Prosperität und Krise in einer Kaffeerepublik: Modernisierung, sozialer Wandel und politischer Umbruch in El Salvador 1910-1945 9783964567550

Die vorliegende Arbeit stützt sich auf grösstenteils unerforschtes Quellenmaterial und bietet eine umfassende Gesamtdars

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Prosperität und Krise in einer Kaffeerepublik: Modernisierung, sozialer Wandel und politischer Umbruch in El Salvador 1910-1945
 9783964567550

Table of contents :
Inhaltsverzeichnis
Verzeichnis Der Karten, Tabellen Und Grafiken
Glossar / Abkürzungsverzeichnis
Karte El Salvadors
Vorwort
Einleitung
I. Die Ausformung Des Exportorientierten Wirtschaftsmodells
II. Die Modernisierungsperiode 1919 - 1930
III. Ausmass Und Folgen Der Modernisierung, 1910-1930
IV. Der Einbruch Der Weltwirtschaftskrise Und Die Salvadorianische Politik
V. Das Martinez-Regime, 1932-1944
VI. Zusammenfassung Und Interpretation: Sozioökonomische Modernisierung Und Politischer Wandel In El Salvador, 1910-1945
VII. Quellen- Und Literaturverzeichnis
Anhang I: Bevölkerungsentwicklung 1910-1945, Annäherungen Und Berichtigungen
Anhang II: Sozialindikatoren
Anhang III: Anbaugebiete Der Wichtigsten Agrarprodukte El Salvadors, 1950
Anhang IV: Politisches Personal, 1911-1944
Anhang V: Aufrechterhaltung Des Belagerungszustandes, 1911-1944
Anhang VI: Wirtschaftseliten In El Salvador, 1920- 1940

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Jan Suter

Prosperität und Krise in einer Kaffeerepublik

Editionen der Iberoamericana Ediciones de Iberoamericana Serie A: Literaturgeschichte und -kríúkJHistoria y Crítica de la Literatura Serie B: Sprachwissenschaft/Lmgiiíírica Serie C: Geschichte und Gesellschaft/Z/mona y Sociedad Serie D: Bibliographien/fliWiogra/ías Herausgegeben von/Editado por: Walther L. Bemecker, Frauke Gewecke, Jürgen M. Meisel, Klaus Meyer-Minnemann

C: Geschichte und Gesellschaft///iJíona y Sociedad, 2

Jan Suter

Prosperität und Krise in einer Kaffeerepublik Modernisierung, sozialer Wandel und politischer Umbruch in El Salvador, 1910-1945

Vervuert Verlag • Frankfurt am Main

1996

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme [Iberoamericana / Editionen / C] Editionen der Iberoamericana = Ediciones de Iberoamericana. Serie C, Geschichte und Gesellschaft = Historia y sociedad. Frankfurt am Main : Vervuert. Hervorgegangen aus: Iberoamericana / Editionen / 03 Reihe Editionen, Serie C zu: Iberoamericana NE: Iberoamericana / Ediciones / Q Editionen der Iberoamericana; Ediciones de Iberoamericana; HST

2. Suter, Jan: Prosperität und Krise in einer Kaffeerepublik. 1996 Suter, Jan: Prosperität und Krise in einer Kaifeerepublik : Modernisierung, sozialer Wandel und politischer Umbruch in El Salvador, 19101945 / Jan Suter.- Frankfurt am Main : Vervuert, 1996 (Editionen der Iberoamericana : Serie C, Geschichte und Gesellschaft ; 2) Zugl.: Basel, Univ., Diss., 1996 ISBN 3-89354-863-7

© Vervuert Verlag, Frankfurt / Main 1996 Alle Rechte vorbehalten Umschlaggestaltung: Michael Ackermann unter Verwendung des Fotos Secando café (Cajas y Bolsas S.A.: Paseo del Recuerdo. San Salvador 1900-1925, San Salvador 1985)

Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier Printed in Germany

V INHALTSVERZEICHNIS VERZEICHNIS DER KARTEN, TABELLEN UND GRAFIKEN

IX

GLOSSAR / ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS

XIII

KARTE EL SALVADORS

XVI

VORWORT

XVIII

EINLEITUNG

1

I. D I E A U S F O R M U N G D E S E X P O R T O R I E N T I E R T E N WIRTSCHAFTSMODELLS

1. Prolog: das ausgehende 19. Jahrhundert und die Ablösung des "idealistischen Liberalismus "

15

2. Die Präsidentschaft Manuel Enrique Araujos: Systemerhalt mit progressiven Zügen, 1911-1913

24

3. Die Regierung Carlos Melendez: Stabilität und Stagnation des exportorientierten Wirtschaftsmodells im Weltkrieg, 1913-1918

36

4. Die Entwicklung von Wirtschaft, Staat und Gesellschaft, 19111918

52

A. Wirtschaftliche Entwicklung 55 B. Staatshaushalt, Wirtschafts- und Sozialpolitik 61 C. Die offene Situation bei Kriegsende 65 II. D I E M O D E R N I S I E R U N G S P E R I O D E

1919-1930

1. Jorge Melendez und die Krise oligarchischer Herrschaft, 19191922

71

2. Konsolidierung autokratischer Herrschaft und forcierte Modernisierung: die Regierung Quinönez, 1923-1927

93

3. Reformversuche in der Endphase der Modernisierung: Die ersten Jahre der Administration Pio Romero Bosque, 19271929

114

VI III. AUSMASS UND FOLGEN DER MODERNISIERUNG,

1910 -1930

1. Wirtschaftliche Entwicklung und Modernisierung

130

A. Wirtschaftswachstum: Quantitative Aspekte, sektorale Dimension und wirtschaftspolitische Einbettung 131 B. Die Kaffeewirtschaft, Entwicklung und Struktur, 1910-1930 136 C. Aussenhandel und Märkte 164 D. Die Produktionsfaktoren: Arbeit, Boden, Kapital 174 a. Landbesitz und die Kapitalisierung des Produktionsfaktors Boden b. Kapital, Kredit und Auslandsinvestitionen c. Arbeit und Arbeitsmarkt

E. Die Entwicklung der übrigen Wirtschaftssektoren im Zeichen der Exportabhängigkeit 203 a. Der Ausbau der Infrastruktur b. Der Fehlschlag wirtschaftlicher Diversifikation c. Die binnenmarktorientierte Landwirtschaft und die Grundnahrungsmittelproduktion d. Industrialisierung und die übrige Wirtschaft

2. Die sozialen Folgen der Modernisierung

230

A. Die Veränderungen der Bevölkerungsstruktur: Wachstum, Migration, Urbanisierung 230 B. Klassen- und Schichtenbildung 241 C. Die soziale Lage der Bevölkerung in der Modernisierungsperiode der Zwanzigeijahre 257 3. Staat und Staatshaushalt in der Modernisierung

281

4. Politische Akteure und politische Partizipation A. Oligarchie, Eliten und der Staat 298 B. Die Politisierung des Militärs 303 C. Das Aufkommen von Interessenorganisation und die Mobilisierung der städtischen Mittelschichten 308 D. Die Unterschichten und die Arbeiterbewegung 312

298

5. Die autoritäre Modernisierung und die Krise nationaler Integration im Vorfeld der Weltwirtschaftskrise

325

vn IV. DER EINBRUCH DER WELTWIRTSCHAFTSKRISE UND DIE SALVADORIANISCHE POLITIK 1. Die ökonomischen und sozialen Effekte der Krise

347

2. Politische Reformversuche unter der Regierung Romero Bosque, 1929-1931

359

3. Das Regime Arturo Araujos: Populismus und Repression

386

4. Die Machtergreifung der Militärs im Dezember 1931 und das Problem der diplomatischen Nicht-Anerkennung

407

5. Sozialrebellion und matanza

418

V. DAS MARTINEZ-REGIME, 1932-1944 1. Die Konsolidierung eines neuen Herrschaftsmodells, 1932-1935

464

A. Krisenpolitik und Konsolidierungsmassnahmen nach der matanza 464 B. Wirtschaftspolitik und Staatshaushalt, 1932-1935 470 C. Die aussenpolitische Konsolidierung der Militärdiktatur 480 D.Sozialpolitik 483 E. Machterhalt und die militärisch-zivile Herrschaftsstruktur 488 F. Institutionalisierung der Herrschaft Martinez' und continuismo 495 G. Ergebnisse 498 2. Die Verfestigung der Militärdiktatur, 1935-1939

502

3. Kriegswirtschaft und Krise des Regimes, 1939-1944

514

4. Herrschaftsmechanismen und Ideologie des Martinats, 1932-1944

527

A. Maximiliano Hernández Martínez: Personalistische Herrschaft und Biografié 527 B. Ideologie und aussenpolitische Orientierung 533 C. Die Integration von militärischer Machtausübung und dem Ausbau der zivilen staatlichen und parastaatlichen Herrschaftsinstrumente 541 D. Sozialpolitik und soziale Lage, 1935-1944 548

E.Wirtschaftspolitik und wirtschaftliche Entwicklung 555

vm a. Staatliche Wirtschaftspolitik und Staatshaushalt b. Quantitative Indikatoren und Grundtendenzen der Wirtschaftsentwicklung, 1932-1944

5. Der Sturz der Martinez-Diktatur und die weitere politische Entwicklung

581

A. Der Militärputsch vom April 1944 581 B. Die "huelga de brazos caídos" 586 C. Epilog: Die politische Entwicklung El Salvadors nach dem Ende der Ära Martínez 593

VI. Z U S A M M E N F A S S U N G U N D INTERPRETATION: S O Z I O Ö K O N O M I S C H E M O D E R N I S I E R U N G UND POLITISCHER W A N D E L IN E L S A L V A D O R , 1 9 1 0 - 1 9 4 5

596

VII. Q U E L L E N - U N D L I T E R A T U R V E R Z E I C H N I S 1. QUELLEN 2. SEKUNDÄRLITERATUR

632 639

ANHANG I: BEVÖLKERUNGSENTWICKLUNG 1910-1945, ANNÄHERUNGEN, BERICHTIGUNGEN UND OFFIZIELLE ANGABEN

667

ANHANG II: SOZIALINDIKATOREN

670

ANHANG III: ANBAUGEBIETE DER WICHTIGSTEN AGRARPRODUKTE EL SALVADORS, 1950

672

A N H A N G IV: POLITISCHES PERSONAL, 1 9 1 1 - 1 9 4 4

675

ANHANG V: AUFRECHTERHALTUNG DES BELAGERUNGSZUSTANDES, 1911-1944

678

ANHANG VI: WIRTSCHAFTSELITEN IN EL SALVADOR, ZWANZIGERBIS VIERZIGERJAHRE

679

IX

VERZEICHNIS DER KARTEN, TABELLEN UND GRAFIKEN

Karten Karte El Salvadors Kaffeeanbaugebiete und ehemalige e/ü/o-Ländereien Konzentration von Saisonarbeiterinnen in den KaSieemunicipios El Salvadors während der Ernte (Nov. bis Jan.) Eisenbahn- und Strassennetz, 1912 Eisenbahn- und Strassennetz, um 1930 Bevölkerung: Binnenmigration während der Zwanzigerjahre Die Agglomeration San Salvador: Besiedlung und Verkehrsverbindungen Ausweitung des Aktionsbereichs der Guardia Nacional, 1912-1927 Schauplätze des Aufstands von 1932 im Westen El Salvadors

XVI 17 163 208 209 235 238 286 442

Grafiken Bruttoinlandprodukt und Wertschöpfung nach Sektoren, 1920-1930 Kaffee-Exporte und Anbaufläche, 1911-1931 Kaffee-Exporte 1910-1930: Menge, Weit, Anteil an den Gesamtexporten Terms of Trade/Entwicklung der Kaffeepreise, 1910-1930 /1920-1930 Anteile verschiedener gesellschaftlicher Gruppen am Exporterlös für Kaffee vor Abzug der Produktions- und Reproduktionskosten, 1925 Saisonale Arbeitskrafterfordernisse bei der Produktion verschiedener landwirtschaftlicher Güter Wert der Importe und Exporte, 1910-1930 Kaffeeproduktion: Prozentualer Anteil der Besitzer an der gesamten Anbaufläche, nach Grössengruppen der firtcas, ca. 1930 Angebot / Nachfrage der Arbeitskraft unter verschiedenen Marktbedingungen Maispreise (en gros, in maguey Ureinwohner, in El Salvador besonders die Pipil der westlichen Departemente und Reste der Lenca im Osten des Landes Amerikanische, in ganz Zentralamerika operierende Eisenbahngesellschaft, Tochter der ->UFCO Tagelöhner Paritätisches Arbeitsschiedsgericht Kommunistische Partei Mitglied der mestizischen Bevölkerungsmehrheit, Begriff insbesondere als Abgrenzung zu indio, -> indígena benutzt Paramilitärische Parteimiliz des ->PND mit sozialrevolutionärer Rhetorik einheimische Heimatliteratur langes Messer, zum Mähen, Roden und Jäten einsetzbar, wichtigstes Arbeitsgerät der Bauern Agavenart, deren Faser in El Salvador ähnlich wie -> henequén zu Säcken etc. verarbeitet wird Flächenmass, 0.6944 ha Verwalter einer -> finca

XV

mesón milpa minifundio, minifundista municipio niña no-reelección (principio de-) panela pariente político PCS, Partido Comunista de El Salvador peón pilón P'PÜ PND, Partido Nacional Democrático PNPP, Partido Nacional Pro-Patria primer designado pueblo q, quintal SR, Salvador Railways secretario de estado subsecretario de estado terraje turco UFCO, United Fruit Company villa

nach der Jahrhundertwende in den grösseren Städten aufkommende Mietshäuser Maispflanzung Kleinbesitz / -er Gemeinde eigtl. Mädchen, in El Salvador Anrede für höhergestellte weibliche Personen, entspricht dem lítel doña verfassungsmässig niedergelegtes Wiederwahlveibot roher, hauswirtschaftlich hergestellter Zucker in Barrenform politischer Alliierter, eigtl. Verwandter Kommunistische Partei El Salvadors, 1930 gegründet Landarbeiter roher, hauswirtschaftlich hergestellter Zucker (Zuckerstöcke) Indigene Ethnie der westlichen Departemente El Salvadors (nahua) dominierende, semi-offizielle Partei der Exporteursoligarchie ab 1910 bis ca. 1927 Einheitspartei der Militärdiktatur nach 1932 Nach dem Vizepräsidenten in der präsidentiellen Nachfolge folgende Person, gewählt von der ->Asamblea Nacional Dorf, gemäss Klassifizierungssystem der staatlichen Verwaltung El Salvadors Spanischer Zentner (ä 46 kg) in den westlichen Departementen vor 1925 wichtigste Eisenbahngesellschaft in englischem Besitz Minister (Anzahl: 4) Staatssekretär, je nach Ministerium 1 bis 3 Pachtzins bei der ->aparceria eigtl. Türke, Bezeichnung für arabische Einwanderer und ihre Nachkommen In ganz Zentralamerika operierende Fruchthandels-, Produktions- und Transportgesellschaft, dominierte die Bananenproduktion Kleinstadt, gemäss Klassifizierungssystem der staatlichen Verwaltung El Salvadors

XVI

KARTE EL SALVADORS,

Departemente: 1 Ahuachapän 2 Santa Ana 3 Sonsonate 4 La Libertad 5 Chalatenango 6 San Salvador 7 Cuscatlän = 20 km

8 La Paz 9 Cabaflas 10 San Vicente 11 Usulutan 12 San Miguel 13 Morazän 14 La Union

XVII MUNICIPIOS UND DEPARTEMENTE

Quelle: Dirección General de Estadística y Censos 1955

xvra In El Salvador wird die Gewalt nicht nur die Hebamme der Geschichte sein. Sie wird auch die Mutter des Volks-Kindes sein, um es mit einem Bild auszudrücken frei von jeglichem Paternalismus. Und in Anbetracht des ärmlichen Hauses, der Sorte von Elendsviertel, in dem das Volks-Kind geboren wurde und lebt muss diese umtriebige Mutter auch die Wäscherin der Geschichte und die Büglerin der Geschichte sein diejenige, die unser täglich Brot der Geschichte sucht, das wilde Tier, aas seine Jungen verteidigt und nicht nur die Strassenkehrerin sondern auch der Müllsammlerin der Geschichte und die Fahrerin des Bulldozers der Geschichte. Roque Dalton, La violencia aquí

VORWORT Im Juni 1993, als die Feldforschung für die vorliegende Arbeit durchgeführt wurde, starb in San Salvador hochbetagt der Schuster Miguel Mármol. Mit dem Tod dieser Integrationsfigur der salvadorianischen Linken schien gleichzeitig eine Epoche der salvadorianischen Geschichte zu Ende zu gehen. Mármol stammte aus einem kleinen Dorf östlich der Hauptstadt, hatte in den Zwanzigerjahren beim Aufbau der Gewerkschaftsbewegung seines Landes Pionierarbeit geleistet, war 1930 einer der Mitgründer der kommunistischen Partei El Salvadors und wurde durch eine Russlandreise zum überzeugten Anhänger des Sowjetsystems. Er war einer der Träger der gewerkschaftlichen Agitation auf dem Lande und massgeblich an der Vorbereitung des kommunistisch geführten Aufstands im Jahre 1932 beteiligt. Nach dem Fehlschlag der Rebellion verhaftet, überlebte er seine standrechtliche Erschiessung und wurde damit zum Mythos. Vergebliche Versuche, eine klandestine Oppositionsbewegung gegen die Martinez-Diktatur aufzubauen, häufige Verhaftungen und langjähriges Exil machten ihn zu einer Symbolfigur für die revolutionäre Linke nicht nur in seinem Heimatland. Ungebrochen selbst durch das Scheitern des kommunistischen Modells in Osteuropa, wirkte er nach dem Ende des Bürgerkriegs 1992 wie schon 60 Jahre zuvor als Wahlhelfer für die Kommunistische Partei und die als Partei neu organisierte Befreiungsbewegung, die den Namen seines Kampfgefährten Farabundo Marti trägt. Mármols Tod, der selbst in der bürgerlichen Presse El Salvadors Widerhall fand, fiel in die Befriedungsphase, die den seit den Zwanzigerjahren be-

XIX stehenden Konflikt zwischen progressiven und bewahrenden Kreisen der Gesellschaft, zwischen Massen und Eliten, zwischen repressiver Herrschaft von Oligarchen und Militärs und gewaltbereitem Widerstand der Volksorganisationen, beendete. Mit den Friedensverträgen und der Präsidentschaftswahl von 1994 wurde eine geschichtliche Epoche abgeschlossen, die in den gesellschaftlichen und politischen Umwälzungen zu Anfang der Dreissigerjahre präformiert worden war. Mit Miguel Mármol ist der letzte prominente Zeuge dieser Ereignisse verschwunden, keine personellen Kontinuitäten weisen mehr in die Epoche der Weltwirtschaftskrise und der Zwanzigerjahre zurück und damit wird jene Zeit auch in der kollektiven Erinnerung der Salvadorianerlnnen Historie, abgeschlossen und doch nicht verarbeitet. Der Aufbau einer gerechteren Gesellschaftsordnung in diesem kleinsten Land des amerikanischen Kontinents muss nun im Wissen um die Vergangenheit, aber ohne den Zwang zum direkten Bezug auf jene formative Periode der jüngeren Geschichte El Salvadors erfolgen.

t

La Coordinadora para la Reconstrucción y el Desarrollo

(CRD)

lamenta el sensible fallecimiento de

MIGUEL M A R M O L

compañero de Farabundo Martí y fundador de la Federación Regional de Trabajadores Salvadoreños RTS.el 21 de Septiembre de 1924. Destacado dirigente de los trabajadores salvadoreños; Fundador y Miembro Emérito del P.C.S. Expresamos nuestro pesar y solidaridad a la familia, al P.C.S. y F.M.L.N. San Salvador, 26 de junio de 1993.

Natürlich waren weder der Tod Miguel Märmols noch der Friedensschluss und damit die Epochengrenze des Jahres 1992 die ausschlaggebende Motivation für diese Arbeit und die Beschäftigung mit den historischen Wurzeln der heutigen Situation El Salvadors. Ein allgemeines Interesse für die untersuchte Periode, eine durchaus auch emotionale Bindung an Zentralamerika und Vorarbeiten in verwandten Bereichen weckten die wissenschaftliche

XX Neugier gegenüber einem Untersuchungsgegenstand, der den Zugang nicht leicht macht und doch historische Pionierarbeit ermöglicht. Die Vielzahl der Darstellungen zur salvadorianischen Geschichte kann nicht darüber hinwegtäuschen dass bis anhin nur wenig quellenorientierte Forschung betrieben worden ist. So schien das Ende des Bürgerkriegs ein guter Zeitpunkt, den Versuch einer Revision festgefahrener Vorstellungen zur salvadorianischen Vergangenheit vorzunehmen, die nicht zuletzt im Zuge eines wissenschaftlichen Booms anlässlich eines anderen wichtigen Periodeneinschnitts, dem Beginn des Bürgerkrieges der Achtzigerjahre, entstanden waren. Die vorliegende Arbeit ist das Ergebnis dieser Bestrebungen, sie ist gleichermassen Frucht historischer Quellenforschung wie der Auseinandersetzung mit bereits Gedachtem, Erforschtem und Berichtetem. Sie erhebt nicht den Anspruch wissenschaftlicher Originalität über die Möglichkeiten einer monographischen Fallstudie und ihrer Verortung in Theoriediskussionen und zeitlichem wie geographischem Kontext hinaus. Vielleicht aber kann eine Arbeit wie die vorliegende, deren Basis ein intensives Quellenstudium bildet, mit ihrem Versuch, dramatische und zuweilen schreckliche Ereignisse möglichst präzise darzustellen, einen Beitrag leisten zu einer Befreiung der Diskussion von ideologischem Ballast. Dieses Bestreben steht nicht im Zusammenhang mit dem Ende des realexistierenden Sozialismus und der damit scheinbar notwendig gewordenen Abwertung marxistischer Forschung. Es folgt vielmehr der Einsicht, dass vorgegebene Bilder und vorgefasste Meinungen, aber auch rigide angewendete Interpretationsmuster, egal welcher Provenienz, der wissenschaftlichen Forschung stark geschadet und Erkenntnisgewinne gerade innerhalb der historischen Lateinamerika-Forschung behindert haben. Die vorliegende Untersuchung entstand als Dissertation an der Universität Basel unter der Leitung von Prof. Dr. Hans Rudolf Guggisberg (Referent) und Prof. Dr. Hans Werner Tobler (Korreferent, Institut für Geschichte der ETH Zürich). Die Arbeit ist das Ergebnis eines mehrjährigen Forschungs- und Verarbeitungsprozesses; sie verdankt ihre Existenz nicht nur der Bereitschaft des Schreibenden zur ständigen Beschäftigung mit einem für die Mehrheit seiner Umgebung abwegigen Thema, sondern auch der Bereitschaft dieser näheren und weiteren Umgebung, ihn dabei zu unterstützen. Dafür gebührt einer Vielzahl von Personen und Institutionen, die auf mannigfaltige Weise zum Gelingen des Werks beitrugen, Dank. Zunächst sind hier die wissenschaftlichen Betreuer dieser Arbeit, Dozenten zweier verschiedener Hochschulen, zu nennen. Prof. Dr. Hans Rudolf Guggisberg, Universität Basel, sei hiermit für seine Bereitschaft zur Übernahme des Hauptreferates und das Interesse, das er meiner Forschung entgegenbrachte, gedankt. Prof. Dr. Hans Werner Tobler, ETH Zürich, förderte den Fortgang der Arbeit durch dezidierte Unterstützung des Projekts anlässlich meines langen Marsches durch die Institutionen der wissenschaftlichen Förderung; ihm oblag zudem die wissenschaftliche Betreuung der Arbeit. Ich möchte ihm an dieser Stelle für die Handlungsfreiheit danken, die er mir ge-

XXI

währte und die doch mit einer wachen Anteilnahme am Fortgang der Arbeit einherging. Infolge des plötzlichen Todes von Prof. Guggisberg kurz nach Fertigstellung seines Gutachtens wurde der Beizug eines weiteren Dozenten als Prüfer im Doktorexamen notwendig. Herrn Prof. Dr. Josef Mooser, Universität Basel, möchte ich hiermit für die bereitwillige Übernahme dieser Funktion und seinen Einsatz herzlich danken. Finanzielle Förderung ist eine conditio sine qua non grösserer Forschungsprojekte. Den zuständigen Stellen des Schweizerischen Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung sei an dieser Stelle für die Finanzierung der Forschungsaufenthalte in Washington D.C. und El Salvador gedankt, ebenso den verantwortlichen Stellen des Kantons Basel-Stadt, die die weitere Arbeit an der Dissertation durch Gewährung eines Doktoratsstipendiums ermöglichten. Verdankt sei auch der Druckkostenzuschuss seitens des Dissertationsfonds der Universität Basel und der Philosophisch-Historischen Fakultät dieser Hochschule. Unter den vielen Menschen, die zum Gelingen dieser Arbeit beigetragen haben, möchte ich die folgenden besonders erwähnen: Hilda Herrera, ihre Familie und ihre Hausangestellte Francisca Barrientos machten meinen Aufenthalt in San Salvador so angenehm, wie unter den gegebenen Umständen möglich und gaben mir darüber hinaus Einblicke ins Denken und Fühlen von Angehörigen zweier Gesellschaftsschichten, die man sich entfernter nicht denken kann; grundsätzliche Antagonismen der salvadorianischen Gesellschaft wurden im engen Rahmen dieses Oberschichthaushaltes reproduziert und dadurch dem zu Gast weilenden Historiker oft besser fassbar, als ihm lieb war. Dr. Juan Pérez von der Library of Congress, Washington, Miguel Angel Sánchez vom Archivo General de La Nación, San Salvador, dem Personal der United States National Archives, Washington, der Biblioteca Nacional und Hemeroteca Nacional, San Salvador und der Fundación Manuel Gallardo, Santa Tecla sei für bibliographische Hilfe gedankt, ebenso Jorge Mendoza, Lupsingen, der mir nicht nur Dokumente aus seinen privaten Beständen zur Verfügung stellte, sondern auch wichtige Kontakte vermittelte. Meine Arbeit wurde durch den Gedankenaustausch mit Forscherkollegen erheblich erleichtert, unter ihnen waren Héctor Lindo Fuentes, Jorge Arias Gómez und Erik Ching die wichtigsten. Eine kaum abzutragende Dankesschuld habe ich gegenüber Aldo Lauria, New School for Social Research, New York: Ich profitierte nicht nur von seiner Kenntnis der salvadorianischen Geschichte im Gespräch, seine Erfahrung im Umgang mit dem salvadorianischen Archivund Bibliothekswesen erleichterte meine spätere Arbeit wesentlich. Zusätzlich stellte er mir nicht nur ein Exemplar seiner wegweisenden, aber leider unveröffentlichten Arbeit zur salvadorianischen Geschichte des 18. und 19. Jahrhunderts zur Verfügung, sondern auch abstracts schwer aufzufindender Werke aus seiner eigenen Dokumentation und war durch bibliografische Hinweise und die Vermittlung von Kontakten hilfreich.

xxn In der heutigen Zeit ist ein Historiker angewiesen auf Computer und Menschen, die den Zugriff darauf ermöglichen. In diesem Sinne geht ein herzlicher Dank für EDV-Unterstützung an Till Suter und Stefan Witschi und ein später an Susanne und Hans Baumgartner, Basel. Schliesslich möchte ich nicht versäumen, meiner Lebensgefährtin Maria Fidale und unserer Tochter Dinah für ihr Verständnis und ihre Flexibilität herzlich zu danken, die mir die Arbeit an der Untersuchung ebenso wie die Feldforschung, bei der sie mich z. T. begleiteten, leichter machte. Was bei einem kleinen Kind vielleicht noch vorausgesetzt werden kann, ist für eine Frau mit eigenen Vorstellungen und Projekten in Bezug auf ihre Lebensgestaltung nicht selbstverständlich und deshalb umso höher zu schätzen. Wie die vorangegangene Aufstellung deutlich gemacht hat, waren an dieser Arbeit eine Vielzahl von Menschen beteiligt. Die Verantwortung für eventuell vorkommende Unrichtigkeiten und Irrtümer liegt jedoch alleine bei mir.

Basel, November 1995 / Juni 1996

In San Salvador am 1. Mai 1934 illegal angeschlagenes, handgedrucktes Plakat der verbotenen Gewerkschaftsbewegung FRTS (Federación Regional de Trabajadores Salvadoreños). AGN-Ministerio de Guerra, causas políticas # 43B, 1934, causa contra el civil Emeterio Avila, por comunista, 2.5.1934.

1 EINLEITUNG Seit Beendigung des Bürgerkrieges in El Salvador hat diese kleinste Republik Lateinamerikas in der Berichterstattung der Medien grosse Aufmerksamkeit erfahren. Diese Beachtung nimmt in dem Masse ab, wie das Land nach den Präsidentschaftswahlen 1994 zur "Normalität" zurückkehrt, die geprägt ist durch soziale Disparitäten und den Versuch, ein neues politisches Modell - die Demokratie - zu installieren, ohne die gesellschaftliche und wirtschaftliche Struktur zu ändern. Wieder einmal steht El Salvador am Beginn einer Phase politischer Neuorientierung, deren Ausgang ungewiss ist, so wie das Land während des gesamten Jahrhunderts versucht hat, ein politisches Gleichgewicht zu finden, ohne dass dabei wirkliche politische Stabilität erreicht worden wäre. Die vorliegende Arbeit befasst sich mit früheren Phasen in diesem Komplex soziopolitischer Identitätsfindung, die man als Etappen auf dem Wege zur Herausbildung einer nationalen Identität verstehen kann und die bis heute nachwirken. Sie geht insbesondere den Krisen im Prozess des nation-building nach, wobei die Effekte der Weltwirtschaftskrise zentrale Bedeutung haben. Daraus ergibt sich die Periodisierung der Untersuchung, die versucht, Bestimmungsfaktoren politischen Wandels zu identifizieren, wobei sich diese Analyse im Forschungszusammenhang der Diskussion um die Effekte wirtschaftlicher Krisen und besonders der Weltwirtschaftskrise auf politischen Wandel verortet, die ich nachfolgend kurz nachzeichnen möchte. Die Weltwirtschaftskrise hatte starke wirtschaftliche und soziale Effekte nicht nur in den europäischen und nordamerikanischen Metropolen, sondern gerade in der lateinamerikanischen Peripherie.! D e r gleichzeitig zu beobachtende Übergang von ziviler Regierung zu diktatorialer Militärherrschaft in vielen Ländern der Region hat zur Annahme einer kausalen Beziehung zwischen Krise und Diktatur geführt, die besonders in der älteren Forschung theoriebildend gewirkt hat. Die Herausbildung einer eigentlichen "Depressionsdiktatur" ist von der Forschung besonders für die Länder Zentralamerikas angenommen worden. Dieser Typus von Diktatur wurde als Reaktion der Eliten der zentralamerikanischen Staaten interpretiert, die angesichts der durch die Effekte der Weltwirtschaftskrise verursachten sozialen und politischen Mobilisierung eine Bedrohung ihrer Stellung fürchteten und die politische Macht an Militärs abgetreten hätten, die im Gegenzug die Privilegien der wirtschaftlichen Eliten durch eine entsprechende Politik verteidigten.^ Diese Annahme hat zu einer einseitigen Sicht auf die Entwicklung geführt, die scheinbar nur durch die politische Initiative der Oligarchie bestimmt wurde, etwa wenn Woodward schreibt: "In retrospect, these dictatorships appear to have been 1 Nach wie vor ist die Arbeil von Rothermund (1983), die eine Überarbeitung und Neuauflage erfahren hat, innerhalb der deutschsprachigen Geschichtsschreibung massgebend. Zu Lateinamerika vgl. König 1983 sowie die Beiträge in Thorp 1984 und Reinhard/Waldmann 1992: 785-958. 2 Woodward 1976: 216ff., 274; Anderson 1967: 215ff.

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desperate, rear-guard efforts to save the New Liberal oligarchies and foreign investments from the growing populär force of working people and youth."3 Wie neuere Forschungen zeigen, ist besonders der zeitliche Zusammenhang zwischen Krise und Machtwechsel überbetont und der Einfluss weiterer innenpolitischer und exogener Faktoren auf den politischen Wandel unterschätzt worden. 4 Zweifel an der Gültigkeit der These von der "Depressionsdiktatur" wurden durch Fallstudien, die dem Zusammenhang von Krise und politischem Wandel in Lateinamerika nachgehen, erhärtet.^ Die Rückweisung der These von der "Depressionsdiktatur" gipfelte schliesslich in der generellen Verneinung des Zusammenhanges von Weltwirtschaftskrise und Herausbildung eines bestimmten Regimetyps, während andere Forscher die mögliche Anwendbarkeit des Modells für einzelne Fälle gelten Hessen.^ Als Prototyp und einziges überzeugendes Beispiel einer "Depressionsdiktatur" erscheint auch dieser revisionistischen Strömung der neueren Forschung das Militärregime, das in El Salvador 1931 etabliert wurde. Tobler hält hierzu fest: "Die Errichtung des Martinez-Regimes [bedeutete] tatsächlich eine äusserst gewaltsame Rückgängigmachung der bis 1931 errungenen politisch-gesellschaftlichen Demokratisierungsansätze und die Etablierung eines überaus repressiven Regimes, das die uneingeschränkte Herrschaft der alten Uberschicht mit Hilfe der Militärdiktatur wiederherstellte. Die Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise waren dabei zwar nur ein - beschleunigender - Faktor in der dialektischen Entwicklung von Massenmobilisierung und gewaltsamer Reaktion von oben, aber insgesamt dürfte das Konzept der "depression aictatorship" die Entwicklung in El Salvador doch angemessen charakterisieren."' Diese vorläufige Charakterisierung soll der Ausgangspunkt für die in dieser Studie versuchte Analyse politischer und sozioökonomischer Prozesse sein. Das obige Zitat bietet in dieser Hinsicht Ansatzpunkte für mögliche Fragestellungen: Es wird zu fragen sein nach dem Charakter des im Gefolge der Krise etablierten Regimes, dem Grad seiner Repressivität, dem politischen Personal, der Interessensrepräsentation verschiedener gesellschaftlicher Gruppen. Wurde mit der Militärdiktatur wirklich eine Privilegiensicherung der "alten Oberschicht" erreicht, und wer war diese Oberschicht? Dies führt zur 3 Woodward 1976: 215. 4 Ein Beispiel hierfür ist die Trujillo-Diktatur in der Dominikanischen Republik, die 1930 begann und wesentlich sowohl durch innenpolitische, strukturelle Krisenfaktoren wie die Existenz einer für den Machterhalt von Regierungen instrumentalisierbaren Armee als auch durch die Lateinamerikapolitik der USA begünstigt wurde, vgl. Suter 1990: passim. 5 Diese Zweifel wurden zuerst formuliert von Tobler (1991). Die Entwicklung wurde anlässlich eines Symposiums zur Problematik für folgende Länder untersucht: Argentinien, Chile, Brasilien, Mexiko, Kuba, Dominikanische Republik, Costa Rica, Venezuela, vgl. Reinhard / Waldmann 1992: 828-932. 6 Nolte 1992, besonders 955-957. Tobler (1991: 219) geht für El Salvador von einem möglichem Kausalzusammenhang zwischen Krise und Entstehung der Militärdiktatur aus, ebenso Karlen (1991: 454) für Guatemala, er nimmt aber eine"strukturell angelegte Krise oligarchischer Herrschaft" an. 7 Tobler 1991: 223.

3 Frage nach politischen Kontinuitäten: Inwiefern unterschieden sich Träger, Begünstigte und Benachteiligte des nach der Krise etablierten neuen Systems von denjenigen der vorherigen Periode, wo lagen Unterschiede in der politischen Praxis der zivilen Regierungen vor der Krise und der danach die Macht ausübenden Militärregierung? Wie stark war der Prozess gesellschaftlicher Liberalisierung und Demokratisierung vor der Krise wirklich fortgeschritten? Im Hinblick auf die Frage nach den Ursachen für den politischen Umbruch und seine Dimension wird weiterhin zu fragen sein nach dem tatsächlichen Effekt der Weltwirtschaftskrise im wirtschaftlichen und sozialen Bereich und selbstverständlich nach der Fähigkeit von Wirtschaft und Gesellschaft, beim Einbruch der Krise Gegenmassnahmen gegen wirtschaftlichen Niedergang und soziale Deterioration zu treffen. Damit stellt sich die Frage nach zugrundeliegenden Krisensymptomen und strukturellen Schwächen in Wirtschaft, gesellschaftlicher Entwicklung und im politischen System, wie es vor der Krise Bestand hatte. Es muss - eingedenk der oben erwähnten einseitigen Perspektive auf die Oligarchie als Akteur der "Machtübergabe" - die Frage nach weiteren politischen Akteuren und weiteren Motivationen politischer Aktion gestellt werden, die neben der Forderung nach der Erfüllung sozialer Forderungen und der Zuspitzung dieser Erwartungshaltung durch die Krise wirksam wurden.8 Aus diesen Überlegungen wird deutlich, dass sich eine solche Untersuchung nicht auf die unmittelbare Periode der Weltwirtschaftskrise beschränken kann, sondern längerfristige Prozesse einbeziehen muss, was zwingend zu einer Ausdehnung der Untersuchungsperiode führt. Eine Untersuchung wie die vorliegende darf sich jedoch nicht allein über die Verifizierung oder Falsifizierung einer These im Zusammenhang einer Diskussion innerhalb der historischen Forschung legitimieren, so wichtig gerade das Beispiel El Salvadors für die Klärung der Streitpunkte innerhalb dieser Diskussion sein mag. Sie muss vielmehr danach trachten, durch einen empirischen Befund und durch den Einbezug theoretischer Vorgaben Material und Ansätze zu einer Interpretation zu liefern, die über den Rahmen der gegenwärtig laufenden Forschungsdiskussion wie auch das aktuelle Interesse an einem Gebiet hinausweist. In diesem Sinne kommt theoretischen Interpretationsansätzen politischen Wandels gerade für eine Fallstudie, die im Kontext der übergeordneten Theoriediskussion steht, grosse Bedeutung zu. Zunächst kann, wie nachfolgend deutlich werden wird, die salvadorianische Entwicklung durchaus als Modellfall abhängiger Entwicklung dargestellt werden, und es gibt wohl kaum Beispiele, wo die einseitige Exportabhängigkeit einer Volkswirtschaft eine bessere Rechtfertigung für die Anwendung des Metropolen-Peripheriemodells bietet, das im übrigen nicht ein Kind der Dependenzdiskussion der Fünfziger- und Sechzigerjahre ist, sondern aus der unmittelbaren Erfahrung abhängiger Entwicklung verschiedener Länder des Trikont in der Zeit zwischen Weltwirtschaftskrise und Ende der Kriegswirt8 Menjivar (1984: 61) spricht in einem allgemeinen Zusammenhang von einem "enfoque que privilegia el análisis de las clases dominantes".

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schaft 1945 entwickelt w u r d e t Wenn auch die Beschränkungen des Modells, das häufig in einseitige Erklärungsansätze nach dem Muster der Behauptung imperialistischer Dominanz mündet und durch die Verfestigung in der Dependenztheorie eine ganze Forschergeneration geprägt hat, in der Zwischenzeit deutlich geworden sind, bieten doch die in diesem Diskussionszusammenhang erarbeiteten Modelle und Begriffe ein brauchbares Instrumentarium zur Beschreibung sozioökonomischer Prozesse, die politischen Wandel wesentlich mitbestimmen.10 Gleichermassen wichtig für die Klärung der Frage nach den Bestimmungsfaktoren politischen Wandels sind im vorliegenden Fall - quasi in Abgrenzung zum monokausalen Ansatz des Konzepts der depression dictatorship konflikttheoretische Konzepte. Sie messen nicht nur sozioökonomischen Krisen, sondern insbesondere auch Phasen wirtschaftlichen Aufschwungs und struktureller Modernisierung Bedeutung im Zusammenhang mit gesellschaftlichen und politischen Umbruchsprozessen bei. Insbesondere in Bezug auf Dislokation und soziale Mobilisierung sowie Schichten- und Klassenbildung sind die von dieser Richtung der Forschung formulierten Ansätze hilfreich.il Schliesslich ist es für eine Untersuchung politischen Wandels wie die vorliegende, die sich mit dem Übergang von zivil-oligarchischer zu militärisch-diktatorialer Machtausübung befasst, unverzichtbar, näher auf Genesis und Ausformung autoritärer Herrschaft einzugehen. Sowohl die von der Forschung erarbeiteten Typologien von Diktatur bzw. autoritärer Herrschaft und die damit in Verbindung stehende begriffliche Trennung von verwandten Herrschaftsformen (hier ist in erster Linie an den Begriff des Totalitarismus zu denken), als auch die Nachzeichnung der historischen Entwicklung verschiedener Regierungssysteme, Formen informeller oder institutionalisierter ' Die erstmalige Benutzung der Begriffe erfolgte 1944 durch Raul Prebisch, Love 1994: 409. Zum Modell selbst Wallerstein 1979, für eine kritische Diskussion des Modells, das später aus seinem Kontext der Herausbildung von Abhängigkeit in der Kolonialzeit herausgelöst und auf spätere Perioden angewendet wurde vgl. Stern 1988 sowie Wallerstein 1988. Die bekanntesten Exponenten der Dependenztheorie sind Rodolfo Stavenhagen, Osvaldo Sunkel, André Gunder Frank, Celso Furtado, das wohl wirkungsreichste Werk dieser Schule Cardoso/Faletto 1990 (zuerst 1969). Die Abgrenzung von den Thesen der Dependenztheorie ebenso wie die generelle Gültigkeit des Konzepts von Abhängigkeit markiert eindrucksvoll der Verfasser des letztgenannten Werks in seiner gegenwärtigen Position als Präsident Brasiliens. Zur wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der Dependenztheorie bzw. einer davon abgesetzten Darstellung vgl. das klassische Werk von Stein/Stein (1970), besonders 123ff., die den Ausdruck dependence statt dependency verwenden, sowie die Aufsätze von Baumer (1986), Ray (1973) und Puhle (1977: 17, 26), der festhält, dass die dependencia-Thtorit als "Kategorie der historischen Lateinamerikaforschung (...) weder sonderlich geeignet noch sonderlich notwendig" erscheint, solange sie nicht stärker empiriebezogen ist. Bemüht man sich jedoch um die von Puhle monierte grössere begriffliche Schärfe und direkte Anwendung von Begriffen, die heute mit grosser Selbstverständlichkeit benutzt werden, auf empirisch belegbare Sachverhalte, etwa des Begriffs "strukturelle Deformation", können diese Termini durchaus nützlich zumindest zur Beschreibung entsprechender Sachverhalte werden. 11 Den Hinweis auf diese Modelle, zu denen insbesondere die Zusammenbruchs- und Ungleichgewichtstheorien und das Konzept relativer Deprivation gehören, die in unserem Zusammenhang von Bedeutung sind, verdanke ich Karlen 1991: 8f., der sich auf Witz' (1982: 5-17) Präsentation dieser Modelle stützt. Zu einer ausführlichen Diskussion vgl. das Schlusskapitel.

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politischer Machtausübung ermöglichen die Einordnung der empirischen Ergebnisse der Fallstudie in einen übergeordneten Z u s a m m e n h a n g . ^ Aus dieser Motivation ergaben sich Aufbau und Reichweite der vorliegenden Untersuchung. Die oben kursorisch genannten Interpretationsmodelle und theoretischen Vorgaben, die im Schlusskapitel in extenso referiert werden, bestimmten bis zu einem gewissen Grade die Periodisierung der Arbeit: insbesondere die Einsicht, dass der in der Zeit der Weltwirtschaftskrise erfolgende politische Umbruch unter Umständen auf mögliche längerfristige zugrundeliegende Entwicklung zurückzuführen ist, machte die Ausdehnung des Beobachtungszeitraums nach "hinten", bis 1910/11 notwendig. Dieser Zeitpunkt markiert einen ersten Höhepunkt in der Hinwendung der salvadorianischen Wirtschaft und Politik zur einseitigen Förderung der exportorientierten Entwicklung, die kurz danach durch den Einfluss des Ersten Weltkriegs einer ersten ernsthaften Belastungsprobe ausgesetzt wurde. Gleichzeitig errangen nach diesem Zeitpunkt zivile Präsidenten die politische Macht und es bildete sich eine Form oligarchischer Regierung heraus, die eng mit den Interessen der Kaffeewirtschaft assoziiert war. Obgleich keineswegs so "monolithisch", wie oft dargestellt, boten diese Nachfolgeregime der caudillistischen Militärherrschaft des 19. Jahrhunderts bei unterschiedlicher inhaltlicher Ausrichtung und den weltpolitischen wie weltwirtschaftlichen Einflüssen in hohem Masse ausgeliefert, ein stabiles Herrschaftsmodell im Interesse der Träger der zentralen wirtschaftlichen Aktivität, der Kaffeeproduzenten und in erster Linie der Kaffeexporteure. Der sich herausbildende zivile Autoritarismus bot den Rahmen für die sprunghafte Ausweitung der Kaffeewirtschaft mit starken Folgen für Landbesitz, Urbanisierungsprozesse, Kapitalallokation und die Neuformulierung der Rolle des Staates (1922-1929). Die Folgen dieser Ausrichtung, verstärkt auch durch den Fehlschlag der Diversifizierung der Wirtschaft, wurden durch das Bekenntnis der Eliten zu Modernisierung vorab der Infrastruktur und der staatlichen Institutionen akzentuiert. Erst gegen Ende der Periode, beim Einsetzen der Weltwirtschaftskrise, gesellte sich zu der wirtschaftlichen Modernisierung der Versuch einer vorsichtigen politischen Öffnung, der der gestiegenen Komplexität der gesellschaftlichen Beziehungen im Zuge des Zusammenwachsens der Nation durch bessere Verkehrsverbindungen, die Herausbildung neuer Schichten, insbesondere durch Urbanisierung und den Zuwachs nationalstaatlichen Wirkens, Rechnung trug. Dieses transitorische politische Experiment, das wie die wirtschaftliche Blüte der Zwanzigerjahre von der Hochkonjunktur der Kaffee-Exporte und der damit verbundenen Entschärfung sozialer Gegensätze ermöglicht wurde, wurde im Zuge der Weltwirtschaftskrise beendet, und es etablierte sich eine Militärdiktatur, die das System einer an den Eliten orientierten politischen Interessensvertretung scheinbar fortführte, wobei auch hier durchaus differenziert werden muss. Zu diesen Modellen autoritärer Systeme v. a. Perlmutter 1981 und Linz 1985, zum caudillismo Garzón Valdés 1980; Waldmann 1978; Wolf/Hansen 1980. Zur Abgrenzung von totalitären Formen der Herrschaft Friedrich / Brzesinski 1957, Perlmutter 1981: 62ff.

6 Die Stabilität dieser Diktatur, die das exportorientierte Modell bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs rettete, war das zweite Element für die Periodisierung dieser Untersuchung. Das beinahe zeitgleiche Ende der von der Kriegswirtschaft bestimmten Periode und der personalen Machtausübung des Diktators Hernández Martínez markiert eine Zäsur, die sich als Endpunkt der Analyse anbot, zumal sie weltweit als Epochengrenze erscheint. Die Diktaturperiode selbst zerfällt chronologisch in fünf Teile, die Konsolidierungsphase Dezember 1931 bis Mai 1932, die erste Amtszeit bis zur Wahl 1935, die zweite Amtsperiode bis 1939 und die dritte Amtsperiode bis 1944, wobei gleichzeitig eine Zweiteilung auszumachen ist, vollzog das Regime doch etwa 1939 den Übergang von institutionalisierter autoritärer Herrschaft mit stark korporativistischen Zügen zur autokratischen Diktatur mit fortschreitender Interessensdivergenz von Eliten und Staat. Folgen diese Betonungen in erster Linie dem Erkenntnisinteresse im Sinne der oben angeschnittenen Fragestellungen, so waren zwei weitere Bestimmungsfaktoren massgebend für die Methode der Untersuchung: Die Notwendigkeit der Auseinandersetzung mit der Forschung, insbesondere der historischen Sozialforschung zu El Salvador, und der Zugang zu Quellenmaterial, das eine Überprüfung sowohl der in der Forschung dargestellten Sachverhalte als auch der allgemeinen und fallspezifischen Thesen ermöglichen würde. Zunächst fällt die Menge der zu berücksichtigenden bisherigen Forschungsergebnisse auf: Studien zur Geschichte El Salvadors im zwanzigsten Jahrhundert sind Legion. Zu diesem Interesse der Forschung hat vor allem die Dauer der Machtausübung durch Militärs und die vollständige Abwesenheit demokratischer Prozesse während Jahrzehnten beigetragen, dazu die politische Gewalt als Konstante der Entwicklung, die sich zunächst in staatlichem und parastaatlichem Terror, seit Beginn des Bürgerkriegs auch in der Auseinandersetzung zwischen Guerrilla und Armee manifestierte. Die Nähe zu den USA bewog eine Vielzahl von nordamerikanischen Wissenschaftlerinnen, den "trouble in our backyard", wie ein US-Forscher die zentralamerikanische Entwicklung nannte, zu analysieren, während andererseits zahlreiche lateinamerikanische Forscherinnen gerade die Entwicklung El Salvadors im "Hinterhof der USA" zum Gegenstand nicht nur historischer Analyse, sondern auch zu Verurteilung von Intervention und Imperialismus benutzten.13 Nach dem Fall der Somoza-Diktatur wurde für ganz Zentralamerika eine prärevolutionäre Situation ausgemacht, die dem Interesse an der Aufarbeitung der historischen Vergangenheit Aktualitätsbezug gab. Aufgrund der unterschiedlichen Herangehensweise wie auch dem Positionsbezug in der aktuellen Debatte um die Zukunft des Landes, die erst mit dem Frieden von 1992 bzw. der Wahl von 1994 endgültig entschieden wurde, 13

Zur ersten Gruppe zählen z. B. Anderson 1967; Munro 1918; 1964; 1974; Wilson 1970; Elam 1968. Zur zweiten Gruppe beispielsweise Luna 1986; Marroquín 1977; Arias Gómez 1980; Menjívar 1979; 1980a; 1980b; 1984; Dalton 1963; Figueroa Salazar 1987; Salazar Valiente 1984 und weitere.

7 lässt sich die Forschung in etwa in eine marxistisch und eine nicht-marxistisch orientierte Richtung spalten, eine Unterscheidung, die nicht mit der obigen geografischen Unterscheidung zwischen lateinamerikanischer und nordamerikanischer / europäischer Forschung deckungsgleich ist. So stehen einige USAutoren in der marxistischen Tradition, während zahlreiche zentralamerikanische und salvadorianische Autoren die Geschichte ihres Landes vor dem Hintergrund liberaler Tradition analysieren - und dabei häufig zu durchaus ähnlichen Schlüssen gelangen, was die politische Entwicklung als Ganze betrifft. Die Qualität dieser Fülle von Diskussionsbeiträgen der Forschung ist höchst unterschiedlich. Den meisten Übersichtsdarstellungen zum zwanzigsten Jahrhundert ist gemeinsam, dass sie die für unsere Untersuchung zentrale Periode häufig nur sehr kursorisch abhandeln. Dies, dazu die häufig vorkommenden sachlichen Unrichtigkeiten und Irrtümer machen diese Werke eher als Bezugspunkte für eine Auseinandersetzung denn als Basis vertiefter Untersuchung tauglich.1^ Trotzdem liefern auch diese Arbeiten wichtige Hinweise zu Teilaspekten der salvadorianischen Entwicklung, ebenso wie die bedeutend weniger zahlreichen Publikationen zu Einzelthemen wie der indigena-Piob\ematik, der Armee, dem Pressewesen, der Arbeiterbewegung etc. Völlig anders präsentiert sich die Situation bei den direkt auf unser Thema bzw. unsere Forschungsperiode bezogenen Arbeiten. Sie sind nicht nur bedeutend spärlicher als die publizistisch offenbar lohnenderen Gesamtdarstellungen, sondern in verschiedenen Fällen nicht publiziert.^6 Es ist bezeichnend, dass dies ihre Wirkung für die ernsthafte Forschung nicht beeinträchtigt hat, wie die hohe Zahl von Zitaten beweist, die diese Werke zu Klassikern und zur Basis für die weitere Forschung zur Periode vor 1945 werden liess.l? Für die vorliegende Arbeit war in dieser Hinsicht zentral die Arbeit Rafael Guidos Véjars, der nicht nur frühere Interpretationen des politischen Umbruchs zur Zeit der Weltwirtschaftskrise wertend verarbeitet, sondern insbesondere durch seine sorgfältige Herausarbeitung der Heterogenität innerhalb der wirtschaftsHierzu sind zu zählen etwa die Arbeiten von Gallardo 1961; Figeac 1947, Castro Morán 1984; Parada 1955-1975; marxistisch inspirierte Abhandlungen nicht-salvadorianischer Autorinnen: North 1982; Russell 1984; Zamosc 1989. Dies gilt insbesondere für Torres Rivas 1990a; Figueroa Salazar 1987; Montgomery 1982, Russell 1984 etc. und was die Zwanzigerjahre betrifft, auch für die ansonsten ausgezeichneten Standardwerke Dunkerleys (1982) Brownings (1971) und Whites (1973). Die für die verschiedenen Epochen besonders relevanten Werke sind in den Fussnoten an entsprechender Stelle genannt. 1 ' In diese Kategorie sind ausser den nachstehend genannten Werken die Magisterarbeit von Leon Zamosc einzureihen: Zamosc, León 1977: The Definition of a Socio-Economic Formation: El Salvador on the Eve of the Freat World Economic Depression. Masters Thesis, University of Manchester (Manuskript), die mir nicht zugänglich war, ihre wichtigsten Argumente werden jedoch bei Zamosc 1989 referiert, dazu die Studie Elams (1968) zur Entwicklung des Militärs. Die Arbeit Landers' (1985) hat starke methodische Mängel, eine weitere in Irland entstandene Arbeit von Dermot Keogh (Keogh, Dermot o. J.: The Politics of Hunger, Peasant Revolt and Massacre in El Salvador, 1932, University of Cork), zitiert in McCIintock (1984: 374) scheint nicht zu existieren, wie der angebliche Autor auf Anfrage mitteilen liess, möglicherweise handelt es sich um die genannte Arbeit Landers'.

8 und der politischen Eliten stark zu einem Abrücken von der vorherrschenden simplifizierenden Interpretationsschemata des Hauptkonflikts Oligarchie vs. Massen geführt hat, der alle anderen intragesellschaftlichen Gegensätze zu Nebenwidersprüchen degradierte. 18 Der hauptsächliche Defekt dieser ausgezeichneten Untersuchung liegt darin, dass sie ausschliesslich auf Fremdforschung und der Verarbeitung der Sekundärliteratur basiert, so dass die interpretatorischen und "soziologischen" Kapitel bedeutend überzeugender wirken als die ereignisgeschichtlichen Darstellungen, die oft fehlerhaft und verkürzt sind. Das zweite wichtige Werk ist die unveröffentlichte Arbeit Wilsons, die trotz ihres Alters die Sicht der Forschung zu El Salvador bis heute stark p r ä g t . 1 9 Seine Darstellung der Modernisierungsperiode überzeugt durch Schärfe und einen klugen Gebrauch der ihm zur Verfügung stehenden - allerdings nicht sehr umfassenden - Quellen, in erster Linie zeitgenössischer Publikationen aus El Salvador und Statistiken. Die Einseitigkeit dieses Quellenmaterials ermöglicht dem Autor zwar eine stringente Darstellung gesellschaftlicher Prozesse, soweit sie quantitativ fassbar sind (wobei er hier allerdings der oft kolportierten Mär von der Zuverlässigkeit offizieller salvadorianischen Statistiken a u f s i t z t ) . 2 0 Andererseits macht die Auswahl des Materials, besonders seine häufigen Zitate der sozialreformerischen Zeitung Patria diesen Aspekt der Arbeit eher für die mentalitätsgeschichtliche Forschung relevant und verzerrt das Bild, das Wilson von der salvadorianischen Gesellschaft der späten Zwanzigerjahre zeichnet. Diese Verzerrung, die in hohem Masse in spätere Forschungen eingeflossen ist, wird verstärkt durch eine Überbetonung der politischen Rolle der Mittelklasse, die sich aus Wilsons Forschungszusammenhang erklärt.21 Sie ist ein Pendant zur sonst besonders in der marxistisch orientierten Forschung vorkommenden Überbewertung der Rolle der organisierten revolutionären Bewegung und führt zu Fehlschlüssen insbesondere die Einschätzung der Araujo-Regierung b e t r e f f e n d . 2 2 Ein weiteres Manko von Wilsons Arbeit ist die Beschränkung auf die Periode bis 1935, die er mit dem Ende der unmittelbaren Krisenperiode etwa zu diesem Zeitpunkt begründet. Sie verunmöglicht eine genauere Beurteilung des Hernändez-Martinez-Regimes im Hinblick auf seine Funktion, Wirtschaft und Gesellschaft in der Krise zu verwalten und das mit der Dominanz der Kaffeewirtschaft assoziierte Herrschaftssystem zu stabilisieren oder zu reformie18

Guidos Vejar 1980. " Die 1970 fertiggestellte Arbeit, die Lauria Santiago (1992: 8) zu Unrecht "somewhat neglected" nennt, wird zitiert z. B. von Montgomery 1982; Russell 1984; Parkman 1988; Paige 1993 etc. und ist zentral für die Argumentation von Guidos Véjar 1980. Sie ist in spanischer Übersetzung in einer kleinen Auflage publiziert worden, jedoch längst vergriffen (Wilson, Everett A. 1978: La crisis de integración nacional en El Salvador. San Salvador). 20 Wilson 1970: v. Bulmer-Thomas (1984: 279) spricht von "lack of appropriate statistics" zur Erforschung der ökonomischen Prozesse der Periode. 2 1 Die Dissertation entstand an der Stanford University unter Leitung von John J. Johnson. 22 Wilson 1970: 194.

9 ren. Diese Lücke wird teilweise durch die Arbeit Parkmans gefüllt, die zwar Martinez' Sturz zentral behandelt, aber durch ihre ausgezeichnete Darstellung der politischen Mechanismen der Diktatur und der sozioökonomischen Entwicklung die übrigen relevanten Darstellungen übertrifft.23 Die Arbeit Wilsons und diejenige Guidos Vejars sind zum Ausgangspunkt für eine revisionistische Strömung der Geschichtsschreibung zu El Salvador im 20. Jahrhundert geworden, die ausserdem aus der zentralen Einsicht gewachsen ist, dass für die Heraufkunft der heutigen Gesellschaftsordnung nicht in erster Linie die erste Phase der Expansion der Kaffeewirtschaft im 19. Jahrhundert, sondern ihre rasche Ausweitung in den Zwanzigerjahren dieses Jahrhunderts die entscheidende Phase darstellt:^ "The locus of El Salvador's transition to capitalism is therefore to be found in the decade of the 1920s, and not the 1880s. In addition, the complex political transformations, struggles and failures of the 1920-1940 period are the true determinants of El Salvador's modern authoritarian tradition."25 So sind die Zweifel am Bild der oligarchischen Kaffeerepublik, deren Verhärtungstendenzen und fortschreitende Kapitalakkumulation sozialen Aufruhr wie repressive Reaktion scheinbar unausweichlich produzierte, wichtige Ansatzpunkte für Fragen und vertiefte Analyse. Die Arbeiten Hobsbawms, Wolfs und anderer haben die Notwendigkeit zu einer Untersuchung sozioökonomischen Wandels im ländlichen Bereich im Hinblick auf gesamtgesellschaftliche Tendenzen erwiesen; diese Ansätze sind von der Forschung für den salvadorianischen Fall aufgenommen w o r d e n . 2 6 Ebenso haben Zweifel an der These der Verfestigung oligarchischer Herrschaft schon beim Beginn der Kaffee-Expansion Untersuchungen zur Struktur der Wirtschaftseliten motiviert, die eine weit grössere Heterogenität dieser Schicht nachwiesen, als lange Zeit Parkman 1988. Die Martinez-Diktatur ist bis anhin von der Forschung eher stiefmütterlich behandelt worden, sieht man von der erwähnten Arbeit und den Monographien Castros (o.J., Manuskript), Padilla Velas (1987) und Peña Kampys (o. J.), letztere eine eher unwissenschaftliche Apologie des Regimes, sowie vom Aufsatz Lunas (1969) ab. Beispiele hierfür Lauria Santiago 1992: 550; Suter 1993; Paige 1993. Die neuesten und deshalb für die vorliegende Arbeit noch nicht nutzbar gemachten Ergebnisse in: Alvarenga, Patricia 1994: Reshaping th Ethics of Power: A History of Violence in Western Rural El Salvador, 18801932. PhD dissertation, University of Wisconsin, Madison; Ching, Erik 1994: Working-Class Mobilization and the Development of Working-Class Consciousness in El Salvador in the 1920s, paper presented to the Latin American Studies Association, Atlanta, 9.-13.3.1994, beide zitiert in Lauria Santiago 1995. Erst nach Abschluss der vorliegenden Arbeit war mir die neue Arbeit Pérez Brignolis (1995) zugänglich, dessen Schlüsse sich mit meinen Erkenntnissen in Bezug auf die Bestimmungsfaktoren des politischen Umbruchs und zentral der matanza decken, vgl. a. Suter 1995. 25 Lauria Santiago 1992: 550. 26 Hobsbawm 1975; Wolf 1969; vgl. a. Hernández Gutiérrez 1978; Murga Frassinetti 1984. Die neueren Forschungen zu El Salvador betonen das Vorhandensein sozialer Gegensätze, die nicht durch die Modernisierung der Kaffeewirtschaft allein herbeigeführt wurden, sowie die unterschiedlichen Bedingungen politischer Mobilisierung für campesinos bzw. städtische Arbeiter, vgl. Kincaid 1987b; Davis 1988; zur Nachzeichnung der Produktionsverhältnisse auf dem Land in der ersten Phase der Kaffeeausweitung Lauria Santiago 1992.

10 vermutet worden w a r . D i e s e beiden Erkenntnishorizonte waren für die vorliegende Untersuchung Orientierungspunkt, die sich zudem zur Aufgabe setzte, die soziopolitische Entwicklung in Beziehung zur Entwicklung des exportorientierten Wirtschaftsmodells und seiner Krisen zu analysieren. Eine Länderstudie wie die vorliegende kommt ohne komparative Bezüge zumindest in der Forschungsintention nicht aus, insbesondere, wenn das beobachtete Land in einem regionalen Zusammenhang betrachtet werden kann, der durch gemeinsame wirtschaftliche und politische Rahmenbedingungen geprägt ist, wie das in Zentralamerika in hohem Masse der Fall ist. Nicht nur die Nähe zu den USA, die Tradition politischer Einheit des Isthmus, die aussenwirtschaftliche Abhängigkeit seit dem 19. Jahrhundert, sondern auch die geringe Grösse und die gemeinsame Erfahrung politischen Umbruchs zur Zeit der Weltwirtschaftskrise lassen die Beschäftigung mit neueren Forschungen zu den übrigen isthmischen Republiken unabdingbar werden. Hier sind insbesondere in den letzten Jahren erschienene länderspezifische Untersuchungen von Belang, die die ältere Forschung und die oft oberflächlichen Überblicksdarstellungen ergänzen und z. T. revidieren. An erster Stelle muss hier die Arbeit Karlens zum Ubico-Regime in Guatemala genannt werden, die durch Detailreichtum und die breite Quellenbasis Massstäbe setzt, für unsere Fragestellung allerdings insofern nur bedingt nutzbar ist, als der Autor in seiner Darstellung der Zeit vor der Weltwirtschaftskrise nur wenig Raum gibt und sich die Anwendung von Theoriemodellen weitgehend v e r s a g t . ^ Zu Honduras sind in neuerer Zeit zwei auf sehr unterschiedliche Weise quellengesättigte Arbeiten entstanden. Die Arbeit von Mario Argueta zur Carias-Herrschaft ist eine traditionelle Darstellung politischer Geschichte und fusst vollständig auf USamerikanischen diplomatischen Q u e l l e n . 2 9 Sie umfasst zwar den Zeitraum von 1923-1948, beschränkt sich aber stark auf politische Aspekte, was den Titel des Werkes Lügen straft. Auch die Arbeit von Heike Gerber, die sich komparativ mit der politischen Entwicklung in Costa Rica und Honduras auseinandersetzt, beruht auf der Erforschung ausländischer Quellen, in diesem Fall Akten des britischen Foreign Office, was im Hinblick auf die Präsenz der USA eine Beschränkung der Perspektive zur Folge hat. Diese Arbeit stellt ebenfalls die politische Geschichte in den Vordergrund, geht aber auf soziale Bestimmungsfaktoren wie Besitzstruktur und Familienbeziehungen in ihrer politischen Bedeutung ein.30 Die von dieser Autorin vorgestellten Beispiele ergeben gute Kontrastierungsmöglichkeiten zum salvadorianischen Fall, insofern als in Honduras und Costa Rica ausländische Wirtschaftsenklaven bestanden und in Honduras die Institutionalisierung politischer Herrschaft in der Abstützung auf eine professionalisierte Armee erst zu Beginn der Dreissigerjahre erfolgte, 27

Guidos V£jar 1980; Baloyra Herp 1987; Paige 1993. Karlen 1991. Stärker auf sozioökonomische Fragestellungen geht die Arbeit von Fleer (1991) ein, die jedoch ebenfalls erst 1927 ansetzt. 29 Argueta 1989: 385 (Quellenverzeichnis). 30 Gerber 1993.

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also zeitgleich mit der Aufrichtung der Diktatur, während sie in El Salvador durch zivile Regierungen schon in der vorangegangenen Periode verwirklicht worden war. Während die Vorgaben der Sekundärliteratur und die Ergebnisse insbesondere der neueren Forschung insbesondere auf die für die vorliegende Arbeit relevanten Fragestellungen einwirkten, bestimmte der Zugang zu Quellenmaterial die Beschränkungen und die Möglichkeiten zur Erarbeitung empirisch nachweisbarer Ergebnisse. Die bedeutendste Quelle waren diplomatische Akten der USA, vornehmlich aus dem State Department, die die innenpolitische, wirtschaftliche und soziale Situation El Salvadors in verschiedenen Perioden beschreiben, dazu die Beziehungen des Landes zu den USA und die Beziehungen der zentralamerikanischen Staaten untereinander. Diese Quellen, die aus Berichten des U.S.-Konsulats und der Gesandtschaft in San Salvador bestehen, geben systematisch geordnet Auskunft zu einer Vielzahl von Themen, je nach Fähigkeit ihres Verfassers jedoch auf unterschiedlich befriedigende und erschöpfende Weise.32 Dasselbe gilt auch für die aus dem War Department stammenden Berichte des militärischen Geheimdienstes, die teilweise erstaunlichen Detailreichtum aufweisen, zum Teil aber auch von der niederschmetternden Ignoranz ihrer Verfasser zeugen.33 Neben den angesprochenen Themen geben sie Aufschluss über die Militärorganisation und die innere Struktur von Guardia Nacional und Heer sowie über personelle Fragen der Institution. Der zweite Schwerpunkt des Quellenmaterials wurde gebildet durch genuine salvadorianische Quellen, d. h. die im Archivo General de la Nación in San Salvador lagernden Akten. Diese Bestände, die durch Zuführung neuer Bestände aus den Provinzarchiven ständig vergrössert werden, sind erst seit 1992 zugänglich und in ihrer Mehrheit ungeordnet.34 Von besonderem Wert waren 31 Gerber 1993, Thesen (Anlage zur Dissertation). 32 pérez Brignoli (1995: 233-236) schätzt diese Dokumente infolge der diplomatischen Funktion und der daraus abgeleiteten Unparteilichkeit ihrer Verfasser zu recht als unverzichtbare Quellen. Er lässt dabei aber ausser acht, dass diese Dokumente wertende Berichte über Ereignisse darstellen, die von den Berichterstattern nur von Ferne und aus der Makroperspektive erlebt wurden. Die einzige Schwäche von Pérez Brignolis ansonsten ausgezeichnetem Aufsatz liegt deshalb darin, neben diesen diplomatischen Berichten die eigentlichen "salvadorianischen" Quellen (vgl. nachstehende Beschreibung) nicht zur Kenntnis zu nehmen. Die Quellen in den U.S. National Archives sind nach e i n e m d e z i m a l e n K l a s s i f i z i e r u n g s s y s t e m a b g e l e g t , d a s auf T h e m e n und Themengruppen Bezug nimmt. Sämtliche Akten aus der Untersuchungsperiode, auch als vertraulich oder geheim klassifizierte, sind bzw. werden deklassifiziert und sind ohne Einschränkung zugänglich, dies gilt auch für die nachstehend genannten militärischen Berichte. 33 Diese wird nur noch übertroffen durch Berichte von FBI-Agenten, die vereinzelt in den Akten des State Department auftauchen und die von einem amerikanischen Diplomaten bei einer Gelegenheit als "the biggest balderdash he has ever read" bezeichnet wurden. 3 4 Vgl. hierzu Lauria Santiago 1993. Lauria war als einer der ersten Forscher, die nach dem Bürgerkrieg im Archiv arbeiteten, wesentlich an der groben Sortierung der Quellenbestände, bei der es wegen Geldmangel bis heute geblieben ist, beteiligt. Sein hier genannter Artikel war zum Zeitpunkt der Feldforschung für die vorliegende Arbeit (Sommer 1993) das einzige Findmittel des AGN, in dem Aktenstudium zum archäologischen Pioniererlebnis wurde, der Artikel ist nun in einer überarbeiteten Fassung (Lauria Santiago 1995) zugänglich.

12 hier die Akten des Innenministeriums für den gesamten Untersuchungszeitraum, ausserdem die Akten der Gobernación des Departements Sonsonate für die Jahre 1930-1939. Einzelne Bestände aus dem Kriegsministerium und Einzeldokumente ermöglichten Einblicke in die Mechanismen staatlicher Herrschaft. Auf einer formaleren Ebene waren die Jahresberichte (Memorias) und Publikationen einzelner Ministerien, die ebenfalls im Archivo General de la Nación aufbewahrt werden, eine wertvolle Quelle. Zeitschriften und Zeitungen aus El Salvador ermöglichten Einblicke in die wichtigen Themen der öffentlichen Diskussion, aber auch eine qualitative Wertung quantitativ feststellbarer Entwicklungen wie etwa der Verschlechterung der sozialen Lage.35 Weitere Quellen wurden auf höchst unterschiedliche Weise erschlossen, sie hatten Bedeutung für Vergleiche mit den obengenannten Akten oder für die Darstellung einzelner Ereignisse, etwa der matanza oder des Erdbebens von 1917.36 Eine besondere Stellung innerhalb der Quellenbasis nehmen die schwer zuzuordnenden zeitgenössischen Publikationen mit nicht-offiziellem Charakter ein, die im Literaturverzeichnis der leichteren Auffindbarkeit wegen unter der Rubrik "Sekundärliteratur" aufgeführt sind. Trotz ihrer teilweise stark subjektiven Züge liefern sie wichtige Informationen zu Politik, sozialer Lage und Wirtschaft und lassen überdies die Stimmung jener Zeit aufscheinen, die in den trockenen amtlichen Dokumenten nur in Einzelfällen fassbar wird.37 Aus der Abgrenzung der Forschungsintention von bereits bestehender verfestigter Interpretationsmuster bzw. der Übereinstimmung mit bereits Geleistetem, sowie durch eine Überprüfung vorläufiger Ergebnisse in direkter Diskussion ergaben sich Struktur und Methode der vorliegenden Arbeit:^ Die Untersuchung zielt vornehmlich auf die möglichst umfassende Darstellung politischer Prozesse während des Untersuchungszeitraums. Der relativ breite Raum, der dieser politischen Ereignisgeschichte zugewiesen wurde, rechtfertigt sich durch die Fehlerhaftigkeit bzw. Oberflächlichkeit bestehender Darstellungen, von denen keine den Anspruch erheben kann, auf der Basis von Quellenforschung diese Prozesse wirklich auszuleuchten. In zweiter Linie Für die nationale Entwicklung wurde dieses Studium der zeitgenössischen Presse in der Hemeroteca Nacional noch ergänzt durch eine Durchsicht der New York Times. 36 Dies betrifft die Akten im Schweizerischen Bundesarchiv, die Wirtschaftsberichte des britischen Department of Overseas Trade, die im schweizerischen Wirtschaftsarchiv lagern, und einige Berichte aus dem britischen Foreign Office bzw. den Public Archives of Canada, die in Landers 1985 reproduziert sind und sich auf die matanza beziehen. 3 ' Infolge der Erdbebenschäden an der Biblioteca Nacional in San Salvador waren die wichtigste Institution für die Auffindung solchen Materials die Fundación Manuel Gallardo in Santa Tecla sowie die Library of Congress in Washington D. C. In Einzelfällen konnten verschollene Publikationen auch durch Institutionen wie das Archiv des Schweizerischen Bankvereins in Basel und die Biblioteca Nacional de Costa Rica beschafft werden. 38 Die direkte Überprüfung von Arbeitshypothesen erfolgte durch Teilnahme an wissenschaftlichen Tagungen, die Titel der dort gehaltenen Vorträge sind im Literaturverzeichnis genannt. Kontakte mit Leitern des Programa de Estudios Históricos, Arqueológicos y Antropológicos der Universidad de El Salvador waren ebenso hilfreich wie die Diskussion mit den Kollegen Erik Ching, Héctor Lindo Fuentes und Jorge Arias Gómez anlässlich der Forschungstätigkeit in El Salvador, sowie mit Aldo Lauria, zu ihren Arbeiten vgl. Literaturverzeichnis.

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wurde auf die Darstellung der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklungen grosses Gewicht gelegt, wobei eine quantitative Analyse, die in der Fülle der Forschungsbeiträge Seltenheitswert hat, bzw. nur für Teilbereiche geleistet oder von methodischen Unzulänglichkeiten entwertet worden ist, den Ausgangspunkt bildete.39 Hier wurde Wert darauf gelegt, die Effekte der Modernisierung und die Wirkung der Weltwirtschaftskrise auf Wirtschaft, Staat und Gesellschaft El Salvadors sorgfältig auseinanderzuhalten, um Bestimmungsfaktoren der Entwicklung identifizieren zu können - wobei natürlich die Interdependenz von Konjunktur und Krise, von Modernisierung und Exportabhängigkeit nicht vernachlässigt werden durfte. Aus der Fragestellung und den Ergebnissen der Quellenforschung ergab sich der revisionistische Tenor der Arbeit, der nicht nur im Schlusskapitel, sondern bereits in den beschreibenden Abschnitten der Arbeit aufscheint. Dieser Revisionismus steht im Zusammenhang einer neuen Forschungsdiskussion um die salvadorianische Entwicklung, die gleichermassen durch die unbefriedigende Ergebnislage der bisherigen Forschung hervorgerufen wurde, als auch durch die neuen Rahmenbedingungen der salvadorianischen Politik sowie die neue Ausgangslage für die Forschung. El Salvador steht nicht mehr in einer prärevolutionären Situation, der beschworene "Domino-Effekt" eines revolutionären Umkippens der zentralamerikanischen Republiken ist mit dem Ende der Reagan-Administration verschwunden. Das Ende des realexistierenden Sozialismus bzw. sein Attraktivitätsverlust als Modell haben nicht nur die marxistische Guerilla, sondern auch die marxistische Geschichtsforschung einer wichtigen Dimension des eigenen Selbstverständnisses, der Selbstidentifikation innerhalb eines revolutionären Prozesses, beraubt. Schliesslich legte die Möglichkeit zur Erschliessung neuen Quellenmaterials eine Überprüfung scheinbar feststehender Ergebnisse nahe, die dann zu ersten revisionistischen Arbeiten geführt hat. Diese neue Richtung der Forschung hat sowohl Ergebnisse für regionale Räume in El Salvador gezeitigt, als auch zu Neuinterpretationen gesamtgesellschaftlicher Prozesse geführt.® Die vorliegende Untersuchung legt in ihrer Argumentation das Schwergewicht auf den nationalen Rahmen, eingedenk des in den eingangs erwähnten Fragestellungen gebündelten Erkenntnisinteresses. Hier liegt insofern eine BeD i e in dieser Arbeit v e r w e n d e t e n Statistiken basieren s o w o h l auf o f f i z i e l l e n A n g a b e n (besonders den statistischen Jahrbüchern, Zensen, Monografien zu den einzelnen Departementen etc.), als auch auf Ergebnissen der Forschung und sind entsprechend kenntlich gemacht. W o Widersprüche in den offiziellen Daten oder z w i s c h e n diesen Angaben und den in der Forschung reproduzierten auftraten, d. h. in der Mehrzahl der Fälle, wurde versucht, durch Quervergleiche voneinander unabhängiger Erhebungen die wahrscheinlichsten Werte zu erhalten. Die desolate statistische Lage, die durch die Vielzahl offizieller Statistiken nicht gemildert, sondern akzentuiert wird, wirkt selbst in anerkannten Standardwerken w i e Torres-Rivas ( 1 9 8 9 ) Bulmer-Thomas 1987, 1984 und Wallich/Adler 1951 nach, deren Zusammenstellungen (mit A u s n a h m e der Arbeit von Torres-Rivas) trotzdem die besten Bearbeitungen statistischer Daten darstellen. Vgl. etwa die Arbeit Lindo Fuentes' ( 1 9 9 0 ) zum 19. Jahrhundert und die bis heute leider unveröffentlicht gebliebene Arbeit Lauria Santiagos ( 1 9 9 2 ) zur Agrarsituation im 18. und 19. Jahrhundert.

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schränkung, als die Makroperspektive selbst auf ein so kleines Land wie El Salvador, dazu die Ausdehnung der Untersuchungsperiode notwendigerweise zu einem Verlust an Tiefenschärfe führen muss, weiter bleiben Aspekte regionaler Entwicklung und zeitlich unterschiedene Perioden willkürlich und unterschiedlich gewichtet. Der umgekehrte Fall, die Beschränkung auf Regionalgeschichte, vermag jedoch häufig nicht Ergebnisse zu liefern, deren Aussagewert über ihren geografisch eng begrenzten Rahmen hinausgeht und wurde im vorliegenden Fall durch diesbezügliche Lücken im Quellenmaterial erschwert.^ 1 Der auf diese Weise entstandene Versuch einer Nationalgeschichte bezieht seine Rechtfertigung deshalb nicht nur aus einer eigentlichen Forschungslücke, die für die Zwanzigerjahre tatsächlich besteht, sondern aus dem Bestreben, die Oberflächlichkeiten der bestehenden Historiographie durch eine quellengesättigte, extensive Darstellung so weit wie möglich zu korrigieren und zu neuen Erkenntnissen über eine für die Metropolen breit erforschte Epoche, für die Peripherie erst in Ansätzen ausgeleuchtete Zeit beizutragen.^^ Abschliessend einige technische Hinweise: Ich habe mich, wo möglich, um eine geschlechtsneutrale Ausdrucksweise bemüht, was nicht immer ganz leicht war und in gewissen Fällen unmöglich: Von einer salvadorianischen Wählerinnenschaft oder Studentinnenschaft zu sprechen, ist für die Untersuchungsperiode unsinnig, da es weder Studentinnen noch Wählerinnen gab. Der deutschen Leserinnenschaft wird auffallen, dass das deutsche ß durchwegs mit ss wiedergegeben ist, wie in der Schweiz üblich. Die Fussnotennumerierung folgt der Kapiteleinteilung nach arabischen Ziffern, die jeweils neu numeriert sind. Zitierte Werke sind durch den Autorennamen und das Erscheinungsjahr identifiziert; Kleinbuchstaben beim Erscheinungsjahr verweisen auf verschiedene Werke eines Autors, die im selben Jahr erschienen sind, wegen der Unterteilung der Bibliographie jedoch nicht unbedingt an der gleichen Stelle des Literaturverzeichnisses aufgeführt sind.

41 Die bestehenden Geschichtsdarstellungen zu einzelnen Regionen El Salvadors haben oft wenig Informationswert und genügen auch nicht den methodischen Kriterien wissenschaftlicher Forschung, die Ausnahme sind die beiden soziologischen Studien Alejandro D. Marroquins (Marroquín 1959; 1964), die allerdings nur bedingt Rückprojektionen auf die Situation der Zwanziger- bis Vierzigeijahre erlauben. Die verfügbaren Darstellungen wurden trotzdem soweit wie möglich für die vorliegende Arbeit nutzbar gemacht, vgl. Valiente/Monterrosa 1931; Velasco 1949; Lainez 1984; Galdames Armas 1943; Orellana/Orellana 1948; Academia Salvadoreña de la Historia 1938. Regionale Quellen müssen in El Salvador sowohl in Munizipal- wie auch in zentralen Archiven gesichtet werden, eine angesichts der archivalischen Umbruchssituation kaum durchführbare Arbeit. Für die vorliegende Untersuchung wurde der regionale Bezug möglich durch die Nutzung der Akten der Gobernación Sonsonate und den Charakter der Bestände des Innenministeriums, die z. T. Originalkorrespondenz von Bittstellern, alcaldes, lokalen Wirtschaftsmagnaten etc. enthielten. 42 Zu dieser Forschungslücke für die Zwanzigerjahre Guidos Vejar 1980: 92; Lauria Santiago 1993; Bulmer-Thomas 1984: 279; Dunkerley 1990b.

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L

DIE AUSFORMUNG DES EXPORTORIENTIERTEN WIRTSCHAFTSMODELLS

1.

Prolog: Das ausgehende 19. Jahrhundert und die Ablösung des "idealistischen Liberalismus"

Die Geschichtsschreibung zu El Salvador im 19. Jahrhundert beruht gewissermassen auf geographischen Kriterien: Vor dem Anbruch des letzten Viertels dieses Jahrhunderts kann man nur von der Geschichte des Naturraumes, den heute der Staat El Salvador umfasst, sprechen, angesichts der regionalen Fragmentierung, der zeitweiligen Einbindung in die zentralamerikanischen Föderation und der Prägung der nationalen Politik durch die Fraktionenkämpfe regionaler caudillos. In den Siebzigerjahren des Jahrhunderts änderte sich dieses Bild. Auf der wirtschaftlichen Ebene entwickelte sich die Kaffeewirtschaft, die die IndigoGewinnung verdrängte, zur dominanten Aktivität. Auf der politischen Ebene kam es durch die endgültige Entmachtung der Konservativen Partei zur Konsolidierung des liberalen Staates. Eine wirtschaftliche Elite aus Immigranten und eingesessenen Pflanzerfamilien, mit denen sie Familienbeziehungen eingingen, festigte sich. Das Eindringen ausländischen, zunächst vornehmlich britischen Kapitals ermöglichte erste Modernisierungsprojekte, die der entstehenden Nation Kommunikation und dem Zentralstaat die Verwaltung des Gemeinwesens erleichterten, doch kam es nicht zur Herausbildung ausländisch beherrschter Wirtschaftsenklaven.1 Zwei Ereignisse in diesem Prozess verdienen besondere Beachtung: Die Privatisierung des Landbesitzes durch die Abschaffung und das Verbot des gemeinschaftlichen Landbesitzes (der ejidos der indianischen Gemeinden) und die Promulgation der liberalen Verfassung von 1886, wichtigste Elemente der sogenannten "liberalen Reform". 2 Sie wird häufig mit der Ausweitung der Kaffeewirtschaft als zentraler politischer und wirtschaftlicher Einflussgrösse gleichgesetzt, die die wirtschaftliche Entwicklung und besonders die Dominanz 1 Dies betraf insbesondere den Eisenbahnbau in den westlichen Departementen und der östlichen Kaffeeregion, den Ausbau des Telegraphennetzes und der Elektrizitätsversorgung. Menjivar 1979: 21; Martin 1978: 4S-S1 zu den ausländischen Investitionen, zum Zustand vor dem Ersten Weltkrieg Halsey 1918: 445, 447; Suter 1994a. 2 Zur Privatisierung Browning 1971. 210ff. Pearce 20f. hält zu diesem Prozess, den sie v. a. in der Periode zwischen der Landvermesseung 1879, dem Verbot gemeinschaftlichen Landbesitzes 1881 und den ejido-Gesetzen 1882 wirksam sieht, der aber damit erst langsam in Gang kam fest, dass in den Kaffeegebieten Landkonzentration, in den übrigen Regionen die Parzellierung des Landes die Folge war, eine grobe Vereinfachung, wie spätere Berichte zur Besitzstmktur und etwa die Arbeiten Lindo Fuentes' (1990:125ff.) und Lauria Santiagos (1992, passim) deutlich machen. Parkman (1988: 7) betont richtig, dass die ejido-Gesetze im Zeitraum von 1880 und 1912 erlassen wurden und der Prozess der Privatisierung zumindest ebenfalls diesen Zeitraum betraf. Dies widerlegt auch Murga Frassinetti (1984: 19), der von vollständiger Eliminierung der ejidos nach dem Verbot gemeinschaftlichen Landbesitzes nach 1882 spricht.

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des oligarchischen Staates über Wirtschaft und Gesellschaft bestimmt hätte. Tatsächlich wirkte die "liberale Reform" entscheidend für die Herausbildung einer nationalen Oligarchie, die im Rahmen der konstitutionellen Neuordnung und im Zeichen des damit explizt bevorzugten Individualismus der Wirtschaftssubjekte nicht mehr nur wirtschaftliche, sondern auch politische Macht monopolisierte, ein Prozess, der in den Zwanzigerjahren des 20. Jahrhunderts zur Vollendung gelangte. 3 Diese Prozesse und ihr Endergebnis einer verfestigten oligarchischen Herrschaft werden von der Forschung häufig als stark beschleunigte Kausalkette wirtschaftlicher und politischer Konzentrationsprozesse gesehen. S o beschreibt beispielsweise Figueroa Salazar die Abfolge von staatlicher Förderung des Kaffeeanbaus - Privatisierung des Bodenbesitzes - Landkonzentration / Herausbildung eines ländlichen Proletariats / Herausbildung einer landbesitzenden politischen Oligarchie und ihrer repressiven Dominanz über den Staat und Gesellschaft, wie sie schliesslich in den Zwanzigerjahren bestand, als natürliche, quasi zwingende Entwicklung und Folge der Ausweitung des Kaffeeanbaus. Diese wird wiederum häufig als Resultat des Wirkens übergeordneter Interessen des Weltimperialismus verstanden: 4 "El inicio de las relaciones sociales capitalistas estuvo muy ligado al empuje del cultivo del café en el último tercio del siglo X I X ; quedando de una vez asignada a la sociedad salvadoreña dentro de la división internacional del trabajo impuesta por el mundo capitalista, la función de contribuir a cubrir los requerimientos ae materias primas y productos agrícolas de las naciones dominantes." 5 Folgerichtig sieht der Autor das Weiterbestehen der Subsistenzwirtschaft in El Salvador nach dem Aufschwung der Kaffeewirtschaft im 19. Jahrhundert nicht als viables Element dieser Wirtschaftsfom, sondern als Distorsion der kapitalistischen Formation und peripheres Element der abhängigen Produktionsweise. 6 Diese monokausale Interpretationslinie wird von der neueren Forschung stark angezweifelt. Lauria Santiago hält fest:

3 Die liberale Verfassung wird wegen des Fehlens jeglicher Erwähnung sozialer Rechte neben den individuellen Rechten des Bürgers und wegen ihrer angeblichen exklusionären Züge (Wahlrecht nur für alphabetisierte Bürger), die jedoch zeittypische Charakteristika und keineswegs Ausdruck eines politischen Autoritarismus auf normativer Ebene waren, kritisiert, vgl. Iraheta et. al. 1971: 46 und Burns 1987: 162. Der damit behauptete Einsatz für die oligarchische Machtausübung der Kaffee-Eliten bestand jedoch vornehmlich in der Missachtung der Verfassungsprinzipien, etwa der Wahlfreiheit. 4 Figueroa Salazar 1987: 25f. 5 Figueroa Salazar 1987: 26. Luna 1986: 217 spricht von der "vorägine del raonopolio imperialista". 6 Figueroa Salazar 1987: 26.

17 "While coffee was clearly crucial to the entire Salvadoran economy, especially after 1920, its impact in terms of land use and labor seemed disproportionate to the social and political weight that the crop, and all of the structures and dynamics associated with it, have been given", und fügt an, "coffee-related processes were not unilateral determinants of Salvadoran history".7 Obwohl die Endergebnisse der Privatisierung des Bodenbesitzes auf den ersten Blick sehr eindrucksvoll erscheinen (vgl. Karte unten) und auch starke politische Rückwirkungen haben mussten, sind tatsächlich einige Vorbehalte im Sinne des obigen Zitats angebracht. Es ist von grosser Wichtigkeit, die Grenzen der Ausweitung der Kaffeewirtschaft und die chronologischen Abläufe zu beachten, da sowohl die Privatisierung des Bodenbesitzes als auch die Hinwendung zum Liberalismus auf normativer Ebene keineswegs die alleine prägenden Ereignisse im Prozess des nation-building waren, und dazu erst in der ersten Dekade des 20. Jahrhunderts voll wirksam wurden. KAFFEEANBAUGEBIETE UND EHEMALIGE E//DO-LÄNDEREIEN r

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Quelle: Lindo Fuentes 1990: 41, nach Browning 1971. 7

Lauria Santiago 1992: 6f. Vgl. etwa Russell 1984: 25, der die Wertsteigerung der Kaffee-Exporte von 2.9 auf 21.9 Millionen US$ (1881-1916) allein auf die Durchsetzung der Interessen der Kaffeepflanzer und die entsprechende Gesetzgebung liberaler Regierungen zurückführt und nicht auf Ausweitung der Fläche und Preissteigerungen auf dem Weltmarkt.

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Die oft mit der ejido-Abschaffung assoziierten sozialen Folgen wie Landkonzentration, Herausbildung eines ländlichen Proletariats, Konsolidierung einer kleinen Zahl von Kaffeebaronen, die die Wirtschaft kontrollierten, sind Mythen bzw. nicht alleine auf die e/üfo-Gesetze zurückzuführen, worauf schon ältere Arbeiten hingewiesen haben und was durch neuere Forschungen bestätigt wird. 8 So hält Lindo Fuentes fest, dass nicht nur die Dimension des privatisierten Landes (in der Literatur jeweils mit 25-40% der gesamten bebauten Fläche angegeben) als zu hoch eingeschätzt wurde, sondern dass die Privatisierung auch nicht zur Dichotomie von mirtifundio und latifuniio führte, da schon im frühen 19. Jahrhundert grosse Landstücke neben fragmentiertem Kleinbesitz bestanden hatten. 9 Darüberhinaus belegt Lindo Fuentes, dass die liberalen Reformen nicht unverzichtbar für die Ausweitung der Kaffeewirtschaft waren, die grundsätzlich auch auf gemeinschaftlichem Landbesitz möglich und durch andere Mechanismen erreicht werden konnte, dass also zwischen den beiden verknüpften Prozessen kein kausaler Zusammenhang zwingend gegeben war. 10 Andere Untersuchungen belegen überdies, dass nach der Privatisierung Klein- und Mittelbesitz weiterbestand, der auch für die Exportproduktion von Kaffee relevant war und dass Landlosigkeit und die Herausbildung einer entsprechend lohnabhängigen Arbeiterschaft nur regional wirksam wurden. 11 Nach wie vor waren kleine und mittlere Landbesitzer an der Erwirtschaftung der KaffeeErnten wesentlich beteiligt. 12 Zwar ist es richtig, dass die Ausweitung des Kaf8

Browning 1971: 212f.; Lauria Santiago 1992: 8, 14; Wilson 1970: 7 Diese Mjthen werden z. B. in folgenden Arbeiten kolportiert: White 1973; Zamosc 1989; Menjívar 19K)b; Torres Rivas 1989; Burns 1987; Durham 1979, vgl. besonders 43. Offenkundige Widersprüche in der Argumentation sind für diese Forschungen oft charakteristisch. So schreibt etwa Russell (1984: 25) über die Situation des Arbeitsmarktes, dass Landrichter Arbeitskrafterfordernisse festgesetzt und den Nachschub an Arbeitern durch Anwendung von Gesetzen gegen Landstreicherei und die Zuführung Vertragsbrüchiger Landarbeiter gesichert hätten. Gleichzeitig betont er die niedrigen Löhne und die Landlosigkeit der Landbevökerung, die dadurch zur Arbeit auf den Kaffee/incas gewungen gewesen sei. Montgomery (1982: 42f.) hält richtigerweise fest, dass ersteres für den Zeitraum nach 1886 wirksam war; der zweite Prozess würde erst im Kaffeeboom der Zwanzigerjahre wirksam werden. Vgl. AGN, Municipio de Santa Ana, Libros de Inscripción de Jornaleros, 1904ff. 9 Lindo Fuentes 1990: 125-150. Der Autor grenzt sich von den Untersuchungen Brownings (1971) und Menjivars (1980b) ab. 10 Lindo Fuentes 1990: 151. 11 Wilson 1970: 39ff; Perigny 1978. Beispielsweise in Santa Tecla, La Libertad und in den municipios (nicht den Departementen) Santa Ana, San Vicente, Sonsonate, San Miguel, in denen aber nach wie vor von Kleinproduzenten Kaffee produziert wurde, Lauria Santiago 1992: 380f., 431. Selbst in Santa Ana war es notwendig, Landarbeiter zu registrieren, um eine effektive Kontrolle Uber den Nachschub an Arbeitern zu haben, AGN, Municipio de Santa Ana, Libro de Inscripción de Jornaleros, 1904ff. Bis in die Zwanzigerjahre waren die Erntearbeiter zu einem beträchtlichen Teil selbständige Landbesitzer, und die Verfügbarkeit von Land für die Subsistenzproduktion zeigt sich darin, dass nicht nur temporäre Erntearbeiter aus anderen Departementen und aus Guatemala in die Kaffeegebiete strömten, sondern es vor 1910 sogar zu permanenter Ansiedlung von Immigranten kam: Im municipio Candelaria de la Frontera (Departement Santa Ana) waren 1910 80% der Einwohner guatemaltekischer Herkunft, Lauria 1992: 430f., 433. 12 Lauria Santiago 1992: 368f., 447; Perigny 1978: 98. Perigny interpretiert diese Fragmentierung des Bodenbesitzes interessanterweise als strukturelle Schwäche, führt er sie doch auf die Be-

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feeanbau, der charakterisiert ist durch die Verzögerung zwischen Pflanzung und erster Ernte (5 Jahre), den hohen Bedarf an saisonaler Arbeitskraft und die Verfügbarkeit von bestimmten Böden in bestimmter geographischer Umgebung, sozioökonomische Auswirkungen haben musste. 13 Angesichts der regionalen Beschränkung der Kaffeewirtschaft, der Möglichkeit zum Nebeneinander insbesondere mit der arbeitsextensiven Maisproduktion und der Möglichkeit zur Kaffeeproduktion durchaus auch auf kleineren Flächen ist aber die Wirkung der Ausweitung und der einseitig determinierte Entwicklungsgang zu Landkonzentration, Proletarisierung und Rückwirkung auf den Staat im Sinne der zwingenden Herausbildung von Strukturen autoritärer oligarchischer Herrschaft fraglich. Dies wird etwa sichtbar in den Spekulationen der Forschung über die Effekte der Ausweitung und der Privatisierung des Bodenbesitzes auf den Arbeitsmarkt und die Bodenbesitzstruktur: Während einige Autoren Landverluste zwingend annehmen und daraus schon auf grosse Zahlen landloser peones (Landarbeiter) schon für die letzten Jahre des 19. Jahrhunderts schliessen, gehen andere davon aus, dass Gesetze gegen Landstreicherei und ländliche Polizeimacht notwendig gewesen seien, um genügend Arbeitskräfte für die Kaffecfincas freizumachen. 14 Empirische Forschung und zeitgenössische Beschreibungen belegen zwar das Vorhandensein freier Arbeitskraft, doch ebenso auch die Weiterexistenz von Klein- und Mittelbesitz selbst in den Kaffeegebieten und die Notwendigkeit zur Mobilisierung der Arbeiterschaft zumindest für die Ernte. Das Gesamtbild des ländlichen El Salvador nach dem Erlass der Privatisierungsgesetze und der liberalen Reform ist jenes eines relativ integrierten Systems von dauernder Bewirtschaftung selbständiger Einheiten durch Kleinbauern, von Pachtland durch colonos zur Belieferung des inneren Marktes mit Zucker, Kaffee, Mais und anderen Grundnahrungsmitteln, aber auch für die Exportproduktion. Neben den Nuklei kapitalistischer Exportproduktion, die eng umrissen waren, existierten in vielen Regionen landwirtschaftliche Produktionsbetriebe, wo Indigo, Perubalsam, Zucker und Tabak angebaut wurden, wie es durch zeitgenössische Berichte überliefert wird und selbst noch für spätere Zeiträume belegt ist. 15 vorzugung der Ausweitung der Anbaufläche aller Feldfrüchte gegenüber "wissenschaftlichen" Anbaumethoden zurück; die bei Lauria implizierte Viabilität des Systems sollte sich in den Zwanzigerjahren vollständig verlieren, als die unkontrollierte Ausweitung der Anbaufläche vor allem der Exportprodukte tatsächlich Verdrängung der binnenmarktorientierten Produktion zur Folge haben. Zu diesen Bedingungen Guidos Vijar 1980: 64f. Guidos Vijar (1980: 71) betont die Wirkung der Leyes contra la vagancia, während Dunkerley (1982: 129) von der fehlenden Notwendigkeit, diese Gesetze anzuwenden, spricht. Zu zeitgenössischen Berichten vgl. Lauria Santiago 1992: und Wilson 1970. Vgl etwa die Situation von Produkten wie Indigo, Tabak, Perubalsam etc. wie sie Cardona Lazo für 1938 festhält (Cardona Lazo 1939, passim). Selbst der Kaffeeanbau wurde noch zu jenem Zeitpunkt zu einem beträchtlichen Teil durch Kleinproduzenten vorgenommen, der Kaffeezensus von 1940 zählt 4'801 Produktionsbetriebe mit einer mit Kaffee bebauten Fläche unter 0.7 ha (Hektaren) auf, 4'967 Produzenten, die 0.7-7 ha mit Kaffee bebauten, das sind zusammen 84% aller Produk-

20 Noch weniger stichhaltig ist die implizierte Verbindung von Kaffeeausweitung, Veränderung der ländlichen Sozialstruktur und Herausbildung eines Regimetyps. So schreibt Lauria Santiago zu Recht: "The relationship between agrarian social structure and regime type, if we are so to speak16 of one at all, is much more indeterminate than generally considered." Insbesondere die Verknüpfung der Prozesse von Landkonzentration und der Konzentration politischer Macht überzeugt nicht. Die zu Beginn des 20. Jahrhunderts tatsächlich bestehende Beherrschung der Kaffeewirtschaft durch einige grosse Produzenten (den Vorläufern der späteren berühmten "14 bzw 40 Familien") war nicht durch Landbesitz bestimmt, sondern durch Kontrolle der Verarbeitung und Vermarktung der Kaffee-Ernten, die erst in späteren Phasen zur Aneignung und Monopolisierung des Landbesitzes führte (vgl. Kap. III.l.D.a und III.l.B.). 1 7 Die Eliten diversifizierten ihre wirtschaftlichen Aktivitäten schon zu einem frühen Zeitpunkt und die Dominanz, die sie in den Zwanzigeijahren über den Staat ausübten, stand keineswegs "natürlich" mit der Ausweitung der Kaffeewirtschaft in Verbindung, auch nicht mit der damit assoziierten Veränderung der ländlichen Produktions- und Sozialstruktur: "Alternative, non-authoritarian paths pf social change in the pre-1929 period did exist and they represented a historical tendency18towards a sustantively and formally more democratic society in El Salvador." Dies gilt insbesondere für die Periode vor 1910. Die Monopolisierung politischer Macht durch die "Kaffeebarone", die selbst für spätere Perioden nicht bruchlos vor sich ging, ist für die Zeit vor 1900 nicht nachweisbar. Seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wechselten sich kurzlebige Regime von MiMlÄTcaudillos ab, und das staatliche Wirken blieb fragmentarisch, kurzlebig und konnte noch keineswegs stringent auf die Interessensicherung einer Klasse wie etwa der Kaffeeproduzenten verpflichtet werden. 1 9 Dies ist umso eintionsbetriebe, die 18.9 der gesamten Kaffee-Anbaufläche belegten, Asociación Cafetalera de El Salvador 1940. 16 Lauria Santiago 1992: 550. 17 Lauria Santiago 1992: 444. 18 Lauria Santiago 1992: 6., der Autor folgt hier der Argumentation von Wilson 1970. 19 Zwischen 1850 und 1900 amtierten 47 Präsidenten, von denen nur fünf ihre Amtszeit beendeten, Dunkerley 1982: 13. Ein Abriss der Folge von Präsidenten bei Munro 1918: 101-103. Vgl. a. Schuhmacher 1929: 103. Zur Verfassungsgeschichte des 19. Jahrhunderts Gallardo 1961, Bd. 1: 575-719. Es ist Russell (1984: 25) und Liss (1991:64) zu widersprechen, die das liberale Modell deterministisch als untrennbar mit der Ausweitung der Exportwirtschaft verknüpft sehen. Liss schreibt den Kaffeepflanzern "enormous profits" zu, die in Wahrheit die Exporteure einheimsten, und behauptet, sie hätten Gesetzgebung sowie Handels- und Fiskalpolitik nach Gutdünken beeinflusst. Er kann damit das Vorhandensein politischer Divergenzen innerhalb der Eliten, das zu der genannten raschen Abfolge verschiedener Regierungen mit unterschiedlicher Orientierung führte, nicht befriedigend erklären. Die kurze Reichweite des staatlichen Wirkens verdeutlicht etwa der Versuch zur Einführung der Goldwährung 1892, der nach der Absetzung des Präsidenten Ezeta

21 leuchtender, zieht man die Heterogenität der wirtschaftlichen Eliten und ihre wirtschaftlichen Interessen in Betracht, die von Viehhacendados, añil (Indigo)Produzenten, Kaffee- und Zuckerpflanzern unterschiedlichster wirtschaftlicher Macht und salvadorianischen wie ausländischen Exporteuren gebildet wurde. Das starke ausländische Element innerhalb der Wirtschaftseliten förderte zudem das Festhalten an informellen politischen Formen ebenso wie die weitgehend bestehende politische Autonomie nicht nur einzelner Regionen, sondern v. a. Sektoren wie etwa der ländlichen Produktionssysteme. Soweit man von politischen Fraktionen auf nationaler Ebene sprechen kann, die die regionale Politik überschritten, ist hier zunächst die Weiterexistenz der nach 1871 entmachteten Konservativen von Belang und wichtiger noch, die Scheidung der siegreichen Liberalen in einen "idealistischen" und einen "pragmatischen" Flügel. Während die erstere Fraktion sich mit der liberalen Reform von 1871-1886 identifizierte, insbesondere auf die Durchsetzung der individuellen Freiheiten der Bürger drängte und schliesslich einen Teil der alten konservativen Politiker absorbierte, betonten die pragmatischen Liberalen die Aufgabe des Staates, günstige Rahmenbedingungen für die Expansion der Wirtschaft zu schaffen. 2 0 Es ist kein Zufall, das diese Fraktion ihre Basis innerhalb der schon um 1900 ihre wirtschaftliche Aktivität diversifizierenden Gruppe der Exporteure hatte, die in den späteren Phasen ihre Dominanz über den Staat zur Durchsetzung dieser Prinzipien instrumentalisieren würden. 2 1 Vor 1910 war allerdings die Unterscheidung dieser beiden Gruppen auf nationalstaatlicher Ebene irrelevant, die programmatisch überdies nicht mit endgültiger Schärfe zu ziehen ist. Miìitàrcaudillos, deren Herrschaft kaum auf politischen Prinzipien beruhten, regierten zwar im Interesse der durch seinen Nachfolger Gutiérrez im selben Jahr wieder rückgängig gemacht wurde, Fonseca 1924: 18f. 20 White 1973: 85-90. Der Autor betont, dass letztlich auch bei dieser Scheidung weniger programmatische Differenzen als persönliche Bindungen, Klientel- und Familienverbände und Tradition eine Rolle spielten. Parkman (1988: 79) hält fest: "These 'New Liberais' were far more committed to promoting economic development in the interest of agricultural entrepreneurs than to the niceties of constitutional government", während sie über die idealistischen Liberalen schreibt: "The politicai valúes of liberalism - free expression of ideas, free elections, and 'alternation in office 1 became the platform of an oppositionist liberal tradition". Diese in der Nachfolge des liberalen Präsidenten Francisco Menéndez stehenden Politiker hielten in der Person von Prudencio Alfaro eine politische Gegenmacht bis 1915 und wurden zum Gegenpol der MeléndezQuiñónez-"Dynastie" in den Jahren 1913-1927, während sie z. T. mit dem Martfnez-Regime in seiner frühen Phase (1931-1933) zusammenarbeiteten, aber auch beim Sturz des Diktators 1944 eine wesentliche Rolle spielten. Luna (1986: 217f.) sieht im Scheitern von Alfaros Umsturzversuchen den Fehlschlag eines "cambio revolucionario estructural", d. h. der Verwirklichung liberaler Ideale und eines bürgerlichen Gesellschaftsmodells, also durchaus eine Alternative zum oligarchischen Modell, die durch das Wirken der Nachfolger Alfaros selbst in den Zwanzigerjahren noch erkennbar war. Der Widerspruch zur vorstehend genannten Behauptung, die Verfassung von 1886 sei an sich zum Instrument der Monopolisierung politischer und wirtschaftlicher Macht gerade durch die Betonung der Prinzipien des Wirtschaftsliberalismus geworden, wird hier deutlich. Alfaro und seine Nachfolger als Führer der idealistischen Liberalen werden ja gerade als in der Nachfolge des Präsidenten Menéndez stehend porträtiert, der die Verfassung von 1886 promulgiert hatte, die später allen Oppositionellen als Gegenbild gegen illegitime und oligarchische Regierung diente. 21 Lauria Santiago 1992: 450, 452.

22 pragmatischen Liberalen, vermochten aber ihren Postulaten auf nationaler Ebene nicht zum Durchbruch zu verhelfen, angesichts der Kurzlebigkeit der meisten Regierungen und der geringen Reichweite staatlicher Aktivität. 22 Um 1910 änderte sich diese Situation. Ein letzter Versuch der idealistischen Liberalen, mit Hilfe einer Invasion aus Nicaragua die Macht zu erringen, scheiterte und provozierte mit der Zentralamerikakonferenz von 1907 die erste Manifestation des diplomatischen und regionalpolitischen Führungsanspruchs der USA in Zentralamerika.23 Zuvor hatte das Scheitern eines zentralamerikanischen Föderationsprojektes (der República Mayor de Centroamérica, ein Zusammenschluss mit Guatemala und Honduras) im Jahre 1898 den nationalstaatlichen Isolationismus zur faktischen Grundbedingung der isthmischen Politik auch für El Salvador gemacht. Ein verlorener Krieg mit Guatemala (1906) hatte dies nicht nur bestätigt, sondern überdies Macht und Prestige der MilitÜTcaudillos in Frage gestellt, die nun von der politischen Bühne verschwanden. Zwar gelangte 1907 ein weiterer General, Fernando Figueroa, an die Regierung, doch nicht durch einen Staatsstreich, wie vordem üblich, sondern durch eine nichtkompetitive Wahl, ein Muster, das sich fortan einspielen sollte. Die geordnete Übergabe der Präsidentschaft an seinen Nachfolger Araujo (1911), dessen Präsidentschaftskandidatur von den wichtigsten Exponenten der wirtschaftlichen Eliten, insbesondere der grossen Exporteure, unterstützt wurde, markierte den Beginn der Institutionalisierung oligarchischer Herrschaft in El Salvador und der Festigung der Position der pragmatischen Liberalen. 24 Parallel zu dieser Beruhigung auf der politischen Ebene war es zu einer Abschwächung des Kaffeebooms gekommen. Die Wirtschaftskrise des Jahres 1897 und stabile Weltmarktpreise, dazu das Erlahmen der staatlichen Förderung, die die sprunghafte Ausweitung der Anbaufläche in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bestimmt hatte, hatten zu einer Verlang-

Montgomery (1982: 42f.) und Zamosc (1989: 65) sehen hier schon eine Landkonzentration in den Händen der 14 Familien verwirklicht, die sie mit den Präsidenten des letzten Viertels des 19. Jahrhunderts identifizieren. Tatsächlich waren diese Präsidenten Kaffeepflanzer mit z. T. erheblichem Landbesitz, aber in erster Linie Militärcaurfi7/

-Minlatro-da-Gob«rna*iótrH «ruido iaaÄori. Saüä —-*u.°a«ninlaaal¿n No 8,412, fa abala «1 i » sa bonarabía autoridad, «an rapasto nuaatra aatunaián. « 1 él»«. qu«_ »sa. Ministarlo no. Juzga.aorra.ato._al jroaedlmlanto üa^asta rax "aa ba aaguldo, INFOMUJCu SI» LA D8BIDA A.YÍICIPAC lo». o"^ttta>aa_aaap. a l Conaajo.da l a £adaraal4n .»at£_azonto_da_todo »argo,púas loa granloa .fadarados, o n6, aon.aut ¿nonos an su gObiarQ -J M M i raaolualonas. B1 Qonsajo.sájo intarTÌena»uando auai-_.._ alar- gramio la aollaìta au aooparaaijn, lo .aual as au dabar, ppas t i aa al qua'loa raprasanta, o_jiuaJldo_s_a some ta_^guna'anomali a an loa graaioa qua i t margan a intarprataalonas aontr'àriaa o l a ' -Jastlala. Bato notamos an a- l granlo da Dastifeadorafc al no'aomuni-" * ì r al'"Sarò" da au trabajó , anau dabido tianpo,a.asa lonorafiiV Mlnlatario. -Paro astoas dlspanaabla, 'dado qua allo a ' ignoran 'loa . dabarà a "para ao n i a auto rlàad.T Por lo" tonto, "Jóo ..aV^ùa.liT'qùi. la~~ ^àrdanxa da l a rafarida «oaùnlaaaljn traiga por'aònsaauanala~ra-_ «ulTidas'toia" par Judialalaa~para7H~ firanlo dà Déataz£dora'a qua P ^*a 'lo a propia tarlo a 1 públiao" aorisunldor. ' " ~ ' •* . Con-ralaalón-a-nuaatra aoBunUairón/itìbre roarirtWàr tdda"o'piñióií— 'anbraralra, nunaa hamo a aratdo qua aaa aaarataria" aa laa forniti*,' ( alnoTiuastros -adraraarlo s ), Q paaar "ijn» _ hayinfinidad :da ,~aJ ampieri— qóa no a damuaatran qua l a autoridad aiampra ha'ripudialo 'a laa slaaaatrabaJadorar.Paro-ahorapansano yqua Tio--«uqa¿ari.-ftsí.do*o -qtTa alaatual Gobiarno aa ba dado praatldlo por aujGao'ar&tlaa 7 Jas t i aia ra.-A- al-puaa, -arcanoa. .qua • laTopiniin-da^qna'^aa -Barin*-aana'aladaa a los da àari-raaonsidarada. aiiuanlnldad, .Vsia aia

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Brief des Vertreters des Gewerkschaftsverbandes FRTS an den Schiachterstreik 1925 (AGN-MG asunto huelga de destazadores)

Innenminister,

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Gemeinden als Streikbrecher mobilisieren. Diese Massnahmen waren erfolgreich, zumal am darauffolgenden Tag ein Teil der Streikenden am Arbeitsplatz erschien und somit der Streik ohne Wirkung geblieben war. 41 Gleichzeitig aber Hess der Innenminister Abklärungen über Lohn und Arbeitsbedingungen der Schlachter durchführen und lud schliesslich Vertreter des Gremios de Destazadores zu einer Aussprache vor. Schon etwa zwei Wochen nach Beendigung des Streiks legte das Ministerium schliesslich das Projekt eines reformierten Reglements für den Schlachthof vor, das die Lage der Arbeiter wesentlich verbesserte. 42 Diese schnelle Aktion wurde von der FRTS befriedigt zur Kenntnis genommen, die festhielt, dass, wo die Arbeitgeber den Ausgleich der Interessen von Arbeit und Kapital nicht berücksichtigten, die staatliche Autorität als Mittlerinstanz tätig werden müsse. Der Generalsekretär der FRTS schloss mit einem Dank an den Minister für seine "noble y patriótica labor". 43 Dieses Beispiel zeigt, dass einerseits die Gewerkschaft, die später eine überaus wichtige Rolle nicht nur bei Arbeitskämpfen, sondern auch als politische Avantgarde im Rahmen revolutionärer Agitation spielen würde, vorläufig nur als Mittlerinstanz und begleitend bei Kampfmassnahmen ihrer v. a. handwerklichen Mitgliedergewerkschaften tätig werden konnte. Der Staat schliesslich hatte lange vor der Einrichtung staatlicher Schiedsgerichte für die Regelung von Arbeitskonflikten die Funktion einer Schiedsinstanz übernommen und machte seine Autorität keineswegs nur einseitig im Interesse der Besitzenden geltend. Dies galt allerdings nur für Konflikte, die die innenpolitische Ebene betrafen. Arbeitskämpfe bei den ausländischen Gesellschaften, oder mit Beteiligung ausländischer Agitatoren wurden sofort unterdrückt. 44 Es wird hier eine Ambivalenz der quiñonistischen Politik deutlich, die bei herrschendem Kriegsrecht, der Unterdrückung jeglicher oppositioneller Tätigkeit im allgemeinen und "bolschewistischer" Agitation im besonderen doch versuchte, ihre Machtstellung vermittelnd einzusetzen, um ein Mindestmass politischer Legitimität bei den von politischer Mitbestimmung ferngehaltenen gesellschaftlichen Guppen zu erreichen. Die Handlungsweise der Behörden im eben beschriebenen Konflikt zeigt zudem, dass die Regierung die gestiegene politische Bedeutung der Handwerker und städtischen Arbeiter erkannt hatte. 45 41

AGN-MG Schönenberg an Subsecretario de Sanidad Publica, 24.6.1925; Martínez an Schönenberg, 25.6.1925; Alcalde San Salvador an Schönenberg, 25.6.1925. AGN-MG Oficial Mayor Ministerio de Gobernación an Administrador del Rastro, San Salvador, 26.6.1925; Informe, Ministerio de Gobernación, 26.6.1925; Schönenberg an Alcalde San Salvador, 26.6.1925; Schönenberg an Martínez, 26.10.1925; Proyecto de un reglamento para destazadores, 9.7.1925; Schönenberg an FRTS, z. Hd. Representante Gremio de Destazadores, 10.7.1925. 43 AGN-MG Martínez an Schönenberg, 29.6.1925. 44 Parada 1955-1975 Bd. 2: 16f. Ein Beispiel hierfür ein Streik bei der IRCA, der von Quiñónez unterdrückt wurde und mit der Entlassung von 68 Arbeitern endete, RDS 816.00/588 Caffery an Kellogg, 19.8.1926. 45 Diese Ambivalenz erklärt die Widersprüche in den Beurteilungen der Forschung, so betont Parada (1955-1975: Bd. 2, 26) die Unterdrückung, Wilson 1970: 105 spricht hingegen von

108 Dasselbe lässt sich auch für ihre Haltung gegenüber den Staatsangestellten sagen: Die Integration der Bürokratie in das "nationale Projekt" Quinönez', die sich besonders an dem erwähnten Zwangssparsystem festmachen lässt, einem Prestigeobjekt der Administration, weist auf eine stärkere institutionelle Einbindung der vormals sehr persönlich der an der Macht befindlichen Regierung verpflichteten Staatsangestellten hin. 46 Wie erfolgreich die Taktik Quinönez' war, ständige latente Repression (den estado de sitio als Dauereinrichtung) und den Entzug politischer Rechte (etwa der jährlichen Wahl der Gemeindebehörden) an die Stelle manifester Repression gegen herrschaftsbedrohende Opposition zu setzen, zeigt, dass ihm schliesslich die Versöhnung mit der oppositionellen Elite gelang. Wohl zum ersten Mal befanden sich pragmatische und idealistische Liberale im selben Lager, nicht, wie unter Manuel Enrique Araujo oder Carlos Melendez als Rivalen im selben Kabinett, sondern eingebunden in Quinönez' Projekt der Modernisierung als nationaler Einheit, das diesen Zustand erst möglich gemacht hatte. 47 Was auf den ersten Blick so idealisiert erscheint, hatte in Wirklichkeit handfeste Gründe. Die idealistischen Liberalen hatten spätestens seit der geglückten Machtübergabe von Jorge Melendez an Quinönez einsehen müssen, dass ihre eigene Schwäche und die Institutionalisierung der Quasidiktatur der herrschenden oligarchischen Fraktion einen Führungswechsel unmöglich machten, insbesondere, seit das zentralamerikanische Vertragssystem von 1923 Machtwechsel durch Umsturz infolge der zwingenden Verweigerung diplomatischer Anerkennung der USA in einem solchen Fall praktisch unmöglich machte. Sie tendierten deshalb dazu, sich mit dem Regime zu arrangieren, was teilweise erstaunliche politische Kehrtwendungen notwendig machte. So kehrte Arturo Araujo nach seinem gescheiterten Putschversuch von 1920 und kurzem Exil nach El Salvador zurück und erklärte sich für apolitisch, trotz seiner bekannten sozialreformerischen Attitüde. Sein Putsch gegen Jorge Melendez sei von persönlicher Gegnerschaft bestimmt gewesen (tatsächlich waren die Familien Araujo und Melendez seit langem verfeindet), mit Quinönez verbanden ihn hingegen die freundschaftliche Gefühle eines paisano, Toleranz gegenüber ausländischen Agitatoren und Guidos V6jar 1980: 123, 131 betont die Kooptationsbemühungen, die sich in der Protegierung der Handwerkergilden äusserte und die gleichzeitige Repression gegen die Gewerkschaften, die durch die Quellen nur teilweise bestätigt wird, wie die referierten Beispiele zeigen. Zum Element der Herrschaftssicherung Luna 1964: 50: "Dr Quinönez (...) explotaba ciertas diferencias de nuestras nacientes y embrionarias clases sociales. Los slogans de los 'levudos' y los 'descamisados' discriminaban a las clases y por ende a los partidos". 4( > Wilson (1970: 151) weist auf die gestiegene Wichtigkeit der Staatsangestellten und der städtischen Gruppen im allgemeinen hin, nimmt aber eine Opposition zum Regime Quinönez an, die nicht durch ihre als Beleg angeführte spätere Unterstützung Romero Bosques beweisbar ist: Proteste gegen Lohnkürzungen -rückstände und endemische Korruption waren auch in der Regierungszeit Romero Bosques zu beobachten. 47 Die Oberklasse hatte ihren nach Parada (1955-1975: Bd. 2, 251.) wirkungslos gebliebenen (was auch von den Quellen bestätigt wird) passiven Widerstand aufgegeben und kooperierte mit Quinönez besonders auch wirtschaftlich, RDS 816.00/552 Schuyler an Hughes, 16.1.1925.

109 so Araujo. 48 Weiter war bedeutsam, dass die Wichtigkeit des Staates als Agent der Ressourcenallokation für alle gesellschaftlichen Gruppen mit der Modernisierung stark gestiegen war; angesichts der im Staatsapparat herrschenden Korruption bot deshalb eine Assoziation mit dem Regime auch für Mitglieder der alten Oberschichten aus der Fraktion der "idealistischen" Liberalen und frühere Gegner der "Dynastie" direkte wirtschaftliche Vorteile. Aus dieser Situation ergab sich, dass Quiñónez als Regierungschef eine Handlungsfähigkeit hatte, die seinen Vorgängern abgegangen war: Seine lange politische Erfahrung, sein politisches Geschick und seine Persönlichkeit machten ihn zu einer dominanten Figur in der politischen Szenerie, so dass es nicht übertrieben ist, von einer personalistischen Zivildiktatur dieses Präsidenten zu sprechen. Bedenkt man, dass Quiñónez mehrmals interimistisch die Präsidentschaft ausgeübt und eine ganze Amtsperiode lang (1919-1923) praktisch hinter den Kulissen regiert hatte, relativiert sich einmal mehr das Bild der Meléndez-Quiñónez-"Dynastie" als einer Familienregierung. Es ist vielmehr angebracht, von einer Regierung im Interesse einer kleinen politischen Fraktion zu sprechen, die in Quiñónez einen effizienten Sachwalter der Interessen einer modernisierungswilligen, dynamischen Agrarbourgeoisie gefunden hatte - keineswegs der Interessen "der Kaffeewirtschaft" oder der Eliten schlechthin, die als Gruppe weit heterogener waren, als viele Darstellungen vermuten lassen. 49 Es ist in diesem Zusammenhang auch angezeigt, darauf hinzuweisen, dass diese dominante politische Fraktion unter den Bedingungen der "ausschliessenden Demokratie", aber im Bewusstsein der steigenden politischen Wichtigkeit urbaner Gruppen und der Mittelklasse im besonderen, durchaus zu Reformen bereit war. Dies galt allerdings nur, solange die gute Ertragslage der Exportwirtschaft und der Fortgang der Modernisierung dieser Fraktion günstige Rahmenbedingungen für die Sicherung ihrer eigenen wirtschaftlichen Gewinne ermöglichten. Nachdem Quiñónez die ihm feindlich gesinnte "idealistische" Fraktion der Liberalen versöhnt hatte, war seine persönliche Stellung konsolidiert. Es erstaunt nicht, dass sich damit gegen Ende seiner Amtszeit, etwa ab Herbst 1926, das Problem seiner Nachfolge grundsätzlich stellte. Viele Beobachter zweifelten, ob Quiñónez angesichts seiner starken Position nicht versuchen würde, eine zweite Amtszeit anzustreben. Dies war nach den Bestimmungen der Verfassung ausgeschlossen, und, wie der US-Gesandte festhielt, war die no-reelección das einzige wirkliche Dogma der salvadorianischen Politik. 50 48

RDS 816.00/527 Schuyler an Hughes,7.1.1924. Araujo stammle ursprünglich wie Quiñónez und der spätere Präsident Romero Bosque aus Suchitoto. RDS 816.00/zur Machtfülle und zur personalistischen Ausrichtung der Regierungspolitik, die ja schon unter Jorge Meléndez völlig von Quiñónez dominiert wurde, vgl. z. B. RDS 816.00/558 Schuyler an Hughes 8.4.1925. Zur Heterogenität Guidos Véjar 1980: 93ff. 50 RDS 816.00/596 Caffery an Kellogg, 10.11.1926. Als mögliche andere Kandidaten wurden die Gebrüder Dueñas, der ehemalige Aussenminister Martínez Suírez, der Anwalt César Miranda und bezeichnenderweise der ranghöchste General der Armee, Jos¿ Tomás Calderón genannt. Die

110 Diese Einschätzung ist sicher richtig, hatten doch selbst die Politiker der "Dynastie" das verfassungsmässige Wiederwahlverbot beachtet, zuweilen allerdings nur unter Druck, wie 1918. Die etwas vage Verfassungsbestimmung, dass El Salvador nicht das Besitztum (patrimonio) einer Familie sein dürfe, wurde durch die gängige Methode der Weitergabe der Präsidentschaft zumindest tangiert, doch haben die vorangegangenen Ausführungen gezeigt, dass nicht das Element der Familienherrschaft, sondern der oligarchische Charakter für die Beurteilung der Regierungen der Dynastie entscheidend waren. 51 Trotz der klaren verfassungsrechtlichen Ausgangslage begann Quiiiönez zu sondieren, ob seine Wiederwahl durchführbar sein würde. Charakteristischerweise geschah dies nicht durch Sammlung der oligarchischen Kräfte hinter seiner erneuten Kandidatur, sondern durch einen erneuten Appell an die Massen und die Instrumentalisierung seines Einflusses innerhalb von Parlament und Staatsapparat. Es gab in verschiedenen Regionen des Landes cabildos abiertos (Volksversammlungen), bei denen die Wiederwahl Quiiiönez' gefordert wurde und parallel dazu wurde eine Bewegung zur Reform der Verfassung gestartet.5^ Aufrufe zur Reform der tatsächlich nicht mehr adäquaten Verfassung von 1886 hatten Tradition, doch war die zeitliche Koinzidenz mit dem Ende von Quiiiönez' Amtszeit zu deutlich, um das Projekt nicht doch als reines Instrument einer Amtszeitverlängerung in Verdacht zu bringen. Dieser Verdacht wurde auch durch die dürftige Begründung der Notwendigkeit einer Verfassungsrevision genährt. Diese bestand in der Behauptung, dass El Salvador nach der Übernahme der Verfassung der zentralamerikanischen Föderation und nach dem Ende dieses Staatenbundes seit Februar 1922 ohne Verfassung sei - eine recht originelle Begründung angesichts der Tatsache, dass Quiiiönez immerhin fast vier Jahre im Namen der Verfassung von 1886 regiert hatte und auch einige Regierungsverträge explizit auf diese Verfassung Bezug nahmen. 53 Die Tatsache, dass eine Verfassungsänderung ein langwieriger Prozess war und die Bestimmungen zur Nichtwiederwahl von Präsihier aufscheinende Bedeutung des Militärs bzw. einzelner Offiziere wurde bereits 1924 als Gefahr für die Machtausübung ziviler Regierung gesehen, MID 23S7-18S, Memorandum ohne Verfasserangabe, 17.4.1924. RDS 816.00/561 Engen an Kellogg, 6.7.1925; RDS 816.00/574 Engert an Kellogg, 19.1.1926. Zur Diskussion des "01igarchie"-Begriffs im Zusammenhang mit den Regierungen zwischen 1913 und 1927 vgl. Kap. III.4.A. 52 RDS 816.00/578 Engert an Kellogg, 7.5.1926 sowie RDS 816.00/585 und RDS 816.00/587; RDS 816.011/9 Caffery an Kellogg, 25.9.1926; RDS 816.011/10 Caffery an Kellogg, 11.10.1926. Uriarte 1929: 47. Eine Liste der die Wiederwahl unterstützenden Personen in López Vallecillos 1964: 142. Auch die Annäherung an die Arbeiterschaft wurde wieder versucht, so gründeten sich wieder Arbeiterkomitees, die für die Wiederwahl Quiñónez eintraten. Ein entsprechender Aufruf in einem Wahlkampfblatt wurde mit dem Pseudonym "Lenine" unterzeichnet, RDS 816.00/590 Caffery an Kellogg 2.9.1926. 53 RDS 816.011/8 Caffery an Kellogg, 16.9.1926, enclosure Estudios de derecho público; Rodríguez González 1926; Gallardo 1961: 727; Parada 1955-1975: Bd. 2, 28. Tatsächlich stellte das entsprechende Dekret die Souveränität El Salvadors im Rahmen der Verfassung von 1886 wieder her, Diario Oficial, 4.2.1922.

Ill

denten ausdrücklich nicht abänderbar waren, schien für die Pläne der Administration nicht ins Gewicht zu fallen, zumal wohl eher an eine nachträgliche konstitutionelle Absicherung einer eventuellen Wiederwahl Quiñónez' gedacht wurde. 54 Eine - manipulierte - Konsultativabstimmung in einer Tageszeitung ergab überwältigende Zustimmung zum Verbleib Quiñónez im Amte, juristische Gutachten über den Unterschied zwischen continuismo und reelección bereiteten das politische Terrain für die Wiederwahl, und ausländische Wirtschaftsvertreter machten sich beim US-Gesandten für eine Fortführung der Regierung Quiñónez stark. 55 Parallel dazu stärkte Quiñónez seine Stellung durch Intrigen bei der Auswahl potentieller Nachfolger. Lange Zeit hatte der Kriegsminister und Vizepräsident Romero Bosque als gesetzt gegolten, doch gegen Ende der Regierung Quiñónez fiel er kurzzeitig in Ungnade und unternahm, wie in solchen Fällen üblich, eine längere Auslandsreise, die einer temporären Verbannung gleichkam. 56 Da die verbleibenden potentiellen Kandidaten alle weder auf eine geschlossene Unterstützung der Wirtschaftselite zählen konnten, noch über eine Massenbasis verfügten, schien es von Quiñónez abzuhängen, wer schliesslich die Präsidentschaft erben würde, oder ob er nicht doch im Amt bleiben würde. Letzteres erwies sich als schliesslich als undurchführbar, als die USA deutlich machten, dass sie nur eine verfassungsmässige Regierung anerkennen würden, gemäss den Bestimmungen der Washingtoner Verträge von 1923, die unter Quiñónez' Regierung ratifiziert worden waren. 57 Damit war Alfonso Quiñónez nach 1918 zum zweiten Male an der Übernahme der Präsidentschaft gehindert worden, und zum zweiten Male, wenn auch weniger deutlich als 1918, hatte das Veto der USA dabei eine Rolle gespielt.58 Unter diesen Umständen ging Quiñónez keine Risiken ein: Der als Anwärter auf die Präsidentschaft schon eliminiert geglaubte Vizepräsident und Kriegsminister Pío Romero Bosque wurde zum offiziellen Kandidaten der Regierung für die Präsidentschaft in der Amtsperiode 1927-1931 gewählt und da er als integer und umgänglich galt, war er innerhalb der politisch bestimDas entsprechende Dekret musste in zwei aufeinanderfolgenden Amtsperioden der (jährlich neu gewählten) Nationalversammlung ratifiziert werden, konnte also erst 1927 Rechtskraft erlangen. 55 So sondierte beispielsweise René Keilhauer, ob ein Verbleib Quiñónez' im Amt von den USA unterstützt werden würde, was der Gesandte entschieden verneinte, RDS 816.011/11 Caffery an Kellogg, 8.11.1926; vgl. a. RDS 816.00/588 Caffery an Kellogg, 19.8.1926; RDS 816.00/595 Caffery an Kellogg, 9.1.1926, enclosure: El Salvadoreño. Diese Abstimmung ergab 107'944 JaStimmen (bei einer Auflage der Zeitung von 6'500). Romero Bosque war sowohl bei der Armee, die er als Kriegsminister seit 1919 geleitet hatte, als auch bei der Oberschicht, deren Zentrum das Casino Salvadoreño war, dessen Mitglieder Quiñónez bei seinem Amtsantritt abgelehnt hatten, populär. RDS 816.00/557; Schuyler an Kellogg, 20.3.1925; RDS 816.00/585 Caffery an Kellogg, 14.8.1926. 57 RDS 816.00/598a Kellogg an Legation, 7.12.1926. RDS 816.00/599 Caffery an Kellogg, 8.12.1926. Der amerikanische Gesandte betonte die Rolle der USA: "Of course, the sole reason that he did give up power was that he was unable to secure our approval for his staying on, otherwise, there would have been nothing to stop him", RDS 816.00/615 Caffery an Kellogg, 3.3.1927.

112 menden Schichten unbestritten, zumal seine Wahl politische Kontinuität versprach. 59 Obwohl es nicht zutrifft, dass Romero Bosque ebenfalls mit Alfonso Quiñónez verwandt war, war er doch sein (wirtschaftlich und politisch untergeordneter) pariente político, der politische Schulden abzutragen hatte und erschien deshalb als Marionette des abtretenden Präsidenten. 60 Eine wilde Kandidatur für das Amt des Vizepräsidenten, für das offiziell (und von Quiñónez persönlich) der Finanzminister Gustavo Vides nominiert wurde, durch den ehemaligen Minister Francisco Martínez Suárez zeigte die latente Opposition gegen Quiñónez' Personalismus seitens eines Teils der Wirtschaftseliten, ebenso wie die Dominanz der innenpolitischen Szene durch das Regime: Nachdem Martínez am ersten Tag der Wahl eine beachtliche Anzahl Stimmen erhalten hatte, wurden während der Wahl von der Guardia Nacional 150'000 Landarbeiter an die Urnen geführt, die ihre Stimme für Vides abgaben. 61 Ein Weiterbestehen des politischen Einflusses Quiñónez1 schien mit dieser Nachfolgeregelung auch für die nächsten vier Jahre gesichert und es wurde bereits gemunkelt, dass die "Sphinx von Cuscatlán" 1931 ein weiteres Mal die Präsidentschaft übernehmen würde - wenn nicht schon früher, denn nur wenige Tage nach dem Amtsantritt seines Nachfolgers Hess sich Alfonso Quiñónez Molina von der Nationalversammlung zum primer designado a la presidencia wählen.62 Als wesentlichste Ergebnisse der durch eine stark personal istische Orientierung der Regierungspolitik geprägte Amtszeit Quiñónez' erscheinen auf der politischen Ebene die Einschränkung der politischen Partizipation bei gleichzeitigem Bedeutungszuwachs institutionalisierter Interessen der Mittelund Unterschicht und der Zusammenschluss der vormals divergierenden Fraktionen der Exporteurs- bzw. Landbesitzerschicht zu einer kleinen Oligarchie, wobei Interessensdivergenzen zwischen Pflanzern und Exporteuren grundsätzlich bestehen blieben, aber durch die Hochkonjunktur der Kaffeewirtschaft übertüncht wurden. Die günstige Konjunktur und die durch die Anleihe freigewordenen Geldmittel hatten nicht nur ambitiöse Modernisierungsprojekte erlaubt, sondern durch den weiteren Bedeutungszuwachs der Kaffeewirtschaft wirtschaftlichen Strukturwandel bewirkt, der die Oberklasse zulasten der Unter- und Mittelschichten begünstigte. Folge dieser Entwicklung war u. a., dass der Staat, dessen Funktion zunehmend zentraler wurde, nicht zur 59

RDS 816.00/601 Caffery an Kellogg, 10.12.1926. Wilson (1970: 151) irrt, wenn er schon den Amtsantritt Romero Bosques als Bruch mit der Quinönez-Regierung wertet, was er unter anderem mit der Unterstützung der Arbeiterschaft für Romero schon 1926 belegt, die von oben organisiert und von Quinönez abgesegnet war. Dieser Bruch, der von vielen Forschern (z. B. A n a s Gömez 1980: 35) betont wird, wird von Guidos Vejar 1980: 131f. mit dem Hinweis auf die strukturellen Kontinuitäten der neuen Regierung richtigerweise verneint.. Menjivar (1984: 68) bezeichnet Romero Bosque als "ultimo representante de esta 'dinastia' que termina con ella, pero no con el proyecto". 6 0 Wilson (1970: 104) und (Burns 1987: 170) bezeichnen Romero Bosque irrtümlich als Schwager Quinönez. 61 RDS 816.00/607 Caffery an Kellogg, 14.1.1927. 62 Guidos V6jar 1980: 131.

113 Mittlerinstanz in einer zunehmend komplexeren Gesellschaft wurde, sondern in erster Linie Instrument für die Ressourcenallokation der Elite blieb (durch Steuerverschonung und Finanzierung der infrastrukturellen Modernisierung), wenn auch eine soziale Abfederung versucht wurde, die aber vor allem der Notwendigkeit der Einbindung der nunmehr ebenfalls politisch mobilisierten Unter- und Mittelschichten ins Herrschaftssystem entsprang. Mit der forcierten Modernisierung, dem Fehlschlag der Diversifikation, der Verschuldung und dem Ausbleiben des Aufbaus eines sozialen Netzes wurde nicht nur das schon vordem prekäre Gleichgewicht der Staatsfinanzen zerstört; auch die scheinbar gute Einkommenssituation der Gesellschaft baute auf einem trügerischen Boom aus Kaffee-Exporten und öffentlichen Bauten auf, der doch keinen wirtschaftlichen Strukturwandel in Richtung einer selbsttragenden Entwicklung herbeiführte, sondern fremdfinanziert und konjunkturabhängig war. Staat und private Wirtschaft wandten sich noch mehr als zuvor dem exportorientierten Modell als Basis des nationalen wie des individuellen Einkommens zu. Die wirtschaftliche Bindung an die U S A hatte nicht nur die Stellung nordamerikanischer Unternehmen gestärkt, sondern El Salvador vollständig in die Einflusssphäre der U S A integriert. Damit war eine wirtschaftliche und politische Abhängigkeit des Landes von auswärtigen Faktoren (Weltmarkt und amerikanischer Politik) geschaffen, die sich der Kontrolle durch die politisch bestimmende Gruppe vollständig entzog. Diese blieb dafür im Lande selbst umso enger in den Mechanismen einer "ausschliessenden Demokratie", die keine echte Mitsprache ermöglichte, verfangen. Diese und andere Krisensymptome, die sich aus Modernisierungsfolgen ergaben (Dislokation, steigende Lebenskosten) blieben unsichtbar, solange hohe Erlöse aus dem Kaffee-Export nicht nur die Fortführung der Modernisierung, sondern auch gesicherte Einkommen, Arbeitsplätze und die Bedienung der alarmierend angestiegenen Staatsschuld garantierten. Dies aber hing ausschliesslich von der Nachfrage nach diesem Exportgut in den europäischen und nordamerikanischen Metropolen ab, die, wie die Krise von 1920/1921 gezeigt hatte, keineswegs eine sichere Grundlage für eine ganze Volkswirtschaft bot.

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3.

Reformversuche in der Endphase der Modernisierung: Die ersten Jahre der Administration Pio Romero Bosque, 1927 -1929

Die Regierungszeit Pio Romero Bosques markiert die Ablösung der Herrschaft der politischen Fraktion um die Melendez-Quinönez-Familie • ohne jedoch deren Modernisierungsprojekt in Frage zu stellen. Das Regime Pio Romero Bosques kann einerseits unter dem Aspekt des radikalen Bruchs mit der vorherigen autokratischen Regierung Alfonso Quinönez Molinas betrachtet werden, aber auch als folgerichtige, reformorientierte Weiterführung der besonders unter Quinönez sichtbaren Anstrengungen der dominanten politischen Gruppe, nicht nur die Wirtschaft, sondern auch die politische und soziale Struktur der Republik zu erneuern. 1 Diese Kontinuität und der parallele persönliche Bruch mit der MelendezQuinönez-Clicque, dazu die eher zaghaften sozialen und besonders im elektoralen Bereich bedeutsamen Reformen Romero Bosques lassen seine Herrschaft zugleich als Endphase der oligarchischen Modernisierung seit 1919 erscheinen und als Anfangszeit einer neuen politischen Ära, die nur kurze Zeit dauern sollte. Bei der Darstellung der Regierungszeit Romero Bosques in der Literatur ist dabei jedoch die chronologische Abfolge zuwenig berücksichtigt worden: Die Konjunkturabschwächung bei der Kaffeeproduktion schon im Vorfeld der Weltwirtschaftskrise, die ab Anfang 1929 spürbar wurde, lässt diese Periode als zweigeteilt erscheinen, wobei in einer ersten Phase zwar eine persönliche Loslösung Romero Bosques von seinem Vorgänger, nicht aber von der Oligarchie festgestellt werden kann, und sich die liberale Haltung des Regimes vor allem für die Urbanen Schichten auswirkte: Disziplinierung des Militärs, selektiver Einsatz des Kriegsrechts und absolute elektorale Unfreiheit in diesem Zeitraum machen deutlich, dass die Herrschaftssicherung der Elite zu diesem Zeitpunkt auch für die Regierung Romero Bosque Priorität hatte, wenn das Regime auch versuchte, sozialer Mobilisierung durch Erlaubnis institutioneller Organisation gesellschaftlicher Interessen einen Rahmen zu geben und Zugeständnisse an die politisch artikulierte Mittelklasse machte, sichtbar etwa in der Aufhebung des Belagerungszustandes (estado de sitio), die zunächst diesen Gruppen nicht politische Mitbestimmung, sondern lediglich Artikulationsmöglichkeiten bot. ' Den Bruch betonen Burns (1987: 170) und Arias Gómez (1980: 35), der von einer "gestión tanto diferente a la del régimen 'dinástico' de los Meléndez" spricht, sich dabei aber v. a. auf die elektoralen Reformen und die Arbeitsgesetzgebung bezieht, ebenso Paredes 1930. Das oft (und falsch, als La padre de la democracia, Wilson 1970: 280; Landers 1985: Bibliografie) zitierte Werk von Andino (1931) betont die Charakterschwächen Romero Bosque und die Korruption des Regimes, ist also keineswegs eine positive Darstellung, wie Grieb (1988: Abschnitt El Salvador, Eintrag Nr. 22) behauptet. Die Kontinuität der oligarchischen Herrschaft bei geänderten Methoden betonen vor allem marxistisch orientierte Autoren, Guidos Véjar 1980: 131, 138f.; Marroquin 1977: 146, Menjivar 1979: 42; 1984: 68f. und Zamosc 1989: 67f.

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Die in dieser Zeit erfolgende Reform der Arbeitsgesetzgebung war eine Folge der Modernisierung und ebenfalls eine Konzession an die Urbanen Schichten, sie bot wegen der gesamtwirtschaftlichen Prosperität auch den besitzenden Klassen keinen Anlass zu Opposition. In dieser Phase der endgültigen Herausbildung einer nationalen "Zivilgesellschaft" mit institutionalisierten Interessen der einzelnen Gruppen, die im Rahmen der nationalen Politik vorgetragen wurden, erfüllte der Staat damit die schon von Carlos Melendez postulierte Vermittler- und Lenkungsfunktion - zunächst, ohne seine Legitimierung durch Gewährung demokratischer Freiheiten im Sinne von Wahlen zu verbessern. Diese Entwicklung wurde durch die Weltwirtschaftskrise, die die zweite Hälfte von Romero Bosques Amtszeit prägte, beschleunigt und zugleich gefährdet. Während die Erwartungshaltung der verschiedenen Interessengruppen an den Staat wuchs, hatte dieser nicht mehr die Mittel, sie zufriedenzustellen, zumal die Rezession auch die private wirtschafts- und sozialpolitische Initiative lähmte. Die fiskalischen Sünden der Modernisierungsperiode wurden nun sichtbar in Kapitalknappheit beim Staat, die Austeritätspolitik zur Folge hatte, und die Begrenztheit des Reformprojekts Romero Bosques zeigte sich deutlich: die Urbanen Schichten erreichten zwar nach 1929 weitgehende elektorale Freiheit und damit politische Partizipation; auf dem Lande jedoch blieb die Artikulation politischer und sozialer Forderungen eingeschränkt, wie die kontinuierliche Repression gegen die ländliche Gewerkschaftsbewegung und die mit ihr verbundene Kommunistische Partei deutlich zeigte. Ihre Unterdrückung und die durch die freie Präsidentschaftswahl von 1931 verwirklichte demokratische Öffnung, die Interessenvertretung durch das Prinzip des "one man, one vote" über die bisher übliche Kooptation stellten, die Kontinuität garantiert hatte, zeigte die Einsicht in die Unmöglichkeit, die "ausschliessende Demokratie" früherer Jahre weiterzuführen ebenso wie den Willen der Eliten, radikalen politischen Wandel zu verhindern. Die im Zuge der Modernisierung angewachsenen innergesellschaftlichen Spannungen mussten sich in dieser Situation jedoch Bahn brechen, wenn durch die Nichterfüllung sozialer und politischer Versprechungen seitens des Staates die Legitimität einer Regierung verlorenging, die nun zu dem neuen Beurteilungsprinzip staatlicher Herrschaft werden sollte. Damit war - unabhängig von gesamtwirtschaftlichen Rahmenbedingungen - ein systemimmanentes Element der Destabilisierung ins Herrschaftssystem eingeführt worden. Beim Amtsantritt Romero Bosques deutete nichts auf die besondere Bedeutung hin, die seine Amtszeit im Kontext der Modernisierungsperiode erhalten sollte. Nachdem Alfonso Quinönez Molina eingesehen hatte, dass er seine co/m'/iwismo-Bestrebungen zumindest würde vertagen müssen, förderte er wie beschrieben die Kandidatur Pio Romero Bosques, der seit langem sein politischer Weggefährte und an wirtschaftlicher Macht und politischem Einfluss klar untergeordneter Gefolgsmann gewesen war. Pio Romero Bosque (18601935) war Anwalt und ein bedeutender Viehzüchter, in vorangegangenen

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Jahren jedoch v. a. als Mitglied verschiedener Regierungen hervorgetreten, ein treuer politischer Alliierter des abtretenden Präsidenten. 2 Sein erstes wichtiges Regierungsamt hatte er als subsecretario (Staatssekretär) im Innenministerium 1903 in der Administration Pedro Escalóns innegehabt, seither hatte er verschiedene Staatsämter bekleidet, wobei besonders die Tatsache, dass er 1914/15 und 1919-1927 Kriegsminister gewesen war, bedeutsam ist. 3 Die Machtübergabe erfolgte ohne Probleme, nachdem Romero Bosque vom Partido Nacional Democrático auf Vorschlag Quiñónez' einstimmig nominiert worden war. Von der noch von ihm selbst zusammengestellten Nationalversammlung wurde Quiñónez im März zum primer designado gewählt und alle Anzeichen sprachen dafür, dass er sobald wie möglich an die Staatsspitze zurückzukehren gedachte, zumal die Nationalversammlung das hängige Projekt einer Verfassungsreform, die zumindest teilweise auf seine Wiederwahl zielte, erneut bekräftigte. 4 Doch kurze Zeit nach der Amtseinführung der neuen Regierung wandelte sich das Bild. Pío Romero Bosque hatte die Regierung unter recht ungünstigen Bedingungen übernehmen müssen, hatte ihm sein Vorgänger ausser angefangenen Bauprojekten mit dem erhöhten Schuldendienst der kommenden Jahre eine gewaltige Hypothek hinterlassen und durch Kumulation von Lohnrückständen der Staatsangestellten gegen Ende seiner Amtszeit dafür gesorgt, dass sich seine eigene Amtsführung von der seines Nachfolgers zunächst vorteilhaft abheben musste. Die folgenden Jahre würden folgerichtig durch einen Kontrast zwischen an sich guter wirtschaftlicher Konjunktur und dem pre-

2 Der amerikanische Gesandte schrieb dem neuen Präsidenten zunächst "no superfluous amount of backbone" zu, RDS 816.00/615 Caffeiy an Kellogg, 3.3.1927; White 1973: 94; Carriere (1993) schreibt: "By the mid-1920s, the clans had become so confident of their ability to manage the system to the benefit of the landed class without having to resort to autocratic measures that they sponsored a presidential candidate who had reformist pretentions and harboured views which created a sense of unease among certain sections of the ruling class." Die ist vollkommen unrichtig, hatte doch Romero Bosque mit Ausnahme einer antiamerikanischen Äusserung 1912 (die damals keineswegs inopportun wirkte) nicht ein einziges Mal der offiziellen Linie Zuwiderlaufendes geäussert und seine späteren rhetorischen Bezüge auf demokratische Freiheiten sprengten keineswegs den Rahmen des Üblichen. Der Verzicht auf repressive Massnahmen kann ernsthaft weder Quiñónez noch Romero Bosque zugeschrieben werden, vgl. die Darstellung der Repression gegen die Landarbeiterschaft in Kap. IV, 2. * AGN-CL, Pío Romero Bosque; Paredes 1930: 15; Albúm Patriótico 1915: 9; Bulmer-Thomas 1987: 44. Während Parada (1955-1975, Bd. 2: 32) Romero Bosques Selbstbeschreibung als "Hombre de leyes, conocedor de sus alcances" widergibt, bezeichnet ihn Andino (1931: 5, 115) als "insoportable megalómano" und schreibt ihm eine "actitud felina" zu. 4 RDS 816.032/51 Caffery an Kellogg, 4.3.1927; RDS 816.00/624 Caffery an Kellogg, 30.3.1927; RDS 816.00/629 Caffery an Kellogg, 26.4.1927. Die Verfassungsreform sah eine Neuformulierung der Artikel 80-93 vor, die u. a. die Wiederwahl betrafen, obwohl diese Artikel laut der Verfassung von 1886 nicht abgeändert werden durften, RDS 816.00/635 Caffery an Kellogg, 3.5.1927; Diario Oficial, 7.7.1926. Uriarte 1929: 29; Paredes 1930: 201; Parada 19551975: Bd. 2,34f. Das Projekt versandete nach dem Abgang Quiñónez' von der politischen Bühne, Diario del Salvador, 30.7.1927. Parada (1955-1975: Bd. 2, 34) schreibt, dass Quiñónez die Wahl nicht angenommen habe und wenige Tage später nach Paris gereist sei, was von den Quellen widerlegt wird.

117 kären Zustand der Staatsfinanzen gekennzeichnet bleiben. 5 Romero Bosque, der seine eigene politische Basis v. a. in der Armee hatte (er war als einziger salvadorianischer Politiker seit Anfang des 20. Jahrhunderts zwei volle Amtszeiten lang Kriegsminister gewesen), versuchte in dieser Situation, in erster Linie die staatlichen Lohnabhängigen zufriedenzustellen und ausserdem einen Regierungsstil zu finden, der sich vom Autokratismus Quinönez' abhob, von dem er sich entgegen seiner Versprechungen und zum Erstaunen aller, die in ihm wie der US-Gesandte in erster Linie einen "exceedingly amiable, courteous old gentleman" gesehen hatten, rasch distanzierte. 6 Der neue Präsident entliess zunächst Quinönez' Kabinett und den Polizeichef. Nach Protestdemonstrationen der Studentenschaft gegen die Fortführung diktatorischer Herrschaft votierte die Asamblea Nacional am 14.5.1927 für die Aufhebung des Kriegsrechts, und Romero Bosque sanktionierte diesen Schritt, wohl v. a. zur Steigerung seiner eigenen Popularität. 7 Er nahm in Kauf, dass damit eine Erhöhung der politischen Unrast im Lande verbunden war, die sich nun unter freiheitlicheren Rahmenbedingungen Bahn brach. 8 Die Stimmung wandte sich rasch gegen die eben abgetretene Regierung Quinönez, was Romero Bosque nur recht sein konnte, der damit seine eigene politische Stellung verbesserte, und geriet zu einer eigentlichen befreienden Abrechnung, die auch anti-imperialistische Untertöne hatte und sich gegen die USA als Stütze der vorherigen Regierung richtete. 9 Die Wahl Quinönez zum primer designado wurde angefochten und als Romero Bosque in dieser Sache seine Sympathie auf die Seiten der Opposition stellte, war der Bruch innerhalb der

5 RDS 816.00/615 Caffery an Kellogg, 3.3.1927: "Dr. Romero Bosque is taking office with the Treasury practically empty, considerable arrears of salary due Government employees, several hundred thousand dollars of debt conracted with local banks, and economic conditions in the country at low ebb." Im Oktober 1927 schätzte man, dass die Lohnriickstände der staatlichen Angestellten bis Ende 1927 auf S'750'000 e anwachsen würden, die interne Schuld betrug zu diesem Zeitpunkt 6'394'597e, die Auslandsschuld 42'670'634e, Memoria Hacienda 1927. 6 RDS 816.00/615 Caffery an Kellogg, 3.3.1927; RDS 816.00/625 Caffery an Kellogg, 5.4.1927. Der amerikanische Gesandte merkte an, dass ohne den Schutz durch die zentralamerikanischen Verträge von 1923 ein Putsch unvermeidlich gewesen wäre . 7 RDS 816.105/- Caffery an Kellogg, 9.3.1927; RDS 816.00/617 Caffery an Kellogg, 5.3.1927; RDS 816.00/626 Caffery an Kellogg, 14.4.1927; RDS 816.00/628 Caffery an Kellogg, 14.5.1927; RDS 816.002/52 Caffery an Kellogg,7.6.1927; Paredes 1930: 196; Parada 19551975: Bd. 2, 35. 8 Paredes (1930: 196) beklagt v. a. den "Missbrauch" der Pressefreiheit. Figeac (1947: 238f.) sieht die Pressefreiheit implizit erst Ende 1928 verwirklicht, als der estado de sitio endgültig aufaehoben wurde. RDS 816.00/633 Caffery an Kellogg, 21.5.1927, RDS 816.00/645 Caffery an Kellogg, 7.7.1927, enclosure, El Grito de la Raza. Die Opposition sowohl gegen Quinönez, den nordamerikanischen Imperialismus und weniger bedeutsame Misstände wie eine ihrer Meinung nach unzweckmässige Linienführung der im Bau befindlichen Eisenbahn wurde von den Studierenden in mehreren walk-ins in der Asamblea Nacional vorgebracht, wobei sie im letztgenannten Fall durch regionale Interessenverteter angestiftet worden waren, RDS 816.00/644 Caffery an Kellogg, 28.6.1927. Dies zeigt, wie sich nach dem Ende des Belagerungszustands die Forderung nach politischer Mitsprache auf eine Weise Bahn brach, die noch wenige Monate zuvor undenkbar gewesen wäre.

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herrschenden Clicque perfekt. 1 0 Zwar beschwichtigte der Präsident die aufgebrachten Abgeordneten der Nationalversammlung, die sich weigerten, Quinönez abzusetzen und sich offen gegen Romero Bosque wandten. 11 Es gelang dem neuen Präsidenten schliesslich jedoch ohne grössere Mühe, Quinönez als Sonderbotschafter der Regierung auf eine Auslandsreise zu schicken, von der er erst Jahre nach dem Ende der Amtszeit Romero Bosques zurückkehrte. 1 2 Damit war die Entmachtung der Politikergruppe um die MelendezQuinönez-Familien nur wenige Monate nach dem Rücktritt Quinönez' vollzogen, was auf die Fragilität dieser scheinbar so gut verankerten oligarchischen Regierungen verweist. Ein Grund für diese reibungslose Ablösung der alten Garde, die auch Säuberungen der Administration beinhaltete, war unter anderem die Tatsache, dass unter den Bestimmungen der Washingtoner Verträge von 1923 kein Putschist würde mit der Unterstützung der USA rechnen können, wie auch der amerikanische Gesandte auf verhüllte Anfragen potentieller Revolutionäre aus dem Umfeld der entmachteten Politiker hin immer wieder deutlich machte. Damit war offener Widerstand gegen die neue Regierung von vorneherein aussichtslos. 13 So war der einzige militante Versuch, eine politische Restauration herbeizuführen, von Beginn an zum Scheitern verurteilt, wenn auch das Vorkommnis als solches und als Indiz für die intra-oligarchischen Konflikte an sich bedeutsam bleibt: Ein Militärputsch am 6.12.1927, der erste gewalttätige Umsturzversuch seit 1922, bewies, dass die Legitimität der Regierung von der Armee insgesamt vorläufig nicht angezweifelt wurde. Obwohl mehrere hohe Offiziere in den Putschversuch verwickelt waren, blieb die grosse Mehrheit des Korps trotz ihrer Verbindung zu den Regimen der "Dynastie" loyal und der Putsch scheiterte kläglich. 14 Die beiden Hauptverantwortlichen, Oberst 10 RDS 816.032/53 Caffery an Kellogg, 6.6.1927; RDS 816.032/54 Caffery an Kellogg,7.6.1927; RDS 816.032/56 Caffery an Kellogg, 13.6.1927; Diario Latino 9.6.1927; La Prensa, 11.6.1927; RDS 816.00/646 Caffery an Kellogg, 16.7.1927. Nach den Rücktrittsforderungen und Romero Bosques Sympathieerklärungen traten der Präsident der Nationalversammlung und 11 Deputierte zurück, machten diesen Schritt allerdings kurz danach wieder rückgängig. Nach dem Rücktritt Quinönez' als primer designado wurde Alberto Gömez Zârate sein Nachfolger, so dass der Quinönez-Anhänger Vides, der Vizepräsident, zwischen zwei romeristas stand. Vides zeigte keine Neigung, die Präsidentschaft zu übernehmen, die ihm bei einem Putsch verfassungsmässig zugefallen wäre, die er aber gemäss den Bestimmungen der Washingtoner Verträge nicht würde antreten können, RDS 816.00/652 Caffery an Kellogg 29.7.1927; Vides reiste ins Ausland und trat damit faktisch zurück, nachdem verhüllte Anfragen Uber eine etwaige Anerkennung einer revolutionären Regierung durch die USA seitens des US-Gesandten entschieden zurückgewiesen worden waren, RDS 816.00/657 Dickson an Kellogg, 3.11.1927; Uriarte 1929: 30. 11 Die Asamblea war noch unter der Regierung Quinönez gewählt worden und bestand aus Gefolgsleuten des ehemaligen Staatschefs. 12 RDS 816.032/64 Caffery an Kellogg, 24.6.1927; El Dia, 27.6.1927; RDS 816.00/ 646 Caffery an Kellogg, 16.7.1927; Uriarte 1929: 30. Quinönez wurde zum comisionado especial ernannt und seine Reisekosten wurden vom Staat beglichen, wogegen die Studentenschaft energisch protestierte, Opinion Estudiantil, 9.7.1927. 13 RDS 816.00/657 Dickson an Kellogg, 3.11.1927. 14 RDS 816.00/665 Dickson an Kellogg, 6.12.1927; RDS 816.00/667 Dickson an Kellogg, 7.12.1927; RDS 816.00/670 Dickson an Kellogg, 9.12.1927; Bustamante Maceo 1951: 104.

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Juan A b e r l e und Major M a n u e l N o g u e r a , w u r d e n s c h o n a m T a g nach d e m Putschversuch nach kurzem Kriegsgericht füsiliert, der e h e m a l i g e P o l i z e i c h e f Kreitz, der e b e n f a l l s involviert war, w u r d e durch e i n e Haftstrafe diszipliniert, und der Drahtzieher d e s P u t s c h v e r s u c h s , Ex-Präsident J o r g e M e l e n d e z , f l o h nach Honduras, w o er kurze Zeit später verhaftet w u r d e . 1 5 D u r c h d i e e r f o l g r e i c h B e w ä l t i g u n g d i e s e r Krise w u r d e d i e S t e l l u n g R o m e r o B o s q u e s in h o h e m M a s s e gestärkt, auch w e i l (und d i e s widerspricht der o f t geäusserten A n s i c h t der Liberalität der R e g i e r u n g R o m e r o B o s q u e ) der B e l a g e r u n g s z u s t a n d erneut verhängt und b i s z u m 2 8 . 2 . 1 9 2 9 aufrechterhalten wurde. Durch d i e Tatsache, d a s s s e i n e b e i d e n V o r g ä n g e r auf recht unrühmliche Art und W e i s e v o n der politischen B ü h n e v e r s c h w u n d e n waren, konnte sich der n e u e Präsident e i n e e i g e n e Identität als Staats- und R e g i e r u n g s c h e f schaffen, d i e e s ihm erlaubte, d e n Bruch mit der V e r g a n g e n h e i t zumindest in personeller Hinsicht rasch z u v o l l z i e h e n , deutlich etwa durch personelle U m b e setzungen innerhalb d e s Staatsapparates. 1 6 In der W i r t s c h a f t s - und S o z i a l p o l i t i k z e i g t e d i e R e g i e r u n g R o m e r o B o s q u e Kontinuität zu ihren V o r g ä n g e r i n n e n . D i e V o l l e n d u n g ö f f e n t l i c h e r Bauten verlangsamte sich, in erster Linie, w e i l nach den e x z e s s i v e n A u s g a b e n unter Q u i n ö n e z und i n f o l g e steigendem Schuldendienst w e n i g e r Mittel zu VerParada (1955-1975, Bd. 2: 35f.) nennt ausser Jorge Meléndez den abgesetzten Polizeichef Kreitz als weiteren Hintermann. White 1973: 94; Paredes 1930: 196f. Die von Guidos Véjar (1980: 131) angenommene geistige Urheberschaft Quinönez' ist nicht bewiesen und hatte auf keinen Fall seine Exiliening zur Folge. Parada (1955-1975: Bd 2,30) nennt als Beteiligte am Putsch auch politische Gegner Quinönez'. 15 RDS 816.00/669 Dickson an Kellogg, 7.12.1927; RDS 816.00/678 Dickson an Kellogg, 8.12.1927; RDS 816.00/687 Summerlin an Kellogg, 30.12.1927; Bustamante Maceo 1951: 105; Parada (1955-1975 Bd 2: 35f.) nennt als Fluchtziel Jorge Meléndez' Costa Rica, vgl. a. RDS 816.00/690 und folgende. Die Hinrichtungen wurden angesichts der Tatsache, dass Juan Aberle einer der wenigen Offiziere aus der Oberschicht war und ausserdem der Sohn des Komponisten der salvadorianischen Nationalhymne (RDS 816.159/- Beeche an Hughes, 27.6.1922, enclosure: Blatt El Himno Nacional, o.O. o. D.) von diesen Kreisen als Affront des Präsidenten gewertet. Tatsächlich sicherte sich Romero Bosque im Kabinett auch Einfluss, indem sein Sohn Pio Romero Bosque h. ("Piito") Unterstaatssekretär im Kriegsministerium und später Kriegsminister a. i. wurde. Ende 1927, nach der Ersetzung des Finanzministers Gallardo durch José Suay und die Eliminiemng des Vizepräsidenten Vides wurde das Kabinett relativ straff geführt und war offensichtlich frei von Querelen, sieht man von der Isolation des Innenministers Mendoza wegen seiner populistischen Annäherung an die Unterschichten im Hinblick auf den Aufbau einer politischen Basis ab, RDS 816.00/689 Dickson an Kellogg, 24.12.1927. Der Versuch von Gegnern des Präsidenten, den Aussenminister Guerrero zum primer designado für 1928 küren zu lassenund als Gegengewicht zum Präsidenten innerhalb des Kabinetts aufzubauen, scheiterte und Guerrero, der zugleich als anti-amerikanische Kontrastfigur zum US-freundlichen Präsidenten aufgebaut werden sollte, musste nach unvorsichtigen Äusserungen auf der Panamerikanischen Konferenz in Havanna 1928 zurücktreten, RDS 816.00/ 703 Caffery an Kellogg, 2.2.1928; RDS 816.00/704 Caffery an Kellogg, 21.2.1928; RDS 816.00/708 Caffery an Kellogg, 14.2.1928, Diario del Salvador, 24.2.1928; RDS 816.00/754 Caffery an Kellogg, 21.6.1927; RDS 816.002/89 Caffery an Kellogg, 30.1.1928; RDS 816.002/98 Caffery an Kellogg, 19.5.1928. Guerrero wurde nach dem Eklat der Konferenz von der Oberschicht geächtet, erhielt aber zahlreiche Sympathiebezeugungen seitens der Mittel- und Unterklasse und ihrer Organisationen. Sein Nachfolger wurde zunächst Enrique Cördova, der aber das Amt nicht antrat und schliesslich Francisco Martinez Suärez, der das Amt schon unter Carlos Meléndez und Alfonso Quinönez (1914 und 1918) innegehabt hatte, RDS 816.002/104 Caffery an Kellogg, 18.4.1928.

120 fügung standen. 1 7 Die Ausgaben für öffentliche Gesundheit und Bildung blieben auch unter Romero Bosque im Rahmen des bis anhin Üblichen. Die Förderung der Exportlandwirtschaft wurde zunächst unter Leitung eines eifrigen Unterstaatssekretärs energisch vorangetrieben und mit Manifestationen des Interventionswillens des Zentralstaates anlässlich zahlreicher Inspektionsreisen durch die Republik verbunden. 18 Die unter Quinönez begonnenen Diversifizierungsversuche in der Exportlandwirtschaft galten endgültig als gescheitert, wenn auch die Grundnahrungsmittelproduktion durch Steuererleichterungen unterstützt wurde. 1 9 Industrialisierung blieb auf kurzfristig realisierbare Projekte beschränkt, die durch die personellen Überschneidungen von privaten und staatlichen Beteiligten gekennzeichnet waren. 20 Ein wichtiges Problem im Rahmen der politischen Orientierung und der Reichweite staatlichen Wirkens, das sich schon 1928 mit aller Deutlichkeit offenbarte, war, dass der Staatshaushalt angesichts der steigenden Aufgaben des Staates und der bestehenden Überschuldung nicht mehr im Gleichgewicht gehalten werden konnte. Es kam zu der paradoxen Situation, dass der Staat in einer geradezu überhitzten Konjunktur am Rande des Bankrotts stand und sich dabei immer neuen Forderungen nach Intervention in immer neuen wirt17 RDS 816.154/37 Caffery an Kellogg, 9.6.1927. Schon zu diesem frühen Zeitpunkt wurde klar, dass die Regierung Quiñónez' die freien Mittel der Anleihe von 1922 bereits verbraucht und zusätzliche Kredite aufgenommen hatte, um nur die zentralen Projekte fertigzustellen, RDS 816.154/44 Caffery an Kellogg, 20.1.1928; RDS 816.154/45 Caffery an Kellogg, 21.1.1928. Zu diesem Zeitpunkt grassierte offensichtlich bereits die Angst vor mit der Einstellung der Arbeiten einhergehendem Personalabbau, RDS 816.154/49 Wilkinson an Kellogg, 22.5.1928. Die Lohnsumme für den Bau der Überlandstrassen allein betrug 1928 228778 US$, RDS 816.154/54 de Lambert an Kellogg, 21.1.1929. Mit dem Geldmangel trat auch der Propagandaeffekt des Strassenbauprogramms in den Hintergrund und diese Projekte wurden nicht mehr wie unter Quiñónez mit der nationalen Anstrengung für den Fortschritt in eins gesetzt, RDS 816.154/51 1/2 Wilkinson an Kellogg, 11.8.1928. Es ist auffällig, dass auch die Strassenbauprojekten auf eine Erschliessung der westlichen Departemente zielten, wo die Expansion der Kaffeeländereien in den vergangenen Jahren am schnellsten fortgeschritten war, dagegen verfügte z. B. die wichtige Kaffeestadt San Miguel noch 1929 über keine gute Strassenverbindung mit der Hauptstadt San Salvador, RDS 816.154/57 Robbins an Stimson, 21.6.1929. Zwar wurden ambitiöse Bauprojekte erwogen, etwa der Bau von sieben Überlandstrassen Richtung Honduras und städtische Bauten mit Kosten von 5 Mio US$, nicht zuletzt auch, weil ein Hauptgläubiger der Regierung, Benjamin Bloom, und ein bekannter Wirtschaftsanwalt, der spätere Präsidentschaftskandidat Enrique Córdova, Präsident bzw. Mitglied der Junta de Fomento des Departements San Salvador wurden und dem Präsidenten diese Projekte als Monumente für die Grösse seines Staatsmannstums suggerierten, RDS 816.15/17, Dickson an Kellogg, 22.8.1928; RDS 816.15/18 Dickson an Kellogg, 8.9.1928; RDS 816.151/4 Dickson an Kellogg, 23.8.1928.

18 Paredes 1930: 311-317. Der zuständige Funktionär, Gabino Mata h., war selbst Kaffeepflanzer. Primäres Resultat dieser viajes de buena voluntad war die Gründung von 13 juntas agrícolas in allen Departementen (ausser San Salvador), die mit dem Ministerio de Agricultura zusammenarbeiten sollten; die Kosten dieser Reisen, die vor allem dem Gedankenaustausch mit den führenden Kaffeepflanzern dienten, riefen Opposition in der Presse hervor. Auch der Präsident selbst unternahm solche Inspektionsreisen, z. B. 1928 in die Kaffeegebiete Usulutáns, RDS 816.001B65/ 10 de Lambert an Kellogg, 31.12.1928. Schon am 2.12.1927 wurde das selbständige Ressort Landwirtschaft geschlossen und der Bereich wieder dem Ressort Fomento (im Ministerium Gobernación y Fomento) zugewiesen, RDS 816.002/77, Dickson an Kellogg). 19

White 1973: 97. Vgl. z. B. Compañía Fábrica de Tejidos de San Salvador 1928 (Aktionärsverzeichnis).

121

schaftlichen und gesellschaftlichen Bereichen gegenüber sah. 21 Allein im Jahre 1927 wurden bei ausländischen Banken aufgrund von Zahlungsschwierigkeiten kurzfristige Kredite im Umfang von 1'546'562 0 ' - C M c o - < ? m c £ > r ^ c o a > o

T-*-T-T-T-t~»-r-f-t-CVJC\JCMCJCSlCNJC\lCVJCMOJCO O) Ol O) Ol Ol Quelle: Anuario Estadístico; Wilson 1970: 285.

TERMS OFTRADE/ENTWICKLUNG DER KAFFEEPREISE, 1 9 1 0 - 1 9 3 0 BZW. 1920193015

Quelle: Wallich/Adler 1951: 30, 202; RDS 816.00-Vida Salvadorena/1; Bulmer-Thomas 1984: 286. Terms of Trade Index mit Faktor 0.1 multipliziert, um die Anschaulichkeit der Darstellung zu verbessern. Terms of Trade entsprechend dem Verhältnis von Exportpreis zu Importpreisen, für El Salvador ist damit in erster Linie der Kaffeepreis massgebend, Instituto de Estudios Económicos 1958: 46; Bulmer-Thomas 1984: 286. Importpreise gemäss engros-Durchschnittspreis für alle Güter ausser Nahrungsmitteln in den USA, der für die salvadorianischen Importe in den Zwanzigeijahren am repräsentativsten ist, Wallich/Adler 1951: 30.

141 Es ist wichtig, festzuhalten, dass die Kaffeeproduktion trotz ihrer binnenwirtschaftlichen Bedeutung beinahe vollständig von exogenen Faktoren abhing. El Salvador war zwar keineswegs, wie oft behauptet, ein Land, das den "monocultivo del café" praktizierte, wohl aber ein "país monoexportador". 16 Dieser Zustand, der häufig dem Wirken der Regierungen der Meléndez-Quiñónez"Dynastie" zugeschrieben wird und wie gesagt besonders in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg zum Tragen kam, bedeutete in der Praxis folgendes: El Salvador bot ein Gut, von dessen Verkauf ein grosser Teil des Nationaleinkommens abhing, auf einem Markt an, auf dem es einen Anteil von ca. 3% hielt und wo es starker Konkurrenz ausgesetzt war. 1 7 Ungeschützt durch internationale Vereinbarungen oder Quotenregelungen musste es gegen bedeutend grössere Konkurrenten (etwa Brasilien und Kolumbien) antreten. 18 Trotz der Qualität des salvadorianischen Kaffees bedeutete dies ständigen Kampf um die Erschliessung neuer Märkte und das Halten einmal erreichter Positionen. Angesichts der einseitigen Abhängigkeit ist erklärlich, dass das Angebot rigide war, zumindest bei Weltmarktpreisen über dem Selbstkostenniveau, d. h. dass die Produktion aufrechterhalten wurde und relativ nachfrageunabhängig blieb. 1 9 Diese Tatsache hatte sich in der Krise des Jahres 1920 schmerzhaft gezeigt, als keine heterodoxe Reaktion auf den Preisverfall möglich war und viele spekulative Investitionen in die Kaffeewirtschaft verlorengingen. Die Kaffeewirtschaft als solche war somit in ihren Grundlagen äusserst krisenanfällig bzw. nur in der Lage, auf kurze Krisen durch orthodoxe Massnahmen zu reagieren, wie 1920/21, eine Tatsache, die durch die hohen Weltmarktpreise in der folgenden Periode verschleiert wurde. Die Krisenanfälligkeit der salvadorianischen Kaffeewirtschaft erklärt sich aus ihren weiteren Strukturelementen, deren Defekte sich während der Periode 1919-1929, der zentralen Periode der Modernisierung weiter verschärften. Die Ausgangssituation für die Expansion der Kaffeewirtschaft in den Zwanzigerjahren war eine vor dem Ersten Weltkrieg bereits bestehende weitgehende Ausrichtung der gesamtwirtschaftlichen Struktur auf Produktion und Export von Kaffee, sie schloss eine Oligopolisierung der Verarbeitung und des Exports ebenso ein wie die Kontrolle der Finanzierung durch wenige Kapitalgeber und ein vorhandenes Angebot an Arbeitskräften, das die Produktion und Verarbeitung auch in saisonalen Spitzenzeiten weitgehend sicherstellte. 20

Diese Charakterisierung findet sich z. B. bei Cardoso/Pérez Brignoli 1977: 273; Flores Macal 1983: 71; Cáceres Prendes 1988: 39. Auch Wilson (1970: 132) spricht richtig von der "dependence on a single crop", meint damit aber die gesamtwirtschaftliche Dynamik. Instituto de Estudios Económicos (1958: 10) und Choussy (1934: 4f.) zur Differenzierung der beiden Begriffe. Instituto de Estudios Económicos 1958: 4.; Zamosc 1989: 63. Wilson (1970: 46) hält fest, dass Brasilien auch durch niedrigere Frachtkosten bei der Vrschiffung nach Europa begünstigt war. 19 Instituto de Estudios Económicos 1958: 4,8; Wilson 1970: 42. 20 Vgl. hierzu Kap. III.I.A., C., D..

142

Der erste Punkt berührte auch die Produktion. Die Privatisierung der ejidos seit dem letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts hatte zum Aufbau einer Kaffeelandwirtschaft geführt, die durch eine heterogene Struktur gekennzeichnet war. Neben Kleinbauern, die neben der Subsistenzlandwirtschaft noch Kaffee anbauten, hatten sich schon zu diesem Zeitpunkt riesige Ländereien gebildet, während der mittlere Landbesitz bis in die Zwanzigeijahre einen zentralen Teil einer viablen Wirtschaftsform bildete. Charakteristisch war bis zu diesem Zeitpunkt die Trennung von Produktion und Vermarktung: Die Kaffee-Erlöse der Klein- und Mittelbauern genügten nicht für eine Reinvestition in Verarbeitungsbetriebe, ebenso wurden von vielen grösseren finqueros Gewinne nicht im Inland investiert, sondern im Ausland. 21 Zahlreiche beneficios zur Kaffeeverarbeitung standen schon zu Anfang der Zwanzigerjahre im Einsatz, aufgebaut durch die innovative Fraktion der Kaffeepflanzer, die zu diesem Zeitpunkt auch die politische Macht zu monopolisieren begann und sich deutlich von der landbesitzenden Kaffee-Elite absetzte. 22 Ein beträchtlicher Teil des salvadorianischen Kaffees (40%, noch 1938 waren es 31%) wurde "sin lavar", d. h. getrocknet, aber ungewaschen und ungeschält, exportiert und zu diesem Zeitpunkt noch häufig von Exporteuren aufgekauft, die selber kein Kaffeeland besassen (vgl. die nachstehenden Aufstellungen).23 Hierdurch entging der Kaffeewirtschaft im Inland ein beträchtlicher Gewinn und substantielle Kapitalakkumulation fand v. a. auf der Seite der Exporteure statt. Diese kauften in den Zwanzigerjahren den Produzenten den Kaffee zu Preisen von 6-10 US$ pro quintal ab und erzielten Erlöse von 20-26 US$ f.o.b., was die Gewinnmarge in etwa deutlich macht. 24 Vor Beginn der Zwanzigerjahre blieben Exportsteuern niedrig und wurden ausserdem nicht ad valorem, sondern nach Gewicht erhoben, so dass hier substantielle Kapitalakkumulation stattfand: Die Exportsteuern betrugen bis 1916 ca 0.86 US$ pro quintal exportierten Kaffees. 25 Ab 1917 betrug die Steuer 2 US$ pro 100kg (entspricht ca. 0.9 US$/q), sie wurde 1923 um 50 cents (d.h. auf 1.15 US$) erhöht, im Gegenzug wurden Kaffeepflanzer von der Einkommenssteuer befreit. 1928 wurde die Steuer noch einmal um 75 US-cents pro 100 kg erhöht, was die totale Steuerbelastung auf 1.5

Instituto de Estudios Económicos 1958: 13. Lauria Santiago 1992: passim zum Entwicklungsgrad der Exportwirtschaft. 23 Wilson 1970: 40; Asociación Cafetalera 1940. 24 Wilson 1970: 132. Die Behauptung von Russell (1984: 28), die Exporteure hätten den Preis nach Gutdünken verdoppelt oder verdreifacht, entspricht nicht den Tatsachen. Allerdings erhielten die Aufkäufer eine Kommission von 15-20% des Kaufpreises. Dieser Betrag setzte sich zusammen aus 40 US-cenfs, die direkt an die Gläubiger der englischen Anleihe von 1908 bezahlt wurden, und einer fiskalischen Belastung von 30 cents gold und 40 centavos , RDS 816.51/31 Long an Lansing, 6.11.1917. 22

143 US$ pro quintal erhöhte. 26 Zusätzlich zahlten beneficiadores und Exporteure lokale Steuern, mit denen Infrastrukturprojekte finanziert wurden. 2 7 Während kleinere und mittlere Bauern, dazu aparceros und colonos im Zuge der Kaffee-Expansion verdrängt wurden, wurden die exorbitanten Profite der Kaffeewirtschaft von einer kleinen Gruppe monopolisiert. Es waren nicht die Pflanzer, sondern die Exporteure, die grosse Gewinne machten und diese wiederum zur Ausweitung ihres Landbesitzes reinvestierten: "While the rural masses lost their land and migrated to towns or the coffee regions, some previously-established landed families ana dynamic immigrant and urban tvpes Consolidated control over the Strategie commercial phases of the coffee industry."28 Sie profitierten von den hohen Weltmarktpreisen (die natürlich die f.o.b. Notierungen in den salvadorianischen Häfen bestimmten) direkt, während Kommission, Verarbeitungs- und Transportkosten durch die hohe Preisdifferenz zwischen Rohkaffee und verarbeitetem Kaffee überwiegend auf die Produzenten überwälzt wurden. Hierbei muss berücksichtigt werden, dass der Binnentransport wiederum monopolistisch organisiert war und einen hohen Anteil an den gesamten Produktionskosten ausmachte. 2 9 Die Profite kamen damit nur zu einem geringen Teil der Gesamtheit der Pflanzer zugute, die jedoch den grössten Anteil des wirtschaftlichen Risikos der Erzeugung trugen und wegen der allgemeinen Kreditknappheit kaum Kapitalreserven hatten. Direkte Folge war, dass die Löhne der Landarbeiterinnen zur flexiblen Komponente wurden, d.h. bei guten Preisen nur geringfügig angehoben, in Krisen jedoch gesenkt wurden. In den Zwanzigerjahren kam es zu einer neuen Entwicklung, die mit der Scheidung der politischen Fraktion der Exporteursoligarchie von der traditionellen Landbesitzerschicht einherging. Die Expansion der Kaffeewirtschaft und der Zuwachs der Menge des zu exportierenden Kaffees führte zu einer Zunahme der Verarbeitungseinrichtungen und der Entstehung einer Gruppe von nationalen Exporteuren, die zusammen mit den traditionellen Exporteuren eine neue Oligarchie bildeten. 30 Auch auf der Ebene der Produktion kam es zu Konzentrationsprozessen. Dies wird illustriert durch die Tatsache, dass von 22'595 agricultores ca. 3'400 Kaffee/Incas bewirtschaftet wurden, von denen

26

RDS 816.51/31 Long an Lansing, 6.11.1917; RDS 816.61333/15 Schott an Stimson, 20.1.1930; Reyes 1939: 22; die Angabe bei Wilson (1970: 95), auf Kaffee sei in den Zwanzigeijahren eine Steuer von 40 US cents pro quintal erhoben worden, ist demnach nicht korrekt. 27 Wilson 1970: 95. Als Beispiel AGN-MG Tarifa de Arbitrios, Municipalidad de Jayaque, 14.10.1922, Jahressteuer für Kaffcebeneficios auf 200« festgesetzt; AGN-MG Gobernador San Vicente an Ministerio de Gobernación, 29.11.1943. So zahlte das beeneficio der Firma Meardi in San Cayetano Ixtepeque pro Jahr 400« Steuern. 28 Wilson 1970: 108. 29 Gemeint ist die Beherrschung des Binnentransports durch die Salvador Railways und die IRCA, sowie die Dominanz der Grace Line als Exporteur und Transporteur für die Verschiffung. 30 Iraheta Rosales et. al. 1971: 47; Wilson 1970: 108, 132f.

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350 über 50 ha gross waren. 31 Anfang der Zwanzigerjahre waren erst 208 Pflanzer unter den führenden caficultores aufgelistet (vgl. Anhang VI). Die enge Kontrolle der Gewinne der Kaffeewirtschaft lässt sich damit schon auf der Ebene der Produzenten an der Betriebsgrösse und Struktur der Kaffeewirtschaft zum Ende der Expansionsperiode ablesen, die für das Ende der Modernisierung übernommen werden kann. 32 KAFFEEPRODUKTION: BODENBESITZSTRUKTUR DER KAFFEELÄNDEREIEN IN DEN ZWANZIGERJAHREN Betriebsgrösse

>70ha 35-70ha 7-35ha 0.7-7ha < 0.7ha

Anzahl Besitzer

192 263 1 '322 4'967 4'801

Ausdehnung in ha

30'5 59 13'413 22'471 13'482 1 '985

Durchschnitts -grosse in ha

159 51 17 2.7 0.4

Anteil an der Gesamtfläche in %

37.31 16.37 27.43 16.47 2.42

Quelle: Asociación Cafetalera 1940.

Wilson gibt für die grösseren Pflanzer einzelne Anteile an der Gesamtproduktion von höchstens 2.5% (ca. 25'000 quintales) bzw. 1.45% des Exportwertes (250'000 US$) an, Zahlen, die zu hoch gegriffen scheinen. 3 3 Geht man von den erwähnten Angaben von 200-350 grossen Produzenten aus, wird deutlich, dass diese Jahreserträge von 3'000 US$ (bei Flächen von 50 ha, entspricht etwa einer Produktion von 300 q) bis lOO'OOO US$ (bei Flächen von ca 1'500 ha und einer Produktion von ca. lO'OOO q) ermöglichten. 34 Dies ermöglichte einen Gewinn von ca. l'OOO US$ im ersten und ca. 30'000 US$ im zweiten Fall. 35 Wie die obige Tabelle zeigt, kontrollierten ca. 200 Pflanzer beinahe 40% der Fläche und damit der Produktion. 31 Wilson 1970: 40. Die Angabe Dunkerleys (1990a: 251) von 100 ha ist unrichtig und entspringt einem Umrechnungsfehler (die entsprechende Quelle [Revista de Agricultura Tropical N° 9, Jan- März 1930, enclosure zu RDS 816.61/8] gibt Pflanzer, die mehr als 75 manzanas , also 52 ha bewirtschafteten, an.). Asociación Cafetalera 1940 Dieses Bild der späten Dreissigerjahre hat auch für die späten Zwanzigeijahre Gültigkeit, zieht man in Betracht, dass die gesamte Kaffeefläche nicht ausgeweitet wurde; höchstens die Zahl der beiden kleinsten Grössengruppen wurde durch die Sozialprogramme der Marti'nez-Regierung erhöht, einen Teil der Besitzer dieser Gruppe muss man vor 1930 eher den Landlosen zurechnen. 33 Wilson 1970: 133. Die Zahlen widersprechen auch Wilsons eigenen Angaben zu Produktionszahlen und den im Anhang VI aufgelisteten Zahlenangaben. 34 Produktion auf der Basis von ca. 6q/ha Ertrag und einem Preis von ca. 10 US$ pro q Kaffee im Inland errechnet, vgl. zu den Produktionszahlen grösserer Pflanzer Anhang VI. ich lege hier Berechnungen zu den Produktionskosten der Pflanzer aus späteren Perioden zugrunde, vgl. White 1973: 121; Slutzky/Slutzky 1972: 121. Sie ergeben Nettoprofite von ca. 2030% gegenüber dem Preis f.o.b, gehen aber davon aus, dass der Pflanzer ca. zwei Drittel dieses

145

Noch stärker war die enge Kontrolle über die Verarbeitung und den Export. Die von Wilson erarbeitete Liste grosser beneficios, (24 Anlagen) die der Forschung als Beleg für Konzentrationsprozesse diente, ist mit Sicherheit unvollständig und deshalb ungeeignet zum Nachweis enger Konzentration auf der Ebene der Produzenten, etwa der oft wiederholten Behauptung, dass fünf Besitzer wertmässig 53% aller beneficios kontrolliert hätten.36 Die Konzentration der Gewinne wird jedoch deutlich, betrachtet man die Anzahl der Exporteure, die letztlich die Vermarktung beherrschten. Die Kaffee-Ernte wurde in den Zwanzigerjahren von 44 Exporteuren vermarktet, während 1913 noch 81 und 1922 noch 67 Exporteure gezählt wurden. 37 Diese Aufstellung, die als Ergänzung zu den vorhandenen rudimentären Auflistungen in der Literatur gedacht ist, macht Folgendes deutlich: Eine stabile Schicht von Exporteuren / Verarbeitern, die etwa 40 Firmen / Familien umfasste, monopolisierte die Vermarktung und Verschiffung der gesamten Kaffeeproduktion El Salvadors. Diese Gruppe bestand vor allem aus grossen Pflanzern und Agrarunternehmern mit diversifizierten Aktivitäten, die den Kern einer Agrarbourgeoisie bildeten und bis heute bilden. 38 Sie errangen ihre Machtstellung zum grössten Teil in der Periode vor 1930 und rekrutierten sich einerseits aus dem obersten Segment der traditionellen Pflanzerschicht, zum anderen aus der Schicht der niedergelassenen Immigranten.39

Exportpreises erhielt, was für die Zwanzigeijahre wie erwähnt nicht zutrifft. Der berichtete Zustand von 1917, wo Pflanzer ihre Arbeiter in Silber bezahlten und Produktionskosten von 8-10 pesos per quintal üblich waren, bei Preisen von ca. 12 US$, d.h. 30 pesos Erlös, macht die hier zugrundegelegten Berechnungen plausibel, RDS 816.51/31 Long an Lansing, 6.11.1917. 36 Wilson 1970: 133f. Diese Aussage wird übernommen von Russell 1984: 28. Wilson macht zwar klugen Gebrauch von Versicherungsstatistiken, um die angewachsenen Investitionen in beneficios zwischen 1922 und 1930 zu dokumentieren, doch leider erfasst diese Auflistung nicht einmal die wichtigsten beneficios. Dies wird etwa dadurch illustriert, dass die Firmen Meardi und Borghi, B. Daglio & Co. nicht erscheinen, die zu den grössten Exporteuren gehörten, vgl. Anhang VI. Für eine Auflistung von beneficios, die in den Zwanzigeijahren wohl in ihrer Mehrzahl schon existierten , vgl. Asociación Cafetalera 1940, hier werden 207 beneficios genannt. Lauria Santiago (1992, passim) zählt die zu Beginn des Jahrhunderts existierenden beneficios für verschiedene Regionen auf, so z. B. für das Departement Sonsonate allein 23 (Lauria Santiago 1992: 403). Die Angabe zu 1913 gemäss der namentlichen Aufzählung in Lauria Santiago 1992: 443f. Vgl. hierzu Aubey 1968. So beschreibt etwa Ward (1916: 63) die Aktivitäten grosser Pflanzer im Distrikt Santa Tecla (La Libertad), wo schon 1916 20'000q Kaffee jährlich geerntet wurden und nennt die Namen Dárdano, Guirola und die finca "El Espino", die 6'500, 2'SOO und 7'000 quintales Kaffee, respektive, produzierten, Indiz für substantielle Kapitalakkumulation. Dies wird durch die detaillierte Untersuchung von Lauria Santiago (1992: 389) erhärtet, der festhält, dass schon 1910 die drei grössten Pflanzer in Santa Tecla (municipio) allein 8'500q der Gesamtproduktion von 10'850q Kaffee produzierten. 38

146

KAFFEE-EXPORTEURE IN DEN ZWANZIGERJAHREN Vor und nach 1920 erwähnt: 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12. 13. 14. 15. 16. 17.

Aguilar, Eugenio & Cía Alvarez L., Rafael e hijos Alvarez, Roberto & Co. Baires, Filadelfio H. Banco de Santa Ana Banco Occidental (Bloom, D.) Borghi, B. Daglio & Co. Canessa, Amadeo S. Canessa, Colombo suc. Cohn, M. & R. Davidson hnos De Sola, H. (e hijos) Deininger, Francisco Deininger, Walter T. Dreyfus, May & Co. Dueñas, Miguel und suc Goldtree, Liebes & Co.

18. 19. 20. 21. 22. 23. 24. 25. 26. 27. 28. 29. 30. 31. 32. 33.

Guirola, Carlos etc. Haltmeyer, Max Hill, James Larín, J. Santiago (& Manuel) Llach, Prudencio López de Guirola, Martha Meardi, Mauricio & Co. Mugdan, Salvador Prieto, Federico G.e hijos Regalado, Concha G. vda de Sauerbrey, G. A. Sol de Iraheta, Lidia Sol, Benjamín Sol, Vicente Soundy, Arturo (suc) W. R. Grace & Co.

Nur bis 1921 erwähnt wurden die folgenden Exporteure: 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12. 13. 14. 15. 16. 17.

Araujo, Eugenio Argüelío P. José Argüelío, Leopoldo Ayala, Federico Barrios & Co. Block hnos Boillat & Aeschbacher Bunnelli, Mare Bunting & Co. Comm Bank of Spanish America Ernesto, Nicolás Escalón, Pedro Gallegos, Salvador (suc) Hard & Rand Huber, E. E. & Co. Imberton, León López & Duke

18. 19. 20. 21. 22. 23. 24. 25. 26. 27. 28. 29. 30. 31. 32. 33. 34.

Martínez, Joaquina Matheu, Pablo Meardi & Gavio Olcovich & Oppenheimer Otis McCallister & Co. Petersen, Cari P. Rey neri, José Risso, Luis Ruggiero hnos Ruggiero, Alberto Savage, Arturo & Co. Sol, Salvador Ulloa, Francisco (& Esteban) Ulmo&Co. Vidrí hnos Vinutolo, Antonio Wieser, D.

147

Erst nach 1921 erwähnt: 1. 2. 3. 4. 5. 6.

Batlle hnos Bonilla, Angela de Camicciattoli, Dante Del'pech, Mauricio Esersky & Cia González Asturias, José

7. 8. 9. 10. 11.

Letona, Quiñonez & Co Meléndez, Jorge Nottebohm Trading Co. Prylutsky y Alvarez Smith, Slater & Co.

Quelle: RDS 816.61333/1; RDS 816.61353/-; RDS 816.61333/2; Asociación Cafetalera 1940; Wilson 1970:134; Anuario Estadístico 1921. Vgl. a. Anhang VI.

Die nach 1921 in die Verarbeitung eingetretenen Finnen und Personen entsprachen im wesentlichen diesem Profil, mit wenigen Ausnahmen, etwa in der Person des Präsidenten Alfonso Quinönez, der als Neuling in den Zwanzigerjahren in der Kaffeevermarktung Fuss fasste. Diese Schicht war in etwa identisch mit der ökonomischen Elite als solcher, zumal die führenden Namen in anderen Bereichen meist auch Kaffeeinteressen hatten. Erst nach 1930 würden auch Unternehmer, die Kapital in anderen Bereichen akkumuliert hatten (Handel, Industrie, Baumwollproduktion) zu nationaler Prominenz aufsteigen. Es wird deutlich, dass die reinen Aufkäufer, wie sie vor 1921 dominiert hatten, zugunsten der diversifizierender Agrarunternehmer, die Pflanzer, Exporteure und Financiers in einem waren, verdrängt wurden, ebenso die im Ausland domizilierten Aufkäufer. Mittelgrosse Firmen wurden aus dem Geschäft gedrängt, wozu auch die Krise von 1921 beigetragen haben dürfte. Man kann also gerade für die Expansionsperiode der Exportwirtschaft mit substantieller Gewinnausschüttung der Kaffeeproduktion, d. h. die Jahre 1922-1929, von einer Verengung der Verteilung dieser Gewinne ausgehen. Wie stark dies nicht nur die Diskrepanz zwischen Pflanzern und Exporteuren, sondern sämtliche an der Kaffeeproduktion beteiligten Gruppen betraf, zeigt die Aufschlüsselung der Verteilung der Erträge, die, wie eingangs dargelegt, zu einem gewichtigen Teil, etwa zu 20% zum Bruttoinlandprodukt El Salvadors beitrugen (vgl. die Darstellung auf der folgenden Seite). Diese Schätzungen aufgrund des spärlichen Zahlenmaterials geben den Zustand in einem Jahr mit eher schlechterer Ernte wieder; Preissteigerungen akzentuierten die Diskrepanzen noch, insofern, als Exportsteuern (auf die Exportmenge erhoben) in dieser Situation anteilsmässig nicht höher wurden und Löhne ebenfalls nicht stärker stiegen als die Lebenshaltungskosten.

148

ANTEILE VERSCHIEDENER GESELLSCHAFTLICHER GRUPPEN AM EXPORTERLÖS FÜR KAFFEE VOR A B Z U G DER P R O D U K T I O N S - U N D REPRODUKTIONSKOSTEN, 192540

Pflanzer

Transport

Berechnungsmethode für die der Grafik zugrundeliegenden Zahlenangaben: Basis ist die 1925 vermarktete Kaffee-Ernte. Für die Berechnung der Exportanteile wurden nur im Zusammenhang mit Ernte und Vermarktung stehende Kosten berücksichtigt, nicht jedoch der Unterhalt der fincas während des Jahreslaufs. F.o.b. Notierung 43.56 e per quintal; Totaler Exporterlös 30'361'765 e; Exportmenge 697'050q; Bei Ernte und Verarbeitung eingesetzte Arbeiter ca. 200'000; Exportsteuern 2.5 USS pro 100kg; Produzentenpreis = 50% des Exportpreises. Anteil der Exporteure: Gesamterlös der Exporte abzüglich Kosten für den Ankauf der Ernte (Produzentenpreis x Erntemenge), Exportsteuersumme, Transportkosten. Pflanzer: Produzentenerlös abzüglich Kommission der Aufkäufer (15%), Löhne für Erntearbeiter. Staat: Exportsteuer, Quervergleich mit dem gesamten Exportsteueraufkommen; Kosten für Erhebung hier vernachlässigt. Transport: Transportkosten von ca. 5.50 e/q der Verschiffung nach Europa, 20% davon entfallen nach Schätzungen auf den Binnentransport, d.h. 1.2 t . Pflücker: ca. 180'000 braceros unmittelbar für die Ernte, geschätzte 20'000 für die Verarbeitung benötigt (nach Schätzungen zu Arbeitserfordernissen und gemäss Asociación Cafetalera 1940. Die Schätzung von Lauria Santiago 1992: 433 von 4 Erntemonaten wurde auf drei Erntemonate mit entsprechender Erhöhung der Anzahl Arbeitskräfte umgelegt). Lohn 1925 1.12 c per tarea i ca. 110 Pfund, Kost vernachlässigt bzw. den Jahres-Unterhaltskosten der Pflanzer zugerechnet. Den unglaubliche kleinen Anteil der Pflücker an den Gesamtgewinnen illustriert ein zeitgenössischer Bericht, der von einem gewinn eines grossen Pflanzers / Exporteurs von lOO'OOO £ ausging und die gesamten Lohnkosten auf 2'ooo £ veranschlagte, Pérez Brignoli 1995: 245. Für die Berechnung der Nettoerlöse wurden bei den Exporteuren geschätzte Verarbeitungs- und Exportkosten von 10% der Exporterlöse (nach White 1973: 121) zugrundegelegt. Für die Pflanzer wurde von einem Produktionskostenanteil von 36% (White 1973: 121) ausgegangen, in den die Lohnkosten schon eingeschlossen wurden, Produktionskosten wurden mit ca. 30% des Exportwertes veranschlagt, in Anbetracht der hohen Kosten für die spekulative Finanzierung, die in jener Periode üblich war. Bei den Aufkäufern wurden nur Transportkosten im selben Umfange wie bei den Exporteuren abgezogen (Transport zum beneficio), da die Verarbeitungskosten den Exporteuren belastet wurden. Für Pflücker und Transporteure sind Reproduktionskosten und Kapital/npur ihrer Arbeitsleistung nicht zu eruieren.

149 In absoluten Zahlen: Gruppe

Exporteure Pflanzer Aufkäufer Staat Transport Pflücker

Anzahl Mitgl jeder

Prozentualer Anteil am Exporterlös

Absoluter Anteil

ca. 45 ca. 3'500 ca. 200

42.0 39.8 7.8 5.3 2.7 2.4

30'361 '765 15'181 '742 2'381'819 1'603'214 836'458 712'728

?

200W0

Nettogewinn nach Abzug der Produktionskosten 9'704'175 2'978'666 1'562'051 ca. l'SOO'OOO

Quelle: White 1973:119,121; Wilson 1970: 132-136; Lauria Santiago 1992: 433; RDS 816.00/574; RDS 816.032/50; RDS 816.61333/15, Asociación Cafetalera 1940; Slutzky/Slutzky 1972: 121; Guidos Véjar 1988: 145; Instituto de Estudios Económicos 1958: 32; Anuario Estadístico. Die Monopolisierung der Gewinne verweist auf das genannte wichtigste Strukturproblem der Kaffeewirtschaft, den Mangel an verfügbarem Investitionskapital, der während der Zwanzigerjahre akut wurde. Zugang zu Kapital war für die Pflanzer besonders für den Kauf von Ländereien, Investitionen in Maschinen und Dünger, und ganz bedeutsam, für die Vorfinanzierung der Ernte notwendig, da die Saisonarbeiter vor dem Verkauf des Kaffees entlöhnt werden mussten. Schon vor dem Ersten Weltkrieg hatte sich ein System eingespielt, das die Aufkäufer und Exporteure zu Kreditgebern der Pflanzer machte, besonders für Erntekredite, die zu horrenden Zinssätzen von 14% an aufwärts vergeben wurden. Seit Beginn der Zwanzigerjahre ergab sich nun ein neuer Gesichtspunkt auch bei den langfristigen Hypothekarkrediten, die eine Expansion der Kaffeeproduktion erst eigentlich möglich machten und einen eigentlichen Investitionsschub auslösten, der bisher von der Forschung als Movens der Expansion wie der Konzentration von ökonomischer Kontrolle kaum zur Kenntnis genommen wurde. Vor 1920 waren wenige Hypothekaroperationen abgewickelt worden, besonders, weil weder die Banken noch die Exporteure über genügend freies Kapital verfügten und die grossen Landbesitzer eher den schnellen Zinsgewinn durch kurzfristige Beleihungen von Ernten und landwirtschaftlichem Gerät suchten. Nach der Einführung des Goldstandards und der Stabilisierung der Währung verloren Währungsspekulationen für die Banken und grossen Exporteure als Einnahmequelle an Bedeutung. Entscheidend wirkte sich die Aufnahme der Anleihe von 1922 durch den salvadorianischen Staat aus, mit dem auch ein Teil der internen Schuld konsolidiert wurde, was den Banken freies Kapital verschaffte und sie beinahe zu Hypothekargeschäften zwang, umsomehr, als es keinerlei Hypothekarbanken gab. Die Folge war, dass der Hypo-

150 thekarkredit ebenfalls zu einer Domäne der grossen Exportfirmen und der Emissionsbanken wurde, die dadurch ihre Bindungen an die Kaffeewirtschaft weiter verstärkten. Die Pflanzer waren offenbar an diesem Prozess nicht unschuldig, wurden doch in Perioden hoher Weltmarktpreise Investitionen auf offensichtlich spekulative Weise getätigt, die durch hohe Hypothezierung abgesichert waren. Ein Beispiel dafür liefert der Fall eines grossen Pflanzers, der in der Saison 1919/1920 3'000 q Kaffee mit Kosten von 33'000 ©

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Q u e l l e und Berechnungsmethode: Vgl. A n h a n g I.

G e m ä s s den vorhandenen (unsicheren) Statistiken entwickelte sich die B e v ö l k e rung nach Departementen w i e nachstehend gezeigt:

234

BEVÖLKERUNG NACH D E P A R T E M E N T E N , B E V Ö L K E R U N G S Z U W A C H S WÄHREND DER ZWANZIGERJAHRE

Departement

Bevölkerung 1930

Bevölkerung Zuwachs in% 191$

Zuwachs absolut

Santa Ana Ahuachapán Sonsonate La Libertad San Salvador Chalatenango Cuscatlán La Paz San Vicente Cabañas San Miguel Usulután Morazán La Unión

154'493 79'033 100'217 118'360 191'125 83'216 83'363 85'63 2 7T724 58'081 126'582 125'306 75'661 74'568

126'950 71 '026 79'132 86'3 75 130'629 72'845 71'995 78'637 63'695 44'310 93'242 95'286 64'002 5 4'671

27'543 8'00 7 21'085 31 '985 60'496 10'371 11'368 6'995 14'029 13'771 33 '340 30'020 11'659 19'897

22 11 27 37 46 14 16 9 22 33 34 33 18 36

Die Bevölkerungszahlen für 1918 sind die offiziellen, wohl etwas zu hohen Angaben, die auf der Hochrechnung der kumulierten Geburtenüberschüssen nach der Bevölkerungszählung / Schätzung von 1901 beruhten und Emigration und Wanderungsbewegungen nicht berücksichtigten, während die Angaben für 1930 den Ist-Zustand gemäss Bevölkerungszählung wiedergeben. Quelle: Wilson 1970:112; Dirección General de Estadística 1942; Barón Castro 1942:490.

Entscheidend waren hier regionale Prozesse, insbesondere Veränderungen der Siedlungsstruktur und interne, - permanente, nicht saisonale - Migrationsbewegungen. Sie verweisen recht deutlich auf die Effekte der Expansion der Kaffeewirtschaft wie der Modernisierung der Infrastruktur mit ihren regionalen Wirkungen auf den Arbeitsmarkt. Kaffeeausweitung, Eisenbahn- und Strassenbau, die folgende Entwicklung der Wirtschaft und erhöhte Zugänglichkeit zuvor unerschlossener Gebiete waren /»«//-Faktoren der internen Migration, wobei die mit der Ausweitung der Kaffee-Anbaufläche verbundenen Dislokationseffekte andererseits pus/i-Faktoren einer ruralen Auswanderung insbesondere in städtische Gebiete darstellten. Sie hatte im Gegensatz zur saisonalen Migration bei Kaffee-Ernte und Bauprojekten dauerhaften Charakter und bestimmte die fortschreitende Urbanisierung El Salvadors. Push- und pu//-Faktoren der Migration ergänzten sich: Die Stadt-LandBewegung war eine Folge sowohl des Drucks auf Kleinbauern und Pächter in den ländlichen Gebieten der Kaffeedepartemente, als auch der Sogwirkung von Arbeitsmöglichkeiten beim Staat, in Handel, Handwerk und Verarbeitung, bei

235 öffentlichen und privaten Bauprojekten. 1 0 Durham schätzt für die Periode 1892-1930 rurale Auswanderung von 18*400 Personen und geht davon aus, dass diese für 11.2% des Städtewachstums verantwortlich waren, eine zu niedrige Schätzung, wie Untersuchungen der städtischen Struktur zeigen (s. u.). 1 1 Diese Wanderungsbewegungen hatten regional sehr unterschiedliches Gewicht, sie erfolgten im wesentlichen aus Gebieten mit starker Landkonzentration oder unentwickelten ländlichen Gebieten in Regionen mit Urbanen Wirtschafts- und / oder Verwaltungszentren, wobei hier die Hauptstadt San Salvador eine Zentrumsfunktion einnahm. 12

BEVÖLKERUNG: BINNENMIGRATION WÄHREND DER ZWANZIGERJAHRE

Acajutla

La L i b c r t a d Salvador Railways International Railways of Central America Hauptstrassen Quelle: Anuario Estadístico; Dirección General de Estadística

La U n i ó n / Cutuco

Flores Macal (1983: 73) führt die Land-Stadt-Migration allein auf Landkonzentration zurück. Durham 1979: 9, dem steht z. B. die Meinung Flores Macals (1983: 69) und Zamoscs (1989: 60) entgegen, die ihre These bezüglich des starken Einflusses der Migration allerdings nicht mit Zahlen belegen. 12 o i e Migration in die Küstenebene, die Browning 1971: 219f. beschreibt, war in den Zwanzigeijahren wegen Malariaverseuchung noch nicht möglich, sie begann erst nach dem Zweiten Weltkrieg, zur ebenfalls spärlichen Besiedlung des Lempa-Tals Browning 1971: 228f. 11

236

Trotz akzelerierter Urbanisierung blieb die Siedlungsstruktur El S a l v a d o r s v o r 1 9 3 0 v o r n e h m l i c h rural geprägt, und trotz der S t e i g e r u n g der E i n w o h n e r z a h l auch kleinerer municipios b l i e b e n urbane Zentren die A u s n a h m e . D a s typische Siedlungsmuster i m ländlichen Raum El Salvadors war g e k e n n z e i c h n e t durch die D o m i n a n z verstreuter E i n z e l h ö f e und kleiner caseríos, die s i c h um ein pueblo, eine villa oder e i n e ciudad gruppierten, die im a l l g e m e i n e n nur g e ringe Grösse e r r e i c h t e n . 1 3 D i e Urbane B e v ö l k e r u n g El S a l v a d o r s betrug 1 9 3 0 g e m ä s s o f f i z i e l l e n Zahlen 548*721 Personen o d e r 3 8 . 8 % der G e s a m t b e v ö l k e mit einer städrung, tatsächlich w o h n t e n nur 2 8 3 ' 2 4 8 Personen in municipios t i s c h e n B e v ö l k e r u n g (d. h. o h n e ländliche A u s s e n b e z i r k e o d e r cantones) von m e h r als 5 ' 0 0 0 Personen, a l s o 19.8% der G e s a m t b e v ö l k e r u n g . 1 4 D i e rurale Emigration verstärkte j e d o c h e i n e T e n d e n z zu fortschreitender Urbanisierung, d i e zu e i n e m A n w a c h s e n v o r a l l e m der Hauptstadt und der M e t r o p o l e n der K a f f e e g e b i e t e führte: 1 5 URBANISIERUNG: BEVÖLKERUNG DER GRÖSSEREN STÄDTE E L SALVADORS, 1 9 0 5 UND 1 9 3 0 .

San Salvador Santa Ana San Miguel San Vicente Chalchuapa Santa Tecla Sonsonate

*!9Q5 50'304 50'8 54 25 '462 21'048 20'856 -

»1930 96'212 74'514 39'989 24'331 2 2'727 29'074 20'054

**1930 88'508 39'825 17'330 10'797 8'080 20'049 15'260

** Urbane Bevölkerung * Gesamtbevölkerung des municipio Quelle: Lungo Uclés/Baires 1988: 139 Dirección General de Estadística 1942; Barón Castro 1942:511.

Dirección General de Estadística 1942; vgl. a. Adams 1976: 449 und die Aufzählungen der cantones etwa in Calderón 1927; 1932; Anuario Estadístico für 1913; Larde y Larín 19S7. 14 Smith (1945: 363) nimmt als Ausgangspunkt für die Berechnung die urbane Bevölkerung der municipios mit mehr als 2500 Einwohnern und kommt auf einen Anteil der "Stadtbevölkerung" von 23.7%. Es gab in der Republik 1930 im Ganzen nur 11 Städte mit einer Bevölkerung von mehr als lO'OOO Personen. Auch Marroquin (1977: 115) nimmt den Anteil der ruralen Bevölkerung mit 80% an. Wilson (1970: 4f.) geht von den offiziellen Angaben aus, die schon für 1919 eine Anzahl von 30 Städten mit einer Bevölkerung von mehr als lO'OOO auflisten, dabei allerdings sämtliche cantones rurales mitberücksichtigen, was keine schlüssigen Hinweise auf Urbanisierungsgrad ermöglicht, hält man sich die Verhältnisse vor Augen, wie sie im Zensus, aber auch aus Verhältnissen in municipios wie Santa Ana hervorgehen, das Dutzende von cantones mit insgesamt 34'689 Einwohnern zählte, also beinahe soviel wie die Stadt selbst, immerhin zweitgrösste der Republik. 15 Wilson 1970: 130; Zamosc 1989: 60. So schrieb der US-Militärattachi schon 1922 über Santa Ana: "Like all the cities and towns of Salvador, Santa Ana is overcrowded", MID 2357-155 Military Attaché an War Department, 27.6.1922. Zu San Salvador MID 2357-134 Military Attaché an War Department, 14.7.1921.

237 Diese Entwicklung begründete für El Salvador ein Phänomen, das in Lateinamerika die Regel war, nämlich die primacy der Hauptstadt, das Übergewicht der hauptstädtischen Bevölkerung im Vergleich zu den nächstgrösseren Urbanen Zentren, ausgedrückt durch das Verhältnis der Bevölkerung der grössten zur Bevölkerung der nächstgrösseren Stadt eines Landes. 16 Sie wurde für El Salvador erst für die Zwanzigerjahre überhaupt sichtbar, als San Salvador Santa Ana bevölkerungsmässig endgültig überholte; die primacy rate San Salvadors betrug für 1930 1.29 : 1 bzw. 2.22: 1 für die Bevölkerung des städtischen Zentrums. Während sich gesamthaft, jedoch v. a. in den Regionen der boomenden Wirtschaft wegen der Zentralisierung der Verarbeitung und des Handels der Exportprodukte und verbesserter Transportmöglichkeiten auch sekundäre Wirtschaftsaktivitäten nun in den Städten konzentrierten, galt dies für die Hauptstadt San Salvador in ganz besonderem Masse: die Stadt wurde nicht nur ein Verwaltungszentrum (notabene mit starker militärischer Komponente) in dem Masse wie der Staat zusätzliche Aufgaben übernahm. Mit dem Ausbau des Strassen- und Eisenbahnnetzes wurde die Stadt noch mehr als zuvor Transportknotenpunkt und Handelszentrum und infolge der Nähe zu Kaffeegebieten auch Residenzstadt für Grossgrundbesitzer, Exporteure und die nationalen wirtschaftlichen und politischen Eliten. Mit dem Bcdeutungszuwachs des Zentralstaates wurde San Salvador nicht nur Zentrum einer nationalen, sondern einer nationalstaatlichen Kultur. Theater, das Pressewesen, die Institutionalisierung von Gruppeninteressen in Vereinen, Gesellschaften, Parteien und Gewerkschaften konzentrierten sich in der Hauptstadt, die zum Brennpunkt der politischen Ereignisse und zum Nabel des nationalen Lebens wurde. 17 Im Gegensatz zu Provinzstädten, die oft ländlichen Charakter bewahrten, wurde San Salvador zum Mittelpunkt einer wachsenden Bevölkerungsballung, einer Agglomeration, die bis zum verkehrsmässig gut angebundenen Santa Tecla (Nueva San Salvador), dem Zentrum der Kaffeewirtschaft des Departements La Libertad reichte und die Vororte Mejicanos, Autuxtepeque, Aculhuaca, Villa Delgado, Cuscatancingo und weitere (vgl. Karte) umfasste. 18 Die gestiegene Bedeutung der Hauptstadt relativiert die obigen Aussagen über den vorherrschend ländlichen Charakter der Bevölkerung El Salvadors am Ende der Modernisierungsperiode. 6.23% der gesamten Bevölkerung des Landes wohnten im städtischen Gebiet der Hauptstadt, ca. 120-125'000 in der Agglomeration San Salvador, d. h. rund 8.5% der Gesamtbevölkerung des

Baron Castro 1942: 510. Parkman 1988: 9. Zum dem lateinamerikanischen Raum Scobie 1986. Die Mexiko 5.1:1, für Argentinien 4.5:1 und für Brasilien 17 Flores Macal 1983: 69. Ausnahmen sind hier die nächstgrösseren Städte Beschreibungen Ward 1916: XVIlff., XXXVIIff.

begriff der primacy und für Beispiele aus Verhältnisse betrugen für Kuba 6.4:1, für 1.2: 1, Scobie 1986: 239, 241. Santa Ana und San Miguel. Vgl. für frühe

238 Landes, was die auch politische Bedeutung dieses Zentrums deutlich macht. 19 Die Agglomeration wuchs besonders in der zweiten Hälfte der Zwanzigeijahre durch den Ausbau der Verkehrsverbindung nach La Libertad via Santa Tecla und den Bau von Strassen in die nahegelegenen Dörfer in kurzer Zeit zu dieser Grösse an, dazu verbanden Busverbindungen die umliegenden municipios mit der Stadt. 20

DIE AGGLOMERATION SAN SALVADOR, 1930

I

1

ca. 10 km Strassen

Die Bevölkerungsangaben der Grafik beziehen sich auf die Urbanen Siedlungsgebiete, d. h. Dorfkerne Quelle: Dirección General de Estadística 1942.

Die als städtisch klassifizierte, d. h. im Dorfkern wohnhafte Bevölkerung der municipios San Salvador, Nueva San Salvador (Santa Tecla), Ayutuxtepeque, Mejicanos, Antiguo Cuscatlin, Cuscatancingo, Aculhuaca betrug 1930 119'984 Personen, Dirección General de Estadística 1942. Die Schätzung von 125'000 in Flores Macal 1983: 72 20 Wilson 1970: 143. Er schätzt, dass die Fläche der Stadt von 145ha auf 600ha (1924-30) anwuchs, aber die spekulative Basis dieser Berechnung (Urrutia Flamenco 1924 und Patria) macht das nicht glaubhaft, vgl. a. die Stadtpläne in Cajas y Bolsas 1985. Der Zensus von 1929 nennt eine Fläche von 6 km2 für den casco urbano, 32km2 für den ruralen Teil der Hauptstadt, Paredes 1930: 287, frühere Angaben sind nicht zu erhalten.

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239 Wie stark dieses Wachstum der städtischen Agglomeration zumindest im Falle der Hauptstadt, wohl aber auch für andere grössere Städte auf Wanderungsbewegungen während der Modernisierung zurückzuführen war, verdeutlicht die Struktur der Bevölkerung um 1929: 7'015 Bewohner der Stadt oder 7.33% bezeichneten sich selbst als indígenas, weit mehr als im Landesdurchschnitt, was auf Zuwanderung aus den westlichen Gebieten verweist, da die indigenaBevölkerung der anderen Landesteile zu vernachlässigen war. 21 Weiter ist aufschlussreich, dass 71.6% der Bevölkerung jünger als 30 Jahre waren, ein ebenfalls leicht höherer Anteil gegenüber dem nationalen Durchschnitt (69.2%). 22 Von diesen stammten 71.3% nicht aus dem municipio San Salvador, so dass der Anteil der Gesamtbevölkerung, die nicht aus der Hauptstadt stammte, mindestens 51.1% betrug, was sich jedoch auch auf Zuwanderung der Eltern beziehen konnte. 23 In jedem Fall macht allein diese Dimension deutlich, dass der Urbanisierungsgrad und die rurale Abwanderung in den ersten 30 Jahren des Jahrhunderts grösser gewesen sein muss, als Durham, dessen Untersuchung die einzige Studie zur Land-Stadt-Migration mit dem Versuch quantitativer Analyse ist, annimmt. Die Struktur der Stadt San Salvador war im Übrigen stark von ihrer gestiegenen Wichtigkeit als Zentrum nationalstaatlicher Kultur, Wirtschaft und Politik geprägt. Öffentliche Gebäude wie der Mercado Central, das Theater, Kasernen und die Bahnhöfe der nunmehr zwei Bahnlinien ([IRCA, SR) zeigten die Bedeutung als Wirtschafts- und Verwaltungszentrum, ebenso wie der stätische Busverkehr, der stark anwuchs. 24 Die Tendenz der ehemals ländlichen, durch den Kaffeeboom zu Reichtum gelangten Oberschichten zur Ansiedlung in der Kapitale zeigte sich im Bau zahlreicher Villen besonders im Stadtzentrum. 25 Demgegenüber bildete sich eine Tendenz zur Ansiedlung der ärmeren Schichten am Stadtrand heraus, wo sich nicht nur die barrios populares bildeten, sondern auch die Mehrheit der 526 mesones (Mietskasernen) standen, die Zuwanderern billige, aber elende Quartiere boten. 26 San Salvador bot Ende der Zwanzigerjahre das Bild einer modernen Metropole, die ein funktionie21

Zensus von 1929 in Paredes 1930: 289; Barón Castro 1942: 515. Lungo Udés/Baires 1988: 153; Dirección General de Estadística 1942. Der Zensus von 1929 (in Paredes 1930: 289) gibt dazu eine sehr niedrige Zahl von Arbeitsunfähigen (866 oder 0.9%) der Bevölkerung an, die den für das ganze Land genannten hohen Anteil der Arbeitstätigen an der Bevölkerung bestätigt. 23 Lungo Uclés/Baires 1988: 153f. Der hier verwendete Begriff originaria/ originario del municipio impliziert jedoch nicht unbedingt die Zuwanderung der Befragten selbst, sondern möglicherweise ihrer Eltern, da Verbindungen zum municipio u. U. eine Generation überdauern konnten. Ich schliesse dies aufgrund selbst durchgeführter Befragungen von Zuwanderern in der Hauptstadt. Monedero 1970: passim. Für eine detaillierte Beschreibung vgl a MID 2357-134, Military Attaché an War Department, 14.7.1921; Flores Macal 1983: 69 Bis Mitte der Zwanzigerjahre funktionierte eine dritte Bahnlinie, der Ferrocarril a Santa Tecla, die dann durch Buslinien ersetzt wurde, vgl. Anuario Estadístico für 1922(beförderte Passagiere 1922 432*728). Vgl. die Adressen der wichtigsten Ärzte und Advokaten, aber auch von Politikern und Mitgliedern der Wirtschaftseliten, vgl. Ward 1916: passim, P£rez Marchant 1937: passim. 26 Paredes 1930: 287; Wilson 1970: 153. 22

240 rendes politisches und kulturelles Zentrum einer prosperierenden Volkswirtschaft abgab, das jedoch im städtischen Rahmen die sozialen Disparitäten der Gesamtgesellschaft akzentuiert widerspiegelte. Dieser rasch gewachsene "Löwenkopf mit einem Mäuseschwanz", wie die Zeitung Patria die Hauptstadt nannte, war ein empfindliches Barometer sozialer Veränderungen und gesellschaftlicher Desintegration, die in der Hauptstadt rascher als anderswo auf der politischen Ebene ihren Ausdruck fanden.

241

B.

Klassen- und Schichtenbildung

Die Modernisierung zwischen 1910 und 1930 hatte starke Auswirkungen auf die Herausbildung sozialer Schichten und Klassen, die schon durch die Entstehung der Kaffeewirtschaft im 19. Jahrhundert präformiert worden waren: Die Zweiklassengesellschaft aus Besitzenden und Besitzlosen, in ihrer Mehrheit Landarbeiter, wie sie zu Anfang des Jahrhunderts bestanden hatte, erfuhr in der Modernisierung der Jahre 1922-1929 eine starke Differenzierung. 27 Aus der beschleunigten Veränderung des Stadt - Landgefüges seit Beginn des 20. Jahrhunderts, besonders aber in den Zwanzigerjahren, ergab sich eine veränderte Sozialstruktur, deren Komplexität sich von der in früheren Perioden vorherrschenden sozialen Dichotomie arm-reich abhob, der nun der Gegensatz zwischen Urbanen und ruralen Lebensformen hinzugefügt wurde. Der zugrundeliegende Gegensatz zwischen vermögenden und unterbemittelten Schichten verschärfte sich weiter, trotz der wachsenden Bedeutung intermediärer Schichten, die zahlenmässig geringes Gewicht hatten, seit den frühen Zwanzigerjahren die nationale Politik und Kultur jedoch stark mitprägten.28 In der Literatur werden die verschiedenen gesellschaftlichen Klassen / Schichten / Gruppen erwähnt zahlenmässig voneinander abgegrenzt, was sehr spekulativen Charakter hat und aufgrund der verschiedenen Erfassungskriterien kaum Quervergleiche erlaubt. Zudem fällt die willkürliche Einteilung in Ober- Mittel- Unterklasse ebenso auf wie die inflationäre und definitorisch ungenügend abgestützte Verwendung des Klassenbegriffes in der Forschung auf. Eine ungefähre Quantifizierung der verschiedenen Schichten der salvadoria27 Interessant in diesem Zusammenhang die Einteilung von Suay (1919: 13f.), der eine Gruppe von S'000 Personen ausmacht, die Interessen in Gold hatte und 1'290'000, die für den inländischen Markt produzierten und Interessen in Silber hatten, dazu noch einmal S'000 Personen, die beide Währungen benutzten. Die erste und die letzte Gruppe umfassten die Wirtschaftseliten in ihrer Gesamtheit, wobei Suay betont, dass ein grosser Teil von ihnen ausländische Interessen vertrat und es auch zu Mehlfachnennungen kam, so dass die tatsächliche Oberschicht (im wesentlichen Exportproduzenten, Bankiers, Import / Exporthandel gemäss dieser Einteilung ebenfalls eine Grösse von 0.5% der arbeitenden Bevölkerung erreichte. 28 Guidos Véjar nimmt die Entwicklung der agrarischen Wirtschaft El Salvadors als Ausgangspunkt der Klassenbildung und unterscheidet als ökonomisch differenzierte Gruppen der Gesellschaft die Kaffeepflanzer, die hacendados, Kleinproduzenten, Saisonarbeiter und die Financiers der Modernisierung.Vgl. a. Zamosc 1989: 62, Er geht ebenfalls von der Exportökonomie als dem entscheidenden Faktor für die soziale Formation aus und stellt dem kapitalistischen den nicht-kapitalistischen Sektor der Produktion gegenüber. Ersterer wird gebildet durch Importeure und, innerhalb der zentralen Sphäre der Exportproduktion, den Pflanzern, Exporteuren, ständigen Arbeitern, Saisonarbeitern und den Bankiers. Der nicht-kapitalistische Sektor besteht nach Zamosc aus den semi-proletarisierten Bauern des Subsistenzsektors, kleinen Landbesitzern, aparceros, kleinen Produzenten und Handwerkern, die für den Binnenmarkt produzierten. Dieses Schema betont die Trennungen mehr als den integrierten Charakter und weist einige Fehler auf, so z. B. die Verortung der aparceros ausserhalb der Kaffetflncas, eine krasse Verkennung der tatsächlichen Landnutzungsformen. Funktionale Spezialisierungen werden damit überbetont und die Abhängigkeit weiterer Schichten, etwa der Staatsangestellten von der Exportwirtschaft wird zwar vorausgesetzt, aber für die soziologische Analyse des Aufbaus der Gesamtgesellschaft vernachlässigt.

242 nischen Gesellschaft am Vorabend der Weltwirtschaftskrise ist nur aufgrund der Berufszugehörigkeit möglich. Sie wird durch die Unscharfe verwendeter Begriffe (wie etwa jornaleros, eine Bezeichnung, die den ländlichen und städtischen Bereich abdeckt oder militares, die Berufssoldaten und Offiziere einschliesst) erschwert, ebenso wie die ungefähre Nachzeichnung der Entwicklung nur für die Mittel- und Oberklasseberufe möglich ist, da die arbeitstätige Bevölkerung vor 1930 nicht erfasst wurde. Der US-Militärattache teilte 1926 die Bevölkerung nach Berufsgattungen folgendermassen ein: 80% waren agricultores (inklusive der kleineren Landbesitzer), er schliesst hier bezeichnenderweise die Landarbeiterschaft ein, 16% waren Handwerker, Arbeiter ausserhalb der Landwirtschaft und Kleinhändler, die Regierungsangestellten inklusive der Berufsmilitärs schätzte er auf 1% der Bevölkerung und die besitzenden Klassen als Ganze auf 3%. 2 9 1930 gliederte sich die arbeitstätige Bevölkerung El Salvadors nach Berufen wie folgt: 30

ANTEIL DER ANGEHÖRIGEN VERSCHIEDENER BERUFSGATTUNGEN AN DER ARBEITSTÄTIGEN BEVÖLKERUNG IN % , 1930

Berufe Selbst. Bauern Tagelöhner mittelständische Berufe a akademische Berufe b Militärs Bankiers Handel/Industrie Haushalt c Handwerker d andere qualifiz. Berufe e andere ohne Beruf f

Anzahl Personen 22'595 309'233 11'018 1 '246 1'071 6 10'670 413'372 44'955 7'662

25'004 3'114

Berechnet nach Dirección General de Estadística 1942.

29

MID 2357-199/3 Gwynn am War Department, 7.4.1926 Für eine Analyse vgl. besonders de Mestas 1950: 43ff.

in Prozent der arbeitstätigen Bevölkerung 2.6

36.1 1.3 0.2 0.1

0 1.2

48.2 5.2 0.9 3.0 0.4

243

Die Kategorien umfassen die folgenden Berufe (Nomenklatur gemäss Zensus von 1930): a b c d e /

profesores, periodistas, sacerdotes, religiosos, telegrafistas, telefonistas, calígrafos, oficinistas, tenedores de libros. Abogados, procuradores, dentistas, farmacéuticos, médicos, ingenieros. umfasst sowohl Hausfrauen als auch im Haushalt angestellte Personen, ausschliesslich Frauen, da Berufe wie cocinera, lavandera etc. im Zensus nicht unterschieden wurden. alfareros, bordadoras, costureras, carpinteros, curtidores, herreros, hojalateros, marmolistas, pintores, plateros, panaderos, relojeros, sastres, talabarteros, tejedores, zapateros. enfermeros, motoristas, mecánicos, pirotécnicos, tipógrafos, litógrafos, obstétricas, electricistas, fotógrafos, floristas, músicos, barberos. Differenz zwischen den unter sin profesión subsummierten und den Personen jünger als 14 Jahre. 3 1

Die ländliche Unterklasse blieb bis 1930 das zahlenmässig bedeutendste Element der salvadorianischen Bevölkerung. Daneben hatte sich durch Migration und Urbanisierung eine städtische Unterschicht herausgebildet, die in sich sehr heterogen war: am unteren Ende der Wohlstandsskala standen die Taglöhner und in prekären und temporären Arbeitsverhältnissen Beschäftigten, darüber die qualifizierten Arbeiter und die Handwerker verschiedener Berufe. Die Mittelklasse war stark angewachsen, ihr Schwerpunkt hatte sich von der ländlichen Gruppe der mittleren Landbesitzer hin zu den städtischen Schichten verlagert. Ihre wichtigsten Vertreter waren nun die Angehörigen freier Berufe, die lokalen Eliten der Provinzstädte und die zahlenmässig ebenfalls stark angewachsenen Gruppe der Staatsangestellten. 32 Innerhalb der Oberklasse hatten sich Urbanisierungsprozesse ebenfalls stark ausgewirkt in dem Sinne, dass viele grössere Landbesitzer nicht mehr auf der finca wohnten, sondern in die Stadt zogen und es so zu einer räumlichen Konzentration der nationalen Wirtschaftselite kam. Diese Elite war in sich gespalten. Wie im Kapitel zur Entwicklung der Kaffeewirtschaft (Kap. III.l.B.) gezeigt, hatte die Scheidung in Exporteure und Pflanzer zu unterschiedlichen Tempi bei der Kapitalakkumulation und damit der Statusgewinnung geführt. Die Folge war, dass an der Spitze der Gesellschaftspyramide eine Gruppe von kaum mehr als 40 Familien/Gruppen/Unternehmern stand, darunter eine Gruppe von Pflanzern, deren Einkommen und Vermögen das der restlichen Glieder der Gesellschaft um ein Vielfaches übertraf. 33 31

Nach de Mestas 1950: 44. Wilson 1970: 144f. Dies wird etwa auch durch das Anwachsen der Presseerzeugnisse, Ende der Zwanzigeijahre erschienen acht Tageszeitungen und mehrere Wochenzeitungen, verdeutlicht, vgl. a. Lopez Vallecillos 1964; Figeac 1947 zur Entwicklung des Pressewesens. 33 Die Einkommenssteuer wurde bei Personen erhoben, die ein Einkommen von mehr als 8'000e 32

(4'OOOUS$) jährlich erzielten, Suärez 1921a: 121f. Da der impuesto sobre la renta ab Mitte der

Zwanzigerjahre auf Kaffeeproduzenten nicht mehr angewendet wurde, lassen die 2'196 ausgegebenen matriculas auf das Vorhandensein einer entsprechenden Zahl von wohlhabenden Personen ausserhalb der Kaffeewirtschaft schliessen, Memoria Hacienda 1928. Einige Kaffee-Ex-

244 Die Diskussion um die Klassen- und Schichtenbildung in El Salvador in der Modernisierungsperiode hat die Forschung in zwei Lager gespalten. Eine Richtung betont die fortschreitende Polarisierung, die oft an zeitgenössischen Äusserungen zur sozialen Situation am Ende der Modernisierungsphase aufgehängt wird, deren berühmteste hier wiedergegeben sei: "About 400 B.C. Plato observed that when all the wealth of a country is gathered into the hands of a few individuals there will soon be a revolution in that country. About the first thing one observes when he goes to San Salvador is the number of expensive automobiles on the streets. (...J There appears to be nothing between these high priced cars and the ox cart with its bare-footed attendant. There is practically no middle class between the very rich and the very poor." 34 Solche Beschreibungen verschleiern, dass die salvadorianische Gesellschaft bei aller sozialen Polarisierung differenzierter war, als es zunächst den Anschein macht, auch, weil gewisse Grunddaten wie z. B. die Zahlen zu den Besitzverhältnissen in der Literatur oft falsch interpretiert werden: 3 5 So wird z. B. das Verhältnis von Besitzenden zu Besitzlosen in der Bevölkerung für 1930 mit 8.2% zu 91.8% angegeben, wobei ausser acht gelassen wird, dass hier die Gruppe der Besitzlosen auch die Kinder umfasst. 3 6 Bereinigte Zahlen geben hier ein nach Departementen differenziertes Bild (vgl. nachstehende Tabelle). Andere Kommentatoren betonen die Differenzierung der Gesellschaft stärker, die sie am Anwachsen der Mittelklasse festmachen, und die ebenfalls durch empirische Belege untermauert werden kann. Marroquin scheidet die salvadorianische Gesellschaft für 1930 aufgrund der Berufsgruppen in eine Oberklasse von 640 Personen (0.2%), eine Mittelklasse von 38'247 Personen (4.4%) und eine Unterklasse von 815'359 Personen (95.4%). Nach unserer Aufstellung verschiedener Berufe (s. u.) scheint eine Mittelklasse, die ca. 6% der Bevölkerung und eine Oberklasse, die ca. 0.5% der Bevölkerung umfasste, wahrscheinlicher (vgl. a. Anhang VI), was für die pauschal gefasste städtische und ländliche Unterklasse noch immer 93.5% belässt. 37

porteure erzielten Einkommen von 200'000 US$ pro Jahr. Für 1925 schätzte man die Anzahl Personen mit einem Jahreseinkommen von Uber lOO'OOOe auf ca. ISO Personen, Wilson 1970: 95, 130. 34 RDS 816.00/828 Harris an War Department, 22.12.1931. Zitiert z. B. in Castro Morán 1984: 127f; Burns 1987: 169. 35 Vgl. z. B. Perez Brignoli (1989: 118) der Klassenpolarisierung auf die Enteignung indianischer und ladino-Ländereien, dichte Bevölkerung und "a more advanced acculturation process stemming from the colonial period" sieht, den er allerdings nicht ausführt 36 p í e s schon in Dirección General de Estadística 1942, vgl a. Marroquin 1977: 116; de Mestas 1950: 39. 37 Marroquin 1977: 115f.

245 BESITZENDE / BESITZLOSE: ANTEILE AN DER GESAMTBEVÖLKERUNG / ERWACHSENEN BEVÖLKERUNG, 1 9 3 0

El Salvador Santa Ana Ahuachapán Sonsonate La Libertad San Salvador Chalatenango Cuscatlán La Paz San Vicente Cabañas San Miguel Usulután Morazán La Unión

Anteil an der Gesamtbevölkerung

Anteil an der erwachsenen Bevölkerung

8.2 5.8 6.4 6.1 6.2 7.1 14.6 11.0 9.6 9.1 9.3 9.7 6.4 9.5 9.5

15.3 10.5 12.3 11.0 13.9 12.1 30.1 20.5 18.3 17.3 18.2 18.6 12.0 18.8 19.2

Erwachsene Bevölkerung: über 18 Jahre alt. Quelle: Berechnet nach Dirección General de Estadística 1942.

Grundsätzlich lassen sich für beide Argumentationen Belege anführen, die nicht in dem absoluten Sinne, wie sie in der Literatur erscheinen, gegeneinander ausgespielt werden dürfen: Es ist zu unterscheiden zwischen dem relativen numerischen Gewicht einzelner Gruppen und Schichten innerhalb der Gesellschaft, das tatsächlich auf eine bipolare Gesellschaftsstruktur verweist und ihrer unterschiedlichen sozialen und politischen Stellung, die in Sozialindikatoren und Beschreibungen von Lebensstil und Lebensstandard ihrer Mitglieder ersichtlich wird. Im Hinblick auf die Schichtenbildung brachte die Modernisierung durch Verdrängungsprozesse in erster Linie einen Bedeutungsverlust für die freien Bauern, d. h. Klein- und Mittelbesitzer. Die grossen Bauprojekte im Verein mit den Arbeitserfordernissen der Kaffeewirtschaft absorbierten zumindest einen Teil davon als Saisonarbeiter, die zunehmend proletarisiert, d. h. vollständig auf Lohnarbeit angewiesen waren, zumindest in den Zentren der Kaffeewirtschaft. Weiter wurden Urbanisierungsprozesse wirksam, die dazu führten, dass sich in den Städten eine Schicht von ungelernten Arbeitern ansiedelte, die eine Art von Reservearmee für die spärlichen Industrieprojekte und

246 die erwähnten saisonalen Aktivitäten abgaben - oder aber im informellen Sektor ihr Glück suchten. Die Hochkonjunktur schuf mit dem Wirtschaftsaufschwung Arbeitsmöglichkeiten für diese Gruppe besonders in den grösseren Städten, dazu gehörten etwa auch Arbeitsmöglichkeiten für die weiblichen Mitglieder der Migrantenfamilien, die als Hausangestellte in immer grösserer Zahl Beschäftigung fanden. Für die traditionell starke Handwerksproduktion ergaben sich gleichermassen Möglichkeiten zur Expansion, die zu einem Anwachsen dieser sehr heterogenen Schicht ebenfalls besonders in den grösseren Städten führte, einer Schicht, die sich trotz ähnlicher Lebenssituation vom Subproletariat der unqualifizierten Arbeiter abgrenzte. Von entscheidender Bedeutung war das Anwachsen der Gruppe der "white-collar workers", die Staatsangestellte wie Freiberufler einschloss und den Kern der städtischen Mittelklasse bildete, die zu einer der politisch am deutlichsten artikulierten Gruppen wurde, wobei hier die Militärs eine gesonderte Gruppe bildeten. Der in der Hauptstadt konzentrierte Verwaltungsapparat des Zentralstaates, der nun zunehmend auch als Instrument zur Steuerung wirtschaftlicher Aktivität diente, bot den politisch einflussreichen Schichten Möglichkeiten zur direkten Einflussnahme, was ein Motiv für die vermehrte Ansiedlung der nationalen Eliten in San Salvador gewesen sein mag. Damit präsentierte sich die gesellschaftliche Zusammensetzung zum Ende der Modernisierung etwa folgendennassen: Unabhängig von der Bezugnahme auf die zentrale Wirtschaftsaktivität der Kaffeeproduktion als dem wichtigsten konfigurierenden Faktor der Gesellschaftsstruktur, wie er im Allgemeinen die entsprechenden Diskussionen in der Literatur dominiert, lassen sich ländliche und städtische Gruppen mit unterschiedlichem sozialem Status etwa folgendermassen abgrenzen: 38

Adams (1976: 462f.) geht von einer Vier-Klassengesellschaft aus, zusammengesetzt aus, der cosmopolitan upper class (die 40 Familien der Exporteure und ihre Satelliten), der local upper class der finqueros, die in den Provinzstädten und auf den fincas leben, der local middle class der Handwerker, Angestellten, Geschäftsleute, kleinen und mittleren Landbesitzer und der local lower class der colonos, jornaleros, minifundistas. Sein Schema vernachlässigt die städtischen Klassen und ist im Bereich der Mittelklasse zuwenig differenziert.

247 D I E SALV ADORIANISCHE ZWANZIGERJAHREN

GESELLSCHAFTSSCHICHTUNG

IN

DEN

Nationale Oligarchie Kaffeexporteure, Bankiers, Investoren, oft in Personalunion mit Politikern

Stadl

Land

Oberschicht

Oberschicht

Freiberufler, insbesondere Ärzte, Anwälte. In der Stadt wohnende finqueros, Händler, Exporteure/Importeure, höhere Beamte

finqueros mit grösserem Landbesitz, beneficiadores

Mittelschicht

Mittelschicht

Freiberufler, Staatsangestellte (white collar), bessergestellte Handwerker

finqueros, Händler, Beamte

Unterschicht

Unterschicht

Handwerker, Staatsangestellte (blue collar)

aparceros, colonos

Proletariat und Sub-Proletariat

Proletariat

Gelegenheitsarbeiter, ungelernte Arbeiter, Informeller Sektor

landlose / landarme Saisonarbeiter

Die Modernisierungsprozesse der Zwanzigerjahre wirkten auf die verschiedenen Gruppen innerhalb dieser Gesellschaftspyramide sehr unterschiedlich ein.

248 Die ländlichen

Unterschichten

Fasst man unter den Begriff Proletariat vor allem jene Menschen, die ihren Lebensunterhalt vornehmlich mit Verkauf ihrer Arbeitskraft verdienen, so hatte zwischen 1910 und 1930 im ländlichen Raum El Salvadors eine eindeutige Proletarisierung stattgefunden, selbst wenn man die Abwanderung der davon Betroffenen in die Städte oder Emigration ins Ausland in Rechnung stellt. Es muss deutlich darauf hingewiesen werden, dass hierbei starke regionale Differenzierungen auftraten, so waren die Veränderungen ausserhalb der Zentren der kapitalistisch, d. h. arbeitsteilig organisierten Landwirtschaft nicht so stark wie in den Kaffeedepartementen. In diesen Gegenden (beispielsweise den Departementen Chalatenango oder La Union) blieben Subsistenz- und binnenmarktorientierte Landwirtschaft nach wie vor ein bedeutender Wirtschaftsfaktor und sozial bestimmendes Element und die Besitzstrukturen veränderten sich nicht gleichermassen schnell wie in den Kaffeegebieten. Hier wie dort wurde jedoch traditionelle bäuerliche Lebensweise durch Ausdehnung staatlicher Kontrolle und fortschreitender Einbindung in Marktkreisläufe verändert; ganz besonders betraf dies jedoch die westliche Kaffeeregion. Dies ist umso bedeutungsvoller, als hier eine zwar stark akkulturierte, aber nichtsdestoweniger autonome, kommunalistische kulturelle Entität betroffen war, nämlich die indigene PipiV-Bevölkerung besonders im Departement Sonsonate, in La Libertad und Ahuachapän. Für alle Gruppen, die dem ländlichen Proletariat zuzurechnen sind, gilt, dass die Modernisierung in erster Linie auf den Arbeitsmarkt Auswirkungen hatte, nicht aber auf die Regelung der Arbeitsbeziehungen: Zwar waren alle Landarbeiter durch die Kontrolle der Guardia National sozialer Disziplinierung unterworfen, was eine gewisse Kontrolle des Staates in der zuvor äusserst privaten Sphäre der patron-client-Beziehungen auf den fincas impliziert, doch blieb die persönliche Beziehung zum patron und die Arbeitsmarktsituation wichtigster ökonomischer Faktor. Es zeigten sich hier die Grenzen des wirtschaftlichen Interventionsstaates der Zwanzigerjahre insofern, als die gesamte zwischen 1911 und 1930 in Kraft gesetzte Arbeitsgesetzgebung auf die Landarbeiterschaft keine Anwendung fand, und die ländlichen Arbeitsbeziehungen nach wie vor von der wirtschaftsliberal istisch geprägten Ley Agraria von 1907 bestimmt wurden. 39

Chavarria Kleinhenn (1977: 31) behauptet, Arbeitsbeziehungen seien v. a. durch den Cödigo Civil geregelt worden, was nur auf die Arbeiter und Angestellten ausserhalb der Landwirtschaft zutrifft, eine Minderheit.

249 Die städtischen

Unterschichten

Noch weit mehr von Dislokation und Heterogenität geprägt waren die städtischen Unterschichten. Die Aussicht auf Arbeitsmöglichkeiten führte zu einer Zuwanderung in die Städte, die, wie gezeigt, besonders für die Hauptstadt beachtliche Dimensionen erreichte - die mit den tatsächlichen Arbeitsmöglichkeiten (und der strukturellen Kapazität der Stadt s. u. ) nicht in Einklang standen. Es kam in der Folge zur Bildung eines städtischen "Lumpenproletariats", marginalisierter Gruppen, die nur sporadisch in die städtische formelle Ökonomie eingebunden werden konnten und eine ungesicherte Existenz fristeten. Am meisten von Dislokation betroffen, ohne Möglichkeit zur Subsistenz, bildeten diese Gruppen ein politisch unruhiges Ferment, das sein Aufbegehren aber häufig nur in deviantem Verhalten und Delinquenz deutlich machen konnte. Es war diese Gruppe, die, direkt abhängig von wiederum konjunkturbestimmten Löhnen, der Teuerung von Grundnahrungsmitteln und Wohnung am meisten ausgeliefert war und trotz räumlicher Nähe zu den Verwaltungszentren keine soziale Hilfe seitens des Staates erhielt. Ein Teil ihrer Mitglieder fand Arbeit in den grösseren und kleineren Bauprojekten, die während längerer Zeit grosse Zahlen ungelernter Arbeiter absorbierten, für die Frauen kam der informelle Sektor in dem zur Grossstadt gewordenen San Salvador in Betracht, dazu die Arbeit als Dienstmädchen in der wachsenden Zahl von Haushalten der Mittelund Oberklasse. Arbeit als mozo (Bediensteter) im Staatsdienst und im Transportwesen bot ebenfalls eine Chance auf Geldeinkommen, dazu stand zumindest in den Jahren mit hoher Kaffeeproduktion die temporäre Remigration in die Kaffeegebiete offen. Es braucht nicht betont zu werden, dass all diese Arbeitsmöglichkeiten kurzfristigen Konjunkturschwankungen unterworfen waren, die innert kurzer Zeit zu Massenarbeitslosigkeit und weiterer sozialer Dislokation führen konnten. Ein wichtiges Element der städtischen Unterklasse waren die gelernten Arbeiter und Handwerker, wobei hier die Grenzen fliessend waren. Sehr viele Handwerksbetriebe beschäftigten Angestellte, obwohl die Arbeit noch nicht im Sinne einer industriellen Fertigung mechanisiert und in arbeitsteilige Abläufe nach fordistischem Muster aufgeteilt war. Obwohl Angaben von bis zu 200 Angestellten in einzelnen Betrieben übertrieben scheinen und eher den Ausnahmefall beschreiben, spricht doch das Anwachsen der Handwerker und der Industriearbeiterschaft für sich. 40 1930 gab es im Departement San Salvador (nicht in der Hauptstadt allein, wie oft irrtümlicherweise angegeben) 2'913 Schuster, 1'373 Schneider, 3'660 Zimmerleute und 1'459 Maurer, wohl kaum In diesem Sinne ist Baloyra (1987: 23) zu widersprechen, der angibt, das Aufkommen einer Leichtindustrie zu Anfang des Jahrhunderts habe die Klassenstruktur noch nicht verändert. Chavarria Kleinhenn (1977: 44) spricht von starker Vergrösserung der Produktionseinheiten für Textilien, Nahrungsmittel und Schuhe, die jedoch nur in Einzelfällen (je etwa 1 grössere Fabrik) stattfand.

250 alles selbständige Handwerker, sondern Angestellte in Handwerksbetrieben.41 Industriearbeiterschaft im eigentlichen Sinn gab es kaum, doch gab es etliche Beschäftigte in den neuen industriellen Berufen, die allerdings überwiegend in kleineren Betrieben beschäftigt waren: Drucker fanden in erstaunlicher Zahl ihr Auskommen, und die Linotype-Abteilung der Imprenta Nacional (staatliche Druckerei) beschäftigte Mitte der Zwanzigerjahre Dutzende von Angestellten und Lehrlingen. Mechaniker und Chauffeure fanden Arbeit bei den Strassenund Eisenbahnbauprojekten, aber auch bei den explosionsartig wachsenden Buslinien, die binnen weniger Jahre die Pferdestrassenbahn verdrängten. Ebenso wurden Maurer, Zimmerleute etc. bei den öffentlichen Bauten, aber auch bei der regen Bautätigkeit Privater benötigt, die auch durch die periodisch wiederkehrenden Naturkatastrophen und die notwendigen Wiederaufbauarbeiten eine eigene Dynamik erhielten. 42 Für sie bildete die Modernisierung ein grosses Potential, da nun in vermehrtem Masse arbeitstechnische Fertigkeiten gefragt waren, was sich in stabilen bis steigenden Löhnen niederschlug (vgl. Kap. III.l.D.c.). Die Handwerker sind in ihrer Mehrheit der Unterklasse zuzurechnen und waren als Gruppe so heterogen wie ihre Produktionsformen: Überspitzt kann man festhalten, dass die Vervielfachung der Handwerksbetriebe El Salvadors in den Zwanzigerjahren den Ersatz bildete für den Aufbau einer Industrieproduktion, die nicht zustandekam, weil Handwerker Produkte guter Qualität lieferten, gut organisiert waren, niedrige Lohn- und Produktionskosten hatten und der Investitionsanreiz für den Aufbau einer konkurrierenden Industrie damit zu klein war. Es gab beträchtliche Unterschiede zwischen den und innerhalb der einzelnen Branchen der Handwerksproduktion. Handwerker wie Schneider, Schuster oder Sattler wurden als Erzeuger von Qualitätswaren angesehen, wehrten sich erfolgreich gegen industrielle Konkurrenz und hielten ihr handwerkliches Produktionsniveau aufrecht. Ähnliches gilt für Bäcker, Zimmerleute und Maurer, doch waren andere Handwerker/Arbeiter, die in protoindustrielle Arbeitsformen eingebunden wurden, wesentlich weniger privilegiert. Ein Beispiel hierfür sind die Schlachter, die zwar zum grossen Teil als selbständige Handwerker wirtschafteten, aber in den Betrieb der Schlachthöfe eingebunden, im Akkord arbeiteten und von den Viehbesitzern abhängig waren. All diesen Handwerkern war jedoch eine hohe soziale Mobilität gemeinsam, auch ermöglicht durch die geringe Grösse der Betriebe: Der Schritt vom angestellten Arbeiter zum selbständigen handwerklichen Kleinunternehmer war jederzeit möglich, ebenso wie der Abstieg ins Proletariat, wenn die ungünstige Wirtschaftssituation zum Aufgeben selbständiger Handwerkstätigkeit

Dirección General de Estadística 1942 1930. Die irrtümlichen Angaben bei Wilson 1970: 144; Russell 1984: 28. 42 Vgl. Urrutia Flamenco 1924, der deshalb San Salvador als "ciudad fénix" bezeichnet.

251

zwang. 43 . Die Handwerkerschichten waren stark abhängig von der Güternachfrage nach ihren oft nicht existentiell notwendigen Konsum- und Gebrauchsgütern spezialisierter Produktion; zusätzlich wurden auf dem mittelalterlichen Niveau der hauswirtschaftlichen Kleinbetriebe aus dem ländlichen Bereich stammende patron-client Beziehungen reproduziert. All dies verhinderte eine berufsübergreifende Klassensolidarität dieser bis in die Zwanzigerjahre ständisch und mutualistisch organisierten Berufe, die erst in der zweiten Hälfte der Zwanzigeijahre gewerkschaftliche Organisationsformen übernahmen. Für die Arbeitnehmerinnen bildeten Dienstleistungen eine wichtigee Arbeitsmöglichkeit. Insbesondere die starke Präsenz von Armee und Guardia Nacional in San Salvador und den Departementshauptorten verschaffte einer Vielzahl von Frauen Arbeit, die als rancheras und lavanderas für die Verköstigung der Soldaten und die Wäsche der Uniformen zuständig waren. Eine wichtige Gruppe waren die im Kleinhandel tätigen Personen. Innerhalb dieser Gruppe bildeten die Marktfrauen eine gut organisierte Gruppe. Zur Unterklasse müssen die Trägerinnen dieser Gruppe in ihrer Mehrheit deshalb gerechnet werden, weil in vielen Fällen diese Form von Kleinhandel prekär und im informellen Sektor anzusiedeln war; häufig bildete diese Arbeitsform die Existenzgrundlage für die immer zahlreicheren Familien ohne männliches Familienoberhaupt. Die Heterogenität der Gruppe wird im übrigen durch die vielfältigen Arbeitsformen deutlich, die von informellem Strassenhandel bis zur täglichen Tätigkeit an einem gepachteten Stand im mercado central reichen konnte. Die

Mittelschichten

Die ländliche Mittelklasse war gegen Ende der Zwanzigerjahre zahlenmässig beinahe zu vernachlässigen. Sie bestand aus dörflichen Handwerkern in prestigereicheren Berufen (Schmiede, Schreiner) aus den mittleren Landbesitzern, aus Händlern und aus staatlichen Beamten: dem alcalde, sofern er nicht ein örtlicher Grossgrundbesitzer war, dem Kommandanten des lokalen Détachements der Guardia Nacional, der Lehrerschaft, dem Klerus, und dem Telegraphisten. Ein starkes Element der Schwäche der "nationalen" ländlichen Mittelklasse war, dass der Detailhandel praktisch vollumfanglich in ausländischer Hand, meist von chinesischen und arabischen Einwanderern war. Sie erhielten So beschreibt der kommunistische Funktionär Miguel Mármol seinen Aufstieg zum selbständigen Kleinunternehmer als Besitzer einer Schusterwerkstatt: "Mis sueldos y ganancias extras aumentaron rápidamente y me propuse ahorrar lo más posible para tratar de independizarme y montar mi propio taller, aunque comenzara en un cuchitril.(...) Felizmente, pude conseguir algunos préstamos con amigos y vecinos de Uopango e inclusive pude tener una pequeña ayuda económica de parte de mi hermana mayor que había tenido éxito en sus negocios, con todo lo cual compré una maquina cosedora de segunda mano, herramientos y material para calzado y pude tener mi propio taller.", Dalton 1983: Slf.

252

eine wichtige Stellung durch Verkauf auf Kredit und Vergabe von Darlehen und bestimmten so zwar nie die lokale Politik, aber zu einem beträchtlichen Masse die dörfliche Wirtschaft. Sie reproduzierten gewissermassen die für die zentrale Aktivität der Kaffeewirtschaft und die nationale Wirtschaft charakteristische Dominanz ausländischer Financiers auf der dörflichen Ebene. 44 Als Beispiel für die geringe zahlenmässige Bedeutung der ländlichen Mittelschicht können die Verhältnise im ländlichen Departement Chalatenango dienen, das keine grösseren Ortschaften besass. Die einzigen Berufsgruppen aus der Mittelschicht, deren Anteil an der Gesamtbevölkerung überhaupt messbar wurde, waren die Händler (0.4%), die Telegrafisten (0.1%) Büroangestellten (0.2%) und die Lehrerinnen (0.2%), sowie ein Teil der nicht näher differenzierten agricultores, die gesamthaft 1.1% der Gesamtbevölkerung ausmachten, während die jornaleros (Tagelöhner) mit 24.8% und die im Haushalt beschäftigten (28.8%) den grössten Anteil ausmachten. Selbst in Santa Ana, einem weit stärker urbanisierten Departement war die Situation vergleichbar, ausser dass dort Militärs (0.1%) und Buchhalter (0.1%) zu den obengenannten Berufsgruppen hinzukamen, und der Anteil der Händler sich auf 1.3% und jener der Büroangestellten auf 0.5% erhöhte. 45 Es ist aus dieser Auflistung ersichtlich, wie heterogen diese Gruppe war und wie verschieden ihre Interessen sein mussten. Mit Ausnahme der Landbesitzer war ihre Zahl verschwindend klein, und so waren es auch nur diese, die sich zu einer pressure group formierten, da sie, von Kapitalknappheit betroffen, mit der Konzentration der Kaffeewirtschaft ebenso wie dem sozialen Druck der lohnabhängigen Landarbeiterschaft direkt konfrontiert waren. Da sich jedoch nach der Krise 1921 mit der Erhöhung der Kaffeepreise ihre Ertragslage wesentlich verbesserte, wurde ihre häufig im Hinblick auf Kapitalkosten, Fremdfinanzierung und Preisabhängigkeit prekäre Lage überdeckt und ihre Krisenanfälligkeit wie ihre Identität als Gruppe wurde erst im Vorfeld der Weltwirtschaftskrise erneut deutlich. Noch heterogener war die städtische Mittelklasse. Ihr gehörte die wachsende Zahl von Freiberuflern an, Ärzte, Anwälte, Architekten, Ingenieure und Universitätsdozenten, dazu der städtische Klerus und die wachsende Beamtenschaft inklusive der Offiziere, die in den Zwanzigerjahren mit neuem Selbstverständnis als eigener Berufsstand auftraten. Einen ungefähren Eindruck vom Anwachsen dieser Angehörigen akademischer Berufe geben die Zahlen der Universitätsstudenten.

44

Ein Indiz für ihre wichtige Stellung und auch ihren Wohlstand ist die Tatsache, dass viele von Ihnen einen Telephonanschluss verfügten, auch auf dem Land, zu einem Zeitpunkt, als in vielen Fällen die alcaldía und eine öffentliche Sprechstelle bzw. das Telegraphenbüro die einzige Verbindung zur Aussenwelt darstellten, Telefonos Nacionales. República de El Salvador, Centro América. Directorio 1922. 4 5 Dirección General de Estadística 1942.

253 UNIVERSITÄT: STUDIERENDE UND PERSONAL, 1 9 1 4 - 1 9 3 1 Jahr

Studierende

1914 1916 1926 1927 1928 1929 1930 1931

220 150 180 289 377 411 430 433

Dozenten

Graduierte

15

57

30

Quelle: Anuario Estadístico. Für 1929 302 Studierende nach Anuario Estadístico für 1929, hier angegebene Zahl nach Anuario Estadístico für 1931.

Ein wichtiges Element bildeten die Angestellten der Handelsfirmen, die mit den Staatsangestellten zusammen zu einer wichtigen Interessengruppe wurden, wie u. a. die Durchsetzung ihrer Interessen in den Arbeitsgesetzen der Regierung Romero Bosque verdeutlicht. Beide Gruppen hatten ausgeprägt Urbane Wurzeln, pflegten einen entsprechenden Lebensstil und grenzten sich - trotz oftmals ähnlicher Einkommenssituation - stark gegenüber der Handwerkerschicht ab, sichtbar etwa in der Bildung eigener mutualistischer Interessensorganisationen und dem Fernbleiben von der gewerkschaftlichen Organisation im Dachverband Federación Regional de Trabajadores de El Salvador in der zweiten Hälfte der Zwanzigerjahre. Entsprechend der starken Mobilität der Mitglieder der städtischen Mittelklasse waren Interessengegensätze innerhalb dieser schlecht definierten Gruppe ausgeprägt. Ihr Anwachsen war ebenfalls konjunkturell bestimmt, aber krisenanfällig, so entliess die Universität mehr Angehörige akademischer Berufe, als der freie Markt absorbieren konnte, was zu einer ständig stärkeren Nachfrage nach staatlichen Stellen besonders seitens der Anwälte führte. Insbesondere die Mittelklasse war mit Sicherheit das dynamischste Element und dazu das politisch am meisten artikulierte Segment der salvadorianischen Gesellschaft der Zwanzigerjahre, wenn sie auch in Dutzende von Berufsgruppen mit unterschiedlichen Interessen aufgesplittert war. Dies wird schon durch die Tatsache, dass die Presse stark von ihren Vertretern beherrscht war, deutlich. Wichtigstes Charakteristikum dieser Schicht war ihre Bindung an den Staat: Ob als Staatsangestellte, Militärs, freie Akademiker, Händler oder Angestellte, sie richteten ihre Appelle und Forderungen, die sich auf fiskalische Besserstellung, bessere Verteilung der Gewinne der Exportwirtschaft oder soziale Reformen bezogen, an den Staat. Diese Gruppe markierte am deutlichsten die generelle Tendenz eines Abrückens von wirtschafts- und sozialpolitischen Positionen des Liberalismus und seiner Staatskonzeption eines möglichst ungeregelten Funktionierens von Wirtschaft und Gesellschaft. Augenfällig war hierbei die

254 Diskrepanz zwischen der sozialen und politischen Mobilisierung der Mittelschichten und ihrer tatsächlichen politischen Partizipation und Einflussmöglichkeit vor 1931, die in sich den Keim politischer Destabilisierung bei einem plötzlichen Umschwung der Verhältnisse, wie er in den freien Wahlen 1931 verkörpert war, trug.

Die Oberschichten Die ländliche Oberklasse hatte sich mit dem Zusammenrücken der nationalen Gesellschaft ebenfalls verändert. Zwar blieb die Bodenbesitzstruktur bei den grösseren Grundstücken im Vergleich zu den Klein- und Mittelbesitzern relativ unverändert, doch verlor die Klasse der führenden Grundbesitzer zunehmend ihre ländliche Basis und siedelte in die Städte über. An ihre Stelle traten intermediäre Schichten, die nun wirtschaftliche Vormacht und politische Dominanz auf der lokalen Ebene verkörperten, die allerdings im Zeichen des erstarkten Zentralstaates an Bedeutung verloren hatte. 46 Im Gegensatz zum städtischen Umfeld war hier Landbesitz immer noch ein wichtiges Kriterium für die Bestimmung des sozialen Status' einer Person. Im städtischen Rahmen bildete sich hingegen eine heterogenere Oberklasse heraus, die hier als sozial hochstehende, ökonomisch potente Schicht zu verstehen ist, die allerdings keinen Anteil an der politischen Macht hatte. Politisch am ehesten mit der Gruppe der "idealistischen" Liberalen zu identifizieren, waren auch sie auf Landbesitz gestützt, der nicht nur im lokalen, sondern im regionalen und nationalen Rahmen bedeutend war. Diese Schicht begriff sich traditionell und paternalistisch als Pflanzerschicht und hatte in der Vergangenheit die politische Macht verkörpert. Sie blieb sozial nach wie vor führend, politisch hingegen von der Macht ausgeschlossen, wenn einzelne ihrer Mitglieder auch versuchten, die politische Macht zurückzuerobern. Scharf von dieser Gruppe getrennt, aber derselben Schicht zugehörig, kamen neue städtische Eliten auf, die v. a. auf Vermögen gründeten, das dem Handel entstammte, und nun Eingang in die sozial bestimmenden Schichten fand. An der Spitze der sozialen Pyramide stand die nationale Oligarchie der späten Zwanzigerjahre. Sie war in ihrer Zusammensetzung eher Produkt als Basis der Monopolisierung der politischen Herrschaft durch ein enges Segment Vgl das Beispiel Juayúa, wo der Vertreter der Exportfirma Borghi, B. Daglio & Co, Emilio Redaelli, als alcalde und gleichzeitiger Präsident der Junta de Agricultores eine starke Stellung erhielt und zu einem eigentlichen Dorfpotentaten wurde, Méndez 1932: 52f. AGN-MG, Nómina de las personas que integran las municipalidades de todas las poblaciones de la República durante el período 1926 a 1927; AGN-MG, Municipio Juayúa an Ministerio de Gobernación; Asociación de Agricultores de Juayúa an Ministerio de Gobernación, August 1931. Zur ähnlichen Situation in Metapán Valiente/Monterrosa 1931:46. Zur Kontinuität selbst in einer grossen Stadt wie Santa Ana, wo die alcaldes aus der Grossbürger- und Pflanzerschicht stammten Galdames Armas 1943: 243f. So übte eine Person die alcaldía 1912, 1926, 1927, 1934 und 193S aus.

255 der Gesellschaft und von ihrer Herkunft her äusserst heterogen, dazu in zwei komplementäre Teile gespalten: Man muss zu ihr auch die im Lande ansässigen ausländischen Wirtschaftsmagnaten zählen, soweit sie im Lande selbst etabliert waren. Diese, Immigranten oder Nachkommen von Immigranten bildeten einen gewissermassen extranationalen Teil der Wirtschaftselite auf nationaler Ebene, setzten ihren Einfluss aber mit Lobbypolitik und persönlichen Beziehungen zur nationalen Elite durch, die teilweise erst mit der Monopolisierung der Macht an Status gewann, wenn auch einzelne dieser extranationalen Magnaten selbst diskret Politik machten. 4 7 Prominente Vertreter dieser Gruppe waren die Familien/Firmen Meardi, de Sola, Duke und Bloom, deren Mitglieder nur indirekt politisch aktiv wurden. 4 8 Zu ihnen gesellte sich Rene Keilhauer, französischer Einwanderer und polyvalenter Unternehmer, bestimmt der wichtigste ausländische Financier. Sie alle pflegten Beziehungen zu den Familien der Oligarchie, deren wichtigste, Meléndez, Guirola und Gallardo über eine eigene solide Kapitalbasis für Reinvestition in profitable Unternehmungen und damit weitere Mehrung ihrer beträchtlichen Vermögen verfügten. 4 9 Es ist signifikant, dass die dominierende Gestalt der salvadorianischen Politik der Zwanzigerjahre, Alfonso Quiñónez Molina, erst durch familiäre Bindungen und politische Korruption ein seinem politischen und sozialen Status entsprechendes Vermögen anhäufte. Ebenfalls ist signifikant, dass sein Nachfolger Pío Romero Bosque an sozialem Status nicht an seine Vorgänger heranreichte, aber seine Wirtschaftspolitik ganz nach den Interessen der Exporteure und Bankiers ausrichtete. Dies zeigt die Komplexität der politischen Mechanismen, wie sie durch die autoritäre Modernisierung und Monopolisierung politischer Macht herbeigeführt worden war. In diesem Zusammenhang ist die Scheidung der Eliten, d. h. der Oberklasse und der Oligarchie in zwei Fraktionen, die eine exportorientiert und modernisierend, die andere von der Gruppe der konservativen Pflanzer gebildet, entscheidend. Während einzelne Forscherinnen zu recht Familienbeziehungen als wichtiges verbindendes Element innerhalb der Eliten betonen, waren es diese Beziehungen im Verein mit der politischen Ausrichtung, die die Zugehörigkeit einzelner Mitglieder der Eliten zur einen oder anderen Fraktion bestimmte. 5 0 Es ist wichtig, festzuhalten, dass diese sozialen und wirtschaftlichen Eliten nicht identisch waren mit den politischen Eliten, wie Beispiele zeigen: der als soziale Führerfigur angesehene Miguel Dueñas befand sich in 47

Zur auch längerfristigen Bedeutung der Immigranten innerhalb der Eliten Lindo Fuentes 1990: 182. Nach ihm gingen von den 63 reichsten Familien El Salvadors 1977 21 auf im 19. Jahrhundert etablierte Familien zurück, 38 waren Nachkommen von Immigranten aus späterer Zeit und nur 4 hatten ihr Vermögen nach 1950 erworben. Vgl a. Paige 1993: 11. 48 Ward 1916: 164 zu Meardi, 1916: 246 zu Borghi, B. Daglio & Co. Zur politischen Zurückhaltung Wilson 1970: 138. Benjamin Bloom war Mitglied der Junta de Fomento in San Salvador, RDS 816.151/4 Dickson an Kellogg, 23.8.1928. Der Bankier Rodolfo Duke und der Grossindustrielle Rafael Meza Ayau waren 1931 Mitglieder des Consejo Econömico Consultor der Araujo-Regierung, AGN-CL Decreto Ejecutivo, 10.3.1931. 49 Zur Melendez-Familie Ward 1916: 222. 50 Baloyra Herp 1987: 22f.

256 einem ständigen politischen Gegensatz zur politischen Fraktion der Gebrüder Meléndez und Alfonso Quiñónez Molinas, dasselbe galt für den schwerreichen Zuckerpflanzer Eugenio Araujo und seinen Sohn Arturo, den späteren Präsidenten. 51 Wie u. a. das Beispiel des an sich in San Miguel domizilierten und den dortigen Kaffeehandel kontrollierenden Mauricio Meardi zeigt, wurde die Hauptstadt in der Modernisierungsperiode zur bevorzugten Residenz dieser Oberklasse. 52 Der tatsächliche zahlenmässige Zuwachs dieser in der Hauptstadt konzentrierten "cosmopolitan upper class" wie sie Adams nennt, ist schwer zu eruieren, tatsächlich war ein hervorstechendes Charakteristikum dieser Gruppe ihre häufige Reisetätigkeit und jahrelange Auslandsabwesenheit. Adams betont ihren parasitischen Charakter und rechnet Rechtsanwälte, Erben und die Kaffeebarone zu ihren Mitgliedern - eine äusserst diffuse Zuordnung, die für eine zahlenmässige Eingrenzung nicht hilfreich ist. 53 Schon in den Dreissigerjahren wurde die Oberklasse mit dem Terminus der "40 Familien" umschrieben, was auf ihre geringe Anzahl hinweist, zu den Millionären zählte man einige Jahre später etwa 30 Familien, während die gesamte Elite auf 2% der Bevölkerung geschätzt wurde.54 Die Angabe, dass 1930 fünf Pflanzer die Hälfte der Kaffeebeneficios gemäss ihrem Versicherungswert kontrollierte, ist jedoch, wie erwähnt, wegen der unvollständigen Datenbasis weit übertrieben. 55 Auch die Angabe, dass 350 Produzenten (von 3'400) die Kaffeeproduktion kontrollierten und deshalb die wirtschaftliche Elite bildeten, weil sie mehr als 75 manzanas (50ha) bebauten, ist eine recht willkürliche Interpretation, weit aufschlussreicher die Angaben zum Jahreseinkommen der reichsten dieser Produzenten, 200'000