi die geben vor daß in dem herrlichen Reich die vätterliche Herrschafft und keine andere werde statt haben, und die Könige und Fürsten nur über ihre Kinder, Enckel und Uhr-Enckel herrschen…« 55 »Habe ich nicht auch gesagt daß die frommen Könige werden bleiben und ihre Herrlichkeit in dieses Reich bringen?« Brçske: Fünffte Unterredung Zwischen einem Politico und Theologo. Offenbach: Bonaventura de Launoy, 1698, 22. 56 Wallmann, Der Pietismus, 148.

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Claudia Drese

Der »Faden« der Geschichte Zur Evaluation der Vergangenheit durch den Halleschen Pietismus

Der Hallesche Pietismus hat Geschichte gemacht. Und das nicht, weil er in den Geschichtsbüchern späterer Jahre seinen festen Platz gefunden hat, sondern im wahrsten Sinne des Wortes. Verschiedene, mal mehr und mal weniger bekannte Vertreter des Halleschen Pietismus haben eigene Geschichtsbücher verfasst – zu ganz unterschiedlichen Zwecken, mit durchaus unterschiedlichen Intentionen und daraus folgend mit jeweils eigener Methodik. Hier sollen zum einen einige wenige Beispiele vorgestellt werden, zum anderen soll in einem zweiten Teil auf den Umgang mit dem Reformationsgeschehen geblickt und abschließend der Frage nachgegangen werden, wie in Halle eigentlich mit der eigenen Geschichte umgegangen worden ist. Dabei soll gezeigt werden, dass »Geschichtsschreibung« im Halleschen Pietismus gleichzeitig auch immer »Geschichtsdeutung« und somit (Re-) Konstruktion von Vergangenheit, Modulation von Erinnerung und Auslegung eigener Erfahrung ist. Hieronymus Freyer leitete die »Vorerinnerung« zum ersten Teil seiner Erste[n] Vorbereitung zur Universal-Historie aus dem Jahr 1724 mit folgender Definition ein: »DIe Historie ist eine Wissenschaft allerhand merckwürdiger Dinge, welche in der Welt vorgegangen und also beschaffen sind, daß ein Mensch durch vernünftige Betrachtung derselben immer weiser und klüger werden kann.«1

Freyer, zu diesem Zeitpunkt seit 19 Jahren Inspektor am Pädagogium Regium und seit 17 Jahren Leiter des Seminarium Selectum, verfasste dieses Werk als Lehrbuch für die »Anfänger« in der Universalhistorie, »und ist weiter nichts als die erste Vorbereitung derselben zu dieser nützlichen Wissenschaft: damit sie sich den Zusammenhang der wichtigsten Sachen / welche in den vornehmsten Theilen der Welt von ihrem Anfange bis auf unsere Zeit vorgegangen sind / nur einiger massen vorstellen und auf diese Weise geschickt werden mögen / die fernere Ausführung derselben hiernächst desto leichter und gründlicher zu fassen.«2

1 Hieronymus Freyer : Erste Vorbereitung zur Universal-Historie. Halle 1724, 1. 2 Freyer, Vorbereitung, Vorrede, a2v.

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Damit die Schüler sich ohne große Beschwerde vorbereiten oder auch weiterbilden konnten, waren die Zitate vornehmlich aus Büchern genommen, die in den Anstalten, entweder bei den Lehrern selbst oder in der Bibliothek des Waisenhauses, bereits vorhanden waren.3 Die angekündigte »fernere Ausführung« folgte 1728 unter dem Titel Nähere Einleitung zur Universal-Historie, erlebte bis 1778 12 Auflagen und war mit 1024 Textseiten fast dreimal so lang wie die Erste Vorbereitung (366 S.). Eine dritte »Ausbaustufe« unter dem angedachten Titel »Ausführung der Universalhistorie« erschien dann, soweit ich sehe, nicht mehr.4 Die oben zitierte Definition findet sich in beiden Werken. Interessant scheinen mir daran folgende »Reizwörter«: die Bezeichnung der Historie als »Wissenschaft«, die Aussage, die Dinge seien »in der Welt vorgegangen«, und die Formulierung, der Mensch könne durch »vernünftige Betrachtung derselben immer weiser und klüger werden«. 1. Der Wissenschaftsbegriff ist hier eher im wortwörtlichen Sinn gebraucht: aus der Beschäftigung mit der Geschichte entsteht Wissen, Wissen über die Vorgänge in der Welt. 2. Die »merckwürdigen Dinge« sind an dieser Stelle nicht auf Ereignisse, die durch das Handeln Gottes in der Geschichte zurückgehen, begrenzt. Und 3. entsteht aus diesem Wissen ein Nutzen: der Mensch kann »durch vernünftige Betrachtung« der Historie »immer weiser und klüger« werden. In Freyers Ausführungen ist dagegen nicht die Rede davon, dass es einer bestimmten Geisteshaltung oder Frömmigkeit bedürfte, um sich Geschichtswissen korrekt anzueignen. Sieht man sich den Rest beider Werke an, bestätigt sich der Befund, dass die Geschichtstheologie, die den Fokus auf das Handeln Gottes in der Welt legt, nur mehr als eine Art »Hintergrundstrahlung« wahrnehmbar ist. Nach Paragraph 2 der »Vorerinnerung« in der Ersten Vorbereitung existiert »[m]ancherley Eintheilung der Historie«. Zum ersten: »In Ansehung der Materie, wovon die Historie handelt«. Die Materie der Historie wird in folgende sechs Bereiche gegliedert: 1. »civilis«5 (bürgerlich-politisch-weltlich), 2. »sacra« (Kirchengeschichte, »Dienst[e] GOttes«), 3. »litteraria« (Gelehrtenhistorie), 4. »naturalis« (»Historie der Natur«), 5. »artificialis« (»Historie der Künste«, »Erfindungen der Künstler und Handwercker«) und 6. »miscellanea, die vermischte Historie, von allerhand im gemeinen Leben vorkommenden Dingen«.6 Zum zweiten: »In Ansehung des Begriffs« sei sie entweder »universalis, oder particularis, oder singularis; das ist, allgemein, absonderlich und gantz besonder«.7 Die letztere Einteilung ist mir in ganzen Werken allerdings bisher nicht begegnet, sondern scheint sich eher auf die Gattungen von Einzeldarstellungen zu beziehen. 3 4 5 6 7

Vgl. Freyer, Vorbereitung, Vorrede, a3r. Angekündigt in Freyer, Nähere Einleitung, Vorrede, a3v (5. Ausgabe, 1746). Freyer, Vorbereitung, 1. Freyer, Vorbereitung, 2. Ebd.

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Der »Faden« der Geschichte

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In der Näheren Einleitung trat für die fortgeschrittenen Schüler neben die sachliche und die begriffliche Einteilung noch ein weiteres Strukturkriterium, die Zeit: »In Ansehung der Zeit wird sie von einigen antiqua, media und nova, die alte, mittlere und neue, genant: da es denn nach Beschaffenheit der abzuhandelnden Materie allemal die Sache selbst an die hand geben muß, wie viel man zu einem ieden Stück am bequemsten rechnen könne.«8

Dieses sich später durchsetzende Zeiteinteilungsschema wird in Freyers semitheoretischer Einführung zwar benannt, er selbst wählt für seine beiden Werke jedoch einen modifizierten Klassiker der Einteilungsweise. Von der Grob- zur Feingliederung gestaltet sich sein Ansatz folgendermaßen: die beiden Hauptteile der Werke bilden die »Universalhistorie des alten Testaments« und die »Universalhistorie des neuen Testaments«. Hier erscheint zum ersten Mal ein pietistisches Charakteristikum – allerdings kein Spezifikum, da die Aufnahme der vorchristlichen Geschichte durchaus traditionell genannt werden kann. Charakteristisch für den Halleschen Pietismus ist die Einbeziehung der alttestamentlichen Geschichte deshalb, weil in der Orthodoxie bereits Tendenzen erkennbar waren, die Geschichte vor Christi Geburt in der Darstellung zu vernachlässigen oder sogar ganz auszusparen.9 Mit dem Rückgriff auf die Heilige Schrift wird diese auch als historische Quelle abermals interessant und der prozentuale Anteil, den die Bearbeitung der alttestamentlichen Bücher einnimmt, steigt wieder an. Fragt man an der Stelle nach der dahinterstehenden Geschichtsinterpretation, also nach dem Ziel alttestamentlicher Geschichte, so lässt sich relativ klar festhalten, dass dies Christi Geburt ist. Auf der zweiten Gliederungsebene werden beide Teile in jeweils acht Perioden aufgeteilt, denen dann jeweils eine Grundperspektive unterlegt wird, die am Anfang jeder neuen Periode verhandelt wird. Im Falle des Alten Testaments ist dies die »Biblische Regentenhistorie«, für das Neue Testament die »Römische Kayserhistorie«. Darauf folgen die ersten drei der oben genannten sechs Systematisierungsmöglichkeiten »nach der Materie«, die dann je nach Ereignislage ihr Feintuning erfahren. Wenn man diese Einteilung der Universalhistorie mit der methodischen Empfehlung Freyers in der Vorrede zur Näheren Einleitung korreliert, ergibt sich folgende zeitliche Stoffverteilung. Von sechs Monaten zu je acht Wochenstunden Unterricht entfallen jeweils zwei Monate auf die gesamte alttestamentliche Geschichte, zwei Monate auf die ersten sechs Perioden des Neuen Testaments und zwei Monate auf »die in den beyden letzten periodis

8 Freyer, Nähere Einleitung, 2. 9 Vgl. Klaus Wetzel: Theologische Kirchengeschichtsschreibung im deutschen Protestantismus 1660 – 1760. Gießen 1983, 401 – 405, bes. 402.

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enthaltene neuere Historie«.10 Je näher man der eigenen Gegenwart kommt, desto intensiver und ausführlicher wird die Beschäftigung. Wie uneinheitlich allerdings die Periodisierung war, zeigt ein kurzer, vergleichender Blick auf Joachim Langes 1722 erschienene Historia ecclesiastica.11 Auch Lange unterteilt primär in »a mundo condito usque ad seculum a christo nato« und »a Christo nato usque ad seculum duodevicesimum (XVIII.)«, setzt aber für den ersten Teil sieben Perioden an und wählt für den zweiten Teil ein säkulares Schema. Philipp Jakob Spener hat die Ambivalenz dieser Periodisierungen am Neujahrstag 1701 in einer Predigt folgendermaßen umschrieben: »Nachdem nun auch alle ordnung unserer zeiten / sie werden nun nach der natur gerechnet / als tage / monate / jahr / oder aus einer menschlichen willkührlichen rechnung / als die jahrhundert sind / unter GOttes regierung stehet / so haben wir ja nicht ohne bedacht darein zu treten.«12

Um der Gemeinde im Anschluss die Kirchengeschichte seit Christi Geburt in sechs Perioden — 300 Jahren vorzustellen. Auf die nach wie vor offene Frage, was Freyers Universalhistorie eigentlich spezifisch »pietistisch« macht, liefert die Spenersche Predigt folgende Antworten. In Speners Darstellung wird der Verfall der Kirche, der sich bereits mit dem Aufstieg des Christentums zur Staatsreligion unter Konstantin angedeutet13 und sich dann bis zur fünften Periode kontinuierlich gesteigert habe, auf die Zeit nach der Reformation, die den Beginn der sechsten Periode markiere, übertragen: »also war solches seculum unser großväter wol ein seliges seculum, und ist darinnen der erste starcke fall des Pabstums geschehen. aber ach / daß die sache weiter fortgesetzet / und die wolthat mit mehrerm danck wäre erkant worden. aber so ist nicht allein in der zweiten helffte solches seculi das reich Gottes wenig mehr weiter ausgebreitet worden / hingegen haben sich nicht allein diejenigen / die von dem Pabstthum bald nacheinander ausgegangen waren / wegen der lehr getrennet / sondern auch in unserer besondern Evangelischen kirchen sind uns theils viel unnöthige streitigkeiten entstanden / theils hat bey der auch reinen lehr wenige frucht der gottseligkeit folgen wollen / und ist damit ein gericht GOttes über unsere kirchen gezogen / daher vieles des guten anfangs der reformation wider verlohren worden.«14

10 Freyer, Nähere Einleitung, Vorrede, a4r–v, hier a4v. 11 Joachim Lange: Historia ecclesiastica a mundo condito usque ad seculum a Christo nato praesens […]. Halle 1722. 12 Philipp Jakob Spener : Lauterkeit des Evangelischen Christenthums. In auserlesenen Predigten verfasset, so von demselben an verschiedenen Orten als Franckfurt am Mayn, Dreßden, Berlin und anderswo […] gehalten. Halle 1706, 186. 13 Spener, Lauterkeit, 188. 14 Spener, Lauterkeit, 191.

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Die These, dass die Kirche einem kontinuierlichen Verfallsprozess unterliegt, ist im kirchenkritischen Schrifttum der Zeit prinzipiell nicht ungewöhnlich, doch enthält diese Passage bei Spener durch die Ansetzung des Verfalls unmittelbar nach Luthers Tod eine Besonderheit: die Neuverortung und Neubewertung der Reformation, die dann im Halleschen Pietismus konkrete Früchte tragen sollte. Freyers Universalhistorie spiegelt diese Antwort, wenn auch in etwas abgeschwächter Form, wider. Die Reformation steht bei Freyer am Anfang der achten Periode. Unter den »merckwürdigsten Sachen« der Kirchenhistorie dieser Zeit findet sich auch ein Abschnitt zur »Kirchenzucht«15, worin verzeichnet wird, dass schon zu Luthers Lebzeiten Klagen über deren Zustand bestanden hätten: »Es ging bey der Reformation fast eben so zu, als zu den Zeiten Constantini Magni: indem zwar viele vom Pabstthum äusserlich ausgingen und die Lehre des Evangelii annahmen, wenige aber zu Gott bekehret und wiedergeboren wurden. Hiezu kamen die mancherley Controversen, welche die Evangelische Theologi so wol unter sich selbst als mit der Römischen Kirche hatten und wovor sie fast auf keine wahre Kirchenzucht kommen, vielweniger sich darüber recht vereinigen konten«.16

Es sei hier nur kurz erwähnt, dass sich auch zu dem vielleicht bekanntesten Fokus pietistischer Geschichtsschreibung Parallelen nachweisen lassen: der Bedeutung von einzelnen Zeugen der Wahrheit innerhalb der verderbten Kirche. Die bei Spener genannten Wycliff, Hus und Arndt finden sich auch bei Freyer. Die einzelnen Absätze zu Arndt, Spener und Francke sind bei Freyer zumindest in Teilen länger als diejenigen zu Philipp Melanchthon, Abraham Calov oder Johann Gerhard. Insgesamt ergibt sich für die Darstellungen der Kirchengeschichte durch Spener, Lange und Freyer ein durchaus gemischtes Bild bezüglich der konkreten Systematisierung. Nichtsdestoweniger wird bei allen dreien die Geschichte anhand des Zustandes der Kirche gedeutet. Dieser ist allerdings jeweils durch die eigene Interpretation vordefiniert. Spener, Lange und Freyer konstruieren einen Zustand der »gegenwärtigen« Kirche aus ihrer spezifischen Wahrnehmung heraus, kontrastieren diesen mit den historischen Perioden und spiegeln beides an einem eigentlichen – von ihnen definierten – Soll-Zustand. Dies führt zu einem Bild der Vergangenheit, das, würde man den Zustand auf einer Skala bewerten wollen und in ein Diagramm mit einer linearen Zeitachse eintragen, eine Kurve mit langen Tiefen und kurzen Spitzen ergäbe. D.h. ein linearer Geschichtsablauf wird von zyklischen Elementen überlagert, wobei sich absolute Höhen nur am Anfang, im Urchristentum, und am Ende, im Reich Gottes, ergeben. Der Ablauf der Geschichte ist somit teleologisch. 15 Freyer, Nähere Einleitung, 950 f. 16 Ebd.

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Sowohl Speners Predigt als auch Langes Kompendium und Freyers Lehrbuch transportierten ihre Deutung einer nach Luthers Tod unvollkommen gebliebenen, vergangenen, aber notwendig wiederzubelebenden Reformation in einen relativ konkret fassbaren Adressatenkreis: Speners Neujahrspredigt dürfte von mehreren tausend Berliner Gemeindegliedern gehört worden sein, Langes Kompendium der Kirchengeschichte war unter den Halleschen Theologiestudenten in Gebrauch und Freyers Nähere Einleitung war bis weit in das zweite Drittel des 18. Jahrhunderts das Standardkirchengeschichtslehrbuch an den Schulen der Glauchaschen Anstalten. Aufgrund einer derartig massiven Verbreitung dieser spezifischen Sichtweise innerhalb des Halleschen Pietismus kommt man nicht umhin, einen näheren Blick auf dessen weiteren Umgang mit der Figur Luther und der Reformationsgeschichte zu werfen. Die Argumentation August Hermann Franckes in einer Höchstnöthige Kirchen- Hauß- und Hertzensreformation betitelten Predigt aus dem Jahr 1697 gründet u. a. auf der Annahme, dass Gott sich in der Geschichte immer wieder aufgemacht habe, denjenigen Hilfe zu senden, die darum gebeten hätten. Eine Kette wiederkehrender Interventionen Gottes an entscheidenden Punkten der Weltgeschichte entwickelt Francke bis in seine Gegenwart. Die Folge beginnt zu neutestamentlicher Zeit, als Gott zur Besserung des jüdischen Volkes seinen Sohn gesandt habe, und führt über die Zeit eines dekadent lebenden und falsch lehrenden Papsttums, zu dessen Besserung er Luther erweckt habe,17 zu einer impliziten Selbsteinordnung Franckes und seiner Gegenwart in paulinischer Manier : »Sollte nun GOtt, der ehemals das Seufzen seiner Knechte erhöret, und eine Hülfe geschaffet hat, zu diesen Zeiten unser vergessen? Das sey ferne. GOTT bleibet immer, wie er von Anfang an gewesen ist: barmhertzig, gnädig, und gütig gegen alle, die über den Schaden Josephs bekümmert sind. Er wird seine Tenne schon fegen, daß er den Weitzen in seiner Scheure sammle, aber die Spreue, (das was sich nicht will sammlen lassen durch das Wort der Wahrheit) verbrenne mit ewigem Feuer. […] Wer nun alsdenn nicht als Spreu erfunden werden will, muß sich von Hertzen zu GOtt bekehren. Es ist nicht genug, daß wir uns der durch Lutherum geschehenen Reformation rühmen, und dabey uns um keine Besserung bekümmern, sondern es ist nöthig, daß auch bey uns, und zwar nicht allein in der Kirchen insgemein, sondern auch in dem Hause eines ieglichen, ja in eines ieglichen Hertzen eine Reformation fürgenommen werde.«18

Die lutherische Reformation wird also schon 1697 deutlich in den Hintergrund gerückt zugunsten der Forderung nach einer weitergehenden Reformation, die nicht nur die Institution der Kirche und theologische Lehren 17 Vgl. August Hermann Francke: Die höchstnöthige Kirchen- Hauß- und Hertzensreformation. Glaucha 10. So. n. Trin. (08.08.) 1697. In: Ders.: Schriften und Predigten. Bd. 9: Predigten I. Hg. v. Erhard Peschke. Berlin u. New York 1987, 270 – 302, hier 278 f. 18 Francke, Kirchen- Hauß- und Hertzensreformation, 278 f. (Hervorhebung im Original).

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»bessern« soll, sondern die Glaubenspraxis jedes Einzelnen. Und zu diesem Zweck gilt es, sich mit dem Vergangenen – besonders mit dem wenigen Guten, aber auch mit dem vielen Schlechten – auseinanderzusetzen und sich auf diese Weise die Güte Gottes durch die Jahrhunderte zu vergegenwärtigen. Eine wahrnehmbare Umsetzung dieses Ansatzes besorgte dann u. a. Johann Hieronymus Wiegleb, der 1718 sowohl drei Predigten zum Reformationsjubiläum des Jahres 1717 – zu dem Francke ja nicht in Halle weilte, sondern durch Süddeutschland reiste – als auch eine Reformationsgeschichte und 1722 eine Kirchen-Historie von der Erschaffung der Welt biß auf CHristum publizierte. In der Vorrede seiner Reformationsgeschichte begründete Wiegleb eine zusätzliche Publikation zu diesem Thema u. a. damit, dass bisher vieles auf Latein erschienen, welches nicht für jedermann verständlich sei, oder »in kostbaren und großen Büchern«, welche nicht für jedermann erschwinglich seien. Als besonderen Grund nennt er, dass manche Geschichten »nicht in einem filo historico, wie eines aus dem andern erfolget, oder eines nach dem andern sich ergeben hat, daß man es desto eigentlicher verstehen und einem das Werck GOttes dabey desto klärer einleuchten möge«,19

eingerichtet seien. Dieser historische Faden, den Wiegleb hier spinnt und der sich auch durch seine Kirchen=Historie zieht, grenzt ihn methodisch von den bereits genannten Werken ab. Die Geschichte erscheint bei ihm weit deutlicher als in Langes kompendienhafter Historia ecclesiastica z. B. als eine Abfolge von Ereignissen, die einander bedingen, chronologisch aufeinanderfolgen und auch so erzählt werden müssen. Getreu diesem Vorsatz, eines aus dem anderen abzuleiten, bietet die Wieglebsche Reformationsgeschichte eine werkbiographische Darstellung der Ereignisse um Luther von 1483 bis 1555, von dessen Geburt bis zum Augsburger Religionsfrieden neun Jahre nach seinem Tod. Die Person Luthers, zu der Francke selbst ein Verhältnis entwickelt hatte, welches man durchaus ambivalent nennen kann20, wird auch von Wiegleb nicht außerhalb menschlicher Reichweite verortet, sondern soll dezidiert als Vorbild fungieren. In direkter Ansprache an den Leser heißt es: »Dencket nicht: ja wer kan es Luthero gleich thun / Er hat gar eine besondere Gabe von GOtt gehabt / er ist ein Glaubens=Held gewesen / was er gethan / kan ich nicht nachthun. Es ist wol an dem und nicht zu leugnen / daß Lutherus / weil er hat Lutherus / das ist / unser Lehrer / Vater und Vorgänger seyn wollen / vieles voraus gehabt / auch voraus behalten […] aber um deßwillen müssen wir nicht faul und 19 Johann Hieronymus Wiegleb: Evangelische Kirchen=Historie betreffend das wichtige Werck der Reformation Lutheri […]. Halle 1718, Vorrede (unpag.). 20 Vgl. dazu Udo Str•ter : August Hermann Francke und Martin Luther. In: PuN 34, 2008, 20 – 41 und Erhard Peschke: Bekehrung und Reform. Ansatz und Wurzeln der Theologie August Hermann Franckes. Bielefeld 1977 (AGP 15), 136 – 149.

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unfruchtbar bleiben im Christenthum / sondern ihn zum Exempel und Beyspiel nehmen und ihm als unserm Lehrer / der uns das Wort GOttes gesaget und uns auch mit seinem Exempel gezeiget / wie wir starck werden sollen in dem HErrn und in der Macht seiner Stärcke und einen guten Kampf des Glaubens kämpfen / nachfolgen.«21

Luther ist unter den wahren Gläubigen nur unter Vorbehalt eine Ausnahme. Unter Abgrenzung von der traditionellen lutherisch-orthodoxen Praxis, Luthers Schriften möglichst unverfälscht zu bewahren, zu überliefern und zu interpretieren, rückte hier die Individualapplikation in das Zentrum der Lutherrezeption, die mitnichten nur die Inhalte lutherischer Schriften betraf, sondern v. a. Luthers Handlungen, Haltung und persönliche Glaubenspraxis, wobei dieser Fokus der Aneignung auch ein gewisses dynamisches Moment beinhaltet, indem er voraussetzt, dass der Rezipient grundsätzlich die Fähigkeit besitzt, sich durch die Beschäftigung mit historischen Ereignissen weiterzuentwickeln und seine unvollkommene Frömmigkeitspraxis zu verbessern. Dies hieß wiederum nicht, dass es in des Einzelnen Ermessen gestanden hätte, was er aus der Geschichte lernte, weswegen sich »pietistische Geschichtsschreibung« auch von der gängigen Geschichtsschreibung unterschied, die zwar ebenso bestimmte Werte vermitteln wollte, tendenziell aber nicht dazu neigte, konkrete Handlungsanweisungen zu geben. In der Wieglebschen Kirchen=Historie wird der Leser nicht etwa aufgefordert, selbständig Lehren zu ziehen, sondern auf die pietistische Generalintention hin, dass jegliches einen Nutzen für das eigene Christentum haben muss, »konditioniert«. Dazu dienen die impliziten Handlungsanweisungen und mitgelieferten Interpretationen in der Kirchen=Historie, wobei ein Ereignis so brauchbar wie das nächste erscheint, denn auch Geschehnisse der »Profanhistorie« werden erklärt. So folgt auf eine ausführliche Beschreibung der Ermordung Cäsars und ihrer Vorgeschichte anschließend die Frage: »Was lehret uns dieses?«22 Als Antwort gibt Wiegleb eine Warnung vor Hochmut. Weltlicher Ruhm und weltliche Ehre – seien sie auch noch so groß – führten nicht zwangsläufig auch zu einem rühmlichen Ende.23 Einige der genannten Werke24 aus dem Waisenhausverlag werden von einem siebenteiligen Kupferstich begleitet, dessen letztes Einzelbild eine Lutherdarstellung ist. Unter der Voraussetzung, dass dieser Stich emblematisch zu lesen ist und damit eine verständlich interpretierbare Botschaft codiert, erscheint mir diese Lutherdarstellung ein interessantes Bild zu sein.25 Luther 21 Wiegleb, Evangelische Kirchen=Historie, 65. 22 Johann Hieronymus Wiegleb: Kirchen=Historie von der Erschaffung der Welt bis auf CHristum samt der Chronologie; welche aus den besten Autoribus verfertiget und also eingerichtet ist, daß zugleich der Nutz derselben, sonderlich aber das weise, heilige, gerechte und gnädige Regiment Gottes von der Welt her gezeiget und gewiesen wird. Halle 1722, 632 f. 23 Wiegleb, Kirchen=Historie, 632 f. 24 Langes Historia ecclesiastica und Wieglebs Kirchen=Historie z. B. 25 Nicht in dem Sinne, dass diese Abbildung spezifisch »pietistisch« wäre, zumal sie eine gängige

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steht mit einer brennenden Kerze vor einer Art Altar, auf welchem die aufgeschlagene Heilige Schrift liegt. Er bringt das Licht des Evangeliums zurück in die Kirche, wodurch diese wieder lebendig wird, wie die Subscriptio ausdrückt: »Sub Evangelio reviviscit«. Im Hintergrund geht hinter einem Berg die Sonne auf, allerdings ist es erst die ›anbrechende Morgenröte‹, denn der Mond, Symbol für die Nacht, ist ebenfalls abgebildet, und dunkel dräuende Wolken sind ebenfalls noch am Himmel sichtbar. Das Licht hat die Finsternis also noch nicht vollständig vertrieben. Das hieße kurz zusammengefasst: Luthers Reformation war nicht das glorreiche Ende einer Entwicklung, sondern nur eine – wenn auch erfreuliche – Etappe auf dem Weg zu einem in der Zukunft liegenden Ziel, dem völligen Anbruch des Reiches Gottes. In die Bedeutungslücke, die sich mit der Historisierung der lutherischen Reformation und dem postulierten Verfall der Evangelischen Kirche beginnend unmittelbar nach Luthers Tod aufgetan hatte, stieß der Hallesche Pietismus nun hinein. August Hermann Franckes Interesse an Geschichte war an diesem Punkt weit entfernt davon, unterkühlt zu sein, denn mit dieser Deutung hatte man neben Luther freien Raum aufgetan, in den man sich selbst eintragen konnte, was ab ca. 1715/20 offenbar recht systematisch in Angriff genommen wurde und damit als fester Bestandteil der Etablierungsphase des hallischen Pietismus wahrgenommen werden muss.26 Im Archiv der Franckeschen Stiftungen befinden sich einige Chroniken und Zusammenstellungen von Ereignissen der pietistischen Geschichte, die herausragende ist dabei sicherlich Johann Heinrich Callenbergs nie gedruckte Neueste Kirchenhistorie.27 Dieses Werk umspannt die Jahre 1689 bis 1724 und bedient sich einer Methodik, die andere Wege geht. In der Grundstruktur annalistisch, von Jahr zu Jahr fortschreitend, listet sie die Ereignisse des jeweiligen Jahres in den zwei Rubriken »gut« und »böse« auf. Der apologetische Charakter der Neuesten Kirchenhistorie ist unbestritten, so dass die Kriterien dafür, was »gut« und was »böse« ist, recht festgelegt erscheinen. Die Konflikte der ersten und zweiten Generation des Pietismus finden sich im Vergleich z. B. mit der Darstellung in den Annales Hallenses, die von Georg Heinrich Neubauer betreut worden sind

Bildsprache verwendet. Deutet man sie aber in Korrespondenz mit den dazu überlieferten reformationsgeschichtlichen Texten, ergibt sich ein ziemlich genaues Abbild der darin überlieferten »pietistischen« Sicht auf das Ereignis »Reformation«. Für Hinweise zur Bildinterpretation danke ich Herrn Prof. Dr. Dr. Jan Harasimowicz. 26 Schon Peschke hat die Ansicht vertreten, dass »[d]as von ihm [Francke; Anm. CD] entworfene Lutherbild […] das Kernstück seiner Geschichtsanschauung« gewesen sei (Peschke, Bekehrung und Reform, 136), hat aber den Fokus nicht so sehr auf die Konsequenzen für die Selbstinterpretation und -einordnung Franckes gelegt. 27 Für das Folgende vgl. Tobias Gruber : Johann Heinrich Callenbergs Neueste Kirchen Historie. Konzeption und Argumentationsweise einer pietistischen Kirchengeschichte anhand exemplarischer Beispiele. Halle 2010 (Diplomarbeit, masch.).

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und den Zeitraum von 1689 bis 1714 abdecken, ausführlicher formuliert wieder.28 Plausibel erscheint mir, dass Callenbergs Arbeit auf ein vitales Interesse August Hermann Franckes zurückgeht und dass die Vorarbeiten bereits im Jahr 1722 begonnen haben, nicht erst nach Franckes Tod, wie bisher angenommen.29 Dafür spricht, dass man 1722 in Halle begann, Akten über pietistische Streitigkeiten außerhalb Halles anzufordern, wie ein Brief Johann Wilhelm Zierolds vom 1. März des Jahres beweist. Zierold berichtete, dass er wohl Akten über die Auseinandersetzungen Philipp Christoph Zeises bekommen könne, bezweifelte aber, dass das Konsistorium in Hinterpommern diese ohne Zustimmung der Obrigkeit in eine andere Provinz schicken werde. Francke solle sich an Zeise selbst wenden, welcher ihm einen Auszug anfertigen werde.30 Ebenfalls 1722 wird Hans Ludwig Nehrlich, Böttchermeister in Sülzenbrücken, gebeten, seine Erlebnisse aufzuschreiben und nach Halle zu schicken.31 Zudem erkundigte sich Francke laut einem Tagebucheintrag im Mai 1721 bei Johann Franz Buddeus nach einer möglichen Gliederung einer »Kirchenhistorie unserer Zeiten«, die Buddeus ihm auch lieferte.32 Der Aufbau der Neuesten Kirchenhistorie übernahm diesen Entwurf in großen Teilen. Hierzu zählten etwa die Darstellung der Ereignisse von Jahr und Jahr, die zwei Sektionen innerhalb eines Jahres, die einerseits Gottes Taten zur Erbauung, andererseits aber die Streitigkeiten behandeln, und die exzessive Verwendung verschiedensten Quellenmaterials, welches, wenn nicht vorhanden, durch Korrespondenz angefordert werden sollte.33 Die Absicht, auch die eigene Geschichte in dieser Zeit der Konsolidierung schriftlich niederzulegen, und die Häufung der um das Jahr 1722 erschienenen 28 Zu den Annales Hallenses vgl. Kurt Aland: Die Annales Hallenses ecclesiastici. Das älteste Denkmal der Geschichtsschreibung des Halleschen Pietismus. In: Wiss. Zeitschrift der MLU 4, 1955, 375 – 402. Es ist interessant, dass diese beiden Werke Hallescher Geschichtsschreibung mit dem Jahr 1689 einsetzen, während das wirkmächtigste Werk pietistischer Geschichtsschreibung, Gottfried Arnolds Unpartheyische Kirchen= und Ketzerhistorie, mit dem Jahr 1688 schließt. Ob ein Zusammenhang besteht, muss hier offen bleiben, weder die Annales noch die Neueste Kirchenhistorie stellen sich selbst in die Nachfolge Arnolds. 29 Gruber, Callenbergs Neueste Kirche Historie, 14 f. Vgl. Christian Peters: »Daraus der Lärm des Pietismi entstanden«. Die Leipziger Unruhen von 1689/90 und ihre Deutung durch Spener und die hallischen Pietisten. In: PuN 23, 1997, 103 – 130, hier 121. 30 Vgl. AFSt/H C 235: 57, nach Gruber, Callenbergs Neueste Kirchen Historie, 15. Zu den Konflikten in Hinterpommern in den 1680er und 90er Jahren vgl. Claudia Drese: »Ich solte auß den rätzeln rathen was die gute freunde meineten«. Kontakte und Konflikte in Hinterpommern. In: PuN 32, 2006, 101 – 118. 31 Vgl. Hans Ludwig Nehrlich: Erlebnisse eines frommen Handwerkers im späten 17. Jahrhundert. Hg. v. Rainer Lächele. Halle 1997 (Historische Quellenpublikationen und Repertorien, 1). 32 Vgl. AFSt/H A 175:16 f und Johann Franz Buddeus: Entwurf einer vollkommenen und gründlichen Kirchen historie von dem was sich sonderlich in der Evangelisch. Lutherischen Kirche von an[no] 1689 bis auff diese Zeit zugetragen. Jena 13. 5. 1721, AFSt/H A 175:86. 33 Vgl. Gruber, Callenbergs Neueste Kirchen Historie, 17 f.

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Geschichtswerke ist m. E. durchaus bemerkenswert, und das Reformationsjubiläum mag manche vorangegangenen Ideen und Bemühungen noch einmal kanalisiert und fokussiert haben. Denn erst der Beweis eines quasi weltweiten Aufbruchs der Wiedergeborenen, der sich in den Konflikt-Wehen der ersten und zweiten Generation manifestierte, würde den Halleschen Pietismus auf seine angestrebte Stufe als ein der Reformation historisch gleichwertiges Ereignis heben. Dieser Platz bildete einen nicht zu unterschätzenden Teil desjenigen Fundaments, auf welches Francke die Anstalten spätestens seit dem Universalprojekt von 1701 eschatologisch gründete: der Annahme, dass seine Glauchaer Anstalten der Kristallisationspunkt der chiliastischen Zukunftserwartung und folglich zentraler Ausgangspunkt einer weltumspannenden »Herzensreformation« seien und auch in einer erwarteten Zukunft weiterhin sein würden.34 Aus einem solchen Selbstverständnis folgt nun, dass der Franckesche Erfahrungsraum »Anstalt« als Historie neu konstruiert wird, indem deren Narrativ mit Hilfe des Rekurses auf Gottes fortwährendes Eingreifen in der Geschichte auf zukünftige Kontinuität ausgelegt, in diese Geschichte eingeordnet und der Erfahrungsraum damit dem chiliastisch geprägten Erwartungshorizont Franckes entsprechend gedeutet wird.35 Diese sich permanent zwischen den Polen »Abgrenzung« und »Selbstdefinition« bewegende eigengeschichtliche Konstruktion bezieht die sie inhaltlich füllenden Elemente zu wesentlichen Teilen aus den jeweiligen Konfliktlagen der unmittelbaren Vergangenheit bzw. der Franckeschen Gegenwart und aus Franckes Selbstdeutung. Der v. a. in den Segensvollen Fußstapfen, aber eben nicht nur dort36, immer wiederkehrende selbst-identifikatorische Rückgriff Franckes auf den Apostel Paulus ist die Kontextualisierung und Umsetzung der Bekehrungserfahrung aus dem Jahr 1687, zumal mit dem Damaskuserlebnis die einzige biblischhistorische Analogie zur Franckeschen Eigenerfahrung überliefert ist, inklusive der Selbstdeutung.37 Die Orientierung an und Identifikation mit dem »letztberufenen Apostel« ermöglichte es Francke, die Bedeutung seines Bekehrungserlebnisses über eine singuläre Erfahrung aus biblischer Zeit zu kanalisieren, seine Aktivitäten mit biblischer Autorität zu versehen, zu legi34 Vgl. August Hermann Francke: Project. Zu einem Seminario Universali oder Anlegung eines Pflantz-Gartens, von welchem man eine reale Verbesserung in allen Ständen in und auserhalb Teutschlandes, ja in Europa und allen übrigen Theilen der Welt zugewarten (1701). In: Ders.: Werke in Auswahl. Hg. v. Erhard Peschke. Berlin 1969, z. B. 114; Udo Str•ter: Der hallische Pietismus zwischen Utopie und Weltgestaltung. In: Ders. [u.a.] (Hg.): Interdisziplinäre Pietismusforschungen. Beiträge zum Ersten internationalen Kongress für Pietismusforschung 2001. Tübingen 2005 (HaFo, 17/I), 19 – 36; ders.: Aufbruch um 1700. In: Holger Zaunstöck (Hg.): Gebaute Utopien. Franckes Schulstadt in der Geschichte europäischer Stadtentwürfe. Halle 2010, 17 – 23. Vgl. den Beitrag von Wolfgang Breul in diesem Band. 35 Zu den Begrifflichkeiten vgl. Reinhart Koselleck: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. Frankfurt a. M. 31995. 36 Vgl. Francke, Kirchen- Hauß- und Hertzensreformation, 278 f. 37 Vgl. Act 9,1 – 20, bzw. 1Kor 15,8.

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timieren und somit sich selbst in einen Traditionsstrang einzutragen, der seinen Ausgangspunkt in der biblischen Geschichte hat. Biblisch-historische Erfahrung wird verarbeitet, direkt appliziert und unterschwellig als Begründungszusammenhang eingesetzt. Wichtig bleibt allerdings der Hinweis, dass diese Identifikation für Francke allein galt.38 Das in Predigten, den Projektschriften und in den Fußstapfen greifbare Selbstverständnis Franckes, die immer wieder angeführten Lehren aus der eigenen Erfahrung und die generelle Ausrichtung auf Gegenwart und v. a. Zukunft machen alle diese Werke zu Elementen Franckescher Eigengeschichtsschreibung – auch wenn diese im Fall der Projekte nicht für eine breitere Öffentlichkeit bestimmt waren. Dass diese Selbstdefinition sowohl unmittelbar als auch nachhaltig gewirkt hat, zeigt sich in der Post-Franckeschen Geschichtserzählung, die schon mit den bis dato noch nicht systematisch ausgewerteten Leichen- und Gedächtnispredigten aus Anlass des Todes August Hermann Franckes im Jahr 1727 einsetzt. Wirft man einen Blick in das Exordium der von Johann Georg Francke gehaltenen Leichenpredigt, so tritt einem wiederum die Person des Apostels Paulus gegenüber. »Wir preisen GOtt insgesamt über dem unvergleichlichen Masse der Gnade / welches er Paulo zugewandt / können aber gleichwol mit gutem Rechte sagen: Der GOtt / der diesen hocherleuchteten Apostel unmittelbar berufen / der hat auch unsern wohlseligen Herrn Professorem und Pastorem, vermittelst ordentlichen Berufs / zum Lehrer und Bischoff gesetzet […] Die Gnade GOttes / so mit Paulo war / ist auch an ihm nicht vergeblich gewesen«.39

In der weiteren Auslegung von Jes 40,31, die sich an dem Begriff eines »Lehrers der Kirche« orientiert, erklärte der Konsistorialrat Francke weiter : »Es unterläßt GOtt nicht diesen seinen treuen Knechten […] das nöthige Maaß der Gaben mitzutheilen […]. Solches thät er an Paulo. Es trat dieser auserwählte Apostel unsers HErrn JEsu CHristi, gleich nach seinem Beruff und Bekehrung, sein Amt mit Freuden an. Saulus war etliche Tage bey den Jüngern zu Damasco und alsobald predigte er CHristum in den Schulen, daß derselbe GOttes Sohn sey. Diese Freudigkeit und Krafft nahm aber immer mehr zu. […] GOtt legt seinen Dienern eine Arbeit nach der andern auf, giebt ihnen aber auch immer neue Krafft, neues Licht, Weißheit, Verstand, Erfahrung und vermehret damit den ihnen beygelegten Schatz […]. Zuweilen gewinnt 38 Freylinghausen gilt dann später folgerichtig auch als Timotheus, vgl. Michael Alberti: Wohlverdientes Ehrengedächtniß / Welches […] August Hermann Francken […] Nachdem derselbe im 65sten Jahr seines Alters den 8. Junii 1727 […] selig entschlaffen war, am 17. Junii, als am Tage seines öffentlichen Leichenbegängnisses / Der Hochlöblichen Friedrichs-Universität Senat […] Durch Veranstaltung des Prorectoris Magnifici, Herrn D. Michaelis Alberti […] stiftete. Halle 1727, 12. 39 Johann Georg Francke: Einen treuen Lehrer der Kirche, welcher in dem Vertrauen zu Gott und seiner Gnade arbeitet, Stelte an dem Exempel des […] Herrn Aug. Hermann Franckens […] vor Johann Georg Francke. Halle 1727, 6.

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es das Ansehen, als sey ihre Arbeit umsonst und verloren, aber der HErr, auf welchen sie ihr Vertrauen setzen, giebt ihnen noch immer Muth, daß sie nicht ablassen, sondern auf Hoffnung arbeiten, in der Zuversicht, der HERR werde seine Verheißung erfüllen […]. Ich achte es vor unnöthig dis mit mehrern auszuführen und durch fremde Exempel zu erläutern, da unser Hochwerthester nunmehro seliger Herr Professor und Pastor ein so schönes Bild […] zurück gelassen.«40

In den folgenden Personalia, von denen sich mehrere, zum Teil intensiv bearbeitete, Konzepte im Archiv der Franckeschen Stiftungen befinden41, ist die Überlieferung eines Gebetes bemerkenswert, welches Francke einen Tag vor seiner letzten Erkrankung im Garten der Anstalten gesprochen haben soll: »Ja, sagte Er zu GOtt, du hast mein Herz oft mit solcher Freude erfüllet, daß mir ist gewesen, als wolte es zerspringen; und setzte hinzu: da habe er auch vielmal, unter freyem Himmel, den Bund mit GOtt gemacht, und etwa gesagt: So du wilst mein GOtt seyn; so will ich dein Knecht seyn: und habe dann oft gebetet: HErr, schaffe mir Kinder«.42

Bemerkenswert sind diese Aussagen deshalb, weil die Anspielung auf ein Gebet im Garten kurz vor dem Tod an Jesus in Gethsemane erinnert und die Worte Franckes, diejenigen der sogenannten »Bundesformel«, eigentlich die Worte Jahwes sind, und somit theologisch Alter und Neuer Bund in der Person Franckes zusammenfließen, was in seiner Bedeutung noch einmal über die Identifikation Franckes mit Paulus hinausgeht.43 Dies soll an dieser Stelle an Beispielen genügen um anzudeuten, welch hohe Bedeutung der Person Franckes bei seinem Tod zugeschrieben worden ist und wie stark die durch Francke selbst zu Lebzeiten betriebene Identifikation mit Paulus und dem Boten des angebrochenen Reiches Gottes gewirkt hat. Dass Franckes eigene Geschichte und persönliche Erfahrungen entgegen eigenen Beteuerungen mit zunehmendem zeitlichen Abstand zu seinem Tod immer weiter in den Mittelpunkt der Identitätsstiftung seiner Nachfolger rückten, lässt sich bereits an der Jubiläumsschrift zum fünfzigsten Jahrestag der Grundsteinlegung von 1748 und den mehrfachen Verweisen Gotthilf Augusts auf seinen »seligen Vater« zeigen, harrt aber, gerade für die Zeit bis 1750, noch weiterer Erforschung. 40 Francke, Leichenpredigt, 15 f. 41 Vgl. AFSt/H A 136. 42 Francke, Leichenpredigt, 24 f. Vgl. Lev 26,12 u. ö. Jakob spricht einmal so ähnlich (Gen 28,20 f), was aber die einzige Stelle zu sein scheint, an welcher die Worte des Bundes von menschlicher Seite gesprochen werden. Zur Bundesformel gehört eigentlich die Selbstverpflichtung Gottes, die von Seiten des Geschöpfes schlecht einzufordern ist. Die Bitte um Kinder erinnert wiederum an die alttestamentliche Vorstellung, dass sich der Segen Gottes in der Nachkommenschaft manifestiert – auch wenn sie nicht leiblich ist. 43 Der Wahrheitsgehalt dieser Darstellung durch Johann Georg Francke lässt sich nur sehr schwer nachprüfen, so dass keine Rückschlüsse auf Franckes eigene Sicht möglich sind. Sie ist aber ein starker Hinweis auf das Francke-Bild zum Zeitpunkt von Franckes Tod.

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Der weitere Horizont der Erwartungen war sowohl im Jahr 1727 als auch nach fünfzig Jahren Anstalten zwar noch immer das »Ende der Welt«, doch hatte sich dieses mit der erfolgreichen Abgrenzung gegen die traditionelle lutherisch-orthodoxe Geschichtsanschauung in der Historisierung Luthers und der damit verbundenen Relativierung der Bedeutung der Reformation und mit dem Anbruch des Reiches Gottes auf Erden merklich in eine Zukunft verschoben, die sowohl beeinfluss- als auch planbar war und die möglichst so beeinflusst und geplant werden musste, dass der vorgezeichnete Weg des von der ersten Generation des Halleschen Pietismus entwickelten, streng teleologisch ausgerichteten Geschichtsnarrativs nicht verlassen wurde. Der »Anbruch des Reiches Gottes« an sich hatte zwar zu einer Relativierung des vorher bestehenden – und für die mittelalterliche und frühneuzeitliche Geschichtsschreibung so wichtigen – kontinuierlichen Erfahrungsraumes geführt, doch war dieser durch die Hallesche Konstruktion so umgedeutet worden, dass Francke in die Lage versetzt wurde, die eigenen Erfahrungen mit der göttlichen Gnade als neue Elemente in seinen Erwartungshorizont einzutragen und diesen mit den »Projekten« in die nach seiner chiliastischen Reich-GottesKonzeption erwartbare Zukunft zu implantieren, ohne noch auf historische Exempel oder wie Luther stilisierte Heroen der Vergangenheit zurückgreifen zu müssen. Spätere Generationen konnten sich so in eine Franckesche Tradition stellen, darunter auch Franckes Sohn Gotthilf August. Anlässlich des fünfzigjährigen Bestehens des Waisenhauses erinnerte er sich, dass, als »nicht lange nach dem Anfang der Anstalten eine gewisse Person ihre grosse Verwunderung über das Wäysenhaus bezeuget, mein seliger Vater zu derselben gesaget: Er glaube gewiß, es werde dabey nicht bleiben, was an hiesigem Ort geschehe, sondern hoffe zu GOtt, es solle dazu kommen, daß in Teutschland noch alles voller Wäysenhäuser werde. Und es ist allerdings auch mit zu dem Segen GOttes zu rechnen, davon der selige Mann noch manches erlebet hat, daß seit der Erbauung des Wäysenhauses alhier an vielen Orten eine Erweckung erfolget«.44

44 Gotthilf August Francke: Schuldiges Lob= und Danck=Opfer für die Güte und Wohlthaten GOTTES, so derselbe an dem Wäysenhause zu Glaucha an Halle, seitdem der grundstein zu demselben vor funfzig Jahren geleget worden, bis hieher reichlich erzeiget hat, den 24sten Jul. 1748 […]. Halle 1748, Vorrede, )()(3r–v.

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Chiliastische Hoffnung und eschatologische Erwartung innerhalb der Brüdergemeine und der Mission bei Zinzendorf und Spangenberg* Zinzendorf vertrat einen ihm eigentümlichen Gemeinde-Chiliasmus, den er in den 1748 gehaltenen Reden über die Augsburger Konfession kurz folgendermaßen erläutert hat.1 Christus wird vor seinem Endgericht zu seiner Gemeinde in silentio et pleura, d. h. in der Stille und in seiner Seitenwunde, kommen, unbemerkt von der Welt, so wie er die vierzig Tage nach Ostern unter seinen Jüngern gewandelt ist. »Wie Er aber seine Leute von allen vier Winden der Erden wieder zusammen bringen, und die Diasporam, die zerstreuete Kinder Gottes versammlen wird; das weiß Er, dazu wird Er uns nicht brauchen.« Der Satan wird dann gebunden sein und kann die Mission unter den Völkern nicht verhindern, »es wird eine gewisse General-Inclination seyn fürs geistliche Reich Christi«.2 Ganz ähnlich entwickelte er seine Vorstellung der geheimen Gegenwart Christi in seiner Gemeinde in einer Osterpredigt vom 30. März 1750 über die Losung »Ist er nicht ein Gott, der nahe ist« (Jer 23,23) mit dem Lehrtext »Aber in silentio«.3

* Abkürzungen: BELK = Bekenntnisschriften der Evangelisch-Lutherischen Kirche; CA = Ein und zwanzig Discourse über die Augspurgische Confession (wie Anm. 1); HG = Herrnhuter Gesangbuch von 1735; JHD = Jüngerhaus-Diarium; UA = Unitätsarchiv Herrnhut. 1 Ein und zwanzig Discourse über die Augspurgische Confession, gehalten vom 15. Dec. 1747 bis zum 3. Mart. 1748. Görlitz 1748, 199 – 201. Zur hier behandelten Thematik vgl. v. a. Samuel Eberhard: Kreuzes-Theologie. Das reformatorische Anliegen in Zinzendorfs Verkündigung. München 1937, 211– 218. 2 Ein und zwanzig Discourse über die Augspurgische Confession, 201. 3 Um Zinzendorfs Argumentation vorzustellen, zitiere ich im Folgenden die wichtigsten Gedanken aus dieser Rede (JHD 1750, 30.3. GN.A.9.1750.2 S. 10– 20): »Nachdem der Heiland auferstanden, so hört man von nichts als von seiner Nähe. Alles aber ist so in der Stille gehandelt worden, daß man auch in allen damaligen Verfolgungen und Verantwortungen nicht eine Spur findet, woraus zu schließen wäre, daß der Heyland die 40 Tage hindurch jemand anders als den Seinen bekannt worden wäre. Manchmahl hatte Er sie bestellt, manchmahl kam Er unvermuthet, und ehe sie jemanden was davon sagen und es verrathen konten, so war Er schon wieder weg. Diese Conduite sezt Er noch immer fort in seiner Gemeine; und daß wir uns nicht in allen Stücken darein gefüget, ist einer von unsern grösten Fehlern, der uns vielleicht um manche Herzlichkeit und sensible Offenbahrung gebracht hat.« »Unlängst hat eine wichtige Person den Ordinarium gefragt, wo das in der Bibel stünde, daß der Heyland in aller stille wiederkommen würde? Antwort: es steht Matth. 25, daß der bräutigam zu Mitternacht kommen und sich niemand zu der Zeit dessen versehen werde. Aber (heißt es weiter), wenn des Menschen Sohn kommen wird in seiner Herrlichkeit und alle seine Engel mit Ihm, dann wird Er sizen auf dem Stul seiner Herrlichkeit etc. Die particula disjunctiva aber macht den unterschied zwischen seiner Zukunft in silentio zu Mitternacht und zwischen seiner Erscheinung in

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Folgende Merkmale sind für diesen seinen Chiliasmus bezeichnend: 1. Im Unterschied zu Jesu Kommen zum Weltgericht, mit dem Bersten der Elemente am Ende aller Tage, geschieht seine vorausgehende Gegenwart in der Gemeinde inkognito, im Stillen, von der Welt nicht bemerkt und in der Kraft seiner Seitenwunde. 2. Die Vorstellung dieser verborgenen Gegenwart Christi in seiner Gemeinde entspricht den Ostererscheinungen in den 40 Tagen nach seiner Auferstehung sowie seiner Himmelfahrt und ist belegt in dem Gleichnis der zehn klugen und zehn törichten Jungfrauen, denen der Bräutigam zunächst im Stillen erscheint (Mt 25,1 – 13). 3. Diese erste Gegenwart Christi in der Gemeinde ist die Sammlung der Frommen aus allen vier Enden der Erde (Apk 14,4), ist also ein ökumeniHerrlichkeit ganz handgreiflich und am hellen Tage. Auch die Himmelfahrt des Heilandes ist in silentio geschehen, und auf die Weise (sagten die beyden Engel) würde Er wiederkommen.« »Jezo haben wir uns auf seine Wiederkunft in silentio zu schicken, auf eine Zukunft, da wir schlafen werden und aufgeweckt werden müssen. ›Was ists?‹ werden wir fragen. Antwort: ›Der Bräutigam kommt!‹ Wenn wir uns die Augen ausgewischt und wieder fragen: ›Was ists?‹ so wirds heißen: ›Der Bräutigam kommt, mach fort, hurtig, gehe heraus Ihm entgegen.‹ Es ist ganz begreiflich, daß der Heyland zu dem Ende Gesandschaften und Assembleen gestiftet und zusammen gebracht und Dörfergen gebaut haben will, wo man Ihn ungestört und ungehindert von andern Menschen empfangen und aufnehmen kann. Freilich werden wohl ein Haufen Nachbarn und Freunde durch den Vorgang, durch das Gerücht vom Kommen des Bräutigams, rege werden und fragen: ›Was ists? Können wir nicht auch mit entgegen gehen?‹ Antwort: ›Da muß man das und das dazu haben!‹ ›Das haben wir nicht.‹ ›So könnt ihr nicht mit kommen‹. Da werden wir sie denn zu ihren Lehrern, zu ihren Religionen weisen, und ihnen rathen, so gut wirs jemahlen gethan. Darüber werden sie sich wohl verspäten, aber es wird ihnen nicht schaden, sie werden deswegen nicht verlohren gehen, sondern gewiß einmahl zur Rechten gestellt werden. Denn sie sind wirklich Jungfrauen, nur nicht verständig, nicht klug, sie haben nicht das gute Theil erwehlt, wie Maria that. Ordinarius arbeitet nun schon 30 Jahre darauf, diese sorte Jungfrauen zu mainteniren, und die Sache hat ihm schon manchmahl Herzens-Thränen gekostet. Denn jezo sonderlich ist so ein elender Zustand, daß alles entweder eine kluge Jungfrau seyn will, es mag sich schicken oder nicht, oder eine Hure. Alles will entweder in die Hochzeit Kammer oder gar verlohren gehen.« »Wir haben Ihn jezo schon näher, als mans in den Propheten lieset, das ist gewiß. Er ist wahrhaftig bey uns mit seinem Herzen und Geiste und allezeit, sacramentlich zuweilen. Wir werden Ihn aber noch näher kriegen, wenn Er zu uns kommt, wie zu den Elfen und Sabbat hält, ohne daß die Freunde dazu kommen, die guten Herzel, dies mit seiner Sache wohl recht gut gemeynt, aber doch nicht den rechten Verstand davon gehabt haben. Das wird viele 1000 betreffen, die wir lieb haben, denen wir das Evangelium gepredigt, dies angenommen und dann auch gewiß selig und das Reich ererben werden, das ihnen bereitet ist von Anbeginn der Welt. Das ist wieder eine selige erfreuliche Erwartung und wird alsdenn ausgehen, wenn Er in den Wolken des Himmels kommt. Dazu werden die Geschwister nicht aus dem Schlafe, sondern ihre Leiber aus der Erde erweckt werden. (Das ist der Unterschied.) Wir hingegen werden, wenn wir einmahl, wie gewöhnlich, werden zu bette gegangen seyn und vielleicht nichts weniger vermuthet haben, geschwind einmahl aufgewecket und gerufen werden auf dem Saal, aufs Feld oder auf den Gottes-Acker zu kommen, oder wo es ist, den Bräutigam zu empfangen.« Diese Rede verdeutlicht den eschatologischen Vorsprung, den die Brüdergemeine nach Zinzendorf vor den Konfessionskirchen dank ihrer besonderen Nähe und Zärtlichkeit im Umgang mit Christus hat, ohne dass letzteren dabei etwas Entscheidendes in der Sache fehlte, was Zinzendorfs ökumenisch-philadelphischer Haltung entspricht.

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sches Ereignis im Sinne seiner Herzenstheologie, die alle Kinder Gottes verbindet. 4. Was diese endzeitliche Herrschaft Christi von seiner Gegenwart als Haupt der Kirche heute unterscheidet, ist die Tatsache, dass er seiner Gemeinde eine offene Tür und ungehinderte Ausbreitung schenkt, die allein sein Werk ist und die der Satan nicht hindern kann, sowie seine zeichenhaft sichtbare und unmittelbare Gegenwart als »der zweite Actus von der ganzen seligen Kirchenzeit und neuen Epoche«4.

1. Der Anbruch der Königsherrschaft Christi Wäre diese Vorstellung nur Gedanke geblieben, eine nur gelegentlich geäußerte Idee, so wäre sie vermutlich kaum beachtet worden. Doch in den Jahren 1748 bis 1750 gewinnen diese Gedanken eine erstaunliche Realität. Anlass dazu ist das Jahr 1750, das Zinzendorf nach jüdischer Sitte als Halljahr feiern will. Dazu gibt er 1748 eine Losung heraus mit dem Titel: »Der Brüder des Herrn Vor-Sabbath des bevorstehenden Halljahrs im achtzehnten Seculo«.5 Zu diesen Losungen schrieb er im Oktober 1748 unterschiedlich lange, meist kurze Auslegungen, die auf die besondere Situation der Jahrhundertwende abheben. Seine Ausarbeitung wurde dem Jüngerhaus-Diarium beigegeben, so dass sie in allen Gemeinden gelesen und meditiert werden konnte.6 Die Auswahl der Losungen steht unter dem Gedanken des Halljahrs. »Ein Halljahr oder Jubeljahr ist eine Ruhezeit, eine Friedenszeit, eine Segenszeit, eine Absolutionszeit«.7 Der Reiz von Zinzendorfs Auslegung besteht darin zu sehen, wie Zinzendorf das kommende Halljahr mit der Gemeinde feiern will, und dabei kommt er immer wieder auch auf Jesu Kommen in silentio et pleura zu sprechen. Da heißt es etwa: Man könnte denken, Christus sei bereits in seiner Gemeinde in Pleura et Silentium, der Frühling sei schon angebrochen. »Es ist eine besondere Zeit kommen, wir könnens merken, es wird Frühling.«8 Oder: »Wir hören die Vöglein, denens so singerlich ist, wir hören ein Passions Lied, eine Ave Lämmerlein übers andere, und das nimmt so überhand, daß wir wohl sehen, es ist nicht ein einzelnes Vögelein, sondern es sind Evangelistinnen von Sommers Anbeginnen«.9 Immer wieder taucht ein Bild auf: Jesu Wunden sind die treibende Kraft der Mission, sie sind der »Passatwind«, der die Gemeinde vorantreibt. Diese Idee entfaltet er in der Auslegung der Losung vom 14. Februar über den Vers: »Daß man nur einmal den Passat der Leichnams Lufft 4 JHD 8. 4.1750 (GN.A.10.1750.2, 75). 5 UA Herrnhut L 16; abgedruckt in: Samlung der Loosungs- und Text-Büchlein der Brüder-Gemeine von 1731 bis 1761, Bd. 2, Barby 1762, 369 – 406. 6 JHD 1749, Anhang zu den Wochen (GN.A.6.1749.2, 597 – 811). 7 GN.A.6. 1749.2, 597 Vorrede. 8 JHD 1749, zum 6. November (GN.A.6.1749.2, 788). 9 JHD 1749, zum 7. November (GN.A.6.1749.2, 788).

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gefunden hat«10, oder am 26. Februar: »Wir haben den Passat der Leichnams Lufft gefunden«11. Jesu Tod ist Inhalt und Kraft der Missionspredigt. In der letzten Rede an Silvester 1749 kann er voll Dankbarkeit mit einem Lied Paul Gerhardts sagen: »Die Zeichen, die uns Leuten eine solche Zukunfft, wie sie 40 Tage nach Ostern war, können deuten, die sind, wie wir gesehen, in grosser Zahl geschehen.«12 10 »Daß man einmal weiß, wo man zu Hause ist, daß man auf dem wilden Welt-Meer einen Strich gefunden hat, den man fortgehen und sein Lebtag nicht mehr verlaßen darf, da man sich an keinen Wind kehrt, sondern stracks für sich geht, bis ins Vaterland. Was hilft einen aber der Passat? Wenn man wieder umkehren muß, so hat man ja lauter contrairen Wind und den Weg so viel weiter? Das ist eben die Sache, daß wir nicht umkehren, wir gehen immer vorwärts, wir dürfen uns nicht herumlenken, wir hören nicht auf, für uns zu gehen, bis wir da sind, wo wir ewig zu Hause bleiben: darum ists ein Passat in infinitum, ein ewig guter Wind, eine stille See für uns ohne Ende. Das ist von den Worten Ezech. C. 1 Sie giengen wohin der Wind stund und durften sich nicht herum lenken die Application auf uns. Wir gehen immer mit vollem Winde der Leichnams Lufft, die weht unaufhörlich fort bis ins Seiten Hölgen, bis an Ort und Stelle, bis wir unsern ewigen Hafen finden, den Port, da man nirgends mehr hin mag und nicht wieder zurückkehren muß.« (GN.A.6.1749.2, 631 f). Der genannte Liedvers der Losung findet sich im Herrnhuter Gesangbuch von 1735, 12. Anhang, Nr. 2277 »Nun hör, du Kreuz Luft Völkelein!« in Strophe 8 und lautet dort: »Wer aber einmal den passat der Leichnams-Luft gefunden hat, walts GOtt! wohin er fahre, dem scheints im ganzen jahre.« Das Lied wurde 1746 von N.L. v. Zinzendorf auf Anna Nitschmanns Geburtstag gedichtet. Dass das Bild vom Passat auf konkreten Erlebnissen seiner Missionsreise nach Westindien beruht, sagt er in seiner Rede vom 14.2. 1749, die er also ein Jahr später über diese Losung hielt: »Wenn man von England nach Westindien fährt, so heists: wenn wir nur erst durch den Canal wären! Wenn der nun passiert ist und es geht doch noch etwas hart, etwa an den Azores, so wird man damit getröstet: o es wird bald gut werden, wenn wir nur erst in den Passat kommen! Ehe man sichs versieht, so ist man drinnen und denn bleiben die Segel unveränderlich stehen, denn man hat den Wind, der gerade zum Ziel, zum Lande, führt.« (GN.A.5.1749.1, 87 f). 11 GN.A.6.1749.2, 638 f. Das Zitat lautet im Zusammenhang: »Wenn wir seine Sache treiben durch die ganze Welt, so wird diese Aeone uns nicht ausleben: wir werden sie ausleben und wol noch etliche dazu. Wir haben den Passat der Leichnams Lufft gefunden, der verläßt uns nicht und wir verlaßen unsern Cours nicht mehr bis in Ewigkeit: wir bedienen das Haus, das Ewig steht und mehr als Eine Ewigkeit.« 12 JHD 1749, 31.12. (GN.A.6.1749,2, 593). Das Lied Paul Gerhardts, abgedruckt in HG Nr. 967, beginnt: »Die Zeit ist nunmehr nah, HERR JESU, du bist da; die wunder, die den Leuten dein ankunft sollen deuten, die sind, wie wir gesehen, in grosser zahl geschehen.« Der Zusammenhang dieses Liedes verdeutlicht die eschatologische Spannung: »In dem künftigen Seculo werden auch die meisten von uns heimgehen, wo nicht alle, wenn Ers nicht durch seine Ankunfft unterbricht. Haben wir jemals Ursache gehabt zu denken, es könnte seyn, daß Ernst daraus würde, daß Er zu uns käme, daß die Zeit erfüllet würde, daß das gnädige angenehme Jahr des Herrn anbräche, und die längst erwarteten Verheissungen einmal ausgingen: so ists nie wahrscheinlicher gewesen, als in der letzten Helfte dieses Jahrhunderts. Ja wenn wir uns seine Zukunfft vorstellten, wies gemeiniglich geschicht, in den Wolken, die Welt zu Grunde zu richten und die Elemente zusammen zu schmelzen, da möchten noch viel praeparatoria fehlen; wenns aber nur ein Besuch in seinem Hause, in seiner Gemeine seyn soll, so brauchts nicht so viel praeparatoria. Die Zeichen, die uns Leuten eine solche Zukunfft deuten, die sind, wie wir gesehen, in grosser Zahl geschehen. Unterdessen haben wir uns incuriös nur immer fertig zu halten, ins heiligthum zu gehen, daß alle Stund und Tage unser Herz uns zu Ihm trage, daß uns weder unsre liturgien an der Arbeit hindern und zu weibisch machen, noch die viele Arbeit (die je näher seine Zukunfft herbeykomt, je mehr gibt’s zu thun) unsere Ruhe und Sabbath störe. Mit Endigung dieser Rede schlug es 12 Uhr. Dazu sang der Ordinarius mit Einstimmung des ganzen Häufleins unter einem sanften seeligen Wehen

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Die Vorstellung des Kommens Christi in silentio et pleura taucht bei Zinzendorf nur in den Jahren zwischen 1746 und 1750 auf, also in den letzten Jahren der Sichtungszeit, und verschwindet dann wieder. Sie ist keineswegs zu verwechseln mit den Vorstellungen vom tausendjährigen Reich, wie es in der Confessio Augustana beschrieben und verurteilt wird, »daß vor der Auferstehung der Toten eitel Heilige, Fromme ein weltlich Reich haben und alle Gottlosen vertilgen werden«.13 Zinzendorf bezieht sich ausdrücklich auf diesen Artikel 17, der »nicht ein Wort« gegen seine Vorstellung enthalte. »Der Concept, den die Leute damals vom tausendjährigen Reiche gehabt haben, ist ein ganz fremder Concept von diesen Ideen.«14 Zinzendorf lebte mit seiner Gemeinde Ende der vierziger Jahre in dem Bewusstsein, dass Christi Kommen zu seiner Gemeinde bevorstehe. »Es kommt balde wieder so, das ist, in silentio.«15 Mit diesem Reim schließt das Herrnhuter Gesangbuch in seiner letzten Zugabe (vorletztes Lied) mit Blick auf Jesu Himmelfahrt. »Wir sind nun in der letzten Stunde ziemlich avanciert, und können uns vom Ziel unserer neuen Hoffnung nicht so gar weit weg rechnen…. Er kommt gewiß in der Aeon, und wir sind schon weit darinnen avancirt, zumal da die vorigen Aeonen bei weiten so lange nicht gewährt haben, als schon unsere gegenwärtige.«16 In dieser Stimmung der nahen Wiederkunft erleben etwa die Kinder des Herrnhaag das Weihnachtsfest 1749, wenn sie ein illuminiertes Bild von Jesu Geburt betrachten. Dazu rufen einige Stimmen aus dem Hintergrund: »Bald werdet ihr ihn sehen, wie er wird aufgenom’n, wird in silentio et pleura wiederkom’n.« Und diese und eine weitere Strophe werden dann immer wieder gesungen, wobei die Kinder »vor Freuden in ihre Händchen« klopfen.17 Zinzendorf versteht die Brüdergemeine als Endzeitgemeinde, ihr Missionswerk und ihre ökumenische Sammlung der Kinder Gottes sind Vorbereitung für das Kommen Christi. »Uns genügt, daß wir immediate vor des Heylands Zukunfft hergehen und die Vorläuffer sind seiner Zukunfft zum Kirchlein seiner Brüder, und daß wir gewis wissen, das Modellchen von unserer Oeconomie von den Kirchen-Gassen und Höfen unsrer Zeit stehet so gewis vor Ihm als der ganze Riß vom neuen Himmel und der neuen Erde immer vor Ihm gestanden hat.«18 In einer Rede über die Worte »Der Herr herrscht, Er ist König worden, Er hat sein Reich eingenommen«19 zieht Zinzendorf eine trotz aller Anfeindungen gegen

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und zärtlichen Gefühl: Ehre dem Seiten-Maal, Im neuen Jahr, Ehre der Wunden-Schmarr! Im Jubel-Jahr, Ehre der Herzens-Schmarr. Woll in silentio et pleura wiederkommn! …« BELK, 70, 11 – 13. CA [wie Anm. 1], 199. HG Nr. 2356, 7. JHD 17.5.1750 (GN.A.9.1750,2, 388 f). So das Diarium des Herrnhaag zum 24. 12.1749 in: GN.A.7.1749.3 Beilage Nr. 53,1. JHD 28.10. 1750 (GN.A.10. 1750.3, 481). Zinzendorf bezieht sich hier auf den griechischen Text und bemerkt, dass ebas_keuse Aorist primus sei und bedeute: »Er hat regiert, er wird regieren und involvirt einen actum continuum, eine Seriem, einen Zusammenhang von Handlungen, die zuweilen unterbrochen und immer wieder angefangen werden.« (GN.A.6.1749.2, 159).

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die Brüder von Seiten der Kirchen positive Bilanz. »Wenn man bedenkt, daß bey alledem Verfolgungs Geist den Feinden doch immer an Macht fehlt und das Werk des Heylands auch an den bedrängtesten Orten fortgehet, im ordentlichen Gange ohne extraordinaire Wunder, und daß sich die gedrucktesten Leute 2, 5, 6 Jahre gegen ihre Verfolger mainteniren, ohne daß ihnen was geschiehet, so sieht man augenscheinlich, daß der Herr angefangen zu regiren und die Früchte von seines Vaters Arbeit zu geniesen, daß er mit Ruhe König der Herzen seyn kann, unsre Herzen her!«20 Auch wenn die Herrnhuter Boten und Missionare »Orte und Länder« bereisen, »die der besonderen Bothmässigkeit des Satans noch nicht entrissen sind«, öffnet der »treue Feld-Herr« Türen, um »das Reich seines Gesalbten zu stabiliren«. Ja, Gott setze immer wieder Könige und Fürsten ein, »die Friede bringen, die die Gemüther aufklären und den blutigen Schein in den Augen der Geschwister funkeln machen«. Dazu sendet die Gemeine jetzt wiederum Leonhard Dober, den ersten Missionar, in Richtung Osten aus, wo ihn »so ein 12.000 Beuten des Lamms« erwarten. »Im Westen haben wir uns nicht weniger glücklich zu achten, der Heyland gibt einen schönen prospect nach dem andern. Da nun der Heyland diese zwei entlegene Gegenden, so fern auch der Morgen vom Abend ist, dennoch als ein Holz zusammen gethan in einer Hand, so werden sich auch die Schwierigkeiten im Süden und Norden einmal geben.«21 Die Erfolge in der Mission und die Sammlung der Christen in den über die Erde verstreuten lebendigen Gemeinden kündigen die Endzeit an. Doch noch ist es nicht so weit. Zinzendorf tastet die Erde nach Möglichkeiten der Mission ab, etwa so: »Jezo sind nur die Küsten von Afrika und America besezt, vielleicht rückt einmal der Heiland mit seiner Sache tiefer in die Länder und Nationen, die noch gar nicht bekannt sind, und wo man so verborgen seyn kann, daß man unser da wohnen in Europa etwa einmal für eine Fabel hält. Unsere Brüder sollten das im Gesicht behalten, und es, sobald möglich und füglich tentiren. Vielleicht findet sich auch einmal noch ein Weg zu Lande von Pennsylvanien nach Grönland.«22 Am Jahresende urteilt Zinzendorf: »Es ist dieses ein seeliges stilles Jahr gewesen und doch mehr geschehen, als bisher jemalen, ohne viel Umstände, ohne es drauf anzustellen.«23 Zinzendorf entdeckt in diesem neuen stillen Gang der Gemeinde seinen Herrn von einer neuen Seite. Die Gemeinde will mit ihm Sabbat halten und sich möglichst von der Welt zurückziehen. Er fährt fort: »Die Stille, das Sabbath halten, ist noch nicht aus, das commode ruhen, das non chalante Lehnen an den Freund. Da man noch nicht alles recht zu machen weiß, finde ich noch zur Zeit das beste.«24 Nun hält er es für »einen von unsern grösten Fehlern«, dass alle 20 JHD 10.10. 1749 (GN.A.6.1749.2, 161). 21 JHD 10. 10.1749 (GN.A.6.1749.2, 161– 163). Bei dem Osten denkt Zinzendorf wohl an das Baltikum und Schlesien sowie an die Missionsversuche von Petersburg bis Persien, beim Westen an die Karibik und Nordamerika. 22 JHD 22.9.1749 (GN.A.6.1749.2, 29 f). 23 JHD 31.12. 1749 (GN.A.6.1749.2, 583). 24 JHD 31.12. 1749 (GN.A.6.1749.2, 586).

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geistliche Erfahrung gleich herausposaunt und gedruckt werden musste. »Unser laut seyn«, unser »Trompetiren und Posaunen blasen vom Thurm herunter«, das nun schon über 23 Jahre fortgehe, habe vieles verdorben.25 Er erfährt im Jahr 1749, wie die Verheißungen Jesu in den Losungen ohne große Beachtung in der Welt in Erfüllung gehen. In einer Beilage zum Jüngerhaus-Diarium stellt er drei solcher erstaunlichen Erfüllungen zu Losungen vom August 1737 zusammen. Zu der Losung »Deine Baumeister werden eilen« vom 12. August stellt er fest, dass in zwölf Jahren von der Gemeine ganz enorm gebaut wurde, und er zählt auf: 21 neue Gemeinden, 24 Chorhäuser und 19 weitere Gebäude in unterschiedlichsten Gemeinden. Am 13. August beobachtet er zur Losung »Deine Zerstörer und Zerbrecher werden sich davon machen«: »Das ist seitdem an 91 Personen in Erfüllung gegangen: 19 davon sind meist reuig und arm am Geiste aus der Zeit dahin gegangen; 55 sind bereits seelig zurück gehohlt und mit uns beklieben? und 17 noch in ihrer Irre.« Ähnlich beobachtet er am 16. August zur Losung: »Ich ward einsam gelassen, wo waren den die«, dass die Brüder mit 62 unterschiedlichen Nationen und Sprachen »in fruchtbare Bekanntschaft gekommen« sind, und er zählt auch sie auf.26 Überschaut man die Berichterstattung im Jüngerhaus zu den Jahren 1749/50, so drängt alles auf die Frage hin: Ist die Zeit Jesu in silentio et pleura schon angebrochen? Ist nicht Christus ihr Ältester? Hat die Gemeinde nicht den stillen Gang Jesu neu entdeckt? Macht die Mission in allen Weltteilen nicht erstaunliche Fortschritte? Ist er nicht schon jetzt der verborgene Herzens-König? Und doch sagt Zinzendorf nie bestimmt und eindeutig, dass die Endzeit mit Christus in der Gemeine begonnen habe. Samuel Eberhard hat diese eigentümliche Spannung bei Zinzendorf treffend formuliert: »Da die Gemeinde die Stätte sein wird, wo die Wiederkunft des Herrn beginnt, so läßt sich die Grenze zwischen dem, was die Gemeinde eben ist, und dem, was sie einst sein wird, sehr schwer ziehen. Die Aussagen Zinzendorfs schwanken dauernd zwischen einer annähernden Identifikation der Gemeinde mit dem tausendjährigen Reich und der immer wieder hervortretenden Betonung des ›Noch nicht‹.«27

2. Das Erstlingsbild Zinzendorfs chiliastische Hoffnung hat einen lebendigen Ausdruck in dem von Johann Valentin Haidt geschaffenen Erstlingsbild gefunden. Es wurde 1747 zum 25 JHD 30.3.1750 (GN.A.9.1750, 11 f). 26 JHD 1749 Beilagen Nr. 45 (GN.A.7.1749.3, 713 – 718). Wenn das Diarium von »62 Baue in diesen 12 Jahren« spricht, so scheint das eine Verwechslung mit den S. 716 – 718 aufgelisteten Völkern zu sein. Denn die Addition der genannten 21 Gemeinden, 24 Chorhäuser und 19 Bauten ergibt 64, bleibt aber ganz unklar, da sich ganze Gemeinden nicht mit Einzelbauten addieren lassen. 27 Samuel Eberhard: Kreuzes-Theologie. Das reformatorische Anliegen in Zinzendorfs Verkündigung. München 1937, 214.

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ersten Mal von Haidt für den Konferenzsaal der Synode aus Anlass des Heimgangs von Indianern in Nordamerika gemalt. Das Bild erfreute sich solcher Beliebtheit, dass es noch acht weitere leicht veränderte Fassungen davon gab, die beiden letzten 1754/55 für Bethlehem und Westindien. Dann verschwindet das Motiv wieder. Das entspricht recht genau der chiliastischen Phase der Gemeine. In diesem Bild findet sich die eben beobachtete Spannung zwischen Realität und chiliastischer Hoffnung. Einerseits ist das Bild eine realistische Dokumentation der Erstlinge aus den Heiden-Gemeinden, die meist in Europa gestorben sind, und wir können ihre Namen und Lebensgeschichte genau angeben.28 So wird es gewöhnlicher Weise auch als Versinnbildlichung der sich ausbreitenden Mission der Brüdergemeine verstanden. Aber zugleich sagt dieses Bild viel mehr über Zinzendorfs Missionsanschauung, indem es seine chiliastische Hoffnung widerspiegelt. Die Sammlung der Frommen aus allen Erdteilen hat begonnen, Ost und West, Nord und Süd, oder Schwarze der Karibik, Indianer Amerikas und die Erstlinge aus Asien, Grönland, Südamerika und Afrika kommen, um ihren König und Herrn auf seinem Thron zu ehren. Christus tritt seine verborgene Herrschaft in silentio et pleura an. Er ebnet den Weg, freilich vorläufig nur in der Gemeinde der Frommen als der Gnädige und zärtlich Geliebte, als der Fürsprecher und Freund mit den Malen seiner Wunden. Die Inschrift mit dem Hinweis auf Offenbarung 14,4 »Diese sind erkaufft aus den Menschen zu Erstlingen« stellt deutlich den chiliastisch-eschatologischen Bezug her: »Das Lamm und die Seinen« überschreibt die Luther-Bibel diesen Abschnitt. So sind die Palmwedel Zeichen der Überwindung des Todes und deuten die ewige Gemeinschaft mit Christus an. Die Dargestellten schauen größtenteils auf den Betrachter, nicht auf Christus, was Hans Huth29 kritisiert hat. In Wahrheit wird gerade so der Betrachter mit in das Bild einbezogen und Christus in ein unmittelbares Gegenüber zum Betrachter gerückt. »Es ist geradezu eine geniale Inszenierung, indem das Bild so quasi die Trennung zwischen den im Raum versammelten Personen und den zur ›Oberen Gemeine‹ Gehörenden aufhebt, die eben gerade nicht in eine unbekannte und ferne Sphäre transzendiert sind. Für die sich im Raum Befindenden musste der Eindruck entstehen, als seien sie alle gemeinsam in ein und demselben Raum.«30 Die Schranken zwischen dieser und jener Welt werden aufgehoben, oder besser: die irdische Gemeinde wird in die ewige Gemeinschaft mit Christus miteinbezogen. Das Bild stellt nicht den zur Rechten Gottes sitzenden Herrscher der Welt dar, sondern den in die Gemeinde der Schwestern und Brüder herabkommenden 28 Vgl. dazu Paul Peucker: Aus allen Nationen. Nichteuropäer in den deutschen Brüdergemeinen des 18. Jh. In: Unitas Fratrum Heft 59/60, 2007, 1 – 35; Rìdiger Krçger: Die Erstlingsbilder in der Brüdergemeine. In: Unitas Fratrum Heft 67/68, 135– 163 mit Abb. nach S. 120. Kröger listet die neun bekannten Ausfertigungen des Erstlingsbildes mit genauen Angaben über Größe, Entstehung, Verbleib und den dargestellten Personen auf. 29 Johann Valentin Haidt, in: Anzeigen des Germanischen Nationalmuseums, Nürnberg 1963, 166 – 174, hier 169 f. 30 Krçger, Erstlingsbilder (wie Anm. 28), 142.

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Christus in bewusster Gegenbewegung zur Himmelfahrt. Christus erscheint aufs Neue als der Menschensohn und Heiland mit ausgebreiteten Armen, mit der Geste des Einladenden und den Wundmalen an Händen, Füßen und Seite. Es sind die Zeichen seiner Erlösung und seines stellvertretenden Leidens, mit denen er uns das Heil erkauft hat. Nicht der in Ewigkeit erhöhte Herrscher, sondern der Menschgewordene, der Menschenfreund und Heiland kommt in seine Gemeinde herab, in die weltweite Gemeinschaft der unterschiedlichen Rassen und Völker, in den Kreis der Armen und Verachteten und der so leicht missachteten Frauen und Kinder. Die Erstfassung in Zeist von 1747 hat im Unterschied zu den späteren Fassungen am stärksten diesen weihnachtlichen Charakter des auf Erden erscheinenden Menschensohns und Heilandes. Man muss diese Erstfassung vergleichen mit den späteren Fassungen. Ich wähle die letzte, heute in Bethlehem/Pennsylvanien vorhandene Kopie, die 1754/55 entstanden ist. Auf diesem Bild ist Jesus in die Ferne nach oben entrückt. Er schaut nicht mehr den Betrachter an, sondern in die Weite. Die beiden begleitenden Engel sind zu Geistwesen verflüchtigt und entrückt. Nun entsteht eine deutliche Distanz zwischen den Personen im Vordergrund und den verkleinerten Gestalten im Mittelgrund. Auf diese Weise bekommt das Bild zwar mehr Tiefe, aber gerade das Ansprechende des Zeister Bildes geht verloren. Die Darstellung in Bethlehem könnte auch eine Ansicht von Christi Himmelfahrt sein. Rüdiger Kröger beobachtet: »Mehrere Erstlinge weisen mit den Fingern oder Händen nach oben in Richtung Heiland. […] Christus selbst ist etwas arg klein geraten, was ihn perspektivisch noch weiter entrückt. Weitere Erstlinge haben jetzt auch den Blick auf den Erhöhten gerichtet. […] Man hat nicht mehr unmittelbar Teil an dem Geschehen, sondern betrachtet lediglich ein Bild. Es wird schließlich nur noch ein belehrendes Beispiel zur Nachfolge empfohlen.«31 Diese Entwicklung der Erstlingsbilder spiegelt sehr deutlich eine innere Entwicklung in der Frömmigkeit Zinzendorfs. Die starke eschatologische Spannung um 1750 schwächt sich ab. Zinzendorf erkennt in einem langen mühsamen Prozess die Überspannung jener Jahre als theologische Gefahr. Anstelle der Naherwartung Christi und eines für biblisch gehaltenen Gemeindechiliasmus entfaltet Zinzendorf nun schlicht und verständlich in den Kinderreden (1758), anspruchsvoller und theologisch reflektierter in den Londoner Predigten (1756/ 57) eine Christusmystik des Umgangs mit dem Heiland, eine Frömmigkeit der Innerlichkeit und der intimen Chorgemeinschaft. Die tägliche Konnexion des Einzelnen mit dem Heiland und die Christusgemeinschaft der Chöre in den liturgischen Versammlungen werden für ihn zu leitenden Themen seiner erbaulichen Ansprachen, in denen er den Geist der Erweckung in der Gemeinde festzuhalten sucht. Dieser Rückgang auf eine innere Linie der Frömmigkeit ist charakteristisch für die Theologie des reifen Zinzendorf, in deren Sprache zwar noch mancherlei Bilder und Elemente der Sichtungszeit nachwirken, die aber 31 Ebd., 148.

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theologische Einseitigkeiten und Übertreibungen vermeidet und sich um trinitarische Ausgewogenheit bemüht.

3. Spangenbergs biblischer Realismus Werfen wir noch einen kurzen Blick auf Spangenberg. In seinen Idea Fidei Fratrum findet sich kein Hinweis auf Zinzendorfs chiliastische Hoffnung. In seinem »Unterricht für die Brüder und Schwestern, welche unter den Heiden am Evangelio dienen«32 gibt es eschatologische Bezüge nur in Form der biblischen Verkündigung eines bevorstehenden »grossen Gerichtstages und seinen Folgen«.33 »Daß sie [= die Heiden] aber durch den Glauben an Christum dem zukünftigen Zorn entrinnen, und das ewige Leben ererben würden: das sagt man ihnen mit getrostem Herzen und Munde.«34 Das ist evangelistische Gerichts- und Missionspredigt, wie man sie heute in ähnlicher Form noch in Tanzania findet. Am Ende seines Lebens schrieb Spangenberg einen Aufsatz mit dem sehr bezeichnenden Titel: »Von der Hoffnung beßerer Zeiten und den gewiß noch bevorstehenden sehr bösen Zeiten für die Kirche Christi« (1792).35 Hier stellt er Speners Hoffnung auf künftig bessere Zeiten die biblische Sicht der Endzeit gegenüber und beschreibt im zweiten Teil die biblische Erwartung des Antichristen und der Trübsale der Endzeit. »Die Kirche Christi hat also noch sehr schwere und betrübte Zeiten vor sich, und die werden gewiß kommen.«36 Die Schrift entstand drei Jahre nach der Französischen Revolution und steht unter dem Eindruck einer kirchenfeindlichen Aufklärung. Spangenberg empfindet seine Zeit als letzte Zeit, in der die Macht Satans und des Antichrists zur Herrschaft kommt und das Ende aller Zeit anbricht. Seine Sicht ist so düster, dass das leitende Gremium der Brüdergemeine, die Unitäts-Ältesten-Konferenz, den Druck der Schrift ablehnte, weil sie befürchtete, dass die Gemeine zu sehr »in das apocalyptische hinein gehen« könnte. Die Unitätsdirektoren hielten es nicht für ratsam, »unsere Geschwister so speciell vor dem Antichrist und andern in der Offenbarung des Johannis vorausverkündigten Plagen der christlichen Kirche zu warnen; weil dieses nur zu unnöthigen Gesprächen und Speculationen darüber Anlaß geben und dadurch die Erreichung des damit intendirten heilsamen Zwecks verhindert werden dürfte.«37 Der Gegensatz zwischen den chiliastischen Erwartungen Zinzendorfs um 1750 und den Endzeitängsten Spangenbergs um 1790 könnte kaum größer sein. 32 33 34 35 36

Barby 1784. Spangenberg, Unterricht (wie Anm. 32), 36. Ebd. UA Herrnhut R.21.A.168.r. Vgl. Dietrich Meyer: Spangenbergs Geschichtsbild und Gemeindeverständnis. In: Unitas Fratrum Heft 61/62, 2009, 147– 166, hier 150. 37 UAC-Protokoll vom 18. 1. 1792, Bd. 1, 114 f.

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Standort: Brüdergemeine Zeist/Holland; Foto: Museumstichting Het Hernhutter Huis Zeist (Fred Manschot / Mel Boas)

Erstlingsbild 1747 (Zeist)

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»Erstlingsbild, oder die Erstlinge der Mission der Brüdergemeine versammelt um den Thron Christi«. Öl auf Leinwand, Johann Valentin Haidt, nach 1754 (Moravian Archives, Bethlehem, PC 19)

Erstlingsbild 1754/55 (Bethlehem)

Daniel Fulda

Wann begann die ›offene Zukunft‹? Ein Versuch, die Koselleck’sche Fixierung auf die ›Sattelzeit‹ zu lösen

I. Kosellecks Begriffsgeschichte als Geschichtsphilosophie der Moderne Es kommt nicht häufig vor, dass ein Geisteswissenschaftler sein Forschungsfeld so stark und so nachhaltig prägt, wie dies Reinhart Koselleck mit seiner Deutung der Entstehungsgeschichte des historischen Bewusstseins im 18. Jahrhundert gelungen ist. Damals entstand, so Koselleck, das moderne Geschichtsbewusstsein, das die vielleicht wichtigste Grundlage des modernen Weltverständnisses und Menschenbildes darstelle.1 Seitdem denke sich der Westen die Welt und den Menschen als in dauernder Umbildung befindlich, und zwar in einer sinnhaften Umbildung, die einerseits fortwährend Neues hervorbringt, das andererseits aber prozesshaft mit allem Vorangehenden verbunden ist. Als Postulat der Geschichtstheorie ist dieser Gedanke natürlich nicht erst von Koselleck formuliert worden; in dieser Hinsicht sind vielmehr Herder, Droysen u. a. zu nennen. Koselleck hat den Kerngedanken des Historismus jedoch in einer Weise reformuliert, die diesem Gedanken wieder wissenschaftliche Überzeugungskraft gegeben hat, denn er hat ein Geschichtsverständnis, das in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts nicht mehr viele Anhänger besaß, in einen mit modernen Methoden abgestützten historischen Befund transformiert. Was eine Überzeugung war, wie Geschichte generell sei (ein dynamisches Entwicklungskontinuum), wies er als ihrerseits geschichtliche, nämlich im 18. Jahrhundert entstandene Vorstellung aus. Und selbst darin liegt noch nicht das wirklich Neue von Kosellecks Forschungen, denn schon Friedrich Meinecke hatte Die Entstehung des Historismus im selben Zeitraum ausgemacht.2 Die von Meinecke betriebene Ideengeschichte des intellektuellen Höhenkamms stellte 1 Diese Leitthese grundiert zahlreiche Texte Reinhart Kosellecks; zuerst vorgetragen hat er sie in seinem Aufsatz: Vergangene Zukunft in der frühen Neuzeit [Erstveröffentlichung 1968]. In: Koselleck: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. Frankfurt a.M. 21992, 17 – 37, am breitesten belegt in seinem Artikel: »Geschichte, Historie«. In: Otto Brunner/Werner Conze/Reinhart Koselleck (Hg.): Geschichtliche Grundbegriffe [künftig: GG]. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Bd. 1 – 8 (in 9). Stuttgart 1972 – 1997, Bd. 2 (1975), 593 – 718 (die Seiten 595 – 647 wurden von Christian Meier, Odilo Engels u. Horst Günther verfasst). 2 Vgl. Friedrich Meinecke: Die Entstehung des Historismus. Hg. und eingel. von Carl Hinrichs. München 1959 [EA 1936] (Werke, 3).

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Koselleck jedoch vom Kopf auf die Füße: Seine Begriffsgeschichte sollte den konventionalisierten und damit den allgemeinen Sprachgebrauch erfassen.3 Bei Koselleck geht es nicht um diese oder jene Geschichtsauffassung, für die man sich so oder so entscheiden könnte, sondern um die durch Sprache ermöglichten bzw. in Sprache niedergeschlagenen denkstrukturellen Voraussetzungen jeglichen Geschichtsverständnisses (in einer bestimmten Zeit und Kultur). Im Wandel der Begriffe, ihrer Semantik und Pragmatik, suchte er den Wandel nicht allein von Ausdruckmöglichkeiten, sondern von Wahrnehmungsmustern und Weltbildern zu rekonstruieren. Foucauldianisch könnte man sagen: Es geht um die Episteme des ›Zeitalters der Geschichte‹.4 Freilich erfolgt deren Aufdeckung bei Koselleck ganz unfoucauldianisch durch Nachvollzug ihrer Genese. Insofern bleibt sein Verfahren ein historistisches5 – das zugleich die Überzeugungskraft des Historismus erneuerte, oder genauer: eines Historismus, der nicht mehr als Auskunft über das ›Sein der Geschichte‹, sondern als eine mögliche, nämlich der westlichen Moderne zugehörige Auffassungsweise von Zeitlichkeit verstanden wird. Doch sind Begriffe bei Koselleck nicht allein als Analysegegenstände von zentraler Bedeutung, sondern ebenso als Instrumente, die der Interpret selbst bildet, um das Erkannte prägnant zu fassen und für die wissenschaftliche Rede leicht fasslich aufzubereiten. ›Kollektivsingular Geschichte‹, ›Erfahrungsraum und Erwartungshorizont‹, ›Verzeitlichung‹, ›offene Zukunft‹, ›Beschleunigung‹ – jeder Geistes- oder Kulturwissenschaftler kennt und viele verwenden diese Begriffe, die Koselleck zwar meist nicht ›erfunden‹, aber besetzt, gefüllt und popularisiert hat.6 Zum Durchsetzungserfolg seines Bildes von der Entstehung 3 Zum begriffsgeschichtlichen Konzept vgl. Hans Ulrich Gumbrecht: Dimensionen und Grenzen der Begriffsgeschichte. München 2006, 37 – 41. Gumbrecht hält den Anspruch der Begriffsgeschichte allerdings für nicht eingelöst: Da sie als Quellen nach wie vor vornehmlich Höhenkammautoren auswertet, könne die angestrebte Verbindung von Ideen- und Sozialgeschichte nicht gelingen. Dieser gutenteils berechtigten Kritik sucht mein Beitrag dadurch Rechnung zu tragen, dass er die ›Öffnung der Zukunft‹ im 18. Jahrhundert vor allem durch Bezug auf ein neues, eben zukunftsorientiertes Praxismodell nachzuweisen (und zugleich zeitlich vorzuverlegen) unternimmt. Zur Auseinandersetzung mit Kosellecks Begriffsgeschichte vgl. auch Kari Palonen: Die Entzauberung der Begriffe. Das Umschreiben der politischen Begriffe bei Quentin Skinner und Reinhart Koselleck. Münster [u.a.] 2004 (Politische Theorie, 2), 205 – 264 sowie Hans Joas/Peter Vogt (Hg.): Begriffene Geschichte. Beiträge zum Werk Reinhart Kosellecks. Berlin 2011. 4 Mittlerweile werden Koselleck und Foucault häufig in einem Atemzug genannt, wo es um die sattelzeitliche Historisierung geht, vgl. z. B. Iwan-Michelangelo D’Aprile/Winfried Siebers: Das 18. Jahrhundert. Zeitalter der Aufklärung. Berlin 2008 (Akademie-Studienbücher: Literaturwissenschaft), 99. Vgl. Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften. Frankfurt a.M. 1974, 443 f. 5 Auch deshalb hat sich Hans Ulrich Gumbrecht: Dimensionen, 33 mittlerweile von der Begriffsgeschichte distanziert. 6 So kommt der berühmte »Kollektivsingular« bereits bei Johannes Hennig: Die Geschichte des Wortes »Geschichte«. In: Dt. Vierteljahrsschrift 16, 1938, 511 – 521, hier 511 f vor. Den Begriff ›Verzeitlichung‹ übernahm Koselleck von Arthur O. Lovejoy (temporalizing), vgl. J[ohannes] Rohbeck: Art. »Verzeitlichung«. In: Joachim Ritter u. a. (Hg.): Historisches Wörterbuch der

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des modernen Geschichtsverständnisses im 18. Jahrhundert hat sein Talent für einprägsame Begriffe gewiss beigetragen. Mein Thema hier ist nur die ›offene Zukunft‹, die damals entdeckt worden sei. Letztlich stehen damit allerdings auch die anderen gerade genannten Begriffe zur Debatte, denn sie bezeichnen bloß unterschiedliche Aspekte ein und desselben Komplexes: Die Geschichte im ›Kollektivsingular‹, die als kontinuierlicher Prozess gedacht wird, überspannt nicht allein zeitliche Differenzen, sondern vor allem auch irreduzibel differente Kulturzustände (nicht reduzibel z. B. auf eine gleichbleibende Menschennatur oder auf ewige göttliche Gesetze oder auf transhistorische Vernunftnormen o. ä.). ›Die Geschichte‹ zu denken, setzt nach Koselleck voraus, dass Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft als qualitativ-inhaltlich voneinander geschieden wahrgenommen werden, so dass der ›Erfahrungsraum‹ der Vergangenheit und der ›Erwartungshorizont‹ der Zukunft auseinandertreten. Zeitabstände wecken dann die Erwartung qualitativer Differenzen, ja der Zeit wird zugesprochen, selbst laufend das Neue zu schaffen. Wenn die Zeit aber nicht nur vergeht, sondern substantiell Neues bringt, erscheint sie als beschleunigt. Und wenn die Vergangenheit nicht mehr als weiterhin befolgbares Muster gelten kann, wird die Zukunft als ›offen‹ wahrgenommen.7 Da sich diese Umbesetzungen nach Koselleck zentral im 18. Jahrhundert vollzogen, hat er das Jahrhundert der Aufklärung als die eigentliche Formationsphase der Neuzeit gekennzeichnet.8 Beim Bedingungsverhältnis zwischen ›offener Zukunft‹ und Aufklärung ist indessen genauer nachzufragen: Haben wir die Vorstellung, dass vor dem Menschen eine offene Zukunft liegt, die er nach seinen Absichten und aus eigener Kraft gestalten kann, als Produkt der Aufklärung zu begreifen?9 Oder konnten sich die Akteure der Aufklärung deshalb zu solcher Weltgestaltung aufschwingen, weil sie sich in einer relativ offenen Situation sahen? Noch etwas plakativer gefragt: Führt die Aufklärung zur Vorstellung einer offenen Zukunft oder beginnt sie damit? Aus begriffsgeschichtlicher Perspektive ist die Antwort eindeutig: ›Die Zukunft‹ ist, als Zeitraum im Unterschied zu Vergangenheit und Gegenwart Philosophie. Bd. 1 – 12. Darmstadt 1972 – 2004, Bd. 11 (2001), 1026 – 1028, hier 1026. »Beschleunigung« ist bei Nietzsche (Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben, § 9) einflussreich vorgeprägt, vgl. Hartmut Rosa: Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne. Frankfurt a.M. 2005 (stw, 1760), 73. 7 Vgl. Reinhart Koselleck: ›Erfahrungsraum‹ und ›Erwartungshorizont‹ – zwei historische Kategorien [Erstveröffentlichung 1976]. In: Ders.: Vergangene Zukunft, 349 – 375, hier 359 – 369. 8 Vgl. Reinhart Koselleck: Das 18. Jahrhundert als Beginn der Neuzeit. In: Reinhart Herzog u. Reinhart Koselleck (Hg.): Epochenschwelle und Epochenbewusstsein. München 1987 (Poetik und Hermeneutik, 12), 269 – 282, hier 278 – 281. 9 So die Zusammenfassung des Koselleck’schen Modells in Ch. Link: Art. »Zukunft; Vergangenheit«. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 12 (2004), 1426 – 1436, hier 1429: »Die für das moderne Z[ukunfts]-Empfinden charakteristische Entdeckung der Z[ukunft] als eines von der V[ergangenheit] unterschiedenen Zeitraums, in den wir aus der Gegenwart kommend eintreten, ist die Folge einer fortschreitenden Historisierung der Welt. Diese setzt erst mit der beginnenden Aufklärung ein.«

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verstanden, ein Begriff, der erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts auftritt; der älteste Beleg im Grimmschen Wörterbuch steht bei Thomas Abbt.10 Auch denkgeschichtlich folgt die Vorstellung einer offenen Zukunft nach Koselleck erst aus der mit Voltaire, Iselin und Herder einsetzenden geschichtsphilosophischen Postulierung von Fortschritt, denn damit zu rechnen impliziere die Erwartung, dass die Zukunft anders sein wird als alles Bisherige.11 Geöffnet sei jene Zukunft, von der erwartet wird, dass sie qualitativ Neues bringt; »dieses geschichtsphilosophische Axiom« aber sei ein »Ergebnis der Aufklärung«.12 Ergänzend dazu hat Lucian Hölscher darauf hingewiesen, dass nicht einmal Chladenius, dem Koselleck den Erstbeleg des Kollektivsingulars Geschichte zuschreibt, den Begriff der Zukunft kannte, obwohl er diese zur Geschichte rechnete: Zwar schreibt Chladenius, der Begriff der Geschichte müsse »so weitläufftig gefasset werden, daß er das Zukünfftige unter sich begreiffet«.13 Indem er aber nur vom »Zukünfftigen« oder den »zukünfftigen Dingen« spricht, habe er, so Hölscher, »immer nur einzelne zukünftige Ereignisse vor Augen, nie die Zukunft insgesamt«. Noch in der Tradition der politischen Klugheitslehren stehend, versuche Chladenius aus vergangenen Erfahrungen auf das zu schließen, was zukünftig kommen könnte. Hölschers Argumentation zufolge denkt Chladenius deshalb noch keine ›offene Zukunft‹, weil er den Erwartungshorizont seiner Zeit nicht grundsätzlich von deren Erfahrungsraum gelöst sieht. Zu überzeugen vermag diese Argumentation, wenn man sich auf das geschlossene geschichtsphilosophische Modell der »modernen Welt« einlässt, das sie impliziert.14 Danach unterscheiden sich Alteuropa und die Moderne zuvörderst durch ihre Geschichtsauffassung: Während die Vormoderne nur viele 10 Vgl. Jacob und Wilhelm Grimm: Deutsches Wörterbuch. Hg. von der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Bd. 1 – 16 (in 32). Leipzig 1854 – 1960, Bd. 16 (1954), 476 – 484, s.v. Zukunft, hier 479; früher gibt es nur »in Zukunft«. Vgl. Lucian Hçlscher: Die Entdeckung der Zukunft. Frankfurt a.M. 1999 (Fischer Tb., 60137: Europäische Geschichte), 36. Mit Lucian Hölscher konnte ich auf der Hallenser Tagung sehr anregende Gespräche führen, für die ich mich herzlich bedanke. Ebenso bedanken möchte ich mich bei Heinz Thoma für seine kritische, mich zu argumentativer Schärfung herausfordernde Lektüre dieses Beitrags sowie bei Georg Schmidt, mit dem ich mich über das Koselleck’sche Modell der Zukunftsöffnung austauschen konnte. 11 Vgl. Koselleck: Vergangene Zukunft, 33 f; Ders.: Historia magistra vitae. Über die Auflösung des Topos im Horizont neuzeitlich bewegter Geschichte [Erstveröffentlichung 1967]. In: Ders.: Vergangene Zukunft, 38 – 66, hier 56. 12 Koselleck: ›Erfahrungsraum‹ und ›Erwartungshorizont‹, 365. 13 Johann Martin Chladenius: Allgemeine Geschichtswissenschaft. Mit e. Einl. von Christoph Friederich u. e. Vorw. von Reinhart Koselleck. Neudr. der Ausg. Leipzig 1752. Wien [u.a.] 1985 (Klassische Studien zur sozialwissenschaftlichen Theorie, Weltanschauungslehre und Wissenschaftsforschung, 3), 15. Vgl. Hçlscher : Die Entdeckung der Zukunft, 43. Die folgenden Zitate ebd. Koselleck führt in seinem Art. »Geschichte, Historie«. In: GG 2, 652 denselben Beleg an, interpretiert ihn aber ›progressiver‹ als Indiz dafür, dass Chladenius mit ›der Zukunft‹ als Zeitdimension rechne. 14 Vgl. Reinhart Koselleck: Einleitung. In: GG 1, XIII – XXVII, hier XIV – XVII, das Zitat XIV.

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einzelne Geschichten kenne, die sie als Beispiele für übergeschichtliche Lehrsätze betrachte – historia magistra vitae –, zeichne sich die säkular-immanente Moderne durch ihren Begriff einer alles integrierenden Geschichte aus, die alles bedinge und ihrerseits keinen anderen als natürlichen und menschlichen Einwirkungen unterliege. Und während nach vormoderner Weltauffassung alles Wesentliche gleichbleibe, so dass die Abfolge der Ereignisse im Grunde lauter Wiederholungen von Grundmustern bedeutet, werde Geschichte in der Moderne als fortlaufende Zeitigung von wesentlich Neuem begriffen.15 Der Nutzen dieses Modells liegt m. E. darin, dass es ein klares, da binär strukturiertes Kategoriengerüst für die Analyse – nicht allein von Geschichtsauffassungen – bereitstellt. Nutzen bringt es darüber hinaus als idealtypische – zu betonen ist: als idealtypische – Beschreibung des Übergangs von der alteuropäischen zur modernen Geschichtsauffassung. Schaden schafft es hingegen dann, wenn es in seiner empirischen Aussagekraft überschätzt wird und wenn Quellenbefunde nur dann akzeptiert werden, wenn sie das Modell bestätigen, oder wenn sie leichthin so interpretiert werden, dass sie passen.16 Eine fundamentale Kritik, die in diese Richtung geht, hat vor einigen Jahren Jan Marco Sawilla geübt, allerdings ohne dass er seine mit Kosellecks Modell nicht zu vereinbarenden Quellenbefunde zu einer alternativen Entstehungsgeschichte der modernen Geschichtsauffassung zusammengeschlossen hätte.17 Die Gefahr, dass das Koselleck’sche Modell unzulässig reifiziert wird, besteht vor allem in vier Hinsichten. Erstens: wenn die entscheidenden Punkte des Übergangs von der alteuropäischen zur modernen Geschichtsauffassung immer nur in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts gesehen werden, bei den »Philosophen der Spätaufklärung«, also in der Koselleck’schen ›Sattelzeit‹, in der deutschen geistesgeschichtlichen Tradition könnte man sogar sagen: in der Goethezeit, denn maßgeblich sind für Koselleck durchweg die semantischen Aufladungen des letzten Jahrhundertdrittels.18 Mit den begriffsge15 Diesen Grundgedanken führt schon Kosellecks erster Aufsatz zum Thema aus: Historia magistra vitae. 16 So schließt Koselleck aus der Aussage »Die Geschichte an und vor sich hat kein Ende« (Chladenius: Allgemeine Geschichtswissenschaft, 147), dass die Geschichte »bei Chladenius einen grundsätzlich unbegrenzten Horizont« gewinnt (GG 2, 652). Jedoch bezieht sich Chladenius hier nicht auf ›die Geschichte‹ insgesamt, sondern auf einzelne zu erzählende Geschichten. Da die Formierung des modernen Geschichtsbegriffs, wie Koselleck gezeigt hat (GG 2, 660 f), wesentlich von Interferenzen zwischen der Poetik erzählter stories und der Historik zu erzählender histories geprägt ist, könnte Chladenius’ vorderhand poetologische Aussage trotzdem zugleich eine geschichtstheoretische sein – was aber nicht unter der Hand vorausgesetzt werden sollte. 17 Vgl. Jan Marco Sawilla: »Geschichte«: Ein Produkt der deutschen Aufklärung? Eine Kritik an Reinhart Kosellecks Begriff des »Kollektivsingulars Geschichte«. In: Zeitschrift für historische Forschung 31, 2004, 381 – 428, hier 386 f. 18 Reinhart Koselleck: Zur Begriffsgeschichte der Zeitutopie. In: Ders.: Begriffsgeschichten. Studien zur Semantik und Pragmatik der politischen und sozialen Sprache. Mit zwei Beitr. von Ulrike Spree und Willibald Steinmetz sowie einem Nachw. zu Einleitungsfragmenten Reinhart Kosellecks von Carsten Dutt. Frankfurt a.M. 2006, 252 – 273, hier 261. Vgl. GG 2, 647: »Wenn

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schichtlichen Funden, die Sawilla zum Begriffsfeld Geschichte/Historie/ l’histoire ausgebreitet hat, lässt sich die geradezu ausschließliche Privilegierung des späten 18. Jahrhunderts nicht vereinbaren. Wie Sawilla zeigt, ist der für Koselleck entscheidende Kollektivsingular Geschichte im Französischen bereits ein Jahrhundert früher belegt.19 Nun könnte man einwenden, dass sich mit dem Kollektivsingular ›histoire‹ nicht unbedingt schon die Vorstellung eines autodynamischen Prozesses verband, auf die es Koselleck ankam. Aus diesem Bedenken (das ich selbst erheben möchte) folgt aber, dass Begriffsund Denk- oder Mentalitätsgeschichte nicht so eng aneinander gebunden sind, wie es Koselleck als Grundlage seines gesamten begriffsgeschichtlichen Unternehmens postuliert.20 Das ist der zweite Punkt, in dem zu viel Geschlossenheit eher eine Schwäche darstellt. Er betrifft gerade auch die Entstehung und Datierung der ›offenen Zukunft‹. Noch zwei weitere Hinsichten sind zu nennen, in denen das in seiner Geschlossenheit so eindrückliche Koselleck’sche Modell etwas geöffnet werden sollte, um den tatsächlichen Ungleichzeitigkeiten und Überlagerungen in der Entstehung des modernen Geschichtsdenkens gerecht werden zu können. So ist stärker als üblich damit zu rechnen, dass die Geschichtsauffassung etwa eines Autors nicht eindeutig entweder alteuropäisch oder modern ist, sondern an beiden Idealtypen teilhat. So kann die Vorstellung, dass der Mensch für den Fortschritt wirken müsse und dazu auch in der Lage sei, durch massive Providenzannahmen abgesichert sein – so rechtfertigt Lessings Erziehung des Menschengeschlechts die Erwartung einer »immer bessern Zukunft« nicht bloß als Einsicht des menschlichen Verstandes, sondern letztlich durch den einsehbaren Plan Gottes.21 Im Einzelnen hat Koselleck solche Gemengelagen durchaus gesehen.22 Indem er sich vor allem auf das späte 18. Jahrhundert konzentrierte und wenige Jahrzehnte als die Scheidephase zwischen Alteuropa und Moderne behandelte, stellte er ein vielfältiges und langanhaltendes Sowohl-als-auch jedoch als ein einziges großes Vorher-Nachher dar. Schließlich

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heute von ›Geschichte‹ die Rede ist, so hat dieser Ausdruck einen Bedeutungsumfang und einen Bedeutungsgehalt, die erst im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts erreicht sind.« Ein wenig früher, nämlich bei Turgot, der in den frühen 1750er Jahren schrieb, setzt Johannes Rohbeck: Aufklärung und Geschichte. Über eine praktische Geschichtsphilosophie der Zukunft. Berlin 2010, 189 an; im Übrigen folgt er dem Koselleck’schen Modell. Vgl. Sawilla: »Geschichte«, 388 – 393. Vgl. Jan Marco Sawilla: Geschichte und Geschichten zwischen Providenz und Machbarkeit. Überlegungen zu Reinhart Kosellecks Semantik historischer Zeiten. In: Joas/Vogt (Hg.): Begriffene Geschichte, 387 – 422, hier 420. Vgl. Gotthold Ephraim Lessing: Werke. In Zus.arbeit mit Karl Eibl [u.a.] hg. von Herbert G. Göpfert. München 1979, 508. So konstatiert er mit Blick auf Lessings Erziehung, dass hier trotz des Postulats einer »offenen Zukunft« »immer ein Überschuß an christlichen Erwartungen« bleibe; »das religiöse Unterfutter scheint allenthalben durch«, vgl. Reinhart Koselleck: Zeitverkürzung und Beschleunigung. Eine Studie zur Säkularisierung [entstanden 1985]. In: Ders.: Zeitschichten. Studien zur Historik. Mit e. Beitrag von Hans-Georg Gadamer. Frankfurt a.M. 2003 (stw, 1656), 190 f.

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sei als vierte Gefahr die von Koselleck suggerierte hohe Konsonanz der verschiedenen Elemente genannt (Auseinandertreten von Erfahrungsraum und Erwartungshorizont, Kollektivsingular Geschichte, offene Zukunft usw.). Chronologisch realisiert sich diese Konsonanz nach Koselleck in der relativen Gleichzeitigkeit der entscheidenden Umstellungen eben in der zweiten Hälfte oder sogar im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts. Auch in diesem Punkt möchte ich hingegen für ein Modell plädieren, das mehr Ungleichzeitigkeiten toleriert und sogar nach ihnen fragt.

II. Die Öffnung der Zukunft um 1700 Im hier gegebenen Rahmen lässt sich nur ein Ansatz dafür schaffen. Ihn soll die Entstehung der ›offenen Zukunft‹ bieten. Die entscheidenden Schritte dahin sehe ich bereits um 1700 getan. Dargelegt werden im Folgenden fünf ›Schritte‹ auf dem Feld des ›Wissens‹, teils wissenschaftlich-philosophischer, teils handlungspraktischer Art. 1. Die Frage nach der Möglichkeit des Fortschritts als ›Theorie der Zukunft‹ Einiges Material, mit dem sich eine vorgezogene Datierung stützen lässt, hat bereits Koselleck zusammengetragen. Erste Indizien für »die langsam bewußt werdende Öffnung der Zukunft« sieht er darin, dass Autoren des 17. Jahrhunderts wie Bacon, Pascal und Fontenelle einen neuartigen Erkenntniszuwachs durch Vernunftgebrauch teils registrierten, teils sicher erwarteten – auf jeden Fall aber : dass sie ihn als Verselbständigung des Menschen feierten.23 Wie sich ergänzen lässt, tobte auf dem Feld der ästhetischen Theorie seit den 23 Reinhart Koselleck: Art. »Fortschritt«. In: GG 2, 351 – 423 (die Seiten 353 – 363 stammen von Christian Meier), hier 372 f. Ähnlich ders.: ›Fortschritt‹ und ›Niedergang‹ – Nachtrag zur Geschichte zweier Begriffe. In: Ders.: Begriffsgeschichten, 159 – 181, hier 167 – 170. In diesem 1980 zuerst gedruckten Text bildet »das Wagnis einer offenen Zukunft« ausnahmsweise sogar den ersten Faktor des Gesamtprozesses ›Vergeschichtlichung‹, vgl. Koselleck, ›Fortschritt‹ und ›Niedergang‹, 167: »Erst die wachsende Naturerkenntnis, bei der die Autorität der Alten durch autonomen Vernunftgebrauch verdrängt wurde, erschloß – zunächst noch sektoral – eine progressive Auslegung der Zukunft. Die Natur bleibe sich gleich, aber ihre Entdeckung werde methodisch vorangetrieben und damit ihre zunehmende Beherrschung. Daraus folgten weitergreifende innerweltliche Zielbestimmungen einer Daseinsverbesserung, die es erlaubten, die Lehre von den letzten Dingen durch das Wagnis einer offenen Zukunft zu verdrängen. Vergangenheit und Zukunft unterscheiden sich seitdem qualitativ voneinander, und insofern wird eine genuin geschichtliche Zeit entdeckt, die schließlich im Fortschritt auf ihren ersten Begriff gebracht worden ist.« Ausführlicher zur in Frankreich geführten Debatte: Jochen Schlobach: Zyklentheorie und Epochenmetaphorik. Studien zur bildlichen Sprache der Geschichtsreflexion in Frankreich von der Renaissance bis zur Frühaufklärung. München 1980 (Humanistische Bibliothek. R. 1, 7), 281 – 303.

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1680er Jahren sogar eine heftige Debatte darum, ob ein künstlerischer Fortschritt über die vorbildlichen Leistungen der Antike hinaus möglich sei. Diese querelle des anciens et des modernes darf modernetheoretisch nicht überschätzt werden, weil sie noch nicht das Ergebnis eines allgemeinen Bewusstseins erbrachte, dass man in einer neuen Epoche lebe, in der die Normen der Antike prinzipiell nicht mehr gelten.24 Diese Position formulierten hundert Jahre später erst Schiller und Friedrich Schlegel, nun durchaus repräsentativ für ihre Zeit.25 Doch reklamierten die modernes um Charles Perrault bereits eine Art ›offene Zukunft‹ für die Künste, indem sie die Leistungen der Antike nicht mehr als unüberschreitbare Grenze akzeptierten. Dabei stützten sie sich wesentlich auf das eben genannte Argument, dass die Neuzeit sich erheblich erweiterte Kenntnisse in den Wissenschaften und technischen Künsten verschafft habe und verschaffen werde.26 In Deutschland fand die Querelle zunächst wenig Widerhall; eine scharfe Parteinahme für eine Seite, seien es die alten oder die neueren Dichter, wurde meist abgelehnt.27 Die Dichter der eigenen Nation über Homer und Vergil zu stellen, fiel hierzulande weniger leicht als in Frankreich. Umso bemerkenswerter ist, dass die Thomasianer eher zu den modernes neigten, weil sie die Herrschaft des Aristotelismus noch über die Wissenschaften ihrer Zeit generell bestritten. Christian Thomasius (1655 – 1728) selbst mahnte mit Berufung auf die autoritätskritische Vernunft, nicht an alten Ansichten festzuhalten: »Mein lieber Freund. Die Zeiten ändern sich täglich.«28 Dass er die hohe Frequenz des Wandels (»täglich«) betont, kann als Indiz dafür verstanden werden, dass er die Zukunft als offen ansieht; dass er dies als Mahnung ausspricht, weist darauf, dass es sich damals um eine neue, noch nicht allgemein angenommene Perspektive handelt. Für Thomasius selbst gilt jedenfalls, dass er das, was »zukünfftig« bevorsteht, ausdrücklich nicht als »continuirung des gegenwärtigen« begreift.29 Dem Fortschritt der Wissenschaften und der menschlichen Naturbeherr24 Vgl. Hans Ulrich Gumbrecht: Art. »Modern, Modernität, Moderne«. In: GG 4 (1978), 93 – 131, hier 130. 25 Vgl. Gumbrecht: Art. »Modern, Modernität, Moderne«, 130 u. 107. Zur Konstellierung von französischer und deutscher Klassik vgl. Heinz Thoma: Das französische Kulturmodell um 1800 im Spiegel der Querelle des Anciens et des Modernes. In: Lothar Ehrlich u. Georg Schmidt (Hg.): Ereignis Weimar–Jena. Gesellschaft und Kultur um 1800 im internationalen Kontext. Köln [u.a.] 2008, 195 – 216. 26 Vgl. Gumbrecht: Art. »Modern, Modernität, Moderne«, 100. 27 Vgl. Peter K. Kapitza: Ein bürgerlicher Krieg in der gelehrten Welt. Zur Geschichte der Querelle des Anciens et des Modernes in Deutschland. München 1981. 28 Christian Thomasius: Von denen Mängeln der Aristotelischen Ethik [1688] In: Ders.: Kleine Teutsche Schriften. Vorw. von Werner Schneiders. Personen- und Sachreg. von Martin Pott. Hildesheim [u.a.] 1994 (Thomasius: Ausgewählte Werke, 22), 71 – 116, hier 87 f. Für seinen freundlichen Hinweis auf diese Stelle danke ich Dr. Frank Grunert, Halle. 29 Christian Thomasius: Ausübung der Sittenlehre [1696]. Vorw. von Werner Schneiders. Personen- und Sachreg. von Frauke Annegret Kurbacher. Hildesheim [u.a.] 1999 (Thomasius: Ausgewählte Werke, 11), 130.

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schung sah auch Leibniz keine Grenze gezogen.30 Darüber hinaus formulierte er Ansätze einer allgemeinen Philosophie des unablässigen Fortschreitens: »Felicitas postulat perpetuum ad novas voluptates perfectionesque progressum.«31 Dieses Fortschreiten ist nicht auf ein Ziel hin gedacht, das irgendwie erreichbar wäre, sondern geht gleichsam ins Offene. Die Vollkommenheit der Welt, die Leibniz konstatiert, bedeutet nicht Statik, sondern besteht darin, dass die Welt sich immer weiter vervollkommnet.32 Wie Koselleck in seinem berühmten Aufsatz über Vergangene Zukunft in der frühen Neuzeit – d. h. über die damalige Erschließung einer »neuen und neuartigen Zukunft« – vermerkt, ist Leibniz’ Philosophie allerdings ebenso durch den Entelechie-Gedanken gekennzeichnet, also durch die Annahme, »daß die ganze künftige Welt in der gegenwärtigen stecke und vollkommen vorgebildet sey«.33 Ein und derselbe Autor bietet demnach Belege sowohl für ein anfangsbetontes Weltmodell als auch für ein Modell, das die unbegrenzten Möglichkeiten der Zukunft herausstellt. Man könnte dies als Ambivalenz registrieren, mit der zu rechnen ist. Koselleck jedoch hat Leibniz in seiner Geschichte der Öffnung der Zukunft keinen Platz eingeräumt, und zwar obwohl er die zitierten vorwärtsweisenden Stellen in seinem Fortschritts-Artikel für die Geschichtlichen Grundbegriffe anführt.34

2. Die Prognostik der politischen Klugheit Nun darf man aus dem Wissenschaftsoptimismus einiger Höhenkamm-Autoren nicht ohne weiteres auf eine Öffnung des Zukunftshorizontes im allgemeinen gesellschaftlichen Bewusstsein schließen. Als Breitenindikator kann hingegen die spartenübergreifende Hochkonjunktur des ›politischen‹ Verhaltensideals um 1700 gelten. Gemeint ist die Fähigkeit, sich in ganz unterschiedlichen Kommunikations- und Interaktionssituationen zu behaupten, jeweils angepasst an die eigenen Zwecke sowie an die Adressaten.35 Als entscheidend gilt dabei, die Absichten der anderen Akteure zu antizipieren, die den eigenen Zwecken hinderlich oder beförderlich sein könnten, um das eigene Handeln daran anzupassen. Nicht um hoffnungsreiche Erwartungen an 30 Vgl. Gottfried Wilhelm Leibniz: Universale Gerechtigkeit als klug verteilte Liebe zu allen [1670 – 1671?]. In: Ders.: Frühe Schriften zum Naturrecht. Lateinisch–deutsch. Hg., mit einer Einl. und Anm. vers. sowie unter Mitw. von Hans Zimmermann übers. von Hubertus Busche. Hamburg 2003 (Philosophische Bibliothek, 543), 215 – 244, hier 215. 31 Ernst Cassirer : Leibniz’ System in seinen wissenschaftlichen Grundlagen. Marburg 1902, 444. 32 Vgl. Cassirer: Leibniz’ System, 443. 33 Gottfried Wilhelm Leibniz: Deutsche Schriften. Hg. von G[ottschalk] E. Guhrauer. Bd. 2. Reprogr. Nachdr. der Ausg. Berlin 1840. Hildesheim 1966, 48 – 55, hier 49. Vgl. Koselleck: Vergangene Zukunft, 31 f. 34 Koselleck: Art. »Fortschritt«. In: GG 2, 373 f. 35 Vgl. Karl-Heinz Gçttert: Kommunikationsideale. Untersuchungen zur europäischen Konversationstheorie. München 1988, 68 – 100.

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die Zukunft aller geht es hier, sondern um Praktiken ihrer persönlichen Bewältigung in ganz konkreten, aber noch unbekannten Situationen. Zur ›politischen‹ Klugheit gehört sowohl das analytisch scharfe Urteil über Vergangenes (als Erfahrungsgrundlage) wie auch das Sich- oder AnderenRaten in »zukünfftigen« Dingen.36 Letztlich geht es um Blicke in die (eigene) Zukunft – eine Zukunft, die es zwar als Substantiv noch nicht gibt und die auch noch nicht geschichtsphilosophisch vorausentworfen wird, die sich aber als offen darstellt im Sinne einer fundamentalen Unsicherheit. Denn die Wahrnehmung einer solchen »Unsicherheit der Welt«37 bildet den eigentlichen Antrieb dazu, prognostische Techniken einzuüben. (Woran lassen sich die Absichten der anderen erkennen, auch wenn sie sie zu verbergen versuchen? Welche Chancen werden sich mir bieten? usw.) Ziel ist eine strategische und taktische Kompetenz, die überlegen macht oder zumindest vor der Bedrohung durch konkurrierende Interessen schützt. Gewiss stellt die Prognostik nur einen Teil des ›politischen‹ Kompetenzprofils dar. Doch sind auch die gleichfalls geforderten Fähigkeiten, ganz unterschiedliche Situationen richtig einzuschätzen und sich jeweils angemessen zu verhalten, auf ›Zukunft‹ ausgerichtet. So mahnt Christian Weises Politischer Academicus von 1685 wiederholt, bereits jetzt, d. h. während des Studiums, an das »zukünfftige Glück« oder eine »zukünfftige Beförderung«, an eine mögliche »zukünfftige Recommendation« oder einen »zukünfftigen Patron«, mit dem man konfrontiert sein wird, zu denken.38 Mit Versuchen, in eine geöffnete Zukunft zu blicken, haben wir es bei solcher ›politischer‹ Vorausschau in genau dem Maße zu tun, in dem die Akteure nicht bloß ihre persönlichen Lebenschancen zu verbessern suchen – in einer prinzipiell abschätzbaren, weil stabilen Welt –, sondern die Ordnung der Welt insgesamt als in Bewegung gekommen erscheint. Letzteres gilt für die politische Prognostik keineswegs per se, wohl aber als sie sich um 1700 zu einer Verhaltenshilfe für jedermann verallgemeinert, wie im Folgenden skizziert werden soll. Ursprünglich waren die Kompetenzen des Politicus auf den in Machtkämpfe verstrickten Fürsten oder den in seiner Position stets bedrohten Höfling berechnet. Niccolý Machiavellis Il Principe (1532) und Baltasar Graci‚ns Or‚culo manual (1647) sind die enorm einflussreichen Hauptschriften 36 Christian Thomasius: Kurzer Entwurf der politischen Klugheit [1707]. Vorw. von Werner Schneiders. Personen- und Sachreg. von Kay Zenker. Hildesheim [u.a.] 2002 (Ausgewählte Werke, 16), 18 (im Orig. hervorgehoben). 37 Leander Scholz: Das Archiv der Klugheit. Strategien des Wissens um 1700. Tübingen 2002 (Communicatio, 30), 1. 38 Vgl. Christian Weise: Politischer Academicus, nebst dessen Väterlichen Testament / Darinnen gewiesen wird / Wie nicht allein ein zukünfftiger Politicus seine Zeit und Geld auf Universitäten anwenden / sondern auch sein Christenthum also beachten soll / daß Er auf dieser Welt ein gutes Gewissen behalten / im Tode aber der ewigen Seligkeit sich versichern könne. Amsterdam [recte wohl Leipzig] 1685, 11, 4 (neue Pag. des Väterlichen Testaments), 2, 19 u. 69 (zweite Pag.). Der Verweis auf das »zukünfftige Leben« (zweite Pag. 7) richtet sich dagegen aufs Jenseits.

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dieser Tradition. Dem Hofmann empfiehlt Harsdörffers Übersetzung von Eustache de Refuges Trait¦ de la cour (1616), er müsse »durch den Krystall deß Gegenwärtigen / in die zukünfftigen Begebenheiten / durchschauen; in dem nemlich der kluge Hofmann / auß andrer Beyspiele / seine Begegniß besorglich vermuthet / und behutsamlich vermeidet.«39 Für den Herrscher sei, so der Kardinal Richelieu in seinem für Ludwig XIII. verfassten Testament politique (verfasst 1634 – 1639, publiziert 1688), der Ausblick in die Zukunft noch wichtiger als die Beobachtung der Gegenwart: »il est plus important de consid¦rer l’avenir que le pr¦sent, & qu’il est des maux comme des ennemis d’un Estat, au devant desquels il vaut mieux s’avancer, que de se r¦server — les chasser apr¦s leur arriv¦e.«40 Um 1700 hingegen gilt ›jedermann‹ als potentieller Nutznießer des ›politischen‹ Wissens über die Möglichkeiten, die Zukunft zu antizipieren. Natürlich meint dieses ›jedermann‹ nicht sämtliche Bevölkerungsschichten, sondern ›nur‹ alle Handlungsmächtigen – man könnte sagen: alle, die irgendein Geschäft betreiben, was um 1700 ausdrücklich auch, aber keineswegs ausschließlich ökonomisch verstanden wurde.41 »Der ungemeine Nutzen« der politischen Klugheit soll Thomasius zufolge nicht nur seinen Studenten und akademischen Staatsdienern zugute kommen, sondern auch jenen, die »von der Kauffmannschafft / Hauswirthschafft u. d. g. Profession machen«, ebenso den »Medicos«, »die künfftigen Kranckheiten vorbauen wollen«, »ja auch dem Frauenzimmer / als welches die meisten Maximes mit denen Männern gemein hat / oder haben soll«.42 Auch der Gymnasialdirektor Weise schrieb nicht für die wirklich Mächtigen, sondern für junge Akademiker, die ihre Chance im zeitgenössisch sich erweiternden Staats- und Hofdienst suchten. Historisch basiert die Hochkonjunktur der ›privatpolitischen‹ Verhaltenslehre um 1700 wesentlich auf dem erhöhten Bedarf an fürstlichen oder ständischen Beamten und Räten, den der Ausbau und die Verrechtlichung der Verwaltung in der langen Wiederaufbauphase nach dem Dreißigjährigen Krieg mit sich brach-

39 Georg Philipp Harsdçrffer: Mr. Du Refuge Kluger Hofmann: Das ist / nachsinnige Vorstellung deß untadelichen Hoflebens […]. Frankfurt 1667, )(iiijr 40 Richelieu, Armand du Plessis, Cardinal Duc de: Testament politique. T. 1. Amsterdam 3 1688, 253. 41 Vgl. den Art. »Geld-Kunst«. In: Johann Georg Walch: Philosophisches Lexicon […]. Leipzig 1726, 1139 – 1155, hier 1148 – 1155 sowie Hans-Jìrgen Gabler: Machtinstrument statt Repräsentationsmittel: Rhetorik im Dienste der Privatpolitic. In: Rhetorik 1, 1980, 9 – 25, hier 20 – 25. 42 Thomasius: Kurzer Entwurf der politischen Klugheit, Vorrede, )(3r u. 55. Ähnlich Nicolaus Hieronymus Gundling: Ausführlicher und mit Illustren Exempeln aus der Historie und Staaten Notiz erläuterter Discovrs über […] Io. Franc. Bvddei […] Philosophiæ Practicæ Part. III. Die Politic […]. Frankfurt a.M./Leipzig 1733, 5. (Bei Gundlings ›Diskursen‹ handelt es sich um postum publizierte Mitschriften seiner ab 1703 in Halle gehaltenen Vorlesungen; die Authentizität der Texte ist umstritten, was ihre Dokumentqualität hinsichtlich typischer zeitgenössischer Einschätzungen aber nicht beeinträchtigt.)

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te.43 Auch die parallele Belebung der Wirtschaft ist als Faktor zu rechnen, der viel mehr Menschen als zuvor politische Verhaltenskompetenzen nahelegte. Als eine Station auf dem neuzeitlichen Weg zur ›offenen Zukunft‹ erörtert auch Koselleck die Prognostik des Politicus. Von der apokalyptischen Prophetie, die Zeit vernichte, hebt er sie positiv ab, denn »die Prognose produziert die Zeit, aus der heraus und in die hinein sie sich entwirft«.44 Doch macht er sogleich dagegen geltend, es habe sich »im Horizont fürstlich-souveräner Politik […] nichts prinzipiell Neues ergeben« können. Weil die politischen Ratgeber zum Lernen aus der erfahrenen Vergangenheit anzuleiten versuchen, damit man zukünftige brenzlige Situationen zu bestehen vermag, hätten sie, so Koselleck, »die Geschichte noch vergleichsweise statisch« begriffen.45 Letzterem ist zuzustimmen, nicht aber dem Schluss, dass die privatpolitisch zu kalkulierende Zukunft nicht offen gewesen sei.46 Diesen Schluss legt wohl die Systematik des Koselleck’schen Modells nahe, demzufolge das Auseinandertreten von Erfahrungsraum und Erwartungshorizont, der neue Geschichtsbegriff sowie die ›offene Zukunft‹ zusammengehören und gleichzeitig auftreten. Von den Quellen her lässt sich Kosellecks Einschätzung dagegen bloß aus der älteren Tradition der politischen Verhaltenslehren stützen, die noch ganz auf den Fürsten oder Höfling berechnet sind. Bezeichnenderweise ist es ein Machiavelli-Zitat, mit dem er seine Deutung belegt, dass die ›politische‹ Prognostik auf der Voraussetzung fuße, dass »es grundsätzlich so bleiben werde, wie es von jeher gewesen ist«.47 An das Jedermannskalkül, zu dem sich die politischen Verhaltenslehren um 1700 auswachsen, denkt Koselleck nicht. Vielmehr hat er eine Mächtepolitik vor Augen, in der die Zukunft schon deshalb »überschaubar« erschien, weil »die Zahl der politisch agierenden Kräfte auf die Zahl der Fürsten beschränkt blieb«.48 Wenn er fortsetzt: »Hinter jedem Souverän stand ein an Truppen- und Bevölkerungszahl, an Wirtschaftskraft und Geldflüssigkeit kameralistisch berechenbares Potential«, so ist das Movens der ›politischen‹ Verhaltenslehre – nämlich die Undurchschaubarkeit und also Unberechenbarkeit von Interaktionssituationen – geradezu negiert. Koselleck sieht nur die gesteigerte Kontrollabsicht absolutistischer Herrschaft, nicht aber das gegenläufig anwach43 Vgl. Christof Dipper: Deutsche Geschichte 1648 – 1789. Frankfurt a.M. 1991 (Moderne deutsche Geschichte, 3; es, 1253), 210 – 213. 44 Koselleck: Vergangene Zukunft, 29. Das folgende Zitat ebd., 32. 45 Koselleck: Vergangene Zukunft, S. 31. Ebenso die Argumentation bei Hçlscher: Die Erfindung der Zukunft, 41 f. 46 Vgl. Koselleck: Vergangene Zukunft, 33: »Ein Politiker konnte klüger oder auch gerissener werden, er mochte seine Techniken raffinieren, er konnte auch weiser oder vorsichtiger werden: aber die Geschichte trug ihn niemals in neue, unbekannte Regionen der Zukunft. […] Erst die Geschichtsphilosophie ist es, die die frühe Neuzeit von ihrer eigenen Vergangenheit ablöste und mit einer neuen Zukunft auch unsere Neuzeit eröffnete.« 47 Vgl. Koselleck: ›Erfahrungsraum‹ und ›Erwartungshorizont‹ – zwei historische Kategorien, 365. Vgl. auch unten Anm. 96. 48 Koselleck: Vergangene Zukunft, 31. Das folgende Zitat ebd.

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sende Wissen von der Unkontrollierbarkeit komplexer Interaktionssituationen. Daher verfehlt er die Spezifik der ›privatpolitischen‹ Verhaltenslehren um 1700: Dort trat ins gesellschaftliche Bewusstsein, dass theoretisch jeder in jedem anderen einen Konkurrenten hat, vor dem er sich zu hüten hat. Der ThomasiusSchüler Gundling forderte dementsprechend eine allgemeine »prudentia cavendi […], i. e. ne quis me decipiat. Diese muß ein jeder haben«.49 Dafür galt es, seine Vorsicht, d. h. Fähigkeit zur Voraussicht,50 zu schärfen. Freilich wurde jede Zukunftsberechnung durch die extreme Vervielfältigung der relevanten Akteure zugleich enorm erschwert, sodass es grundsätzlich fraglich erschien, ob sich aus vergangenen Erfahrungen (und Regeln) das zukünftig Nötige gewinnen lässt.51 Die daraus entstehende Unsicherheit der politischen Prognostik bildet ein Leitmotiv der bis Mitte des 18. Jahrhunderts zahlreichen Schriften zur Gemütererkenntnis.52 Wie bereits vermerkt: Die Zukunft öffnet sich um 1700, insofern sie als fundamental unsicher erscheint.53 Sie bietet dem Einzelnen wie der Gesellschaft nun die Chancen des ganz Neuen, weil sie nicht mehr in der »continuirung des gegenwärtigen« aufgeht, um noch einmal Thomasius zu zitieren. Zwischen Erfahrungsraum und Erwartungshorizont tut sich hier eine Lücke auf, ohne dass eine geschichtsphilosophisch ausformulierte Historisierung ihren Keil angesetzt hätte.

3. »de futuris judiciren«54 – Neue Gattungen der Geschichtsschreibung Sollte sich ein so fundamentaler Umbruch in der Zukunftsperspektive nicht auch in der Geschichtsschreibung der Zeit um 1700 ausdrücken? Unter christlichen Vorzeichen hatte die Geschichte keine offene Zukunft, denn ihre Beendigung durch das Jüngste Gericht war durch biblische Offenbarung ›be49 Gundling: Discovrs über Die Politic, 2. 50 Zu dieser älteren Wortbedeutung von ›Vorsicht‹ vgl. Grimm: Deutsches Wörterbuch, Bd. 12,2, 1568 – 1572. 51 Niklas Luhmann: Soziologie als Theorie sozialer Systeme. In: Ders.: Soziologische Aufklärung 1. Aufsätze zur Theorie sozialer Systeme. Opladen 61991, 113 – 136, hier 120 vermerkt, dass es die Vorstellung einer »nach der Zukunft hin offenen Zeit« nur in Gesellschaften mit hoher Komplexität gebe. 52 Vgl. Thomasius: Kurzer Entwurf der politischen Klugheit, 262; Daniel Fulda: Wissen und Nicht-Wissen von anderen Menschen. Das Problem der Gemütererkenntnis von Graci‚n bis Schiller. In: Hans Adler u.Rainer Godel (Hg.): Formen des Nichtwissens der Aufklärung. München 2010 (Laboratorium Aufklärung, 4), 483 – 504, hier 488 – 497. 53 Dass die Unsicherheit der Zukunft heute bzw. in der Moderne als Offenheit wahrgenommen wird, beschreibt Hçlscher : Die Entdeckung der Zukunft, 35; bis Mitte des 18. Jahrhunderts gilt das nach Hölscher aber nicht. 54 Nicolaus Hieronymus Gundling: Ausführlicher Discovrs über den ietzigen Zustand Der Europäischen Staaten. Darinnen Von derselben Ursprung / Wachsthum / Macht / Commercien / Reichthum und Schwäche, Regierungs-Form, Interesse, Prætensionen und Streitigkeiten, samt den zwischen ihren Abgesandten fürfallenden Ceremoniel Deutlich und gründlich gehandelt wird […]. Bd. 1 – 2. Frankfurt a.M./Leipzig 1733 – 34, Bd. 1, 3.

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kannt‹. Historiographisch unmittelbar relevant war die eschatologische Perspektive durch die Verknüpfung des Weltendes mit der Vier-Reiche-Lehre, denn man lebte ja (was in Deutschland lange nur die Calvinisten bestritten) noch im vierten, dem Römischen Reich und benutzte die vier Reiche der Danielischen Prophetie zur Primärgliederung der Weltgeschichte.55 Sobald allerdings das römisch-deutsche Reich nicht mehr als letzte Universalmonarchie galt (weil das römische Reich bereits in der Spätantike untergegangen und die translatio imperii nach Deutschland eine Chimäre sei), büßte die biblische WeltendeProphetie an Glaubwürdigkeit ein.56 Als Alternative, die sich schnell durchsetzte, trat im späten 17. Jahrhundert die Gliederung in Antike–Mittelalter–Neuzeit57 hervor. Zugleich gewann die von Matthias Flacius (1520 – 1575) eingeführte, zunächst nur chronologisch-additive Gliederung in saecula Gewicht, weil die Jahrhunderte nun als Einheiten eigenen Profils beschrieben und wahrgenommen wurden.58 Der Wechsel vom 17. zum 18. Jahrhundert wurde an manchen Höfen bereits festlich begangen.59 Mit der Reichs- und der Neueren Staaten-Historie traten zudem neue historiographische Gattungen in den Vordergrund. Sie wurden zu ganz anderen Zwecken betrieben, als um den eigenen Standort angesichts eines ohnehin feststehenden Ausgangs festzustellen, nämlich als Sicherung der historischen Grundlagen der aktuellen Rechtsverhältnisse und ihrer Auslegung in der juristischen und administrativen Praxis bzw. als Vermittlung ›außenpolitisch‹ relevanter Kenntnisse.60 Nützen könne die Historie den Deutschen, so der Jurist und Historiker Johann Peter Ludewig, bei »allen ihren Handlungen, in weltlichen und geistlichen Sachen, in Staats-Geschäfften und in Bürgerlichen 55 Vgl. Arno Seifert: Der Rückzug der biblischen Prophetie von der neueren Geschichte. Studien zur Geschichte der Reichstheologie des frühneuzeitlichen deutschen Protestantismus. Köln [u.a.] 1990 (Archiv für Kulturgeschichte. Beihefte, 31), 127 f. 56 Sicco Lehmann-Brauns: Zur Neuvermessung der Geschichte in der Aufklärung. Philosophische Retrodiktionsversuche nach der Entkräftung der ›historia sacra‹. In: Das achtzehnte Jahrhundert 30, 2006, 165 – 178, hier 168 leitet von hier, wohl etwas monokausal, die Freisetzung eines »offenen Zeithorizonts der Zukunft« ab. Allerdings siedelt er diese Freisetzung zeitlich erst »im Verlauf des 18. Jahrhunderts« an (169). Im vorliegenden Band vgl. den Beitrag von WolfFriedrich Sch•ufele. 57 Vgl. Christoph Cellarius: Historia vniversalis. Breviter ac perspicve exposita, in antiqvam, et medii aevi ac novam divisa, cvm notis perpetvis. Jena 1702 als Zusammenfassung der zuerst 1675, 1688 und 1696 erschienenen alten, mittleren und neueren Geschichte. 58 Vgl. Seifert: Der Rückzug der biblischen Prophetie von der neueren Geschichte, 134 – 136; Reinhart Koselleck: ›Neuzeit‹. Zur Semantik moderner Bewegungsbegriffe [Erstveröffentlichung 1977]. In: Ders.: Vergangene Zukunft, 300 – 348, hier 322. 59 Vgl. Markus Meumann: Von der Endzeit zum Säkulum. Zur Neuordnung von Zeithorizonten und Zukunftserwartungen ausgangs des 17. Jahrhunderts. In: Sylvia Heudecker u. a. (Hg.): Kulturelle Orientierung um 1700. Traditionen, Programme, konzeptionelle Vielfalt. Tübingen 2004 (Frühe Neuzeit, 93), 100 – 121, hier 115 – 121. 60 Ausführlich dazu Notker Hammerstein: Jus und Historie. Ein Beitrag zur Geschichte des historischen Denkens an deutschen Universitäten im späten 17. und im 18. Jahrhundert. Göttingen 1972; im historiographiegeschichtlichen Kontext Ulrich Muhlack: Geschichtswissenschaft im Humanismus und in der Aufklärung. München 1991, 113 – 115.

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Verrichtungen«.61 Betont wurde nun die handlungspraktische Brauchbarkeit historischer Kenntnisse, zum einen als Wissen, woher das Bestehende stammt und warum es so ist, zum anderen als Hilfe zur ›klugen Beurteilung‹ komplexer Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge im Interesse eigener Handlungschancen als zuvörderst benötigte und zugleich zu schulende Kompetenz – wie es sich für »einen rechten Politicum« gehörte.62 Das institutionelle Zentrum dieses neuen Typs Historiographie bildete nicht zufällig die 1694 neugegründete Universität Halle, wo Thomasius zur gleichen Zeit das ›politische‹ Verhaltensideal popularisierte. Die Grundprinzipien sind dieselben: Primat der Praxis anstelle abstrakter Lehren; Kausalanalyse einschließlich der Erkenntnis u. U. verborgener Absichten, um zu den wahren Antrieben von Handlungsprozessen vorzudringen; Orientierung für ›jedermann‹ in einer komplexen und unübersichtlichen Gegenwart und Zukunft. Wie Notker Hammerstein herausgestellt hat, diente die neue Reichs-Historie vor allem der publizistischen Jurisprudenz, denn die gemischte und daher besonders komplizierte Verfassung Deutschlands war nach Ansicht von Christian Thomasius (1655 – 1728), seinem Schüler Nicolaus Hieronymus Gundling (1661 – 1729), dessen Antipoden Ludewig (1668 – 1743) sowie den zahlreichen Schülern dieser Diskursbegründer nur von ihren historischen Ursprüngen her zu verstehen.63 Aufgefasst wurde die juristisch zu nutzende Geschichte indessen mit den Kategorien des Politicus. Der parallele Aufschwung der Neueren Staaten-Historie – die sich mit den anderen europäischen und einigen praxisrelevanten außereuropäischen Ländern beschäftigte – lässt sich mit reichsrechtlichen Erkenntnisinteressen ohnehin nicht hinreichend erklären. In seiner einschlägigen Vorlesung bezeichnet es Gundling vielmehr als »das Haupt-Werck in der Historie«, »de prudentia vel imprudentia zu judiziren« und dadurch die eigene Klugheit zu schulen: »man lernet allerley Leute und Menschen Gemüther erkennen«.64 Da die außerdeutsche 61 Johann Peter Ludewig: Vollständige Erläuterung der Güldenen Bulle, in welcher viele Dinge aus dem alten Teutschen Staat entdecket, verschiedene wichtige meynungen mit andern gründen besetzet, und eine ziemliche anzahl von bißhero unbekandten wahrheiten an das licht gegebem werden. Bd. 1 – 2. Frankfurt a.M. 1716 – 1719, Bd. 2, 1465 (Deutschlands Unheil aus Unwissenheit oder verkehrter Lehr-Art der Teutschen Historie. Anno 1712). 62 Vgl. Friedrich Gladov : Versuch Einer vollständigen und accuraten Reichs-Historie von Teutschland, Darinnen die Geschichte der Teutschen von den Zeiten der Römer an biß auf den Badischen Frieden, Nebst deutlicher Anzeigung der vornehmsten Veränderungen im Reiche und deren wahren Ursachen pragmatisch beschrieben, Als eine richtige Einleitung in ein gründliches Teutsches Staats-Recht vorgestellet. Leipzig, Halle 1717, 3 f (erste Paginierung), das Zitat 5; Nicolaus Hieronymus Gundling: Academischer Discours über des Freyherrn Samuel von Pufendorffs Einleitung zu der Historie Der vornehmsten Reiche und Staaten / so jetziger Zeit in Europa sich befinden. Aus richtigen und unverfälschten MSCtis ans Licht gestellet. Frankfurt a.M. 1737, 1 f. 63 Vgl. die übertrieben monokausalen Zuspitzungen bei Hammerstein: Jus und Historie, 251 u. 258. 64 Vgl. Gundling: Academischer Discours über Pufendorffs Einleitung zu der Historie Der vornehmsten Reiche und Staaten, 1 f. Die folgenden Zitate ebd.

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neuere Geschichte noch »viel mehr Politische Intriguen« enthalte als die Reichsgeschichte, sei sie zur Erlernung der »Politic« sogar vorzuziehen. Die nötige Analyse der Staatenbeziehungen beschreibt Gundling ganz nach dem Muster einer Analyse personaler Interaktionen. Das ›kluge‹ Aufdecken verborgener Absichten realisiert sich dabei als Erkenntnis der »arcana« des jeweiligen Staates. Allerdings begreift Gundling die Staats-arcana nicht personalistisch als »secreta«, d. h. als von den Akteuren geheim gehaltene Absichten. Die arcana seien vielmehr die vitalen und insofern offenbaren »Interessen« eines Staats oder Herrschers: »und heisset also Interesse nichts anders, als die Hoffnung des Nutzens, und die Furcht des Schadens, welchen man von denen Nachbahren zu gewarten hat.«65 Gundlings Politikmodell geht von komplexen Interaktionen aus, in der die Mitakteure nicht erst sekundär in Betracht kommen, sondern sich immer schon gegenseitig bedingen, sodass die eigene wie die allgemeine Lage fundamental unsicher erscheinen. Entscheidend für unsere Erörterung ist die explizite Zukunftsorientierung der neuen Geschichtsschreibung: Mit Geschichte muss sich nach Gundling vor allem beschäftigen, »wer conjecturiren will von futuris«:66 »Wir müssen zusammen nehmen das vergangene und gegenwärtige, und also können wir von dem zukünfftigen auch conjecturiren.« Bemerkenswert ist nicht allein die ausdrückliche Zukunftsorientierung, die die Geschichtsschreibung hier erfährt, sondern ebenso die zugleich gemachte Voraussetzung, dass das »zukünfftige« in einem Zusammenhang mit Vergangenheit und Gegenwart stehe, der substantiellen Wandel einschließt. In diesem Sinne betont Gundling hinsichtlich des »Interesses«, das die Staaten verfolgen: es »bleibt nicht stets einerley«.67 Wie eben zitiert, attestierte Koselleck der ›politischen‹ Prognostik, sie sei »noch vergleichsweise statisch«. Für die prognostisch ambitionierte, ›politisch‹ aufgefasste Geschichte kann man das nur gelten lassen, wenn man das »noch vergleichsweise« stark akzentuiert, nämlich gemessen am geschichtsphilosophisch befeuerten Denken des späten 18. Jahrhunderts. Gundling rechnet jedoch nicht mit »einerley« bleibenden Staatsinteressen und empfiehlt daher, »das gegenwärtige, vergangene und zukünfftige Interesse« jeweils sachlich zu unterscheiden. Das heißt nicht, dass die drei Zeitdimensionen bei ihm isoliert nebeneinander ständen. Ihren Zusammenhang bezeichnet er zwar nicht schon als ›Geschichte‹, wie es Chladenius in der Mitte des 18. Jahrhunderts tut, doch weist er dem Historiker die Aufgabe zu, sie gleichsam in einem logischen Schlussverfahren miteinander zu verbinden: »Alle conjecturen dependiren vom præsentio & præterito. Præteritum est major syllogismi; Præsens est minor ; Futurum est conclusio.«68 65 Gundling: Ausführlicher Discovrs über den ietzigen Zustand Der Europäischen Staaten, Bd. 1, 179. 66 Gundling: Ausführlicher Discovrs, 5, das folgende Zitat ebd., 8. 67 Ebd. Das folgende Zitat ebd. 68 Ebd.

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Festzuhalten ist: Seine Zukunftsorientierung verdankt dieses historiographische Programm vor allem dem ›politischen‹ Weltstrukturierungsmuster, das die Hallenser auf die Historie projizieren. Wenige Jahre zuvor hatte der Helmstedter Professor Johann Eisenhart (1643 – 1707) die Historia noch entschieden von der »futurarum rerum prædictio« abgesetzt.69 Gundling dagegen zieht explizit den Vergleich zwischen der auf einzelne Akteure bezogenen ›politischen‹ Prognostik und der Befähigung des Geschichtskenners zum Blick in die Zukunft: »Aus der Historie kömmt man zu der Kunst, die Themistocles gewust, qui de futuris callidissime conjecit. Denn gleichwie ich einem Menschen, den ich schon lang specialiter kenne, und dessen Zustand, Thun und Lassen, und gantzer Character mir bekannt ist, sein gantzes Prognosticon ins künfftige stellen kan, ob es ihm wohl oder übel ergehen werde; Also gehet es auch mit den Staaten und Reichen.«70

Was an diesem Zitat erstaunen kann, ist freilich auch die Zuversicht, mit der Gundling hier wie dort »ins künfftige« schauen zu können meint. Ist die Zukunft für ihn dann überhaupt ›offen‹, wenn dies heißen soll, dass sie weder als feststehend noch als im Wesentlichen einsehbar gilt? Gundling stellt die Zukunft durchaus als einsehbar, d. h. voraussagbar dar: »Von Prophetiis supernaturalibus« hält er nichts, aber wer Vergangenheit und Gegenwart kenne, könne »ein politischer Propheta seyn«.71 (Nebenbei okkupiert Gundling hier die Prophetie, die traditionell eine eschatologische Zukunftsperspektive begründete, für Blicke in eine menschengemachte, offene Zukunft.) »Gewiß trifft es [das konjektural Vorausgesagte, D.F.] nicht ein, aber doch meist.«72 Zu verstehen ist dieser prognostische Optimismus im Kontext des seinerzeitigen Pyrrhonismusstreits: Gundling stellt sich offensiv gegen einen allgemeinen Zweifel an der Zuverlässigkeit historischer Erkenntnis und damit gegen das »Unsicherheitsgefühl«, das sich um 1700 auch in dieser Hinsicht ausbreitete.73 Zuverlässig vermöge die 69 Johann Eisenhart: De Fide Historica Commentarius […]. Helmstedt 21702, 16 f. 70 Vgl. Gundling: Academischer Discours über Pufendorffs Einleitung zu der Historie Der vornehmsten Reiche und Staaten, 1. Die Fähigkeit, scharfsinnig auf die Zukunft zu schließen, wird dem athenischen Staatsmann Themistokles zunächst von Thukydides (Peloponnesischer Krieg I,138,3) und dann von Cornelius Nepos zugeschrieben (Themistocles 1,4). Gundling zitiert die Stelle des öfteren, vgl. Gundling: Ausführlicher Discovrs über den ietzigen Zustand Der Europäischen Staaten. Bd. 1, 3 und 9. 71 Gundling: Ausführlicher Discovrs über den ietzigen Zustand Der Europäischen Staaten, Bd. 1, 9. 72 Gundling: Ausführlicher Discovrs, 8; vgl. ebd., 179: »Dieses ist fructus historiæ & experientiæ, daß man conjecturiren kann, ex præsentibus & præteritis de futuris, welches einer, der einen guten Verstand hat und die Historie weiß, gar leicht thun kan.« 73 Vgl. Hammerstein: Jus und Historie, 230. Das Zitat bei Markus Vçlkel: »Pyrrhonismus historicus« und »fides historica«. Die Entwicklung der deutschen historischen Methodologie unter dem Gesichtspunkt der historischen Skepsis. Frankfurt a.M. 1987 (Europäische Hochschulschriften. Reihe 3: Geschichte und ihre Hilfswissenschaften, 313), 206; zur europäischen Dimension vgl. Carlo Borghero: Historischer Pyrrhonismus, Erudition und Kritik. In: Das achtzehnte Jahrhundert 31, 2007, 164 – 177.

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Historie zwar nicht absolut, aber relativ zu sein; sie biete zwar nicht die Gewissheit mathematischer Demonstrationen, wohl aber eine »cognitio verosimilium«.74 Die Rede vom Geschichtskundigen als legitimem Propheten bekräftigt den Anspruch auf wahrscheinliche Erkenntnis der Geschichte (einschließlich der Zukunft) in rhetorisch wohl etwas überschießender Weise, die nicht zuletzt auf die studentischen Adressaten zielt, die schließlich zum Besuch historischer Vorlesungen motiviert werden sollen. Doch macht sie die damalige Öffnung der Zukunft keineswegs wieder rückgängig. Überdies waren Gundlings Kollegen in der Regel deutlich vorsichtiger in ihren Erkenntnishoffnungen. So weist Martin Schmeitzel (1679 – 1747), zunächst Professor in Jena und später Gundlings Nachfolger in Halle, in der Vorrede seiner Reichs-Historie auf die »grosse Unvollkommenheit und vielfältige Ungewissheit« der ganzen Gattung, denn der Reichs-Historiker dürfe nicht allein bei den Kaisern verweilen, sondern müsse ebenso die vielen einzelnen Herrschaften des Reichs im Auge halten.75 »Occupiret er sich aber beyden Stücken ihr Recht zu thun, so geräth er freylich gleichsam in ein ungeheures Meer, und wird von der Vielheit und Größe so mancherley in einander lauffenden Begebenheiten, nicht anders als von tausenderley Wellen überschwemmet, und hin und her geworffen, daß er nicht weiß, wo er sich hin wenden und wie er sich erhalten solle, damit er nicht Schiffbruch seiner Arbeit leiden möge.«76

Schmeitzels Meeresvergleich schließt plastisch an jene Diagnose einer fundamentalen Unsicherheit aufgrund von Pluralität, Unüberschaubarkeit und Unkalkulierbarkeit an, die zuerst die politischen Verhaltenslehren stellten. In seiner Vorrede begegnen uns erneut zwei gegenläufige Konsequenzen des ›politischen‹ Impulses zur Situationsbeherrschung: zum einen das Verlangen nach gesteigerter Erkenntnis – Schmeitzel rät ja keineswegs vom Studium der Reichs-Historie ab –, zum anderen aber auch die Einsicht, dass deren Möglichkeiten begrenzt sind angesichts der Vielzahl der relevanten Akteure und der daraus folgenden Komplexität der zu bewältigenden Situationen.

74 Nicolaus Hieronymus Gundling: Vorbericht zu denen winter-lectionen MDCCX. In: Ders.: Sammlung kleiner Teutscher Schriften, und Anmerckungen, als ein Anhang zu denen Gundlingianis, mit einer Vorrede versehen von Herrn Gottlieb Stollen. Halle 1737, 94 – 142, hier 112. 75 Martin Schmei[t]zel: Abriß Zu einer Vollständigen Reichs-Historie, Darinnen überhaupt von der Reichs-Historie und andern vorläuffigen Materien gehandelt, So dann die Geschichte Derer Käyser und aller Fürstlichen Häuser samt Deroselben Genealogie vorgetragen, Auch was in Ansehen derer übrigen Stände, nicht weniger des Ivris Pvblici, Fevdalis und Religions-Wesen zu behalten ist, Denen Anfängern zum Besten, und Gebrauch Academischer Lectionen entworffen worden. Jena 1728, Vorrede)(2v. 76 Ebd., )(3r. In größeren Auszügen (u. a. mit dem hier Zitierten) liegt Schmeitzels Vorrede übrigens dem Zedler-Artikel »Teutsche Reichs-Historie« zugrunde, vgl. Grosses vollständiges Universal Lexicon Aller Wissenschafften und Künste. Bd. 1 – 54 u. 4 Suppl.bd. Halle/Leipzig 1731 – 54, Bd. 43, 117 – 128, hier 123.

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4. Zukunft als mit der Vergangenheit gleichgewichtiger Zeit-Raum Soweit das Programm der um 1700 entstehenden Reichs- sowie der parallel kultivierten Neueren Staaten-Historie. Historiographisch realisiert wurde es, soweit ich sehe, in keinem der zahlreichen einschlägigen Abrisse oder Kompendien, die in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts erschienen. Kausal- und interaktionsanalytisch verfahren diese Werke lediglich hier und da; von einer vollständigen Ursachenkette »cum omni connexione causarum«77 kann angesichts des überwiegend additiven Darstellungsverfahrens nicht die Rede sein. Diese Schwäche überwindet die deutsche Historiographie erst um 1800 durch Anleihen bei den Erzählverfahren der Literatur.78 Wie für Gundling bereits Hammerstein festgestellt hat, wird erst recht »niemals […] die Zukunft ernsthaft in d[]en [historischen] Ablauf verkettet«;79 die Zukunftsprognosen, die Gundling für möglich deklariert, stellt er selbst keineswegs. All dies spricht jedoch nicht gegen die epochale mentale Öffnung der Zukunft, die seit dem späten 17. Jahrhundert mit dem naturwissenschaftlich gestützten Fortschrittsbewusstsein verbunden ist, von den politischen Verhaltenslehren betrieben wird und sich in der Programmatik der neuen historiographischen Gattungen ausdrückt. Weit deutlicher als in den textlichen Darstellungen der Reichs- oder Neueren Staaten-Historie wird die von diesen neuen Gattungen getragene Öffnung der Zukunft in dem Frontispiz, das der 1717 erschienene Versuch einer vollständigen und accuraten Reichs-Historie von Friedrich Gladov enthält. Gladov hatte Ludewig und Gundling an der Universität Halle gehört und dozierte in den frühen 1710er Jahren selbst an der Friedriciana. Er zählt zur Schüler-Generation jener Begründer der Reichs-Historie, die beide zunächst nur Abrisse vorlegten, die sie in ihren Vorlesungen dann ausfüllten.80 Ausführliche Darstellungen erschienen zuerst in lateinischer Sprache, verfasst ebenfalls in Halle (von Jacob Carl Spener, dem Sohn Philipp Jacob Speners, von dem später noch kurz zu reden ist) sowie in Jena (von Burkhard Gotthelf Struve).81 Für die kurz danach veröffentlichte Reichs-Historie Gladovs konnte 77 Wie Nicolaus Hieronymus Gundling sie der Historie zumisst: Ausführlicher und vollständiger Discours über dessen Abriß einer rechten Reichs-Historie. Frankfurt a.M./Leipzig 1732, 3. 78 Vgl. Daniel Fulda: Wissenschaft aus Kunst. Die Entstehung der modernen deutschen Geschichtsschreibung 1760 – 1860. Berlin/New York 1996 (European Cultures, 7). 79 Hammerstein: Jus und Historie, 249. 80 Vgl. Nicolaus Hieronymus Gundling: Abriß Zu einer rechten Reichs-Historie. Halle 1707; Johann Peter Ludewig: Entwurff der Reichs-Historie. Wendisch-Halle 21710 [EA 1707]. Zur Zentralstellung der Friedericiana bei der Ausformung der Reichs-Historie vgl. Notker Hammerstein: Reichs-Historie. In: Hans Erich Bödeker [u.a.] (Hg.): Aufklärung und Geschichte. Studien zur deutschen Geschichtswissenschaft im 18. Jahrhundert. Göttingen 1986 (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte, 81), 82 – 104, hier 89 – 92. 81 Vgl. Burkhard Gotthelf Struve: Syntagma Historiæ Germanicæ A Prima Gentis Origine Ad Annum Vsque MDCCXVI. Ex Genvinis Historiarvm Docvmentis, Et Coævorum Scriptorvm

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der Verleger daher geltend machen, dass es sich um die erste ausführliche Darstellung in deutscher Sprache handele.82 Dieser Umstand kam dem Anspruch der neuen Geschichtsschreibung entgegen, ›jedermann‹ nützlich zu sein, und wurde noch im späten 18. Jahrhundert rühmend vermerkt. Dagegen fiel das Urteil über die Gründlichkeit und den Stil Gladovs kritisch – und zugunsten Speners – aus.83 Noch heftiger umstritten war die zwei Jahre nach Gladovs frühem Tod erschienene Reichs-Historie, weil dem Werk vorgeworfen wurde, es stütze sich wesentlich auf Nachschriften fremder Vorlesungen, u. a. von Simon Friedrich Hahn (1692 – 1729), einem akademischen Konkurrenten.84 In der Tat hat sich der viel und schnell publizierende Gladov ausgiebig bei anderen bedient, verschlimmert durch viele Flüchtigkeitsfehler und dreister, als es üblich war.85 Gladov plagiierte aber nicht einen bestimmten Autor bzw. dessen Vorlesung, wie Hahn es ihm vorwarf,86 sondern schöpfte aus einem durch viele Quellen gespeisten Konzept und Wissen von der Reichshistorie. Auffällig sind insbesondere die Übereinstimmungen mit Gundlings Reichshistorie-Vorlesung (die erst viel später publiziert wurde). Gladovs Ehrgeiz verdanken wir daher kein originelles, umso mehr aber ein repräsentatives Werk der neuen Geschichtsschreibung. Hohe Ansprüche hatte er schon früh erhoben: »Die Respubl. literaria soll nicht auff Authorität und einem blinden Glauben beruhen; Es ist kein göttliches noch menschliches Gesetze / welches uns verbietet die Historie zu perfectioniren.«87 Diesen an den Erkenntnisoptimismus

82 83 84

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87

Monvmentis Illvstratvm. Jena 1716; Jacob Carl Spener : Historia Germaniæ Vniversalis Et Pragmatica […]. Bd. 1 – 2. Leipzig/Halle 1716 – 1717. Vgl. die Vorrede des Verlegers Johann Christoph Francke (eines Cousins August Hermann Franckes) in Gladov : Versuch Einer vollständigen und accuraten Reichs-Historie, )(3v–)()(v. Vgl. Georg Wilhelm Zapf: Litteratur der alten und neuern Geschichte. Lemgo 1781, 346. Detailreich, wenngleich jeweils parteiisch dokumentiert ist der Plagiatsstreit in Hildebrand Heinrich Herbst: Abgenöthigte Critiqve, über die, so wohl andern, als auch fürnemlich dem Herrn Prof. Hahn in vielen Stücken abgeborgte Gladovische Reichs-Historie. Helmstedt 1718 sowie [Johann Christoph Francke]: Der gerettete Herr Friedr. Gladov. Darinnen Der ehrliche Nahme des seeligen Mannes Gegen des Helmstädtischen Prof. Histor. Herrn Simon Friedrich Hahns Ungegründete Beschuldigung eines unverantwortlichen Plagii Nochmahls vertheidiget, Die so genannte Abgenöthigte Critiqve Der Gladovischen Reichs-Historie Zulänglich beantwortet, Die Gerechtigkeit und Wahrheit des VIII. Art. des IV. Stücks Der vermischten Bibliothec Gründlich behauptet, Und endlich Die lautere Unmöglichkeit das erdichtete Plagium zu erweisen Deutlich gezeiget wird. Halle 1719. Vgl. die Nachweise bei Herbst: Abgenöthigte Critiqve, 52 – 58 und 70 – 80. Seine eigene Reichs-Historie publizierte der 1717 nach Helmstedt berufene Hahn einige Jahre später, vgl. Simon Friedrich Hahn: Vollständige Einleitung zu der Teutschen Staats- Reichsund Kayser-Historie und dem daraus fliessenden Jure publico. Bd. 1 – 4. Halle/Leipzig 1721 – 1742. Hahn behandelt nur die Zeit zwischen Karl dem Großen und dem Interregnum, also einen viel schmaleren Geschichtsabschnitt als Gladov. Vgl. [Friedrich] Gladov : Des Erbaulichen Zeit-Vertreibers Erste Ausflucht / welcher Von allerhand nützlichen und curiösen Sachen auf eine ergötzende / freye und geziemende Art raisonniret […] Bestehend in dreyen Unterredungen. Halle 1710, 38 f. Wie Gladov in seiner Dissertation vermerkt, übersetzt er diese Devisen aus den Parrhasiana des bibelkritischen

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der ›neuen Wissenschaft‹ ebenso wie an das Selbstvertrauen der modernes anschließenden Anspruch löste seine Reichs-Historie sicherlich nicht ein. Doch demonstriert sie, dass er um 1700 in Halle auch für die Historiographie erhoben wurde. Im Frontispiz seiner Reichs-Historie88 zeigt sich, dass der Zukunftshorizont dieser Geschichtsschreibung nicht auf die vergleichsweise geringe Antizipationsweite personaler Akteure beschränkt blieb, wie man aus dem von Gundling angestellten Vergleich des Geschichtskundigen mit Themistokles schließen könnte. Zwar ist es wesentlich die von den Klugheitslehren empfohlene ›Vorsicht‹, die den historiographischen Blick in die Zukunft lenkt. Doch öffnet sich dabei nichts Geringeres als eine ganze Zeitdimension, der zu dienen die Geschichtsschreibung nun als ihre Aufgabe begreift, eben die Zukunft (neben der ›pragmatisch‹, d. h. kausalanalytisch zu ›erzählenden‹ Vergangenheit). Zukunft zeigt sich hier als eben der »Zeitraum«, den Hölscher als entscheidend für ihren modernen Begriff ansetzt,89 und zwar in einem dank bildlicher Darstellung nicht nur metaphorischen Sinne. In den Blick kommen dadurch nicht bloß einzelne zukünftige Dinge (erwartete Ereignisse oder Zustände), sondern ein all dies umfassender Raum, in den »sich der Mensch von sich aus« hineinbewegt.90 Die Welt, in der die allegorische Historia-Figur Geschichte schreibt (in einen Folianten auf dem Rücken des dienstbaren Zeitgotts Chronos, der seine Sense niedergelegt hat), ist zweigeteilt: Der helle Teil rechts ist durch ein Grab, Ruinen und eine Pyramide als Vergangenheit kenntlich; der Ritter im Vordergrund verkörpert dabei wohl das Mittelalter, die Kaiserfigur im Hintergrund hingegen die Antike. Anders, als man erwarten mag, ist dieser Teil hell, denn er ist der Historie bekannt. Der linke Teil hingegen ist dunkel, weil die Verhältnisse dort noch unbekannt und unsicher sind, was zusätzlich durch die Bildmotive des Bachübergangs auf schmalem Steg und des Aufstiegs im Gebirge unterstrichen wird. Zeitlich sind die Gegenwart, markiert durch die —-lamode-Kleidung der Vordergrundsfigur, sowie die Zukunft gemeint, markiert durch eine Figur in historisch nicht zuzuordnender Kleidung sowie durch die Hintergrundsposition, analog zur Hintergrundsposition der weiter zurückliegenden antiken Vergangenheit auf der rechten Seite.91 Demnach vertreten

88 89 90 91

Philologen Jean Le Clerc, vgl. De Erroribus Historicorum Vulgaribus […] disputabunt M. Fridericus Gladov Cüstrinensis & Georgius Fürbringer Oschwitz-Baruthens. […] ad diem Aprilis MDCCXIV. Halle 1714, 21. Zu Le Clercs Position in der Geschichte der frühneuzeitlichen ars historica vgl. Anthony Grafton: What was History? The Art of History in Early Modern Europe. Cambridge [u.a.] 2006, 3 – 20. Ob das Frontispiz auf Ideen des früh verstorbenen Autors zurückgeht, muss offenbleiben. Wie zu zeigen ist, passt es jedenfalls sehr gut zur Geschichtsauffassung der Halleschen Reichshistoriker kurz nach 1700. Hçlscher : Die Erfindung der Zukunft, 19 u. 39. Hçlscher : Die Erfindung der Zukunft, 38. Die knappe und nicht ganz akkurate Deutung von Gladovs Frontispiz bei Marion Kintzinger:

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Abb. 1: Friedrich Gladov : Versuch einer vollständigen und accuraten Reichs-Historie (1717), Frontispiz

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die Einzelfiguren jeweils sehr große Zeiträume – ähnlich wie Gundling den Blick des Geschichtskundigen in die Zukunft der »Staaten und Reiche« mit der Prognose vergleicht, die der Politicus einzelnen Mitakteuren stellt. Die Figuren links handeln dabei genau so, wie die ›pragmatisch‹ auf Kausalanalyse und ›kluge‹ Beurteilung ausgerichtete Historie um 1700 ihren Nutzen definiert. Um es mit Polybios, dem damals sehr geschätzten Ahnherrn der historia pragmatica, zu sagen:92 Sie greifen auf die Erfahrungen der Vergangenheit zurück, um vorausschauend das Zukünftige beurteilen zu können, bald um auf der Hut zu sein (wie auf einem schmalen Steg, darf man mit Blick auf das Frontispiz ergänzen), bald um Anliegendes desto mutiger anzugehen (wie einen steilen Berg).93 Weiterhin bemerkenswert sind die gleichmäßige Aufteilung der Zeit in einen Teil, von dem die Historie zu berichten hat, und in einen anderen Teil, dem dieser Bericht nützen soll, sowie die spezifizierte Aufgabenbestimmung für die Historie in Gestalt der beiden schwebenden Genien. Der Genius rechts mit den Fanfaren verkündet der Nachwelt den Ruhm, den die Großen der Geschichte sich erworben haben: Er bläst seine Fanfare in Richtung Gegenwart und Zukunft. Der Genius links mit den Fackeln hingegen erhellt den gefährlichen Weg des Gipfelstürmers durch die Dunkelheit. Das Fackelträgermotiv nimmt, sei dies die bewusste Absicht der Bilderfindung gewesen oder nicht, ein Gundling’sches Postulat auf – »die Historie ist überall lux & oculus« – und macht deutlich, dass damit nichts Geringeres als die Zukunft erschlossen wird.94 Plakativer kann man den in existentieller Weise praktischen Nutzen der Historie – nämlich bei der Bewältigung der Gegenwart und gar ›Eroberung‹ der Zukunft – kaum demonstrieren. Das Bildmotiv der fanfareblasenden Genien oder Fama war auf Titelblät-

Chronos und Historia. Studien zur Titelblattikonographie historiographischer Werke vom 16. bis zum 18. Jahrhundert. Wiesbaden 1995 (Wolfenbütteler Forschungen, 60), 189 geht weder auf die ›politische‹ Grundierung des Nutzens, der von der Historie zu erwarten ist, noch auf die damit verbundene Öffnung zur Zukunft ein. 92 Vgl. Horst Mçller: Vernunft und Kritik. Deutsche Aufklärung im 17. und 18. Jahrhundert. Frankfurt a.M. 1986 (es, 1269), 159. In seiner Dissertation beruft sich Gladov an mindestens sieben Stellen auf Polybios, vgl. Gladov : De Erroribus Historicorum Vulgaribus, 4, 8, 9, 14, 19, 24; vgl. auch Gundling: Ausführlicher und vollständiger Discours über dessen Abriß einer rechten Reichs-Historie, 6. 93 Vgl. Karl-Ernst Petzold: Kyklos und Telos im Geschichtsdenken des Polybios. In: Ders.: Geschichtsdenken und Geschichtsschreibung. Kleine Schriften zur griechischen und römischen Geschichte. Stuttgart 1999 (Historia: Einzelschriften, 126), 48 – 85, hier 77 mit Bezug auf Polybios: Hist. XII, 25b 3. 94 Vgl. Gundling: Ausführlicher und vollständiger Discours über dessen Abriß einer rechten Reichs-Historie, 3. Auch bei Gundling beziehen sich die Licht- und die Augen-Metapher nicht auf die Erkenntnis der Vergangenheit, sondern auf den Nutzen von Vergangenheitserkenntnis für die eigene Orientierung. Von der Zukunft bzw. vom Zukünftigen ist an dieser Stelle aber nicht die Rede.

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tern der Historiographie sehr geläufig.95 Ebenfalls zwei schwebende Genien am oberen Bildrand zeigt der Titel einer 1650 in Amsterdam gedruckten Ausgabe von Jean Bodins Methodus ad facilem historiarum cognitionem, einer der prominentesten Geschichtsmethodologien der Frühen Neuzeit, auf die sich auch die Halleschen Historiker um 1700 gerne beriefen, hatte doch schon Bodin die Verbindung von Jus und Historie gefordert. Ikonographisch stehen Bodins Genien den Gladov’schen näher als alle 205 Titelillustrationen historiographischer Werke, die Marion Kintzinger in Wolfenbüttel gefunden hat. Jedoch haben bei Bodin beide Genien Fanfaren in den Händen; die Aussage ›die Historie erhellt die Zukunft‹ wird von dieser Bildkomposition nicht transportiert.96 Auch keines der (wenigen) Frontispize oder Titelbilder mit Fackeln bei Kintzinger ist in diese Richtung ausdeutbar.97 Ikonographisch bestätigt sich demnach erneut die Innovationsleistung des Gladov’schen Frontispizes. Es lässt bereits den zukunftsoptimistischen Satz Friedrich Nicolais assoziieren: »Die Geschichte trägt der Aufklärung die Fa95 Der umfangreiche Abbildungsteil bei Kintzinger: Chronos und Historia, bietet eine Fülle von Beispielen. 96 Der Vergleich mit den Historiken des Humanismus müsste ausführlicher durchgeführt werden, als dies hier möglich ist. »At humana historia […] nullum exitum habet«, schreibt bereits Jean Bodin: Methodus ad Facilem Historiarum Cognitionem. Amsterdam 1650 [EA 1566], 10. Begründet sei dies in der Wechselhaftigkeit des menschlichen Willens (»quæ semper sui dissimilis est«). Deshalb entstehe täglich Neues: »quotidie novæ leges, novi mores, nova instituta, novi ritus oboriuntur«. Einen optimistischen Blick in die Zukunft verbindet Bodin damit aber nicht. Gleich anschließend heißt es vielmehr: »atque omnino humanæ actiones novis semper erroribus implicantur« (10 f). Geläufig ist den Humanisten auch, dass sich mittels der Historie aus der Vergangenheit auf Zukünftiges schließen lasse, vgl. Antonio Riccoboni: De Historia Liber […]. In: Johann Wolf [Hg.]: Artis Historicae Penvs […]. Basel 1579, 59: »genus deliberativum historia indigere manifesto apparet, cum res futurae, circa quas illud versatur, ex praeteritarum similitudine gubernentur, et ex superiorum eventibus rerum futurarum imago colligitur.« Vorausgesetzt scheint hier allerdings, dass die Zukunft nichts wesentlich Neues bringt – so explizit bei Niccolý Machiavelli: Tutte Le Opere. Vol. 2: Discorsi Sopra la prima Deca di Tito Livio [1531]. s.l. 1680, 181: »E’ si conosce facilmente, per chi considera le cose presenti & l’ antiche, come in tutte le Citt— & in tutti i popoli sono quelli medesimi desiderij & quelli medesimi humori, & come vi furono sempre. In modo ch’ egli À facil cosa — chi essamina con diligenza le cose passate, provedere in ogni Republica le future, & farvi quelli rimedij che da gli antichi sono stati usati, o non ne trovando de gli usati, pensarne de’ nuovi, per la similitudine de gli accidenti.« (I, 39). 97 Vgl. Kintzinger : Chronos und Historia, Abb. 10, 88, 107, 137. Zweimal hat die Historia eine Fackel in der Hand (Abb. 10 u. 107), einmal wird sie von einer stehenden geflügelten Figur gehalten (Abb. 137), und nur in einem Fall schwebt Fama mit einer Fackel in der rechten und einer Posaune in der linken Hand (Abb. 88). Diese relative Nähe zur Gladov’schen Bilderfindung hat übrigens die inhaltliche Kehrseite, dass es sich um eine Ausgabe der Viri illustres von Cornelius Nepos handelt (Vitæ excellentium imperatorum […]. Ed. Friedrich Hildebrand. Leipzig 1671 und 1697), wo es über Themistokles heißt, dass er »de futuris callidissime conjiciebat« (28). Cornelius Nepos wird von Gladov wiederholt als Stilvorbild angeführt, vgl. Gladov : De Erroribus Historicorum Vulgaribus, 27 u. 47. Ob sich Gladov, sein Verleger oder der unbekannte Künstler des Reichs-Historie-Frontispizes von der Fama auf der Nepos-Ausgabe haben anregen lassen, muss offenbleiben. Die Bedeutung der Figur hätten sie dabei jedenfalls verändert, denn jene Fama verbreitet nicht Licht, sondern Rauch (»Fama Fumum diffundens«).

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Abb. 2: Jean Bodins Methodus ad facilem historiarum cognitionem (1650), Titelseite, Abb. nach dem Exemplar der ULB Halle, mit deren freundlicher Genehmigung.

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ckel vor.«98 Von einem ›aufklärerischen‹ Willen zur Umgestaltung der Welt kann bei Gladov gewiss noch keine Rede sein, doch drückt das Frontispiz ebenso wenig die Erwartung wesentlich gleichbleibender Verhältnisse aus. Der Aufstieg in weglosem Gebirge und die bemühte Historizität der Kostüme illustrieren vielmehr, dass der ›politisch‹ motivierte Blick in die Zukunft nicht bloß, wie es bei Hölscher heißt, »mit der Wiederholung gleicher Konstellationen rechnete«.99 Das erläuternde Distichon auf dem Spruchband vor den Stufen zum Thron der Historia bekräftigt, bei einem historiographischen Werk nicht unbedingt naheliegend, die Gleichrangigkeit der beiden zeitlichen Orientierungen zurück und voraus: »Et vivis praeferre facem et revocare sepultos / Historia ex tumulo, ceu tuba sacra potest.« (Die Historie weiß sowohl den Lebenden die Fackel vorauszutragen als auch die Toten aus dem Grab zu erwecken, wie die heilige Posaune [es tut].) Die ›heilige Posaune‹ ist natürlich die des Jüngsten Gerichts (Mt 24,31). Dass die Historie damit verglichen wird, bringt unmissverständlich zum Ausdruck, dass die traditionelle eschatologische Perspektive in der Geschichtsschreibung um 1700 von einer historischen abgelöst wird. »Die Weltgeschichte ist das Weltgericht« ist man versucht gleich mit Schiller einzustimmen.100 Als Unterschied zwischen der Historia von 1717 und Schiller muss freilich festgehalten werden, dass das Gericht noch nicht in den Geschichtsprozess selbst verlagert, sondern der Geschichtsschreibung bloß vergleichsweise überantwortet wird. Den Geschichtsbegriff, auf den es Koselleck letztlich ankommt – also die aus der Doppelseitigkeit von historia und res gestae heraus dynamische und in sich erfüllte Geschichte –, implizieren Gladovs Frontispiz und seine Subscriptio noch nicht. 5. Ansätze zu menschlicher Zukunftsgestaltung im pietistischen Millenarismus Die These, dass es in der Wahrnehmung der profanen Elite in Gesellschaft und Wissenschaft um 1700 eine offene Zukunft gab, soll nicht die gleichzeitige Präsenz des alten Zukunftsbegriffs bestreiten. Im Gegenteil: Beides hatte nebeneinander Geltung – d. h. vor allem in unterschiedlichen Gruppen mit den eben Genannten einerseits und »religiösen Enthusiasten« andererseits101

98 Friedrich Nicolai: Einige Bemerkungen über den Ursprung und die Geschichte der Rosenkreuzer und Freymaurer. Veranlaßt durch die sogenannte historisch-kritische Untersuchung des Herrn Hofraths Buhle über diesen Gegenstand. Berlin/Stettin 1806, 27. 99 Hçlscher: Die Entdeckung der Zukunft, 41. 100 Vgl. Friedrich Schiller : Resignation [1786]. In: Ders.: Werke und Briefe in zwölf Bänden. Bd. 1: Gedichte. Hg. von Georg Kurscheidt. Frankfurt a.M. 1992, 420 (V. 95). 101 Manfred Jakubowski-Tiessen: Eine alte Welt und ein neuer Himmel. Zeitgenössische Reflexionen zur Jahrhundertwende 1700. In: Ders. [u.a.] (Hg.): Endzeit- und Zukunftsvorstel-

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–, und beides sollte in diesem Nebeneinander zur Kenntnis genommen, statt auf die einsinnige historische Linie von Geltungsverlust des alten und Aufstieg des neuen Zukunftsbegriffs gebracht zu werden.102 Gemeint ist mit dem ›alten Zukunftsbegriff‹ eine so vorgestellte Zukunft, dass der Mensch sich nicht – wie im Gladov’schen Frontispiz – in sie hineinbewegt wie in einen offenen Raum. Vielmehr erwartet er sie, weil sie ihrerseits auf ihn zukommt.103 Vor allem die ›Zukunft‹ Christi, d. h. seine Ankunft oder Rückkehr (Mt 24,3), wurde frühneuzeitlich so verstanden. Im Vorfeld der Jahrhundertwende 1700 gab es im radikalen Pietismus sogar noch einmal eine Welle millenaristischer Erwartungen.104 Für den Gläubigen, der die Angaben der Bibel (Mt 24, Apk 19 – 21) über Christi ›Zukunft‹, dessen Tausendjähriges Reich und das Jüngste Gericht ernst nahm, gab es keine offene Zukunft, sondern eine sichere Enderwartung. Selbst aus der Unsicherheit darüber, wann Christus zurückkehren wird, erwuchs lange Zeit keine Zukunft, die als Gestaltungsraum des Menschen gesehen worden wäre. Doch zeigen sich um 1700 auch in diesem Kontext Tendenzen zu einer Öffnung der Zukunft: Obwohl die Spener’sche Formel von der »Hoffnung besserer Zeiten« auf das erwartete Tausendjährige Reich Christi auf Erden gemünzt ist,105 bedeutete sie praktisch, so Manfred Jakubowski-Tiessen, die Eröffnung eines »innerweltlichen Handlungs- und Zeitraums […], in dem die Gläubigen die Zukunft aktiv mitgestalten konnten«.106 Spener schöpfte, so Hans Schneider, aus dieser »Zukunftshoffnung Impulse für eine innerkirchliche Reform, die jene verheißene herrliche Zeit anbahnen sollte«.107 Mit Blick auf die von August Hermann Francke unternommene »Generalreform« hat Wolfgang Breul auf der Hallenser Tagung einen ähnlichen Zusammenhang von frommer Motivation und praktischer Welt- und das heißt Zukunftsgestaltung herausgearbeitet. In diesen und ähnlichen Fällen scheint sich der ›moderne‹ Impuls zu aktiver Zukunftsgestaltung ausgerechnet einer durchaus

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lungen vom 15. bis zum 20. Jahrhundert. Göttingen 1999 (Veröffentlichungen des Max-PlanckInstituts für Geschichte, 155), 165 – 186, hier 185. So beschreibt Koselleck die Früh- bzw. Vorgeschichte der ›offenen Zukunft‹, vgl. Vergangene Zukunft, 24 – 28, ebenso: ›Neuzeit‹, 315. Vgl. Hçlscher : Die Entdeckung der Zukunft, 38. Vgl. Hans Schneider: Die unerfüllte Zukunft. Apokalyptische Erwartungen im radikalen Pietismus. In: Jakubowski-Tiessen (Hg.): Jahrhundertwenden, 187 – 221. Als typischen Titel vgl., von Schneider in Anm. 42 angeführt, Heinrich Horch: Maranatha, Oder Zukunfft des HERRN zum Gericht / und seinem herrlichen Reiche / welches ist die Hochzeit des Lammes / In einem Send-Schreiben An Einen Bruder / Aus seiner Gefangenschafft bezeuget. S.l. [1700]. Ausführlich dazu vgl. Heike Krauter-Dierolf: Die Eschatologie Philipp Jakob Speners. Der Streit mit der lutherischen Orthodoxie um die »Hoffnung besserer Zeiten«. Tübingen 2005 (Beiträge zur historischen Theologie, 131). Vgl. Jakubowski-Tiessen: Eine alte Welt und ein neuer Himmel, 182 – 185, das Zitat 185. Schneider: Die unerfüllte Zukunft, 190. Schneider (197 f) verweist freilich auch auf radikale Chiliasten, deren Aktivismus aus den Ordnungen dieser Welt hinausführte.

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vormodernen chiliastischen Hoffnung zu verdanken.108 Die These Karl Löwiths – »Nur der jüdisch-christliche Futurismus konnte die Zukunft als den Horizont alles modernen Strebens und Denkens eröffnen«109 – bestätigt sich damit zwar nicht in ihrer Absolutsetzung der religiösen Zukunftshoffnung.110 Diese Überspitzung konterte Koselleck bekanntlich mit seiner Akzentverlagerung auf die spätaufklärerische Geschichtsphilosophie – was indessen eine neue Einseitigkeit bedeutete, die der vorliegende Beitrag auszubalancieren versucht. Doch lässt sich Löwiths große, nicht weniger als weltgeschichtlich ausgreifende These gerade anhand der Aktivisten des Pietismus auf den Boden der historisch überprüfbaren Tatsachen holen und als (zumindest) hier zutreffend ausweisen.

III. Aufklärung als Komplex von Antworten auf die geöffnete Zukunft In einem Satz zusammengefasst: Die offene Zukunft bestimmt den Wahrnehmungshorizont der schriftkulturell sich verständigenden Eliten nicht erst im späten 18. Jahrhundert, sondern bereits um 1700. Damals wurde in dieser Schicht der ›politische‹ Imperativ breit aufgenommen, man müsse sich taktisch geschickt und strategisch planend um seine gesellschaftliche Position bemühen. Er richtete die Aufmerksamkeit der Handlungsmächtigen auf die Gefahren wie Chancen der Zukunft. Zukunftsorientierung kennzeichnete nun nicht mehr nur ausnahmsweise die eine oder andere Berufsgruppe oder exponierte Positionen in der ständischen Hierarchie, sondern avancierte zu 108 Hinsichtlich der im frühen 18. Jahrhundert sich ausbreitenden Fortschrittserwartung betont Andreas Urs Sommer: Sinnstiftung durch Geschichte? Zur Entstehung spekulativ-universalistischer Geschichtsphilosophie zwischen Bayle und Kant. Basel 2006 (Schwabe Philosophica, 8), 433 ebenfalls das Zusammenwirken religiöser Hoffnungen auf Gott und des innerweltlichen Strebens der Menschen: »Mitunter wurde – wie etwa in pietistischen Kreisen – Gottes Erziehungshandeln an den Menschen durchaus als ein innerweltliches Fortschrittsgeschehen interpretiert, das wiederum Geschichte als synergistisches Kooperationsprojekt von Gott und Menschen erscheinen lässt.« 109 Karl Lçwith: Weltgeschichte und Heilsgeschehen. Die theologischen Voraussetzungen der Geschichtsphilosophie. Stuttgart [u.a.] 71979, 106. Als akademischer Lehrer in Heidelberg war Löwith für Koselleck bekanntlich einer der wichtigsten Anreger. 110 Wie stark Löwiths Kritik der Geschichtsphilosophie als ursprünglicher Impuls auf Koselleck wirkte, legt Hans Joas: Die Kontingenz der Säkularisierung. Überlegungen zum Problem der Säkularisierung im Werk Reinhart Kosellecks. In: Hans Joas/Peter Vogt (Hg.): Begriffene Geschichte, 319 – 338, hier 327 – 332 dar, ebenso Kosellecks vorschnell säkularistische Deutung der Geschichtsphilosophie. Als berechtigte, wenngleich ihrerseits etwas einseitige Kritik Löwiths vgl. auch Wilhelm Kamlah: Utopie, Eschatologie, Geschichtsteleologie. Kritische Untersuchungen zum Ursprung und zum futurischen Denken der Neuzeit. Mannheim [u.a.] 1969, 42 – 47. Kamlah leitet die moderne Öffnung der Zukunft von der ›neuen Wissenschaft‹ Descartes’, Bacons u. a. her (43).

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einer epocheprägenden Mentalität. Dass sich damit nichts Geringeres als das Geschichtsverständnis insgesamt wandelte, zeigt die Adaption der politischen Prognostik durch die Historiographie, die sich gleichzeitig neu auf praktische Nützlichkeit ausrichtete. Die offene, d. h. einerseits ungewisse, andererseits gestaltbare Zukunft hat hier nicht bloß die Ausdehnung von einigen Jahren, sondern stellt sich als ganze Zeitdimension analog zur Vergangenheit dar. Vergleichsweise zaghaft wirken mag diese Vordatierung der ›offenen Zukunft‹ im Vergleich mit der Generalrevision der »Koselleck-Hölscher thesis«, die Peter Burke in einem kürzlich erschienenen Aufsatz unternommen hat.111 Burke verweist auf eine ganze Reihe von »future-oriented practices«, die sich seit dem späten Mittelalter und besonders im 17. Jahrhundert ausbildeten. Vor allem im wirtschaftlichen Bereich entwickelte man schon vor den eben beschriebenen Zukunftsöffnungen regelhafte Strategien und Institutionen zu einem Umgang mit Zukunft, der gestaltend in deren Offenheit eingreifen sollte. Denn Handel und Banken investieren mit der Absicht, später Gewinne einzufahren, und greifen auf diese Weise planend in die Zukunft aus. Verträge, Versicherungen und Statistiken sollen dabei das Risiko beherrschbar, im besten Fall sogar kalkulierbar machen.112 Ein in die Zukunft ausgreifendes Planungsdenken sieht Burke darüber hinaus in fürstlichen Heiratsallianzen, der obrigkeitlichen Wirtschaftsförderung und der zunehmend strategisch kalkulierenden Kriegsführung, aber auch »at the family level«, etwa in der persönlichen Lebensplanung und der testamentarischen Vorsorge für Kinder und Enkel, hervortreten.113 Wenn sich all dies schon in der Frühen Neuzeit beobachten lässt: stellt die in der Geschichtsschreibung um 1700 rekonstruierbare neue Vorstellung einer ›offenen Zukunft‹ als Geschichtsdimension und Zeit-Raum dann nicht bloß eine Marginalie oder allenfalls das Tüpfelchen auf dem i dar? Burke selbst schwankt in der Frage, welches Gewicht seinen Beobachtungen beizumessen ist. Auf der einen Seite sieht er Kosellecks und Hölschers Begriff der ›offenen Zukunft‹ vor allem durch deren angenommene Gestaltbarkeit gekennzeichnet114 und findet diese bereits in den genannten Praktiken. Auf der anderen Seite stellt er fest, dass das von ihm Aufgewiesene zwar einen 111 Peter Burke: Foreword: The History of the Future, 1350 – 2000. In: Andrea Brady u. Emily Butterworth (Hg.): The Uses of the Future in Early Modern Europe. New York 2010, ix–xx, hier xi. Das folgende Zitat ebd., xii. 112 Vgl. Burke: Foreword., xvii. 113 Vgl. Burke: Foreword, xiv–xvi, das Zitat xiv. Als mit einer offenen und gestaltbaren Zukunft rechnenden Herrscher hat Christopher Clark jüngst den Großen Kurfürsten charakterisiert (und sich dabei explizit auf Koselleck bezogen), vgl. Clark: Leuchtturm des Wissens in einem verwüsteten Land. [Festrede anlässlich des 350. Jubiläums der Berliner Staatsbibliothek] In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 20. 07. 2011, N5: Wenn Friedrich Wilhelm I., um seine Stände niederzuringen, mit der necessitas des Staates argumentierte, während die Stände sich auf ihre alten Rechte beriefen, habe er sich »an der Zukunft« orientiert. Ob diese Herrschaftsauffassung tatsächlich eine mentale Öffnung der Zukunft indiziert oder ob hier eine borussophile Überinterpretation vorliegt, müsste eine ausführlichere Analyse klären. 114 Burke: Foreword: The History of the Future, xf.

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»pragmatic sense of a near future in a certain domain« bezeuge, nicht jedoch »a general vision of a more distant future, the question which most concerned Koselleck and Hölscher«.115 In der Tat übersteigt die offene Zukunft, die nach Koselleck die Moderne auszeichnet, das Vorausdenken im persönlichen Interesse, selbst wenn es sich in bestimmten Bereichen des gesellschaftlichen Handelns institutionalisiert etwa durch ein mathematisch gestütztes Versicherungswesen. Vielmehr ist die offene Zukunft mit der Vorstellung eines »Zeitraums« verbunden, in dem sich alles Zukünftige ereignen wird. Ob die ökonomischen, staatspolitischen oder militärischen Zukunftspraxen der Frühen Neuzeit derart welt- und geschichtsbildumbildend wirkten, wie ich dies für die historiographisch aufgenommene ›privatpolitische‹ Zukunftspraxis zu plausibilisieren versuchte, müsste näher untersucht werden.116 Zunächst einmal handelt es sich ›nur‹ um Versuche, Zukunft in bestimmten, z. B. monetären Hinsichten kalkulierbar zu machen, und zudem um das futurische Denken einer schmalen Schicht. Burke selbst schränkt ein: »Certain regions (notably North Italy and the Dutch Republic), and certain social groups (merchants, diplomats, bureaucrats) were more involved in these ways of thinking than others.«117 Solange es um die Orientierung auf eine Zukunft »more or less like the present« ging,118 kann man ohnehin nicht von einer Zukunftsöffnung im Koselleck’schen Sinne sprechen. Konsequenterweise reklamiert Burke am Ende seines Aufsatzes viel zurückhaltender als am Anfang, man müsse von einem allmählichen »widening« der Zukunft ausgehen. In diesem größeren Szenario stellt die im Gladov’schen Frontispiz ausgedrückte Auffassung der Zukunft als nicht-prädestinierten Zeitraums analog zur Vergangenheit (aber nicht als deren Kontinuierung) lediglich einen Schritt unter vielen dar – der für den Begriff der ›offenen Zukunft‹ jedoch besonders bedeutsam ist, weil er ihn erstmals vollständig realisiert. Die Frühdatierung der ›offenen Zukunft‹ um 1700 revidiert Kosellecks Bild des 18. Jahrhunderts zugleich in einem weiteren Punkt, an dem seine frühe Studie Kritik und Krise ihre Kritik an der »Wirklichkeitsfremd[heit]« der Aufklärung ansetzte.119 Schon dort geht es um jene Verwandlung der »Geschichte in einen Prozeß«, die mit der »Genese der Geschichtsphilosophie« »identisch« sei.120 Die aufklärerische Geschichtsphilosophie aber habe »utopischen Charakter«; sie negiere »die geschichtliche Faktizität« und ›verdränge‹ »das Politische«, das nicht einfach hinweggehen könne über das Gegebene 115 Burke: Foreword, xvii. 116 Dabei wären auch Überschneidungen etwa des merkantilen mit dem ›politischen‹ Verhaltensideal zu beachten, wie sie z. B. in Jacques Savarys Le parfait n¦gociant von 1675 (dt. 1676) zu beobachten sind. 117 Burke: Foreword, xvii. 118 Burke: Foreword, xv. Das folgende Zitat ebd., xvii. 119 Reinhart Koselleck: Kritik und Krise. Eine Studie zur Pathogenese der bürgerlichen Welt. Frankfurt a.M. 1973 [EA 1959] (stw, 36), 8. 120 Koselleck: Kritik und Krise, 6.

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und das Machbare.121 In Kosellecks späteren Arbeiten ist das Misstrauen gegenüber ›der Geschichte‹ nicht mehr so ausgeprägt, doch fanden wir in seiner Beurteilung der ›politischen‹ Prognostik dasselbe Schema am Werk: Weil er die Prognostik der (alteuropäischen) Politik zuordnet, kann sie in seinem Bild der Neuzeit nicht zur Herausbildung des neuen Geschichtsbegriffs (mit geöffneter Zukunft) beigetragen haben. Wenn hingegen die Befunde der vorliegenden Studie stimmen, so ist Kosellecks Prämisse schief: die Gegenüberstellung von ›utopistischer Geschichte‹ und ›realistischer Politik‹. Entstand die Zukunftsöffnung wesentlich aus der Privatpolitik um 1700, so kann sie nicht als wirklichkeitsfremder Utopismus verbucht werden. Einem möglichen Missverständnis ist indessen vorzubeugen: Mit diesen Revisionen soll Kosellecks Bild einer komplexen Veränderung der Zeitwahrnehmung, die sich im 18. Jahrhundert vollzieht, keineswegs in allen Punkten widersprochen werden. So können wir weiterhin davon ausgehen, dass das moderne Konzept der einheitlichen, sich selbst bewegenden Geschichte erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts entstand, auch wenn der Begriff Geschichte bzw. histoire um einiges älter ist und Kosellecks weitgehend auf deutsche Autoren gerichteter Blick durch stärkere Berücksichtigung vor allem der französischen Entwicklung erweitert werden sollte.122 Die Erwartung, dass es einen Geschichtsprozess gibt, in dem das Spätere ›organisch‹ aus dem Früheren hervorgeht, und dass dieser Prozess in eine bessere Zukunft führt, beherrschte nicht schon im frühen, sondern tatsächlich erst im späten 18. Jahrhundert die Intellektuellen. Was Koselleck als gleichzeitige Umstellungen beschrieb – die Öffnung der Zukunft und die ›Erfindung‹ der in eine bessere Zukunft führenden Geschichte –, ist demnach als Umstellung in zwei Phasen ebenso wie in zwei Stufen zu denken. In zwei zeitlich differenten Phasen, so wie erläutert. Und in zwei konzeptionell voneinander zu unterscheidenden Stufen, weil die Öffnung der Zukunft noch nichts darüber entschied, was von der Zukunft erwartet wurde, außer dass es etwas Neues sein wird. Die Öffnung der Zukunft warf gewissermaßen nur die Frage nach dem Unbekannten in derselben auf, determinierte aber nicht die Antworten. Von einigen Antworten, die gleich um 1700 gegeben wurden, war eben die Rede: die Erwartung einer beständigen und allseitigen Vervollkommnung (Leibniz), das Rechnen mit einer Unsicherheit, die sich durch erfahrungsbasierte Klugheit bewältigen lässt (die Theoretiker der Privatpolitik), oder auch ein engagiertes Hinarbeiten auf die Wiederkehr Christi (die Pietisten). Das historische Denken, das sich in der zweiten Hälfte des 121 Koselleck: Kritik und Krise, 9. 122 So profiliert Johannes Rohbeck: Technik – Kultur – Geschichte. Frankfurt a.M. 2000 (stw, 1462), 33 f Turgot als ersten Geschichtsphilosophen, der den »inneren Zusammenhang der Kulturen nach einem allgemeinen Entwicklungsmodell« denkt, »das von nun an den Namen Fortschritt trägt«. In Koselleck: Vergangene Zukunft, 353 wird Turgot einmal als Reformpolitiker unter Ludwig XVI. erwähnt (dazu ausführlich auch Koselleck: Kritik und Krise, 115 – 132), kommt als Geschichtsphilosoph aber nicht vor.

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18. Jahrhunderts ausbildete, stellt dann eine weitere Antwort auf dieselbe Frage dar. Diese relativ späte Antwort wurde die bei weitem wirkmächtigste, denn das historische Denken prägte fortan ganz unterschiedliche Lebens- und Diskursbereiche vom autobiographischen Selbstverständnis des ›gebildeten‹ westlichen Menschen über ästhetische Kategorien und die Geisteswissenschaften bis zur Legitimation von politischen Ordnungen. Mit der Unterscheidung von Frage und Antworten will ich darauf hinaus, was die Vorverlegung der ›offenen Zukunft‹ auf die Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert für unser Bild von der Epoche der Aufklärung erbringen könnte. Ganz kurz nur: Die Öffnung der Zukunft um 1700 bietet einen Ansatzpunkt, um den ›Aufbau‹ der Epoche Aufklärung neu zu verstehen, nämlich von deren Ausgangspunkt her, wobei ›Ausgangspunkt‹ sowohl zeitlich als auch konzeptionell oder problembezogen zu verstehen ist. Wenig strittig dürfte dabei die Betonung von ›Öffnung‹ sein, gehört die ›Öffnung der Welt (bilder)‹ doch zu den üblichen Metaphern zur Charakterisierung dieser Epoche: »Die Relativierung der Offenbarung führte zu einer vielgestaltigen und offenen Welt«, heißt es beispielsweise in der Aufklärungsgeschichte von Georg Schmidt.123 Speziell die Zukunftsöffnung um 1700 herauszuheben, impliziert zugleich allerdings die These, dass die Aufklärung nicht allein zu Öffnungen führte, sondern bereits mit einer solchen einsetzte. Die unterschiedlichen Antworten auf die von der Zukunftsöffnung aufgeworfene Frage nach dem zu erwartenden Neuen lassen sich wiederum als lauter Bausteine zum Epochenprofil der Aufklärung begreifen. Zu diesem Profil sind demnach Perfektionserwartungen, die Privatpolitik und der pietistische Aktivismus ebenso zu rechnen wie das historische Denken des späten 18. Jahrhunderts. Der Unterschied, der zwischen diesen verschiedenen ›Antworten‹ zu machen ist, betrifft weniger ihre gemeinsame Zugehörigkeit zur Epoche der Aufklärung als ihre unterschiedliche Reichweite darüber hinaus, denn das Denken im Modus der ›Geschichte‹ stellt bis heute ein Grundmuster der westlichen Kultur dar.124 Dem würde wohl auch Koselleck wieder zustimmen.

123 Georg Schmidt: Wandel durch Vernunft. Deutsche Geschichte im 18. Jahrhundert. München 2009, 394. Vgl. auch die Kapitelüberschrift bei Ulrich Im Hof: Das Jahrhundert der Aufklärung. München 1993, 194: »Die große Öffnung der Welt«. 124 Vgl. Daniel Fulda: Die Aktualität der Aufklärung als Aktualisierung der von ihr geprägten Kulturmuster. Das Beispiel des ›Historisierens‹. In: Olaf Breidbach u. Hartmut Rosa (Hg.): Laboratorium Aufklärung. München 2010 (Laboratorium Aufklärung, 1), 37 – 50.

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Geschichtsbewusstsein und Zukunftserwartung in der Erweckungsbewegung

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Manfred Jakubowski-Tiessen

Zeit- und Zukunftsdeutungen in Krisenzeiten in Pietismus und Erweckungsbewegung

Zur mentalen Bewältigung von Katastrophen und Krisen gehören stets die Versuche, das geschehene Desaster zu erklären und zu deuten; denn Kontingenzerfahrung und Kontingenzbewältigung bedürfen der Einbettung in sinnstiftende Erklärungen und Deutungen. In den Deutungs- und Erklärungsmustern für Katastrophen spiegeln sich wiederum jeweilige zeittypische Weltanschauungen und Weltsichten wider ; auch werden Gegenwarts- und Zukunftsdeutungen wahrnehmbar, die den Historikern aufschlussreiche Erkenntnisse über kulturelle und religiöse Vorstellungen und Denkformen vergangener Gesellschaften ermöglichen. Wie die historische Katastrophenforschung gezeigt hat, treten gerade in Krisen- und Katastrophenzeiten die Konturen religiöser Überzeugungen oftmals deutlicher hervor als in Zeiten politischer und gesellschaftlicher Stabilität.1 Tradierte religiöse Deutungsmuster haben sich in Krisen zu bewähren. Erst in der Krise zeigen sich zumeist gesellschaftliche Akzeptanz oder Infragestellung herkömmlicher Bewältigungskonzepte. Im Folgenden soll exemplarisch untersucht werden, wie zwei große Sturmflutkatastrophen des 18. und 19. Jahrhunderts jeweils von Anhängern des Pietismus und der Erweckungsbewegung wahrgenommen wurden und welche kulturellen und religiösen Deutungsmuster diesen Wahrnehmungen zugrunde lagen. Ferner ist zu fragen, welche Zeit- und Zukunftsdeutungen sich in den Erklärungsversuchen widerspiegeln.

I. Als am Weihnachtsabend des Jahres 1717 eine der verheerendsten Sturmfluten der Neuzeit über die deutschen und niederländischen Nordseeküstenregionen hereinbrach, in der weit über 12.000 Menschen ihr Leben einbüßten, mehrere Tausend Häuser zerstört wurden und eine unbeschreiblich große Anzahl an Tieren ertranken, fand diese Katastrophe schon bald eine große mediale Be-

1 FranÅois Walter: Katastrophen. Eine Kulturgeschichte vom 16. bis ins 20. Jahrhundert. Stuttgart 2010.

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achtung in Zeitungen und Schriften weit über die betroffenen Gebiete hinaus.2 Außerdem ist davon auszugehen, dass es wohl kaum eine Gemeinde an der Nordseeküste gegeben hat, in der diese Flutkatastrophe nicht in den Predigten im Gottesdienst thematisiert wurde.3 Im Verständnis der Pastoren bedurfte diese verheerende Sturmflut nicht nur der heilsgeschichtlichen Deutung, sondern sie bot ihnen zugleich auch den besten Stoff für Bußpredigten. Viele Pastoren der Küstenländer, die über die Sturmflut von 1717 predigten, waren selbst Augenzeugen dieser verheerenden Sturmflut gewesen. Aber auch fernab der Nordseeküste wurde die Weihnachtsflut als Thema für Predigten herangezogen. So geschah es etwa in Naumburg, wo der pietistische Pastor Johann Martin Schamelius4, nachdem er von der Flutkatastrophe gehört und gelesen hatte, diese in den Mittelpunkt zweier Predigten stellte, welche er bald darauf unter den Titeln »Wassers=Noth« und »Gottes wilder Wassermann« herausgab.5 Seinen Predigten fügte Schamelius einen Anhang mit zwölf Fragen und Antworten hinzu, welche vor allem über die Frage handeln, wie es mit der Seligkeit der in der Sturmflut Ertrunkenen bestellt sei.6 Wenn die Sturmflut als eine Strafe Gottes für das sündhafte Verhalten der Menschen gelten sollte, dann war es notwendig zu erklären, weshalb auch fromme Christen in den Fluten ertranken.7 Dass Schamelius die verheerende Flutkatastrophe überhaupt zum 2 Manfred Jakubowski-Tiessen: Sturmflut 1717. Die Bewältigung einer Naturkatastrophe in der Frühen Neuzeit. Göttingen 1992. 3 Eine ganze Reihe von Predigten liegt in gedruckter und ungedruckter Form vor. Siehe Jakubowski-Tiessen, Sturmflut 1717, 79 – 83. 4 Johann Martin Schamelius wurde 1668 in Meuselwitz (Sachsen-Gotha-Altenburg) geboren. Er studierte seit 1686 in Leipzig, wo er 1689 Magister wurde. Nach Hauslehrertätigkeiten in Augsburg, wo er ein Bekehrungserlebnis hatte, und Freyburg nahm er 1702 das Studium in Halle wieder auf. 1703 wurde er Diakon und 1708 Oberpfarrer an der St. Wenzelskirche zu Naumburg. Er starb am 27.3. 1742. Siehe ADB 30, 1890, 571; Andreas Lindner: Leben im Spannungsfeld von Orthodoxie, Pietismus und Frühaufklärung: Johann Martin Schamelius, Oberpfarrer in Naumburg. Gießen 1998. 5 Johann Martin Schamelius: Zwey Predigten über die Evangelische Historie vom Schifflein Christi in Matth. IIX. 23. Seq. Auff Veranlassung Der erschrecklichen und schier unerhörten Wasserfluth, dadurch am Heil. Christ=Feste Anno 1717. Ein grosser Strich der Landschafft am Teutschen Meere ist überschwemmet und verwüstet worden, deren erste von der Wassers=Noth Freytags den 14. Jan. 1718. bey der ordentlichen Erklärung des Evangelisten Matthäi in der Stadt=Kirche zu Wenceslai in Naumburg durch Gottes Gnade einfältiglich gehalten hat. Leipzig 1718; ders.: Gottes wilder Wassermann / welchen in der andern Predigt vom Schifflein Christi am 4. Sonntag nach Epiphanias, aus Matth. VIII.23. Anno 1718. in der Stadt=Kirche zu S. Wenceslai zu Naumburg, Auff Veranlassung der schrecklichen Wasserfluth an der Nord=See vorstellig machte. Leipzig 1718. Den Titel der zweiten Predigt wählte Schamelius in Anlehnung an eine 1623 erschienene Schrift von Martin Pezold mit dem Titel »Gottes weiser Mann«, in der dieser seine Gedanken über den übermäßig hohen Schnee des Jahres 1623 darlegte. 6 Der Titel des Anhangs lautet: »Beantwortung etlicher Ursachen / die da scheinen unserer Furcht und Beysorge entgegen zu seyn, welche wir uns oben von wegen der Seligkeit der Ertrunckenen in der neulichsten Sündfluth gemachet haben.« 7 Vgl. auch Christian Hochstetter: Die Grosse Wassers=Noth, Welche in der Heil. ChristNacht Anno 1717. Nach GOttes Heil. Rath sehr viele Länder betroffen, In einer den 20. Jan. 1718

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Thema zweier Predigten machte, geschah nicht zuletzt aus der eigenen bitteren Erfahrung zweier großer Brandkatastrophen heraus, die in Naumburg im Jahr 1714 und 1716 große Teile der Stadt verwüstet hatten und auf die er in seinen Predigten wiederholt Bezug nimmt.8 In seiner ersten Predigt vom 14. Januar 1718 ging es ihm jedoch auch darum, die Naumburger Brände, so fürchterlich diese auch waren, im Bezug zur Sturmflutkatastrophe zu relativieren: »Wahr ist’s, Feuer ist auch schrecklich, Feuer macht arme Leute; Dennoch aber kann man noch demselbigen entweichen, man kann steuren und wehren. Das gehet nicht an in solchen abscheulichen Wasser=Fluthen. Diese gehen durch, ihre Gewalt ist nicht zu hemmen, sie bringen den Menschen nicht nur um Haab und Gut, sondern noch dazu um Leib und Leben.«9 Der Diakon Georg Johann Hencke10 aus Glaucha bei Halle nahm ebenfalls die Flutkatastrophe vom Heiligen Abend des Jahres 1717 zum Anlass, um seiner Gemeinde eine eindringliche Bußpredigt zu halten.11 Hencke hatte in Halle Theologie studiert, war 1712 Haus- und Reiseprediger des sächsischen Generals Nikolaus Ludwig von Hallart geworden und 1715 als Diakon an die St. Georgenkirche in Glaucha berufen worden, wo er ganz im Sinne des Pietismus wirkte. Selbst in Württemberg wurde über die Weihnachtsflut gepredigt. Der Präzeptor des Klosters Bebenhausen, Christian Hochstetter (1672 – 1732)12, der später seinem Vater, dem einflussreichen württembergischen

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als am ersten Monathlichen Buß- und Bettag gehaltenen Predigt aus 90. Psalm V. 8. vorgestellet. Tübingen [1718], 26. Schamelius hatte beim Stadtbrand von 1716 sein Hab und Gut verloren. Lindner, Leben im Spannungsfeld, 195. Schamelius, Wassers=Noth, Bl. A (4). Vgl. Lindner, Leben im Spannungsfeld, 164. Lindner schreibt irrtümlich, dass die zweite Predigt von Schamelius mit dem Titel »Gottes wilder Wassermann« nicht mehr auffindbar sei. Georg Johann Hencke, 1681 in Uelzen geboren, studierte seit 1701 in Halle, wo er 1709 den Titel eines Magisters erwarb. 1712 wurde er Haus- und Reiseprediger des sächsischen Generals Nikolaus Ludwig von Hallart im Zuge des Nordischen Krieges. Seit 1715 wirkte er als Diakon an der St. Georgenkirche in Glaucha. Er starb am 12. 4. 1720 in Glaucha. Siehe Johann Anastasius Freylinghausen: Traur- und Trost-Predigt aus I. Cor, XV. 42,43 [Leichenpredigt für Georg Johann Hencke, gehalten am Sonntag Kantate 1720]; Erdmann Heinrich Graf Henckel: Die letzten Stunden einiger Der Evangelischen Lehre zugethanen … selig in dem HERRN Verstorbenen Personen / Von unterschiedenen Stande, Geschlecht und Alter. Theil 2. Halle 1721, 309 – 328; Johann Christoph Adelung (Hg.): Fortsetzung und Ergänzungen zu Christian Gottlieb Jöchers allgemeinem Gelehrten-Lexico… Bd. 2. Leipzig 1784, Sp. 1911. Georg Johann Hencke: Gott der HErr ; Als der rechte Richter, Bey Veranlassung der grossen Wasser=Fluth in Ost=Frießland wie auch An der Elbe und Weser: aus dem 29. Psalm, v. 10 in der St. Georgen=Kirche zu Glaucha an Halle Dom. II. P. Epiph. 1718 in einer Nachmittags=Predigt betrachtet. Halle 1718. Christian Hochstetter, 1672 in Böblingen geboren, wurde nach seinem Studium in Tübingen 1700 Diakon in Herrenberg, 1705 Klosterpräzeptor in Bebenhausen und von 1720 bis zu seinem Tod am 29. Dezember 1732 Abt und Generalsuperintendent in Bebenhausen. Siehe Christian Gottlieb Jçcher: Allgemeines Gelehrten-Lexikon. Bd. 2. Leipzig 1750, Sp. 1633 f; Gottfried M•lzer: Die Werke der württembergischen Pietisten des 17. und 18. Jahrhunderts. Berlin 1971, 174 f.

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Pietisten Johann Andreas Hochstetter, als Leiter der Klosterschule folgte, hielt am 20. Januar, dem ersten württembergischen Buß- und Bettag des Jahres 1718, eine Bußpredigt über »die grosse Wassers=Noth«, die er kurz darauf in den Druck gab.13 Um den Wahrheitsgehalt seiner Darlegungen zu unterstreichen, veröffentlichte er im Anhang zu seiner Predigt einige Briefe sowie Auszüge aus Zeitungen und Schriften über die Sturmflut, welche das schreckliche Ausmaß dieser Naturkatastrophe für jedermann anschaulich machen sollten. Für die drei pietistischen Pastoren stand außer Frage, dass die Sturmflut »etwas ausserordentliches / über die Kräfften der Natur steigendes und Göttliches« sein müsse.14 »Meynet also ja nicht, daß das von ohngefehr und blos aus natürlichen Ursachen geschehen sey, so und dergestalt, daß der Herr nichts dabey gethan hätte.« So urteilt Hencke und fährt fort: »Denn so reden die sichern und frechen Menschen, die schreiben es nur blos der Natur zu, und scheiden Gott so von derselben / als thäte er dabey nichts. Ihr armen Menschen, die ihr so dencket und redet! Wer ist es, der die Natur erhält, ordnet, regieret und dirigiret? Wer ist es, der den Winden gebietet, daß sie so und so durch einander gehen und wehen, und dadurch die Wasser erregen müssen?«15 Nach Erkenntnis der Naturkundigen habe Gott, wie Schamelius erläutert, das Meer in seinen »Abgründen« in ähnlicher Weise eingeschlossen, wie ein Dotter im Ei in der Schale bleiben müsse. Wenn nun aber mit dieser Flutkatastrophe die Naturgesetze gleichsam aufgehoben würden, so müsse es sich um ein schweres Strafgericht handeln, das Gott durch »die Elemente und Creaturen« ausführen lasse.16 Schamelius nennt die Flutkatastrophe in Anspielung auf die Sintflut »eine entsetzliche und schier gantz unerhörte Sündfluth«.17 Jedoch sei es nur eine partielle Sintflut; denn Gott habe durch die Erneuerung seines Gnadenbundes ein diluvium universale für immer ausgeschlossen (Gen 9,11).18 Die Sturmflutkatastrophe wird somit als ein Eingreifen Gottes in die Geschichte gedeutet, das notwendig geworden sei wegen der überhand nehmenden Sünden der Menschen. Wasserfluten seien als »Zorn=Fluthen des über die Sünden der Menschen ergrimmten gerechten Gottes« anzusehen19, urteilt Hochstetter und hebt in diesem Zusammenhang noch einmal die Dimension der göttlichen Strafe hervor: »Ja sollte man die ersäuffte viele 1000. Menschen=Cörper / die weggerissene Häuser / die zerstörte Länder vorstellen 13 Hochstetter, Die grosse Wassers=Noth. 14 Hochstetter, Die grosse Wassers=Noth, 10. 15 Hencke, Gott der Herr, 38. Ähnlich Hochstetter, Wassers=Noth, 8 f: Die Sturmflut sei auf Gottes Befehl geschehen, sie sei »Gottes Werck«. 16 Schamelius, Gottes wilder Wassermann, B. 17 Schamelius, Gottes wilder Wassermann, A (2). 18 So argumentiert ebenfalls Hochstetter, Wassers=Noth, 23. 19 Hochstetter, Wassers=Noth, 20; auch Schamelius, Gottes wilder Wassermann, A (6) deutet die Sturmfluten »als rechte Zornfluthen des gerechten Gottes«.

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können / so würde und sollte keine andere Uberschrifft dazu gemacht werden als diese: Das hat / o grosser Gott / dein Zorn gemacht / daß sie so vergangen / und dein Grimm / daß sie so plötzlich davon gemüßt.«20 Nach Schamelius ist die Katastrophe über die Nordseeküstenländer hereingebrochen, weil es »an den geistlichen Dämmen / an den allerstärcksten Vor=Mauren gläubiger Beter gemangelt« habe.21 Wer bisher »die ungeheuchelte Gottseligkeit« gesucht habe, sei der »Pietisterey« und »Ketzerey« bezichtigt worden.22 Die drei pietistischen Pastoren sahen als einziges Ziel der göttlichen Intervention, die Menschen zu Buße und Bekehrung zu führen. »Auf! Und eilet zur wahren Busse und Bekehrung, damit ihr eure arme Seelen erretten möget.«23 Zugleich wird jedoch betont, dass Gott solche Strafgerichte nur ungern vollziehe, sie seien für Gott ein opus alienum, ein fremdes Werk. Um es nicht bei diesem einseitigen Bild des strafenden Gottes zu belassen, fügte Hencke seiner gedruckten Predigt eine in drei Fortsetzungen erscheinende »Historische Nachricht von Merckwürdigen Exempeln der göttlichen Providence und Vorsehung in wunderbahrer Errettung der Menschen bey der Wasser=Fluth in der Christ=Nacht des vorigen 1717. Jahrs« hinzu. Mit diesen Exempeln wundersamer Errettungen, die ihm von pietistischen Pastoren in Ostfriesland übermittelt worden waren24, wollte er demonstrieren, dass Gottes eigentliches Werk, sein opus proprium, vielmehr darin bestünde, »Gnade und Barmhertzigkeit, Güte und Wohlthaten denen Menschen zu erzeigen«.25 Der in die Geschichte eingreifende Gott ist, so ist nach Hencke zu folgern, also immer der strafende und liebende zugleich. Wenn in einigen neueren Untersuchungen behauptet wird, dass im 17. und frühen 18. Jahrhundert als Gottesbild noch der »strafende Gott« vorgeherrscht habe, während dieses dann mit der Aufklärung in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts durch das Bild des »liebenden gütigen Vatergottes« abgelöst worden sei,26 so gilt es, diese Aussage zu relativieren. Auch im 17. und frühen 18. Jahrhundert und – wie gezeigt – selbst im größten Desaster wird 20 Hochstetter, Wassers=Noth, 22 f. Hochstetter übernimmt hier die Worte des Psalms 90, 8: »Das macht dein Zorn / daß wir so vergehen / und dein Grimm / daß wir so plötzlich dahin müssen.« 21 Schamelius, Gottes wilder Wassermann, B (2). 22 Schamelius, Gottes wilder Wassermann, B (3). 23 Hencke, Gott der Herr, 40; ähnlich Schamelius, Gottes wilder Wassermann, A (2). Hochstetter, Wassers=Noth, 15 betont, die Sturmflut sei »eine zur ernstlichen Busse ruffend= und treibende Noth«. 24 Zu den Verbindungen Halles nach Ostfriesland siehe K. Weiske: Die ostfriesische Weihnachtsflut vom Jahre 1717. Ein Beitrag zur Geschichte des Pietismus in Ostfriesland. In: Upstalsboom-Blätter für Ostfriesische Geschichte, Heimatschutz und Heimatkunde 13, 1927, 1 – 51. 25 Hencke, Gott der Herr, 24. 26 Rudolf Schlçgl: Glaube und Religion in der Säkularisierung. Religiosität in der katholischen Stadt: Köln, Aachen, Münster 1700 – 1840. München 1995, 198; Andreas Gestrich, Religion in der Hungerkrise 1816/17, in: Manfred Jakubowski-Tiessen/Hartmut Lehmann (Hg.): Um Himmels Willen. Religion in Katastrophenzeiten. Göttingen 2003, 275 – 293, hier 279.

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Gott nicht allein als strafender Gott wahrgenommen. Ein solches Gottesverständnis ist für die Zeit vor der Aufklärung zu einseitig, wie es inzwischen auch für frühneuzeitliche Chroniken des 17. Jahrhunderts nachgewiesen wurde.27 Gewiss, es verschieben sich mit der Aufklärung die Akzente, aber das ist ein längerfristiger, sukzessiv fortschreitender Prozess gewesen. Jedoch ist stets zu bedenken, dass die Aufklärung, wie Rudolf Vierhaus konstatiert hat, als intellektuelle Bewegung weder »unumstritten dominierend« gewesen ist, »noch ist sie zur praxisorientierten Welt- und Lebensanschauung der Mehrheit der Menschen geworden«.28 Wie Hencke so hebt auch der württembergische Pietist Christian Hochstetter hervor, dass Gott »sonsten die Liebe und Güte selbsten«29 sei, und auch er erwähnt »die wundersahme Vorsehung und Erbarmung Gottes mitten in diesen schwehren Zorn Gerichten«.30 Wundersame Errettungen und Wunder, die sich in Katastrophenzeiten ereignet haben sollen, wurden bis ins 18. Jahrhundert hinein als Zeichen der Hoffnung und als Ausdruck der fortbestehenden Barmherzigkeit Gottes inmitten eines göttlichen Strafgerichts gedeutet.31 In einem Bericht aus Ostfriesland an die Freunde in Halle wird dementsprechend hoffnungsvoll mitgeteilt, dass Gott am dritten Tag nach der Sturmflut »über dem gantzen Lande einen über alle Maßen schönen Regenbogen am Himmel sehen laßen, anzuzeigen, daß seine Barmherzigkeit noch kein Ende haben solle, wenn nur die Menschen sich wieder zu ihm wenden und ihre Hertzen nicht an so elende Güter hengen wollen«.32 Wenn Hencke zudem auf außergewöhnliche Zeichen in der Natur, auf so genannte Prodigien, hinweist, die bereits das bevorstehende Strafgericht angekündigt hätten, aber von den Menschen »in den Wind geschlagen und nicht geachtet worden« seien33, so greift er damit eine in der Frühen Neuzeit gängige Vorstellung auf, nach der Gott ein Land nicht ohne Vorwarnung strafe, sondern vorher versuche, die Menschen durch Warnungen zur Umkehr von ihrem sündhaften Leben zu bewegen.34 Diese Vorzeichen konnten sich nach 27 Benigna von Krusenstjern: »Gott der allmechtig, der das weter fiehren kan, wohin er will.« Gottesbild und Gottesverständnis in frühneuzeitlichen Chroniken. In: Wolfgang Behringer/ Hartmut Lehmann/Christian Pfister (Hg.): Die kulturellen Konsequenzen der »Kleinen Eiszeit« (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte, 212). Göttingen 2005, 179 – 194. 28 Rudolf Vierhaus: Die Erforschung des 18. Jh. Aktivitäten – Desiderate –Defizite. In: Das achtzehnte Jahrhundert 19, 1995, 158 – 162, hier 158. 29 Hochstetter, Wassers=Noth, 43. 30 Hochstetter, Wassers=Noth, 54. 31 Hartmut Lehmann: Miracles within Catastrophes: Some Examples from Early Modern Germany. In: Ders.: Transformationen der Religion in der Neuzeit. Beispiele aus der Geschichte des Protestantismus (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte, 230). Göttingen 2007, 72 – 84. 32 Zit. in Weiske, Die ostfriesische Weihnachtsflut, 35. 33 Hencke, Fortsetzung der Historischen Nachricht, 4 ff. 34 Schamelius, Gottes wilder Wassermann, D (6) erwähnt in einem Anhang zu seiner zweiten Predigt die Vision eines ostfriesischen Bauern aus Dornum, in welcher dieser die große

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damaliger Vorstellung sowohl in der Natur als auch im Bereich der Politik ereignen.35 Indem aber einer Katastrophe wie der Sturmflut von 1717 gewisse Prodigien zugeordnet wurden, schien die Deutung eines solchen Unglücks als göttliches Strafgericht in einer noch weitgehend religiös geprägten Gesellschaft ohne Frage eine gewisse Evidenz zu haben. Die Bußpredigten der Pietisten über die Sturmflut von 1717 standen in der Tradition der lutherisch-orthodoxen Bußpredigten. Die sittlichen Verfehlungen, der fehlende Glaube und die falsche Sicherheit wurden in den pietistischen Predigten ebenso heftig kritisiert, wie es bei lutherisch-orthodoxen Pastoren geschah. Neben der Buße wurde in den pietistischen Predigten jedoch in besonderem Maße die Notwendigkeit der Bekehrung hervorgehoben, so dass von einer Verselbständigung der Bekehrung im Rahmen des Bußverständnisses gesprochen werden kann. »Auf! Und eilet zur wahren Busse und Bekehrung, damit ihr eure arme Seelen erretten möget«, so lautet der eindringliche Appell Henckes an seine Gemeinde.36 Auch Hochstetter betont: Nur wenn man sich »von Hertzen bekehren« werde, könne man der Gnade Gottes gewiss sein.37 Es ist sicher kein Zufall, dass die aus küstenfernen Ländern überlieferten Predigten über die Sturmflut von 1717 ausschließlich von Pietisten verfasst wurden. Denn die Pietisten hatten sich ihre eigene Welt der Wahrnehmung geschaffen; es war eine religiös determinierte Konstruktion der Wirklichkeit, geprägt durch die pietistische Eschatologie, jene von Philipp Jakob Spener neu konzipierte »Hoffnung besserer Zeiten«.38 Diese Umorientierung von der lutherisch-orthodoxen Eschatologie zur chiliastischen »Hoffnung besserer Zeiten« führte dazu, dass die Pietisten nun in gespannter Erwartung besserer Zeiten lebten und deshalb die Zeichen der Zeit, die ihrer Ansicht nach auf den Anbruch des Reichs Christi auf Erden hindeuten könnten, aufs Genaueste beobachteten. Neben der Bekehrung der Juden und dem Fall des päpstlichen Rom waren noch ein letztes Wirken des Antichrists und schwere endzeitliche Gerichte über die Kirche zu erwarten. Bei der näheren Bestimmung und

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Sturmflut von 1717 vorausgesehen, aber in der ostfriesischen Bevölkerung keinen Glauben gefunden habe. Diese Geschichte wird Schamelius vermutlich übernommen haben aus der »Umständliche[n] Historische[n] Nachricht von der grossen Wasser=Fluth, welche in der Christnacht 1717. Jahrs die Herzogtümer Holstein / Schleßwig / Bremen; imgleichen Delmenhorst / Oldenburg, Jever, Kniephausen, Ost=Frießland, Groningen, Frießland, Holland und übrige vereinigte Provintzen betroffen«, Hamburg 1718, 115 ff. Benigna von Krusensstjern: Prodigienglaube und Dreißigjähriger Krieg. In: Anne-Charlott Trepp/Hartmut Lehmann (Hg.): Im Zeichen der Krise. Religiosität im Europa des 17. Jahrhunderts (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte, 152). Göttingen 1999, 53 – 78. Hencke, Gott der Herr, 40; ähnlich Schamelius, Gottes wilder Wassermann, A (2). Hochstetter, Wassers=Noth, 55. Heike Krauter-Dierolf: Die Eschatologie Philipp Jakob Speners. Der Streit mit der lutherischen Orthodoxie um die »Hoffnung besserer Zeiten«. Tübingen 2005.

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Deutung dieser Gerichte orientierte man sich an den biblisch vorgegebenen Endzeitzeichen. Der Württemberger Pietist Hochstetter zielte auf diese endzeitlichen Vorstellungen ab, wenn er hervorhebt, »unser liebster Heyland« habe »schon lange zuvor verkündiget, das es in den letzten (in unsern) Tagen daher gehen werde / wie zu den Zeiten Noae vor der Sünd=Fluth«39. In gleicher Weise weist Schamelius darauf hin, dass sie sich »in diese höchst-merckwürdige Zeichen unserer Zeit schicken« müssten.40 So verwundert es nicht, dass die Weihnachtsflut, die als göttliches Strafgericht durch unterschiedliche Prodigien angekündigt wurde, nun auch selbst in eschatologischer Deutung als Zeichen der Zeit wahrgenommen wurde, und zwar als Zeichen für das nahende Ende der bestehenden Weltordnung und eines beginnenden neuen Zeitalters. »Ihr Heuchler, des Himmels Gestalt könnet ihr urtheilen, könnet ihr denn nicht auch die Zeichen dieser Zeit urtheilen? Nun es sind die grossen Trübsalen, absonderlich die letztere Zornfluthen der Nord=See auch Zeichen dieser Zeit.«41 Allein die Tatsache, dass diese Sturmflut am Weihnachtstag geschah, wurde schon als ein bemerkenswertes Zeichen angesehen. »Gewißlich ist es ein hoch bedencklicher Umstand / daß diese grosse Wasser=Fluth in der heiligen Christ=Nacht / und am Fest der Menschwerdung oder Geburth Christi eingebrochen. Ach betrübte Sache! Da GOtt seine höchste Gnade dem Menschen geoffenbahrt / da zeigte Er seinen höchsten Zorn: an dem Tag / da JEsus kam die Sünder zu erretten / kam Er um die Sünder zu straffen als ein zorniger Richter!«42 Während Hencke in seiner Predigt nur kurz ein apokalyptisches Licht aufblitzen lässt (»O! wer weise wäre / und merckte die Zeichen der Zeit!«43), betont Schamelius an verschiedenen Stellen seiner Predigt die Notwendigkeit, die Zeichen der Zeit »in diesen grundbösen Läufften der letzten Welt«44 wahrzunehmen. »Ach seyd nicht müßige Zuschauer! Nehmt mit allem heil. Fleiß die Zeichen unserer Zeit wahr!«45 Im Unterschied zu Hencke und Schamelius entwickelt Hochstetter ein eschatologisches Szenario, bei welchem die Sturmflut in einen Zusammenhang mit anderen Überschwemmungen in Italien, Spanien, Frankreich, England und Holland gebracht wird. Fast kein Teil der Welt sei davon verschont geblieben, betont er, auch Württemberg nicht, sei doch der Neckar im Dezember 1718 bereits zum vierten Mal über die Ufer getreten.46 Hochstetter will damit zeigen, dass die Weihnachts-

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Hochstetter, Wassers=Noth, 45. Schamelius, Gottes wilder Wassermann, A (3). Schamelius, Gottes wilder Wassermann, B (6). Hochstetter, Wassers=Noth, 28 f. Hencke, Gott der Herr, 43. Schamelius, Gottes wilder Wassermann, B (3). Schamelius, Gottes wilder Wassermann, B (6). Hochstetter, Wassers=Noth, 34; vgl. 68: »Daß diese Fluth sehr general gewesen / bezeugen

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flut nicht ausschließlich als ein regionales Ereignis gesehen werden kann, vielmehr wird sie als Teil eines globalen endzeitlichen Geschehens begriffen; denn Wasserfluten seien »gewiße Zeichen des bald herannahenden Jüngsten=Tags«. Unter Hinweis auf Lk 21, 25 (»Es werden Zeichen geschehen […] und das Meer und die Wassermengen werden brausen«) hebt er besonders hervor, dass dergleichen »Brausen des Meers und der Wasser=Wogen in keiner Historie zu finden« sei.47 Die Sturmflut war in den Augen Hochstetters folglich ein exzeptionelles Ereignis und deshalb ein besonders deutliches Zeichen für den bevorstehenden Jüngsten Tag, der näher sei, »als es die ohngläubige Welt für wahr halten will«.48 Bemerkenswert ist, dass Hochstetter die Zeichen der Zeit nicht im Hinblick auf die pietistische »Hoffnung besserer Zeiten« deutet, welche nach pietistischer Eschatologie vor dem Jüngsten Tag erwartet werden, sondern es bei der lutherisch-orthodoxen Vorstellung vom Jüngsten Tag als Endpunkt der Geschichte belässt. Es hängt wohl mit der Gattung »Bußpredigt« zusammen, dass die Pietisten auf die pietistische Zukunftshoffnung nicht eingehen.49 Die Vorstellung vom nahen Jüngsten Tag oder zumindest die rhetorische Denkfigur des drohenden Gerichts scheint als verstärkendes Element der eindringlichen Mahnung zu Buße und Umkehr in der Bußpredigt Hochstetters, vielleicht in Bußpredigten überhaupt, wohl unverzichtbar gewesen zu sein.50 Dass das Hinausschieben der Naherwartung den Bußpredigten ihre Wirkung nehme und zu falscher Sicherheit führe, war schon Philipp Jakob Spener vorgeworfen worden. Diese Gefahr sah er jedoch nicht, da das Ende des Lebens, das jeden Menschen dem Endgericht zuführt, täglich zu befürchten sei.51 Obwohl Spener von der »Hoffnung besserer Zeiten« überzeugt war, hat er in Predigten, wohl auch um unnötige Irritationen zu vermeiden, an der lutherisch-orthodoxen Vorstellung vom Jüngsten Tag festgehalten. In einer Predigt am 2. Advent des Jahres 1698 äußerte er : »Daher noch so fern am liebsten mich an die gemeinste erklärung von dem jüngsten

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die Nach=Richten aus Ungarn / Franckreich / Dennemarck / Norwegen / Spanien und Engelland.« Hochstetter, Wassers=Noth, 56. Ebd. Auch Philipp Jakob Spener hat in der Zeit, in der er schon sein eschatologisches Konzept der »Hoffnung besserer Zeiten« vertrat, dieses in seinen Bußpredigten nicht erwähnt. KrauterDierolf, Die Eschatologie Philipp Jakob Speners, 13 Anm. 20. Michael Kannenberg: Verschleierte Uhrtafeln. Endzeiterwartungen im württembergischen Pietismus zwischen 1818 und 1848. Göttingen 2007, 150 f zeigt, dass »ein Element des chiliastischen Szenarios« in den Predigten des württembergischen Pietisten Ludwig Hofacker immer wieder auftaucht: die Erinnerung an ein drohendes Gericht. Dieses Gericht ist aber noch nicht das Jüngste Gericht, das erst am Ende aller Zeiten kommt, sondern ein Gericht schon zu Beginn des Tausendjährigen Reichs, am Tag der Wiederkunft Christi, an dem in einem Gericht die Bekehrten und Unbekehrten geschieden werden. Krauter-Dierolf, Die Eschatologie Philipp Jakob Speners, 44 f, 80. Philipp Jakob Spener: Briefe aus der Frankfurter Zeit 1666 – 1686. Bd. 2: 1675 – 1676, hg. von Johannes Wallmann. Tübingen 1996, 189.

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tag / dessen gewisser erfolg ohne das gnug in Gottes wort gegründet ist / halte«.52 In diesem Sinne äußerte sich auch Hochstetter, wenn er in seiner Predigt mahnt: »O wie schröcklich würde es seyn / wann euch der Jüngste=Tag / oder der Tag eures Todes unbereitet überfallen würde!«53 Wie den pietistischen Predigten zu entnehmen ist, war die Vorstellung des in die Geschichte eingreifenden Gottes zu Beginn des 18. Jahrhunderts noch keineswegs obsolet und wurde im Kontext der Deutungsmuster von Naturkatastrophen in keiner Weise in Frage gestellt. Darin unterscheiden sich die pietistischen Bußpredigten nicht von den Predigten lutherisch-orthodoxer Theologen jener Zeit. Bemerkenswert ist, dass die Pietisten in ihren Bußpredigten ihre Deutung der Flutkatastrophe stets mit der Vorstellung vom Jüngsten Gericht und nicht mit dem pietistischen Konzept der »Hoffnung besserer Zeiten« verknüpft haben. In einer gewissen Spannung dazu stehen die häufigen Hinweise auf die »Zeichen der Zeit«, ein im Pietismus oft verwendeter Terminus, der auf die baldige Wiederkehr Christi auf Erden hinweist. Zwar war die Deutung von Zeitzeichen Ende des 17. und zu Beginn des 18. Jahrhunderts nichts Neues, aber die Wahrnehmung dieser Zeitzeichen fand im Pietismus eine erneute Akzentuierung.54 Die Pietisten haben die Zeichen der Zeit als Fingerzeige Gottes mit besonders wachsamen Augen beobachtet. Weil aus ihrer Sicht die verheerende Sturmflut von 1717 als ein solches Zeichen zu lesen war, wurde diesem Naturereignis, dem nunmehr eine globale Dimension zukam, eine spezifische Bedeutung in einem eschatologischen Szenario zugemessen. Und noch etwas anderes wird in diesem Zusammenhang deutlich: Die vielfältigen, zum Teil sehr detaillierten Informationen über die Sturmflut von 1717 gelangten sehr rasch in die Hände der pietistischen Pastoren in Glaucha, Naumburg und Bebenhausen. Hieran zeigt sich, dass das seit Ende des 17. Jahrhunderts entstandene pietistische Netzwerk vorzügliche Voraussetzungen bot für die rasche Verbreitung von Nachrichten, die als Zeichen der Zeit gedeutet wurden und die somit die Hoffnung auf bessere Zeiten für die Kirche verstärkten.

II. Etwa hundert Jahre später, in der Nacht vom 3. auf den 4. Februar 1825, richtete wiederum eine große Sturmflut in den Küstenländern der Nordsee enorme Schäden an Deichen und Häusern an, wenn auch die Zahl der in den Fluten 52 Philipp Jakob Spener: Lauterkeit des Evangelischen Christenthums in auserlesenen Predigten. Halle 1706, 33. Wünschenswert wäre eine systematische Untersuchung, wie die Naherwartungsproblematik in pietistischen Bußpredigten gelöst wurde. 53 Hochstetter, Wassers=Noth, C (5). 54 Hartmut Lehmann: Horizonte pietistischer Lebenswelten. In: Ders., Protestantische Weltsichten. Transformationen seit dem 17. Jahrhundert. Göttingen 1998, 11 – 28, hier 15.

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Ertrunkenen bei weitem nicht das Ausmaß der Flutkatastrophe von 1717 erreichte.55 Anlässlich dieser große Teile der deutschen und niederländischen Küstenregionen betreffenden Naturkatastrophe hielt der Pastor Wilhelm Thieß in der Gemeinde Arnis, gelegen in der Nähe der Stadt Schleswig, am Sonntag, dem 27. Februar 1825, eine Predigt über Gen 7, 19 – 23 (Sintflutgeschichte).56 Der 1793 geborene Thieß, Sohn des radikalen rationalistischen Kieler Professors Johann Otto Thieß, gehörte zu jenen jungen Theologen, welche sich für eine Überwindung des aufklärerischen Rationalismus einsetzten und eine Glaubenserneuerung durch eine lebendige Frömmigkeit forderten.57 Als Claus Harms zum Reformationsjubiläum 1817 seiner Neuausgabe der 95 Thesen Luthers auch eigene 95 Thesen hinzufügte, die sich in scharfer Weise gegen den Rationalismus seiner Zeit wandten, und er dadurch eine heftige literarische Kontroverse entfachte58, stellte sich Thieß – damals noch Student – ganz entschieden auf die Seite Harms’.59 Schon bald nach Beendigung seines Theologiestudiums in Kiel wurde Thieß 1821 als Pastor nach Arnis berufen. In seinem neuen Amt fand der junge Pastor als wortgewaltiger Erweckungsprediger rasch eine über seine Gemeinde hinausgehende Aufmerksamkeit. Von weit her strömten die Besucher in seine Gottesdienste. Seine Predigten kursierten in Kreisen der Frommen schon in Abschriften, bevor er sie in Druck gab. Thieß unterhielt Kontakte zu unterschiedlichen erweckten Kreisen im Lande, bisher ist aber noch nicht geklärt, wie intensiv diese Beziehungen waren.60 In einer Rezension zu der ersten von Thieß herausgegebenen Predigtsammlung – fünf weitere sollten noch folgen – unter dem Titel »Evangelische Hauspostille«61 heißt es: »Ein […] noch junger, Mann tritt mit dieser Postille als Prediger auf, der sich offenbar Herrn Harms als Muster gewählt hat. Dieses 55 Über die Sturmflut von 1825 siehe vor allem Friedrich Arends: Gemählde der Sturmfluten vom 3. bis 5. Februar 1825. Bremen 1826; W. Mìller: Beschreibung der Sturmfluthen an den Ufern der Nordsee am 3. und 4. Februar 1825. Hannover 1825; Manfred Jakubowski-Tiessen: Kein Zurück zur Natur. Wie Romantik und Kommerz die Diskussion über die Halligwelt nach der Sturmflut 1825 prägten. In: Ders./Klaus-J. Lorenzen-Schmidt (Hg.): Dünger und Dynamit. Beiträge zur Umweltgeschichte Schleswig-Holsteins und Dänemarks (Studien zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte Schleswig-Holsteins, 31). Neumünster 1999, 121 – 136. 56 Wilhelm Thiess: Die Wassersnoth. Eine Predigt über 1. Mos. 7,19 bis 23, Schleswig 1825. Wieder abgedruckt in: Ders.: Christus, oder der Stab Sanft. Eine Sammlung christlicher Predigten. Altona 1834, 307 – 320. Zitiert wird im Folgenden nach der 3. Aufl., Schleswig 1855, 222 – 231. 57 Anders Pontoppidan Thyssen: Vækkelse, kirkefornyelse og nationalitetskamp I Sønderjylland 1815 – 1850 (Vækkelsernes Frembrud i Danmark i første Halvdel af det 19. ærhundrede, Bd. VII). æbenr” 1977, 36. 58 Hartmut Lehmann: Zwischen Erweckungsbewegung und Neoorthodoxie. Anmerkungen zur Beurteilung von Claus Harms. In: Ders.: Protestantische Weltsichten. Transformationen seit dem 17. Jahrhundert. Göttingen 1998, 69 – 80. 59 Wilhelm Thiess: Zu und für Harms 95 Thesen. Apologetischer Versuch. Schleswig 1818. 60 Pontoppidan Thyssen, Vækkelse, 111. 61 Wihelm Thiess: Evangelische Hauspostille. Das ist: Predigten auf alle Sonn= und Festtage des Kirchenjahres. Schleswig 1824.

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Nachbilden zeigt sich im Styl, wie in den dogmatischen Ansichten und selbst in der äusseren Form der Predigten.«62 Und ferner heißt es in dieser kritischen Rezension: »Das Herabwürdigen der Vernunft in Sachen der Religion, das Gefallen an veralteten und nichts weniger als kräftigen Liedern und das Haschen nach Sonderbarkeiten im Ausdrucke« seien »keineswegs empfehlende Eigenschaften dieses Buches«.63 In einer anderen Rezension zu derselben Predigtsammlung wird betont, dass ihm die Bibel weit höher als die Vernunft stehe, denn die Vernunft könne seiner Ansicht nach nicht zur gewissen Wahrheit führen. Thieß sei weit davon entfernt, »die Autorität der Bibel auf die Vernunft zu gründen«, er nehme vielmehr seine Vernunft gefangen unter dem Gehorsam des Glaubens.64 Dem jungen Theologen wird aber Talent und »ein warmes, religiöses Gefühl« attestiert.65 Etwa ein Jahr nach Erscheinen seiner ersten Predigtsammlung veröffentlichte Thieß die bereits erwähnte Predigt über die Sturmflut von 1825 unter dem Titel »Die Wassersnoth«.66 Mit dem Verkaufserlös dieser gedruckten Predigt unterstützte er die durch die Sturmflut besonders betroffenen, völlig verarmten Bewohner der Hallig Hooge.67 Ausgangspunkt seiner Predigt ist die Frage, wie diese gewaltige Sturmflut zu erklären und zu deuten ist. Dabei geht es ihm keineswegs um eine naturwissenschaftliche Erklärung dieser Naturkatastrophe, vielmehr nimmt er nur eine theologische Bewertung dieses extremen Naturereignisses vor. Wie die pietistischen Pastoren zu Beginn des 18. Jahrhunderts so geht auch Thieß vom tätigen Eingreifen Gottes in die Geschichte aus und deutet die Sturmflut als Strafgericht Gottes. »Wer sandte die furchtbaren Stürme? Wer erhob die schreckliche Fluth? Wer ließ das Meer aus seinem Gestade treten und die Flüsse aus ihren Ufern? Wer suchte in den verflossenen Monaten so viele Länder Europas heim, mit ungewöhnlichen Erscheinungen in der Natur, mit Sturm und Ueberschwemmung, mit Schiffbruch und Wassersnoth jeglicher Art? Wer hat laut zu den Völkern geredet? – Antwort: Nichts geschieht von Ungefähr! Alles kommt von Oben her! Es war Gott, welcher sprach, als Er sahe, daß der Menschen Bosheit groß war auf Erden, und alles Tichten und Trachten ihres Herzens nur böse war immerdar […] Ist denn die Wassersnoth, die unser Vaterland heimgesucht hat, zu betrachten als ein Strafgericht Gottes, verhängt wegen der 62 Allgemeines Repertorium der neuesten in- und ausländischen Literatur für 1824, hg. von Christian Daniel Beck. Bd. 3. Leipzig 1824, 287. 63 Allgemeines Repertorium der neuesten in- und ausländischen Literatur für 1824, 289. 64 Jahrbücher der Theologie und theologischer Nachrichten, hg. von F.H.E. Schwarz. Frankfurt 1826, 356. 65 Jahrbücher der Theologie und theologischer Nachrichten, 373. 66 Siehe Anm. 56. 67 Der Verkaufserlös in Höhe von 275 Mark wurde an den Privat-Hülfsverein in Husum gesandt. Dieser Verein war zur Unterstützung der durch die Sturmflut betroffenen Halligbewohner gegründet worden.

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Sünden des Landes? Ich rufe: Ja. Und wiederum: Ja! Die Weltgeschichte ist das Weltgericht.«68 Die Sünden, die Gott zu seiner Strafrute greifen ließen, waren nach Thieß der Unglaube, die »Anbetung des Mammon«, die »Hoffahrt« und die »Augenund Fleischeslust«. Diese von ihm angeführten Sünden finden sich in fast jedem Sündenregister, das einer Gemeinde zur Begründung von angeblichen Gottestrafen als Spiegel vorgehalten wurde. Thieß’ größte Sorge gilt jedoch einer weiteren, in seinen Augen noch weitaus schlimmeren Sünde: es ist die Vormacht der Vernunft, es ist der Rationalismus.69 In seiner Predigt beklagt er, dass »alles natürlich zugehen, und in den Kreis des Begreiflichen herniedergezogen werden« solle, aber, so frage er sich: »Wo war in jener Schreckensnacht, wo, o Vernunft, da deine Macht?«70 Wo Gott rede, so Thieß, solle die Vernunft schweigen. Thieß war sich bewusst, dass sein Deutungsmuster der Sturmflut nun zu Beginn des 19. Jahrhunderts keine allgemeine Akzeptanz mehr finden würde. Gegen die Vorstellung, Naturkatastrophen als Gottesstrafe zu verstehen, »sträubet sich mit Macht der Dünkel des natürlichen Menschen, sträubet sich mit Macht die Vernunft d e s Menschen, welcher, noch nicht wiedergeboren, des Lichts ermangelt, das in Christo Jesu, dem hellen Morgensterne, aufgegangen ist der weiland dunkeln, nun aber durch Ihn erleuchteten Seele. (1. Petr. 1, 19) Ich weiß es wohl, vom Fluch des Gesetzes, von Jehovah’s heiligem Zorne, von Strafgerichten Gottes, von Erbsünde und von Buße will man Nichts hören.«71 Thieß kritisiert, dass anlässlich solcher Strafgerichte nun dem Geist der Zeit entsprechend keine Buß- und Bettage mehr für das ganze Land ausgeschrieben würden, wie es »in früheren Zeiten« bei einem solchen Ereignis selbstverständlich gewesen wäre. Tatsächlich waren im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts eine Reihe an kirchlichen Feiertagen abgeschafft worden. Dazu zählten auch die Buß- und Bettage, die je nach Land nur noch an drei oder vier festen Terminen im Jahr, aber nicht mehr, wie vorher üblich, auch zu besonders tragischen Anlässen als außerordentliche Buß- und Bettage abgehalten wurden.72 Was Thieß letztlich beklagt, ist der zunehmende Rückzug des Religiösen aus dem öffentlichen Leben.73 68 Thiess, Die Wassersnoth, 226. 69 »Die Razionalisten sind Wölfe in Schafskleidern, oder, in einem andern Bilde, Korsaren, die unter christlicher Flagge segeln«, so äußerte sich Thieß in einer Rede »Ueber den falschen Protestantismus«. Siehe Wilhelm Thiess: Moses, oder der Stab Wehe. Eine Sammlung christlicher Predigten. Altona 21834, 4. 70 Thiess, Die Wassersnoth, 228. »Man denkt nicht an den Himmel, nur an die Erde, nicht an die Seele, nur an den Leib; nicht an den Tod, nur an das Leben; nicht an die himmlische Seligkeit, nur an das irdische Glück. Belial ist der Fürst dieser Welt. Unglaube ist der Baal, dem man nachhinkt auf allen Seiten. Mammon ist der Gott, dem man dienet. Hoffahrt, Augenlust und Fleischeslust sind die gewaltigen Götzen dieser Welt, vor deren Altären Tausende liegen.« 71 Ebd. 72 Manfred Jakubowski-Tiessen: Feiertagsreduktionen. Aufklärung und religiöse Praxis in Deutschland und Dänemark. In: Hans Erich Bödeker/Martin Gierl (Hg.): Jenseits der Diskurse.

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In seiner Predigt zeichnet Thieß zwar die Schrecken der Sturmflut in grellen Farben nach, aber er entfaltet kein endzeitliches Szenario. Er zitiert zwar die Verse Lk 21,25 f74, in denen auf die Zeichen hingewiesen wird, welche vor dem Kommen des Menschensohns geschehen werden, aber er führt diese Textstelle nur an, um die Gemeinde zur rechtzeitigen Buße und Bekehrung zu ermahnen. Er appelliert an seine Zuhörer, die Bekehrung nicht zu verschieben, »bis an euch in Erfüllung gehen jene schauerlichen Worte«.75 Seine eschatologischen Erwartungen sind in dieser Predigt auf das Jüngste Gericht ausgerichtet.76 »Das jüngste Gericht ist schrecklich in seinen Vorboten und zwar wegen der demselben vorhergehenden Naturerscheinungen, wegen des Auftretens des Antichrists und wegen des Verhaltens der Menschen zu jener Zeit.«77 Thieß enthält sich jedoch jeder weiteren eschatologischen Interpretation und näheren endzeitlichen Bestimmung dieses Geschehens.78 Seine einzige Intention ist es, mit Hinweis auf das Jüngste Gericht seine Zuhörer zur unverzüglichen Bekehrung zu ermuntern. »Heut’ lebst du, Heute wolle dich bekehren. Wer weiß, ob’s morgen möglich ist.«79 Dass die Vorstellung eines strafenden, in die Geschichte eingreifenden Gottes zu Beginn des 19. Jahrhunderts keineswegs eine unumstrittene, aber auch keine völlig marginale Auffassung war, zeigt eine literarische Auseinandersetzung über die Ursachen der Sturmflut von 1825 in den Niederlanden.80 Ausgangspunkt dieser Kontroverse war eine Schrift mit dem Titel

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Aufklärungspraxis und Institutionenwelt in europäisch komparativer Perspektive (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte, 224). Göttingen 2007, 395 – 415; Jens Toftgaard Jensen: Sekularisering af tiden? – Den danske Helligdagsreduktion 1770. In: Den jyske Historiker 105, 2004, 73 – 93. Vgl. Volker Seresse: Zur Entwicklung der Feiertage im Herzogtum Lauenburg in der Frühen Neuzeit. In: Zeitschrift der Gesellschaft für SchleswigHolsteinische Geschichte 122, 1997, 348 – 389, bes. 358 ff. Vgl. Manfred Jakubowski-Tiessen (Hg.): Religion zwischen Kunst und Politik. Aspekte der Säkularisierung im 19. Jahrhundert. Göttingen 2004. »Und es werden Zeichen geschehen an Sonne und Mond und Sternen; und auf Erden wird den Leuten bange sein, und sie werden zagen, und das Meer und die Wassermengen werden brausen, und Menschen werden verschmachten vor Furcht und vor Warten der Dinge, die kommen sollen auf Erden; denn auch der Himmel Kräfte werden sich bewegen.« Thiess, Die Wassersnoth, 229. Vgl. auch die Predigt über das Jüngste Gericht in: Thiess, Moses, oder der Stab Wehe, 330 – 342. Thiess, Moses, oder der Stab Wehe, 333. »Etwas Näheres und Bestimmteres angeben zu wollen über diese Zeichen und Wunder, über diese furchtbaren Naturerscheinungen und Umwälzungen jeglicher Art, würde Vermessenheit seyn, und wir würden hinüberstreifen in das bodenlose Gebiet der Schwärmerei, indem uns die heilige Schrift nichts Näheres angiebt über diese Vorboten des jüngsten Gerichtes.« Thiess, Moses, oder der Stab Wehe, 334. Thiess, Die Wassersnoth, 229. Über diese Kontroverse siehe M. Kagchelland/R. Vanderstraeten: De watersnood van 1825: Gods roede over Nederland? Een cultuurhistorische studie van A. S. Thelwalls Christelijke opwekking. In: Tijdschrift voor Sociale Geschiedenis 27, 2001, Nr. 2, 201 – 226; siehe auch A. Kagchelland/M. Kagchelland: Van Dompers en Verlichten. Een onderzoek naa de con-

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»Keert u tot hem die slaat. Eene christlijke opwekking aan die Niederlanden, bij gelegenheid van de tegenwoordige overstromingen«.81 Verfasser der Schrift war der 29-jährige Prediger an der Englischen Episkopalen Gemeinde in Amsterdam, Algernon Sydney Thelwall. In seiner Schrift deutet Thelwall die Sturmflut von 1825 als ein Strafgericht des erzürnten Gottes über die gottlosen Niederländer ; zugleich kritisiert er, dass man diese große Sturmflut nur auf natürliche Ursachen zurückführen würde. Thelwalls Kritik richtet sich vor allem gegen die Prediger, die seiner Ansicht nach nicht mehr die reine biblische Lehre verkündigten und nicht entschieden genug gegen das unchristliche Leben in ihren Gemeinden einschritten. Denn erst die Sünden der Menschen hätten das schwere Gericht Gottes auf die Niederländer gezogen. Es sei notwendig, das gestörte Verhältnis zu Gott wiederherzustellen, wozu auch Bußund Bettage dienen könnten, die aber seit 1795 in den Niederlanden nicht mehr ausgeschrieben würden. Thelwalls Schrift, von der schon in kurzer Zeit sechstausend Exemplare verkauft wurden, erregte großes Aufsehen in den Niederlanden und rief einen Sturm der Entrüstung hervor, wurde aber in Kreisen frommer Christen auch mit großer Zustimmung aufgenommen. Schon bald nach Veröffentlichung der Schrift erschienen eine Reihe zumeist anonymer Gegenschriften, die sich vor allem gegen die von Thelwall propagierte, traditionelle Deutung der Sturmflut als Strafgericht Gottes wandten. In diesen kritischen Schriften finden wir zwar unterschiedlich akzentuierte theologische Argumentationen, aber alle basierten auf den Ideen der Aufklärung. Schließlich ist auffallend, dass in dieser Debatte auch noch der Einfluss physikotheologischen Denkens zum Tragen kommt.82 Die Flutkatastrophe wird zu einem positiven, nützlichen Ereignis mit segensreichen Wirkungen umgedeutet.83Die Sturmflut habe die Majestät Gottes verkündigen sollen, heißt es, und sie habe zudem segensreich gewirkt, indem der Sturm die schädlichen Dämpfe vom Land vertrieben und das Land vom Ungeziefer befreit habe.84 Gottes Handeln sei folglich keine Strafe, sondern ein Segen für das Land gewesen. Der »Gott des Zorns« wird somit auf radikale Weise zu einem »Gott der Liebe« umgedeutet.85

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frontatie tussen het vroege protestantse R¦veil en de Verlichting in Nederland (1815 – 1826). Delft 2009, 605 – 665. Übersetzt lautet der Titel: »Halte Dich an denjenigen, der schlägt. Eine christliche Ermunterung an die Niederlande bei Gelegenheit der gegenwärtigen Überschwemmungen.« Der erste Teil des Titels ist vermutlich eine Anlehnung an Jes 9,12. Wolfgang Philipp: Das Werden der Aufklärung in theologiegeschichtlicher Sicht. Göttingen 1957; Udo Krolzik: Säkularisierung der Natur. Providentia-Dei-Lehre und Naturverständnis der Frühaufklärung. Neukirchen-Vluyn 1988. Ruth Groh/Dieter Groh: Weltbild und Naturaneignung. Zur Kulturgeschichte der Natur. Frankfurt am Main 21996, 55 sprechen von »Positivierung des Negativen« in der Physikotheologie; vgl. Odo Marquard: Glück im Unglück. Zur Theorie des indirekten Glücks zwischen Theodizee und Geschichtsphilosophie. In: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie 1, 1978, 27. Kagchelland/Vanderstraeten, De watersnood van 1825, 212. Kagchelland/Vanderstraeten, De watersnood van 1825, 213, 217. Die Physikotheologen

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Doch es gab auch zustimmende öffentliche Reaktionen auf Thelwalls Schrift. In diesen Stellungnahmen wird das umstrittene Deutungsmuster für Sturmfluten verteidigt. Die Ursache für das über die Niederlande hereingebrochene Strafgericht wird in dem Abfall der Menschen von Gott gesehen, und diese Gottesferne der Niederländer wiederum wird den Auswirkungen des Rationalismus zugeschrieben. Ein Zeichen dieser Ungläubigkeit sei schon in dem Versuch zu sehen, die Sturmflut ausschließlich naturwissenschaftlich zu erklären. Diese mit Thelwalls Auffassungen sympathisierenden Kreise, die sich der zunehmenden Säkularisierung ihrer Lebenswelten zu widersetzen versuchten, waren durch die niederländische Erweckungsbewegung, den R¦veil, geprägt worden.86 Einige abschließende Bemerkungen seien angefügt: Sowohl Thieß’ Predigt als auch Thewalls Schrift sind Dokumente einer im Zuge der Erweckungsbewegung neu entfachten theologischen Auseinandersetzung um das rechte Gottesbild. In den von den Anhängern der Erweckungsbewegung verfassten Texten über die Sturmflut 1825 bleibt noch das dualistische Gottesverständnis, wie es in den pietistischen Predigten des Jahres 1718 gezeichnet wurde, in den beiden Dimensionen liebender Vatergott und strafender Richtergott abgebildet. Ein solches Gottesbild steht in starkem Kontrast zum Gottesverständnis der Rationalisten. Im Unterschied zur pietistischen Lesart des frühen 18. Jahrhunderts, welche die Weihnachtsflut von 1717 in eschatologischer Perspektive deutet, wird die Sturmflut von 1825 bemerkenswerterweise nicht explizit endzeitlich gedeutet. Weder in Thieß’ Predigt noch in den niederländischen Streitschriften spielen eschatologische Fragen eine bestimmende Rolle. Während die rationalistischen Theologen moralisches Fehlverhalten allein durch eine moralische Verbesserung der »Sünder« abstellen wollten, galt für die Anhänger der Erweckungsbewegung die »wahre Bekehrung« zu Gott als unumgängliche Voraussetzung für eine Verbesserung der Welt. Nicht zuletzt aus diesem Grund liegt in ihren Predigten und Schriften der Akzent auf der nachdrücklichen Forderung nach glaubhafter Bekehrung. Nach Ansicht der erweckten Kreise hatte Gott allein schon wegen des um sich greifenden Rationalismus zu seiner Strafrute greifen müssen. Eine derartige Deutung des Strafgerichts stigmatisierte die Rationalisten in äußerst des 18. Jahrhunderts taten sich noch schwer, bei schweren Sturmfluten nur die Hand des liebenden Gottes wirken zu sehen und auf die Vorstellung vom Strafgericht Gottes zu verzichten. Siehe Manfred Jakubowski-Tiessen: Gotteszorn und Meereswüten. Deutungen von Sturmfluten vom 16. bis 19. Jahrhundert. In: Dieter Groh/Michael Kempe/Franz Maulshagen (Hg.): Naturkatastrophen. Beiträge zu ihrer Deutung, Wahrnehmung und Darstellung in Text und Bild von der Antike bis ins 20. Jahrhundert. Tübingen 2003, 101 – 118; Udo Krolzik: Das Wasser als theologisches Thema der deutschen Frühaufklärung bei Johann Albert Fabricius. In: Hartmut Böhme (Hg.): Kulturgeschichte des Wassers. Frankfurt am Main 1988, 189 – 207. 86 Vgl. Ulrich G•bler : Evangelikalismus und R¦veil. In: Ders. (Hg.): Geschichte des Pietismus. Bd. 3: Der Pietismus im 19. und 20. Jahrhundert. Göttingen 2000, 27 – 84, hier 64 – 74.

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polemischer Weise, indem sie diese in einen ursächlichen Zusammenhang mit dem Strafgericht Gottes brachte und zu einem mittelbaren Verursacher des Unheils erklärte.

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Ulrich Muhlack

Die Brüder Leopold und Heinrich Ranke im Spannungsfeld von evangelischer Erweckung und historischem Denken Der Durchbruch des historischen Denkens seit der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert kam, mit Friedrich Meinecke zu sprechen,1 einer Revolution gleich, die die okzidentale Wissenskultur von Grund auf verwandelte. Bis dahin begriff man die Welt des Menschen aus universalen Annahmen oder Sätzen, die man für zeitlos gültig ansah, seien sie religiöser, ethischer, juristischer, politischer Art. Zwar gab es seit der Antike ein Interesse an der Geschichte, das eine teilweise blühende Historiographie hervorbrachte. Aber die Geschichte hatte keine andere Funktion, als die ihr jeweils vorgegebenen oder vorgesetzten Universalien von Mal zu Mal durch konkrete Beispiele zu illustrieren; sie bot also lediglich sekundäres Wissen. Jetzt, um 1800, geschah es, dass die Geschichte die ihr bisher gezogenen Grenzen sprengte und sich absolut setzte: »sie war«, um Savigny zu zitieren, »nicht mehr bloß Beispielsammlung, sondern der einzige Weg zur wahren Erkenntnis unseres eigenen Zustandes.«2 Die Welt des Menschen erschien fortan als geschichtliche Welt, die nur aus der Geschichte zu begreifen war. Diese Revolutionierung des Denkens ist nicht zu verstehen ohne das Erlebnis der Französischen Revolution und der ihr nachfolgenden politischsozialen Kämpfe bis über die Mitte des 19. Jahrhunderts hinaus; sie ließen scheinbar festgefügte Strukturen einstürzen und entzogen damit den herkömmlichen Anschauungsformen die Grundlage. Die neue Wertschätzung der Geschichte gipfelte in der Entstehung der modernen Geschichtswissenschaft, die im Grunde mit der Entstehung der Geschichte als Wissenschaft überhaupt gleichbedeutend war. Bis dahin war die Historie allenfalls Hilfsdisziplin der Theologie, der Philosophie, der Jurisprudenz, der Politik: ohne eigenes Erkenntnisziel, eigenen Gegenstand, eigene Methode; das schloss ein zeitweiliges und zuletzt zunehmendes Maß an faktischer Verselbständigung nicht aus. Dagegen jetzt schwang sie sich zu einer eigenen Wissenschaft auf, die sich nicht nur von ihren bisherigen Leitdisziplinen emanzipierte, sondern auch diese selbst zu durchdringen begann. Es hatte besondere Gründe, dass diese Verwissenschaftlichung und damit Autonomisierung, dass dieser Aufstieg der Historie zu einer universalen Ge1 Friedrich Meinecke: Die Entstehung des Historismus. Hg. v. Carl Hinrichs. München 1959 (Werke, 3), 1. 2 Friedrich Carl von Savigny : Grundgedanken der Historischen Rechtsschule. 1814/40. Frankfurt a.M. 31965 (Deutsches Rechtsdenken, 8), 15.

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schichtswissenschaft zuerst in Deutschland und hier zuvörderst an den Universitäten stattfand. Wie stand die evangelische Erweckungsbewegung des 19. Jahrhunderts zu dem neuen Phänomen dieser Geschichte als Wissenschaft? In einer Sektion über das Geschichtsverständnis der Erweckungsbewegung kommt man offenbar um diese Frage nicht herum. Sie lässt sich naturgemäß am ehesten für Deutschland, das Stammland der modernen Geschichtswissenschaft, beantworten.3 Beim ersten Hinsehen scheint alles klar zu sein. Die Erweckungsbewegung, die ihren Aufruf zur Umkehr und Erneuerung an den ganzen Menschen richtete, erhob, kraft biblischer Offenbarung, einen absoluten Wahrheitsanspruch. Auch die Wissenschaften hatten sich ihm unterzuordnen oder im Einklang mit ihm zu stehen. Der autonome Erkenntnisanspruch der modernen Geschichtswissenschaft, überhaupt die radikale Historisierung des Denkens vom Menschen, aus dem er resultierte, war mit diesem Ansinnen grundsätzlich unvereinbar. Sofern die Erweckungsbewegung an Geschichte interessiert war, erklärte sie sie am Ende aus Gesetzen oder Bestimmungen, die jenseits der Geschichte lagen. Die Historie sah sich damit wiederum auf einen Status niederer Erkenntnis zurückgestuft. Sogar Elemente des aus der Antike überkommenen heilsgeschichtlichen Apparats lebten wieder auf.4 Eine archaische Vormoderne scheint da gegen die Moderne zu stehen: eine eklatante Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen. Ist ein größerer Gegensatz denkbar? Alles deutet auf einen fundamentalen Konflikt ohne Aussicht auf Vermittlung oder Verständigung hin. Jedoch: dieser Anschein trügt durchaus. Die beiden Phänomene, um die es hier geht, waren in ihrer Zeit keineswegs ungleichzeitig, sondern Ausprägungen derselben Zeit. Die Erweckungsbewegung war auf ihre Weise nicht 3 Grundlegend zur deutschen Erweckungsbewegung insgesamt: Friedrich Wilhelm Kantzenbach: Die Erweckungsbewegung. Studien zur Geschichte ihrer Entstehung und ersten Ausbreitung in Deutschland. Neuendettelsau 1957; Erich Beyreuther : Die Erweckungsbewegung. Göttingen 21977 (Die Kirche in ihrer Geschichte, IV R 1), 22 – 45; Gustav Adolf Benrath: Die Erweckung innerhalb der deutschen Landeskirchen 1815 – 1888. Ein Überblick. In: Ulrich Gäbler (Hg.): Geschichte des Pietismus. Bd. 3: Der Pietismus im neunzehnten und zwanzigsten Jahrhundert. Göttingen 2000, 150 – 271. Dazu kommen besonders die einschlägigen Kapitel in den großen Gesamtdarstellungen der deutschen Geschichte im 19. Jahrhundert von Franz Schnabel: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4. Freiburg 31955 und Thomas Nipperdey : Deutsche Geschichte 1800 – 1866. Bürgerwelt und starker Staat. München 1983. Die Forschung zum Geschichtsverständnis der deutschen Erweckungsbewegung hat eigentlich erst jetzt begonnen mit den bahnbrechenden Studien von Jan Carsten Schnurr : Geschichtsdeutung im Zeichen des Reiches Gottes. Historiographie- und begriffsgeschichtliche Anmerkungen zur Geschichtsliteratur der protestantischen Erweckungsbewegung im Vormärz. In: Historische Zeitschrift 291, 2010, 352 – 383; ders.: Weltreiche und Wahrheitszeugen. Geschichtsbilder der protestantischen Erweckungsbewegung in Deutschland 1815 – 1848. Göttingen 2011 (Arbeiten zur Geschichte des Pietismus, 57). Darin jeweils auch Bemerkungen über das Verhältnis der erweckten Geschichtsliteratur zur modernen Geschichtswissenschaft: Geschichtsdeutung, 367 – 369; Weltreiche, 157 – 196. 4 Schnurr, Geschichtsdeutung, 358; ders., Weltreiche, 220 – 225, 275 – 285.

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weniger modern als das neue historische Denken. Gewiss, da war ein Konflikt; aber das war ein moderner Konflikt, man kann auch sagen: ein alter Konflikt, der jetzt unter modernen Vorzeichen ausgetragen wurde. Es gab, auf diesem Hintergrund, weitere Gemeinsamkeiten: beide entstanden oder entwickelten sich in Reaktion auf die Herausforderungen der revolutionären Ära, der sie angehörten; beide hatten denselben Gegner, den Rationalismus der Aufklärung, den sie auf je eigene Weise identifizierten und bekämpften, ohne ihm ganz zu entgehen; beide verfolgten eine gleiche Richtung auf Autonomie, sei es des Religiösen oder des Historischen. Dazu kommt, dass beide sich in ihren Anfängen nicht immer deutlich unterscheiden oder gar trennen lassen. Überhaupt haben wir es um und nach 1800 zumal in Deutschland mit einer komplizierten Gemengelage der verschiedensten intellektuellen Strömungen zu tun. Auch Erweckung und historisches Denken gingen vielfach zunächst in dieser Gesamtkonstellation auf; die Grenzen waren einstweilen ausgesprochen fließend. Erst allmählich setzte ein Differenzierungsprozess ein. Aber auch jetzt blieben Zusammenhänge, auch dadurch, dass beide Seiten, für sich genommen, alles andere als einheitlich waren. Schließlich band sie der Konflikt selbst aneinander, weil er zur Präzisierung der je eigenen Position nötigte und damit eine dialektische Einheit zwischen ihnen schuf. Mein Beitrag beabsichtigt eine Art Fallstudie zu dieser Problematik, und zwar am Beispiel der Brüder Leopold und Heinrich Ranke, die sich dafür besonders eignen, bei aller Begrenztheit, die für Fallstudien jeder Art gilt. Leopold Ranke personifiziert das neue historische Denken, Heinrich Ranke die evangelische Erweckung in jeweils fast idealtypischer Reinheit, und beide haben sich auf dem Weg dahin nicht nur intensiv auseinandergesetzt, sondern geradezu aneinander gemessen; das Verhältnis von Erweckung und moderner Geschichtswissenschaft wird hier in seiner ganzen Komplexität anschaulich.5 Ich beginne mit einigen ganz allgemeinen, ganz elementaren Bemerkungen über die beiden Brüder, die dem eigentlichen Thema vorausliegen, aber doch zu ihm hinführen. Leopold und Heinrich Ranke, 1795 und 1798 in dem kursächsischen Städtchen Wiehe an der Unstrut geboren, das später an Preußen fiel, entstammten einer Familie des Bildungsbürgertums. Der Vater, Spross einer lu5 Überblicke über Leben und Werk der Brüder: Leopold Ranke: Leopold von Ranke: Aufsätze zur eigenen Lebensbeschreibung. In: Ders.: Zur eigenen Lebensgeschichte. Hg. v. Alfred Dove. Leipzig 1890 (Sämmtliche Werke, 53/54), 1 – 76; Hans F. Helmolt: Leopold Rankes Leben und Wirken. Nach den Quellen dargestellt. Leipzig 1921; Helmut Berding: Leopold von Ranke. In: Hans-Ulrich Wehler (Hg.), Deutsche Historiker. Bd. 1. Göttingen 1971, 7 – 24; Ernst Schulin: Leopold von Ranke (1795 – 1886). In: Heinz Duchhardt [u.a.] (Hg.): Europa-Historiker. Ein biographisches Handbuch. Bd.1. Göttingen 2006, 129 – 151; Ulrich Muhlack: Leopold von Ranke (1795 – 1886). In: Lutz Raphael (Hg.): Klassiker der Geschichtswissenschaft. Bd. 1. München 2006, 38 – 63. – Heinrich Ranke: Friedrich Heinrich Ranke: Jugenderinnerungen mit Blicken auf das spätere Leben. Stuttgart 1877; Walther Peter Fuchs: Heinrich Ranke. In: Zeitschrift für fränkische Landesforschung 25, 1965, 115 – 207.

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therischen Pastorendynastie, war von der Theologie zur Rechtswissenschaft gewechselt und hatte sich als Justitiar und Rechtsanwalt niedergelassen; er besaß ein Haus und zwei kleine Landstücke. Aus seiner Ehe mit der Tochter eines benachbarten bürgerlichen Rittergutsbesitzers gingen, zwei frühverstorbene Kinder abgerechnet, fünf Söhne und zwei Töchter hervor. Das Familienoberhaupt, »von unerschütterlicher gläubiger Religiösität«, aber auch »in seiner Bildung der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts« zugehörig6, führte ein aufgeklärt patriarchalisches Regiment; »die Milde« der Mutter glich »die Strenge« des Vaters aus;7 hier konstituierte sich eine Urzelle oder Grundeinheit der gesellschaftlichen Ordnung. Im Zentrum der elterlichen Bemühungen stand die Erziehung der Kinder. Sie sollten den Aufstieg der Familie fortsetzen und dazu je nach ihren Fähigkeiten vorbereitet werden. Die Eltern, die keineswegs im Überfluss lebten, setzten »Gut und Blut« daran, um zumal die Söhne »in die Höhe zu bringen«8. Ihre Erwartungen wurden erfüllt, wenn nicht übertroffen. Die Söhne machten allesamt, nach Gymnasium und Universität, glänzend Karriere: Leopold brachte es nicht nur vom Oberlehrer in Frankfurt an der Oder bis zum Professor der Geschichte in Berlin, sondern auch, von anderen Ämtern und Ehrenstellen abgesehen, zur Verleihung des erblichen Adels; Heinrich war zuerst Lehrer in Frankfurt an der Oder und Nürnberg, dann Pfarrer in Rückersdorf, Dekan in Thurnau, Professor der Theologie in Erlangen, Konsistorialrat in Bayreuth und Ansbach, schließlich Oberkonsistorialrat in München; dazu kamen ein Gymnasialdirektor (Ferdinand), ein Regierungsrat (Wilhelm) und noch ein Universitätsprofessor (Ernst). Die Töchter (Johanna und Rosalie) wurden an Pfarrer verheiratet und hielten sich damit auf ihrem Herkunftsniveau. In der Hierarchie des familiären Sozialverbandes nahm bald die nächste Stelle nach dem Vater der älteste Sohn, Leopold, ein. Er spielte mehr und mehr die Rolle eines Mit-Vaters, ja Übervaters: der Bruder Ferdinand nannte ihn einmal »unsern zweiten Vater«, dem er die »Wünsche und Gebete Deines ewig dankbaren Kindes« darbrachte;9 der Vater selbst grüßte ihn als »väterlicher Freund«10. Leopold hatte die heranwachsenden Geschwister anzuleiten und zu beaufsichtigen; er überwachte ihren Bildungsgang und kümmerte sich um ihr Fortkommen, unterstützte sie, wenn nötig, auch materiell; nichts geschah ohne seine Zustimmung. Am meisten kam es dabei auf seine Vorbildfunktion an. Er sollte den vom Vater ererbten Leistungs- und Aufstiegswillen durch 6 Leopold von Ranke: Aufsätze, 6. Zur Religiosität des Vaters auch Gìnter Johannes Henz: Leopold Ranke. Leben, Denken, Wort. 1795 – 1814. Darstellende Untersuchungen und Edition. Mit allgemeinen archivalischen und bibliographischen Beiträgen. Köln 1968, 108 – 113. 7 Friedrich Heinrich Ranke, Jugenderinnerungen, 3. 8 Leopold von Ranke: Briefwechsel. Historisch-kritische Ausgabe. Bd.1: 1813 – 1825. Hg. v. Ulrich Muhlack u. Oliver Ramonat. München 2007, 584; eine verbesserte Neuauflage ist in Vorbereitung. 9 Leopold von Ranke: Briefwechsel, 406. 10 Leopold von Ranke: Briefwechsel, 241.

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eigenes Beispiel vorab an seine Brüder weitergeben und sie damit in der familiären Erfolgsspur halten. Er hat sich mit dieser Aufgabe vollkommen identifiziert. Er war von seiner eigenen Mission, »etwas Tüchtiges [zu] vollenden«,11 zutiefst durchdrungen und gründete darauf seinen Führungsanspruch. Auch in späteren Jahren ließ er an seinem »Recht auf Erstgeburt«12 nicht rütteln. Nach dem Tod der Eltern bildete er den Vereinigungspunkt der Familie. Von einzelnen Brüdern erwartete er wissenschaftliche Hilfsdienste. Er überlebte fast alle seine Geschwister und empfand darüber eine Art erhabener Trauer, die ihm seine herausgehobene Stellung nochmals zu bestätigen schien und damit dem Gefühl einer gewissen Genugtuung recht nahe kam.13 Die Geschwister von Leopold Ranke haben sich von frühauf in diese Ordnung oder Unterordnung gefügt. Sie war und blieb ihnen selbstverständlich. Jedenfalls entstand kein Abhängigkeitsverhältnis, das sie daran gehindert hätte, sich auf einer je eigenen Bahn fortzubewegen. Im Gegenteil: die Obsorge des Bruders erwies sich hier durchaus als förderlich. Dennoch gab es verschiedene Grade, sich auf sie einzustellen. Ferdinand und Ernst waren Leopold sehr ergeben und durch philologische und theologische Expertise nützlich, während Wilhelm zu ihm eher auf Distanz ging, und »Hannchen« und »Röschen« waren es seit jeher gewohnt, ehrfurchtsvoll zu dem ältesten Bruder aufzublicken, der sie tief unter sich sah. Von allen Geschwistern machte Heinrich noch die meisten Schwierigkeiten.14 Leopold wollte an dem nächstältesten Bruder offenbar ein pädagogisches Exempel statuieren. Der junge Heinrich stand schon während der gemeinsamen Schulzeit im Kloster Pforta unter der brüderlichen Aufsicht und gab bald Veranlassung, dass daraus zeitweilig eine förmliche Erziehungsdiktatur wurde. Kurz nachdem Leopold aus Pforta ausgeschieden war, um in Leipzig das Studium der Theologie und Philologie zu beginnen, leistete sich Heinrich nämlich einen ebenso spektakulären wie am Ende peinlichen Akt, der den Bruder wiederum auf den Plan rief. Von der Schulleitung wegen unerlaubter Entfernung vom Schulgelände gemaßregelt, entschloss er sich mit zwei Freunden, aus der Schule zu fliehen und auf Winckelmanns und Goethes Spuren eine Kunstreise nach Italien zu unternehmen. Aber der Fluchtversuch scheiterte schon am ersten Tag im Hause des Onkels in Querfurt, und Heinrich, dem die Rückkehr nach Pforta versperrt war, blieb nichts als der Weg ins Elternhaus. Der Vater war ratlos; er fragte, »was ich werden wolle«15, ohne darauf eine Antwort zu haben. Noch in seinen Jugenderinnerungen weiß Heinrich in geradezu dramatischen Worten zu kennzeichnen, wie es zur 11 12 13 14

Leopold von Ranke: Briefwechsel, 211. Leopold von Ranke: Briefwechsel, 104. Leopold von Ranke: Das Briefwerk. Hg. v. Walther Peter Fuchs. Hamburg 1949, 553 f. Zum Verhältnis Leopold Rankes zu seinen Geschwistern vgl. Walther Peter Fuchs: Einleitung. In: Leopold von Ranke: Briefwechsel, XV – LVI, hier XXVI – XXXII. Zu den Brüdern Leopold Rankes auch Henz, Leopold Ranke, 71 – 75. 15 Friedrich Heinrich Ranke, Jugenderinnerungen, 53.

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Wende kam: »In den Osterferien erschien Leopold und mit seiner Hilfe kam Alles in Ordnung. Es wurde beschlossen, daß ich in Jena studieren sollte.«16 Der älteste Bruder entschied da kraft eigener Kompetenz über das weitere Schicksal des jüngeren. Er bestimmte auch Heinrichs Studienfächer ; es waren diejenigen, die er selbst studierte: Theologie und Philologie; sie entsprachen dem familiären Herkommen und der Ausbildung, die beide in Pforta empfangen hatten; auch Ferdinand, Wilhelm und Ernst, gleichfalls Schüler von Pforta, wurden später auf diese Fächer angesetzt. Leopold hätte Heinrich wahrscheinlich am liebsten bei sich in Leipzig gehabt; aber da ihre Heimat inzwischen an Preußen gelangt war, schien es ihm offenbar günstiger, den Bruder nicht auf die sächsische Landesuniversität, sondern zunächst ins ernestinische Jena und später ins preußische Halle zu schicken. Aber auch so behielt er den Bruder unter Kontrolle. Als er Oberlehrer in Frankfurt an der Oder geworden war, gelang es ihm, Heinrich für einige Zeit nach dort zu holen; er vermittelte ihm einen Lehrauftrag an einer Privatschule und gedachte ihn auf Dauer am Gymnasium zu etablieren. Obwohl sich diese Aussicht zerschlug, suchte er gleichwohl auch künftig seinen Einfluss zu wahren. Ein Hauptmittel der brüderlichen Kommunikation war, wie auch im Verhältnis Leopolds zu den anderen Geschwistern, der schon früh einsetzende Briefwechsel. Leopold bestand darauf, dass Heinrich ihm regelmäßig schrieb,17 dass er ihn über alles Wesentliche in Kenntnis setzte,18 dass er ihm nichts verschwieg;19 seine eigenen Briefe waren immer lehrhaft, gerade auch dann, wenn er von sich selbst sprach. Scharf rügte er alles, was er als Insubordination ansah. Als Heinrich im Frühjahr 1823 einen lange erwarteten Besuch absagte, war Leopold wochenlang verstimmt.20 Im Herbst desselben Jahres kam es fast zum Eklat. Leopold hatte Heinrich von der Arbeit an seinem Erstlingswerk berichtet;21 Heinrich meldete ihm daraufhin, dass er selbst zwei kleinere Texte zum Druck vorbereite;22 Leopold, der noch nicht so weit war, 16 Ebd. 17 Leopold von Ranke, Briefwechsel, 384: »weder einen großen, noch einen kleinen Brief von Dir habe ich seit vielen Monaten gesehn.« 18 Leopold von Ranke, Briefwechsel, 182: »Du aber schweigst ja so ganz von dem, wovon wir so oft geredet: was Du lernst, thust, übst. Du solltests nicht.« 19 Leopold von Ranke, Briefwechsel, 343: »Sieh einmal, welch ein langer Brief! Aber es wäre auch abscheulich, wenn wir 10 oder 12 weitläufig geschriebene Zeilen so weiten Weg schicken wollten, die ja nur ein Trank sind, wie man ihn vor der Mahlzeit genießt, um den Appetit zu erwecken, aber keineswegs die Mahlzeit selbst. Ich muß Dich besonders tadeln, daß Du so groß, so gut, so deutlich und weitläufig (nämlich in Schriftzügen) schreibst. Nimm mich nur zum Beispiel. So viel Undeutlichkeit will ich gern vertragen, als Du vertragen mußt.« 20 Leopold von Ranke, Briefwechsel, 329 f, 341. 21 Leopold von Ranke, Briefwechsel, 386. 22 Leopold von Ranke, Briefwechsel, 392, 394. – Einer dieser Texte erschien noch im gleichen Jahr in Nürnberg anonym unter dem Titel »Der christliche Glaube. Für die reifere Jugend der evangelischen Kirchen«; ein Rezensent nannte ihn eine »populäre Dogmatik« (Ergänzungsblätter zur Jenaischen Allgemeinen Literatur-Zeitung 54, 1824, 46 – 48, hier 46); den Hinweis auf diese Rezension verdanke ich Dr. Dietrich Blaufuß, Erlangen.

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sah seine Prärogative gefährdet und erteilte seinem Bruder einen entschiedenen Verweis: »Und nur vor dem Druckenlassen einer excentrischen Meinung hüte Dich bis zum dreißigsten Jahr. Es ist nicht mehr lange hin; ich hab es bald erreicht. Die Nation ist keine Quinta oder Sexta, und wahrlich schwer, sie belehren zu wollen. In allen Dingen gilt der gute Wille, doch hier gewiß nicht.«23 Heinrich durfte nicht vor Leopold publizieren. Wie hat Heinrich auf diese permanente Bevormundung durch den Bruder reagiert? Wenn man in seinen Jugenderinnerungen liest, ist alles eitel Sonnenschein. Auch in seinen Briefen an Leopold mangelt es nicht an Ausdrücken der Bewunderung und der Ergebenheit. Tatsächlich hat er die überragende Bedeutung des Bruders immer anerkannt, und es war ihm wichtig, mit ihm in Verbindung zu bleiben und sich mit ihm auszutauschen. Aber es ist doch deutlich, dass Leopold ihm mit seiner magistralen Attitüde sehr zusetzte und dass Heinrich sich ihr oft genug entzog. Wie die wiederholten Ermahnungen und Klagen Leopolds zeigen, war Heinrich keineswegs immer zur Stelle; das Publikationsverbot des Bruders hat er einfach ignoriert. Manchmal muss man gar nicht zwischen den Zeilen der einschlägigen Quellen lesen, um über seine Haltung Klarheit zu gewinnen. So heißt es etwa in einem Brief an Leopold vom April 1825: »Ich bin nur ein unwissender Junge, aber ich darf doch vielleicht etwas zu Dir meinem lieben Bruder sagen [usw.]«24. Heinrich erniedrigt sich da ironisch vor Leopold, um ihm im Folgenden desto bestimmter seine Meinung zu sagen; er spielt mit dem Führungsanspruch des Bruders, um ihn in Frage zu stellen. Man kann das durchaus auf das Verhältnis Heinrichs zu Leopold insgesamt »hochrechnen«. Dieses aus der familiären Hierarchie resultierende Spannungsverhältnis erklärt gewiss nicht, warum Heinrich Ranke eine von Leopold Ranke abweichende Entwicklung genommen hat, warum der eine ein Protagonist der modernen Geschichtswissenschaft und der andere ein erweckter evangelischer Theologe geworden ist. Beide folgten dabei vielmehr zunächst einmal einer je genuinen Richtung, die sozusagen auf sich selbst beruhte, und wenn sie sich gedrängt sahen, sich deswegen auseinanderzusetzen, so handelte es sich um Standortbestimmungen, in denen die Sache auf dem Spiel stand. Aber die Sache ist doch von den Personen und ihrer besonderen Beziehung nicht zu trennen. Heinrichs zunehmende Distanzierung von den pädagogischen Allüren des älteren Bruders hat in ihm jenen schon in Pforta offenkundig gewordenen Geist des Widerspruchs und der Opposition genährt oder begünstigt, der ihn dazu ermutigt hat, sich auf seine eigene Richtung zu besinnen und sie gegenüber dem Bruder zu behaupten. Und auch Leopolds Entwicklung ist auf ihre Weise nicht ohne diese eigentümliche Beziehung der Brüder zu denken. Das sachliche Spannungsverhältnis hatte das persönliche zur Vor23 Leopold von Ranke, Briefwechsel, 412; »keine Quinta oder Sexta«: Heinrich war damals Lehrer in Nürnberg. 24 Leopold von Ranke, Briefwechsel, 599.

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aussetzung. Bei der Lektüre ihres Briefwechsels ist das bis in die Stilisierung der Argumente, bis in die Tönung der Sprache, bis in die ganze rhetorische Gestik hinein spürbar. Der Diversifizierungsprozess lief auf beiden Seiten ungefähr gleichzeitig ab; er begann in der jeweiligen Studienzeit, zwischen 1814 und 1818, und reichte bis 1824/25; danach waren die beiden Positionen bezogen. Vorher gingen Leopold und Heinrich Ranke durchaus gleichen Schrittes. Beide erhielten in Pforta einen gediegenen Unterricht, der vor allem gründliche Kenntnisse der alten Sprachen und der klassischen Literatur vermittelte, aber sich auch auf die Bibel und die neuere deutsche Literatur erstreckte; man denke an Heinrichs literarische Motive bei dem fehlgeschlagenen Fluchtversuch. Beim Studium der Theologie und der Philologie wurde die Lektüre der Klassiker und der Bibel fortgesetzt und erweitert; auch das Hebräische kam jetzt dazu; obendrein befassten beide sich intensiv mit moderner deutscher Philosophie; zeitweilig war Fichte ihr Lieblingsautor. Beide sympathisierten außerdem, unter dem Eindruck der Freiheitskriege, mit der aufkommenden nationalen Jugendbewegung der Turner und Burschenschaften. Das waren zwei junge Männer auf der Höhe der Bildung und der intellektuellen Bestrebungen ihrer Zeit, offen für alles Neue und Interessante, im Einzelnen noch gar nicht festgelegt. Beide haben zeit ihres Lebens von diesen Grundlagen gezehrt und sich immer zu ihnen bekannt, wie noch ihre autobiographischen Schriften zeigen. Diese Gemeinsamkeit war eine Grundbedingung dafür, dass sich später der moderne Historiker und der erweckte Theologe überhaupt verständigen konnten. Beide begannen verschiedene Wege einzuschlagen, als ihnen die zeitgenössische Theologie fragwürdig wurde: noch eine Gemeinsamkeit, aber mit auseinandergehenden Konsequenzen. Leopold Ranke stieß sich an der Dogmatik der herrschenden rationalistischen Schule. Sie schien ihm mit ihrem »Raisonnement«, das er als »unbefriedigend, seicht und schal« empfand, »das unbedingt Gültige« des Bibelworts zu verfehlen. Er dagegen »glaubte unbedingt«. Freilich fiel es ihm schwer, zu bestimmen, »wie weit das eigentlich reiche«; jedenfalls lag ihm die Gegenrichtung, »das Supranaturalistische«, das den unmittelbaren Glauben an die göttliche Offenbarung forderte, gleich weit entfernt.25 Tatsächlich regte sich hier bei ihm ein historisches Interesse. Schon in Pforta hatte er sich primär an die erzählenden Teile der Bibel gehalten und dabei »die historischen Bücher des Alten Testamentes« bevorzugt, die er auf eine Stufe mit »Ilias« und »Odyssee« stellte26 ; solche »Außenwerke« zogen ihn auch in Leipzig an.27 Was ihn an der rationalistischen Dogmatik störte, war, dass sie die historische 25 Leopold von Ranke, Aufsätze, 29. 26 Leopold von Ranke, Aufsätze, 21. Zur Religiosität des Schülers Henz: Leopold Ranke, 187 – 204. 27 Leopold von Ranke: Aufsätze, 29.

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Eigenart des Bibelworts nicht ernst nahm. Er »glaubte unbedingt« nicht in einem dogmatischen Sinne, sondern insofern, als er das Bedürfnis hatte, sich auf diese Eigenart einzulassen. Ihm wurde bewusst, dass die Bibel ein historisches Dokument war, das es in seiner ganzen Authentizität zu erfassen galt. Als er sich in dieser Zeit einmal mit Heinrich über die biblischen Wundergeschichten unterhielt und am Ende die Rede auf die Luthersche Abendmahlslehre kam, trieb er sein Verständnis so weit, dass der Bruder ihn für »eine rechte Stütze der Kirche« hielt.28 In Wahrheit kündigte sich hier seine Wendung zur Historie an.29 Der nächste Schritt war, dass Leopold Ranke, ausgehend von seiner historischen oder historisierenden Bibeldeutung, seinen Sinn für die Mannigfaltigkeit der historischen Phänomene überhaupt schärfte. Er verlegte sich daher zunächst ganz auf die Philologie, die auch sein Promotionsfach wurde; die Antike war ihm seit seiner Schulzeit als großer Geschichtsraum vertraut, den er schon damals mit der biblischen Welt vergleichend zusammengesehen hatte; auch war hier die seit der Renaissance elaborierte Methode der historisch-kritischen Quellenforschung zu erlernen. Er siedelte sich freilich nicht dauerhaft in den Altertumswissenschaften an, auch deswegen nicht, weil hier angesichts der seit Wolf und Niebuhr fortgeschrittenen Forschungslage kein neuer Ruhm zu erhoffen schien; auch im Bereich der mittelalterlichen Geschichte waren ihm andere voraus. Leopold Ranke stand vor einer existentiellen Entscheidung. Sein Generalmotiv, »etwas Tüchtiges [zu] vollenden«, sich durch eine einzigartige Leistung auszuzeichnen, galt unverändert. Inzwischen war ihm klar geworden, dass es seine Sache sei, auf wissenschaftlichem Gebiet hervorzutreten, und die Logik seiner Studien hatte ihn auf die Geschichte geführt. Um sich hier hervorzutun, 28 Leopold von Ranke: Briefwechsel, 217; Friedrich Heinrich Ranke: Jugenderinnerungen, 85. 29 Zu Leopold Rankes Weg zur Historie: Hermann Oncken: Aus Rankes Frühzeit. Mit den Briefen Rankes an seinen Verleger Friedrich Perthes und anderen unbekannten Stücken seines Briefwechsels. Gotha 1922; Ernst Schulin: Rankes Erstlingswerk oder Der Beginn der kritischen Geschichtsschreibung über die Neuzeit. In: Ders.: Traditionskritik und Rekonstruktionsversuch. Studien zur Entwicklung von Geschichtswissenschaft und historischem Denken. Göttingen 1979, 44 – 64; Daniel Fulda: Wissenschaft aus Kunst. Die Entstehung der modernen deutschen Geschichtsschreibung 1760 – 1860. Berlin/New York 1996 (European Cultures, 7), 296 – 410; Siegfried Baur: Versuch über die Historik des jungen Ranke. Berlin 1998 (Historische Forschungen, 62); Johannes Sìssmann: Geschichtsschreibung oder Roman? Zur Konstitutionslogik von Geschichtserzählungen zwischen Schiller und Ranke (1780 – 1824). Stuttgart 2000 (Frankfurter Historische Abhandlungen, 41), 199 – 256; Santi di Bella: Leopold von Ranke. Gli anni della formazione. Soveria Mannelli 2005; Ulrich Muhlack: Die Genese eines Historikers. Zur Autobiographie und zur Korrespondenz des jungen Ranke. In: Dieter Hein [u.a.] (Hg.): Historie und Leben. Der Historiker als Wissenschaftler und Zeitgenosse. Festschrift für Lothar Gall zum 70. Geburtstag. München 2006, 21 – 40; ders.: Das Problem der Weltgeschichte bei Leopold Ranke. In: Wolfgang Hardtwig/Philipp Müller (Hg.): Die Vergangenheit der Weltgeschichte. Universalhistorisches Denken in Berlin 1800 – 1933. Göttingen 2010, 143 – 171.

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war ein großer Wurf vonnöten. Er ging in der Tat aufs Ganze und begann den Plan einer neuen Universalgeschichte zu fassen. Sie sollte nicht nur die christlich-theologische Konzeption aufheben, sondern erstrebte zugleich eine bis dahin unbekannte Einheit von empirischer und philosophischer Weltgeschichte. Beide hatten sich seit der Mitte des 18. Jahrhunderts, im Zeichen der Aufklärung, mächtig entwickelt, waren aber einstweilen unverbunden geblieben. Hier tat sich für Leopold Ranke ein ganz neues Feld auf, wo er bahnbrechend wirken konnte. Den äußeren Anstoß lieferte ihm das Reformationsjubiläum von 1817. Er sammelte und exzerpierte Quellen zur Geschichte Luthers und schrieb auch einzelne Kapitel nieder. Seit 1818 in Frankfurt an der Oder, schritt er aber bald, auch durch die reichen Bestände der dortigen Schulbibliothek angeregt, zu dem größeren Projekt einer Kulturgeschichte im Zeitalter von Renaissance und Reformation fort. Er behandelte zunächst die europäische Staatengeschichte um 1500; sie sollte den Rahmen für die eigentliche Darstellung, die dem »Leben der Nationen« in dieser Zeit gewidmet war30, abstecken, verselbständigte sich aber in der Folge immer mehr gegenüber dem ursprünglichen Vorsatz, der schließlich ganz zurücktrat. Bei der Ausarbeitung wurde er der Unzulänglichkeit der bisherigen Darstellungen inne; Zug um Zug ergab sich für ihn die Notwendigkeit einer rigiden Quellenkritik, wie sie vorher weder in der neueren Geschichte noch auf irgendeinem anderen Gebiet der Historie betrieben worden war. Die Frucht seiner Bemühungen waren zwei Bücher, die im Herbst 1824 herauskamen: die Geschichten der romanischen und germanischen Völker von 1494 bis 1514 und die Beilage Zur Kritik neuerer Geschichtschreiber, in der er über die Grundsätze seiner Quellenkritik Auskunft gab. Auf beiden Büchern beruhte sein künftiges historiographisches Oeuvre: er schrieb fortan, bis hin zu dem Spätwerk der Weltgeschichte, die Geschichte und Vorgeschichte des frühneuzeitlichen europäischen Staatensystems, und er stellte dabei fortlaufend Reflexionen über sein quellenkritisches Verfahren an. Die nächste Folge der beiden Erstlingsschriften war die Berufung an die Universität in Berlin, wo er im gleichen Sinne tätig war ; das Rankesche Seminar wurde zu einer der wichtigsten Pflanzstätten der modernen Geschichtswissenschaft in Deutschland und der Welt. Auch Heinrich Ranke wandte sich von der rationalistischen Theologie ab, und zwar ebenfalls wegen ihres Umgangs mit der Bibel. Aber sein Ansatz war demjenigen seines Bruders genau entgegengesetzt. Während Leopold den Respekt vor der geschichtlichen Eigenart des Bibelwortes vermisste, zeigte sich Heinrich gerade durch die rationalistische Historisierung oder Teilhistorisierung und damit Relativierung der Bibel irritiert: »Ich fühlte mich befremdet, aber doch auch erschüttert.«31 Das Fach, das sich dergestalt von seinen Grundlagen entfernte, und die Bibel, die dergestalt Kritik auf sich zog, 30 Leopold von Ranke, Briefwechsel, 173. 31 Friedrich Heinrich Ranke, Jugenderinnerungen, 60.

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wurden ihm gleichermaßen suspekt, so dass er das Theologiestudium aufgab und in eine fast nihilistische Grundstimmung verfiel, jedenfalls, auch in seiner Lebensplanung, die Orientierung zu verlieren drohte. Die philologischen und philosophischen Studien liefen weiter, aber ohne dass er sich in ihnen festgesetzt hätte; auch die Frankfurter Lehrerstelle war für ihn nichts Endgültiges. Die in Pforta begonnene Irrfahrt, die Leopold durch seine Intervention zunächst gestoppt hatte, schien sich fortsetzen zu sollen. Andererseits wurde Heinrich Ranke gerade dadurch gewissermaßen reif für die Erweckung. Der Umschwung vollzog sich in mehreren Etappen. Im Jahre 1818 trat er vorübergehend als Privatlehrer in das Haus des Hallenser Mediziners Christian Friedrich Nasse ein. Man las dort Predigten von Claus Harms und das jüngst erschienene Buch Altes und Neues von Gotthilf Heinrich Schubert, eine Programmschrift der Erweckungsbewegung. Der Hausherr warnte ihn vor den »Gefahren der Selbstsucht«: »Werden Sie uns nicht zu weltlich, […] ich stand in Ihren Jahren auch auf dem Punkt, auf dem Sie stehen, aber ich wurde dann in die Welt gerissen.« Von alledem fühlte sich Heinrich Ranke, wie er seinem Bruder schrieb, sehr ergriffen.32 Durch seine Verbindungen mit der Jahnschen Turnerschaft, die, gleich den Burschenschaften, Vorstellungen von deutscher Religiosität pflegte,33 erweiterten sich seine Kreise. Ein Berliner Freund aus Jenaer Zeiten, engster Vertrauter des Turnvaters, führte ihn im Juni 1819 in Frankfurt an der Oder mit dem durchreisenden Karl von Raumer zusammen: wie Schubert Naturforscher und Gründungsautor der Erweckungsbewegung; beide haben die »Betrachtung der Natur« als »vorbereitendes Studium zur Gottesweisheit« angesehen34 und damit auf ihrem Gebiet Erweckung und moderne Wissenschaft verknüpft. Raumer, bis vor kurzem Professor in Breslau, wo ihn seine Unterstützung der Turner und der Burschenschaft in Schwierigkeiten gebracht hatte, und jetzt im Begriffe, eine Professur in Halle anzutreten, beeindruckte Heinrich Ranke durch »sein freies, offenes Wort«35. Aber entscheidend wurde für ihn eine Reise nach Rügen im Juli 1819, die ihm der gleiche Freund vermittelt hatte. Dort traf er Hermann Baier, Pastor in Altenkirchen, der ihm sozusagen ein Erweckungserlebnis nach dem Lehrbuch verpasste. Baier, Sohn eines Pfarrers in Bobbin auf Rügen, hatte in Jena bei Fichte studiert und während eines längeren Aufenthalts in der Schweiz Kontakt mit Pestalozzi aufgenommen. Nach der Rückkehr hatte er eine Zeitlang den Pfarrer in Bobbin, seinen Schwager, vertreten, bis er im Jahre 1808 die Pfarrstelle in Altenkirchen, zunächst noch als Diakon, übernahm. In einem Brief an Pestalozzi vom 25. Februar 1808 schrieb er auf, was ihn bewegte und 32 Leopold von Ranke, Briefwechsel, 118; vgl. auch Friedrich Heinrich Ranke, Jugenderinnerungen, 94 – 97. 33 Schnabel, Deutsche Geschichte, 319. 34 Gotthilf Heinrich Schubert: Altes und Neues aus dem Gebiet der inneren Seelenkunde. Leipzig 1817, 6 f. 35 Friedrich Heinrich Ranke, Jugenderinnerungen, 106.

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was er vorhatte. Er prangerte »die innere Zerrütheit der Gemüther« und »ihren doten Glauben« an und rief zur Umkehr auf: »Könnten die Menschen sich nur entschliessen auch in diesem Zeitraum […] ihr eignes Leben wieder zu suchen, zu ergreifen und mit starkem Willen festzuhalten«. Die Vertretung in Bobbin erschien ihm als Einschnitt »in meinem jetzigen Leben«, der zugleich über seine künftige Aufgabe entschied: »Ich kam dem Volke nun bis ans Herz nahe, ich sah seine Noth, und konnte ihm bisweilen helfen, oft mit ihm mich trösten. […I]ch lernte nun erst den geistlichen Beruf des Predigers, als einen geistlichen Artzt kennen und lieben; u[nd] sah mit herzerhebender Hoffnung für die Zukunft, wie die in dieser Zeit zusammenfallende gealterte Form der Religion, im Worte als reines Mittel, u[nd] in thätiger Liebe und wechselseitigem Vertrauen, wieder neu und lebendig werden könne«. Besonderen Wert legte er auf »das ganz eigenthümliche in der Bildung unsers Landvolkes«36. In diesen ersichtlich auf den Adressaten berechneten Sätzen steckte das ganze Programm der Erweckungsbewegung: die Diagnose der Gegenwart als sündhaft und verderbt; die Kritik an den leblos gewordenen Formen des überkommenen kirchlichen Lebens; der Appell zur Erneuerung; Volksmission; Predigt; Bibel; soziale Verantwortung, die auch die Sorge für die Volksbildung einschloss. Baiers Wirken wurde weithin beachtet und anerkannt. Sein Haus war das geistliche und immer mehr auch das geistige Zentrum der Insel. Rügen war seit dem 18. Jahrhundert eine blühende Kulturlandschaft, in der ein gleichermaßen wohlsituierter wie hochgebildeter und literarisch ambitionierter Pfarrerstand den Ton angab. Lange Zeit drehte sich alles um Ludwig Gotthard Kosegarten, den Vorgänger Baiers in Altenkirchen und dessen Schwiegervater, von 1808 bis zu seinem Tod im Jahre 1818 Professor der Geschichte und Theologie in Greifswald; er war ein produktiver Dichter, der sich allen Wandlungen des Zeitgeschmacks anschmiegte und in ganz Deutschland viel gelesen wurde; Theodor Schwarz, »pommerscher Romantiker«, Pastor in Wiek, Jenaer Studiengenosse Baiers, suchte ihm, mit weniger Erfolg, nachzueifern. Baier, selbst zur insularen Bildungselite gehörig, spielte darin eine höchst kommunikative Rolle; sie wuchs ihm durch seine religiöse Mission zu, die ihm gerade auch unter den Gebildeten Zulauf brachte.37 Friedrich Arndt, ein Bruder von Ernst Moritz Arndt, in allen Zweigen der älteren und neueren Poesie bewanderter Notar in Bergen, sah ihn von allen Pastoren auf Rügen als den ihm liebsten an: »wiewohl er oft wundersame mystische Reden führt, eine 36 Rebekka Horlacher/Daniel Trçhler (Hg.): Sämtliche Briefe an Johann Heinrich Pestalozzi. Kritische Ausgabe. Bd. 2: 1805 – 1809. Zürich 2010, 418 f. 37 Über das damalige Kulturleben auf Rügen: Erika Maskow: Theodor Schwarz. Ein pommerscher Romantiker. Greifswald 1934 (Pommernforschung, III 1); Wilhelm Steffen: Kulturgeschichte von Rügen bis 1815. Köln/Graz 1963, 314 – 337, 346 – 359; Dirk Alvermann: Kunstfreunde in Vorpommern und Rügen um 1800. In: Friedrich. Runge. Klinkowström. Die Geburt der Romantik. Pommersches Landesmuseum 2010, 43 – 62. Einzelne Hinweise zu Rügen und Baier verdanke ich Prof. Dr. Dietmar Grypa, Würzburg.

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durchaus fromme, redliche Seele.«38 Auswärtige Besucher kamen nach Rügen, um ihn zu sehen. Schleiermacher schätzte ihn sehr ; Baier gehörte für ihn zu den »geliebten Seelen […] auf der Insel«, die ihm »das Herz erfüllt und erweitert« hätten: »wie schön schließen wir uns alle in gleichem frommem Sinne an den liebenden Christus an.«39 Im Jahre 1816 reiste Schubert zu Baier. Er rühmte später dessen »Wirksamkeit auf die Schulen, auf die inneren und äußeren Angelegenheiten der Gemeinde, auf die Erhaltung und Wiederherstellung des Friedens in den Häusern und Herzen«: »Er hat in seinem Kreise als ein zweiter Oberlin die Wüste gebaut und in einen Garten Gottes verwandelt.«40 Als Heinrich Ranke im Sommer 1819 die Schwelle zum Pfarrhaus in Altenkirchen überschritt, fühlte er sich sofort von dem charismatischen Pastor angezogen, der ihn seinerseits als Jünger auserkor. Schon gegen Ende desselben Jahres reiste er wieder nach Rügen, und im März 1820 ging er für ein ganzes Jahr zu Baier, der ihm die Unterrichtung seiner Kinder übertrug und gleichzeitig an ihm gewissermaßen sein geistliches Vermächtnis vollzog; Baier, erst 45jährig, war schwer krank und fühlte den nahen Tod. Heinrich Ranke erlebte seine Umkehr in methodischen Schritten, die vom Bewusstsein der »Trübsaal« über den Zweifel an der »eigenen Gerechtigkeit« bis zur »vollkommenen Genugthuung Jesu Christi« und damit zum Bewusstsein göttlicher »Liebe« führten.41 Das war die Luthersche Abfolge von Sündenbewusstsein, Gottesfurcht, Einsicht in die Unmöglichkeit, durch eigenes Bemühen zum Heil zu gelangen, Zerknirschung, Unterwerfung und Innewerden der aus göttlicher Gnade geschenkten Gerechtigkeit, und es entsprach dem großen Vorbild, dass auch Heinrich, von ständigen Rückschlägen bedroht, sich immer von neuem auf diesen Weg machen musste, bis endlich die Gewissheit die Anfechtungen in Schranken hielt. Auf die Gemeinschaft mit Baier kam dabei alles an, »der wahrlich ein zweiter Vater ist«: »Gelobt sei Jesus Christus in Ewigkeit! Der mir all meine Sünden vergiebt und heilet alle meine Gebrechen, der mein Leben erlöset hat vom ewigen Verderben. […] Ich sollte mein Leben ganz weihen zu seinem Dienste.«42 Dieser Entschluss hatte zur 38 Steffen, Kulturgeschichte, 353. 39 Steffen, Kulturgeschichte, 357. 40 Gotthilf Heinrich Schubert: Der Erwerb aus einem vergangenen und die Erwartungen von einem zukünftigen Leben. Bd. III 1. Erlangen 1856, 148 f. – Schubert würdigt auch Baiers »seltene Begabung für die Tonkunst« und nennt ihn überhaupt »eine so durchaus, an Seele und Leib musikalische, harmonisch wohlgestimmte Menschennatur, dergleichen ich auf Erden nur wenige gefunden« (ebd., 145). Baiers Musikalität im strikten Sinne hat auch Heinrich Ranke beeindruckt, und es ist kein Zufall, dass er selbst um 1820 zwei Kirchenlieder getextet hat (»Tochter Zion«, »Herbei, o ihr Gläubigen«); seine Texte stehen noch heute im Evangelischen Gesangbuch (Nr. 13 u. 45). Vgl. dazu Wolfgang Herbst: Ranke, Friedrich Heinrich. In: Ders. (Hg.): Wer ist wer im Gesangbuch? Göttingen 2001, 247 f. 41 Leopold von Ranke, Briefwechsel, 194; vgl. auch Friedrich Heinrich Ranke, Jugenderinnerungen, 178. 42 Leopold von Ranke, Briefwechsel, 208.

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Folge, dass er seine theologischen Studien wieder aufnahm. Er las mit Baier das Neue Testament,43 studierte die Genesis44 und diskutierte mit Baier und Schwarz über den Anteil der Philosophie an der Gotteserkenntnis, den er mit Baier gegen Schwarz deutlich herabstufte.45 Später schloss er seine Studien durch Examina in Magdeburg und Ansbach ab. Im Sommer 1822 eilte er an Baiers letztes Krankenlager ; er nahm das Sterben seines Mentors nach dem Muster von Christi Tod wahr und sah sich selbst in einer Art apostolischer Nachfolge: »es konnte mir in jener Zeit nichts Größeres geschenkt werden, als noch einmal den Freund zu sehen, durch den Gott meinem Leben eine ganz neue Wendung gegeben hatte.«46 Wie sehr Heinrich Ranke inzwischen in die Infrastruktur der Erweckungsbewegung integriert war, wurde um die gleiche Zeit deutlich, als Heinrich Dittmar ihn und Karl von Raumer zur Mitwirkung an einer von ihm geleiteten höheren Privatschule in Nürnberg einlud; sie sollte eine Musteranstalt neupietistischer Bildung sein. Heinrich nahm, wie auch Raumer, die Einladung an und begab sich im Frühjahr 1823 nach Nürnberg, wo er, neben den alten Sprachen, vor allem für den Religionsunterricht zuständig war. Er traf hier auch auf Schubert, der 1819 Professor in Erlangen geworden war, und wurde bald darauf dessen Schwiegersohn. Durch ihn bekam er Zugang zu der sehr facettenreichen erweckten Szene an der Erlanger Universität, in der auch Schelling, der Lehrer Schuberts, damals Professor in Erlangen, eine große Rolle spielte.47 Im Jahre 1824 bereiste Heinrich Ranke von Nürnberg aus andere Zentren der deutschen Erweckungsbewegung: er besuchte Friedrich von Meyer in Frankfurt am Main48 ; weitere Stationen waren Düsselthal, Elberfeld, Barmen und Neuwied. Ein Jahr später inspizierte er die Anstalten in und um Basel.49 Bei alledem betrieb er den Religionsunterricht in Nürnberg mit einem erweckten Eifer, der dem eher gemäßigten Direktor Dittmar auf die Dauer zu weit ging. Dieser fürchtete um die Akzeptanz der Schule beim Publikum und empfahl ihm, um zur Besinnung zu kommen, Schriften von de Wette und Schleiermacher, die Glauben und Vernunft ins Gleichgewicht zu bringen suchten. Heinrich blieb aber unbelehrbar : er »bekannte freudig, daß das Wort 43 Leopold von Ranke, Briefwechsel, 131 f, 184; Friedrich Heinrich Ranke, Jugenderinnerungen, 162. 44 Leopold von Ranke, Briefwechsel, 184, 208; Friedrich Heinrich Ranke, Jugenderinnerungen, 206. 45 Friedrich Heinrich Ranke, Jugenderinnerungen, 123 f, 193 f. Dazu auch Maskow, Theodor Schwarz, 22, 25 f. 46 Leopold von Ranke, Briefwechsel, 300; Friedrich Heinrich Ranke, Jugenderinnerungen, 223. 47 Dazu Friedrich Wilhelm Kantzenbach: Evangelischer Geist und Glaube im neuzeitlichen Bayern. München 1980, 127 f, 130. 48 Leopold Ranke hatte dem Bruder im Dezember 1820 Meyers »Heilige Schrift in berichtigter Übersetzung« übersandt, die diesen sehr ansprach: »Ein nützlicheres und mir wertheres konntest Du schwerlich finden« (Leopold von Ranke, Briefwechsel, 211, 221, 223). 49 Über beide Reisen Friedrich Heinrich Ranke, Jugenderinnerungen, 290 – 308, 310 – 313.

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Gottes mir unendlich höher stehe als jede Philosophie und jede auf sie gegründete Theologie«.50 Dittmar sah sich nach solchen sich häufenden Erfahrungen endlich veranlasst, von der Leitung zurückzutreten und damit die Schule scheitern zu lassen.51 Heinrich Ranke wurde dadurch jedoch nicht aus der Bahn geworfen, und nachdem er noch in Nürnberg zusammen mit Raumer nach Schweizer Vorbild eine Armenschule ins Leben gerufen hatte, begann er mit der Übernahme der Pfarrei in Rückersdorf52 seine Laufbahn in der bayerischen Landeskirche, in der er die Sache der Erweckungsbewegung in verschiedenen Funktionen verfocht: als Pastor und Prediger, als Universitätsprofessor, als Verwaltungsbeamter, der auch maßgeblich an der Förderung der Inneren Mission beteiligt war.53 Die verschiedenen Entwicklungswege der Brüder Ranke verliefen allerdings nicht unvermittelt, sondern waren aufs engste koordiniert. Zunächst und ganz allgemein ist hervorzuheben, dass die Brüder nicht nur der Differenzierungsprozesse, die sich da zwischen ihnen vollzogen, bewusst waren, sondern auch ein existentielles Bedürfnis hatten, sich darüber ununterbrochen mitzuteilen; wir kennen die wesentlichen Momente des einen wie des anderen Vorgangs hauptsächlich aus dem Briefwechsel, den sie in dieser Zeit geführt haben. Durchgängig erkennbar ist dabei das Bemühen, größtmögliches Einverständnis zu erzielen, aufeinander zuzugehen, frühere Gemeinsamkeiten nicht aufs Spiel zu setzen. Jeder von beiden hoffte sogar immer wieder, den anderen auf seine Seite oder in seine geistige Nähe ziehen zu können. Als Heinrich Ranke im Frühjahr 1821 von Altenkirchen nach Frankfurt an der Oder zurückkehrte, um hier seiner Wehrpflicht zu genügen, verschaffte ihm sein Bruder die Anwartschaft auf eine Lehrerstelle an seiner Schule, und er erreichte, dass er die dazu erforderliche Prüfung ablegte54 : »Deine Heimkehr zu menschlicher Philosophie und zu den Alten machte mich von Dir alles hoffen, was ich etwa vermißt«.55 Freilich wurde aus dieser 50 Friedrich Heinrich Ranke, Jugenderinnerungen, 259. 51 Dittmar setzte seine weitere Karriere in der bayerischen Pfalz fort und ist hier auch deswegen von Interesse, weil er später Geschichtswerke vor allem für den Schulgebrauch abgefasst hat und dadurch zu einem der Hauptautoren einer erweckten Geschichtsschreibung geworden ist. Zwei besonders erfolgreiche Titel: Die Weltgeschichte in einem leicht überschaulichen, in sich zusammenhängenden Grundrisse. Ein Leitfaden für den Unterricht an untern Gymnasien und lateinischen Schulen (Progymnasien, Pädagogien), in Schullehrer-Seminarien und in Real- und höhern Bürgerschulen, so wie auch zum Gebrauch beim Selbstunterricht. Heidelberg 31845; Die Deutsche Geschichte in ihren wesentlichen Grundzügen und in einem übersichtlichen Zusammenhang. Für den Schul- und Selbstunterricht. Heidelberg 41857. Vgl. dazu Schnurr, Geschichtsdeutung, 359, 373, 376 – 378; ders., Weltreiche, 57 – 65, passim (Register). 52 Vgl. dazu F. Niedermaier/ H. Stoeger (Hg.): Die Kirche im Dorf zu Rückersdorf. Friedrich Heinrich Ranke zum Gedenken. Nürnberg 1985. 53 Kantzenbach, Evangelischer Geist, 266 f, 337 f. 54 Die Prüfung fand im Juni 1821 in Berlin statt; einer der Prüfer war der Philosoph Hegel (Leopold von Ranke, Briefwechsel, 332; Friedrich Heinrich Ranke, Jugenderinnerungen, 203 f). 55 Leopold von Ranke, Briefwechsel, 308.

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Hoffnung nichts: Heinrich ging nicht nach Frankfurt, sondern nach Nürnberg; ein »Radikalenerlaß« der preußischen Regierung, der ihm wegen seiner Verbindung zu den Turnern eine Anstellung in Preußen verwehrte, hat dabei letztlich nur begünstigend gewirkt. Andererseits schwelgte Heinrich Ranke im Dezember 1823 in der Vorstellung, sein Bruder könnte ihm nach Nürnberg folgen: »wir würden […] das Werk unsers himmlischen Königs mit Freuden miteinander treiben«: »O liebes Herz, was könnte das für eine Schule werden!«56 Die Antwort des Bruders war freilich eindeutig: »denk nicht etwa, als paßt’ ich zu Eurer Schule. Ich fühle zwischen dem, was Ihr thut, […] und zwischen dem, was ich will, […] einen so wesentlichen Unterschied, daß ich beinah denken muß: unsere Trennung ist näher als eine solche Vereinigung«.57 In der Tat: diese wesentliche Unterscheidung bestand schon längst und eigentlich von Anfang an, und sie war nach der ganzen Lage der Dinge unausweichlich. Als sich Leopold Ranke auf den Weg zur modernen Geschichtswissenschaft machte, war seine Absage an christlich-theologisches Geschichtsdenken jeglicher Provenienz geradezu programmatisch. Er war und blieb ein lutherischer Christ, aber das war fortan seine Privatsache, der er keinerlei Einfluss auf seine historischen Studien einräumte. In der Historie ging es um die Immanenz der geschichtlichen Welt und um ihre empirische Erforschung aus den Überresten der Vergangenheit; für geoffenbarte Botschaften aus dem Jenseits war in ihr schlicht kein Platz. Mit der Auffassungsweise des erweckten Bruders konnte es da grundsätzlich keine Übereinkunft geben. Leopold Ranke hielt nicht nur dessen Religiosität an sich für allzu überspannt, allzu exzentrisch, »allzu pietistisch«58. Er selbst war religiös in den Konventionen von Elternhaus und Schule, die ihn seinerzeit auch zur Aufnahme des Studiums der Theologie bewogen hatten; die Radikalisierung Heinrichs stieß ihn ab oder beunruhigte ihn. Was ihm aber primär missfiel, war ein Dogmatismus, durch den er sich in seinem wissenschaftlichen Anspruch getroffen fühlte. Er setzte sich der »biblischen Orthodoxie« entgegen, der Heinrich und seinesgleichen wie Schubert und Raumer huldigten.59 Er beharrte demgegenüber, wie schon früher, mit anderer Stoßrichtung, bei seiner Kritik an der rationalistischen Theologie, auf der Geschichtlichkeit der Bibel, die ihm nur ein Moment in der Fülle des Historischen war. Er ging, wie er dem Bruder schrieb, auf »Entdeckungen menschlicher Tugenden,

56 Leopold von Ranke, Briefwechsel, 391. 57 Leopold von Ranke, Briefwechsel, 411. 58 Ebd. – Mein Beitrag erhebt keinerlei Ansprüche auf eine Abgrenzung der Begriffe »Erweckungsbewegung«, »Pietismus« und »Neupietismus«, um die in der theologischen Literatur bisweilen heftig gestritten wird (vgl. Beyreuther, Erweckungsbewegung, 2); gemeint ist hier immer die Erweckungsbewegung des 19. Jahrhunderts am Beispiel der Auffassungsweise eines Autors, der sich ihr zuordnen lässt. 59 Leopold von Ranke, Briefwechsel, 342, 411.

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menschlichen Lebens und einer menschlichen Geschichte«60. Wenn er in der Bibel las, dann, ganz in diesem Sinne, mit einem »menschlichen« Interesse.61 Umgekehrt sah es auf Heinrich Rankes Seite nicht anders aus. Zwar verfügte er seit Schule und Universität über solide Geschichtskenntnisse; sein Bruder bescheinigte ihm im Dezember 1820 sogar ein größeres historisches Wissen, als er selbst bei seiner Lehramtsprüfung im September 1818 besessen habe.62 Aber schon der Bruch Heinrich Rankes mit der rationalistischen Theologie gab ein Misstrauen an der Geschichte zu erkennen, und als er sich der Erweckungsbewegung anschloss, wurde daraus fundamentale Ablehnung. Er wachte in einem Milieu auf, das sein Heil außerhalb der Geschichte suchte. Die Historie ließ er nur gelten, wenn sie die Wege Gottes in der Menschenwelt nachwies und damit den Sinn für die biblische Wahrheit schärfte, die hoch über der geschichtlichen Wahrheit stand; das entsprach seiner mehrfach bekundeten Einstellung gegenüber der Philosophie.63 Die Geschichtsschreibung der neueren Zeit schien ihm diesem Maßstab ganz und gar nicht zu genügen, und er verwarf sie daher genauso wie den modernen Wissenschaftsbetrieb überhaupt, der an seinem Teil »zur Verbreitung der Gottlosigkeit beigetragen« habe64. Er verdeutlichte seine Abneigung in einem Brief an Leopold im April 1825 am Beispiel der Vorlesungen über die alte Geschichte des Berliner Historikers Friedrich von Raumer, eines Bruders von Karl von Raumer und künftigen Kollegen von Leopold: »Es ist eine gewisse unausstehliche Glätte, Vornehmheit und Kälte darin«; seine Geschichtsschreibung gereiche nicht »zu Gottes Lobe«. Er unterstellte, dass auch seinem Bruder diese »Art […] zuwider« sei: »Es ist wohl ganz überflüssig, Dich vor seiner ganzen Lebensan60 Leopold von Ranke, Briefwechsel, 341 f. 61 Am 1. September 1822 schrieb Leopold an Heinrich: »Sagen wollt’ ich Dir noch, daß ich die Bücher Mose, Josua, der Richter, Samuelis und der Könige […] gelesen habe – nicht ganz jedoch, sondern nur die Geschichten – Bücher voll Wunder, aber wahrhaftig nicht so leicht, wie der Homer. Ich bin an die Luthersche Typologie und das erwählte Volk vollends ganz ungläubig geworden. Kennst Du die Geschichte Sauls? Eine so wahre, menschliche, hohe tragische Heldenmär […] hat wohl keine andere Geschichte« (Leopold von Ranke, Briefwechsel, 292). Statt der bisherigen allegorischen Deutung, die die Geschichten des Alten Testaments auf die Geschichte Christi bezieht (»Luthersche Typologie«), und der Lehre vom alt-neuen Gottesvolk (»das erwählte Volk«) bot er eine vollkommen innerweltliche (»menschliche«) Betrachtung. Es ist bezeichnend, wie Heinrich darauf am 5. September 1822 antwortete: »Ueber Saul und Samuel wollen wir recht brüderlich unterhandeln; ich bin aber auch daran ihre Geschichte zu studiren« (Leopold von Ranke, Briefwechsel, 297); das bedeutete ebenso höflichen wie entschiedenen Widerspruch. 62 Leopold von Ranke, Briefwechsel, 213. 63 Ende Dezember 1819, bei der Rückkehr von seinem zweiten Besuch in Altenkirchen, traf er in Greifswald den mit Baier befreundeten Philosophieprofessor Muhrbeck. Auf seine Frage, »ob und wie er über Kant und Fichte hinausgekommen sei«, bekam er eine Antwort, die seine eigene Haltung genau kennzeichnete: »Sein Streben als Professor gehe dahin, seinen Zuhörern die philosophischen Disciplinen so vorzutragen, daß in ihnen das Verlangen nach einer höheren Offenbarung und der Sinn für dieselbe geweckt werde« (Friedrich Heinrich Ranke, Jugenderinnerungen, 142). 64 Leopold von Ranke, Briefwechsel, 599.

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sicht zu warnen«65. Und tatsächlich: Leopold Ranke hatte gewiss keine Schwierigkeiten, dieses vom Geist utilitaristischer Aufklärung geprägte Arrangement traditioneller Quellenschriftsteller auch aus seiner Sicht zurückzuweisen. Andererseits war nicht zu überhören, dass Heinrich mit seinem ostentativen Verzicht auf eine Warnung doch zugleich eine Art Warnschuss an den Bruder abfeuerte, ganz abgesehen davon, dass er mit seiner Charakteristik Raumers manches spätere Urteil über die Geschichtsschreibung Leopold Rankes vorwegnahm.66 Jedenfalls geriet ihm auch das Geschichtsdenken des Bruders in schweren Verdacht. Heinrich Ranke warnte ihn davor, die »Wahrheit« zu »ergrübeln«, d. h. auf seinem historisch-empirischen Weg zu suchen: »sie ist einmal in der Zeit erschienen«67. Und er wiederholte ihm gegenüber den Gemeinplatz des erweckten Geschichtsdenkens schlechthin: »Auch Dir wird keiner als Christus Jesus der Mittelpunkt der Weltgeschichte sein können.«68 An der doppelten Abgrenzung der einen von der anderen Seite ist also nicht zu zweifeln. Dennoch entstünde ein falsches Bild, wenn man es bei dieser Feststellung beließe. Denn es ist unleugbar, dass die Brüder auf ihrem jeweiligen Entwicklungsweg durchaus auch voneinander »gelernt« haben, dass sie zwar von ihren je eigenen Positionen prinzipiell nicht abgerückt sind, sich aber bis zu einem gewissen Grad auf die je andere Position eingelassen haben und dass dies gerade in der jeweils entscheidenden Formierungs- oder Präzisierungsphase geschehen ist. Man ist nicht darauf gefasst, dass sich diese Einwirkung zuerst und mit besonderer Durchschlagskraft bei Leopold Ranke geltend gemacht hat. Er schien seine Richtung mit einer Geradlinigkeit zu verfolgen, die von außen nicht zu erschüttern oder zu unterbrechen war. Aber die Erweckung seines Bruders hat ihn doch nicht nur beeindruckt, sondern zeitweilig auch in erhebliche Selbstzweifel gestürzt. Es imponierte ihm, wie Heinrich aus der bisherigen Orientierungslosigkeit heraus zu seiner Bestimmung fand. Er litt darunter, dass Baier ihm den Bruder sozusagen abspenstig machte69, und war

65 Ebd. 66 Genannt sei nur Heinrich von Treitschke, der schon mit Blick auf das Erstlingswerk von »einer vornehmen Zurückhaltung« sprach, »die Stimme des Gewissens« vermisste und »die Kräfte des Gemüts, deren jede lebenswahre Schilderung des Menschendaseins bedarf«, nicht »genugsam beachtet« fand (Heinrich von Treitschke: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 3. Leipzig 1927, 681). – An diese Stelle gehört auch eine Bemerkung Heinrich Rankes in den »Jugenderinnerungen« über die frühe Beschäftigung Leopolds mit den griechischen Tragödien: »er betrachtete die Tragödien schon ganz als Kunstwerke, die er zu erfassen und zu würdigen suchte, ohne den Gegenstand der Darstellung mehr als nöthig auf das Gemüth wirken zu lassen« (ebd., 36). 67 Leopold von Ranke, Briefwechsel, 313. 68 Leopold von Ranke, Briefwechsel, 351. – Vgl. dazu Schnurr, Geschichtsdeutung, 358; ders., Weltreiche, 38, 275. 69 Leopold von Ranke, Briefwechsel, 168.

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sehr bestrebt, das rückgängig zu machen.70 Trotzdem bewunderte er Baier aufrichtig, suchte ihn auch selbst noch im Jahre 1819 in Altenkirchen auf und wechselte mit ihm Briefe; er konnte verstehen, dass Heinrich sich diesem Mann ergab.71 Gemessen daran, war er selbst damals noch keineswegs am Ziel, sondern mitten in historiographischen Planungen begriffen, in die erst langsam Klarheit einzukehren begann. In einem Brief vom November 1820 beklagte er sein Schwanken zwischen »Mißlingen« und »Vollenden«, um in den Ausruf auszubrechen: »Hätt’ ich Deinen Glauben! Wär ich fest!«72 Das war natürlich ein rhetorischer Ausruf. Er sehnte sich nicht nach Heinrichs »allzu pietistischer« Religiosität, sondern nach der Konsequenz, mit der der Bruder ihm voranging. Der Ausruf verwies ihn auf ihn selbst, auf sein eigenes Vorhaben, eine neue Weltgeschichte ins Werk zu setzen. Er signalisierte, dass er immer noch über die genaue Richtung rang, die er dabei einzuschlagen hatte. Heinrichs Erweckung machte ihm aber nicht nur diese krisenhafte Situation bewusst; sie wies ihm zugleich einen Ausweg. Leopold Ranke sah sich nämlich durch das religiöse Erwachen des Bruders genötigt, seine historiographischen Pläne auf Begriffe zu bringen, die mit dessen Sprache kompatibel waren. Die Lösung bestand darin, dass er auch für seine Art der Geschichtsschreibung eine religiöse Mission beanspruchte. Er erklärte die geschichtliche Welt in allen ihren Erscheinungsformen, die er auf empirischem Wege zu erforschen unternahm, für ein Werk Gottes und damit sein eigenes historiographisches Geschäft zu einem Dienst an Gott. Es ist evident, dass er mit dieser Wendung sein immanentes Geschichtsverständnis nicht etwa aufgab, sondern im Gegenteil neu begründete. Die geschichtliche Welt war ein Werk Gottes, aber Gott gehörte dieser Welt selbst an und war sozusagen nur mit den Mitteln der modernen Geschichtswissenschaft zu erfassen: er steckte im je Einzelnen, Besonderen, Individuellen; er legte sich aus in kleineren und größeren Zusammenhängen, die auf das Ganze der Menschheit und Menschheitsgeschichte zuliefen; er stand, vertikal wie horizontal, für die Einheit der Geschichte. Das war keine Theologisierung oder Retheologisierung in dem Sinne, dass hier neuerdings ein jenseitiger Gott auf den Plan getreten wäre; das bekannte Buch von Carl Hinrichs hat hier in die Irre geführt.73 Leopold Rankes 70 Leopold von Ranke, Briefwechsel, 214. 71 Friedrich Heinrich Ranke, Jugenderinnerungen, 131: »Der Eindruck, den er [Leopold] von Baier empfing, war, wenn auch dem nicht gleich, den ich von ihm empfangen hatte, doch ein sehr bedeutender.« 72 Leopold von Ranke, Briefwechsel, 211. 73 Carl Hinrichs: Ranke und die Geschichtstheologie der Goethezeit. Göttingen [u.a.] 1954 (Göttinger Bausteine zur Geschichtswissenschaft, 19). Der Autor unterlegt dem Rankeschen Plan einer neuen Weltgeschichte zwar nicht das traditionelle christlich-theologische Konzept, aber einen romantischen Offenbarungsglauben, der, bei aller Vermittlung mit der historischen Empirie, im Entscheidenden über sie hinausführt: die »Idee von der Einheit Gottes als der Uridee der Urzeit der Menschheit, deren […] monotheistische Urkräfte auch die Zeiten des Abfalls zum Polytheismus durchwirken, bis in Christus die Idee der Einheit Gottes und der Menschheit wiedererscheint […], d. h. die Menschheit in ihr ursprüngliches Dasein zurückruft«

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religiöse Sprache war metaphorisch, nicht metaphysisch, jedenfalls von ursprünglichen Konnotationen frei. Aber es bedeutete viel, dass er sich gerade dieser Sprache bediente oder bedienen zu müssen glaubte. Die moderne Historie, wie er sie betrieb, erhielt so religiöse Würde und Rechtfertigung. Gleichzeitig bekam er damit eine Terminologie an die Hand, die es ihm ermöglichte, sein historiographisches Vorhaben so zu strukturieren, dass daraus ein ebenso präzises wie auf Dauer angelegtes Erkenntnisinteresse erwuchs. Es ist alles andere als zufällig, dass Leopold Ranke sich erstmals Ende März 1820 über diese neue Konzeption ausgesprochen hat, und zwar in einem Brief an seinen Bruder. Dieser war gerade wieder auf Rügen eingetroffen, um seine Initiation »im Dienste des Reiches Gottes« zu vollenden74. Leopold Ranke fühlte sich in dieser Lage offenbar gedrängt, sich Heinrich gegenüber ebenfalls als Diener Gottes auszuweisen und so mit ihm gleichzuziehen. Er umriss zunächst schärfer als zuvor sein historiographisches Projekt und verankerte es sodann in der Vorstellung, dass alle historische Erkenntnis und dass zumal »der Zusammenhang der großen Geschichte« zuletzt »zu Gott führt«: »Auch so dienen wir Gott, auch so sind wir Priester«75. Auch die weiteren Briefe an Heinrich, mit denen er die Entstehung seines Erstlingswerks begleitete, waren von Äußerungen dieser Art durchzogen. Kurz vor der Drucklegung, am 18. Februar 1824, hat er sich darüber abschließend ausgesprochen. Leopold Ranke zog in diesem Brief eine Summe aus seinem ganzen bisherigen Werdegang. Er begann mit der Gewissheit, »daß ich zum Studieren geboren bin und auf der Welt zu weiter garnichts tauge«: sie war das vorläufige Ergebnis seiner Suche nach dem für ihn rechten Weg, »etwas Tüchtiges [zu] vollenden« und damit den an ihn gerichteten Ansprüchen auf Leistung und Aufstieg gerecht zu werden. Als Nächstes benannte er seine Wendung »zum Studium der Geschichte«, die keineswegs von vornherein feststand: »aber ich habe es einmal ergriffen und lebe darin und fühle meine Seele dabei selig, zufrieden und vergnügt; also will ich es nur festhalten«; er könne »diese Studien nicht lassen«, »ohne mich selbst zu morden«. Mit dem Buch, das aus ihnen hervorgegangen war, wagte er sich »auf Lob und Tadel« hinaus, und es ist bemerkenswert, dass er dabei sein spezifisches religiöses Motiv herausstellte: er wisse, dass er bei der Verfertigung dieses Buches »nicht allein hier und da etwas Unbekanntes gefunden, sondern das unmittelbare Walten, sichtbare Handeln Gottes wenigstens von fern gesehen und von dem Leben der menschlichen Seele etwas gespürt habe«. Auch künftig wollte er »von wahren Menschen, dem wahren Gott und wirklich geschehener Geschichte wahrhaf(ebd., 254). Diese »Idee« hat mit der konkreten historiographischen Praxis Rankes schlechterdings nichts zu tun; vgl. dazu schon Ernst Schulin: Die weltgeschichtliche Erfassung des Orients bei Hegel und Ranke. Göttingen 1958 (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte, 2), 149 f. 74 Friedrich Heinrich Ranke, Jugenderinnerungen, 154. 75 Leopold von Ranke, Briefwechsel, 173 f.

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ten Bericht erstatten«76. Die metaphorische Rede vom »Handeln Gottes« in der Geschichte war hier sehr weit getrieben, aber ohne das empirische Gebot des Historikers ernsthaft in Frage zu stellen; »wahrer Mensch«, »wahrer Gott«, »wirklich geschehene Geschichte« wurden eins; Gott ging in der Geschichte auf; der Historiker diente Gott, indem er sie in ihren immanenten Verursachungen erforschte. Leopold Ranke erklärte diesen Gottesdienst zur Sendung seines wissenschaftlichen Lebens. Er hatte damit gegenüber dem Bruder endgültig eine Position eingenommen, die er für unangreifbar hielt. Auch das Erstlingswerk selbst gab diese Position deutlich genug zu erkennen. In der »Vorrede« setzte sich der Verfasser »ein erhabenes Ideal: das ist die Begebenheit selbst in ihrer menschlichen Faßlichkeit, ihrer Einheit, ihrer Fülle«: »Menschheit wie sie ist, […] das Leben des Einzelnen, der Geschlechter, der Völker, zuweilen die Hand Gottes über ihnen.«77 Das war wiederum die Gleichung von innerweltlicher und »göttlicher« Geschichte; die »Begebenheit selbst« verwies aus sich heraus auf »die Hand Gottes«, die nur in einem übertragenen Sinne »über« ihr war. Auch sonst kam Gott in dieser Bedeutung gelegentlich vor. Leopold Ranke bezeichnete seinem Bruder in einem späteren Brief zwei solcher Stellen.78 An der einen war von »Gottes Finger« die Rede, den der Autor »Zufall oder Geschick« vorzog;79 Gott stand hier also für den immanenten Sinn und damit für die Verstehbarkeit des Geschehens. An der anderen Stelle fragte der Autor, was »die Nationen erhöhet und erniedrigt«: »Ist es Gott, der nicht allein Schöpfer ist, sondern auch ein Verderber, der an den Menschen Gefallen und Mißfallen findet?«80 ; er umschrieb hier mit der traditionellen Figur des direkt in das Menschengeschehen eingreifenden Gottes dessen Wirksamkeit in den Dingen selbst; die Frageform sollte jeden Zweifel an dieser Deutung beseitigen. Leopold Ranke konnte freilich nicht verhindern, dass man solche Feststellungen gelegentlich wörtlich nahm. Der damals noch unerweckte Heinrich Leo verfasste eine vernichtende Kritik der Geschichten und nahm dabei besonders diesen Sprachgebrauch aufs Korn: »was soll man von so weibisch abergläubischen Beobachtungen halten?«81 Der tief getroffene Autor suchte sich in einer Erwiderung zu recht-

76 Leopold von Ranke, Briefwechsel, 437 f. 77 Leopold Ranke: Geschichten der romanischen und germanischen Völker von 1494 bis 1535. Erster Band. Leipzig/Berlin 1824, VIII. – ND samt der Beilage Zur Kritik neuerer Geschichtschreiber, hg. v. Oliver Ramonat, Hildesheim 2010. 78 Leopold von Ranke, Briefwechsel, 568. 79 Leopold Ranke, Geschichten, 139. 80 Leopold Ranke, Geschichten, 315 f. 81 Heinrich Leo in: Ergänzungsblätter zur Jenaischen Allgemeinen Literatur-Zeitung, 17, 1827, 129 – 136 u. 18, 1828, 137 – 140, hier 137; Leo nimmt sich besonders die oben in Anm. 79 nachgewiesene Stelle vor: »Wer Zufälliges für göttlich hält, ist abergläubisch. Der sentimentale Abergläubische wird also von Gottes Finger reden, wo der Vernünftige von einem entscheidenden Augenblick spricht.« – Zu Leo als einem Vertreter der erweckten Geschichtsschreibung vgl. Schnurr, Geschichtsdeutung, 357 – 359; ders., Weltreiche, 41 – 44, passim (Register).

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fertigen,82 berücksichtigte aber Leos Kritik insofern, als er in seinen späteren Schriften deutlich weniger und indirekter von Gott sprach; man sehe nur, wie er in der zweiten Auflage der Geschichten mit den beiden oben im Brief an Heinrich zitierten Stellen umging: die erste fiel ganz weg, an der zweiten führte der Autor, und zwar ebenfalls in Frageform, lediglich »ein göttliches von vornherein bestimmtes Verhängniß« ein, in dem die Metapher zu einer Abstraktion verschwamm.83 Die Unbedenklichkeit, mit der er an solchen Stellen seinen Sprachgebrauch änderte, zeigt, dass hier für ihn nicht die Substanz der Sache selbst auf dem Spiel stand, sondern allein die angemessene rhetorische Stilisierung.84 Leopold Ranke legte großen Wert darauf, dass Heinrich das Erstlingswerk sofort nach Erscheinen bekam und ihm seine Meinung schrieb. Er schlug ihm sogar vor, wie er zu lesen habe: »Wenn Du kannst, so weihe der Geschichte einige und zwar rechte Morgen. Jeden Morgen lies ein Kapitel.«85 Das Werk erschien da als eine Art Andachtsbuch, in dem der Bruder wie in der Bibel lesen sollte. Als Heinrich bei der Lektüre nicht, wie von Leopold erwünscht, vorankam, suchte ihn dieser noch drängender für das Buch zu interessieren. Er erwähnte Stellen, »die Dich ganz in Anspruch nehmen müssen und eigentlich für Dich sind«. Er verkündete auch nochmals sein religiös-wissenschaftliches Programm: »Ich suche gewiß die Wahrheit und nicht den Wahn; ich suche die Wahrheit mit allen Kräften; ich bin der Allgegenwart Gottes gewiß und meine, man könne ihn bestimmt mit Händen greifen.« Und er setzte hinzu: »Ich bin gegenwärtig in einer Stimmung, daß ich mir tausend mal schwöre, mein ganzes Leben in Gottesfurcht und Historie zu vollbringen; das wirst Du mir glauben«.86 Das Werk sollte Zeugnis ablegen von der Immanenz Gottes in der Geschichte und von dem religiösen Beruf des Geschichtsschreibers und damit den Bruder davon überzeugen, dass auch er, der Autor, religiös gestimmt sei. Wie der geradezu beschwörende Ton, in dem Leopold Ranke hier sprach, zeigt, lag ihm alles daran, sich in dieser Weise vor dem Bruder zu rechtfertigen. Die Reaktion von Heinrich Ranke auf das Buch entsprach nicht völlig, aber doch in allem Wesentlichen den Erwartungen des Bruders. Er habe sich »in Betrachtung der menschlichen Dinge, wie Du sie vorlegst, erschüttert und 82 Leopold von Ranke: Erwiderung auf Heinrich Leo’s Angriff. In: Ders., Lebensgeschichte, 659 – 666, hier 665 f. 83 Leopold von Ranke: Geschichten der romanischen und germanischen Völker von 1494 bis 1514. Leipzig 21874 (Sämmtliche Werke, 33/34), 111, 244. 84 Vgl. zu den Wandlungen des Rankeschen Sprachgebrauchs Friedrich Baethgen: Zur geistigen Entwicklungsgeschichte Rankes in seiner Frühzeit. In: Werner Conze (Hg.): Deutschland und Europa. Festschrift für Hans Rothfelds. Stuttgart 1951, 337 – 353. 85 Leopold von Ranke, Briefwechsel, 526. 86 Leopold von Ranke, Briefwechsel, 568. Einige Zeilen weiter heißt es: »aber in dem, worin auch Du, will ich alles Lob suchen, und zur Erkenntniß des lebendigen Gottes, des Gottes unsrer Nationen und der Welt sollen alle meine Sachen gereichen« (ebd., 569).

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erbaut« und sich »an der lebendigen Erfassung der Geschichten« erfreut, und er schloss mit dem Satz: »Ich habe bei dieser Gelegenheit Dein Amt in der Geschichtschreibung als ein heiliges erkannt, und ich bitte Gott von Herzen, er wolle Deine Arbeiten segnen und zur Auferbauung der Christengemeinden gedeihen lassen.«87 Das klang nicht nur wie ein fernes Echo auf Leopolds Brief vom März 1820, sondern verriet auch, wie sehr Heinrichs Entwicklung, die den Bruder so sehr beeindruckt hatte, inzwischen ihrerseits unter dessen Einfluss geraten war. Es handelte sich nicht allein darum, dass er die intellektuelle Leistung Leopolds hochachtete, die ihm Zug um Zug vor Augen trat. Es handelte sich vor allem auch darum, dass der Bruder ihn dazu brachte, den Rang der Geschichte in seinem eigenen Weltverständnis neu zu bewerten. Bis dahin war sie ihm als bloße Vorstufe der biblisch begründeten Gotteserkenntnis erschienen. Jetzt begann er, ohne diese Unterordnung grundsätzlich zu bestreiten, der Historie gleichsam einen größeren Freiraum zuzubilligen. Raumer und Schubert konnten ihm vorführen, dass die immanente Betrachtung der Natur durchaus mit dem Gedanken der göttlichen Offenbarung vereinbar sei; die innerweltliche Logik der Natur ließ sich großenteils unmittelbar mit göttlicher Schöpfung und Lenkung gleichsetzen. Auch die Philosophie, die er im Allgemeinen so tief unter die Theologie stellte, konnte gelegentlich in seiner Wertschätzung steigen.88 In der Geschichte lagen die Dinge freilich komplizierter ; der Sündenfall des Menschen stand einer innerweltlichen Sinngebung der Geschichte von Grund auf entgegen; das schlechthin Böse war durch sich selbst nicht verständlich. Da aber letztlich alles Geschehen von Gott ausging, war offenbar auch dieser innerweltliche Sinn göttlicher Herkunft, und es hing von der jeweiligen Einstellung ab, welchen Radius man ihm zumaß. Heinrich Ranke ging hier unter der Einwirkung des Bruders weiter und weiter. Leopold bot ihm nicht nur eine Fülle empirischen Forschungswissens, die man nicht einfach ignorieren konnte, sondern auch Anschlussstellen für ihre religiöse Indienstnahme. Die Geschichtsschreibung im Stile Leopold Rankes rückte damit in den Kontext der Erweckung. Heinrich erhoffte sich von ihr einen fundamentalen Beitrag »zur Auferbauung der Christengemeinden«. Moderne Geschichtswissenschaft und Erweckung traten in ein symbiotisches Verhältnis. Diese doppelte Annäherung der Brüder hatte durchaus Bestand. Der Historiker gebrauchte auch künftig eine von religiösen Metaphern besetzte 87 Leopold von Ranke, Briefwechsel, 539. 88 Baier berichtete Heinrich einmal von einem Gespräch mit Fichte: »Baier hatte ihm geklagt, daß er Vieles in seinen Schriften nicht verstehen, sich nicht aneignen kann. Da legte Fichte seine Hand auf das aufgeschlagen vor ihm liegende Evangelium Johannis und sagte: ›Lesen Sie das Evangelium Johannis, darin finden Sie Alles, was ich denke, daran halten Sie sich!‹« (Friedrich Heinrich Ranke, Jugenderinnerungen, 124). Schon früher hatte Fichtes »Anweisung zum seligen Leben«, die Leopold dem Bruder zur Lektüre empfohlen hatte, auf Heinrich »erhebend und zu allem Guten antreibend und ermuthigend« gewirkt (Friedrich Heinrich Ranke, Jugenderinnerungen, 90 f).

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Sprache, der erweckte Theologe wusste auch künftig die Geschichtsschreibung seines Bruders und überhaupt die Errungenschaften der modernen Geschichtswissenschaft zu schätzen.89 Zwischen ihnen herrschte friedliche Koexistenz; aller Streit schien vergessen. Der Streit war freilich nicht eigentlich beigelegt. Die Religiosität des Historikers war und blieb von derjenigen des Theologen grundverschieden; die eine zielte auf historische Immanenz, die andere auf überhistorische Transzendenz. Grundverschieden war und blieb auch das historische Interesse des Theologen von demjenigen des Historikers; das eine hielt sich zuletzt doch in den Grenzen, die ihm durch die biblische Offenbarung gesetzt waren, das andere hob sich über solche Grenzen hinaus. Die gegenseitige Annäherung beruhte auf gegenseitiger Instrumentalisierung. Den Brüdern Ranke ist das immer wieder bewusst gewesen, und wenn sich zwischen ihnen auf Dauer friedliche Koexistenz einstellte, dann auch deswegen, weil sie schließlich diesen Gegensatz akzeptierten. In seinen letzten Briefen an Heinrich hat Leopold den »Unterschied zwischen uns« aus »dem inneren Kerne des Daseins« abgeleitet, der nun einmal hinzunehmen sei und gerade deshalb »geistiges Verständnis« ermögliche.90 Diese Äußerungen hatten noch eine grundsätzliche Dimension. Sie bedeuteten nämlich, dass Leopold Ranke seine eigene Position wie die seines Bruders gleichsam historisierte: statt Partei zu ergreifen, lieferte er eine geschichtliche Erklärung; er »verstand«, statt zu »werten«; er urteilte also in eigener Sache wie ein Historiker. Schon früher hatte er gegenüber Heinrich so gesprochen. Als dieser im Frühjahr 1823 nach Nürnberg gegangen war, rief ihm der Bruder hinterher, dass beide in einem je verschiedenen »Element« lebten, das sie »mit einer bildenden Gewalt« ergreife: »ohne die Schuld des einen oder des andern«; zum Vergleich verwies er auf festumrissene sozialgeschichtliche Phänomene wie Ritterschaft und Zünfte.91 Über Heinrichs Tätigkeit an der Dittmarschen Schule meinte er im Dezember 1823: er könne »nichts gegen Euch haben, sondern über jedes besondere Leben freue ich mich meiner Natur nach«.92 In der Tat: Leopold war von »Natur« aus kontemplativ gestimmt; er hatte seit jeher die Neigung oder Veranlagung, die Welt, in der er lebte, mit historischen Augen zu sehen, sozusagen alles, was ihm begegnete, in Geschichte und geschichtliche Erkenntnis zu verwandeln. Seine Wendung zur Geschichtswissenschaft konnte ohne diese Disposition nicht gedacht werden und hat sie erfüllt. Natürlich lebte er zugleich in der praktischen Welt, in der es auf Gefühle und Überzeugungen, auf Entscheidungen und Handlungen ankam; aber er war erst dann in seinem 89 In seiner Ansbacher Zeit veranstaltete Heinrich Ranke »Leseabende«, auf denen auch »Theile aus dem Geschichtswerke meines Bruders gelesen« wurden (Friedrich Heinrich Ranke, Jugenderinnerungen, 421). Von der »Deutschen Geschichte im Zeitalter der Reformation« war er so begeistert, dass er den Bruder neuerdings, wie seinerzeit in jenem Gespräch während der Studienzeit, zu einer »Stütze der Kirche« erklärte (Fuchs, Heinrich Ranke, 200). 90 Leopold von Ranke, Briefwerk, 521, 532. 91 Leopold von Ranke, Briefwechsel, 354 f. 92 Leopold von Ranke, Briefwechsel, 411.

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»Element«, wenn er ihr ihre Geschichte nachwies. Manchmal hat er geradezu die eine mit der anderen Sphäre verwechselt und die Maßstäbe des Historikers unvermittelt auf die praktische Welt übertragen, ohne deren eigene Logik zu erfassen. Man hat das für sein Verhältnis zur Politik gezeigt.93 Für sein Verhältnis zur Religion und damit für sein Verhältnis zu Heinrich galt Ähnliches oder Analoges. Leopold Ranke gehörte aus Tradition der evangelischen Kirche an, war aber, anders als der »allzu pietistische« Bruder, kein im eigentlichen Sinne religiöser Mensch; eine Verständigung konnte es daher auf dieser Ebene nicht geben. Andererseits ermöglichte ihm das historische Denken, gleichermaßen sich selbst und seinem Bruder gerecht zu werden. Der Historiker führte auf seiner Ebene zusammen, was in der unmittelbaren Lebenswelt umstritten war. Über alles Persönliche hinaus kündigte sich hier ein Grundproblem der modernen Geschichtswissenschaft an: die angemessene Verbindung von Leben und Denken, von Theorie und Praxis. Mein Beitrag soll mit einer ergänzenden Bemerkung zu Heinrich Ranke schließen, die am Ende nochmals zu Leopold Ranke zurücklenkt. Heinrich Ranke hatte ein Interesse an der Geschichte, und wenn er auch kein Historiker war, so findet sich doch in seinen Schriften, die allesamt religiös-theologischen Inhalts sind, manches Historische, das im Zusammenhang mit dem Geschichtsverständnis der Erweckungsbewegung Beachtung verdient. Dabei finden wir bestätigt oder konkretisiert, was wir bisher über sein Geschichtsdenken erfahren haben. Zunächst kommt hier eine Arbeit von explizit wissenschaftlichem Charakter in Betracht: das sind Heinrich Rankes Untersuchungen über den Pentateuch, die 1834 und 1840 in zwei Bänden erschienen.94 Der Autor wollte darin de Wette widerlegen, der in seiner Einleitung in das Alte Testament (1806/1807) die fünf Bücher Mose »eine Sammlung einzelner, ursprünglich unter sich unabhängiger Aufsätze verschiedener Verfasser« genannt hatte95, und suchte demgegenüber die Einheit der Mosaischen Schriften zu erweisen. Es ging dabei freilich keineswegs um einen rein gelehrten Streit. Heinrich schrieb vielmehr, wie es in der Widmung an Gotthilf Heinrich Schubert hieß, in »apologetischer« Absicht. De Wette und andere Autoren seines Kalibers wie Johann Severin Vater schienen ihm mit der Einheit des Pentateuch zugleich die Einheit des Alten Testaments und der Bibel überhaupt in Frage zu stellen und damit das »Fundament« zu zerstören, auf dem »die Kirche Christi« ruhte.96 Hier schlug wiederum seine alte Abneigung gegen die rationalistische Bibelkritik durch, aber jetzt von einer gefestigten Glaubensgrundlage aus. Er wollte 93 Otto Vossler: Ranke und die Politik. In: Ders.: Geist und Geschichte. Von der Reformation bis zur Gegenwart. Gesammelte Aufsätze. München 1964, 166 – 183. 94 Friedrich Heinrich Ranke: Untersuchungen über den Pentateuch, aus dem Gebiete der höheren Kritik. 2 Bd. Erlangen 1834/1840. Dazu Schnurr, Weltreiche, 136 f. Ich bin Jan Carsten Schnurr für den Nachweis eines Exemplars der Untersuchungen sehr verbunden. 95 Leopold von Ranke, Briefwechsel, 580 f. 96 Friedrich Heinrich Ranke, Untersuchungen, Bd. 1, 6.

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dazu beitragen, »die Integrität und Authentie der biblischen Schriften wider die Feinde der Offenbarung zu vertheidigen«97. Das Ergebnis seiner Untersuchung stand insoweit von vornherein fest. Andererseits maß er seinem Geschäft größte Bedeutung zu; die Wissenschaftlichkeit der Theologie hing ihm von der Überprüfung der »Aechtheit und Glaubwürdigkeit« der biblischen Bücher ab, die prinzipiell nicht anders vor sich gehen konnte als die Quellenkritik im Bereich der profanen Weltgeschichte.98 Er betrieb daher, um seine These zu erhärten, hohen wissenschaftlichen Aufwand. Er mobilisierte das gesamte Instrumentarium der modernen Philologie: er konnte Hebräisch, lernte Arabisch, las den Koran und drang tief in Literatur und Geschichte des Alten Orients ein;99 das alles kam einem historischen Verständnis der Bibel zugute. Sein ganzer Ehrgeiz ging auf eine wissenschaftliche Widerlegung seiner Gegner. Sein Haupteinwand lautete, dass de Wette und Vater in Äußerlichkeiten steckengeblieben seien und infolgedessen ein »Gewirre loser Atome« bekommen hätten100 : sie lieferten damit ein Beispiel »willkührlich zerstörender Kritik«101. Dieser Kritik setzte er seine »höhere Kritik« entgegen, die, auf den Inhalt der Mosaischen Bücher zielend, den »Endzweck des Werkes« und damit den »Plan [des] Ganzen« freilegte, der »die einzelnen Theile vom Anfang bis zum Ende mit einander verbindet«102. Das entsprach dem Standard der seit Niebuhr um »negative« und »positive« Quellenkritik geführten Diskussion und bot ein Muster moderner Hermeneutik. Alles in allem genommen, stand Heinrich Ranke also durchaus auf der Höhe der Geschichtswissenschaft seiner Zeit. Er berief sich einmal sogar gegenüber Leopold Ranke ausdrücklich auf dessen Vorbild.103 Aber die Bibel blieb eben doch ein historischer Text, der ins Übergeschichtliche reichte und zuletzt nur von ihm her zu verstehen war. Aller philologisch-historische Scharfsinn konnte lediglich dazu dienen, diesen Status zu bekräftigen. In einem davon ganz verschiedenen Sinne schrieb Heinrich Ranke Geschichte in seiner Autobiographie, die 1877, kurz nach seinem Tod, veröffentlichte wurde. Er inszenierte darin sein Leben als einen »langen Pilgergang« in der »Hoffnung auf das himmlische Reich«104, vergleichbar der Reise des Pilgrims in dem Roman von John Bunyan, den Heinrich früher übersetzt hatte: einem Lieblingsbuch der Erweckungsbewegung105. Im Zentrum stand 97 98 99 100 101 102 103 104 105

Friedrich Heinrich Ranke, Untersuchungen, Bd. 1, 8. Ebd. Friedrich Heinrich Ranke, Jugenderinnerungen, 364 f. Friedrich Heinrich Ranke, Untersuchungen, Bd. 2, V, XI. Friedrich Heinrich Ranke, Untersuchungen, Bd. 1, VI. Friedrich Heinrich Ranke, Untersuchungen, Bd. 1, 36, 159. Fuchs, Heinrich Ranke, 197. Friedrich Heinrich Ranke, Jugenderinnerungen, 426. Des Christen Wallfahrt nach der himmlischen Stadt. Frei, nach dem Englischen des John Bunyan, bearbeitet von Dr. Friedrich Heinrich Ranke […]. Mit einer Einleitung von Dr. G. H. von Schubert. Erlangen 31845. Vgl. dazu Auguste Sann: Bunyan in Deutschland. Studien zur

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seine Erweckung auf Rügen: alles andere war Vorgeschichte und Nachgeschichte. Die Leser sollten sich an diesem Buch erbauen, wie an anderen autobiographischen Hervorbringungen der Erweckungsbewegung106 ; hier liegt besonders das Beispiel von Gotthilf Heinrich Schubert nahe, um von Klassikern wie den Confessiones des Augustinus zu schweigen107. Die didaktische Absicht führte zu Stilisierungen: während der ersten Reise nach Rügen erlebt Heinrich, gleich Luther, einen »Donnerschlag«, »als hätte Gott mir etwas zu sagen«108 ; als er die »Herrlichkeit der Insel« erblickt, »erwachte in mir das Sehnen nach vollkommener Reinheit des Herzens«109 ; am nächsten Morgen sieht er »die Sonne in ihrer vollen Pracht aufgehen«: »wie Aufgang der wahren, ewigen Sonne«110 ; diese Analogisierung des eigenen religiösen Erwachens mit dem erwachenden Tag war ein topisches Motiv der Erweckungsliteratur. Andererseits erschöpfte sich das Buch keineswegs in solchen Phrasen; sie waren vielmehr eingebettet in eine durchaus »realistische« Darstellung des eigenen Werdens, die obendrein recht zuverlässig informiert, wie der Vergleich mit den erhalten gebliebenen primären Quellen, etwa auch mit den Briefen an Leopold, zeigt. Auch hier macht sich also, neben und mit der erbaulichen Intention, ein starkes historisches Interesse geltend. Am instruktivsten für das Geschichtsverständnis von Heinrich Ranke ist allerdings ein anderes Textcorpus: die Sammlung seiner Predigten.111 Man hat die Historiographie der Erweckungsbewegung dem Oberbegriff der »Geschichtspredigt« subsumiert, um die Analogie dieses Schrifttums zur Predigt als der literarischen Urform der Bewegung zu kennzeichnen.112 Bei Heinrich Ranke kann man geradezu sagen: seine Predigten selbst waren Geschichtspredigten. Die Sammlung enthielt Sonntagspredigten, die er in seiner Rückersdorfer und Thurnauer Zeit im Laufe eines Kirchenjahres gehalten hatte. Die Anordnung schloss sich an dessen Abfolge an, und ihr roter Faden war die biblische Weltgeschichte. Heinrich Ranke begann am ersten Advent mit der Erschaffung des Menschen und endete am Totensonntag mit dem Weltgericht; dazwischen lagen, jeweils unterbrochen von alttestamentlichen Verheißungen Jesu und seiner Sendung, die Hauptmomente der neutestamentlichen Geschichte. Jede Station auf diesem Wege wurde zum Gegenstand einer Auslegung, die der Gemeinde die Grundmotive erweckter Religiosität einschärfen sollte. Es verstand sich, dass der Prediger an der Authentizität des von der

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literarischen Wechselbeziehung zwischen England und dem deutschen Pietismus. Gießen 1951, 27 f. Dazu Schnurr, Geschichtsdeutung, 362; ders., Weltreiche, 127 – 129. Friedrich Heinrich Ranke, Jugenderinnerungen, 180 f. Friedrich Heinrich Ranke, Jugenderinnerungen, 108. Friedrich Heinrich Ranke, Jugenderinnerungen, 111. Friedrich Heinrich Ranke, Jugenderinnerungen, 124. Friedrich Heinrich Ranke: Predigten. 3 Bd. Erlangen 21840, 1841, 1842. Schnurr, Geschichtsdeutung, 364 – 369; ders., Weltreiche, 164 – 171.

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Bibel Berichteten keinerlei Zweifel hegte; auch die biblische Zeitrechnung blieb unangetastet.113 In diesem Rahmen kam Heinrich Ranke nun wiederholt auch auf Ereignisse der außerbiblischen Geschichte zu sprechen, und es war folgerichtig, dass er sie vom Maßstab der biblischen Geschichte und ihrer Auslegung her beurteilte. Er sah die außerbiblische Geschichte im Allgemeinen in düstersten Farben: die Menschenwelt war voller Sünde;114 in ihr war alles unbeständig und vergänglich;115 sie lebte im »Winter dieser Zeitlichkeit«116. Sie hatte keinen Sinn in oder aus sich selbst, sondern empfing ihn, im Großen wie im Kleinen, vom biblischen Gott und seinen Ratschlüssen. In der Hauptsache brachte der Prediger Tatsachen aus der Kirchengeschichte bei: die Christianisierung der römischen Welt;117 Bonifatius,118 die Reformation,119 die neuere und neueste Missionsgeschichte120 ; sie zeugten »von einer ewigen Güte«121 und waren damit Zeichen der göttlichen Gnade. Er bezog aber auch die profane Geschichte ein. Die Französische Revolution zeigte ihm den Weg vom Ungehorsam gegen die Obrigkeit über den Ungehorsam gegen Gott bis zur Katastrophe;122 sie zeugte von Schuld und »gerechter Vergeltung«123 und war damit ein Zeichen des göttlichen Zorns. Demgegenüber erschien ihm die Abschüttelung der französischen Fremdherrschaft über Deutschland in den Freiheitskriegen wie ein Vorbote für die kommende religiöse Erweckung.124 Immerhin erkannte er mit alledem an, dass es neben der biblischen Offenbarung auch eine göttliche Offenbarung in der Geschichte geben konnte: »Auch in der Geschichte der Menschen, der Völker, wie der Einzelnen, ja in der Geschichte unseres eigenen Lebens, sehen wir zuweilen den Finger Gottes«125 ; er spielte damit auf die Vorrede der Geschichten der romanischen und germanischen Völker an. Auch wenn diese Interventionen, anders als in den Schriften des Bruders, transzendenten Ursprungs und den großen Begebenheiten der Heilsgeschichte nachgeordnet waren, wies der Prediger damit der außerbiblischen Geschichte ein nicht unbeträchtliches Eigengewicht zu. Leopold Ranke hat alle diese Bücher durchaus wohlwollend aufgenommen. Die Studien zum Pentateuch hatte er selbst mit angeregt,126 und als er den 113 114 115 116 117 118 119 120 121 122 123 124 125 126

Friedrich Heinrich Ranke, Predigten, Bd. 1, 36, 43 u. Bd. 3, 272. Friedrich Heinrich Ranke, Predigten, Bd. 2, 114. Friedrich Heinrich Ranke, Predigten, Bd. 3, 272. Friedrich Heinrich Ranke, Predigten, Bd. 1, 56. Friedrich Heinrich Ranke, Predigten, Bd. 3, 122 – 124. Friedrich Heinrich Ranke, Predigten, Bd. 3, 266 f, 269. Friedrich Heinrich Ranke, Predigten, Bd. 2, 99 f, 102 u. Bd. 3, 269, 272, 274. Friedrich Heinrich Ranke, Predigten, Bd. 3, 264 – 268. Friedrich Heinrich Ranke, Predigten, Bd. 2, 6. Friedrich Heinrich Ranke, Predigten, Bd. 1, 171 f. Friedrich Heinrich Ranke, Predigten, Bd. 2, 6. Friedrich Heinrich Ranke, Predigten, Bd. 3, 128. Friedrich Heinrich Ranke, Predigten, Bd. 2, 5 f. Friedrich Heinrich Ranke, Jugenderinnerungen, 365 f.

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ersten Band durchblätterte, fühlte er »Blut von meinem Blut«127. Die Autobiographie fand er, wie er seiner Nichte schrieb, im Einzelnen »unübertrefflich gelungen«, »vor allem die erste Begegnung mit Baier«128, die auch für ihn selbst so folgenreich gewesen war ; er gestattete auch, dass Passagen aus diesem Brief der zweiten Auflage der Jugenderinnerungen (1886) vorangestellt wurden: zugleich ein letzter Akt jener brüderlichen Obsorge, die er von Anfang an gegenüber Heinrich wie gegenüber den anderen Geschwistern beanspruchte. Und als ihm der erste Band der »Predigten« vorlag, prophezeite er dem Bruder eine große Zukunft.129 Allerdings war seine Zustimmung niemals uneingeschränkt. Ein grundsätzlicher Vorbehalt blieb immer. Der Historiker hat die ihn gegenüber dem Bruder leitenden Gesichtspunkte zuletzt in seiner Weltgeschichte ausgeführt. Für Heinrich Ranke stand seit seiner Erweckung fest, und er wiederholte es in seinen »Predigten«130, dass Christus der Mittelpunkt der Weltgeschichte sei, und er lieferte dazu eine heilsgeschichtliche Begründung. Auch Leopold Ranke stellte die überragende weltgeschichtliche Bedeutung von Christus nicht in Frage, aber mit innerweltlicher Begründung: »Indem ich diesen Namen nenne, muß ich, obwohl ich glaube ein guter evangelischer Christ zu sein, mich dennoch gegen die Vermuthung verwahren, als könnte ich hier von dem religiösen Geheimniß zu reden unternehmen […]. So wenig wie von Gott dem Vater, kann ich von Gott dem Sohn handeln. […] Dem Geschichtschreiber kann es nur darauf ankommen, die große Combination der welthistorischen Momente, in welchen das Christenthum erschienen ist und wodurch dann seine Einwirkung bedingt wurde, zur Anschauung zu bringen. […] Die Gebiete des religiösen Glaubens und des historischen Wissens stehen […] nicht im Gegensatz mit einander, sind aber doch ihrer Natur nach getrennt.«131 Das war Leopold Rankes alte Unterscheidung von privater Religionsübung und historischer Wissenschaft, die für ihn selbst mit einem Bekenntnis zur Wissenschaft zusammenfiel. Sie bezeichnete an dieser Stelle auch nochmals die unaufhebbare Grenze, die die Brüder Ranke trotz aller Annäherung voneinander trennte: die Grenze zwischen evangelischer Erweckung und historischem Denken.

127 Leopold von Ranke: Neue Briefe. Gesammelt und bearbeitet von Bernhard Hoeft. Hg. v. Hans Herzfeld. Hamburg 1949, 187. 128 Leopold von Ranke, Briefwerk, 541. 129 Friedrich Heinrich Ranke, Jugenderinnerungen, 390. 130 Friedrich Heinrich Ranke, Predigten, Bd. 1, 95. 131 Leopold von Ranke: Weltgeschichte. Bd. III 1. Leipzig 1883, 160, 165. Vgl. dazu Otto Vossler: Rankes historisches Problem. In: Ders., Geist und Geschichte, 184 – 214, hier 200.

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»Das predigt uns diese Geschichte laut« Geschichtsbewusstsein und Geschichtsschreibung der Erweckungsbewegung im deutschen Vormärz

1. Erweckungspredigt und Geschichte – ein Beispiel Wenn man sich mit dem Geschichtsbewusstsein der Erweckungsbewegung in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts befasst, so bietet es sich an, mit einer Predigt zu beginnen, waren doch Erweckungen in Deutschland vielfach mit charismatischen Verkündigern verbunden. Es kommt nicht von ungefähr, dass viele Darstellungen der Erweckungsbewegung vorzugsweise deren Prediger behandeln.1 Mein erstes Augenmerk gilt daher einer Reformationspredigt des schwäbischen Erweckungspredigers Ludwig Hofacker (1798 – 1828).2 Hofacker, der Jahre seines Lebens von Krankheit gezeichnet war und mit nur dreißig Jahren starb, wurde durch seine Aufsehen erregende Predigttätigkeit in Stuttgart und Rielingshausen und nach seinem Tod durch den von seinem Bruder Wilhelm herausgegebenen Predigtband Predigten für alle Sonn-, Festund Feiertage prägend für seine und auch für spätere Generationen.3 Aus dieser Predigtsammlung, die wegen der posthumen Veröffentlichung einige überlieferungsgeschichtliche Fragen aufwirft,4 stammt auch die im Folgenden 1 Vgl. etwa Erich Beyreuther : Die Erweckungsbewegung. Göttingen 21977; Ulrich G•bler: »Auferstehungszeit«: Erweckungsprediger des 19. Jh. Sechs Porträts. München 1991; Gustav Adolf Benrath: Die Erweckung innerhalb der deutschen Landeskirchen 1815 – 1888. Ein Überblick. In: Ulrich Gäbler (Hg.), Geschichte des Pietismus. Bd. 3. Göttingen 2000, 150 – 271 und die wachsende Zahl von Monographien über einzelne Erweckungsprediger. 2 Zu Hofacker vgl. Gerhard Sch•fer: Art »Hofacker, Ludwig (1798 – 1828)«. In: Theologische Realenzyklopädie 15, 1986, 467 – 469; Werner Raupp: Ludwig Hofacker und die schwäbische Erweckungspredigt. Gießen 1989; Hans-Martin Kirn: Ludwig Hofacker, 1798 – 1828. Reformatorische Predigt und Erweckungsbewegung. Metzingen 1999. 3 Von dem aus 81 (undatierten) Predigten, acht Grabreden und einem von Hofacker selbst verfassten Lebensabriss bestehenden Band waren nach Raupp, Hofacker, 19 f um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert bereits 200.000 Exemplare in 45 Auflagen und sechs Übersetzungen verbreitet worden. Zu Hofackers Bekanntheit trug auch die 1852 erstmals erschienene (in Zeitschriftenbeiträgen 1844 bis 1846 vorbereitete) Hofacker-Biographie seines Jugendfreundes Albert Knapp maßgeblich bei. Vgl. Ulrike Gleixner: Pietismus und Bürgertum. Eine historische Anthropologie der Frömmigkeit, Württemberg 17.–19. Jahrhundert. Göttingen 2005, 184 f. 4 Da es sich mit Ausnahme von 22 noch von Hofacker selbst herausgegebenen Predigten aus seiner Rielingshäuser Zeit (1826 – 1828) um nicht autorisierte Mit- und Nachschriften handelt und selbst die 22 vor Drucklegung überarbeitet wurden, ist mit stilistischen Glättungen, Weglassungen und weiteren Unterschieden zum ursprünglich gesprochenen Wort, wenn auch wohl nicht mit groben Verzerrungen zu rechnen. Zum Teil haben jedenfalls noch weitere Personen an

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behandelte Reformationspredigt.5 Es handelt sich um eine Gedächtnispredigt aus den 1820er Jahren zum Reformationsfest, das seit 1739 in Württemberg jährlich am ersten Sonntag nach dem 25. Juni, dem Jahrestag der Übergabe der Confessio Augustana, begangen wurde.6 Hofacker nutzte die Gelegenheit zur kirchengeschichtlichen Reflexion, die dieser Anlass naturgemäß bot, auf eine für ihn charakteristische Weise. Sein Predigttext ist die alttestamentliche Erzählung vom Entscheidungskampf des Propheten Elija mit den Baalspriestern auf dem Karmel (1. Könige 18): »Ist der HErr Gott, so wandelt Ihm nach; ist es aber Baal, so wandelt ihm nach!« Thema des Abschnitts ist die Entscheidung für oder gegen eine religiöse Erneuerung des Volkes Gottes. Eine solche Erneuerung ist für Hofacker auch mit Blick auf die Gegenwart unabdingbar. »Wir feyern heute das Reformationsfest. Wie sollen wir es nun feyern?«, fragt er. »Etwa als ein mattherziges Andenken an das, was vor dreyhundert Jahren durch den Herrn unsern Gott und durch Seine Werkzeuge an der evangelischen Kirche geschehen ist?«7 Für Hofacker kann das nur eine rhetorische Frage sein. Ein Gedenktag ist das Reformationsfest für ihn nicht, auch wenn man ihm den Respekt vor den Reformatoren schon in diesem Satz anmerkt. Immerhin spricht er von den »Werkzeugen« Gottes und fügt wenig später hinzu, Gott habe »in das Herz eines Luthers Weisheit, Rath, Verstand und Zucht, und vornehmlich einen unbezwinglichen Glauben gepflanzt«.8 Luther ist für Hofacker, wie für die Erweckungsbewegung insgesamt, kein Prototyp des Deutschtums, erst recht kein Genussmensch und Psychopath, als den ihn die

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der Endgestalt des Textes mitgewirkt. Vgl. Michael Kannenberg: Verschleierte Uhrtafeln. Endzeiterwartungen im württembergischen Pietismus zwischen 1818 und 1848. Göttingen 2007, 140 f. Die Qualität der Nachschriften Albert Knapps, aus denen sich Rückschlüsse auf die Überlieferung ziehen lassen, wird von Kannenberg, Verschleierte Uhrtafeln, 141 positiver beurteilt als von Raupp, Hofacker, 70. Die hier behandelte Reformationspredigt ist nicht unter den zwölf überlieferten Knapp-Mitschrieben (vgl. LKA Stuttgart, D2 Knapp-Archiv, 220,4: Ludwig Hofacker, Mitschriften von Predigten u. a., 1824; Hinweis von Michael Kannenberg). Nach freundlicher Auskunft der Württembergischen Landesbibliothek Stuttgart, die im Besitz eines Exemplars von Hofackers selbst autorisierten Zehn Predigten und Zwölf Predigten von 1828 ist, gehörte sie auch nicht zu den 22. Weil die Authentizitätsfrage jedoch für die Wirkung des Predigtbandes auf die Erweckungsbewegung keine Rolle spielte, wird sie hier nicht weiter thematisiert. Ludwig Hofacker: Predigt am vierten Sonntage nach Trinitatis (Reformationsfest). In: Ders.: Predigten für alle Sonn-, Fest- und Feiertage. Stuttgart 1831, 848 – 874. Vgl. Chr[istoph] Kolb: Die Geschichte des Gottesdienstes in der evangelischen Kirche Württembergs. Stuttgart 1913, 239 – 241. Ursprünglich fand zu dem Anlass in den evangelischen Kirchen eine öffentliche Verlesung des Augsburger Bekenntnisses statt, die jedoch seit 1805 durch eine Gedächtnispredigt ersetzt wurde. Die Tatsache, dass im Gegensatz zu den meisten evangelischen Landeskirchen nicht der 31. Oktober 1517, sondern der 25. Juni 1530 Gedenktag wurde, belegt nach Kolb die »Wertschätzung des Bekenntnisses im alten Württemberg« (239). Eine Verlegung auf den Sonntag nach dem 30. Oktober erfolgte erst 1886. Den Hinweis auf diese Zusammenhänge verdanke ich ebenfalls Michael Kannenberg. Hofacker, Predigten, 848. Hofacker, Predigten, 860.

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ultramontane Polemik der Zeit darstellt,9 und genauso wenig ein Vorreiter der rationalistischen Bibelkritik – aus Sicht der Erweckten eine absurde und empörende Lutherdeutung.10 Luther ist für sie vielmehr der »Mann Gottes«11 und der »Lehrer« des Evangeliums;12 so auch für Hofacker. »Zu Ehre Luther’s, Melanchthon’s oder anderer Männer dieser Art« möchte er das Reformationsfest dennoch nicht feiern, schließlich, so unterstreicht er, hätten sie ohne Gottes »wunderbare Führungen« nicht das Geringste zuwege gebracht.13 Mehr noch, Hofackers Aufmerksamkeit gilt weniger dem 16. als dem 19. Jahrhundert und den eigenen Zeitgenossen. Das Reformationsfest zu begehen, hat für ihn vornehmlich den Sinn, »daß auch wir reformirt, d. h. umgewandelt, und andere Menschen in unserem Inwendigen werden«. Hiervon, nicht von Kirchengeschichte, handelt Hofackers Reformationspredigt, von dem »Hin- und Herschwanken zwischen Jehovah und Baal«,14 zwischen Gott und den Götzen, wie schon bei den Israeliten zu Elijas Zeit – von der mangelnden Bereitschaft der Zeitgenossen also, sich kompromisslos auf das Evangelium einzulassen. Ludwig Hofacker kommt in seiner Predigt dann aber doch auf die Geschichte zu sprechen. Seine Analyse ist dabei nicht untypisch für das Geschichtsdenken der Erweckten. Ein wesentlicher Bestandteil dieser Analyse ist es, dass sie in der unmittelbaren Zeitgeschichte den Einzug einer fatalen Idolatrie diagnostiziert, einer Idolatrie, die für ihn mit derjenigen des Volkes Israel unter dem König Ahab durchaus vergleichbar und auch ziemlich genau zu verorten ist: »Vor siebzig oder achtzig Jahren hat das Unwesen in unserer Kirche angefangen. Wo vorher Aberglaube war, da ist jetzt Unglaube. Die stolzen Weisen dieser Welt, die vor lauter Klugheit immer tiefer in die Narrheit fallen, haben in eigener Weisheit, im Hochmuth und unerträglicher Selbstüberhebung dem Vernunftgott, den sie aufgerichtet haben, dem Baal unserer Tage, Altäre genug gebaut, und ihm, – ich darf es ja wohl sagen, weil es ein alttestamentlicher Ausdruck ist, – nachgehuret.«15

So Hofackers Analyse in biblischer Diktion. Im Zentrum dieses Frontalangriffs auf die religiöse Aufklärung des 18. Jahrhunderts, eines Angriffs auf die englischen Deisten, die französischen philosophes und die deutschen Neologen mithin, den die Erweckungsbewegung als ganze befürwortete,16 steht der 9 Etwa: Luther. (Ein Versuch zur Lösung eines psychologischen Problems.). In: Historisch-politische Blätter 2, 1838, 249 – 271. Dagegen: Die Polemik der Münchner historisch-politischen Blätter. In: Zeitschrift für Protestantismus und Kirche 1, 1838, 125 – 131, hier 130. 10 Etwa: Ueber die Behauptung, daß Luther zu Worms rationalistische Grundsätze geäußert habe. In: Evangelische Kirchen-Zeitung, 1828, 409 – 412. 11 Christlicher Kalender. In: Christen-Bote 16, 1846, 77 – 80, hier 77. 12 August Tholuck: Predigt gehalten bei der Trauerfeier der Universität Halle-Wittenberg am Todestage Luthers. Halle 1846, 4. 13 Hofacker, Predigten [wie Anm. 5], 859 f. 14 Hofacker, Predigten, 850. 15 Hofacker, Predigten, 862. 16 Max Geiger : Das Problem der Erweckungstheologie. In: Theologische Zeitschrift 14, 1958,

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Vorwurf, ihre Vertreter hätten ihre Vernunft an Gottes Stelle gesetzt und deshalb das Evangelium verraten. Beispielhaft nennt Hofacker die Leugnung der Gottessohnschaft und des Opfertodes Christi und einen unethischen Lebenswandel unter den Bildungseliten. Seine Geschichtsanalyse bleibt aber nicht bei der These vom Abfall stehen, wie ja auch in der Elija-Geschichte der Unglaube durch ein Wunder Gottes überwunden worden war: Feuer war vom Himmel auf den Opferaltar gefallen und hatte das Volk von der Wahrheit Jahwes überzeugt. »[S]agt selbst«, fragt jetzt Hofacker, »brauchen wir einen solchen Beweis durch ein Wunder? Sind nicht bereits Wunder genug geschehen, um unser unglaubiges Herz zu überzeugen?«17 Hofacker antwortet auf seine rhetorische Frage zuerst mit einem Verweis auf die Heilsgeschichte. Er erwähnt eine Reihe biblischer Gestalten, darunter Abraham, Moses, Josua und David, und spricht dann von Jesus, dem Zielpunkt göttlicher Geschichte, und seiner Auferstehung als dem Glaubensbeweis schlechthin: »Sie haben […] nicht nur Moses und die Propheten; es ist Einer von den Todten auferstanden […]«, sagt er in Überbietung einer Aussage im Gleichnis vom reichen Mann und vom armen Lazarus.18 Für Hofacker ist Jesus Christus das Zentrum des Glaubens und der Geschichte. Mit ihm brach die heilsgeschichtliche Linie dennoch nicht ab, sondern ging, wie Hofacker meint, in den »Tagen des Neuen Bundes« auch über die Apostel hinaus weiter und umfasste im Laufe der Kirchengeschichte »so manche theure Zeugen der Wahrheit«, darunter selbstredend auch die Reformatoren. Auch Hofacker verwendet also den seit Matthias Flacius Illyricus (1520 – 1575) einschlägigen Geschichtstopos von den evangelischen Wahrheitszeugen (testes veritatis) als Gegenbild des oftmals verweltlichten Hauptstroms der Kirche.19 Er spricht vom Reich Gottes, das sich wie ein Senfkorn zu einem »mächtigen Baum« entwickelt 430 – 450, hier 432 spricht von dem »einigende[n] Band der ganzen Bewegung«. Peter Maser: Hans Ernst von Kottwitz. Studien zur Erweckungsbewegung des frühen 19. Jh. in Schlesien und Berlin. Göttingen 1990, 223 f meint: »Wenn sie sich in irgendetwas einig waren, dann in der Ablehnung der Aufklärung.« In der neueren Forschung wird vielfach darauf hingewiesen, dass etwa ihr weltzugewandter Aktivismus die Erweckten als »Kinder der Aufklärung« erweise (so Hartmut Lehmann: Die neue Lage. In: Ulrich Gäbler [Hg.]: Geschichte des Pietismus. Bd. 3. Göttingen 2000, 1 – 26, hier 8). Die interessante, wenn auch keineswegs unumstrittene These (vgl. etwa Martin Brecht: Pietismus und Erweckungsbewegung. In: Pietismus und Neuzeit 30, 2004, 30 – 47, hier 33) spiegelt sich jedoch nicht in der auf religiöse Faktoren konzentrierten Einschätzung der Erweckten selbst. 17 Hofacker, Predigten, 854. 18 Lukas 16,29 – 31 (Einheitsübersetzung): »Abraham sagte: Sie haben Mose und die Propheten, auf die sollen sie hören. Er erwiderte: Nein, Vater Abraham, nur wenn einer von den Toten zu ihnen kommt, werden sie umkehren. Darauf sagte Abraham: Wenn sie auf Mose und die Propheten nicht hören, werden sie sich auch nicht überzeugen lassen, wenn einer von den Toten aufersteht.« 19 Zur Entstehung und Entwicklung des Topos vgl. Matthias Pohlig: Zwischen Gelehrsamkeit und konfessioneller Identitätsstiftung. Lutherische Kirchen- und Universalgeschichtsschreibung 1546 – 1617. Tübingen 2007, 294 – 341; Ulrich G•bler: Geschichte, Gegenwart, Zukunft. In: Hartmut Lehmann (Hg.): Geschichte des Pietismus. Bd. 4. Göttingen 2004, 30 – 33.

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habe, unter dem die Vögel des Himmels sitzen20 – ein Bild aus den Himmelreichsgleichnissen von Matthäus 13, aus denen viele Erweckte ihre Geschichtsmetaphern gewinnen. An geschichtlichen Hinweisen auf den wahren Gott gibt es für Hofacker wahrlich keinen Mangel – und folglich keinen Grund für seine Zuhörer, sich einer geistlichen Neuausrichtung, wie sie einstmals nach Art des Alten Bundes auf dem Karmel geschah, zu verweigern. Die Indizien betreffen aber auch nicht nur die Vergangenheit. So kommt Hofacker auch auf seine eigene Zeit zu sprechen. »Geschehen nicht noch täglich Wunder genug«, fragt er, »aus welchen erhellet, daß Jehovah Gott ist, und kein Anderer?«21 Für Hofacker besteht kein Zweifel. Er berichtet von der Erweckung vieler Einzelner, vom weltweiten christlichen Aufbruch, den Bibelgesellschaften und dem millionenfach verbreiteten Gotteswort, den Missionsgesellschaften und ihren »Boten des Heils«. Die Vergegenwärtigung jüngster Entwicklungen führt ihn zu einem emphatischen Ausruf: »Wer jetzt, in dieser Zeit, nicht aufmerkt, wer jetzt nicht siehet, was soll diesen sehend machen? Wer in unsrer großen, herrlichen Zeit nicht die Hand des HErrn erkennt, was soll diesen zur Besinnung bringen? […] Wann sind die Feinde der Wahrheit grimmiger gewesen als jetzt, sowohl die den Aberglauben, als die, welche den Unglauben pflanzen wollen? Und siehe, es ist, wie wenn ihr Mund gestopfet wäre! Sie dürfen, sie können’s nicht wehren, sie müssen zusehen, wie das Kreuz Christi, das sie hassen, den armen, geringen, traurigen Seelen gepredigt wird, wie das Evangelium hinausgetragen wird zu denen, die in Finsterniß und Schatten des Todes sitzen […].«22

Der »Vernunftgott« der modernen Baalspriester hatte, so ist Hofacker überzeugt, das erstaunliche, unverhoffte Aufkommen christlicher Erweckungsbewegungen und ihr weltweites missionarisches Wirken nicht verhindern können. Die Parallele zu Gottes machtvoller Antwort auf das Gebet seines Knechtes Elija drängt sich ihm förmlich auf. »Ach, leset doch die Berichte, und freuet euch, und fallet nieder auf euer Antlitz und sprechet: der HErr ist Gott! der HErr ist Gott!«23 Dieses eindeutige, ehrfurchtsvolle Doppelbekenntnis zu Jahwe, das in der Elija-Geschichte die Rückkehr des Volkes zum wahren Glauben markiert (1. Könige 18,39), will Hofacker mit christologischer Zuspitzung auch seinen Zuhörern ans Herz legen – auch und gerade im Gedenken an die schicksalshaften Ereignisse der Reformation. Es ist ein typischer Grundzug im Geschichtsdenken der Erweckten, die Gegenwart als eine Schicksalszeit anzusehen: eine Zeit der dramatischen religiösen Gegensätze und zugleich eine Zeit der Entscheidung. Für einen Erweckungsprediger wie Hofacker gilt dies für die individuelle Lebensgeschichte seiner Zuhörer nicht weniger als für die Kirchengeschichte im Großen. 20 21 22 23

Hofacker, Predigten [wie Anm. 5], 858. Hofacker, Predigten, 854. Hofacker, Predigten, 864. Hofacker, Predigten, 865.

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2. Christliche Geschichtsschreibung Dass man sich in einer entscheidenden Zeit des Aufbruchs fühlte, zeigte sich etwa in der Publizistik. 1831, in demselben Jahr, in dem Hofackers großer Predigtband erschien, schrieb der Hallenser Erweckungstheologe August Tholuck (1799 – 1877) mit großer Genugtuung, es würden sich jetzt zur Ehre Gottes »viele Federn auf allen Gebieten des Wissens« in Bewegung setzen.24 Zu diesen Gebieten des Wissens gehörte nicht zuletzt die Geschichte. Denn wenn das 19. Jahrhundert das Jahrhundert der Geschichte war – Ulrich Muhlack spricht von einer »Historisierung des Denkens vom Menschen und seiner Welt«, einem »Umsturz der ganzen alteuropäischen Wissenskultur«25 – dann musste sich das auch im Schrifttum der Erweckungsbewegung zeigen, die ja ohnehin einen Blick für Heilsgeschichte besaß. Es ist deshalb nicht wirklich verwunderlich, wenn auch bemerkenswert, dass zwar nicht Hofacker selbst, aber eine Reihe anderer führender Vertreter der Erweckungsbewegung christliche Geschichtsbücher verfassten. Während das Zielpublikum, der literarische Anspruch und das wissenschaftliche Niveau der Werke zutiefst variierten, betrachteten sich die Autoren doch als Mitstreiter bei der Pionieraufgabe, Geschichte auf dem aktuellen historischen Kenntnisstand und zugleich im Licht des Glaubens und der Bibel darzustellen. Mit diesem Ziel entstanden Bücher, die man unterschiedlichen historiographischen Gattungen zurechnen kann: Kirchengeschichten, Missionsgeschichten, Weltgeschichten, Nationalgeschichten, Biographien und Werke zur Darstellung oder Verteidigung der biblischen Geschichte.26 Kirchengeschichten der Erweckungsbewegung erschienen ab den 1820er Jahren mit einem großen Vorreiter und Vorbild: dem langjährigen Berliner Professor für Kirchengeschichte August Neander (1789 – 1850). Neander war ein seriöser und innovativer Geschichtsforscher, auch wissenschaftlich von Format. Er wollte mit seinem Oeuvre aber zugleich auch den Glauben seiner Leser stärken, sah er die Geschichte der Kirche doch, wie es am Anfang seiner großen sechsbändigen Kirchengeschichte heißt, als »eine Schule christlicher Erfahrung, eine durch alle Jahrhunderte hindurch ertönende Stimme der Erbauung, der Lehre und der Warnung für Alle, welche hören wollen«.27 Gerade die weit weniger wissenschaftlichen Kirchengeschichten der Erwe24 August Tholuck: Vorwort. In: Franz Ludwig Zahn: Biblische Geschichte nebst Denkwürdigkeiten aus der Geschichte der christlichen Kirche. Bd. I. Dresden 1831, III – VIII, hier VIII. 25 Ulrich Muhlack: Einleitung. In: Ders. (Hg.): Historisierung und gesellschaftlicher Wandel in Deutschland im 19. Jh.. Berlin 2003, 7 – 17, hier 8. 26 Zum Folgen vgl. ausführlich Jan Carsten Schnurr : Weltreiche und Wahrheitszeugen. Geschichtsbilder der protestantischen Erweckungsbewegung in Deutschland 1815 – 1848. Göttingen 2011, 35 – 156. 27 August Neander : Allgemeine Geschichte der christlichen Religion und Kirche. Bd. I.1. Hamburg 1826, VII.

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ckungsbewegung fanden zum Teil erhebliche Verbreitung. Die des Calwer Verlagsvereins28 zum Beispiel kam auf 24 deutsche Auflagen und 37 Übersetzungen. Die zentrale Kategorie dieser Werke ist das Reich Gottes. Damit meinen die Erweckten das, was sie an anderer Stelle die »unsichtbare Kirche« oder die »unsichtbare« oder »wahre Gemeinde des Herrn« nennen, die Gesamtheit der wahrhaft Gläubigen.29 Reich Gottes ist für sie aber auch eine historische Kategorie, der Ort nämlich, wo sich Heilsgeschichte ereignet. Der Erlanger Theologe Johann Christian Konrad von Hofmann (1810 – 1877), ebenfalls Verfasser christlicher Geschichtsbücher, hat den Begriff »Heilsgeschichte« auch erstmals prominent verwendet.30 Die Entwicklung des Reiches Gottes verläuft quer zur Entwicklung der irdischen Weltreiche: im Alten Bund angelegt, von Christus im eigentlichen Sinne begründet und fortwirkend bis zur gegenwärtigen »Reich-Gottes-Arbeit« der Erweckten und dann auch bis zur neuen Welt Gottes, auf die sie warten – wobei die Zukunftshoffnung mancher, wenn auch nicht aller, ein irdisches Millennium einschließt. Weil das Reich Gottes eine so zentrale Stellung im Geschichtsdenken der Erweckten einnimmt und sich dabei nicht primär auf die große Politik, sondern auf die unsichtbare Ausbreitung des Glaubens bezieht, hat fast jedes ihrer Geschichtsbücher einen gewissen missionsgeschichtlichen Akzent. Es entstanden aber auch eigenständige Missionsgeschichten, die damit ein neues historiographisches Genre bildeten. Missionsgeschichten schildern die Ausbreitung des Christentums seit den Aposteln – mit großer Sympathie, oft auch mit scharfer Kritik an der Zwangsmission früherer Jahrhunderte. Sie konzentrieren sich häufig aber auch auf die gerade zurückliegenden letzten Jahrzehnte, die neuere evangelische Laienmission, die von den Erweckten zum Teil unter großen Opfern vorangetrieben wurde – das »Arbeiten der Kirchengeschichte vor unsern Augen«, wie der Inspektor der Basler Mission, Wilhelm Hoffmann (1806 – 1873), formuliert.31 Weltgeschichten aus dem Umkreis der Erweckungsbewegung entstanden ab 28 Christian Gottlob Barth (anon.): Christliche Kirchengeschichte für Schulen und Familien. Mit Abbildungen. Calw/Stuttgart 1835. 29 Neander, Allgemeine Geschichte der christlichen Religion. Bd. II.1. 1829, VII; Wilhelm Leipoldt: Die Geschichte der christlichen Kirche, zunächst für Schulen und Katechesationen bearbeitet. Schwelm 1834, 1; Andreas Br•m: Blicke in die Weltgeschichte und ihren Plan. Straßburg 1835, 70. 30 Vgl. Reinhart Koselleck: Geschichte (I, V – VII). In: Ders. [u.a.] (Hg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Bd. 2. Stuttgart 1975, 593 – 717, hier 685. Es handelt sich um Johann Christian Konrad Hofmann: Weissagung und Erfüllung im alten und im neuen Testamente. Ein theologischer Versuch. Bd. I. Nördlingen 1841, 8 u. a. Einen weiteren wichtigen Impulsgeber des heilsgeschichtlichen Denkens der Erweckten beleuchtet Friedhelm Ackva: Johann Jakob Heß (1741 – 1828) und seine Biblische Geschichte. Leben, Werk und Wirkung des Zürcher Antistes. Bern u. a. 1992. 31 Wilhelm Hoffmann: Die Evangelische Missionsgesellschaft zu Basel im Jahre 1842. Eine Bekanntmachung an alle Evangelischen Christen. Geschrieben im Auftrage der Evangelischen Missions-Committee. Basel 1842, 108.

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den 1830er Jahren. Verfasser waren einzelne Historiker wie der erst kurz zuvor erweckte Hallenser Geschichtsprofessor Heinrich Leo (1799 – 1878), größtenteils aber Lehrer wie Heinrich Dittmar (1792 – 1866) aus der bayerischen Pfalz und Pfarrer wie der Möttlinger Erweckungsprediger Johann Christoph Blumhardt (1805 – 1880). Die Weltgeschichten der Erweckungsbewegung bauen auf dem zeitgenössischen Wissenskanon auf, und sie versuchen, diesem historischen Wissen eine christliche Perspektive und Strukturierung zu geben. In der populären Weltgeschichte von Blumhardts Möttlinger Vorgänger Christian Gottlob Barth (1799 – 1862) zeigt sich dieses Anliegen sogar im Buchtitel: Die allgemeine Weltgeschichte nach biblischen Grundsätzen bearbeitet für nachdenksame Leser.32 Ansatzpunkt ist dabei manchmal ein Zitat des Schweizer Historikers Johannes von Müller : »Christus ist der Schlüssel der [ganzen] Weltgeschichte.«33 Deshalb spielt das Auftreten Jesu auch für die Periodisierung dieser Werke eine Rolle. Selbst der biblische Tun-ErgehensZusammenhang – das Prinzip, dass ethischem Fehlverhalten ein Gerichtshandeln Gottes folgt – wird manchmal in die Darstellungen einbezogen. Teilweise gilt das auch für die Vier-Weltreiche-Lehre des alttestamentlichen Propheten Daniel, die viele Geschichtsschreiber des 18. Jahrhunderts nicht mehr berücksichtigt hatten.34 Schließlich sind auch Biographien für das Geschichtsdenken der Erweckungsbewegung und auch für den Glaubensweg vieler Erweckter von besonderer Bedeutung gewesen. Hierzu zählen Biographiensammlungen, kirchengeschichtliche »Väter«-Biographien (z. B. über Spener, Francke und Bengel), Herrscherbiographien (z. B. über Gustav Adolf), historisch-biographische Romane, Autobiographien (etwa von Heinrich Jung-Stilling) und etliche Missionsbiographien. In der Missionsbiographik gibt es so etwas wie ein transnationales kollektives Gedächtnis, das sowohl deutsche Missionare wie Bartholomäus Ziegenbalg und Christian Friedrich Schwartz als auch Missionare anderer Länder wie die Engländer Henry Martyn und William Carey umfasst. Das ist durchaus stimmig: Viele erweckte Historiographen sind zwar patriotisch eingestellt, wobei sie bewusst die Balance zwischen einzelstaatlichem (z. B. württembergischem) und gesamtdeutschem Nationalismus halten.35 Über das patriotische Geschichtsbild wölbt sich jedoch, 32 Christian Gottlob Barth (anon.): Die allgemeine Weltgeschichte nach biblischen Grundsätzen bearbeitet für nachdenksame Leser. Calw/Stuttgart 1837. 33 Heinrich Dittmar: Die Geschichte der Welt vor und nach Christus, mit Rücksicht auf die Entwicklung des Lebens in Religion und Politik, Kunst und Wissenschaft, Handel und Industrie der welthistorischen Völker. Für das allgemeine Bildungsbedürfniß dargestellt. Bd. I. Heidelberg 1846, IXf; Eduard Eyth: Biographie en gros. In: Christoterpe 15, 1847, 105 – 174, hier 108. 34 Vgl. Felix Gìnther : Das Lehrbuch der Universalgeschichte im XVIII. Jh. In: Deutsche Geschichtsblätter. Monatsschrift zur Förderung der landesgeschichtlichen Forschung 8, 1907, 263 – 278, hier 276. 35 In der neueren Forschung spricht man vom »föderativen Nationalismus«. Vgl. Dieter Langewiesche: Föderativer Nationalismus als Erbe der deutschen Reichsnation. Über Föderalismus und Zentralismus in der deutschen Nationalgeschichte. In: Ders./Georg Schmidt, Föde-

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nicht nur bei der Mission, das Geschichtsbild einer christlichen Internationale, gilt doch die weltweite Gemeinschaft der Kinder Gottes als die weitaus dauerhaftere Größe. »Wer JEsum erkannt hat«, heißt es in einer weiteren Hofacker-Predigt, »der hat ein neues – das wahre Vaterland gefunden, der ist nicht mehr Bürger hienieden, sondern Bürger der obern Stadt […].«36 Die Heimat bei Gott ist den Christen aller Völker gemeinsam.

3. Vergangenheitsdeutung als Geschichtspredigt Die erweckliche Historiographie gehörte wie die periodische Erweckungspresse zu den wichtigsten Trägern des Geschichtsdenkens der Erweckten.37 Dieses Geschichtsdenken stimmt in manchen Bereichen mit dem der Romantik überein, etwa in dem politischen Ideal des christlichen Fürsten, der von Gottes Gnaden regiert, nicht als Despot, sondern wie ein fürsorglicher Familienvater. Als Vorbilder gelten hier z. B. der württembergische Herzog Christoph aus dem 16. und der Herzog von Sachsen-Gotha Ernst der Fromme aus dem 17. Jahrhundert. Es bestehen auch biographische Verbindungen zur romantischen Bewegung. In anderer Hinsicht lehnen die Erweckten die Romantik und ihre Geschichtsverklärung aber ab. Nach Meinung der Evangelischen Kirchen-Zeitung geht es bei den Romantikern nämlich letztlich nur um eine »unbestimmte Gefühlsüberschwenglichkeit, in welcher die verschiedenartigsten Elemente verschwimmen«. Für die Evangelische Kirchen-Zeitung gilt dagegen: »Nicht die Stärke der Erregung macht das Gefühl heilig […] sondern sein Gegenstand.«38 Dieser Gegenstand ist für die Erweckten natürlich das Evangelium, aber auch Gottes providentielles Wirken in der Geschichte. Das sieht man in der biblischen Historie. Aber auch zumindest in einzelnen weiteren Ereignissen erkennt man die »Hand Gottes«. Darunter fällt die Reformation, aber z. B. auch die Niederlage Napoleons vor Moskau 1812 – Letztere, weil sie dem aggressiven französischen Größenwahn Einhalt geboten und zugleich mit den anschließenden Befreiungskriegen in der Bevölkerung eine »Erschütterung«39 bewirkt habe. Dies, so meint man, habe zu einer neuen Offenheit für das Evangelium geführt – gemeinsam mit der Wiederentdeckung

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rative Nation. Deutschlandkonzepte von der Reformation bis zum Ersten Weltkrieg. München 2000, 215 – 242; ders.: Zentralstaat – Föderativstaat. Nationalstaatsmodelle in Europa im 19. und 20. Jh. In: Ders.: Reich, Nation, Föderation. Deutschland und Europa. München 2008, 180 – 193. Hofacker, Predigten [wie Anm. 5], 881 f. Weitere Aspekte zum Folgenden finden sich in Schnurr, Weltreiche, 157 – 377. Der Kunst- und Wissenschafts-Enthusiasmus in Deutschland als Surrogat für die Religion. In: Evangelische Kirchen-Zeitung 1828, 545 – 549, 553 – 556, hier 554. Johann Christoph Blumhardt (anon.): Handbüchlein der Weltgeschichte für Schulen und Familien. Mit Abbildungen. Calw/Stuttgart 1843, 305.

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der Reformation im Jubiläumsjahr 1817. Und wie Hofacker sieht man die Hand Gottes natürlich auch eindeutig in der neueren Missionsbewegung. Die erweckliche Historiographie tritt in dem Bewusstsein auf, einen wichtigen Beitrag zur neuen Geschichtskultur zu leisten und darin eine seit langem bestehende Lücke zu schließen, also auch in gewisser Hinsicht modern zu sein. Dem entspricht auch die Einschätzung mancher, zumindest in den ersten Jahrzehnten nach den Befreiungskriegen, dass das Aufklärungszeitalter überwunden worden sei. Die Französische Revolution war für sie eine »schauderhafte Begebenheit«, wie der rheinische Pfarrer Emil Wilhelm Krummacher (1798 – 1886) formuliert – originellerweise in einem Katechismus der christlichen Kirchengeschichte,40 der den Bibelkatechismus seines Vaters Friedrich Adolf Krummacher für die Kirchengeschichte fortsetzen soll und den die Jenaische Allgemeine Literatur-Zeitung als würdigen »Geschichtskatechismus« empfiehlt.41 Das Ancien R¦gime hatte zwar versagt, aber es war grundfalsch, dass sich die Revolutionäre gewaltsam aufgelehnt hatten – und es endete dann ja auch im Terror, meinen die Erweckten. Vor allem war es grundfalsch, die radikalste Aufklärung jetzt auch noch zur Grundlage der Gesellschaftsordnung zu machen und deshalb im Namen einer »Göttin der Vernunft« das Christentum über Bord zu werfen. Die Französische Revolution und ihr Spross Napoleon waren dann gescheitert, glauben die Erweckten, und damit auch das aufklärerische Weltbild. Mit der Restauration und der Romantik war ein neues gesellschaftliches Klima entstanden. »Die Jugendkraft des Rationalismus ist dahin«, heißt es deshalb an einer Stelle, »er ist ein alter abgestorbener Baum, der keine neuen Zweige und Blüthen mehr treibt.«42 Es hatte also eine »Wendung zum Besseren« gegeben, wie es in Barths Weltgeschichte heißt,43 und man sieht sich auf der Seite des positiven Fortschritts. Andererseits sieht man aber auch zunehmend neue radikal christentumskritische Bewegungen heraufziehen – den Linkshegelianismus, das Junge Deutschland, den Atheismus – und manche klagen sogar, dagegen sei die moralisierende Aufklärungstheologie noch völlig harmlos gewesen. Um jeden Preis modern will die Erweckungsbewegung jedenfalls nicht sein. »Ich will […] nichts Neues geben, sondern die alte Wahrheit«, hatte Ludwig Hofacker noch selbst über seine Predigten geschrieben.44 Daher ist es folgerichtig, wenn die erweckliche Geschichtsschreibung an manchen Stellen alte christliche Geschichtstopoi neu aufnimmt und revitalisiert: die danielische Weltreichelehre, die neutestamentliche Eschatologie, den reformatorischen Zeugendiskurs, die Martyrologien, die Sterbestundenbe40 Emil Wilhelm Krummacher : Katechismus der christlichen Kirchengeschichte für die evangelische Jugend, Essen 1833, 153. 41 Kurze Anzeigen. In: Jenaische Allgemeine Literatur-Zeitung 1835, 175 f (fälschlich als »143«/ »144« angegeben). 42 Vorwort. In: Evangelische Kirchen-Zeitung 1830, 1 – 16, hier 2. 43 Barth, Allgemeine Weltgeschichte, 1837, 358 – 362. 44 Hofacker, Predigten [wie Anm. 5], IV.

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richte, die sammelbiographische Tradition des Pietismus (im Gefolge von Reitz, Gerber und Tersteegen) und z. T. auch die Tradition evangelischer Geschichtskalender. Neben den traditionellen gibt es aber auch zeitgenössische Topoi wie z. B. die Unterscheidung von (zivilisierten) »Geschichtsvölkern« und (unzivilisierten) »geschichtslosen Völkern« – also die Vorstellung von einem weltgeschichtlichen zivilisatorischen Völkerstrom, wie man sie auch bei Herder, Friedrich Schlegel, Hegel oder Ranke findet. Man übernimmt diese Vorstellung, mildert sie aber aufgrund der missionsgeschichtlichen Perspektive christlich ab. Für die Erweckten geht es nämlich nicht nur um die Frage, wie zivilisiert ein Volk ist, auch wenn ihnen dies ausgesprochen wichtig ist, sondern auch und vor allem um die Frage, wie christlich es ist. Insofern sind möglicherweise, vermutet jedenfalls Karl von Raumer (1783 – 1865), »wahrhaft christliche Hottentotten« in gewisser Weise noch weiter, als die Römer unter Augustus oder die Franzosen bei ihrer Revolution waren.45 Der gängige Geschichtsdiskurs wird hier also übernommen, aber christlich modifiziert. Die spezifisch erweckliche Geschichtsperspektive speist sich aus dieser Kombination aus christlichen und zeitgenössischen Deutungsmustern. Dies gilt teilweise auch für das ausgeprägte eschatologische Bewusstsein der Erweckten. Es hängt mit der Tatsache zusammen, dass man die weltweite Ausbreitung des Evangeliums mitverfolgt und darin die Erfüllung einer zentralen Endzeitprophetie Jesu sieht (Matthäus 24,14). Dazu tragen aber auch die tief empfundenen politischen Revolutionen seit 1789 bei – ebenso wie die technischen Revolutionen, etwa Eisenbahn und Dampfschifffahrt, die eine radikal veränderte Erfahrung von Raum und Zeit bedingen. Dem entspricht die zeittypische Beschleunigungserfahrung, die die Menschen, wenn man Reinhart Kosellecks Datierung der »Sattelzeit« Glauben schenkt,46 seit dem späten 18. Jahrhundert umtreibt. Für Koselleck ist sie eine Folge davon, dass in dieser Zeit »Erfahrungsraum« und »Erwartungshorizont« der Menschen auseinandergetreten seien.47 Diese Beschleunigungserfahrung wird auch von den Erweckten geteilt. In einer Predigt von Tholuck heißt es zum Beispiel, die Menschen würden »schneller leben« als die Vorväter : »Es geht Alles reißender an uns vorbei, die Gegenstände drängen sich, die Ereignisse folgen im Sturm auf einander […] – wer glaubt noch, daß er für Jahrhunderte baue?«48 Diese Beschleunigungserfahrung deuten die Erweckten eschatologisch als »Zeichen der Zeit«, als Indiz dafür, dass die Vollendung des Reiches Gottes näherrückt. 45 Karl von Raumer : Lehrbuch der allgemeinen Geographie. Leipzig 1832, 390. 46 Für eine Teil-Modifikation mit Verweis auf Entwicklungen um 1700 vgl. Daniel Fuldas Beitrag in diesem Band. 47 Vgl. Reinhart Koselleck: »Erfahrungsraum« und »Erwartungshorizont« – zwei historische Kategorien. In: Ders: Vergangene Zukunft. Frankfurt a.M. 1989, 349 – 375; ders.: Gibt es eine Beschleunigung der Geschichte? In: Ders.: Zeitschichten. Studien zur Historik. Frankfurt a.M. 2000, 150 – 176. 48 August Tholuck: Predigten über Hauptstücke des christlichen Glaubens und Lebens. Bd. III. Hamburg 21848 (1842), 200.

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Die vorherrschenden Paradigmen der Geschichtsschreibung der Zeit, »Aufklärungshistorie« und »Historismus«, waren dadurch gekennzeichnet, dass man sich durch Geschichte zwar noch indirekt bilden wollte, dass man aber aufgegeben hatte, aus der Geschichte direkt zu lernen, weil man die eigene Gegenwart als zu andersartig für einen direkten Vergleich empfand; so jedenfalls eine gängige These der Forschung.49 Auch die erweckliche Historiographie passt zum Teil in dieses Bild. Auch sie geht von einer Sonderstellung der eigenen Gegenwart aus, wie in Hofackers Reformationspredigt sichtbar wird. Für die Erweckten ist das aber kein Hindernis, nach Vorbildern in der Geschichte zu suchen und von ihnen zu lernen. Gott habe schließlich, so formuliert der Süddeutsche Schul-Bote, »zu allen Zeiten dieselben Regierungsgrundsätze« gehabt. Gerade die unsichere Gegenwart bedürfe, schreibt Neander, »der historia, vitae magistra […] so sehr […], um unter mannichfachen Stürmen einen sichern Compaß zu finden«.50 Der Glaube der Erweckten an eine durch Gott gegebene Kontinuität in der Geschichte stellt sich also einem konsequenten Historismus entgegen – auch wenn man das Geschichtsbewusstsein des Historismus teilt. Zu der Bereitschaft, aus der Geschichte zu lernen, passt, dass zumindest die weniger wissenschaftlichen Geschichtsbücher der Erweckungsbewegung auch einen homiletischen Einschlag haben. In Blumhardts Handbüchlein der Weltgeschichte liest man beispielsweise während seiner Beschreibung von Napoleons Expansionspolitik: »Der Hochmuth legt sich immer seine Schlingen selbst.«51 Blumhardt versucht sich hier an einer moralischen Anwendung der Geschichte. Hier zeigt sich eine Nähe zur Predigt, die auch der Biographie vieler Verfasser entspricht, handelt es sich doch oftmals um Erweckungsprediger. Es scheint mir daher sinnvoll, die charakteristische historiographische Form der Erweckungsbewegung als Geschichtspredigt zu bezeichnen, wobei Predigt hier selbstredend in einem weiten Sinne verstanden wird, in dem Sinne nämlich, dass der Leser nicht nur historisch informiert, sondern zusätzlich auch in einem paränetischen Sinne weitergeführt werden soll. Das schließt ein genuin historisches Bildungsanliegen nicht aus, aber es steht nicht allein.52 Auch begriffsgeschichtlich gibt es zumindest einige 49 Vgl. Reinhart Koselleck: Historia Magistra Vitae. Über die Auflösung des Topos im Horizont neuzeitlich bewegter Geschichte. In: Hermann Braun/Manfred Riedel (Hg.): Natur und Geschichte. Karl Löwith zum 70. Geburtstag. Stuttgart [u.a.] 1967, 196 – 219, hier 207, 211; Horst Walter Blanke/Dirk Fleischer: Artikulation bürgerlichen Emanzipationsstrebens und der Verwissenschaftlichungsprozess der Historie. Grundzüge der deutschen Aufklärungshistorie und die Aufklärungshistorik. In: Dies. (Hg.): Theoretiker der deutschen Aufklärungshistorie. Bd. 1: Die theoretische Begründung der Geschichte als Fachwissenschaft. Stuttgart-Bad Cannstatt 1990, 19 – 102, hier 101; Muhlack, Einleitung, 8 f. 50 Neander, Allgemeine Geschichte der christlichen Religion. Bd. I.1. 1826, VIII. 51 Blumhardt, Handbüchlein der Weltgeschichte, 1843, 301. 52 Ähnliches beobachtet Matthias Klug: Rückwendung zum Mittelalter? Geschichtsbilder und historische Argumentation im politischen Katholizismus des Vormärz. Paderborn [u.a.] 1995, 136 für die historisch-politische Kultur des Katholizismus im Vormärz.

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Überschneidungen mit der Predigtliteratur der Erweckungsbewegung, denn einige ihrer sozial-religiösen Grundbegriffe – »Erfahrung«, »erwecken«, »Glaube/Unglaube«, »Herz«, »Leben«, »Reich [Gottes]«, »Wort [Gottes]«, »Bote« oder »Zeuge« – tauchen auch in der erwecklichen Geschichtsliteratur auf.53 Vor allem in den volkstümlichen Geschichtswerken bemühen sich die Autoren auch, eine Verbindung zu biblischen Aussagen herzustellen. Besonders augenfällig wird dies in Krummachers Katechismus der christlichen Kirchengeschichte, der die Einordnung und Anwendung der kirchengeschichtlichen Begebenheiten mit »eingestreuten biblischen Citate[n]« erleichtert.54 So heißt es in dem ausführlichen Abschnitt zur Reformation abschließend: »Fr. Was wäre darum zu wünschen? A. Daß wir alle dem Glauben und dem Wandel jener Gotteshelden folgen möchten, die uns mit so großen Opfern den theuern Schatz des Evangeliums wiedererrungen haben. Hebr. 13, 7 – 9.«55 Gelegentlich wird auch auf Parallelen zur biblischen Historie hingewiesen. Wilhelm Leipoldt (1794 – 1842), der Gründer der Rheinischen Missionsgesellschaft, kommt auch auf Elijas Glaubenskampf auf dem Karmel zu sprechen, während er in seiner Kirchengeschichte berichtet, wie Bonifatius die Donareiche fällte, um die Chatten für den Glauben zu gewinnen. »Wie einst das israelitische Volk zu Elias Zeiten sich auf dem Berge Carmel versammelte, so strömten hier die Hessen und Thüringer in großen Haufen an dem bestimmten Tage zusammen, denn auch hier sollte entschieden werden, ob der Gott, den ihre Väter und sie bisher angebetet hatten, oder der von Winfried verkündigte Gott, der wahre sei«,

heißt es bei Leipoldt.56 Die Erweckten wollen immer auch biblisch denken, ganzheitlich prägen und Glauben wecken. Deshalb die missionsgeschichtlichen Ausblicke am Ende von Kirchen- und Weltgeschichten. Deshalb auch die Vorliebe für biographische Skizzen geschichtlicher Glaubensvorbilder, verspricht man sich von ihnen doch eine ganzheitlich positive Wirkung auf den Leser. So kann die Biographie Gustav Adolfs als »eine auch in sich selbst schon verständliche und eben so liebliche als gewaltige Predigt von der barmherzigen Liebe und dem gerechten Zorne Gottes«,57 die Lebensgeschichte Johann Heinrich Jung-Stillings als »die beredteste Predigt«58 bezeichnet werden. Doch 53 Vgl. hierzu ausführlicher Jan Carsten Schnurr : Geschichtsdeutung im Zeichen des Reiches Gottes. Historiographie- und begriffsgeschichtliche Anmerkungen zur Geschichtsliteratur der protestantischen Erweckungsbewegung im Vormärz. In: Historische Zeitschrift 291, 2010, 353 – 383, hier 370 – 382. 54 Krummacher, Katechismus der christlichen Kirchengeschichte, 1833, V. 55 Krummacher, Katechismus, 124. 56 Leipoldt, Geschichte der christlichen Kirche, 1834, 98. 57 Wilhelm Bçtticher : Gustav Adolph, König von Schweden. Ein Buch für Fürst und Volk. Kaiserswerth 1845, XIV. 58 Friedrich Wilhelm Bodemann: Leben Jung-Stilling’s (= Sonntags-Bibliothek. Lebensbeschreibungen christlich-frommer Männer zur Erweckung und Erbauung der Gemeinde. Bd. I. Heft 1). Bielefeld 1846, VII.

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auch die Kirchengeschichte als ganze kann nach Leipoldt eine solche paränetische Wirkung auf den Betrachter haben. In der Rückschau auf den beschriebenen Gang der Kirche durch die Jahrhunderte stellen sich ihm jedenfalls Gottes »wunderbar[e] und heilig[e]« Wege mit seiner Gemeinde dar : »Das predigt uns diese Geschichte laut, daß jenes Auge über die Kirche wachte, das nicht schläft noch schlummert, daß die Hand sie regierte, die Himmel und Erde hält; und so mußte denn alles ihr zum Besten dienen, und selbst das Widrigste und Schwerste, Kriege, Verfolgungen, Naturereignisse mußten dazu mitwirken, daß sein Rath hinaus geführt werde.«59

Es liegt in der Konsequenz dieser Erkenntnis, dass Leipoldt seine Kirchengeschichte zwei Absätze später mit einem Hinweis auf die Heilszukunft Gottes, einer Ermahnung zur Wachsamkeit und schließlich den drei ersten Bitten des Vaterunsers enden lässt: »Herr, Dein Name werde geheiligt! Dein Reich komme! Dein Wille geschehe auf Erden, wie im Himmel! Amen.«60 Nicht alle erweckten Geschichtsschreiber hätten so eindeutig homiletisch formuliert. Vor allem die stärker akademischen Autoren hätten eine andere Diktion gewählt. In ihrem christlichen Grundanliegen aber und in dem Wunsch, die Geschichte von der ewigen Weisheit Gottes predigen zu lassen, innerhalb und jenseits der verschlungenen Wege von Menschen und Völkern, darin stimmen alle Erweckten mit Leipoldt überein. Dies bringt mich noch einmal zu meinem Einstiegsthema: Wenn die Geschichte selbst zum Prediger wird, dann muss sich auch der Prediger um Geschichte bemühen. Dass sich die Erweckungsprediger im Vormärz um Geschichte bemühten, kann man ihnen nicht absprechen.

59 Leipoldt, Geschichte der christlichen Kirche, 1834, 221. 60 Leipoldt, Geschichte, 222.

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Michael Kannenberg

»… aber das Grübeln habe ich seitdem aufgegeben« Individualisierung und Spiritualisierung der Zukunftserwartungen am Beispiel des württembergischen Millenaristen Johann Jakob Friederich »Wer die gegenwärtige Zeit, und die grose, theils schröckliche theils erfreuliche, Dinge, welche nach dem prophetischen Wort von jezt an in einer Schnelle erfolgen müßen, mit einiger Aufmerksamkeit betrachtet, dem dringt sich […] die wichtige Frage auf: […] was haben ich und meine Nachkommen, wann die jezige wichtige Crisis vorbey, und der grosse Kampf ausgekämpft seyn wird, endlich zu gewarten? […] Nach der Weissagung der heiligen Offenbarung sind die gegenwärtige, mit dem Jahr 1800 anfangende, ohngefähr bis 1810 – 1815 – 1820 höchstens bis 1836 fortgehende Perioden, die allerwichtigsten in der ganzen Welt- und Kirchen-Geschichte: indem innerhalb dieser wenigen Zeit […] das Geheimniß Gottes vollendet wird.«1

Mit diesen Worten eröffnete der württembergische Pfarrer Johann Jakob Friederich im Jahr 1800 sein Buch Glaubens- und Hoffnungs-Blik des Volks Gottes in der antichristischen Zeit. Friederich war sich seiner Sache sicher. Die gegenwärtige Weltverfassung ging ihrem Ende entgegen – und das noch zu seinen Lebzeiten. Nun kam es darauf an, sich auf die antichristlichen Verfolgungen und den danach wiederkehrenden Christus vorzubereiten und, wenn der Ruf erging, aufzubrechen, ihm entgegen, nach Israel an den Zion. Der Beginn des tausendjährigen Reiches, einer göttlichen Friedenszeit auf Erden also, er stand für Friederich kurz bevor. Er selbst würde Augenzeuge der angekündigten Ereignisse werden. Friederich setzte damit die Generationenfolge seiner bekannteren Lehrer um ein Glied fort. Er selbst war der letzte Vikar Philipp Matthäus Hahns in Echterdingen gewesen, dieser zeitweilig Vikar Friedrich Christoph Oetingers, der wiederum ein Schüler Johann Albrecht Bengels, des damaligen Klosterpräzeptors von Denkendorf. Alle vier hatten ganz eigene Köpfe. Alle vier haben an den millenarischen Traditionen Württembergs gebaut und weitergebaut. Friederich, 1759 geboren, hatte nicht geringen Einfluss auf den Erweckungspietismus, der sich um 1830 auf den Weg machte, die pietistischen Privatversammlungen in Württemberg wieder an die Landeskirche anzubinden. Das macht ihn, obwohl 1827 gestorben, für die Zukunftserwartungen um 1830 interessant.

1 [Johann Jakob Friederich:] Glaubens- und Hoffnungs-Blik des Volks Gottes in der antichristischen Zeit aus den göttlichen Weissagungen gezogen. Im Jahr Christi 1800 gewidmet dem der auf das Reich Gottes wartet, 2. verm. u. verb. Aufl. o.O.u.V. 1801, 1 f.

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1. Friederich und die endzeitliche Auswanderung Was war der Hintergrund von Friederichs eingangs zitiertem Szenario? Im Jahr 1740 hatte Johann Albrecht Bengel seine Erklärung der Johannesoffenbarung veröffentlicht, die in einem Nebensatz die Ankündigung enthielt, im Jahr 1836 werde auf Erden ein tausendjähriges, göttliches Friedensreich anbrechen. Bengel war zu diesem Schluss durch eingehende exegetische Studien des Bibeltextes und darauf aufbauende weitgespannte chronologische Berechnungen gekommen. Mit seinem heilsgeschichtlichen Biblizismus fasste er die Bibel als Kompendium der Universalgeschichte auf, das vollständige Auskunft über Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gebe. Nach und nach versetzte Bengels Berechnung den württembergischen Pietismus in eine gespannte Erwartung, die sich, je näher der Termin rückte, in nervöse Unruhe umzuwandeln begann. Einer, den diese Unruhe ebenfalls ergriffen hatte, war Johann Jakob Friederich. Nach seinem Theologiestudium und einem Intermezzo als Pädagoge wurde Friederich 1795 Pfarrer in Winzerhausen, nahe der Schillerstadt Marbach am Neckar. Hier entstand in der folgenden Zeit jenes Buch, mit dem er die Bengelschen Erwartungen an die Generation weitergab, die zu ihrer eigenen Lebenszeit auf deren Erfüllung hoffen konnte: Glaubens- und Hoffnungs-Blik des Volks Gottes in der antichristischen Zeit, eine Schrift, deren zwei Auflagen in den pietistischen Versammlungskreisen für erhebliche Unruhe sorgten.2 Denn die Schrift wurde in erster Linie als Aufruf zur Auswanderung nach Palästina aufgefasst. Und in gewissem Sinne war sie das auch. Der Pfarrer von Winzerhausen zeigte in ihr, dass mit dem Jahr 1800 die Endzeit, also die letzte Zeit antichristlicher Verfolgungen vor dem Anbruch des tausendjährigen Reiches, begonnen habe. Wer den Verfolgungen entgehen wolle, müsse sich an den von Gott vorbereiteten Zufluchtsort am Zion in Jerusalem begeben. Die Obrigkeit reagierte gereizt auf Friederichs Buch; eine Werbeschrift für die Auswanderung war für den absolutistischen Staat nicht hinnehmbar. Friederich tat gut daran, in der zweiten Auflage seine Ansichten zu präzisieren: Erst beim Aufkommen antichristlicher Verordnungen in ihren Heimatländern – »wenn Babylon anfängt zu republikanisiren«3 – sollten die gläubigen Christen aufbrechen. Dieser Zeitpunkt aber sei noch nicht gekommen. Im Zuge der Untersuchung gegen ihn gelang es Friederich, die Behörden von seinen lauteren Motiven zu überzeugen. Nicht der Auswanderungsgedanke sei für ihn im Vordergrund gestanden, sondern das Bestreben, den pietistischen Kreisen eine Alternative zum zeitgenössischen Revolutionsgeist 2 [Johann Jakob Friederich:] Glaubens- und Hoffnungs-Blik des Volks Gottes in der antichristischen Zeit, aus den göttlichen Weissagungen gezogen von Irenäus U–us. Im Jahr Christi 1800 gewidmet allen denen die auf das Reich Gottes warten, 1. Aufl. o.O.u.V., 1800; 2. Aufl. wie Anm. 1. 3 Friederich, Glaubens- und Hoffnungs-Blik, 21801, 9.

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vor Augen zu malen. Nachdem die von Frankreich ausgehenden revolutionären Bewegungen in den Jahren zuvor auch Württemberg erreicht hatten, sah sich Friederich zu dem Bekenntnis gezwungen, er sehe »jede RevolutionsLiebe als Zeichen des Antichristenthums« an und versuche »seine GlaubensGenossen von aller Theilnahme an Revolutionen abzuhalten«.4 Vielleicht waren das Schutzbehauptungen, um von dem Thema Auswanderung abzulenken. Doch immerhin griff Friederich das Stichwort Revolution in seiner Schrift mehrmals auf. Er benutzte den Begriff für die von ihm erwarteten endzeitlichen Ereignisse und machte ihn dadurch pietistisch verwendbar : »Das Land Israel ware von jeher, und wird auch ins künftige seyn, der erhabene feyerliche Schauplaz der wichtigsten Begebenheiten; ja es ist der Mittelpunkt, von wo aus die heilsamste, das antichristische Unwesen stürzende, Christenthums-Revolution zum gesegnetsten Wohlstande aller Völker erfolgen, und die neue glücklichste theocratische Staats-Verfassung in alle Länder ergehen wird.«5

Friederichs christlicher Zionismus führte gut anderthalb Jahrzehnte später, 1817, einige seiner Leserinnen und Leser zur endzeitlich motivierten Auswanderung gen Russland. Er selbst zählte zwar nicht zu ihnen. Wer sich jedoch 1817 in Württemberg Gedanken über endzeitliche Szenarien machte, war neben Bengel von Friederich auf diese Spur gesetzt worden. Letzterer wirkte – zu diesem Zeitpunkt noch – als einflussreicher Ideengeber und Anstifter universaler und recht handgreiflich ausgestalteter endzeitlicher Szenarien.6

2. Friederich als Reiseprediger In der Zwischenzeit hatte Friederich seine Pfarrstelle in Winzerhausen verloren und war nach Leonberg gezogen. Diese Geschichte ist schon verschiedentlich erzählt worden; ich kann mich daher kurz fassen. Auf Veranlassung von König Friedrich war 1809 eine neue Liturgie eingeführt worden, deren Gebete und gottesdienstliche Texte im Geist der Spätaufklärung verfasst waren. In pietistischen Kreisen regte sich jedoch Widerstand gegen die zeit4 So im Verhör vor dem Oberamt Marbach am 19. Oktober 1801, zit. bei Hartmut Lehmann: Pietismus und weltliche Ordnung in Württemberg vom 17. bis zum 20. Jahrhundert. Stuttgart 1969, 153. 5 Friederich, Glaubens- und Hoffnungs-Blik, 21801, 118. 6 Zu Friederichs Leben und Werk vgl. F[riedrich] Fritz: Johann Jakob Friederich (1759 – 1827). Ein Kapitel vom Glauben an einen Bergungsort und an das Tausendjährige Reich. In: BWKG 41, 1937, 140 – 194; zur Wirkungsgeschichte von Friederichs Glaubens- und Hoffnungs-Blik vgl. Hartmut Lehmann: Pietistic Millenarianism in Late Eighteenth-Century Gemany. In: Ders.: Religion und Religiosität in der Neuzeit. Historische Beiträge, hg. v. Manfred Jakubowski-Tiessen und Otto Ulbricht. Göttingen 1996, 158 – 166; zu Friederichs Einfluss in Württemberg vgl. Hermann Ehmer : Herrnhut in Württemberg. Vom Beginn des 19. Jahrhunderts bis heute. In: BWKG 110, 2010, 159 – 200, hier 175.

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gemäße Sprache. Vor allem das Fehlen der Abrenuntiatio Diaboli, der Absage an den Teufel in der Taufliturgie, löste Unmut aus. Friederich gehörte zu den Pfarrern, die sich weigerten, ihre Gottesdienste nach der neuen Liturgie zu feiern. Friederich verhielt sich gegenüber den kirchlichen und weltlichen Obrigkeiten dabei so stur und undiplomatisch, dass er als Einziger der widerständigen Pfarrer 1810 seines Amtes enthoben wurde.7 Ins Reich der Legende gehört nun allerdings die bisweilen zu lesende Ansicht, Friederich habe in den folgenden Jahren gewissermaßen als einer der Stillen im Lande gelebt, vertieft in theologische Studien und ein wenig kränklich.8 Es hat vielmehr den Anschein, als habe Friederich schon bald als Reiseprediger eines pietistischen Netzwerkes gewirkt – im Geheimen freilich, unbeachtet von den Obrigkeiten. Schon im Jahr 1812 erreichte Friederich eine Anfrage von der Basler Christentumsgesellschaft, ob er bereit sei, in Basel eine Aufgabe zu übernehmen. Er war zwar nicht abgeneigt, brachte aber Einwände vor, nicht zuletzt seine apokalyptischen Gesinnungen, die in Basel vielleicht nicht erwünscht seien.9 Die Sache zerschlug sich. Die Anfrage zeigt aber, dass man in pietistischen Kreisen mit Friederich noch rechnete. Er war zwar des Amtes enthoben worden, aber weiterhin aktiv. Das bestätigt ein Blick in das Vakanztagebuch des Basler Missionsschülers Wilhelm Dürr. Im Archiv der Basler Mission hat sich sein Tagebuch vom August und September 1818 erhalten.10 Das Bemerkenswerte nun ist: Auf seiner Reise durch das heimatliche Württemberg begegnete Wilhelm Dürr im Laufe von sechs Wochen dem vermeintlich still zurückgezogen lebenden Johann Jakob Friederich an sieben verschiedenen Orten zwischen Nagold und Heilbronn, ein Gebiet von immerhin 100 Kilometer Durchmesser rund um Stuttgart.11 Dürr nahm an von Friederich geleiteten Versammlungen teil, begleitete ihn auf den Wegen von einem Ort zum anderen, reiste ihm mehrfach hinterher. Dürrs Tagebuch dokumentiert damit die überaus rege Reisetätigkeit Friederichs und widerspricht dem bisher bekannten Bild des zurückge-

7 Vgl. zu dem ganzen Vorgang Fritz, Friederich, 170 – 182. 8 Vgl. Fritz, Friederich, 182 f.; ähnlich schon [Christian Gottlob Barth:] Erinnerung an den, den 19. October 1827 heimgegangenen Pfarrer M. Johann Jacob Friedrich [!] zu Kornthal. In: EKZ 2, 1828, 393 – 395 (zur Identifizierung des Autors vgl. Michael Kannenberg: »Die Notwendigkeit einer sachlichen Beschäftigung mit den Quellen«. Kritische Anmerkungen und Ergänzungen zu Werner Raupp: Christian Gottlob Barth. Studien zu Leben und Werk, Stuttgart 1998. In: BWKG 101, 2001, 321 – 335, hier 325 – 327). 9 Staatsarchiv Basel, PA 653 Spittlerarchiv, Abt. V: Brief von J. J. Friederich, Leonberg, 29. Juni 1812. 10 Archiv der Basler Mission, QS-10.1,1: [Wilhelm Dìrr:] »ReißJournal welches ich auf meiner lezten vacanz Reiße nach Würtemberg im Jahr 1818 aufgenommen habe«, 2 Hefte im Oktavformat (die Zuschreibung an Wilhelm Dürr ergibt sich aus verschiedenen inhaltlichen Angaben: Vorname, Alter, Heimatort). 11 Dìrr, ReißJournal [wie Anm. 10], Heft 1, 14 (Nagold), 16 – 20 (Leonberg), 27 – 29 (Esslingen und Stuttgart-Berg); Heft 2, 5 f (Heilbronn), 16 (Laufen a. N.), 20 (Stuttgart und Stuttgart-Berg).

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zogen in Leonberg lebenden zwangspensionierten Pfarrers. Offensichtlich war Friederich von Leonberg aus als Reiseprediger tätig geworden.12 Möglicherweise standen seine Besuche auch mit den Plänen für neu zu gründende religiöse Gemeinden in Zusammenhang.13 Ein Jahr vorher, 1817, hatte der Leonberger Notar Gottlieb Wilhelm Hoffmann dem württembergischen König die Bitte unterbreitet, unabhängige religiöse Gemeinden innerhalb der Grenzen des Landes gründen zu dürfen. Viele gewissenhafte und fleißige Leute im Land, so Hoffmann, fühlten sich wegen der Einschränkung ihrer Glaubens- und Gewissensfreiheit zur Auswanderung genötigt. Um das zu verhindern, sollte innerhalb festgelegter geistiger und räumlicher Grenzen eine staatlich geregelte Separation im Innern ermöglicht werden. Friederich stand in Leonberg in engem Kontakt zu Hoffmann. Es ist nicht ausgeschlossen, dass ein Ziel von Friederichs Reisen darin bestand, Siedler für die zu gründenden Gemeinden zu werben. Denn zur selben Zeit reichte Hoffmann beim Oberamt Leonberg ein Verzeichnis der Familien, die Theilnehmer der neu einzurichtenden religiösen Gemeinden werden wollen ein, das die Namen von rund 700 Familien mit knapp über 3100 Personen aus 84 Orten des mittleren Neckarraumes enthielt.14 Nach längerem hin und her willigte der König schließlich ein und genehmigte die Gründung vom Konsistorium unabhängiger Gemeinden. Hoffmann kaufte im Januar 1819 das ehemalige Rittergut Korntal. Knapp 200 Siedler fanden sich dort bald ein und gründeten den Ort, der in Württemberg heute noch als das Heilige Korntal bekannt ist. Friederich gehörte zu ihnen.15 Es begann sein letzter Lebensabschnitt, in dem er wieder als Pfarrer tätig wurde.

3. Friederichs Lebenskrise Zum Zeitpunkt seines Umzugs nach Korntal hatten Friederichs theologische Anschauungen allerdings einen merklichen Wandel durchgemacht. Das hing mit einer Lebenskrise zusammen, die er drei Jahre früher durchlitten hatte. Anlass war der Tod seiner ersten Frau im August 1816 gewesen, der ihn – 12 In einem Bericht aus dem Jahr 1821 erwähnt der Münsinger Dekan Johann Ludwig Ziegler Besuche Friederichs bei den Versammlungen seiner Diözese (Landeskirchliches Archiv Stuttgart, A 26, 464, 2: Bericht von Dekan Ziegler, Münsingen, 24. Oktober 1821). Zu Friederichs Reisetätigkeit vgl. auch Ehmer, Herrnhut in Württemberg, 167 f. 13 Darauf deutet Dürrs Bemerkung hin, er habe am 13. August 1818 in Leonberg an einer Versammlung teilgenommen, die »wegen der Gemeine, die errichtet werden soll«, zusammengekommen sei (Dìrr, ReißJournal [wie Anm. 10], Heft 1, 17). Als Teilnehmer nennt er namentlich Michael Hahn und Friederich. 14 Staatsarchiv Ludwigsburg, E 173 III, Bü 7505, bei Nr. 11 (25. August 1818). 15 Staatsarchiv Ludwigsburg, E 173 III, Bü 7505, Nr. 15: »Verzeichnis der in die gnädigst privilegirte Gemeinde nach Kornthal bis jezt aufgenommenen Mitglieder«, 16. März 1819.

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nachdem vorher schon fünf seiner Kinder gestorben waren – in eine schwere Depression führte. Als treuer Biblizist begegnete er seiner Verzweiflung, indem er aus der Bibel das Schicksal der Toten bis zur Auferstehung des Leibes zu ermitteln suchte. Im Laufe des Jahres 1817 verfasste er daraufhin ein umfangreiches Manuskript über den Zustand nach dem Tod und die Auferstehung der Toten.16 Aus der Vorrede sei etwas ausführlicher zitiert, um vielleicht ein Weniges von Friederichs Depression nachempfinden zu können: »Der Hingang fünff seiner Kinder, von denen sein einiges Söhnlein von nicht gar vier Jahren u. ein Töchterlein binnen drei Wochen schnell vom Herrn weggenommen worden, u. dann endlich der sel. Hingang seiner Drangsalsgefährtin, seiner frommen, treuen u. heldenmüthigen Gattin nach einer lange gedauerten schmerzhafften Krankheit, verbunden mit ganz besondern Umständen, versezten den Verfasser dieser Schrifft in die trostloseste an Verzweiflung grenzende Lage; er war wie einer, der vom fürchterlich tobenden Waldstrom dahingerissen zu Boden sinkt, sich zwar immer wieder ermannend im Wasser vesten Boden sucht, aber wo er hintritt, überall auf lokkern weichenden Sand tritt, u. mit Schreken seinen unvermeidlichen Untergang vor Augen sieht. Zwar wollte er sich an die gewöhnliche menschliche Tröstungen halten, allein keine derselben beruhigte ihn, nichts war für ihn haltbar; gleichsam ohne Mast u. Compaß schwankte sein Nachen über den tobenden Fluthen eigener Gedanken, Vorwürffen von Versündigungen u. peinigender Ungewißheit über den Zustand nach dem Tode dahin, jeden Augenblik die schrekliche Gefahr des GlaubensSchiffbruchs u. der damit verbundenen Lästerung 1 Tim: 1,19. 20. befürchtend; so äusserst gefahrvoll schwankte er dahin, biß endlich das noch nie so tieff gefühlte Bedürffniß eines sichern u. vesten Ankers in dieser trostlosesten Lage, in die ihn ganz eigene Umstände einengten, ihn nöthigte, alle die Belehrungen der heil: Schrifft über den Zustand nach dem Tod u. über die Auferstehung der Todten, genau aufzusuchen, indem diese Artikel noch nie so viel Interesse, als eben jezt für ihn hatten; und hier fand er den Anker, dessen sein zagendes Herz so sehr bedurfte, u. den er auf allen vier Seiten seines an die Felßklippen hingeworffenen krachenden Schiffleins werffen mußte; und Gottlob, der bewahrte es auch für dem völligen Scheitern an den zwo gefährlichen Klippen der Desperation u. des stumpfen alles Menschengefühl ablegenden Stoicismus; hier in der heiligen Schrifft fand er nicht menschlichen, sondern göttlichen Trost, der zu einer wahren gründlichen Beruhigung des Herzens u. zu einem stillen Aushalten in den dunkeln Wegen der göttlichen Führung nach u. nach hinleitet, biß sein Schifflein, unerachtet es sich noch auf den schlagenden Wellen des Meeres befindet, endlich in den ersehnten Port wird eingelaufen seyn.«17

16 Archiv der Brüdergemeinde Korntal: [Johann Jakob] Friederich: Betrachtungen über den Zustand eines Christen von seinem Abscheiden an biß hin zur Auferstehung des Leibes, aus den Belehrungen der heiligen Schrift, zu christlich wahrer Beruhigung über unsere im Herrn entschlaffene [!] Lieben, 3 Tl. in 4 Bd. 1817. 17 Friederich, Betrachtungen, Tl. 1, Bd. 1, Vorrede, 24 – 26 (Hervorhebung i.O.).

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Seine Forschungen brachten Friederich nicht nur eine wesentliche Beruhigung seiner persönlichen Zweifel, sondern zogen auch eine Gewichtsverlagerung seiner theologischen Anschauungen nach sich. Er betonte zwar in der Vorrede zu seinem Manuskript, die Johannesoffenbarung sei für ihn nach wie vor »in der goldenen Kette der heiligen Schriften alten und neuen Testaments der hervorstrahlendste unschäzbarste Prillant« und »das allerkostbarste, unentbehrlichste, unschäzbarste Buch«.18 Im Zentrum des neuen Werkes stand aber nicht mehr – wie im Glaubens- und Hoffnungs-Blik von 1800 – der christlich-endzeitliche Zionismus mit seiner Aussicht auf eine diesseitige Sammlung der wahrhaft Glaubenden in und um Jerusalem, sondern die Hoffnung auf eine Einkehr in das jenseitige, »himmlische Vaterland«, wo er erwartete, mit seinen verstorbenen Angehörigen wieder vereint zu werden.19 Diese Gewichtsverlagerung markiert den Übergang von der millenarischen Erwartung einer ersten Auferstehung, die das Kollektiv der wahrhaft Glaubenden umfassen sollte, zu einer individualisierten Wiedersehenshoffnung, die sich seit Anfang des 19. Jahrhunderts in bürgerlichen Kreisen verbreitete.20 Gegenüber einer Besucherin äußerte Friederich später einmal: »[…] ich glaubte ehemals den Sinn der Offenb[arung] verstanden zu haben und auslegen zu können. Da kam alles anders, als ich prophezeiete. Zudem starb mir meine Frau, welche ich im Drang-Gebete von Gott erhalten zu können glaubte; ich wurde nicht erhört und diese Umstände zusammen wirkten so auf mein Gemüth, daß ich eine Zeit lang allen Glauben verlor, sogar an Gott und an sein Wort und in tiefe Dunkelheit gerieth. Gott erbarmte sich meiner wieder, brachte mich wieder zum Glauben, aber das Grübeln habe ich seitdem aufgegeben und bekümmere mich nur um’s Seligwerden.«21

Damit ist ausgesprochen, was sich in den folgenden Jahren in Württemberg durchsetzen sollte: die Individualisierung und Spiritualisierung endzeitlicher Erwartungen.

18 Ebd., 17 f. 19 Friederich, Betrachtungen, Tl. 1, Bd. 2, 467. – Vgl. auch Renate Fçll: Sehnsucht nach Jerusalem. Zur Ostwanderung schwäbischer Pietisten. Tübingen 2002 (Studien und Materialien des Ludwig-Uhland-Instituts der Universität Tübingen, 23), 196. 20 Vgl. Udo Dickenberger: Poesie auf Gräbern. Die literarischen Inschriften des HoppenlauFriedhofs. In: Der Stuttgarter Hoppenlau-Friedhof als literarisches Denkmal, bearb. v. dems., Waltraud u. Friedrich Pfäfflin. Marbach 1992 (Marbacher Magazin 59), 3 – 37, hier 23 – 26. 21 Anna Schlatter: Etwas von und über meine Reise nach Barmen im Sommer 1821 für mich und meine Kinder. In: Martin H. Jung, Nachfolger, Visionärinnen, Kirchenkritiker. Theologieund frömmigkeitsgeschichtliche Studien zum Pietismus. Leipzig 2003, 218 – 264, hier 231.

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4. Friederich in Korntal Doch noch einmal zurück nach Korntal. Friederich war dort auch ohne Genehmigung durch eine staatliche Stelle von Anfang an als Pfarrer und Seelsorger tätig. In diesen ersten Jahren kam Friederich, neben dem Vorsteher Hoffmann, die Aufgabe zu, die unterschiedlichen Richtungen unter den Korntaler Siedlern zu integrieren. Wahrscheinlich schon von Anfang an war Korntal ein Sammelplatz für vielfältige pietistische Frömmigkeitsstile gewesen. Später hieß es in einem Visitationsbericht: »So sahen die, welche um der Einheit des Glaubens willen sich vereinigten, sich alsobald wieder verschieden, nachdem sie sich näher beim Lichte betrachteten; es waren Herrenhuter, Michelianer, Pregizerianer, Bengelianer, u. drgl.«22 Der weltliche Vorsteher Hoffmann, der noch bis 1832 fest davon überzeugt war, die Bengelschen Endzeitberechnungen würden sich erfüllen, konnte dabei andere Teile der Gemeinde integrieren als Friederich, dessen Erwartungen sich bereits seit längerem zu einer spiritualisierten und individualisierten Hoffnung umgewandelt hatten. Beide ergänzten sich und garantierten den Fortbestand des alternativen religiösen Siedlungsmodells. Doch in diesen Jahren vor 1830 kamen nicht nur pietistische Stundenleute unterschiedlichster Frömmigkeitsstile nach Korntal. Auch für eine junge Generation pietistischer Theologen wurde es zu einem gerne besuchten Anziehungspunkt. Diese Generation Erweckung war es, die den Erweckungspietismus in Württemberg prägen sollte. Und sie kamen alle nach Korntal. Christian Gottlob Barth schrieb schon 1820 eine Flugschrift zur Verteidigung der millenarischen Ansiedlung, die nicht nur er als Bergungsort in den kommenden antichristlichen Verfolgungen verstand.23 Immer wieder kehrte er dort, wie er es selbst einmal nannte, zur »Erholung« ein.24 Ludwig Hofacker und Albert Knapp führten sogar ihre Konfirmanden, beinahe 100 Jugendliche, zur Nachfeier der Konfirmation gemeinsam nach Korntal.25 Nicht zuletzt die Person Johann Jakob Friederichs wird es gewesen sein, die Korntal für die jungen Theologen so attraktiv machte. Er wirkte in der alternativen religiösen Siedlung als geistliche Integrationsgestalt und wurde damit zum Anreger für das pfarramtliche Wirken der angehenden Pfarrer. Dieser Generation Erweckung sollte in den kommenden Jahren die Aufgabe zukommen, den württembergischen Pietismus zu 22 Staatsarchiv Ludwigsburg, E 173 III, Bü 7506, bei Nr. 251: Visitationsbericht des Dekanatsverwesers, Pfr. Johann Jakob Seybold, Ditzingen, 3. Dezember 1838 (Hervorhebung i.O.). 23 [Christian Gottlob Barth:] Hoffmännische Tropfen gegen die Glaubensohnmacht. Worte des Friedens über die neue Württembergische Gemeinde. Tübingen 1820. 24 Vgl. Karl Werner: Christian Gottlob Barth, Doktor der Theologie, nach seinem Leben und Wirken gezeichnet, Bd. 1. Calw/Stuttgart 1865, 253. 25 Vgl. Albert Knapp: Leben von Ludwig Hofacker, weil. Pfarrer zu Rielingshausen, mit Nachrichten über seine Familie und einer Auswahl aus seinen Briefen und Cirkularschreiben. Heidelberg 1852, 101 f.

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konsolidieren. Ein bedeutender Anteil an dieser Aufgabe bestand darin, die Enttäuschung der einst auch von Friederich forcierten endzeitlichen Erwartungen aufzufangen und den pietistischen Kreisen, nicht nur in Korntal, neue Perspektiven aufzuzeigen. Dies gelang den jungen Pfarrern durch eine Vielzahl von kommunikativen Aktivitäten, mit denen sie den Erfordernissen der Zeit gerecht wurden. Sie brachten publizistische Organe heraus, sie förderten und organisierten Missionsfeste, sie propagierten die Sonntagsheiligung und ermöglichten durch all dies eine Rückkehr der pietistischen Kreise in den Alltag. Ein immer wiederkehrendes Element war dabei die individualisierte und spiritualisierte Zukunftserwartung.26 Der württembergische Millenarist Johann Jakob Friederich, ein Vordenker dieser Entwicklung, geriet darüber fast in Vergessenheit. Als Pfarrer in Winzerhausen hatte er den millenarischen Faden Bengels aufgenommen, auf seine Weise weiter gesponnen und die millenarische Sehnsucht in Württemberg wach gehalten. Damals im Jahr 1800 war für ihn die endzeitliche Weltuhr noch klar ablesbar gewesen: »Weil ich weiß, daß die Zeit wirklich da ist, daß die Vertriebene wieder nach Zion sollen gebracht werden: so war es schon lange mein Wunsch, daß diß noch in meinen Lebenstagen geschehen möchte, und ich nicht vor der Zeit, ehe ich die Wiederaufrichtung Zions gesehen, aus diesem Leben möchte genommen werden.«27

Später als zwangspensionierter Pfarrer besuchte er von Leonberg aus pietistische Gemeinschaften im Land und beförderte deren Kommunikation. Eine Lebenskrise führte dann zur Veränderung seiner theologischen Ansichten: seine endzeitlichen Erwartungen wandelten sich von einer universalen Eschatologie zu einer spiritualisierten und individualisierten Hoffnung. In Korntal schließlich lebte er bis zu seinem Tod 1827 als geistliche Integrationsgestalt der alternativen religiösen Siedlung. Aber das Grübeln, das hatte er aufgegeben. Was Friederich nicht mehr miterlebte, waren die neuen Energien, die der württembergische Pietismus aus der Krise seiner endzeitlichen Erwartungen schöpfte. Mitten aus der Krise gewann er die Kraft, sich von einer millenarischen Bewegung zu einer die Volkskirche mitgestaltenden Kraft zu verwandeln – allerdings um den Preis einer verinnerlichten und schließlich verbürgerlichten Eschatologie. Die universalen Kategorien des Gottesreiches waren für den bürgerlichen Seelenhaushalt nicht mehr erschwinglich.

26 Vgl. Michael Kannenberg: Verschleierte Uhrtafeln. Endzeiterwartungen im württembergischen Pietismus zwischen 1818 und 1848. Göttingen 2007 (AGP, Bd. 52). 27 Friederich, Glaubens- und Hoffnungs-Blik, 21801, 173 f.

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Judith Becker

Zukunftserwartungen und Missionsimpetus bei Missionsgesellschaften in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts* Die Zukunftserwartungen der Erweckungsbewegung des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts waren einer der wichtigsten Impulse zum Auf- und Ausbau des Missionswesens.1 Man erwartete die Wiederkunft Christi bzw. den Beginn des Tausendjährigen Reiches in naher Zukunft und war entweder überzeugt, bis dahin nur noch eine kurze Spanne Zeit zu haben, um Juden und Heiden zu bekehren, oder man glaubte, Juden und Heiden bekehren zu müssen, um das Kommen des Reiches Gottes zu beschleunigen.2 Diese grundlegenden Fakten sind weithin bekannt. In dem vorliegenden Beitrag sollen öffentliche und interne Quellen von deutschen und englischen Missionsgesellschaften analysiert werden, um zu überprüfen, in welchen Fällen und auf welche Weise Zukunftserwartungen argumentativ eingesetzt * Diese Untersuchung entstand im Rahmen der vom Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderten Nachwuchsforschergruppe »Transfer und Transformation der Europabilder evangelischer Missionare im Kontakt mit dem Anderen, 1700 – 1970«, die die Autorin am LeibnizInstitut für Europäische Geschichte, Mainz, leitet. Es werden folgende Abkürzungen verwendet: CMS = Church Missionary Society ; LMS = London Missionary Society ; SOAS = School of Oriental and African Studies, University of London. 1 Neben der Zukunftserwartung standen andere wichtige religiöse Motive für die Mission, die jedoch nicht den Mittelpunkt dieser Untersuchung bilden können. Sie sollen daher nur kurz erwähnt werden. Der Mission ging es um Eifer für und Ausbreitung von der Ehre Gottes ebenso wie um die »Rettung der Seelen« nichtchristlicher Menschen – in Übersee wie in Europa –, um die Rückgabe des Lebens an Gott, Hingabe und Liebe. Neben den religiösen spielten zweifellos auch weltliche Motivationen eine gewisse Rolle. Zur Charakterisierung der Erweckungsbewegung vgl. z. B. Ulrich G•bler: »Erweckung« – Historische Einordnung und theologische Charakterisierung. In: Ders. (Hg.): »Auferstehungszeit«. Erweckungsprediger des 19. Jahrhunderts. Sechs Porträts. München 1991, 161 – 186; vgl. auch ders.: Erweckung im europäischen und amerikanischen Protestantismus. In: Pietismus und Neuzeit 15, 1989, 24 – 39; Martin Brecht: Pietismus und Erweckungsbewegung. In: Pietismus und Neuzeit 30, 2004, 30 – 47. Ein Überblick über die Beziehung von Pietismus und Missionsbewegung findet sich bei Hermann Wellenreuther: Pietismus und Mission. Vom 17. bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts. In: Hartmut Lehmann (Hg.): Glaubenswelt und Lebenswelten (Geschichte des Pietismus 4). Göttingen 2004, 166 – 193. 2 Zu den »Heiden« gehörten selbstverständlich immer auch die sog. »Namenchristen« in Europa, Menschen, die sich christlich nannten, aber nicht die pietistische Frömmigkeit der Missionare teilten. Auch diese sollten bekehrt werden. Einen Überblick über die Entwicklung der Bekehrungshoffnung für die Juden in Pietismus und Erweckung gibt Johannes Wallmann: Der alte und der neue Bund. Zur Haltung des Pietismus gegenüber den Juden. In: Lehmann (Hg.), Glaubenswelt (wie Anm. 1), 143 – 165.

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wurden, um den Auftrag zur Mission bzw. die Erwartungen an die Mission zu untermauern oder zu begründen. Dabei wird nach Situationen und Quellengattungen sowie nach Verfassern und Adressaten der Texte differenziert. Die zwei größten Verfassergruppen lassen sich auch unterschiedlichen Quellengattungen zuordnen: Auffassungen der Missionsgesellschaften finden sich in Publikationen allgemeiner Art. Sie sind zudem in den Unterlagen zur Ausbildung der Missionare und in den aus der Ausbildung entstandenen Veröffentlichungen nachzuweisen. Die Überzeugungen der einzelnen Missionare wurden in ihren Bewerbungen bei den Missionsgesellschaften niedergelegt. Nach Ausbildung und Aussendung berichteten die Missionare von ihren Erfahrungen auf den Missionsfeldern, und auch hier kamen Zukunftserwartungen zum Tragen. Die Berichte der Missionare wurden zumindest in Auszügen von den Missionsgesellschaften veröffentlicht.3 Die Analyse stützt sich auf deutsch- und englischsprachige Missionsgesellschaften aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Im Mittelpunkt stehen exemplarisch für die deutschsprachigen Missionsgesellschaften die Basler Mission und die Rheinische Missionsgesellschaft.4 Die Basler Mission war eine der größten und einflussreichsten Missionsgesellschaften deutscher Sprache. 3 Zur Veröffentlichungspraxis der Missionsgesellschaften liegt noch keine umfassende Untersuchung vor. Vgl. als Teilstudie eines besonderen Tätigkeitsbereichs: Willy Rìegg: Die Chinesische Revolution in der Berichterstattung der Basler Mission. Zürich 1988. Vgl. ebd., 217, zur Diskrepanz zwischen der Betonung der Erfolge der Mission in den veröffentlichten Berichten und den internen Berichten. Rüegg bezieht sich speziell auf die Chinamission Anfang des 20. Jahrhunderts. Jon Miller, Missionary zeal and institutional control. Organizational contradictions in the Basel Mission on the Gold Coast, 1828 – 1917 (Studies in the History of Christian Missions), Grand Rapids/Cambridge 2003, betrachtet die Organisationsstruktur der Basler Mission, die wiederum die Veröffentlichungspraxis bedingte. Eigene Untersuchungen der Verfasserin mit Textvergleichen zwischen einzelnen Originalbriefen und den abgedruckten Briefen haben ergeben, dass einige Briefe und Berichte tatsächlich mehr oder weniger unverändert veröffentlicht wurden. Andere wurden im Textkörper wesentlich gekürzt und paraphrasiert. Solche Paraphrasen sind in den Missionszeitschriften häufig nicht gekennzeichnet. Insgesamt lässt sich jedoch feststellen, dass in keinem untersuchten Fall die Herausgeber der Missionszeitschriften etwas schrieben, das die Missionare nicht so auch hätten sagen können oder an anderer Stelle tatsächlich sagten. Es ist dagegen keineswegs sicher aus den gedruckten Quellen zu erkennen, dass sie es an genau dieser Stelle auch tatsächlich sagten. Aufgrund dieses Befundes lassen sich die veröffentlichten Briefe durchaus als Quelle für die Auffassungen der Missionare nutzen. Sie sind jedoch immer unter dem Vorbehalt zu gebrauchen, dass die Missionare selbst an einer bestimmten Stelle nicht genau diese Formulierung benutzt haben. Für den genauen Wortlaut muss auf die handschriftlichen Originale zurückgegriffen werden. 4 Zur Geschichte der Basler Mission vgl. Wilhelm Schlatter: Die Heimatgeschichte der Basler Mission (Geschichte der Basler Mission 1815 – 1915. Mit besonderer Berücksichtigung der ungedruckten Quellen 1). Basel 1916. Zwei weitere Bände aus demselben Jahr vervollständigen den Überblick (ders.: Die Geschichte der Basler Mission in Indien und China [Geschichte der Basler Mission 1815 – 1915. Mit besonderer Berücksichtigung der ungedruckten Quellen 2]; ders.: Die Geschichte der Basler Mission in Afrika [Geschichte der Basler Mission 1815 – 1915. Mit besonderer Berücksichtigung der ungedruckten Quellen 3]). Zur Rheinischen Missionsgesellschaft gibt es eine neuere Darstellung: Gustav Menzel: Aus 150 Jahren Missionsgeschichte. Die Rheinische Mission. Wuppertal 1978.

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Sie hatte besondere Bedeutung für den süddeutschen Bereich, insbesondere Württemberg, aber rekrutierte auch Kandidaten aus allen anderen deutschen Ländern und den Schweizer Kantonen.5 Die Rheinische Missionsgesellschaft war zunächst eine Unterstützerorganisation der Basler Mission. 1825 wurde hier eine Missionsvorschule gegründet, die Kandidaten für das Basler Missionsseminar ausbilden sollte, 1827 wurde die Vorschule in ein Missionsseminar umgewandelt und 1828 die Rheinische Missionsgesellschaft als eigenständige Mission gegründet. Hinsichtlich der englischen Missionsgesellschaften bezieht sich die Studie auf die Church Missionary Society (CMS), die eng mit Basel kooperierte und weit in die Church of England hineinwirkte, und auf die London Missionary Society (LMS), die erste Neugründung einer überkonfessionellen Missionsgesellschaft und in vieler Hinsicht vorbildlich für die späteren, auch deutschen Gesellschaften.6 Bei Basel und LMS liegen von Beginn ihrer Aussendung bzw. Ausbildung an systematisch gesammelte Bewerbungen der Missionskandidaten vor, die seriell ausgewertet werden können. In Basel mussten die Bewerber ein frei formuliertes Schreiben sowie einen Lebenslauf einreichen, aus denen ihre christliche Gesinnung sowie ihre Motivation zur Mission hervorgingen. In England (LMS und CMS) waren die Kandidaten aufgefordert, Fragebögen auszufüllen. Auf diese Weise konnten die Gesellschaften gezielt bestimmte Kriterien abprüfen.7 Anhand dieser Quellen kann analysiert werden, auf welche Weise die Missionsbewerber mit Zukunftsvorstellungen argumentierten. Die späteren Überzeugungen der Missionare werden in ihren Briefen, Tagebüchern und Berichten deutlich. Diese sind in Auszügen in den Missionszeitschriften abgedruckt: der Basler Evangelische Heidenbote sowie der Church Missionary Record der CMS aus den 1830er Jahren wurden unter 5 Zum Württembergischen Pietismus vgl. Hartmut Lehmann: Pietismus und weltliche Ordnung in Württemberg. Vom 17. bis. 20. Jahrhundert. Stuttgart [u.a.] 1969 und Ulrike Gleixner: Pietismus und Bürgertum. Eine historische Anthropologie der Frömmigkeit. Württemberg 17. –19. Jahrhundert (Bürgertum, N.F. 2). Göttingen 2005; zum 18. Jh. vgl. Martin Brecht: Der württembergische Pietismus. In: Ders./Klaus Deppermann (Hg.): Der Pietismus im achtzehnten Jahrhundert (Geschichte des Pietismus 2). Göttingen 1995, 225 – 296; zu den dortigen millenniaristischen Vorstellungen vgl. auch Ulrike Gleixner: Pietism, Millenarianism, and the Family Future: The Journal of Beate Hahn-Paulus (1778 – 1842). In: John Christian Laursen/Richard H. Popkin (Hg.): Millenarianism and Messianism in Early Modern European Culture, Vol. IV: Continental Millenarians: Protestants, Catholics, Heretics (Archives internationales d’histoire des id¦es 176). Dordrecht [u.a.] 2001, 107 – 121. 6 Die Darstellungen der Geschichte der Missionsgesellschaften im 19. Jahrhundert stammen wie bei der Basler Mission aus der Zeit der 100-Jahr-Feiern: Richard Lovett: The history of the London Missionary Society 1795 – 1895. 2 Bde. London 1899; Eugene Stock: The History of the Church Missionary Society. Its Environment, its Men and its Work. 3 Bde. London 1899, Supp. Vol. London 1916. 7 Vgl. BV, Archiv, mission21/Basler Mission, Basel; Answers to printed questions 1835 – 1885, Home. Candidates’ Papers (CP), London, SOAS CWM/LMS, 1796 – 1899. Die Bewerbungsunterlagen der CMS aus den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts wurden im Zweiten Weltkrieg zerstört.

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diesem Gesichtspunkt ausgewertet.8 Ebenfalls in diesen Zeitschriften finden sich übergreifende Artikel, die von den Herausgebern verfasst wurden und die Auffassungen der Missionsgesellschaften widerspiegeln. Dazu wurden auch das Basler Missionsmagazin und das Barmer Missionsblatt hinzugezogen.9 Eine der umfangreichsten und tatsächlich sehr einflussreichen Veröffentlichungen, die in der Missionarsausbildung entstanden war, ist die sechsbändige sog. Richter-Bibel, eine kommentierte Bibelauslegung, verfasst von Heinrich und Wilhelm Richter.10 Heinrich Richter war ab 1827 Leiter des Missionsseminars in Barmen, später Inspektor der Rheinischen Missionsgesellschaft, sein Bruder Wilhelm unterrichtete ebenfalls in Barmen. Die RichterBibel ist aus den täglichen Bibelstunden im Missionsseminar entstanden, reflektiert also unmittelbar das, was den zukünftigen Missionaren in Barmen beigebracht wurde.11 Der umfassende Bezug auf Geschichtsvorstellungen in diesem Bibelkommentar fällt unmittelbar ins Auge. Im Blick auf die Quellenanalyse und -auswahl ist noch eine zweite Beobachtung von Bedeutung: Wie deutlich auf Zukunftserwartungen Bezug genommen wurde, hing von der Verfassergruppe sowie der Quellengattung ab. Auf den ersten Blick scheint es, als seien hauptsächlich die Missionsgesellschaften in ihren allgemeinen Veröffentlichungen auf Geschichts- und genaue Zukunftsvorstellungen eingegangen. Das stimmt auch, wird unter »Zukunftsvorstellungen« die ausdrückliche Erwartung der Wiederkunft Christi oder des Reiches Gottes verstanden. Dann sind diese vornehmlich bei den Missionsgesellschaften und in wesentlich geringerem Umfang bei den Missionaren zu finden, d. h. in deren Bewerbungen und Berichten von den Missionsstationen. Doch äußerten auch die Missionare häufig Zukunftsvorstellungen und begründeten damit ihre Missionsbemühungen. Hierbei handelte es sich jedoch oftmals um eine andere Art von Zukunftsvorstellung. Die verschiedenen Arten von Zukunftserwartung und ihre Beziehung zueinander sollen im Folgenden untersucht werden. Dazu wird in einem ersten Schritt die Geschichts- und insbesondere Zukunftskonzeption einer der miteinander verbundenen Missionsgesellschaften vorgestellt: die der Rheinischen Mission anhand der Richter-Bibel. In einem zweiten Abschnitt werden die Auffassungen in den allgemeinen Veröffentlichungen der Missionsgesellschaften, die Überblicks- und Jahresrückblickartikel in den Missionszeitschriften, untersucht. Ein dritter Teil geht auf die Zukunftserwartungen der 8 Der evangelische Heidenbote. Basel 1828 ff; Church Missionary Record. London 1830 ff. 9 Magazin für die neueste Geschichte der evangelischen Missions- und Bibelgesellschaften. Basel 1815 ff (ab 1857: Evangelisches Missions-Magazin; Missions-Gesellschaft zu Basel). Das Missions-Blatt. Barmen 1826 ff. 10 Heinrich Richter unter Mitarb. v. Wilhelm Richter: Richter’s Bibelwerk. Erklärte HausBibel oder Auslegung der ganzen heiligen Schrift alten und neuen Testaments. Barmen/Schwelm 1834 – 1840. 11 Vgl. Richter, Haus-Bibel (wie Anm. 10), Bd. I. 21835; vgl. auch Ludwig von Rohden: Geschichte der Rheinischen Missionsgesellschaft. Barmen 1856, 63.

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Missionare ein. Im zweiten und dritten Abschnitt steht bei der Analyse jeweils eine Art der Zukunftserwartung im Mittelpunkt. Zwar lassen sich alle Arten von Erwartungen in allen Quellengattungen finden, aber sie unterscheiden sich hinsichtlich ihrer Häufigkeit. Am Schluss wird nach der Beziehung zwischen den verschiedenen Zukunftsvorstellungen gefragt und analysiert, wie alle gemeinsam das Anliegen der Mission unterstützten.

1. Die Richter-Bibel, eine Geschichtskonzeption der Rheinischen Missionsgesellschaft: das Reich Gottes in Vergangenheit und Zukunft Die Zukunftserwartungen der Missionsgesellschaften reflektierten die Zukunftsvorstellungen der Erweckungsbewegung, aus der sie hervorgegangen waren.12 Die meisten frommen Christen lebten in einer unmittelbaren Naherwartung. Johann Albrecht Bengel hatte den Anbruch des Tausendjährigen Reiches für 1836 errechnet, und bis ins zweite Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts 12 Einen Überblick über das Geschichtsverständnis in Pietismus und Erweckungsbewegung gibt Ulrich G•bler: Geschichte, Gegenwart, Zukunft. In: Lehmann (Hg.), Glaubenswelt (wie Anm. 1), 19 – 48. Vgl. zu Geschichtsbild und Historiographie in der Erweckungsbewegung nun auch Jan Carsten Schnurr : Weltreiche und Wahrheitszeugen. Geschichtsbilder der protestantischen Erweckungsbewegung in Deutschland 1815 – 1848 (Arbeiten zur Geschichte des Pietismus 57). Göttingen 2011 sowie ders.: Geschichtsdeutung im Zeichen des Reiches Gottes. Historiographie- und begriffsgeschichtliche Anmerkungen zur Geschichtsliteratur der protestantischen Erweckungsbewegung im Vormärz. In: HZ 291, 2010, 353 – 383. Die sozialen und politischen Hintergründe untersucht u. a. Andreas Gestrich: »Am letzten Tag schon fertig sein«. Die Endzeiterwartungen der schwäbischen Pietisten. In: Ulrich Herrmann/Karin Priem (Hg.): Konfession als Lebenskonflikt. Studien zum württembergischen Pietismus im 19. Jahrhundert und die Familientragödie des Johannes Benedikt Stanger (Materialien zur Historischen Jugendforschung). Weinheim/München 2001, 93 – 126. Vgl. auch ders.: Pietismus und ländliche Frömmigkeit in Württemberg im 18. und frühen 19. Jahrhundert. In: Norbert Haag [u.a.] (Hg.): Ländliche Frömmigkeit. Konfessionskulturen und Lebenswelten 1500 – 1850. Stuttgart 2002, 343 – 357. Zu millenniaristischen Anschauungen vgl. Michael Kannenberg: Verschleierte Uhrtafeln. Endzeiterwartungen im württembergischen Pietismus zwischen 1818 und 1848 (Arbeiten zur Geschichte des Pietismus 52). Göttingen 2007; Hartmut Lehmann: Pietistic Millenarianism in Late Eighteenth-Century Germany. In: Ders. (Hg.): Religion und Religiosität in der Neuzeit. Historische Beiträge, hg. v. Manfred Jakubowski-Tiessen u. Otto Ulbricht. Göttingen 1996, 158 – 166; Martin Brecht: Chiliasmus in Württemberg im 17. Jahrhundert. In: Pietismus und Neuzeit 14, 1988, 25 – 49; Stephan Holthaus: Prämillenniarismus in Deutschland. Historische Anmerkungen zur Eschatologie der Erweckten im 19. und 20. Jahrhundert. In: Pietismus und Neuzeit 20, 1994, 191 – 211 (dort auch eine Diskussion zum Wort »Prämillenniarismus«, vgl. Anm. 2); vgl. auch die Beiträge in: Eberhard Gutekunst (Hg.): Apokalypse. Endzeiterwartungen im evangelischen Württemberg. Stuttgart 2000; zu religiösen und politischen Zukunftsvorstellungen vgl. Lucian Hçlscher: Weltgericht oder Revolution. Protestantische und sozialistische Zukunftsvorstellungen im deutschen Kaiserreich (Industrielle Welt 46). Stuttgart 1989.

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hinein erwarteten viele in pietistischer Tradition stehende Gläubige für dieses Jahr eine qualitative Veränderung der Welt.13 In manchen Kreisen hielt sich die Erwartung auch bis zum Jahr 1836 selbst. Aber auch danach wurde die Naherwartung nicht aufgegeben. Sie war eines der Merkmale pietistischer Frömmigkeit im 19. Jahrhundert.14 Die Missionsbewegung teilte diese Überzeugung. Sie sah sie in den Ereignissen der Gegenwart in Europa und auf dem Missionsfeld bestätigt.15 Daher können ihre Zukunftserwartungen nicht unabhängig von Vergangenheitsdeutung und Gegenwartsverständnis betrachtet werden. Gemeinsam bildeten sie das Geschichtsbewusstsein der Missionsgesellschaften, und der eine Aspekt hing vom anderen ab.16 Dies wird in fast jeder der allgemeinen Veröffentlichungen der Missionsgesellschaften deutlich.17 Bevor nun übergreifende Artikel vorgestellt werden, sollen zunächst Geschichtsbewusstsein und Zukunftsvorstellung der Richter13 Vgl. Marin H. Jung: 1836 – Wiederkunft Christi oder Beginn des Millenniums? Zur Eschatologie J. A. Bengels und seiner Schüler. In: Ders. (Hg.): Nachfolger Visionärinnen Kirchenkritiker. Theologie- und frömmigkeitsgeschichtliche Studien zum Pietismus. Leipzig 2003, 93 – 116. Vgl. auch Heinrich Frommer : 1836 – und danach? In: Gutekunst (Hg.), Apokalypse (wie Anm. 12), 113 – 118. 14 So bereitete sich die CMS auf ihre Hundertjahrfeier 1899 immer nur unter dem eschatologischen Vorbehalt vor. In dem Aufruf von 1898 heißt es: »[…] the watchful servants of God read in the signs of the times, not only the brighter hope of the coming Kingdom, but also a clearer call to make ready the way of the King, by preaching His Gospel to the uttermost parts of the earth. With this end in view, nothing can alter the duty of Christian men. […] their chief business is to witness, to work, and to wait for Him and His return. Unless that Advent intervene, the Society before its next anniversary will have completed the first hundred years of its existence« (CMS Archives, Birmingham, G/A. AJ 4. Anniversary meetings, 1898). Vgl. zur Bedeutung der Jahrhundertwende auch: Manfred Jakubowski-Tiessen [u.a.] (Hg.): Jahrhundertwenden. Endzeit- und Zukunftsvorstellungen vom 15. bis zum 20. Jahrhundert (Veröffentlichungen des MaxPlanck-Instituts für Geschichte 155). Göttingen 1999, darin bes. Harry Oelke: Der Jahrhundertwechsel 1899/1900 im Spiegel der evangelischen Publizistik, 305 – 325. Eine systematischtheologische Analyse von Endzeitvorstellungen unternimmt Gerhard Sauter: Endzeit- und Endvorstellungen und geschichtliches Denken. In: Jakubowski-Tiessen, 377 – 402; vgl. auch Walter Sparn: »Aussichten in die Ewigkeit«. Jenseitsvorstellungen in der neuzeitlichen protestantischen Theologie. In: Lucian Hölscher (Hg.): Das Jenseits. Facetten eines religiösen Begriffs in der Neuzeit (Geschichte der Religion in der Neuzeit 1). Göttingen 2007, 12 – 39. 15 Zum sog. »Catastrophic Millennialism« vgl. Catherine Wessinger: Catastrophic Millennialism. In: Richard A. Landes (Hg.): Encyclopedia of Millennialism and Millennial Movements. New York/London 2000, 61 – 63; zum progressiven Milllenniarismus vgl. dies.: Progressive Millennialism. In: Landes, Enyclopedia, 332 f. 16 Vgl. z. B. Karl-Ernst Jeismann: Geschichtsbewußtsein – Theorie. In: Klaus Bergmann [u.a.] (Hg.): Handbuch der Geschichtsdidaktik5, Seelze-Velber 1997, 42 – 44, hier 42. 17 Die Bedeutung der Geschichte wird auch darin deutlich, dass das erste Heft des Magazins für die neueste Geschichte der protestantischen Missions- und Bibelgesellschaften 1816 Übersetzungen von Missionsgeschichten brachte: Hugh Pearson, Kurzer historischer Umriß der Fortschritte des Evangeliums unter den verschiedenen Völkern seit der ersten Bekanntmachung desselben, bis zur Stiftung der neuesten protestantischen Missionen. Auch der erste Artikel des ersten Heftes des Barmer Missionsblattes stellte die Bedeutung der Mission anhand der Religionsgeschichte dar: Missions-Blatt 1826, 1 – 4.

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Bibel analysiert werden, da in diesen sechs Bänden eine umfassende Geschichtskonzeption aus einem Missionsseminar vorliegt. Richters gesamte Auslegung des Alten Testaments ist ein einziger großer Geschichtsentwurf. Denn im Alten Testament, so seine These, finde sich die Geschichte der »Theokratie«, des Reiches Gottes.18 Hier werde Christus in einzelnen Schritten vorabgebildet – »vorabgeschattet« nennt Richter es häufig –, und mit dem Abschluss dieser Vorabbildung endeten auch die biblischen Bücher des AT.19 Die wahre Geschichte ist für Richter die Geschichte des Reiches Gottes, der Theokratie, und nur das an der Geschichte sei wichtig und wahr, worin sich das Reich Gottes zeige. Die Welt sei der Ort der Heilsgeschichte, hier spielten sich alle heilsgeschichtlich bedeutsamen Ereignisse ab, hier nehme das Reich Gottes Gestalt an. In diesem Sinne sind die Welt und die Weltgeschichte von großer Bedeutung. Das Reich Gottes sei Zweck und Mittelpunkt der ganzen Weltgeschichte, »und die Erforschung dessen die wahre Philosophie der Geschichte der Menschheit«.20 Die Geschichte der Theokratie endet nach Richter in 2 Chron. 36 mit der Wegführung nach Babel. Nun werde Gottes Wirken in der Welt weniger deutlich sichtbar als zuvor.21 Gleichzeitig würden die Berichte über die Weltgeschichte selbst zuverlässiger.22 Mit Esther ende die Geschichte der offenbaren Theokratie endgültig. Von nun an vollziehe sich auch in Israel die Leitung Gottes im Verborgenen. Wenn die Welt der Ort der Heilsgeschichte ist und die weltlichen Ereignisse heilsgeschichtliche Bedeutung haben, dann gilt das nicht nur für die Geschichte der biblischen Zeit, sondern auch für die Gegenwart. Richter führt, um seine Thesen zu stützen, auch Ereignisse aus Gegenwart und jüngster Vergangenheit an.23 Diese Ereignisse benutzt er entweder zur Illustration (meist als Negativbeispiel) zur Aufrüttelung seiner Leser oder als Beweis, dass man jetzt an der Schwelle zum Tausendjährigen Reich stehe.24 18 Das Reich Gottes wird hier primär als Gottes Herrschaft in der Welt verstanden. – Im Neuen Testament hingegen finden sich Lebensregeln. Hier sieht Richter kaum Grund zu historischer Auslegung. Die Zeit Christi ist die Mitte der Zeit. Erst in der Offenbarung finden sich wieder gehäuft historische Interpretationen. 19 Daher gehörten auch die Apokryphen nicht mehr zur Bibel. In ihnen werde nicht vom Reich Gottes gesprochen, sondern seine Geschichte eher entstellt. Richter nennt die Apokryphen »unhistorisch«, vgl. Richter, Haus-Bibel (wie Anm. 10), Bd. IV, 1043. 20 Richter, Haus-Bibel (wie Anm. 10), Bd. IV, 221. Der erste Druck von Hegels Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte stammt aus demselben Jahr 1837: Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, hg. v. Eva Moldenhauer (Werke 12, Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft 612). Frankfurt am Main 51999. 21 Vgl. Hegel, Vorlesungen (wie Anm. 20), 819. 22 Vgl. Hegel, Vorlesungen (wie Anm. 20), 918. 23 Auf die weiter zurückliegende Vergangenheit geht er nur selten ein. Vgl. z. B. Richter, HausBibel (wie Anm. 10), Bd. I, 102, beim Vergleich Babels mit Gregor VII. und Napoleon. 24 Einer der profiliertesten Antihelden in Richters Geschichtsdarstellung ist Napoleon. Er wird immer wieder als negatives Beispiel zur Erklärung von Bibelstellen herangezogen. Dies gilt sowohl bei den (wenigen) Sacherklärungen als auch bei den Vergegenwärtigungen vergangener

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Häufiger noch als diese Verweise auf Vergangenheit und Gegenwart zur Explikation sind Anwendungen biblischer Aussagen oder aus biblischen Geschichten gewonnener Erkenntnisse auf die Gegenwart. Fast jede Auslegung einer Perikope endet mit der Aufforderung, ein bestimmtes Lied zu singen oder ein Gebet zu sprechen. Auch innerhalb der Auslegungen stellt Richter manchmal den unmittelbaren Bezug zur Gegenwart her.25 Oft verweist er auf die gegenwärtige, als glaubensarm empfundene Zeit, auf Zweifel, ungläubige Theologen und Professoren, Spiritualisten, Naturalisten und Idealisten, »unsere abgefallene Christenheit«, andachtslose Gottesdienstbesucher.26 Dem stehen die gläubigen Christen gegenüber, die Missionslieder singen und sich für das Reich Gottes einsetzen, auch wenn sie von der Welt verschmäht werden.27 Richters Weltbild ist dualistisch. Richter versteht jedoch nicht nur die Weltgeschichte als Geschichte des Reiches Gottes, sondern auch die biblische Geschichte als Weltgeschichte. Besonders deutlich wird dies bei seinen Auslegungen der Ur- und Vätergeschichte. Hier wie im zweiten Band der Richter-Bibel, der die übrigen historischen Bücher des Alten Testaments enthält,28 findet sich in der Kopfzeile jeder Seite die Zahl des Jahres, in dem das Ereignis laut Richters Berechnung stattfand.29 Im Zusammenhang der ersten Genealogie (Gen. 5) gibt er eine Tabelle zur besseren Einprägung der Geburts- und Sterbedaten der Patriar-

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Ereignisse, vgl. z. B. Richter, Haus-Bibel (wie Anm. 10), Bd. I, 401; Bd. III, 337; Bd. IV, 802. Napoleon wird – in guter alttestamentlicher Auslegungstradition – nicht nur als grausamer Despot dargestellt, sondern auch als Werkzeug Gottes zur Züchtigung seines Volkes. Napoleon war, auch wenn er das nicht erkannt hat, nicht mehr als die Rute Gottes. Auch die Despoten sind nichts aus sich selbst heraus, so Richter, sondern alles durch Gott, vgl. Richter, Haus-Bibel (wie Anm. 10), Bd. IV, 95. Zur Bedeutung der Kirchengeschichte für das Geschichtsbild der Erweckungsbewegung vgl. Schnurr, Weltreiche (wie Anm. 12), bes. 72 – 103. Hier findet sich ein Überblick über die verschiedenen Kirchen- und Missionsgeschichten der Epoche. Vgl. zur Gegenwartsinterpretation ders., 365 – 377. So erklärt er in der Einleitung zum Buch der Richter, was die verschiedenen Bevölkerungsgruppen (Bürger und Staatsmänner, Unbußfertige und Glaubensarme, diejenigen, die durch die Revolutionen verstört sind, und andere) aus dem Buch lernen können, vgl. Richter, Haus-Bibel (wie Anm. 10), Bd. II, 103. Vgl. Richter, Haus-Bibel (wie Anm. 10), Bd. II, 139; Bd. III, 243, 336; Bd. IV, 279, 283, 345, 833, 893 f. Zitat Richter, Haus-Bibel (wie Anm. 10), Bd. III, 742; Bd. IV, 26: »unsere gegenwärtige, abgefallene Christenheit«. Vgl. Richter, Haus-Bibel (wie Anm. 10), Bd. II, 876; Bd. III, 456 – 458; Bd. IV, 245 – 247, 253 f, 669, 979, 1028, 1047; Heinrich Richter unter Mitarb. v. Wilhelm Richter: Richter’s Bibelwerk. Erklärte Haus-Bibel oder Auslegung der ganzen heiligen Schrift alten und neuen Testaments (Bd. 5: Neues Testament. Erster Theil). Barmen [u.a.] 1839, 245 f. Die Auslegungen zu den Propheten und poetischen Büchern brachten keine Jahreszahlen, auch nicht die zum Neuen Testament. Nicht immer ist angegeben, wer die Berechnungen unternommen hat. Teils scheint Richter selbst gerechnet zu haben, teils bezieht er sich auf Johann Albrecht Bengel oder andere.

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chen sowie ihrer Söhne, wann sie gezeugt wurden etc.30 Zweifel daran, dass eine biblische Geschichte wie erzählt stattgefunden hat, weist er zurück. Wichtig sind die Jahresberechnungen jedoch weniger im Rückblick als vielmehr bei der Berechnung der Zukunft. Unter anderem anhand dieser Berechnungen sucht Richter zu beweisen, dass der Beginn des Tausendjährigen Reiches nahe herangekommen sei. Dies hängt unmittelbar mit der Bekehrung der Juden zusammen, die er für das Jahr 1836 erwartet.31 Die erste Auflage der Auslegung des Pentateuchs, in dem diese Vorhersage steht, erschien 1834, die zweite 1835. Wenn Richter also vom baldigen Kommen des Reiches Gottes spricht, dann meint er tatsächlich ein baldiges Kommen, ein Kommen innerhalb der nächsten Monate oder spätestens weniger Jahre. Er wagt sich mit seinen Vorhersagen bis in die unmittelbar bevorstehende Zukunft hinein. In den Bänden, die nach 1836 erschienen sind, korrigiert er seine Aussagen nicht explizit. Immer noch wird eine baldige Bekehrung der Juden erwartet. In der Daniel-Auslegung in Band IV (von 1837) erklärt er nach langen Berechnungen zum prophetischen Leiden der Juden, das neue israelitische Heiligtum nach Ez. 40 – 48 müsse 1847 nach dem Sturz des Antichrist geweiht werden: »1817 Jahre nach Christi 30stem Jahr oder 1847 nach Christi Geburt«.32 Hier scheint er die Judenbekehrung für 1847 zu erwarten. Eine Enttäuschung darüber, dass sich die Juden nicht 1836 kollektiv zu Christus bekannt haben, ist höchstens darin zu finden, dass Richter in den späteren Bänden der HausBibel nicht mehr die Bekehrung aller Juden erwartet, sondern davon ausgeht, dass ein Teil bekehrt werde, während die verstockten Juden wie alle Ungläubigen im Gericht vergehen würden.33 Zwei Merkmale der Geschichtsentwicklung hebt Richter immer wieder hervor: dass die Entwicklung stufenweise vorangehe – sowohl in der Verfallsgeschichte, als auch in der Entwicklung des Reiches Gottes und der Stei30 Vgl. Richter, Haus-Bibel (wie Anm. 10), Bd. I, 77. 31 Vgl. Richter, Haus-Bibel (wie Anm. 10), Bd. I, 190: »Isaak war bei der Geburt dieser Zwillinge im Jahr d. W. 2168 schon 60 Jahre alt; Rebecka hiernach 20 Jahre unfruchtbar (nach V. 20). Ist Christus im Jahr (seit Adam) 4000 geboren: so ist es Jakob im Jahr 1832 vor Christo; – nach der Berechnung, daß Christus 4004 geboren ist, kam Jakob 1836 vor Christo zur Welt. Bewährte sich die, auch von Luther und Andern geäußerte Ansicht, daß das Volk Israel, welches in Jakob beginnt, eben so lange nach Christo verworfen bleibe, als es vor Christo das Volk der Erwählung war : so müßte sich um das Jahr 1836 eine wichtige Wendung mit den Juden ereignen, die man seit einigen Jahren so eifrig zu emanzipieren und zu Christen zu machen sucht.« 32 Vgl. Richter, Haus-Bibel (wie Anm. 10), Bd. IV, 801. Einen Überblick über Entstehung und Bedeutung des Konzepts vom Antichrist gibt Matthew Goff: Antichrist. In: Landes (Hg.), Encyclopedia of Millennialism (wie Anm. 15), 20 – 24. 33 Vgl. Richter, Haus-Bibel (wie Anm. 10), Bd. IV, 69. Auch finden sich Stellen, an denen er darauf hinweist, dass die Bekehrung Israels – wie jede Bekehrung – mit Bußangst einhergehen werde und dass nicht nur die Verheißungen sondern auch die Drohungen an Israel erfüllt würden, vgl. Richter, Haus-Bibel (wie Anm. 10), Bd. IV, 847, 867. Dies kann allerdings nicht zweifellos auf die Nichtbekehrung 1836 zurückgeführt werden, sondern mag auch in den Bibelstellen, die Richter nun auslegt, begründet sein: den Unheils- und Gerichtsdrohungen der Propheten.

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gerung von Erkenntnis und Glauben –,34 und dass vor jeder neuen Stufe große, auch äußerliche, weltgeschichtlich wirksame Umwälzungen vonstatten gehen. Neue Epochen erkenne man an den Revolutionen, die ihnen vorausgehen.35 Mit Hilfe der Stufentheorie kann er deutlich machen, dass die Geschichte in seiner Zeit wieder am Übergang zu einer neuen Stufe, ja zu einer neuen Epoche stehe. Ein Beweis für diese Gegenwartsdiagnose seien die großen Revolutionen.36 Weitere Belege seien die Erweckung, der Aufbruch, dass Christen anfingen, wieder richtig zu glauben, dass sie anfingen zu missionieren, dass sie endlich auch in größerer Zahl die Bibel in vollem Umfang ernst nähmen. Alle Zeichen der Zeit deuteten auf die Schwellenfunktion der Gegenwart.37 Die Endzeit sei nahe. Das beweisen laut Richter die biblischen Geschichten, die Vorabbildungen der Geschichte der Kirche, die sich nun fast in vollem Umfang bewahrheitet hätten, das beweisen die Zeitberechnungen, die die wahrhaft Gläubigen und mit wirklicher Erkenntnis Gesegneten aus der Bibel gezogen haben, das beweisen die Revolutionen und politischen Umwälzungen wie die Umwälzungen und Aggressionen innerhalb der Kirche. Das beweist der neu aufkeimende Glaube, die Durchgeistigung der wahrhaft Gläubigen. Und es beweisen nicht zuletzt die Missionsbestrebungen und Missionserfolge. Denn vor der Bekehrung der Juden müsse »die Fülle der Heiden« ins Reich Gottes eingehen, also die von Gott vorherbestimmte Anzahl. Dann würden auch die Juden bekehrt, und diese würden den Rest der Welt missionieren. Dann bricht laut Richter die wahre Endzeit an. Die Endzeit ist nach Richter wiederum in verschiedene Stufen unterteilt. Zunächst werde Christus kommen, es werde ein Kampf entstehen, der schrecklicher sei als alle erlebten Revolutionen, selbst die französische.38 Danach breche das Tausendjährige Friedensreich Christi an, in dem der Antichrist verschlossen, wenn auch noch anwesend sei. Daraufhin werde noch einmal ein schreckliches Gericht folgen. Dies ist laut Richter einerseits nötig, weil der Antichrist ja noch anwesend, wenn auch gebunden sei. Zum anderen werde es 34 Vgl. z. B. Richter, Haus-Bibel (wie Anm. 10), Bd. II, 517 für die Verfallsgeschichte und Bd. II, 131 für die stufenweise Erkenntnis oder Bd. IV, 309 für die Verbindung von beidem. 35 Vgl. auch Missions-Blatt 1848, Nr. 8, ein Zitat aus einer Missionsstunde: »Aber, fuhr er fort, wenn der Geist aus dem Abgrund solche Thaten thun kann, sollte dann der Geist aus der Höhe minder wunderthätig sein? Sehen wir nicht in diesen Ereignissen, die wir erlebt, die Lösung des Räthsels wie es möglich sei, daß in kurzer Zeit, ja überhaupt je einmal, die Erde voll sein werde der Erkenntniß des Herrn? Es bedarf nur einer Ausgießung des h Geistes, wie sie uns verheißen ist, und die Völker werden wie jetzt zu politischem Freiheitstaumel, sodann zum neuen geistlichen Leben erwachen und Christo zu Füßen fallen. Wie solche Geistausgießungen aber auch jetzt noch Statt finden könnten, das machte er uns klar durch Mittheilung eines lieblichen Berichts von einer der Freundschafts-Inseln […]«. Vgl. auch im selben Jahr Nr. 11. 36 Vgl. Richter, Haus-Bibel (wie Anm. 10), Bd. II, 826: Das Kommen Christi setzt Revolutionen voraus, Bd. IV, 747: Gott lenkt bei allen Revolutionen alles in Bezug auf sein Reich. 37 Einen Überblick über Entstehung und Entwicklung der »Zeichen der Endzeit« gibt James D. Tabor : End Signs. In: Landes (Hg.), Encyclopedia of Millennialism (wie Anm. 15), 137 – 140. 38 Vgl. Richter, Haus-Bibel (wie Anm. 10), Bd. IV, 152.

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den Menschen zu gut gehen während des Friedensreichs, sodass sie in Übermut verfallen würden. Auch deshalb werde das Gericht notwendig werden.39 Mission ist nach Richter wichtig im Ablauf der Geschichte des Reiches Gottes und zur Vorbereitung der Wiederkunft Christi. Christus komme, wenn die vorbestimmte Anzahl an Heiden bekehrt sei. Richter ruft mit Hilfe seiner Geschichtsinterpretation zur Mission auf. Die Mission ist gleichzeitig Voraussetzung für die Wiederkunft Christi und, indem sie schon begonnen hat, Beweis für seine baldige Wiederkunft. Geschichtsverständnis und aktives Missionieren stützen einander. Zu den häufigsten Gelegenheiten, bei denen die Mission erwähnt wird, zählt die Aufforderung, Missionslieder zu singen, die sich immer wieder am Ende der Auslegungen einzelner Perikopen findet.40 Diese Bevorzugung von Missionsliedern gegenüber einer expliziten Missionstheologie wird der Zielgruppe der Richterbibel geschuldet sein: erweckten Familien und Kreisen, die in ihren Haus- und Gruppenandachten gemeinsam die Bibel lasen und erweckte (Missions-) Lieder sangen. Ihnen sollte die Bibelauslegung »ein Licht auf [ihrem] Wege in dieser verfinsterten Welt« sein.41 Die deutliche Aufforderung zur Mission ist in der Richter-Bibel in die Bestätigung der erweckten Frömmigkeit eingebettet. Sie ist weniger in den Auslegungen der Perikopen zu finden als vielmehr in den anschließenden 39 Richter vertritt die Auffassung, dass die Frauen, weil es ihnen zu gut gehe, wollüstig würden und deshalb noch einmal besonders gerichtet werden müssten, vgl. Richter, Haus-Bibel (wie Anm. 10), Bd. IV, 1111. – Zur Unterscheidung von Prä- und Postmillenniarismus vgl. z. B. Robert K. Whalen: Postmillennialism. In: Landes (Hg.), Encyclopedia of Millennialism (wie Anm. 15), 326 – 329; ders.: Premillennialism. In: Ebd., 329 – 332. 40 Einen Überblick zu Bedeutung und Entwicklung der Lieder in der pietistischen Frömmigkeit bietet Christian Bunners: Gesangbuch. In: Lehmann (Hg.), Glaubenswelt (wie Anm. 1), 121 – 142. Beispiele von eschatologischen Liedern bringt Hartmut Lehmann: Endzeiterwartung und Erlösungshoffnung im württembergischen Pietismus. In: Haus der Geschichte BadenWürttemberg in Verb. mit der Landeshauptstadt Stuttgart (Hg.): Fortschrittsglaube und Zukunftspessimismus (Stuttgarter Symposion 8). Tübingen 2000, 25 – 45. 41 Richter, Haus-Bibel (wie Anm. 10), Bd. I, III. Richters Bibelauslegung zielte zuerst auf persönliche Erbauung, erst in zweiter Linie auf Weitergabe des Glaubens, Mission. Zudem war die Gruppe derer, die aktiv (äußere) Mission betreiben konnten, wesentlich kleiner als diejenigen, die als versprengte wahrhaft Gläubige – Stille im Lande – von der Mehrheit der Bevölkerung verspottet und verhöhnt wurden und denen mit dieser Bibelauslegung ein Leitfaden an die Hand gegeben wurde, in den Kämpfen der anbrechenden Endzeit auf der richtigen Seite auszuharren. Sie sind diejenigen, die die Weltgeschichte richtig als Heilsgeschichte erkennen, die die Zeichen der Zeit zu deuten wissen und denen ein Platz im Friedens- und Sabbathreich in der Nähe Christi – unmittelbar hinter Israel – sicher ist. Ihnen, die Ohren haben zu hören, die den Glauben haben zu wahrer Erkenntnis, erklärt Richter die Bibel als Dokument der Ermutigung in der letzten Zeit und als Aufruf, Christi Wiederkunft durch Mitarbeit in der Mission zu beschleunigen. Die Aufforderung zur Mission war ein wichtiger Bestandteil der Lieder in der Richterbibel. Von den »Zeichen der Zeit« sprechen selbstverständlich auch die Missionsgesellschaften und Missionare in ihren Veröffentlichungen. Es war ein beliebter Topos unter den erweckten Christen. Vgl. z. B. Church Missionary Record 1832, 62.

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Übungen der Frömmigkeit. Dadurch konnte sie den Gläubigen noch stärker zu Herzen gehen, als wenn Richter bei einer intellektuellen Auslegung stehen geblieben wäre. Zudem ist der Missionsimpetus fest im Geschichtsbewusstsein, in der Gegenwartsanalyse und den Zukunftserwartungen der RichterBibel verankert. Aus dem, was Richter für die nahe Zukunft aus der Bibel herleitete, konnte nur das Engagement für die Mission folgen.

2. Zukunftserwartungen der Missionsgesellschaften in allgemeinen Veröffentlichungen: das Kommen des Reiches Gottes Eine so dezidierte und auf bestimmte Daten hin ausgerichtete Naherwartung wie die Richter-Bibel vertraten die Missionsgesellschaften in ihren Zeitschriften nicht. Doch auch sie erwarteten und erhofften den Anbruch des Reiches Gottes bzw. der Heilszeit für die nahe Zukunft. Eine allgemeine Naherwartung war durchaus vorhanden, nur wurde sie nicht auf ein Jahr fixiert.42 Sie konnte sich auch in der Weise äußern, dass man das Kommen des Reiches Gottes jederzeit für möglich hielt.43 Insgesamt wurde in den Zeitschriften selbstverständlich keine geschlossene Geschichtskonzeption im Sinne eines festen Konzepts entworfen und dargestellt. Vielmehr griffen die Herausgeber implizit auf das pietistische Geschichtsbewusstsein zurück, das sie bei ihren Leserinnen und Lesern voraussetzen konnten. Ereignisse in Europa wie auf den Missionsfeldern wurden in dieses Geschichtsverständnis eingeordnet und mit seiner Hilfe interpretiert. Zusätzlich trat jedoch eine eigene, etwas anders betonte Geschichtskonzeption zum Vorschein: Die Mission spielte in den Missionszeitschriften eine zentrale Rolle innerhalb der Geschichtsbilder, die sie in dieser Prominenz bei anderen Autoren der Erweckungsbewegung und selbst bei Heinrich Richter nicht hatte. Dies soll im Folgenden kurz dargestellt werden. Die Analyse konzentriert sich dabei auf den Basler Evangelischen Heidenboten, da hier die meisten solcher übergreifenden Darstellungen zu finden sind.44 42 Heidenbote 1838, 2 argumentiert ausdrücklich gegen die Berechnung des Reichs Gottes anhand von Zahlen. 43 Die CMS bereitete sich auf ihre Hundertjahrfeier 1899 mit einem sog. »Three-Years-Enterprise« vor. Sie hielt es jedoch durchaus für möglich, dass die Wiederkunft Christi vorher stattfände: »[…] the watchful servants of God read in the signs of the times, not only the brighter hope of the coming Kingdom, but also a clearer call to make ready the way of the King, by preaching His Gospel to the uttermost parts of the earth. With this end in view, nothing can alter the duty of Christian men. […] their chief business is to witness, to work, and to wait for Him and His return. Unless that Advent intervene, the Society before its next anniversary will have completed the first hundred years of its existence.« So ein Flugblatt aus dem Jahr 1898 (CMS Archives, Birmingham, G/A. AJ 4. Anniversary meetings, 1898). 44 Diese Aussage gilt selbstverständlich lediglich für die bisher von mir ausgewerteten Zeitschriften und ist nicht auf alle Missionszeitschriften zu verallgemeinern.

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Im Heidenboten wurden neben den Berichten der Missionare auch die Jahresberichte der Basler Missionsgesellschaft sowie grundlegende reflektierende Artikel veröffentlicht, insbesondere zu Jahresbeginn. Dies ist einer der größten Unterschiede zwischen dem Heidenboten und dem Church Missionary Record. Der Basler Heidenbote und der Church Missionary Record sind ansonsten vergleichbar, weil beide hauptsächlich Berichte von den Missionaren und Missionsstationen veröffentlichten – teilweise stammten die Berichte sogar von denselben Missionaren: in Basel ausgebildeten Deutschen oder Schweizern, die durch die CMS ausgesandt wurden. Die Berichte wurden von den Herausgebern kurz eingeleitet. Der Heidenbote wies jedoch mehr als der Church Missionary Record auch übergreifende Artikel auf. Und noch in einem anderen Punkt unterschieden sich die beiden Zeitschriften: Im Heidenboten wurden die Berichte der Missionare immer wieder erbaulich kommentiert. Hier finden sich auch viele der Bezugnahmen auf das Geschichtsbewusstsein. Der Church Missionary Record kommentierte zwar auch, aber doch wesentlich zurückhaltender und vor allem ohne erbaulichen Unterton. Hier spiegeln sich Frömmigkeitsunterschiede zwischen den erweckten Anglikanern und den deutschen und Schweizer Pietisten. Der Heidenbote konzentrierte sich in der Darstellung auf Gegenwartsanalyse und Zukunftserwartungen. Die Vergangenheit wurde verhältnismäßig selten erwähnt. An den meisten Stellen, an denen sie angeführt wurde, wurde sie entweder zum Vergleich der Missionsgeschichte Europas mit der jetzigen Situation in der Mission in Übersee herangezogen bzw. es wurde mithilfe der Missionsgeschichte Europas die Notwendigkeit der Mission in der Gegenwart untermauert, oder es wurde auf die Reformation oder ein anderes identitätsstiftendes Ereignis der europäischen Religionsgeschichte verwiesen, ebenfalls, um gegenwärtige Ansichten zu unterstützen.45 45 Vgl. z. B. Heidenbote 1830, 55; 1832, 56; 1833, 52; 1835, 49; 1840, 53. John Hartley nutzte die Referenz auf die Reformationsgeschichte in einem anderen Sinn, als er über die Mission in der Türkei schrieb: »Our simple intention is, to bring back to the truths of the Gospel those who have swerved from them to a melancholy extent; to raise up, by Divine assistance, Oriental Luthers, Cranmers, Latimers, and Ridleys« (Church Missionary Record 1832, 73, vgl. auch 74). Vgl. auch Heidenbote 1830, 99. Manchmal wird auch die Vergangenheit in den Missionsländern erwähnt. Dies kann geschehen, um die Geschichte der Länder deutlich zu machen – vor allem in den Ländern, denen eine Geschichte zugestanden wird – wie in China, dessen Geschichte mit der des alten Ägypten verglichen wird (vgl. Heidenbote 1828, 9) oder von dem berichtet wird, dass es sich nach Jahrtausenden der Unveränderlichkeit nun plötzlich dem christlichen Glauben öffne (vgl. Heidenbote 1840, 7). Des weiteren können mithilfe der Vergangenheit gegenwärtige Probleme in der Mission erklärt werden (vgl. Heidenbote 1837, 65: »Zwar vermögen wir noch nicht, von einem Häuflein bekehrter und getaufter Neger zu reden, das dort bereits gesammelt worden wäre; aber wer dürfte sich wohl hierüber wundern, wenn er bedenkt, daß unter einem Volke, welches eine tausendjährige Finsterniß bedeckt, zuerst der wilde Brachacker aufgebrochen, die langen Furchen gezogen und die Saaten des göttlichen Wortes weithin ausgestreuet werden müssen, ehe von den Freuden der Erntezeit gesprochen werden kann.«). Zuletzt wird die un-

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Gegenwart und Zukunft stehen im Heidenboten, zumindest was die europäische Gegenwart betrifft, in einem dualistischen Verhältnis zueinander. Die Gegenwart wird als dunkel, schlecht, bedrohlich empfunden. Dem kontrastiert die leuchtende Zukunft Gottes, die auf die Gläubigen zukommt. Die abwertende und ablehnende Haltung der Missionsgesellschaft gegenüber der Gegenwart wird verstärkt durch die Revolutionen und politischen Unruhen in Deutschland und der Schweiz Ende der 1820er und Anfang der 1830er Jahre.46 War man vorher schon der Meinung, in einer glaubensarmen und gottfernen Zeit zu leben, so bestätigten die Ereignisse um das Jahr 1830 diese Auffassung. »Kindlein! Es ist die letzte Stunde!«, mit diesen Worten beginnt die Januarnummer des Heidenboten 1831.47 In »unsern verhängnißvollen Tagen«, in denen der »Geist der Zwietracht, der Tadelsucht und Unzufriedenheit, der an den ehrwürdigen Banden der bürgerlichen Ordnung gleich einem Wurme nagt«, herrsche, wird bei der »kleine[n] Heerde der Glaubigen« um Vertrauen auf Gott und um Standhaftigkeit geworben.48 Die Hoffnung auf die baldige gute Zukunft bleibt bestehen,49 ja sie wird sogar verstärkt, sieht man doch in den Ereignissen der Gegenwart die Erschütterungen, die ein neues Zeitalter einläuten. Soweit bewegt sich die Propaganda des Heidenboten innerhalb des pietistischen Geschichtsverständnisses. Doch die Basler Mission geht einen bedeutsamen Schritt weiter : Ihrer Darstellung nach ist die Mission das Verbindungsglied zwischen der finsteren Gegenwart und der hellen Zukunft. Die Mission bringt die Zukunft in die Gegenwart hinein. In seiner ersten Nummer 1835 spricht der Heidenbote seinen Leserinnen und Lesern Mut zu aus der Geschichte und ruft zum Vertrauen auf: In den »drohenden Gefahren der Gegenwart« sollten die Leser sich an ihren Vorfahren und deren Glauben orientieren. Gott habe auch diesen immer geholfen.50 Hier dient die Vergangenheit der Vergewisserung. Ein halbes Jahr später, im zwanzigsten Jahresbericht Inspektor Blumhardts51 am 17. Juni 1835, sollte dann die Missionsgeschichte der Gegenwart die ängstlichen Gemüter der Gläubigen beruhigen und bestärken:

46 47 48 49

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christliche Vergangenheit der zu Missionierenden mit den ersten Missionserfolgen kontrastiert, um Bedeutung und Erfolg der Mission herauszustreichen. Vgl. z. B. Heidenbote 1833, 3 – 8 unter der Überschrift »Das Missionswerk und die böse Zeit«. Heidenbote 1831, 3. (Zitat: 1Joh 2,18, weiter: »Und wie ihr gehört habt, dass der Antichrist kommt, so sind nun schon viele Antichristen gekommen; daran erkennen wir, dass es die letzte Stunde ist.«) Heidenbote 1831, 3 f. Heidenbote 1831, 4: »Wie trübe sich demnach in unsern ernsten Tagen die Welt um uns her gestalten mag, dennoch dürfen wir getrost hoffen, daß uns der Lauf des neuangetretenen Jahres neue und immer herrlichere Siege des Reiches Gottes auf der Erde verkündigen wird. […] Unser Christenberuf ist klar, unser Tagewerk kurz, unser Ziel herrlich und gewiß.« Heidenbote 1835, 1 f. Christian Gottlieb Blumhardt, 1779 – 1838, vgl. für eine Kurzbiographie Friedrich Wilhelm Bautz, Art. »Blumhardt, Christian Gottlieb«. In: BBKL 1, 630 f, bzw. http://www.bbkl.de/b/ blumhardt_c_g.shtml (Zugriff: 15. 2. 2011).

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»Die Missionsgeschichte unserer Tage, verehrteste Freunde! ist unstreitig das kräftigste Mittel, über das geheimnißvolle Dunkel, in welches sich die Weltregierung Gottes vor unsern Augen zu verhüllen scheint, ein heiteres Licht zu verbreiten, und die Gemüther der Gläubigen vor dem Aergerniße zu verwahren, in welches sie die Frevelhaftigkeit des Zeitalters zu verwickeln droht. […] Welch ein wundervolles Schauspiel, theure Freunde und Brüder! das unter dem Panier des seligmachenden Evangeliums die Missions-Geschichte unserer Tage zu feiern die Gnade hat.«52

Die Missionserfahrungen der Gegenwart konnten der Stärkung der Gläubigen dienen, weil die Mission in unmittelbarer Verbindung zur Zukunft stand. Dies galt in zweifacher Hinsicht: Zum einen war die Missionierung – oder zumindest die Verkündigung des Evangeliums in aller Welt – nach Meinung vieler eine Voraussetzung für das Kommen des Reiches Gottes. Die Mission brachte also das Reich Gottes nahe. Zum anderen bewiesen die Missionserfolge, dass das Reich Gottes jetzt auch tatsächlich nahe komme, ja in diesen Erfolgen war es schon da. Die Mission hatte demnach ein doppeltes Zukunftsverständnis: Sie ging von einer unmittelbaren Naherwartung aus, gleichzeitig betonte sie immer wieder, dass »der Tag des Heils« schon angebrochen sei. Die Zukunft hatte also schon begonnen. Die Zukunft bestand in diesem Fall in der Bekehrung der Völker, die dann die biblischen Endzeitvisionen der Völkerwallfahrt zum Zion bzw. des gemeinsamen, vereinten Gotteslobs erfüllen würden.53 Mit jeder einzelnen Bekehrung auf einem Missionsfeld kam die Welt, so war man sicher, diesem Ende einen Schritt näher. Die Zukunft nahm den größten Raum in der Geschichtsdarstellung des Heidenboten ein. Dabei wurde entweder auf die allgemeine Erwartung des Kommens des Reiches Gottes bzw. der Missionierung aller Völker Bezug genommen oder der Anbruch der neuen Zeit verkündigt. Der Bericht über die Aussendung der ersten drei in Basel ausgebildeten Missionare am 24. November 1828 gab den Tenor im erstgenannten Sinne vor: »[…] immer und von allen Seiten zeigen sich solche Stunden als wichtige Stunden, die laut verkündigen: das Reich des Herrn komme, und das unmöglich Scheinende sey möglich, wenn Liebe zu dem Herrn und zu Seinen erlösten Menschen allseitig und gemeinsam thätige Hand an das große Werk legt.«54 Immer wieder wurde 52 Heidenbote 1835, 60. 53 Vgl. Mi 4,1 – 5; Jes 2,2 – 4; Jes 60; 66, 20 u. a. Vgl. auch Lk 13. Missionar Wilhelm formuliert im Church Missionary Record die verbreitete Hoffnung: »It will one day appear, that there were yet thousands and again thousands who were made willing, in the day of His power, gladly and thankfully to receive it [the salvation]. At the Marriage-Supper of the Lamb the tables will be furnished with guests: His Father’s house will be filled.« (Church Missionary Record 1830, 5). – Zur endgültigen Einheit der Menschen gehörte nach Ansicht der beiden hier behandelten deutschsprachigen Missionsgesellschaften auch die Überwindung konfessioneller Trennungen, vgl. z. B. Missions-Blatt 1830, 3 f. 54 Heidenbote 1828, 97.

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betont, dass das Reich Gottes komme und die Mission in unmittelbarem Zusammenhang damit stehe. Zudem wurde in den allgemeinen Artikeln, in Liedern, Beispielgeschichten, Gedichten und Betrachtungen die Bedeutung der Gegenwart für die Zukunft hervorgehoben. Diesmal ging es nicht um die Abgrenzung von der konkreten Gegenwart Europas, sondern vielmehr um die positive Aufnahme der Gegenwart als Zeit zur Mission.55 Dies wurde zum einen an Umständen in den Missionsländern festgemacht. Dortige Veränderungen – durchaus auch politischer Natur – wurden als vorteilhaft für die Missionierung der Völker angesehen und somit als Aufforderung zur Mission aufgefasst.56 Zum anderen konnte das Geschichtsbewusstsein auch in der Gegenwart Europas verankert werden. In vielen Fällen wurde diese Geschichtsauffassung auch gar nicht begründet. Gerade wenn Lieder angeführt wurden, wie zu Jahresbeginn 1829, entfiel die Begründung. Der Heidenbote begann seine Januarnummer mit dem Lied: »Es hat der Herr sich aufgemacht […] Die Stunde hat geschlagen, / Daß aus dem Dunkel allerwärts / Der Morgen müsse tagen. / Es hat ein großes, neues Jahr / Der Gnade angefangen […] / Wir preisen Jesus Christ […] / Daß seine Zeit gekommen ist«.57 Dem war aus Sicht der Herausgeber nichts mehr hinzuzufügen. Häufiger noch als die Referenzen auf die Gegenwart als Zeit zur Mission waren die Verweise auf kleine Missionserfolge als Beweise für die Gegenwart der Zukunft. Nicht die Gegenwart war der schlagende Beweis für die Zukunft der Mission, sondern die angebrochene Zukunft selbst bewies besser als alles andere, dass die Zukunft Gottes ganz nahe sei. Auch kleine Missionserfolge, eine Offenheit der Menschen für die Botschaft der Missionare – oder auch nur die Bereitschaft, den Missionaren zuzuhören, die Kinder in Missionsschulen zu schicken oder, im schlechtesten Fall, die Abwesenheit von Gewalt gegen die Missionare – galten als Beweise, dass der »Tag des Heils« angebrochen sei, die Zukunft begonnen habe. Dies aber bedeutete auch, dass jetzt die Zeit zu handeln sei.58 Besonders überzeugend waren dabei Beispiele wie der Bericht von Georg Adam Kißling59 aus Liberia, der betonte, dass Bassa-Häuptlinge die Basler 55 Vgl. auch Church Missionary Record 1832, 116, Beschluss auf der 32. Jahresfeier der CMS: »That this Meeting desires to remind the Members of the Society, that the times in which we live are such as should excite every member of the Church of Christ earnestly to intercede for the pouring out of the Holy Spirit, that the Church, receiving a full blessing herself, may be made the instrument of an extensive blessing to the world.« 56 Vgl. z. B. Heidenbote 1830, 43: Dort gilt die Gegenwart als Zeit der »Wiedergeburt« der griechischen Kirche; vgl. Heidenbote 1830, 64: Dort sieht der Heidenbote einen »Morgenstern, der über dem finstern Afrika aufgeht«; Heidenbote 1843, 64 zu Indien; Heidenbote 1840, 7 zu China; Heidenbote 1843, 55 zu Afrika. 57 Heidenbote 1829, 1. Der Artikel endete mit der letzten Strophe des Liedes. 58 Vgl. z. B. Heidenbote 1830, 16 bzgl. Nordamerika und 17 bzgl. Westafrika. 59 Georg Adam Kißling (1805 – 1865), vgl. für eine Kurzbiographie Karl Rennstich: Art. »Kissling, Georg Adam«. In: BBKL 3, 1992, 1540 – 1542 bzw. http://www.bbkl.de/k/Kissling_g_a. shtml (Zugriff: 16. 3. 2011). Personalakte: BV 69, Archiv, mission21/Basler Mission, Basel.

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aufforderten, bei ihnen zu missionieren, also nicht nur Schulen zu errichten, sondern tatsächlich die christliche Botschaft zu verkündigen. Der Heidenbote verstand dies als Beweis der Wegbereitung für das Evangelium durch Gott und für den Anbruch der neuen Zeit und forderte alle Leser zur Unterstützung der Mission auf.60 Ein weiterer Beweis für die Zukunftserwartungen der Mission ist dem hinzuzufügen: Aus manchen Regionen wurde berichtet, dass Anhänger anderer Religionen ein ähnliches Geschichtsverständnis und ähnliche Zukunftserwartungen hatten wie die evangelischen Missionare.61 Das galt ihnen als besonders starke Beglaubigung für die Richtigkeit ihrer Auffassungen – und für das baldige Kommen des Reiches Gottes. Ausdruck fand die Zukunftserwartung der Mission häufig in der TagNacht-Metapher. Diese wurde von Missionsgesellschaften wie Missionaren besonders gerne angeführt. Mit ihr konnte man verdeutlichen, dass wie in der Natur auf den Tag unweigerlich die Nacht (und auf die Nacht der Tag) folgt, so auch das Reich Gottes unausweichlich und unaufhaltsam kommen werde. Gleichzeitig konnte auf diese Weise die Dringlichkeit verdeutlicht werden, sich nun für die Mission einzusetzen.62 Dabei galten unterschiedliche Zeitrechnungen, die grob auf Europa und die Missionsgebiete aufgeteilt werden können: Während man in Europa die Nacht auf sich zukommen sah, einen Untergang des als richtig empfundenen Christentums konstatierte, erlebte die Mission in Übersee den Anbruch eines neuen Tages oder zumindest der »Morgenröte«. In jedem Fall aber galt es zu »wirken, dieweil es Tag ist«.63 Und dies wiederum galt für alle Gebiete: Die Gegenwart war die Zeit zur Mission, die Gegenwart stellte hinsichtlich der Mission den Tag dar. Nur in Bezug auf Kirche und Glauben konnte man in Europa die Nacht kommen sehen – und auch das erforderte Mission.64 Eines der wohl eindrücklichsten Beispiele bot Johann Jakob Bär, aus dessen Berichten der Heidenbote 1831 nach neun Jahren erfolgloser und einsamer Arbeit auf den Molukken zum ersten Mal »liebliche Spuren der beginnenden Morgenröthe« herauslas, »welche den verfinsterten Einwohnern dieser Insel

60 Vgl. Heidenbote 1830, 20. 61 Vgl. z. B. Heidenbote 1828, 104 (der erste Jahrgang des Heidenboten endete mit diesem Bericht); 1840, 84 – 86; Church Missionary Record 1830, 171; 1831, 53. 62 Vgl. dazu auch: Judith Becker: Die Christianisierung fremder Völker – ein Zeichen für die nahende Endzeit? In: Dies./Bettina Braun (Hg.): Die Begegnung mit Fremden und das Geschichtsbewusstsein (VIEG 88). Göttingen 2012, 183 – 204. Die Mission bezog sich hier u. a. auf Joh 9,4: »Wir müssen die Werke dessen wirken, der mich gesandt hat, solange es Tag ist; es kommt die Nacht, da niemand wirken kann.« 63 Heidenbote 1828, 16. 64 Der Missionsauftrag wurde nie als ausschließlich auf nichteuropäische Gebiete bezogen verstanden. Auch innerhalb Europas, innerhalb der eigenen Gemeinschaft suchte man zu missionieren.

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den Tag Christi verkündigen.«65 Wie genau diese »Spuren der Morgenröte« aussahen, erfuhren die Leserinnen und Leser des Heidenboten nicht. Neben diesen dramatischen Darstellungen, in denen die Missionare im Kampf zwischen Tag und Nacht, Licht und Finsternis gesehen wurden, in dem die Eschatologie manchmal geradezu beschleunigt schien,66 gab es jedoch noch einen zweiten Impuls im Umgang mit der Geschichte im Evangelischen Heidenboten: die Stille. Bei allem Engagement in der und für die Mission sollten die Gläubigen doch auch immer wieder innehalten, still zurück- und vertrauensvoll vorausblicken.67 Die Stille schien eine Art, Gott als Lenker der Weltgeschichte anzuerkennen – und vermutlich auch, sich dem Zeitgeist entgegenzustellen. Sie war nicht das primäre Motiv in der Interpretation der Geschichte, doch ein durchgängig wichtiges. Zur Stille gehörte auch, dass die Missionsleitung nach den Führungen Gottes fragte und ihnen zu gehorchen suchte. Die Eröffnung neuer Missionsstationen sowie der Umgang mit bestehenden Stationen – auch und besonders, wenn Probleme auftraten – wurde nicht mit weltlichen Argumenten begründet, sondern immer mit dem Willen Gottes. Dieser konnte sich im »Ruf« der Menschen eines bislang von dieser Gesellschaft unerschlossenen Landes äußern oder in anderen Hinweisen. Konkrete Hinweise auf einen solchen Ruf fanden sich, wenn ein Einheimischer Missionare ansprach, auch in seinen Distrikt zu kommen, aber auch, wenn vor Ort befindliche Missionare eine gewisse Offenheit der Bevölkerung gegenüber der Verkündigung sahen oder wenn politische Gegebenheiten neue Möglichkeiten zur Mission eröffneten. All dies wurde als Zeichen Gottes gedeutet, denen die Mission zu folgen hatte. Mission hatte auch in Stille und in Hingabe zu geschehen, indem man der Geschichte Gottes mit seinen Menschen folgte. Aktivität und Passivität ergänzten einander in der Haltung der Mission gegenüber der Geschichte. Die Nähe des Reiches Gottes motivierte die Missionsgesellschaften zu ihrem Engagement. Die Endzeit kam ihrer Meinung nach unaufhaltsam näher. Auch wenn die Menschen Gottes Zeitplan nicht kannten, wie die Gesell65 Heidenbote 1831, 50. Bär wurde ab 1816 im Missionshaus ausgebildet und später durch die Niederländische Missionsgesellschaft ausgesandt, vgl. Schlatter, Heimatgeschichte (wie Anm. 4), 58, 60. Von der Morgenröte spricht ganz in diesem Sinne auch Missionar Mürdter, Heidenbote 1838, 63. 66 Vgl. Heidenbote 1833, 58. Zur Beschleunigung der Zeit als Lebensgefühl im 19. Jh. vgl. auch Reinhart Koselleck: Gibt es eine Beschleunigung der Geschichte? In: Ders.: Zeitschichten. Studien zur Historik. Frankfurt 2000, 150 – 176. 67 Vgl. z. B. Heidenbote 1836, 1, 10. Diese Überzeugung spiegelte sich auch in der Missionsmethode: Nicht an der schnellen, aber vielleicht nicht vollständigen Bekehrung vieler war den Missionaren dieser Gesellschaften gelegen, sondern an der »echten« Bekehrung. Man musste sich mit seinen Methoden wie seinen Erwartungen und Hoffnungen an den Gang Gottes anpassen. Vgl. auch Church Missionary Record 1832, 45: »We would, if we could, have all India converted to Christianity in one little inch of time; but the Lord works, generally, in a progressive way ; though He has His appointed time for whatsoever comes to pass. It is our time to work always« (Missionar Edmonds).

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schaften immer wieder betonten, so schien doch unzweifelhaft, dass der Anbruch der Gotteszeit unmittelbar bevorstand. Nicht immer waren Veränderungen deutlich sichtbar, vieles lief im Stillen ab, und die Aufgabe der Mission war es, diesen stillen Vorgang zu unterstützen. Einerseits im Vertrauen auf Gott und in der Ruhe, die aus diesem Vertrauen erwuchs, und andererseits im aktiven Kampf um die Seelen der Menschen und damit um das Reich Gottes. Dieser Kampf musste geführt werden, »solange es Tag ist«.68

3. Zukunftserwartungen der Missionare: Missionserfolge Soweit sich das aus ihren Unterlagen eruieren lässt, teilten die Missionare die Zukunftserwartungen der Missionsgesellschaften. In den Bewerbungsunterlagen der Missionare, sowohl der Basler Mission als auch der LMS, stand das Geschichtsbewusstsein freilich nicht im Mittelpunkt. Dies ist nicht weiter erstaunlich, ging es hier doch zunächst darum, die eigene Bekehrung und den eigenen Missionswunsch (Basel) bzw. die eigenen religiösen Überzeugungen (LMS) darzustellen. Dennoch kamen auch die Missionsbewerber auf das Geschichtsbewusstsein zu sprechen. Interessanterweise bezogen sich die Bewerber der deutschsprachigen wie der englischen Gesellschaft etwa gleich häufig auf die Geschichte. Die Vergangenheit wurde lediglich dann erwähnt, wenn ein Kandidat, wie z. B. August Dittrich, durch das Interesse an der Geschichte zu seiner Bekehrung gefunden hatte.69 Die Zeitgeschichte fand gar keine Erwähnung. Sie hatte in den persönlichen Bekenntnissen der zukünftigen Missionare keinen Ort.70 Die Zukunft hingegen spielte durchaus eine Rolle. Und wenn sich auch die Wort- und Metaphernwahl von deutschen und Schweizer zukünftigen Missionaren von der ihrer englischen Kollegen unterschied: Das Geschichtsverständnis ähnelte sich. Beiden Gruppen ging es darum, das Reich Gottes auszubreiten und damit am Kommen des Reiches Gottes mitzuarbeiten. So formulierte Jakob M. Steiner: »Der Herr wird gewiß seinen heiligen Segen dazu verleihen, mich würdig auch zu der Zahl daran treten zu lassen, um tüchtig zu werden, sein Reich immer mehr und mehr durch gläubige Glieder zu vergrö68 Joh 9,4. Vgl. dazu auch Ulrich G•bler: »Hoffen auf bessere Zeiten«. Daseinsangst und Zukunftssehnen der Pietisten. In: Johannes Fischer/Ulrich Gäbler (Hg.): Angst und Hoffnung. Grunderfahrungen des Menschen im Horizont von Religion und Theologie. Stuttgart [u.a.] 1997, 105 – 121. 69 Vgl. BV 29, Archiv, mission21/Basler Mission, Basel (Aufnahme ins Missionsseminar 1820). Vgl. auch BV 604, Archiv, mission21/Basler Mission, Basel (Eduard Schweizer, 1860). 70 Auch dies kann nicht erstaunen, waren die Frommen doch immer wieder dazu aufgefordert, sich von der Welt abzuwenden. Somit durfte die Welt auch keinen Einfluss auf ihre Missionsentscheidung nehmen.

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ßern.«71 Im selben Jahr 1840 schrieb Henry Black: »My motives are the following. […] A fervent desire to extend the Redeemers Kingdom […] even to the ends of the earth.«72 Robert Logan formulierte – ebenfalls 1840 – explizit seine Motivation »that I may be an instrument in spreading the knowledge of Salvation through a crucified Redeemer to the People who are sitting in darkness […], that I may be a means of hastening the time when the Kingdoms of the Earth shall have become the Kingdom of our Lord + of his Christ when all the Nations shall know him & crown him Lord of all«.73 Diese Missionsanwärter sahen wie viele ihrer Mitbewerber ihre Arbeit als Mittel, das Kommen des Reiches Gottes zu beschleunigen, denn »dan (!) erst wird seine Herrlichkeit recht offenbar, wan (!) alle Völker ihn anbeten und ihm dienen«.74 Hinzu kam die Überzeugung, gegenwärtig in der rechten Zeit zur Mission zu leben. 1860 begründete Carl Christian Lieb seinen Wunsch, Missionar zu werden damit, »daß in dieser Gnadenzeit noch Seelen gerettet würden, die auch ihm Lob, Preis, Ehre und Anbetung bringen möchten«.75 Zwei Bilder führten die Missionskandidaten für ihre Geschichtsauffassung an: Die TagNacht-Metapher, die ihnen aus den Veröffentlichungen der Missionsgesellschaften bekannt war, und die ebenfalls oft benutzte Rede von Saat und Ernte, verwendet in der Überzeugung, dass »die Felder nun reif zur Ernte« seien.76 Die Basler Bewerber beriefen sich etwas häufiger auf die Tag-Nacht-Metapher, die Kandidaten der CMS auf die Ernte, aber beide Bilder waren sehr verbreitet und untermauerten das Geschichtsbewusstsein der Missionare im Allgemeinen und die Zukunftserwartungen im Besonderen. Die Missionskandidaten gaben damit die Auffassungen ihrer Gesellschaften wieder. Dies ist aus zwei Gründen nicht verwunderlich: Zum einen waren sie in zunehmendem Maße durch die Missionspublizistik geprägt,77 zum anderen nahmen die Missionsgesellschaften natürlich nur solche Kandidaten auf, die auch dasselbe Geschichtsverständnis vertraten wie sie selbst. Schließlich sollten sie später auf den Missionsfeldern eben dieses Geschichtsbewusstsein vermitteln.78 71 72 73 74 75 76

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BV 249, Archiv, mission21/Basler Mission, Basel (Aufnahme 1840). CP 141, London, SOAS CWM/LMS. CP 155, London, SOAS CWM/LMS. Andere Beispiele könnten dem hinzugefügt werden. Johannes Fuchs, BV 250, Archiv, mission21/Basler Mission, Basel (1840 ins Missionsseminar aufgenommen). BV 595, Archiv, mission21/Basler Mission, Basel. Vgl. Joh 4,35. Vgl. z. B. zur Tag-Nacht-Metapher : BV 599, Archiv, mission21/Basler Mission, Basel (Christian Friedrich Bellon, 1860); zur Ernte: BV 252, Archiv, mission21/Basler Mission, Basel (Christian Jakob Bomwetsch, 1840), CP 228, London, SOAS CWM/LMS (Elijah Stanley, 1850). Auch dies wird in den Basler Lebensläufen deutlich. Ein Beispiel, wie dies versucht wurde, bringt Missionar Müller aus einem Gespräch mit Ägyptern: »I spoke with them on the necessity of reading the Word of God, and that it is now high time to awake out of sleep and to seek our salvation with fear and trembling.« (Church Missionary Record 1831, 155). »Jetzt ist die Zeit zur Mission«, hieß es für die Europäer, »jetzt ist

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Wieweit dies gelang, ist aus den Missionszeitschriften kaum ersichtlich. Zwar wurden bevorzugt solche missionierten Menschen zitiert, denen man im Zuge der Mission mit dem Evangelium auch eine entsprechende Deutung der Geschichte vermittelt hatte,79 aber ob es sich hierbei um Einzelstimmen handelte, oder ob tatsächlich eine ganze Gesellschaft – oder zumindest eine ganze missionierte Gesellschaft – diese Geschichtsauffassung teilte, muss offen bleiben. Interessant ist, dass die Missionare in ihren Berichten nur selten allgemein auf das Geschichtsverständnis Bezug nahmen – zumindest in den Teilen, die daraus veröffentlicht wurden. Stattdessen bezogen sie die Zukunftserwartung immer konkret auf ihre Arbeit in dem Missionsgebiet. Für diese Arbeit, für diese Menschen erhofften und erwarteten sie eine bessere Zukunft. An diesem Ort und in der Nachfolge ihrer Arbeit sollte das Reich Gottes Wirklichkeit werden. Dies ist der Aspekt, den sie in ihren Berichten immer wieder hervorhoben.80 Ein Zitat von Thomas Browning aus Ceylon illustriert, wie auch die allgemeinen Zukunftshoffnungen auf das Missionsgebiet angewandt wurden: »Though the general state of things here be thus discouraging, there appear, from time to time, small glimpses of brighter days«.81 Dabei konnten die Interpretationen der verschiedenen Missionare aus einer Region durchaus differieren: Während die Missionare William Yate und Charles Baker in Australien noch auf einen Erfolg ihrer Arbeit hofften, bzw. ihrer Überzeugung Ausdruck verliehen, dass dieser kommen werde,82 pries Missionar Davis zur selben Zeit ebendort schon Gott, »that I have lived to see these days, and to witness such triumphs of Divine Grace!«83 Missionar Karl Gottlieb Pfander wollte durch Predigt und Verkündigung des Evangeliums feststellen, »ob nicht auch für die Kurden der Tag des Heils herangekommen ist«.84 Alle Missionare waren überzeugt, dass »die Stunde des Heils« eines Tages auch für ihr Mis-

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die Zeit zur Bekehrung«, hören die zu Missionierenden. Vgl. auch Church Missionary Record 1832, 171. Vgl. z. B. Heidenbote 1828, 44; 1830, 44. Vgl. auch Kenelm Burridge: New Heaven. New Earth. A Study of Millenarian Activities. Oxford 1969; Sylvia L. Thrupp (Hg.): Millennial Dreams in Action. Essays in Comparative Study (Comparative Studies in Society and History Suppl. II). Den Haag 1962. Wie oben dargestellt, kam dieser Aspekt auch in den Kommentaren der Herausgeber des Heidenboten zur Sprache, und die Missionare beschrieben auch die allgemeinen Zukunftserwartungen. Die Betonungen und die Häufigkeit der Verweise unterschieden sich jedoch charakteristisch. Church Missionary Record 1830, 279 (Thomas Browning). Die Tag-Nacht-Metapher steht hier im Hintergrund. Vgl. zum Bezug auf das eigene Missionsgebiet auch Heidenbote 1830, 37. Vgl. Church Missionary Record 1831, 16 f. Church Missionary Record 1831, 19. Heidenbote 1830, 74. Zu Pfander vgl. Ledderhose, Karl Friedrich: »Pfander, Karl Gottlieb«. In: Allgemeine Deutsche Biographie 25, 1887, 597 – 600 [Onlinefassung]; URL: http://www.deut sche-biographie.de/pnd119069512.html (Zugriff: 7. 4. 2011).

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sionsfeld kommen werde. »Diese Zeit in unserem geringen Theile vorbereiten zu helfen«, das sahen sie als ihre Aufgabe an.85 Einer der wichtigsten Gründe für die Betonung der Zukunftshoffnung war sicher, dass die Missionare keine unmittelbaren Missionserfolge erzielten.86 Die Menschen ließen sich nicht so leicht von der von den Missionaren verkündigten Wahrheit überzeugen, wie diese gehofft hatten. So schrieben die Missionare W. Adley und Joseph Knight aus Ceylon: »I should be happy to report special benefits resulting from the use of these means; but though, we trust, the way is gradually preparing for the coming of the Lord, we have still to wait for the promised blessing.«87 Hier wird deutlich, dass sie durchaus die Geschichtsauffassung der Missionsgesellschaften teilten. In ihrer Situation musste die Zukunftserwartung des Kommens des Reiches Gottes jedoch eine Zukunftshoffnung bleiben. Solange die Missionserfolge gering waren, blieb die Zukunftserwartung der Missionare allgemein. Sie sprachen dann vom Kommen des Reiches Gottes, vom Lohn für die Arbeit,88 der kommenden Ernte,89 der endgültigen Annahme des Evangeliums durch die Missionierten.90 Die Missionare Samuel Lambrick und James Selkirk, ebenfalls in der Ceylon-Mission, hofften auf den Segen Gottes zu seiner Zeit und auf die Erkenntnis der Einheimischen, wie viel Gutes die »British Christians« ihnen gebracht hätten.91 85 Heidenbote 1840, 50. So die Missionare Hildner und Wolters aus Griechenland. 86 Der publizistische Umgang mit Erfolglosigkeit wird thematisiert in Becker, Christianisierung (wie Anm. 62). Auch Erfolglosigkeit wurde in das Geschichtsbild der Missionare integriert und dazu genutzt, das Näherkommen des Reiches Gottes zu beweisen. Dies gilt zumindest für die offiziellen Stellungnahmen. Bei den einzelnen Missionaren traten nach jahrelanger Erfolglosigkeit manchmal durchaus Brüche auf. Erfahrungsberichte, in denen die Missionare grundsätzlich an der Sinnhaftigkeit ihrer Tätigkeit zweifelten, wurden selbstverständlich nicht veröffentlicht; sie sind ausschließlich in den Missionsarchiven zu finden. Die publizierten Berichte, in denen Missionare mit Verzweiflung angesichts der Vergeblichkeit ihrer Bemühungen zu kämpfen hatten, stellen immer den Kampf in den Mittelpunkt sowie die Bedeutung der Fürbitte und der Gemeinschaft der Missionare mit ihren Unterstützern in den Heimatländern in Glauben und Gebet. Sie riefen die Menschen in der Heimat zur Tat auf. Gleichzeitig wurde auf die Bedeutung von Standhaftigkeit und Treue zu dem missionarischen Auftrag verwiesen sowie auf das notwendige Vertrauen auf Gott. Diese Werthaltungen gehörten zu den wichtigsten Tugenden der Missionare. Im Vertrauen auf Gottes Verheißungen konnten Misserfolge sogar zur Stärkung der Missionare beitragen: Die Misserfolge spornten zu noch mehr Engagement an, und je mehr Misserfolge die Missionare zu verzeichnen hatten, desto größer schien die Krise, in der man sich sah, und desto mehr konnte man nach der Stufentheorie auf das baldige Kommen des Reiches Gottes hoffen. 87 Church Missionary Record 1830, 20. 88 Vgl. z. B. Church Missionary Record 1830, 147 f. 89 Vgl. Church Missionary Record 1830, 164. 90 Vgl. Church Missionary Record 1830, 154; 1831, 16 f, 27. 91 Vgl. Church Missionary Record 1830, 173. Selkirk hat einen Bericht über die Anfänge der Mission veröffentlicht: James Selkirk: Recollections of Ceylon, after a residence of nearly thirteen years. With an account of the Church Missionary Society’s operations in the island, and extracts from a journal. London 1844.

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Auch Enttäuschungen konnten durch die Zukunftshoffnungen kompensiert werden. Nach einer enttäuschenden Erfahrung mit einem Einheimischen tröstete sich G.S. Faught mit dem Gedanken: »The Lord will gather the Heathen into the fold of Jesus; and therefore we are enabled, through Grace, to trust in His promises.«92 Auch im Nellore Report 1832 versicherten die Missionare sich selbst im Vertrauen auf Gottes Zusagen, was immer ihre Enttäuschungen seien und welche Härte sie auch erlebten, die Losung sei »onward!«, denn Gott werde die Mission, zu seiner Zeit, zu dem versprochenen Ende führen.93 Stellten sich erste Erfolge ein, wurden die Hoffnungen konkreter – und auch größer. 1832 schrieb Faught: »I desire to thank God, and take courage: for though it is still the day of small things, yet, compared with the past, there is great cause for encouragement.«94 Die negativen Erfahrungen der Vergangenheit ließen die kleinen Erfolge der Gegenwart (zwölf einheimische Abendmahlsteilnehmer, die größte Anzahl, die Faught in seiner Mission je erlebt hatte), umso größer erscheinen. Auch R. Davis schrieb über die Missionserfolge in Neuseeland: »Surely good times are near at hand for this country!«95 Bekehrungen wurden als »Erstlinge« der kommenden Konversionen angesehen. John Matthias Turner, Bischof von Kalkutta, forderte die Missionare zu Hoffnung und Vertrauen auf und sagte im Blick auf die gerade in der Missionsstation vollzogenen Konfirmationen: Sie könnten »surely be regarded as first-fruits of a glorious harvest«.96 Missionserfolge wurden von den Missionaren oft nicht als unmittelbare Beweise für das Kommen des Reiches Gottes gewertet, wohl aber als Wegmarken auf dem Weg zum Reich Gottes. So schrieb Missionar Georg Gottlieb Bärenbrück 1830 aus Südindien: »We evidently see that the Lord is extending His kingdom, Fellow Christians! will you stand back – cold, doubting, unconcerned? […] Reviewing the Mission during the last year, we must acknowledge that some further considerable advances have been made in the 92 Church Missionary Record 1832, 36. Der Einheimische hatte Faught um die Gründung einer Missionsschule in seinem Dorf gebeten, angeblich um die christliche Botschaft zu verkündigen. Wie sich dann herausstellte, wollte er aber nur kostenlosen Unterricht, obwohl er durchaus in der Lage gewesen wäre, eine Schule zu finanzieren. Faught war ebenfalls in Ceylon stationiert. 93 Church Missionary Record 1832, 158. Vgl. auch Heidenbote 1840, 13: »Mit Furcht und Zittern müssen wir im Glauben warten, bis wir sehen dürfen Sein Werk.« 94 Church Missionary Record 1832, 29. 95 Church Missionary Record 1832, 83. 96 Church Missionary Record 1832, 101. Vgl. auch Church Missionary Record 1832, 124, 136. 1832 druckte der Church Missionary Record Briefe von 13 Neuseeländern ab, die getauft werden wollten und über ihren Glauben Rechenschaft ablegten. Der Herausgeber kommentierte: »May the hearts of the New-Zealand Converts be established with grace! And may the word of the Lord have free course and be glorified among them, till all New Zealand become obedient to the faith!« (Church Missionary Record 1832, 87). Issak Theoph. Schaffter kommentierte 1830 einen ersten Bekehrungsansatz mit Mk 8,11: »Viele werden kommen von Osten und von Westen und mit Abraham und Isaak und Jakob im Himmelreich zu Tisch sitzen« (vgl. Heidenbote 1830, 7; zu Schaffter vgl. Schlatter, Heimatgeschichte [wie Anm. 4], 65).

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great work of destroying Satan’s dominion, and extending the Kingdom of our Lord and Saviour Jesus Christ«.97 Zwei auf die Zukunft bezogene Motivationen trieben die Missionare in den Missionsgebieten an:98 Das Vertrauen auf die Treue Gottes zu seinen Verheißungen für alle Völker, auch wenn gegenwärtig noch nichts von der Einlösung dieser Verheißung zu sehen war,99 und die Erfahrung der ersten kleinen Erfolge, die als Vorschein des einen großen Erfolgs interpretiert wurden.100 Die Missionare waren mit ihren Gesellschaften darin einig, dass es zu arbeiten galt, »while it is called to-day«.101 Die Tag-Nacht-Metapher spielte auch hier eine große Rolle, nicht nur wenn die Zukunftshoffnung mit dem Verweis auf die beginnende Morgenröte ausgedrückt wurde, sondern auch in der Gegenwartsbeschreibung, die durch diesen Verweis auf den natürlichen Vorgang des Wechsels von Tag und Nacht immer die Zukunft schon mitdachte. So schrieb Felician Zaremba 1830 aus Armenien: »Es ist Noth; Er [Gott] lehre uns und helfe uns dazu, die Zeit auszukaufen und zu wirken, so lange es Tag ist, ehe die Nacht kommt, da Niemand wirken kann.«102 Ohne ausdrücklichen Bezug auf Tag und Nacht, aber in demselben Gedankenduktus formulierte James Selkirk 1832: »As the light of the Gospel of Christ advances, the darkness 97 Church Missionary Record 1830, 199 f; ähnlich äußerte sich W. Adley, Church Missionary Record 1831, 145 f. Vorsichtiger kommentierte der Baddagame Report, der noch keine richtige Bekehrung sah, aber eine Zunahme des Wissens: »yet we trust that the Lord will yet acknowledge our labours among them, by leading them from darkness to light, and from the power of Satan unto God.« (Church Missionary Record 1832, 132). Vgl. auch Church Missionary Record 1832, 157. 98 Eine Zukunftserwartung, die sehr selten erwähnt, aber durchaus präsent war, war die Hoffnung auf die eigene Zukunft im Reich Gottes, auf ewige Freude und Seligkeit. Vgl. z. B. Heidenbote 1830, 47; 1840, 20. 99 Vgl. z. B. Church Missionary Record 1831, 12, 130. Church Missionary Record 1831, 144: »We have no doubt that the day will come, for it is promised, when the Heathen shall know the Lord, and when all Nations shall come and worship before Him. We are sure that the knowledge of God, and of the way of Salvation, is increasing; and though, at present, it may be knowledge alone, without feeling, we cannot say how soon the Lord may pour out His Spirit upon the people«. 100 Vgl. z. B. die Ausführungen des Missionars Rhenius aus Südindien, der aus der großen Anzahl von Schülerinnen in der Missionsschule schloss: »it cannot be doubted that God will be faithful to His promise, that His Word shall not return to Him void […]; and therefore the most important and beneficial results may reasonably be anticipated from such labours« (Church Missionary Record 1831, 79). Ähnlich argumentierte auch J.C.T. Winckler, ebenfalls in Südindien (vgl. Church Missionary Record 1831, 90). Zu Rhenius vgl. Werner Raupp: Art. »Rhenius, Carl Gottlieb (Theophil) Ewald«. In: BBKL 8, 142 – 145 bzw. http://www.bbkl.de/r/ rhenius_c_g.shtml (Zugriff: 7. 4. 2011) . 101 Missionar Bowley aus Nordindien: »The love of Christ and of souls will constrain him [the missionary] to work with all his might while it is called to-day.« Church Missionary Record 1830, 123. Es handelt sich hier um eine biblizistische Deutung von Hebr 3,13. 102 Heidenbote 1830, 78. In Armenien wurde den Missionaren in der Tat 1835 die Arbeit verboten (vgl. Heidenbote 1836, 4). Vgl. auch Heidenbote 1840, 35, 37. – In einem anderen Bericht auf derselben Seite wird die Metapher auch einmal anders angewandt: »Hüter, Hüter der Völker, ist unsere Nacht nicht bald hin?« Hier wird auf die Morgenröte gehofft.

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of Heathenism must recede; and knowledge and happiness must arise.«103 Die Metapher war den Missionaren und den Unterstützern der Missionsgesellschaften so geläufig, dass jeder sie verstand und die Unaufhaltsamkeit des Ereignisses deutlich war. Dieses zuletzt angeführte Zitat macht auch noch einmal deutlich, worin die Missionare mit ihren aussendenden Gesellschaften einig waren, und worin sich ihre Zukunftserwartungen unterschieden. Beide Seiten benutzten die Tag-Nacht-Metapher zur Verdeutlichung ihrer Ansichten, beide waren überzeugt, gegenwärtig am Tag der Mission zu arbeiten und damit am Näherkommen der Zukunft mitzuarbeiten. Die Inhalte der Zukunftserwartung jedoch unterschieden sich ein wenig: Für die Missionare, und zwar für alle, stand in den 1830er Jahren ein anderer Aspekt des Geschichtsbewusstseins, eine andere Zukunftserwartung im Vordergrund als für die Leiter der Missionsgesellschaften und Herausgeber der Missionszeitschriften. Nicht die Erwartung des baldigen Kommens des Reiches Gottes und damit des Endes oder der Verwandlung der bekannten Welt bestimmte ihre Arbeit, sondern die Erwartung der Veränderung der Gesellschaft, in der sie missionierten. Im Mittelpunkt ihrer Zukunftserwartung stand der Missionserfolg. Noch wichtiger als Unterscheidungsmerkmal war, dass die Missionsgesellschaften auf das Kommen des Reiches Gottes und in diesem Zusammenhang auch die Annahme des Evangeliums auf der ganzen Welt im Allgemeinen vorausblickten, während die Missionare sich auf ihre eigenen Missionsgebiete bezogen – und dort die Annahme des Evangeliums und damit das Kommen des Reiches Gottes erwarteten.

4. Schluss: Das Kommen des Reiches Gottes und die Missionierung der ganzen Welt Die Unterschiede zwischen den Auffassungen der Missionsgesellschaften einerseits und den Berichten der durch sie entsandten Missionare andererseits waren minimal. Bei größeren Differenzen hätten die Gesellschaften die Missionare auch nicht mehr als ihre Mitarbeiter anerkannt und sich von ihnen getrennt, wie sie das bei anderen Gelegenheiten taten.104 Alle Auffassungen 103 Church Missionary Record 1832, 151. 104 Einer der berühmtesten Fälle ist der von Carl Gottlieb Rhenius (wie Anm. 100). Er musste die CMS nach jahrelanger hochgeschätzter Arbeit verlassen, nachdem er Traktate gegen die Church of England veröffentlicht hatte, vgl. C. T. E. Rhenius: A Review of a work entitled The Church; her daughters and handmaidens, etc. London 1835; ders.: Reply to the statement of the Madras Corresponding Committee of the Church Missionary Society respecting the Tinnevelly Mission … To which is appended a narrative of occurrences which led to his return and renewed settlement in Tinnevelly, 1835. Madras 1836; George Pettitt/Carl Theophil Ewald Rhenius: Narrative of affairs in the Tinnevelly Mission, connected with the return of

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sind in beiden Gruppen zu finden. Dennoch differieren Missionare und Missionsgesellschaften in ihren Betonungen. Die Erklärung hierfür liegt in den unterschiedlichen Interessen der Missionsgesellschaften und der Missionare. Die Gesellschaften schrieben in Europa für ihre europäischen Unterstützer. Sie wollten und konnten sich nicht auf ein Missionsgebiet beschränken, sondern es kam ihnen auf die übergreifende Perspektive an. Die Missionare hingegen hatten vor allem die Menschen vor Augen, die sie missionieren wollten. Denen galt ihr primäres Interesse, galten ihre größten Zukunftshoffnungen. Sobald sie sich kommentierend an ihre europäischen Leserinnen und Leser wandten, verwiesen auch sie in der Regel auf übergreifende Zukunftshoffnungen. Die Unterschiede waren aber auch deshalb graduell, weil die beiden Arten von Zukunftserwartung in unmittelbarem inhaltlichen Zusammenhang zueinander standen. Dies gilt nicht nur, weil die Missionierung der Heiden, die Verkündigung des Evangeliums unabhängig von ihrem Erfolg, als Voraussetzung für das Kommen des Reiches Gottes angesehen wurde, sondern auch, weil der Inhalt, oder zumindest ein Inhalt, des Reiches Gottes eben die Anbetung Gottes durch alle Völker war. Die Endzeitvisionen von der Völkerwallfahrt zum Zion oder dem großen Abendmahl aller Völker bildeten einen wichtigen Bestandteil der Zukunftserwartungen der Missionsbewegung. Für die Missionare trat dieser Teil in das Zentrum ihrer Hoffnungen und Erwartungen. Dafür hatten sie Freunde und Familie verlassen, nahmen sie Einsamkeit, Krankheit und Tod auf sich. Und diese Vision war es, die sie für die Menschen, bei denen sie arbeiteten, erhofften und erflehten. Die Missionierung der einzelnen Menschen war der erste Schritt auf dem Weg, der über die Missionierung von Gesellschaften und Völkern zur Evangelisation der ganzen Welt führen würde. Alle Völker – oder zumindest der auserwählte Teil aller Völker – sollten Christen werden, damit die biblischen Weissagungen der Völkerwallfahrt zum Zion und des großen Abendmahls erfüllt würden. In allen Teilen der Erde sollte das Gotteslob gesungen werden. Dieser gemeinsame Lobpreis Gottes war ein elementarer Bestandteil der Reich-Gottes-Vorstellung der Missionsbewegung. Die Missionare glaubten also, an ihrem Ort am Kommen des Reiches Gottes mitzuwirken. Die einzelnen Bekehrungen, für die sie arbeiteten, waren Schritte auf diesem Wege. Daher war die Vision, die sie artikulierten, einfach ein kleinerer Teil, der auf ihre Arbeit bezogene Teil des großen Ganzen. Dass sie hierauf die Betonung legten, hieß aber nicht, dass sie das Ganze aus den Augen verloren. Das Ganze, das Reich Gottes, wurde dann für sie und ihre Arbeit vor Ort relevant, wenn sie keine Bekehrungen, ja nicht einmal Offenheit für ihre Botthe Rev. C. Rhenius. O.O. 1836. Vgl. auch Memoirs of the Right Rev. Daniel Corrie, LL.D. First Bishop of Madras, compiled chiefly from his own letters and journals by his brothers. London 1847, bes. 581 – 595.

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schaft erlebten. Dann trösteten sie sich mit dem Blick auf das endgültige Heil und der Versicherung von Gottes Verheißungen. Sahen sie erste Erfolge ihrer Arbeit, traten die unmittelbaren weiteren Erfolge, die der Missionierung vieler in ihrem Missionsgebiet, in den Mittelpunkt. Die Zukunftserwartung verlagerte sich dann vom Allgemeinen zum Besonderen und gleichzeitig vom großen Ganzen, dem Reich Gottes, zum Kleinen, der lokalen Christianisierung. Motivierend blieb dabei für Missionare wie Missionsgesellschaften das Vertrauen auf die Erfüllung der biblischen Verheißungen105 – d. h. derjenigen biblischen Verheißungen, die in die Mitte ihrer Zukunftserwartungen gerückt waren. Dass deren Erfüllung in naher Zukunft bevorstand, stand für sie außer Zweifel. Die Weltgeschichte wie die Ereignisse der Gegenwart schienen dies zu beweisen. In der vermeintlich kurzen Zeitspanne bis zum Eintritt der Endzeit schien es Aufgabe der wahrhaft Gläubigen, die Welt zu missionieren. Die Zukunftserwartungen begründeten mithin den Missionsimpetus. Gleichzeitig galten Missionserfolge als Bestätigungen der Zukunftserwartung.106 Und so verstärkten Zukunftserwartung und Mission einander gegenseitig.

105 Vgl. zur Betonung des Vertrauens im Blick auf die Geschichte auch den Rückblick auf die 40jährige Geschichte der Basler Mission im Evangelischen Heidenboten 1855, 1 – 10. 106 Dies vertrat schon Blumhardt vor Gründung der Basler Mission, vgl. Schlatter, Heimatgeschichte (wie Anm. 4), 12.

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Fred van Lieburg

Erinnerung, Erweckung und Erwartung im niederländischen Protestantismus 1813 – 1848

Gegen der Zeitgeist »In ’t voorleden ligt het heden, in het nu wat worden zal.« Diese schwer zu übersetzende Dichtregel wurde 1811 vom ebenso genialen wie exotischen Juristen und Schriftsteller Willem Bilderdijk (1756 – 1831) für eine wissenschaftliche Gesellschaft in Amsterdam ausgerufen.1 Bis heute gehört sie als eine Art populäre Geschichtsphilosophie zu den niederländischen Sprichwörtern und Redensarten. Sie ist eines der wenigen Bruchstücke aus dem gigantischen Oeuvre von Prosa und Poesie dieses seltsamen Romantikers, die überhaupt noch bekannt sind. Heute weiß man aber kaum noch um die ursprüngliche Absicht der Aussage als Prophetie der Wiederherstellung der niederländischen Unabhängigkeit nach der Eingliederung der alten Republik ins napoleonische Frankreich im Jahr 1810. Gegen Ende des Jahres 1813 kehrte der junge Prinz Wilhelm von Oranien (1772 – 1843) aus seinem Exil zurück. Als erster Souverän der Niederlande übernahm er die Leitung der neuen konstitutionellen Monarchie. König Wilhelm I. regierte als ein aufgeklärter Herrscher. Er versuchte das verarmte und geteilte Land zu einem wohlhabenden und einträchtigen Nationalstaat umzugestalten. Kirchen, Schulen und Universitäten wurden einem zentral geleiteten Plan zur Zivilisierung des Volkes unterworfen. Für konservative und orthodoxe Geister, die vornehmlich das Ancien R¦gime wiederherstellen wollten, war in dieser Politik kein Platz. Ein solcher Geist war Bilderdijk, ein ehemaliger Günstling des Hauses Oranien. 1813 erlebte er die Enttäuschung seines Lebens: Eine begehrte Professur an der Universität Leiden, auf die er sich Hoffnungen machte, wurde nicht an ihn vergeben. Er ließ sich dann als Privatdozent in der Stadt nieder, in der Hoffnung, dass Studenten bei ihm zu Hause seine Vorlesungen über Politik und Geschichte besuchen würden. Viele Jahre lang wurden so verschiedene Jünger zu Füßen Bilderdijks unterwiesen. Sie schätzten seine antirevolutionären und manchmal reaktio1 Etwa: »Im Vergangenen liegt die Gegenwart, im Jetzt was werden soll.« Joris van Eijnatten: Hogere sferen. De ideeÚnwereld van Willem Bilderdijk (1756 – 1831). Hilversum 1998 (Übersetzung in Vorbereitung: Willem Bilderdijk, Lord of Teisterbant. Metaphysics, Religion and Politics in the Age of Revolutions); Joris van Eijnatten: Vestige of the Third Force. Willem Bilderdijk, Poet, Anti-Skeptic, Millenarian. In: The Journal of the History of Ideas 62, 2001, 313 – 333.

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nären Gedanken mehr als den Unterricht der Leidener Professoren. Als diese Studenten ihr Studium abschlossen und zum Doktor promovierten, verbreitete sich der Ruf dieser Quelle protestantischer Orthodoxie. Ein liberaler Kolumnist machte die treffende Bemerkung: »Te Leyden naast den tempel der verlichting is de fabriek van den domper opgezet«.2 1823 erregte diese »fabriek« den Ärger der bürgerlichen Elite wegen der Veröffentlichung eines Pamphlets mit dem Titel »Einreden wider den Zeitgeist». Der Autor war der getaufte Jude Isaac Da Costa (1798 – 1860), bald »der Affe von Bilderdijk« genannt.3 Sein Flugblatt enthielt ein flammendes Plädoyer für die Rückkehr zu einer autokratischen Regierung, einer orthodoxen Kirche und der Zensur des freien Wortes. Von der liberalen Presse verrissen, wandte sich Da Costa, seinem Lehrer gleich, der Verbreitung seiner Ideen im privaten Kreis zu. Unter den Besuchern seiner Bibelvorlesungen in Amsterdam war der Jurist Guillaume Groen van Prinsterer (1801 – 1876), als Diener des Königs beauftragt mit der Verwaltung des Familienarchivs und mit einer Edition der Korrespondenz von Wilhelm dem Schweiger (1533 – 1584), dem »Vater des Vaterlandes«. Mittlerweile wurde auch Groen Mittelpunkt eines Kreises von Geistesverwandten in der Hofstadt ‘s-Gravenhage. Alle diese gebildeten Bürger fanden zusammen in ihrer Sehnsucht nach dem Ancien R¦gime und der Hoffnung besserer Zeiten.4

R¦veil und Abtrennung Bilderdijk, Da Costa und Groen van Prinsterer – drei Prominente einer niederländischen Bewegung, welche im späten 19. Jahrhundert, in einer ganz anderen politischen und religiösen Lage, mit dem französischen Wort »R¦veil« bezeichnet wurde. So wird diese Dreiheit auch im dritten Band der Geschichte des Pietismus beschrieben. Dabei weist Ulrich Gäbler mit Recht darauf hin, dass der niederländische R¦veil nicht ohne Weiteres mit dem schweizerischen R¦veil oder der deutschen Erweckungsbewegung, geschweige denn dem britischen Evangelicalism und dem amerikanischen Second Great Awakening, zu vergleichen ist.5 Was wir in dem großen Handbuch nicht er2 Etwa: »In Leiden wurde neben dem Tempel der Aufklärung eine Fabrik der Vernebelung errichtet.« Zitiert nach Maria Elisabeth Kluit: Het Protestantse R¦veil in Nederland en daarbuiten 1815 – 1865. Amsterdam 1970, 78. 3 Isaac da Costa: Bezwaren tegen den geest der eeuw. Amsterdam 1823; vgl. Ulrich G•bler: »Auferstehungszeit«. Erweckungsprediger des 19. Jahrhunderts. Sechs Porträts. München 1991, 86 – 114; Arie Molendijk: »Wider den Zeitgeist«. In: Harm Klueting/Jan Rohls (Hg.): Reformierte Perspektiven. Wuppertal 2001, 79 – 104. 4 Arie Johannes van Dijk: Groen van Prinsterer’s lectures on »Unbelief and revolution«. Ontario 1989. 5 Ulrich G•bler: Evangelikalismus und R¦veil, in: Ders. (Hg.): Der Pietismus im neunzehnten

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fahren, ist, dass diese großen Drei sehr ausführliche historische Werke hinterlassen haben. Bilderdijk legte eine dreizehnbändige Geschichte des Vaterlandes vor. Da Costa publizierte eine Reihe von Vorlesungen über denselben Stoff. Groen van Prinsterer widmete der niederländischen Geschichte ein populäres Handbuch, neben einer tiefschürfenden Zeitgeschichte unter dem Leitspruch »Unglaube und Revolution«.6 Meine Absicht ist nicht, diese Klassiker in meinem Beitrag zum Geschichtsverständnis niederländischer Protestanten in der Erweckungszeit des frühen 19. Jahrhunderts zu verhandeln. Stattdessen wähle ich einen Ansatz zu einer strukturellen Anschauung des religiösen Zeitdenkens in der niederländischen Gesellschaft, namentlich bei Protestanten orthodoxen und frommen Zuschnitts. Der Blick auf die Vergangenheit ist dabei unlösbar verbunden mit Erwartungen für die Zukunft in einem sehr bewegten Zeitalter.7 Das Geschichtsbewusstsein drückte sich überdies in den damaligen kirchlichen Fragen aus: sollte man der alten, jedoch liberalisierten Volkskirche treu bleiben, oder sollte man Freikirchen nach selbstentworfenen Modellen bilden? In der niederländischen Kirchenhistoriographie wird die erste Hälfte des 19. Jahrhundert oft als Epoche von »R¦veil« und »Afscheiding« beschrieben. Neben der Erweckungsbewegung steht dann die sogenannte Abtrennungs- oder Separationsbewegung, welche sich ab 1834 in verschiedenen Regionen durchsetzte.8 Ich möchte dabei, unabhängig von dieser nationalen Konzeption, den großen Rahmen der um den Vorrang kämpfenden Prozesse von Säkularisierung und Rechristianisierung voraussetzen. Nachfolgend werde ich zunächst den politischen und kirchlichen Kontext als Raum und Begrenzung jeder religiösen Erneuerung oder Erweckung nachzeichnen. Dabei skizziere ich die wichtigsten öffentlichen Diskurse, die das kollektive Geschichts- und Zukunftsdenken niederländischer Protestanten prägten. Anschließend werde ich einige kleine Gruppen und Einzelpersonen genauer betrachten, die der allgemeinen Entwicklung ihre eigene Farbe und Ausprägung gaben. Wir begegnen dabei Menschen und Tatbeständen, die auf den zehn den Niederlanden gewidmeten Seiten des dritten Bandes der Geschichte des Pietismus fehlen. Meines Erachtens verdienen sie jedoch Beachtung in der internationalen und zwanzigsten Jahrhundert. Geschichte des Pietismus Bd. 3. Göttingen 2000, 27 – 84 (Niederlande: 64 – 74). 6 Willem Bilderdijk: Geschiedenis des Vaderlands 1832 – 1853. 13 Bd. Leiden 1832 – 1858; Isaac da Costa: Inleiding tot eene reeks van voorlezingen over de geschiedenis van het vaderland. Amsterdam 1833; Guillaume Groen van Prinsterer: Handboek der Geschiedenis van het Vaderland. Leiden 1846. 7 Joris van Eijnatten: Hollands Apocalyps. Eindtijdlectuur en publieke vertogen in Nederland, 1740 – 1840. In: S. Voolstra/J. Vree (Hg): Protestants Nederland tussen tijd en eeuwigheid. Jaarboek voor de geschiedenis van het Nederlandse protestantisme na 1800. Bd. 8. Zoetermeer 2000, 21 – 45. 8 Fred van Lieburg (Hg.): Opwekking van de natie. Het protestantse R¦veil in Nederland. Hilversum 2012, rezensiert von Ulrich Gäbler in Pietismus und Neuzeit 39 (2013).

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Forschung über die religiösen Verwicklungen in der westlichen Welt vor den Revolutionen des Jahres 1848.

Verfassungsrechtlicher Rahmen Ich beginne mit der Verfassung, die 1815 dem Königreich der Niederlande als juristisches Grunddokument gegeben wurde. Dank des Wiener Kongresses wurden damals die südlichen, österreichischen Niederlande der nördlichen Niederlande der vormaligen Republik hinzugefügt. Diese Wiedervereinigung war nicht erfolgreich. 1830 kam es zum Aufstand der Belgier, deren Abspaltung erst 1839 von König Wilhelm I. anerkannt wurde. Enttäuscht über das Scheitern seiner Einheitspolitik, verzichtete er auf den Thron. Sein Sohn Wilhelm II. (1792 – 1849) verfolgte ab 1840 einige Jahre eine autokratische Herrschaft, bis er 1848 vom Revolutionsgeist in Europa aufgeschreckt wurde. Nach seiner eigenen Aussage wandelte er sich in einer Nacht von einem Konservativen zu einem Liberalen. Der Staatsmann Jan Rudolf Thorbecke (1798 – 1872) setzte in der Folge eine Verfassungsreform durch, die im Wesentlichen die parlamentarische Demokratie und freiheitliche Gesellschaft bis heute geprägt hat. Bereits vor der Verfassung von 1848 gab es in den Niederlanden eine Trennung von Kirche und Staat und Religionsfreiheit. Trotzdem enthielt die Verfassung von 1815 eine wichtige Einschränkung. Sie legitimierte nur die damals verbreiteten Konfessionen (»gezindten«). Neue Kirchen oder religiöse Gruppen mussten das Recht auf Versammlung und Vereinsbildung beim Ministerium für den Gottesdienst erwerben. Das implizierte eine Festschreibung des religiösen Status quo von 1815. Bis 1848 war die Religionskarte der Niederlande nahezu statisch, abgesehen von dem kurzen Anschluss des römisch-katholischen Südens bzw. Belgiens. Im heutigen Territorium der Niederlande waren 2 % der Bevölkerung jüdisch, 38 % katholisch und 55 % reformiert. Die übrigen 5 % umfassten die sogenannten protestantischen Dissenter, namentlich Mennoniten, Lutheraner und Remonstranten. In diese Restkategorie fielen seit dem 18. Jahrhundert auch einige Herrnhuter Brüdergemeinden und die Amsterdamer Abteilung der Basler Christentumsgesellschaft in Amsterdam.9 9 Johannes van den Berg: Dutch revival movements in the eighteenth and nineteenth centuries: some considerations with regard to possible roots and connections. In: Ulrich Gäbler/Peter Schram (Hg.): Erweckung am Beginn des 19. Jahrhunderts. Amsterdam 1986, 205 – 221; Peter van Rooden: History, the Nation and Religion: the Transformations of the Dutch Religious Past. In: Hartmut Lehmann/Peter van der Veer (Hg.): Nation and Religion: Perspectives on Europe and Asia. Princeton 1999, 96 – 111; Joris van Eijnatten: Contested Unity. Church, Nation and Reform in the Netherlands. In: Ders./Paula Yates: The Dynamics of Religious Reform in Northern Europe 1780 – 1920. Bd. II: The Churches. Leuven 2010, 123 – 152.

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Die Verfassung von 1815 bot also ein politisches Mittel zur Steuerung des religiösen Lebens. Fortbestand und Weiterentwicklung des aufgeklärten Christentums sollten nicht durch eine unerwünschte neue Gruppenbildung behindert werden. 1816 folgte eine weitere Maßnahme mit demselben Ziel. Der König drängte der reformierten Kirche ein neues Reglement auf, nach dem er selbst als Haupt einer synodal-presbyterialen Hierarchie fungierte. Überdies lockerte er die Bindung der Geistlichkeit an den Inhalt der calvinistischen Bekenntnisschriften. Die Haltung zu Bibel und Bekenntnis wurde faktisch freigegeben. Prediger und Gemeindeglieder sollten mit dieser Freiheit leben müssen. Natürlich durften sie innerhalb der neuen Ordnung ihren Glauben an die Lehre und Praxis der Konfessionskirche leben und kultivieren. Aber die Gründung neuer öffentlicher Gemeinschaften, etwa auf orthodoxreformierter oder pietistischer Grundlage, war nicht erlaubt. Die existierenden Kirchen sah man als hinreichend für die Gewährleistung eines allgemeinen Christentums mit einer solchen Bandbreite an, wie sie die protestantischen Eliten in Kultur und Gesellschaft für heilsam hielten.10

Dominanter Diskurs: gemäßigter Postmillenniarismus Fragen wir nun nach dem Inhalt des Gedankenguts, das mittels der akademischen Theologie und der kirchlichen Predigt dem protestantischen Kirchenvolk vorgetragen wurde. Was hielt der öffentliche Diskurs von Geschichtsverständnis und Zukunftserwartung? Der ursprüngliche Sinn des Wortes »Aufklärung« zielte auf die Förderung von Kenntnissen, Tugenden und Zivilisation. Der Prozess moralischer Verbesserung stand im Zeichen des Fortgangs des Evangeliums und der Verbreitung des Reiches Gottes in der Welt. Die eigentliche Führerschaft kam der Vorsehung Gottes zu, die zuletzt den Himmel auf Erden bringen würde. Politische Änderungen waren Gott unterworfen. »E¦nzelfde Opperbestuur blijft alles regeren, en het eens beraamd ontwerp der groote menschengeschiedenis houdt niet op zich te ontwikkelen en tot de volmaking te naderen«, so der Kanzelredner Johannes Henricus van der Palm (1763 – 1840).11 Wir können diese aufgeklärte christliche Zukunftserwartung als eine offene und vage Variante des Postmillenniarismus bezeichnen. Ohne konkrete Ausmalungen glaubte man an eine gute und friedliche Beendigung der Welt- und Heilsgeschichte. Eine solche gemäßigte Eschatologie passte zu der Behaup10 Aart de Groot: Reformierte Tradition im Umbruch der Zeit. In: Helmut Baier (Hg.): Kirche in Staat und Gesellschaft im 19. Jahrhundert. Neustadt an der Aisch 1992, 147 – 160. 11 »Alles Regieren bleibt in derselben Oberherrschaft, und der einmal geplante Entwurf der großen Menschheitsgeschichte hört nicht auf sich zu entwickeln und der Vollendung zu nähern«, Jan Henricus van der Palm: Salomo. Leeuwarden 31835, 165.

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tung der weltlichen Ordnung, denn Machthaber sollten keine Revolution fürchten. Auch orthodoxe Denker konnten sich mit dieser Ansicht gut identifizieren. In der reformierten Tradition überwog von jeher eine Zurückhaltung gegenüber konkreten Weissagungen über das Ende der Zeiten. Orthodoxe und Aufgeklärte verstanden sich in ihrer Begeisterung für die Mission, denn die wachsende Herrlichkeit Christi auf Erden verpflichtete den Gläubigen sich aktiv um Evangelisation und Zivilisation zu bemühen. Höchstens die Erwartung einer allerletzten Bekehrung des Volkes Israel wurde von einigen in der milden Apokalyptik dieser Periode aufgenommen. Ein Beispiel war der reformierte Pfarrer Johannes Jacobus le Roy (1772 – 1850). Seine geistlich-theologische Weite ergibt sich aus seinen Bemühungen, die kantische Philosophie mit einem orthodoxen Christentum zu verbinden, und aus seiner niederländischen Übersetzung von Werken sowohl des lutherischen Pietisten August Hermann Francke als auch des reformierten Mystikers Gerhard Tersteegen. Als Schriftsteller begann er im napoleonischen Zeitalter mit Erklärungen der Prophetien Daniels und Johannes’ auf Patmos und endete nahezu vier Jahrzehnte später mit einer weiteren »Abhandlung über die Weissagungen des Alten und Neuen Testamentes bezüglich der Zukunft, in Übereinstimmung miteinander und mit der Offenbarung des Johannes«. Trotz der Belgischen Revolution und der kirchlichen Separation – der er sich nicht anschloss, der er aber doch Verständnis entgegenbrachte – blieb seine Erwartung von Christi Wiederkunft nach einer langen Zeit des politischen und kirchlichen Friedens ungebrochen. Ob der Umbruch 1848 seine Meinung änderte, hat er nicht mehr offenbart.12

Vergangene Diskurse Dieser in der protestantischen Nation Wilhelms I. vorherrschende Diskurs knüpfte in hohem Maße an der klassischen reformierten Eschatologie an. Die biblischen Prophetien wurden immer vorsichtig, nicht-spekulativ ausgelegt oder einfach aus den Predigten herausgehalten. Zugleich lässt sich feststellen, dass einige Teildiskurse, die vormals Einfluss ausgeübt hatten, aus der öffentlichen Sphäre verdrängt worden oder einfach verschwunden waren. Zu verweisen ist hier auf zwei Traditionen, die im 17. und 18. Jahrhundert von der 12 Jacobus Johannes le Roy : Proeve eener verklaring van den eigenlijken zin der profetische gezigten in de Openbaring van Joannes. Haarlem 1806; ders.: Beschouwing der voorzeggingen van DaniÚl, zoo ver dezelve tot de nog aanstaande toekomst betrekking hebben, en derzelver overeenstemming met de Openbaring. Purmerend 1809; ders.: De eigenlijke zin der profetische gezigten in de Openbaring van Johannes […] alles beschouwd met toepassing op den tegenwoordigen tijd en de nabijzijnde toekomst. Amsterdam 1836; ders.: Beschouwing der voorzeggingen des Ouden en Nieuwen Testaments, betreffende het nog toekomstige. Amsterdam 1846.

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akademischen Theologie, der kirchlichen Predigt und der populären Lesekultur getragen wurden. Mit dem Durchbruch der Aufklärung kamen diese Diskurse aus der Mode und lebten in privaten Kreisen oder in einer Art prophetischer Antikultur fort. Vielleicht gab es in sehr kleinen Netzwerken esoterischer Gläubiger noch Leser der Werke von Jakob Böhme (1575 – 1624) und anderen mystischen Spiritualisten. Ich meine hier aber einflussreiche Strömungen, die der Reflexion der Zukunft und der Endzeit auch innerhalb der Volkskirche einen Platz gegeben hatten. Eine erste reformierte, dogmatisch und praktisch geprägte Tradition bezeichnete sich nach dem Theologen Gisbertus Voetius (1589 – 1676). Die Voetianer vertraten eine dem Mittelalter entstammende, eigentlich deuteronomistische Denkweise von Sündenstrafe und Segen der Rechtfertigung. Wenn das Volk dem Bund mit Gott untreu sei, seien Gerichtsstrafen zu erwarten und das Licht des Evangeliums könne aus dem Land abgezogen werden. In der niederländischen Republik war der Vergleich mit Israel ein beliebtes Stilmittel zur Verbindung der Nationalgeschichte mit der biblischen Geschichte. Wie Moses die Israeliten aus Ägypten herausgeführt hatte, so hatte Wilhelm von Oranien die Niederländer vom spanischen Joch befreit. Spezifischer war das Programm der Nadere Reformatie, die Verbesserung der Sitten, zu der namentlich bei Katastrophen, Kriegen und Überflutungen in Wort und Schrift aufgerufen wurde. In ihrem Geist wurden vielgelesene Werke publiziert – mit einem warnenden Unterton im Blick auf Gottes Strafgericht über das untreue Volk der Niederlande.13 Die andere Tradition wird nach Johannes Coccejus (1603 – 1669) benannt, dem deutsch-reformierten Theologen, der als Professor in Utrecht und Leiden viele Studenten als Anhänger gewinnen konnte. Er kombinierte philologische Bibelexegese mit einer historischen Bundeslehre, der sogenannten Föderaltheologie. Die Heilsgeschichte war eingeteilt in sieben Perioden, mit einem glücklichen Zustand der Kirche und einer Bekehrung der Juden in der letzten Periode. Die siebte Periode sollte 1667 begonnen haben.14 Bis weit ins 18. Jahrhundert hinein regte dieses Paradigma viele dazu an, das Rätsel der Geschichte zu lösen zu suchen.15 Letztendlich brachte der Aufstieg der histo13 Cornelis Huisman: Neerlands IsraÚl: het natiebesef der traditioneel-gereformeerden in de achttiende eeuw. Dordrecht 1983; C.J. Meeuse: De toekomstverwachting van de Nadere Reformatie in het licht van haar tijd. Een onderzoek naar de verhouding tussen het zeventiendeeeuwse chiliasme en de toekomstverwachting van de Nadere Reformatie, met name bij Jacobus Koelman. Kampen 1990; Joris van Eijnatten: God, Nederland en Oranje. Dutch Calvinism and the search for the social centre. Kampen 1993. 14 Gottlob Schrenk: Gottesreich und Bund im älteren Protestantismus vornehmlich bei Johannes Coccejus. Zugleich ein Beitrag zur Geschichte des Pietismus und der heilsgeschichtlichen Theologie. Gütersloh 1923, 309 – 316; Willem Jan van Asselt: The federal theology of Johannes Cocceius (1603 – 1669). Leiden 2001. 15 K.W. Witteveen: Campegius Vitringa und die Prophetische Theologie. In: H.A. Oberman et al. (Hg.): Reformiertes Erbe. Festschrift für Gottfried W. Locher zu seinem 80. Geburtstag. Zürich 1993, 343 – 359, bes. 346 – 352.

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rischen Bibelkritik und der wissenschaftlichen Kirchengeschichte die Übung der prophetischen Theologie zum Ende. Es dürfte Einflüsse von Coccejus auf den Württemberger Bibelforscher Johann Albrecht Bengel (1687 – 1752) und über ihn auf Da Costa, den niederländischen Judenchristen, gegeben haben, die sich immer wieder mit Fragen der Zukunft Israels beschäftigten.16

Vergessenes Genre: Gebetstagpredigten Die niederländisch-reformierte Kirche erlebte von 1658 bis 1738 den sogenannten »Achtzigjährigen Krieg« zwischen Voetianern und Coccejanern. Dank der bewussten Politik von Gleichgewicht und Pazifikation blieb die Einheit der Kirche erhalten. Die niederländischen Regenten bemühten sich darum, die religiösen Spannungen innerhalb und außerhalb der öffentlichen Kirche unter Kontrolle zu halten. Ein besonderes Mittel zur Kultivierung einer Art Zivilreligion war die regelmäßige Feier von Fasten- und Gebetstagen. Jedes Jahr schrieben die Generalstaaten in einem Brief, in dem auf die Nöte von Land und Volk hingewiesen wurde, einen Gebetstag aus. Alle Prediger und katholischen Priester sollten an dem bestimmten Tag anhand dieses Briefes die gemeinschaftlichen Sorgen der Nation vor Gott tragen. Voetianer und Coccejaner konnten die Zuhörer mit ihren Ansichten über die nähere oder fernere Zukunft stark beeindrucken, meistens im Anschluss an einen Text des Alten Testaments.17 Eine vielsagende Begebenheit ereignete sich bei der Veröffentlichung einer Sammlung von Gebetspredigten des Pastors Theodorus van der Groe (1705 – 1784) drei Jahren nach seinem Tod. Van der Groe war ein außerordentlich kritischer und negativer Bußprediger und gerade darum bei einem Teil des frommen Volkes beliebt gewesen. In seinen Predigten hatte er sich manchmal auf besondere Offenbarungen zur düsteren Zukunft der Niederländer berufen. Für eine kirchliche Kommission zur Begutachtung theologischer Bücher gab es 1787 Grund, sich explizit von bestimmten extremen Äußerungen dieses Gottesmannes zu distanzieren.18 Die meisten handschriftlich überlieferten Predigten Van der Groes erschienen erst im 19. Jahrhundert im Druck. Die geistlichen Nachfahren kanonisierten ihn als den letzten Vertreter der reformierten Orthodoxie. Seinen Ausdruck fand dies in dem legendären Reim: »Van der Groe macht das Türchen zu.«19 Nach den zwei Diskursen über Geschichte und Zukunft stoßen wir mit 16 Vgl. Schrenk, Gottesreich und Bund, 309 – 316. 17 Peter van Rooden: Public Orders into Moral Communities: Eighteenth-Century Fast and Thanksgiving Day Sermons in the Dutch Republic and New England. In: Kate Cooper/Jeremy Gregory (Hg.): Retribution, Reconciliation and Repentance. Woodbridge 2004, 218 – 239. 18 Theodorus van der Groe: Verzameling van biddagspredikatien. Utrecht 1787, 39 f. 19 John Exalto/Fred van Lieburg (Hg.): Neerlands laatste ziener. Leven, werk en invloed van Theodorus van der Groe (1705 – 1784). Rotterdam 2007.

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diesen nationalen Gebetstagen auf eine offizielle Tradition von Erinnerung und Erwartung, die mit dem Fall der Republik 1795 beendet wurde. Im Königreich der Niederlande wurde sie nicht wiederbelebt. Statt der Gebetstage führte die allgemeine reformierte Synode 1817 verschiedene liturgische Feiern ein. Seitdem wurden an Karfreitag, am Silvesterabend, am Neujahrstag und am Reformationstag, dem 31. Oktober, Gottesdienste abgehalten. Der Luthertag in einem calvinistischen Land war eine typische Innovation einer protestantisch-ökumenischen Erinnerungskultur. Die Gottesdienste zum Jahreswechsel bedeuteten eine Verschiebung eines nationalen Rück- und Vorblickes hin zu einer persönlichen Evaluation des eigenen Lebenslaufes mit Bezug auf den Fortschritt der Zeit.

Prophetische Gestalten Alles in allem gab es für niederländische Protestanten im frühen 19. Jahrhundert viele Veränderungen. Die alten Gebetstage waren Geschichte; die Reden über das nahende göttliche Gericht oder eine anbrechende Blütezeit waren nur noch selten, und von den meisten Kanzeln wurde eine hoffnungsvolle Perspektive von Frieden, Zivilisation und Fortschritt vermittelt. War gar nichts mehr übrig geblieben von dem Prophetismus oder Chiliasmus, und gab es gar keine neue Ideen- und Gruppenbildung als geringe Versuche zur Restauration oder Revolution unter Berufung auf Gottes Hand im Gang der Zeiten? Natürlich sind es gerade die Ausnahmen von der Regel, die unsere Aufmerksamkeit erregen. Es handelt sich um Personen und Gruppen, welche infolge der Spannungen zwischen Kirche und Staat und zwischen der dominanten Kultur und den Subkulturen im Schatten oder am Rande des Establishments die Hauptspur der Entwicklung verlassen haben. Eine kleine, typische konservative Volksbewegung bildeten die »Vijgeboomianer«, benannt nach Johan Willem Vijgeboom (1773 – 1845). Eigentlich hieß er Johann Wilhelm Fiegenbaum, da er ein Arbeitsmigrant aus der Grafschaft Tecklenburg war. Der ungebildete Laienprediger war ein Vorbild für die vielen sogenannten »Stundenhalter«, die in häuslichen Kreisen das Wort führten und aus der Bibel oder dem Katechismus lehrten. Vijgeboom trat in seiner freien Zeit an verschiedenen Orten auf. Nach einem Bankrott als Unternehmer folgte er 1822 dem Ruf einer Gruppe von Reformierten im Dorf Axel in Flandern, die ihn als festen Prediger anstellten. Unzufrieden mit der örtlichen Predigt hatten diese Leute die Gemeinde verlassen. Sie kauften das leerstehende Pfarrhaus, in dem Vijgeboom wohnen durfte. Die Gruppe nannte sich »Herstelde Kerk van Christus«. Die regionale Kirchenversammlung widersetzte sich bald, und bevor die Obrigkeit eingreifen konnte, war die Gruppe schon auseinandergefallen. Vijgeboom reiste aber noch viele Jahre durch das

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Land und verfasste verschiedene Bücher über die notwendige Wiederherstellung des apostolischen Christentums.20 Eine sonderbare Figur war Hendrik Hentzepeter (1781 – 1845), ein ungebildeter Enthusiast, im gewöhnlichen Leben der Pförtner des Mauritshauses in der Nähe des Haager Regierungszentrums. Er bewachte die königliche Gemäldesammlung und hatte das Vergnügen, auch selbst porträtiert zu werden. Hentzepeter verwarf die Bedeutung der institutionellen Kirche. Er verfasste ab 1819 mindestens 18 Schriften mit Spekulationen über die Zukunft, z. B. über den nahenden Untergang der gegenwärtigen Welt und die Erneuerung der Erde. Seinen Berechnungen nach war die Wiederkehr Christi und der Anfang des Millenniums für 1847 zu erwarten. Seine Äußerungen wurden 1844 in einer amerikanischen Zeitschrift der Milleriten (»Midnight Cry«) übernommen. Er starb zwei Jahren vor dem erwarteten Umbruch.21

Zwijndrechter Neulichter Die Geschichte einer etwas dauerhafteren subversiv-christlichen Bewegung begann mit Stoffel Muller (1773 – 1833) im Dorf Puttershoek in Süd-Holland. Er war nicht nur ein gewöhnlicher und fleißiger Schiffer, Ehemann und Vater, sondern wegen seines religiösen Interesses auch ein besonderer Mann. Die Kreativität seines Denkens wurde durch seine vielen Schifferkontakte mit allerhand Gläubigen im ganzen Land befördert. Muller erlangte den Ruf eines Schwärmers. Auch seine Familie kehrte sich von ihm ab. Er siedelte sich als Einzelgänger im Dorf Waddinxveen an, wo er gastfreundlich von dem Bürgermeister Dirk Valk (1781 – 1863) empfangen wurde. Valk war auch an den christlichen Idealen Mullers interessiert. Stoffel wünschte sich eine Gemeinschaft der Liebe wie in der apostolischen Urgemeinde einschließlich der Gütergemeinschaft. Menschen aus der Gegend schlossen sich an. Zugleich wuchs der Widerstand. Bürgermeister Valk verlor sein Amt. Auf der Suche nach einem neuen Broterwerb knüpfte das unternehmerische Duo Kontakte in Amsterdam.22 1817 kam es dann in Amsterdam zu einem wunderlichen Zusammentreffen 20 P.J. Meertens: Johan Willem Vijgeboom, de voorloper der afscheiding. In: Nederlandsch Archief voor Kerkgeschiedenis 27, 1934, 29 – 56. 21 R.H. Kielman: »Dan zal een vrolijker toekomst hare gordijnen openschuiven«. Het blijmoedige doemdenken van een 19de-eeuwse Haagse portier. In: Jaarboek Die Haghe 27, 1987, 41 – 85. 22 Gerardus Pieter Marang: De Zwijndrechtse Nieuwlichters. Utrecht 1909; ders.: Nieuw licht over de Zwijndrechtse Nieuwlichters. In: Nederlands Archief voor Kerkgeschiedenis 28, 1936, 129 – 153; Berend de Groot: De Zwijndrechtse Nieuwlichters: zoekers van het Koninkrijk Gods. Kampen 1986; J.W. Becker : Het eeuwige heimwee. Chiliasme en sektarisme, een historisch-sociologische studie. Alphen aan den Rijn 1976; Gerrit Jan Schutte: De Zwijndrechtse Nieuwlichters. In: Sj. Voolstra/J. Vree (Hg): Protestants Nederland tussen tijd en eeuwigheid. Jaarboek voor de geschiedenis van het Nederlandse protestantisme na 1800. Bd. 8. Zoetermeer 2000, 113 – 123.

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von Umständen. Muller und Valk besuchten verschiedene religiöse Kreise und begegneten einer Gruppe von etwa vierzig Familien aus dem lutherischen Württemberg. Sie waren Anhänger des radikalen Pietisten Johann Georg Rapp (1757 – 1847) und wollten nach Amerika weiterreisen, um Anschluss an die New Harmony Community in Pennsylvania zu finden.23 Da die Rappisten die Gütergemeinschaft praktizierten, erkannte man die Ähnlichkeit der Gedanken und empfand sie als inspirierend. Dabei begegnete Muller in diesen Konventikelkreisen Maria Leer (1788 – 1866), einer jungen, unverheirateten Frau. Sie stammte aus einem deutschen und lutherischen Elternhaus, war jedoch in einem reformierten Waisenhaus aufgewachsen. Alles, was sie aus Mullers Mund hörte, gefiel ihr sehr. Die geistliche Liebe bekam eine fleischliche Dimension, und weil Stoffel von seiner eigenen Frau nicht gesetzlich geschieden war, schloss er eine »geistliche Ehe« mit Maria. Als aus dieser Partnerschaft eine Tochter hervorging, griff die Obrigkeit ein und brachte das Paar für ein Jahr ins Gefängnis. Diese Vorfälle hatten die Gruppe Geistesverwandter nicht auseinanderfallen lassen. Sie gründeten eine »Christliche Bruderschaft« in Puttershoek und ließen ihre Gütergemeinschaft notariell beglaubigen. Ökonomisch lebte die Gemeinschaft von der Schifffahrt auf dem Rhein bis ins Ruhrgebiet. Später kaufte man eine verlassene Schiffswerft im Dorf Zwijndrecht und errichtete Fabriken für Schwefelhölzer und Schokoladenwaren. In einem anderen Dorf, Mijdrecht, entstand ein weiterer Zweig der Christlichen Bruderschaft. Nach dem Tod Mullers 1833 setzte dann doch die Auflösung der sogenannten Zwijndrechter Neulichter ein. Maria Leer ging erneut eine geistliche Ehe mit einem geistlichen Bruder ein. Ihre Führerschaft wurde zuerst von den Freunden in Mijdrecht in Zweifel gezogen. 1841 wurde die Gütergemeinschaft gesetzlich untersagt und aufgelöst. Einige übriggebliebene Anhänger emigrierten später nach Amerika und schlossen sich den »Mormonen« an. Maria Leer verbracht ihr weiteres Leben in Leiden und bekannte sich sogar zum Spiritismus. Sie verstarb im Zuge einer Choleraepidemie.24

Mazereeuwer Eine andere denkwürdige »eschatologische« Bewegung entstand um die Person von Jan Mazereeuw (1779 – 1855) im Dorf Opperdoes in Nord-Holland. Als Sohn eines Schulmeisters war er einigermaßen gelehrt. Er selbst wurde ein 23 Karl J. R. Arndt: Georg Rapps Separatisten 1700 – 1803. Die deutsche Vorgeschichte von Rapps amerikanischer Harmonie-Gesellschaft. Worcester 1980; Eberhard Fritz: Radikaler Pietismus in Württemberg: Religiöse Ideale im Konflikt mit gesellschaftlichen Realitäten. Epfendorf 2003 (Quellen und Forschungen zur württembergischen Kirchengeschichte 18). 24 Janet Sjaarda Sheeres: From the Dikes to the Desert: The First Dutch Mormons in Utah in the Last Half of the 1800s. In: Utah Historical Quarterly 74, 2006, 114 – 130.

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Bauer. Wegen seines Ernstes und Ansehens wurde er 1811, nach der Annexion durch Frankreich, zum Bürgermeister gewählt, aber bei der Restauration 1813 musste er wieder zurücktreten. Mazereeuw hatte ein besonderes Erlebnis zu Pfingsten 1822. Vom Markt kommend, sah er einen geöffneten Himmel und ein strahlendes Licht. Eine Stimme rief ihn bis zu drei Mal zur Erforschung der biblischen Prophetie auf. Später in diesem Jahr erschien ihm ein Erdbeben in der Türkei als Bestätigung einer besonderen Notzeit. Mit seinem prophetischen Anspruch sammelte Mazereeuw einen Kreis von Anhängern. Obwohl ihm die Beredsamkeit fehlte, war er dreißig Jahre lang der Anführer von etwa fünfzig Menschen im Dorf Opperdoes.25 Mazereeuw verfasste zahlreiche Abhandlungen, namentlich über die Prophetien Daniels und die Offenbarung des Johannes. Seine Kritik an Lehre und Lebenswandel des damaligen Predigerstands war scharf. Er glaubte an einer baldige Wiederkunft Christi. In der Endzeit sei nur eine innerliche Gemeinschaft wahrer Christen noch relevant. Mazereeuws Kritik an der offiziellen Kirche und dem gemeinen Kirchenvolk war ein Echo der vielfältig von ihm angeführten reformierten Väter des 17. und 18. Jahrhunderts. Aber seine Abkehr von Institutionen, Ritualen und Sakramenten hatte eine andere Quelle. Unter den Mazereeuwern zirkulierten Abschriften zweier Bücher der englischen Schriftstellerin Jane Ward Lead (1623 – 1704), Die Offenbarung der Offenbarungen und Die himmlische Wolke. Diese Schriften waren bereits 1696 in niederländischer Übersetzung gedruckt worden. Die Inspiration durch eine Frau symbolisierte seine Abneigung gegenüber der reformierten Geistlichkeit. Daneben soll ihn auch das spirituelle Ideal der philadelphischen Gesellschaft in London angesprochen haben.26 Neben der Gefolgschaft in seinem eigenen Wohnort Opperdoes entstanden seit 1828 auch Kreise von Mazereeuwern in anderen Orten der Provinz NordHolland. Auf dem Höhepunkt der Bewegung hörten an mehreren Abenden pro Woche die etwa 250 Anhänger Mazereeuw zu oder man las seine Schriften oder andere Bücher vor. Er betrachtete sich als den letzten Propheten und Verkündiger des Endes der Kirche. Weil er sich mit dem Propheten Elia verglich, verbreitete sich der Eindruck, er werde nicht sterben, sondern bis zur baldigen Wiederkunft Christi am Leben bleiben. Als er im Mai 1855 starb, drängten sich viele Menschen beim Begräbnis in der Erwartung, dass er vom Tod auferstehen werde. Da nichts Besonderes geschah, schien die Bewegung 25 W.C. van Campen: Berigt aangaande de secte van Jan Mazereeuw, te Opperdoes, in NoordHolland. In: Nederlandsch Archief voor Kerkelijke Geschiedenis 9, 1849, 91 – 119; J. Kok: De profeet van Opperdoes (Jan Mazereeuw). Kampen 1919; J. Loosjes: Jan Masereeuw en zijn secte. In: Nederlandsch Archief voor Kerkgeschiedenis 15, 1919, 25 – 48. 26 Johanna Lead: De openbaeringe der openbaeringen, zijnde besonderlick als een proeve of inleydinge tot het ontsegelen, openen, en ontdecken van de seven segelen, de seven donderslagen, en den staet van’t nieuwe Jerusalem. Amsterdam 1696; dies.: De hemelsche wolcke nu doorbreekende ofte De hemel-vaerts-ladder des Heeren Christi nedergelaten om ons op te leyden tot de hemelvaert en verheerlicking door de dood en de opstanding. Amsterdam 1696.

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zum Sterben verurteilt zu sein. Es hat jedoch bis weit ins 20. Jahrhundert, namentlich im Dorf Andijk, noch Kreise von Mazereeuwern gegeben, die seine Schriften lasen und manchmal nachdrucken ließen.

Revolutionszeit 1830 Bevor wir den ab 1834 aufkommenden kirchlichen Separatismus als wichtigste religiöse »Erinnerungsbewegung« behandeln, muss die allgemeine Intensivierung der Erwartung einer göttlichen Zukunft in demselben Jahrzehnt betont werden. Dabei ist auffällig, dass prophetische Überlegungen fast ganz auf den Protestantismus beschränkt blieben. Katholiken besaßen keine Tradition der Spekulation über mysteriöse biblische Bücher. Eine Ausnahme bildete der unabhängige Laientheologe Hendrik Nuse (1773 – 1834), der verschiedene Büchlein über die Ankunft des Antichristen verfasste. In unnachahmlicher Weise brachte er die Zahl 666 mit Personen und Ereignissen seiner Zeit in Verbindung. 1830 wurde wegen einiger beleidigender Äußerungen über die Regierung Wilhelms. I. eine Haftstrafe gegen ihn verhängt. Im Gefängnis fand er den Tod.27 »Ich für mich sehe bald die wichtigsten Prophetien erfüllt, alles drängt auf eine große Erweckung Gottes hin«, schrieb der Haager Mann des R¦veil Cornelis Baron van Zuylen van Nijevelt (1777 – 1833) 1828 an seinen Geistesfreund Dirk van Hogendorp (1797 – 1845).28 Bis dahin waren chiliastische Gedanken in diesem Kreis nicht aufgekommen. Nur Bilderdijk war immer ein ausgesprochener Prämillenniarist gewesen, unter anderem in seiner Abhandlung zur Wiederbringung aller Dinge (nach Apostelgeschichte 3,21).29 Gerade nach seinem Tod wuchs die politische und ökonomische Instabilität in ganz Europa. Die Erwartung des Kometen von 1832 regte manche Geister zu Spekulationen an. Die Cholera-Epidemien, die auch in den Niederlanden Tausende Leben forderten, vermehrten die Angst. Außerdem geschah die Belgische Revolution, die mit dem sogenannten »Zehntägigen Feldzug« beantwortet wurde. Viele junge Männer, auch Mazereeuwer aus Opperdoes und Leidener Studenten, die später die Trennung anführten, waren daran beteiligt. Erst in diesem Zusammenhang nahmen verschiedene Freunde des R¦veil das prophetische Studium auf. Neben den zeitgenössischen Ideen Edward 27 J.E. van der Pot: Hendrik Nüse. In: Rotterdams Jaarboek, 1942, 55 – 57; Kielman, Dan zal een vrolijker toekomst, 45 – 46. 28 Brief Dirk van Hogendorp an Cornelis van Zuylen van Nijevelt, d.d. 22 Februari 1828, zitiert nach Kielman, Dan zal een vrolijker toekomst, 47. 29 Willem Bilderdijk: Opstellen van godgeleerden en zedekundigen inhoud. Amsterdam 1833, 93 – 145 (»Gedachten omtrent de toekomst en ‘t Koninkrijk van Christus«). Vgl. Joris van Eijnatten: De doemeling hersteld. Willem Bilderdijk en de wederoprichting aller dingen. In: Documentatieblad Nederlandse Kerkgeschiedenis 20, 1997, 30 – 41.

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Irvings (1792 – 1834) in England zu den Zeichen der Zeit entdeckten sie auch die alten Visionen von Bengel, dem bereits genannten württembergischen Pietisten. Er hatte den Anfang des Friedensreiches auf 1836 berechnet. Es würde beginnen, nachdem der Antichrist etwa dreieinhalb Jahre auf der Erde gewütet habe. Nur der jüdisch-christliche Romantiker Da Costa glaubte, dass auch den Niederlanden und dem Haus Oranien dabei eine besondere Rolle zukommen werde. Im Übrigen blieb die ganze Diskussion auf eine private Korrespondenz im kleinen Kreis von Insidern beschränkt. Sie drang zum kirchlichen, akademischen oder sonstigen öffentlichen Diskurs nicht durch. Nach einigen Jahren bekannten sich die meisten Männer des R¦veil wieder zu einem gemäßigten Postmillenniarismus.30

Separatisten Als Anfang eines andauernden Bruchs im Reformiertentum stellt die »Abtrennung« von 1834 in der niederländischen Kirchengeschichtsschreibung ein ausführliches Kapitel dar. In historischer Hinsicht ist diese Episode eher eine Kulmination der Spannungen im noch unreifen Nationalstaat von 1815. Ein Blick auf einen der Anführer soll diese Diskrepanz zwischen einem konfessionellen Restaurationsdenken und einer christlichen Zukunftsvision illustrieren. Er stellt innerhalb der Separationsbewegung allerdings eigentlich einen Fremdkörper dar. Es geht um Hendrik Peter Scholte (1805 – 1868), der aus einer guten Familie in Amsterdam stammte und dort zur orthodox-lutherischen Gemeinde gehörte. Angeregt von einem Studenten, dem später bekannt gewordenen Theologen Hermann Friedrich Kohlbrügge (1803 – 1875), besuchte er in den zwanziger Jahren die Bibelvorlesungen von Da Costa in Kreisen des R¦veil. Als Student in Leiden lernte er verschiedene Geistesverwandte kennen, die zusammen den »Club van Scholte« bildeten. Zu Anfang der dreißiger Jahre kamen diese orthodoxen Freunde auf die Kanzeln der Reformierten Kirche. Scholte ging im Dorf Doeveren in Nord-Brabant an die Arbeit und zog bald viele Zuhörer aus der Gegend an.31 An vielen Orten des Landes gab es eine latente Unzufriedenheit mit der vorherrschenden optimistischen und moralistischen Predigt und der Macht der liberalen Kirchenbehörden. Nach 1833 wurden diese Spannungen durch verschiedene Vorkommnisse manifest. In der Provinz Groningen wurde der junge Pfarrer Hendrik de Cock (1801 – 1842) von seinen Kollegen wegen der 30 P.N. Holtrop: Willem de Clercq en de andere chiliasten. In: Documentatieblad Nederlandse Kerkgeschiedenis 18, 1995, 13 – 35, neu erschienen in: Pieter N. Holtrop: Herdacht landschap. ’s-Gravenhage 2011, 111 – 139. 31 Cornelis Smits: De Afscheiding van 1834, Bd. 6: Het R¦veil en ds. H.P. Scholte. Dordrecht 1984.

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Abfassung harter Pamphlete gegen das neue evangelische Gesangbuch verklagt. Nach einem schleppenden Prozess entschloss er sich zur Trennung von der »falschen« Kirche. Seine ganze Gemeinde folgte ihm und unterschrieb eine »Akte von Abtrennung und Wiederkehr«. Es handelte sich also um eine explizite Rückkehr zur Situation vor der Revolution unter die alte Kirchenordnung, ohne Gesangbuch und mit Aufrechterhaltung der Bekenntnisschriften durch Ausübung der Kirchenzucht. Als Scholte von diesen Ereignissen hörte, schloss er sich sofort Hendrik de Cock an. Pfarrer, die damals zu seinem »Club« gehörten, folgten seinem Beispiel. Sie wurden von der Kirche wegen Störung von Ruhe und Ordnung aus ihrem Amt entlassen. In zahlreichen Gemeinden ließen insgesamt Tausende Menschen ihren Namen aus den Kirchenbüchern streichen.32 Die Obrigkeit griff auf Grundlage eines Verbots von Versammlungen mit mehr als zwanzig Personen aus der französischen Zeit unangemessen hart ein. Soldaten wurden in die Dörfer geschickt um die Separatisten auseinanderzutreiben. Vielen Leuten wurde eine Geldstrafe auferlegt oder sie kamen ins Gefängnis. Wegen der Verfolgungen nannten sich die separierten Gruppen die Reformierten Gemeinden unter dem Kreuz. Anerkennung seitens der Regierung schien aufgrund der Verfassung von 1815 nur möglich, wenn die neuen Gruppen den Namen »reformiert« aufzugeben bereit waren. Manche, wie Pastor Scholte, nannten sich fortan Christliche Abgetrennte Gemeinden. Der bereits erwähnte Jurist Groen van Prinsterer verfasste ein wichtiges Plädoyer für die Anerkennung der Separierten als Erscheinungsform »reformierter Gesinnung«. Erst nach der Verfassungsreform von 1848 erhielten diese Reformierten ihre vollständige Freiheit.

Randerscheinung oder Zeitspiegel? Die Problematik der Anerkennung neuer Gemeinschaften, die alte Texte für sich beanspruchten, ist für unser Thema interessant. Auf der einen Seite gab es radikale Separierte, die eher das damit verbundene Kreuz auf sich nahmen, als die Qualifikation »reformiert« aufzugeben. Ein solcher radikaler Konservativer war Pastor Lambertus G.C. Ledeboer (1808 – 1863) in Benthuizen, der während seiner Predigt das königliche Kirchenreglement von der Kanzel warf, um es nach dem Gottesdienst im Garten seines Hauses zu begraben. Ledeboer sprach die prophetischen Worte, die zu einem geflügelten Wort werden sollten: die 32 Es gibt wenig nichtniederländische Literatur zur »Afscheiding«, vgl. indirekt Gerrit Jan Beuker : Abgeschiedenes Streben nach Einheit. Leben und Wirken Henricus Beukers 1834 – 1900. Kampen 1996; George Harinck/Hans Krabbendam (Hg.): Breaches and bridges: reformed subcultures in the Netherlands, Germany, and the United States. Amsterdam 2000.

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reformierte Kirche ist unser und Gott wird sie uns zurückgeben zu seiner Zeit.33 Auf der anderen Seite gab es Separierte wie Scholte, die die alte nationalkirchliche Situation nicht per se restaurieren wollten. Sie waren bereit aufgrund allgemeiner christlicher bzw. biblischer Prinzipen eine neue Ordnung zu gründen. Im Laufe des 19. Jahrhunderts sollte das Prinzip der freien Kirche in einem freien Staat von dem für den modernen Calvinismus so prägenden Abraham Kuyper (1837 – 1920) in voller Breite ausgearbeitet werden.34 Wir kehren noch einmal zu Scholte zurück. Nur ein Jahr war er als Prediger der reformierten Volkskirche, nur sechs Jahre im schwachen Netzwerk der separierten Gemeinden aktiv. Um die Sympathie der Konservativen zu gewinnen, besorgte er Neuauflagen von »alten Vätern« wie Jacobus Koelman (1631 – 1695) und Jodocus van Lodenstein (1620 – 1677).35 Scholte war jedoch als Erster bereit die Bindung an reformierte Dokumente, Strukturen und Traditionen aufzugeben. Er erkannte nur die Bibel als Norm für die Theologie und die christliche Liebe als Grundlage organisierter Gemeinschaftsbildung an. Nach einigen Jahren der Besinnung emigrierte Scholte in die Neue Welt, nicht nur wegen der verwirrenden Situation in Politik und Kirche, sondern auch wegen der ökonomischen Malaise in den Niederlanden. 1846 gründete er den Christlichen Verein zur Förderung der Auswanderung. Er selbst zog mit 700 Landsleuten in die Prärien von Iowa und bildete eine Kolonie mit dem biblischen Namen Pella. Die religiöse Gemeinschaft nannte er die »Christliche Kirche von Pella«.36 Es wäre möglich, die große Menge religiöser Einzelgruppen im niederländischen Protestantismus des frühen 19. Jahrhunderts mit anderen Beispielen vorzuführen. Auffallende und abweichende Figuren strebten immer wieder nach einer Wiederherstellung des ursprünglichen wahren Christentums. Es handelt sich um scheinbar isolierte Bewegungen, obwohl die Beteiligten in gewissem Maße voneinander wussten und persönlichen Kontakt suchten. So enthält der Nachlass von Mazereeuw eine Korrespondenz mit Vijgeboom, eine Abschrift eines Briefes von Valk an einen Haager Prediger und einen Bericht über die Suspendierung von Pastor Scholte. Auch wissen wir, dass Mazereeuw seine Schriften an Anführer der Separation schickte.37 Hentzepeter hatte Kontakte mit Gestalten des R¦veil wie Hogendorp und schrieb 1842 ein Büchlein über die Separierten.38 Gerade mit ihren umstrittenen Gedanken und 33 H. Natzijl (Hg.): Verzamelde geschriften over ds. L. G. C. Ledeboer. Utrecht 1980. 34 Arie L. Molendijk: Abraham Kuyper. Theoretiker der Moderne. In: Alf Christophersen/ Friedemann Voigt (Hg.): Religionsstifter der Moderne. Von Karl Marx bis Johannes Paul II. München 2009, 116 – 129. 35 Hendrik Petrus Scholte (Hg.): J. van Lodensteyn’s Beschouwinge van Zion […]. Amsterdam 1838; ders. (Hg.): Beschouwingen van den toestand der Nederlandsche Kerk. Amsterdam 1839. 36 Cornelis Smits: De Afscheiding van 1834, Bd. 3 und 5: Documenten uit het archief van ds. H.P. Scholte, bewaard te Pella, Iowa, U.S.A. Dordrecht 1977/1982. 37 Nachlass Jan Mazereeuw im Westfries Archief zu Hoorn. 38 Kielman: Dan zal een vrolijker toekomst; Hendrik Hentzepeter: Adres aan alle afge-

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Experimenten fügten sie sich in eine transnationale Gemeinschaft von Christen ein, die sich nicht um irdische Gesetze und Grenzen kümmerte.

Von der Aktualität zur Historiographie Abschließend soll betont werden, dass alle skizzierten Figuren und Strömungen im niederländischen Protestantismus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts letztendlich nur Kräuselungen im Teich des dominanten Aufklärungsdenkens der intellektuellen, politischen und kirchlichen Eliten waren. Unter den verschiedenen Protestbewegungen gegen die neue nationale Ordnung hat sich nur die reformierte Kirchenbildung der Separatisten als dauerhaft erwiesen. Doch vermute ich, dass die Dynamik von Restauration und Erneuerung in Breite und Tiefe zu einer Besinnung mit langfristigem Ertrag für die Entfaltung des demokratischen Nationalstaats beigetragen hat. Manchmal bot der Glaube an Gottes Führung in Geschichte und Zukunft einen beruhigenden Gegenentwurf zu der aktuellen Erfahrung von Unruhe und Bedrohung. Manchmal bot der Glaube einen Impuls zur Stärkung der Verantwortung des Menschen für das irdische Leben im Hier und Heute. Bald sollte sich diese Motivation in einem lebhaften und vielfältigen Vereinswesen zu guten religiösen und sozialen Zwecken äußern. Es kommt darauf an, dass die Geschichtswissenschaft ein ausgewogenes und integriertes Gesamtbild dieser Epoche von Erinnerung, Erweckung und Erwartung zeichnet. Bemerkenswert ist, dass es schon früh zu einem fließenden Übergang von der Aktualität zur Historiographie kam. Einige maßgebende akademische Theologen gründeten 1829 das Archiv für niederländische Kirchengeschichte, die älteste Zeitschrift in diesem Fach. Unter den Herausgebern war Nicolaas Christiaan Kist (1793 – 1859), der 1848 eine hervorragende Quellenausgabe der Gebetstagbriefe der niederländischen Republik besorgte, einschließlich eines Plädoyers für die Wiederherstellung der »altvaterländischen Gebetstagtradition«.39 Im folgenden Jahr veröffentlichte er in seiner Zeitschrift einen Bericht über die Sekte von Jan Mazereeuw, der ihm vom Ortspastor von Opperdoes angeboten worden war. Kist selbst rief dabei zur Einsendung von Informationen über die verwandten »Zwijndrechter Neulichter« auf, wenn auch ohne Erfolg.40 Seitdem haben Etiketten wie Vijgeboomianer, Mazereeuwer, »Zwijndrechtse Nieuwlichters«, Separatisten, Ledeboerianer und Kreuzgesinnte sich in der scheidene en niet afgescheidene leeraren en gemeenten in het Gereformeerde Kerkgenootschap in Nederland. Rotterdam 1842. 39 Nicolaas Christiaan Kist: NeÞrlands bededagen en biddagsbrieven. 2 Bd. Leiden 1848 – 1849. 40 Der Text findet sich in Van Campen, Berigt (wie Anm. 25), 112.

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wissenschaftlichen sowie in der populären Kirchenhistoriographie behauptet. Von den als sektiererisch betrachteten Gruppen wurden bislang nur die Zwijndrechter einer Dissertation wert befunden;41 andere wurden einmal als »Gottes Unkraut« auf dem Acker der Kirchengeschichte dargestellt.42 Es entwickelten sich eigene Forschungstraditionen zur Bewegung des R¦veils und der Afscheiding, flankiert von viel Stückwerk zur sogenannten »kleinen Kirchengeschichte«.43 Ich hoffe gezeigt zu haben, dass es sich lohnt zu versuchen die einzelnen Figuren, isolierten Gruppen und unterschiedlichen Bewegungen aus ihren eigenen Motiven und christlichen Idealen heraus kennenzulernen. Dabei wird nicht nur ihre nationale und internationale Vernetzung erkennbar werden, sondern auch ihre Funktion und Wirkung im Rahmen der eigenen Zeit im Gesamtprozess der modernen Geschichte. Hierzu möge auch der weitere Austausch von Pietismus- und Erweckungsforschung beitragen.44

41 H. P. G. Quack: De Zwijndrechtse Broederschap, godsdienstig communisme in de eerste helft onzer eeuw. In: De Gids 1892, 231 – 264; D.N. Anagrapheus [Ps. Louise Sophie Bluss¦]: De Zwijndrechtsche Nieuwlichters (1816 – 1832) volgens de gedenkschriften van Maria Leer. Amsterdam 1892; Marang, De Zwijndrechtse nieuwlichters. 42 Wim Zaal: Gods onkruid. Nederlandse sekten en messiassen. Amsterdam 1972. 43 Zum Beispiel: W. van der Zwaag: Om de schat van Christus’ bruid. Vaderlandse kerkgeschiedenis sinds Reveil en Afscheiding. Kampen 1984. 44 Kürzlich erschien Anders Jarlert (Hg.): The dynamics of religious reform in Northern Europe 1780 – 1920, III: Piety and modernity. Leuven 2012. Zu niederländischen Frömmigkeitsund Erweckungserscheinungen vgl. darin Fred van Lieburg: Reforming Dutch Protestant Piety, 1780 – 1920, 157 – 190.

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Lucian Hölscher

Die Nähe des Endes: Pietistische und säkulare Zukunftsentwürfe in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts März 1848. Als die ersten Nachrichten von der Februarrevolution in Paris nach Deutschland kommen und auch hier erste Unruhen auslösen, sind sich die Frommen in Württemberg sofort einig, was diese Ereignisse bedeuten: Es sind die Vorzeichen des göttlichen Endgerichts, zu dem Christus auf die Erde zurückkehren wird: Darauf warten die erweckten Pietisten schon seit langem und mit kaum nachlassender Energie.1 Alle Enttäuschungen der letzten Jahre und Jahrzehnte haben sie nicht davon abhalten können, jetzt seine Wiederkehr und die Errichtung des Gottesreichs mit Sicherheit zu erwarten: Der aus Kornthal stammende Geistliche Christoph Hoffmann z. B. ließ sich explizit mit der Absicht ins Frankfurter Parlament wählen, dass der schon bald beginnende Endkampf zwischen Christus und dem Antichrist vorbereitet werden müsse.2 In den späten 1860er Jahren wanderte er sogar nach Palästina aus, um Christus bei seiner Wiederkehr, die er wie viele andere auch natürlich in Jerusalem erwartete, möglichst nah zu sein. Schon Anfang des Jahrhunderts waren Tausende frommer Pietisten nach Südrussland ausgewandert, wo Christus einer populären Weissagung zufolge in Kürze erscheinen sollte.3 Auch das vom großen Württemberger Theologen Johann Albrecht Bengel um die Mitte des 18. Jahrhunderts errechnete Jahr 1836 war verstrichen, ohne dass das Tausendjährige Reich (das erste von zwei Tausendjährigen Reichen, die Bengel vor Christi Wiederkehr erwartete) angebrochen war,4 und ebenso das Jahr 1844, in dem Teile der großen amerikanische Erweckungsbewegung Christi Wiederkehr erwartet hatten. Nun also 1848: Die revolutionären Ereignisse erfüllten viele Bedingungen für die Erfüllung der göttlichen Weissagung, das mobilisierte die Gemeinde: Gemäß 1 Vgl. Stefan Dietrich: Christentum und Revolution. Die christlichen Kirchen in Württemberg 1848 – 1852. Paderborn 1996. 2 Vgl. Hartmut Lehmann: Pietism and Nationalism. The Relationship between Protestant Revivalism and National Renewal in Nineteenth-Century Germany. In: Church History 51, 1982, 39 – 52. Vgl. weitere Belege bei Lucian Hçlscher: Weltgericht oder Revolution. Protestantische und sozialistische Zukunftsvorstellungen im deutschen Kaiserreich. Stuttgart 1989, 79 f. 3 Vgl. Hartmut Lehmann: Pietismus und weltliche Ordnung in Württemberg vom 17. bis zum 20. Jh. Stuttgart 1969, 176 ff; Michael Kannenberg, Verschleierte Uhrtafeln. Endzeiterwartungen im württembergischen Pietismus zwischen 1818 und 1848. Göttingen 2007. 4 Vgl. Martin H. Jung, 1836 – Wiederkunft Christi oder Beginn des Tausendjährigen Reiches? Zur Eschatologie Johann Albrecht Bengels und seiner Schüler. In: Pietismus und Neuzeit 23 (1997), 131 – 151.

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Lucian Hölscher

dem Gebot des Evangelisten Matthäus (Mt. 25, 1 – 13) solle sie, so hieß es in zahlreichen Aufrufen pietistischer Prediger, auf die Zeichen der Zeit achten, dass sie nicht wie die törichten Jungfrauen in Jesu Parabel den Zeitpunkt verpasse, zu dem der Bräutigam bei seiner Wiederkehr die klugen Jungfrauen zur Teilnahme an seiner Herrschaft einladen werde. Christian Gottlob Barth, der Begründer des Calwer Verlagsvereins, z. B. wandte sich im Juli 1848 mit den Worten an seine pietistischen Brüder :5 »Jetzt ist, glaube ich, unsere Aufgabe hauptsächlich die, auf die Zeichen der Zeit zu merken und andere aufmerksam zu machen, unsere Lampen brennend zu erhalten und, weil doch dem Ganzen nicht mehr zu helfen ist, wenigstens so viele einzelne noch zu retten, als möglich ist.«

Wenn pietistisch gestimmte Gläubige im frühen 19. Jahrhundert an die Zukunft dachten, dann in erster Linie an das kommende Tausendjährige Reich, das göttliche Endgericht, Christi Wiederkehr auf Erden und, solange diese noch ausstand, an ihr eigenes Schicksal nach dem Tode. Dabei handelte es sich allerdings nicht im selben Sinne um eine historische Voraussage, wie wir dies heute in gesellschaftspolitischen Prognosen gewohnt sind: Für die Pietisten war »Zukunft« etwas anderes als dasjenige, was man aus der Vergangenheit und Gegenwart in die Zukunft hochrechnen kann. »Zukunft« bezeichnete die Bestimmung des Menschen oder der Welt insgesamt: dasjenige, was ihnen von Gott vorherbestimmt war. Die Form der Pietisten, über die Zukunft nachzudenken und zu sprechen, ging eine eigentümliche, vielfach irrlichternde Verbindung mit dem historischen Denken der Neuzeit ein. Von der historisch-säkularen unterschied sich die pietistische Zukunft in mindestens dreierlei Hinsicht: 1. Ihre religiösen Zeitvorstellungen banden sich nur sehr locker an die historische Chronologie der Jahre und Jahrhunderte, die seit Christi Geburt bzw. seit der für die Zeit um 4000 v. Chr. angenommenen Weltschöpfung verflossen waren. So nahmen Autoren religiöser Schriften auch schon im 17. und 18. Jahrhundert die tausend Jahre des endzeitlichen Millenniums nicht allzu wörtlich: Weder musste die Welt wirklich erst im Jahre 2000 n. Chr. mit Christi Wiederkehr rechnen, sondern möglicherweise schon einige Jahrhunderte früher, noch musste das dann anbrechende Tausendjährige Friedensreich Christi wirklich genau tausend Jahre dauern. Insgesamt nahm die Bindung der Rede von Jahrhunderten (saecula) und Jahrtausenden (millennia) seit dem 17. Jahrhundert zwar wohl zu, aber die Souveränität, die Zeit in anderen Massen als dem der Menschen zu rechnen, blieb dabei doch ein immer wieder betontes Vorrecht Gottes. 2. Die Zukunft Christi wie der Menschheit wurde von den Pietisten nicht nur 5 Landesbibliothek Stuttgart, Cod. Hist. 48 Nr. 451 g, zit. nach Lehmann, Pietismus und weltliche Ordnung, 216 Anm. 86.

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als äußerliches, »geschichtliches«, sondern zugleich auch als inwendiges Ereignis erwartet. Schon Philipp Jakob Spener hatte in seiner Programmschrift »Behauptung der Hoffnung künfftiger besserer Zeiten« von 1693 die Zukunft Christi in vier Formen zerlegt, von denen nur eine, die »Zukunfft zu den Menschen« (auch »Zukunfft in das Fleisch« genannt), allenfalls geschichtlich zu verstehen war. Die anderen drei Formen deuteten die Zukunft Christi entweder »geistlich« als jederzeit mögliche Präsenz Gottes in den Herzen der Menschen (»Die Zukunfft in die Menschen«) oder gerichtlich, als »Zukunfft zum Gericht«, wobei man noch einmal unterscheiden konnte in die Zukunft »vor« die Gläubigen (zur Erlösung) und »wider« die Ungläubigen (zur Verdammnis).6 Neben den großen welterschütternden Ereignissen spielte daher in den pietistischen Schriften auch immer die innere Wende der Menschen, ihre religiöse Erfahrung eine wesentliche Rolle bei der Beschreibung der Endzeit. 3. Die religiöse Sprache der Pietisten verknüpfte mit den geschichtlich-temporalen Begriffen immer zugleich auch qualitative religiöse Vorstellungen: »Zeit« war nicht nur ein abstraktes Maß für den Verlauf der Stunden, Tage und Jahre, sondern zugleich auch ein kostbares Gut, das Gott den Menschen zum sorgsamen Gebrauch gegeben hatte. »Gegenwärtig«, »nah« war Gottes Reich nicht nur im Sinne der Jetztzeit, sondern auch im Sinne der Weise, wie es die Menschen anging. »Zukunft« bezeichnete, wie schon erwähnt, nicht nur die kommenden Jahre und Jahrzehnte, sondern auch das, was die Menschen anging, was ihnen als Los bestimmt war, was ihnen »zukam«. Von dem Verlauf der Zeit zu sprechen hieß daher für Pietisten immer, ebenso von Gott wie vom irdischen Schicksal der Menschen zu sprechen. Die biblische Prophezeiung, dass das Himmelreich »nah« sei,7 konnte so in protestantischen Predigten auch ganz unterschiedlich verstanden werden: Die Spannweite möglicher Deutungen reichte vom wörtlichen Wiedererkennen der prophezeiten Vorzeichen des Endes in der Gegenwart über die Vorstellung von einer gnädigen Verkürzung der Zeit bis zum Gericht im Falle, dass sich Gott der Menschen erbarme, bis hin zu Deutungen, welche die Nähe Gottes an die Bereitschaft der Menschen ihn zu empfangen banden: So konnte die Zeit des Gerichts nach Meinung mancher Prediger im Laufe der Geschichte nicht nur mehrfach auftreten, sondern auch wieder in die Ferne rücken, wenn Gott dies beschlossen hatte. Die Zeit verlief dann gewissermaßen wellenförmig, oszillierend zwischen Zeiten der Gottesnähe und Gottesferne.8 Rein topologisch handelte es sich bei der religiösen Form, über zeitliche Dinge zu sprechen, meist schon um alte Traditionen. Dass die Zeit Gottes anders verlief als die der Menschen, war eine schon in den Büchern des Alten 6 Vgl. Philipp Jakob Spener, Behauptung der Hoffnung künfftiger besserer Zeiten. Frankfurt 1693, 11. 7 Vgl. Mt 3,2; 4,17; 10,7 und öfters. 8 Vgl. Hçlscher, Weltgericht, 54 ff.

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Testaments formulierte Einsicht.9 Aber mit der Universalisierung des historischen Denkens in der Neuzeit verwandelte sich der Widerspruch zwischen den Zeitmaßen Gottes und denen der Menschen aus einem Verhältnis der begrenzten Einsicht des Menschen in Gottes Pläne in einen Widerspruch zwischen zwei temporalen Logiken: Gottes Zeitrechnung war immer mehr qualitativer, die der Menschen rein quantitativer Natur. Sich auf Gottes Zeitrechnung einzulassen gelang daher nur noch demjenigen, der sich nicht zu sehr auf die Entwicklungsgesetze der Geschichte eingelassen hatte. Am stärksten allerdings unterschieden sich der religiöse Zeithorizont der Pietisten von dem säkularer Christen hinsichtlich der Zukunft. Je weiter sich der historische Zeithorizont in die Ferne bislang ganz unvorstellbarer Zeiträume hinausschob, desto unwahrscheinlicher erschien die religiöse Annahme eines nahen Weltendes. Der Erwartungshorizont der Pietisten war vor allem in Krisenzeiten zeitlich eng gezogen, d. h. er war nicht auf die langfristige Entwicklung der modernen Gesellschaft, sondern auf ein möglicherweise nahes Ende des Lebens und der Welt insgesamt ausgerichtet. Keine historische Erfahrung über die Parusie-Verzögerung Christi konnte sie darin eines Besseren belehren, denn der pietistische Glaube rechnete eben wie gesagt grundsätzlich gar nicht in irdischen Zeitspannen, sondern damit, dass Gottes Zeitmaße ganz anderer Natur seien als die der Menschen. Das widersprach nur scheinbar den Parusie-Berechnungen eines Bengel, der die Daten des kommenden Weltendes ja nicht aus säkularen Erfahrungen, sondern aus Gottes Schriften selbst abgeleitet hatte. So stellte sich die zeitliche Berechnung der Wiederkehr Christi der pietistischen Bibelexegese auch in erster Linie nicht als ein Problem des richtigen Umgangs mit historischen Erfahrungen, sondern als ein hermeneutisches Problem des richtigen Verständnisses der biblischen Weissagungen selbst dar : Andere pietistische Exegeten, etwa der Arzt Heinrich Jung-Stilling oder der Theologe Friedrich Oetinger, waren da schon im ausgehenden 18. Jahrhundert durchaus vorsichtiger als Bengel: Der wahre Sinn dieser Weissagungen, lehrten sie, werde sich erst am Ende der Zeiten erschließen, alles derzeitige Zukunftswissen beruhe nur auf vorläufigen Vermutungen.10 Der pietistischen Bibelexegese lag ein grundsätzlich anderes Verständnis von historischer Erfahrung zugrunde als der damals noch jungen historischen Bibelkritik: Ihr zufolge ging es nicht darum, die Heilige Schrift in die Erfahrungswelt der Zeitgenossen zu übersetzen, wie die liberale Theologie nach Schleiermacher lehrte, sondern umgekehrt darum, diese Erfahrungen ihrerseits in die göttliche Sprache der Schrift zu übersetzen. Da die Sprache der Bibel pietistischer Auffassung zufolge die gesamte Wahrheit über Gottes 9 In Ps 90,4 hieß es z. B.: »Denn tausend Jahre sind vor dir wie der Tag, der gestern vergangen ist, und wie eine Nachtwache.« 10 Vgl. Alice Kuzniar: Philosophic Chiliasm. Generating the Future or Delaying the End? In: Eighteenth-Century Studies 19, 1985, 1 – 20.

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Heilsplan, wenn auch symbolisch verschlüsselt, enthielt, erschien sie den Pietisten durchaus angemessen auch für das historische Verständnis zeitgenössischer Ereignisse wie der Revolution von 1789 oder 1848. Aus der heutigen Perspektive säkularer Historiker erscheint das biblizistische Geschichtsverständnis der Pietisten allerdings durchaus defizitär : Nicht nur, dass Christus bis heute immer noch nicht wiedergekehrt ist, spricht für sie gegen die Naherwartung des Weltendes, sondern auch, dass die Pietisten überhaupt unfähig waren, einen langfristigen geschichtlichen Zeithorizont ins Auge zu fassen. Vor dieser Kritik rettet sie auch nicht, dass die Frommen mit einer solchen Naherwartung des Endes nicht allein dastanden, vermutlich sogar unter den Zeitgenossen mehrheitsfähig waren. Auch viele Sozialisten und Kommunisten der Zeit, z. B. Wilhelm Weitling und sein Bund der Kommunisten, aber auch zahlreiche sozial engagierte Deutschkatholiken erwarteten das Ende der Welt – bzw. weniger apokalyptisch: das Ende der bestehenden Weltära – in den späten 1840er Jahren in Kürze, und zwar in Form einer unmittelbar bevorstehenden sozialen Revolution. Auch sie stellten sich diese Revolution als plötzliches, zu diesem Zeitpunkt nur von wenigen erwartetes Ereignis vor, als eine grundsätzliche Wende in den weltlichen Dingen, als Gericht über die jetzt noch Herrschenden und als Anbruch eines ewigen Friedensreichs.11 Das war weniger außergewöhnlich, als es heute scheint: Denn selbst wenn man sich über die radikalen Angehörigen scheinbar bildungsmäßig zurückgebliebener Schichten hinaus im zeitgenössischen Geschichtsverständnis höherer Schichten umschaut, war der Zeitraum der Geschichte in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts noch erstaunlich eng begrenzt – in die Zukunft ebenso wie in die Vergangenheit. Noch immer rechneten selbst akademische Historiker mit der Erschaffung der Welt um das Jahr 4000 v. Chr. und mit deren Ende in einer zwar unbestimmten, aber relativ nahen Zukunft.12 Dafür nur zwei Beispiele: 1841 begründete der liberale Historiker Karl von Rotteck seine Entscheidung, in seiner viel gelesenen Allgemeinen Weltgeschichte die Zeitrechnung nicht mit dem Jahre Null bei Christi Geburt, sondern 4000 Jahre früher beginnen zu lassen, damit, dass erste verlässliche Jahresangaben sowieso erst aus den beiden letzten Jahrtausenden vor Christi Geburt vorlägen, eine Kollision der biblischen Zeitrechnung mit den historischen Nachrichten also gar nicht stattfinden könne.13 Dabei wusste er, dass die Erde und die Menschheit weit älter waren. Doch auch bei dem liberalen Historiker kam die Fiktion der 11 Vgl. Friedrich Wilhelm Graf: Die Politisierung des religiösen Bewusstseins. Die bürgerlichen Religionsparteien im deutschen Vormärz. Das Beispiel des Deutschkatholizismus. Stuttgart-Bad Cannstatt 1978; Hçlscher, Weltgericht, 199 ff. 12 Vgl. Stephan Cartier, Licht ins Dunkel des Anfangs. Studien zur Rezeption der Prähistorik in der deutschen Welt- und Kulturgeschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts. Herdecke 2000. 13 Karl von Rotteck: Allgemeine Weltgeschichte für alle Stände. Bd. 1, Stuttgart 71860, 53 ff.

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Weltschöpfung um 4000 v. Chr. dem historiographischen Bedürfnis nach möglichst kleinen Zahlen und Zeithorizonten entgegen. Wie lange die Welt in Zukunft noch dauern werde, ließ von Rotteck zwar offen, aber selbst ein moderner Geist wie Hegel hatte kurz zuvor noch gelehrt, dass uns die Zukunft nicht bekümmern solle, da sich darüber schlichtweg nichts Verlässliches sagen lasse: Das Zukünftige »geht uns nichts an«, führte er in seinen Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie aus, »weder dass es ist, noch dass es nicht ist; wir dürfen keine Unruhe deshalb haben. Dies ist der richtige Gedanke über die Zukunft«.14 Die Geschichte der Hegelianer lief noch auf die Gegenwart zu, die Zukunft kümmerte sie noch wenig. Das änderte sich erst bei Hegels Schülern im Laufe des zweiten Drittels des 19. Jahrhunderts. Da war es durchaus zeitgemäß, wenn der bekannte Württembergische Erweckungsprediger Johann Christoph Blumhardt 1843 sein Handbüchlein der Weltgeschichte für Schulen und Familien mit dem Satz einleitete: »Bis zu Adam hinauf sind es nahezu 6000 Jahre.«15 Selbst ein aufgeklärtes Lexikon wie Meyers neues Konversationslexikon erklärte noch in seiner zweiten Auflage von 1871, es sei »schwer, wenn vorläufig nicht unmöglich« zu entscheiden, ob man »statt der gewöhnlich angenommenen 6000 Jahre 20.000 Jahre oder 100.000 Jahre für das Alter der Menschheit in Anspruch nehmen soll«.16 Wichtiger noch aber ist die heilsgeschichtliche Naherwartung des Weltendes, die sich in Blumhardts Darstellung der neuesten Zeit abzeichnete: Mit der Französischen Revolution von 1789 setzte bei ihm, nach eschatologischem Muster, die Zeit des großen Elends, mit dem Wiener Kongress 1815 die Zeit des Völkerfriedens ein. Vor allem aber bahnte das englische Kolonialreich den Weg für die weltweite Missionsbewegung, welche nach Meinung der Pietisten als Vorbedingung und Vorzeichen des Weltendes gelten konnte. Und so endete Blumhardts Weltgeschichte auch durchaus in Übereinstimmung mit der biblischen Weissagung mit einer Erinnerung an Mt 24,14: »›Es wird gepredigt werden das Evangelium vom Reich in der ganzen Welt, zu einem Zeugnis über alle Völker; und dann wird das Ende kommen‹. Eine heilige Ahnung muss uns durchzucken, wenn wir den Schluss der Weltgeschichte mit diesem Wort Jesu vergleichen. ›Der Herr ist nahe!‹ hallt’s und widerhallt’s bis zu den äußersten Grenzen Chinas. ›Selig ist der Knecht, den der Herr, wenn er kommt, wachend findet‹.«17

Viele Pietisten waren, wenn sich ihre Endzeiterwartungen nicht erfüllten, zwar zunächst geschockt, sahen sich aber dadurch nicht grundsätzlich widerlegt. 14 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie II. In: Eva Moldenhauer/Karl Markus Michel (Hg.): Werke in zwanzig Bänden. Bd. 19, Frankfurt 1969, 331. Vgl. dazu Lucian Hçlscher: Hegel und die Zukunft. In: Ders.: Semantik der Leere. Göttingen 2009, 157 – 166. 15 Johann Christoph Blumhardt: Handbüchlein der Weltgeschichte für Schulen und Familien. Calw 1843, 4. 16 Meyers neues Konversationslexikon, Bd. 11, Hildburghausen 21871, 422 f., Art. »Mensch«. 17 Blumhardt, Handbüchlein, 321.

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Denn ihnen kam es dabei stets weniger auf deren Erfüllung im historischsäkularen Sinne eines genau datierbaren Ereignisses als vielmehr auf die Intensität der Christussehnsucht an, die sich in solchen Erwartungen ausdrückte. Wie stehen wir heute zu den Naherwartungen des Weltendes im Vormärz? Mehrfach ist in den letzten Jahrzehnten die Kontinuität der sozialistischen Revolutionserwartungen von 1789 über 1830 und 1848 bis zur Pariser Kommune 1871 und darüber hinaus nachgezeichnet worden.18 Sie gelten im Allgemeinen als zwar nicht so wie erwartet eingetretene Prognosen, aber doch als Stufen einer Modernisierung des Geschichtsbewusstseins. Doch dieselben Vorzeichen des kommenden Weltgerichts dienten auch den erweckten Christen als Zeichen der Zeit, nur mit umgekehrter Bewertung: Die Französische Revolution von 1789, samt Napoleon, ihrem Vollstrecker, war ihnen ein Zeichen der letzten Herrschaft des Antichristen vor dem Ende. Den Rückgang kirchlicher Frömmigkeit, auf sozialistischer Seite als Beginn der Aufklärung gefeiert, bezogen sie als Vorzeichen des Endes unmittelbar auf den im Matthäus-Evangelium (Mt 24,10 ff) prophezeiten Abfall vom Glauben. In den sozialistischen Verkündern einer neuen Wahrheit erkannten sie die »falschen Propheten« der Heiligen Schrift. Umgekehrt deuteten sie den Kolonialismus und Imperialismus, welchen die Sozialisten später als höchste Stufe des Kapitalismus und damit als unmittelbare Vorstufe der sozialistischen Revolution geißelten, als Zeit der Verkündigung des Evangeliums an alle Völker, welche ebenfalls zu den Vorzeichen der kommenden Christusherrschaft zählte (Mt 24,14). Der pietistische und der sozialistische Zukunftshorizont wiesen im 19. Jahrhundert weitgehend identische Zeitstrukturen auf, deshalb fiel der Übertritt vom einen zum andern Glaubensbekenntnis vielen Arbeitern und kleinen Handwerkern auch nicht schwer.19 Doch die Bewertung der gegensätzlichen Zukunftserwartungen geht heute weit auseinander – und hier kommen wir selbst als Historiker mit ins Spiel: Denn den Zeitpunkt der vergangenen Zukunftserwartungen besetzen wir heute selbst mit unserer eigenen Gegenwart, unseren eigenen historischen Erfahrungen und zukunftsgerichteten Erwartungen. Unsere eigene historische Selbstverortung wird so zum Lackmustest für die Beurteilung vergangener Zukunftsvorstellungen. Da ist nun zwar vordergründig kaum daran zu zweifeln, dass in der Zwischenzeit weder der sozialistische Zukunftsstaat noch das Reich Gottes mit Christi Herrschaft auf Erden angebrochen ist. Doch lassen sich gleichwohl unterschiedliche Verbindungslinien und Kontinuitäten ziehen: Stehen wir selbst mehr in der Tradition der sozialistischen Revolutionserwartungen, so lassen sich diese leicht als Vorzeichen kommender tatsächlicher Ereignisse 18 Vgl. Beatrix Bouvier : Französische Revolution und deutsche Arbeiterbewegung. Die Rezeption des revolutionären Frankreich in der deutschen sozialistischen Arbeiterbewegung von den 1830er Jahren bis 1905. Bonn 1982; Rudolf Walther: »…aber nach der Sündflut kommen wir und nur wir«. »Zusammenbruchstheorie«, Marxismus und politisches Defizit in der SPD 1890 – 1914. Frankfurt 1981. 19 Vgl. Hçlscher, Weltgericht, 126 ff.

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lesen: sei es im Sinne einer immer noch bevorstehenden Gesamtumwälzung der bürgerlichen Gesellschaft, sei es im Sinne eines sozialpolitischen Fortschritts, der sich mit Errungenschaften wie der demokratischen Staatsform oder der Einführung des Acht-Stunden-Tags verbindet. Stehen wir selbst dagegen in der Tradition der pietistischen Adventsbewegung, so lassen sich mit den großen Erwartungsschwellen des Kommens Christi nicht nur Aufschwünge der Frömmigkeitsbewegung, sondern auch konkrete sozialpolitische Fortschritte wie die Etablierung einer europäischen Friedensordnung in der Heiligen Allianz von 1815, die Einrichtung der Inneren Mission 1848 oder die Einführung der sozialen Marktwirtschaft nach dem Zweiten Weltkrieg verbinden. Was wir historisch als vergangene Zukunft ausmachen, hängt so wesentlich davon ab, wie wir diese auf unsere eigene Zeit und historische Situation beziehen. Zugleich eröffnet uns die Historische Zukunftsforschung aber auch die Chance, uns in reflektierte Distanz zur Vergangenheit zu setzen. Denn als vergangene Zukunft wird uns historisch nicht nur das greifbar, was später tatsächlich so eintrat wie vorausgesagt, sondern auch (und vor allem) das, was sich in der Folge dann nicht so realisiert hat, wie es erwartet wurde. Fern davon, diesen Überschuss vergangener Erwartungen über das tatsächliche Geschehen hinaus als pure Illusion und Utopie abzuwerten, dient er der Historischen Zukunftsforschung dazu, vergangene Ereignisse, Entscheidungen und Taten aus ihren eigenen zeitgenössischen Voraussetzungen zu verstehen und so einem teleologischen Hineinlesen späterer Ereignisse und Erfahrungen in die Motive vergangener Taten und Geschichtsbilder vorzubeugen.20 Ein erster, konzeptioneller Schritt zur Unterscheidung zwischen Vergangenheit und Gegenwart ist mit dem Hinweis auf den andersartigen Zukunftsbegriff, der den Erwartungshorizont der pietistischen Erweckungsbewegung im 18. und 19. Jahrhundert bestimmte, schon gemacht. Doch muss dieser Hinweis auch hinsichtlich seiner temporalen Struktur noch weiter ergänzt werden: Nicht von der Zukunft der historischen Entwicklung war hier die Rede, sondern von der durch biblische Weissagungen vorgezeichneten Zukunft des göttlichen Heilsplans. »Zukunft« bezeichnete für die pietistischen Frommen nicht wie für uns heute einen kommenden Zeitraum der Geschichte, sondern eine biblisch vorgezeichnete Ereignisabfolge. Was die Zukunft bringen würde, bestimmte sich für sie nicht wie in der modernen Geschichtsprognostik aus der Vergangenheit und Gegenwart, sondern vom Ende der Geschichte her. Zukunft bezeichnete für die Frommen nicht einen offenen Möglichkeitsraum des Menschen, sondern die eschatologischen Ereignisse, die auf ihn zukamen, sein Schicksal, seine Bestimmung. Doch daneben gab es eben auch schon den neuen Zukunftsbegriff in der grammatikalischen Form des Kollektivsingulars. Er hatte sich um die Mitte des 18. Jahrhunderts zusammen mit dem modernen Begriff der »Geschichte 20 Vgl. Lucian Hçlscher: Historische Zukunftsforschung. Zur Einführung in ein neues Forschungsfeld. In: Ders.: Semantik, 131 – 156.

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schlechthin« gebildet und bestimmte seither zunehmend die Methodik und das Weltbild der modernen Wissenschaften.21 Charakteristisch für diesen neuen Zukunftsbegriff war über die neue Bedeutung eines inhaltlich offenen geschichtlichen Zeitraums hinaus vor allem die enorme zeitliche Tiefe des Erwartungshorizonts: In den geschichtsphilosophischen Entwürfen von Lessing und Kant, Adam Smith und Condorcet erfasste er schon Tausende von Jahren, mit offener Tendenz nach vorne.22 Wie in die Vergangenheit, so konnten die Geschichtsphilosophen der Aufklärung auch in die Zukunft hinein für die Geschichte keine prinzipiellen Grenzen mehr anerkennen. Erst in den 1820er Jahren setzte allerdings im Zuge einer zweiten Welle historischer Zukunftserwartungen die lange Reihe prognostischer Detailentwürfe ein, welche das von den modernen Wissenschaften gezeichnete Zukunftsbild der europäischen Gesellschaften nachhaltig prägte. An Condorcets ideenreichen Zukunftsentwurf von 1793/94 etwa konnten jetzt die Frühsozialisten Henri de Saint-Simon und Charles Fourier mit ihren detaillierten Zukunftsentwürfen einer industriellen Gesellschaft anknüpfen. In Deutschland sagte J. W. Schmitz 1829 mit der Verbesserung der Verkehrsmittel eine zunehmende Vereinigung der Völker zu Großstaaten, schließlich sogar zu einer Universalrepublik, auch die zunehmende Einebnung kultureller Unterschiede zwischen den Völkern und die Abnahme von Kriegen in Folge des zunehmenden Zerstörungspotentials von Kriegsmaschinen voraus. Bei seinen Prognosen stützte sich Schmitz in Anlehnung an die neue, aus Frankreich kommende mathematische Methode streng empirisch auf historische Reihen von Ereignissen: »Statt uns auf die Begebenheiten unserer Zeit zu beschränken […] müssen wir die Vergangenheit, das Gegenwärtige und die Zukunft zusammenknüpfen, um nicht bloß zu erkennen, wie der Strom von seiner Quelle bis zu uns gekommen ist, sondern auch, welchem Laufe er von uns bis zum Meere folgen wird.«23

Dieselbe Technik der statistischen Hochrechnung benutzte und verbesserte zur selben Zeit auch der belgische Mathematiker Adolphe Qu¦telet zur Konstruktion eines »homme moyen«, eines »mittleren Menschen«, dessen Verhalten sich seiner Überzeugung nach auch in seiner Veränderung über die Zeit hinweg voraussagen ließ.24 21 Vgl. Lucian Hçlscher: Die Entdeckung der Zukunft. Frankfurt 1999, 38 ff. 22 Ebd., 49 ff. 23 J. W. Schmitz: Theorie der Politik oder Untersuchung der zukünftigen Verhältnisse der Staaten des alten Continents. Berlin 1829, VI f. Weitgehend dieselben Zukunftsvorstellungen entwickelte zur selben Zeit auch der Nationalökonom Friedrich List, bereicherte sie allerdings zugleich um eine politische Strategie des wirtschaftlichen Aufholens in derzeit zurückliegenden Ländern wie Deutschland. Vgl. Friedrich List, Die Theorie des Nationalen Systems der Politischen Ökonomie. Stuttgart 1877. 24 Adolphe Qu¦telet: Sur l’homme et le d¦veloppement de ses facult¦s, ou essai de physique sociale. Paris 1835.

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Die Revolution von 1830 brachte dann auch in der politischen Prognostik den Durchbruch: Die neue Macht der breiten Mittelschichten ließ zeitgenössische Beobachter in Frankreich schon Mitte der 1830er Jahre prophezeien, dass sich Europa insgesamt auf die Demokratie zu bewege.25 Spätestens die Pariser Revolution von 1871 wurde von ihren Anhängern nur noch als Station auf dem langen Weg zur Demokratie verbucht. Die historische Prognostik war zwar immer noch geschichtsphilosophisch auf langfristige Ziele der Geschichte hin ausgerichtet, aber in ihren empirischen Ereignisreihen beschränkten sich diese doch auf die kommenden Jahrzehnte. Mit dem 20. Jahrhundert beschäftigten sich die politischen und sozialen Zukunftsentwürfe erst seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts im Zuge einer dritten Welle historischer Zukunftsentwürfe. Qualitativ öffneten sie sich aber schon im Vormärz weiten Bereichen des sozialen Lebens: So entstanden etwa Prognosen über das moralische Verhalten der Menschen, über die künftigen Tendenzen der Architektur und der künftigen Formen des sozialen Zusammenlebens, über die gesellschaftliche Stellung der Frauen und die Zukunft der Arbeitsbeziehungen usw.26 Auch auf die theologischen Debatten wirkte die Entdeckung der Zukunft als Dimension menschlicher Existenz zurück. Die Zukunftsrevolution in der Theologie verbindet sich in Deutschland in erster Linie mit dem Namen Ludwig Feuerbachs. Schon 1830 hatte Ludwig Feuerbach in seiner Skandalschrift »Gedanken über Tod und Unsterblichkeit«, die ihm die theologische Laufbahn an den Universitäten verschloss, die orthodoxe Lehre vom Leben nach dem Tode verworfen. 1841 kritisierte er dann noch grundsätzlicher am Christentum, mit dessen Glauben an die »Existenz Gottes im Fleisch sei der Lebensfaden der Geschichte abgeschnitten, kein andrer Gedanke der Zukunft übrig […] als der Gedanke an eine Repetition, an die Wiederkunft des Herrn […] Wer die Unsterblichkeit in sich setzt, hebt das geschichtliche Entwicklungsprinzip auf. Die Christen warten zwar nach Petrus einer neuen Erde und eines neuen Himmels. Aber mit dieser christlichen Erde ist nun auch das Theater der Geschichte für immer geschlossen, das Ende der wirklichen Welt gekommen.«27

Seither galt das Konzept der geschichtlichen Zukunft in der religionskritischen Presse als der wirkliche Ersatz für das Phantom eines transzendenten Jenseits. Allerdings zehrte auch dieses neue Konzept einer geschichtlichen Zukunft von einem religiösen Substrat: dem Glauben nämlich an die Einheit und Kontinuität der geschichtlichen Entwicklung. Erst im 20. Jahrhundert, vor allem 25 Vgl. Francois-Ren¦ de Chateaubriand: L’avenir du monde, fragment politique. In: Revue des deux mondes. Bd. 2, 1834, 232; Alexis de Tocqueville: De la d¦mocratie en Am¦rique (1835), dt.: Die Demokratie in Amerika, hg. v. Friedrich August von der Heydte. Regensburg 1955, 56, 64. 26 Vgl. Hçlscher, Zukunft, 93 ff. 27 Ludwig Feuerbach: Das Wesen des Christentums. Leipzig 1841, 413 f.

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nach dem Ersten Weltkrieg, wurde dieser Glaube nachhaltig erschüttert. Wir können uns heute nicht mehr sicher sein, dass wir am Ende einer geschichtlichen Entwicklung stehen, die vor Jahrhunderten oder gar Jahrtausenden begonnen hat; dass wir diejenigen sind, die vergangene Generationen vor Augen hatten, wenn sie an die Zukunft dachten. Die Kontinuität der Geschichte ist im 20. Jahrhundert brüchig geworden, die vergangene Zukunft fällt nicht mehr mit unser eigenen Gegenwart, die vergangene Gegenwart nicht mehr mit unser eigenen Vergangenheit zusammen. Insofern mag unserem heutigen Geschichtskonzept vielleicht doch das religiöse Weltbild der Vormoderne näher stehen als das der fortschrittsgläubigen Moderne: In ihm war ein Betrachter, der aus dem Jahr 2013 auf die Zeit um 1830 zurückschaut, nämlich noch gar nicht vorgesehen. Er stand außerhalb des religiösen Zeithorizonts und nahm damit eine Position ein, die weder in der temporalen Logik der religiösen Naherwartung noch in der der säkularen Fernerwartung angelegt war.

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Geschichtsläufe und Lebensläufe

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Hans-Jürgen Schrader

Kanonische neue Heilige Sammelbiographien des Pietismus und der Erweckungsbewegung

1. In den zahllosen Sammlungen erbaulicher Lebensgeschichten, die in der Kernepoche des Pietismus, aber auch in den anknüpfenden Strömungen seit der Erweckungsbewegung Beispiele der unterschiedlichen Wege Gottes zu Bekehrung und Heiligung der Seelen und zur Führung in ein geheiligtes, vorbildliches Leben zusammenstellten, bleiben wahre Schätze auch an wissenschaftlicher Einsicht noch zu heben. Als Teil der kaum überschaubaren Flut des gemeinhin eher zu Herzensrührung, Zuspruch oder heilsamem Rat im Leben als zu Faktenaufschluss oder konziser theologischer Reflexion bestimmten Erbauungsschrifttums haben diese Sammlungen das Interesse der Forschung allenfalls peripher gefunden. So ist diese Literatur wie alles Erbauliche schon in ihrer Entstehungszeit in den wissenschaftlichen Bibliotheken kaum systematisch gesammelt worden. Wer sich heute nicht nur für Einzeltitel interessiert, muss alle diese Sammelwerke aus der Zerstreuung verschiedener Bibliotheken zusammensuchen. Oft lückenreich oder in Exemplaren, die aus mehreren Auflagen zusammengebunden sind, sind sie zumeist nicht durch gezielte Anschaffung, sondern erst aus privaten Buchnachlässen in die Schatzkammern der Wissenschaft gelangt. Digitalisiert ist erst ein recht kleiner Teil verfügbar. Viele dieser Sammlungen enthalten mustergültige Lebensgeschichten (Biographien bzw. Autobiographien) oder Seelenführungsberichte (Psychographien und Autopsychographien) aus der ganzen Geschichte der Christenheit, andere sind spezialisiert auf Glaubensvorbilder nur aus bestimmten Epochen (Altväter, Reformation, Neuzeit), nur aus bestimmten Ständen und Gruppen (Adlige, Geistliche, Malefikanten) oder Regionen (Sachsen, Schweiz). Andere beschränken sich allein auf fromme Männer oder nur auf Frauen, auf einzelne Konfessionen oder Gruppierungen (Katholiken, Protestanten, Inspirierte, Herrnhuter), berichten nur von bestimmten Lebensabschnitten, von Kindheit, Bekehrung und Anfechtungen oder aus der Nähe des Todes. Einige geben in signifikanten Anekdoten, Andachtsreflexionen, Brief-, Gedicht- oder GebetBekenntnissen bloße Momentaufnahmen aus einer christlichen Biographie. Angelegt sind sie als abgeschlossene Einzelbände oder von vornherein als Fortsetzungswerke, wenn nicht gar als fester Bestandteil in oft serienreichen Zeitschriften, die neben der Einladung zu frommer Besinnung und Praxis

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Hans-Jürgen Schrader

Nachrichten an die Hand geben wollten über den Aufbau und Fortgang des Gottesreichs auf Erden.

2. Einen ersten Gesamtüberblick über die Tradition dieser Sammlungen in Pietismus und Erweckungsbewegung habe ich schon vor drei Jahrzehnten zu geben versucht, als ich die 1698 von Johann Henrich Reitz begründete und von Nachfolgern bis 1745 (in Einzelbandnachdrucken bis 1753) fortgeführte Historie Der Wiedergebohrnen als explizites oder implizites Muster der meisten späteren Sammelwerke in kritischer Reprintedition der Erstdrucke und aller in den späteren Auflagen markant veränderten oder hinzugekommenen Teile wieder greifbar gemacht habe.1 Von den da als »die neue Gattung« zusammengestellten Sammelbiographien2 sind die frühesten, von namhaften Wegbereitern des Pietismus herausgegeben (oft übrigens aus dessen eher radikalem, konfessions- und kirchenkritischem Flügel), noch vergleichsweise bekannt geblieben und gelegentlich zitiert worden als Zeugnisse pietistischen Sprach- und Gedankenguts. Dazu gehören neben der 1 Johann Henrich Reitz: Historie Der Wiedergebohrnen. Vollständige Ausgabe der Erstdrucke aller sieben Teile der pietistischen Sammelbiographie (1698 – 1745) mit einem werkgeschichtlichen Anhang der Varianten und Ergänzungen aus den späteren Auflagen. Hg. von Hans-Jürgen Schrader. 4 Bd. Tübingen 1982 (Deutsche Neudrucke, Reihe Barock, 29/1 – 4). Im beschließenden 4. Bd.: Teil VII (1745) mit dem Register und dem werkgeschichtlich-editorischen Anhang zum Gesamtwerk ist zum Ende des Herausgeber-Nachworts (Abschn. VI: Editionsbericht. Zum Neudruck der »Historie Der Wiedergebohrnen«, 191*–203* die Publikationsgeschichte des Sammelwerks resümiert und sind alle im Anhang zusammengestellten Zusatzmaterialien aus den späteren Auflagen nachgewiesen. Die detaillierte Rekonstruktion der Werk- und Publikationsgeschichte, die Ermittlung der englischen independentistischen Quelle ihres I. Teils (Vavasor Powell: Spirituall Experiences, Of sundry Beleevers. 2. Aufl. London 1653, in Auszügen faksimiliert ebd., 85 – 113, mit der für Reitz vorbildgebenden ersten deutschen Adaption im Erbauungsbuch seines theologischen Lehrers Theodor Undereyck: Christi Braut Unter den Töchtern zu Laodicæa. 1. Aufl. Hanau 1670, vgl. ebd., 115 – 124) und die Identifikation der beiden postumen Herausgeber des VI. Teils (1730), Johann Samuel Carl, und des VII. Teils (1745), Johann Conrad Kanz, finden sich in der Monographie von Hans-Jìrgen Schrader : Literaturproduktion und Büchermarkt des radikalen Pietismus. Johann Henrich Reitz’ »Historie Der Wiedergebohrnen« und ihr geschichtlicher Kontext. Göttingen 1989 (Palaestra, 283), Kap. III, 74 – 106; ebd., 107 »Schematische Übersicht über die Werkgeschichte«. 2 Hans-Jìrgen Schrader: Nachwort des Herausgebers. In: Reitz: Historie Der Wiedergebohrnen (wie Anm. 1), 125*–203*, hier Kap. I: Die neue Gattung. Die »Historie Der Wiedergebohrnen« als Vorbild der pietistischen Sammelbiographien, 127*–153*. Sofern die nachfolgend aufgeführten Sammlungen dort genannt und beschrieben sind, verweise ich darauf in der Fußnote. Vgl. auch die bibliographischen Übersichten bei Ders.: Die Literatur des Pietismus – Pietistische Impulse zur Literaturgeschichte. In: Hartmut Lehmann (Hg.): Geschichte des Pietismus. Bd. 4: Glaubenswelt und Lebenswelten. Göttingen 2004, 386 –403, hier 396 –399. – Über die Verbreitung dieser Sammlungen in pietistischen Bibliotheken sind umfassend Nachweise gesammelt und diskutiert bei Schrader, Literaturproduktion (wie Anm. 1) und dort über das Register leicht nachschlagbar.

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Reitzschen Historie Der Wiedergebohrnen selbst Gottfried Arnolds Das Leben der Gläubigen, 1701 (zweite Auflage noch 1732),3 Gerhard Tersteegens (als Ergänzung zur Reitzschen Sammlung auf katholische Exempel konzentrierte) Außerlesene Lebens=Beschreibungen Heiliger Seelen von 1733 (bis 1786 in drei Auflagen verbreitet und zur Zeit der Erweckungsbewegung 1814/15 erneut in zwei Bänden bearbeitet von Johannes Evangelista Goßner)4 und eine regionale Folgeunternehmung der Reitzschen Sammlung, die in vier Teilen und mehreren Anhängen umfängliche Sammlung seit 1726 des Dresden-Lockwitzer Pfarrers 3 Die Sammlung (1. Aufl., Halle 1701: SUB Göttingen: an 88 Patr. Coll. 208/30) hat Arnold als Fortsetzung seiner früheren Neuausgabe von Georg Major: Vitae Patrum oder Leben der Altväter. Lübeck 1654 verstanden, die er über die dort vorgefundenen Exempel der urchristlichen Väter hinaus bis zu den Viten der mittelalterlichen Mystiker »biß auff die Zeiten der Reformation« fortgesetzt hatte: Gottfried Arnold: VITÆ PATRUM Oder Das Leben der Altväter und anderer Gottseeligen Personen Auffs Neue erläutert und vermehret. Halle 1700, 36 f und 42 (SUB Göttingen: 88 Patr. Coll. 208/30). Revidierte Neuausgabe von Johann Daniel Herrnschmid, Halle 1718, Neuauflage des Ursprungswerks Halle 1732 (BSB München: 48 V. SS. Coll. 9). – Über die Viten der »Altväter« nicht hinausgelangt ist trotz anfänglicher Fortsetzungspläne mit »Extracten von denen erbaulichsten Tahten u. Lehren wahrhaftig glaubiger Christen von allen Zeiten her« (Vorrede, gezeichnet T.E. vom 16. Jan. 1719, 3) die stark an Arnold angelehnte anonym von Tobias Eisler herausgegebene Sammlung »Merkwürdige und Erbauliche Exempel und Leben Rechtschaffener Taht=Christen / Denen heutigen Christen zur Bespiegelung und selbsteigenen Prüfung vor Augen gestellet«, vier Hefte, Büdingen 1719 – 1722 (Provinzialbibl. Amberg: V B 129). Vgl. auch die Sammlung des Altonaer Separatisten Johann Otto Glìsing: Der erste Tempel GOttes in Christo, darinnen das keusche Leben der I. H. Alt=Väter, II. H. Matronen und III. H. Märtyrer in der Ersten Kirchen abgebildet ist. [Hamburg] 1720; – Auf diese spezielle Tradition der Exempel aus der Frühzeit der Christenheit gehe ich hier nicht näher ein. Die Wirkung dieser altkirchlichen Biographien bleibt aber bis in die Goethezeit (besonders im »Werther«-Roman) nachhaltig, vgl. Hans-Jìrgen Schrader : Von Patriarchensehnsucht zur Passionsemphase. Bibelallusionen und spekulative Theologie in Goethes »Werther«. In: Johannes Anderegg/Anna Edith Kunz (Hg.): Goethe und die Bibel. Stuttgart 2005 (Arbeiten zur Geschichte und Wirkung der Bibel, 6), 57 – 88. 4 Die Erstausgabe umfasste zunächst nur die zwei ersten Bände: [Gerhard Tersteegen:] Außerlesene Lebens=Beschreibungen Heiliger Seelen / In welchen / nebst derselben merckwürdigen äussern Lebens=Historie hauptsächlich angemercket werden die IÇere Führungen GOttes über Sie / und die mannigfaltige Außtheilungen seiner Gnaden in Ihnen. Bd. 1. Frankfurt/Leipzig/Duisburg 1733; Bd. 2, ebd. 1735 (LB Coburg: Q IV 13/41). Bd. 3 kam erst 1753 hinzu, konnte so auch gleich die 2. Aufl. von 1755 (Stadtarchiv Solingen: KA 1577) komplettieren; 3. Aufl. Essen 1784 – 1786 (SB Braunschweig II 1/835). Zur Zeit der Erweckungsbewegung kamen noch zwei Auszüge heraus, anonym: Leben heiliger Seelen. Ein Auszug aus Gerhard Tersteegens Auserlesenen Lebensbeschreibungen heiliger Seelen. Basel/München 1811/12 (UB Basel: FD VI,41) und namentlich von Johannes Gossner: Leben heiliger Seelen. Ein Auszug aus Gerhard Tersteegens auserlesene Lebensbeschreibungen heiliger Seelen. 2 Bd. München 1814/15 (ZB Solothurn: E 2356). Erörtert bei Horst Weigelt: Die Allgäuer katholische Erweckungsbewegung. In: Ulrich Gäbler (Hg.): Der Pietismus im neunzehnten und zwanzigsten Jahrhundert (Geschichte des Pietismus, Bd. 3). Göttingen 2000, 85 – 111, hier 96 und 108. Noch gegen Ende des 19. Jahrhunderts gab es eine Neuausgabe, Johannes Biegler: Leben heiliger Seelen. Nach Tersteegen und Gossner Kindern Gottes dargeboten. Basel 1887 (UB Basel: Fq 12,119). Zur Sammlung vgl. Rudolf Mohr: Eigenart und Bedeutung von Tersteegens »Auserlesenen Lebensbeschreibungen heiliger Seelen«. In: Manfred Kock (Hg.): Gerhard Tersteegen – Evangelische Mystik inmitten der Aufklärung. Köln 1997 (Schriftenreihe des Vereins für Rheinische Kirchengeschichte, 126), 181 – 206.

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Christian Gerber: Historia derer Wiedergebohrnen in Sachsen von 1726– 1729 (drei Auflagen bis 1737).5 Hinzu kommen Spezialsammlungen mit Mustern erbaulichen Sterbens wie Erdmann Heinrich Graf Henckel: Die letzten Stunden einiger der Evangelischen Lehre zugethanen […] selig in dem Herrn Verstorbenen Personen, Halle 1720– 1733, solche mit Berichten über Kindererweckungen wie Johann Jacob Rambach: Erbauliches Handbüchlein für Kinder, seit 1734 (111750) und über zur Hinrichtung geführte bekehrte Arme Sünder wie Johann Jacob Mosers anonym edierte Sammlung Selige letzte Stunden Einiger dem zeitlichen Tode übergebener Missethäter (11740, 21742 – 45) oder Bezeugungen wundersamer Geistes- und Seelenheilungen durch die von der Hallenser Waisenhausapotheke schwunghaft vertriebene Panazee, Merckwürdige Exempel, Der Unter dem Seegen Gottes Durch die Essentiam dulcem geschehenen Curen schon von 1702.6 Von den Zeitschriften, die fromme Biographien und Glaubensanekdoten vorstellen, gibt es einige forscherliche Aufschlüsse über die früheste, das von Johann Samuel Carl, dem Herausgeber des VI. Teils der Historie Der Wiedergebohrnen, gegründete Organ der philadelphisch gesonnenen radikalen Pietisten, Geistliche Fama, mittheilend Einige Neuere Nachrichten von Göttlichen Erweckungen / Wegen / Führungen und Gerichten, das zwischen 1730 und 1744 (in drei Bänden) 44 Stücke erreichte7 und neuerdings, durch Rainer Lächele, über deren bekanntestes Gegenstück auf Seiten des kirchlichen Pietismus, Sammlung Auserlesener Materien zum Bau des Reichs Gottes (begründet von Traugott Immanuel Jerichow).8 Von dieser Zeitschrift erschienen zwischen 1731 und 1734 5 Nachweise zu allen diesen Sammlungen im Nachwort Schrader, Die neue Gattung (wie Anm. 2). Dass schon bei Gerber : Historia derer Wiedergebohrnen in Sachsen, Oder Exempel solcher Personen / mit denen sich im Leben oder im Tode viel merckwürdiges zugetragen. 4 Bd. und Anhänge. 1. Aufl. Dresden 1726 – 1730 (Fürstl. Hofbibl. Bad Berleburg: Me 6/22), 2. Aufl. Dresden 1732 (Teile in UB Freiburg: M 8264 und SUB Göttingen: 88 H. Sax. Reg. II,819), 3. Aufl. Greiz/ Vogtland 1737 (Teile in LB Stuttgart: Kirch G. 88 2524) wie in den meisten anknüpfenden Sammlungen die von Reitz mit großer Souveränität vollzogenen »Grenzüberschreitungen« der traditionellen weltlichen Sonderungen in Ständen, Geschlechtern, Konfessionen, Berühmten und Unberühmten oder Altersgruppen entschieden mutloser wieder zurückgenommen werden, betont in seiner ausführlichen Besprechung besonders Dietrich Blaufuss: Religions- und Geistesgeschichte des 17./18. Jahrhunderts. Die wissenschaftliche Neuausgabe der pietistischen Sammelbiographie von Johann Henrich Reitz: »Historie Der Wiedergebohrnen« Teil I bis VII 1698 bis 1745. In: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte 37 (1985), 344 – 350, hier 349. 6 Nachweise mit Standorten bei Schrader, Nachwort: Die neue Gattung (wie Anm. 2). Zu den wiederum serienreichen Nachfolgern dieser bahnbrechenden Spezialsammlungen bzw. Untergattungen s. u. 7 Winfried Zeller: Geschichtsverständnis und Zeitbewußtsein. Die »Geistliche Fama« als pietistische Zeitschrift. In: Pietismus und Neuzeit 2 (1975), 89 – 99; Schrader, Literaturproduktion (wie Anm. 1), 194 – 198, 209 f, 286 f, 473; Hans Schneider: Der radikale Pietismus im 18. Jahrhundert. In: Martin Brecht/Klaus Deppermann (Hg.): Der Pietismus im 18. Jahrhundert. Göttingen 1995 (Geschichte des Pietismus, Bd. 2), 107 – 197, hier 162 – 164: »Johann Samuel Carl und die Geistliche Fama«; Rainer L•chele: Die »Sammlung auserlesener Materien zum Bau des Reichs Gottes« zwischen 1730 und 1760. Erbauungszeitschriften als Kommunikationsmedium des Pietismus. Tübingen 2006 (Hallesche Forschungen, 18), 141 – 146. 8 L•chele, Die »Sammlung auserlesener Materien« (wie Anm. 7). In dieser Monographie, die die

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zunächst drei Bände mit 24 »Beyträgen« (Einzelheften). Es schlossen sich aber (in Lächeles Arbeit nur mehr teilweise erfasst) unterschiedliche Serien z. T. konkurrierender Weiterführungen und Nachahmungen an, die Fortgesetzte Sammlung Auserlesener Materien zum Bau des Reichs Gottes (als 25. bis 38. »Beytrag«, Fortsetzung bis Bd. 6), die Supplementa Der Auserlesenen Materien zum Bau des Reichs Gottes (in zwei Bänden, 16 Sammlungen, 1737 – 1740), die im selben Verlag konkurrierende Verbesserte Sammlung Auserlesener Materien zum Bau des Reichs Gottes (vier Bände in 32 Stücken, 1739 – 1742) und die Closter=Bergische Sammlung Nützlicher Materien zur Erbauung im Wahren Christenthum (fünf Bände, 40 Stücke, 1741 – 1761),9 schließlich kurzlebige, teilweise komplett nur mehr aus Bücherverzeichnissen rekonstruierbare Nachahmungsserien, von denen hier und da Einzelhefte erhalten geblieben sind, die Coburger Zeitschrift Steine und Kalck zum Bau Zions (1748– 1751 in zwei Bänden zu je acht »Zurichtungen«) oder die Weimarer Neue Sammlung zum Bau des Reichs Gottes von 1756 bzw. die vom Penziger Pfarrer Immanuel Gottlob Friedrich Helmershausen im selben Jahr herausgegebenen Sammlungen Fußstapfen der Schaafe JEsu in der Lehre, im Leben, im Leiden und Sterben, Oder neue Sammlung zum Bau des Reiches GOttes10 sowie Biographia Piorum das ist Lebens=Beschreibungen Und Letzte Stunden gottseeliger Personen.11

»Materien« als Paradigma des gesamten in der Kernphase des Pietismus entstandenen Zeitschriftenwesens erörtert, werden neben der detaillierten Untersuchung dieser Zeitschrift auch einige der anderen pietistischen Periodica kursorisch charakterisiert. Vgl. auch meine Zusammenstellung der Sammlungen, die schon im Titel die Funktion aufrufen, im Zusammentragen der Musterbiographien Baumaterialien für das Gottesreich bereitzustellen, Hans-Jìrgen Schrader: Propheten zur Rechten, Propheten zur Linken. Goethe im pietistischen Geleit. In: Wolfgang Breul-Kunkel und Lothar Vogel (Hg.): Rezeption und Reform. Festschrift für Hans Schneider. Darmstadt 2001 (Quellen und Studien zur hessischen Kirchengeschichte, 5), 361 – 377, hier 363. Zur Bedeutung des Leipziger Verlegers der »Materien«, Samuel Benjamin Walther, für den pietistischen Buchmarkt vgl. Schrader, Literaturproduktion (wie Anm. 1), Register, 634, speziell für den Vertrieb mystisch-quietistischer Schriften Ders.: Pietistisches Publizieren unter Heterodoxieverdacht. Der Zensurfall »Berleburger Bibel«. In: Herbert G. Göpfert/Erdmann Weyrauch (Hg.): »Unmoralisch an sich…«. Zensur im 18. und 19. Jh. Wiesbaden 1988 (Wolfenbütteler Schriften zur Geschichte des Buchwesens, 13), 61 – 88, hier 87 f; Ders.: Madame Guyon, Pietismus und deutschsprachige Literatur. In: Hartmut Lehmann/Hans-Jürgen Schrader/Heinz Schilling (Hg.): Jansenismus, Quietismus, Pietismus. Göttingen 2002 (Arbeiten zur Geschichte des Pietismus, 42), 189 – 225, hier 201 – 203. 9 Auch hierzu Angaben bei Schrader, Nachwort des Herausgebers: Die neue Gattung (wie Anm. 2). 10 In Ergänzung meiner Liste der ermittelten Sammlungen pietistischer Lebenszeugnisse im Nachwort zum Neudruck von Reitz, Historie Der Wiedergebohrnen (wie Anm. 1) nachgewiesen in der Rezension dieser Edition durch Reinhard Breymayer: Historie Der Wiedergebohrnen. In: Buchhandelsgeschichte. Aufsätze, Rezensionen und Berichte zur Geschichte des Buchwesens (Beilage zum Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel, Frankfurter Ausgabe, 41. Jg.). H. 4 (1986), B 150 – 153, hier B 152, Anm. 5. 11 Breymayer, Historie (wie Anm. 10), ebd.

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3. Schon für die vom Pietismus dominierte Epoche ist mit diesen Titeln aber erst ein Bruchteil der biographisch-psychographischen Sammlungen erfasst. Auch Friedrich Christoph Oetinger beispielsweise hat schon als junger Mann 1735 eine vergleichbare Sammlung vorgelegt, Die Unerforschlichen Wege der Herunterlassung Gottes, zumeist von Erweckungen in fernen Ländern, in Frankreich, Spanien oder unter den Indianern, doch auch mit eingestreuten heimischen Exempeln und einer Rechtfertigung außerkirchlicher Frömmigkeit,12 und bald darauf erschienen weitere unspezifizierte anonyme Publikationen, Erbauliche Nachrichten von göttlichen Führungen der Seelen, angeblich von Fürchtegott Thuerecht Weber und Ernst Gottlieb Woltersdorf (2 Bde. zu vier Heften, Lobenstein 1739 – 1741, Neuaufl. bei Frommann in Züllichau 1754 – 1775),13 1754 eine einbändige Sammlung erbaulicher Lebensgeschichte gottseliger Personen aus allerhand Ständen.14 In Analogie zu Reitz und Gerber (Wiedergeborene aus Sachsen) bringt der Pfarrer im Aargauischen Mandach, Johannes Meyer, Die grossen und seligen Thaten der Gnade, in der Historie einiger Wiedergebohrnen aus der Schweitz 1759 in einem Band15 heraus. Weitere Sammlungen »Auserlesener Exempel frommer Kinder«16 sowie ge12 [Friedrich Christoph Oetinger:] Die Unerforschlichen Wege der Herunterlassung Gottes, Leipzig 1735 (Bibl. des Pasteurs, Lausanne: TP 1044) mit außerhalb der unter eigene Überschriften gestellten Lebensläufe dem autobiographischen Gebet einer »lutherischen Jungfrau«, 254 – 256, einem Brief D. Camerers über göttliche Einsprachen, 254 – 258, einem brieflichen Selbstzeugnis Nicolaus Tschers (4. Stück [mit neuer Paginierung], 101 f) und einem Traktat »Schriftmäßige Erwegungs=Gründe vom Separatismo und Condescensu, oder von der Absonderung und tragsamen Herunterlassung«, ebd., 3 – 118. Angehängt sind noch (Bog. h5–i8, 24 Seiten) zwei Exempel, kompiliert aus Gottfried Arnolds Sammlung Vitæ Patrum (wie Anm. 3). 13 Bibliographische Zusatzinformation und Nachweis des 2. Stücks in der ULB Halle bei Breymayer, Historie Der Wiedergebohrnen (wie Anm. 10), B 152 (Anm. 6 und 7). 14 Sammlung erbaulicher Lebens=Geschichte gottseliger Personen aus allerhand Ständen […] Nebst einer Abhandlung des seligen Herrn D. Joh. Jac. Rambachs von den Pflichten eines Christen in Absicht auf gute Exempel. Berlin 1754 (LB Stuttgart: Theol. Oct. 15373). 15 Zürich 1759 (UB Bonn: GI 378). 16 Bibliographisch nachweisbar (aber kaum mehr komplett erreichbar) sind die Sammlungen »Lob Gottes im Munde der Jungen Kinder / Oder wahrhaffte Erzehlung was Gott der HErr in einigen kleinen Kindern […] bewürcket«. [Offenbach] 1699; Jacob Janneway : Geistliches Exempel=Buch für Kinder. Verteutschet von C.L.. Lübeck 1700, 2. Aufl. Lübeck 1702, 3. Teil, Leipzig 1732, Neuausg. Nürnberg 1738, weitere Ausgaben Nürnberg 1717, ebd. 1729 – 1731, ebd. 1735 und Tübingen 1732; Johann Jacob Rambach: Erbauliches Handbüchlein für Kinder (Leipzig 1734). 11. verm. u. corr. Ausg. Leipzig 1750; Daniel Bìttner : Christliches und Biblisches Exempelbüchlein für Kinder. Leipzig 1736, Neuaufl. ebd. 1759; Conrad Daniel Kleinknecht: Gute Exempel für die zarte Jugend; Das ist: Eine gantz neue Sammlung Auserlesener Exempel frommer Kinder. Augsburg 1743. Nähere Nachweise im Nachwort Schrader, Die neue Gattung (wie Anm. 2), 146*–148*. – Zu dem in diesen Sammlungen, deren kindliche Protagonisten häufig zu Lehrmeistern und Vorbildern für die Erwachsenen werden, sich spiegelnden Kult der Kindheit und zu dessen Übernahme und Neumotivierungen in der

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sammelter Thanatographien, also Berichte erbaulichen Sterbens, und letzter Reden17 bzw. Malefikantenbekehrungen (mehrere davon von Johann Jacob Moser)18 kommen schon in der Blütezeit des Pietismus hinzu. Zu dieser Gruppe gehört auch noch, mit nur drei Stücken, die vom Gießener Professor und Darmstädtischen Metropolitan Henrich Daniel Müller herausgebrachte Geschichte bekehrter Seelen […] besonders in ihren letzten Stunden von 1755 mit ihren »Nachrichten aus dem Reich Christi« (s. o.). Moser hat auch eine neue auf Nachrichten dieser Art gerichtete Zeitschrift begründet, von der 1733 – 1739 drei Bände in 24 Teilen herauskamen, Altes und Neues aus dem Reich Gottes […] Bestehende in glaubwürdigen Nachrichten von allerley merckwürdigen Führungen GOttes, sonderlich in dem Werck der Bekehrung, erbaulichen und erschröcklichen letzten Stunden, erwecklichen Lebens=Beschreibungen. Und ebenfalls auf 24 Teile wuchsen 1747 – 1760 die PastoralSammlungen jenes Frankfurter Pfarrers Johann Philipp Fresenius an,19 der Goethe getauft und seine Kinderjahre begleitet hat. Wie intensiv alle heute weithin nur mehr schwer greifbaren Serien (nur für die Reitzsche Historie ist durch die Neuedition der Zugriff auf die Originalausgaben Romantik vgl. (mit Hinweisen zur Forschung) Hans-Jìrgen Schrader : »Werd ein Kind!« im »Wunderhorn«. Pietistische Mitgiften an die Romantik. In: Wolfgang Breul/Marcus Meier/ Lothar Vogel (Hg.): Der radikale Pietismus. Perspektiven der Forschung. Göttingen 2010 (Arbeiten zur Geschichte des Pietismus, 55), 22012, 419 – 449, hier 435 – 449. 17 Zu nennen sind insbes. Erdmann Heinrich Graf Henckel: Die letzten Stunden einiger Der Evangelischen Lehre zugethanen […] selig in dem HERRN Verstorbenen Personen. Halle 1720 – 1733; Christoph Gottlieb Erdmann [Pseud. Für Johann Jacob Moser]: Die Erbaulichen Todes=Stunden vieler gottseeliger Personen. Tübingen 1730; Christoph Bìrkmann [Birkmann]: Bündlein der Lebendigen / worinn Dreisig Knechte und Kinder GOttes […] vor ihrem Ubergang aus der Zeit in die seelige Ewigkeit. Nürnberg 1748, 2. Aufl. Hildburghausen 1765; Heinrich Daniel Mìller : Geschichte bekehrter Seelen /und der göttlichen Führungen derselben besonders in ihren letzten Stunden, mit praktischen Anmerkungen. Marburg 1755 (LB Stuttgart: Theol 88 12 568). Nähere Nachweise im Nachwort Schrader, Die neue Gattung (wie Anm. 2), 143*–145*; für die (schon auf vorpietistische Tradition zurückgehenden) Sammelthanatographien vgl. ebd., 135*f (mit ergänzendem Nachweis für Martin Mylius: Sterbenßkunst / Gefasset in Schöne außerlesene Exempel / etlicher frommer Christen. Görlitz 1593 bei Breymayer, Historie [wie Anm. 10], B 152 mit Anm. 4). 18 Im Nachwort Schrader, Die neue Gattung, ebd., 145*f sind vorgestellt [Johann Jacob Moser:] Selige Letzte Stunden Einiger dem zeitlichen Tode übergebener Missethäter. Ebersdorf 1740. 2. Aufl. Jena 1742, Fortsetzung Leipzig 1745; Johann Adam Brehmens Geistliche Betrachtungen und Reden bey zum Tode verurteilten Maleficanten. Jena 1752 und Ernst Gottlieb Woltersdorf: Der Schächer am Kreutz – Das ist, Vollständige Nachrichten von der Bekehrung und seligem Ende hingerichteter Missethäter [1753 – 1755]. 2. Aufl. 2 Bd. Bautzen/ Görlitz 1761 und 1766. Von zwei Exempeln dieser Sammlung (Christian Friedrich Ritter und Anna Martha Hungerland) liegt neuerdings eine kommentierte Neuedition vor mit wertvollen Hinweisen zu dieser speziellen Untergattung von Manfred Jakubowski-Tiessen (Hg.): Bekehrung unterm Galgen. Malefikantenberichte. Leipzig 2011 (Edition Pietismustexte EPT, 3), Nachweise 163 f, Nachwort, 143 – 154. Dazu neuerdings Jakubowski-Tiessen: Bekehrung unterm Galgen. Diskurse über religiöse Praktiken im 18. Jahrhundert. Göttingen 2012 (Bursfelder Universitätsreden, H. 30 (23 S.)). 19 Nachweise auch dieser Zeitschriften im Nachwort Schrader, Die neue Gattung (wie Anm. 2).

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entbehrlich geworden) in ihrer Zeit namentlich von pietistischen Frommen und Gelehrten abonniert, gesammelt und genutzt wurden, habe ich in der Auswertung zahlloser Buchnachlass- und Aktionszeugnisse nachweisen können.20

4. Vollends schwer überschaubar aber wird die Masse der gesammelt publizierten Lebens- und Glaubenszeugnisse, wenn man über die Epoche, in der der Pietismus seine größte geistige und gesellschaftliche Breitenwirkung entfalten konnte, hinausblickt auf die Sammlungen und Periodica aus der Zeit des Spätpietismus und der beginnenden Christentumsgesellschaft im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts, auf die parallel zur Romantik kulminierende Erweckungsbewegung und deren Nachfolgetraditionen bis in den Neupietismus. Die wichtigste Sammelbiographie aus der Epoche des Spätpietismus, mit allen epochentypischen Amalgamierungen von pietistischen, aufklärerischen und philanthropischen Tendenzen, waren die in sechs Bänden (»Sammlungen«) 1776 – 179021 erscheinenden und mehrfach nachgedruckten Nachrichten von dem Leben und Ende gutgesinnter Menschen mit praktischen Anmerkungen des aus Schleswig stammenden, als Domprediger in Braunschweig wirkenden Jakob Friedrich Feddersen. Dieser fruchtbare Erbauungsschriftsteller, auch Kirchenlieddichter und Sittenlehrer, hat 1777 – 1779 auch eine dreibändige Neubearbeitung der Vier Bücher von wahrem Christentum von Johann Arndt vorgelegt. In der Biographiensammlung wird explizit auf das Gattungsvorbild der Reitzschen Historie Der Wiedergebohrnen rekurriert und (am Ende des Zweiten Teils, S. 385 – 416) eine ganze Serie »Auszüge aus J.H. Reitzens Historie der Wiedergebohrnen«, überwiegend aus dem Ersten Teil mit puritanisch-independentistischen Exempeln, aufgenommen. Auf die Tendenzen der Bearbeitung in dieser Phase einer aufgeklärt-pietistischen Mischtheologie komme ich später zu sprechen. Von der Erstausgabe dieser Nachrichten Feddersens kam mit Verlagsort Speyer und Druckort Worms eine auf 1780 vordatierte, stark bearbeitete und verbilligte zweibändige Raubdruckauswahl durch eine »Gesellschaft der Menschenfreunde« heraus, die sich sogar eines vom Fürsten Colloredo ausgestellten kaiserlichen Privilegi20 Schrader, Literaturproduktion und Büchermarkt (wie Anm. 1), Kap. »Besitznachweise in den Verzeichnissen privater Bibliotheken«, 268 – 280, 491 – 501. 21 Jakob Friedrich Feddersen: Nachrichten von dem Leben und Ende gutgesinnter Menschen mit praktischen Anmerkungen. Die Erstauflage, Stettin und Halle, Bd. 1, 1776, Bd. 2, 1778, Bd. 3, 1781, Bd. 4: 1784, Bd. 5: 1785 und Bd. 6: 1790, hg. v. Friedrich Wilhelm Wolfrath, ist nachgewiesen in der SB Berlin: Pb 1163. Vom 1. Bd. erschien Halle 1779 eine »Zweyte und verbesserte Auflage« mit von Feddersen unterzeichneter Widmung an Abt Joh. Friedr. Wilh. Jerusalem und den braunschweigischen Staatsrat Otto Friedrich Müller »Braunschweig den 27ten des Aprils 1778.« (Exemplar dieser 2. Aufl. SB Braunschweig: I, 46/644).

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ums Josephs II. rühmen konnte und in aufklärerischer Tendenz außer den Exempeln Philipp Jacob Speners (I, 277 – 291), des Grönland-Missionars Hans Egede und (im 2. Teil) dem irischen Independenten James Ussher (II, 340) alle Exempel der pietistischen Tradition herausließ.22 So war hier das Gewicht verschoben auf die in der Originalausgabe mitlaufenden Biographien und Anekdoten von berühmten Leuten, die kaum als Pietisten oder deren Wegbereiter zu bezeichnen sind wie Philipp Melanchthon (I, 185 – 211), Gerlach Adolf von Münchhausen (I, 103 – 109), der die dänische Staatskirche zur Aufklärung umwendende König Friedrich V. (I, 163 – 176),23 die empfindsamen Dichter Christian Fürchtegott Gellert (I, 3 – 35) und Friedrich von Hagedorn (I, 225 – 229) sowie der auch noch von Goethe und seinem Herzog angestaunte philosophische Bauer »Jakob Gujer, von Wormetschweil, in dem Kanton Zürich; – auch Kleinjogg genannt« (II, 8 – 37), der auch Lavater zu einem physiognomischen Hymnus hingerissen hatte.24 Feddersen selbst hat in seiner Vorrede (S. VIII) zur zweiten verbesserten Auflage (nur des 1. Bandes, Halle 1779) auf die Mängel des unautorisierten Speyerer Raubdrucks hingewiesen, sei es, dass er schon vor dessen Drucklegung davon gehört hatte, sei es, dass dieser in der Jahreszahl vordatiert war. Interessant ist immerhin, dass eine genuin pietistische Gattung, von der man mit dem eingetretenen Bedeutungsverlust des Pietismus und der fortschreitenden Säkularisation in der Phase der breitenwirksamen Durchsetzung der Aufklärung annehmen könnte, sie sei obsolet geworden, Nachfrage genug versprach,

22 Jakob Friedrich Feddersen: Nachrichten von dem Leben und Ende gutgesinnter Menschen. Speyer. In Verlage der Gesellschaft. Bd. 1 [1780], »Privilegium« im Vorsatz)(2r–)(3r ; Vorrede mit Rechtfertigung der Übernahme des Buchs in »einem anscheinenden Nachdrucke«, mit dem Hinweis auf Verbesserungen gegenüber dem »etwas unkorrekten und nachlässigen Ausdruck des Herrn Verfassers« sowie der Datierung »Speier, den Iten März 1780«, »Die Gesellschaft« ebd., I – VIII. Dass. Zweyter Band – Mit allerhöchster Kaiserlichen Freiheit. Speier Im Verlag der Gesellschaft. 1780 (UB Basel: R.i. II.5). 23 Als Nachfolger des pietistischen Dänen-Königs Christian VI. führte er einen radikalen kirchenpolitischen Wechsel hin zur Aufklärung durch. Dass damit aber nicht nur für die Pietisten, sondern ebenso für die Juden im Staate herbe Einschränkungen ihrer Autonomie und Gemeinschaftsrechte verbunden waren, zeigt das spektakuläre Beispiel des mehrfach umbestatteten philosemitischen Spiritualisten Jens Pedersen Gedeløkke. Zu diesem Geschichtsexempel für die Begrenztheit der Toleranz auch in aufgeklärten Zeiten und zu seiner Umwandlung in eine burleske Novelle des 19. Jh., das weltanschaulich-religiösem Eifern keinen Kredit mehr einräumte, vgl. Hans-Jìrgen Schrader : »Gedelöcke«. Der christlich-jüdische Skandalfall von 1729 in Wilhelm Raabes Novellentransposition. In: Integration und Ausgrenzung. Studien zur deutsch-jüdischen Literatur- und Kulturgeschichte von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart. Festschrift für Hans Otto Horch. Tübingen 2009, 87 – 113. 24 Carl Otto Conradi: Goethe. Leben und Werk. Bd. 1. Frankfurt 1987, 266 f, 384; Christoph Siegrist: Schweiz. In: Bernd Witte [u.a.] (Hg.): Goethe Handbuch, 4/2. Stuttgart/Weimar 22004, 968 – 972, hier 969. Porträt von Heinrich Lips und übersteigerte Charakteristik bei Johann Caspar Lavater : Physiognomische Fragmente zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe, 1. Leipzig/Winterthur 1775, Reprint Leipzig 1968, 234 – 238 (17. Fragment, Kap. Kleinjogg).

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um einen konkurrierenden Raubdruck hervorzurufen, und dass sogar ideologisch verschiedenartige Tendenzen der Volksliteratur um sie wetteiferten. Eine in der Auswahl der Exempel ganz vergleichbare Sammlung erbaulicher Anekdoten, also kürzerer Momentaufnahmen aus dem Glaubensleben (von Johann Hus bis zu Albrecht von Haller und Christian Fürchtegott Gellert) hat der Pastor aus Tischendorf im Vogtland, Georg Friedrich Kirsch, in fünf Bänden 1780 – 83 unter dem Titel Anekdoten für Christen herausgebracht.25

5. Unter den Vorboten und dann namentlich während der stürmischen Ausbreitung der Erweckungsbewegung nehmen dagegen die deutlich pietistischen Züge in den Biographienauswahlen, in Leitbildern und Argumenten, aber auch in den Sprachformeln und Begriffen einer neuen Welle von in erbaulichen Sammlungen zusammengetragenen »Anekdoten, Lebensbeschreibungen, Bekehrungsgeschichten, und Umkehrungsgeschichten«26 markant wieder zu. Zwischen 1800 und 1805, schon bald nach dem Ende der Feddersen-Sammlung, bringt der aus dem Isenburgischen stammende und zum Freundeskreis Jung-Stillings gehörende Johann Ludwig Ewald seine auf die Sammlung solcher Materialien ausgerichtete Christliche Monatschrift, zur Stärkung und Belebung des christlichen Sinns heraus und adressiert sie ebenso wie an Herrnhuter, Mennoniten und Mystiker an »ernste und liebevolle Pietisten, die für sich ringen, um einzugehen durch die enge Pforte, sich aber nicht anmassen, über den Ernst und die Frömmigkeit derer zu urtheilen, die einen andern Weg gehen, eine andre Sprache führen, als sie«. Denn geeint seien sie alle im Streben nach der Erfahrung, »was gänzliche Aenderung des Sinnes, innere Wiedergeburt ist«.27 Johann Caspar Lavater, der auch im beinahe den gesamten pietistisch geprägten gräflich-fürstlichen Adel West25 Georg Friedrich Kirsch: Anekdoten für Christen, auch für solche, die es nicht sind. 5 Bd. Leipzig 1780 – 83, Expl. der BSB München auch als Google-Book elektronisch und bei NabuPress 2011 als Book on demand verfügbar. 26 So die programmatische Einleitung zum ersten Stück von Johann Ludwig Ewald (Hg.): Christliche Monatsschrift, zur Stärkung und Belebung des christlichen Sinns, 1. Jahrgang, Stück 1 – 4, Nürnberg, im Verlag der Raw’schen Buchhandlung 1800 (UB Tübingen: Gi 1317a), 4. Für die späteren Jahrgänge, aber auch die eher auf erbauliche Anekdoten und Aufmunterungen für alle Tage gerichteten Periodica, die Ewald in der Folge an die Stelle der Lebensvorbilder setzt, vgl. das Werkverzeichnis bei Hans-Martin Kirn: Deutsche Spätaufklärung und Pietismus. Ihr Verhältnis im Rahmen kirchlich-bürgerlicher Reform bei Johann Ludwig Ewald (1748 – 1822). Göttingen1998 (Arbeiten zur Geschichte des Pietismus, 34), 553. In der auf Ewalds Lebensgang und Theologie fokussierten Abhandlung wird ein näherer Aufschluss der Monatsschrift und ihrer Nachfolger nicht gegeben. Vgl. auch den Artikel von Karl Dienst: Johann Ludwig Ewald. In: RGG4. Bd. 2. Tübingen 1999, Sp. 1759. 27 Ewald, Christliche Monatschrift (wie Anm. 26), 2.

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deutschlands umfassenden Subskribentenverzeichnis als Bezieher der Zeitschrift genannt ist, hat dazu Beiträge geliefert.28 Von den zwei ersten Heften erscheint sogar eine niederländische Übersetzung, Christelijk tijdschrift tot opwecking en sterking van den christelijken zin.29 Zur Zeit der Erweckungsbewegung brachte der den Herrnhutern nahestehende Gottlob Friedrich Hillmer dreißig Jahre lang (1806 – 1836) ein Nachfolgeperiodikum, Christliche Zeitschrift für Christen, heraus, das kurz nach seinem Tod erlosch.30 Auf die Ewaldsche »Monatschrift« ebenso wie auf die große pietistische Tradition der Sammelbiographien bezieht sich das für die Exempelsammlungen der Erweckungsbewegung initiale Serienunternehmen, mit der der vormals romantisch-humoristische Schriftsteller, Freund Jean Pauls, Diplomat und Orientalistikprofessor Johann Arnold Kanne,31 der nach einem während der Befreiungskriege erfahrenen Bekehrungserlebnis nur mehr religiöse und erbauliche Schriften verfasst hat, seit 1815 an die Öffentlichkeit getreten ist. In Ergänzung einer ersten, eher auf kürzere, anekdotische Berichte ausgerichteten dreiteiligen Serie Sammlung wahrer und erwecklicher Geschichten aus dem Reiche Christi, und für dasselbe, Nürnberg 1815 – 1822, die 1836 nochmals in Neuauflage erschien,32 publizierte Kanne 1816/17 wieder in drei Teilen in Bamberg eine Sammelbiographie umfassenderer Lebenszeugnisse, die er großenteils aus den alten Sammlungen des Pietismus schöpfte und legendarisch-amplifizierend bearbeitete, in zweiter seitenidentischer Auflage Leipzig 1842. Dem ersten Teil hat er seinen eigenen religiösen Erfahrungsbericht angeschlossen: Leben und aus dem Leben merkwürdiger 28 Subskribenten-Verzeichnis in: Ewald, Christliche Monatschrift, 154. Lavater-Beitrag z. B. im Dritten Stück, 188 – 192, mit einem Neujahrsgedicht zur Epochenschwelle: »Zürich am Ende des achtzehnten Jahrhunderts oder die Hoffnung am Neujahrstage 1800.« 29 Kirn, Deutsche Spätaufklärung und Pietismus (wie Anm. 26), Ewald-Werkverzeichnis, 553. Vgl. die Charakterisierung dieser Zeitschrift, mit Ausblick auf die anderen Erbauungsperiodica zwischen Spätpietismus und Erweckungsbewegung wie Lavaters »Monat-Schrift für Ungelehrte« 1794/95; Pfenningers »Christliches Magazin«, 4 Bd., 1779 – 1781; fortgesetzt durch seine »Sammlungen zu einem Christlichen Magazin«, 4 Bd., 1781 – 1783; Jung-Stillings »Der graue Mann. Eine Volksschrift«, 4 Bd., 42 Stücke, 1795 – 1833, komm. Neudruck, hg. v. Erich Mertens und Martin Völkel, Nordhausen 2009; Ewalds eigene »Zeitschrift zur Nährung des christlichen Sinns« (1815 – 1819) oder noch Hillmers »Christliche Zeitschrift für Christen« (s. u.) ebd., 544 – 551. 30 Dazu bei Kirn, Deutsche Spätaufklärung und Pietismus (wie Anm. 26), 116 f, 549. 31 Artikel von Wilhelm Fìssl: Johann Arnold Kanne. In: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon. Hg. v. Traugott Bautz. Bd. 3. Herzberg 1992, 1017 – 1019. 32 Kanne: Sammlung wahrer und erwecklicher Geschichten. 3 Teile. Nürnberg 1815, 1817, 1822 (LB Stuttgart: Kirch.G.oct. 3721). Vgl. dazu neuerdings im Überblick über die Sammelbiographien der Erweckungsbewegung Jan Carsten Schnurr : Weltreiche und Wahrheitszeugen. Geschichtsbilder der protestantischen Erweckungsbewegung in Deutschland 1815 – 1848. Göttingen 2011 (Arbeiten zur Geschichte des Pietismus, 57), 112 f. Spezifisch zu Kannes Sammelbiographien auch Martin Hirzel: Lebensgeschichte als Verkündigung. Johann Heinrich Jung-Stilling – Ami Bost – Johann Arnold Kanne. Göttingen 1998 (Arbeiten zur Geschichte des Pietismus, 33), 153 – 202.

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und erweckter Christen aus der protestantischen Kirche.33 Insofern sich die Aufteilung des Gesammelten auf unterschiedliche Serien als unpraktikabel erwies, führte er mit der typischen Tendenz der Sammelbiographien zur Serienbildung 1824 beide Unternehmungen, also »Biographien und einzelne christliche Anekdoten zugleich«,34 gemeinsam weiter unter dem Monstertitel: Fortsetzung der zwei Schriften: Leben und aus dem Leben merkwürdiger und erweckter Christen aus der protestantischen Kirche, und Sammlung wahrer und erwecklicher Geschichten aus dem Reiche Christi und für dasselbe. Viel noch Ungedrucktes enthaltend. In der Vorrede zu Leben und aus dem Leben kennzeichnet Kanne den frömmigkeitlichen Renouveau, der im Gefolge der romantischen Transzendenzerfahrung und der antinapoleonischen Befreiungskriege mit dem Aufschwung nationaler Emphasen und zunehmend ständisch-konservativer Gesinnung Hand in Hand ging. Die Anlage erwecklich-erbaulicher »Beyspielsammlungen« scheint ihm erfordert »besonders in unserer Zeit, wo das Reich Christi augenscheinlich wieder zu wachsen beginnt«.35 Zugleich aber greift er dabei in scharfer Abgrenzung gegen die Aufklärungstheologie der »Neologen«, denen der Heiland bestenfalls ein achtungswürdiger Sittenlehrer sei, in direkter Anknüpfung auf die pietistische Tradition des frühen 18. Jahrhunderts zurück: »Anders hätte ich diese Biographien auch, wie Reitz und Gerber, Leben der Wiedergebornen nennen können. Die Wiedergeburt eben ist jenes große über alles andere Große erhabene Wunder, das Christus an der Seele verrichtet, so groß, daß es Engel gelüsten könnte, gefallen zu seyn, um, durch den Erlöser wiedergeboren, wieder aufzustehen von ihrem Falle, denn viel herrlicher ist das wiedergewonnene, als das noch nicht verlorene Paradies.«36

Wie sich dabei die Diktion gegenüber der nachbarocken Kanaanssprache der altehrwürdigen Vorbilder, die in der Sammlung fleißig ausgeschrieben werden, romantisiert hat, wird allein an dieser Textprobe schon hörbar. Wie entschieden in dieser Zeit die alten wie die neuen Beispielsammlungen noch einmal Gegenstand der intensiven Auseinandersetzung auch junger Intellektueller mit eher philosophisch-psychologischen als religiösen Motivationen geworden ist, zeigt die Aufzeichnung des zwanzigjährigen Arthur 33 Kanne: Leben und aus dem Leben merkwürdiger und erweckter Christen aus der protestantischen Kirche. 1. Teil. Bamberg/Leipzig 1816 (StUB Göttingen: 88 H.E.U. 452/54; UB Basel: Steff 2838); »Zweite Ausgabe« Leipzig 1842 (UB Basel: Wack 2062). Hier in der Erstauflage, Teil I, 43, die Referenz auf Ewalds »Christliche Monatschrift« bei Übernahme der dort anonym berichteten »Gebethserhörung« der Detmolder Rätin Kellner (Ewald, Monatschrift, wie Anm. 26, Jg. 1800, 2. Stück, 145 – 151). Von Kannes Autobiographie gibt es (mit einem Anhang anderer Selbstzeugnisse) einen modernen Nachdruck, Johann Arnold Kanne: Aus meinem Leben. Wien 1994. 34 Kanne: Fortsetzung der zwei Schriften. Frankfurt a. M. 1842 (HAB Wolfenbüttel: Th. 1393), Vorrede, III. 35 Kanne, Leben und aus dem Leben (wie Anm. 33), 1. Teil, X. 36 Ebd., XI.

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Schopenhauer als Erstsemesterstudent der Philosophie an der Göttinger Georgia Augusta, wo er als Belege für die menschliche Disposition zum »Aufgeben des Willens zum Leben« verweist auf »die Lebensbeschreibungen derjenigen Personen welche bald heilige Seelen, bald Pietisten, Quietisten, fromme Schwärmer u.s.w. genannt sind, und deren Biographien zu verschiedenen Zeiten einzeln erschienen, auch gesammelt sind, z. B. in Tersteegens Leben heiliger Seelen, Reiz Gesch[ichte] der Wiedergebornen, neuerlich von Kanne in einer Sammlung die unter manchem sehr Schlechten doch einiges Gute enthält z. B. das Leben der Beata Sturmin; man lese besonders das Leben der Frau von Guion […].«37

Romantisch-naturphilosophischer Geist, zugleich ein ebensolcher Rückgriff auf die überlieferten Muster des Pietismus bestimmt auch die andere Sammelbiographie der frühen Erweckungsbewegung, die, wie die häufigen gegenseitigen Verweise aufeinander zeigen, in enger Abstimmung mit Kannes Sammelbemühungen stand,38 Gotthilf Heinrich Schuberts seit 1817 erscheinende Sammlung Altes und Neues aus dem Gebiet der innren Seelenkunde,39 die bis 1859 auf sieben Bände anwuchs und deren erste Teile seit 1825 eine zweite Auflage erfuhren. 1847 – 1850 hat ihnen derselbe Herausgeber auch noch eine vierbändige Serie Biographien und Erzählungen zur Seite gestellt. Schubert, der Verfasser der für das naturspekulative Transzendenzdenken der Hoch- und Spätromantik grundlegenden Ansichten von der Nachtseite der Naturwissenschaft (1808), der in seinen Privatvorlesungen etwa auch Kleist mit den für sein Spätwerk fundamental bedeutsamen Phänomenen des »tierischen Magnetismus« bekannt gemacht hat,40 hat nicht nur in seinen Sam37 Arthur Schopenhauer : Manuskripte 1817 (Bogen 15,2 – 6). Zitiert nach der kritischen Ausgabe, Schopenhauer: Der handschriftliche Nachlaß, 1: Frühe Manuskripte (1804 – 1818). Hg. v. Arthur Hübscher. Frankfurt a.M. 1966, 475 f. Ganz ähnlich dann auch übernommen in Schopenhauer : Die Welt als Wille und Vorstellung. 3. verb. und beträchtlich verm. Aufl. [Ausgabe letzter Hand]. Bd. 1. Leipzig 1859, 454. – Erörterung und Nachweise bei Schrader, Literaturproduktion (wie Anm. 1), 324 f, 518 und 535. 38 Zu Schubert und seiner Freundschaft und Kooperation mit Kanne vgl. die Hinweise (mit Lit.) bei Kirn, Deutsche Spätaufklärung und Pietismus (wie Anm. 26), 65 und 116 f. 39 7 Bd., Leipzig, dann Erlangen/Frankfurt 1817 – 1859, z. T. in 2. Aufl. Erlangen 1838 – 1841 (SUB Göttingen 88 Theol. Misc. 190/30). – Knapper Hinweis auch bei Schnurr, Weltreiche und Wahrheitszeugen (wie Anm. 32), 113. 40 Dazu einführend Hans-Jìrgen Schrader: Kleists Heilige oder die Gewalt der Sympathie. Abgerissene Traditionen magnetischer Korrespondenz. In: Ernst Leonardy [u.a.] (Hg.): Einflüsse des Mesmerismus auf die europäische Literatur des 19. Jahrhunderts. Brüssel 2001 (Publications des Facult¦s Universitaires Saint-Louis. Travaux et recherches, 45), 93– 117, leicht erweitert in Peter Ensberg/Hans-Jochen Martin (Hg.): Kleist-Bilder des 20. Jahrhunderts in Literatur, Wissenschaft und Kunst. Stuttgart 2003 (Stuttgarter Arbeiten zur Germanistik, 414), 69 – 90. Umfassendere grundlegende Recherche bei Katharine Weder: Kleists magnetische Poesie. Experimente des Mesmerismus. Göttingen 2008, 109 – 143 und Reg. (unter »Schubert«, 412); vgl. (auch zum Verhältnis Schuberts zu Kanne) Volker Roelcke: Kabbala und Medizin der Romantik. Gotthilf Heinrich Schubert. In: Eveline Goodmann-Thau/Gerd Mattenklott/Christoph Schulte (Hg.): Kabbala und Romantik. Tübingen 1994 (Conditio Judaica, 7), 119 – 142.

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melwerken wiederholt insbesondere auf Reitz Historie Der Wiedergebohrnen zurückgegriffen, vielmehr hat er schon 1814 in seiner für die psychoanalytische Traumforschung grundlegenden Abhandlung Die Symbolik des Traumes dieses Werk häufig als Beleg für psychologische Phänomene herangezogen.41 Das biographische Material, zuvor nur dargeboten als Muster frommer Lebensführung und Rüstzeug für die Seele, gewinnt so mehr und mehr auch die Funktion, Einsicht zu stiften in die Gesetzmäßigkeiten psychischer Prozesse. Im Überblick über Sammelbiographien der Erweckungsbewegung hat jüngst Jan Carsten Schnurr in seiner großen Monographie außer auf Kanne und Schubert auf einige ihnen zeitgenössische Sammlungen hingewiesen, darunter Christian Gottlob Barths Süddeutsche Originalien, die in vier Heften, Stuttgart 1828 – 1836,42 erstmals die »Schwabenväter« gesammelt vorstellte, und Georg Christian Knapps Leben und Charaktere einiger gelehrter und frommer Männer des vorigen Jahrhunderts, einbändig Halle 1829.43 Von 1833 – 1848 erschien, begründet von Johann Christian Friedrich Burk, die Erbauungszeitschrift Der Christen=Bote, in jedem Heft eröffnet mit einem »Christlichen Kalender«, in dem jeweils eines vorbildlichen Glaubenszeugen erinnert wurde, wobei im Ersten Heft Philipp Jacob Spener den Auftakt machte. 1848, gleichzeitig mit Kannes Fortsetzung, brachte in Erlangen Karl Alfred Gustav Ernst Glaser eine oft aus den alten Sammelbiographien gespeiste fast 800 Seiten starke Anekdotensammlung heraus: Erzählungen aus dem Reiche Gottes Zum Gebrauche bei dem Religionsunterrichte in Kirche, Schule und Haus.44 Aus der Erweckungsbewegung hervorgewachsen ist schließlich noch, angeregt und bevorwortet durch Friedrich August Gottreu Tholuck und »Herausgegeben von Freunden des Reiches Gottes« (Ernst Müller und A. Rische) die von 1844 – 1864 auf zehn Bände anwachsende Sonntags=Bibliothek. Lebensbeschreibungen christlich-frommer Männer zur Erweckung und Erbauung der Gemeine.45 Jeder der Bände setzt sich aus (normalerweise sechs) monographischen Einzelheften zusammen, die zusätzlich auch einzeln käuflich waren. Jedes Heft enthielt eine vom Autor namentlich gezeichnete umfängliche Biographie aus der Frömmigkeits- und Kirchengeschichte, von der Antike bis zur Gegenwart. Viele davon markieren auch hier den Übergang aus erbaulicher Vorbildfunktion zu wissenschaftlicher Faktenübermittlung. Noch über die Erweckungsbewegung hinaus hat die Tradition Nachfolger 41 G. H. Schubert: Die Symbolik des Traumes. Bamberg 1814; Faksimile-Neudruck mit Nachwort von Gerhard Sauder, Heidelberg 1968 (Deutsche Neudrucke, Reihe [4] Goethezeit, [9]). Die Nachweise der Reflexe auf die Reitzsche »Historie Der Wiedergebohrnen« bei Schrader, Literaturproduktion (wie Anm. 1), 510, vgl. ferner zu den Sammlungen Schuberts und Kannes ebd., 305. 42 Vgl. (mit Lit.) Schnurr, Weltreiche und Wahrheitszeugen (wie Anm. 32), 113 f. 43 Dazu ebd., 114 f. 44 Erlangen 1842, als Google-Book im Internet verfügbar. 45 Die acht Bände der Ursprungsserie der »Sonntags=Bibliothek« finden sich in der UB Basel (LesG 2719), kurzer Hinweis bei Schnurr, Weltreiche und Wahrheitszeugen (wie Anm. 32), 115.

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gefunden. Schnurr verweist auf Sammlungen des unmittelbaren Nachmärz, von Andreas Gottlob Rudelbach, einbändig 1850, Christliche Biographie. Lebensbeschreibungen der Zeugen der christlichen Kirche als Bruchstück zur Geschichte derselben, von Theodor Fliedner, Buch der Märtyrer und anderer Glaubenszeugen der evangelischen Kirche, vierbändig Kaiserswerth 1851 – 1860, angelegt als »ein rechter Kirchenkalender« der »Heiligen« der protestantischen Tradition.46 1870 hat im Verlag des Christlichen Vereins im nördlichen Deutschland in Eisleben Johannes Hübner noch eine zweibändige Sammlung Lebensbeschreibungen frommer Männer aus allen Ständen in älterer und neuerer Zeit erscheinen lassen, der er ebd. 1873 auch Lebensbeschreibungen frommer Frauen und Jungfrauen nachschickte. Kurz darauf, 1874/75, gibt Ferdinand Piper in Leipzig eine weitere, vierbändige heraus: Die Zeugen der Wahrheit. Lebensbilder zum Evangelischen Kalender auf alle Tage des Jahrs. Und Nachfolgeunternehmen gibt es, namentlich aus neupietistischevangelikalen Kreisen, bis weit ins 20. Jahrhundert hinein. Eine durchgängige Brücke vom Spätpietismus bis an die Schwelle des Ersten Weltkriegs bildete mit vollen 130 Jahrgängen die von Johann August Urlsperger 1783 unter dem Titel Auszüge aus dem Briefwechsel der Deutschen Gesellschaft thätiger Beförderung reiner Lehre und wahrer Gottseligkeit begründete erbauliche Monatsschrift, die von der Basler Deutschen Christentumsgesellschaft vom 4. Jahr an als Sammlungen für Liebhaber christlicher Wahrheit und Gottseligkeit 1786 bis 1912 (neue Zählung, Bd. 1 – 127) weitergeführt worden ist.47 Diese sogenannten »Basler Sammlungen«, eine der weltweit längstlebigen Zeitschriften überhaupt, verdienten eine eigene monographische Auswertung. Ihre biographischen Schätze so wie die der meisten sicher noch keineswegs vollständig genannten Sammlungen sind bis heute weitestgehend ungehoben, werden in Abhandlungen über die Biographierten nur selten wahrgenommen, geschweige denn einer vergleichenden Untersuchung unterzogen.

6. Die historiographische Funktion, die schon in den frühesten pietistischen Sammelbiographien immer wieder neben den erbaulich-modellgebenden und den theologisch-thetischen genannt war, also neben Zielsetzungen wie Belehrung, Erbauung und Erweckung, dem Erweis des ganz individuellen Gnadenwirkens Gottes in jeder Menschenseele, der Beförderung der Kräfte am Bau seines Reiches und schließlich der Ausbreitung eines überkonfessionellen Gemeinschaftsbegriffs, wird programmatisch noch einmal im Titel 46 Charakterisierung, Zitate und Lit. bei Schnurr, ebd., 116. 47 Beide Serien sind komplett vh. wohl nur in der UB Basel (Thl Zs 160), die »Auszüge aus dem Briefwechsel« (1783 – 1785) überdies in der Annoni-Bibliothek (Ann Oa 8).

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einer von Jörg Erb in drei Bänden nach dem Zweiten Weltkrieg, 1951 – 1954 im Kasseler Stauda-Verlag, herausgegebenen Sammlung hervorgehoben: Die Wolke der Zeugen. Lesebuch zu einem evangelischen Namenskalender. Zugleich eine Kirchengeschichte in Lebensbildern.48 Es ist die »Wolke der Zeugen«, nach Heb 12,1, die lange Serie der mustergültigen Vorbilder eines gottgefällig-christlichen Glaubens und Tuns »in dem Kampf, der uns verordnet ist«, und nicht die Geschichte der Institutionen und Kirchenfürsten, der Konzile, Synoden und Lehrgebäude, die nach der Überzeugung der pietistischen Sammler und Kompilatoren die Geschichte des Christentums, der Gemeinschaft der Heiligen, der Bauleute am Gottesreich ausmacht. Durch das Zusammenstellen der Lebensbilder gebe man nicht nur ein Kaleidoskop illustrativer Exempla, man schreibe dadurch vielmehr Kirchengeschichte. Diese Idee hatte Gottfried Arnold schon in seiner Unparteyischen Kirchen= und Ketzer=Historie vorgetragen,49 Reitz hat sie in seiner »Historie / Von Gottfried Arnold« (IV,19) geradezu als Kernaussage dieses Buchs bezeichnet. Er stellt dort heraus: »Daß die Vorstehere der Kirchen / Bischöffe / Hirten und Lehrer / insgemein die Verfolgere der wahren Christen gewesen / und […] die Widerchristliche und falsche Kirche jederzeit ihr Werck gemacht und ihr Heiligthum gesetzt in äusserlichen Dingen / Bildern / Schatten / Sacramenten / Manieren und Ceremonien / [dass dagegen die wahre Kirche,] die Kirch unterm Creutz allzeit am schönsten geblühet / und niemals die größste Meng und die Verfolgerin / sondern vielmehr die kleine Heerd und die Verfolgte / gewesen.«50

Arnold hat den Gedanken dann nochmals als grundlegend für seine Sammelbiographie Das Leben Der Gläubigen aufgenommen: Mit der Zusammenstellung der Musterviten schicke er sich an, »dieses Stück der Kirchen=Historie zu untersuchen«: »Denn solche Geschichte[n] von der gleichen wahrhafftigen Gliedmassen Christi möchten mit viel bessern Recht eine Kirchen=Historie heissen / als die Erzehlung 48 Für diese (und noch einige zusätzliche) Sammelbiographien des späteren 19. und des 20. Jahrhunderts, denen zweifellos noch etliche weitere, vielleicht auch noch neuere, an die Seite zu stellen wären, vgl. die bibliographischen Nachweise meines »Nachwort des Herausgebers«, Die neue Gattung (wie Anm. 2), 134*. Der Begriff der »Wolke der Zeugen« war im Pietismus für die exemplarischen Glaubens- und Lebensvorbilder häufig verwendet, so z. B. programmatisch von Oetinger im Ersten Stück seiner Sammelbiographie »Die Unerforschlichen Wege« (wie Anm. 12), 3 (Notiz Oetingers bereits aus dem Jahr 1732). 49 Die aus der Serie der wahren Christen und Zeugen der Wahrheit geformte innere Geschichte der Kirche steht damit der Geschichte der äußeren Kirche und ihrer Institutionen gegenüber, die Arnold bekanntlich als eine Negativfolge fortschreitenden Verfalls (»Depravationstheorie«) deutet. Zur Wirkung dieses Geschichtsdeutungsmodells noch auf den jungen Goethe vgl. Schrader, Von Patriarchensehnsucht zur Passionsemphase (wie Anm. 3), 71 f. 50 Reitz: Historie Der Wiedergebohrnen. Teil IV. 1716, 262 f. Derselbe Gedanke klingt schon an in der Vorrede zur eigenen Sammlung von 1698, Teil I, )( )( 2v.

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von den unterschiedlichen Wort=kriegen und Thorheiten der verderbten Lehrer : Weil nun diese von der falschen Kirche / jene aber von der wahren unsichtbaren und verborgenen […] Kirche Christi handeln.«51

Ganz entsprechend hatte er ein Jahr zuvor auch schon seine Sammlung aus der älteren Kirchengeschichte, Vitæ Patrum,52 als eine Ergänzung seiner Kirchen= und Ketzer=Historie bezeichnet. Und ähnlich hatte Tersteegen unter Verweis auf Arnold seine Sammlung Auserlesene Lebensbeschreibungen Heiliger Seelen begründet, »daß die Lebens=Beschreibungen solcher Seelen nicht nur der Kirchen=Historie ein grosses Licht geben / sondern die eigentliche Kirchen=Historie sind: so hab ich auch in der Absicht diese Arbeit nicht weniger als nützlich und nöthig angesehen53. Diejenigen aber, welche Kirchenhistorien schreiben wollen, sollten billig dieser Spur nachgehen, daß sie nämlich in allen Sæculis die Geschichten, Thaten, Leiden und Erfahrungen solcher heiligen Leute mit Fleiß aufsuchten, als welche eigentlich die Kirche ausmachen.«54

Solche exemplarischen »Lehr= wie That=Unterweisungen« sind nach dem eröffnenden »Vorbericht« der radikalpietistischen Zeitschrift Geistliche Fama nützlicher zu lesen, »als wann wir mit einer hochtrabenden Polyhistorie sollten ausgemästet seyn«,55 und auch für die Supplementa Der Auserlesenen Materien zum Bau des Reichs GOttes ist das Ziel des Sammelns der Individualzeugnisse ein historiographisches: die Geschichte des Gnadenhandelns Gottes an den Menschen ist der Wesenskern der im Zusammentragen der Exempla fassbaren Kirchengeschichte: »Dem Historico wird zu einer wahren Kirchen=Historie der Gemeine Christi Nachricht ertheilet, und ein Theil der Gelehrten Historie zugleich mercklich vermehret«.56 Ganz so explizit finde ich den Gedanken, dass die »Wolke der Zeugen«, die Lebens- und Seelengeschichte der Gläubigen (unabhängig von konfessionellen Bindungen und Sondertraditionen), der Wiedergeborenen und Tatchristen aller Zeiten und Stände die Kirchengeschichte nicht nur illustriere, sondern recht eigentlich ausmache, in den Sammelbiographien und biographiensammelnden Periodika der Erweckungsbewegung (die ich allerdings weit weniger gut überschaue) nicht exponiert – abgesehen vielleicht von der späten Bestimmung Rudelbachs (1850), der im Untertitel seiner Christlichen Biographie die »LeArnold, Das Leben Der Gläubigen, 1701 (wie Anm. 3), Vorerinnerung, ):( ):(1vf. Arnold, Vitæ Patrum (wie Anm. 3), 41 f. Tersteegen, Außerlesene Lebensbeschreibungen, 1 (wie Anm. 4), 1. Aufl., Vorrede, † 7v. Tersteegen, Außerlesene Lebensbeschreibungen, 3 (wie Anm. 4), 3. Edition, Essen 1786, 4. Geistliche Fama, mitbringend verschiedene Nachrichten und Geschichte von göttlichen Erweckungen und Führungen (UB Erlangen: Thl. I,76 O *408 – 410). Bd. 1. Erstes Stück. 2. Aufl. »Philadelphia« (Berleburg) 1730, 7. 56 Supplementa Der Auserlesenen Materien zum Bau des Reichs GOttes (SUB Göttingen: 88 Theol. Misc. 168/75). Bd. 1, 2. Slg., Leipzig 1738, IV.

51 52 53 54 55

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bensbeschreibungen der Zeugen der christlichen Kirche als Bruchstücke zur Geschichte derselben« ausgewiesen hat. Dieses Konzept klingt aber doch schon in Johann Arnold Kannes Begründung seiner Sammelunternehmungen an. In der Vorrede zu Leben und aus dem Leben heißt es 1816: »Wie nun auf alle Arten, im Aeußerlichen und im Innerlichen, Christus sich in der spätern Kirche wirksam und gegenwärtig bewiesen, unternehme ich durch eine doppelte Sammlung der Beyspiele, in welchen dies geschehen ist, zu zeigen.«57

Kannes Lehrabsicht geht, abgesehen von seiner oft wiederholten antikonfessionalistischen Dokumentationsabsicht im Erweis, dass Gott seine Wiedergeborenen auf unterschiedlichsten Wegen und ganz unabhängig von ihren spezifischen Konfessionen leite und beselige, vorrangig statt auf das in den pietistischen Sammlungen aufgerufene eklektisch-summarische Geschichtsverständnis auf ein typologisches (und damit auf eine geistesgeschichtlich weit ältere Argumentation): die gesamte Heilsgeschichte nämlich vollziehe und spiegele sich immer wieder erneut in der Seele jedes Einzelmenschen: »In einer bestimmten Zeit fiel jeder von uns mit Adam, in einer bestimmten Zeit erschien Jesus Christus, um uns alle zu erlösen, in einer bestimmten Zeit, hier auf Erden, an jedem Tage, in jeder Stunde, soll jeder von uns sich erlösen lassen, und es hat eine tiefe Bedeutung, daß du ja diese Gnadenzeit hienieden, wo du fielest und wo dein Erlöser kam, ergreifest und dich erlösen lassest von Ihm.«58

Die typologische Auslegung etwa in der Berleburger Bibel, derzufolge jeder Bibelvers neben dem in ihm historisch Ausgesagten immer auch aktual in der Heilsgeschichte und in der Einzelseele neu sich Ereignendes andeutet, war bereits im frühen 18. Jahrhundert nur mehr ein später Nachklang des mittelalterlichen Figuralverständnisses, das nunmehr im Horizont romantischer Spekulationen wieder aufgegriffen wurde.59 Der politisch strikt konservative Ansatz der Erweckungsbewegung wie 57 Kanne, Leben und aus dem Leben (wie Anm. 33), Vorrede, 9. 58 Kanne, Leben und aus dem Leben, ebd., Vorrede, XXV. 59 Vgl. zu den mittelalterlichen Grundlagen die Studien von Friedrich Ohly : Synagoge und Ecclesia. Typologisches in mittelalterlicher Dichtung; Außerbiblisch Typologisches zwischen Cicero, Ambrosius und Aelred von Rievaulx; Halbbiblische und Außerbiblische Typologie. Versammelt in: Ders.: Schriften zur mittelalterlichen Bedeutungsforschung. Darmstadt 1977, 312 – 400; bei Luther : Friedrich Wilhelm Kanzenbach: Luthers Sprache der Bibel. In: Hans Volz: Martin Luthers deutsche Bibel. Entstehung und Geschichte der Lutherbibel. Eingeleitet von F.W. Kanzenbach. Hamburg 1978, 7 – 18, hier 13; in der neuzeitlichen Dichtung Albrecht Schçne: Säkularisation als sprachbildende Kraft. Studien zur Dichtung deutscher Pfarrersöhne. 2. überarb. u. erg. Aufl. Göttingen 1968 (Palaestra, 226), v. a. 88 – 91, 132 – 134, 268 – 298, vgl. Beispiele entsprechender Applikationen aus der Berleburger Bibel und bei Johann Henrich Reitz bei Hans-Jìrgen Schrader : Vom Heiland im Herzen zum inneren Wort. »Poetische« Aspekte der pietistischen Christologie. In: Pietismus und Neuzeit 20, 1994, 55 – 74, hier 65 – 67, zur krassen Übernahme postfigurativer Überspiegelungen noch beim jungen Goethe, Ders., Von Patriarchensehnsucht zur Passionsemphase (wie Anm. 3), 73 – 84.

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dann auch größerer Teile des Neupietismus, der dem originären Pietismus noch ganz fremd gewesen war, hatte Kanne vielleicht vor der Aussage zurückschrecken lassen, die Kirchengeschichte sei im Grunde nichts anderes als die Summe aller erweckten Gläubigen. Der etwa dem Programm von Novalis’ Die Christenheit oder Europa vergleichbare Rückfall in ständisch-begründetes Ordo-Denken60 tritt deutlich im SchlussaperÅu von Kannes Vorwort hervor: »in der Kirche ist Monarchismus, im Staat Republikanismus vom Uebel, ja sie waren schon vom Teufel.«61

7. Nicht solche Deutungsmodelle der Geschichte allerdings hatte ich im Sinn, wenn ich eingangs postuliert habe, der Wissenschaft blieben aus der fundierten Erschließung der noch so schlecht erforschten Serie erbaulicher Sammelbiographien und der mit ergänzenden biographisch-psychographischen Materialien aufwartenden Zeitschriften wahre Schätze noch an Einsichten zu gewinnen. Gemeint war damit zunächst einmal ein bislang kaum genutztes Reservoir an konkreter Sachinformation. Für die Biographien der einflussreichen oder vorbildgebenden Gestalten der pietistischen Bewegung sind diese selbstverständlich mit kritischer Aufmerksamkeit zu nutzenden Quellen bloß deshalb so wenig ausgeschöpft worden, weil sie bibliographisch und inhaltlich nicht erschlossen sind, infolgedessen bei Personalrecherchen schlicht übersehen werden. Referenzen darauf fehlen meist schon im zeitgenössischen Wissenschaftsdiskurs, der auf die erbaulichen Sammlungen kaum zurückgriff. So war beispielsweise der reichen Oetinger-Forschung bis zu Dieter Isings vollständiger Textpräsentation in der neuen Reihe Edition Pietismustexte (EPT) die wichtige, umfängliche erste Teilpublikation der Selbstbiographie des schwäbischen Gottesgelehrten entgangen, weil sie eine volle Generation vor dem ersten bekannten Druck in zwei Heften einer der Erbauungszeitschriften des Spätpietismus publiziert worden ist, in den Sammlungen zu einem Christlichen Magazin des Zürcher Lavater-Freundes Johann Konrad Pfenninger (1781).62 Noch interessanter als der Mitteilungsgehalt des einzelnen Lebensbilds aber sind die Serienbildungen der in den verschiedenen Sammlungen wiederkehrenden Lebensberichte, aus denen sich allgemach ein eigener Kanon 60 Hervorgehoben etwa in Hans-Jìrgen Schmitt: Romantik I. Stuttgart 1974 (Die deutsche Literatur. Ein Abriß in Text und Darstellung, 8; Universal-Bibl., 9629), 161 – 182; Herbert Uerlings: Novalis (Friedrich von Hardenberg). Stuttgart 1998 (Universal-Bibl., 17612), 93 – 117. 61 Kanne, Leben und aus dem Leben (wie Anm. 33), Vorrede, XXXIV. 62 Genaue Nachweise in der jüngsten und bestkommentierten Neuedition: Friedrich Christoph Oetinger : Genealogie der reellen Gedancken eines Gottes=Gelehrten. Eine Selbstbiographie. Hg. v. Dieter Ising. Leipzig 2010 (Edition Pietismustexte EPT, 1), 215 f und 252.

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pietistischer neuer Heiliger formt. Aus ihrer Zusammenschau wird nicht nur deutlich, wie sich das Bild einzelner Gestalten der Vorgeschichte oder der Geschichte des Pietismus in den einzelnen Epochen und Rezeptionssträngen verändert. Der äußerst umstrittene unduldsame Kirchenkritiker und Pazifist Christian Hoburg etwa wird bei Reitz 1702 noch unter vorsichtigen Kautelen in die Ahnenkette der propagierten pietistischen Frömmigkeit eingereiht, Gerber traut sich zunächst gar nicht, den allgemein verketzerten Namen zu offenbaren und biographiert ihn 1726 in seiner Historie […] eines frommen und sehr verfolgten Theologi bloß unter dem Pseudonym »Nicodemus«. Später muss er seine freilich von den orthodoxen Widersachern rasch durchschaute Aufnahme des Heißsporns wiederholt rechtfertigen. Die Sammlung auserlesener Materien kann auch 1732 Hoburgs Schriften nur mit dem Hinweis empfehlen, der fromme Mann sei »nicht gantz ohne Fehler und Gebrechen« gewesen, man müsse alles prüfen und das Gute behalten.63 Erst Kanne kann Hoburg 1817 in einer erzählerisch breit ausgeschmückten Musterbiographie ganz vollmundig als »Kirchenlehrer« ausloben und nach Hagiographienbrauch alle seine Kritiker ins Unrecht setzen. Die Referenzkette der jeweils eigenen frömmigkeitlichen Positionen kann überhaupt erst aus der Auswahl der aufgenommenen und wiederaufgenommenen Frommen vollends überschaubar werden. Denn diese Kirchengeschichte der Wiedergeburt weicht von einer theologischen Kirchengeschichte des Pietismus und seiner geistigen Vorbereiter mannigfach ab. Ein erschließendes Forschungsunternehmen müsste zunächst einmal die Übersicht einer Datenbank über das gesamte hier greifbare biographische Material gewinnen.

8. Schon vor der erforderten gründlichen Erschließung aber lassen sich aufgrund der noch nicht komplett überschaubaren Wiederaufnahmen von häufig wieder gewählten Glaubensmustern bereits erste Beobachtungen anstellen. Die Wiederkehr ist ja nicht nur eine Folge der völlig unbestreitbaren und in den Sammlungen auch bereitwillig ausgewiesenen materialen Abhängigkeit von bereits vorliegenden früheren Sammelbiographien. Vielmehr verrät jede Wiederaufnahme einen Selektionsprozess und ein auszeichnendes Für-WertHalten für die eigene Zeit und führt so bei häufigerem Rückgriff auf dasselbe 63 Zur heterodoxen Tradition und Verwendung dieses in der radikalpietistischen Argumentation bevorzugt zur Abwehr einer Verketzerung aufgerufener Referenzen eingesetzten Spruchs 1 Thess 5,21 vgl. meine nur exemplarische Belegsammlung, Schrader, Literaturproduktion (wie Anm. 1), 385 f. Als Titelmotto gewählt wurde der Spruch für die Festschrift zum 65. Geburtstag von Hans Martin Barth: Friederike Schçnemann/Thorsten Maassen (Hg.): »Prüft alles und das Gute behaltet«. Zum Wechselspiel von Kirchen, Religionen und säkularer Welt. Frankfurt 2004.

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Muster zu Kanonisierungsprozessen, die sich auch in den jeweiligen Bearbeitungen und Kommentierungen spiegeln. Ich habe auf die diesbezüglich verräterische Diktion in neueren Sammlungen hingewiesen. Ähnlich wie 1833 Burks Christen-Bote (»Christlicher Kalender«) oder Fliedners Buch der Märtyrer seit 1851 (»ein rechter Kirchenkalender«) verheißen auch Pipers Die Zeugen der Wahrheit von 1874/75 »Lebensbilder zum Evangelischen Kalender auf alle Tage des Jahrs« und Erbs Die Wolke der Zeugen nennt sich noch 1951 – 1954 ein »Lesebuch zu einem evangelischen Namenkalender«. Unverkennbar also hat sich in der Serie der Sammlungen ein evangelischer Heiligenkanon herausgebildet, der vollständig abweicht von einer etwa erwartbaren Ehrengalerie der Reformatoren und der späteren richtungweisenden, traditionsbildenden Theologen (die in den frühen Serien der wiederkehrend Biographierten sogar auffällig selten vorkommen). Luther (bei Arnold, Gerber, in einer Sammelthanatographie von Quinos und bei Glaser), Spener (bei Reitz, Gerber und Burk) und Francke (bei Gerber, Moser, Glaser und in der Sonntagsbibliothek) gehören erwartungsgemäß zu den mehr als einmal Bedachten. Durch häufigere Präsentation und Bearbeitungen laufen ihnen im pietistischen Heiligenkalender aber andere, bemerkenswert häufig übrigens Frauen, deutlich den Rang ab. Dazu zählen Exponenten einer mystischen Frömmigkeit wie Catharina von Genua (Arnold, Gerber, Tersteegen, Supplementa Auserl. Materien), Armelle Nicolas (Reitz, Gerber, Tersteegen, Materien) oder Laurentius de Surrectione (Reitz, Arnold, Tersteegen, Supplementa Auserl. Materien), die Erweckungstheologen John Bunyan (Reitz, Arnold, Sammlung erbaulicher Lebensgeschichte und Kanne) und Johann Arndt (Reitz, Arnold, Gerber und Sommers Sammlung von Sterbeberichten), der achtjährig verstorbene Knabe Christian Leberecht von Exter (Reitz, Gerber, Kleinknechts Geistliches Exempelbuch für Kinder und Kanne)64 oder schließlich die »Württembergische Tabea« Beata Sturm (Reitz, Materien, Supplementa, Moser, Kanne). Nur in zwei skizzenhaften Hinblicken kann ich Wahrnehmungen andeuten, die sich gerade aus der Wiederkehr immer derselben Muster im Biographienbestand erheben lassen. Beide fragen nach den Modifikationen derselben Geschichte, nach Episodenauswahlen und Bearbeitungstendenzen, die fast immer nicht nur etwas über die theologischen Einstellungen, Argumentationsziele und sprachlichen Stilisierungen der Kompilatoren und Herausgeber aussagen, sondern auch viel über epochentypisch veränderte Intentionen in der langen Geschichte des Pietismus. Im ersten Zugriff möchte ich im exemplarischen Querschnitt Beispiele der 64 Diesen Fall einer (mit starker Beteiligung der Sammelbiographien) durch die Generationen weitergereichten exemplarischen Kinder-Biographie, Wilhelm Erasmus Arends: Eines zehen=jährigen Knabens Christlieb Leberechts von Exter / aus Zerbst / Christlich geführter Lebens=Lauff. Halle 1708 u. ö., habe ich (mit Lit.) skizziert, Schrader, »Werd ein Kind!« (wie Anm. 16), 439 f.

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Bearbeitung der Serie von aus dem englischen Independentismus übernommenen Exempeln im Frühpietismus – bei Reitz 1698 und 1701 – und in der aufklärerisch durchwirkten Übergangstheologie des Spätpietismus – bei Feddersen 1776 – 1790 – vergleichen, im zweiten im historischen Längsschnitt nur einen einzigen Fall einer neuen protestantischen Musterheiligen, der Beata Sturm, durch die Sammlungen und Generationen verfolgen.

9. Feddersen hat in seinen Nachrichten von dem Leben und Ende gutgesinnter Menschen im geschlossenen Anhang zur »Zweyten Sammlung« von 1778, aber auch als breiter ausgeführte Kapitel seines Biographienschatzes »Auszüge aus J.H. Reitzens Historie der Wiedergebohrnen« übernommen. Ausgewählt hat er vier von den schematisch-kryptonymen Kurzexempeln aus den beiden ersten Teilen der alten Sammelbiographie, die Reitz im I. Teil seiner Sammlung aus Vavasor Powells Spirituall Experiences adaptiert hatte, zusätzlich, aus dem II. Teil der Historie, fünf fromme Frauen und zwei Männer, die ebenfalls dem englischen Puritanismus entstammten. Verteilt über seine Sammlung stellt er eine weitere Engländerin vor, Johanna Gray, und, in der vierten Sammlung, als einzige nicht englische jener Mustergestalten, die bereits in der Historie (VI, 22) präsent waren, Johann Ludwig Müller aus Hanau. Dass der einstmals amtsentsetzte und mit allen Radikalen sympathisierende Reitz als Gewährsmann der vorgestellten Lebensbilder noch immer bei Feddersens Leserschaft, die nicht auf Pietisten begrenzt sein sollte, Berührungsängste auslösen konnte, zeigt die Begründung in der Vorrede, nur ein Teil der Leser begehre Muster, »die sehr lebhaftes und warmes Gefühl der Religion in ihren Worten und Handlungen bewiesen haben«, während mancher »andere sagt: das ist Schwärmerey ; und will nur Exempel solcher Tugendhaften, die mit heller Vernunft und kühlem Herzen gedacht und gehandelt haben«. »Tugend« und »Vernunft« sind nun freilich aus der Aufklärung eingewanderte, der Psychagogik des alten Pietismus durchaus fremde Leitbegriffe. In Rücksicht auf den eher der Aufklärung zuneigenden Leserteil begründet Feddersen dann auch apologetisch: »Diese Erinnerung muß ich besonders wegen der Auszüge aus Reizens Historie der Wiedergebohrnen machen. Was mir in diesem Buche überspannte Einbildung oder wahre Schwärmerey schien, habe ich ganz weggelassen; aber alle wörtliche und Thatzeugnisse der herzlichen warmen Liebe und Zuversicht zu Gott und dem Erlöser sorgfältig angeführt.«65

Der Leitbegriff der Tugend wird in seiner Sammlung immer wieder aufgerufen – wobei deutlich wird, dass er eher als spezifisch christliche Vorzüge darunter 65 Feddersen, Nachrichten von dem Leben (wie Anm. 21), Vorrede, )( 5vf.

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staatsbürgerliche Wohlanständigkeit, Rechtlichkeit und hausväterliche Verantwortung versteht. Entsprechend werden die fundamental-christlichen Exempel in ihrer Auswahl und – trotz einiger wörtlich beibehaltener Passagen – in einer massiven Bearbeitung eher in ein bürgerliches Juste-Milieu gemeingesellschaftlicher Nützlichkeit hinunter dividiert: »Ich habe hier keine Heiligen der ersten Grösse; – nicht solche, die mit ihren Andachtsübungen und christlichen Werken einen ungewöhnlichen Enthusiasmus verknüpft, oder gar die mehrste Zeit mit geistlichen Uebungen zugebracht, angeführt. Ich habe lieber Beyspiele aus der mittleren Gattung rechtschaffener Christen gewählt […], Muster der obrigkeitlichen, bürgerlichen und häuslichen Frömmigkeit.«66

Auch die unter den Namen des Biographierten gestellten Historien sollen so vorrangig verstanden und auch appliziert werden als Modelle ständischen Wohlverhaltens eines jeden Christenmenschen: »der treue Unterthan; – der arbeitsame Bürger ; – der redliche Diener ; – der edelmütige Bruder und Freund; der weise Vater; – das dankbare Kind!«67 Die im Spätpietismus häufig mitlaufende philanthropische Zielsetzung wird daran sichtbar, dass in den Vorreden des Werks zu menschenfreundlichen Spenden als Aufbauleistung in Notsituationen aufgerufen wird: in der dritten Sammlung 1781 für die im Jahr zuvor fast völlig niedergebrannte Stadt Gera,68 1784 für die unterstützungsbedürftige Protestantische Gemeinde in Brünn (Mähren),69 jahrs darauf »An Menschenfreunde, die Aufbauung der abgebrannten Stadtkirche zu Creutzburg an der Werra betreffend«.70 Damit ist eine empfindsame Note durchaus kompatibel. Für die Tendenz der Bearbeitung, die alles potentiell Heterodoxe, Krasse oder Übersteigerte, auch außergewöhnliche religiöse Erfahrungen oder Zusprachen herausstreicht oder mildert, wird Bezug auf Lavater und seine Physiognomischen Fragmente genommen: »Ich suche lieber an Gottes Ebenbildern die Schönheiten und Tugenden auf, als die Flecken.«71 Und, im Vorwort zur – übrigens dem Braunschweiger Abt Jerusalem, dem Vater von Goethes Werther-Vorbild, gewidmeten – Zweiten Sammlung (mit seinem Anhang der Reitz-Exempel): »Wer aber Fehler von ihnen weiß, der meide Sie, und folge ihren Tugenden nach! – – ***« – ganz entsprechend dem Leserzuspruch im Frontispiz der vier Jahre zuvor erschienenen Leiden des jungen Werthers: 66 Ebd., Erste Sammlung, Vorrede zur 1. Aufl., X. 67 Ebd., XII. 68 Ebd., Dritte Sammlung. Halle 1781: statt einer Vorrede. 31 öffentliche Gebäude und 686 Privathäuser waren niedergebrannt. Vgl. Meyers Konversationslexikon 5. Aufl. Bd. 17. Leipzig/ Wien 1897, 372 f. 69 Feddersen, Nachrichten (wie Anm. 21), Vierte Slg. Halle 1784: der Vorrede vorangestellter Aufruf. 70 Ebd., Fünfte Slg. Halle 1785, Annonce statt einer Vorrede. 71 Ebd., Erste Sammlung, Vorrede, XI.

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»Ihr könnt seinem Geist und seinem Charakter eure Bewunderung und Liebe, und seinem Schicksaale eure Thränen nicht versagen. Und du gute Seele, die du eben den Drang fühlst wie er, schöpfe Trost aus seinem Leiden, und laß das Büchlein deinen Freund seyn […]«72

Einige der Reitz-Geschichten erkennt man in der goethezeitlichen Bearbeitung kaum wieder. Das Exempel vom »Kind von sechs Jahren«, dem gegen Fluchen und Schwören Abscheu zeigenden Rupertgen, ist aus dem von Reitz her nicht mitübernommenen Selbstzeugnis der kryptonymen J.B. herausgeschält. Überall sind extreme Anfechtungen weggelassen, so mehrfach die Angst, die Sünde wider den Heiligen Geist begangen zu haben (M.N., Elisabeth Wilkinson),73 ebenso Gewissheiten der Begnadung und die »Beweißthume« des erlangten Glaubens und der Wiedergeburt. Sogar Gewissenspein nach Tanz oder Komödienbesuch (Johanna Ratcliffe) und asketische Kasteiungen werden übergangen. Statt der Mitteilung bei Reitz, dass der fromme Ignatius Jordan »alle Morgen zwischen zwey und drey Uhr auffstund«, erwähnt Feddersen bloß, »daß er alle Morgen früh aufstund«. So bleiben in freier Nacherzählung (aber doch unter dem Anschein eines Selbstzeugnisses) bisweilen neben breit ausgeführten Tugendkatalogen nur mehr Begleiterscheinungen des Seelenprozesses übrig, nicht dieser selbst (M.N., Elisabeth Wilkinson), und dieses Übrigbleibende ist auch nicht nur dazu bestimmt, als Glaubensvorbild zu dienen, sondern psychologische Einsicht zu fördern. Der Lesende »wird auch mehr Achtung für die menschliche Natur, mehr heilsames Mitleiden mit dem Verfall, mehr Liebe und Zuneigung zu guten Menschen, mehr ehrfurchtsvolle Freude an dem Urheber und Urbilde aller Vollkommenheiten und alles Guten bekommen«.74

Mit der sprachlichen Bearbeitung, meist Modernisierung und Abmilderung, werden die allegoriereichen Blüten der pietistischen Barocksprache ersatzlos ausgemerzt, so bei Johanna Ratcliffe,

72 Johann Wolfgang Goethe: Die Leiden des jungen Werthers. Leipzig 1774. Hg. v. Joseph Kiermeyer-Debre. München 1977 (dtv-Bibliothek der Erstausgaben, 2602), 7. 73 Die extremen Beängstigungen, die aus der Furcht resultierten, unwillentlich diese in Zeit und Ewigkeit unvergebbare Sünde (Mt 12,31 f und anklingend Mk 3,29 und Lk 12,10) begangen zu haben, spiegeln sich in pietistischen Selbstzeugnissen (am eindringlichsten beim Bernbieter Pfarrer Samuel Schumacher, Reitz: Historie III,15) und sind auch in der poetischen Literatur von Bürgers »Lenore« über Büchners »Lenz« bis zu Thomas Manns »Der Erwählte« mannigfach reflektiert. Vgl. dazu Hans-Jìrgen Schrader : Erfahrung der äußersten Anfechtung. Die Sünde wider den Heiligen Geist (Mt 12,31) in literarischen Reflexen. In: Christian Soboth [u.a.] (Hg.): »aus Gottes Wort und eigener Erfahrung gezeiget«. Erfahrung – Glauben, Erkennen und Gestalten im Pietismus. Beiträge zum III. Internationalen Kongress für Pietismusforschung 2009. Halle 2012 (Hallesche Forschungen, 33), 185 – 207. 74 Feddersen, Nachrichten von dem Leben, Erste Slg. (wie Anm. 21), Vorrede, XI.

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»Die Wehen ihrer Neuen=Geburt waren so peinlich / und zuweilen so schrecklich / daß man ihr keinen Trost beybringen konnte; Doch nach der Zeit erwiese sich der HErr als ein Arzt ihrer Seelen«75.

Perinatale Körpermetaphern eines frommen Erlebens wie dem der »Wiedergeburt« sind offenbar anstößig geworden – und damit verdünnen sich auch die rigorosen theologischen Forderungen des früheren Pietismus. Hieß es in der Historie von Jordan, dass er testamentarisch eine »merckliche Summ an die Armen zu Lime / wo er gebohren / und dann an die Armen zu Gernsey / wo er wiedergeboren war / vermachte«, dann wird daraus bei Feddersen »vermachte er auch eine grosse Summe an die Armen des Ortes, wo er gebohren war, wie an die Notleidenden auf der Insel Gernsey, wo Gott an seiner Seele grosse Barmhertzigkeit gethan hatte«. Und wenn Reitz von Margaretha Corbet konstatierte, »Wie nun ihr Leben heilig war, so konnte ihr Tod anders nicht / dann selig / seyn« [II, 167], moralisiert dagegen Feddersen: »Weil sie in ihrem Leben gottesfürchtig, rechtschaffen und menschenfreundlich war, so konnte ihr Tod auch nicht anders, denn selig seyn.« [II, 414] Ähnlich kontrastiert Reitz [II, 165] »Ihre Liebe war ungemein gegen alle Heiligen / die die Herrlichen und Edlen auff Erden seynd / so sehr / daß /wann sie etwas Göttliches in jemand bemerckte / wan er auch schon ihrer Meynung in allem nicht war / sie ihn liebte / und in Einfalt und Holdseligkeit ihm den Irrtum zu benehmen trachtete.«

mit Feddersens Weichspülung [II, 413]: »Ihre Hochachtung gegen alle christlichgesinnten und rechtschaffnen Gemüther war allgemein. Wenn sie Gutes und Löbliches an jemand fand: so hegte sie Hochachtung und Liebe für denselben, obgleich er auch nicht von einer Religionspartey mit ihr war. Glaubte sie an ihm schädliche Irrthümer zu finden, so suchte sie ihm dieselben mit Freundlichkeit zu nehmen.«

Feddersen scheint sich nur deshalb (mit nur einer Ausnahme) auf die Auswahl vollkommen unbekannter puritanischer Exempel von den fernen britischen Inseln begrenzt zu haben, weil ihm diese für seine Zeitgenossen unanstößiger erschienen sein mögen als die neuen Heiligen der pietistischen Tradition in Deutschland mit der Unnachsichtigkeit ihrer Buß- und Umkehrforderungen. Was ihn aber in der aufklärerisch reduzierten Spätzeit doch mit dem frühen Pietismus verbindet, ist die aus dem letzten Zitat ersichtliche und immer von neuem eingeschworene Toleranzforderung für die Überzeugungen anderer. Allerdings haben sich da – im Jahr des letzten Lessingschen Anti-Goeze, ge75 Reitz, Historie Der Wiedergebohrnen (wie Anm. 1), Bd. 1,Teil II, 110. Zu der in der pietistischen Metaphorik nicht ungewöhnlichen Perinatalbildlichkeit für das Konzept der Wiedergeburt vgl. Hans-Jìrgen Schrader : Die Sprache Kanaan. Auftrag der Forschung. In: Udo Sträter [u.a.] (Hg.): Interdisziplinäre Pietismusforschungen, Beiträge zum Ersten Internationalen Kongress für Pietismusforschung 2001. Tübingen 2005 (Hallesche Forschungen, 17/1), 55 – 81, hier 77.

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rade ein Jahr vor dem Erstdruck von Nathan der Weise – andere Begründungsformeln eingeschoben – wie in der Historie des Oxforder Professors Rupert Harris um die Auseinandersetzungen zwischen der High Church und den verschiedenen Ausprägungen der independenten Low Churches: »Als er einmal gefragt wurde, an wem die Schuld läge, daß zwischen den Bischöffen und Presbyterianern und wieder zwischen diesen und den Independenten, solche Trennungen und Streitigkeiten wären? antwortete er : Es läge an beiden Theilen. Fromme und verständige Leute und aufrichtige demütige Herzen trügen einander. Aber es wären an beiden Seiten hitzige, stolze, eigennützige Menschen. Diese bliesen die Kohlen an, und machten die Trennungen und Zänckereyen; eben als wenn keiner auf Christi Wegen gehen könnte, als nur derjenige, der mit ihnen ganz übereinkommend dächte.«

Dazu fügt Feddersen den Kommentar : »An dieser Antwort liegt wahre Weisheit, ächte Toleranz und christliche Billigkeit. Wie viel Unglück, Streit, Haß und Verfolgung würde weniger in der Welt seyn, wenn alle Geistliche dächten wie Harris, und ihre Zuhörer zu einer solchen Denkungsart zu bringen suchten. […] Sollten wohl nicht manche, die überlaut schreyen: unsere Meynung so ganz, wie sie ist, ist die wahre; und die denjenigen gleich verdammen, der hie und da Zweifel dagegen hegt […] und mit Wahrheitsliebe nach Licht und Gewißheit forscht – sollten nicht diese Männer, in der Ewigkeit wo uns in allen Religionswahrheiten ein näheres Licht aufgehen wird, auch oft erkennen, daß sie als Menschen geirret, und ihren Brüdern unrecht gethan?« (Feddersen II; 406 f)

10. In der entfalteten Erweckungsbewegung dagegen sind die hier teil-verabschiedeten theologischen Gehalte, auch Begriffe (namentlich der der Wiedergeburt) und spirituell-asketischen Rigorismen, wenngleich in einer anderen, oft romantisierenden Sprache und in einer heiligtümlichen legendarischen Erzählweise, die die Nähe zur zeitgleichen nazarenischen Malerschule verrät, im Rückgriff auf den frühen Pietismus wieder etabliert. An einem Beispiel nur, der stufenreichen Kette der Wiederaufnahmen und Neuausgaben der Lebensgeschichte der Stuttgarter Beamtentochter Beata Sturm, möchte ich die Genese einer protestantischen Hagiographie und ihrer schrittweisen Durchsetzung zu kanonischer Geltung skizzieren und zeigen, welche Bedeutung den Sammelbiographien und biographiensammelnden Erbauungszeitschriften in dieser Traditionsbildung zukam, woran sich zugleich umfassender, als hier anzudeuten ist, der Wandel der Interessen, theologischen Postulate, frömmigkeitlichen Ziele und literarischen Strategien zwischen der Blütezeit des Pietismus und den Erben im 19. Jahrhundert zeigen ließe.

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Das äußerlich ganz unspektakuläre Leben der Ende 1682 in eine gutbürgerliche Stuttgarter Familie (väterlicherseits Juristen, mütterlicherseits Theologen) Hineingeborenen, die am selben Ort Anfang 1730 im Haushalt ihres Bruders ledig verstorben ist, konnte vielleicht deshalb »zu einem Klassiker der württembergisch-pietistischen Erbauungsliteratur« werden, weil es gerade aufgrund seiner äußeren Ereignislosigkeit und für sich genommen vollkommenen kirchengeschichtlichen Bedeutungslosigkeit zu einem perfekten »Muster an pietistischer Frömmigkeit« kirchlich-lutherischer Prägung taugte.76 Die bemerkenswerten Ereignisse ihrer Biographie waren nach dem frühen Tod ihrer Mutter ihr Fast-Erblinden als Kind an Glaukomen, das in ihrem 11. Jahr durch eine Serie von fünf nur partiell gelingenden Operationen soweit gebessert werden konnte, dass es zum Lesen ausreichte (und sie in strengem Tagesprogramm dreißigmal die ganze Bibel durchlas), dann einige Jahre der Abwesenheit des Vaters, den die Truppen Ludwigs XIV. zur Sicherung geforderter Reparationszahlungen verschleppt hatten, und später, nach seinem Tod, zwei weitere im Haushalt eines ihm befreundet gewesenen Geistlichen in Blaubeuren, wo sie schwere Anfechtungen, sogar Lebensüberdruss, zu durchstehen hatte. Daran schloss sich, bis zu ihrem Sterben mit 47 Jahren, das einförmige Leben im Stuttgarter Haus des Bruders an. Zum Muster machte sie, dass sie ausbündig war in allen christlichen Tugenden, demütig, aber bekenntnisfreudig, sozial aktiv in Worten, Spendenbereitschaft und praktischem Tun, v. a. eine große und beständige Beterin, deren Fürbitte man wunderbare Wirkungen beimaß und die sich in regelmäßigen schriftlichen Selbstverpflichtungen ihrem Heiland verschrieb – überdies freilich, dass sie 76 Charakterisierungen und umfassendere Literaturangaben bei Werner Raupp: Beata Sturm. In: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon (wie Anm. 31). Bd. 11. Herzberg 1996, 139 – 141; Zitate S. 140. Vgl. Martin Brecht: Der württembergische Pietismus. In: Der Pietismus im 18. Jahrhundert. Geschichte des Pietismus. Bd. 2 (wie Anm. 7), 225 – 295, hier 243 (Abdruck des Porträts 244): »Beata Sturm eigneten alle Züge einer evangelischen Heiligen. Dies wurde von den Zeitgenossen bereits wahrgenommen und von ihren Biographen auch stilisiert.« – Zum gleichsam Kanonischwerden dieser Biographie vgl. im Abriss Schrader, Die Literatur des Pietismus (wie Anm. 2), 396. – Gerade in den letzten Jahren ist dem Phänomen eine ganze Serie neuerer Untersuchungen gewidmet worden. Gisela Schlientz: Bevormundet, enteignet, verfälscht, vernichtet. Selbstzeugnisse württembergischer Pietistinnen. In: Michaela Holdenried (Hg.): Geschriebenes Leben. Autobiographik von Frauen. Berlin 1995, 61 – 97; Sophie Pataky : Lexikon deutscher Frauen der Feder. Bd. 2. Berlin 1998, 348; Martin H. Jung: Beata Sturm. In: Ders.: Frauen des Pietismus. Zehn Porträts von Johanna Regina Bengel bis Erdmuthe Dorothea von Zinzendorf. Gütersloh 1998 (Gütersloher Tb, 1445), 86 – 96 (auf dem Umschlagtitel ist ihr Porträt mit abgebildet); Ulrike Gleixner: Pietismus und Bürgertum. Eine historische Anthropologie der Frömmigkeit. Göttingen 2005, 171 – 178, 375 – 391 und Dies.: Pietistische Erinnerungskultur im württembergischen Bürgertum des 18. und 19. Jahrhunderts. In: Werner-Zeller-Stiftung (Hg.): Leonberger Symposion. Paradigmen der Familienforschung im Spannungsfeld zwischen Natur- und Geisteswissenschaften. Göttingen 2008, 25 – 42; Hermann Ehmer : Beata Sturm (1682 – 1730). Mystikerin und Wohltäterin. In: Adelheid M. von Hauff (Hg.): Frauen gestalten Diakonie. Bd. 1: Von der biblischen Zeit bis zum Pietismus. Stuttgart 2007, 385 – 392.

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gleich nach ihrem Tod in ihrem Stuttgarter Prediger Georg Conrad Rieger einen erfahrenen Erbauungsschriftsteller als Hagiographen fand, der ihre Erlebnisse, Einstellungen und Verhaltensweisen als herausragendes Vorbild publik machte. Schon im Titel ihrer in sicher nur kleiner Erstauflage 1730 ohne Verfasserangabe bei Metzler und Erhard erschienenen Biographie, heute nur mehr aus dem Schriftenverzeichnis Riegers nachweisbar,77 war der Schritt zu einer literarischen Selig- und Heiligsprechung gebahnt: Die Würtembergische TABEA, Oder Das Merckwürdige äussere und innere Leben und selige Sterben Der Weyland Gottseeligen Jungfrauen / BEATA Sturmin, Welche den 11. Jan. 1730. Zu Stuttgardt im Herzogthum Würtemberg durch einen seeligen Tod ist vollendet worden…78 Programmatisch war das Anagramm der beiden in Versalien hervorgehobenen Worte, ihres Vornamens Beata, der die Gottselige, nun selig Verstorbene, bereits zur Seligen prädestinierte, und des daraus buchstabenschüttelnd umgeformten (gleich zu Beginn des Buches erläuterten) Namens der Tabea von Joppe aus der Apostelgeschichte, der sie gar unter die Heiligen versetzte: Denn auch von der neutestamentlichen Vorbildfrau war gesagt, »Die war voll guter Werke und Almosen, die sie gab« (Apg 9,36 – 43).79 Die in den Kreis der Heiligen eintretende joppische Tabea hatte der Apostel Petrus durch sein Gebet wieder zum Leben erweckt, was bei der württembergischen freilich nur im geistlichen Sinne statthaben konnte. Die zunächst nur lokal verbreitete Biographie, die aber, wie die beziehungsreiche Zueignung an den Thanatographien-Sammler Erdmann Graf Henkel zeigt, von ihrem Verfasser offenbar schon zum breitenwirksamen Erbauungsexempel bestimmt war, wurde kurz nach Erscheinen im Startheft der Sammlung Auserlesener Materien zum Bau des Reichs GOttes (Bd. I, 1. Stück, Frankfurt und Leipzig 1731, S. 29 – 66) ausführlich empfehlend vorgestellt in umfänglichen Textproben, mit zusätzlichen Bezeugungen (»Der seel. Jungfer Sturmin geistlicher Character und eigentliche Seelen=Gestalt«, S. 44) und erbaulichen Anwendungen: »Was GOtt vor Gnade an der auserwehlten Sturmin offenbar werden lassen / ist in diesen unsern Tagen etwas ganz ausnehmendes« (S. 40). Hier wird Rieger als der anonyme Verfasser ausgewiesen (S. 38) und sein Büchlein im Zitat als Ansatzpunkt für eine Historie der Wiedergeborenen in Württemberg ausgelobt: »Und ob schon noch keine 77 Gottfried M•lzer: Die Werke der württembergischen Pietisten des 17. und 18. Jh. Verzeichnis der bis 1968 erschienenen Literatur. Berlin/New York 1972 (Bibliographie zur Geschichte des Pietismus, BGP, 1), 302, Nr. 2324 und 314, Nr. 2425. Einen Abriss der Auflagengeschichte gibt auch Jung, Frauen des Pietismus (wie Anm. 76), 93 f. 78 Übersicht der nachfolgenden Auflagen und Einzelausgaben bei M•lzer, Die Werke der württembergischen Pietisten, ebd., 314 f, Nr. 2426 – 2430. 79 In der »Historie Der Wiedergebohrnen« (wie Anm. 1), Teil VII (1745), 170, wird die Jungfer Sturm in einer Überbietungsformel gar noch über die neutestamentliche Heilige erhoben: »Sie waren beyde voll Glaubens / und daher voll guter Wercke; wo nicht die selige Beata jene Tabeam in der Fülle der guten Wercke noch übertroffen hat: denn sie hat nicht allein in Stuttgard, der sehr volckreichen Stadt, sondern auch im gantzen Lande, ihres gleichen nicht gehabt an Uebermaaß der Tugenden und allerley guten Wercken.«

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Historie der wiedergeborenen Würtemberger geschrieben ist, so sind doch etliche anschauliche Exempel der Unsern in die auswärtige Lebens=Beschreibungen aufgenommen worden.«80 Das Startheft der Materien war so gefragt, dass noch im selben Jahr eine zweite Auflage mit dieser rühmenden Annonce ins Land ging, und erbrachte so viel Nachfrage nach dem angepriesenen Buch, dass Rieger 1732 in offenbar erheblich größerer Auflage die bis heute weit verbreitete (als Digitalisat der SUB Göttingen auch im Internet nutzbare)81 erweiterte Neuauflage herausbrachte. Der Autor, der nun unter der Zueignung am zweiten Todestag der Verewigten »Stuttgard den 11. Jan. 1732 M. Georg Cunrad Rieger« namentlich hervortrat, hatte jetzt nicht nur ein zu diesem Behuf gestochenes Porträt der mildtätig Frommen vorangestellt, sondern auch Briefe und erbauliche Betrachtungen von ihr und verschiedene Nachrichten anderer Lebenszeugen eingearbeitet.82 Als Parallelgeschichte hatte er überdies einen »Brief Hieronymi von dem Leben der Heiligen Paula« (S. 377 – 408) hinzugefügt, die sich im 4. Jahrhundert in Bethlehem »mit glühender Hingabe den Werken der Frömmigkeit u. christlischen Caritas« gewidmet hatte,83 wodurch Rieger die Sanktifizierung seiner Seligen noch offener postulierte als durch seine leitmotivische »Tabea«-Typologie. In der »Nacherinnerung bey der zweyten Edition« wurde die landesweit ungemeine Nachfrage nach ihrer Vita durch den (unausgewiesenen) Hinweis auf einen bereits erfolgten Raubdruck und eine bevorstehende niederdeutsche Übersetzung unterstrichen.84 Auch die zweite rechtmäßige Ausgabe wurde in den biographiensammelnden pietistischen Zeitschriften sofort ausführlich vorgestellt und dabei auf die 80 Sammlung Auserlesener Materien zum Bau des Reichs GOttes, I. 1. St. Frankfurt/Leipzig 1731 (UB Basel: Theol Ztschr 159), 39. Nachauflage dieses Startheftes noch im selben Jahr (LB Stuttgart: Kirch. Bibl. 131). 81 [Georg Konrad Rieger:] Die Würtembergische TABEA. Zweyte Auflag. Stuttgart 1732 (StUB Göttingen: 88 H.E.E. 564/5), http:/gdz.sub.uni-goettingen.de/dms/load/img/. Vielleicht ist die Auswahl dieses Werkes zur digitalen Bereitstellung auch dem Zufall zu danken, dass die in der Bibliothek Zuständige für digitale Langzeitarchivierung ebenso wie die Biographierte Beate Sturm heißt, s. Bibliotheksdienst, 42 (2008), H. 10, 1073. 82 Die Beigaben aus der Feder der Beata Sturm sind bei M•lzer, Die Werke der württembergischen Pietisten (wie Anm. 77), 366, Nrn. 2636 – 2838 aufgeschlüsselt, über die weiteren Beilagen informiert im Buch selbst eine »Nacherinnerung bey der zweyten Edition«, Bog. )( )( )( 1r– )( )( )( 3r. Die genauesten Angaben zum nach Augenzeugenberichten vom pietistischen Stuttgarter Hofmaler Johann Isaak Liefkopf postum gemalten Porträt der Beata Sturm und dem danach für den Druck vom Augsburger Kupferstecher [Johann Jacob] Kleinschmidt hergestellten Stich sowie zum beigesetzten Personalpoem von Philipp Heinrich Weissensee bei Jung, Frauen des Pietismus (wie Anm. 76), 94. 83 H[ieronymus] Engberding: Paula, hl., aus Rom (347 – 404). In: Michael Buchberger (Hg.): Lexikon für Theologie und Kirche. 2. neubearb. Aufl. Bd. 8. Freiburg/Brg. 1936, 18 f; vgl. Silvia Latsch-Brunner : Paula (347 – 26. 1. 404). In: RGG4 (wie Anm. 26). Bd. 6. Tübingen 2003, 1030. Zum Anhang in der Sturm-Biographie Jung, Frauen des Pietismus (wie Anm. 76), 94. 84 [Rieger:] Die Würtembergische TABEA. 21732, Nacherinnerung (wie Anm. 81). Tatsächlich gibt Georgi: Allgemeines Europäisches Bücher=Lexikon. 2. Teil. Leipzig 1742, eine sonst nicht ausweisbare Ausgabe »Beatæ Sturmin Lebens=Beschreibung, Stuttgart 1731«.

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hinzugekommenen Ergänzungen hingewiesen: Die trotz des Impressum-Ausweises auf die Messeorte »Franckfurt und Leipzig« (statt ordnungsgemäß auf den Druck- und Verlagsort Stuttgart) im selben »Verlag Joh. Benedict Metzlers und Christoph Erhards« 1733 (zunächst auch ohne Nennung des Herausgebers Johann Jacob Moser) neu herauskommende neue Zeitschrift Altes und Neues aus dem Reich Gottes und der übrigen guten und bösen Geister stellte die neu erschienene Sturm-Vita gleich im Ersten Heft in ihren »Nachrichten von erbaulichen geistlichen teutschen Büchern« unmittelbar hinter eine Neuerscheinung von Dantes »Ubung des wahren Christentums«,85 und die Supplementa Der Auserlesenen Materien zum Bau des Reichs GOttes übernahmen die Empfehlung in ihrer Werbung für die neue Mosersche Sammlung.86 »Die Würtembergische TABEA« hatte damit als Musterbeispiel für typisch pietistisches Frömmigkeitsgebaren und seine Kanaanssprache so viel Bekanntheit gewonnen, dass sie zum Ausstellungsobjekt der aufklärerischen Satire für pietistische Kuriositäten taugte: Die 22-jährige Luise Adelgunde Victorie Gottsched setzte in ihrer Komödie Die Pietisterey im Fischbein=Rocke; Oder die Doctormäßige Frau von 1736 den Titel des Buches in voller Länge in den vom Bücherhöker Jacob der Frau Glaubeleichtin und der Frau Seufzerin feilgehaltenen Vorrat sinnverwirrender modischer Pietistenschriften. Es verwundert nicht, dass dort das Werk in der Liste von allein durch ihre Titel komisch wirkenden Lektüren oft radikaler Pietisten wie Gottfried Arnold, Johann Tennhardt oder Victor Christoph Tuchtfeld der Lächerlichkeit preisgegeben wird, zwischen denen auch biographische Sammelwerke vorgeführt werden: »Der erste Tempel GOttes in Christo, darinnen das keusche Leben der heiligen Alt-Väter, heiligen Matronen und heiligen Märtyrer in der ersten Kirchen abgebildet ist […] von Johann Otto Glüsing, Anno 1720«,87 »Sammlung Auserlesener Materien zum Bau des Reiches GOttes. Leipzig 1736« und Oetingers »Die Unerforschlichen Wege der Herunterlassung GOttes«, Leipzig 1735.88 85 Altes und Neues aus dem Reich Gottes, I. H. 1. Frankfurt/Leipzig 1733 (UB Tübingen: Gh 1855a Gp.), 88 – 94, Besprechung »DIe Würtembergische Tabea […] Zweyte Auflag. Stuttgardt 1732. 8.«, 92 – 94. 86 Supplementa Der Auserlesenen Materien (wie Anm. 56),1. H. 1. Leipzig 1737, 50 – 71, zur Beata-Sturm-Vita 54 f. 87 Vgl. die Titelaufnahme oben Anm. 3 (vh. in der Vadiana St. Gallen: Vad Slg 6C 3355). Der Verfasser war (im Titel ebenso anonym) auch der Herausgeber der synoptischen »Biblia Pentapla«. [Schiffbek bei Altona] 1711/12, deren initiale Bedeutung insbes. in der erstmaligen Transliterierung eines jiddischen (jüdisch-deutschen) Alten Testaments für christliche Leser besteht. Dazu Hans-Jìrgen Schrader : Lesarten der Schrift. Die »Biblia Pentapla« und ihr Programm einer »herrlichen Harmonie Göttlichen Wortes« in »Fünf=facher Deutscher Verdolmetschung«. In: Ulrich Stadler (Hg.): Zwiesprache. Beiträge zur Theorie und Geschichte des Übersetzens. Stuttgart/Weimar 1996, 199 – 218; dazu auch (mit neuer Lit.) ders., »Gedelöcke« (wie Anm. 23), 99 f. 88 Luise Adelgunde Victorie Gottsched: Die Pietistery im Fischbein-Rocke. Hg. v. Wolfgang Martens. Stuttgart1968 (Universal-Bibliothek, 8579), Szene IV,6, 104 – 109, »Tabea« ebd., 105.

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1737 brachte Rieger bald nach den Buchwerbungen durch die Erbauungszeitschriften noch eine 3. Auflage, Stuttgart 1737 heraus, neuerlich um eine weitere Heiligengeschichte, diesmal aus der Reformationszeit, vermehrt, die er zuvor schon einzeln publiziert hatte: »Die Würtembergische TABEA […] Mit einem Anhang. Von dem Leben der Argulae Grumbachin, gebohrnen von Stauffen, Stuttgart 1737«.89 In diesem Fall nahm die Historie Der Wiedergebohrnen, sonst oft Ausgangspunkt der sammelbiographischen Kanonisierungsprozesse der pietistischen Musterviten, die Stafette erst spät auf. Deren VI. Teil als erste, zur 5. Auflage der Sammlung hinzugekommene Weiterführung nach dem Tod des Johann Henrich Reitz, war 1730, im Jahr der Erstausgabe von Riegers Werk, vielleicht schon vor dessen Erscheinen, herausgekommen, zu früh, um auf die Vita zu reagieren. Der beschließende, von dem Schwaben Johann Conrad Kanz zur 6. Werkauflage 1745 in Berleburg hinzugetragene VII. Teil, der dann 1750 als Herborner Titeldruck nochmals auf den Markt kam,90 widmet dem »Leben der gottseligen Jungfrau BEATA Sturmin, aus einer authentiquen gedruckten Nachricht extrahirt« (Rieger als Quelle wird nicht genannt) dann aber immerhin den außergewöhnlichen Umfang von 65 Seiten.91 Ich komme zum Beschluss nochmals darauf zurück. Die vierte Einzelausgabe von Riegers Biographie folgte nach der von 1737 erst mit Generationenabstand im Spätpietismus, 1791 herausgegeben mit einer Vorrede des einflussreichen Bengel-Schülers Magnus Friedrich Roos (und so 1845 noch einmal nachgedruckt).92 In der Phase einer Dominanz

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Eine detailliertere Untersuchung, die allerdings selten über Martens’ Nachwort und Kommentierung hinausgelangt, gibt William E. Petig: Literary Antipietism in Germany during the First Half of the Eighteenth Century. New York [u.a.]1984 (Stanford German Studies, 22), 41 – 75; geringere Aufschlüsse zum Katalog des Bücherhökers 69 – 71. Zu diesem Spottkatalog vgl. Hans-Jìrgen Schrader : Probleme der bibliographischen und editorischen Erschließung pietistischer Literatur. In: Wolfgang Martens (Hg.): Bibliographische Probleme im Zeichen eines erweiterten Literaturbegriffs. Weinheim 1988 (= DFG. Mitteilung IV der Kommission für Germanistische Forschung), 83 – 111, hier 109 – 111, zum Hintergrund und zur polemischen Stoßrichtung der Komödie auch Ders.: Vom Heiland im Herzen zum inneren Wort. »Poetische« Aspekte der pietistischen Christologie. In: Pietismus und Neuzeit 20 (1994), 55 – 74, hier 59 f. Vorh. in der BSB München: Biogr. 1129d und BNU Strasbourg: E 139.667. Zur hinzugefügten Biographie der Argula von Grumbach vgl. Jung, Frauen des Pietismus (Anm. 76), 93 und 95, auch seinen Artikel, Ders.: Argula von Grumbach (geb. v. Stauf; 1492 – 1554). In RGG4 (wie Anm. 26). Bd. 3. Tübingen 2000, Sp. 1305. Details bei Schrader, Literaturproduktion (wie Anm. 1), 93 – 107, 219 – 222, 405 – 418 und 474, zur Sturm-Biographie und deren Besitzvermerke in pietistischen Büchersammlungen vgl. ebd., Register, 633. Historie der Wiedergebohrnen. VII. Theil. Berleburg 1745, Nachdruck (wie Anm. 1), 4 (dort auch der Titelbogen mit der neuen Vorrede zum Titeldruck »Frankfurt und Leipzig« [Herborn] 1750, 73*–80*), »Siebende Historie. Die Würtembergische TABEA«, 166 – 231. Zitate im Folgenden zur Entlastung des Fußnotenapparats direkt im Text ausgewiesen. Stuttgart: Erhard 1791 (digitalisiert verfügbar aus der StaBi Berlin: Ct 4109) und Stuttgart: Henne 1845 (LB Gotha: Bio 88 1508/6). Nachweise bei M•lzer, Die Werke der württembergischen Pietisten (wie Anm. 77), 315, Nrn. 2428/29.

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aufklärerischen Denkens auch in der Theologie wurde der Rückgriff auf katholisierend-pietistische Heiligenideale offenbar als unzeitgemäß empfunden, jedenfalls brachte der Kreis um den Heilbronner Generalsuperintendenten Christian Friedrich Duttenhofer, Verfasser einer Geschichte der religiösen Schwärmereyen in der christlichen Kirche (2 Bde., Heilbronn – Rothenburg 1796/97),93 eine Abwehrschrift heraus: Würtembergische Heiligen Legende oder das Leben der heil. Tabea von Stuttgard. Als ein Beleg zu Duttenhofers Untersuchungen über Pietismus und Orthodoxie. Nebst einem Anhang von der heil. Paula, Halle 1798.94 Im Gegensatz dazu aber griffen die Erweckungsbewegung und der anknüpfende Neupietismus auch hier das frömmigkeitliche Heiligenideal aus der Blütezeit des Pietismus wieder auf: Johann Arnold Kanne nahm »Beata Sturmin, oder die Würtembergische Tabea« 1816 (55 Seiten lang) in den Ersten Teil seiner Sammelbiographie Leben und aus dem Leben merkwürdiger und erweckter Christen aus der protestantischen Kirche auf.95 Dass diese Sammlung – und in ihr besonders die Lebensgeschichte der Sturmin, auf die am Schluss zurückzukommen sein wird – die beifällige Aufmerksamkeit des jungen Schopenhauer gefunden hat, habe ich schon angedeutet.96 1854 (und jahrs darauf in 2. Auflage) folgte in der Volksschriftenserie des Christlichen Vereins im nördlichen Deutschland in Eisleben und Leipzig als »eine neue Bearbeitung eines schon vor mehr als hundert Jahren erschienenen Buches« von dem fruchtbaren Erbauungsschriftsteller Carl Friedrich Ledderhose Beata Sturm, nach ihrem Leben dargestellt97 und die Buchhandlung der Evangelischen Gesellschaft in Stuttgart präsentierte sie abermals in ihrem Volksschriftenprogramm (Kleine Schriften, Traktate und Bilder, 58) als 6. und 7. Ausg. 1875 und 1880 – eine Ausgabe, die als Book on Demand bis heute lieferbar ist.98 So wanderte die Vita der so ortsfesten ausbündig Heiligen über moderne Biographiensammlungen des Schwäbischen Pietismus, Wilhelm Claus: Württembergische Väter. Von Bengel bis Burck (1887, 21900, 31926), wo ihr unter dem geistlichen Vater Georg Konrad Rieger ein eigenes Kapitel

93 Vgl. zu dieser antipietistischen Polemik Brecht, Der württembergische Pietismus (wie Anm. 76), 289: »Der Pietismus gilt […] als Teil des rückständigen württembergischen Systems als überholt in seiner biblisch-archaischen Sprache, seinen Verhaltensmustern, seiner ›entarteten‹ Frömmigkeit«. 94 Vorhanden BCU Lausanne: TH 1200 A. 95 Kanne, Leben und aus dem Leben (wie Anm. 33). Bd. I. 1816, 55 – 110. Die nachfolgend häufigen Zitate aus Kannes Beata Sturm-Biographie weise ich zur Entlastung des Fußnotenapparats aus diesem Band direkt mit Kurztitel am Zitatschluss aus. 96 Vgl. oben, Anm. 37. 97 BSB München: Biogr. 126v : auch digitalisiert greifbar, Zitat aus dem Vorwort. Ledderhose schrieb auch den Artikel in der Allgemeinen Deutschen Biographie (ADB). Bd. 37. Leipzig 1894 (Nachdr. Berlin 1967), 2 – 4. 98 Die Ausgabe »um 1775« auch bei M•lzer, Die Werke der württembergischen Pietisten (wie Anm. 77), 315, Nr. 2430, die von 1880 findet man bei Google-Books.

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gleichsam als Mädchenzimmer eingeräumt war,99 oder noch Julius Roessle: Von Bengel bis Blumhardt (1959)100 mit Neuauflagen 21960, 31962, 41966 und 5 1975 bis an die Schwelle der Jetztzeit, wo ihr von Pietismusforschung und feministischen Traditionsbestimmungen gerade jüngst der aufmerksamste Empfang bereitet wird.

11. Die einzelnen Bearbeitungen über 230 Jahre hin kontrastiv in ihren jeweils programmatischen Interessen und Stilisierungen zu beschreiben, wäre eine eigene, aufwendige Untersuchung. Hier muss es genügen, in ausblickhaft knappem Szenenvergleich die Redaktionen zwischen dem Hochpietismus der Historie Der Wiedergebohrnen und der Erweckungsbewegung in Kannes Leben und aus dem Leben einander gegenüberzustellen, wobei sich die Tendenzen bestätigen, die die Querschnittanalyse der sammelbiographischen Tradition sichtbar gemacht hatte. Die breite Passage, die Kanz in der Historie der zwar in »Ansehung der Absonderung vom äussern Kirchen=Wesen« vom Verständnis für Separatisten bestimmten, aber doch entschieden lutherischkirchlich geprägten, Gottesdienst und Abendmahl bejahenden Haltung der Sturmin widmet (S. 202 – 205), ist für Kanne in seiner Phase einer stürmischinnerkirchlichen Resakralisierung ohne jedes Interesse (wird dagegen bei Roessle angesichts separatistischer Stündler-Tendenzen im schwäbischen Pietismus nach dem Zweiten Weltkrieg wieder hervorgehoben, S. 105 f: »Ihrer Kirche und Gemeinde war sie in Treue verbunden«). Dagegen malt Kanne andere Episoden, die Kanz nur nüchtern-knapp berichtet hatte, breit und einfühlsam psychologisierend mit einem wiedererwachten Geschmack für das Wunderbare, auch für heiligtümliche Askeseforderungen, aus – in einem treuherzig-moralisierenden Tonfall, der an die von Auflage zu Auflage zunehmend verbürgerlichenden Amplifikationen in den Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm gemahnt. Zur Illustration stelle ich nur die initiale Episode aus den besonders bei Kanne weit ausführlicheren Berichten über die Anfechtungen der jungen Sturmin in Blaubeuren einander gegenüber. In der Historie war diese erste in der Serie der vom Teufel in verkappter Gestalt wie als Zweifelsgeist in ihrer Seele gegen sie bewirkten Versuchungen ihrer Frömmigkeit in der (abgesehen von Kuraufenthalten in Bad Teinach und 99 W. Claus: Württembergische Väter. Bd. 1: Von Bengel bis Burk. Bilder aus dem christlichen Leben Württembergs. 2. verb. u. verm. Aufl. Stuttgart 1900, 97 – 116 (»Beata Sturm«) mit Kolumnentiteln, die die Lebensabschnitte, Tugenden und Gnadenauszeichnungen resümieren: »Des Vaters Tod«, »In Blaubeuren«, »Gebetsübung«, »Erhörungen«, »Mildtätigkeit«, »Nüchterner Sinn«, »Der Heimgang«. 100 Julius Roessle: Von Bengel bis Blumhardt. Gestalten und Bilder aus der Geschichte des schwäbischen Pietismus. Metzingen 1959, 101 – 107 (»Beata Sturm die württembergische Tabea 1682 – 1730«).

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Zaisenhausen) einzigen kurzen Zeit, die sie außerhalb Stuttgarts verbracht hat, relativ knapp umrissen: »In dem Closter zu Blaubeyren / dahin sie einige Jahre nach ihres sel. Vaters Tod in die Kost gegangen, hat sie noch etliche schwere Anfechtungen erfahren und ausgestanden, wozu sie auf der Hinreyse gleichsam præparirt worden: denn weil der Fuhrmann, der sie auf einer Chaise dahin führte, den gantzen Weg dahin über den Weg und über die Pferde entsetzlich fluchte, ward sie dadurch angetrieben, mit groser Inbrünstigkeit und Zuversicht mit Hertz und Mund zu bäten und GOtt zu loben bis ins Closter hinein. Allda machte ihr nachgehends der Versucher das Bäten so saur und so schwer / daß sie GOtt keinen Vater mehr nennen konnte, sondern eitel Widerspruch und Zurückstossen leiden mußte. Sie konnte ie länger ie weniger im Gebät vor GOtt kommen, und wurde ihr endlich alles genommen, was noch Hoffnung oder Trost hätte geben sollen. Endlich fiel ihr durch eine verborgene Gnadenwirkung des H. Geistes ins Gemüth, daß GOtt ein Vater der Waysen sey, Ps. 68,6. Welches Wort sie ergriffen und sich daran gehalten; darauf es denn wieder anfangen heiterer in ihrem Gemüth zu werden.« (Historie VII, S. 181)

Diesen Mitteilungskern walzt Kanne zu einer ganzen Theologie der Anfechtung als einer Nachstellung des leibhaftigen Satans gegen alle Christusnachfolger aus, wobei er nicht vergisst, eine Polemik gegen die Aufklärung einzuflechten, deren Einfluss die Menschen so herrlich weit gebracht habe, die Anfechtungen zarter Gewissen ebenso für schädliche Einbildungen zu halten wie den Teufel selbst. »Während sie betete, fluchte und schwor ihr roher Kutscher entsetzlich über Pferde und schlechten Weg, und es war die Reise gleichsam die Einleitung zu dem, was ihr in Blaubeuren widerfuhr. Denn hier war es, wo die heftigsten Anfechtungen sie bestürmten. […] Aber Anfechtung? Versuchung? Wie mag ein gescheuter Mann noch davon zu sprechen wagen, nach den Fortschritten, die wir bis hieher gemacht haben? Darauf antworte ich: Gleich den Pilgern, die zum heiligen Grabe wollten, müssen wir gerade die Schritte, die wir vorwärts gethan haben, wieder rückwärts thun, wenn wir zum Heiligthum kommen wollen: die Sonne der Aufklärung ist in ihrer Bahn just bis zur Sommer=Sonnenwende – bis zum Zeichen des Krebses fortgerückt, wo es endlich Zeit ist rückwärts zu gehen, um vorwärts und zum Ursprunge zu kommen. Wohl kann uns dringendes Bedürfniß zu Christo hintreiben, und wohl erquickt er uns dann mit den Erstlingen seiner Gnade, aber ganz an Christum, ganz sein Erlösungswerk glauben, können wir nur, wenn wir ganz an den Satan glauben, und wie an Christi Einwirkung auf jeden einzelnen, so an des Widersachers Gegenwirkung bey demselben […]. Diese gerade, die der Erlöser zur Wiedergeburt und Erstgeburt bringen will, müssen im einzelnen den Widersacher immer noch ebenso am heftigsten und merkbarsten erfahren, wie jene ganze Zeit ihn am sichtbarsten erfuhr, als der Heiland zuerst im Fleische erschien, um sein Reich zu zerstören […]. Sie gerieth in jenen Zustand, den beynahe alle Seelen erfahren haben, die den Weg der Heiligung geführt sind; in den Zustand, wo der Himmel sich allen Gebeten verschließt, wo kein

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Liebesblick von Ihm die trostlose Seele erquickt. Es ist eine Zeit der Prüfung, die bey dem einen länger oder kürzer – bey manchem mehrere Jahre – gedauert hat, bey andern öfter wiederkehrt; denn dem Nachfolger Christi muß es gehen, wie Christo selbst, der beym Antritt seiner Laufbahn in einer Wüste geprüft wurde, und am Ende derselben, da er alles überwinden sollte, rufen mußte: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?« (Kanne: Leben und aus dem Leben, S. 68 – 70)

12. Der Autor der Erweckungsbewegung kommt in der Theologie der Wiedergeburt und Nachfolge Christi wie in der Dämonologie dem Pietismus wieder näher – wenngleich wortreicher und in pathetischer Heilsbringerpose – als den Vertretern der neologischen Theologie, die in der dazwischenliegenden Phase des späten 18. Jahrhunderts pietistische und aufklärerische Anregung verschmolzen hatten. Auch hier aber zeigt sich die schon oben an den Zeugnissen der Erweckungsbewegung vermerkte dumpf-konservative (wie die Gegner im 19. Jahrhundert sagten, »muckerische«) und latent xenophobe Zutat, die dem originären, grundsätzlich institutionenskeptischen, also staatswie kirchenkritischen Pietismus noch vollkommen fremd gewesen war. Hieß es in der Historie über die Gefangenschaft des Vaters Sturm, durch die er der frommen Tochter auf Jahre entzogen war, neutral »Bey dem Einfall der Frantzosen A. 1693. hat er nicht allein sich selbst freywillig zur Geiselschafft angeboten, sondern auch andere dazu aufgemuntert, und damit seine Treue gegen das Vaterland bewiesen« (Historie VII, S. 172)

– so verwandelt Kanne in der Zeit eines zunehmend chauvinistischeren Franzosenhasses nach der napoleonischen Besetzung und den Befreiungskriegen Patriotismus in Nationalismus, »denn in dem Kriege, in welchem die Franzosen am Rhein so fürchterlich gewütet hatten, und noch 1693 im Würtembergischen brandschatzten, ward er, als freywillige Geisel, nach Frankreich abgeführt«. (Kanne: Leben und aus dem Leben, S. 56)

Das Bewusstsein aber, in der Erbschaft des alten Pietismus zu stehen und zur Versammlung der Heiligen für das künftige Gottesreich berufen zu sein, ist ungebrochen, selbst wenn der Impetus sich von der Weltverwandlung durch Menschenverwandlung zum letzteren, eher individualistisch-psychagogischen verschoben zu haben scheint (der soziale Aspekt erwacht erst wieder in der Diakoniebewegung). Diese Traditionsanknüpfung zeigen nicht nur die zahlreichen in Kannes Erzählung eingewobenen aus anderen pietistischen Musterviten, sondern speziell auch die Hinweise auf jene generationenweit zurückliegenden Sammelbiographien, deren Kette Kanne mit seinem Werk fortführen will. Explizit, z. T. mehrfach genannt werden davon allein in seiner

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Hans-Jürgen Schrader

Redaktion der Beata-Sturm-Vita neben allerlei einzeln erschienenen Erbauungsbiographien »Reitzens Geschichte der Wiedergebornen« (S. 60 und 72, vgl. 108), »Terstegens Leben heiliger Seelen« (S. 72 und 89, vgl. 64), die »Sammlung zum Bau des Reichs Gottes« (S. 55, 89 und 102), die »Verbesserte Sammlung zum Bau des R. G« (S. 72), das »Berlinische Hebopfer« und die »Bremer theologische Bibliothek« (S. 83), schließlich »des Grafen Henkel letzte Stunden« (S. 109). Über die pietistische Heilige Tabea und über ihre Nutzung der frommen Vorbilder und Wolke der Zeugen aber wird gesagt: »sie ließ sich […] große Muster zu ihrem Besten dienen. Ist dieser Mensch, dachte sie, nicht auch von Adam? Hat er nicht auch ein so böses Herz gehabt wie du es hast? Ists also nicht bloße Gnadengabe, was er jetzt hat? Dann lief sie hin, und hielt es dem himmlischen Vater vor: ›lieber Gott, du bist ja auch mein Vater, ich auch dein Geschöpf, hast du es diesem aus Gnaden geschenkt, so schenke mirs auch.‹« (Kanne: Leben und aus dem Leben, S. 101).

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Christine Lost

»Die Brüdergemeine ist meine eigentliche Heimat …« Zukunftserwartung und Lebensweg in Herrnhuter Lebensläufen Die Evangelische Brüder-Unität in ihrer Gesamtheit als Erinnerungs- und Erwartungsgemeinschaft zu beschreiben und zu erklären, ist nicht nur durch ihre Programmatik gestützt, sondern auch durch den faszinierenden Fundus archivierter und zum großen Teil selbstverfasster Lebensläufe. Diese Lebensläufe werden seit der Mitte des 18. Jahrhunderts (bis heute) von den Mitgliedern der Brüdergemeine niedergeschrieben, sie sind zum überwiegenden Teil selbstverfasst und sie werden in Gänze oder in Auszügen zur Begräbnisfeier verlesen. Etwa 30.000 dieser Lebensläufe werden im Zentralarchiv der Brüder-Unität in Herrnhut aufbewahrt. Konzept und Entwicklung dieser Gemeinschaft lassen sich anhand von summierten Lebensläufen ablesen, wobei prinzipielle Aussagen unter den Bedingungen unterschiedlicher Zeiteinflüsse – also von Zeitereignissen oder auch »Moden« – ebenso zu prüfen sind wie die eben dadurch bewirkten Wandlungen, Verluste, Innovationen und »Modernisierungen«. Nachfolgend wird versucht, jene Grundlagen und jene Haltung zu bestimmen, die in Beständigkeit und Wandel dazu beigetragen haben, die Existenz der Herrnhuter Brüdergemeine zu sichern. Der Schwerpunkt liegt auf den Ausdrucksformen, die die damit verbundenen Entwicklungen in den Lebensläufen gefunden haben. Es wird (erstens) auf das Thema Zukunftserwartung in Herrnhuter Lebensläufen näher eingegangen. Dies wird (zweitens) mit Beispielen aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts untersetzt. Abschließend (drittens) wird versucht, das in den Lebensläufen beschriebene Verhältnis von Stabilität und Wandlung, Gegenwartsrealität und Zukunftserwartung zu benennen.

1. Zukunftserwartung in Herrnhuter Lebensläufen Es ist davon auszugehen, dass in den spezifischen Herrnhuter Lebensläufen Gegenwartsrealität, Zukunftserwartung und tradierte »Herrnhuter Frömmigkeit« zu einer Synthese verbunden sind.1 In ihnen spiegelt sich jene Situation in individueller, wenn auch tradierter Sicht wider, mit der die Gemeine 1 Christine Lost: Das Leben als Lehrtext. Lebensläufe aus der Herrnhuter Brüdergemeine. Baltmannsweiler 2007: auch als Beiheft 14 der Unitas Fratrum. Herrnhuter Verlag 2007.

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als Ganzes konfrontiert ist.2 Das Verhaltensmuster der Gemeine in Zeiten politischer Krisen und staatlicher Indoktrinationen war von entscheidender Bedeutung für ihre fortdauernde Existenz und Entwicklungsfähigkeit.3 Das geschah jedoch nicht konfliktlos. Die im 19. Jahrhundert einsetzende gezwungene Anpassung an nationalstaatliche Gesetzgebungen, so die Trennung von Gemeine und Kommune, die notwendige Einstellung auf Schulgesetzgebungen sowie der Einbruch von Wissenschaft, Patriotismus, bürgerlich-liberaler Freiheitsgedanken in ursprünglich festgefügte Formen und Ideale des Zusammenlebens4 führten zu internen Spannungen und durchaus differenzierten Verhaltensweisen sowie zu einem notwendigen Konsens über den Standort der Brüdergemeine innerhalb der allgemeinen Veränderungen. Durchweg erkennbar in den Lebensläufen sind Aussagen wie: »Die Brüdergemeine ist meine eigentliche Heimat…« (1901 – 1980/m)5 oder auch: »… haben wir uns in keiner Weise beeinflussen lassen« (1898 – 1981/m)6. »Herrnhut« (in symbolischer Bedeutung) bzw. die Gemeine als »innerer« Lebensort, als »Heimat fürs Leben« (1901 – 1968/w)7 bedeutet Bindung und Geborgenheit und äußert sich auch im Spannungsfeld von Abgrenzung und Öffnung, Bewahrung und Kompromiss. Die »Außenbeziehungen« der Gemeinschaft und des Einzelnen münden offensichtlich im Begriff der »kritische[n] Loyalität«8. »Die Brüdergemeine war eben nicht Gesellschaft«, formulierte Mettele 1999, »sondern blieb Gemeinschaft, zusammengehalten durch das ›innere‹ Band der gemeinsamen Religion und nicht nur durch den ›äußeren‹ Zwang der bürgerlichen Gesetze«.9 Die damit verbundenen Prozesse verliefen durchaus nicht konfliktlos, sicherten aber die Existenz der BrüderUnität über nahezu drei Jahrhunderte, also über etwa zehn Generationen hinweg, in weltweiter Ausbreitung und ökumenischer Wirksamkeit. 2 Als Beispiel: Christine Lost/Gisela Miller-Kipp: » … haben wir uns in keiner Weise beeinflussen lassen«. Erziehung und Schule, Zeitereignisse und Selbstbewusstsein in Herrnhuter Lebensläufen zwischen 1900 und dem Beginn des Zweiten Weltkriegs. In: Jahrbuch für Historische Bildungsforschung 11, 2005, 211 – 228. 3 Nachgewiesen z. B. von Albrecht Stammler: Die Brüdergemeine in Deutschland im Umfeld der politischen Krise von 1848. In: Unitas Fratrum 48, 2001, 47 – 69; auch in der nicht unumstrittenen Untersuchung von Hedwig Richter: Pietismus im Sozialismus. Die Herrnhuter Brüdergemeine in der DDR. Göttingen 2009 (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, 186). 4 Dietrich Meyer : Die Brüdergemeine als Freikirche. In: Ders. (Hg.): Lebensbilder aus der Brüdergemeine. Herrnhut 2007 (Unitas Fratrum, Beiheft 15), 207 f. 5 Um die Anonymität der Verfasser von Lebensläufen zu wahren, werden nur Lebensdaten und Geschlecht (m/w) angegeben. Über die angegebenen Signaturen des im Zentralarchiv der BrüderUnität in Herrnhut (UA) bewahrten Bestandes sind die Namen zu erschließen. Hier : UA R.22.155.18a,b,c. 6 UA R.22.154.83a. 7 UA R.22.154.20. 8 Verwendet von Richter in: Pietismus im Sozialismus, 204. 9 Gisela Mettele: Bürgerinnen und Schwestern. Weibliche Lebensentwürfe in der bürgerlichen Gesellschaft und religiöser Gemeinschaft im 19. Jahrhundert. In: Unitas Fratrum 45/46, 1999, 113 – 140, hier: 118.

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Die schrittweise Hinführung zu den entsprechenden Formierungen – unter Beibehaltung des ursprünglichen Wesenskerns der spezifischen Herrnhuter Frömmigkeit – wird in konfliktreichen Zeiten besonders sichtbar.10 Die Herrnhuter Lebensläufe enthalten die Konfrontation mit diesen Ereignissen mehr oder minder ausgeprägt. Beispiele liefert u. a. das erste Drittel des 19. Jahrhunderts. Dieser Zeitraum zeigt historisch und brüdergeschichtlich Brüche und Wandlungen, die sowohl die herrnhutischen Lebensgänge als auch die niedergeschriebenen Lebensläufe berühren.

2. Das kritische erste Drittel des 19. Jahrhunderts Goethe hatte jene drei Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts, die er als Zeitgenosse miterlebt hat, als »Zeitstrudel«11 empfunden. Ihm begegnete eine veränderungsdrängende und -intensive Zeit, der man mit konservativer und auf sich selbst zurückgezogener Haltung begegnen oder aber auf die man sich einlassen konnte – und sogar sollte und musste? Goethes Urteil darüber veranlasste Ludwig Börne (1786 – 1837), Goethe als »Stabilitätsnarr« zu verstehen. Und Heinrich Heine (1797 – 1856) bezeichnete Goethe als »das große Zeitablehnungsgenie, das sich selbst letzter Zweck ist«.12 Auch in den brüderischen Gemeinden brachen parallel zu den »Zeitstrudeln« vielfältige Konflikte auf. Sie äußerten sich u. a. als »Frömmigkeitsturbulenzen«, als »Stillstand«13, als Entscheidungsdruck über den künftigen Umgang mit sich und mit »außen«. Noch um 1800 waren die ursprünglich als »Sammelplätze der Kinder Gottes« gegründeten Gemeinden von unübersehbarer Anziehungskraft. Als »Ortgemeinen«, d. h. als geschlossene Brüdersiedlungen, erlebten sie in dieser Form ihre größte Blüte als soziale Gemeinwesen und wurden »zum Inbegriff für die Brüdergemeine und ihren Lebensstil überhaupt«14. Die Organisation des gesamten Lebens erfolgte aus einer geistlichen Mitte heraus. Als Kriterium der Zugehörigkeit galt die Erfahrung der Erweckung. Goethe, an den »Stillen im Lande« durchaus interessiert, ließ sich 1822 über den Prototyp der Ortgemeine, also über Herrnhut, von Carl Friedrich Zelter (1758 – 1832) berichten. Zelter, mit Goethe befreundet, hatte sich auf eine Pfingstreise begeben und den Besuch des Ortes Herrnhut vorgesehen. Goethe erhält einen gründlichen Bericht über diesen Teil der Reise. Er sei auf eine 10 Vgl. dazu Stammler, Die Brüdergemeine 1848; Lost/Miller-Kipp, Erziehung und Schule; Richter, Pietismus im Sozialismus u. a.. 11 Diesen Begriff zitiert Sigrid Damm: Goethes letzte Reise. Frankfurt a. M./Leipzig 2007, 33. 12 Damm, Goethes letzte Reise, 31. 13 Dietrich Meyer : Zinzendorf und die Herrnhuter Brüdergemeine 1700 – 2000. Göttingen 2000 (Kleine Reihe V&R; 4019), 88. 14 Meyer, Zinzendorf, 94.

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»weite Enge«15 getroffen, schreibt Zelter. Begegnet seien ihm »Ordnung, Zucht und Stille«16, »Nettigkeit und Reinlichkeit«17, ausschweifende Höflichkeit. So wie die Menschen, heißt es nicht ohne Distanz und Ironie, sei hier alles unter der Schere gehalten;18 alt müsse man hier sein, dann ginge es.19 Jedoch: »Will man gerecht sein, so muß man finden, daß die Leute wissen, was konsequent heißt. Wer hier geboren oder gewöhnt ist, muß sich ohne Zweifel hier [sic!] sicherer als anderswo finden«.20 Die »Stille« von 1800 schien bewahrt, wenn sie auch eine »äußere« blieb und 1822 »unter der Schere« schien. Dennoch war die Situation in den ersten beiden Jahrzehnten des neuen Jahrhunderts zunehmend problematisch geworden. Die Mitgliederzahlen sanken, die Gemeinden »verweltlichten« zunehmend und die (herrnhutischen) Sitten – insbesondere unter den Jungen – verfielen. Es wurden »Zügellosigkeit, Leichtsinn, Trägheit, Weltgeist, Gleichgültigkeit gegen die Gemeine«21, ein »einreissender Geist der Ungebundenheit und [Einf. C.L.: wahrscheinlich im Sinne eines Gegenparts die kritiklose] Subordination«22 konstatiert.23 Der Bedarf nach Wissenschaft, nach theologischer und philosophischer Auseinandersetzung kollidierte mit der gefühlsorientierten brüderischen Herzensbildung, besonders deutlich in den brüderischen Bildungseinrichtungen. In den theologischen Auseinandersetzungen gelang es nur unzureichend, die Zinzendorfsche Forderung nach Eigenständigkeit lebendig zu halten und sich von der Orthodoxie abzugrenzen. Nahezu gegenteilig wurde auf historische Rückbesinnungen verzichtet und das Bestreben gefördert, die »totale Gemeine«24 als ein »in sich zirkulierendes System«25 beizubehalten.26 Die Unzufriedenheit mit den Erstarrungen und der 15 Carl Friedrich Zelter: Beschreibung von Herrnhut (Briefwechsel zwischen Goethe und Zelter i.d.J. 1796 – 1832). In: Hugo von Hofmannsthal (Hg.): Deutsches Lesebuch. Leipzig 1984, 188 – 192, hier: 189. 16 Ebd. 17 Ebd., 191. 18 Ebd. 19 Ebd., 190. 20 Ebd., 191. 21 Werner Reichel: Samuel Christlieb Reichel in seiner Entwicklung zum Vertreter des »Idealherrnhutianismus«. In: Zeitschrift für Brüdergeschichte 6, 1912, 1, 13. 22 Hans-Walter Erbe: Erziehung und Schulen in der Brüdergemeine. In: Unitas Fratrum. Utrecht 1975, 315 – 349, hier: 319. 23 Zu den Symptomen gehörte u. a. auch, dass zwischen 1804 und 1867 in Herrnhut kein einziges neues Haus gebaut wurde. Zum Vergleich: Allein zwischen 1867 und 1922 entstanden 80 bis 90 Neubauten. Die Einwohnerzahl – ursprünglich, also 1727, betrug sie 300 – blieb zwischen 1760, dem Todesjahr Zinzendorfs, und 1800 konstant (1200 Einwohner), verminderte sich jedoch bis 1848 auf 924 (342 männlich sowie 582 weiblich). Nach Theodor Bechler: Ortsgeschichte von Herrnhut. Herrnhut 1922, 104. 24 Erbe, Erziehung und Schulen, 319. 25 Hans-Walter Erbe: Die Nieskyer Erweckung 1841. In: Unitas Fratrum 15, 1984, 3 – 31, hier: 5. 26 Hier hinein gehört wohl auch die mit der Überführung des gesamten Unitätsarchivs 1801 von Zeist nach Barby vorgenommene Säuberung des Bestandes durch den neuen Archivar Christ-

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spürbare Entwicklungsverzicht führten zur Abspaltung von Diskussionsgruppen, oft in der zeitgenössischen Form von Freundschaftsbünden, zu Abbrüchen der Ausbildung in brüderischen Einrichtungen und auch zu Austritten aus der Brüdergemeine. Dennoch hatte die Generalsynode27 von 1801, es war die erste von zehn weiteren im 19. Jahrhundert, zunächst den (scheinbar erfolgreichen) Status quo bestätigt. Erst 1818 gelang es mit der (lange hinausgezögerten) nachfolgenden Synode, einen prinzipielleren Wandel einzuleiten. Demzufolge werden die 1830er und 1840er Jahre als eine Zeit der beginnenden Wiederbelebung von Frömmigkeit und theologischer Entwicklung beschrieben, provoziert durch die vorangegangenen und anhaltenden »Zeitstrudel«, ermöglicht durch Rückbesinnung auf die Wurzeln und mündend in einem neuen Verständnis des »inneren Wesens« der Brüdergemeine,28 damit auch in einer »äußeren« Entwicklungsfähigkeit. So erreichte die Diaspora-Arbeit einen neuen Höhepunkt. Die Erziehungsarbeit erhielt durch die Einrichtung eines eigenen »Erziehungsdepartements«29 wieder zunehmendes Gewicht. Es entstanden die Voraussetzungen für die schließlich um 1840 sichtbar einsetzende allgemeine Aufbruchsstimmung.30 Die neuerliche Erfahrung der »Erweckung«, zunächst unter Schülern des Nieskyer Pädagogiums im Jahr 1841,31 führte dazu, für die »christliche Glaubensgemeine« eine zeitgemäße Form zu finden.32 Sichtbar wird in dieser Krise ein permanenter Konflikt zwischen Bestand, Geschlossenheit und scheinbar unbeirrbarer religiöser Konvention der Gemeinschaft auf der einen Seite sowie dem Bedarf an Wandlung, Öffnung und Infragestellung auf der anderen. Das Gemeineleben und dessen Zukunftsentwurf waren belastet »mit einer sentimentalischen Stimmung, mit einem depressiven Verhältnis zur Gegenwart und einer Sehnsucht nach vergangener Herrlichkeit«33. Für die Zukunftsfähigkeit war jener »Kern«, jene (ursprüngliche) Spezifik zu suchen, zu bestimmen, zu erhalten und in das Leben der Gemeine einzubringen, die ihre Lebendigkeit, Wirksamkeit und Entwicklung garantieren konnten.34 Zu

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lieb Suter. Damit gingen Akten verloren, die ihn nicht interessierten bzw. deren Inhalt künftigen Generationen vorenthalten werden sollte (Paul Peucker: Zur Geschichte des Unitätsarchivs. In: Herrnhuter Bote. Mitteilungen aus der Brüdergemeine 5, 2002, 5 – 7, hier 5). Oberste Leitung der weltweiten Brüder-Unität (Paul Peucker: Herrnhuter Wörterbuch. Herrnhut 2000, 29 u. 60). Meyer, Zinzendorf, 95; Stammler, Die Brüdergemeine, 48 f. Meyer, Zinzendorf, 112. Ebd., 96. Erbe, Die Nieskyer Erweckung, 23 f. Das Ereignis von 1841 sei kein »pietistischer Durchbruch« gewesen, sondern in dieser Form das Resultat von Frustration, verursacht durch die alltägliche Routine, durch die abgenutzte religiöse Sprache, durch die Einsamkeit des Einzelnen, durch fehlende menschliche Beziehungen – so Erbe. Meyer, Zinzendorf, 97. Erbe, Die Nieskyer Erweckung, 24. Genannt werden u. a.: ein freieres Verhältnis zueinander »mit weniger Fassade, weniger For-

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den »rebellierenden«, den Status quo hinterfragenden Jahrgängen gehörten vorwiegend jene zwischen 1763 und 1789 und als deren prononcierte Vertreter Johann Baptist von Albertini (Jg. 1789)35 und Friedrich Daniel Schleiermacher (geb. 1768), Jacob Friedrich Fries (geb. 1773) und Christlieb Reichel (geb. 1774) sowie Karl Bernhard Garve (geb. 1763). Ihr Aufbruch gegen die Macht der Tradition und Konvention mündete im Weggang (Schleiermacher, Fries), im Verdrängen in die Bedeutungslosigkeit (Garve) oder im Kompromiss (v. Albertini, Reichel).36 Wie nun zeigen sich diese Ereignisse und Konflikte in den zeitgenössischen herrnhutischen Lebensläufen, wobei davon auszugehen ist, dass sie durch Muster tradiert und durch gemeinschaftliche Zwecksetzungen dominiert, also nicht primär auf die genannten Konflikte ausgerichtet sind? Lebensläufe, die sich kritisch mit der Situation in der Brüdergemeine auseinandersetzen, benennen die unbefriedigende Situation direkt, aber sie sind eher selten. In vielen Fällen wurden sie nicht geschrieben oder es wurden die entsprechenden Passagen ausgespart und an anderer Stelle vorgetragen. Dennoch werden in Lebensläufen entsprechende Konflikte angesprochen, weil das Leben in der Gemeine als einengend, reglementiert, erstarrt, unbefriedigend, langweilig empfunden wurde. Verständlich wird nicht nur die Berührung durch zeitgeschichtliche Ereignisse und interne Konflikte, sondern auch ein Ausbruch der Jüngeren in die Zeitgeschichte. Anlässe sind vor allem der Bildungserwerb, die Ausbildung und der Dienst in den brüderischen Einrichtungen, aber auch »philosophische Zweifel« (1826 – 1888/m)37. In einem 1849 niedergeschriebenen Lebenslauf (1801 – 1873/m) heißt es – bezogen auf die Lebendigkeit und Entwicklung in den Gemeinorten über den Gemeinort Niesky (Oberlausitz): »Das Leben in der Gemeine war schläfrig«38. Und über das erstarrte Regelwerk des Zusammenlebens, das u. a. die Ehepartner bestimmte: Die dominierende und bestimmende Gemeine verwandle die ledigen Brüder nach und nach in Gemeingut, sie würden durch die Verheiratungspraxis zum »Raub der Weiber«. Die Folge sei: »Die Männer ziehen sich zurück, und endlich wird’s eine heillose Weibergeschichte«.39 Die Entwicklung in den Gemeinorten hatte zudem zu sozialen Schieflagen geführt. Noch 1889 setzte sich z. B. die aus 1008 Personen bestehende Brüdergemeine in Herrnhut aus 272 miteinander verheirateten Geschwistern, 14 Witwern, 98 (!) Witwen, 118

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melhaftigkeit, mehr Unbefangenheit«, mehr schlichte Zuwendung (Erbe, Die Nieskyer Erweckung, 24). Dazu Helmut Bintz: Johann Baptist von Albertini. In: Meyer, Lebensbilder aus der Brüdergemeine, 209 – 223. Erbe, Die Nieskyer Erweckung, 23. UA R.22.54.25. Hans-Walter Erbe: Carl Immanuel Erbe (1801 – 1873). In: Mitteilungen aus der Brüdergemeine, 1939, 2, 41 – 53, hier 46. Ebd., 48.

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ledigen Brüdern, 279 (!) ledigen Schwestern und 220 Kindern zusammen.40 Auch im eigenen Lebensgang werden Härten und Ungerechtigkeiten entdeckt und beschrieben. Das betrifft vor allem die Trennung der Kinder von Diaspora-Arbeitern oder Missionaren von den Eltern, die Isolation und Vereinsamung der Kinder in den Erziehungsanstalten und die mögliche Berufswahl. Mit fünf Jahren sei er in die Nieskyer Knabenanstalt gekommen, weil seine Eltern Diaspora-Arbeiter gewesen seien (1809 – 1882/m)41. Keinesfalls hätten die dortigen Lehrer die Eltern ersetzen können. Neun Jahre habe er in der Isolation solcher Anstalten zugebracht. Seinen Eltern sei er erst 1828, also nach 14 Jahren, wiederbegegnet. Zudem habe er den Eindruck gehabt, dass bei der Berufswahl »allein jene, als Söhne angestellter Gemein-Arbeiter […] den Vorrang vor dem Sohne des fern wohnenden Diaspora-Arbeiters« erhalten hätten. Bemerkbar sei auch der »Mangel an collegialer Harmonie zwischen den studierten und den unstudierten Brüdern« gewesen. Die Kinder von Missionaren erlebten die Situation ähnlich. 1805, im Alter von fünf Jahren, sei sie als Tochter eines Missionars von Grönland in die brüderische Anstalt nach Kleinwelka gebracht worden, so in einem Lebenslauf (1800 – 1864/w)42. Sie habe hier die Kriegswirren von 1813 und die dadurch bedingte Flucht der Anstalt miterlebt. Ihren Eltern und den ihr noch völlig unbekannten elf- und sechsjährigen Geschwistern sei sie erst im Alter von 17 Jahren erstmals bzw. wiederbegegnet. Während in den Lebensläufen der Mütter die schmerzhafte Trennung von den Kindern beschrieben wird, stellen die Lebensläufe der Missionare selbst eine eigene zeit- und zukunftsbezogene Kategorie dar. In ihnen dominieren die Beschreibung der vorgefundenen Situation, die Entwicklung der Umstände und die Erfolge der Arbeit mit der Absicht, in einer gleichsam tätigen Zukunftsorientierung Erfahrungen mitzuteilen. Diese Lebensläufe sind umfangreiche Erfahrungsberichte, bei denen die eigene Biografie in den Hintergrund gerät (z. B. 1784 – 1855/m)43. Zahlreiche Lebensläufe – eine weitere erkennbare Kategorie – berichten von allgemeinen und regionalen Zeitereignissen. »Welt-Ereignisse« im »Gang der Zeit« werden vielfach erwähnt, sie wurden erlebt, erlitten oder durch Gespräche und Lektüre (1791 – 1863/w)44 zur Kenntnis genommen. Oft werden ihre unmittelbaren Auswirkungen auf die Lebensumstände beschrieben. Besonders einschneidende Erlebnisse, die Unruhe, Flucht, Hunger, Brände, Einquartierungen, Verlust von Eigentum, Lebensangst mit sich brachten, waren offensichtlich jene, die sich aus den Ereignissen des Siebenjährigen Krieges und aus den kriegerischen Auseinandersetzungen und wechselnden Einquartierungen der Jahre 1805/06 bis 1813 ergaben (1772 – 1851/w; 1793 – In: Nachrichten aus der Brüdergemeine Tl. 2, 1890, 1. 16 – 18. UA R.22.57.10. UA R.22.158.07. So z. B. der Lebenslauf von Johannes Lemmerz (1784 – 1855). UA R.22.178.05, auch UA R.22.51.39. Maschinenschriftlich umfasst er 64 Seiten. 44 UA R.22.88.01.

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1879/m; 1748 – 1832/w; 1800 – 1864/w; 1801 – 1884/m)45. So weist ein weiblicher Lebenslauf (1838 – 1886/w)46 zwischen 1842 und 1872, also innerhalb von dreißig Jahren, 13 verschiedene Lebensorte aus. Ein weiterer Lebenslauf berichtet über ein suchendes Leben, »reich an mancherley Erfahrungen« (1780 – 1849/w)47. Diese Erfahrungen betreffen nicht nur die lokale Annäherung an den Ort Herrnhut, sondern auch die Annäherung an die Brüdergemeine, Letzteres über den Weg von der Zugehörigkeit zur katholischen, evangelischen, reformierten und schließlich zur brüderischen Religiosität. In männlichen Lebensläufen wird mehrfach der Militärdienst als eingreifend beschrieben (1795 – 1867/m; 1795 – 1856/m)48. In vielen Lebensläufen jener Jahrgänge spielen Kindheitserlebnisse im Siebenjährigen Krieg eine Rolle. Insbesondere nach den Wirren des Siebenjährigen Krieges galt die Aufnahme in den Ort Herrnhut, in einen anderen Gemeinort und in die Gemeine sowie nachfolgende Jahre im Dienst der Gemeine als Glücksfall und als Angekommensein (1747 – 1830/w)49. Unübersehbar ist die Kategorie der auf sich konzentrierten Lebensläufe außerhalb konkret benannter Zeitereignisse. Unter den Lebensläufen, die Zeitereignisse weitgehend ausklammern und auf das persönliche Schicksal beschränkt bleiben, sind auffällig viele von adligen Witwen verfasst, die sich im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts nach der Verwitwung für einen der Brüdergemeinorte als Lebensort entschieden (u. a. 1758 – 1837/w und 1769 – 1854/w in Herrnhut; 1778 – 1849/w in Gnadenfrei; 1739 – 1814/w in Niesky ; 1743 – 1811/w in Kleinwelka)50. Zu den einschneidenden privaten Ereignissen gehören in diesem Zeitraum auch das Gefühl des Verlassenseins und die Entfremdung von den Eltern bei jenen, die beim Eintritt in das Schulalter in die Erziehungsanstalten der Brüdergemeine aufgenommen wurden, weil die Eltern als Missions- oder Diaspora-Arbeiter im Dienst der Gemeine standen. Große Probleme bereiteten zudem die durch das Los bestimmten Ehen bzw. die Zuordnung von Ehepartnern durch die Gemeine. Diese Probleme werden angesprochen, in nahezu allen Fällen aber der gute Ausgang hervorgehoben. So heißt es über die 1815 vorgesehene Ehe einer 33jährigen mit einem Witwer : »Dieser Schritt wurde mir schwer« (1782 – 1846/w)51. In einem Lebenslauf heißt es rückblickend auf die 1824 erfolgte Eheschließung, sie sei mit einer Schwester52 erfolgt, »die mir passend genannt wurde, die ich aber nicht ge45 In der o.g. Reihenfolge: UA R.22.97.50; UA R.22.57.05; UA R.22.158.03; UA R.22.158.07; UA R.22.15.13. 46 UA R.22.88.06. 47 UA R.22.93.51. 48 UA R.22.159.24; UA R.22.159.24. 49 UA R.22.93.53. 50 In der o.g. Reihenfolge: UA R.22.93.16; UA R.22.177.25; UA R.22.93.17; UA R.22.77.22; UA R.22.80.20. 51 UA R.22.93.34. 52 Die Mitglieder der Brüdergemeine verstehen sich als Geschwister.

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kannt und noch nie gesehen hatte« (1793 – 1879/m)53. Am 13. August des Jahres 1824 sei er in Herrnhut eingetroffen, am 19. des Monats sei die Verlobung und am 31. die Heirat erfolgt. Die Ehe endete dennoch mit gutem Ausgang, und zwar nach 42 Jahren mit dem Heimgang der Ehefrau 1866. Von schwierigen persönlichen Umständen berichten Frauen oft in besonderer Weise. So wird Eleonore Haven (1778 – 1858/w)54 mit 27 Jahren die Ehefrau eines Missionars auf den Dänisch-westfälischen Inseln, nach der Geburt von zwei Kindern verwitwet sie 1811, geht 1812 eine neue Ehe ein, erneut werden zwei Kinder geboren, von denen eines und der Ehemann 1814 versterben. Innerhalb von zehn Jahren war sie also zweimal – es ließe sich sagen: im Interesse und im Dienst der Gemeine – verheiratet und hatte vier Kinder geboren. 1815 kehrt sie nach Herrnhut zurück, wird innerhalb eines Jahres in Dresden zur Hebamme ausgebildet und übt den Beruf ab 1816 bis zu ihrem Tode aus, es sind immerhin 42 Lebensjahre. Ein ähnliches Schicksal erlebt Sophie Catherine Wiedemann (1775 – 1853/w)55 mit drei Ehen innerhalb von zwanzig Jahren (Eheschließungen 1816, 1822 und 1836, danach erneut verwitwet).

3. Gegenwartsrealität und Zukunftserwartung in den Herrnhuter Lebensläufen Der Blick auf das Jahr 1830 zeigt in der Herrnhuter Brüdergemeine nebeneinander ein nach wie vor wirksames »Eingerichtetsein«, ferner deutlich empfundene und beschriebene Einengungen als Reaktion auf wissenschaftliche, theologische, nationalstaatliche und andere Veränderungen sowie einen beginnenden inneren Aufbruch, der jedoch zeitverzögert erfolgt und nur bedingt eine »Öffnung« darstellt. Die innere »Geschlossenheit«, die »Gemeine« im neuen Verständnis, die Bedeutung, die die Erziehungsanstalten erhalten, die Diasporaarbeit und die lebendige Missionstätigkeit wurden im 19. Jahrhundert zu jenen Stabilisatoren entwickelt, die den Bestand der Brüder-Unität auch in das 20. Jahrhundert hinein sichern halfen.56 Innere Eigenständigkeit und ökumenisches Verständnis, Internationalität und das Verbindungsnetz in der Diaspora tragen die Brüder-Unität auch über das 20. Jahrhundert. Von den damit verbundenen Konflikten blieben die Lebensläufe nicht unberührt. Nach wie vor erhielten und erhalten diese Konflikte in den Niederschriften ver53 54 55 56

UA R.22.57.05. UA R 22.92.33. UA R.22.96.101. Ende des 19. Jahrhunderts existierten in »nicht-weißen Gebieten« 278 brüderische Schulen mit nahezu 25.000 Schülern und 650 Lehrern (ohne Sonntagsschulen), nach Erbe, Erziehung und Schulen, 332.

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schiedenes Gewicht, abhängig vom individuellen Maß der Einbindung des Einzelnen in diese Konflikte, von der mit der Niederschrift des Lebenslaufs verbundenen Absicht über die Mitteilung von Lebenserfahrungen, aber auch von einem sich generell verändernden Umfeld. Bis in die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts hinein endet die selbstverfasste Niederschrift vieler Lebensläufe mit der »Ankunft« in einem Brüdergemeinort und in der Gemeine. Nur der Lebensweg bis dahin ist in die Zeitereignisse und Konflikte eingebunden, die als »Prüfung«, »Bewahrung«, »Fügung« und »Führung« interpretiert werden. Zunehmend jedoch bezieht sich das Gefühl des »Zuhauseseins« (1816 – 1859/m)57 vorwiegend und zum Teil ausschließlich auf die Gemeine. In den Lebensläufen gewinnen die Zeitumstände, die Berufstätigkeit, die Familie und die Familientradition wachsende Bedeutung und nehmen in den Lebensläufen deutlich mehr Raum ein. »Ankunft« und »Zuhausesein« bedeuten nunmehr die innerlich sichere Zugehörigkeit zur Gemeine. Geborgen und bewahrt zu sein trotz widriger Umstände gehört jedoch zu den geäußerten und immanenten Grundgefühlen aller Lebensläufe. Beschrieben wird der Weg mit Gott zu Gott als ein Weg in Geborgenheit und Zukunftssicherheit. »Gott gibt Hoffnungen ins Herz, die man nicht kennt, von deren Kraft man aber leben kann«, heißt es in einem neueren Lebenslauf (1865 – 1948/m)58. Diese Zukunftssicherheit schließt tätiges Handeln ein, nämlich: die »anpassende« Bewahrung, das Traditionsbewusstsein, die Pflege der Gemeinschaft. Und: die »vorbehaltlose Bereitschaft zum Dienst und wirkliche in Stille und Demut gebrachte Opfer« (1883 – 1973/m)59. Zukunftserwartung und -bestätigung werden bereits im 19. Jahrhundert auch im Stolz auf die Kinder und deren berufliche Tätigkeiten reflektiert (1804 – 1855/w)60. So wird von den sechs überlebenden Kindern von insgesamt acht geborenen in einem weiblichen Lebenslauf (1751 – 1813/w)61 berichtet, dass die drei Söhne Gerichtshelfer, Lehrer und Kaufmann und die drei Töchter Lehrerinnen geworden seien. Niggl spricht von einem »Vorsehungsschema, das alle Berufsaufgaben als unmittelbare Aufträge des Herrn, alle Abenteuer und Gefahren [als] Zeugnisse der gnädigen ›Bewahrung‹ in den Heilsplan einzubetten erlaubt«.62 In einem neueren Lebenslauf (1912 – 1944/m)63 heißt es: »Wenn wir in kummervollen Nächten, Herr Jesu Christ, an dich nicht dächten, wer weiß, was aus uns würde.« Viele und insbesondere auch neuere Lebensläufe sprechen davon, dass man bei »rückschauende[r] Durchprüfung« feststelle, an einem »guten Ende« an-

57 58 59 60 61 62

UA R.22.51.09. UA R.22.168.02. UA R.22.154.86. UA R.22.96.05. UA R.22.156.40b. Gìnter Niggl: Geschichte der deutschen Autobiographie im 18. Jh. Theoretische Grundlegung und literarische Entfaltung. Stuttgart 1977, 121 f. 63 UA R.22.150.37.

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gekommen zu sein (1869 – 1950/m)64. Es sei ein Weg »ständiger Bewahrungen und Führungen« gewesen (1908 – 1973/m)65. Zukunftserwartung wird unter dieser Sicht immer und vielfältig sowie direkt und indirekt thematisiert und versichert: Als »gutes Ende« ist damit die erfolgte und so gesehene Bewahrung und Führung in Gottvertrauen ebenso gemeint wie die Ankunft in der Geborgenheit eines Gemeinorts, die »innere« Ankunft in der Gemeine und schließlich der Heimgang. Zukunftserwartung ist zwar immer positiv belegt, jedoch nicht konfliktfrei. Sie wird abgesichert durch »Herzens- und LebensErfahrungen« (1779 – 1866/m)66, durch einen relativ hohen Bildungsstand und sichtbares Bildungsstreben sowie durch nützliches gemeinschaftsbezogenes Tätigsein und »Dienen«. »[H]ätte ich Gelegenheit gehabt wie ihr, ich wäre vielleicht Profesor [!]«, heißt es in einem Lebenslauf (1804 – 1868/m)67, in einem anderen wird mitgeteilt, die Ämter und Dienste in der Gemeine »mehr aus Gehorsam, als mit Freudigkeit« ausgeübt zu haben (1779 – 1854/m).68 Nicht zuletzt deshalb sind die gesammelten »Herzens- und LebensErfahrungen« in Form der zur Begräbnisfeier verlesenen und in den Archiven und Familien bewahrten Lebensläufe von bestandserhaltender Bedeutung. Sie zur Kenntnis zu nehmen und niederzuschreiben wird als Gewinn und als Pflicht verstanden.69 »Je fleißiger wir des Heilands Gnaden-Gang in Records bringen und communiciren, je unfehlbarer bleibt das Modell stehen«, hatte Zinzendorf bereits 1750 geäußert.70 Den »Gang der Dinge« anzunehmen schließt jedoch ein, ihn tatkräftig zu bewältigen. Die Gemeine zu bewahren verlangt, sich ihrer tradierten Werte bewusst zu sein und sie veränderten Bedingungen im Sinne »kritischer Loyalität«71 erhaltend anzupassen. Die Lebensläufe ordnen sich dem zu. Sie bauen auf einer sicheren »inneren« Zukunftserwartung auf und belegen auch die »äußere« Zukunftserwartung positiv, nämlich als Resultat von »Fügung«, »Führung«, »Prüfung« und »Bewahrung«. In neueren Lebensläufen wird die »herrnhutische« Quelle der Kraft für Tätigsein, Durchstehvermögen und Duldung mit »Siegesmut« und »Hoffnung auf etwas Kommendes« umschrieben und damit möglicherweise die moderne Interpretation von Jesuszentriertheit und Erlöserhoffnung gegeben.72 Der dem zugrunde liegende Erkenntniszusammenhang wird in einem Satz benannt, der im Kontext eines 1935 niedergeschriebenen Lebenslaufs zentrale Bedeu-

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UA R.22.154.83a. UA R.22.186.09. UA R.22.51.04. UA R.22.51.31. UA R.22.51.54. Dazu ausführlich: Lost, Lehrtext, 13 – 22. UA JHD (Jüngerhausdiarium) 1750 (Synody zu Barby und Herrnhuth gehalten; Datum vom 11. 09. 1750). 133 f. 71 Nach Richter, Pietismus im Sozialismus, 204. 72 Lost, Das Leben als Lehrtext. 81.

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tung gewinnt: »In jener Zeit verlor sich meine Sorge um die Seeligkeit. Sie lag außerhalb mir begründet« (1865 – 1948/m)73.

73 UA R.22.168.02. Der Lebenslauf ist abgedruckt und kommentiert in Lost, Das Leben als Lehrtext, 78 – 94.

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Die Providenz im Zettelkasten Divinatorische Lospraktiken in der pietistischen Frömmigkeit

Vor einiger Zeit schenkte mir der Kirchenhistoriker Peter Maser freundlicherweise ein Päckchen kleiner Zettel mit Bibelversen aus seiner Sammlung mit der Bemerkung, dass er sie von einer alten Dame bekommen habe und ich sicherlich etwas damit anfangen könne. Es sind kleine Zettel aus einem jener Ziehkästchen, wie sie das gesamte 19. Jahrhundert hindurch bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts große Verbreitung in der alltäglichen Andacht des Protestantismus und insbesondere des Pietismus gefunden hatten. Auf den Zetteln finden sich jeweils ein Bibelvers neben einer Liedstrophe, einem Gebet oder einem Reimvers. Diese Bibelzettel – weder das Futteral bzw. Kästchen noch ein Titelblatt sind überliefert – begleiteten seine Besitzerin ein Leben lang, sie sind stark abgegriffen und zum Teil mit Klebeband repariert worden. Das Besondere ist die Aneignung der biblischen Worte für den eigenen Lebenstext: die Besitzerin der Zettel notierte nämlich auf den Rückseiten die Tage bzw. Ereignisse, an denen sie die jeweiligen Verse, im Glauben an einen vorsehenden und gütigen Gott, gezogen hatte.1 Der Unvorhersehbarkeit menschlichen Lebens begegnete man mit diesen pietistisch angeeigneten Zufallspraktiken, um Kontingenzerfahrungen in religiöse Sinnsysteme deutend zu integrieren. Im Blick auf die Zukunft offenbarte sich so für den Gläubigen die Vorsehung Gottes für das eigene Leben – in der Rückschau erblickte er die »segensvollen Fußstapfen« des »waltenden Gottes«. Eine Praxis der pietistischen Divination, die sich bereits Ende des 17. Jahrhunderts nachweisen lässt und bis Anfang des 20. Jahrhunderts den alltäglichen Umgang mit dem biblischen Wort in der privaten protestantischen Frömmigkeit ganz wesentlich mitbestimmt hat.2 Der Longseller dieser Praxis – neben vielen anderen (u. a. Silesius, Tersteegen, Lavater, Hiller, Henckel3) – war das Güldene Schatzkästlein der Kinder 1 Zettel mit Bibelversen und Liedstrophen aus einem Ziehkästchen; o.O. [frühes 20. Jahrhundert], Privatbesitz. Ich danke Peter Maser (Bad Kösen) an dieser Stelle ganz herzlich! 2 Eine erste Veröffentlichung zum Thema: Shirley Brìckner: Losen, Däumeln, Nadeln, Würfeln. Praktiken der Kontingenz als Offenbarung im Pietismus. In: Spiel und Bürgerlichkeit. Passagen des Spiels I. Hg. v. Ulrich Schädler u. Ernst Strouhal. Wien 2010, 247 – 272. 3 Angelus Silesius und Gerhard Tersteegen s.w.u.; Johann Caspar Lavater: Christliches Jahrbüchlein oder auserlesene Stellen der Schrift für alle Tage des Jahrs mit kurzen Anmerkungen und Versen begleitet. Zürich 1772; Ders.: Religiöse Denksprüche, in Hundert und Sieben Blättern. Bautzen 1832; Philipp Friedrich Hiller: Geistliches Liederkästlein zum Lobe Gottes,

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Gottes des halleschen Pietisten Karl Heinrich von Bogatzky (1690 – 1774). 1718 erstmals (noch ohne Titel) verlegt und über zwei Jahrhunderte hindurch in über 70 deutschen Auflagen und zahlreichen Übersetzungen erschienen, war es »ohne Zweifel«, wie 1876 Paul Pressel in seinem ADB-Artikel schrieb, in »ungleich mehr Exemplaren, als irgend ein deutscher Classiker“ verbreitet.4 Für die Global Anabaptist Mennonite Encyclopedia ist es gar »the best and most influential product of Halle Pietism«5 – ein Klassiker der pietistischen Erbauungsliteratur, der bisher erstaunlich wenig Beachtung in der (Pietismus-)Forschung gefunden hat.6 Einer der eben jenes Schatzkästlein über viele Jahre emsig gebrauchte, war der aus Halle nach Pennsylvania ausgezogene lutherische Pastor Heinrich Melchior Mühlenberg (1711 – 1787).7 Gelegentlich nutzte er es als Kalendergebetbuch8 – und las ordnungsgemäß die für den jeweiligen Tag gedachten Verse. Doch in den meisten Fällen finden sich in den Briefen und Tagebüchern die gelosten Verse zitiert bzw. mit Nummer und Datum notiert (und so für andere leicht nachschlagbar) – das heißt, Mühlenberg zog zu seiner und anderer Erbauung einen Spruch aus dem Kästchen, den er als Fingerzeig Gottes verstand

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bestehend aus 366 kleinen Oden über so viel biblische Sprüche. Stuttgart 1762, 2. Theil 1767; [Erdmann Heinrich Graf Henckel von Donnersmarck:] Herrn W. Ludwigs Grafen Henckels Schatz-Kästlein, bestehend in auserlesenen göttlichen Verheißungen, deren gläubiger Zueignung und beygefügten Reimen, nebst einer Vorrede von dem kindlichen Wesen der Kinder Gottes. Greitz 1735, 21743, Halle 1743. Paul Pressel. Karl Heinrich v. Bogatzky. In: Allgemeine Deutsche Biographie. Bd. 3. Leipzig 1876, 37 – 39. Harold S. Bender : Carl Heinrich von Bogatzky (1690 – 1774). In: Global Anabaptist Mennonite Encyclopedia Online. Http://www.Gameo.Org/Encyclopedia/Contents/B642.Html (1. November 2011). Die beiden einzigen Aufsätze zu Bogatzky : Paul Raabe: Goethe und Bogatzky – eine Marginalie. In: Goethe und der Pietismus. Hg. v. Hans-Georg Kemper u. Hans Schneider. Tübingen 2011, 1 – 11; Jçrg-Ulrich Fechner : Carl Heinrich von Bogatzky (1690 – 1774). In: Interdisziplinäre Pietismusforschungen. Beiträge zum Ersten Internationalen Kongress für Pietismusforschung 2001. Hg. v. Udo Sträter u. a. Tübingen 2005. Bd. 1, 171 – 186; und eine ältere Dissertation von Gertrud Thìr: Karl Heinrich Bogatzkys Güldenes Schatzkästlein der Kinder Gottes. Diss. Univ. Gießen 1924. Mühlensbergs überliefertes Schatzkästlein (er benutzte die 23. Auflage von 1761) befindet sich in der Knauth Memorial Library des Lutheran Theological Seminary in Philadelphia. Für den Hinweis auf das Kästchen danke ich herzlich Dorothea Hornemann und Claus Veltmann von den Franckeschen Stiftungen in Halle. Allerdings muss er vorher eine frühere Ausgabe besessen haben, denn bereits vor 1761 taucht das Schatzkästlein in seinem Tagebuch auf; s. u. Anm. 9. Die von Mühlenberg benutzte 23. Auflage war als Kalendergebetbuch eingerichtet. Die erste (heute nicht mehr nachweisbare) Auflage, 1718 in Breslau erschienen, enthielt 200 Sprüche, 1722 (4. Aufl.) wurden sie auf 300, 1734 (12. Aufl.) auf 366 vermehrt und 1739 (15. Aufl.) mit erläuternden Anmerkungen versehen. Anfangs waren die alphabetisch geordneten Bibelverse einfach durchnummeriert und aneinandergereiht worden, ab der 18. Auflage (1747) übernimmt Bogatzky (vermutlich von den Losungen der Herrnhuter, die von Anfang an als Kalendergebetbuch eingerichtet waren) die Form mit fortlaufender Tageszuordnung, die Nummerierung wird außerdem beibehalten.

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und sich deutend aneignete.9 Darüber hinaus benutzte er die Zettel als conversation cards, um in den Konventikeln das erbauliche Gespräch anzuregen. Und er verschenkte das Schatzkästlein auch im Ganzen weiter bzw. legte einzelne gezogene (d. h. geloste) Zettel mit den Sprüchen seinen Briefen bei – damit deckt er den größten Teil des Spektrums der mit dem Schatzkästlein verbundenen Praktiken ab (was hier fehlt, ist der Gebrauch als Stammbuch). Die hier besonders interessierende Praxis war eben jener divinatorische Gebrauch, d. h. das Däumeln oder Losen von Bibelversen – eine der weitverbreitetsten Praktiken im Pietismus, mit der man glaubte, dass sich der Wille Gottes offenbaren würde.10 Vom Amtslos der Herrnhuter über ausgeloste Bibelverse bis zum Däumeln und Nadeln in Bibel, Gesangbuch oder Spruchkästchen – in den meisten pietistischen Selbstzeugnissen finden sich erbauliche Berichte davon, wie sich mantische Praktiken mit dem pietistischen Vorsehungsglauben verknüpften. Abgesehen vom Herrnhutischen Los waren diese Praktiken ausschließlich in die häusliche und private Andacht eingebunden, die mit ihrer umfangreichen Andachts- und Erbauungsliteratur eine zentrale Stellung in der protestantischen Volksfrömmigkeit des 18. und 19. Jahrhunderts einnahm. Das Bibelorakel war in seiner lebensweltlichen Funktion der Entscheidungsfindung in privaten Angelegenheiten in pietistischen Kreisen unterschiedlichster Couleur weit verbreitet. Der Theologe Carl Friedrich Adolf Wuttke (1819 – 1870) schreibt über den Deutschen Volksaberglauben der Gegenwart (1860): »Die in frommen Kreisen, besonders der eigentlichen pietistischen Richtung, so sehr verbreitete Sitte der Bibel-Lotterie, in welcher man Bibelsprüche loost, ist zwar einem dem Schicksalsaberglauben völlig entgegengesetzten Gedanken entsprungen, dürfte aber, ohnehin an sich etwas spielend, bei der großen Gefahr für die an Erkenntniß Schwachen, daß sie bei der äußern Aehnlichkeit dieses Verfahrens mit der SchicksalsLotterie unchristliche Vorstellungen einmischen, besser zu vermeiden sein.«11

Man bediente sich also alter magisch-mantischer Praktiken, die in neue (Deutungs-)Kontexte gestellt wurden. Die Herrnhuter Brüdergemeine ist sicherlich unter den pietistischen Gruppierungen die bekannteste, die sich auf 9 Vgl. u. a. Heinrich Melchior Mìhlenberg: Korrespondenz. Bd. 4: 1769 – 1776. Hg. v. Kurt Aland. Berlin 1993, die Briefe Nr. 480 an Gotthilf August Francke u. Friedrich Michael Ziegenhagen vom 23. August 1769 und Nr. 529 an Ch. E. Schultze von 19. Januar 1771; im Tagebuch etwa die Stellen: Bd. 1, 399 (6. August 1759) u. 480 (10. Januar 1762), Bd. 2, 251 (8. Juli 1765). 10 Bei den Praktiken des Däumelns, Nadelns oder Bibelstechens geht es um den durch das zufällige Aufschlagen von Bibel oder Gesangbuch erlosten (Bibel-)Vers, der als persönliche Offenbarung verstanden wurde. Beim Däumeln fuhr man blätternd mit dem Daumen über den Buchblock, beim Nadeln oder Bibelstechen stach man seitlich in selbigen, um so blind eine Stelle auszuwählen. 11 Carl Friedrich Adolf Wuttke: Der deutsche Volksaberglaube der Gegenwart. Hamburg 1860, 54.

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Praktiken der Kontingenz, die sie als Offenbarung versteht, beruft.12Doch eine ähnlich eifrige Praktizierung lässt sich sowohl im Württembergischen wie Hallischen Pietismus und etwa auch im frühen Methodismus belegen.13

Losarten Die gesamte jüdisch-christliche Religionsgeschichte hindurch wurde über die Legitimität des Loses gestritten, angefangen vom Losorakel Urim und Thummim im israelitischen Priestergewand über Sauls vergebliche Bitte um Antwort des Herrn durch das Los bis zur Kreuzigungsszene, in der die Soldaten um das Gewand des Gekreuzigten losen. Auch der Nachfolger des Judas, Matthias, wurde (nach Gebet) per Los bestimmt.14 Augustinus erzählt im Zusammenhang seiner Bekehrung ebenso vom Fingerzeig Gottes im bibliomantischen Verweis, wie die mittelalterliche Kirche diese Praktiken zum Teil selbst gebrauchte, aber auch, wie sie die in allen Schichten der mittelalterlichen Gesellschaft vorkommende Bibelmagie vergeblich bekämpfte.15 Thomas von Aquin (1224/25 – 1274) grenzt in seiner Summa theologiae drei Arten des Loses, die alle in der Bibel vorkommen, voneinander ab:16 Das verteilende Los – sors divisoria – wird in Entscheidungsfragen herangezogen, die vor allem juristische Angelegenheiten betreffen, wie die Verteilung von Erbschaften, Wahlen und die Vergabe von Ämtern. Ein frühneuzeitliches Beispiel ist die Loos-Ordnung der Stadt Basel, die, 1718 eingeführt, die »gar überhandgenommenen Praktiken und leichtfertigen Corruptionen« unterbinden sollte. Man führte das »blinde Los« ein, mit dem sämtliche zu vergebenden öffentlichen Ämter und Stellen (einschließlich der Professuren und Pfarrstellen) nach Auslese von drei geeigneten Bewerbern (dem sogenannten Ternarium) ausgelost wurden, um Bestechung und Korruption auszuschal12 Vgl. Erich Beyreuther : Lostheorie und Lospraxis. In: Ders.: Studien zur Theologie Zinzendorfs. Gesammelte Aufsätze. Hildesheim 2000, 109 – 139. 13 Vgl. Shirley Brìckner, Losen, Däumeln, Nadeln, Würfeln; speziell zum württembergischen Pietismus: Martin Scharfe: Die Religion des Volkes. Kleine Kultur- und Sozialgeschichte des Pietismus. Gütersloh 1980, 92 – 97. 14 Zum Losen unter dem Kreuz: Heinz Herbert Mann: Missio sortis. Das Losen unter dem Kreuz. In: Mit Glück und Verstand. Zur Kunst- und Kulturgeschichte der Brett- und Kartenspiele (15.–17. Jahrhundert). Hg. v. Christiane Zangs u. Hans Holländer. Aachen 1994, 51 – 69. Nachwahl des Apostels s. Act. 1, 23 – 26. 15 Die berühmte Tolle-lege-Szene findet sich bei Augustinus in den Confessiones am Ende des Achten Buches; vgl. hierzu Klaus Schreiner : Litterae mysticae. Symbolik und Pragmatik heiliger Buchstaben, Texte und Bücher in Kirche und Gesellschaft des Mittelalters. In: Pragmatische Dimensionen mittelalterlicher Schriftkultur. Hg. v. Christel Meier. München 2002, 301 – 307. 16 Thomas v. Aquin: Summa theologica. Buch II. Teil 2. Quaestio 95. Art. 8. Http://Www.Corpus thomisticum.Org/Sth0000.Html (1. 6. 2011); Nicholas Rescher: Glück. Die Chancen des Zufalls. Berlin 1996, 124 – 126.

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ten.17 Davon unterscheidet Thomas das beratende oder ratsuchende Los, sors consultoria. Als dritte Losart nennt er das wahrsagende Los oder die Losorakel, sors divinatoria. Es dient der Erkundung zukünftiger oder verborgener Dinge, aber auch der Erforschung des göttlichen Willens. Die ersten beiden Losarten erlaubt Thomas, auch wenn die sors consultoria mitunter (je nach Fragestellung) dazu neige, zum wahrsagenden Los zu werden. Die Losorakel als ein Versuch der zahlreichen mantischen Praktiken der Zukunftserforschung lehnt er hingegen ab. Die Annahme bzw. der Glaube, dass sich in der Losentscheidung »Spuren der göttlichen Providenz« offenbaren würden, macht ein im pietistischen Sinne gebrauchtes Los zu einem sors divinatoria. Auch das offizielle Los der Herrnhuter war keine »blinde Auslosung« unter verschiedenen gleichwertigen Alternativen, sondern es war, gleich welche Entscheidung per Los getroffen wurde (Reiserouten, Missions- und Bauvorhaben etc.), mit dem Glauben und der Hoffnung auf göttliche Legitimation verknüpft. Denn genau diese göttliche Beglaubigung und Anbindung legitimierte überhaupt den Losgebrauch in pietistischen Kreisen. Die Gruppierungen des radikalen Protestantismus drehen damit das thomistische System um 180 Grad, denn das divinatorische Los existiert u. a. unter Rekurs etwa auf die Apostelauslosung bei ihnen weiter – sie sind aber in der Regel entschiedene Gegner von profanen Auslosungen, etwa in den Glücksspiellotterien.18 Unter den sogenannten Losorakeln sind wiederum drei Arten zu unterscheiden: 1. Die Rhapsodomantie oder Bibliomantie, d. h. das Buchorakel – darunter fallen a) die griechischen sortes homericae und römischen sortes vergilianae, also das Däumeln in Vergils und Homers Werken, ebenso wie die Befragung der Sibyllinischen Bücher ; b) in Übernahme dieser paganen Buchorakel durch das Christentum mit anderer Textgrundlage, nämlich der Bibel, das Bibelaufschlagen, Bibelstechen oder Däumeln; und c) die sogenannten Losbücher, das sind mittelalterliche und frühneuzeitliche Sammlungen von Orakelsprüchen, die nach dem Zufallsprinzip für das Wahrsagen herangezogen wurden und nach einem komplexen System von

17 Vgl. Loos-Ordnung, Wie sie vom Hochloblichen Stand zu Basel Eingeführt worden Anno 1718. Bern 1720. Die Wahl durch das »blinde Los« wurde eingeführt, da die seit 1688 praktizierte Wahl durch das Ballot (geheime, »freie« Wahl durch Kugeln) das oligarchische Regiment der Basler Ratsfamilien nicht brechen konnte, sondern die Cliquenherrschaft durch Wahlbestechung und Vetternwirtschaft noch weiter angestachelt hatte. 18 Wobei einschränkend hinzugefügt werden muss, dass auch pietistische Gruppierungen sich zur Finanzierung von wohltätigen und/oder missionarischen Vorhaben bzw. zum Druck von Bibeln (etwa der Berleburger Bibel) mitunter der (Geld-)Lotterie bedienten. Vgl. Hans-Jürgen Schrader : Literaturproduktion und Büchermarkt des radikalen Pietismus. Johann Henrich Reitz’ »Historie der Wiedergebohrnen« und ihr geschichtlicher Kontext. Göttingen 1989, 189 – 192.

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Themenlisten, Losinstrumenten und Prognoseverfahren sowie einem Verzeichnis der Orakelantworten gebraucht wurden.19 2. Das Los-Ordal – iudicium sortis – oder Gottesurteil, ein im Frühmittelalter gebrauchtes magisches Mittel der Rechtsfindung im germanischen Recht, wenn in Ermangelung von Tat- oder Zeugenbeweisen die Schuld bzw. Unschuld eines Angeklagten durch die Befragung des Loses erwiesen werden sollte.20 3. Die sogenannte Stichomantie – das Losen mit Zetteln in Gefäßen bzw. Kästchen, wie sie etwa mit den im Folgenden vorzustellenden frommen Zettelkästchen und Bibelspruchlotterien praktiziert wurde.

Erbauliche Zettelkästchen Der hallische Pietist Karl Heinrich von Bogatzky erzählt in seinem Lebenslauf, wie er die erbauliche Form des Zettelkastens entdeckte (denn er war keineswegs der Erfinder): »Ich war nemlich nach der Nachmittagspredigt, bey einigen christlichen Freunden, die hatten ein kleines Kästchen, worin geschriebene Sprüche der heil. Schrift waren, denn damals war noch kein gedrucktes Spruch- oder Schatzkästlein. Diese Freunde nahmen sich ein jeder einen Spruch, und hatten darüber ihre Betrachtung; ich aber war zu blöde, daß ich mir selbst keinen Zettel nahm, man gab mir aber einen«.21

Bereits hier werden zwei entscheidende Aspekte pietistischer Lospraktiken deutlich, nämlich einmal der Gebrauch in der privaten Erbauung, und eben nicht im offiziellen Ritus, und der immer wieder vorkommende gesellige Rahmen der Deutung des Loses in den Konventikeln; d. h. die Zettel des Schatzkästleins wurden als Konversationskarten benutzt. Ab Sommer 1716 sammelte Bogatzky dann selbst einzelne Zettel, die er mit biblischen Sprüchen und Liedversen beschrieb und an Freunde verteilte, später mit der Absicht sie zu drucken. Das erste Schatzkästlein, das 1718 in Breslau erschien, war tatsächlich ein Zettelkästchen (wir wissen leider nur aus Bogatzkys Bericht davon). Die heute in den Bibliotheken verwahrten Schatzkästlein sind allesamt als Buch gebundene Ausgaben: als Queroktavbände, und auch damit Vorbild für viele weitere Andachtsbücher geworden (etwa die Herrnhuter Losungen). Bogatzky schreibt selbst in seinem Vorbericht Vom rechten Gebrauch dieses güldenen Schatz-Kästleins, »daß man nemlich dieses güldene Schatz-Kästlein so 19 Klaus Speckenbach: Art. Losbuch. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Bd. 2. Berlin u. a. 32000, 493 – 495. 20 Hans-Jìrgen Becker : Art. Gottesurteil. In: Lexikon des Mittelalters. Bd. 4. München, Zürich 1989, 1594 f. 21 Carl Heinrich von Bogatzky : Lebenslauf, von ihm selbst geschrieben. Halle 1801. § 19, S. 63 f.

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wol nach Art der bekanten Spruch-Kästlein mit zerschnittenen Blättern gebrauchen, oder auch als ein Büchlein einbinden lassen kan«.22 Das heißt, dass man den fadengehefteten Buchblock zum Buchbinder trug und je nachdem ein Zettelkästchen oder eben einen Queroktavband binden ließ. Die Offenheit der materiellen Form belegt auch der Schatzkasten-Artikel in Adelungs Wörterbuch von 1808: das ist »[…] Eine figürliche Benennung mehrerer entweder auf einzelne Blätter oder in Gestalt eines Buches zusammengedruckter, erbaulicher Stellen, wovon man durch das Ungefähr eine zu seiner Erbauung aufschlägt oder zieht, wo es nur im Diminutivo allein üblich ist.«23 Eine spätere und bisher unbekannte Ausgabe des Schatzkästleins (gedruckt nach 1734 bei Hartung in Königsberg) fand sich im Nachlass von Walter Kempowski.24 Das von Kempowskis Urgroßmutter Auguste Wilhelmine Benson (1825 – 1912) mit in die Familie gebrachte Exemplar bestätigt mit seiner ungewöhnlichen Form der hochformatigen Aufstellung der querformatigen Zettel im Kästchen die individuelle Entscheidung über die Materialität des privaten Divinationssystems.25 Ein vergleichbares zeitgenössisches Spruchkästchen fand sich im Bestand der Universitäts- und Landesbibliothek in Halle, es ist das einzig nachgewiesene Exemplar : das Biblische Lehr- und Gebet-Kästlein, welches bei dem Buchbinder Johann George Elias 1723 in Glaucha erschienen war.26 Es enthält nummerierte Zettel mit Bibelversen, insgesamt 165 Blatt (wobei immer zu jeder Nummer zwei Zettel gehören). Die Nummerierung geht bis 104, es fehlen allerdings einige Nummern ganz und einige sind nur noch in einfacher Ausführung vorhanden. Ob das ganz normaler Schwund bei einer losen Zettelsammlung ist oder auf die Praxis des Verschenkens von gelosten Zetteln zurückzuführen ist, lässt sich nicht mehr feststellen. In der Vorrede lässt der unbekannte Herausgeber den »Gottliebenden Leser« wissen, dass »dieses kleine Biblische Lehr- und Gebet-Kästlein zu seinem Privat-Gebrauche und Andacht« erschienen ist, und dass die »Bi22 Karl Heinrich von Bogatzky : Vorbericht. In: Güldenes Schatzkästlein. Halle 201753, [3]. 23 Johann Christoph Adelung: Grammatisch-kritisches Wörterbuch der hochdeutschen Mundart. Theil 3. Wien 1808. Sp. 1377; die Erklärung findet sich wortwörtlich übernommen auch in: Johann Georg Krìnitz: Oeconomische Encyclopaedie oder Allgemeines System der Land-, Haus- und Staats-Wirthschaft. Theil 140. Berlin 1825, 539. 24 Die Ausgabe lässt sich sonst weder bibliographisch in irgendeiner Form noch bisher in weiteren Exemplaren nachweisen. 25 [Carl Heinrich v. Bogatzky:] Güldnes Schatz-Kästlein der Kinder Gottes […]. Königsberg: Johann Heinrich Hartung [nach 1734]; vgl. Dirk Hempel: Walter Kempowski. Eine bürgerliche Biographie. München 32007, 15 – 17. Das mit dem Nachlass Kempowskis in die Akademie der Künste in Berlin gekommene Schatzkästlein befindet sich nun wieder in Privatbesitz. Für die bibliographischen Angaben und die Zurverfügungstellung einer Bildvorlage danke ich herzlich Dirk Hempel (Hamburg). 26 Wie die meisten überlieferten Spruchkästchen, ist es erst im 20. Jahrhundert in den hiesigen Bibliotheksbestand gekommen (über den Umweg des einstigen, in Halle ansässigen Provinzialmuseums). Der eigentliche Tradierungsweg ist der familiäre – wie bei Kempowskis. Diese Objekte sind nie institutionell gesammelt worden, sondern als religiöse Alltagsobjekte in den Familien über Generationen vererbt worden.

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blischen Gebete und Seufzer, nebst andern herrlichen Sprüchen […] gleichfals mit Erbauung und grossem Nutzen in allerley Zufällen von ihm gebrauchet werden können«27 In seiner Historischen Nachlese berichtet Bogatzky von einem Spruchkästchen, das ihm offensichtlich zur Anregung seines eigenen Sammelns und Verzettelns wurde: »Es waren aber die Sprüche aus des Joh. Heinr. Reitzens Uebersetzung des neuen Testaments und die Reime aus des Johann Angeli Cherubinischen Wandersmann genommen«28 – beide fand Bogatzky bedenklich und benutzte selbst stattdessen die herkömmliche lutherische Übersetzung und eigene Verse. Bei diesem Exemplar handelt es sich sehr wahrscheinlich um das 1714 an unbekanntem Ort gedruckte Spruchkästchen Johannis Angeli Silesii geistreiche Lotterie.29 Der Silesius-Biograph Georg Ellinger vermutete die Herkunft des Kästchens im Kreis von Anhängern Gottfried Arnolds in Quedlinburg. Er hat in den 1920er Jahre das Exemplar in der Staatsbibliothek zu Berlin, das leider im Zweiten Weltkrieg verloren gegangen ist, eingehend untersucht und beschreibt es in seiner 1927 erschienen Biographie: »Das außerordentlich seltene Spiel besteht aus einer großen Reihe von Losen, die auf einzelnen Pappkärtchen gedruckt sind; jedes Los trägt ein Epigramm des cherubinischen Wandersmanns nebst einem Bibelspruch«.30 Ellinger berichtet nur von der Quelle der Silesiustexte, die er in der Auswahl der Wandersmann-Texte der Quedlinburger Anna Catharina Scharschmid (1658–nach 1723) vermutet, die 1704 erschien.31 Diese Silesius-Lotterie taucht außerdem in den Zürcher Pietistenprozessen des Jahres 1718 auf, wo von der Begegnung der beiden Berner Pfarrer Ernst von Leutwil und Sprüngli von Birrwill mit dem vom Pfarrdienst ausgeschlossenen Pietisten Beat Holzhalb (1693 – 1757) berichtet wird: bei dieser »Gelegenheit kam auch zum ersten Male die von Frankfurt stammende, bei Lindinner32 auf Zeddel gedruckte und auf Karten gepappte geistliche Lotterie in Gebrauch«. Holzhalb sagt selbst, dass diese ein »unschuldiges Zeddedlinwerk mit schönen Bibelsprüchen« gewesen sei.33 Mit dieser Aussage wird die Vermutung bestätigt, dass diese

27 Biblisches Lehr- und Gebet-Kästlein, in welchem die Historien Altes und Neues Testaments, in kurtzen und erbaulichen Reimen verfasset u. d. herrlichsten Kern-Gebete u. Seuftzer Heilger Schrift, nebst andern erbaulichen Sprüchen zusammen getragen sind. Halle 1723. 28 Bogatzky, Historische Nachlese, [2]. 29 Johannis Angeli Silesii Geistreiche Lotterie zur Geistlichen Ergötzlichkeit. S.I. 1714. 30 Georg Ellinger: Angelus Silesius. Ein Lebensbild. Breslau 1927, 124. 31 Anna Catharina Scharschmiedin: Nützlicher Auszug aus Joh. Angeli Silesii Cherubinischen Wandermann, fast durchgehends mit Sprüchen der Heil. Göttlicher Schrifft bekräfftiget […]. S.I. 1704. 32 Joseph Lindinner (1684 – 1725) verlegte klassische Gebrauchsliteratur : Kalender, religiöse Traktate und eben auch die geistliche Lotterie. Vgl. Paul Leemann-van Elck: Die zürcherische Druckerei und Verlag Lindinner (1680 – 1725). In: Schweizerisches Gutenbergmuseum. Zeitschrift für Buchdruckgeschichte, Graphik und Zeitungskunde 29 (1943), 105 – 109. 33 Julius Studer: Der Pietismus in der Züricher Kirche am Anfang des vorigen Jahrhunderts. In:

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geistlichen Spruchkästchen an vielen Orten einfach nachgedruckt wurden – so wie auch die bisher unbekannte Ausgabe Bogatzkys in Königsberg aus dem Kempowski-Nachlass –, sodass viele dieser Objekte heute gar nicht mehr nachgewiesen werden können. Zwei bisher übersehene Exemplare dieser Silesius-Lotterie sind im Bücher-Nachlass des Basler Pietisten Hieronymus Annoni (1697 – 1770) überliefert. Da kein Titelblatt vorhanden war, wurden sie offensichtlich schon im 19. Jahrhundert als Ziehbuch kategorisiert und auch unter diesem Namen im Bibliothekskatalog verzeichnet.34 Dieses »andächtige Spiel«, wie Leibniz die christliche Bibliomantie nennt, scheint schon Ende des 17., ganz bestimmt aber Anfang des 18. Jahrhunderts unter Pietisten weit verbreitet gewesen zu sein. So merkt Gottsched in einer Fußnote der von ihm kommentierten Leibnizschen Theodicee an, dass »auch der berühmte Herrmann von der Hardt in Helmstädt und einige hällische Gottesgelehrte […] dergleichen biblische Spruchlotterien angestellet, […] daraus ein jeder der sie besuchet, oder in einer Gesellschaft beisammen ist, sich einen Zettel herausziehen, und ihn als einen göttlichen Zuruf ansehen muß. […E]s wäre meines Erachtens eben nicht ratsam, solchen Beispielen zu folgen; zumal da dergleichen Spiele schon bei Gesundheitsversen, Neujahrswünschen und andern weltlichen und wohl gar ärgerlichen Dingen, lächerlich und anstößig geworden.«35

Der Theologe Hermann von der Hardt (1660 – 1746), Bibliothekar und geheimer Sekretär des Herzogs Rudolph August von Braunschweig-Wolfenbüttel, Professor für orientalische Sprachen in Helmstedt und Probst des Klosters Marienburg, ein Schüler Speners und Freund Franckes, war ein leidenschaftlicher Liebhaber aller Arten von sinnigen Sprüchen. Auch in der spöttischen Abhandlung Praxis pietatis curiosa oder das kuriöse und besondere Christenthum der heutigen neuen Frömmlinge (1734) des Mediziners Heinrich Conrad Scheffler aus Peine über die dortige »fromme Brüderschaft« wird über diesen »neuen Griff dieser Frommen« berichtet (die Schrift selbst ist nicht überliefert, Auszüge wurden in der Auserlesenen theologischen Bibliothek im selben Jahr veröffentlicht): »Sie haben biblische Spruch- und Schatz-Kästgens. Sie sind viel zu bekannt, denn daß ich sie nach den Worten Hr. Schefflers abmahlen solte. Sie sind eine Anzahl eintzeler kleiner Blätter, auf jedem sind einige Worte der Schrift, wie auch Reime befindlich, sie Jahrbuch der historischen Gesellschaft Züricher Theologen 1 (1877), 101 – 209, hier 170 (24. Mai 1718) u. 171 (26. März 1719). 34 Ziehbuch [einzelne Zettel mit je einem Bibelspruch und einem Silesius-Vers]. S.l. s.a. [17XX]. 88 (UB Basel: Ann Ob 96, Ann Ob 97); vgl. zum pietistischen Losgebrauch in der Schweiz: Shirley Brìckner: Der Frommen Lotterie. Lospraktiken im Schweizer Pietismus. In: xvviii.ch. Jahrbuch der Schweizerischen Gesellschaft für die Erforschung des 18. Jahrhunderts 2 (2011), 66 – 87. 35 Gottfried Wilhelm Leibniz: Theodicee, das ist, Versuch von der Güte Gottes, Freiheit des Menschen, und vom Ursprunge des Bösen, mit Zusätzen und Anmerkungen von Johann Christoph Gottsched (1744). Berlin 1996, § 101, S. 162.

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stecken in einem Behältniß. Sie sind in den Händen dieser Frommen ordentliche Lotterie-Zettel. Man ziehet ein Blat heraus, wenn man wissen will, ob man den Tag, oder bey dieser oder jener Sache werde glücklich seyn. Beym Caffe-Trincken nennt man diese Blätter, Confect; bey Zusprüchen heissen sie die geistliche Spiel-Charte. Man läßt sie herumgehen, daß ein jeder ein Blatt ziehe, über welches denn geredet wird.«36

Erläuternd wird wiederum in einer Fußnote auf den Helmstedter Probst verwiesen, der in der öffentlichen Bibliothek (in Helmstedt) kleine Zettel oder Symbola (Sinnsprüche) austeilte, die er zusammengerollt in einer Schachtel den Anwesenden anbot. Diese mussten dann den gezogenen und von Hardt geschriebenen Spruch vorlesen, der dann darüber redete. Dass es sich nicht um eine pietismusfeindliche Verleumdung der frommen Brüder und Schwestern handelt, beweisen die Erwähnungen der frommen Spruchkästchen auch in zahlreichen pietistischen Texten. Etwa die des Staatsrechtlers Johann Jakob Moser (1701 – 1785), der in seinem Rechtlichen Bedencken Von Privat-Versammlungen, einer Verteidigung der Konventikel in Hannover, bezüglich der dort gebrauchten erbaulichen Bücher 1734 schreibt: »Ob die Hallische Looß-Zettul und Biblisches Charten-Spiel auch mit in Betracht zu ziehen sind, kan ich nicht sagen. Denn wenn sie gleich allhier nicht unbekannt seyn möchten, so weiß ich doch nicht, ob, und mit was für Aufmercksamkeit sie gebraucht werden?«37

Sogar der Pietist Moser, der, wenn auch mit Bedenken, selbst in der Bibel däumelte, bringt damit die in Halle gepflegten Lospraktiken mit dem im Pietismus abgelehnten Kartenspiel in Verbindung.38 Die Herrnhuter Losungen waren somit keine originelle Idee Zinzendorfs, sondern knüpften an die Ende der 1720er Jahre bereits überaus bekannten und üblichen Praktiken in pietistischen Kreisen an. Zinzendorf selbst kannte das Schatzkästlein (bzw. seine Vorläufer) ganz sicher aus seiner Zeit in Halle. Die bis heute erscheinenden Losungen, wurden von Zinzendorf ausgewählt und 36 Heinrich Conrad Scheffler : Praxis pietatis curiosa oder das kuriöse und besondere Christentum der heutigen neuen Frömmlinge. U.d.T.: Nachricht von der frommen Brüderschaft in Peine, einer Stadt im Stifte Hildesheim. Schreiben an Herrn Herman Erich Wincklern, Predigern in Peine und Herrn Heinrich Conr. Scheffler, Medicinae Practicum daselbst. In: Auserlesene theologische Bibliothek LXXII (1734), 1147. 37 Johann Jacob Moser : Rechtliches Bedencken von Privat-Versammlungen der Kinder Gottes, nebst einer Erzählung, was sich kürtzlich in Hanover dißfalls zugetragen, und einem Gutachten des Ministerii einer vornehmen Reichs-Stadt von dergleichen Versammlungen. Tübingen 1734, 102. 38 Moser schreibt in seiner Autobiographie, dass er vom Brauch des Däumelns nicht viel halte und es jedenfalls nicht übe, um sich eigene Entscheidungen zu ersparen. Aber aus zufällig ihm »mit Nachdruck ins Auge fallende Schriftstellen« hätte er immer wieder Verheißungen für seine jeweiligen Lebenslagen gewonnen. Vgl. Johann Jacob Moser: Lebensgeschichte, von ihm selbst geschrieben. Theil 1. Frankfurt/Leipzig 1777, 110. Das ist ein oft anzutreffendes Muster: der öffentlich geäußerten Skepsis, ja Kritik an den Lospraktiken ist ein mitunter reger privater Gebrauch eben jener Praktiken beigestellt.

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gelost und haben, nach dem Selbstverständnis der Herrnhuter, ihr Vorbild in der täglichen Parole des Militärs. Am 3. Mai 1728 gab Zinzendorf bei der Abendandacht eine Losung, als biblische Parole, als Tagesmotto für den nächsten Tag aus und legte sie zugleich aus. Die erste Losung war eine Liedzeile: »Liebe hat ihn hergetrieben, Liebe riss ihn von dem Thron. Und ich sollte ihn nicht lieben?« Täglich gingen nun ein oder mehrere Brüder (später auch Schwestern) von Haus zu Haus und brachten die Tagesparole, deren Worte als direkte göttliche Leitung der Gemeine verstanden wurden. Die Losungsbesuche endeten bereits im Jahr 1734, die Losungen waren nun in gedruckter Form in der Gemeine überall verbreitet und der seelsorgerliche Aspekt wurde innerhalb der Chöre neu organisiert. Ziel dieses Umgangs mit der biblischen Überlieferung war die Spiritualisierung des Alltags. Die Worte der Bibel sollten in den Lebensalltag eingebunden werden – ein Gegenentwurf zur zeittypischen Praxis etwa der lutherischen Orthodoxie sich über Streitschriften mit biblischen Themen auseinanderzusetzen. Im Jahr 1729 traf man folgende Regelung für die täglichen Losungssprüche: »Man that alle für das Jahr aus der Bibel oder aus Liedern genommene Stellen, die der Gemeine zur Lehre, zur Warnung, zum Troste, zur Erinnerung, zur Bestrafung, und zur Besserung dienen konten, zusammen in ein Kästgen. Aus dieser Sammlung zog einer von den Gemeindeältesten des Abends die Loosung für den folgenden Tag, und gab sie dem Bruder, welcher an demselben den Besuch hatte. Dieser trug sie in der Gemeine von Haus zu Haus herum. Und diese besuchenden Brüder merkten zugleich auf alle Umstände eines jeglichen Hauses und brachten Abends den Aeltesten Nachricht davon.«39

Sie wurden nun zeitnah ausgelost, und interessanterweise wurden diese seelsorgerlich gedachten Losungsbesuche, bei denen jeder in Herrnhut täglich besucht wurde, mit der Observierung, d. h. einer Disziplinierungsmaßnahme, verbunden. Die Ältesten der Gemeinde hatten somit immer einen aktuellen Überblick über die innere Verfassung der Gemeinde. Diese Einrichtung der täglichen Auslosung und unmittelbaren Weitergabe der Bibelverse änderte sich bereits zwei Jahre später mit dem Erscheinen des ersten gedruckten Losungsbuches (1731). Die Verse wurden nun für ein ganzes Jahr im Voraus ausgelost und gedruckt. So heißt es im dortigen Vorwort: »Weil wir nicht wusten, was wir auf einem jeglichen Tag vor Umstände haben würden, so überließen wir der Vorsehung den auf jeglichen Tag gehörigen Zuruff selbst aus zu wehlen.«40 Die Aufgabe der Praxis der zeitnahen zugunsten der jährlichen Auslosung und des gedruckten Erbauungsbuchs war der räumlichen 39 August Gottlieb Spangenberg: Leben des Herrn Nicolaus Ludwig Grafen und Herrn von Zinzendorf und Pottendorf. Dritter Theil. [Barby] [1744], 544. 40 [Nikolaus Ludwig von Zinzendorf:] Ein guter Muth, als das tägliche Wohl-Leben der Creutz-Gemeine Christi zu Herrnshuth, im Jahr 1731. Durch die Erinnerung ewiger Wahrheiten, alle Morgen neu. [Kopenhagen] 1731. Vorwort, [2].

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Entgrenzung der jungen Gemeinschaft geschuldet. Die kommunikative und soziale Bedeutung dieser täglichen, gemeinsamen und verbindenden Frömmigkeitsform im Andachtsbüchlein der Losungen ist für eine weltweit verstreute und aktive Kirche nicht zu unterschätzen und hat sich über drei Jahrhunderte hinweg bis heute gehalten. Ebenso wird die Praxis des Losens aus einem ausgewählten Spruchkontingent bis heute fortgeführt.41 Die »frommen Zettelkästen«, die in divinatorischer Absicht gebraucht wurden, sind auch in Amerika nachweisbar : Gerhard Tersteegens 1722 erstmals veröffentlichte Sammlung mit dem sprechenden Titel Der Frommen Lotterie. Wobey man kan verlieren nie […] erschien ab 1738 als geistliche Lotterie mit 365 Losen, eines für jeden Tag im Jahr. Die Lose sind jeweils vierzeilige erbauliche Reimverse – die zu den verbreitetsten im deutschen Sprachgebiet zählen.42 1744 wurden diese Lose, nun vermehrt auf 381, auf nummerierten Kärtchen bzw. Zetteln in einem Kästchen von Christoph Sauer in Germantown in Pennsylvania verlegt – nun unter dem Titel Der Frommen Lotterie oder geistliches Schatzkästlein; schon hier wird die Wirkungsgeschichte Bogatzkys deutlich.43 Im Almanach des radikalpietistischen Verlegers Christoph Sauer von 1751 heißt es darüber : »Kästlein mit zetteln, darauf waren viele schöne Sprüche aus der Bibel und andere Reimen gedruckt die sich auf vielerley Zustände der Menschen schicken. Wann da in der Companie jemand war der etwas eiteles zu reden anfing, so kam einer mit dem Schatz-Kästgen und ein jeder zog ein Briefgen heraus, dass wurde gelesen und hat sich gemeinlich getroffen dass ein spruch auf dem Zettel stund wie es um des Menschen Hertz beschaffen war, und so wurden die leichtsinnige reden unterbrochen, und davon kam auch die lüge vom Zettel fressen«.44

Die »lüge vom Zettel fressen« bezieht sich vermutlich auf die sowohl bei Johann Jacob Moser wie Heinrich Conrad Scheffler überlieferte wunderliche Erzählung, die den frommen Zetteln in der Einverleibung eine magische Bedeutung zuschrieb, eine Vorstellung, wie sie etwa auch von den katholischen briefmarkengroßen Schluckzettelchen und Schluckbildchen bekannt ist.45 41 Heute werden jedes Jahr an einem Tag Ende April, Anfang Mai in Erinnerung an die erste Losung vom 3. Mai 1728 die Losungen drei Jahre im Voraus gezogen. 42 Diß ist der Frommen Lotterie, wobei man kann verlieren nie, das Nichts darin ist all so gross, als wenn dir fiel das beste Los. Elberfeld 1722, Solingen 1738. 43 Gerhard Tersteegen: Der Frommen Lotterie oder Geistliches Schatzkästlein. [Germantown, Pa.:] Christoph Saur [1744]. In der Bibliothek in Princeton hat sich desweiteren ein Spruchkästchen erhalten, bei dem es sich um einen Nachdruck dieser Ausgabe der Frommen Lotterie in der Brüderschaft Conrad Beissels in Ephrata handelt [Ephrata religious cards, set of 114 cards with religious poetry, enclosed in a cardboard case similar to Tersteegen’s Frommer Lotterie.]. 44 Christoph Sauer: Almanack, 1751. Zit. nach: Julius Friedrich Sachse: The German Pietists of Provincial Pennsylvania (1694 – 1708). Philadelphia 1895, 101. Fußnote 137. 45 Moser: »Vorgedachter Candidat, der doch fax & tuba zu denen Zusammenkünfften mit solte gewesen seyn, lachet vielmehr über die närrische Erzehlungen. Besondere Offenbarungen rühmen; sich den Kopf trepaniren, und einen Zettul einheilen lassen, davon man weissagen

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In Amerika lernten wiederum die beiden Brüder John und Charles Wesley diese frommen Zettelkästchen bei den Herrnhutern kennen, und auch im frühen Methodismus lassen sie sich sowohl in handschriftlicher wie auch gedruckter Form nachweisen. Die dort benutzte Bezeichnung als »scripture playing cards« verweist einmal mehr auf die Herkunft des frommen Kartenspiels.46

Frommes Exzerpieren und Verzetteln Die Spruchsammlungen von Bogatzky, Hardt und Zinzendorf begannen als frommes Exzerpieren bei der Bibellektüre. Sie schrieben Sprüche auf einzelne Zettel und verwahrten sie in einem Kästchen, um sie bei Gelegenheit im Glauben an die Vorsehung Gottes herauszuziehen. So schreibt Zinzendorf: »Unsere Loosungen sind eine extra-hirte Bibel […]. Es sind Calendaria Biblica. […] Ich selbst habe die Bibel zu dem Zwek (sagte er A. 1748) nur seit 1731 acht bis neunmal durchgelesen, und bey der Gelegenheit […] ihre Göttlichkeit immer mehr eingesehen und erfahren. […] Die Providenz, die bey den Worten waltet, die wir so einfältig aus der Bibel excerpiren und uns zueignen, ist gar nicht zu leugnen.«47

Diese mantische Art des Verzettelns ist damit der Ordnung des Wissens im gelehrten Zettelkasten vergleichbar, denn selbst da spielt der mitunter zufällig gezogene Zettel eine wissensproduzierende Rolle. Der französische Anthropologe und Ethnologe Claude L¦vi-Strauss erzählt in seiner Autobiographie über den Umgang mit seinen Zettelkästen: könne, etc. sind das Dinge, die man von jemand glauben kan? […]« Moser, Rechtliches Bedencken, 98. Scheffler: »daß sie aus ihrem Spruch-Kästgen, oder sonsten nach dem Exempel des Engels in der Offenbahrung Johannis 10. v. 9. 10. 11. Denen neu- angeworbenen Zettel zu verschlingen geben, und ihnen damit den Prophetischen Geist eintrichtern. Und was dergleichen alberne Fratzen mehr seynd.« Heinrich Conrad Scheffler : Köstlicher aus dem vortreflichen Artzney-Schatz des göttlichen Worts hergenommener Alterir- und Lebens-Balsam wieder die jetzt allgemein grassirende Seelen-verderbliche Seuche der Geistlichen Hirn-Sucht. Allen solchen Patienten und Hülffsbedürfftigen zum Besten aus Christlicher Liebe und Mitleiden verschrieben. Peine [1734], 2; zu den katholischen Schluckzettelchen und Schluckbildchen, die als Ausschneidebögen vertrieben und als geistliche Pharmaka benutzt wurden: Christian Schneegass: Schluckbildchen. Ein Beispiel der »Populärgraphik« zur aktiven Aneignung. In: Volkskunst. Zeitschrift für volkstümliche Sachkultur 6 (1983), 27 – 32; Hans G•rtner : Andachtsbildchen. Kleinode privater Frömmigkeitskultur. München 2004, 79 f (mit Abb.). 46 Richard Butterworth: By-ways of Methodist History. From the green-room to the classroom. In: Wesleyan Methodist Magazine 120 (May 1897), 337 f (mit Abb.); Mary Farrah: A curious pack of cards. In: Good Words 46 (1905), 772 – 774. 47 Sammlung der Loosungs- und Text-Büchlein der Brüdergemeine von 1731 bis 1761. Bd. 1. Barby 1762. Vorrede, [13 – 15].

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Shirley Brückner

»[…] wenn ich etwas in Angriff nehmen will, dann ziehe ich einen Packen Zettel aus meinen Schubladen und gruppiere sie im Stile einer Kartenpartie neu. Diese Art Spiel, bei dem der Zufall zu seinem Recht kommt, hilft mir, eine schwache Erinnerung aufzufrischen.«48

Durch das gelehrte Exzerpieren und Verzetteln sammelt der Gelehrte einen Wissensschatz, das fromme Exzerpieren generiert einen Glaubensschatz eben in jenem »Schatzkästlein«. Das von Bogatzky vorangestellte Motto macht diesen Zusammenhang metaphorisch deutlich an einer Maxime zum Schätzesammeln aus der Bergpredigt: »Wo euer Schatz ist, da ist auch euer Herz.« (Matth. 6.21) Denn: »Der Kasten ist die Schrift/ der Schatz ist JESUS Christ;/ Wohl uns, wann unser Herz ein solches Kästlein ist.«49 Diese frommen Spruchkästchen waren intime Möbelstücke der Andacht, dessen einzelne Zettel mitunter in alphabetischer oder nummerischer Reihenfolge geordnet waren, in denen aber eine »höhere Ordnung« verborgen sein sollte. Nicht die Ordnung des Wissens, sondern die providentia dei bildete ein geheimes Ordnungssystem. Im Losen, Ziehen oder Däumeln eines Kärtchens mit dem darauf befindlichen Bibelvers offenbarte sich gleichsam dieses verborgene, göttliche Wissen. Im Kästchen, so Gaston Bachelard in seiner Poetik des Raumes, das er (neben Schublade, Truhe und Schrank) zu den Innerlichkeitsräumereien zählt, »sind unvergeßliche Dinge […] Die Vergangenheit, die Gegenwart, und eine Zukunft sind darin zusammengeballt. Und so wird das Kästchen zum Gedächtnis des Unvordenklichen.«50 Das ZettelKästchen wird so zum frommen Gedächtnis einer pietistischen Biographie, weil anhand der Bibelsprüche die eigene Lebensgeschichte als Gottesgeschichte erzählt werden kann, nämlich als Geschichten vom Eingreifen des Göttlichen in das eigene Leben. So schreibt Zinzendorf: »Solte der Wunsch vieler Brüder, daß eine Historie der Loosungen mit ihrer genausten und deutlichsten Erfüllung gesamelt und gedrukt werden möchte, zu Stande kommen; was für eine Menge Wunder GOttes würden sich da zeigen«.51 Der Blick in die Vergangenheit verdichtet somit die gelosten (Bibel-)Sprüche mit den biographischen Ereignissen zu einer großen Erzählung des Wirkens Gottes im eigenen Leben – nach diesem Verständnis ist die Geschichte der Losungen eine Geschichte der Wunder Gottes an seiner Gemeinde. Im 19. Jahrhundert kommt es zu einer weiteren Popularisierung und zunehmenden Kommerzialisierung des christlich-pietistischen Losgebrauchs. Über das gesamte Jahrhundert hinweg vertrieb etwa die Gnadauer UnitätsBuchhandlung eine Losungs-Lotterie auf 1 Bogen zum Zerschneiden, eine Biblische Spruchsammlung (oder Spruchlotterie) als Auswahl von 1152 Bibel48 Claude L¦vi-Strauss u. Didier Eribon: Das Nahe und das Ferne. Eine Autobiographie in Gesprächen. Frankfurt a. Main 1989, 8. 49 Bogatzky, Güldenes Schatzkästlein, Titelblatt. 50 Gaston Bachelard: Poetik des Raumes. Frankfurt a. Main 1987, 90 – 103, hier 99. 51 Sammlung der Loosungs- und Text-Büchlein, Vorrede, [16].

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Die Providenz im Zettelkasten

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stellen, die als Lose gezogen werden, auf 8 Bogen zum Zerschneiden bzw. »dieselbe fertig zum Gebrauch in elegantem Pappkasten« und diverse Ziehkästchen mit Bibel- und Gesangbuchversen.52 Die Bibelspruchlotterien verzeichnen auf ihren kleinen Losen (ca. 1,5 cm x 2,5 cm) eine Bibelstelle, die, wenn unbekannt, in der Bibel nachgeschlagen werden musste. Die in der Lostrommel befindlichen 1.152 Bibelstellen entsprechen in etwa der Anzahl der Lose in der offiziellen Losschale in Herrnhut zur Auslosung der jährlichen Losungen. Im Zuge der Wiederentdeckung der älteren evangelischen Andachtsliteratur des 17. und 18. Jahrhunderts bis zum Ende des 19. Jahrhunderts hat es offenbar eine Flut solcher so genannten Ziehkästchen gegeben, wenn sie auch heute nur noch in alten Verlagskatalogen nachweisbar sind: u. a. aus Basel, Neuruppin, Berlin und Leipzig ebenso wie aus dem Bergischen und Württembergischen.53 Neben den industriell hergestellten Ziehkästchen im 19. Jahrhundert wurde aber auch weiter selbst gesammelt und verzettelt, in der Regel auf vorgeschnittenen, oft mit farbigem Schnitt versehenen Zetteln, aber auch aus Briefen und anderen Papieren ausgeschnittene Stellen. Außerdem wurden handgeschriebene und gedruckte Zettel in den Kästchen und Futteralen individuell kombiniert bzw. wurden gedruckte Zettelsammlungen um handgeschriebene Einträge ergänzt und erweitert, so dass tatsächlich eine in den gesammelten Sprüchen erzählbare fromme Biographie ihrer BesitzerInnen sichtbar wird. Die frommen Lebensgeschichten in erbaulichen Motti wurden oft auch weiter tradiert, indem die Spruchkästchen und Schatzkästlein häufig über Generationen hinweg in den Familien weitergegeben wurden.54 Die gedäumelten Bibelverse mussten mit einer lebenspraktischen Erklärung versehen und für die Gegenwart produktiv gemacht werden. Diese Bibellektüre mit dem Herzen und die Verwirklichung des Wortes im praktischen Leben hatte bereits Spener als einen seiner frommen Wünsche dargelegt. Es handelte sich um eine im höchsten Maße persönliche Art des Exzerpierens und Interpretierens von (Bibel-)Texten, in der es nicht nur um die Auslegung der Schrift, sondern vor allem um Schriftanwendung ging. Die Tradition der Textsorte einzelner Bibelsprüche reicht bis in die Reformation zurück und hat ihren Niederschlag sowohl in der Katechetik wie in den graphisch hervorgehobenen Bibelversen der Lutherbibel, den so genannten Kernstellen, gefunden.55 Zinzendorf betonte die Lektüre einzelner Sprüche so sehr, dass ihm von 52 Zu finden sind sie immer im Verlagsangebot, das den jeweiligen Losungsjahrbüchern angehängt ist. 53 Vgl. etwa die zahlreichen Einträge in: Adolph Russell: Gesammt-Verlags-Katalog des Deutschen Buchhandels. Ein Bild deutscher Geistesarbeit und Cultur. Münster u. a. 1881 – 1891. 54 Der Glauchasche Pfarrer Gustav Knuth (1844 – 1908) etwa berichtet, dass er in den Familien seiner Gemeinde das Schatzkästlein Bogatzkys oft in sehr alten Ausgaben angetroffen habe. Vgl. Gustav Knuth: Geschichte der Kirchengemeinde von St. Georgen zu Glaucha – Halle a. S. auf Grund urkundlicher Quellen. Halle 1891, 153. 55 Karl Adolf Gerhard v. Zezschwitz: System der christlich-kirchlichen Katechetik. Bd. 2.

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Shirley Brückner

Friedrich Christoph Oetinger (1702 – 1782) vorgeworfen wurde, er missbrauche die »heilige Schrifft als ein Lexicon, ja als ein Sprüchkästlein ohne genaue Connexion«. Genau das aber machte die Aneignung der Sprüche ja aus: dem Herauslösen aus dem unmittelbaren narrativen Kontext der Bibel folgte die sinnhafte Einpassung in den eigenen Lebenstext. Um den verborgenen Willen Gottes auf das Zukünftige zu ergründen – denn in der religiösen Selbstdeutung gibt es keinen Zufall –, wird die Zukunft berechenbar gemacht, für den einzelnen Gläubigen bzw. wie in der Brüdergemeine als religiöse Gemeinschaft vor Gott, indem der verborgene Wille Gottes sichtbar und verstehbar gemacht wird im Los. Immer geht es bei den Lospraktiken um eine doppelte Unvorhersehbarkeit, nämlich um Strategien der Kontingenzbewältigung, die sich bestimmter Zufalls-Praktiken bedienen, um menschliche Kontingenzerfahrungen in religiöse Sinnsysteme deutend zu integrieren. Denn die Grunderfahrung der Kontingenz, dass alles auch anders sein könnte, weist die religiöse Deutung des Geschehens als ganz nach Gottes Plan zurück. Für den Gläubigen kann es nur so sein, wie es ist, und so, wie es ist, ist es gut – das ist die individuelle Interpretationsleistung. Religion domestiziert den Zufall, indem sie ihn als Wunder oder Gnadenwink Gottes religiös legitimiert. Selbst der absichtlich herbeigeführte Zufall im divinatorischen Los wird nicht dem »alles könnte auch anders sein« unterstellt, sondern dem darin geoffenbarten Willen Gottes – dem »es kann nur so sein«. Bemerkenswert ist, dass sich die pietistische Frömmigkeitspraxis für die Domestizierung des Zufalls paganer Zufallspraktiken bedient, die sie sich umdeutend aneignet. Das magische Element ist im Pietismus lebendig in Form dieser mantischen Deutungsunternehmungen. Und so machen die hier vorgestellten Spruchkästchen, Schatzkästlein, Losungs- und Bibelspruchlotterien eine bisher völlig übersehene materielle Kultur des Sammelns, Archivierens und Ordnens in der Geschichte religiösen Wissens sichtbar.

Abt. 2: Die Katechese oder der kirchlich-katechetische Unterricht nach seiner Methode. Leipzig 1869. 1. Hälfte, 204 – 215; Hartmut Hçvelmann: Kernstellen der Lutherbibel. Eine Anleitung zum Schriftverständnis. Bielefeld 1989, 146, 154.

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Autorinnen und Autoren

Becker, Judith (geb. 1971), Dr. theol., Leiterin der BMBF-Nachwuchsgruppe »Europabilder evangelischer Missionare im Kontakt mit dem Anderen, 1700 – 1970« am Institut für Europäische Geschichte, Mainz Breul, Wolfgang (geb. 1960), Dr. theol., Prof. für Kirchengeschichte, Universität Mainz Brückner, Shirley (geb. 1976), Dr. phil. des., Kuratorin, Deutsches Historisches Museum, Berlin Drese, Claudia (geb. 1981), Dipl. theol., Wissenschaftliche Mitarbeiterin, Forschungsstelle Edition Spenerbriefe, Sächsische Akademie der Wissenschaften zu Leipzig Fulda, Daniel (geb. 1966), Dr. phil., Prof. für Neuere deutsche Literaturwissenschaft und Gf. Direktor des Interdisziplinären Zentrums für die Erforschung der europäischen Aufklärung, Universität Halle-Wittenberg Hölscher, Lucian (geb. 1948), Dr. phil., Prof. für Neuere Geschichte und Theorie der Geschichte, Ruhr-Universität Bochum Jakubowski-Tiessen, Manfred, Dr. phil., Prof. für Geschichte der Frühen Neuzeit, Georg-August-Universität Göttingen Kannenberg, Michael (geb. 1964), Dr. theol., Pfarrer und Studienrat, Heilbronn Krauter-Dierolf, Heike (geb. 1973), Dr. theol., Studienrätin, Kepler-Gymnasium Ulm Lehmann, Hartmut (geb. 1936), Dr. phil., Dr. theol. h.c., emeritierter Prof. für Neuere Geschichte, Universität Kiel, Gründungsdirektor des Deutschen Historischen Instituts in Washington, DC, und ehem. Direktor des Max-PlanckInstituts für Geschichte, Göttingen

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Autoreninnen und Autoren

Lost, Christine (geb. 1938), Prof. Dr., Fachgebiet Historische Bildungsforschung. Lehre und Forschung u. a. in Berlin, Ulm und Düsseldorf Meyer, Dietrich (geb. 1937), Dr. theol., ehem. Archivdirektor des Archivs der Evangelischen Kirche im Rheinland, Düsseldorf Muhlack, Ulrich (geb. 1940), Dr. phil., pens. Prof. für Allgemeine historische Methodenlehre und Geschichte der Geschichtsschreibung, Universität Frankfurt am Main Schäufele, Wolf-Friedrich (geb. 1967), Dr. theol., Prof. für Kirchengeschichte, Universität Marburg Schnurr, Jan Carsten (geb. 1975), Dr. phil., Hochschuldozent für Historische Theologie, Freie Theologische Hochschule Gießen Schrader, Hans-Jürgen (geb. 1943), Dr. phil., emeritierter o. Prof. für Neuere deutsche Literatur, Universit¦ de GenÀve Shantz, Douglas H. (geb. 1952), Ph.D., Professor of Christian Thought, University of Calgary, Alberta, Kanada Strom, Jonathan (geb. 1961), Ph.D., Associate Professor of Church History, Emory University, Atlanta, USA van Lieburg, Fred (geb. 1967), Dr. phil., Prof. für Geschichte des Protestantismus, Freie Universität Amsterdam

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Ortsindex

Afrika 40, 134, 136, 259 Altenkirchen 202 – 204, 206, 208, 210 Amerika 35, 40, 134, 136, 281, 289, 362, 363 Amsterdam 19, 36, 86, 89, 91, 96, 99, 189, 271, 272, 274, 280, 284 Andijk 283 Ansbach 195, 205, 215 Antwerpen 50 Armenien 267 Arnis 185 Asien 35, 40, 136 Augsburg 41, 92, 121, 129, 176 Australien 264 Axel (Flandern) 279 Bad Teinach 335 Bamberg 313 Barby 342 Barmen 205, 247 Basel 16, 19, 205, 238, 245, 246, 255 – 258, 354, 365 Bayreuth 195 Bebenhausen 177, 184 Belgien 274, 279, 297 Benthuizen 285 Bergen 203 Berleburg 320, 333 Berlin 15, 31, 69, 72, 77, 120, 195, 201, 202, 208, 358, 365 Bethlehem (Pennsylvania) 16, 136, 137, 140 Blaubeuren 329, 335, 336 Bobbin 202, 203 Böblingen 177 Brandenburg-Preußen 15, 16, 70, 72, 76, 197, 207

Braunschweig 310, 325 Breslau 202, 356 Brünn (Mähren) 325 Byzantinisches Reich 63 Ceylon 265 China 17, 245, 259 Coburg 307 Creuzburg an der Werra 325 Dänemark 81, 96 Darmstadt 309 Den Haag 86, 280, 283, 286 Denkendorf 235 Deutsches Reich 46, 154, 158 Deutschland 20, 39, 45, 72, 87, 93, 98, 114, 148, 154, 155, 193, 194, 201, 203, 221, 223, 230, 256, 257, 281, 289, 297, 298, 327 Doeveren 284 Dresden 305, 347 Düsselthal 205 Echterdingen 235 Eisfeld 91 Eisleben 317 Elberfeld 205 England 16, 20, 30 – 32, 45, 81, 89, 111, 113, 114, 132, 182, 223, 246, 284, 324 Ephrata (Pennsylvania) 21, 362 Erfurt 69 Erlangen 195, 205, 316 Europa 20, 30, 31, 32, 41, 72, 134, 136, 244, 255 – 257, 259, 260, 269, 298 Flensburg 85 Fontainebleau 30

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Ortsindex

Frankfurt (Main) 63, 69, 205, 289, 309, 358 Frankfurt (Oder) 195, 197, 201, 202, 206, 207 Frankreich 24, 31, 32, 36, 37, 39, 45, 48 – 51, 148, 182, 223, 230, 237, 253, 271, 294, 295, 297, 298, 308, 337 Freyburg (Sachsen-Anhalt) 176 Georgia (Nordamerika, britische Kolonie) 15 Gera 325 Germantown (Pennsylvania) 362 Gießen 53, 85, 309 Glaucha 69, 78, 80, 82, 83, 120, 125, 177, 184 Gnadenfrei 346 Görlitz 105 Gotha 69, 91 – 93, 97 Göttingen 315 ‘s-Gravenhage 272 Greifswald 203, 208 Griechenland 81, 265 Grönland 134, 136, 345 Halberstadt 69, 98 Halle (Saale) 15, 16, 23, 31, 47, 69, 71, 72, 78 – 83, 115, 120, 121, 123, 124, 128, 155, 157 – 159, 161, 164, 165, 176, 177, 179, 180, 197, 202, 226, 228, 306, 316, 352, 354, 356, 357, 360 Hallig Hooge 186 Hamburg 81, 86 Hanau 324 Handewitt 85, 86 Hannover 360 Heidelberg 53 Heilbronn 238, 334 Helmstedt 53, 157, 160, 359, 360 Herborn 42, 71 Herrenberg 177 Herrnhaag 133 Herrnhut 16, 133, 134, 274, 339, 341, 342, 344, 346, 347, 353, 365

Holland 182 Husum 186 Indien 259, 266 Iowa 286 Italien

33, 81, 170, 182, 196

Jena 47, 53, 97, 158, 159, 197, 202, 203 Jerusalem 289 Kaiserswerth 317 Kalkutta 266 Karibik 136 Kiel 185 Kleinwelka 345, 346 Königsberg 85, 357, 359 Konstantinopel 65 Korntal 239, 242, 243, 289 Leiden 39, 47, 271, 272, 281, 283, 284 Leipzig 47, 85, 176, 196, 197, 199, 313, 317, 365 Leonberg 237, 239, 243 Liberia 259 London 19, 31, 40 Lübeck 61 Lüneburg 70 Magdeburg 70, 72, 205 Mandach (Aargau) 308 Marbach am Neckar 236, 237 Marburg 53, 111 Meaux 35 Meuselwitz 176 Mijdrecht 281 Moskau 81, 229 Möttlingen 228 München 195 Münsingen (Württemberg) 239 Münster (Westfalen) 95, 96, 104, 113 Nagold 238 Naumburg 176, 177, 184 Neuch–tel 74

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Ortsindex

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Neuruppin 365 Neuseeland 266 Neuwied 205 Niederdodeleben 70 Niederlande 20, 30 – 32, 39, 81, 89, 93, 96, 98, 170, 175, 188 – 190, 271, 274, 277 – 284, 286, 313 Niesky 344, 346 Nürnberg 46, 195, 205 – 207, 215, 313

Schweiz 20, 202, 206, 246, 256, 257 Siebenbürgen 81 Spanien 30, 32, 182, 308 Speyer 310, 311 Stettin 53 Straßburg 42 Stuttgart 221, 238, 316, 329, 336 Südamerika 136 Sülzenbrücken 124

Offenbach 111 Opperdoes 281 – 283, 287 Ostfriesland 179, 180 Oxford 328

Tansania 138 Tecklenburg 279 Thurnau 195, 218 Tischendorf 312 Tranquebar 15 Tübingen 76, 177 Türkei 63, 96, 111, 256, 282

Palästina 289 Paris 36, 40, 49, 289, 295, 298 Peine 359 Pennsylvania (Nordamerika) 16, 24, 134, 137, 281, 352, 362 Penzig 307 Pforta (Schulpforta) 196 – 199, 202 Philadelphia (Nordamerika) 19 Polen 96 Port Royal 50 Puttershoek 280, 281 Quedlinburg 69, 358 Querfurt 196 Reading (Pennsylvania) 24 Rheinland 86 Rielingshausen 221 Rostock 85, 103 Rückersdorf 195, 206, 218 Rügen 202 – 204, 211, 218 Russland 237, 289 Sachsen 177 Schleswig 185, 310 Schleswig-Holstein 85, 86 Schweden 81 Schweinfurt 31

Uelzen 177 Ungarn 81 Unterneubrunn 91 Waddinxveen 280 Weimar 307 Wetterau 111 Wiehe 194 Wiek 203 Winzerhausen 236, 237, 243 Wittenberg 47, 61, 85, 103 Wolfenbüttel 164 Worms 310 Württemberg 19, 20, 177, 182, 183, 222, 235, 237 – 239, 241 – 243, 246, 278, 281, 284, 289, 294, 331, 337, 354, 365 Ysenburg (Isenburg-Offenbach) 114 Zeist 137, 139, 342 Zürich 311 Zwijndrecht 281, 287 Zwolle 86, 93, 96

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Personenindex

Adelung, Johann Christoph 357 Adley, W. 265 Affelmann, Johann 103 Alardus, Lambert 84 Albertini, Johann Baptist von 344 Alsted, Johann Heinrich 42, 91, 92 Ammersbach, Heinrich 98 Andreae, Johann Valentin 74, 76, 77 Annoni, Hieronymus 359 Armbruster, Christian 24, 25 Arndt, Ernst Moritz 203 Arndt, Friedrich 203 Arndt, Johann 22, 32, 74, 86, 94, 119, 310, 323 Arnold, Gottfried 29, 37, 51, 53, 54, 93, 102, 103, 124, 305, 318, 323, 332, 358 Bacon, Francis 76, 147 Baier, Hermann 202 – 205, 208, 209, 214 Baker, Charles 264 Bär, Johann Jakob 260 Bärenbrück, Georg Gottlieb 266 Barnes, Robin 88 Baronius, Caesar 36 Barth, Christian Gottlob 228, 230, 242, 290, 316 Basnage, Jacques 36 Baumgarten, Sigmund Jakob 40 Baur, Ferdinand Christian 55 Baxter, Kevin R. 60 Bayle, Pierre 38, 50 Bengel, Johann Albrecht 17, 22 – 24, 43, 228, 235 – 237, 243, 248, 278, 284, 289, 292 Betke, Joachim 74, 86, 91 Beverley, Thomas 106, 107, 111, 112

Bilderdijk, Willem 271 – 273, 283 Birrwill, Sprüngli von 358 Black, Henry 263 Blumhardt, Christian Gottlieb 257 Blumhardt, Johann Christoph 228, 232, 294 Bodin, Jean 38, 46, 51, 164, 165 Bogatzky, Karl Heinrich von 352, 356, 358, 359, 362 – 364 Böhme, Jakob 99, 103 – 106, 108, 114, 277 Boileau, Nicolas 45 Bolland, Jean 49 Bonifatius 219 Börne, Ludwig 341 Bossuet, Jacques B¦nigne 35 – 39 Bourignon, Antoinette 101 Bower, Archibald 40 Brandenburg-Preußen, – Friedrich Wilhelm I. 16, 169 Braunschweig-Wolfenbüttel, – Rudolph August 359 Breckling, Friedrich 84 – 102 Brightman, Thomas 42 Bröske, Conrad 103, 104, 111 – 114 Browning, Thomas 264 Buddeus, Johann Franz 124 Bunyan, John 217, 323 Burk, Johann Christian Friedrich 316, 323 Callenberg, Johann Heinrich 123, 124 Calov, Abraham 119 Carey, William 228 Carl, Johann Samuel 306 Cellarius, Christoph 47 Cherbury, Edward Herbert of 31

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Personenindex Chladenius, Johann Martin 144, 145, 156 Clairvaux, Bernhard von 49 Coccejus, Johannes 277, 278 Cock, Hendrik de 284, 285 Colloredo-Waldsee, Rudolph Joseph Graf von 310 Comenius, Johann Amos 76, 77, 86, 89, 94 Condorcet, Marquis de: Marie Jean Antoine Nicolas Caritat 46, 297 Corbet, Margaretha 327 Costa, Isaac da 272, 273, 278, 284 Crautwald, Valentin 105 Dänemark – Christian VI. 311 – Friedrich V. 311 Dante Alighieri 332 Davis, R. 266 Descartes, Ren¦ 31, 48 Desmarets de Saint-Sorlin, Jean 45 Dippel, Johann Konrad 103, 114 Dittmar, Heinrich 205, 206, 215, 228 Dittrich, August 262 Dober, Leonhard 134 Drabik, Mikulas 94 Droysen, Johann Gustav 141 Dürr, Wilhelm 238 Duttenhofer, Christian Friedrich 334 Eberhard, Samuel 135 Egede, Hans 311 Eisenhart, Johann 157 Elias, Johann George 357 England – Karl I. 30 Ewald, Johann Ludwig 312, 313 Exter, Christian Leberecht von 323 Faught, G. S. 266 Feddersen, Jakob Friedrich 324, 326 – 328 Felgenhauer, Paul 90, 97

310, 311,

373

Feuerbach, Ludwig 298 Fichte, Johann Gottlieb 202, 208, 214 Fiore, Joachim von 104 Flacius, Matthias 35, 154, 224 Fleury, Claude 50 Fliedner, Theodor 317, 323 Fontenelle, Bernard le Bovier de 147 Fourier, Charles 297 Franck, Sebastian 104 Francke, August Hermann 16, 17, 22, 69 – 83, 119 – 128, 167, 228, 276, 323, 359 Francke, Gotthilf August 70, 127, 128 Francke, Johann Georg 126, 127 Franckenberg, Abraham von 91 Frankreich – Ludwig XIII. 151 – Ludwig XIV. 30, 45, 329 – Napoleon I. 24, 229, 230, 232, 250, 295 Fresenius, Johann Philipp 309 Freyer, Hieronymus 115 – 120 Friederich, Johann Jakob 235 – 243 Fries, Jacob Friedrich 344 Fritsch, Ahasver 74 Fuchs, Paul von 69 Galilei, Galileo 31 Garve, Karl Bernhard 344 Gedeløkke, Jens Pedersen 311 Gellert, Christian Fürchtegott 311, 312 Genua, Catharina von 323 Gerber, Christian 231, 306, 308, 322, 323 Gerhard, Johann 103, 119 Gerhardt, Paul 132 Germanus, Moses 99 Gichtel, Johann Georg 101, 102, 107 Gifftheil, Ludwig Friedrich 86, 88, 89, 94 Gladov, Friedrich 159 – 167, 170 Glaser, Karl Alfred Gustav Ernst 316, 323 Glüsing, Johann Otto 332

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Personenindex

Goethe, Johann Wolfgang von 196, 309, 311, 325, 341 Goßner, Johannes Evangelista 305 Gottsched, Johann Christoph 45 Gottsched, Luise Adelgunde Victorie 332 Graci‚n, Baltasar 150 Graminaeus, Theodor 41 Gray, Johanna 324 Grimm, Jacob 335 Grimm, Wilhelm 335 Groe, Theodorus van der 278 Großgebauer, Theophil 74 Gujer, Jakob 311 Gundling, Nicolaus Hieronymus 151, 153, 155 – 163 Hagedorn, Friedrich von 311 Hahn, Johann Michael 19 Hahn, Philipp Matthäus 235 Hahn, Simon Friedrich 160 Haidt, Johann Valentin 135, 136 Hallart, Nikolaus Ludwig von 177 Haller, Albrecht von 312 Hardt, Hermann von der 359, 360, 363 Harms, Claus 185, 202 Harnack, Adolf von 29 Harris, Rupert 328 Harsdörffer, Georg Philipp 151 Hartley, John 256 Hartmann, Johann Ludwig 64 Haven, Eleonore 347 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 231, 294 Heine, Heinrich 341 Helmershausen, Immanuel Gottlob Friedrich 307 Hencke, Georg Johann 177 – 182 Henckel, Erdmann Heinrich Graf 306, 330, 338, 351 Hentzepeter, Hendrik 280, 286 Herberger, Valerius 32 Herder, Johann Gottfried 141, 144, 231 Hieronymus, Sophronius Eusebius 34

Hiller, Philipp Friedrich 351 Hillmer, Gottlob Friedrich 313 Hobbes, Thomas 31 Hoburg, Christian 86, 87, 101, 322 Hochstetter, Christian 177 – 184 Hochstetter, Johann Andreas 178 Hofacker, Ludwig 183, 221 – 232, 242 Hofacker, Wilhelm 221 Hoffmann, Christoph 289 Hoffmann, Gottlieb Wilhelm 239, 242 Hoffmann, Wilhelm 227 Hofmann, Johann Christian Konrad von 227 Hogendorp, Dirk van 283, 286 Holzhalb, Beat 358 Homer 148 Horche, Heinrich 71, 103, 114, 167 Hornius, Georg 39, 47 Hübner, Johannes 317 Hus, Jan (Johann) 119, 312 Huth, Hans 136 Irving, Edward 284 Iselin 144 Jan, Johann Wilhelm 47 Jerichow, Traugott Immanuel 306 Jordan, Ignatius 326 Judex, Matthäus 35 Jung-Stilling, Johann Heinrich 24, 228, 233, 292, 312 Kanne, Johann Arnold 313 – 316, 320 – 323, 334 – 337 Kant, Immanuel 208, 297 Kanz, Johann Conrad 333, 335 Kerinth 94 Kirsch, Georg Friedrich 312 Kißling, Georg Adam 259 Kist, Nicolaas Christiaan 287 Kleinknecht, Conrad Daniel 323 Kleist, Heinrich von 315 Knapp, Albert 221, 222, 242 Knapp, Georg Christian 316

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Personenindex Knight, Joseph 265 Knorr von Rosenroth, Christian 42 Knuth, Gustav 365 Kober, Tobias 105 Koch, Johann 84 Koelman, Jacobus 286 Kohlbrügge, Hermann Friedrich 284 Konstantin der Große 63, 65, 118 Kosegarten, Ludwig Gotthard 203 Krummacher, Emil Wilhelm 230, 233 Krummacher, Friedrich Adolf 230 Kuhlmann, Quirinius 101 Kuyper, Abraham 286 La BruyÀre, Jean de 45 La Fontaine, Jean de 45 La PeyrÀre, Isaac de 40 Labadie, Jean de 103 Lambrick, Samuel 265 Lange, Joachim 118 – 121 Lavater, Johann Caspar 311, 312, 321, 325, 351 Le Bovier de Fontenelle, Bernard 45 Le Nain de Tillemont, Louis-S¦bastien 50 Leade, Jane 101, 103, 104, 106, 107, 282 Ledderhose, Carl Friedrich 334 Ledeboer, Lambertus Gerardus Cornelis 285, 287 Leer, Maria 281 Leibniz, Gottfried Wilhelm 31, 48, 52, 77, 149, 171, 359 Leipoldt, Wilhelm 233, 234 Leo, Heinrich 212, 228 Lessing, Gotthold Ephraim 146, 297, 327 Leutwil, Ernst von 358 Lieb, Carl Christian 263 Lindinner, Joseph 358 Locke, John 31 Lodenstein, Jodocus van 286 Logan, Robert 263 Ludewig, Johann Peter 154, 155, 159 Luppius, Andreas 84

375

Luther, Martin 41, 53, 56, 81, 86, 90, 94, 100, 119 – 123, 128, 185, 201, 218, 222, 323 Mabillon, Jean 49 Machiavelli, Niccolý 150, 152 Mack, Alexander 103 Maimbourg, Louis 36 Martyn, Henry 228 Mayer, Johann Friedrich 107 Mazereeuw, Jan 281 – 283, 286, 287 Mede, Joseph 42, 91 Meinecke, Friedrich 192 Melanchthon, Philipp 34, 53, 119, 223, 311 Meyer, Friedrich von 205 Meyer, Johannes 308 Micraelius, Johannes 53 Morus, Thomas 78 Moser, Johann Jacob 306, 309, 323, 332, 360, 362 Mosheim, Johann Lorenz von 54 Mühlenberg, Heinrich Melchior 352 Muhrbeck, Friedrich 208 Müller, Ernst 316 Müller, Heinrich Daniel 309 Müller, Johann Ludwig 324 Müller, Johannes von 228 Muller, Stoffel 280, 281 Münchhausen, Gerlach Adolf von 311 Müntzer, Thomas 41, 95 Nasse, Christian Friedrich 202 Neander, August 226, 232 Nehrlich, Hans Ludwig 124 Neubauer, Georg Heinrich 123 Neumann, Johann Georg 61, 65, 103 Neumeister, Erdmann 107 Newton, Isaac 31 Nicolai, Friedrich 164 Nicolai, Philipp 32 Nicolas, Armelle 323 Niebuhr, Barthold Georg 200, 217 Niederlande

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Personenindex

– Wilhelm der Schweiger 272 – Wilhelm I. 271, 274, 276, 277, 283 – Wilhelm II. 274 Niehenck, Georg Friedrich 107 Nitschmann, Anna 132 Novalis 321 Nuse, Hendrik 283 Oetinger, Friedrich Christoph 19, 22, 235, 292, 308, 321, 332, 366 Osmanisches Reich – Mehmed II. 65 Österreich – Joseph II. 311 Ostervald, Jean Fr¦d¦ric 74 Palm, Johannes Henricus van der 275 Paracelsus (Theophrast Bombast von Hohenheim) 105 Pascal, Blaise 147 Paul, Jean 313 Perrault, Charles 45, 148 Pestalozzi, Johann Heinrich 202 Petavius, Dionysius 39 Petersen, Johann Wilhelm 43, 64, 67, 70, 101, 103, 104, 107 – 110, 113, 114 Petersen, Johanna Eleonora 43, 64, 67, 70, 103, 107 Peucer, Caspar 34 Pfander, Karl Gottlieb 264 Pfeiffer, August 61, 63 – 66 Pfenninger, Johann Konrad 321 Piper, Ferdinand 317, 323 Pordage, John 106 Powell, Vavasor 324 Pressel, Paul 352 Prinsterer, Guillaume Groen van 272, 273, 285 Psalmanazar, George 40 Qu¦telet, Adolphe

297

Racine, Jean 45 Rambach, Johann Jacob

306

Ranke, Ernst 195 – 197 Ranke, Ferdinand 195 – 197 Ranke, Heinrich 192 – 220 Ranke, Johanna 195, 196 Ranke, Leopold von 192 – 220, 231 Ranke, Rosalie 195, 196 Ranke, Wilhelm 195 – 197 Rapp, Johann Georg 281 Ratcliffe, Johanna 326 Raumer, Friedrich von 208 Raumer, Karl von 202, 205 – 208, 214, 231 Reichel, Christlieb 344 Reitz, Johann Henrich 54, 231, 304 – 306, 308 – 310, 315, 316, 318, 322 – 324, 326, 327, 333, 338, 358 Renoult, Jean-Baptiste 36 Reusner, Elias 53 Rhenius, Carl Gottlieb 268 Richelieu, Armand-Jean du Plessis, Cardinal Duc de 151 Richter, Heinrich 247, 250 – 256 Richter, Wilhelm 247 Rieger, Georg Conrad 329 – 335 Rische, A.[ugust] 316 Roos, Magnus Friedrich 333 Rothe, Johannes 101 Rotteck, Karl von 293, 294 Roy, Johannes Jacobus le 276 Rudelbach, Andreas Gottlob 317, 319 Sachsen-Gotha – Ernst der Fromme 229 Saint-Simon, Henry de 297 Sale, George 40 Sauer, Christoph 362 Savigny, Friedrich Carl von 192 Schamelius, Johann Martin 176 – 179, 182 Scharschmid, Anna Catharina 358 Schedel, Hartmann 46 Scheffler, Heinrich Conrad 359, 362 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 205

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Personenindex Schiller, Friedrich 148, 166 Schlegel, Friedrich 148, 231 Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst 29, 204, 205, 292, 344 Schmeitzel, Martin 158 Schmitz, J. W. 297 Scholte, Hendrik Peter 284 – 286 Schopenhauer, Arthur 315, 334 Schubert, Gotthilf Heinrich 202, 204, 205, 207, 214, 216, 218, 315, 316 Schurman, Anna Maria van 103 Schütz, Johann Jakob 42, 103 Schwartz, Adelheid Sibylla 71 Schwartz, Christian Friedrich 228 Schwarz, Theodor 203, 205 Schweden – Gustav Adolf 228, 233 Schwenckfeld von Ossig, Kaspar 103 – 106 Seckendorff, Veit Ludwig von 36, 37, 74 Seidenbecher, Georg Lorenz 90 – 99, 101 Selkirk, James 265, 267 Serrarius, Peter 86, 89, 91, 93, 99 – 101 Silesius, Angelus 351, 358 Simon, Richard 35, 50 Skytte, Benedikt 76, 77 Sleidanus, Johannes 34, 38, 46 Smith, Adam 297 Spangenberg, August Gottlieb 138 Späth, Johann Peter 99 Spener, Jacob Carl 159, 160 Spener, Philipp Jakob 17, 22, 42, 43, 53, 56 – 68, 69 – 83, 118 – 120, 138, 159, 167, 181, 183, 228, 291, 311, 316, 323, 359, 365 Spinoza, Baruch de 31 Steiner, Jakob M. 262 Struve, Burkhard Gotthelf 159 Sturm, Beata 315, 323, 324, 328, 333 – 335, 338 Surrectione, Laurentius de 323 Suter, Christian 342

Swift, Jonathan

45

Tacke, Johann 86 Tauler, Johannes 86 Tennhardt, Johann 332 Tersteegen, Gerhard 22, 54, 231, 276, 305, 315, 319, 323, 351, 362 Thelwall, Algernon Sydney 189, 190 Thieß, Johann Otto 185 Thieß, Wilhelm 185 – 190 Tholuck, Friedrich August Gottreu 226, 231, 316 Thomasius, Christian 148, 151, 153, 155 Thorbecke, Jan Rudolf 274 Treitschke, Heinrich von 209 Tuchtfeld, Victor Christoph 332 Turner, John Matthias 266 Urlsperger, Johann August Ussher, James 311

317

Valk, Dirk 280, 281, 286 Vater, Johann Severin 216, 217 Vergil 148 Vichard de Saint-R¦al, C¦sar 51 Vico, Giambattista 52 Vijgeboom, Johan Willem 279, 286, 287 Voetius, Gisbertus 277 Voltaire 52, 144 Walter, Balthasar 105 Weber, Fürchtegott Thuerecht 308 Weise, Christian 150 Weismann, Christian Eberhard 54 Weitling, Wilhelm 293 Wesley, Charles 363 Wesley, John 363 Wette, Wilhelm Martin Leberecht de 205, 216, 217 Wiedemann, Sophie Catherine 347 Wiegleb, Johann Hieronymus 121, 122 Wigand, Johannes 35

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Personenindex

Wilkinson, Elisabeth 326 Winckelmann, Johann Joachim 45, 196 Winckler, Johann 107 Wolf, Friedrich August 200 Woltersdorf, Ernst Gottlieb 308 Württemberg – Christoph 229 – Friedrich I. Wilhelm Karl 237 Wuttke, Carl Friedrich Adolf 353 Wycliffe, John 119 Yate, William

Zaremba, Felician 267 Zeise, Philipp Christoph 124 Zelter, Carl Friedrich 341, 342 Ziegenbalg, Bartholomäus 228 Ziegler, Johann Ludwig 239 Zierold, Johann Wilhelm 124 Zinzendorf, Nikolaus Ludwig von 16, 17, 22, 129 – 140, 342, 349, 360, 363 – 365 Zuylen van Nijevelt, Cornelis Baron van 283

264

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