Nationalsozialistische Täterschaft in der autobiografischen Familienliteratur: Argumentationen und narrative Strategien 9783111009094, 9783111007694

In the German culture of remembrance, debates about the National Socialist past and the Second World War have changed co

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Nationalsozialistische Täterschaft in der autobiografischen Familienliteratur: Argumentationen und narrative Strategien
 9783111009094, 9783111007694

Table of contents :
Danksagung
Inhalt
Einleitung
Erster Teil: Medienkultureller Kontext
1 Erinnerungstheoretische Grundlagen
2 Politische, gesellschaftliche und wissenschaftliche Rahmen der Erinnerungslandschaft in Deutschland
3 Gattungsspezifische Anmerkungen zum autobiografischen Schreiben
Zweiter Teil: Vergleichende Werkanalysen
1 Deutscher Opferdiskurs und Widerspruch zwischen individuellem, familiärem und kollektivem Gedächtnis: Uwe Timms Am Beispiel meines Bruders und Dagmar Leupolds Nach den Kriegen. Roman eines Lebens
2 Heimat, Tradition und Identität im familiären Chronotopos: Stephan Wackwitz’ Ein unsichtbares Land. Familienroman und Thomas Medicus’ In den Augen meines Großvaters
3 Von der Schamabwehr zum Dialog: Alexandra Senffts Schweigen tut weh. Eine deutsche Familiengeschichte und Claudia Brunner/Uwe von Seltmanns Schweigen die Täter, reden die Enkel
Schlussbetrachtung
Literaturverzeichnis
Personenverzeichnis

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Hyunah Woo Nationalsozialistische Täterschaft in der autobiografischen Familienliteratur

Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte

Band 172

Hyunah Woo

Nationalsozialistische Täterschaft in der autobiografischen Familienliteratur Argumentationen und narrative Strategien

Siegen, Univ., Diss., 2022 Der vorliegende Band wurde im Februar 2022 als Dissertation an der Philosophischen Fakultät der Universität Siegen angenommen.

ISBN 978-3-11-100769-4 e-ISBN (PDF) 978-3-11-100909-4 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-100918-6 ISSN 0083-4564 Library of Congress Control Number: 2023932397 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbiblio­grafie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2023 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com

Danksagung Die vorliegende Arbeit ist die überarbeitete Fassung meiner Dissertation, die im Juli 2021 von der Philosophischen Fakultät der Universität Siegen angenommen und dort im Februar 2022 verteidigt wurde. Mein ganz besonders herzlicher und persönlicher Dank gilt meinem Doktorvater, Herrn Prof. Dr. Peter Matussek, der mir jederzeit mit Rat und Tat zur Seite gestanden hat. Ohne seine freundliche Unterstützung, seine vielfältigen Ratschläge und Anregungen wäre diese Arbeit kaum in der hier vorliegenden Form zustande gekommen. Auch bei meinem Zweitgutachter, Herrn PD Dr. Michael Lommel, möchte ich mich herzlich für seine hilfreiche Unterstützung und Beratung bedanken. Ebenso habe ich Dr. Ingo Köster herzlich zu danken, der sich der mühevollen Arbeit des Korrekturlesens angenommen und mit seinen wertvollen Hinweisen zum Entstehen dieser Arbeit beigetragen hat. Das Erstellen einer Dissertation ist bekanntlich mit vielen Hoch- und noch mehr Tiefpunkten verbunden. Allen meinen engen Freunden danke ich für Zuspruch und Ermunterung in schwierigen Phasen. Nicht zuletzt danken möchte ich meinem Mann, Jongyoon Yoo, meinen Eltern, Seonja Cho und Bonghee Woo sowie meinen Schwiegereltern, Hyungja Hwang und Suheon Yoo, die mir während der gesamten Entstehungszeit dieser Arbeit den Rücken freigehalten, für mich gebetet und mich immer bestärkt hat, mit dem Schreiben fortzufahren. Ihnen sei dieses Buch gewidmet. Schließlich danke ich Gott, der mich auf meinem Weg begleitet. Seoul, im Januar 2023

https://doi.org/10.1515/9783111009094-001

Inhalt Einleitung

1

Erster Teil: Medienkultureller Kontext  Erinnerungstheoretische Grundlagen 15 15 . Autobiografisches Gedächtnis und individuelle Erinnerung .. Individuelle Gedächtnissysteme 16 .. Struktur der individuellen Erinnerung 17 19 . Gedächtnis und Erinnerung im kulturellen Kontext .. Maurice Halbwachs: Das kollektive Gedächtnis 20 .. Gedächtnisformen: Kommunikatives, kollektives und kulturelles 22 Gedächtnis . Autobiografische Familienliteratur als Medium der Inszenierung von Erinnerungskämpfen 25 

Politische, gesellschaftliche und wissenschaftliche Rahmen der Erinnerungslandschaft in Deutschland 28 . Öffentliche Erinnerungsdiskurse 28 .. Kollektives Gedächtnis als umkämpfter Raum: Vergangenheitsbewältigung 30 vs. Eingedenken .. Die offizielle Gedenkkultur zwischen Etablierung und Kritik 34 37 ... Opferzentrierung und Ritualisierung ... Erinnerungsabwehr 39 40 .. Die Entwicklung zweier konkurrierender Erinnerungspraktiken ... Diskurs um Täterschaft 42 ... Der neue deutsche Opferdiskurs 44 . Familiäre Erinnerungsdiskurse 48 .. Familiengedächtnis 48 .. Transgenerationalität 50 . Die Zukunft des Erinnerns: Historisierung? 56 . Autobiografische Familienliteratur als sekundäre Zeugenschaft 60 

Gattungsspezifische Anmerkungen zum autobiografischen Schreiben 66 . Schnittstellen zwischen Historiografie und Autobiografie

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VIII

. . . .

Inhalt

Zum Wesen des autobiografischen Schreibens: Dichtung und 71 Wahrheit Autobiografisches Schreiben im Spannungsfeld zwischen Repräsentation und Konstruktion 76 Autobiografisches Schreiben als performatives Handeln 79 Zwischenfazit und Überleitung zur Werkinterpretation: Autobiografien als 85 poietische Erinnerungsnarrative

Zweiter Teil: Vergleichende Werkanalysen 

Deutscher Opferdiskurs und Widerspruch zwischen individuellem, familiärem und kollektivem Gedächtnis: Uwe Timms Am Beispiel meines Bruders und Dagmar Leupolds Nach den Kriegen. Roman eines 91 Lebens . Uwe Timm: Am Beispiel meines Bruders 97 100 .. Unverarbeitete Vergangenheit der Familie .. Zur Normalität von Schuld am Beispiel der Familienmitglieder 104 ... Unschuldig schuldig? Die Wahrheit über den Bruder 104 ... Selbstlegitimation der Tätergeneration 116 118 .. Von der Ambivalenz koexistenter Gedächtnisformation .. Erinnern an die Verdrängung von Erinnerungen 121 .. Unabschließbarkeit der Geschichte 124 127 . Dagmar Leupold: Nach den Kriegen. Roman eines Lebens .. Spaltende Kraft der Familienlegende 130 .. Nachkriegsfamilie. Die Gefahr der Alltäglichkeit 133 .. Historische Wahrheit über den Vater 139 .. Eine Mentalitätsstudie 147 .. Umschreibung der Familienlegende 152 . Fazit: Vereinbarkeit von Leid und Schuld 154 

Heimat, Tradition und Identität im familiären Chronotopos: Stephan Wackwitz’ Ein unsichtbares Land. Familienroman und Thomas Medicus’ In den Augen meines Großvaters 160 . Stephan Wackwitz: Ein unsichtbares Land. Ein Familienroman 168 170 .. Topografie der Erinnerung .. Das Unheimliche als Deutungsrahmen 174 .. Im Labyrinth der Traditionen 181 ... Tradtionsstörung 181

Inhalt

IX

... Tradition des Großvaters 185 ... Wurzel des deutschen Faschismus und Suche nach einer alternativen 188 Tradition .. Kontinuität der Genealogie 194 .. Selbsthistorisierung oder Entdifferenzierung der Geschichte? 198 202 .. Rückkehr zur Normalität . Thomas Medicus: In den Augen meines Großvaters 206 209 .. Nachbilder der Landschaft .. Fotografien als visuelle Gedächtnismedien 216 .. Reise und Ortsgedächtnis 225 227 .. Historie im Spannungsfeld von Fakten und Fiktionen .. Quellenkritik auf metahistoriografischer Ebene 232 . Fazit: Pluralisierung der Geschichte und Ethik der Erinnerung 236 

Von der Schamabwehr zum Dialog: Alexandra Senffts Schweigen tut weh. Eine deutsche Familiengeschichte und Claudia Brunner/Uwe von Seltmanns 241 Schweigen die Täter, reden die Enkel . Alexandra Senfft: Schweigen tut weh. Eine deutsche Familiengeschichte 250 .. Die Hüterin des Familiengedächtnisses 252 254 .. Der Mythos vom guten Nazi .. Trauer und Melancholie 259 .. Krypta als familiäre Angelegenheit 262 267 .. Die ‚Geschichte in uns‘ erkennen . Claudia Brunner und Uwe von Seltmann: Schweigen die Täter, reden die Enkel 268 .. Claudia Brunner: Phantomschmerzen 270 ... Vom Privaten in die Öffentlichkeit 271 ... Persönliche Verbindungen zur Geschichte herstellen 272 ... Zwischen Familienloyalität und Aufklärung 275 ... Von der Verheimlichung zur Veröffentlichung 276 .. Uwe von Seltmann: „Er war ein großer Charmeur …“ 278 ... Die Macht der kollektiven Identität 278 ... Hindernisreiche Erkundungsprozesse 281 ... Familientradition 283 285 ... Versöhnung durch die Konfrontation mit Scham . Fazit: Erinnerung als ständige Arbeit an der eigenen Identität 286 Schlussbetrachtung

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X

Inhalt

Literaturverzeichnis 300 300 Primärliteratur Sekundärliteratur 300 Sonstiges 319 Personenverzeichnis

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Einleitung Die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und seinen Verbrechen spielt bis heute eine zentrale Rolle für das Selbstverständnis der Bundesrepublik Deutschland. Es gilt als zentraler Bezugspunkt der deutschen Erinnerungskultur, „daß Auschwitz nicht sich wiederhole“¹. Diese moralische Schlussfolgerung aus dem schwerwiegenden historischen Erbe der nationalsozialistischen Vergangenheit ist in der offiziellen Erinnerungskultur der Bundesrepublik fest verankert. In den vergangenen Jahrzehnten hat sich die Aufmerksamkeit kontinuierlich stärker auf das Erinnern und Gedenken des Holocaust zentriert. Dieser Prozess der Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit ist jedoch mit großen Spannungen verbunden, die nicht zuletzt auf die Diskrepanz zwischen privater Überlieferung in der Familie und staatlicher Gedenkkultur zurückzuführen sind. Während die Täterschaft der ‚ganz gewöhnlichen Deutschen‘ mittlerweile von der historischen Forschung herausgearbeitet wurde,² haben diese wissenschaftlichen Erkenntnisse nur gebrochen Eingang in die Familiengeschichte der Deutschen gefunden.³ Der Soziologe Heinz Bude resümiert in seinem Buch Bilanz der Nachfolge, dass dem „bundesrepublikanischen Nachfolgeverständnis zufolge […] unsere Gesellschaft im Inneren nationalsozialistisch imprägniert“⁴ ist, denn „an den Familiengeschichten kann man, wenn man nur richtig hinsieht, verfolgen, wie die verleugnete Realität weiterwirkt“⁵. Der Sozialpsychologe Harald Welzer und seine Mitautoren weisen in ihrer Studie „Opa war kein Nazi“. Nationalsozialismus und Holocaust im Familiengedächtnis darauf hin, dass die über die NS-Geschichte gut informierte jüngere Generation paradoxerweise am stärksten dazu neigt, eine Beteiligung der eigenen

 Theodor W. Adorno: Erziehung nach Auschwitz, in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 10 2: Kulturkritik und Gesellschaft, hrsg. von Gretel Adorno und Rolf Tiedemann, Frankfurt a. M. 1977, S. 674– 690, hier S. 674.  Vgl. Christopher Browning: Ganz normale Männer. Das Reserve-Polizeibataillon 101 und die „Endlösung“ in Polen, Hamburg 1999; Daniel Goldhagen: Hitlers willige Vollstrecker. Ganz gewöhnliche Deutsche und der Holocaust, Berlin 1996; Harald Welzer: Täter. Wie aus ganz normalen Menschen Massenmörder werden (Die Zeit des Nationalsozialismus), Frankfurt a. M. 2005.  Vgl. Thomas Kühne: Dämonisierung, Viktimisierung, Diversifizierung. Bilder von nationalsozialistischen Gewalttätern in Gesellschaft und Forschung seit 1945, in: Oliver von Wrochem (Hrsg.): Nationalsozialistische Täterschaften. Nachwirkungen in Gesellschaft und Familie, Berlin 2016, S. 32– 55.  Heinz Bude: Bilanz der Nachfolge. Die Bundesrepublik und der Nationalsozialismus, Frankfurt a. M. 1992, S. 100.  Ebd., S. 32. https://doi.org/10.1515/9783111009094-002

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Einleitung

Verwandten an Verbrechen auszuschließen oder zu verharmlosen.⁶ Die im privaten Rahmen der Familie überlieferten Erinnerungen an die NS-Zeit stehen somit dem vermittelten Wissen um den Holocaust gegenüber. Das Problem der kognitiven Dissonanz zwischen historischem Wissen und Familiengeschichte und deren gravierenden Folgen für das Geschichtsbewusstsein reflektiert Cordt Schnibben, Journalist und selbst Kind eines Nazi-Täters 2014 im Spiegel: Das wichtigste Medium für die Vermittlung von Geschichte ist die Familie und wir – die antifaschistische Generation der Nazi-Kinder – haben uns diese Geschichte rauben lassen. Darum haben wir ein entvölkertes Wissen über die Nazi-Zeit, das sich aus Büchern, TV-Serien und Hollywood-Filmen speist. […] Es bleibt aber immer eine Diskrepanz zwischen verordneter, öffentlicher Reue und privater Verdrängung.⁷

Gerade dieser Spalt zwischen offizieller Anerkennung der NS-Verbrechen und gleichzeitiger Verharmlosung der eigenen Familiengeschichte steht im Brennpunkt der deutschen erinnerungskulturellen Diskussion der letzten Jahre. Vor diesem Hintergrund wird die Kritik an der etablierten Erinnerungskultur laut, die Empathie gegenüber den Opfern des nationalsozialistischen Regimes und davon ausgehend eine eindeutige Distanzierung von den Tätern vorschreibt, da Distanzierung die offene, kritische Auseinandersetzung mit der Täterschaft erschwert und dadurch die Nachwirkungen ihrer ideologischen Muster bis in die Gegenwart ausgeblendet lässt, „als gäbe es keine Nachgeschichte und keinerlei Weiterwirken von Überzeugungen“⁸. Im Zuge der umfangreichen Forschungen zu einem breiten Kreis von NS-Tätergruppen seit den 1990er Jahren rücken Entstehungsbedingungen der systematischen Gewalt, psychische Mechanismen der Täter und Folgen dieser Gewalt bis in die Gegenwart zunehmend in den Fokus der Vergangenheitsdiskurse.⁹ Damit einhergehend werden die Folgen der Schuldverstrickung von Tätern und Mitläufern für deren Nachkommen vermehrt wahrgenommen. Die sozialpsychologisch, psychoanalytisch und psychotherapeutisch an-

 Vgl. Harald Welzer/Sabine Moller/Karoline Tschuggnall: „Opa war kein Nazi“. Nationalsozialismus und Holocaust im Familiengedächtnis, Frankfurt a. M. 2002, S. 13.  Cordt Schnibben: Mein Vater, ein Werwolf, in: Der Spiegel, 14.04. 2014, S. 69.  Astrid Messerschmidt: Selbstbilder zwischen Unschuld und Verantwortung. Beziehungen zu Täterschaft in Bildungskontexten, in: Oliver von Wrochem (Hrsg.): Nationalsozialistische Täterschaften, S. 115 – 133, hier S. 119.Vgl. dazu auch Ulrike Jureit/Christian Schneider: Gefühlte Opfer. Illusionen der Vergangenheitsbewältigung, Stuttgart 2010; Katharina Rothe: Das (Nicht‐)Sprechen über die Judenvernichtung. Psychische Weiterwirkungen des Holocaust in mehreren Generationen nichtjüdischer Deutscher, Gießen 2009; Lydia Koelle: Deutsches Schweigen der Vergangenheit. Gegenwarten im Familiengedächtnis in Literatur, Religion und öffentlichem Raum, Konrad-AdenauerStiftung e.V., Sankt Augustin/Berlin 2014.  Vgl. dazu Kapitel II. 2.1

Einleitung

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gelegten Forschungen bringen ans Licht, wie einprägende Ereignisse und Gefühle über mehrere Generationen hinweg weitergegeben werden und aktuelle Befindlichkeiten, Orientierungen und Handlungspotenziale zutiefst prägen.¹⁰ Da der Abschied von den Zeitzeugen der NS-Zeit in seine Schlussphase getreten ist, drängen zugleich auch Fragen nach Modi des Erinnerns und nach dem angemessenen Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit in das Bewusstsein: „Für die Generationen nach der Generation der Zeitgenossen ist heute die entscheidende Frage, wie man die Erinnerung in dieser Schwellensituation weitergibt“, so Aleida Assmann.¹¹ In diesem Zusammenhang plädieren Ulrike Jureit und Christian Schneider dafür, sich mit der NS-Vergangenheit und ihren Folgen aus anderer Perspektive zu befassen. Die Kluft unterschiedlicher Erfahrungen und damit einhergehend, verschiedener emotionaler Bindungen zur Geschichte des Nationalsozialismus soll nicht mehr durch den „pädagogischen Gestus“¹² der Ermahnung an die künftigen Generationen überbrückt werden. Statt eine „quasi-metaphysische“¹³ Vorstellung vom „Bösen“¹⁴ zu kultivieren, solle man dem Alltag der Tätergesellschaft und „den widersprüchlichen und emotional ambivalenten Anteilen des Erinnerns“¹⁵ Raum geben, um neue Perspektiven auf die NS-Geschichte und ihre Nachwirkungen zu eröffnen. Auch die zunehmende zeitliche Distanz zum Dritten Reich und die damit einhergehend notwendig gewordene Historisierung des Nationalsozialismus werden von manchen als Chance begriffen, sich mit der belasteten (Familien‐)Geschichte auseinanderzusetzen. Innerhalb dieses über Jahrzehnte entwickelten und sich fortwährend ändernden diskursiven Feldes kommt nun der autobiografischen Familienliteratur eine besondere Bedeutung zu.¹⁶ Seit der Jahrtausendwende erscheinen zunehmend

 Vgl. dazu Kapitel II. 2.3.2  Aleida Assmann/Jan Assmann: Niemand lebt im Augenblick, in: Die Zeit, 03.12.1998. Online unter https://www.zeit.de/1998/50/199850.assmann_.xml?utm_referrer=https%3A%2F%2Fwww.google.com %2F, zuletzt abgerufen am 01.11. 2022.  Ulrike Jureit/Christian Schneider: Gefühlte Opfer, S. 85.  Ebd., S. 204.  Ebd.  Ebd.  Im literaturwissenschaftlichen Diskurs lässt sich keine verfestigte, einheitliche Definition dieser Textsorte herauslesen. Im Gegensatz zum einheitlichen Terminus ‚Väterbücher‘, die in den späten 1970er Jahren stark vertreten waren, werden die seit der Jahrtausendwende veröffentlichten Texte in der Forschungsliteratur gerne auch verallgemeinernd als Familienroman, Generationenroman, Erinnerungsliteratur oder Familienliteratur bezeichnet, wobei sie auch fiktive Romane umfassen. In meiner Arbeit verwende Ich den Begriff der ‚autobiografischen Familienliteratur‘, der formal die eigene Medialität (Autobiografie) und inhaltlich den thematischen Schwerpunkt (Familie) dieser Textsorte nicht ausblendet. Vgl. zum Genre der Erinnerungsliteratur oder der Familien- bzw. Ge-

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Einleitung

autobiografisch geschriebene Familiengeschichten von Nachkriegsgeneration und erzielen auf dem Büchermarkt einen großen Erfolg.¹⁷ Entscheidend an diesen Texten ist die Einsicht, dass sich die Erfahrungen des Nationalsozialismus und die damit immer noch verbundenen Gefühle der vorangegangenen Generationen und das Schweigen darüber in der Familie auf die Nachkommen selbst auswirken können. Der Ausgangspunkt und die Motivation des autobiografischen Schreibens der Familiengeschichte ist also die Erkenntnis, dass erst durch eine bewusste Auseinandersetzung mit den belastenden Themen und Gefühlen der vorangegangenen Generation es möglich ist, die Gegenwart und die Zukunft von der Last der Vergangenheit zu befreien. Hier versuchen die Autoren die Auswirkungen der NS-Geschichte auf ihr eigenes Leben zu ergründen, indem sie die historische Entwicklung durch eine breitere Zeitspanne mit dem Schicksal der eigenen Familie verknüpfen und sich zentral mit den jeweils persönlichen Zusammenhängen zwischen Individuum, Familiengeschichte und nationaler Geschichte befassen. Individuelle Geschichte und nationale Geschichte werden hierbei in kritischer Absicht miteinander verbunden und in ein Bezugsverhältnis zueinander gesetzt. In der diachronen Dimension interpretieren die Autoren den Zusammenhang zwischen der aktuellen, erinnernden Ich-Generation und der vorangegangenen, zu erinnernden (Groß‐)Elterngeneration und thematisieren dadurch „die temporale Tiefendimension ihrer Identität“¹⁸. In dieser an subjektiver Erinnerung und biografischer Erfahrung ori-

nerationenromane Carsten Gansel: Formen der Erinnerung in deutschsprachiger Literatur nach 1989, in: ders./Pawel Zimniak (Hrsg.): „Das Prinzip Erinnerung“ in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur nach 1989, Göttingen 2009, S. 17– 34; Simone Costagli/Matteo Galli: Chrontopoi. Vom Familienroman zum Generationenroman, in: dies. (Hrsg.): Deutsche Familienromane. Literarische Genealogien und internationaler Kontext, München 2010, S. 7– 22.  Stellvertretend für die Fülle der autobiografischen Familienliteratur: Uwe Timm: Am Beispiel meines Bruders, Köln 2003; Stephan Wackwitz: Ein unsichtbares Land. Familienroman, Frankfurt a. M. 2003; Wibke Bruhns: Meines Vaters Land. Geschichte einer deutschen Familie, Berlin 2004; Monika Jetter: Mein Kriegsvater.Versuch einer Versöhnung, Hamburg 2004; Thomas Medicus: In den Augen meines Großvaters, München 2004; Claudia Brunner/Uwe von Seltmann: Schweigen die Täter, reden die Enkel, Frankfurt a. M. 2004; Dagmar Leupold: Nach den Kriegen. Roman eines Lebens, München 2004; Sigfrid Gauch: Vaterspuren. Eine Lebensgeschichte, Frankfurt a. M. 2005; Beate Niemann: Mein guter Vater. Mein Leben mit seiner Vergangenheit. Eine Täterbiographie, Teetz 2005; Ute Scheub: Das falsche Leben. Eine Vatersuche, München 2006; Alexandra Senfft: Schweigen tut weh. Eine deutsche Familiengeschichte, Berlin 2007; Niklas Frank: Bruder Norman! „Mein Vater war ein Naziverbrecher, aber ich liebe ihn.“, Bonn 2013; Jennifer Teege/Nikola Sellmair: Amon. Mein Großvater hätte mich erschossen, Hamburg 2014; Anne Weber: Ahnen. Ein Zeitreisetagebuch, Frankfurt a. M. 2015.  Jürgen Straub: Geschichten erzählen, Geschichte bilden. Grundzüge einer narrativen Psychologie historischer Sinnbildung, in: ders. (Hrsg.): Erzählung, Identität und historisches Bewußtsein. Die psychologische Konstruktion von Zeit und Geschichte, Frankfurt a. M. 1998, S. 81– 169, hier S. 129: „Im

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entierten Form der Auseinandersetzung sind sie herausgefordert, eine selbstreflexive Erzählweise zu entwickeln, die ihren Umgang mit dem familiären Erbe der NSVergangenheit zum Ausdruck bringt. Aktuelle Forschungen in interdisziplinärer Perspektive bilden die Grundlage für die Darstellung verschiedener Zugänge zur Auseinandersetzung mit nationalsozialistischer Täterschaft in narrativer Form. Der gesellschaftspolitische, geschichtswissenschaftliche und psychoanalytische Diskurs wird somit selbst Stoff eines literarischen Gestaltungsvorgangs. In allen Texten lassen sich deutlich inhaltlich-thematische Referenzen und Parallelen zu erinnerungskulturellen Diskursen und Forschungen in verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen beobachten. Die Autoren loten auf vielfältige Weise das Verhältnis der ambivalenten individuellen Haltung und Emotion zur familiären nationalsozialistischen Vergangenheit und das Problem ihrer Integration in die eigene Identität aus und stellen Überlegungen dazu an, wie individuelle Verantwortungen für die nicht selbst erlebte Vergangenheit des Nationalsozialismus durch eine kritische Auseinandersetzung sowohl mit historischen Quellen als auch mit eigenen Emotionen übernommen werden können. Durch die von kognitiven und affektiven Zugängen intensivierte Aneignung und Bearbeitung der NS-Vergangenheit und ihrer Folgen zielen die Autoren auf die Bildung eines subjektverbundenen Geschichtsbewusstseins. Insofern stellt sich die zeitgenössische autobiografische Familienliteratur nicht nur als individuelle Erinnerungsarbeit, sondern vor allem als performatives Handeln dar, womit die Autoren über den Bereich der individuellen Erfahrung hinaus ein verallgemeinerndes und sinnstiftendes Narrativ erzeugen wollen. All diese Texte leisten den diskursiven Beitrag dazu, den Spalt zwischen offiziellem Gedenken und privater Erinnerung in der Familie in Bezug auf die nationalsozialistische Täterschaft und ihre Auswirkungen zu überbrücken. Die Annäherungen an die in der Regel über drei Generationen sich erstreckenden Familiengeschichten in Bezug auf den Nationalsozialismus und den Holocaust anhand der eigenen Familien werden mittlerweile als innovative Geschichtswahrnehmung und als Teil einer größeren Zeitenwende betrachtet, in der das Verhältnis von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zueinander neu geordnet wird. In der Forschung über die Familienliteratur spielen genuin literaturtheoretische Überlegungen eine marginale Rolle, was in Bezug auf die Themen der Texte durchaus verständlich ist. Die Interpretationslinien der Forschungsliteratur verfolgen überwiegend soziologische, psychoanalytische bzw. kulturwissenschaftliche Fragestellungen und konzentrieren sich auf die inhaltlichen Aspekte. Bezogen auf Falle der historischen Erzählung geht es dabei immer auch um identitätsrelevante Bezugskollektive, denen sich das erzählende Subjekt zugehörig fühlt, von denen es sich absetzt oder distanziert. Historische Sinnbildung gründet nicht zuletzt in den Identifikationen der Subjekte mit kollektiv bedeutsamen Erfahrungen und Erwartungen, Handlungs- und Lebensorientierungen.“

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die erinnerungskulturelle Funktion und den Umgang mit der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts wurden Wissenschaftler aus verschiedenen Disziplinen aufmerksam auf die literarischen Formen des Erinnerns an den Nationalsozialismus und den Zweiten Weltkrieg. Aleida Assmann liest den zeitgenössischen Familienroman als alternative Narrative und Erinnerungsarbeit zu den dominanten Diskursen und zur offiziellen Geschichtsschreibung. Denn die neuen Familienromane betrachten die NS-Geschichte aus einem anderen Blickwinkel, indem sie ihren Fokus auf die „gar nicht oder nur in engen Kreisen kommunizierten Erinnerungen“¹⁹ der intimen Diskurse der Tätergesellschaft richten und somit „die Leerstelle, [den] blinde[n] Fleck der Erinnerung“²⁰ sichtbar machen. Durch die Auseinandersetzung mit den eigenen Erfahrungen, den Zeugnissen der Vorfahren und den historischen Dokumenten bieten sie „Zugänge zur deutschen Geschichte von innen und die Verarbeitung von Erfahrungen unterschiedlicher Generationen, die innerhalb der Familie eng miteinander verschränkt sind“²¹. Damit wird das Geschichtsverhältnis der jüngeren Generationen zum Nationalsozialismus reflektiert und die persönliche Relevanz des Geschichtsdiskurses erneuert. Für Assmann besteht eine wichtige Rolle der Familienliteratur darin, „eine massive Asymmetrie“ in der deutschen Erinnerungskultur abzubauen.²² Als ebenso alternative Form der Geschichtsschreibung und entscheidende Signatur der Familienliteratur konstatiert Anne Fuchs die „Ausleuchtung der blinden Flecken aller geschichtlicher Diskursformen“ durch „die subjektive Durchdringung tradierter Deckerinnerungen, die über Generationsgrenzen hinweg als Familienlegenden kommuniziert werden“²³. Hannes Heer setzte sich mit einer Reihe von Familienliteratur auseinander und merkt resümierend an, dass in ihnen die Fragmente der verschwiegenen Familienvergangenheit sichtbar geworden sind.²⁴ Im Hinblick auf die Inhalte der Familiengeschichten verwendet er die Metapher der „Meteoritensplitter, die auf dramatische Ereignisse und eine geheime, nicht eingelöste Schuld verweisen“²⁵. Gerade im

 Aleida Assmann: Unbewältigte Erbschaften. Fakten und Fiktion im zeitgenössischen Familienroman, in: Mark Weißhaupt/Andreas Kraft (Hrsg.): Generationen. Erfahrung – Erzählung – Identität, Konstanz 2009, S. 50.  Ebd., S. 53.  Ebd., S. 50.  Vgl. Aleida Assmann: Der lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik, München 2006, S. 103.  Vgl. Anne Fuchs: Landschaftserinnerung und Heimatdiskurs bei Medicus und Wackwitz, in: Mark Weißhaupt/Andreas Kraft (Hrsg.): Generationen, S. 71– 92, hier S. 73.  Vgl. Hannes Heer: Literatur und Erinnerung. Die Nazizeit als Familiengeheimnis, in: ders. (Verf.): „Hitler war’s“. Die Befreiung der Deutschen von ihrer Vergangenheit, Berlin 2005, S. 197– 236.  Hannes Heer: Unscharfe Bilder. Der Vernichtungskrieg im neuen deutschen Familienroman, in: Deutschlandfunk, 10.07. 2004.

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offenen Umgang mit den unbewältigten und unbesprochenen Familiengeheimnissen sieht er den Beitrag der Familienliteratur zum vorherrschenden Diskurs um die NS-Vergangenheit, denn diese verdrängten und in der Kommunikation ausgesparten Aspekte der Vergangenheit „verschwinden, einmal aufgetaucht, nicht in der schweigenden Galaxis des Tabus, sondern teilen sich mit als Andeutung, als plötzlicher Abbruch eines Gesprächs, als auffälliger Blickkontakt“²⁶. In diesem Zusammenhang argumentiert Elena Agazzi, dass die Auseinandersetzung der nachgeborenen Autorengenerationen mit der weit zurückliegenden Familiengeschichte als eine Art „Abrechnung […] mit den familiären Tabus“ im „Muster der Spurensuche“ betrachtet werden kann.²⁷ In einigen Familienromanen glauben Harald Welzer und Hannes Heer indes, ein Streben der Nachkommen nach genealogischer Kontinuität und Identität durch die Harmonisierung der NS-Familienvergangenheit und die Versöhnung mit der Tätergeneration zu beobachten.²⁸ In der Tendenz, die Untaten der Vorfahren zu verschleiern, sieht Norbert Frei den „Wunsch nach Aussöhnung mit den alten Eltern“²⁹ und somit die Revisionsabsicht am Werke. Sigrid Weigel weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass sich in den Familienerzählungen „identitäts- und vergangenheitspolitische Momente“³⁰ überschneiden. Gerade darin entdeckt Weigel das Phänomen der komplexen „Verschiebung und Verschachtelung“³¹ im Gedächtnis der verschiedenen Generationen bezüglich historischer Erfahrungen und traumatischer Erlebnisse in der NS-Zeit. Charakteristisch für das Narrativ der zweiten und dritten Generation sei „die Nachträglichkeit der Symptombildung“³², die sich unmerklich, unbewusst über die Generationenfolge fortsetzt. Dies beschreibt Weigel mit der Figur „Télescopage“, die „Bruch und Genealogie“³³ in sich vereinigt. Michael Ostheimer orientiert sich in seiner Studie über die Erinnerungsliteratur an der psychoanalytischen Trauma-Forschung und ar-

 Ebd.  Vgl. Elena Agazzi: Familienromane, Familiengeschichten und Generationenkonflikte. Überlegungen zu einem eindrucksvollen Phänomen, in: Fabrizio Cambi (Hrsg.): Gedächtnis und Identität. Die deutsche Literatur nach der Vereinigung, Würzburg 2008, S. 187– 203, hier S. 191.  Vgl. Harald Welzer: Schön unscharf. Über die Konjunktur der Familien- und Generationenromane, in: Mittelweg 36 (2004) H. 1, S. 53 – 64; Hannes Heer: Literatur und Erinnerung.  Vgl. Norbert Frei: Gefühlte Geschichte. Die Erinnerungsschlacht um den 60. Jahrestag des Kriegsendes 1945 hat begonnen. Deutschland steht vor einer Wende im Umgang mit seiner Vergangenheit, in: Die Zeit, 21.10. 2004. Online unter https://www.zeit.de/2004/44/kriegsende, zuletzt abgerufen am 01.11. 2022.  Sigrid Weigel: Genea-Logik. Generation, Tradition und Evolution zwischen Kultur- und Naturwissenschaften, München 2006, S. 103.  Ebd., S. 102  Ebd.  Ebd. Hervorh. i. O.

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beitet das Konzept des teleskopischen Imaginären heraus.³⁴ Mit diesem Konzept untersucht er, wie die Autoren der nachgeborenen Generation in ihren literarischen Werken mit dem Nachleben der NS-Vergangenheit in der Familie umgehen. Zu den philologischen Untersuchungen zählen die Studien von Mathias Brandstädter und Ariane Eichenberg. Mathias Brandstädter hat die seit 1960 veröffentlichten fiktionalen und nicht-fiktionalen Texte, in denen sich die Autoren mit der nationalsozialistischen Vergangenheit der (Groß‐)Elterngeneration auseinandersetzen, als Genre ‚Väterliteratur‘ identifiziert und die Topoi und Konventionen des Genres aus narratologischer Sicht typologisiert.³⁵ Ebenfalls aus narratologischer Sicht hat Ariane Eichenberg genretypische Erzählstrukturen der Generationen- und Familienromane, die seit der Jahrtausendwende veröffentlicht wurden, herausgearbeitet, wobei sie auch die Texte von Nachkommen der jüdischen Opfer mit einschließt.³⁶ Im Unterschied zu jenen Untersuchungen, die sich schwerpunktmäßig der inhaltlichen Ebene mit dem Interesse an den sozialwissenschaftlichen Fragestellungen widmen oder jenen, die sich auf die strukturelle Ebene mit literaturhistorischem Interesse konzentrieren, rückt die vorliegende Arbeit das Verhältnis dieser beiden Aspekte ins Blickfeld. Diese integrierte Ausrichtung der vorliegenden Arbeit ergibt sich aus der Genrewahl, nämlich der referenziellen und performativen Gattung der Autobiografie. Die untersuchten Texte sind formal auf die autobiografische Geschichte, thematisch auf die Täterschaft des Nationalsozialismus und zeitlich auf die Veröffentlichung nach der Jahrtausendwende begrenzt. Diese Begrenzung der Textwahl ist darin begründet, dass insbesondere die darin thematisierte, für die deutsche Erinnerungskultur problematische Dissonanz zwischen Familiengeschichte und offiziellem Geschichtsbild zum Vorschein bringt, wie verschiedene Generationen unter jeweils vorherrschenden politischen, gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Rahmenbedingungen unterschiedliche Bezüge zu der NS-Geschichte einnehmen. Der Zielpunkt dieser Untersuchung ist, die verschiedenen thematischen Aspekte und narrativen Strategien der Auseinandersetzung mit Täterschaft und deren Folgen in der zeitgenössischen autobiografischen Familienliteratur herauszuarbeiten und sie in einen erinnerungsdiskursiven Zusammenhang zu stellen. Zur Untersuchung stehen sechs ausgewählte Werke, die von deutschen Intellektuellen der Nachkriegsgeneration nach der Jahrtausendwende veröffentlicht wurden und

 Vgl. Michael Ostheimer: Ungebetene Hinterlassenschaften. Zur literarischen Imagination über das familiäre Nachleben des Nationalsozialismus, Göttingen 2013.  Vgl. Mathias Brandstädter: Folgeschäden. Kontext, narrative Strukturen und Verlaufsformen der Väterliteratur 1960 bis 2008, Würzburg 2010.  Vgl. Ariane Eichenberg: Familie – Ich – Nation. Narrative Analysen zeitgenössischer Generationenromane, Göttingen 2009.

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in denen jeweils bestimmte Thematiken und Erzählweisen in Bezug auf die Auseinandersetzung mit der NS-Täterschaft dominieren, so dass die unterschiedlichen Bearbeitungen von Familiengeschichten unter ähnlichen Fragestellungen sichtbar werden: Uwe Timms Am Beispiel meines Bruders (2003), Dagmar Leupolds Nach den Kriegen. Roman eines Lebens (2004), Stephan Wackwitz’ Ein unsichtbares Land. Familienroman (2003), Thomas Medicus’ In den Augen meines Großvaters (2004), Claudia Brunners und Uwe von Seltmanns Schweigen die Täter, reden die Enkel (2004) und Alexandra Senffts Schweigen tut weh. Eine deutsche Familiengeschichte (2007). Auf der Ebene der Textinterpretation wird zu fragen sein: Welche Themen und Anliegen in Bezug auf die NS-Täterschaft und ihre Folgen werden von den Autoren aufgegriffen und bearbeitet – und zwar immer unter Berücksichtigung persönlicher Betroffenheit? Welche Rolle spielen dabei die kognitiven, psychischen und motivationalen Anforderungen der Autoren? Wie werden Geschichtsdarstellungen lebensgeschichtlich eingeführt, um individuelle Positionen in den Diskursen gesellschaftlicher Selbstverständigungsprozesse über den Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit in der Gegenwart zu beziehen? Neben dem Beitrag zum Diskurs über die NS-Vergangenheit werfen die hier betrachteten Werke grundsätzliche Fragen nach dem Verhältnis der verschiedenen Gedächtnisformen zur Geschichte überhaupt auf: Wie verhalten sich verschiedene Perspektiven auf die NS-Vergangenheit zueinander? Welchen Zwecken dienen sie? Auf welche Weise und mit welchen Folgen nehmen die historischen und kulturellen Bezüge überhaupt Einfluss auf den individuellen Erinnerungs- und Deutungsprozess? In welchem Verhältnis stehen die daraus entstehenden autobiografischen Texte zu anderen erinnerungskulturellen Praktiken und Diskursen? Welche angestrebte individuelle bzw. kollektive Identität ist als intendiert in ihren autobiografischen Texten eingeschrieben? Die inhaltliche Frage, was eigentlich erzählt wird, lässt sich präzisieren und anreichern, wenn die erzählten Geschichten auf speziell poetische, ästhetische oder rhetorische Aspekte hin untersucht werden. Ein besonderer Schwerpunkt der Textinterpretation liegt daher auf der Form narrativer Verarbeitungen und den thematischen Gestaltungen der familiären Erinnerungserzählung und der zeitgeschichtlichen Ereignisse. Mit welchen Erzählverfahren und unter Berufung auf welche Gedächtnismedien setzen die Autoren ihren Erinnerungsprozess in Gang, um die Verwobenheit zwischen der eigenen Geschichte und der nicht selbst erlebten Familiengeschichte bzw. Zeitgeschichte zu inszenieren und zu vermitteln? So werden die einzelnen Werke in ihrer ganzen Komplexität und Interdisziplinarität untersucht. Um die aufgeworfenen Fragestellungen theoretisch zu fundieren, werden in dem ersten Kapitel im theoretischen und medienkulturellen Teil zunächst Konzepte

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und Begriffe der Gedächtnisforschung erläutert. Die unterschiedlichen Gedächtnisbegriffe des kulturellen, kollektiven und kommunikativen Gedächtnisses tragen zu einer Reflexion über Mechanismen und Funktionen des Umgangs mit der nationalsozialistischen Vergangenheit im privaten Umfeld sowie in der Öffentlichkeit bei. Durch die differenzierte Betrachtung der verschiedenen Formen des Gedächtnisses kann für den Zusammenhang zwischen individuellen Erinnerungen, Identitätsvorstellungen und Machtverhältnissen auf politisch-gesellschaftlicher Ebene sensibilisiert werden, zumal ein durch Ambivalenz geprägter Prozess der Etablierung der deutschen Erinnerungskultur sich nachzeichnen lässt, dessen erinnerungskulturelle Ausprägung Aleida Assmann als das „Tätergedächtnis“³⁷ festhält und von dem sich der seit der Jahrtausendwende öffentlich breit ausgetragene deutsche Opferdiskurs abgrenzen lässt. Ziel ist es, eine Grundlage dafür zu schaffen, die dialogische Bezogenheit der autobiografischen Werke auf die Inhalte der Erinnerungskultur sowie auf die Erkenntnisse der Gedächtnisforschung aus verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen zu explizieren und die Wechselwirkungen zwischen offiziellen Deutungsrahmen und Gruppengedächtnis wie Familiengedächtnis bzw. Generationengedächtnis aufzuzeigen. Die Berücksichtigung der psychologischen Mechanismen des autobiografischen Gedächtnisses und der individuellen Erinnerung ermöglicht es, das Verhältnis von Prozessen der kollektiven Gedächtnisbildung und deren personengebundenen Voraussetzungen in den Blick zu nehmen. Um die textinhärenten Phänomene konsequent zu kontextualisieren und die untersuchten Werke in der Gesamtheit konkurrierender Praktiken der Erinnerungskultur zu verorten, beschäftigt sich das zweite Kapitel mit deren kommunikativen Bezugsfeldern. Hier werden die wichtigsten Erinnerungsnarrative und -diskurse in Politik, Gesellschaft und Wissenschaft in Deutschland einbezogen. Im dritten Kapitel werden die literaturwissenschaftlichen Einsichten in die gattungsspezifischen Besonderheiten der Autobiografie mit Erkenntnissen aus der Gedächtnisforschung und der narrativen Psychologie verknüpft. Dadurch soll gezeigt werden, dass die autobiografische Familienliteratur aufgrund ihrer medienspezifischen Merkmale als eigenständige Form der Vergangenheitserschließung einen wichtigen Beitrag zur Erinnerungskultur leisten kann. Auf dieser Grundlage werden im zweiten Teil die ausgewählten Werke gründlich untersucht. Im Mittelpunkt aller erkenntnisleitenden Untersuchungsschritte stehen dabei die Fragen nach den subjektiven Erinnerungs- und Deutungsprozessen von nationalsozialistischer Täterschaft und deren Thematisierungsformen im autobiografischen Schreiben, die narrativen Argumentationsstrategien sowie deren Aus-

 Aleida Assmann/Ute Frevert: Geschichtsvergessenheit – Geschichtsversessenheit. Vom Umgang mit deutschen Vergangenheiten nach 1945, Stuttgart 1999, S. 44.

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wirkungen auf die Sinnstiftung unter Berücksichtigung der Schreibgegenwart. Um die formalen und strukturellen Aspekte, mit denen Prozesse der Gedächtnis- und Sinnbildung narrativ gestaltet werden, in den Blick zu rücken und hinsichtlich ihres Funktionspotenzials vergleichbar zu machen, bietet sich der Rückgriff auf narratologische Analysekategorien an. Ziel der Textanalysen ist es, die Perspektive des Erinnerns an Täterschaft und die Aspekte der Aneignung und Vermittlung von Täterschaft und ihren Folgen aufzuzeigen und interpretatorisch zu erschließen. Dabei geht es vor allem darum, die zeitgenössische autobiografische Familienliteratur auf ihr vielfältiges Funktionspotenzial zur Bereicherung erinnerungskultureller Prozesse und Praktiken zu untersuchen. Im Schlussteil werden die Ergebnisse der Textinterpretationen im Hinblick auf die öffentlichen Diskurse zusammengefasst: Welche Topoi und Narrative werden in Bezug auf die NS-Täterschaft und ihre Folgen artikuliert und reflektiert?

Erster Teil: Medienkultureller Kontext

1 Erinnerungstheoretische Grundlagen Kennzeichnend für die hier untersuchten Texte ist eine selbstreflexive Auseinandersetzung der Autoren mit einem engen wechselseitigen Zusammenhang zwischen der individuellen Erinnerung und dem kollektiven bzw. kulturellen Gedächtnis. Unabhängig von dem Beitrag zum Diskurs über die NS-Vergangenheit werfen sie grundsätzliche Fragen nach Funktionen der unterschiedlichen Gedächtnisformen auf: Wie verhalten sich verschiedene Perspektiven und Bezugnahmen auf die Vergangenheit zueinander? Welchen Zwecken dienen sie? Was vermag ein schriftlichnarratives Erinnern zu leisten? Mit diesen und ähnlichen Fragen beschäftigt sich auch die seit den 1990er Jahren etablierte Gedächtnisforschung in den verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen. Die Neurowissenschaften und die kognitive Psychologie suchten den Eigenarten und Bedingungen des menschlichen Gedächtnisses und des Erinnerungsprozesses auf den Grund zu gehen. Innerhalb der Kulturwissenschaft haben die Befunde der neurophysiologischen Gedächtnisforschung für Diskussionen um die Relevanz der Mechanismen der individuellen Erinnerung für die kulturelle Ausformung des kollektiven Gedächtnisses sowie die Historiografie gesorgt. In den folgenden Abschnitten werden die in der neurophysiologischen und kulturwissenschaftlichen Gedächtnisforschung zentralen Themenaspekte – Entwicklung und Funktionen der verschiedenen Gedächtnissysteme, Unterscheidung von Gedächtnis und Erinnerung,Wechselwirkung zwischen Gedächtnisspeicherung bzw. -abruf und Erinnerungsvorgängen und Differenzierung von kommunikativem, kollektivem und kulturellem Gedächtnis in der kulturwissenschaftlichen Gedächtnisforschung – vorgestellt.

1.1 Autobiografisches Gedächtnis und individuelle Erinnerung In der neuropsychologischen Gedächtnisforschung dominieren kognitivistische und konstruktivistische Ansätze, die sich stark auf äußere, also außerhalb des kognitiven Verarbeitungssystems vorliegende Bedingungen von Erinnerungsprozessen fokussieren.¹ Dabei geht die kognitionspsychologisch orientierte Gedächtnisforschung

 Vgl. stellvertretend Siegfried J. Schmidt (Hrsg.): Gedächtnis. Probleme und Perspektiven der interdisziplinären Gedächtnisforschung, Frankfurt a. M. 1991; Daniel Schacter: Wir sind Erinnerung. Gedächtnis und Persönlichkeit, Hamburg 2001; Harald Welzer: Das kommunikative Gedächtnis. Eine Theorie der Erinnerung, München 2002; Jürgen Straub (Hrsg.): Erzählen, Identität und historisches Bewusstsein. Die psychologische Konstruktion von Zeit und Geschichte, Frankfurt a. M. 1998. https://doi.org/10.1515/9783111009094-003

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1 Erinnerungstheoretische Grundlagen

von einer konzeptuellen Trennung zwischen Gedächntis und Erinnerung aus. So weist Sigfried J. Schmidt darauf hin, dass es sich bei dem Gedächtnis um „eine neurophysiologische Funktion“, bei der Erinnerung „[um] eine kognitive Konstruktion, die bewusst werden muss und dann formuliert werden kann“, handelt.²

1.1.1 Individuelle Gedächtnissysteme Das Gedächtnis ist die Gesamtheit gespeicherter, einschließlich nicht bewusstseinsfähiger vergangener Erfahrungen. In der kognitionspsychologischen Gedächtnisforschung unterscheidet man beim individuellen Langzeitgedächtnis explizites Gedächtnis und implizites Gedächtnis.³ Das Erstere, dessen Inhalte bewusst abgerufen werden können, wird wiederum in zwei Unterkategorien unterteilt: Das semantische sowie episodische Gedächtnis. Zum semantischen Gedächtnis gehören beispielsweise Wissen über historische Daten, natürliche Gesetzmäßigkeiten, kulturelle Wissensordnungen, Normen und Werte. Bei den Inhalten des semantischen Gedächtnisses handelt es sich im engeren Sinne der gedächtnispsychologischen Begrifflichkeiten weniger um Erinnerungen als um Wissensbestände, die durch Gedächtnisleistungen verfügbar gemacht werden. Das episodische Gedächtnis ist durch ein Wiederbeleben der räumlich und zeitlich datierbaren vergangenen Ereignisse gekennzeichnet. Da das episodische Gedächtnis „einen Zugriff auf ein früheres Selbst im Kontext der ursprünglichen Enkodierung“⁴ ermöglicht, weist es „eine einzigartige subjektive Färbung“ auf und ist im Gegensatz zum semantischen Gedächtnis „stark affektbesetzt“⁵. Das episodische Gedächtnis ist somit Voraussetzung dafür, dass einzelne Begebenheiten als individuelle Erfahrungen erinnert und in eine eigene Lebensgeschichte überführt werden können. Das autobiografische Gedächtnis basiert auf den Prozessen der Narrativierung episodischer Gedächtnisse. Im Hinblick auf den engen Zusammenhang zwischen episodischem Gedächtnis und Entwicklung des autobio-

 Siegfried J. Schmidt: Gedächtnisforschungen. Positionen, Probleme, Perspektiven, in: ders. (Hrsg.): Gedächtnis. Probleme und Perspektiven der interdisziplinären Gedächtnisforschung, S. 9 – 55, hier S. 33.  Die Differenzierung von verschiedenen Gedächtnissystemen geht auf Forschungen von Endel Tulving zurück. Vgl. dazu Astrid Erll: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen, S. 81– 86.  Gerald Echterhoff: Das Außen des Erinnerns. Was vermittelt individuells und kollektives Gedächtnis?, in: Astrid Erll/Ansgar Nünning (Hrsg.): Medien des kollektiven Gedächtnisses. Konstruktivität, Historizität, Kulturspezifität, Berlin 2004, S. 61– 82, hier S. 71.  Astrid Erll: Kollektives Gedächtis und Erinnerungskulturen, Stuttgart 2005, S. 83.

1.1 Autobiografisches Gedächtnis und individuelle Erinnerung

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grafischen Gedächntnisses spricht Hans J. Markowitsch vom „episodisch-autobiographischen Gedächtnis“⁶.

1.1.2 Struktur der individuellen Erinnerung Während das Gedächtnis als Zustand oder die Fähigkeit zum Erinnern verstanden wird, wird das Erinnern als ein aktiver Vorgang der Vergegenwärtigung spezifischer Gedächtnisbestände bezeichnet.⁷ In Anlehnung an Sigmund Freud unterscheidet Daniel Schacter zwei zentrale Modi des autobiografischen Erinnerns: zum einen field memories (Felderinnerungen), zum anderen observer memories (Beobachtererinnerungen).⁸ Während field memories Vergangenes „aus der ursprünglichen Perspektive“⁹ vergegenwärtigen, bringen observer memories Vergangenes aus einer distanzierten Beobachterperspektive zur Darstellung. Im Unterschied zu field memories, die ein vergangenes, situationsspezifisches Ereignis reaktualisieren und die damit verbundenen Emotionen wiederaufleben lassen, erlauben observer memories eine distanzierte Perspektive auf die Vergangenheit und deren aktive Vergegenwärtigung im Lichte des aktuellen Handlungszusammenhangs. Bei observer memories handelt es sich um „modifizierte Version des ursprünglichen Ereignisses, das wir anfänglich aus einer Feldperspektive wahrgenommen haben“¹⁰, denn bei diesem autobiografischen Erinnerungsmodus sehen wir uns von außen als dritte Person. Der Erinnerungsprozess ist laut Endel Tulving dreistufig – Enkodierung, Speicherung und Abruf von gespeicherten Informationen – und lässt sich mit dem Konzept der Ekphorie beschreiben.¹¹ Die Erinnerung entsteht durch die Interaktion von im Inneren abgelagerten Erfahrungsspuren (auch ‚Engramm‘ genannt) und jeweils aktuellen Abrufreizen bzw. Hinweisreizen (auch ‚cue‘ genannt). Zu dem Abrufreiz bzw. Hinweisreiz können neben gegenwärtigen äußeren Kontexten auch rein individuelle, erfahrungsabhängige und situative Faktoren wie Motivationen,

 Hans J. Markowitsch: Das autobiographische Gedächtnis. Neurowissenschaftliche Grundlagen, in: Günther Bittner (Hrsg.): Ich bin mein Erinnern. Über autobiographisches und kollektives Gedächtnis, Würzburg 2006, S. 23 – 40, hier S. 25.  Vgl. Mathias Berek: Kollektives Gedächtnis und die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit, Wiesbaden 2009, S. 31. Vgl. auch Astrid Erll: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen, S. 7.  Vgl. Daniel Schacter: Wir sind Erinnerung 2001, S. 45 – 48.  Ebd., S. 46.  Ebd., S. 45.  Vgl. Gerald Echterhoff: Das Außen des Erinnerns.

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1 Erinnerungstheoretische Grundlagen

Selbstverständnis oder emotionale Zustände gehören. Die individuelle Erinnerung an bestimmte vergangene Ereignisse wird demnach durch die zum Zeitpunkt des Abrufs vorherrschenden Emotionen bzw. Sinnbedürfnisse in Gang gesetzt und emotional geprägt.¹² Der Prozess der Ekphorie impliziert, dass die Erinnerung an ein- und dasselbe Ereignis je nach Abrufbedingungen variieren kann, und betont damit den „konstruktiv-synergetischen“¹³ Charakter des Erinnerns. Daniel Schacter schreibt: Die gespeicherten Fragmente tragen zur bewußten Erfahrung des Erinnerns bei, aber sie sind nur ein Teil dieser Erfahrung. Ein anderer wichtiger Bestandteil ist der Abrufreiz selbst. […] Der Hinweisreiz verbindet sich mit dem Engramm zu einem neu entstehenden Ganzen – dem Erinnerungserlebnis des Erinnerers –, das sich von seinen beiden Bestandteilen unterscheidet.¹⁴

Die Einsicht, dass Erinnerungen stärker von der Gegenwart als von der Vergangenheit bestimmt werden, bringt das folgende Zitat von Siegfried J. Schmidt auf den Punkt: „Erinnerungen existieren an keinem anderen Ort und zu keiner anderen Zeit als jetzt im Nervensystem.“¹⁵ Schmidt bezeichnet Erinnern mithin als „aktuelle Sinnproduktion im Zusammenhang jetzt wahrgenommener oder empfundener Handlungsnotwendigkeiten“¹⁶. Angesichts der Einsicht der Gedächtnisforschung, dass für Inhalte und Strukturen der individuellen Erinnerung der Erinnerungskontext bzw. die gegenwärtigen individuellen Bedürfnisse eine zentrale Rolle spielen, könnte jede Erinnerung schon dadurch verfälscht sein, dass sie kein Abbild der Vergangenheit, sondern eine aktiv erzeugte Konstruktion vergangener Gegebenheiten ist. In diesem Zusammenhang hält Mathias Berek den Begriff der Wahrheit als Maßstab für wahre und falsche Erinnerungen für unhaltbar. Nach Berek finden [a]uf dem Weg vom Ereignis hin zur Erinnerung daran […] mindestens drei den Inhalt verändernde und sozial bestimmte Sinnbildungsprozesse statt: vom Ereignis zur Erfahrung, von der Erfahrung zur Erinnerung und von der Erinnerung zur Erzählung.¹⁷

 Vgl. Harald Welzer: Das kommunikative Gedächtnis, S. 135.  Gerald Echterhoff: Das Außen des Erinnerns, S. 67.  Daniel Schacter: Wir sind Erinnerung, S. 118.  Siegfried J. Schmidt: Gedächtnis – Erzählen – Identität, in: Aleida Assmann/Dietrich Harth (Hrsg.): Mnemosyne. Formen und Funktionen der kulturellen Erinnerung, Frankfurt a. M. 1991, S. 378 – 397, hier S. 384. Hervorh. i. O.  Ebd., S. 386. Hervorh. i. O.  Mathias Berek: Kollektives Gedächtnis, S. 115.

1.2 Gedächtnis und Erinnerung im kulturellen Kontext

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Jeder dieser Schritte fußt auf der kognitiven Verarbeitung eines Geschehnisses, die durch aktuelle Belange, Emotionen und Interpretationen beeinflusst wird. Ihrer Struktur nach unterliegt die individuelle Erinnerung einer ständigen Veränderung und kontinuierlichen Feinabstimmung im Rahmen ihrer situativen Realisierung, die von soziokulturellen Normen und Werten sowie den jeweils individuellen Zielen und Bedürfnissen gesteuert wird.

1.2 Gedächtnis und Erinnerung im kulturellen Kontext Parallel zur Neurophysiologie hat sich auch in der Kulturwissenschaft eine Gedächtnisforschung entwickelt, welche die sozialen Rahmenbedingungen der Konstruktion des individuellen Gedächtnisses und die Funktionen der verschiedenen Vergangenheitsbezüge auf gesellschaftlicher Ebene betrachtet.¹⁸ In der kulturwissenschaftlichen Gedächtnisforschung spielt das Konzept der kollektiven Erinnerung bzw. des kollektiven Gedächtnisses eine zentrale Rolle. Dabei sind die Begriffe Gedächtnis und Erinnerung sehr weit gefasst. Sie umfassen unterschiedlichste Formen der gesellschaftlichen und institutionellen Bezugnahme auf kollektiv relevante Ereignisse. In der kulturwissenschaftlichen Gedächtnisforschung wird Erinnern mithin nicht nur als eine individual-biografische, sondern auch als eine bedeutsame gesellschaftliche Angelegenheit aufgefasst, die die Praxis der Vergegenwärtigung und Deutung der geteilten Vergangenheit organisiert und dadurch ein überindividuelles Gedächtnis einer Gesellschaft entstehen lässt. Astrid Erll versteht das kollektive Gedächtnis als „Oberbegriff für alle jene Vorgänge organischer, medialer und institutioneller Art, denen Bedeutung bei der wechselseitigen Beeinflussung von Vergangenem und Gegenwärtigem in soziokulturellen Kontexten zukommt“¹⁹. Von der kulturwissenschaftlichen Gedächtnisforschung „wird in besonderem Maße erwartet, daß sie die verschiedenen Memorialfunktionen mit ihren sich teils ergänzenden, teils widerstrebenden Dynamiken im lebenspraktischen Zusammenhang erklären kann“²⁰. Theorien zum Kollektivgedächtnis nehmen die Perspektivität und Konstruktivität, die die individuellen Erinnerungsprozesse kennzeichnt,

 Vgl. Peter Matussek: Erinnerung und Gedächtnis, in: Hartmut Böhme/Peter Matussek/Lothar Müller: Orientierung Kulturwissenschaft. Was sie kann, was sie will, Hamburg 2000, S. 147– 163, hier S. 151: „Der Bedarf nach einer die antagonistischen Thematisierungsformen von Erinnerung und Gedächtnis umfassenden Perspektive, die zwischen den isolierten Aspekten zu vermitteln vermag, ruft die Kulturwissenschaft auf den Plan.“  Astrid Erll: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen, S. 6.  Peter Matussek: Erinnerung und Gedächtnis, S. 151.

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1 Erinnerungstheoretische Grundlagen

auch für die „soziale Praxis gemeinsamen Sich-Erinnerns“²¹ an. Diese Annahme geht auf den französischen Soziologen Maurice Halbwachs zurück, der als „Gründungsvater der kulturwissenschaftlichen Gedächtnisforschung“²² gilt.

1.2.1 Maurice Halbwachs: Das kollektive Gedächtnis Ausgehend von der Einsicht, „dass unsere Einbildungskraft selbst im Moment des Reproduzierens der Vergangenheit unter dem Einfluss des gegenwärtigen Sozialmilieus bleibt“²³, rückt Halbwachs die soziale Bedingtheit individueller Erinnerung ins Zentrum seiner Überlegungen. Der Mensch nehme, so Halbwachs, auf Anhaltspunkte Bezug, die außerhalb seiner selbst liegen und von der Gesellschaft festgelegt worden sind. Mehr noch, das Tätigsein des individuellen Gedächtnisses ist nicht möglich ohne jene Instrumente, die durch die Worte und Vorstellungen gebildet werden, die das Individuum nicht erfunden und die es seinem Milieu entliehen hat.²⁴

Mit diesen Gedanken betont Halbwachs, dass unsere Denkschemata, Wahrnehmungen und folglich auch unsere Erinnerungen stets von jeweiligen soziokulturellen Rahmenbedingungen geprägt sind, weil sie sprachlicher Natur sind und somit „verbalen Konventionen“²⁵ unterliegen. So gesehen ist Erinnerung nicht rein individueller Akt, sondern ein primär gesellschaftlich bedingtes Phänomen. Dabei hebt er vor allem die Rolle der sozialen Gruppen hervor: Aber wenn wir etwas genauer untersuchen, auf welche Art und Weise wir uns erinnern, so würden wir erkennen, dass ganz sicher die meisten unserer Erinnerungen uns dann kommen, wenn unsere Eltern, unsere Freunde oder andere Menschen sie uns ins Gedächtnis rufen.²⁶

Halbwachs’ Konzept vom kollektiven Gedächtnis bezieht sich auf soziale Gruppen, die durch Interaktion und Alltagskommunikation jeweils ihr eigenes Gedächtnis herausbilden und pflegen.²⁷ Die Erinnerung ist mithin ein kommunikativer Akt, der innerhalb von bestimmten sozialen Gruppen stattfindet. Diese sozialen Gruppen – z. B. die Familie, Kollegen, religiöse Gemeinschaften – können als intersubjektive

      

Harald Welzer: Das kommunikative Gedächtnis, S. 15. Astrid Erll: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen, S. 6. Maurice Halbwachs: Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen, Frankfurt a. M. 1985, S. 156. Ebd., S. 35. Ebd., S. 124. Ebd., S. 20. Vgl. Astrid Erll: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen, S. 15.

1.2 Gedächtnis und Erinnerung im kulturellen Kontext

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Bezugspunkte aufgefasst werden, die für die Ausformung des individuellen Gedächtnisses bestimmte Deutungsmuster zur Verfügung stellen. Jedes Individuum gehört einer unterschiedlichen sozialen Gruppe an, so dass jede und jeder über ein Repertoire verschiedener Deutungsmuster verfügt. Das individuelle, autobiografische Gedächtnis ist das Resultat einer individuellen Syntheseleistung von Schnittpunkten unterschiedlicher kollektiver Gedächtnisse. So sind individuelle und kollektive Gedächtnisse im Prozess des Erinnerns eng miteinander verwoben: Ohne soziokulturellen Bezugsrahmen kann kein individuelles Gedächtnis entstehen. Gleichzeitig kann das kollektive Gedächtnis überhaupt erst durch den Blick auf individuelle Gedächtnisse verstanden werden, wie es das folgende Zitat von Halbwachs verdeutlicht: Jedes individuelle Gedächtnis ist ein Ausblickspunkt auf das kollektive Gedächtnis; dieser Ausblick wechselt je nach der Stelle, die wir darin einnehmen, und diese Stelle selbst wechselt der Beziehung zufolge, die ich mit anderen Milieus unterhalte.²⁸

Die Gesellschaft und Kultur spiegeln sich im individuellen Gedächtnis wider, sind sie jedoch höchst subjektiv gefärbt. Die Halbwachssche Konzeption des kollektiven Gedächtnisses kann indes etwaigen Dissens über Erinnerungen innerhalb von Gruppen nicht erklären. Da Halbwachs als wichtige Funktion des kollektiven Gedächtnisses die Bildung von – kollektiver wie individueller – Identität und ihre Stabilität ansieht, ist in seinem Konzept kein Platz für nicht konforme Erinnerungen innerhalb von Gruppen. Seine Theorie ist begrifflich nicht genügend differenziert. Das Halbwachssche kollektive Gedächtnis ist ein meist aus der direkten Kommunikation hervorgehender Vergangenheitsbezug, dessen zeitliche Ausdehnung durch das Erinnerungsvermögen und die Existenz ihrer Mitglieder begrenzt ist. Halbwachs hat das kollektive Gedächtnis an die lebendige Interaktion im Rahmen sozialer Gruppen geknüpft und alle Objektivationen von Erinnerungen aus dem Bereich des kollektiven Gedächtnisses ausgeschlossen. Weder traditionelle Rituale noch Kunst und Literatur oder Denkmäler und Gedenkveranstaltungen gehören für ihn zum kollektiven Gedächtnis.

 Maurice Halbwachs: Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen, S. 31.

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1 Erinnerungstheoretische Grundlagen

1.2.2 Gedächtnisformen: Kommunikatives, kollektives und kulturelles Gedächtnis Die kulturellen Objektivationen und Materialisierungen der Vergangenheit, von Halbwachs Traditionen genannt, bilden den Ansatzpunkt für die kulturwissenschaftliche Gedächtnisforschung von Aleida und Jan Assmann. Ende der 1980er Jahre haben Aleida und Jan Assmann das Halbwachssche Konzept des kollektiven Gedächtnisses weiterentwickelt und verschiedene Formen der sozialen Praxis der Erinnerung begrifflich und funktional ausdifferenziert. Jan Assmann unterscheidet zwei Gedächtnisformen, das kommunikative und das kulturelle Gedächtnis.²⁹ Das kommunikative Gedächtnis ist stets an die Existenz der Menschen gebunden und basiert auf der mündlichen Alltagskommunikation, die durch „ein hohes Maß an Unspezialisiertheit, Rollenreziprozität, thematische Unfestgelegtheit und Unorganisiertheit“³⁰ gekennzeichnet ist. Das kommunikative Gedächtnis unterliegt somit einem ständigen Wandel, da es nur drei bis vier Generationen umfasst, was ca. einem Zeitraum von 80 – 100 Jahren entspricht.³¹ Im Unterschied zum kommunikativen Gedächtnis ist das kulturelle Gedächtnis stark formalisiert. Dies lässt sich u. a. darauf zurückführen, dass es nicht nur durch die mündliche Kommunikation, sondern auch durch diverse Medien und professionelle Praxen tradiert wird. Bezogen auf vergangene Ereignisse liegt das kulturelle Gedächtnis somit jenseits des ‚floating gap‘³². Jan Assmann definiert das kulturelle Gedächtnis als den in jeder Gesellschaft und jeder Epoche eigentümlichen Bestand an Wiedergebrauchstexten, -Bildern und -Riten […], in deren ‚Pflege‘ sie ihr Selbstbild stabilisiert und vermittelt, ein kollektiv geteiltes Wissen […] über die Vergangenheit, auf das eine Gruppe ihr Bewußtsein von Einheit und Eigenheit stützt.³³

Die zentrale Funktion der beiden Gedächtnissysteme ist nach Jan Assmann die Entwicklung eines Wir-Gefühls (Identitätskonkretheit) in der Gegenwart – „im

 Vgl. Jan Assmann/Tonio Hölscher (Hrsg.): Kultur und Gedächtnis, Frankfurt a. M. 1988, S. 10.  Ebd., S. 11.  Vgl. Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität, München 2005, S. 50 f.  Der Begriff ‚floating gap‘ bezeichnet „eine[n] definitorisch nicht präzisierbaren Bruch zwischen den Erlebnisgemeinschaften der Mitlebenden und den kulturellen Symbolisierungen der Nachwelt“. Vgl. Lutz Niethammer: Diesseits des ‚Floating Gap‘. Das kollektive Gedächtnis und die Konstruktion von Identität im wissenschaftlichen Diskurs, in: Kristin Platt/Mihran Dabag (Hrsg.): Generation und Gedächtnis. Erinnerungen und kollektive Identitäten, Opladen 1995, S. 25 – 50, hier S. 26.  Jan Assmann/Tonio Hölscher (Hrsg.): Kultur und Gedächtnis, S. 15.

1.2 Gedächtnis und Erinnerung im kulturellen Kontext

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positiven Sinne (‚das sind wir‘) bzw. negativen Sinne (‚das sind wir nicht‘)“³⁴. Den Ausführungen Jan Assmanns liegt ein Verständnis von Kulturen oder Nationen als homogenen Einheiten mit einem verbindlichen kollektiven Gedächtnis zugrunde. Um die für die deutsche Erinnerungskultur charakteristische konfliktgeladene Dynamik zwischen unterschiedlichen Erinnerungen der verschiedenen Erinnerungsgemeinschaften in den Blick zu rücken, differenziert Aleida Assmann nochmals zwischen dem kommunikativen Gedächtnis, dem kollektiven Gedächtnis im Sinne eines politischen, offiziellen Gedächtnisses und dem kulturellen Gedächtnis. Sie verwendet den Begriff des kollektiven Gedächtnisses, um das offizielle, staatlich organisierte Gedächtnis zu bezeichnen, das politisch instrumentalisiert ist und dazu dient, kollektive Identität zu konstruieren. Das kulturelle Gedächtnis ist dagegen als Formen des von unmittelbaren politisch-ideologischen Zwecken unabhängigen Vergangenheitsbezugs zu verstehen, auch wenn es diesen zumindest potenziell unterstellt werden kann. Die begriffliche Differenzierung von Aleida Assmann zwischen kulturellem und kollektivem (politischem) Gedächtnis erscheint im Zusammenhang mit der vorliegenden Arbeit hilfreich, um den Zusammenhang zwischen Erinnerungen von verschiedenen sozialen Gruppen, ihren jeweils unterschiedlichen Geschichtsbildern und Machtverhältnissen bezüglich der Deutung der Geschichte auf gesellschaftlicher Ebene zu verdeutlichen und um das Verhältnis von literarischen Erinnerungsarbeiten, öffentlichen Erinnerungsdiskursen und der offiziellen Geschichtspolitik präziser beschreiben zu können. Ich übernehme Aleida Assmanns Modell der Dreiteilung für die vorliegende Arbeit und verwende fortan den Terminus ‚kollektives Gedächtnis‘ nicht in dem von Halbwachs formulierten Sinn, sondern im Sinne des politischen bzw. offiziell-staatlichen Gedächtnisses, wie Aleida Assmann es definiert. Die kulturwissenschaftliche Differenzierung in die vorgestellten drei Ebenen erscheint generell fruchtbar für literatur- und medienwissenschaftliche Fragestellungen und soll daher an dieser Stelle eine weitere Vertiefung im vorgestellten epistemologischen Sinne erfahren. Die Ebene des kommunikativen Gedächtnisses basiert dem Modell von Aleida Assmann zufolge auf der generationenspezifischen Wahrnehmung und Verarbeitung prägender historischer Schlüsselerfahrungen. Ob er will oder nicht, teilt jeder Mensch „mit den Zeitgenossen gewisse Überzeugungen, Haltungen, Weltbilder, gesellschaftliche Wertmaßstäbe und kulturelle Deutungsmuster. Das bedeutet, dass das individuelle Gedächtnis nicht nur in seiner zeitlichen Erstreckung, sondern in den Formen seiner Erfahrungsverarbeitung vom weiteren Horizont des Generationengedächtnisses bestimmt wird“³⁵. Aleida Assmann betrachtet die drei bis fünf

 Vgl. ebd. S. 13.  Jan Assmann: Kultur und Gedächtnis, S. 185.

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1 Erinnerungstheoretische Grundlagen

Generationen, deren Lebenszeiten sich jeweils überkreuzen, als „eine Erinnerungs-, Erfahrungs- und Erzählgemeinschaft“³⁶. Im Zuge des seit der Jahrtausendwende zu konstatierenden Interesses an der intergenerationellen Tradierung der NS-Vergangenheit in der Familie rücken die Kategorien Generation und Familie als Erinnerungsgemeinschaft zunehmend in den Fokus der erinnerungskulturellen Diskurse. Kommunikative Gedächtnisse können vorrangig von den individuellen Erfahrungen oder den im privaten Umfeld kursierenden Erzählungen geprägt sein, aber auch an Deutungsangeboten der medial vermittelten und politisch propagierten Versionen von Vergangenheit, also kulturellen und kollektiven Gedächtnissen orientiert sein. Das kommunikative Gedächtnis einer oder auch mehrerer dieser Gruppen kann jeweils politisch wirkmächtig werden. Die Ebene des kulturellen Gedächtnisses umfasst alle Formen des öffentlich zugänglichen Vergangenheitsbezugs, die hauptsächlich durch Medien vermittelt und verbreitet werden. Das kulturelle Gedächtnis ist durch eine „Vielfalt medialer Präsentationen und künstlerischer Gestaltungen“³⁷ gekennzeichnet, die, sei es bewusst oder unbewusst, bestimmte Geschichtsbilder produzieren, aber nicht unbedingt als Identität der eigenen Gruppe betrachtet werden können. Kulturelle Gedächtnisse sind in ihrer „irreduzible[n] Vielstimmigkeit heterogener Perspektiven, Ausdrucksformen und Deutungen“ von kollektiven Gedächtnissen abgegrenzt, die unter dem „zur Einheit verpflichtende[n] Gruppenzwang“³⁸ stehen. Die Ausformungen des kulturellen Gedächtnisses emergieren und existieren in einem komplexen Feld verschiedener Gruppengedächtnisse und unterschiedlicher gegenwärtiger Sinnbedürfnissen. Diese können untereinander um die Deutungshoheit und kulturelle Hegemonie kämpfen. Die Ebene des kollektiven Gedächtnisses kann als Manifestation hegemonialer kultureller Gedächtnisse verstanden werden. In der Praxis sind die Übergänge zwischen verschiedenen Gedächtnisformationen, gerade zwischen kulturellen und kollektiven Gedächtnissen, oftmals fließend. Die Inhalte von kulturellen Gedächtnissen können zu politisch instrumentalisierten, kollektiven Gedächtnissen werden, wenn sie etwa durch Ikonisierung und Ritualisierung um politische Anerkennung ringen. Die Ausformung des kollektiven Gedächtnisses orientiert sich daher meist an den aktuellen Belangen der Nation und den Regeln des politischen Feldes. Das heißt, die Vergangenheitsbezüge werden meist bewusst gewählt und sind überwiegend auf die Erfüllung der gesellschaftlich-politischen Interesse und

 Aleida Assmann/Ute Frevert: Geschichtsvergessenheit – Geschichtsversessenheit, S. 37.  Ebd., S. 51.  Ebd.

1.3 Autobiografische Familienliteratur als Medium der Inszenierung

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Zwecke gerichtet. Die Träger des kollektiven Gedächtnisses sind üblicherweise staatliche Institutionen. Insgesamt ist festzustellen, dass individuelle Erinnerungen immer auch von externen Elementen aus unterschiedlichen Gedächtnisträgern durchzogen sind. So greifen kommunikatives, kulturelles und kollektives Gedächtnis ineinander, indem kommunikative Gedächtnisse, die aus individuellen Erinnerungen bestehen, die Ausformung der kulturellen bzw. kollektiven Gedächtnisse und deren Träger innerhalb einer Gesellschaft beeinflussen, die dann wiederum als soziokulturelle Rahmenbedingungen auf jene zurückwirken.³⁹ Die drei Ebenen unterscheiden sich gemeinhin durch die jeweiligen Erinnerungsakteure und Gedächtnisträger sowie die jeweils spezifischen Interessen, nach denen sich die Wahrnehmung, Deutung und Vermittlung bestimmter Ereignisse vollzieht. In den kulturellen Gedächtnissen spielt die Speicherung und Aktualisierung von Vergangenem eine zentrale Rolle. Auf der Ebene der kollektiven Gedächtnisse sind politische Zwecke wie die Konstruktion nationaler Identität durch ein einheitliches Narrativ der Vergangenheit oftmals von entscheidender Bedeutung und auf der Ebene der kommunikativen Gedächtnisse ist schließlich die individuelle Vergegenwärtigung des Vergangenen bestimmend.

1.3 Autobiografische Familienliteratur als Medium der Inszenierung von Erinnerungskämpfen Aus den bisherigen Überlegungen geht hervor, dass die soziale Praxis der gemeinsamen Erinnerung alles andere als ein neutrales Feld kultureller Auseinandersetzungen ist. Die kulturwissenschaftliche Beschäftigung mit den verschiedenen Formen der Vergegenwärtigung einer gemeinsam geteilten Vergangenheit trägt dazu bei, dass Geschichtsbilder als aktiv konstruierte und politisch instrumentalisierte bewusst werden. Die kulturwissenschaftliche Gedächtnisforschung ist mithin als Teil einer allgemeinen „kritischen Selbstreflexion“⁴⁰ der erinnerungspolitischen und öffentlichen Geschichtsdiskurse zu verstehen. Sie erläutert die Bildung und Ausprägung von Kultur über die Fähigkeit von Gruppen zur kollektiven Vergegenwärtigung geteilter Erfahrungen und bezieht die Herausbildung einer kollektiven Identität auf die soziokulturelle Praxis gemeinsamen Erinnerns. Dementsprechend befragt sie die nationale Identität durch die Analyse der Erinnerungsmedien und

 Vgl. Harald Welzer: Das soziale Gedächtnis. Geschichte, Erinnerung, Tradierung, Hamburg 2001, S. 15.  Aleida Assmann/Ute Frevert: Geschichtsvergessenheit – Geschichtsversessenheit, S. 24.

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1 Erinnerungstheoretische Grundlagen

-praktiken wie der Traditions- und Kanonbildung, der Pflege von Gedenkorten und -riten. Dabei sind die Vorgänge, in denen vergangene Ereignisse öffentlich erinnert oder vergessen werden und einzelne Menschen sich Geschichtsbilder aneignen, komplex und unübersichtlich. Darüber hinaus sind individuelle und kollektive Gedächtnisse einem permanenten Wandlungsprozess unterzogen, der in einer vielfältigen Wechselbeziehung zu den jeweiligen soziokulturellen Lebenskontexten steht, denn „Erinnerung ist eine partielle Rekonstruktion der Vergangenheit, die Gedächtnisspuren nach Maßgabe gegenwärtiger Bedürfnisse und Deutungen berücksichtigt und verknüpft“⁴¹. Damit rückt die Präsenz der Vergangenheit in der Gegenwart ins Zentrum der Aufmerksamkeit. So bezeichnen Bal, Crewe und Spitzer den Vorgang einer „Cultural Memorization“ als „an activity occuring in the present, in which the past is continuously modified and re-described even as it continues to shape the future“⁴². Solche gegenwarts- bzw. zukunftsbezogenen Erinnerungen an die Vergangenheit dienen verschiedenen Zwecken „ranging from conscious recall to unreflected re-emergence, from nostalgic longing for what is lost to polemical use of the past to shape the present“⁴³. Die Ausformung der individuellen und kollektiven Gedächtnisse einer Gesellschaft verläuft immer nach ihren gegenwärtigen Sinnbedürfnissen und dem Erwartungshorizont. Bei der Betrachtung von Erinnerungsvorgängen in Diskursen über die NS-Vergangenheit und autobiografischen Texten muss sich das Hauptaugenmerk daher auf die kulturell und historisch variablen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen richten: Because memory is made up of socially constituted forms, narratives, and relationships, but also amenable to individual acts of intervention in it, memory is always open to social revision and manipulation. This makes it an instance of fiction rather than imprint, often of social forgetting rather than remembering.⁴⁴

Wie sehr der Akt des Erinnerns vom aktuellen Selbstbild des Individuums abhängig ist und dass die Erinnerung daher mehr über die Gegenwart als über die Vergangenheit aussagt, bringt ein Aphorismus Friedrich Nietzsches treffend zum Ausdruck: „Das habe ich getan, sagt mein Gedächtnis. Das kann ich nicht getan  Donald Polkinghorne: Narrative Psychologie und Geschichtsbewusstsein. Beziehungen und Perspektiven, in: Jürgen Straub (Hrsg.): Erzählung, Identität und historisches Bewusstsein. Die psychologische Konstruktion von Zeit und Geschichte. Erinnerung, Geschichte, Identität 1, Frankfurt a. M. 1998, S. 12– 45, hier S. 24.  Mieke Bal/Jonathan Crewe/Leo Spitzer (Hrsg.): Acts of Memory. Cultural Recall in the Present, Hanover/NH 1999, S. vii.  Ebd.  Ebd., S. xiii.

1.3 Autobiografische Familienliteratur als Medium der Inszenierung

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haben sagt mein Stolz und bleibt unerbitterlich. Endlich – gibt das Gedächtnis nach.“⁴⁵ Als referenzielle Textsorte, die sich auf die Suche nach einer vergessenen oder verwertbaren Vergangenheit begibt, machen die hier untersuchten autobiografischen Texte den Konstruktionsprozess des gesellschaftlich geprägten individuellen Gedächtnisses bewusst, indem sie aufzeigen, wie eng die authentisch geglaubten eigenen Erinnerungen mit den Gedächtnissen verschiedener sozialer Gruppen verwoben sind, etwa einer Familie oder auch einer Generation. Sie sind somit intertextuell und intermedial vielfach auf kommunikative und kulturelle Gedächtnisse bezogen bzw. selbst Teil von ihnen. Durch diese Dialogizität wird die gegenseitige Bedingtheit von Individuum und Gesellschaft hervorgehoben. Demnach sind für die spätere Textinterpretation die Fragen relevant, welche Deutungen der historischen Vergangenheit dort konstruiert werden und wie sie sich zu dem ‚vermeintlichen‘ Faktenwissen, das die Historiografie vermittelt, und zu anderen Formen kommunikativer und kultureller Gedächtnisse verhalten. Autobiografische Familienliteratur als Form des kulturellen Gedächntisses zu betrachten, bedeutet, dass „Memorialfunktionen“⁴⁶ der Texte in die Untersuchung mit einbezogen werden: hinsichtlich ihrer Einbindung in kommunikative Gedächtnisse wie Familiengedächtnis oder Generationengedächtnis, in tradierte Wertvorstellungen sowie bestehende Deutungsmuster und in vorherrschende Geschichtsbilder. Damit gewinnen politische und historische Fragestellungen an Bedeutung. Im nächsten Kapitel werden die öffentlichen und familiären Diskurse um die nationalsozialistische Vergangenheit und den Zweiten Weltkrieg in Deutschland in zentralen Aspekten nachgezeichnet. Die zu beachtenden Probleme lassen sich mit einer aus den Erkenntnissen der Gedächtnisforschung Bereks hervorgehenden Frage zusammenfassen: Wer erinnert was in welcher Situation, aus welcher bewussten oder unbewussten Motivation, mit welchem gegenwärtigen Zweck, auf welche Weise, mit welchen Mitteln und welcher Wirkung?⁴⁷

 Friedrich Nietzsche: Werke III – Jenseits von Gut und Böse. Frankfurt a. M. 1969, S. 625.  Peter Matussek: Erinnerung und Gedächtnis, S. 151.  Mathias Berek: Kollektives Gedächtnis, S. 118.

2 Politische, gesellschaftliche und wissenschaftliche Rahmen der Erinnerungslandschaft in Deutschland 2.1 Öffentliche Erinnerungsdiskurse Im Folgenden sollen Entstehungskontexte der autobiografischen Familienliteratur beleuchtet werden, indem die durch die nationalsozialistische Geschichte bedingte, spezifische Herausforderungslage der deutschen Erinnerungskultur sowie öffentliche Diskurse, Entwicklungen und Akteure der konkreten Erinnerungspraxen mit Blick auf ihre Ursachen und gesellschaftlichen Auswirkungen vergleichend dargestellt werden. Der Hauptfokus liegt auf den unterschiedlichen Positionen in den öffentlichkeitswirksamen Geschichtsdebatten, die das kollektive Gedächtnis und Geschichtsbilder zu konstituieren, zu reflektieren oder zu modifizieren suchen. Diese öffentlichen Diskurse veranschaulichen den Umgang mit der NS-Vergangenheit und gleichzeitig die Geschichtsdeutungen ihrer jeweiligen Zeit, die durch die widerstreitenden, die Erinnerungsprozesse initiierenden Akteure Eingang in das kulturelle Gedächtnis fanden. Die im vorigen Kapitel erläuterten Aspekte und Mechanismen der individuellen wie kollektiven Erinnerungsprozesse bieten eine Vielzahl von Anknüpfungspunkten für eine kritische Betrachtung der verschiedenen Phasen der deutschen Erinnerungskultur seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges. Charakterisierend für den gesellschaftlich-politischen Umgang mit dem Nationalsozialismus und dem Zweiten Weltkrieg war von Anfang an eine Ambivalenz zwischen dem Bedürfnis nach einer kritischen Auseinandersetzung mit den Ursachen und Folgen des ‚Zivilisationsbruchs‘ und dem Wunsch, diese bedrückende und belastende Vergangenheit hinter sich zu lassen. So spricht Klaus Naumann von einer „institutionalisierte[n] Ambivalenz“¹, Astrid Messerschmidt von „eine[r] konsensuelle[n] Reserviertheit“². Trotz aller Entwicklungen und Veränderungen des Umgangs mit der NS-Vergangenheit in den letzten 70 Jahren habe diese Ambivalenz eine gewisse Kontinuität, so Norbert Frei.³

 Vgl. Klaus Naumann: Institutionalisierte Ambivalenz. Deutsche Erinnerungspolitik und Gedenkkultur nach 1945, in: Mittelweg 36 (2004) H. 2, S. 64– 75.  Astrid Messerschmidt: Selbstbilder zwischen Unschuld und Verantwortung, S. 115.  Vgl. Norbert Frei: 1945 und Wir. Das Dritte Reich im Bewußtsein der Deutschen, München 2005. https://doi.org/10.1515/9783111009094-004

2.1 Öffentliche Erinnerungsdiskurse

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Nach Aleida Assmann lassen sich drei Phasen in der wissenschaftlichen wie in der öffentlichen Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit voneinander unterscheiden⁴: Von 1945 bis 1957 ist zunächst eine Phase zu verzeichnen, die ganz „im Zeichen des ‚kommunikativen Beschweigens‘ und einer massiven Abwehr von Erinnerung“⁵ steht. In dieser Phase der „Vergangenheitspolitik“, bei der es hauptsächlich um eine juristische und administrative Form der Wiedergutmachung ging, standen die Themen „die Entschädigung der Opfer“ und „die Wiedereingliederung der ehemaligen Nationalsozialisten“ im Vordergrund.⁶ Norbert Frei beschreibt den öffentlichen Umgang mit der NS-Zeit in dieser Phase als ein „kollektives Verwischen von Dimensionen und Konturen“.⁷ Zu einer ernsthaften Konfrontation mit der Vergangenheit und einer vielfältigen Wahrnehmungserweiterung des Blicks auf die NS-Zeit kam es erst in der zweiten Phase, von 1958 bis 1984. Im Gefolge der Kritik der sogenannten 68er-Generation an der ersten Phase der Vergangenheitsbewältigung, der nun in Gang kommenden wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus und der durchgreifenden Medialisierung der NS-Geschichte hat sich der Fokus des offiziellen Diskurses um den Nationalsozialismus im zunehmenden Maße auf die verfolgten Opfer des NS-Regimes auszurichten begonnen. Die dritte Phase lässt sich ab 1985 datieren. Auffälligstes Phänomen der Erinnerungskultur in dieser Phase ist eine öffentlich-medial breit getragene politische Debatte über den angemessenen Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit, die durch so unterschiedliche Anlässe wie Gedenktage, Gedenkreden und Orte der musealen Aufbereitung ausgelöst wurde und teilweise sehr heftige Formen angenommen hat. Erinnerung erscheint weitgehend als top-down-Praxis für „die symbolisch-rituellen Zeichensetzungen“⁸ auf politischer Ebene. Ein Beispiel dafür ist das Konzept der ‚Geschichtspolitik‘⁹, wobei es sich Helmut Kohls „Vergangenheitsbewältigungs-politik“¹⁰ und Richard von Weizsäckers „Erinnerungspolitik“¹¹ deutlich voneinander

 Vgl. Aleida Assmann/Ute Frevert: Geschichtsvergessenheit – Geschichtsversessenheit, S. 140 – 150.  Ebd., S. 144 f.  Ebd. Hervorh. i. O.  Vgl. Norbert Frei: 1945 und Wir, S. 101– 109.  Aleida Assmann/Ute Frevert: Geschichtsvergessenheit – Geschichtsversessenheit, S. 145.  Vgl. Edgar Wolfrum: Geschichtspolitik in der Bundesrepublik Deutschland. Der Weg zur bundesrepublikanischen Erinnerung 1948 – 1990, Darmstadt 1999. Wolfrum definiert Geschichtspolitik als „Handlungs- und Politikfeld, auf dem verschiedene Akteure Geschichte mit ihren spezifischen Interessen befrachten und politisch zu nutzen suchen“ (S. 25).  Aleida Assmann/Ute Frevert: Geschichtsvergessenheit – Geschichtsversessenheit, S. 145.  Ebd.

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2 Politische, gesellschaftliche und wissenschaftliche Rahmen der Erinnerungslandschaft

unterscheiden lassen. Insofern lässt sich Geschichtspolitik „mithin auch definieren als Kampf um das richtige Gedächtnis“¹².

2.1.1 Kollektives Gedächtnis als umkämpfter Raum: Vergangenheitsbewältigung vs. Eingedenken Bundeskanzler Helmut Kohl bemühte sich um eine ‚Normalisierung‘ der Nation durch eine ‚Entkriminalisierung‘ der deutschen Geschichte, um ein positives Nationalbewußtsein erzeugen zu können.¹³ Mit dem rasch zum politischen Schlagwort entwickelten Begriff ‚Gnade der späten Geburt‘, den er im Rahmen seines Staatsbesuchs in Israel 1984 gebrauchte, wollte Kohl zwar vordergründig die normalisierte Beziehung seiner Generation zum Staat Israel betonen. Der Ausspruch erweckte aber auch den Eindruck, dass die nachgeborene Generation aus der Verantwortung für die Verbrechen des NS-Regimes entlastet werden solle. Der sogenannte ‚Bitburg-Skandal‘ verstärkte diesen Eindruck: Am 5. Mai 1985 hat Kohl gemeinsam mit dem amerikanischen Präsidenten Ronald Reagan den Soldatenfriedhof in Bitburg besucht, wo neben Soldaten der Wehrmacht auch Mitglieder der Waffen-SS beigesetzt sind. Die Kranzniederlegung an der Kriegsgräberstätte und der Händedruck Kohls mit Reagan wurden gemeinhin als symbolische Versöhnungsgeste gesehen, im Gedenken an die Toten des Zweiten Weltkrieges vierzig Jahre nach Kriegsende einen Schluss-Strich unter die NS-Vergangenheit zu ziehen und „einer ‚neuen Unbefangenheit‘ das Wort zu reden“.¹⁴ Diesen inszenierten Ritus nannte Jürgen Habermas „Entsorgung der Vergangenheit“¹⁵. Für eine andere Form der politisch-kulturellen Geschichtspolitik stand Bundespräsident Richard von Weizsäcker, dessen drei Tage später gehaltene Rede am 8. Mai 1985 zum 40. Jahrestag des Kriegsendes als „korrekter Gegenpol“¹⁶ und

 Heinrich August Winkler: Einleitung, in: ders. (Hrsg.): Griff nach der Deutungsmacht. Zur Geschichte der Geschichtspolitik in Deutschland, Göttingen 2004, S. 7– 14, hier S. 7.  Vgl. zur Geschichtspolitik Helmut Kohls in den 80er Jahren Claus Leggewie/Erik Meyer: „Ein Ort, an den man gerne geht“. Das Holocaust-Mahnmal und die deutsche Geschichtspolitik nach 1989, München 2005, S. 30 f.  Vgl. Aleida Assmann/Ute Frevert: Geschichtsvergessenheit – Geschichtsversessenheit, S. 259.  Jürgen Habermas: Entsorgung der Vergangenheit, in: ders (Verf.): Die neue Unübersichtlichkeit. Kleine politische Schriften V, Frankfurt a. M. 1985, S. 261– 268, hier S. 263.  Sabine Moller: Die Entkonkretisierung der NS-Herrschaft in der Ära Kohl. Die Neue Wache. Das Denkmal für die ermordeten Juden Europas. Das Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, Hannover 1998, S. 25.

2.1 Öffentliche Erinnerungsdiskurse

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„Kontrapunkt“¹⁷ zur ‚Bitburg-Affäre‘ bezeichnet wurde. Hinsichtlich der Schuldfrage benannte Weizsäcker in seiner Rede ausdrücklich die „deutsche Schuld am Ausbruch des Zweiten Weltkriegs“ und bezeichnete den „Völkermord an den Juden“ als „beispiellos in der Geschichte“.¹⁸ In diesem Zusammenhang betonte der Bundespräsident die kollektive Verantwortung der Deutschen für die NS-Verbrechen und die damit verbundene politische Haftung der nachgeborenen Generation.¹⁹ Im Gegensatz zur Kohlschen Geschichtspolitik der Entkriminalisierung der Vergangenheit durch Versöhnen und Vergessen forderte Weizsäcker eine aktive Kultur des Erinnerns in der Überzeugung, dass die Deutschen nur im Zuge der Akzeptanz seiner belasteten Vergangenheit und der bewussten Erinnerung mit sich selbst Frieden schließen können. Dabei berief er sich auf das Wort des chassidischen Weisen Baal Schem Tov aus dem 18. Jahrhundert: „Das Vergessenwollen verlängert das Exil, und das Geheimnis der Erlösung heißt Erinnerung.“²⁰ Damit setzte Weizsäcker den „Erinnerungsimperativ“²¹, der zum zentralen Bezugspunkt und Maßstab für die deutsche Erinnerungskultur der folgenden Jahre wurde. Seine Aufforderung, die NS-Vergangenheit anzunehmen und zu erinnern, brachte klar und deutlich zum Ausdruck, dass die Vergangenheit nicht wiedergutgemacht und bewältigt werden kann. Stattdessen stellte er die „Solidarität in der Erinnerung“ ins Zentrum seiner Rede.²² Die Gedenkrede des Bundespräsidenten stieß weltweit auf große

 Helmut Dubiel: Niemand ist frei von der Geschichte. Die nationalsozialistische Herrschaft in den Debatten des Deutschen Bundestages, München/Wien 1999, S. 206. Vgl. auch Peter Hurrelbrink: Der 8. Mai 1945 – Befreiung durch Erinnerung. Ein Gedenktag und seine Bedeutung für das politischkulturelle Selbstverständnis in Deutschland, Bonn 2005, S. 185; Heinrich August Winkler: Der lange Weg nach Westen. Zweiter Band: Deutsche Geschichte vom „Dritten Reich“ bis zur Wiedervereinigung, München 2001, S. 441; Harald Schmid: Deutungsmacht und kalendarisches Gedächtnis – die politischen Gedenktage, in: Peter Reichel/Harald Schmid/Peter Steinbach (Hrsg.): Der Nationalsozialismus – Die zweite Geschichte. Überwindung – Deutung – Erinnerung, München 2009, S. 175 – 216, hier S. 198.  Richard von Weizsäcker: Zum 40. Jahrestag der Beendigung des Krieges in Europa und der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft. Ansprache am 8. Mai 1985 in der Gedenkstunde im Plenarsaal des Deutschen Bundestages, hrsg. von der Bundeszentrale für Politische Bildung, Bonn 1985, S. 7 und 2.  Vgl. ebd., S. 5: „Wir alle, ob schuldig oder nicht, ob alt oder jung, müssen die Vergangenheit annehmen. Wir alle sind von ihren Folgen betroffen und für sie in Haftung genommen.“  Ebd.  Cornelia Siebeck: „Einzug ins verheißene Land“. Richard von Weizsäckers Rede zum 40. Jahrestag des Kriegsendes am 8. Mai 1985, in: www.zeithistorische-forschungen.de/1-2015/id%3D5177, zuletzt abgerufen am 28.09. 2018.  Vgl. Aleida Assmann/Ute Frevert: Geschichtsvergessenheit – Geschichtesversessenheit, S. 146.

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2 Politische, gesellschaftliche und wissenschaftliche Rahmen der Erinnerungslandschaft

Resonanz.²³ Der israelische Botschafter Jitzhak Ben Ari empfand es gar als eine „Sternstunde in der Geschichte der Bundesrepublik“²⁴.Weizsäckers Rede mache „in Nüchternheit und mit Genauigkeit das Unverständliche verständlich“²⁵. Innenpolitisch fand die Rede jedoch nicht nur breite Zustimmung, sondern löste auch heftige Kritik aus. Einige konservativen Politiker reagierten mit großer Empörung auf die Thematisierung der kollektiven Schuld aller Deutschen an den NS-Verbrechen.²⁶ Darüber hinaus erklärte der Bundespräsident den 8. Mai auch für Deutschland zum „Tag der Befreiung“²⁷. Die Bezeichnung des Kriegsendes als die Befreiung vom „menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft“²⁸ ist aus internationaler Sicht zutreffend. Aber auf der Ebene kommunikativer Erinnerungsgemeinschaft und auf der individuellen Erinnerungsebene war der 8. Mai 1945 für viele Deutschen ein Tag der schmerzhaften Niederlage, mit all dem Leid und Elend, das darauf folgte. Weizsäckers Rede von 1985 war daher ein „Wendepunkt“²⁹ in der deutschen Erinnerungskultur, da eine bedeutende Veränderung des offiziellen staatlichen Gedenkens an den Jahrestag des Kriegsendes am 8. Mai 1945 vorgenommen wurde: Die Niederlage und Kapitulation wurde in eine Befreiung umgedeutet.³⁰ In den kontroversen politischen Debatten über die öffentlichen Statements zum 8. Mai 1945 (Bitburg und Rede Weizsäckers) ließ sich ablesen, dass die Erinnerung

 „Die Rede ist mittlerweile in nahezu 2 Millionen Exemplaren verbreitet […]. Sie ist in 13 Sprachen übersetzt, […] die Schallplattenversion ist in über 60 000 Exemplaren abgesetzt […].“ in: Ulrich Gill: Über Absichten und Inhalte des Sammelbandes, in: ders./Winfried Steffani (Hrsg.): Eine Rede und ihre Wirkung. Die Rede des Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker vom 8. Mai 1985 anläßlich des 40. Jahrestages der Beendigung des Zweiten Weltkrieges. Betroffene nehmen Stellung, Berlin 1986, 7 f.  Jitzhak Ben-Ari: Der Hass hatte keine Anziehungskraft, in: Ulrich Gill/Winfried Stefani (Hrsg.): Eine Rede und ihre Wirkung, S. 23 – 26, hier S. 25.  Ebd., S. 24.  Vgl. Jan-Holger Kirsch: ‚Wir haben aus der Geschichte gelernt‘. Der 8. Mai als politischer Gedenktag in Deutschland (Beiträge zur Geschichtskultur, Band 16), Köln 2002, S. 103; Georg Stötzel: Geschichtliche Selbstinterpretation im öffentlichen Sprachgebrauch seit 1945. Der Befreiungsdiskurs zum 8. Mai, in: Heidrun Kämper/Hartmut Schmidt (Hrsg.): Das 20. Jahrhundert. Sprachgeschichte – Zeitgeschichte, Berlin/New York 1998, S. 250 – 274, hier S. 262.  Richard von Weizsäcker: Zum 40. Jahrestag der Beendigung des Krieges in Europa und der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft, S. 2.  Ebd.  Jörg Echternkamp: Nach dem Kreig. Alltagsnot, Neuorientierung und die Last der Vergangenheit 1945 – 1949, Zürich 2003, S. 229.  Vgl. Peter Reichel: Politik mit der Erinnerung. Gedächtnisorte im Streit um die nationalsozialistische Vergangenheit, München 1995, S. 231 f.

2.1 Öffentliche Erinnerungsdiskurse

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an den Nationalsozialismus in Deutschland nicht statisch und homogen sein konnte und dass der Umgang mit der NS-Geschichte auf politischer Ebene die Bedeutungsverschiebung des kommunikativen Gedächtnisses zugunsten offizieller, geschichtspolitisch motivierter Erinnerungskultur bewirkte. Der Historiker Michael Stürmer wies in einem Zeitungsartikel mit dem Titel ‚Geschichte in einem geschichtslosen Land‘ auf den Grund für die immer stärker werdende politische Instrumentalisierung historischen Wissens hin: Landauf, landab registriert man die Wiederentdeckung der Geschichte […]. Es gibt zwei Deutungen dieser Suche nach der verlorenen Zeit. Die einen sehen darin Erneuerung des historischen Bewusstseins, Rückkehr in die kulturelle Überlieferung, Versprechen der Normalität. Die anderen erinnern daran, dass der Blick, der in der Zukunft keinen Halt findet, in der Vergangenheit Richtung sucht und Vergewisserung, wohin die Reise geht. Beides bestimmt die neue Suche nach der alten Geschichte: Orientierungsverlust und Identitätssuche sind Geschwister. Wer aber meint, dass alles dies auf Polititk und Zukunft keine Wirkung habe, der ignoriert, dass in geschichtslosem Land die Zukunft gewinnt, wer die Erinnerung füllt, die Begriffe prägt und die Vergangenheit deutet.³¹

In diesem Zeitungsartikel wird deutlich, dass es sich bei den heftigen Debatten um die nationalsozialistische Vergangenheit Mitte der achtziger Jahre um die Herausbildung eines einheitlichen Geschichtsbildes handelte, das der Stiftung von nationaler Identität dienen sollte. Sie hatten nämlich mit der Frage zu tun, welche Bedeutung die Erinnerung an die NS-Zeit für das deutsche Selbstverständnis haben sollte. „Die Konflikte wurden stärker als je zuvor zu einem Kampf um die kulturelle Hegemonie in der Bundesrepublik.“³² Den Höhepunkt der kontroversen Diskussion um den angemessenen Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit stellte der Historikerstreit dar, der in der breiten Öffentlichkeit ausgetragen wurde. Der Streit, den hauptsächlich der Historiker Ernst Nolte und der Philosoph Jürgen Habermas um „die Einzigartigkeit der nationalsozialistischen Judenvernichtung“ führten, stieß in den Medien auf große Resonanz und schloss mehrere Wissenschaftler und Politiker in die Diskussion um die Deutung des Nationalsozialismus und des Holocaust sowie ihre historische Einordnung mit ein.³³ Der als Faschismus-Experte anerkannte Historiker Ernst Nolte behauptete, dass der Holocaust letzten Endes nichts anderes als

 Michael Stürmer: Geschichte in geschichtslosem Land, in: Rudolf Augstein: „Historikerstreit“. Die Dokumentation der Kontroverse um die Einzigartigkeit der nationalsozialistischen Judenvernichtung, München/Zürich 1987, S. 36 – 38, hier S. 36.  Edgar Wolfrum: Gechichte als Waffe. Vom Kaiserreich bis zur Wiedervereinigung, Göttingen 2001, S. 115.  Vgl. Rudolf Augstein: „Historikerstreit“.

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2 Politische, gesellschaftliche und wissenschaftliche Rahmen der Erinnerungslandschaft

eine Kopie anderer Massenmorde und das Resultat einer antibolschewistischen Reaktion auf die von der bolschewistischen Sowjetunion ausgehende Vernichtungsdrohung gewesen sei.³⁴ Diese These enthielt apologetisches und geschichtsrevisionistisches Potenzial. Jürgen Habermas warf Ernst Nolte und anderen rechtskonservativen Intellektuellen „apologetische Tendenzen“ vor, die eine Normalisierung deutscher Geschichte durch Relativierung und Entlastung des Nationalsozialismus und seiner Verbrechen bewirken wollten.³⁵ Vor dem Hintergrund der oben zitierten Gedanken Stürmers lässt sich erkennen, worauf die Akteure im Historikerstreit hinaus wollen, nämlich durch die Herstellung eines bestimmten Geschichtsbildes das nationale Selbstverständnis in der Gegenwart und die Zukunftserwartungen festzuschreiben. Die Auseinandersetzung mit der NS-Zeit in der politischen Kultur der Bundesrepublik ist bis heute von der hier skizzierten Ambivalenz geprägt und bleibt für Wandlungen des kollektiven Gedächtnisses und politischer Deutung offen. Welche Bedeutung der NS-Geschichte heute und in Zukunft beigemessen wird und in welcher Richtung sich das kollektive Gedächtnis entwickeln wird, hängen daher entscheidend davon ab, wie die Art und Weise des Umgangs mit der Erinnerung an die NS-Vergangenheit bewertet wird.

2.1.2 Die offizielle Gedenkkultur zwischen Etablierung und Kritik Seit den 1990er Jahren kann von einer weitreichenden Etablierung der vielfachen offiziellen Erinnerungsveranstaltungen gesprochen werden. Nach kontroversen Debatten der 80er Jahre hat sich der Holocaust als ein „identitätsstiftendes Narrativ“³⁶ bzw. eine erinnerungskulturelle Leitformel für die Bundesrepublik Deutschland durchgesetzt. Die Pflicht, sich mit der Vergangenheit kritisch auseinanderzusetzen und die Verantwortung für die NS-Geschichte zu übernehmen, wurde zu

 Vgl. Ernst Nolte: Vergangenheit, die nicht vergehen will, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 06.06.1986: „Vollbrachten die Nationalsozialisten eine ‚asiatische‘ Tat vielleicht nur deshalb, weil sie sich und ihresgleichen als potentielle oder wirkliche Opfer einer‚asiatischen‘ Tat betrachteten? War nicht der ‚Archipel GULag‘ ursprünglicher als Auschwitz? War nicht der ‚Klassenmord‘ der Bolschewiki das logische und faktische Prius des ‚Rassenmords‘ der Nationalsozialisten?“  Vgl. Jürgen Habermas: Eine Art Schadensabwicklung, in: Rudolf Augstein: „Historikerstreit“, S. 62– 76.  Aleida Assmann: Persönliche Erinnerung und kollektives Gedächtnis in Deutschland nach 1945, in: Hans Erler (Hrsg.): Erinnern und Verstehen. Der Völkermord an den Juden im politischen Gedächtnis der Deutschen, Frankfurt a. M. 2003, S. 126 – 138, hier S. 135.

2.1 Öffentliche Erinnerungsdiskurse

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einem zentralen Bestandteil des neuen Nationalbewusstseins, das Bundeskanzler Gerhard Schröder in seiner ersten Regierungserklärung 1998 wie folgt zum Ausdruck gebracht hat: Unser Nationalbewusstsein basiert eben nicht auf den Traditionen eines wilhelminischen ‚Abstammungsrechts‘, sondern auf der Selbstgewißheit unserer Demokratie. Wir sind stolz auf dieses Land, auf seine Landschaften, auf seine Kultur, auf die Kreativität und den Leistungswillen seiner Menschen. […] Was ich hier formuliere, ist das Selbstbewußtsein einer erwachsenen Nation, die sich niemandem über-, aber auch niemandem unterlegen fühlen muß, […] die sich der Geschichte und ihrer Verantwortung stellt, aber bei aller Bereitschaft, sich damit auseinanderzusetzen, doch nach vorne blickt.³⁷

Dabei ist eine Art „kategorischer Erinnerungsimperativ“³⁸ „Nie wieder Auschwitz“³⁹ zum zentralen Motto der Erinnerungspolitik der Bundesrepublik geworden. Das Wissen um die NS-Verbrechen und die daraus erwachsenen Konsequenzen für die nachwachsenden Generationen sind „kanonisiert und in offiziellen Gedenkritualen institutionalisiert worden“⁴⁰. Diese Geschichtspolitik bezeichnet Ulrike Jureit ironisch als „die Vergangenheitsbewältigung made in Germany“⁴¹. Zahlreiche Gedenktage und –riten spiegeln den langwierigen, mühsamen Prozess der Institutionalisierung auf politischer Ebene wider, die ihren Höhepunkt nach einer langjährigen, gesellschaftlich-politischen Debatte schließlich mit der Einweihung des Denkmals für die ermordeten Juden Europas im Mai 2005 in Berlin erreichte. Das im Zentrum der deutschen Hauptstadt errichtete Denkmal lässt sich als baulich realisierte Erinnerung und Mahnung an den Holocaust verstehen.⁴² Die Entwicklung hin zur heutigen Erinnerungspraxis wird also häufig als eine vorbildhafte Form eines kritischen Umgangs mit der eigenen Geschichte, an dem sich auch andere Länder orientieren sollten, beschrieben.⁴³ Mit der deutschen Wiedervereinigung

 Deutscher Bundestag: Stenographischer Bericht 14/3. Protokoll der 3. Sitzung vom 10. November 1998. Berlin, 10.11.1998. Online unter http://dip21.bundestag.de/dip21/btp/14/14003.pdf, zuletzt abgerufen am 27.05. 2017.  Peter Reichel: Politik mit der Erinnerung, S. 40.  Harald Welzer: Schön unscharf, S. 54.  Aleida Assmann/Ute Frevert: Geschichtsvergessenheit – Geschichtsversessenheit, S. 279.  Ulrike Jureit/Christian Schneider: Gefühlte Opfer, S. 20. Hervorh. i. O.  Vgl. zu Debatten um die Errichtung des Holocaust-Mahnmals Claus Leggewie/Erik Meyer: „Ein Ort, an den man gerne geht“. Das Holocaust-Mahnmal und die deutsche Geschichtspolitik nach 1989, München [u. a.] 2005.  Vgl. Jan-Werner Müller: Has Germany really come to terms with its past?, in: The Guardian, 21.10. 2010: „Germany’s dealing with its two difficult pasts – the East German state socialist dictatorship and, much more importantly, Nazism and the Holocaust – has almost universally been considered a success, even a model for others to emulate. Human rights activists and politicians in South Africa,

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2 Politische, gesellschaftliche und wissenschaftliche Rahmen der Erinnerungslandschaft

wird diese positive Einschätzung, die eigene belastete Vergangenheit gründlich aufgearbeitet zu haben, als eine zusätzliche Bestätigung für den Erfolg der Demokratisierung der Bundesrepublik Deutschland angesehen. Helmut Dubiel merkt an, dass die Demokratie im vereinigten Deutschland vor allem durch die „öffentliche Reflexion von der eigenen Schuld“⁴⁴ legitimiert werden konnte. Das hat auch positive Auswirkungen auf den Selbstvergewisserungsprozess der Deutschen in Bezug auf die Integration der NS-Geschichte in das Geschichtsbewusstsein. Nach dem Epochenjahr 1989/90, so Frank Brunssen, „wurde die Negativfixierung auf die nationalsozialistische Vergangenheit gelockert zugunsten einer Neubewertung der Geschichte der Bundesrepublik seit 1949 […] als Erfolgsgeschichte.“⁴⁵ Der Stolz und die positive nationale Identität, die von der vielfach konstatierten erfolgreichen Aufarbeitung der NS-Vergangenheit herrührt, lassen sich in einer Äußerung des Filmproduzenten Nico Hofmann im Interview mit dem 3sat Kulturmagazin erkennen: Ich bin stolz darauf, wie stark wir in Deutschland Geschichte aufgearbeitet haben. Wir sind deshalb auch viel weltoffener und für das Ausland attraktiv geworden in der Wahrnehmung, weil wir bei unserer eigenen Spurensuche Verantwortung übernommen haben. […] Im Ausland beneiden uns Menschen auch wegen der Radikalität, mit der wir unsere eigene Geschichte erzählen und erzählen können.⁴⁶

Trotz der vorherrschenden Bewertung der deutschen Vergangenheitsaufarbeitung als Erfolgsgeschichte gibt es eine Reihe von kritischen Stimmen, die die Praxis der Gedenkkultur anders bewerten. Die Kritiken beziehen sich meistens auf die unübersehbare politische Aufladung des Umgangs mit der NS-Vergangenheit und die damit einhergehende ritualisierte und opferzentrierte, von einer Tendenz zum Affirmativen geprägte Kultur des Erinnerns. „Das Gefühl oder der Anspruch, daß mit Stichworten wie ‚Auschwitz‘ und ‚Konzentrationslager‘ als Elementen einer deutschen Erinnerungskultur auch eine positive Entwicklung einer neuen demokratischen politischen Kultur Deutschlands umschrieben sei, entspringt jedoch

for instance, closely studied German trials, public commemoration and schoolbooks; and the Chinese admonished Japan that, in dealing with the second world war, it should adopt the ‘German model’.“ Online unter http://www.theguardian.com/commentisfree/2010/oct/21/has-germany-cometo-terms-past, zuletzt abgerufen am 16.05. 2017.  Helmut Dubiel: Niemand ist frei von der Geschichte, S. 291.  Frank Brunssen: Das neue Selbstverständnis der Berliner Republik, Würzburg 2005, S. 149.  Anne Schafmeister: Vieles ist persönliche Geschichte. Interview mit Nico Hoffmann, in: 3sat Kulturmagazin (2013) H. 3. Online unter http://www.3sat.de/page/?source=/specials/171086/index. html, zuletzt abgerufen am 05.04. 2016.

2.1 Öffentliche Erinnerungsdiskurse

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weniger der Wahrnehmung einer tatsächlichen historischen Bewußtseinsbildung als einer politischen Instrumentalisierung“⁴⁷, konstatiert Hans-Ulrich Thamer. 2.1.2.1 Opferzentrierung und Ritualisierung Harald Welzer weist darauf hin, dass die Auseinandersetzung der Deutschen mit ihrer nationalsozialistischen Vergangenheit bis in die 90er Jahre auf die Thematik des Holocaust fokussiert war.⁴⁸ Die Verstrickung der breiten Bevölkerung in das NS‐System wurde nicht nur in der privaten Sphäre der Familie, sondern auch in der Öffentlichlichkeit selten thematisiert. Mithin ging es in den zeithistorischen Forschungen meistens um die unterschiedlichen Formen einer Thematisierung der verschiedenen Gruppen von Opfern des NS-Regimes und deren Nachkommen, sodass das Gedenken an Holocaust-Opfer inzwischen fest im kollektiven Gedächtnis verankert ist, wohingegen es „auf der Seite der Tätergeneration zu keinem entsprechenden Erinnerungsschub gekommen ist“⁴⁹. Als Folge davon ergab sich eine signifikante „Gedächtnisasymmetrie“⁵⁰. Ein großer Teil der Reflexionen über das Problem der Asymmetrie zwischen der Opferzentrierung und fehlendem Tätergedächtnis lässt sich an der langen Debatte um das Holocaust-Mahnmal in Berlin ablesen.⁵¹ Hans-Ulrich Thamer stellt fest, dass mit der Errichtung des Denkmals „ein bemerkenswerter und diskussionsbedürftiger Vorgang für jedermann sichtbar geworden“⁵² sei. Für diskussionsbedürftig hält er vor allem die Unsichtbarkeit der deutschen Täterschaft und ihrer Taten im Denkmal. Er beruft sich dabei auf die Forderung von Reinhart Koselleck: „Wir sind politisch verantwortlich und deswegen müssen wir Taten und Täter mitbedenken und nicht nur der Opfer gedenken.“⁵³ In seiner Eröffnungsrede an-

 Hans-Ulrich Thamer: Der Holocaust in der deutschen Erinnerungskultur vor und nach 1989, in: Jens Birkmeyer/Cornelia Blasberg (Hrsg.): Erinnern des Holocaust? Eine neue Generation sucht Antworten, Bielefeld 2007, S. 81– 94, hier S. 92.  Harald Welzer: Die Deutschen und ihr „Drittes Reich“, in: Michael N. Eberts/Werner Nickolai/ Helmut Schwalb (Hrsg.): Opfer, Täter und Institutionen in der Nationalsozialistischen Gesellschaft, Stuttgart 2009, S. 60 – 74, hier S. 60 f.  Aleida Assmann: Der lange Schatten der Vergangenheit, S. 103.  Ebd.  Vgl. dazu Lydia Koelle: Deutsches Schweigen der Vergangenheit, S. 19 – 40; Ulrike Jureit: Generationen als Erinnerungsgemeinschaft. Das ‚Denkmal für die ermordeten Juden Europas‘ als Generationsobjekt, in: dies./Michael Wildt (Hrsg.): Generationen. Zur Relevanz eines wissenschaftlichen Grundbegriffs, Hamburg 2005, S. 244– 265.  Hans-Ulrich Thamer: Der Holocaust in der deutschen Erinnerungskultur vor und nach 1989, S. 81.  Reinhart Koselleck: Formen und Traditionen des negativen Gedächtnisses, in: Norbert Frei/ Volkhard Knigge (Hrsg.): Verbrechen erinnern. Die Auseinandersetzung mit Holocaust und Völker-

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lässlich der Einweihung des Denkmals wies Paul Spiegel, damals Vorsitzender des Zentralrates der Juden in Deutschland, darauf hin, dass das Denkmal zwar der Opfer der NS-Gewaltherrschaft gedenke, aber nicht unmittelbar auf die Täter bzw. Mitläufer und ihre Beweggründe verweise: Die Täter und Mitläufer von einst und deren heutige Gesinnungsgenossen müssen sich beim Besuch des Denkmals nicht unmittelbar angesprochen fühlen. Das Mahnmal selbst entzieht sich der Frage nach dem ‚Warum?‘ und enthält sich jeder Aussage über die Schuldigen wie auch über die Ursachen und Hintergründe der Kriegskatastrophe. In bester Absicht und künstlerisch beeindruckend wurde stattdessen die Vorstellung von den Juden als dem Volk der Opfer in 2.711 Betonstelen gegossen. Das Gedenken an die Ermordeten erspart den Betrachterinnen und Betrachtern die Konfrontation mit Fragen nach Schuld und Verantwortung.⁵⁴

Die Kritik von Jochen Spielmann und Christian Staffa lautet auch, dass im Denkmal nicht reflektiert wurde, wie der Verweis auf die Täter und das Gedenken an die Opfer zueinander in Beziehung gesetzt werden soll.⁵⁵ Sie merken an, dass die angestrebte Herstellung von „Unmittelbarkeit zu den Opfern“ und die damit einhergehende fehlende Erinnerung an die Täter im Endeffekt „Entlastung von der Geschichte“⁵⁶ bewirken können. In diesem Zusammenhang halten sie „das Gedenken im Land der Täter als Täternachfolgegeneneration“ für unauthentisch, weil „es nicht gelingen kann, der Opfer des Völkermordes zweckfrei, nur um ihrer selbst willen, zu gedenken“⁵⁷. Lydia Koelle argumentiert, dass das Stelenfeld höchstens „ein ästhetisches Grauen wie ein Mord nach Drehbuch“ vermittelt, das auf „Gefühlsmanipulationen“⁵⁸ zielt. Das „quasireligiöse[] Gedächtnis der Opfer“⁵⁹ und die fehlende Erinnerung an die Vernichtungstaten der Deutschen setzen somit das monumentale deutsche Schweigen fort, so Koelle. Ulrike Jureit kritisiert die staatspolitische Gedenkpraxis in Deutschland gar als opferidentifiziert. Die Identifizierung mit den verfolgten Opfern des NS-Regimes, so Jureit, sei die erinnerungspolitische Norm für die Erinnerung an den Nationalsozialismus geworden, um „sich selbst auf die moralisch richtige Seite zu definiemord, München 2002, S. 21– 32, hier S. 27. Zit. nach Hans-Ulrich Thamer: Der Holocaust in der deutschen Erinnerungskultur vor und nach 1989, S. 81.  Paul Spiegel: Rede zur Eröffnung Denkmal für die ermordeten Juden Europas. Zit nach Lydia Koelle: Deutsches Schweigen der Vergangenheit, S. 33.  Vgl. Jochen Spielmann/Christian Staffa: Von der Sinngebung des Sinnlosen. Ein Wettbewerb in Berlin, in: dies. (Hrsg.): Nachträgliche Wirksamkeit. Vom Aufheben der Taten im Gedenken, Berlin 1998, S. 191– 216.  Ebd., S. 197.  Ebd., S. 193 und 192.  Lydia Koelle: Deutsches Schweigen der Vergangenheit, S. 33.  Ebd., S. 31.

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ren“⁶⁰. Im Verhältnis zu einer Verbrechensgeschichte sei dies besonders problematisch, weil ein auf Identifikation ausgerichtetes Gedenken sich „der spezifisch deutschen Ambivalenz des Holocaust-Gedenkens“⁶¹ kaum stellt. Die Folge sei, dass „die verantwortlichen Täter trotz ihrer zweifelsfreien Zugehörigkeit zum eigenen Kollektiv faktisch überhaupt nicht mehr in Erscheinung treten“⁶². Die Ausblendung der für die Verbrechen verantwortlichen Täter führe zu „identifikatorischen Abwehrhaltungen“⁶³, die den differenzierten Umgang mit konkreten Tätern und den Gründen für die Taten schwierig machen. In diesem Zusammenhang weist Astrid Messerschmidt darauf hin, dass die NS-Verbrechen für die Selbstbestätigung moralischer Überlegenheit funktionalisiert werden können, wenn sie in ein einheitliches Narrativ mit einer moralischen Eindeutigkeit gefasst werden.⁶⁴ 2.1.2.2 Erinnerungsabwehr Micha Brumlik beschreibt die Erinnerungsabwehr als ein „psychologisch[es] Bestreben, die Erinnerung an Geschehenes verdrängen zu wollen, weil sie unliebsam ist und die eigene, auch und gerade kollektive Identität ernsthaft in Frage stellt“⁶⁵. Zum prominentesten Beispiel für solch eine Abwehrhaltung zählt er die Friedenspreisrede des Schriftstellers Martin Walser.Walser hat in der Paulskirche anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buchhandels die „Instrumentalisierung von Auschwitz“ kritisiert, die die „Meinungssoldaten“ mit „vorgehaltener Meinungspistole“ gebrauchten, um eine „Dauerrepräsentation unserer Schande“ zu erwirken.⁶⁶ Walser bezeichnet das Holocaust-Mahnmal als „fußballfeldgroßen Alptraum“ und „Monumentalisierung der Schande“, die Erinnerung an den Holocaust als „grausame[n] Erinnerungsdienst“ und „Routine des Beschuldigens“.⁶⁷ Die „maßgeblichen Intellektuellen“ sowie die Medien wollen damit eine Selbstversöhnung eines eigentlich „normalen Volkes“ mit sich und seiner Vergangenheit verhindern.⁶⁸ Aleida Assmann hat den aus Walsers Rede entstandenen Streit zwischen

 Ulrike Jureit/Christian Schneider: Gefühlte Opfer, S. 50.  Ebd.  Ebd., S. 30.  Ebd.  Vgl. Astrid Messerschmidt: Selbstbilder zwischen Unschuld und Verantwortung.  Micha Brumlik/Hajo Funke/Lars Rensmann (Hrsg.): Umkämpftes Vergessen. Walser-Debatte, Holocaust-Mahnmal und neuere deutsche Geschichtspolitik, Berlin 2000, S. 6.  Martin Walser: Erfahrungen beim Verfassen einer Sonntagsrede, in: Frank Schirrmacher (Hrsg.): Die Walser-Bubis-Debatte. Eine Dokumentation, Frankfurt a. M. 1999, S. 7– 17.  Ebd.  Martin Walser: Die Banalität des Guten, in: taz, 12.10.1998. Hervorh. i. O. Online unter https://taz. de/Die-Banalitaet-des-Guten/!1321149/, zuletzt abgerufen am 01.11. 2022.

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Walser und dem damaligen Vorsitzenden des Zentralrats der Juden in Deutschland, Ignatz Bubis, als das „Nachbeben eines deutschen Traumas, das auf das Jahr 1945 zurückgeht“⁶⁹, beschrieben. Während es Walser um „Schande“ im „Paradigma der Schamkultur“ gegangen sei, habe für Bubis das „Verbrechen“ im „Paradigma der Schuldkultur“ im Vordergrund gestanden.⁷⁰ Walser, der laut Assmann unter einem „Beschuldigungskomplex“⁷¹ litt, verteidigte seine individuelle Erinnerung gegen eine kollektive normierte Erinnerung und verwehrte sich mit seiner persönlichen Erfahrung gegen eine moralisch aufgeladene Erinnerungskultur, die seiner Meinung nach unter einem Zwang zu politischer Korrektheit steht. In jüngster Zeit haben zwei AfD-Politiker mit ihren Reden für Empörung und heftige Reaktion in der Öffentlichkeit gesorgt. Bei einer Rede in Dresden im Januar 2017 forderte Björn Höcke „eine 180-Grad-Wende der deutschen Erinnerungskultur“. Er kritisierte das Holocaust-Mahnmal in Berlin als „Denkmal der Schande“, deutsche Vergangenheitspolitik als „dämliche Bewältigungspolitik“ und die Rede des früheren Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker im Jahr 1985 – ‚Der 8. Mai war ein Tag der Befreiung‘ – als eine „gegen das eigene Volk“.⁷² Ein Jahr nach der Rede von Höcke thematisierte AfD-Chef Alexander Gauland beim Bundeskongress der AfD-Nachwuchsorganisation Junge Alternative (JA) im thüringischen Seebach erneut die deutsche Geschichte und bezeichnete Hitler und die NS-Vergangenheit als einen „Vogelschiss in 1000 Jahren erfolgreicher deutscher Geschichte“.⁷³ All diesen Kritiken gemeinsam ist, dass das vorhandene „Unbehagen mit der Erinnerungskultur“⁷⁴ eng mit dem Problem der Externalisierung der Täterschaft verknüpft ist.

2.1.3 Die Entwicklung zweier konkurrierender Erinnerungspraktiken Die Verdrängung deutscher Täterschaft geht mit einer strikten Unterscheidung zwischen den Nazis und dem Rest der deutschen Gesellschaft einher. Häufig werden

 Aleida Assmann/Ute Frevert: Geschichtsvergessenheit – Geschichtsversessenheit, S. 98.  Alle Zitate ebd., S. 104 f.  Ebd.  Alle Zitate https://www.tagesspiegel.de/politik/hoecke-rede-im-wortlaut-gemuetszustand-eines-to tal-besiegten-volkes/19273518.html, zuletzt abgerufen am 20.01. 2017.  https://www.zeit.de/news/2018-06/02/gauland-ns-zeit-nur-ein-vogelschiss-in-der-geschichte180601-99-549766, zuletzt abgerufen am 09.05. 2018.  Aleida Assmann: Das neue Unbehagen an der Erinnerungskultur. Eine Intervention, München 2013.

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die Verantwortlichen oder Täter als Nazis bezeichnet. Ulrike Jureit weist darauf hin, dass die Kategorie ‚Nazis‘ dabei völlig unbestimmt bleibt: Wer allerdings mit den Nationalsozialisten gemeint sein könnte, bleibt völlig offen: Parteimitglieder der NSDAP? Regierungsverantwortliche in Berlin? SS- und Polizeiangehörige? Deutsche Volksgenossen mit und ohne amtliche Funktion? Kollaborateure, Mitläufer, Zuschauer?⁷⁵

In diesem Zusammenhang hebt Harald Welzer die Diskrepanz zwischen der offiziellen Gedenkkultur und dem Familiengedächtnis hervor. So wurden bei Stellungnahmen auf politisch-gesellschaftlicher Ebene die NS-Verbrechen und die Verantwortung dafür kontinuierlich thematisiert, doch solche Erkenntnisse haben in den persönlichen Erinnerungen der deutschen Bevölkerung in der Regel keinen Niederschlag gefunden, als hätten die meisten dieser Verbrechen im privaten Umfeld nicht stattgefunden.⁷⁶ Welzer beschreibt die absurde Folge, die aus der strikten Unterscheidung zwischen unschuldigen Deutschen und schuldigen Nazis resultiert, ironisch mit „Raumschifftheorie“. Diese besagt, dass 1933 ein UFO gelandet ist, aus dem ‚die Nazis‘ ausgestiegen sind, das deutsche Volk und besonders seine Eliten verführt und zu beispiellosen Verbrechen verleitet haben, um dann, nach dem Holocaust und dem verlorenen Krieg, einfach wieder abzufliegen und ein diffus schuldbewusstes, im Ganzen aber doch unschuldiges und erheblich irritiertes Volk zurückzulassen.⁷⁷

Die Trennung zwischen einer kleinen Gruppe der fanatischen Nazis, die für die abnorme Massenvernichtung der Menschen verantwortlich waren, und Deutschen, die davon nichts gewusst haben, spiegelt vor allem den Wunsch wider, die nationalsozialistische Verfolgungs- und Vernichtungspolitik aus der Geschichte der nationalen Wir-Gruppe auszuschließen.⁷⁸ Dies erlaubt es den Deutschen, den Nationalsozialismus und seine Verbrechen zu thematisieren, ohne sich mit komplizierten Fragen nach der eigenen Schuld und Verantwortung auseinanderzusetzen, und so das aus der Konfrontation mit Schuldfragen entstehende Unbehagen zu vermeiden.

 Ulrike Jureit/Christian Schneider: Gefühlte Opfer, S. 91.  Vgl. Harald Welzer: Das soziale Gedächtnis, S. 168 f.  Harald Welzer: Wer waren die Nazis? Günther Oettinger und die gefühlte Geschichte, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 52 (2007) H. 5, S. 562– 576, hier S. 562.  Vgl. Ulrich Herbert: Wer waren die Nationalsozialisten? Typologien des politischen Verhaltens im NS-Staat, in: Gerhard Hirschfeld/Tobias Jersak (Hrsg.): Karrieren im Nationalsozialismus. Funktionseliten zwischen Mitwirkung und Distanz, Frankfurt a. M. 2004, S. 17– 42.

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2.1.3.1 Diskurs um Täterschaft In den heftigen öffentlichen Debatten in den 1990er Jahren traten die Asymmetrien zwischen privater Erinnerung und offizieller Gedenkkultur im Bezug auf die Täterschaft deutlich hervor. Öffentlich und familiär markierte die vom Hamburger Institut für Sozialforschung präsentierte Ausstellung Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941 bis 1944 einen Einschnitt in die deutsche Erinnerungsgeschichte. Hannes Heer, der Leiter der Ausstellung, wollte zeigen, dass die deutsche Wehrmacht aktiv beteiligt war an „einen Vernichtungskrieg gegen Juden, Kriegsgefangene und Zivilbevölkerung, dem Millionen zum Opfer fielen“, und damit die Legende von der „sauberen Wehrmacht“ verabschieden.⁷⁹ Die in der Ausstellung gezeigte Täterschaft der Wehrmacht stand im Widerspruch nicht nur zu den persönlichen Erinnerungen ehemaliger Kriegsteilnehmer, sondern auch zu der offiziellen Gedenkkultur in der Bundesrepublik Mitte der 1990er Jahre.⁸⁰ Zum ‚Stalingrad-Jahrestag‘ 1993 machte sich etwa die Tendenz bemerkbar, dem Leid der fürs Vaterland gefallenen Soldaten einen breiten Raum einzuräumen.⁸¹ Die Ausstellung wurde gemeinhin als eine Art „Gegenveranstaltung“⁸² zu den ritualisierten Formen des offiziellen staatlichen Gedenkakts im Gedenkjahr 1995 wahrgenommen. Die über Jahrzehnte im kollektiven Gedächtnis verankerte Legende der ‚anständigen Wehrmacht‘ wurde somit nachhaltig infrage gestellt. Insgesamt sahen etwa 1,3 Millionen Besucher von 1995 bis 2001 die beiden Fassungen der Ausstellung.⁸³ Diese Zahl gibt einen Eindruck von der starken öffentlichen Resonanz. Bernd Greiner, einer der Organisatoren der Ausstellung, konstatierte, dass nie zuvor „die westdeutsche Öffentlichkeit derart engagiert und andauernd über ihre Vergangenheit gestritten habe“⁸⁴. Die Reaktionen aus allen drei Generationen reichten von Ablehnung bis Zustimmung. Bezogen auf die Täterschaft der Wehrmacht kollidierte das von den persönlichen Erinnerungen der Kriegsteilnehmer abhängige Familiengedächtnis offensichtlich mit der Ausstellung als kulturellem Gedächtnis. Die Erweiterung der Tätergruppen des NS-Regimes um die Wehrmachtssoldaten be-

 Hamburger Institut für Sozialforschung (Hrsg.): Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941– 1944. Ausstellungskatalog, Hamburg 1996, S. 7.  Vgl. Aleida Assmann/Ute Frevert: Geschichtsvergessenheit – Geschichtsversessenheit, S. 278 – 279.  Vgl. Jost Dulffer: Erinnerungspolitik und Erinnerungskultur – Kein Ende der Geschichte, in: Hamburger Institut fur Sozialforschung (Hrsg.): Eine Ausstellung und ihre Folgen, S. 289 – 312, hier S. 299.  Vgl. Klaus Naumann: Wenn ein Tabu bricht. Die Wehrmachtsausstellung in der Bundesrepublik, in: Mittelweg 36 (1996) H. 1, S. 11– 24, hier S. 13.  Vgl. Edgar Wolfrum: Gechichte als Waffe, S. 142.  Vgl. Bernd Greiner: Bruch-Stücke, in: Hamburger Institut für Sozialforschung (Hrsg.): Eine Ausstellung und ihre Folgen. Zur Rezeption der Ausstellung „Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941 bis 1944“, Hamburg 1999, S. 15 – 86, hier S. 16 f.

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wirkte, dass die „unsichtbare, aber gleichwohl markante Grenze zwischen der öffentlichen und der privaten Erinnerung an das ‚Dritte Reich‘ niederriß“⁸⁵ „[D]ie öffentliche Dimension des Geschichtsdiskurses der Bundesrepublik [stößt] in die sogenannten Familiendiskurse hinein“⁸⁶, resümiert Jörn Rüsen. Noch weitere Impulse zur öffentlichen Thematisierung größerer Tätergruppen gingen von zwei Büchern aus, die fast gleichzeitig zur Wehrmachtsausstellung erschienen und eine ungemeine öffentliche Resonanz fanden: Christopher Brownings Ganz Normale Männer und Daniel J. Goldhagens Hitlers willige Vollstrecker. Zum ersten Mal rückte die Frage nach „der Motivation der Täter“⁸⁷ und den „Rahmenbedingungen ihres Handelns“⁸⁸ in den Mittelpunkt der Täterforschung. Beide Autoren haben im Hinblick auf die Täter von ganz ‚gewöhnlichen Deutschen‘ gesprochen. Mit seiner viel kritisierten These vom „eliminatorischen Antisemitismus“ argumentierte Goldhagen, dass die Gewalttaten der Deutschen von ihren feindseligen Überzeugungen gegenüber Juden herrührten.⁸⁹ Mit dem Topos der ‚ordinary men‘ wies auch Christopher Browning ausdrücklich darauf hin, dass es sich bei den Tätern keineswegs um fanatische Nazis oder Psychopathologen gehandelt hat. Im Unterschied zu Goldhagen, der von dem jahrhundertelang gewachsenen Antisemitismus und der Willigkeit der Deutschen ausgeht, richtet Browning jedoch seinen Fokus auf die sozialpsychologischen Mechanismen wie Gruppenzwang, Gehorsam und äußere Anreizen, die für das Handeln der Täter verantwortlich waren.⁹⁰ Im Hinblick auf die vermeintliche ‚Normalität‘ der Täter stellt sich die grundsätzliche Frage, ob Täter und der Rest der deutschen Gesellschaft trennscharf voneinander getrennt werden können.⁹¹ Die beiden Bücher führten damit – ähnlich wie die Wehrmachtsausstellung – zunächst einmal zu einer Fassungslosigkeit darüber, dass Täter nicht nur pathologische Mörder und Gewaltakteure, sondern auch ganz normale Väter bzw. Mütter waren, und dann zusätzlich zu einem kontroversen Abgleichsversuch der Dissoziation zwischen fachwissenschaftlichen Erkenntnissen und privaten Familiengedächtnissen.

 Aleida Assmann/Ute Frevert: Geschichtsvergessenheit – Geschichtsversessenheit, S. 279.  Zitat Jörn Rüsen in Martin Sabrow/Kurt Sontheimer/Claus Leggewie/Jörn Rüsen/Hermann Lübbe: Von der Moralisierung zur Historisierung. Überlegungen zur deutschen Geschichtskultur. Ein Gespräch mit Kurt Sontheimer, Claus Leggewie, Jörn Rüsen und Hermann Lübbe unter der Leitung von Martin Sabrow, in: Mittelweg 36 (2004), H. 3, S. 72– 88, hier S. 76.  Frank Bajohr: Neuere Täterforschung, in: Oliver von Wrochem (Hrsg.): Nationalsozialistische Täterschaften, S. 19.  Thomas Kühne: Dämonisierung, Viktimisierung, Diversifizierung, S. 44.  Vgl. Daniel Goldhagen: Hitlers willige Vollstrecker, S. 97.  Vgl. Christopher Browning: Ganz normale Männer.  Vgl. Frank Bajohr: Neuere Täterforschung, S. 30.

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Begleitet wurden die heftigen Debatten um die Wehrmachtsausstellung und die beiden Bücher über die Täterschaft von einer zunehmenden Gewichtsverlagerung hin zur Auseinandersetzung mit der Mitwirkung der verschiedensten gesellschaftlichen Gruppen am NS-System.⁹² Wo nicht nur die Nazis, sondern unterschiedliche Ebenen und Gruppen für die Umsetzung der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik verantwortlich waren, verschiebt sich auch die politisch-moralische Diskussion um Schuldfragen und die daraus erwachsenden Konsequenzen hieraus weg von der über Jahrzehnte vorherrschenden, auf eine kleine Zahl von abnormen Nazi-Tätern konzentrierten Vorstellung. Der Krieg wurde in den nationalsozialistischen Kontext eingeordnet und die ganze Gesellschaft rückt zusehends in den Fokus der geschichtskulturellen Diskussion. Damit tauchten Fragen nach der eigenen Schuld und Verantwortung auf. 2.1.3.2 Der neue deutsche Opferdiskurs Während das Geschichtsbewusstsein der Deutschen gerade durch die hochemotionalisierten Debatten um die Wehrmachtsausstellung und Goldhagens Buch in einer neuen Weise täterkritisch sensibilisiert worden ist, sind hierzu starke Gegenbewegungen zu verzeichnen, die das deutsche Opferbewusstsein für die Zeit des Zweiten Weltkrieges aktualisieren. 1997 hielt der Schriftsteller W.G. Sebald in Zürich Vorlesungen über das Thema Luftkrieg und Literatur und löste damit eine Debatte um die Bombardierungserfahrung der Deutschen während des Zweiten Weltkrieges aus, die laut Sebald „nie wirklich in Worte gefasst und von den Betroffenen weder untereinander geteilt noch an die später Geborenen weitergegeben worden“⁹³ sei. Seitdem gibt es eine anhaltende Debatte um Leid und Opfer der Deutschen.⁹⁴ Der „neue deutsche Opferdiskurs“⁹⁵ kreist dabei um drei Erfahrungskomplexe: Die Flucht und Vertreibung von Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg, die Bombar-

 Vgl. dazu Aleida Assmann/Ute Frevert: Geschichtsvergessenheit – Geschichtsversessenheit, S. 282– 284; Frank Bajohr: Neuere Täterforschung; Thomas Kühne: Dämonisierung, Viktimisierung, Diversifizierung.  W.G. Sebald: Luftkrieg und Literatur, München 1999, S. 6.  Vgl. Bill Niven (Hrsg.): Germans as victims. Remembering the past in contemporary Germany, Basingstoke 2006. Vgl. auch Helmut Schmitz (Hrsg.): A nation of victims? Representations of German wartime, Amsterdam 2007.  Vgl. Samuel Salzborn: Ein neuer deutscher Opferdiskurs. Zur Bedeutung der Vertriebenenverbände und ihrer Anliegen für politische Debatten der Gegenwart, in: Christoph Butterwegge/Janine Cremer/Alexander Häusler/Gudrun Hentges/Thomas Pfeiffer/Carolin Reißlandt/Samuel Salzborn (Hrsg.): Themen der Rechten – Themen der Mitte. Zuwanderung, demografischer Wandel und Nationalbewusstsein, Opladen 2002, S. 147– 166.

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dierung deutscher Städte durch die Alliierten sowie von Sowjetsoldaten begangene Vergewaltigungen der deutschen Frauen bei Kriegsende. Obwohl die Wahrnehmungen der Deutschen als Kriegsopfer insbesondere in den ersten Jahren nach Kriegsende in der Öffentlichkeit sowie in der privaten Sphäre der Familie nachhaltig präsent waren⁹⁶, ist ein zentrales Argument im neuen deutschen Opferdiskurs die sogenannte Tabuthese. Demnach sei die Thematisierung des deutschen Opfergedächtnisses „jahrzehntelang aus dem öffentlichen Bewusstsein verdrängt“ gewesen bzw. habe „unter Generalverdacht gestanden“⁹⁷, Täterschaft leugnen und einer Täter-Opfer-Umkehr das Wort reden zu wollen. Diese medial weit verbreitete These des Tabubruchs lässt sich aus der Dominanz des Holocaust als zentralem Bezugspunkt der deutschen Erinnerungskultur spätestens ab den 80er Jahren herleiten. Gegen den Verdacht des Revisionismus wurde vielfach behauptet, die staatlich-institutionell gepflegte Erinnerung an die NS-Verbrechen sei mittlerweile so etabliert, dass keine Relativierung mehr drohe.⁹⁸ Offizielle Schuldeingeständnisse und ein fest verankertes Bewusstsein über die deutsche Täterschaft scheinen auf nationaler Ebene die Thematisierung der Deutschen als Opfer akzeptierter gemacht zu haben. Der Schriftsteller Peter Schneider fasst dies wie folgt zusammen: Vielleicht ist es erst jetzt, nach dem Innewerden des Ungeheuerlichen, das die Deutschen anderen Völkern angetan hatten, möglich, sich zu vergegenwärtigen, in welchem Maße sie selbst das Opfer der von ihnen entfesselten Vernichtung wurden.⁹⁹

Als Ausdruck dieses wahrgenommenen Tabubruchs können diverse Buchveröffentlichungen genannt werden, die die Diskussionen um das deutsche Opfergedächtnis maßgeblich anstießen: Günter Grass’ Novelle Der Krebsgang, Jörg Friedrichs Buch Der Brand. Deutschland im Bombenkrieg 1940 – 1945 und das dokumentarisch-literarische Tagebuch der Anonyma Eine Frau in Berlin. Die hohen Auflagenzahlen und die Intensität und Resonanz von Debatten, die diese Bücher in der Öffentlichkeit ausgelöst haben, vermitteln den Eindruck des gesellschaftlichen Bedürfnisses nach der Thematisierung der Dimensionen und der Rolle deutscher Opfer während des Zweiten Weltkrieges. Harald Welzer vermutet, dass diese Bücher  Vgl. Bill Niven: Germans as victims, S. 22. Die Erzählungen vom Verlust zählten zu den machtvollen integrativen Mythen der 50er Jahre.  Lothar Kettenacker/Ralph Giordano (Hrsg.): Ein Volk von Opfern? Die neue Debatte um den Bombenkrieg 1940 – 1945, Berlin 2003, S. 10.  Vgl. Helmut Schmitz: The birth of the collective from the spirit of empathy. From the „Historians’ Dispute“ to German suffering, in: Bill Niven (Hrsg.): Germans as victims, S. 93 – 108, hier S. 106.  Peter Schneider: Deutsche als Opfer? Über ein Tabu der Nachkriegsgeneration, in: Lothar Kettenacker/Ralph Giordano (Hrsg.): Ein Volk von Opfern?, S. 158 – 165, hier S. 165.

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gerade deshalb so auflagenstark und anschlussfähig für Erinnerungsnarrative des Familiengedächtnisses sind, weil sie der gefühlten Geschichte der Bundesbürger viel näher stehen als die autoritative Erzählung über die Vernichtung der europäischen Juden und die anderen Verbrechen des Dritten Reiches.¹⁰⁰

Die Bedeutung der Diskussion um die Vertreibung, die Flächenbombardements und die Kriegsverbrechen der Alliierten liegt häufig darin begründet, dass die Deutschen mit der Zuwendung zum eigenen Leid nun möglicherweise die lang versäumte Trauerarbeit, die eigene Geschichte betreffend, leisteten. So wurde nahezu konsensuell der neue deutsche Opferdiskurs durch öffentliche Medien etabliert, die die Thematisierung der eigenen Leidenserfahrung mit der dazu zu leistenden Trauerarbeit konnotierten: „Deutschland entdeckt seine Leiden und die Trauer darum.“¹⁰¹ Die Notwendigkeit des öffentlichen Sprechens über die deutschen Opfer wird auch mit dem Argument besonders aus dem psychotherapeutischen Bereich sekundiert, dass erst die Anerkennung der Deutschen als Leidende die Empathie mit den verfolgten Opfern ermögliche.¹⁰² Eine wichtige Rolle spielte die starke Präsenz von Zeitzeugen in der öffentlichen Erinenrungspraxis, insbesondere im sogenannten Geschichtsfernsehen, für das der Name Guido Knopp zum Markenzeichen geworden ist.¹⁰³ Im Zentrum der Darstellung stehen meist traumatische Kriegserfahrungen und schicksalhafte Leidensgeschichten. Die Verschiebung der Aufmerksamkeit weg von den Taten der Deutschen, hin zu den Deutschen als Opfern war von Beginn an von Reflexionen über deren geschichtspolitischen Implikationen begleitet. Hinsichtlich der „Umcodierung der deutschen Erinnerungskultur – hin zur Thematisierung des eigenen Leids“¹⁰⁴ sieht Aleida Assmann eine gewisse Gefahr in der Entstehung eines „grenzenlosen Gedenken[s] einer universalen Viktimisierung“¹⁰⁵ im Sinne eines „katastrophischen Schicksals“¹⁰⁶. Das individuell erfahrene Leid wird häufig als eine hereingebro-

 Harald Welzer: Schön unscharf, S. 53.  Berthold Seewald: Deutschland entdeckt seine Leiden und die Trauer darum, in: Die Welt, 09.12. 2002. Online unter https://www.welt.de/print-welt/article292144/Deutschland-entdeckt-seine-Leidenund-die-Trauer-darum.html, zuletzt abgerufen am 01.11. 2022.  Vgl. Luise Reddemann: Nachwort, in: Sabine Bode: Die vergessene Generation. Die Kriegskinder brechen ihr Schweigen, Stuttgart 2004, S. 299.  Vgl. Judith Keilbach: Geschichtsbilder und Zeitzeugen. Zur Darstellung des Nationalsozialismus im bundesdeutschen Fernsehen, Münster 2008.  Aleida Assmann: Die Nazi-Zeit fasziniert noch immer, in: taz, 19.02. 2005. Online unter https://taz. de/Die-Nazizeit-fasziniert-noch-immer-weil-wir-keine-Utopien-mehr-haben/!641912/, zuletzt abgerufen am 01.11. 2022.  Aleida Assmann: Der lange Schatten der Vergangenheit, S. 76.  Ebd.

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chene schicksalhafte Naturkatastrophe repräsentiert, die scheinbar keinen Ursprung hat, wohingegen Ereigniskomplexe und Kausalitäten eher ausgeblendet werden.¹⁰⁷ Dieser „Modus des Privaten“¹⁰⁸, so Norbert Frei, mache die Erinnerungen zwar einerseits anschaulicher und nachvollziehbarer, andererseits verblassen hinter der Konzentration auf persönliche Erlebnisse des Einzelnen die historischen Zusammenhänge, die sie hervorgebracht haben. Dies betrachtet Samuel Salzborn als „die bewusste Entkontextualisierung der Vergangenheit“¹⁰⁹, da man dadurch über deutsche Opfer reden will, ohne über den Nationalsozialismus zu sprechen. In diesem Zusammenhang ordnet er den neuen deutschen Opferdiskurs in das Normalisierungsparadigma der deutschen Erinnerungskultur ein.¹¹⁰ Ihm zufolge ist das Problematische an dem deutschen Opferdiskurs das Bestreben nach „Schaffung und Formung einer kollektiven Opferidentität“¹¹¹ durch „eine narrative Kollektivierung individueller Schicksale“¹¹². Bill Niven sieht in dieser Fokussierung auf deutsche Opferschaft „the triumph of the private over the public, of emotion over enlightenment, and of uncritical empathy over pedagogy“¹¹³. Er konstatiert, dass die kollektive Opferrolle der Deutschen inzwischen „glue of united Germany’s new national identity“¹¹⁴ geworden ist. Harald Welzer stellt einen Umbau „von der Täterzur Opfergesellschaft“ in Deutschland anhand der Tatsache fest, dass „eine zunehmende Angleichung der Leiden von Tätern und Opfern“ unter dem Deckmantel des Trauma-Diskurses stattfindet, in dem die Verbrechen und der Holocaust kaum vorkommen.¹¹⁵

 Vgl. Uwe-Karsten Heye: Konjunktur des Untergangs, in: Süddeutsche Zeitung, 29.02. 2008. Online unter http://www.sueddeutsche.de/kultur/zdf-film-die-gustloff-konjunkturdes-untergangs-1.278026, zuletzt abgerufen am 02.12. 2015.  Norbert Frei: 1945 und wir, S. 17.  Samuel Salzborn: Opfer, Tabu, Kollektivschuld, in: Michael Klundt/Samuel Salzborn/Marc Schwietring/Gerd Wiegel (Hrsg.): Erinnern, verdrängen, vergessen. Geschichtspolitische Wege ins 21. Jahrhundert, Gießen 2003, S. 23.  Vgl. ebd., S. 19.  Ebd., S. 23.  Ebd., S. 22.  Bill Niven: Germans as victims, S. 20.  Ebd., S. 19.  Vgl. Harald Welzer: Zurück zur Opfergesellschaft. Verschiebungen in der deutschen Erinnerungskultur, in: Neue Zürcher Zeitung, 03.04. 2002. Online unter https://www.nzz.ch/feuilleton/arti cle81DU6-ld.200966?reduced=true, zuletzt abgerufen am 01.11. 2022. Welzer beobachtet eine solche Transformation seit Mitte der neunziger Jahre als mit dem von Guido Knopp initiierten ‚ZDF-Jahrhundertsbus‘ in Deutschland Zeitzeugenaussagen von Kriegsteilnehmern aufgezeichnet wurden, die Welzer als die deutsche Antwort auf Steven Spielbergs Video-Archiv von Holocaust-Überlebenden betrachtet.

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2.2 Familiäre Erinnerungsdiskurse Die oben dargestellten kontroversen Debatten über die deutsche Täter- bzw. Opferschaft zeigen, dass kollektives Gedächtnis und Familiengedächtnis in Bezug auf den Nationalsozialismus auseinanderfallen. Welzer formuliert in einem taz-Gespräch mit Aleida Assmann treffend: „Im Zentrum der offiziellen Erinnerungskultur steht Auschwitz, in dem der privaten Erinnerungskultur stehen Kriegserfahrung, eigenes Leid, Opferschaft.“¹¹⁶

2.2.1 Familiengedächtnis Aufschlussreich für eine differenzierte Betrachtung der Divergenz zwischen kollektivem Gedächtnis und Familiengedächtnis bezogen auf die Täter- bzw. Opferschaft in der NS-Zeit sind die Erkenntnisse der kognitiven Neurowissenschaft über die unterschiedlichen psychologischen Modi der Gedächtnisformen.¹¹⁷ Das Familiengedächtnis wird u. a. durch emotionale, über Identifikation vollzogene Wahrnehmung geprägt. Familiale Generationenzusammenhänge zeichnen sich durch alltagsrelevante, häufig lebenslang bedeutsame und tief emotionale Verbindungen unter den Familienmitgliedern aus und unterscheiden sich nachhaltig durch die positive aber auch negative Bindungsintensität von anderen sozialen Verhältnissen.¹¹⁸ Es liegt auf der Hand, dass das überwiegend durch emotional-affektive Faktoren bestimmte Familiengedächtnis weitgehend unabhängig von dem über Bildungsinstitutionen vermittelten Wissen auf der kognitiv-rationalen Ebene existieren und gar die Sicht auf die Geschichte vor jeder schulischen Beeinflussung prägen kann. Die neurowissenschaftliche Annahme, dass Geschichtsbewusstsein sowohl kognitive als auch emotionale Mechanismen zur Bearbeitung der Informationen umfasst, macht die Thematisierung von Familiengedächtnis innerhalb der Bemühung um historisches Lernen notwendig, um die personengebundenen Erinnerungen an die NS-Zeit und vermitteltes Wissen miteinander in Einklang zu bringen. Vor diesem Hintergrund ist um die Jahrtausendwende in der wissenschaftlichen Forschung, aber auch in der breiten Öffentlichkeit ein verstärktes Interesse für das mentale Nachleben des Nationalsozialismus in der privaten Sphäre der Familie zu beobachten. Besonders im pädagogisch-psychoanalytischen Bereich  Aleida Assmann/Harald Welzer: „Das ist unser Familienerbe.“ Ein Gespräch über falsches Erinnern und richtiges Vergessen, in: taz magazin, 22./23.01. 2005. Online unter https://taz.de/Das-ist-un ser-Familienerbe/!650641, zuletzt abgerufen am 01.11. 2022.  Vgl. Daniel Schacter: Wir sind Erinnerung, S. 15 – 71.  Vgl. Ulrike Jureit: Generationenforschung, S. 63 f.

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herrscht die Vorstellung von der Familie als zentraler sozialer Institution vor, in der die Sozialisations- und Erziehungsleistungen der Eltern und damit die Tradierung historischen Wissens an die Kinder für die Entwicklung von Geschichtsbewusstsein grundlegend sind.¹¹⁹ Harald Welzer, Sabine Moller und Karoline Tschuggnall haben die intergenerationelle Tradierung der nationalsozialistischen Vergangenheit in der Familie untersucht. Ihre empirische Studie konzeptionalisiert die Tradierung von Geschichte als Gespräch zwischen den Generationen. Geleitet von der Frage, wie aus erinnerter und erzählter Vergangenheit Geschichte wird, steht die intergenerationelle Weitergabe und Aneignung geteilter Geschichte in der Familie im Mittelpunkt der Forschung. Die Familie wird hier als Gedächtnissystem verstanden, in dem jedes einzelne Mitglied gleichzeitig als interner und externer Speicher fungiert und durch direkte Kommunikation aller Mitglieder „ein transaktives Gedächtnis“ gebildet wird.¹²⁰ Dabei bilden sich verschiedene Typen von Erzählern und Zuhörern heraus, was darauf hindeutet, dass sich erzählte Geschichten im Laufe der interaktiven Austauschprozesse zwischen den Familienmitgliedern zum Teil erheblich verändern und manchmal sogar ins Gegenteil verkehren können. Denn was im Dialog innerhalb von Familien vermittelt und weitergegeben wird, richtet sich nach verschiedenen situativen Faktoren des Dialoges, z. B. nach der Beziehung der Gesprächsteilnehmer zueinander, nach deren Selbst- und Fremdbildern sowie nach den gegenwärtigen Interessen der Beteiligten. Die Studie von Welzer und seinem Team veranschaulicht, dass diese situativen Faktoren den intergenerationellen Dialog über die NS-Zeit im familiären Rahmen in erheblichem Maß vorstrukturieren und schließlich zu „der Verlebendigung von Vergangenem, das in diesem Prozeß nie bleibt, was es war“¹²¹ führen. In den durchgeführten Familiengesprächen und Einzelinterviews lassen sich unter anderem Mechanismen einer Umdeutung, Umschreibung und Verharmlosung der Beteiligungen der Zeitzeugengeneration an NSVerbrechen beobachten, die Welzer mit dem Begriff der „kumulative[n] Heroisierung“ beschreibt.¹²² Zum Tradierungstyp des Familiengedächtnisses zählt Welzer auch das Verfahren der „Wechselrahmung“¹²³ , bei der das über Bildungsinstitutionen vermittelte Wissen um die verfolgten Opfer auf die eigene Familie übertragen wird. Laut der Analyse der Autoren sind diese Tendenzen auf stark ausgeprägte

 Vgl. ebd., S. 62 f.  Vgl. Harald Welzer : Erinnerungskultur und Zukunftsgedächtnis, in: http://www.bpb.de/geschich te/zeitgeschichte/geschichte-und-erinnerung/39868/zukunftsgedaechtnis?p=2, zuletzt abgerufen am 20.01. 2023.  Harald Welzer: Das kommunikative Gedächtnis, S. 235, zuletzt abgerufen am 02.11. 2022.  Vgl. Harald Welzer/Sabine Moller/Karoline Tschuggnall: „Opa war kein Nazi“, S. 54.  Ebd., S. 82.

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Loyalitätsbindung zurückzuführen. Die Studie zeigt, nach welchen Deutungsmustern die NS-Geschichte „einem permanenten Prozess der erinnernden Verlebendigung“¹²⁴ in der Familie unterliegt. Ein anschauliches Bild von der Schwierigkeit der Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit in der Familie bietet Malte Ludins Dokumentarfilm 2 oder 3 Dinge, die ich von ihm weiß. Der Film thematisiert den Umgang der drei Generationen der deutschen bildungsbürgerlichen Familie mit der bedrückenden Vergangenheit des geliebten Nazi-Vaters bzw. -Großvaters, Hanns Elard Ludin, Gesandter des Dritten Reiches in der damaligen Slowakei: die schmerzhafte Konfrontation mit und ignorante Abwehrhaltung gegenüber der unzweifelhaften Faktenlage, die Relativierung der Schuld des Vaters, die eher zurückhaltend wirkende Distanzierung der Enkelkinder und die von Harald Welzer als ‚Wechselrahmung‘ bezeichnete Umschreibung der Familiengeschichte. Der Ankündigungstext des Films lautet sehr treffend: Die Familie eines Nazitäters, 60 Jahre nach Kriegsende. Längst ist die Wahrheit über die Vergangenheit des Vaters aktenkundig, aber in der Familie wird sie beschönigt, geleugnet oder verdrängt – mit all der Leidenschaft, zu der nur Familienbande fähig ist.¹²⁵

Die familiäre Verbindung zwischen der Erlebnisgeneration und ihren Kindern bzw. Enkeln scheint zu einer beschönigenden Darstellung der NS-Vergangenheit der Vorfahren zu führen. Dies geschieht insbesondere durch die selektive, offensichtlich durch familiäre Loyalitätsgefühle beeinträchtigte Wahrnehmung und Aneignung der nachgeborenen Generationen. Alle Beteiligten sind darauf aus, an einer gemeinsamen Familiengeschichte und damit an einer familiären Identität zu arbeiten. Wenn man sich die zum Teil unverschämten Umdeutungsstrategien der Kinder und Enkel vergegenwärtigt, die sich in den Projekten von Welzer und Ludin beobachten lassen, wundert es weitaus weniger, dass trotz der weitreichenden Etablierung von Museumskulturen, Gedenktagen und -riten das offenkundig vorhandene Wissen über die NS-Verbrechen kaum mit der eigenen Familiengeschichte in Beziehung gesetzt wird.

2.2.2 Transgenerationalität Die seit der Jahrtausendwende besonders auf der Seite der Täterfamilie zu bemerkende Erinnerungskonjunktur erklärt sich dadurch, dass die Verstrickungen in das NS-System und die Kriegserfahrungen langfristige Spätfolgen haben und über  Ebd., S. 210.  Vgl. www.2oder3dinge.de, zuletzt abgerufen am 20.07. 2017.

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die Generationengrenzen hinaus wirken. Der Psychotherapeut Jürgen Müller-Hohagen, der sich mit der Psyche der Nachkommen von Tätern und mit der Tradierung von Täterbezügen bzw. -tendenzen zwischen den Generationen auseinandersetzt und seit vielen Jahren auch am ‚Dachau Institut Psychologie und Pädagogik‘ arbeitet, stellt fest, „dass sich von der Gewalt der Täter und von ihren Denkweisen in den Familien und insgesamt in der Gesellschaft mehr fortgesetzt hat, als allgemein angenommen wird“.¹²⁶ Nach jahrelanger Arbeit und Erfahrung als Psychotherapeut nennt er die „Geschichte in uns“¹²⁷, wie der Titel seines Buches aus dem Jahr 2002 lautet, die von „Täterhaftigkeit“¹²⁸, denn die meisten Menschen in Deutschland stammen von ehemals NS-identifizierten Volksgenossen ab und stehen damit bereits „von der Familie her in konkreten Zusammenhängen von Täterschaft“¹²⁹. Die Auseinandersetzung mit dem Nachleben des Nationalsozialismus hat dazu geführt, die generationenüberschreitende Kontinuität der NS-Vergangenheit insbesondere unter dem Aspekt der Schuldübertragung bzw. -übernahme zu betrachten. Die Formen und Wege, über die sich Beteiligung an Verbrechen oder die passive Unterstützung derselben bzw. das Mitwissen davon während der NS-Zeit in die Psyche der Nachkommen einschreiben, wurden in den letzten Jahren umfassend erforscht. Die Biografieforschungen von Dan Bar-On und Gabriele Rosenthal weisen auf die biografischen Relevanzen verschwiegener und/oder verleugneter Schuldverstrickungen für die nachfolgenden Generationen hin. Der israelische Psychotherapeut Dan Bar-On, der in den achtziger Jahren als einer der Ersten die Gespräche mit den Kindern von Nazitätern geführt und die Ergebnisse in seinem viel beachteten Buch Die Last des Schweigens ¹³⁰ veröffentlicht hat, macht dabei eine doppelte Mauer des Schweigens aus. Sie wird von beiden Seiten aufgerichtet: von den Eltern wie von den Kindern. Denn die Eltern wollten nicht sprechen, viele Kinder wollten aber auch nicht wissen. Die Kinder entwickelten schon früh ein Gespür dafür, dass es Themen in der Familiengeschichte gibt, nach denen sie besser nicht fragen sollten. In der Arbeit Bar-Ons ging es um die Frage nach der Integration der ver-

 Vgl. Jürgen Müller-Hohagen: Seelische Weiterwirkungen aus der Zeit des Nationalsozialismus – zum Widerstreit der Loyalitäten, in: Kurt Grünberg/Jürgen Straub (Hrsg.): Unverlierbare Zeit. Psychosoziale Spätfolgen des Nationalsozialismus bei Nachkommen von Opfern und Tätern, Tübingen 2001, S. 83 – 118, hier S. 117.  Jürgen Müller-Hohagen: Geschichte in uns. Seelische Auswirkungen bei den Nachkommen von NS-Tätern und Mitläufern, Berlin 2002.  Ebd., S. 12.  https://www.dachau-institut.de/institut/veroeffentlichungen/mueller_hohagenjuergen2002, zuletzt abgerufen am 18.04. 2019.  Dan Bar-On: Die Last des Schweigens. Gespräche mit Kindern von Nazi-Tätern, Frankfurt a. M./ New York 1993.

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schwiegenen Nazi-Vergangenheit der Eltern in die eigene Biografie der Nachkommen und die sich daraus ergebenden seelischen und innerfamiliären Konflikte. In der Mehrgenerationenstudie Der Holocaust im Leben von drei Generationen ¹³¹ haben Gabriele Rosenthal und ihr Team die familiäre Tradierung der NS-Vergangenheit und deren Folgen in der BRD, der ehemaligen DDR und in Israel vergleichend untersucht. Rosenthal stellt fest, daß das Schweigen, die damit verbundenen Familiengeheimnisse und die Familienmythen sowohl in Familien von Verfolgten als auch in denen von MitläuferInnen und TäterInnen zu den wirksamsten Mechanismen beim Fortwirken problematischer Familienvergangenheiten gehören. […] Je geschlossener oder verdeckter der Dialog in der Familie ist, je mehr verheimlicht oder retuschiert wird, desto nachhaltiger wirkt sich die Familienvergangenheit auf die Kinder- und Enkelgeneration aus.¹³²

Die Ergebnisse der Studie machen deutlich, dass die Enkel mit „Schuldgefühlen kämpfen müssen, denen die Großelterngeneration ausgewichen ist“¹³³. Kern des Projekts war die Idee, Möglichkeiten einer „sozialtherapeutischen Intervention“¹³⁴ zu entwickeln und den unbewussten Einfluss der NS-Vergangenheit in Opfer- und Täterfamilien der bewussten Bearbeitung zuzuführen. Die Dreigenerationenstudie von Christian Schneider, Cordelia Stillke und Bernd Leineweber Das Erbe der Napola ¹³⁵ untersucht aus psychoanalytischer Perspektive Folgewirkungen der spezifischen, elitären Sozialisation ehemaliger Napola-Schüler auf die nachfolgenden Generationen. Das Ergebnis der Studie zeigt, dass sich eine Napola-Sozialisation geschlechtsspezifisch auf die Nachkommen auswirkt. Durch ein negatives Selbstwertgefühl der Napola-Schüler, das aus dem Eliteideal der nationalpolitischen Erziehungsanstalten gewachsen ist¹³⁶, und sein mit der Weiblichkeit assoziiertes Negativ¹³⁷ entwickelte sich ein Komplex von einer „Hermeneutik des Selbstver-

 Gabriele Rosenthal (Hrsg.): Der Holocaust im Leben von drei Generationen. Familien von Überlebenden der Shoah und von Nazi-Tätern, Gießen 1997.  Vgl. ebd., S. 22.  Ebd., S. 354.  Ebd., S. 13.  Christian Schneider/Cordelia Stillke/Bernd Leineweber: Das Erbe der Napola. Versuch einer Generationengeschichte des Nationalsozialismus, Hamburg 1996.  Vgl. ebd., S. 325: „Die Napola-Schüler verspürten […] dies [alles, was dem aufgezwungenen Eliteideal widerspricht, H.W.] als Stigma der Unwürdigkeit, als drohenden Grund des Ausschlusses aus der Elitegemeinschaft […], mit dem sie im Anstaltsalltag immer wieder konfrontiert wurden. Jeder von ihnen hütete sein Geheimnis der Abweichung wie eine versteckte Schuld.“  Vgl. ebd., S. 330: „Gefahr der Verweichlichung der Muttersöhne, Passivität und Krankheit, aber auch Homosexualität. […] Unvorstellbar blieb in diesem Napola-geprägten symbolischen Mikro-

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dachts“¹³⁸ und einer instabilen Geschlechtsidentität, der die Beziehung der ehemaligen Napola-Schüler zu ihren Kindern beeinflusste. Alle aktuellen Studien zu verschiedenen Auswirkungen der Verstrickungen in das NS-Regime auf die nachfolgenden Generationen belegen Sigmund Freuds Einsicht, „dass keine Generation imstande ist, bedeutsamere seelische Vorgänge vor der nächsten zu verbergen“¹³⁹. Die Mechanismen der unbewussten Weiterwirksamkeit der NS-Vergangenheit und die psychodynamischen Folgen derselben bei den Nachkommen lassen sich mit dem Konzept der Transgenerationalität erklären.¹⁴⁰ Bei der Transgenerationalität handelt es sich um die unbewusste Weitergabe von bestimmten Erfahrungen sowie den damit verbundenen Gefühlen und Fantasien einer Generation an die nächste. Die auf diesem Weg tradierten Erfahrungen und Gefühle gehen in manchen Fällen auf dramatische Ereignisse und nicht eingelöste Konflikte von traumatischer Qualität zurück, die mangels adäquater Verarbeitung psychisch nicht integriert werden konnten und darum abgespalten wurden. Für die Nachkommen bedeutet dies, Erinnerungen und Gefühle in sich aufund wahrzunehmen, die nicht durch eigene Erfahrungen entstehen, sondern indirekt durch nahe Bezugspersonen vermittelt werden.¹⁴¹ Entsprechend schwierig ist es dann, ihre eigenen Gefühle als zu sich gehörig zu empfinden. Auch erkennen die Nachkommen ihre fremdartigen Gefühlsanteile nicht als in sie verschobene Gefühle der vorherigen Generation wieder, weil sich diese Übermittlung meist unbewusst in verschlüsselten Botschaften und Signalen vollzieht. Diese als fremdartig wahrgenommenen eigenen Gefühle werden in der Forschung oft mit dem Freudschen Begriff der ‚Gefühlserbschaft‘ beschrieben. Die Nachkommen wirken besetzt und blockiert, denn in ihnen sind konflikthafte, unverarbeitete Inhalte und beschädigte psychische Strukturen der früheren Generation deponiert, was den Nachkommen „kaum Spielraum für eigenes Fühlen und Denken“ lässt.¹⁴² In der Konsequenz bedeutet dies eine negative Bindung, die die Loslösung von den Eltern

kosmos nur eins: eine normal sich entwickelnde Weiblichkeit, ein Gegenüber, das ‚anders‘ ist, ohne abnorm zu sein.“  Ebd., S. 326.  Sigmund Freud: Totem und Tabu. 1912– 13a, S. 191. Zit. nach: Jürgen Straub/Kurt Grünberg: Die Gegenwart der Vergangenheit. Vorbemerkungen zur „unverlierbare Zeit“, in: dies. (Hrsg.): Unverlierbare Zeit, S. 12.  Vgl. dazu Angela Moré: NS-Täterschaft und die Folgen verleugneter Schuld bei den Nachkommen, in: Jan Lohl/Angela Moré (Hrsg.): Unbewusste Erbschaft des Nationalsozialismus. Psychoanalytische, sozialpsychologische und historische Studien, Gießen 2014, S. 209 – 224; Erika Krejci: Innere Objekte. Über Generationenfolge und Subjektwerdung. Ein psychoanalytischer Beitrag, in: Ulrike Jureit/Michael Wildt (Hrsg.): Generationen, S. 80 – 107.  Vgl. Angela Moré: NS-Täterschaft und die Folgen.  Vgl. Erika Krejci: Innere Objekte, S. 105.

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erschwert und die Nachkommen in ihren seelischen Kräften für eigenständige Wahrnehmung und autonome Entfaltung beeinträchtigt.¹⁴³ Die Erkenntnisse der familiären Übertragung von durch die NS-Terrorherrschaft hervorgerufenen Traumata stammen zum großen Teil aus der psychoanalytischen Behandlung von Kindern von Holocaust-Überlebenden.¹⁴⁴ Später wurden diese Erkenntnisse auch auf die nachfolgenden Generationen von Tätern, Mitwissern und Zuschauern ausgeweitet, die aufgrund psychischer Beeinträchtigungen vermehrt therapeutische Hilfe aufsuchten.¹⁴⁵ Die sozialpsychologisch, psychoanalytisch und psychotherapeutisch angelegten Forschungen haben das bis dahin in seiner Dimension offenbar unterschätzte Problem der generationellen Weitergabe schuldhafter Verstrickungen in die NS-Herrschaft in den Blick genommen und sind intensiv der Frage nachgegangen, welche psychischen Wirkungen die Tradierungsmechanismen der NS-Vergangenheit wie Verdrängung, Verleugnung oder Verharmlosung in den nicht verfolgten deutschen Familien auf die nachfolgenden Generationen haben.¹⁴⁶ Die zahlreichen Untersuchungen zur transgenerationellen Tradierung stimmen darin überein, dass die psychischen Folgen von Traumatisierungen, z. B. durch Beteiligung an Verbrechen, die Duldung derselben oder Kriegserfahrungen, nicht nur die Betroffenen selbst beeinträchtigen, sondern z. B. über

 Vgl. ebd., S. 103: „Wenn die Kinder durch das Verstummen hindurch Erfahrungen aus abgespaltenen Persönlichkeitsanteilen in einer nichtsymbolisierten Weise aufnehmen müssen, so ist der Prozeß dem der primären Identifizierung ähnlich. Sie werden in bestimmten Bereichen innerlich zu ihren Eltern. Das heißt, daß sich Spaltungsprozesse leicht in die nächste Generation fortsetzen können. […] [Sie sind] […] mit nur rudimentärem Realitätsbezug, mit eingeschränkter Fähigkeit und Bereitschaft zur Selbstwahrnehmung verknüpft.“ (Hervorh. i. O.)  Vgl. Jürgen Straub/Kurt Grünberg: Die Gegenwart der Vergangenheit, in: dies. (Hrsg.): Unverlierbare Zeit, S. 15 f.: „Erst in den späten siebziger und achtziger Jahren brachte man den ‚den Kindern des Holocaust‘ (Epstein 1979) größere (öffentliche) Aufmerksamkeit entgegen. Seit diesem Zeitraum erschien eine ganze Reihe an einschlägigen Arbeiten.Wie schon der von Bergmann, Jucovy und Kestenberg herausgegebene Band anzeigt, haben in jüngster Zeit auch die Nachkommen von Tätern, Mitläufern und Zuschauern wissenschaftliche Aufmerksamkeit auf sich gezogen.“  Vgl. Gottfried Fischer/Peter Riedesser: Handbuch der Psychotraumatologie, München/Basel 1999, S. 242: „Was heute unzweifelhaft ist, ist die Tatsache, daß die Nachkommen von deutschen NSTätern unter der häufig verschwiegenen und dennoch tradierten Erbschaft ihrer Eltern leiden können, und zwar erheblich.“ Vgl. auch S. 243 f: „Die psychosozialen Leiden und die dazugehörenden Symptome sowie die Reaktionsmuster der Kinder von Opfern und Tätern sind […] einander bis zum Verwechseln ähnlich.“  Vgl. exemplarisch dazu Kurt Grünberg/Jürgen Straub (Hrsg.): Unverlierbare Zeit; Jan Lohl/Angela Moré (Hrsg.): Unbewusste Erbschaft des Nationalsozialismus; Hartmut Radebold/Werner Bohleber/Jürgen Zinnecker (Hrsg.): Transgenerationale Weitergabe kriegsbelasteter Kindheiten. Interdisziplinäre Studien zur Nachhaltigkeit historischer Erfahrungen über vier Generationen, Weinheim/München 2008.

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die unbewusste Identifizierung oder die Übermittlung von Schuld- und Schamgefühlen an die nächste Generation weitergegeben werden.¹⁴⁷ So resümiert Werner Bohleber: „Traumatisches Erleben, Schuld, Scham und die Erbschaft der NS-Ideologie bildeten ein komplexes Geflecht, das in seinen Auswirkungen nicht auf die eigentlich davon betroffene erste Generation beschränkt blieb, sondern auch auf die nächste Generation übergriff.“¹⁴⁸ Wie fatal sich jenes komplexe Geflecht auf die nachfolgenden Generationen auswirkt, legt Mathias Hirsch dar: Die uneingestandene Schuld der Eltern bildet im Selbt des Kindes ein Introjekt, von dem Schuldgefühle ausgehen – nicht nur die Opfer haben die Schuldgefühle und empfinden die Scham, die die Täter nicht haben können oder wollen, auch deren Kindern wird das Unausgesprochene implantiert […], so daß diese eher Schuld und Scham empfinden als die Eltern, die der Tätergeneration angehören.¹⁴⁹

Aleida Assmann führt in diesem Zusammenhang den Begriff des Täter-Traumas an, da es schließlich die Täter waren, die durch die Unfähigkeit zu reflexiver Auseinandersetzung mit dem schuldhaften Tun oder mit dem schuldhaften Unterlassen sowie über ihre durch die Kriegseinwirkungen bisweilen ausgebildeten schweren Mentalitätsstörungen die konflikthaften, belastenden Erfahrungen und Gefühle in die nächsten Generationen verschoben haben: „So problematisch der Begriff des Tätertraumas ist, so unabweisbar ist die Rede von einem ‚Trauma der Schuld‘, das auf die nachfolgende[n] Generation[en] übergegangen ist und zu unterschiedlichen Reaktionen der Annahme oder der Verweigerung führen kann.“¹⁵⁰ Die Wirkungsmächtigkeit der in der Psyche der Nachkommen projizierten Schuldgefühle erweist sich darin, dass die Nachkommen das Unfassbare der Vergangenheit der vorherigen Generation in psychosomatischen Störungen rekonstruieren und dadurch der Dynamik unbewusster psychischer Vorgänge ausgesetzt werden. Denn „was nicht verstanden und angeeignet werden kann, muss in der Wiederholung erfahren,

 Vgl. Erika Krejci: Innere Objekte, S. 109: „Jeder Mensch besitzt die Fähigkeit, psychische Qualität nicht nur bei sich, sondern auch beim anderen bewusst oder unbewusst wahrzunehmen.“  Werner Bohleber: Wege und Inhalte transgenerationaler Weitergabe. Psychoanalytische Perspektiven, in: Hartmut Radebold/Werner Bohleber/Jürgen Zinnecker (Hrsg.): Transgenerationale Weitergabe kriegsbelasteter Kindheiten, S. 107.  Mathias Hirsch: Schuld und Schuldgefühl. Zur Psychoanalyse von Trauma und Introjekt, Göttingen 1997, S. 307.  Aleida Assmann: Der lange Schatten der Vergangenheit, S. 98. Vgl. auch Gertrud Hardtmann: Lebensgeschichte und Identität, in: Jürgen Straub/Kurt Grünberg (Hrsg.): Unverlierbare Zeit, S. 49: „Der Gedanke, daß der Holocaust nicht nur die Opfer, sondern – allerdings in einer sehr unterschiedlichen Weise – auch die Täter traumatisiert hat, stößt oft auf Ablehnung und findet doch in den Familien der Täter eine Bestätigung.“

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reinszeniert und rematerialisiert werden“¹⁵¹, nur um die übertragenen diffusen Gefühle an reale Ereignisse knüpfen zu können. Vor diesem Hintergrund betont die Sozialphilosophin und Psychologin Brigitte Rauschenbach die Bedeutung der Generationalität im Gedenken an die NS-Zeit und den Holocaust. Sie bezeichnet die deutsche Geschichte als „ein[en] beredte[n] Beleg für die These vom generativen Gedächtnis“¹⁵². Da die begangenen Untaten die Generationenfolge überdauern, benötigen die Bemühungen um die Aufarbeitung derselben auch mehrere Generationen. Um die Wiederholung des verschwiegenen, aber in der Gegenwart immer noch existierenden Vergangenen zu vermeiden, müsse man bewusst damit umgehen. So müssen die verdrängten Konflikte und Gefühlsanteile der früheren Generation aufgedeckt und mit den eigenen Gefühlsimpulsen und selbstreflexiven Reaktionen in Verbindung gebracht werden, so dass bewusst und begreiflich wird, was als unbewusste Erbschaft weitergegeben wurde: Solange es bei diesen Zitationen bleibt, wirkt Geschichte jedoch unbewusst fort. Deshalb gehört zum historischen Selbstbewusstsein ein Verständnis jener interaktiven generativen Bezüge und Mechanismen, in denen sich Rezeption, Verständnis, Verformung, Vergessen und Reaktivierung des Vergangenen vollzieht. […] Solange Geschichte nicht an den Gedächtnisfragmenten im Erleben der Individuen unmittelbar ansetzt, um an ihnen den ambivalenten verlorenen Hintersinn herzustellen, mag sie zwar belehrend sein, spricht aber niemand an.¹⁵³

2.3 Die Zukunft des Erinnerns: Historisierung? In Bezug auf die sozialpolitische Perspektive weist Heinz Bude auf die Bedeutung der Generationalität für die Situation Deutschlands hin:

 Angela Moré: NS-Täterschaft und die Folgen, S. 221. Vgl. auch Gabriele Rosenthal: Der Holocaust im Leben von drei Generationen, S. 345 – 405.  Brigitte Rauschenbach: Stille Post. Von der Übertragung im Unverstand, in: Jörn Rüsen/Jürgen Straub (Hrsg.): Die dunkle Spur der Vergangenheit. Psychoanalytische Zugänge zum Geschichtsbewußtsein, Frankfurt a. M. 1998, S. 242– 255, hier S. 253. Zum Begriff ‚Generativität‘ vgl. Ulrike Jureit: Generationenforschung, Göttingen 2006, S. 28: „Generativität bezeichnet zum einen den physischorganischen Reproduktionsprozess, zum anderen die Weitergabe und Tradierung kulturellen Kapitals. Dieser Vorgang hat zunächst einmal weder etwas mit Generationen noch mit dreißig oder mehr Jahre umfassenden Intervallen zu tun, sondern beschreibt primär die Fortpflanzung des Menschen als Gattung.“  Ebd., S. 254 f. Vgl. auch Erika Krejci: Innere Objekte, S. 103 f.: „Wenn sich Kinder mit Eltern identifizieren, die sie als Angreifer erleben, so ist Selbstentwertung, destruktive Selbstkritik oder auch Selbsteinschränkung ihr ständiger Begleiter, bis ihnen die Zusammenhänge zugänglich werden und sie diese Identifizierung auflösen oder transformieren können.“

2.3 Die Zukunft des Erinnerns: Historisierung?

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[Man kann] Deutschland mit einer gewissen Übertreibung als das Land der Generationen bezeichnen […] jedenfalls im Unterschied zu Großbritannien, das bis heute ein Land der Klassen ist, oder zu Frankreich, das sich nach wie vor mit der Idee der Republik krönt. [Es geht] um den herrschenden Orientierungsbegriff für die politische Kultur eines Landes, auf den sich die kontroversen Vorstellungen der gesellschaftlichen Selbstthematisierung beziehen. Darin liegt der Unterschied. So werden bei uns gesamtgesellschaftliche Zäsuren ganz selbstverständlich mit dem Wechsel von Generationen in Verbindung gebracht (etwa die Zäsurenfolge von 1945, 1968 und 1989 für die Bundesrepublik) – oder es werden soziokulturelle Status mit der überlangen Dominanz einer nicht abtreten wollenden Generation erklärt (so wie die ‚Wilhelminer des Kaiserreichs‘ am Anfang und die ‚Skeptiker der Bundesrepublik‘ am Ende des 20. Jahrhunderts).¹⁵⁴

Dass der Bedeutungswandel in der Erinnerung an den Nationalsozialismus und seine geschichtspolitischen Implikationen nach Generationen beschrieben und periodisiert werden, hängt damit zusammen, dass sozialpolitische Debatten insbesondere in Deutschland seit jeher generationell konnotiert werden.¹⁵⁵ Der Generationenbegriff dient als „Selbstthematisierungsformel und analytische Kategorie“¹⁵⁶ dazu, den historischen Wandel kollektiv wahrzunehmen und die Deutung von Geschichte je nach dem sozialpolitischen Kontext durch die Rückbindung an die Generationszugehörigkeit der Akteure zu verstehen und zu strukturieren. Für die Generationeneinteilung ist der Bezug zur nationalsozialistischen Vergangenheit zentral. Michael Kolstruck teilt die Generationen nach ihrem Verhältnis zur Schuldfähigkeit in der NS-Zeit ein.¹⁵⁷ Er bezeichnet diejenigen Jahrgänge als erste Generation, die bis 1945 volljährig wurden und somit im juristischen Sinne schuldfähig waren. Die zweite und dritte Generation fasst er dann genealogisch als Kinder bzw. Enkel der ersten. 75 Jahre nach dem Ende des Nationalsozialismus befindet sich Deutschland in der Schwellensituation, die durch das Ableben der Zeitzeugengeneration und die Übernahme von Erinnerungsarbeit durch die zweite und dritte Generation gekennzeichnet ist.¹⁵⁸ Dabei kreist die Diskussion über die Veränderung der Erinnerungskultur um die Schwierigkeit, den jüngeren Genera-

 Heinz Bude: „Generation“ im Kontext. Von den Kriegs- zu den Wohlfahrtstaatsgenerationen, in: Ulrike Jureit/Michael Wildt (Hrsg.): Generationen, S. 31. Hervorh. i. O.  Vgl. Ulrike Jureit: Generationenforschung, S. 7– 19.  Ebd., S. 9.  Vgl. Michael Kolstruck: Zwischen Erinnerung und Geschichte. Der Nationalsozialismus und die jungen Deutschen, Berlin 1997, S. 75 – 77. Vgl. auch Heinz Bude: Das Gedächtnis der Generationen, in: Helmut König/Michael Kolstruk/Andreas Wöll (Hrsg.): Vergangenheitsbewältigung am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts, Wiesbaden 1998, S. 69 – 85. Heinz Bude bezeichnet die in den zwanziger Jahren Geborenen als erste, die in den vierziger Jahren Geborenen als zweite und die um 1970 Geborenen als dritte Generation.  Vgl. Heinz Bude: Das Gedächntis der Generation, S. 82.

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tionen trotz des wachsenden zeitlichen Abstands zum Dritten Reich und der damit einhergehenden Tendenz zur Entkontextualisierung der Geschichte das anhaltende politische Erbe der NS-Diktatur und des Zweiten Weltkrieges adäquat zu vermitteln.¹⁵⁹ Bezogen auf die Asymmetrie von Opfer- und Tätergedächtnis ist das Thema des Generationenverhältnisses sehr durch die Spannung von Bruch und Kontinuität geprägt. Jörn Rüsen charakterisiert die Gegenwart als Phase der „Historisierung und Aneignung“¹⁶⁰ des Nationalsozialismus. Die neunziger Jahre hätten eine „Öffnung der deutschen Geschichtskultur auf einen genealogischen Zusammenhang mit den Tätern“ gebracht. Diese objektive Tatsache würde erst jetzt wieder anerkannt. Zuvor habe „die moralische Holocaustkritik und die ihr konforme Identifikation mit den Opfern […] den intergenerationellen Zusammenhang“¹⁶¹ aus dem historischen Selbstverständnis der Deutschen herausgehalten. Rüsen beschreibt den intergenerationellen Geschichtszusammenhang und die sich daraus ergebende Herausforderung für die jüngere Generation folgendermaßen: Wenn die innere mentale Verflechtung sich über drei Generationen erstreckt, ist eine Historisierung unvermeidlich. Dann nämlich müssen die Betroffenen am Ende der Generationenkette dadurch zu sich selber finden, dass sie sich bewusst und angestrengt mit den mentalen Erblasten auseinandersetzen, die ihnen im Aufbau ihres eigenen Selbst zugewachsen sind.¹⁶²

Es gehe darum, „den mentalen Bruch zu schließen, der die Deutschen von heute von ihren Vätern und Großvätern […] trennt“.¹⁶³ Das führt zu einer weiteren Tendenz seit den neunziger Jahren: dem Verzicht auf die „moralisch-distanzierenden“ Positionen,¹⁶⁴ die in diesem Zusammenhang als typisch für die 68er-Generation gelten können. Die nun erfolgende Integration von Nationalsozialismus und Holocaust in das eigene Geschichtsbewusstsein sei aber tendenziell mit einer Historisierung verbunden.¹⁶⁵ Die „überzeitliche moralische Distanz“ werde in eine „spezifisch historische Distanz“ verwandelt, „in der die Täter, Nutznießer und Zuschauer des

 Vgl. Astrid Messerschmidt: Selbstbilder zwischen Unschuld und Verantwortung.  Jörn Rüsen: Holocaust, Erinnerung, Identität. Drei Formen generationeller Praktiken des Erinnerns, in: Harald Welzer (Hrsg.): Das soziale Gedächtnis. Geschichte, Erinnerung, Tradierung, Hamburg 2001, S. 243 – 259, hier S. 254.  Beide Zitate ebd., Hervorh. i. O.  Jörn Rüsen: Historisch trauern – Skizze einer Zumutung, in: Burkhard Liebsch/Jörn Rüsen (Hrsg.): Trauer und Geschichte, Köln/Weimar/Wien 2001, S. 63 – 84, hier S. 73.  Jörn Rüsen: Holocaust, Erinnerung, Identität, S. 254.  Vgl. ebd., S. 258.  Vgl. ebd., S. 254– 256.

2.3 Die Zukunft des Erinnerns: Historisierung?

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Holocaust integrale Teile der historischen Erfahrung werden, die als Spiegel der Selbstreflexion die Züge der deutschen Besonderheit erscheinen lässt“¹⁶⁶. Schon in den achtziger Jahren hat Martin Broszat dafür argumentiert, den Nationalsozialismus nicht länger zu dämonisieren und zu exterritorialisieren, sondern ihn wie andere Objekte der Geschichtsschreibung für das „geschichtliche Verstehen“ sachlich zu erforschen.¹⁶⁷ Die moralische Pauschaldistanzierung vom Dritten Reich und seinen Verbrechen sei nachgerade „Pflichtlektion“ geworden; die Geschichte selbst werde damit aber auf Distanz gehalten und tabuisiert. Um die Pauschaldistanzierung und die „Blockade des deutschen Geschichtsbewusstseins“¹⁶⁸ zugunsten eines kritischen Verstehens zu überwinden, solle nicht jeder Aspekt im Zusammenhang mit der Gewaltherrschaft gedeutet werden. Für Broszat besteht die Herausforderung vor allem darin, „das Nebeneinander und die Interdependenz von Erfolgsfähigkeit und krimineller Energie, von Leistungsmobilisation und Destruktion, von Partizipation und Diktatur“ zusammenzusehen.¹⁶⁹ Eine differenzierte moralische Betrachtung der Taten und Unterlassungen im Dritten Reich könnte sich laut Broszat erst dadurch entwickeln, die Zeit von 1933 bis 1945 als eine Zeit normaler Menschen in einem normalen Alltag mit ihren Widersprüchen zu betrachten. Da Broszats Historisierungsplädoyer im Kontext des Historikerstreits stand, wurde die Forderung nach Historisierung als Schlussstrichargument, als Revisionsversuch verstanden.¹⁷⁰ Inzwischen aber hat sich erwiesen, dass Broszat zentrale Vorstellung aus dem Diskurs der heutigen Erinnerungskultur vorweggenommen hat: die der Integration der NS-Geschichte ins Geschichtsbewusstsein durch die historische Kontextualisierung des Nationalsozialismus. Dabei deutet Manfred Hettling die aktuelle Beschäftigung der jüngeren Generation mit dem Nationalsozialismus als ein Bedürfnis nach dem „Verständnis von biographischer Ambivalenz“ bezüglich individueller Täterschaft.¹⁷¹ Für die Nachgeborenen ist eine Historisierung Voraussetzung dafür, die nationalsozialistische Täterschaft als Teil der eigenen Identität auszuhalten:

 Ebd., S. 258.  Vgl. Martin Broszat: Plädoyer für eine Historisierung des Nationalsozialismus [1985], in: Hermann Graml/Klaus-Dietmar Henke (Hrsg.): Nach Hitler. Der schwierige Umgang mit unserer Geschichte, München 1986, S. 159 – 173, hier S. 166.  Ebd., S. 172.  Ebd., S. 166.  Vgl. zu Reaktionen auf Broszats Historisierungsplädoyer Dan Diner (Hrsg.): Ist der Nationalsozialismus Geschichte? Zu Historisierung und Historikerstreit, Frankfurt a. M. 1987.  Vgl. Manfred Hettling: Die Historisierung der Erinnerung. Westdeutsche Rezeption der nationalsozialistischen Vergangenheit, in: Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte 29 (2000), S. 357– 378, hier S. 375.

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2 Politische, gesellschaftliche und wissenschaftliche Rahmen der Erinnerungslandschaft

Jede einfache Moralisierung und unterschwellige Identifizierung mit den Opfern erscheint demgegenüber als Flucht vor der zwangsläufigen Bindung an die ‚Täter‘. Verantwortung zu akzeptieren heißt vielmehr, die Ambivalenzen in den Handlungen der vergangenen Akteuere zu erkennen – aber auch das Fortwirken dieser Ambivalenzen in den eigenen Biographien auszuhalten.¹⁷²

Entsprechend bezeichnet Hettling Historisierung als gegenwärtige „Perspektivierung“¹⁷³ des Vergangenen. Statt „moralische[r] Entrüstungs- und Betroffenheitsrhetorik“ oder einer „‚objektivistische[n]‘ Vergegenständlichung des Grauens“¹⁷⁴ sollte man nach der unterschiedlichen Bedeutung fragen, die die Geschichte für die verschiedenen Generationen hat. In diesem Sinne plädiert Hettling – anstelle einer zeitlichen Abfolge „von der Moralisierung zur Historisierung“ – für moralische Beurteilung und emphatische Annäherung als Teil der realitätsbezogenen, angemessenen Aufarbeitung der Vergangenheit.¹⁷⁵

2.4 Autobiografische Familienliteratur als sekundäre Zeugenschaft Im Rückgriff auf Arbeiten von Nicolas Abraham stellt Sigrid Weigel vor, wie die Traumata des Holocaust sich auf die zweite und dritte Generation übertragen können: Wenn das Trauma durch die Fixierung auf eine bestimmte Periode in der Vergangenheit gekennzeichnet ist, dann ist dieses Gehörte für die zweite und dritte Generation überwiegend ein Verschwiegenes. Insofern bezieht es sich auf Lücken nicht nur der individuellen Wahrheit, sondern auf Lücken der kollektiven und familialen Wahrheit: auf das Verdrängte (der Schuld) bzw. das Begrabene (der Trauer) von Vater und Mutter der persönlichen Vorzeit.¹⁷⁶

In den nachfolgenden Generationen geht es laut Weigel nicht direkt um das traumatische Erlebnis, sondern um jenes Vergrabene, Eingekapselte der vorangegangenen Generation, das bei den Nachkommen unbenennbare Symptome bildet.

 Ebd., S. 376. Hervorh. i. O.  Ebd., S. 359.  Ebd. Hervorh. i. O.  Vgl. ebd., S. 359 – 361. Vgl. auch Konrad H. Jarausch: Zeitgeschichte und Erinnerung. Deutungskonkurrenz oder Interdependenz?, in: ders./Martin Sabrow (Hrsg.): Verletztes Gedächtnis. Erinnerungskultur und Zeitgeschichte im Konflikt, Frankfurt a. M./New York 2002, S. 9 – 38.  Sigrid Weigel: Télescopage im Unbewußten. Zum Verhältnis von Trauma, Geschichtsbegriff und Literatur, in: Elisabeth Bronfen/Birgit R. Erdle/Sigrid Weigel (Hrsg.): Trauma. Zwischen Psychoanalyse und kulturellem Deutungsmuster, Köln/Weimar/Wien 1999, S. 51– 76, hier S. 69.

2.4 Autobiografische Familienliteratur als sekundäre Zeugenschaft

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Diese Art von Schmerzen ist über den intimen, affektiven Bereich wie z. B. die Familie hinaus in der Alltagskommunikation im öffentlichen Bereich nicht in rationaler Art und Weise explizit artikulierbar, da sie für das Individumm immer „an seine gefühlte Wirklichkeit […] gebunden“¹⁷⁷ bleibt. Im Hinblick auf die Erinnerungskultur von Deutschland und Österreich spricht Micha Brumlik von „der traumatischen Kultur“¹⁷⁸. Ihm zufolge verschränke sich der Schmerz aus den eigenen Kriegserfahrungen in den Täterkollektiven mit der moralischen Pflicht, den verfolgten Opfern die gebotene Anerkennung zuzubilligen, zu einer „Kultur der Paradoxe“.¹⁷⁹ Dies führe schließlich zu einer paradoxen Struktur der Erinnerungskultur, weil die traumatische Erfahrung jenseits aller historischen Kontexte und moralischen Beurteilungen immer wiederkehre und nicht aufgelöst werden könne. Das Dilemma der Erinnerungskultur in den beiden Ländern beschreibt Brumlik folgendermaßen: Wenn die Erinnerung, wenn das Gedenken an die ermordeten Juden Europas in unseren Gesellschaften den Opfern – wenn auch nachträglich – den gebotenen Respekt erweisen soll und wenn die nicht enden könnende Frage nach den Ursachen dieses Verbrechens mit dem Zweck behandelt werden soll, vor den leider wahrscheinlicher werdenden Genoziden der nahen Zukunft nicht die Augen verschließen zu müssen, dann gibt es keine Alternative dazu, sich auf die psychischen Bedingungen der traumatischen Kultur, in der wir leben, einzulassen. Diese Bedingungen aber sind in Deutschland und Österreich […] mit einer großen Anzahl von Menschen, mit Kindern und Jugendlichen gegeben, deren Eltern und Großeltern sich nicht nur moralisch schuldig gemacht haben, sondern ihrerseits schwerste Kriegstraumata erlitten haben, welche ihnen die Einfühlung in die Opfer verstellen.¹⁸⁰

Er legt dar, dass Traumata sich nicht heilen lassen, sondern dass man allenfalls lernen kann, mit ihnen zu leben. Aus Sicht der politischen Bildung bedeutet es für ihn, diese komplexe Situation zur Kenntnis zu nehmen und einen bewussten Umgang mit deren soziokulturellen Bedingungen zu entwickeln. In dieser Hinsicht argumentiert Jürgen Müller-Hohagen ähnlich, indem er die Rolle „der gesell-

 Gerhard Friedrich: Opfererinnerung nach der deutschen Vereinigung als „Familienroman“, in: Fabrizo Cambi (Hrsg.): Gedächtnis und Identität. Die deutsche Literatur nach der Vereinigung, Würzburg 2008, S. 215.  Micha Brumlik: Aus Katastrophen lernen? Grundlagen zeitgeschichtlicher Bildung in menschenrechtlicher Absicht, Berlin/Wien 2004, S. 170. Laut Brumlik sind Traumata und traumatische Kommunikationsformen „durch Verleugnung und Einfühlungsverweigerung sowie durch eine bestimmte, stets wiederkehrende Thematik, nämlich Hilflosigkeit und Verlassenheit“ (S. 167) gekennzeichnet.  Vgl. ebd., S.166 f.  Ebd., S. 170 f.

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2 Politische, gesellschaftliche und wissenschaftliche Rahmen der Erinnerungslandschaft

schaftlichen Rahmenordnung“¹⁸¹ hervorhebt. Dabei schreibt er der Sprache eine entscheidende Bedeutung zu, denn was sich nicht in Sprache ausdrücken lässt, „existiert nicht oder hat es extrem schwer, sich über Umwege doch noch Aufmerksamkeit zu verschaffen“¹⁸². In diesem Zusammenhang argumentiert Heike Radeck, dass die nicht kommunizierten Erfahrungen und Erinnerungen zur Sprache und somit ins Bewusstsein kommen dürfen und die Auseinandersetzung mit der deutschen Täterschaft wesentlich dazu gehört.¹⁸³ Bekanntlich funktioniert Erinnerung höchst selektiv und Eingang in die eigenen Lebensgeschichten findet nur, was erträglich ist und dem positiv besetzten Selbstbild des Erinnernden entspricht. Traumatische Erinnerungen sind gerade durch „die Unmöglichkeit der Narration“¹⁸⁴ gekennzeichnet, was jede wissenschaftliche Überprüfung kausaler Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge erschwert. Angesichts der Ereignisse des Holocaust verweist Brumlik darauf, dass nicht nur die wissenschaftliche, sondern auch die rituelle Bearbeitung des Themas insofern zu kurz greift, als die Massenvernichtung die konventionelle Auffassung sowohl in kognitiver als auch in affektiver Hinsicht übersteigt.¹⁸⁵ Die literarische Auseinandersetzung mit dem Thema bietet hierzu eine große Vielfalt an Möglichkeiten, aufgrund ihrer spezifischen medialen Eigenschaften greifbare Identifikationsangebote zu machen. In diesem Zusammenhang hat Renate Lachmann ein Konzept von Intertextualität und Gedächtnis entworfen, das darauf angelegt ist, sich mit den vorherrschenden kollektiven Gedächtnissen kritisch auseinanderzusetzen: Gegen das institutionalisierte Gedächtnis läßt sich dasjenige der kulturellen Formen aufbieten, wie es die Karnevalspraxis und die literarischen Gattungen repräsentieren, und gegen die verordneten Gedächtnishandlungen, die die offizielle Gedenkkultur erlaubt, lassen sich die individuellen Schreibhandlungen aufbieten, die die Epochengrenzen überschreitend einen chaotisch-direkten Dialog mit der Vergangenheit aufnehmen.¹⁸⁶

In der Möglichkeit, das verkapselte, mit Scham- und Schuldgefühlen besetzte Familiengedächtnis an die NS-Zeit der Öffentlichkeit zugänglich zu machen, besteht

 Jürgen Müller-Hohagen: Seelische Weiterwirkungen aus der Zeit des Nationalsozialismus, S. 100.  Ebd.  Vgl. Heike Radeck: Das Erbe des Nationalsozialismus – eine Tagungsreihe, in: Jan Lohl/Angela Moré (Hrsg.): Unbewusste Erbschaft des Nationalsozialismus, S. 15 – 24.  Aleida Assmann: Stabilisatoren der Erinnerung. Affekte, Symbole, Trauma, in: Jörn Rüsen/ Jürgen Straub (Hrsg.): Die dunkle Spur der Vergangenheit, S. 151.  Vgl. Micha Brumlik: Aus Katastrophen lernen?, S. 175.  Renate Lachmann: Gedächtnis und Literatur, Frankfurt a. M. 1990, S. 10.

2.4 Autobiografische Familienliteratur als sekundäre Zeugenschaft

63

das spezifische Potenzial der literarischen Aufarbeitung der Vergangenheit. Bei der Beschreibung der jüngsten deutschen Vergangenheit bezieht sich der Historiker Wolfgang Hardtwig oft auf literarische Texte, wenn es besonders um Alternativen zu individuellen Erinnerungen der Deutschen geht, die nicht selten Fragen nach der eigenen Schuld und Verantwortung aussparen.¹⁸⁷ Dabei liegt die Attraktion literarischer Geschichtsaufarbeitung für Hardtwig nicht nur im Bereich des Inhaltlichen, sondern vor allem im Bereich des Narrativen. Denn das Widersprüchliche und Prekäre der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts lasse sich schwer mit den traditionellen wissenschaftlichen Arbeitsweisen der Historiografie beschreiben. Literarische Texte sind weder an Chronologie noch an die Einheit von Zeit, Raum und Handlungen gebunden und können damit fragmentierte Erinnerungen und die Verschränkung der nationalen Geschichte und des individuellen Gedächtnisses mit literarischen Stilmitteln und Darstellungsformen adäquater begreifbar machen. Hinsichtlich ihrer gestalterischen Freiheit schreibt auch Harald Welzer der künstlerischen Aufarbeitung der Geschichte besondere Erinnerungsleistung zu: Im Grund bin ich der Auffassung, daß wir den Kern des kommunikativen Gedächtnisses, […], wissenschaftlich immer nur unzureichend und unvollständig erfassen können – ästhetische Zugänge wie literarische Autobiographien […], Filme […] etc. kommen wegen ihrer Freiheit ihre Überlegungen nicht belegen zu müssen, dem Phänomen des kommunikativen Gedächtnisses oft näher, als es mit den sperrigen Instrumenten der wissenschaftlichen Argumentation möglich ist.¹⁸⁸

Von hier aus wird verständlich, wieso die autobiografische Familienliteratur, die sich mit der NS-Täterschaft und deren Nachwirkungen in der Familie beschäftigt, seit der Jahrtausendwende Hochkonjunktur hat. Einige Tatsachen haben zudem neue Perspektiven auf die Geschichte und Voraussetzungen einer kritischen Auseinandersetzung mit dem eigenen Familiengedächtnis eröffnet, nämlich einerseits dass mit dem absehbaren Ende der Zeitzeugengeneration als Erinnerungsträger die nachwachsenden Generationen als Träger der Geschichtsbilder zunehmend an Einfluss gewinnen, aber auch andererseits dass die Archive in den Ländern, die vormals zum Ostblock gehörten, inzwischen geöffnet wurden. Archivarische Quellen bieten neue Zugänge zur Familiengeschichte an. Die NS-Zeit geht von einer auch als personengebundene Erinnerung vorhandenen Vergangenheit in eine nur noch als kulturelle Tradierung gegebene Epoche über.

 Vgl. Wolfgang Hardtwig: Fiktive Zeitgeschichte? Literarische Erzählung, Geschichtswissenschaft und Erinnerungskultur in Deutschland, in: Konrad H. Jarausch/Martin Sabrow (Hrsg.): Verletztes Gedächtnis, S. 99 – 124.  Harald Welzer: Das kommunikative Gedächtnis, S. 16.

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2 Politische, gesellschaftliche und wissenschaftliche Rahmen der Erinnerungslandschaft

Die Autoren der autobiografischen Familienliteratur bewegen sich an der Schwelle vom kommunikativen zum kulturellen Gedächtnis. Sie sind einerseits mit den persönlichen Erfahrungen und Erlebnissen in der NS-Zeit durch ihre (Groß‐) Eltern als primäre Erinnerungsträger in Berührung gekommen. Andererseits haben sie auch reichlich Gelegenheit gehabt, historisches Zusammenhangs- und Überblickswissen um den Nationalsozialismus in der Öffentlichkeit zu erwerben, das als kritischer Prüfstein des Familiengedächtnisses dienen konnte. Sie sind diejenigen, die sich mit selbstreflexiver Haltung an dem Diskurs um die Zukunft der Erinnerung an die deutsche Opfer- und Täterschaft beteiligen wollen. Die Memorialforschung spricht hier von einer „kritischen sekundären Zeugenschaft“¹⁸⁹ oder auch einer „intellektuelle[n] Zeugenschaft“¹⁹⁰. Bei sekundären Zeugen handelt es sich um Künstler und Intellektuelle der nachfolgenden Generation, die „die Shoah nicht selbst erlebt haben, jedoch durch ihre Kenntnisse und Einbildungskraft erschüttert sind“¹⁹¹ und sich mit dem Holocaust in ihrem Werk befassen. Sie bezeugen somit die Erinnerungen und Zeugnisse der primären Zeugen und setzen diese in die jeweilige Gegenwart über. Sekundäre Zeugenschaft ist zwar „der Verzicht auf ‚die Gnade der späten Geburt‘“¹⁹². Sekundäre Zeugen als „Zeuge[n] des Zeugeseins“¹⁹³ dürfen sich jedoch nicht uneingeschränkt mit den primären Zeugen identifizieren, weil sie sich zuerst von deren Wahrhaftigkeit und von der Übereinstimmung der primären Erinnerungszeugnissen mit dem über verschiedenen Bildungsinstitutionen vermittelten historischen Wissen überzeugen müssen. Auf diese Weise gewinnt der differenzierte Umgang mit den primären Erinnerungszeugnissen an Bedeutung. Die sekundäre Zeugenschaft ist somit als „ein aktiver Prozess der Rezeption und Verarbeitung“ zu verstehen, die „der Vorstellungs- und Urteilskraft des bezeugenden Subjekts“¹⁹⁴ bedarf. Die Autoren der hier untersuchten Texte zählen zu diesen sekundären Zeugen. Sie stehen vor der Herausforderung, sich mit einer spezifischen Mischung von kognitiven und emotionalen Zugängen zur NS-Vergangenheit der Familie auseinanderzusetzen. Das Ergebnis ihrer Auseinandersetzung mit der Familiengeschichte ist folglich das Zusammenspiel von subjektiver Wahrheit, historischer Objektivität

 Ulrich Baer: Einleitung, in: ders. (Hrsg.): „Niemand zeugt für den Zeugen“. Erinnerungskultur und historische Verantwortung nach der Shoah, Frankfurt a. M. 2000, S. 19.  Geoffrey Hartman: Der intellektuelle Zeuge und die Shoah, in: ders. (Verf.): Der längste Schatten. Erinnern und Vergessen nach dem Holocaust, Berlin 1999, S. 174.  Ebd., 174.  Michael Elm: Zeugenschaft im Film. Eine erinnerungskulturelle Analyse filmischer Erzählungen des Holocaust, Berlin 2008, S. 208 – 213, hier S. 208.  Lydia Koelle: Deutsches Schweigen der Vergangenheit, S. 44.  Michael Elm: Zeugenschaft im Film, S. 208 f.

2.4 Autobiografische Familienliteratur als sekundäre Zeugenschaft

65

und autobiografischer Authentizität. Ihr Ziel der Veröffentlichung der eigenen Familiengeschichte als ein Beitrag zur Vielzahl unterschiedlicher „Authentizierungsstrategien“¹⁹⁵ ist es dabei, die subjektive Erinnerungsarbeit durch ihre Einbindung in eine gemeinsame Vergangenheit mit Glaubwürdigkeit auszustatten und somit Deutungsmacht zu gewinnen, um das sich bildende kollektive Gedächtnis in Bezug auf die Historisierung der NS-Vergangenheit zu präformieren. So erscheint die Aufarbeitung des Nationalsozialismus in und anhand der eigenen Familiengeschichte als ein performativer Prozess der Selbstverortung innerhalb historischer, kultureller und diskursiver Kontexte.

 Michaela Holdenried: Autobiographie, Stuttgart 2000, S. 42.

3 Gattungsspezifische Anmerkungen zum autobiografischen Schreiben Die vorangegangenen Kapitel haben einen Eindruck von dem Spektrum unterschiedlicher Formen und Funktionen der Vergegenwärtigung der NS-Vergangenheit auf familiärer wie öffentlicher Ebene vermittelt und gezeigt, wie die neurophysiologischen und kulturwissenschaftlichen Gedächtnisforschungen das komplexe Zusammenspiel von Gedächtnis und Erinnerung auf individueller wie kollektiver Ebene differenziert konzeptualisieren. Die Frage, warum es seit der Jahrtausendwende zu einem autobiografisch gefärbten Familienliteratur-Boom kommt, kann nur beantwortet werden, wenn man zur Erklärung dieses Phänomens den Familienliteratur-Boom im Kontext der gesamten Erinnerungsdiskurse verortet und ihn als eine ihrer Ausprägungen begreift. Das Erkenntnisinteresse der vorliegenden Arbeit richtet sich auf eine dialogische Beziehung zwischen der autobiografischen Familienliteratur und gesellschaftlichen Erinnerungsdiskursen. Erstens soll gezeigt werden, dass und wie autobiografische Familienliteratur auf die außertextuelle Wirklichkeit Bezug nimmt und diese im Medium der Autobiografie zur Anschauung bringt. Die autobiografisch geschriebenen Familienerzählungen stellen die Inhalte und Funktionensweisen der individuellen wie kollektiven Gedächtnisse durch narrative Verfahren dar und machen Mechanismen der Ausformung von Geschichtsbildern beobachtbar. Zweitens soll illustriert werden, dass die autobiografische Familienliteratur durch die Aufarbeitung der NS-Vergangenheit auf die erinnerungspolitischen und öffentlichen Geschichtsdiskurse zurückwirken. Sie kann bestimmte Vergangenheitsversionen mitgestalten und durch die Selbstverortung innerhalb des diskursiven Feldes einen substanziellen Beitrag zum identitätsstiftenden Selbstvergewisserungsprozess leisten, der von der Vermittlung und Affirmation bis hin zur Reflexion und Modifikation des kollektiven Gedächtnisses reicht. Die sich aus dem Erkenntnisinteresse ergebende Leitfrage lautet, wie die auf der textinternen Ebene zu untersuchenden gattungsspezifisch-ästhetischen Verfahren erinnerungskulturelle Wirksamkeit auf der außertextuellen Ebene entfalten und damit zur gesellschaftlichen Erzeugung, Vermittlung und Perspektivierung von Geschichtsbildern beitragen. Das Ziel dieses Kapitels ist eine Verknüpfung von literaturwissenschaftlichen Einsichten in die gattungspezifischen Besonderheiten der Autobiografie mit Erkenntnissen aus den Gedächtnisforschungen und der narrativen Psychologie im Hinblick auf die Frage nach der Verarbeitung, Deutung und Aneignung von Vergangenheit und deren Wirkungspotenzial. Dabei soll gezeigt werden, dass die autobiografische Familienliteratur aufgrund ihrer medienspezifischen Merkmale neben anderen kulturellen Erinnerungspraxen und wissenschaftlichen Disziplinen https://doi.org/10.1515/9783111009094-005

3.1 Schnittstellen zwischen Historiografie und Autobiografie

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wie z. B. der Geschichtswissenschaft einen eigenständigen Zugang zur Geschichte bieten und somit besondere Aufgaben und Funktionen in der deutschen Erinnerungskultur erfüllen kann.

3.1 Schnittstellen zwischen Historiografie und Autobiografie In der Erinnerungskultur unterliegen privilegierte Erinnerungsmedien einem dauernden Wechsel mit den sich verändernden Herausforderungslagen, d. h. mit aktuellen Perspektiven, Gegenwartsinteressen und Zukunftserwartungen. Die Herausforderungslage der deutschen Erinnerungskultur ist durch die konfliktträchtige Dynamik zwischen familiärem und kollektivem Gedächtnis sowie die daraus resultierende Vielfalt der Erinnerungspraxen und -konkurrenzen gekennzeichnet. Erlebte NS-Vergangenheit der Zeitzeugengeneration ist häufig nicht einfach in homogene, unangefochtene nationale Geschichtsversionen überführbar, aus denen sich kollektive Identität ableitet, und umgekehrt können die Paradigmen des überkommenen kollektiven Gedächtnisses die in Familiengedächtnissen gespeicherten Erfahrungen und Erlebnissen der Einzelnen nicht adäquat erklären. In offiziellen staatlichen Gedenkakten weisen Deutungen des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkrieges aufgrund der Geformtheit und Institutionalisierung des Gedenkens schon Merkmale des kollektiven Gedächtnisses auf. Daneben bestanden die persönlichen Erinnerungen der noch lebenden Zeitzeugengeneration an die Kriegserfahrungen, Verluste und Trauer, die im Familiengedächtnis verankert waren. Aus den Familiengedächtnissen wuchsen sehr heterogene Deutungen der NS-Zeit und des Zweiten Weltkrieges, die kaum mit den notwendigerweise verkürzten Sinnkonstruktionen des kollektiven Gedächtnisses vereinbar sind. Relativ stabile politische Umstände – das Ende der Nachkriegszeit durch die Wiedervereinigung, die erfolgreiche Demokratisierung und die Institutionalisierung der Erinnerung – scheinen in der Erinnerungskultur die Möglichkeit zu einer kritischen, potenziell destabilisierenden Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit zu eröffnen. Für eine Mehrzahl in der deutschen Bevölkerung stehen die offiziellen und offiziösen Praktiken und Sinnstiftungen der Erinnerung an die NS-Zeit im Modus des kollektiven Gedächtnisses losgelöst von den im privaten Umfeld zirkulierenden Selbsterfahrungen und Erinnerungsnarrativen, mithin also losgelöst von den Inhalten der Familiengedächtnisse. So trifft auf die deutsche Erinnerungskultur zu, was Lutz Niethammer in Bezug auf die Überlagerung von kommunikativem und kollektivem Gedächtnis konstatiert: Jeder Versuch, die Erinnerungen der Einzelnen zu mehr als divergenten Erfahrungstypen zu synthetisieren und zu einem sinnhaften Identitätsmuster der nationalen Geschichtserfahrung vorzustoßen, ist zum Scheitern verurteilt oder muß von der Differenz der Erfahrung absehen;

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3 Gattungsspezifische Anmerkungen zum autobiografischen Schreiben

zwischen Mythos und der Erfahrung klafft ein Loch. Die Nation ist keine Erfahrungskohorte, sondern ein pluraler Handlungsraum […]. Wer den einheitsstiftenden Mythos will, muß warten, bis die Differenz der Erfahrung schweigt.¹

Die Doppeldeutigkeit des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkrieges als Gegenstand des kollektiven und familiären Gedächtnisses führt zu konflikthaften Gedächtniskollisionen in der deutschen Erinnerungskultur. Welche Elemente der kommunikativen Gedächtnisse in das kollektive Gedächtnis übergehen sollten und wie die nachwachsenden Generationen mit der NS-Geschichte umgehen sollten, sind Fragen, die kontroverse Debatten auf politisch-gesellschaftlicher Ebene auslösten. Charakterisierend für die deutsche Erinnerungskultur sind Erinnerungskonkurrenzen und der Kampf um Deutungshoheit. Wie der Nationalsozialismus und der Zweite Weltkrieg erinnert werden, variiert gemäß der politischen Einstellung, der Art und Grad der Involvierung in das NS-System und der Generationszugehörigkeit. Dabei wird die Vergangenheit kaum um ihrer selbst willen erinnert, wie die Gedächtnisforschung und die Geschichtsdiskurse in den letzten Jahrzehnten verdeutlichen. Mit der Deutung der Ursachen und Folgen von dem Nationalsozialismus und dem Zweiten Weltkrieg sowie der Feststellung der Verantwortlichen sind immer Interessen verbunden, die sich auf Wertvorstellungen und Identitätskonzepten beziehen. Gegen die von den wissenschaftlichen Eliten – Historikern, Politikern, Intellektuellen etwa als Träger des kulturellen Gedächtnisses – ausgehende Aufklärung und Formierung der Geschichtsbilder konnte unter Berufung auf Zeugenschaft jederzeit Einspruch erhoben werden. Aufgrund von Primärerfahrungen und aufgrund des daraus resultierenden Anspruchs auf die Authentizität der Erinnerungen erweist sich die individuelle, personengebundene Vergegenwärtigung der Vergangenheit als ein potenzielles Korrektiv für das sich innerhalb der Erinnerungskultur herausbildende kollektive Gedächtnis an die NS-Vergangenheit. Nun wurde das Bedürfnis wach, die NS-Zeit und den Zweiten Weltkrieg von unten zu erinnern und zu deuten. Man interessiert sich für Formen des Vergangenheitsbezugs, die eine starke Affinität zu den begrenzten, spezifischen Erfahrungen und Erinnerungen des Einzelnen aufweisen. Angesichts der wissenschaftlichen wie kulturellen Konjunktur der Erinnerung und der Durchsetzung der ‚Oral History‘² als einer Methode der Geschichtswis-

 Lutz Niethammer: Konjunkturen und Konkurrenzen kollektiver Identität. Ideologie, Infrastruktur und Gedächtnis in der Zeitgeschichte, in: Prokla. Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaft (1994) Bd. 24, Nr. 96, S. 378 – 399, hier S. 395 f.  Vgl. Lutz Niethammer: Lebenserfahrung und kollektives Gedächtnis. Die Praxis der„Oral History“, Frankfurt a. M. 1980. In den 1980er Jahren etablierte sich die Oral History als eine methodische Strategie eines neuen Zugangs zur lebendigen Erinnerung der Zeitzeugen an historische Erlebnisse.

3.1 Schnittstellen zwischen Historiografie und Autobiografie

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senschaft ist eine Abwertung des individuellen Gedächtnisses und der mündlichen Tradierung der Zeitzeugen durch die vermeintlich objektive wissenschaftliche Methode der Historiografie inzwischen nicht mehr ganz einfach zu begründen. Das „im Zuge ihrer Professionalisierung zunehmend abgespaltene Moment der Zeitgenossenschaft“ stelle eine Herausforderung für die Historiker dar, so Nobert Frei.³ Konrad H. Jarausch beschreibt das Verhältnis zwischen Zeitzeugenschaft und historischer Forschung insofern als „polarisierend“, als dass die beiden Formen „fast notwendigerweise in der Beurteilung der jüngsten Vergangenheit“ kollidierten, insbesondere was die Zuverlässigkeit der Erinnerungsleistung, das moralische Verständnis und die Konstruktion der kollektiven Identität betrifft.⁴ Im Rahmen der „epistemologische[n] Herausforderung der Postmoderne, d[er] Krise der Metanarrative und d[er] Pluralisierung der Erzählungen“ seien die Zeithistoriker„[m]ehr als [die] Spezialisten anderer Perioden“ von der „Erinnerungsschwelle“⁵ betroffen, so Jarausch. Statt von einer durch wissenschaftliche Objektivität legitimierten Überlegenheit der Historiografie über die individuelle Erinnerung ist mittlerweile von einem Spannungsverhältnis zwischen beiden die Rede. Den aus der Erinnerungskonjunktur resultierenden Paradigmenwechsel in der Geschichtswissenschaft beschreibt Paul Nolte folgendermaßen: Das Interesse an der Geschichte hat sich in den vergangenen zwei Jahrzehnten so radikal wie nie zuvor von den res gestae abgelöst und den memoria zugewandt. […] Geschichte tritt uns zunehmend als eine Repräsentation der Vergangenheit entgegen, in die wir selber lebensgeschichtlich, kollektivbiographisch verstrickt sind – ja, sie konstituiert sich als Abfolge oder Konkurrenz solcher Repräsentationen, denen gegenüber die Rekonstruktion der Vergangenheit sogar nachrangig werden mag. Nicht mehr die Frage, ‚wie es eigentlich gewesen‘, bestimmt das Tun vieler Historiker und den öffentlichen Umgang mit Geschichte, sondern die Frage, ‚wie es eigentlich erinnert wird‘.⁶

Vergangene Ereignisse, so Lucian Hölscher, lassen sich immer und ausschließlich durch einen Akt des individuellen oder kollektiven Erinnerns rekonstruieren: „[D]ie Konstruktion der realen Vergangenheit beruht auf einer spezifischen Leistung des erinnernden Bewusstseins, […].“⁷ Nicht länger zu ignorieren ist auch für Jörn Rüsen

Die zentrale Idee der Oral History ist, der Geschichtsschreibung die subjektiven Wahrnehmungen, Deutungen und Verarbeitungen von einzelnen Menschen als Quellenmaterial hinzuzufügen.  Norbert Frei: Abschied von der Zeitgenossenschaft. Der Nationalsozialismus und seine Erforschung auf dem Weg in die Geschichte, in: Werkstattgeschichte (1998) 20, S. 69 – 83, hier S. 77 f.  Vgl. Konrad H. Jarausch: Zeitgeschichte und Erinnerung, S. 26 und S. 10.  Ebd., S. 26.  Paul Nolte: Die Macht der Abbilder. Geschichte zwischen Repräsentation, Realität und Präsenz, in: Merkur (2005) H. 9/10, S. 888 – 898, hier S. 888.  Lucian Hölscher: Neue Annalistik. Umrisse einer Theorie der Geschichte, Göttingen 2003, S. 34.

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3 Gattungsspezifische Anmerkungen zum autobiografischen Schreiben

die zentrale Rolle der Erinnerung als „Quelle für die Generierung historischen Sinns“.⁸ In diesem Zusammenhang beschreibt sein Begriff der „historischen Erinnerung“⁹ die spezifische kulturelle Leistung, die über die erinnernde Auseinandersetzung mit der Vergangenheit sinnhafte Bezüge auf zeitliche Prozesse herstellt. So lässt sich „Geschichte als eine spezifische kulturelle Kraft“¹⁰ verstehen. Rüsen sieht die Geschichtswissenschaft als „Teil einer Geschichtskultur“¹¹ an. Jarausch schlägt einen etwas eingeschränkten Mittelweg vor, und zwar die Option ‚Annäherung‘, die darin bestünde, beide Formen des Vergangenheitsbezugs zu integrieren: Eine die Ergebnisse der Forschung ignorierende Erinnerungswelle riskiert die Schaffung einer gegenwartsbezogenen Betroffenheitskultur, welche die Widersprüchlichkeiten der Vergangenheit unzuverlässig vereinfacht. […] Andererseits läuft eine die lebendige Erinnerung ignorierende Geschichtswissenschaft Gefahr, der Öffentlichkeit durch die Autorität der Wissenschaft ihre Sprachregelung aufzuzwingen, ohne die Beteiligten wirklich überzeugen zu können. […] Trotz aller Rivalitäten sind Erinnerung und Zeitgeschichte daher letztlich interdependent.¹²

Die gesellschaftliche Konkurrenz um Erinnerungsvorherrschaft bzw. Deutungshoheit stellt sich folglich als ein Kampf um mediale Repräsentation im soziokulturellen Erinnerungsraum dar: „Damit kollektiv relevante Wissensbestände über die Zeit hinweg bewährt und tradiert werden können, müssen sie in externalisierte Repräsentationsformate, wie etwa in Texte, in Bilder, in Bauten oder Denkmäler überführt und so medial stabilisiert werden.“¹³ Angesichts der Herausforderungslage der deutschen Erinnerungskultur liegt es auf der Hand, dass diejenigen Erinnerungsmedien nun privilegierten Status einnehmen würden, die es ermöglichen, die lebensweltlich unmittelbar erfahrene Vergangenheit der Einzelnen nachzuvollziehen. In all diesen Zusammenhängen bietet sich das autobiografische Genre geradezu an. Die Priorität des Gedächtnisses vor der Geschichte und die Bedürfnisse nach der Deutung der individuellen Erfahrungen drücken sich in der Hinwendung

 Jörn Rüsen: Geschichte im Kulturprozeß, Köln 2002, S. 146 ff.  Jörn Rüsen: Historische Orientierung. Über die Arbeit des Geschichtsbewusstseins, sich in der Zeit zurechtzufinden, Köln 1994, S. 8.  Jörn Rüsen: Geschichte im Kulturprozeß, S. 131.  Jörn Rüsen: Historische Orientierung, S. 30.  Konrad H. Jarausch: Zeitgeschichte und Erinnerung, S. 32.  Birgit Neumann: Literarische Inszenierungen und Interventionen. Mediale Erinnerungskonkurrenz in Guy Vanderhaeghes The Englishman’s boy und Michael Ondaatjes Running in the Family, in: Astrid Erll/Ansgar Nünning (Hrsg.): Medien des kollektiven Gedächtnisses, S. 195– 216, hier S. 195.

3.2 Zum Wesen des autobiografischen Schreibens: Dichtung und Wahrheit

71

zum autobiografischen Schreiben der Familiengeschichte aus, der autobiografische Impuls avanciert in der deutschen Erinnerungskultur seit der Jahrtausendwende zum bedeutenden Merkmal, das mit den Stichworten ‚Authentizität‘ und ‚gefühlte Wahrheit‘ bezeichnet werden kann.

3.2 Zum Wesen des autobiografischen Schreibens: Dichtung und Wahrheit Als „die Beschreibung (graphia) des Lebens (bios) eines Einzelnen durch diesen selbst (auto)“¹⁴ ist die Autobiografie von jeher eine wichtige Grundlage der Vergegenwärtigung von Vergangenem und steht insofern der Geschichtsschreibung nahe, als sie sich auf die geschichtlichen Wissensbestände und Erfahrungen der Schreibgegenwart bezieht. So liest Johann Gottfried Herder die Autobiografie nicht nur als Dokumente des einzelnen Menschenlebens, sondern darüber hinaus als Zeitzeugnisse und definiert die Autobiografie als „Spiegel der Zeitumstände“.¹⁵ Für Wilhelm Dilthey stellt das Einzelleben eine Art Ausschnittsvergrößerung der ‚großen‘ Geschichte dar¹⁶, so dass die in der Autobiografie vollzogene „Besinnung über das Leben“¹⁷ „geschichtliches Sehen möglich“¹⁸ macht. So begreift das traditionelle Gattungsverständnis die Autobiografie als elementaren Bestandteil der Überlieferung und des Verständnisses von Geschichte. Wie die historiografischen Texte, beanspruchen auch die literarischen Texte, soweit sie durch Gattungsbezeichnungen und/oder -merkmale als autobiografisch ausgewiesen sind, Referenzialität¹⁹: Im Gegensatz zu allen Formen der Fiktion sind die Biographie und Autobiographie referentielle Texte: genau wie die wissenschaftliche oder historische Rede geben sie vor, eine Information über eine außerhalb des Textes liegende „Realität“ zu geben und sich somit einer Prüfung der Verifizierbarkeit zu unterziehen. Ihr Ziel ist nicht die bloße Wahrscheinlichkeit, sondern die Ähnlichkeit mit dem Wahren. Nicht „die Wirkung des Realen“, sondern das Abbild des Realen.

 Georg Misch: Begriff und Ursprung der Autobiographie, in: Günter Niggl (Hrsg.): Die Autobiographie. Zu Form und Geschichte einer literarischen Gattung, Darmstadt 1989, S. 33 – 54, hier S. 38. Hervorh. i. O.  Zit. nach: Almut Finck: Subjektbegriff und Autorschaft. Zur Theorie und Geschichte der Autobiographie, in: Miltos Pechlivanos/Stefan Rieger/Wolfgang Struck/Michael Weitz (Hrsg.): Einführung in die Literaturwissenschaft, Stuttgart/Weimar 1995, S. 283 – 294, hier S. 284.  Vgl. Michaela Holdenried: Autobiographie, S. 22.  Wilhelm Dilthey: Das Erleben und die Selbstautobiographie, in: Günter Niggl (Hrsg.): Die Autobiographie, S. 21– 32, hier S. 26.  Ebd., S. 30.  Vgl. Jürgen Lehmann: Bekennen – Erzählen – Berichten. Studien zu Theorie und Geschichte der Autobiographie, Tübingen 1988, S. 2.

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3 Gattungsspezifische Anmerkungen zum autobiografischen Schreiben

Alle referentiellen Texte enthalten also implizit oder explizit das, was ich einen „referentiellen Pakt“ nennen werde […].²⁰

Unter den verschiedenen Formen von Referenzialität – Referenzen des Textes auf die außertextuelle, auch die „nichtsprachliche“ Welt, das heißt, reale Personen, Ereignisse, Sachverhalte, Referenzen auf andere Texte (Intertextualität), Referenzen des Textes auf sich selbst (Autoreferenzialität)²¹ – ist vor allem der erste Punkt entscheidend. Als referenzielle Texte sind Autobiografien in verschieden starkem Maße auf die in anderen Formen des kulturellen Gedächtnisses überlieferten Wissensbestände bezogen. Trotzdem wird die Autobiografie deutlich von der Kategorie des Sachtextes wie z. B. der Historiografie abgegrenzt und unterschieden. Ein Sachtext ist, so Günter Waldmann, dadurch definiert, dass er durch die Sache, auf die er verweist, überhaupt erst hervorgerufen wird, dabei stets eine absolute Referenzialität im Faktischen behauptet und zur Sachgerechtigkeit und Verifizierbarkeit verpflichtet ist.²² Eine Autobiografie nimmt zwar stets auf reale Wirklichkeit und historische Begebenheiten Bezug. Diese Referenz zur realen Welt ist jedoch frei wählbar, höchst subjektiv und meist nicht faktisch belegbar. Aufgrund ihrer Selbstreferenzialität kann eine Autobiografie als literarische Gattung ihre Wirklichkeit selbst entwerfen, wenn auch in bestimmten Verhältnissen zu realen Wirklichkeiten.²³ Autobiografische Erzählung ist nicht mit den realen Ereignissen identisch, sondern greift auf diese zurück und überführt sie in eine symbolische Repräsentationsform. Es unterscheidet autobiografische Erzählungen grundlegend von anderen diskursiven Texten, dass sie sich mit den partikularen Erfahrungen und subjektiven Wahrnehmungen in einem historisch-empirischen Kontext beschäftigen. In diesem Sinne betrachtet Ruth Klüger, die in ihrer 1992 erschienenen Autobiografie Weiter Leben. Eine Jugend die Erinnerung an ihre Kindheit und Jugend in den Konzentrationslagern zur Zeit des Nationalsozialismus geschrieben hat, die Autobiografie als „die subjektivste Form der Geschichtsschreibung“²⁴. Michaela Holdenried begreift in diesem Zusammenhang die Autobiografie als eine individuelle Erinnerungsarbeit, die nicht problemlos mit den Formen des „öffentlichen Erinnerns“²⁵ korrespondiert, obwohl beide Formen der Erinnerung in Wechselbe-

 Philippe Lejeune: Der autobiograhische Pakt, in: Günter Niggl (Hrsg.): Die Autobiographie, S. 244. Hervorh. i. O.  Vgl. Guido Naschert: Referenz, in: Jan Dirk Müller (Hrsg.): Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, Bd. III, Berlin/New York 2003, S. 239 – 241, hier S. 239.  Vgl. Günter Waldmann: Autobiographie als literarisches Schreiben, Hohengehren 2000.  Vgl. ebd., S. 59.  Ruth Klüger: Dichter und Historiker. Fakten und Fiktionen, Wien 2000, S. 41.  Michaela Holdenried : Autobiographie, S. 11.

3.2 Zum Wesen des autobiografischen Schreibens: Dichtung und Wahrheit

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ziehung zueinander stehen. So gesehen kann der Autobiografie ein Sonderstatus zugesprochen werden, denn „Bewusstseinsgeschichte und Geschichtsbewusstsein werden über die autobiographisch dokumentierte Erfahrung vermittelbar.“²⁶ Bei der Gattung Autobiografie stehen somit die für die Literatur spezifischen Gestaltungsspielräume wesentlich stärker im Vordergrund. Als „Idealtypus“ der Gattung kann sicherlich Goethes Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit ²⁷ gelten, dessen Titel auf die für autobiografisches Schreiben charakteristische Grundspannung von Wahrheitsanspruch und künstlerisch-ästhetischer Gestaltung verweist. Für Goethe stehen die beiden Begriffe ‚Dichtung‘ und ‚Wahrheit‘ nicht im Verhältnis des konträren Gegensatzes zueinander.²⁸ Nach seiner Auffassung erlaubt es gerade das dichterische Vermögen, „‚das eigentliche Grundwahre‘ des eigenen Lebens“²⁹ ans Licht zu bringen. Im Gespräch mit Eckermann vom 30. März 1831 heißt es über Dichtung und Wahrheit: Es sind lauter Resultate meines Lebens, […] und die erzählten einzelnen Fakta dienen bloß, um eine allgemeine Beobachtung, eine höhere Wahrheit, zu bestätigen. Ich dächte, […] es steckten darin einige Symbole des Menschenlebens. Ich nannte das Buch Wahrheit und Dichtung, weil es sich durch höhere Tendenzen aus der Region einer niederen Realität erhebt. […] Ein Faktum unseres Lebens gilt nicht, insofern es wahr ist, sondern insofern es etwas zu bedeuten hatte.³⁰

Goethe setzt dem Faktischen des Lebens eine höhere Wahrheit entgegen und hebt somit die Bestrebung des erinnernd Schreibenden nach „sinngebender Gestaltung“³¹ vergangener Geschehnisse durch die „poetische Verdichtung“³² gegenüber der faktenorientierten Vergegenwärtigung des Vergangenen hervor. Die Auffassung autobiografischen Schreibens bei Goethe, die die in der Schreibgegenwart rückblickend gewonnenen Einsichten und Erkenntnisse in den Vordergrund rückt, kann mit der Darstellung des autobiografischen Erinnerungsprozesses in der heutigen Gedächtnisforschung in Verbindung gebracht werden. Goethes Poetik der Autobiografie, in der erst „die produktive Einbildungskraft“³³ die Lebenserinne-

 Ebd., S. 12.  Ebd., S. 160. Die Titel der Bücher über die Gattung ‚Autobiografie‘ von Ruth Klüger und Günter de Bruyn sind eine Anspielung auf den Titel von Goethes Autobiografie.  Vgl. Jürgen Lehmann: Bekennen – Erzählen – Berichten, S. 161; Martina Wagner-Egelhaaf: Autobiographie, Stuttgart 2000, S. 2– 4.  Peter Matussek: Goethes Lebens-Erinnerung, in: Hans Werner Ingensiep/Richard Hoppe-Sailer (Hrsg.): NaturStücke. Zur Kulturgeschichte der Natur, Ostfildern 1996, S. 135 – 167, hier S. 140.  Johann Wolfgang von Goethe: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit, hrsg. von Klaus-Detlef Müller, in: ders.: Sämtliche Werke. 4 Bde. Bd. I/14, Frankfurt a. M. 1986 [1811– 1814], S. 1039 f.  Peter Matussek: Goethes Lebens-Erinnerung, S. 137.  Ebd., S. 136.  Ebd., S. 140.

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3 Gattungsspezifische Anmerkungen zum autobiografischen Schreiben

rungen vervollständigt, entspricht den von der Gedächtnisforschung gewonnenen Erkenntnisse über die Erinnerung als einen aktiven (Re‐)Konstruktionsprozess. Die konstruktivistisch orientierten Ansätze zur Erforschung der individuellen Erinnerung heben nicht nur die Konstruiertheit der Erinnerung, sondern auch deren narrative Verfasstheit hervor. Demnach haben Erinnerungen sehr viel „mit gestaltendem Erzählen“³⁴ zu tun: „[W]e organize our experience and our memory of human happenings mainly in the form of narrative.“³⁵ Donald E. Polkinghorne bezeichnet die autobiografischen Erinnerungen als „symbolische Transformationen gelebter Erfahrung“³⁶ und betont dabei die formende Rolle der Narration: „Narratives Wissen ist […] eine reflexive Explikation der pränarrativen Qualität unreflektierter Erfahrung.“³⁷ Erinnern durch die Narration ist „kein bloßes Zurückrufen der Vergangenheit“, sondern eine retrospektive, interpretative Komposition, die vergangene Ereignisse im Lichte der aktuellen Auffassung und Beurteilung ihrer Bedeutung zeigt. Während sich die Erzählung auf die ursprünglichen, vergangenen Lebensereignisse bezieht, transformiert sie diese, indem sie sie zu einer Plotstruktur anordnet, deren Teile sich stimmig zum Ganzen verhalten (und vice versa).³⁸

Erzählend ordnen Individuen vergangene Ereignisse in die kausale oder chronologische Reihenfolge. Erst durch die Narrativierung werden singuläre, zusammenhanglose und ungeformte Ereignisse als sinnhaft strukturiert und so mithin erfahbar und erinnerbar. Erinnerungsarbeit, so lautet die Grundannahme der narrativen Psychologie, ist daher stets auch Narrationsarbeit. Für die Ausformung der individuellen Erinnerung ist die temporale Verknüpfung der einzelnen Ereignisse durch Narrationen insofern von großer Bedeutung, als sie die Vergangenheit an die Gegenwart anbindet und auf dieser Grundlage zugleich gewisse „Handlungsoptionen“ und „Handlungsmöglichkeiten“ für die Zukunft aufzeigt.³⁹ Die durch die narrative Ordnung konstruierte Erinnerung bringt somit Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in ein komplexes Verhältnis der Interdependenz. „Ge Siegfried J. Schmidt: Gedächtnisforschungen, S. 33.  Jerome Bruner: The Narrative Construction of Reality, in: Critical Inquiry (1991) Vol. 18, S. 1– 21, hier S. 4.  Donald E. Polkinghorne: Narrative Psychologie und Geschichtsbewußtsein, in: Jürgen Straub (Hrsg.): Erzählung, Identität und historisches Bewußtsein. Die psychologische Konstruktion von Zeit und Geschichte, Frankfurt a. M. 1998, S. 12– 45, hier S. 23.  Ebd.  Ebd., S. 26.  Vgl. Jürgen Straub: Geschichten erzählen, Geschichte bilden. Grundzüge einer narrativen Psychologie historischer Sinnbildung, in: ders. (Hrsg.): Erzählung, Identität und historisches Bewußtsein, S. 81– 169, hier S. 130.

3.2 Zum Wesen des autobiografischen Schreibens: Dichtung und Wahrheit

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schichtsbewußtsein äußert sich […] immer in narrativ verfaßten sprachlichen Gebilden.“⁴⁰, so Rüsen. Historische Sinnbildung und individuelle wie kollektive Identität erwachsen erst aus den erzählten Geschichten, da die Grundstruktur menschlichen Denkens und Erinnerns immer narrativ bedingt ist.⁴¹ Wolfgang Müller-Funk fasst dies in einem Satz sehr treffend zusammen: „Erzählen und Erinnern sind zwei Aspekte des gleichen kulturellen Komplexes.“⁴² Das Erzählen lässt sich mithin gar als eine Grundform menschlicher Lebenspraxis verstehen, als „notwendige[] kulturelle[] Leistung […], durch die Zeiterfahrungen gedeutet werden“⁴³. Die historische Wirklichkeit ist überhaupt erst „durch die spezifischen Narrative in ganz spezifischen Medien und Genres“⁴⁴ zu erfassen. Die Einsicht, dass Erzählen „als ein Modus des Denkens“⁴⁵ betrachtet werden soll, ist insofern wichtig für das Verständnis der Autobiografie als „stark konventionalisierte[r] Gattung“⁴⁶, als kulturell verfügbare Erzählschemata „schon die kognitive Elaboration und nicht erst die Verbalisation von Erinnerungen organisieren“⁴⁷. Daraus lässt sich schließen, dass der Rekonstruktionsprozess der individuellen Erinnerungen einer schon durch konventionalisierte Erzählschemata geprägten narrativen Strukturierung unterliegt.⁴⁸ Dies macht auf die prägende Wirkung der Gattung Autobiografie auf die Ausformung des individuellen Gedächtnisses aufmerksam. Wenn die Selbstnarration als eine grundlegende Organisationsform von Erfahrung und Erinnerung begriffen wird, „so ist die Autobiographie das subjektive Zentrum der ästhetischen Organisation lebensgeschichtlichen Wissens“⁴⁹.

 Jörn Rüsen: Historische Orientierung, S. 10.  Jörn Rüsen: Geschichtsdidaktische Konsequenzen aus einer erzähltheoretischen Historik, in: Siegfried Quandt/Hans Süssmuth (Hrsg.): Historisches Erzählen. Formen und Funktionen, Göttingen 1982, S. 129 – 170, hier S. 131. Vgl. auch Jürgen Straub: Geschichten erzählen, S. 83 – 85.  Wolfgang Müller-Funk: Erzählen und Erinnern. Zur Narratologie des kulturellen und kollektiven Gedächtnisses, in: Vittoria Borsò/Ulf Kamm (Hrsg.): Geschichtsdarstellungen. Medien, Methoden, Strategien, Köln 2004, S. 145 – 166, hier S. 146.  Jörn Rüsen: Geschichtsdidaktische Konsequenzen aus einer erzähltheoretischen Historik, S. 135.  Wolfgang Müller-Funk: Erzählen und Erinnern, S. 147.  Jürgen Straub: Geschichten erzählen, S. 83. Hervorh. i. O.  Ansgar Nünning: ‚Memory’s truth‘ und ‘Memory’s fragile power‘. Rahmen und Grenzen der individuellen und kulturellen Erinnerung, in: Christoph Parry/Edgar Platen/Ulrich Breuer (Hrsg.): Autobiographisches Schreiben in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur 2. Grenzen der Fiktionalität und der Erinnerung, München 2007, S. 39 – 60, hier S. 56.  Siegfried J. Schmidt: Gedächtnisforschungen, S. 37.  Vgl. Ansgar Nünning: ‚Memory’s truth‘ und ‘Memory’s fragile power‘, S. 51.  Peter Sloterdijk: Literatur und Organisation von Lebenserfahrung. Autobiographien der Zwanziger Jahre, München 1978, S. 5 f.

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3 Gattungsspezifische Anmerkungen zum autobiografischen Schreiben

3.3 Autobiografisches Schreiben im Spannungsfeld zwischen Repräsentation und Konstruktion Anknüpfend an die konstruktive Natur des autobiografischen Erinnerns beschreibt Paul John Eakin unser Bewusstsein, eine kontinuierliche Identität zu haben, gar als eine auf der Selbstnarration fußende Fiktion: „[T]he fact that our sense of continuous identity is a fiction, the primary fiction of all self-narration“.⁵⁰ Damit wird die Autobiografie in die Nähe der Fiktion gerückt, was sich darin begründet, dass sie eine schriftliche Form der individuellen Erinnerung ist. In Bezug auf die autodiegetische Erzählung im Tempus der Vergangenheit bringt Franz K. Stanzel eine enge Verschränkung von Erinnern und der mit der Narration einhergehenden ästhetischen Gestaltung zum Ausdruck: „Das Erinnern selbst ist bereits ein Vorgang des Erzählens, durch den das Erzählte ästhetisch gestaltet wird, vor allem durch Auswahl und Strukturierung des Erinnerten.“⁵¹ Stanzel verweist somit auf die Aspekte der ästhetischen Gestaltung der autobiografischen Erzählung durch die Prozesse der Selektion, Interpretation und Synthetisierung, die jeden Erinnerungsvorgang prägen. Für ihn erweisen sich „reproduktive Erinnerung und produktive Imagination […] als zwei verschiedene Ansichten eines und desselben Vorgangs“⁵². Autobiografische Erzählung, die vergangene Erlebnisse schriftlich rekapituliert, geht somit „weit über die in landläufiger Auffassung der Erinnerung zugeschriebene Fähigkeit zur Vergegenwärtigung“⁵³ hinaus. In der neueren Autobiografieforschung wird betont, dass die Autobiografie zwar eine paradigmatische Gattung zur Formung von Lebenserfahrung ist, dabei allerdings keine „Wiederholung der Vergangenheit, so wie es war“⁵⁴, liefert. Aufgrund der Lückenhaftigkeit und Unzuverlässigkeit des menschlichen Gedächtnisses und aufgrund der Neigung des Schreibenden zu Auffüllen der Erinnerungslücken oder Ausblenden einzelner Aspekte unterliegen autobiografische Erzählungen fiktionalen, weil kreativen Einflüssen.⁵⁵ Die Perspektive der Autobiografieforschung veränderte sich im Laufe der Zeit dahingehend, dass im modernen Gattungsverständnis die strikte Trennung  Paul John Eakin: How our lives become stories, S. 94.  Franz K. Stanzel: Theorie des Erzählens, Göttingen 1979, S. 276.  Ebd., S. 274.  Ebd.  Georges Gusdorf:Voraussetzungen und Grenzen der Autobiographie, in: Günter Niggl (Hrsg.): Die Autobiographie, S. 121– 147, hier S. 134.Vgl. auch Jürgen Lehmann: Lemma „Autobiographie“, in: Klaus Weimar (Hrsg.): Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Bd. I, Berlin/New York 1997, S. 169 – 173.  Vgl. Martina Wagner-Egelhaaf: Autobiographie, S. 45: „In die Lücken des Gedächtnisses kann nämlich nach Glagau die Phantasie eintreten; da, wo die mimetische Kraft des Gedächtnisses versagt, tut sich ein produktiver Spielraum für die Phantasie auf.“ (Hervorh. i. O.)

3.3 Autobiografisches Schreiben im Spannungsfeld

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zwischen dem Fiktionalen und dem Faktischen allmählich aufgehoben wird. Der historiografische Wahrheitsgehalt kann kein hinreichendes Kriterium mehr für die Bemessungsgrundlage des autobiografischen Schreibens sein und autobiografische Authentizität ist nicht mit der historischen Faktizität gleichzusetzen. In neueren Autobiografien, so Michaela Holdenried, zeigt sich die Tendenz, die Spannung zwischen Wirklichkeitsrepräsentation und -konstruktion im Text zu akzentuieren,⁵⁶ was von der selbstreflexiven Haltung gegenüber der vollständigen Rekonstruierbarkeit vergangener Erlebniswirklichkeit in literarischen Texten herrührt. Holdenried arbeitet verschiedene Erzähltechniken von neueren autobiografischen Texten heraus: so etwa „Polyperspektivität und Perspektivwechsel“, „[d]issoziierte Chronologie und vitale Zeitordnung“, „Selbstreferentialität“, „Stilisierung und Stilpriorität“ und „Fragmentarität und Schlussproblematik“.⁵⁷ Einige der „innovative[n] Strukturmerkmale“⁵⁸, die Holdenried für die Veränderung der Gattung Autobiografie beschreibt, treffen auf die in dieser Arbeit untersuchten Texte zu. Die Abweichung von konventionellen Gattungsmerkmalen kann man schon daran ablesen, dass kein einziger der ausgewählten Texte sich explizit als (Auto‐)Biografie ausweist, sondern die Mehrzahl die Bezeichnung ‚Roman‘ oder ‚Geschichte‘ führt, obwohl sie den autobiografischen Pakt, nämlich die Identität von Autor, Erzähler und Figur, die Philippe Lejeune für die Autobiografie für unabdingbar hält⁵⁹, einhalten und auf vielfältige Weise mit außertextuellen Erinnerungspraxen und -diskursen verwoben sind. Das Wesen des Autobiografischen lässt eine Gattungsbestimmung anhand von formalen Kriterien und Erzählschemata fragwürdig werden. Nach Lejeune resultiert Referenzialität, verstanden als Wirklichkeitseindruck im autobiografischen Text, in erster Linie nicht aus dem Anspruch auf eine objektive Wiedergabe des Geschehens und die verifizierbaren geschichtlichen Quellen.

 Michaela Holdenried: Autobiographie, S. 42.  Ebd., S. 45 – 49.  Michaela Holdenried: Autobiographie, S. 44.  Philippe Lejeune: Der Autobiographische Pakt, S. 226: „Man muß also die Probleme der Autobiographie in Beziehung zum Eigennamen setzen. In gedruckten Texten wird jede Aussage von einer Person übernommen, die üblicherweise ihren Namen auf den Buchdeckel und auf das Deckblatt oberhalb oder unterhalb des Werktitels setzt. In diesem Namen wird die gesamte Existenz dessen, den man den Autor nennt, zusammengefaßt: einziges Zeichen im Text von einem unbezweifelbaren Außerhalb-des-Textes, auf eine wirkliche Person verweisend, die auf diese Weise Anspruch erhebt, daß man ihr in letzter Instanz die Verantwortung für die Aussage des ganzen geschriebenen Textes zuschreibt. In vielen Fällen beschränkt sich die Anwesenheit des Autors im Text lediglich auf diesen Namen. Aber der Platz, der diesem Namen eingeräumt wird, ist erstrangig, ist er doch nach allgemeiner Übereinkunft mit dem Engagement einer wirklichen Person zur Verantwortlichkeit verknüpft.“ (Hervorh. i. O.)

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3 Gattungsspezifische Anmerkungen zum autobiografischen Schreiben

Dann stellt sich die Frage: Wie schafft es aber der von dem konventionellen Gattungsverständnis abweichende autobiografische Text, von seiner literarisch beschaffenen Realität auf die außertextuelle Wirklichkeit hinzudeuten und das Beschriebene in einem der Gattungskonvention eigenen Modus rezipieren zu lassen? Um diese Frage zu klären, verlagert Lejeune die Perspektive von der produktionsästhetischen auf die rezeptionsästhetische Ebene: Woran erkennt der Leser den autobiografischen Charakter des Geschriebenen und worin liegt die Bereitschaft des Lesers zur autobiografischen Rezeption begründet? Er geht in seiner Studie Der autobiographische Pakt von besonderen Rezeptionsbedingungen der Autobiografie aus.⁶⁰ Der Ausgangspunkt der Überlegungen Lejeunes über die Gattungsbestimmung der Autobiografie ist, dass der Autor mit dem Leser ein Vertragsverhältnis eingeht. Das wichtigste Kriterium ist dabei die Nennung des Eigennamens des Autors auf dem Buchumschlag in der Entsprechung von Figurennamen im Text und die Identität von Erzähler und Figur, was durch die Ich-Erzählsituation zustande kommt.⁶¹ Mit seinem Namen übernimmt der Autor die volle Verantwortung für das von ihm Geschriebene, das er selbst für wahr hält. Lejeune fasst dies in einem Satz zusammen: „Ich schwöre, daß ich die Wahrheit sage, die ganze Wahrheit, nichts als die Wahrheit.“⁶² Die dreifache Namensidentität von Autor, Erzähler und Protagonist garantiert den absoluten Wahrheitsanspruch des Autors und das Funktionieren des autobiografischen Lesens. Die von dem Wahrheitsanspruch der Autobiografie geweckte Glaubwürdigkeit steuert die Leseweise. Auf der Basis des autobiografischen Paktes akzeptiert der Leser nun bereitwillig das Geschriebene als wahr und ist verpflichtet, den Text auf eine dieser Annahme entsprechende Weise zu rezipieren. Zur Konstituierung des autobiografischen Paktes, „der die Art der Textlektüre festlegt und die Wirkungen hervorbringt“⁶³, können Paratexte (die Peritexte wie Titelseite, Kommentare und Ausschnitte aus den Rezensionen auf der Rückseite des Covers, Vorworte, Informationen zum Autor oder die öffentlichen Epitexte wie die Interviews mit dem Autor)⁶⁴ beitragen, damit der Rezipient den in dem Pakt bestätigten Authentizitätsanspruch nicht hinterfragt und den entsprechenden Umgang mit dem Text pflegt.⁶⁵ In diesem  Ebd., S. 214.  Vgl. Philippe Lejeune: Der autobiogaphische Pakt, S. 217.  Ebd., S. 245.  Ebd., S. 255.  Vgl. Gérard Genette: Paratexte. Das Buch vom Beiwerk des Buches, Frankfurt a. M. 2001.  Philippe Lejeune: Der autobiogaphische Pakt, S. 255 f.: „Im weiteren Verlauf müßte die Untersuchung über die Kontrakte Autor-Leser, über die impliziten oder expliziten Codes der Veröffentlichung – über diese Umsäumung des gedruckten Textes (Autorname, Titel, Untertitel, Name der Sammlung, Name des Herausgebers, bis hin zum zweideutigen Spiel der Vorworte), die in Wirklichkeit die ganze Lektüre bestimmt – müßte diese Untersuchung eine historische Dimension erhalten, […].“ (Hervorh. i. O.)

3.4 Autobiografisches Schreiben als performatives Handeln

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theoretisch begründeten Sinne kann referenzielle Illusion nur die narrative Wahrheit des Werkes bezeichnen.

3.4 Autobiografisches Schreiben als performatives Handeln Nach Elisabeth Wesseling lenken gattungstypische Merkmale als zu Schemata verdichtete, kulturelle Wissensbestände die Sinnstiftungsstrategien des Autors und das Rezeptionsverhalten des Lesers in bestimmte Bahnen: For the reader, genre constitutes sets of expectation which steer the reading process. Generic repertoires may be regarded as bodies of shared knowledge which have been inferred from perceived regularities in individual literary texts. As sets of norms of which both readers and writers are aware, genre fulfills an important role in the process of literary communication.⁶⁶

Die feste Etablierung der Autobiografie als literarischer Gattung legt nahe, dass der Leser Gattungsmerkmale der Autobiografie kennt und daher mit einer bestimmten Haltung an den autobiografischen Text herantritt, wie Paul John Eakin feststellt: „There seems to be no doubt that readers do read autobiographies differently from other kinds of texts, especially from works they take to be fictions.“⁶⁷ Für das Gattungsverständnis der Autobiografie sind daher die rezeptionsästhetischen Betrachtungen von besonderem Interesse. Wulf Segebrecht richtet seine Aufmerksamkeit auf die Erwartung, die der Leser einer Autobiografie entgegenbringt und mit der der Autor zu rechnen hat. Er argumentiert, dass die Erwartungen des Autobiografielesers aufgrund der autobiografischen Referenzillusion konkreter seien als diejenigen eines Romanlesers.⁶⁸ Das Wissen um die gegebene Erwartungshaltung des Lesers stellt wiederum eine Herausforderung für den Autor dar. Auf der Basis der antizipierten Lesererwartung legt der Autor fest, welche Rolle er sich und dem Leser zudenkt. Anhand einer Reihe von Beispielen (Fontanes Kinderjahre, Seumes Mein Leben und Goethes Dichtung und Wahrheit) legt Segebrecht dar, dass gerade der Anfang einer Autobiografie als „Reaktion auf Lesererwartung“ und somit als „öffentliche Konfrontation des Autobiographen mit seinem Leser“⁶⁹ zu

 Elisabeth Wesseling: Writing History as a Prophet: Postmodernist Innovations of the Historical Novel, Amsterdam/Philadelphia 1991, S. 18.  Paul John Eakin: Philippe Lejeune and the Study of Autobiography, in: Romance Studies (1986) No. 8, S. 1– 14, hier S. 3.  Vgl. Wulf Segebrecht: Über Anfänge von Autobiographien und ihre Leser, in: Günter Niggl (Hrsg.): Die Autobiographie, S. 158 – 169.  Ebd., S. 162.

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3 Gattungsspezifische Anmerkungen zum autobiografischen Schreiben

verstehen ist. Ihm zufolge würdigt die Autobiografie den Leser als „eine[] dem Autor gleichberechtigte[] kritische[] Instanz“⁷⁰. So wird autobiografisches Schreiben nicht nur als Erzählen über sich selbst verstanden, sondern darüber hinaus als eine Kommunikation mit dem Leser, deren „erhöhte[] Intensität“ hauptsächlich auf dem „gegenüber dem Roman verringerten Fiktionsgrad“⁷¹ beruht. Aus diesen Überlegungen schlussfolgert Segebrecht: Diese Voraussetzung erfordert es, die erzähltechnischen Gegebenheiten der Autobiographie nicht losgelöst von der Position und kritischen Funktion des Lesers zu betrachten, sondern zu versuchen, das ‚Programm‘ und die Verfahrensweise des Autobiographen von der Instanz des Lesers her zu erkennen und zu beurteilen.⁷²

Lejeunes Überlegung über die durch den autobiografischen Pakt zustande gekommene literarische Kommunikation zwischen Autor und Leser bildet den Ausgangspunkt der theoretischen Konzeption ‚Autobiografie als literarischer Akt‘ von Elisabeth W. Bruss. Unter Rekurs auf die Sprechakttheorie rückt Bruss das Verhältnis von Autor, Text und Leser in den Vordergrund und lenkt ihr Augenmerk darauf, was eine Autobiographie ‚tut‘: nämlich das, was ein Autobiograph und sein Publikum aller Erwartung nach mit der Information und den formalen Charakteristika eines Textes anfangen werden⁷³.

Dabei macht sie auf die Konventionalisierung von Gattungsbegriffen aufmerksam, die historischen Wandlungsprozessen und soziokulturellen Veränderungen unterliegt. Dies führt dazu, dass in einem bestimmten historischen Kontext bestimmte Textphänomene als konventionelle Gattung etabliert und rezipiert werden. Für Bruss ist das Wesen der Autobiografie nicht in textimmanenten Kriterien, sondern in außertextuellen Faktoren auszumachen: Der Wert der Autobiographie als literarischer Gattung besteht darin, dass sie die konventionellen Unterscheidungsmerkmale widerspiegelt, die den Kontext, die Identität des Autors und die Technik betreffen – und das sind allesamt Bedingungen, die dem Wandel unterliegen.⁷⁴

 Ebd.  Ebd., S. 169.  Ebd. Hervorh. i. O.  Elisabeth W. Bruss: Die Autobiographie als literarischer Akt, in: Günter Niggl (Hrsg.): Die Autobiographie, S. 258 – 282, hier S. 273. Hervorh. i. O.  Ebd., S. 279.

3.4 Autobiografisches Schreiben als performatives Handeln

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Demnach sind die Veränderungen innerhalb der Gattung die Folge von Veränderungen innerhalb der Konvention. Eine besonders stark konventionalisierte Gattung wie Autobiografie sei definiert weniger durch die formale Beschaffenheit, als vielmehr durch die Wirkungen, die sie auf das Lesepublikum ausübt, weil der so oft verwendeten wie untersuchten Gattung eine bestimmte Funktion beigemessen wird und der Text im Laufe des historischen Wandels und der damit einhergehenden Veränderung sozialer wie literarischer Konvention auf vorgesehene Funktionsmerkmale hinausläuft: Die Kriterien einer Gattungsbestimmung sagen weniger darüber aus, was der Stil oder der Aufbau eines Textes sein soll, als vielmehr darüber, wie dieser Stil oder diese Art der Komposition zu betrachten ist, wobei sie angeben, welche ‚Wirkung‘ der Text auf uns ausüben soll. Ein Text schöpft seine gattungsgemäße Wirkung aus dem Aktionstypus, auf den er sich ja gerade beziehen soll: aus dem ihn implizit umgebenden Kontext, aus dem Wesen der Elemente, die zu seiner Vermittlung beitragen, und aus der Art, wie diese Faktoren auf den Status der übermittelten Information einwirken. Daher ist es nicht unangebracht, eine Analogie herzustellen zwischen dem Begriff der literarischen Gattungen und demjenigen des ‚illokutionären Akts‘, so wie er von mehreren Sprachphilosophen im Laufe dieses Jahrhunderts entwickelt worden ist […].⁷⁵

Bruss zufolge erweist sich der illokutionäre Akt im Sinne John Austins⁷⁶ ‚doing something in saying something‘ als ein fester Bestandteil des autobiografischen Schreibens, das über eine bloße Mitteilung über irgendeinen Aspekt des Lebens hinausgeht und einen bestimmten Zweck verfolgt. Dieser werde sowohl vom Autor als auch vom Leser, der mit Hilfe des erworbenen Wissens über die Gattungskonventionen und erlernten Leseverhaltens den Text als eine Autobiografie identifiziert, ausgeführt: [E]s kann das Publikum ‚besser‘ machen oder ihm ‚einen Stoß versetzen‘; es kann den Autor ‚innerlich reinigen‘ oder ihn ‚verteidigen‘; es kann auch nichts weiter tun, als Publikum und Autor ‚zu unterhalten‘.⁷⁷

Unter Umständen kann der vom Autor der Autobiografie erzielte illokutionäre Akt außer Mode kommen, wenn er für die Gesellschaft oder den Leser nicht mehr von Belang wäre. Die autobiografische Aussage erscheint demnach nicht nur als eine Form des Schreibens, sondern darüber hinaus als auf ein Ziel ausgerichtete Handlung mit Hilfe einer sprachlichen Äußerung.

 Ebd., S. 261 f. Hervorh. i. O.  Vgl. John L. Austin: Zur Theorie der Sprechakte, Stuttgart 2000.  Elisabeth W. Bruss: Die Autobiographie als literarischer Akt, S. 273. Hervorh. i. O.

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3 Gattungsspezifische Anmerkungen zum autobiografischen Schreiben

Die Sprechakttheorie stellt auch den tragenden Interpretationsansatz für Jürgen Lehmanns Buch Bekennen – Erzählen – Berichten. Studien zur Theorie und Geschichte der Autobiographie dar. Lehmann begreift die Autobiographie als „eine regelrechte Form intentionalen Verhaltens in Übereinstimmung mit Systemen semantischer Regeln“ und mithin als eine „besondere Form des sozialen Handelns“⁷⁸. Er richtet sein besonderes Augenmerk auf die Intentionalität der autobiografischen Aussage, die darauf hinausläuft, mit dem Beschriebenen eine bestimmte Position in sozialen Feldern zu beziehen: „Entscheidend für die Identifizierung eines Vorgangs als Handlung sind Absicht, Zweck und eine durch den Vorgang ausgelöste Veränderung“.⁷⁹ So wird die Autobiografie nach Lehmann definiert als eine Textart, durch die ihr Autor in der Vergangenheit erfahrene innere und äußere Erlebnisse sowie selbst vollzogene Handlungen […] sprachlich in narrativer Form so artikuliert, daß er sich handelnd in ein bestimmtes Verhältnis zur Umwelt setzt⁸⁰.

Dabei spricht Lehmann in Anlehnung an Michail Bachtin von der Dialogizität der Autobiografie, die auf andere, ihr vorausgegangene Texte im Sinne von Intertextualität und Intermedialität Bezug nimmt oder auch spätere Reaktionen der potenziellen Leser antizipiert.⁸¹ Um einen autobiografischen Text im Hinblick auf seine Rolle als sprachliche Handlung zu prüfen, müssen nach Lehmann bestimmte „Indikatoren“ in die Untersuchungen einbezogen werden. Konkret sind solche Indikatoren, die 1. auf den propositionalen Gehalt der Textäußerung verweisen […], 2. auf die für die Entstehung des Textes relevante Schreibsituation und den Interaktionsrahmen deuten, 3. im Zusammenhang damit Intentionen, Erwartungen und Erwartungserwartungen artikulieren, 4. dabei das Verhältnis zwischen Autor und intendierten und antizipierten Rezipienten anzeigen, 5. auf Autor und intendierten Rezipienten gemeinsame Wissenshorizonte deuten, 6. dabei im Besonderen die Orientierung dieser ‚Texthandlung‘ an bestimmten Systemen wie Literatur, Historiographie oder Theologie erkennen lassen, 7. die Aufrichtigkeit und Ernsthaftigkeit der mit der betreffenden Textäußerung vollzogenen Handlung unterstreichen und erkennen lassen, daß der Text einem Wahrheitsanspruch gerecht wird.⁸²

    

Jürgen Lehmann: Bekennen – Erzählen – Berichten, S. 14. Ebd., S. 13 f. Ebd., S. 36. Vgl. ebd., S. 120. Ebd., S. 22 f. Hervorh. i. O.

3.4 Autobiografisches Schreiben als performatives Handeln

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Nachdem er auf diese Indikatoren hin die autobiografischen Texte des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts untersucht hat, postuliert Lehmann drei Idealtypen der autobiografischen Sprechhandlungsformen bzw. -strategien: „Bekennen“, „Erzählen“ und „Berichten“. Allen durch die autobiografischen Aussagen vollzogenen Handlungsformen gemeinsam sei die Erzählhaltung der Aufrichtigkeit und der Ernsthaftigkeit, die angesichts des als zwangsläufig fiktionalisierend erkannten menschlichen Erinnerns und Erzählens an die Stelle der verifizierbaren Wahrheit tritt.⁸³ Die an die Sprechakttheorie angelehnte Sichtweise von Elisabeth W. Bruss und Jürgen Lehmann auf autobiografisches Schreiben als illokutionären Akt erlaubt, literarische Gestaltungsphänomene unter strategischen Gesichtspunkten zu betrachten. Das referenzialisierende Potenzial geht in erster Linie aus dem Rezeptionsempfinden einer textimmanenten Plausibilität hervor. Damit liegt der Ball jedoch nicht unweigerlich im Spielfeld des Lesers, sondern der Autor selbst kann den Rezeptionsprozess graduell steuern, indem er seinen Text mit diesem Potenzial versieht, d. h. er antizipiert die Reaktionen seiner Leser in Bezug auf bestimmte, meist zentrale Gedanken bzw. Textstellen und reichert diese mit solchen narrativen Strategien an, die zumindest tendenziell geeignet sind, das Leseerlebnis zu steuern, z. B. durch Sympathie-/Antipathie-Aufladung bestimmter Figuren, durch das Einfügen von allgemein bekannten historischen Sachverhalten u.v.m. Die Erörterung der Frage nach Erzählhaltungen und narrativen Strategien führt direkt zum Problem der Wirkung bzw. der mit der schriftlichen Konstruktion der eigenen Lebensgeschichte betriebenen Positionierung der autobiografischen Aussage im soziokulturellen Diskursraum. Diese Problemkonstellation steht im Zentrum der Studie Peter Sloterdijks Literatur und Organisation von Lebenserfahrung. Autobiographien der Zwanziger Jahre. Sloterdijk schreibt der Autobiografie einen Sonderstatus zu, weil sich darin die Verschränkung zwischen Individuum und Gesellschaft stark widerspiegelt. Das „historisch-sozial individualisierte Ich“ mit „historisch bestimmte[r] Subjektivität, bestimmt hinsichtlich des stofflichen Lebensschicksals, der sozialen Position, der Sprachform, der Selbstdarstellungsgebärde, bestimmt aber auch in den Zwecksetzungen, den Denkmitteln, Begriffen und Grenzen der Selbstinterpretation“⁸⁴, erzeugt ein „Lebensbild“⁸⁵ durch die Autobiografie, indem es seine Lebenserfahrungen in Sinnzusammenhängen organisiert und mit Sinndeutungen versieht. Dabei hebt Sloterdijk den kommunikativen Charakter des autobiografischen Schreibens hervor. In diesem Zusammenhang ist der

 Vgl. ebd., S. 60 – 62.  Peter Sloterdijk: Literatur und Organisation von Lebenserfahrung, S. 5 f.  Ebd., S. 6.

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3 Gattungsspezifische Anmerkungen zum autobiografischen Schreiben

Akt der Veröffentlichung von besonderer Bedeutung, die Sloterdijk als „Relevanzproduktion“⁸⁶ bezeichnet. Die Veröffentlichung erlaubt es dem Autor, seine eigene Erfahrung in eine Öffentlichkeit zu stellen und zugleich das Publikum in seine Privatsphäre hereinzulassen. Diese Prozesse verleihen den individuellen Erlebnissen des Einzelnen die allgemeine Dimension. An dieser Stelle wird autobiografisches Schreiben als „eine Praxis, in der individuelle Geschichte mit kollektiven Interessen, Phantasien und Leidenschaften zusammengewoben werden“⁸⁷, begriffen. In der sozialhistorisch orientierten Untersuchung Sloterdijks kommt nicht nur dem Akt der Veröffentlichung, sondern auch den Motivationen und Umständen des autobiografischen Schreibens große Bedeutung zu. Es sind nämlich „Störerfahrungen“ in bestimmten Krisensituationen, die das Individuum dazu antreiben, sich mit seinen eigenen Lebenserfahrungen kritisch auseinanderzusetzen, denn die sogenannten Störerfahrungen sprengen den Vorrat der anerzogenen Deutungsmuster; sie wecken und verletzen das übernommene Bewußtsein und treiben es zu neuen Modellen, sei es zu neuen kritischen Einsichten in widersprüchlichen Verhältnissen, sei es in Ideologien.⁸⁸

Wenn ein Individuum sich entscheidet, seine eigene Lebensgeschichte zu schreiben und zu veröffentlichen, greift es zwangsläufig auf „ein kulturelles Handlungsmuster“⁸⁹ zurück. Die Gattung Autobiografie als „eine Grundstruktur menschlichen Wissens“⁹⁰ ist in diesem Zusammenhang als Medium der sozialen Verständigungsprozesse zu verstehen. Eben aus diesem Grund begreift Sloterdijk die Autobiografie als „Resultat einer gesellschaftlich normierten Persönlichkeitskultur“⁹¹. Die Autobiografien werden von ihm insofern als „intentional publikumsbezogene Texte“⁹² aufgefasst, als diese der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden, und zwar von Autoren, die als gesellschaftliche Akteure mit ihrer Lebenserzählung eine bestimmte Position im sozialen Raum einnehmen können. In Bezug auf „Zweckbestimmung, Schreibsituation und intentionale Publikumsbeziehung der Texte“ lasse sich daher jedem Text „ein Ort in der sozialen Sprechkultur“⁹³ zuweisen. „Autobiographie als soziale Handlung ist nichts anderes als der Versuch, Lebens-

       

Ebd., S. 21. Ebd., S. 6. Ebd., S. 11. Ebd., S. 20. Ebd., S. 21. Ebd., S. 40. Ebd., S. 38. Ebd.

3.5 Zwischenfazit und Überleitung zur Werkinterpretation

85

erfahrungen an die Kraftströme kollektiver Bedeutungen und Wichtigkeiten (Relevanzen) anzuschließen“⁹⁴, resümiert Sloterdijk. Wenn man die Gattung Autobiografie als illokutionären Akt im Sinne von Elisabeth W. Bruss und Jürgen Lehmann und bezüglich ihrer gesellschaftlichen und politischen Teilhabe als soziale Handlung im Sinne Peter Sloterdijks versteht, kann sie als eine Art Kommunikationsort angesehen werden, an dem sich Autoren als soziale Akteure an den aktuellen sozialpolitischen Diskussionen beteiligen können.

3.5 Zwischenfazit und Überleitung zur Werkinterpretation: Autobiografien als poietische Erinnerungsnarrative Die Erkenntnis, dass autobiografische Erzählungen aktiv erzeugte Konstrukte aus der Perspektive des erinnernd Schreibenden sind, die gegenwärtigen individuellen wie kollektiven Sinnbedürfnissen zu entsprechen und darüber hinaus auf Wirkungen illokutionärer Akte zu zielen suchen, ist für die Untersuchung von autobiografischer Familienliteratur von Bedeutung. Damit kann die Wechselbeziehung zwischen autobiografischen Texten, die sich darin mit Mechanismen und Funktionen der individuellen wie auch kollektiven Erinnerung auseinandersetzen, und dem Konflikthaften Prozess der kollektiven Identitätsbildung durch die soziale Praxis des gemeinsamen Erinnerns in das Blickfeld rücken. Dass die Autobiografie als Medium des kulturellen Gedächtnisses mehr über die gegenwärtigen Sinnbedürfnisse nicht nur des Autobiografen, sondern auch des Kollektivs einer Gesellschaft aussagt, als über irgendein Ereignis in der Vergangenheit, verdeutlicht die folgende Bemerkung von Günter de Bruyn: Während das individuell-psychologische Problem des Verhältnisses von Gedächtnis und Wahrheit überall auftritt, wo Menschen sich erinnern, kommt das Problem des Verhältnisses von Ich und Geschichte vor allem in literarischen Bereichen, speziell im Autobiographischen vor. Das hängt damit zusammen, daß das in der Literatur Dargestellte nicht für sich steht, sondern auch etwas bedeutet. Es steht, ob es soll oder nicht, stellvertretend für andere. Es sagt aus: Über den Menschen im allgemeinen, über die Gegend, in der es stattfindet, und auch über die Zeit, in der es geschieht.⁹⁵

Die Beobachtung de Bruyns verweist auf eine formgebende Kraft der autobiografischen Texte innerhalb gesellschaftlicher Selbstvergewisserungsprozesse. Damit

 Ebd., S. 249.  Günter de Bruyn: Das erzählte Ich. Über Wahrheit und Dichtung in der Autobiographie, Frankfurt a. M. 1995, S. 47.

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3 Gattungsspezifische Anmerkungen zum autobiografischen Schreiben

wird der Zusammenhang zwischen autobiografischen Erzählungen und der Erinnerungskultur deutlich: Zum einen sind Texte der Gattung Autobiografie eingebettet in den Horizont des komplexen und zugleich konfliktträchtigen Diskursfeldes, mit ihrem Repertoire an Topoi und Erzählmustern. Zum anderen können sie dadurch bei der individuellen wie kollektiven Gedächtnisbildung mitwirken. Als eine paradigmatische Gattung zur Sinnstiftung von Lebenserfahrungen und Erinnerungen kann der autobiografischen Familienliteratur eine besondere Fähigkeit zugesprochen werden, reflexive Prozesse auf der individuellen wie kollektiven Ebene in Gang zu setzen. Sie können rezipientenseitig eine individuelle, personengebundene Erinnerung aktivieren und auf politisch-gesellschaftlicher Ebene die kulturelle Praxis der Vergegenwärtigung der gemeinsamen Vergangenheit initiieren und organisieren. Als retrospektive Konstrukte, in die vergangene Ereignisse, Gegenwartserfahrungen und zeitgenössische Diskurse ebenso eingeflossen sind wie zukünftige Erwartungen, bilden die Werke der autobiografischen Familienliteratur Vergangenheit und kulturell etablierte Geschichtsbilder nicht ab, sondern verarbeiten sie zu neuartigen Erinnerungsnarrativen auf poietische Weise, auch wenn sie sich, gestützt auf den dokumentarischen Stil und den Gebrauch von Paratexten, ihres Wahrheitsgehalts und ihrer Referenzialität versichern. Im Medium der Autobiografie werden die Konfliktkonstellationen zwischen den individuellen und kollektiven Erinnerungen narrativ inszeniert und bearbeitet, was die alltägliche Kommunikation oder wissenschaftliche Sprache selten leisten kann. Wenn die autobiografische Familienliteratur durch ihre medienspezifischen Gestaltungsweisen auf aktive, poietische Weise Deutungsangebote macht und somit rezipientenseitig zu einer bestimmten Sicht auf die Vergangenheit beitragen kann, dann stellt sich schließlich die Frage, wie dieser performative Prozess vor sich geht. Mit dem in der Zeit und Erzählung entworfenen dreistufigen Modell eines ‚Kreises der Mimesis‘⁹⁶ von Paul Ricœur veranschaulicht Astrid Erll „den komplexen Zusammenhang von kollektivem Gedächtnis, Literatur und ihrer Wirkung in der Erinnerungskultur“⁹⁷. Das an den Mimesis-Begriff von Aristoteles angelehnte Modell von ‚Mimesis I, II, III‘ von Ricœur lässt sich als dreistufiges Zusammenspiel zwischen der kulturellen Präfiguration des Textes, d. h. seiner Bezogenheit auf die außertextuelle Wirklichkeit, der textuellen Konfiguration zu einer neuen fiktionalen Welt und schließlich der Refiguration in kognitiven Prozessen und Strukturen der Leser beschreiben.⁹⁸ Die literarische Welterschließung lässt sich bei Ricœur mithin als ein dynamischer, konstruktiver Prozess begreifen, der eine Brücke zwi-

 Paul Ricœur: Zeit und Erzählung, München 1988.  Vgl. Astrid Erll: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen, S. 149 – 155, hier S. 149.  Vgl. ebd. S. 150 – 154.

3.5 Zwischenfazit und Überleitung zur Werkinterpretation

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schen kulturellen Praxen und der kognitiven Rezeption des Individuums schlägt. Erll überträgt Ricœurs Mimesis-Modell auf die kulturelle Erinnerungsarbeit im Medium der Literatur und beschreibt deren drei Stufen folgendermaßen: 1. die erinnerungskulturelle Präfiguration, 2. die Konfiguration neuartiger Gedächtnisnarrative und 3. deren leserseitige, kollektive Refiguration.⁹⁹

‚Mimesis I‘ konstituiert sich aus den paradigmatischen Selektionsmechanismen, indem die erinnerungsrelevanten Wissensbestände aus der außertextuellen Realität ausgewählt werden. Dabei wird auf disparate Vergangenheitsreferenzen (z. B. Personen, Ereignisse, Zeitpunkte oder Orte), Mikroerzählungen, Erzählmuster bzw. -strukturen der Erinnerungskultur, verschiedenartige Gedächtnismedien usw. zurückgegriffen. Durch die Selektionsstruktur kann die Literatur Erinnertes und Vergessenes verschiedener sozialer Gruppen sowie das zuvor auf kollektiver Ebene Unartikulierte oder Unartikulierbare zusammenbringen und sie in ihrem Textrepertoire vereinen. Der narrative Umgang in der Phase ‚Mimesis II‘ bezeichnet die syntagmatische Strukturierung der einzelnen, auf die außertextuelle Erinnerungskultur verweisenden Elemente zur literarischen Gedächtnisbildung. Erst durch die konfigurative Anordnung werden die den vorgängigen kulturellen Feldern entstammenden disparaten Elemente in Beziehung zueinander gesetzt, etwa in einer temporalen oder kausalen Beziehung, und so in eine übergeordnete Erzählebene überführt. Es entsteht also eine narrative Struktur, die eine Sinnkonstitution ermöglicht. Durch narrative Strategien treten kulturelle Erfahrungs- bzw. Wahrnehmungsweisen und unterschiedliche Erinnerungsdiskurse in ein Verhältnis der wechselseitigen Beeinflussung und Perspektivierung. Die textuelle Konfiguration der Elemente der Erinnerungskultur kann damit die rezipientenseitige Wahrnehmung, Verarbeitung und Aneignung des Erzählten in bestimmte Bahnen lenken. Bei der Refiguration als der letzten Phase der Mimesis handelt es sich nicht nur um Rückwirkung der im Text erzeugten Erinnerungsnarrative auf die kognitiven Prozesse und Strukturen, die beim Rezeptionsprozess in Gang gesetzt werden, sondern auch um kritische Reflexion sowie ständige Erneuerung individueller und kollektiver Gedächtnisse. Hinweise auf die Wirkung eines literarischen Textes bieten „Auseinandersetzungen im Feuilleton ebenso wie Bestsellerlisten, Formen der Institutionalisierung, etwa die Aufnahme der Werke in Lehrpläne, ihre Kanonisierung oder der Eingang von literarischen Zitaten in die alltägliche Redeweise“¹⁰⁰. Ricœur betont allerdings, dass die Spekulation über die Wirkung eines lite Ebd., S. 150. Hervorh. i. O..  Ebd., S. 153.

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3 Gattungsspezifische Anmerkungen zum autobiografischen Schreiben

rarischen Textes allein aus der semiotischen Analyse der Mimesis II hervorzugehen hat. Nach Roy Sommer handelt es sich beim Wirkungspotenzial der Erzähltexte um „eine vom Text her begründbare Annahme über die möglichen Effekte der narrativen Strategien, die den nacherzählbaren Inhalt eines literarischen Textes strukturieren und organisieren und damit für den Sinn entscheidend sind“¹⁰¹. Mit anderen Worten: Hypothesen über Wirkungsweisen und Funktionalisierung eines literarischen Textes in der Kultur sind nur aus einer ausführlichen Untersuchung der textuellen Phänomene und narrativen Strategien ableitbar. Bezogen auf die autobiografische Familienliteratur bedeutet dies, dass eine Untersuchung der narrativen Darstellungsverfahren die Rückschlüsse auf mögliche erinnerungskulturelle Bedeutungszuschreibungen erlaubt. Sollen die Besonderheiten der zeitgenössischen autobiografischen Familienliteratur als eigenständiger Form kollektiver Sinnbildung in den Blick geraten, müssen sowohl die Inhalte im Sinne der Ricœurschen Mimesis I als auch ihre formalästhetischen Verfahren im Sinne der Ricœurschen Mimesis II untersucht werden. Wie oben im Rahmen der narrativen Psychologie und der Autobiografieforschung erörtert wurde, sind die Gattungskonventionen und narrativen Gestaltungstechniken keineswegs neutrale, strukturelle Textmerkmale, sondern sie sind vielfach mit einem bedeutungskonstituierenden Potenzial aufgeladen. Durch den Interpretationsteil ziehen sich daher folgende zentrale Fragen: Wie wird der Nationalsozialismus, der Zweite Weltkrieg und Täterschaft als Inhalte des kommunikativen (familiären und/oder generationellen) und des kollektiven Gedächtnisses literarisch inszeniert? Auf welche Topoi aus welchen erinnerungskulturellen Diskursen greifen die Texte zurück? Wie kommt die zeitgenössische deutsche Erinnerungskultur in den Texten zur Darstellung und wie reagiert das literarische Erinnerungsnarrativ auf andere kulturelle Gedächtnisse? Welche Deutungsangebote und Geschichtsbilder sind aus der Interpretation der Werke herzuleiten? Um die erinnerungsbezogene Wirkungsstruktur begreifbar zu machen und autobiografische Familienliteratur in der Gesamtheit konkurrierender Medien der Erinnerungskultur zu verorten, werden zuerst die textinternen Phänomene untersucht und dann im nächsten Schritt die Texte in ihrer Ganzheit kontextualisiert, d. h. in der gesamten Erinnerungskultur verortet.

 Zit. nach Astrid Erll: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen, S.155.

Zweiter Teil: Vergleichende Werkanalysen

1 Deutscher Opferdiskurs und Widerspruch zwischen individuellem, familiärem und kollektivem Gedächtnis: Uwe Timms Am Beispiel meines Bruders und Dagmar Leupolds Nach den Kriegen. Roman eines Lebens Das beredte Schweigen als Familiennarrativ Während in der deutschen Erinnerungskultur in den 90er Jahren die Opfer der NSVernichtungspolitik im Vordergrund standen, ist seit der Jahrtausendwende die Beschäftigung mit den deutschen Opfern des Zweiten Weltkrieges im Kontext von Themen wie der Vertreibung, der Flächenbombardierung und der Massenvergewaltigung deutscher Frauen ins Zentrum der öffentlichen Diskussion gerückt. Die Studie von Harald Welzer und seinen Mitarbeitern zeigt, dass insbesondere die jüngeren Generationen, die über umfassende Informationen zur Geschichte des Nationalsozialismus und des Holocaust verfügen, paradoxerweise dazu neigen, ihre Vorfahren zu „Helden des alltäglichen Widerstands“ zu stilisieren und die Ansicht vertreten, „dass Deutsche Opfer waren – Opfer von Krieg, Vergewaltigung, Kriegsgefangenschaft, Mangel und Not“.¹ Eine derartige Tendenz sieht Welzer auch in einer ganzen Reihe neuerer Familienromane.² Die meisten nachgeborenen Autoren stellen die Schuldverstrickung der Kriegsgeneration „schön unscharf“ dar und tragen damit zum Phänomen der verharmlosenden Umschreibung des Familiengedächtnisses am „Topos einer schuldlosen Schuld“ bei, an der insbesondere Repräsentanten der 68er-Generation beteiligt seien. Dies könne als Versöhnungsgestus interpretiert werden, als Wiedergutmachung für die Vorwürfe, die sie aufgrund ihres starken Abgrenzungswillens in der Studentenbewegung der sechziger und siebziger Jahre gegen die Elterngeneration zu schnell und pauschal erhoben haben.³ In eine ähnliche Richtung geht die Kritik von Aleida Assmann in Bezug auf die

 Vgl. Harald Welzer/Sabine Moller/Karoline Tschuggnall: „Opa war kein Nazi“, S. 16. Vgl. auch Thomas Kühne: Die Viktimisierungsfalle. Wehrmachtsverbrechen, Geschichtswissenschaft und symbolische Ordnung des Militärs, in: Michael Th. Greven/Oliver von Wrochem (Hrsg.): Der Krieg in der Nachkriegszeit. Der Zweite Weltkrieg in Politik und Gesellschaft der Bundesrepublik, Opladen 2000, S. 183 – 196; Klaus Latzel: Töten und Schweigen – Wehrmachtsoldaten, Opferdiskurs und die Perspektive des Leidens, in: Peter Gleichmann (Hrsg.): Massenhaftes Töten. Kriege und Genozide im 20. Jahrhundert, Essen 2004, S. 320 – 338.  Vgl. Harald Welzer: Schön unscharf.  Vgl. Harald Welzer: Schön unscharf, S. 57. https://doi.org/10.1515/9783111009094-006

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1 Deutscher Opferdiskurs

Aneignung dieses Kapitels der deutschen Geschichte durch die zweite und dritte Generation: Die Tendenz zu Kritik und Abrechnung werde nunmehr durch eine apologetische und harmonisierende Haltung ersetzt.⁴ Dagegen gehören Uwe Timm und Dagmar Leupold zu einer Gruppe von Autoren, die die Inkommensurabilität unterschiedlicher Leiderfahrungen im Hinblick auf die Perspektive von Opfern und Tätern thematisieren. Sowohl Uwe Timms Am Beispiel meines Bruders ⁵ als auch Dagmar Leupolds Nach den Kriegen. Roman eines Lebens ⁶ befassen sich mit einer kritischen Neubewertung der Opfererzählungen ihrer Familien, mit denen sie aufgewachsen sind und die dem offiziellen kollektiven Gedächtnis widersprechen. Im Zentrum ihrer Familiengedächtnisse stehen die Leiden und die Entbehrungen, aber auch die Ängste, die mit dem Verlassen der alten Heimat und der Erfahrung der Flächenbombardierung verbunden waren. Wie tief sich die unverarbeiteten Kriegserlebnisse von Eltern als ‚Gefühlserbschaften‘ der Seelenlandschaft der nachfolgenden Generation einbrennen können, lässt sich an den beiden Romanen gut veranschaulichen. Die Macht der sich wiederholenden Kriegsgeschichten des Vaters von Leupold überschattet das Leben der Tochter und entwertet ihre eigene Erfahrung. Wenn man das erzählbare Leben mit dem Krieg gleichsetzt, sieht die Tochter ihre eigene Existenz durch die Endloserzählungen des verlorenen Lebens des Vaters im Osten und seine Missachtung der Gegenwart für ungültig erklärt. In ähnlicher Weise wird Timms Gefühl seiner eigenen Existenz abgewertet, indem er im Schatten seines toten Bruders aufwächst, eines freiwilligen Soldaten der Waffen-SS, der an der Ostfront getötet wurde und der, obwohl er tot ist, seinen Eltern näher zu sein scheint, weil er Krieg, Opfer und Leiden erlebt hat. Vielfach sind die Erinnerungen der Eltern an die NS-Zeit bei den Familien Timm und Leupold auf Aspekte von Leid und Opferschaft reduziert, während das Zufügen von Leid Anderen gegenüber durch ihre mehr oder weniger aktive oder passive Unterstützung des NS-Regimes sowie Aspekte wie „Chronologie und Kausalität der Grausamkeiten“ (BB, 61) verschwiegen wurden. Das Grundmuster des Verhaltens der Eltern von den beiden Autoren, sich nicht als verantwortlich Handelnde, sondern als mißhandelte und bemitleidenswerte Opfer zu definieren, wurde bis zu ihrem Tod wiederholt und fortgesetzt. Trotz dieser einseitigen und dadurch die Realität verzerrenden Erzählungen der Eltern und den damit verbundenen unausgesprochenen Forderungen nach Mitgefühl und Loyalität bekamen die beiden

 Vgl. Aleida Assmann: Der lange Schatten der Vergangenheit, S. 194.  Uwe Timm: Am Beispiel meines Bruders, Köln 2003. Im Folgenden sind weitere Zitate aus Am Beispiel meines Bruders mit der Sigle (BB, Seitenzahl) gekennzeichnet.  Dagmar Leupold: Nach den Kriegen. Roman eines Lebens, München 2004. Im Folgenden sind weitere Zitate aus Nach den Kriegen. Roman eines Lebens mit der Sigle (NK, Seitenzahl) gekennzeichnet.

1 Deutscher Opferdiskurs

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Autoren als Kinder mit, dass etwas nicht stimmte und vor ihnen verborgen wurde. Der Ausgangspunkt für ihr Bestreben, die eigene Familienvergangenheit zu erforschen, ist ein dumpfes Gefühl, auf unerklärliche Weise transgenerationalen Übertragungsmechanismen ausgesetzt gewesen zu sein, die nicht zuletzt auf unbekannte Aspekte der Familienvergangenheit und dadurch vermutete Fremdbestimmung zurückzuführen sind. Nicht die vermittelten Geschehnisse, sondern gerade die verschwiegenen Ereignisse und Empfindungen sowie Nicht-Überliefertes sorgen besonders für Ungereimtheiten und gravierende Störungen der innerfamiliären Beziehungen.⁷ Dabei handelt es sich um „die besondere Form des Schweigens“, das Gesine Schwan als das beredte Schweigen bezeichnet.⁸ Mit dem beredten Schweigen ist eine Auseinandersetzung mit der Vergangenheit der Erlebnisgeneration gemeint, welche die „vehemente[n], ausführliche[n] Rechtfertigungskonstruktionen“ durch „Aufrechnungen, Schuldprojektionen, Verleugnungen und Blockierungen in Bezug auf unabweisbare Tatsachen“ mit einschließt und damit „eine hoch gefühlsgeladene und häufig aggressive Fixierung auf das Problem Schuld“ bedeutet.⁹ Dadurch wird die eigentliche Tabuisierung auf persönlicher wie öffentlicher Ebene kaschiert, z. B. indem die Leiderfahrungen von Flucht, Bombardierung und Vertreibung im sozialen Umfeld selektiv und meistens im Opfernarrativ aufgearbeitet wurden. Die narrative Unüberschaubarkeit und die „Unbestimmtheit des Vorgangs“ sowie seine „assoziativ[e]“ und „indirekt[e]“ Thematisierung im Umgang mit jener Zeit sind folglich unvermeidbar.¹⁰ Wie Ernestine Schlant zu Recht hervorgehoben

 Vgl. Haydée Faimberg: Teleskopieren der Generationen. Eine Genealogie entfremdender Identifizierungen, in: dies. (Verf.): Teleskoping. Die intergenerationelle Weitergabe narzisstischer Bindungen, Frankfurt a. M. 2009, S. 33.  Vgl. Gesine Schwan: Politik und Schuld. Die zerstörerische Macht des Schweigens, Frankfurt a. M. 1997, S. 108. Vgl. auch zur Form des Schweigens Aleida Assmann: Geschichte im Gedächtnis. Von der individuellen Erfahrung zur öffentlichen Inszenierung, München 2007, S. 44; Ernestine Schlant: Die Sprache des Schweigens. Die deutsche Literatur und der Holocaust, München 2001; Aleida Assmann: Die transformative Kraft der Sprache. Reden und Schweigen in der neuen deutschen Erinnerungsliteratur, in: Acta Germania, German studies in Africa, Jahrbuch des Germanistenverbandes in südlichen Afrika 39, Frankfurt a. M. 2011, S. 105 – 116; Alois Hahn: Schweigen, Verschweigen, Wegschauen und Verhüllen, in: Aleida Assmann/Jan Assmann (Hrsg.): Schweigen. Archäologie der literarischen Kommunikation XI, München 2013, S. 29 – 50.  Ebd.  Vgl. Harald Welzer/Sabine Moller/Karoline Tschuggnall: „Opa war kein Nazi“, S. 159. Welzer weist darauf hin, dass diese narrativische Unüberschaubarkeit u. a. aus dam sogenannten „leere[n] Sprechen“ resultiert. „Das ‚leere Sprechen‘ ist eine Redeweise, die wie keine andere das intergenerationelle Gespräch über das ‚Dritte Reich‘ prägt: Akteure – und zwar meist die Täter – […] bleiben konturlos, historische Vorgänge werden nur in Umrissen beschrieben, so dass unklar bleibt, worum es eigentlich geht und das Geschehen fast harmlos erscheint.“

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1 Deutscher Opferdiskurs

hat, bedeutet das „Schweigen […] keine semantische Leere; es ist von Erzählstrategien erfüllt, die Ideologien transportieren und unausgesprochene Voraussetzungen enthüllen. Was Schweigen konstitutiert, ist die Abwesenheit von Wörtern“¹¹. Diese Form des Schweigens führt zu einer „zunehmend distanzierten Kommunikation innerhalb der Familie, in der die Eltern die Kinder nicht mehr an sich herankommen lassen und die Kinder ihre Eltern nicht mehr wirklich erreichen“¹². Sowohl Leupolds als auch Timms Beziehung zu ihren Vätern ist durch eine emotionale Distanz gekennzeichnet, die sich aus der Ablösung der Kinder von ihren Vätern aufgrund einer Überbelastung in der frühen Kindheit und einer Vererbung der Verantwortung für die NS-Geschichte ergibt, die ihre Eltern verdrängt haben. Indem das Nicht-Erzählte bis in die Gegenwart weiter hineinwirkt und „in der Geschichte erfahrene Gewalt, Schuld und Traumata noch immer Teil“¹³ der Nachgeborenen sind, erzeugt das Schweigen „familiäre und generationelle Bande, die als Erbschaften aus der Zeit des Nationalsozialismus verstanden werden müssen“¹⁴. Der kommunikativen Rolle der mit dem Schweigen verbundenen Leerstelle im privaten Umfeld und deren Bedeutung für die Selbstwerdung der nachgeborenen Generation widmen sich die Erzählungen von Timm und Leupold. Die Kriegserfahrungen, das Wertesystem der Nachkriegszeit und die Unfähigkeit ihrer Eltern zu trauern sowie die Frage, wie sich diese Haltung in der Nachkriegszeit auf die Nachkommen auswirkte und was der transgenerationalen Übertragung entgegengesetzt werden kann, sind die über Einzelschicksale hinausgehenden Themen, um die die beiden Erzählungen ringen. Die beiden Autoren untersuchen die Übertragung autoritärer Werte aus dem Nationalsozialismus auf die Nachkriegsfamilie als Folge der schweren kollektiven narzisstischen Kränkung, die die Kriegsniederlage, die Entwertung der religiös verherrlichten Ideologie und die Umkehrung der Position als Herrenmenschen in die der Kriegsverlierer bzw. -verbrecher verursacht haben. Dabei wird die Nachkriegsfamilie als ein Bereich der unterdrückten Wut und der sich daraus ergebenden schweren Depression dargestellt. Da sowohl Leupold als auch Timm ihren

 Ernestine Schlant: Die Sprache des Schweigens, S. 19.  Gesine Schwan: Politik und Schuld, S. 103.  Aleida Assmann: Die transformative Kraft der Sprache, S. 106.  Kurt Grünberg/Jürgen Straub: Die Gegenwart der Vergangenheit, S. 11. Vgl. dazu auch Wolfgang Türkis: Beschädigtes Leben. Autobiographische Texte der Gegenwart, Stuttgart 1990, S. 99: „Wenn man einmal davon ausgeht, daß Kriegs- und Nachkriegsgeneration nicht nur im materiellen, sondern auch im geistig-psychischen Sinne eine Erbengemeinschaft bildet, verbindet beide mehr oder weniger auch das deutsche Trauma jener zwölf Jahre Faschismus und Krieg, […]. Nun klebt aber dieses Trauma an Deutschland genauso wie Pech an Schwefel.“

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Vätern größtenteils als „Container“¹⁵ für ihre gescheiterten Ideale dienten, besteht die konkrete Aufgabe ihrer Erzählungen über die familiäre Vergangenheit darin, gleichzeitig ihre eigenen Erinnerungen zu überprüfen, sich mit der eigenen Identität angesichts der elterlichen Geschichte auseinanderzusetzen und schließlich ihren „Platz unter Berücksichtigung des Generationenunterschieds zu finden“¹⁶. Die beiden Autoren verfolgen den Zweck, „sich neu zu finden“ (BB, 21) angesichts der „festgeschriebene[n] Erinnerung“ (BB, 33) und der „schützende[n] Mythen“ (NK, 33), was das Bedürfnis nach einem Wechsel vom passiven Zuhörer zum Teilnehmer an der Geschichte signalisiert. Jener Gedanke aus Walter Benjamins Denkbild „Ausgraben und Erinnern“, wonach wer sich der eigenen verschütteten Vergangenheit zu nähern trachte, sich wie ein Mann, der gräbt, verhalten müsse¹⁷, lässt sich auf die beiden Erzählungen anwenden. Sowohl Timm als auch Leupold begeben sich darin in einem gleichsam archäologischen Verfahren auf Spurensuche nach verdrängten und verfälschten Aspekten der NS-Vergangenheit der eigenen Familie, denen eine für das eigene Selbstverständnis grundlegende Bedeutung zukommt.¹⁸ Mithin sind die beiden Texte von dem Anliegen geprägt, den Prozess der Überlieferung der eigenen Familiengeschichte im Benjaminschen Sinne auf alternative Handlungsmöglichkeiten hin „gegen den Strich zu bürsten“¹⁹ und in dieser Weise die sprachlich unverarbeiteten, verdrängten Aspekte der Vergangenheit bewusst werden zu lassen, um schließlich zu einer von den kollektiv vorgegebenen, erstarrten Formeln gelösten, selbstbestimmten Perspektive auf die (Familien‐)Geschichte zu gelangen. Dabei spielt der Erzählmodus der Nachträglichkeit eine vordergründige Rolle, womit die weit zurückliegenden, verdrängten oder nicht bewusst

 Vgl. Werner Bohleber: Wege und Inhalte transgenerationaler Weitergabe. Die Kinder der Kriegsgeneration beschreibt Bohleber als einen „Container“, in welchem die Kriegsgeneration die nicht verarbeiteten traumatischen Erfahrungen ablagerte. Vgl. auch Werner Bohleber: Transgenerationelles Trauma, Identifizierung und Geschichtsbewusstsein, in: Jörn Rüsen/Jürgen Straub (Hrsg.): Die dunkle Spur der Vergangenheit, S. 256 – 275: „Unerträglicher Zweifel an den eigenen Idealen hätte zum Zusammenbruch, zur depressiven Entleerung und Selbstanklage geführt, wenn sie zugelassen worden wären. Eigene Schwäche und Versagen, nagender Zweifel und Schuldgefühle wurden projektiv in das Kind transportiert, dort deponiert und verachtet.“ (S. 261)  Haydée Faimberg: Teleskopieren der Generationen, S. 39.  Walter Benjamin: Denkbilder. Ausgraben und Erinnern, in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. IV,1, hrsg. von Tilmann Rexroth, Frankfurt a. M. 1972, S. 400; „Vor allem darf er sich nicht scheuen, immer wieder auf einen und denselben Sachverhalt zurückzukommen – ihn auszustreuen wie man Erde ausstreut, ihn umzu wühlen, wie man Erdreich umwühlt.“  Vgl. Siegfried Schmidt: Gedächtnis – Erzählen – Identität, in: Aleida Assmann/Dietrich Harth (Hrsg.): Mnemosyne, S. 378 – 398, hier S. 392.  Walter Benjamin: Über den Begriff der Geschichte, in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. I,1, hrsg. von Tilmann Rexroth, Frankfurt a. M. 1978, S. 697.

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erlebten Ereignisse rückblickend eine neue Bedeutung erlangen und immer auch mit der eigenen Geschichte des erzählenden Ich in Verbindung gebracht werden.²⁰ Nachträgliche Rekonstruktion als Korrektur des Familiennarrativs In seinem Entwurf einer Psychologie beschreibt Freud die Grundstruktur der literarischen Biografie als ein Wissen des Leibes, das dem Subjekt erst später bewusst wird: „Hier ist keine Wahrnehmung, sondern eine Erinnerungsspur […], und das Ich erfährt davon erst spät.“²¹ Um diesen psychischen Mechanismus zu beschreiben, verwendet Freud das Adjektivadverb ‚nachträglich‘. Er weist darauf hin, dass sich diese Erinnerungsspuren meistens an Symptomen erkennen lassen, die auf vergangene affektbetonte Erlebnisse oder psychische Traumata zurückgeführt werden. Dabei richtet Freud sein Augenmerk auf die Kraft einer psychischen Umarbeitung, die die Wahrnehmung des vergangenen Geschehens aus der zeitlichen Distanz betrifft. So schreibt er in den Bemerkungen über einen Fall von Zwangsneurose, dass „der heranwachsende Mensch […] wie ein richtiger Geschichtsschreiber die Vergangenheit im Lichte der Gegenwart erblicken will“²². Freud begreift die nachträgliche Erinnerungsarbeit als einen aktiven, dialektischen Arbeitsprozess, wobei er besonders dem „Vergessen von Eindrücken, Szenen und Erlebnissen“ auf die Spur kommen wollte.²³ Diesbezüglich korrespondieren Freuds Überlegungen inso-

 Vgl. Almut Finck: Autobiographisches Schreiben nach dem Ende der Autobiographie, Berlin 1999, S. 72: „Das Funktionieren von ‚Nachträglichkeit‘ impliziert nicht nur die Infragestellung des Kausalitätsprinzips und einer binären Zeichenlogik. ‚Nachträglichkeit‘ verbürgt darüber hinaus eine ganz spezifische Art der Erfahrung. Subjektive Erfahrung beruht danach nicht auf einem privilegierten, intuitiven Zugang des Subjekts zum Objekt der Erfahrung. Der Gegenstand der Erfahrung ist sowenig unmittelbar gegeben, wie Erfahrung unmittelbar statthat. Sie ist so ziemlich das genaue Gegenteil von dem, was einige Moderne unter der Epiphanie verstanden wissen wollen: nicht das Nu gebunden, sondern Resultat zeitlicher Verzögerungen und Stockungen, kein substantielles Moment, sondern eine Konstellation voneinader abhängiger Szenen, nicht Eines, sondern Vieles, nicht essentiell, sondern differenziert, nicht vollständig, sondern fragmentarisch und ergänzungsbedürftig. Sie ist kein dem Subjekt Zugetragenes, sondern Produkt eines komplexen, stets offenen Arbeitsprozesses, innerhalb dessen sich das Subjekt der Erfahrung und deren Gegenstände herausbilden.“  Jean Laplanche/Jean-Bertrand Pontalis: Das Vokabular der Psychoanalyse, Frankfurt a. M. 1972, S. 315.  Vgl. Sigmund Freud: Bemerkungen über einen Fall von Zwangsneurose, in: ders.: Studienausgabe, Bd. 7, hrsg. von Alexander Mitscherlich, Frankfurt a. M. 1973, S. 31– 104, hier S. 72: „Wenn man in der Beurteilung der Realität nicht irregehen will, muß man sich vor allem daran erinnern, daß ‚die Kindheitserinnerungen‘ der Menschen erst in einem späteren Alter (meist zur Zeit der Pubertät) festgestellt und dabei einem komplizierten Umarbeitungsprozeß unterzogen werden, welcher der Sagenbildung eines Volkes über seine Urgeschichte durchaus analog ist.“  Vgl. Sigmund Freud: Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten, in: ders.: Gesammelte Werke, Bd. 10: Werke aus den Jahren 1913 – 1917, hrsg. von Anna Freud, London 1969, S. 126 – 136, hier S. 127.

1.1 Uwe Timm: Am Beispiel meines Bruders

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fern mit den Bemerkungen Benjamins zur bereits erwähnten archäologischen Denkfigur in Ausgraben und Erinnern, als das eigene Gedächtnis als „Medium des Erlebten“²⁴ ebenjene Bilder liefert, die Schicht um Schicht in die Vergangenheit hinabführen und Verschüttetes freisetzen. Der nachträgliche Rückblick auf die Vergangenheit erlaubt es, vergangene Geschehnisse aus der Perspektive der Gegenwart aufzugreifen und neu einzuordnen, da erst die nachfolgenden Erfahrungen und Erkenntnisse den vorangehenden den Sinn verleihen.²⁵ Wenn zu gegebener Zeit etwa noch die passenden Worte oder das relevante Wissen zum Begreifen des Erlebten gefehlt haben, kann es später bei der nachträglichen Reflexion hinzugewonnen werden. Uwe Timms Am Beispiel meines Bruders und Dagmar Leupolds Nach den Kriegen. Roman eines Lebens lassen sich als Versuche begreifen, die vom Nationalsozialismus belastete Familienvergangenheit nachträglich aufzuarbeiten. Die beiden Autoren sind bemüht, aus der Perspektive der Gegenwart zu verstehen, was sie passiv erlebt und empfunden haben. Mit dieser Methode des das tradierte, herrschende Familiennarrativ individuell hinterfragenden Schreibens werden die auf die Opferschaft reduzierten Familienlegenden in ihren Fixierungen aufgebrochen und einer Korrektur ausgesetzt. In diesem Kapitel wird untersucht, auf welche Weise die beiden Autoren (familien‐)geschichtliche Prozesse gegen den Strich bürsten und wie die beiden Romane dominante Tendenzen der Polarisierung in der deutschen Erinnerungskultur herausfordern.

1.1 Uwe Timm: Am Beispiel meines Bruders In seinem 2003 erschienenen Buch Am Beispiel Meines Bruders unternimmt Uwe Timm nicht nur die Aufarbeitung der Vergangenheit seiner Familie, von der er zum

 Walter Benjamin: Denkbilder. Ausgraben und Erinnern, S. 400.  Vgl. Sigmund Freud: Aus der Geschichte einer infantilen Neurose, in: ders.: Studienausgabe, Bd. 8, hrsg. von Alexander Mitscherlich, Frankfurt a. M. 1975, S. 125 – 234: „Wir wollen über die abkürzende Darstellung des Textes die wirkliche Situation nicht außer Auge lassen, daß der Analysierte im Alter von 25 Jahren Eindrücken und Regungen aus seinem vierten Jahr Worte verleiht, die er damals nicht gefunden hätte. Vernachlässigt man diese Bemerkung, so kann man es leicht komisch und unglaubwürdig finden, daß ein vierjähriges Kind solcher fachlicher Urteile und gelehrter Gedanken fähig sein sollte. Es ist dies einfach ein zweiter Fall von Nachträglichkeit. Das Kind empfängt mit anderthalb Jahren einen Eindruck, auf den es nicht genügend reagieren kann, versteht ihn erst, wird von ihm ergriffen bei der Wiederbelebung des Eindrucks mit vier Jahren, und kann erst zwei Dezennien später mit bewußter Denktätigkeit erfassen, was damals in ihm vorgegangen. Der Analytiker setzt sich dann mit Recht über die drei Zeitphasen hinweg und setzt sein gegenwärtiges Ich in die längst vergangene Situation ein.“ (S. 226, Hervorh. i. O.)

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Zeitpunkt des Schreibens als einziger noch am Leben ist. Timms Familienbuch verhandelt das komplexe Verhältnis von Geschichte und Gedächtnis anhand der eigenen Familiengeschichte, dessen Spannungen sowohl inhaltlich als auch auf formaler Ebene zum Vorschein kommen. Im Mittelpunkt steht sein 16 Jahre älterer Bruder Karl-Heinz, der 1942 mit 18 Jahren freiwillig der Waffen-SS beitrat, unmittelbar darauf an die Ostfront geschickt wurde und an den Folgen einer verwundungsbedingten doppelten Beinamputation im Oktober 1943 starb. Die Geschichte über den Bruder ist in erster Linie eine Geschichte über die phantomartige Existenz des Bruders, die die Familiengeschiche und die Kindheit Timms in der Nachkriegszeit charakterisiert²⁶: Abwesend und doch anwesend hat er mich durch meine Kindheit begleitet, in der Trauer der Mutter, den Zweifeln des Vaters, den Andeutungen zwischen den Eltern. Von ihm wurde erzählt, das waren kleine, immer ähnliche Situationen, die ihn als mutig und anständig auswiesen. Auch wenn nicht von ihm die Rede war, war er doch gegenwärtig, gegenwärtiger als andere Tote, durch Erzählungen, Fotos und in den Vergleichen des Vaters, die mich, den Nachkömmling, einbezogen. (BB, 10, Hervorh. i. O.)

In dieser Passage zeigt sich, dass Timms Familie um das Gedenken an seinen verstorbenen Bruder herum organisiert war und seine Eltern, wie er sie von seiner Kindheit an kannte, immer von diesem Verlust geprägt waren. Die häufigen Hinweise der Eltern auf den älteren Sohn machten den Bruder zu einer identifikatorischen Gegenfigur Uwe Timms, der sich kaum an den Bruder erinnern konnte. Die Position des jüngeren Sohns in der Familie als der, der danach kam, ist im Verhältnis zu seinem älteren Bruder festgelegt. Im kursiv gesetzten Wort ‚Nachkömmling‘ spiegelt sich die Verbitterung des Erzählers wider, dem eine familiäre Mindergewichtigkeit unterstellt wurde. In den Erinnerungen der Eltern war der Bruder „der Junge, der nicht log, der immer aufrecht war, der nicht weinte, der tapfer war, der gehorchte“ (BB, 21). Er wurde vom Vater als ein Nachfolger gesehen, an dessen Beispiel Uwe immer gemessen wurde und in der Regel nicht gut genug war. Das physisch abwesende und psychisch anwesende brüderliche Vorbild bedeutet für ihn Orientierung und Bedrohung seiner Identität zugleich:

 Vgl. Michael Braun: Die Leerstellen der Geschichte. Uwe Timms Am Beispiel meines Bruders, in: Friedhelm Marx (Hrsg.): Erinnern, Vergessen, Erzählen. Beiträge zum Werk Uwe Timms, Göttingen 2007, S. 53 – 68, hier S. 54: „Im Zentrum stehen also Abwesende, denen in Form des Geschichtenerzählens Anwesenheit verliehen wird. Diese Figur der anwesenden Abwesenheit lässt sich auch aus den Quellen der Geschichte und ihrer spezifischen narrativen Anordnung herauskristalisieren.“

1.1 Uwe Timm: Am Beispiel meines Bruders

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Der Karl-Heinz, der große Junge, warum ausgerechnet der. Und dann schwieg [der Vater], und man sah ihm das an, den Verlust und die Überlegung, wen er wohl lieber an dessen Stelle vermißt hätte. (BB, 20) Der Karlmann fehlte. Er fehlte nicht nur als Fachmann, […], sondern als Stütze, der Junge, der nicht nur Sohn war, sondern auch Freund und Kamerad, jemand, der all die eigenen Wünsche verwirklichte und doch voller Achtung, ja Liebe an einem hing – so blieb er, der große Junge, für immer in der Erinnerung des Vaters aufgehoben. (BB, 108, Hervorh. i. O.)

Der Bruder wurde von den Eltern nachträglich zum Vorbild idealisiert, der genau jene an männlichen, soldatischen Tugenden orientierten Erziehungsziele des Vaters verkörperte, die den Konflikt zwischen Uwe und seinem Vater in der Nachkriegszeit auslösten. Die Eltern deuteten durch ihr Verhalten den Bruder vom Täter zum Helden, zum stellvertretenden Opfer um, der „all das erlitten“ und „sich geopfert“ (BB, 109) hatte, so dass dieser derart im Familiengedächtnis fest verankert werden konnte. Dieses Bild von Karl-Heinz als dem Vorbild der deutschen Männlichkeit und dem Opfer des Schicksals entspricht nicht dem Täterbild, das durch das kollektive Gedächtnis deutscher Schuld vermittelt wird. Es war gerade dieses abweichende Familiengedächtnis, das Uwe Timm zur Auseinandersetzung mit dem Leben seines Bruders antrieb.²⁷ Der Titel signalisiert jedoch, dass es sich dabei nicht um die bloße Rekonstruktion des Lebens von Timms Bruder handelt. Dadurch, dass Timm das Werk ‚Am Beispiel meines Bruders‘ nennt, betont er, dass seine hier knapp sechzig Jahre nach Kriegsende erinnerte Familiengeschichte für die zahllosen nicht erinnerten, verdrängten Familienbiografien im Nachkriegsdeutschland steht.Vor dem Hintergrund der zahlreichen sowohl in der familiären als auch in der öffentlichen Kommunikation zirkulierenden Diskurse um die Kriegserfahrungen der Deutschen steht am Beispiel von Karl-Heinz Timm nicht nur die Herausbildung und das Funktionieren des Familiengedächtnisses Uwe Timms zur Debatte, sondern auch das kommunikative Gedächtnis der Deutschen und sein Verhältnis zur offiziellen Geschichtsschreibung.²⁸ Das Beispielhafte von Timms Familiengedächtnis verweist darauf, dass die persönlichen Erlebnisse und die Zeitgeschichte unmittelbar miteinander

 Vgl. Dirk Niefanger: Grenzen der Fiktionalisierung. Zum Verhältnis von Literatur und Geschichte in Uwe Timms Am Beispiel meines Bruders, in: Friedhelm Marx (Hrsg.): Erinnern, Vergessen, Erzählen, S. 37– 52, hier S. 51.  Vgl. Michael Braun: Die Leerstellen der Geschichte, S. 55; Rhys Williams: „Eine ganz gewöhnliche Kindheit“. Am Beispiel meines Bruders, in: Frank Finlay/Ingo Cornils (Hrsg.): (Un‐)erfüllte Wirklichkeit. Neue Studien zu Uwe Timms Werk, Würzburg 2006, S. 173 – 184.

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verschränkt sind und dass es bei dieser autobiografischen Erzählung um die Anreicherung des kulturellen Gedächtnisses durch individuelle Erfahrungen geht.²⁹

1.1.1 Unverarbeitete Vergangenheit der Familie Timms Auseinandersetzung mit der Familiengeschichte kann jedoch nur auf der Grundlage der historischen Distanz erfolgen.³⁰ Mehrmals habe er den Versuch gemacht, über den Bruder zu schreiben, jedes Mal habe er die Arbeit wieder abbrechen müssen. Solange Mutter und Schwester lebten, ließ sich nicht darüber schreiben, weil man Tote ruhen lassen soll. Der Erzähler schreckte auch vor dem „Un-heimlichen“³¹ der Familie zurück, das in der bitteren Wahrheit liegen könnte, dass sein verstorbener Bruder vielleicht „an der Erschießung von Zivilisten, von Juden, von Geiseln beteiligt war“ (BB, 102) und dass sich seine Familiengeschichte tatsächlich als Tätergeschichte erweist. Erst als alle anderen Familienmitglieder gestorben sind, muss er auf „nichts, auf niemanden Rücksichten nehmen“ (BB, 12) und fasst Mut, sich mit der ihm vorliegenden Hinterlassenschaft des Bruders zu beschäftigen, die – bestehend aus einigen Feldpostbriefen, Fotos und Kriegstagebuch – in einer Pappschachtel über fünfzig Jahre lang sorgfältig von der Mutter aufbewahrt worden war. Diese langjährige Zurückhaltung, die Schwelle in eine möglicherweise grauenhafte Familienvergangenheit zu überschreiten, begründet er mit dem „ängstliche[n] Zurückweichen“ (BB, 11), mit dem er als Kind auf die Schlußszene des Märchens vom Ritter Blaubart reagiert hat. Die Gattin des Ritters dringt gegen dessen Verbot ins nicht zu betretende Zimmer ein und muss entsetzensvoll den Blut- und Leichengeruch erblicken: Die Mutter las mir abends die Märchen der Gebrüder Grimm vor, viele mehrmals, auch das Märchen von Blaubart, doch nur bei diesem mochte ich den Schluß nie hören. So unheimlich war es, wenn Blaubarts Frau nach dessen Abreise, trotz des Verbots, in das verschlossene Zimmer eindringen will. An der Stelle bat ich die Mutter, nicht weiterzulesen. Erst Jahre später, ich war schon erwachsen, habe ich das Märchen zu Ende gelesen. (BB, 11)

 Vgl. Matteo Galli: Kommunikatives Gedächtnis bei Uwe Timm, in: Frank Finlay/Ingo Cornils (Hrsg.): (Un‐)erfüllte Wirklichkeit, S. 162– 172. Matteo Galli begreift Uwe Timms Erzählen, bei dem Mündlichkeit eine vordergründige Rolle spielt, als Rettung des kommunikativen Gedächtnisses, im Sinne einer Überlieferung ins kulturelle Gedächtnis.  Vgl. Gerrit Bartels: „Ich wollte das in aller Härte“. Interview, in: Die Tageszeitung, 13.09. 2003: „Zu so einem Buch gehört ein langer emotionaler Vorgang, eine gewisse Erfahrung“ schreibt Timm. Online unter https://taz.de/Ich-wollte-das-in-aller-Haerte/!711103/, zuletzt abgerufen am 02.11. 2022.  Uwe Timm: Von Anfang und Ende. Über die Lesbarkeit der Welt, München 2011, S. 73.

1.1 Uwe Timm: Am Beispiel meines Bruders

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Diese Szene vermittelt einerseits ein latentes Zweifeln des Erzählers, dass sich hinter dem präsentierten Bild seiner intakten Familie ein anderes, viel dunkleres verberge. Andererseits weist sie sein anhaltendes Bedürfnis nach Sich-GewissheitVerschaffen-Wollen auf, welches durch die Spuren der empfundenen Verlogenheit und doppelten Botschaft entstanden ist. Der erschreckende Inhalt des verbotenen Zimmers deutet auf die verdrängte Verstrickung seiner eigenen Familie in Unrecht und Gewalt hin. Das Märchen vom Ritter Blaubart, der seine Ehefrauen willkürlich ermordet hat, wird zur „Chiffre für die deutschen Verbrechen und deren Verdrängung“³² und weist damit auf die Verflechtung von Familiengeheimnis und nationaler Geschichte hin. Wie sich das Kind davor fürchtet, das Märchen weiter zu hören, so traut sich später der erwachsene Erzähler nicht, das Tagebuch seines Bruders zu Ende zu lesen und über die Wahrheit des Bruders zu erfahren. Der Verzicht auf die Lektüre des Tagebuches wäre aber gleichbedeutend damit, einen Teil der eigenen Familiengeschichte zu verkennen. Diese Vorstellung einer versuchten Verschiebung des Tabubruchs steht in unmittelbarem Zusammenhang mit den Traumberichten des Erzählers. Insbesondere die Erscheinung des verstorbenen Bruders in Träumen des Erzählers deutet darauf hin, dass es sich um einen nicht verarbeiteten Aspekt in der Vergangenheit der Familie und seinem eigenen Leben handelt. Die phantomartige Existenz des Bruders im Familiengedächtnis entwickelt sich zu einer unheimlichen Präsenz in den Träumen des Erzählers. Wenn er von seinem Bruder träumt, erscheint dieser schattenhaft als eine gesichtslose Gestalt, die versucht, die Haustür zu öffnen. Hier geht es auch um einen verschlossenen Raum. Im Traum kämpft der Erzähler, um seinen Bruder vom Eintreten abzuhalten: Jemand will in die Wohnung eindringen. Eine Gestalt steht draußen, dunkel, verdreckt, verschlammt. Ich will die Tür zudrücken. Die Gestalt, die kein Gesicht hat, versucht, sich hineinzuzwängen. Mit aller Kraft stemme ich mich gegen die Tür, dränge diesen gesichtslosen Mann, von dem ich aber bestimmt weiß, daß es der Bruder ist, zurück. Endlich kann ich die Tür ins Schloß drücken und verriegeln. Halte aber zu meinem Entsetzen eine rauhe, zerfetzte Jacke in den Händen. (BB, 12)

Die von den Eltern geehrte Erinnerung an den Bruder stellt für den Nachgeborenen vielmehr eine bedrohlich-beängstigende Heimsuchung dar. Die Angst, auf die die unheimliche Erscheinung des Bruders im Traum hindeutet, kann in erster Linie als Angst eines Kindes verstanden werden, dem Vorbild des Bruders nicht gerecht zu

 Yvonne Pietsch: Auf der Suche nach der verlorenen Familie. Uwe Timms Am Beispiel meines Bruders, in: Thomas Martinec/Claudia Nitschke (Hrsg.): Familie und Identität in der deutschen Literatur, Frankfurt a. M. 2009, S. 259 – 273, hier S. 262.

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werden und seinen Platz in der Familie durch die Rückkehr des Bruders zu verlieren. Dem Träumenden geht es ganz existenziell darum, seine eigene Identität gegen den Schatten des vorbildlichen Bruders zu behaupten. Hier zeigt sich einerseits, dass der Erzähler in seiner Kindheit vom Verlusttrauma der Eltern geprägt ist.³³ In diesem Zusammenhang weist Micha Brumlik darauf hin, dass Timms Familienbuch eine „sich nur allmählich lösende[] Traumatisierung der Generation der um 1940 geborenen Deutschen“³⁴ thematisiere, die den Zweiten Weltkrieg im frühkindlichen Alter erlebt habe: „Sie leiden an einem Alp, weil sie keine realen Erfahrungen machen können. Das Unheimliche sucht sie heim.“³⁵ Der Versuch des Träumenden, den Bruder zu fernzuhalten, weist auf die für traumatische Erlebnisse typische „Verarbeitungsform der Abspaltung, Ausgrenzung der vom Ich nicht beherrschbaren existenziellen Bedrohung“³⁶ hin. Andererseits aber ist es letztlich das Geschichtswissen des Erzählers, das zum Verdrängen der Erinnerung an den Bruder führt – der Bruder stellt nicht nur eine psychologische Bedrohung für den Platz des jüngeren Sohnes in der Familie dar, sondern erinnert auch an die NS-Vergangenheit der Familie. Auf der Bewusstseinsebene sind es das Wissen des erwachsenen Erzählers um die Verbrechen des NS-Regimes und die daraus folgende moralische Entscheidung, die den gefallenen Bruder vor der Tür stehen und somit als anonyme Figur in Vergessenheit geraten lassen.³⁷ An dieser Stelle lässt sich ablesen, dass das Leben des Erzählers als eines Kriegskindes durch den unauflösbaren Konflikt zwischen der Familienerzählung von Leiden, Opfer und Überleben und dem historischen Zivilisationsbruch durch den Holocaust geprägt wurde. Die wie der Körper des Bruders „zerfetzte Jacke“, die der Träumende trotz der gewaltsamen  Vgl. Ilka Quindeau/Katrin Einert: „Die Jugend dient dem Führer“. Trauma im Alter durch Krieg und NS-Erziehung, in: Sozialmagazin 38 (2013) H. 5 – 6, S. 57– 65, hier S. 58: „Wie wir mit unserer Studie zeigen werden, waren es eben nicht nur die Bombennächte, die Erfahrung von Flucht und Vertreibung, die belastende bis traumatisierende Auswirkungen zeitigten, sondern wesentlich die Beziehungserfahrungen der damaligen Kinder mit den eigenen Eltern.“ Vgl. auch Jürgen Reulecke: Nachkriegsgenerationen und ihre Verarbeitung des Zweiten Weltkrieges – Einige exemplarische Beispiele, in: Waltraud Wende (Hrsg.): Krieg und Gedächtnis. Ein Ausnahmezustand im Spannungsfeld kultureller Sinnkonstruktionen,Würzburg 2005, S. 79: „Im Grunde handelt es sich also bei fast all diesen seit den neunziger Jahren sprunghaft zunehmenden biographischen Deutungsversuchen um das Bestreben von heute 60- bis 70-Jährigen, mit dem ihnen von ihrer Elterngeneration aufgeladenen, ihnen ‚zugemuteten‘ und jetzt erst in seinem vollen Gewicht spürbaren Erbe umzugehen.“  Micha Brumlik: Wer Sturm sät. Die Vertreibung der Deutschen, Berlin 2005, S. 156.  Ebd., S. 162.  Gerhard Friedrich: Erdachte Nähe und wirkliche Ferne. Fiktion und Dokument im neuen deutschen Familienroman, in: Simone Costagli/Matteo Galli (Hrsg.): Deutsche Familienromane, S. 169 – 189, hier S. 172.  Vgl. ebd.

1.1 Uwe Timm: Am Beispiel meines Bruders

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Abwehr als Existenzbeweis des Bruders in seinen Händen findet, deutet auf das schreckliche Erbe der NS-Gewaltherrschaft hin, d. h., die Jacke des Bruders stellt die Unmöglichkeit dar, das Grauen aus dem Gedächtnis zu bannen. An anderen Stellen des Textes unterstreicht der Erzähler, dass die familiäre Vergangenheit aufgrund der Familienzugehörigkeit tatsächlich in ihm fortbestehen kann. Sein eigener Vorname, Uwe Hans Heinz beinhaltet einen Teil des Namens seines Bruders Karl-Heinz, der auf „dringliche[n] Wunsch des Bruders“ gegeben wurde, „wenigstens mit dem Namen weiterzuleben, im anderen […]“ (BB, 21), was dem Erzähler immer dann bewusst wird, wenn er „an Grenzen“ kommt und seinen vollen Vornamen „in die vorgeschriebenen Kästchen“ (BB, 21) eintragen muss. Dies zeigt seine anhaltende Angst davor, dass in ihm selbst die im Nationalsozialismus propagierten Werten schlummern können. Der Bruder als vermeintlicher Nazi, an den man sich nicht gerne erinnert, personifiziert das Grauen der Geschichte und verweist auf die individuelle wie kollektive Verdrängung, die das Unterbewusstsein des Erzählers weiter verfolgt und in Opposition zum Wunsch, sich dem Bruder schreibend anzunähern, steht. Dass sich die Konfrontation mit der Biografie des Bruders schließlich gegen die Verdrängung durchsetzt, lässt sich auf die Einsicht des Erzählers zurückführen, dass seine eigene Identität untrennbar mit der des Bruders verbunden ist. Das heißt, der Antrieb, sich ein Bild von dem Bruder zu machen, erwächst bei ihm aus dem Bedürfnis, über die Bestandteile seiner eigenen Identität Klarheit zu gewinnen. Die Notwendigkeit, das aufzuarbeiten, was sein zu früh gestorbener Bruder verpasst hat und seine Eltern versäumt bzw. hartnäckig abgewehrt haben, gibt den letzten Anstoß. Dabei geht es ihm ganz prinzipiell darum, Ansätze zu einer Gegensprache gegen die herrschende Sprache des Verdrängens, die im widerspruchslosen Einklang mit der Gesellschaft steht, zu finden: Ich hingegen hatte eigene Worte führen können. Widerworte, das Fragen und Nachfragen. Und Worte, mit denen sich Traurigsein und Angst ausdrücken ließen – im Erzählen. Der Junge träumt und tünt. Tünen hieß lügen, flunkern. Das plattdeutsche Wort kommt, und trifft es recht gut, von flechten. Tatsächlich war es für den Jungen ein Zusammenflechten von Gehörtem und Gesehenem, um sich selbst und den Dingen eine ganz eigene Bedeutung zu geben. (BB, 59, Hervorh. i. O.)

Der Erzähler begreift seinen Akt der Narration durch ein Zusammenflechten von Gehörtem und Gesehenem als Reflexionsarbeit, die auf das Totschweigen und jede dogmatische Bedeutungserstarrung der Elterngeneration reagiert. Folglich werden die überlieferten Familiengedächtnisse immer wieder aufgebrochen und auf ihre zweifelhafte Authentizität hin hinterfragt, indem andere kulturelle Gedächtnisse in diesen Prozess mit einbezogen werden. Was solchen Erzählvorgang überhaupt erst realisierbar macht, wird vom Autor selbst einmal als eine „narrative Monta-

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1 Deutscher Opferdiskurs

getechnik“ bezeichnet: Eine Methode, die „die Reflexion auf Geschichte und Gesellschaft, das Zitieren verschiedener Sprechweisen“ wie auch „dokumentarische Zitate“ umfasst.³⁸ Die sich daraus ergebende Mehrstimmigkeit bietet dem Erzähler eine adäquate Möglichkeit, das Verschüttete und Verdrängte des Familiengedächtnisses freizusezten und zugleich eine „brüchige Distanz“ in den Text hineinzutragen, die er selbst „zu seiner Herkunft und seiner Familie reflektierend einnimmt“³⁹. Die Erzählung verfolgt bewusst eine Konzeption, in der „das Erzählen nicht auf Chronologie, sondern auf Bedeutung ausrichtet“⁴⁰. Entsprechend herrschen ein Modus des Konjunktivs und ein „Gestus des Fragmentarischen, Fragenden und Suchenden“⁴¹ vor. Durch die Vielfalt an heterogenen Quellen werden die Dimensionen des Geschichtsdiskurses über den Nationalsozialismus und den Zweiten Weltkrieg beleuchtet. Die komplexe Erzählsituation spiegelt die Selbstreflexion des Erzählers wider, die durch das beredte Schweigen entstandenen Erinnerungslücken sowohl auf öffentlicher als auch auf privater Ebene sichtbar zu machen. Unter Einbeziehung eigener bzw. fremder Erinnerungen und weiterer Nachforschungen gerät die Erzählung schließlich zu einer „Erkundungsreise in das eigene Bewusstsein, in die Kindheit und Jugend, in die familiäre Welt mit ihren durch den Vater bestimmten Normen, Pflicht, Gehorsam, Fleiß, Tapferkeit“⁴².

1.1.2 Zur Normalität von Schuld am Beispiel der Familienmitglieder 1.1.2.1 Unschuldig schuldig? Die Wahrheit über den Bruder Die Erzählung setzt mit der bildhaften Erinnerung ein, die der Erzähler an seinen Bruder in Uniform hat. Diese frühkindliche Erinnerung hat eine Schlüsselfunktion, da sie die erste bewusste Erinnerung des Erzählers, die mit dem Wissen vom ei-

 Uwe Timm: Von Anfang und Ende, S. 80. Vgl. auch zur Montagetechnik Uwe Timms Clemens Kammler: Uwe Timm. Am Beispiel meines Bruders, München [u. a.] 2006, S. 26 – 28.  Ebd.  Ulrich Greiner: Zum 70. Geburtstag.Warum Uwe Timm „Schwaan“ mit zwei a schrieb, in: Die Zeit, 05.03. 2010: „Aber von Anfang an war mir klar, dass ich nicht der Chronologie folgen konnte. Man erinnert sich ja nicht linear.“ Online unter https://www.zeit.de/2010/13/Portraet-Uwe-Timm, zuletzt abgerufen am 02.11. 2022.  Reinhard Wilczek: Das Motiv des verlorenen Bruders bei Hans-Ulrich Treichel und Uwe Timm, in: Frank Finlay/Ingo Cornils (Hrsg.): (Un‐)erfüllte Wirklichkeit, S. 185 – 197, hier S. 190. Vgl. auch Matthias Fiedler: Das Schweigen der Männer. Geschichte als Familiengeschichte in autobiographischen Texten von Dagmar Leupold, Stephan Wackwitz und Uwe Timm, in: Weimarer Beiträge 53 (2007) H. 1, S. 5 – 16.  Uwe Timm: Von Anfang und Ende, S. 76.

1.1 Uwe Timm: Am Beispiel meines Bruders

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genen Ich und somit dem individuellen Geschichtsbewusstsein zusammenfällt⁴³, und auch gleichzeitig seine einzige authentische Erinnerung an den Bruder ist, dessen vorherrschende Empfindung Freude ist: Erhoben werden – Lachen, Jubel, eine unbändige Freude – diese Empfindung begleitet die Erinnerung an ein Erlebnis, ein Bild, das erste, das sich mir eingeprägt hat, mit ihm beginnt für mich das Wissen von mir selbst, das Gedächtnis: Ich komme aus dem Garten in die Küche, wo die Erwachsenen stehen, meine Mutter, mein Vater, meine Schwester. Sie stehen da und sehen mich an. […] Dort, das hat sich als Bild mir genau eingeprägt, über dem Schrank, sind Haare zu sehen, blonde Haare. Dahinter hat sich jemand versteckt – und dann kommt er hervor, der Bruder, und hebt mich hoch. An sein Gesicht kann ich mich nicht erinnern, auch nicht an das, was er trug, wahrscheinlich Uniform, aber ganz deutlich ist diese Situation: Wie mich alle ansehen, wie ich das blonde Haar hinter dem Schrank entdecke, und dann dieses Gefühl, ich werde hochgehoben – ich schwebe. (BB, 9)

Dieses durch einen Körperkontakt stark emotional aufgeladene Erinnerungsbild, das ein Versteckspiel zwischen dem Kleinkind und seinem älteren Bruder darstellt, bildet das einzig sichere Fundament der nun folgenden Annäherung an den gefallenen Bruder Karl-Heinz. Diese für das autobiografische Gedächtnis des Erzählers als ursprünglich konzeptualisierte Erfahrungsepisode verbindet das Bewusstwerden des Identitätsgefühls des Erzählers mit der Person des Bruders und verleiht der in Gang gesetzten Nachforschung einen erlebten und emotional involvierten Charakter. Gleichzeitig macht diese Episode auf die Lückenhaftigkeit des autobiografischen Gedächtnisses aufmerksam. Der Jüngere kann sich nicht an das Gesicht des älteren Bruders unter dem blonden Haarschopf erinnern. Der Bruder ist versteckt und muss gefunden werden. Damit wird signalisiert, dass die Aufgabe der schreibenden Annäherung an den Bruder darin besteht, diese Erinnerungslücken zu füllen: Hat der Bruder den Erzähler in die Welt des individuellen Bewusstseins emporgehoben, so muss dieser jenen in die Welt des Narrativs erheben. Die Momentaufnahme des Zusammenseins bleibt jedoch isoliert. Die Gefühle von Freude und Heiterkeit, die die einzige Erinnerung des Erzählers an den Bruder prägen, werden kurz darauf relativiert, indem die erste Erinnerung des Erzählers mit einem Brief des Bruders konfrontiert wird, in dem Karl-Heinz dem Vater seine schwere Verwundung wie etwas Alltägliches mitteilt. Selbst da, verstümmelt und unter Morphium stehend, beteuert der Achtzehnjährige, „er sei nicht waghalsig gewesen“ (BB, S. 57). Dem Brief schließt sich die lapidare bürokratische Mitteilung vom Tod des Bruders am 16.10.1943 im Feldrazarett an. Ein nüchterner Berichtstil steht in

 Vgl. John Kotre: Weiße Handschuhe. Wie das Gedächtnis Lebensgeschichten schreibt, München/ Wien 1996, S. 131 und 211.

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scharfem Kontrast zu der von Gefühl und Emphase überwältigten Erinnerungsszene. Die ersten Seiten stehen paradigmatisch für das Erzählverfahren. Sie deuten darauf hin, dass sich der Erzähler im Laufe seiner Rekonstruktion der Familiengeschichte mit dem Problem eines kollektiven Gedächtnisses konfrontieren wird. Die (Familien‐)Geschichte am Beispiel des Bruders zu erzählen heißt, eine Ko-Repräsentation von individuellem, kommunikativem und kollektivem Gedächtnis zu entdecken. Die Bewegungsfreiheit durch ein Emporgehoben-werden signalisiert, dass der Erzähler dabei in eine Position des Über- und Rückblicks versetzt wird.⁴⁴ Den Bruder in der Wechselbeziehung von ‚history‘ und ‚story‘ zu entdecken bedeutet für den Erzähler somit die Bewegung durch nachträglichen Perspektivenwechsel, d. h. die Tätigkeit des Rückwärts-Lesens von Geschichte und Geschichten, um nach einer Gegenerzählung gegen das zugängliche, immer schon vorstruktierte Material zu suchen. Zum kritischen Hinterfragen als Voraussetzung für eine neue Perspektive gehört eben das von den Eltern mit dem Aufrichtigkeitsstereotype verewigte Bild des Bruders. Das kindliche Glücksgefühl des Schwebens in der Anfangspassage deutet jedoch darauf hin, dass die kritisch-narrative Rekonstruktion seines Vorwissens mit einem Gefühl der „Nähe und Liebe“⁴⁵ einhergehen und der Erzähler „subjektiv in seiner kritischen und um Objektivität bemühten Annäherung“⁴⁶ bleiben wird. Der Erzähler stellt entsprechend Fragen nach den Gedanken und Empfindungen, den Wünschen und Träumen, Schmerzen und Ängsten des Bruders: „Wie sah der Bruder sich selbst? Welche Empfindungen hatte er?“ (BB, 91) Da er allerdings keine gemeinsamen Erfahrungen mit dem Bruder teilt und nur eine einzige Erinnerung an ihn hat, kann er Antworten nur auf Basis externer Quellen oder Berichte von Dritten finden. Das bedeutet, dass die eigenen Gefühle, Wahrnehmungen und subjektiven Erinnerungen im Verlauf der Rekonstruktion durch die fremden vermittelten Erinnerungen und das recherchierte Faktenmaterial ergänzt werden sollten. 1.1.2.1.1 Den mündlichen Festlegungen nachgehen Das Bild, das der Erzähler als Kind und Jugendlicher von seinem verstorbenen Bruder gewinnt, wird hauptsächlich durch die Erzählungen der Eltern und der Schwester geprägt. Die Erinnerungen der Eltern an ihren verstorbenen Sohn weisen

 Vgl. Martin Hielscher: Uwe Timm, S. 173.  Vgl. Martin Hielscher: NS-Geschichte als Familiengeschichte. Am Beispiel meines Bruders von Uwe Timm, in: Friedhelm Marx (Hrsg.): Erinnern, Vergessen, Erzählen, S. 91– 102, hier S. 99.  Reinhard Wilczek: Das Motiv des verlorenen Bruders bie Hans-Ulrich Treichel und Uwe Timm, S. 194.

1.1 Uwe Timm: Am Beispiel meines Bruders

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zwar eine gewisse Schnittmenge, zugleich aber Widersprüchlichkeiten auf. So stehen die Erinnerungen der Mutter an ein ängstliches, verträumtes und kränkliches Kind, das unter „Blutarmut und Herzflimmern“ litt und „hin und wieder in der Wohnung verschwand“ (BB, 15), offenbar im Widerspruch zum vom Vater tradierten Bild des idealisierten Kriegshelden, in dem die Tapferkeit im Vordergrund steht: „Er log nicht. Er war anständig. Und vor allem, er war tapfer, sagte der Vater, schon als Kind. Der tapfere Junge.“ (BB, 16, Hervorh. i. O.) Auch die Behauptung der Mutter, dass der Bruder den Dienst in der Hitlerjugend nicht mochte und dort mehrfach schickaniert wurde, scheint nicht ins Bild des „tapfere[n], brave[n] Junge[n]“ (BB, 57) zu passen. Aus den Informationen über Kindheit und Jugend seines Bruders, die dem Erzähler zur Verfügung stehen, lässt sich jedenfalls keine schlüssige Antwort auf die Frage ergeben, warum der Bruder, der als Kind „nie mit Soldaten spielen“ (BB, 22) mochte, sich freiwillig zur Waffen-SS meldete. Die Familienanekdoten, deren Authentizitätsgehalt der Erzähler anzweifelt, enthüllen mehr die „wünschgelenkte[n] Mutmaßungen“ (BB, 79) ihres jeweiligen Erzählers.⁴⁷ Darüber hinaus spiegeln sie implizit eine allgemeine innere Einstellung der Deutschen über die NSVergangenheit als den Gegenstand der Erzählung nach Kriegsende wider, wie die familiäre Erzählung über den ersten erfolglosen Versuch des Bruders, sich zur Waffen-SS zu melden, zeigt: Die Straßen waren verschneit. Es gab keine Wegweiser, und er hatte sich in der einbrechenden Dunkelheit verlaufen, […] Der Bruder will schon umkehren, als er einen Mann entdeckt. Eine dunkle Gestalt, die am Rand der Straße steht und über das verschneite Feld in Richtung des Mondes blickt. […] Und als mein Bruder nochmals nach dem Weg zu der Kaserne fragt, sagt der Mann, er solle ihm folgen, […] Mein Bruder fragt nach einiger Zeit, ob sie denn auf dem richtigen Weg seien. Der Mann bleibt stehen, dreht sich um und sagt: Ja. Wir gehen zum Mond, da, der Mond lacht, er lacht, weil die Toten so steif liegen. Nachts, als er nach Hause kam, erzählte mein Bruder, wie ihn einen Moment gegraust habe, und daß er später, […], zwei Polizisten getroffen habe, die einen Irren suchten, der aus den Alsterdorfer Anstalten entlaufen war. […] So wurde er Panzerpionier in der SS-Totenkopf-division. 18 Jahre war er alt. (BB, 13 – 15, Hervorh. i. O.)

Diese von der Mutter wiederholt erzählte Episode wirkt fast parabelhaft und trägt den Charakter des Unheimlichen und Bedrohlichen. Die Mutter beschreibt den Eintritt des Bruders in die Waffen-SS, als ob das, was später passiert ist, hätte abgewendet werden können, wobei der Bruder von einem Irren in die völlig falsche  Vgl. Andrea Albrecht: Thick description. Zur literarischen Reflexion historiographischen Erinnerns „am Beispiel Uwe Timms“, in: Friedhelm Marx (Hrsg.): Erinnern, Vergessen, Erzählen, S. 69 – 90, hier S. 80: „Das Bild, das die Eltern vom Bruder bewahrt haben, entpuppt sich so als eine Projektionsfläche, auf der sich nicht das Leben und Erleben des Bruders, sondern vielmehr das Leben und Erleben der Eltern abbilden.“

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Richtung geführt wurde. Diese Familienerzählung wird von der Mutter nach einem narrativen kausal-temporalen Organisationsprizip auf einen „werthaltigen Endpunkt“⁴⁸ hin strukturiert, so dass sie von Beginn an das tragische Schicksal des Bruders und somit die darauf folgende Familienkatastrophe zu antizipieren scheint. So wird hier mit den Motiven von „dunkle[r] Gestalt“, „Wegweiser“ und „Irren“ in der Beschreibung der Figur eines mysteriösen Mannes auf die ‚Dämonisierungsthese‘ des Abstiegs der Deutschen in die Hölle unter Hitlers böser (Ver‐)Führung angespielt, die in der unmittelbaren Nachkriegszeit ein weit verbreitetes Deutungsmuster war und die es den Deutschen ermöglichte, sich als Opfer des NS-Regimes zu positionieren.⁴⁹ Laut der Mutter meldete sich Karl-Heinz „aus Idealismus“ zur SS: „Er wollte nicht zurückstecken. Sich nicht drücken“ (BB, 19, Hervorh. i. O.). Die Mutter zieht wie der Vater eine klare Trennungslinie zwischen dem gefallenen Sohn und den eigentlichen Tätern, indem sie sagt, der Idealismus des Jungen wurde von den „Verbrecher[n]“, dem „SD“, den „Einsatzgruppen“ und vor allem der „Führung“ „missbraucht“ (BB, 22, Hervorh. i. O.). Der Bruder habe bei der normalen Kampftruppe gedient. Die Tatsache, dass Karl-Heinz als Mitglied der Waffen-SS in ein Konzentrationslager hätte verlegt werden können und dass die Waffen-SS daher nicht die normale Kampftruppe war, scheint der Familie einfach nicht in den Sinn zu kommen. So beschränkt sich der Wunsch der Mutter nach der alternativen Laufbahn ihres älteren Sohnes lediglich darauf, dass er sich einer Abteilung des Militärs angeschlossen hätte, die weniger wahrscheinlich an der Ostfront eingesetzt ist. Die völlige Distanzierung der Eltern von den ‚vermeintlich eigentlichen‘ Tätern, die mit der Externalisierung des Bösen einhergeht, erlaubt ihnen die Abkapselung der schuldhaften Taten des eigenen Sohnes. Das Familienkonstrukt des Bruders ist also ein einfacher Soldat und passives Opfer der „Mistbande“ (BB, 22) des Nationalsozialismus, ohne dass man sich Gedanken über die moralischen Auswirkungen der fatalen Entscheidung des Bruders macht. Darüber, inwieweit die Familienerziehung diese Entscheidung indirekt gefördert hätte, oder über die Opfer seiner Handlungen an der russischen Front wird in der Familie nicht reflektiert. Dies bestätigt Welzers Studie Opa war kein Nazi, die zeigt, wie die Haupttrope in der

 Harald Welzer: Das kommunikative Gedächtnis, S. 186.  Vgl. Hannes Heer: „Hitler war’s!“. Schon der Titel des Buches weist auf die Externalisierung als Deutungsmuster der NS-Vergangenheit hin. Die radikalste Variante der Externalisierung, so Heer, ist die klare Grenzziehung zwischen dem schuldigen Hitler und dem unschuldigen Volk der Deutschen, das von diesem verführt, belogen und betrogen wurde und somit ihm zum Opfer fiel.Vgl. dazu auch Devin Pendas: Der Auschwitz-Prozess. Völkermord vor Gericht, Berlin 2013, S. 281. Hinsichtlich des Frankfurter Auschwitz-Prozesses 1963 – 1965 stellt Devin Pendas fest, dass die Angeklagten meist „geradezu formelhaft als ‚Ungeheur‘, ‚Dämonen‘, ‚Teufel‘, ‚Bestien‘ oder ‚Barbaren‘“ bezeichnet und als „Verkörperung des reinen, metaphysischen Bösen“ wahrgenommen wurden.

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deutschen Familiengedächtnisbildung, die oft auf vagen Fakten basiert, eine der Opferrolle ist, die nicht zuletzt aus der mangelnden Bereitschaft resultiert, einen nahen Verwandten als Täter zu betrachten. Die „fadenscheinige Rhetorik der Mythen des Familiengedächtnisses“⁵⁰ wird allerdings von dem Erzähler unterbrochen. Er merkt an, dass der Bruder die gleiche Uniform und das gleiche Totenkopfzeichen trug wie die KZ-Wachmannschaft. So wird nicht nur das von den Eltern vermittelte Bild des Bruders als eines unschuldigen Opfers als unzuverlässige Erinnerung entlarvt, sondern auch die Unverbesserlichkeit der Reflexionsfähigkeit der Eltern angesichts der nach dem Krieg belegten historischen Fakten mit sachlich-nüchternen Kommentaren markiert: „Inzwischen, nach Kriegsende, nachdem die grauenvollen Bilder, die bei der Befreiung des KZ gemachten Filme, gezeigt worden waren, wußte man, was passiert war.“ (BB, 21 f.) An all den Schilderungen der Eltern über den Bruder wird deutlich, dass die private Erinnerung der Familie genauso retuschiert ist wie „die Zeichnung eines Löwen“ (BB, 64) im Tagebuch des Bruders, die ursprünglich vom Bruder stammt, aber angeblich vom Vater später mehrmals verschönert wurde. 1.1.2.1.2 Der festgeschriebenen Erinnerung nachgehen Angesichts der starken Tendenz zu den Verzerrungen von „wörtliche[n] Festlegungen“ (BB, 17) der Eltern werden das Tagebuch und die Feldpostbriefe für den Erzähler zum Schlüssel der Auseinandersetzung mit dem Bruder. Er schreibt ihnen ein höheres Maß an Authentizität als den mündlich tradierten Berichten der anderen Familienmitglieder zu, da sie festgeschriebene, nicht umzuschreibende, Zeugnis ablegende Dokumente sind, die auf ihren ursprünglichen Kontext verweisen: „Er selbst, sein Leben, spricht nur aus den wenigen erhaltenen Briefen und aus dem Tagebuch. Das ist die festgeschriebene Erinnerung.“ (BB, 35, Hervorh. i. O.) Sie werden als Zitate mit allen stilistischen und orthographischen Eigenheiten in den Text einmontiert. Die Tagebucheintragungen können sich jedoch nicht zu einer nahtlosen Erzählung zusammenfügen, da sie oft fragmentarisch und voller Leerstellen sind. Der Erzähler ist bestrebt, das kryptische Tagebuch des Bruders zu entziffern. Ihn beschäftigen die beängstigenden Fragen, ob der Bruder „bei sogenannten Säuberungen eingesetzt worden [sei]. Gegen Partisanen, Zivilisten, gegen Juden?“ (BB, 36), warum der Bruder sich freiwillig zur Waffen-SS gemeldet hat und inwiefern die Eltern ihn bei dieser fatalen Entscheidung unterstützt haben. Ins Auge gesprungen ist ihm bei der Lektüre des Tagebuches die angsteinflößende Eintragung. Sie führt die Brutalität des Kriegsalltags konkret und ohne Verharmlosung vor Augen:  Michael Braun: Die Leerstellen der Geschichte, S. 60.

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März 21. Donez Brückenkopf über den Donez. 75 m raucht Iwan Zigaretten, ein Fressen für mein MG. Das war die Stelle, bei der ich, stieß ich früher darauf – sie sprang mir oben links auf der Seite regelrecht ins Auge –, nicht weiterlas, sondern das Heft wegschloß. Und erst mit dem Entschluß, über den Bruder, als auch über mich, zu schreiben, das Erinnern zuzulassen, war ich befreit, dem dort Festgeschriebenen nachzugehen. (BB, 19, Hervorh. i. O.)

Hier wird die im normalen Kriegsalltag begangene Tötung eines anderen Menschen unbekümmert, fast beiläufig eingetragen. Diese Tagebuchstelle hat für den Erzähler eine besondere Bedeutung. Sie wird im Laufe der Erinnerung immer wieder hervorgebracht und stellt eine Art thematisch wiederholtes Leitmotiv des Textes dar. Diese Schlüsselstelle des Tagebuches steht für den Verdacht, dass der Bruder an Erschießungskommandos der Wehrmacht beteiligt gewesen sein könnte. Als Beweis einer gleichgültigen Tötungsfähigkeit des Bruders steht sie somit auch für die Distanz zwischen den beiden Brüdern. Anstelle einer möglichen oberflächlichen Schuldzuweisung gegenüber der soldatischen Grausamkeit des Bruders überschreitet der Erzähler „die festgeschriebene Erinnerung“ (BB, 33, Hervorh. i. O.) und vergegenwärtigt imaginativ eine sich auf der Schneidelinie zwischen Leben und Tod abspielende Situation: Ein Fressen für mein MG: ein russischer Soldat, vielleicht in seinem Alter. Ein junger Mann, der sich eben die Zigarette angezündet hatte – der erste Zug, das Ausatmen, dieses Genießen des Rauchs, der von der brennenden Zigarette aufsteigt, vor dem nächsten Zug. An was wird er gedacht haben? An die Ablösung, die bald kommen mußte? An den Tee, etwas Brot, an die Freundin, die Mutter, den Vater? Ein sich zerfaserndes Rauchwölkchen in dieser von Feuchtigkeit getränkten Landschaft, Schneereste, Schmelzwasser hatte sich im Schützengraben gesammelt, das zarte Grün an den Weiden. An was wird er gedacht haben, der Russe, der Iwan, in dem Moment? Ein Fressen für mein MG. (BB, 19, Hervorh. i. O.)

Die fingierte ästhetische Perspektive auf die geschichtliche Situation geht fast in eine Art erlebte Rede des unbekannten, kurz vor dem Tod stehenden russischen Soldaten über. Nach Wolfgang Iser werden durch den Akt des Fingierens den Rezipienten die Möglichkeiten einer vielfältigen „Pragmatisierung des Imaginären“ zur Verfügung gestellt.⁵¹ Der Erzähler thematisiert hier imaginativ das Alltägliche,

 Vgl. Wolfgang Iser: Das Fiktive und das Imaginäre. Perspektiven literarischer Anthropologie, Frankfurt a. M. 1991, S. 48. Vgl. dazu auch Bernadette Malinowski: Theorien des Imaginären. Fragmente einer Geschichte der Einbildungskraft, in: Hans Vilmar Geppert/Hubert Zapf (Hrsg.): Theorien der Literatur. Grundlagen und Perspektiven, Bd. 1, Tübingen 2003, S. 51– 88, hier S. 82: „Damit kann der ‚Akt des Fingierens‘ näherhin als eine doppelte Grenzüberschreitung beschrieben werden: zum einen ‚als Grenzüberschreitung dessen, worauf er sich bezieht‘, also des lebensweltlichen Realen,

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das ungeachtet der überindividuellen geschichtlichen Situation zwei junge Menschen verbindet, die – durch die Erzfeindschaft determiniert – gerade ihre Rolle als Mörder und Opfer spielen. Iwan genießt seine Zigarette, denkt an Brot und Tee, an seine Eltern – wie Karl-Heinz Timm, der an seine Mutter schreibt, sie mit Kosenamen „Mutsch“ (BB, 32) benennt und seinen Brief mit Kosenamen „Kurdelbumbum“ (BB, 32, Hervorh. i. O.) unterschreibt. Dieser Akt des Fingierens ist ein vorsichtiger Versuch, ‚Iwan‘ vom rassistischen Namensklischee zum Menschen mit einer Alltagsgeschichte zu transformieren und damit diesem anonymen russischen Soldaten als Individuum auch ein wirkliches Gesicht zu geben. Diese Passage verwandelt die Wirklichkeit eines realen, brutalen geschichtlichen Ereignisses in eine mögliche, allgemein menschliche.⁵² Der Erzähler spannt, gegen die fatale Determination des Individuums durch Rasse, Nation und Ideologie, ein humanes Band durch den Akt des Fingierens, der allgemeine menschliche Eigenschaften gegen die Bindung durch geschichtliche und familiäre Genealogie hervorhebt. Diese Stiftung eines erhofften, allgemein menschlichen Bandes ist der Versuch, das von dem „Mythos Blut“ und der „Herrenideologie“ (BB, 61) verfinsterte „Grauen der Erinnerung“ (BB, 103) ins „zarte Grün“ (BB, 17) der Humanität zu verwandeln. Gleichzeitig ist der Erzähler sich der Grenze der festgeschriebenen Erinnerung bewusst, die nicht ignoriert oder verändert werden darf, weil es sonst der Verfälschung und Verklärung verfallen kann. Daher wird das poetisch fingierte Erwünschte unumstößlich vom aussichtslos ‚Festgeschriebenen‘ gerahmt: „Ein Fressen für mein MG“. In der ‚festgeschriebenen‘ Erinnerung des Bruders sucht der Erzähler nach solchen Spuren des allgemein Menschlichen, des Persönlichen. Die Bemühungen um die Klärung der Fragen, wie der Bruder sich selbst sah oder welche Empfindungen er hatte, laufen jedoch ins Leere: Die Dokumente verraten wenig von den persönlichen Erfahrungen, Gedanken und Empfindungen, sondern beschränken sich auf das unpersönliche Protokollieren von Fakten. So konstatiert der Erzähler, dass sich der „Hintergrund der lakonischen Eintragungen […] fast nie aufhellen“ lässt, da der Bruder „seine Ängste, Freude, das, was ihn bewegt hat, Schmerzen, nicht einmal Körperliches“ anspricht, sondern nur Fakten „registriert“ (BB, 145). Der Bruder hat keine persönliche Geschichte, er ist von den gewalttätigen Zeitläufen „um eine eigene Geschichte und die Erfahrbarkeit eigener Gefühle betrogen“ (BB, 28) worden: Ihm bleibt allein die Reduktion auf die tödliche äußere Haltung, „die nur Befehle und Gehorsam kannte“ (BB, 135).

wodurch dieses irrealisiert wird, zum anderen als Grenzüberschreitung ‚dessen, was er zur Gestalt erweckt‘, also des Imaginären, wodurch dieses real vorstellbar wird.“  Vgl. Markus Lorenz: Subversiver Meistersang. Eine Studie zum Werk Uwe Timms, Würzburg 2012, S. 56 – 58.

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Der Erzähler folgt weiter den Fragen, ob der Bruder „mit den Opfern der Zivilbevölkerung konfrontiert worden“ (BB, 27) sei, warum im Tagebuch nicht von den Gefangenen die Rede sei, oder auch ob der Bruder seine Schuld als Täter erkannt habe. Den Hinweis auf mögliche Antwort scheint ein Brief am 25.7.1943 zu enthalten, in dem der Bruder berichtet, die Leute hätten sich bei dem Einmarsch seiner Division gefreut, da sie „scheinbar […] noch nicht mit der SS zu tun gehabt“ (BB, 92, Hervorh. i. O.), sondern bisher nur die Wehrmacht gesehen hatten. Daraus schließt der Erzähler, dass die Verbrechen des SS dem Bruder zu diesem Zeitpunkt mindestens bekannt waren. Aber über die Frage, ob der Bruder dabei „etwas wie Täterschaft, Schuldigwerden, Unrecht“ (BB, 88) gekannt habe, kann der Erzähler keine stichhaltigen Belege erbringen. Deutlich wird aber, dass es bei dem Bruder eine Separierung der Wahrnehmung gibt, die ethisch mit zweierlei Maß misst. Denn während der Bruder im Tagebuch flüchtig und ohne weitere Kommentare vermerkt, dass man die Öfen „der Russenhäuser“ (BB, 89) für den Straßenbau abgebaut hat, bezeichnet er in einem Brief an den Vater die britischen Bombenangriffe auf ihre Heimatstadt Hamburg als „nicht human“ (BB, 93): „Wenn der Sachs bloß den Mißt nachlassen würde. Das ist kein Krieg, das ist ja Mord an Frauen und Kinder – und das ist nicht human.“ (BB, 93) Hier manifestiert sich die Doppelmoral des Bruders, der keine politische und moralische Verbindung zwischen der barbarischen Vernichtung in der Ukraine und den britischen Bombenangriffen auf deutsche Städte wahrnimmt. Der Erzähler ist betroffen von dieser Dissoziation von Gefühlen: „Die Tötung von Zivilisten hier normaler Alltag, nicht einmal erwähnenswert, dort hingegen Mord.“ (BB, 93) Die Umstände des Krieges und sein eigenes Handeln scheinen nicht dem jungen Soldaten in den Sinn zu kommen – „Es ist der normale Blick auf den Kriegsalltag.“ (BB, 95) Es sind die Fragen des Erzählers, die „die Abwesenheit von jedem Mitempfinden“ (BB, 151) des Bruders offenlegen und es zugleich in schriftlich umgearbeitete Erinnerung zu überführen suchen. Auch wenn ein letzter Nachweis über eine persönliche Beteiligung des Bruders an den Gräueltaten aufgrund des begrenzten Quellenmaterials nicht zu führen ist, nimmt der Erzähler diese Tatsache nicht als endgültigen Beweis für die Unschuld seines Bruders und begründet seine Aussage, dass dies „nicht der Fall“ war, mit dem Vorbehalt „soweit ich herausfinden konnte“ (BB, 102). Anstatt nun diesen Befund als Entlastungsbeweis zu werten, verschiebt sich das historische Interesse des Erzählers, was die von Welzer beobachtete Viktimisierungsstrategie des deutschen Familiengedächtnisses konterkariert. Im expliziten Rekurs auf Christopher Brownings Buch Ganz normale Männer. Das Reserve-Polizeibataillon 101 und die „Endlösung“ in Polen transformiert sich die Frage nach den recherchierbaren Fakten in die Frage nach der vermeintlichen Normalität der NS-Zeit. In seiner Forschung zeigt Browning, wie aus ganz normalen deutschen Männern durch die Einübung der Gewalt allmählich Massenmörder wurden, wie Töten schließlich zum

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Alltag gehörte und normal war. Der Erzähler, der zuvor im Bruder entweder einen von der Naziideologie infizierten „Überzeugungstäter“ zu erkennen fürchtete oder aber „aufkeimenden Widerstand“ (BB, 152) zu entdecken wünschte, lenkt nun seinen Blick auf das durchschnittliche Verhalten der Deutschen im NS-Regime. Was in den Fokus der Auseinandersetzung mit Täterschaft und Schuldfrage gerät, ist ein Verhältnis von Verantwortungsbewusstsein des autonomen Individuums und kollektiven Prägungen, für die in der NS-Zeit Humanität offensichtlich nur für das eigene Volk galt, wie die Doppelmoral der Tagebucheintragung des Bruders verrät. Der Erzähler zieht dazu Vergleichsdokumente heran, liest andere Tagebücher und Briefe und fasst die Ergebnisse wie folgt zusammen: In dem Tagebuch finden sich keine antisemitischen Äußerungen und keine Stereotypen wie in den Feldpostbriefen anderer Soldaten. […] Andererseits findet sich kein Satz, der so etwas wie Mitgefühl verrät, nicht die Andeutung einer Kritik an den Zuständen läßt sich herauslesen. […] Es spricht daraus – und das ist das Erschreckende – eine partielle Blindheit, nur das Normale wird registriert. (BB, 152, Hervorh. i. O.)

In den Briefen und Tagebucheintragungen erscheint der Bruder nur als ein normaler Mann mit einem normalen Blick auf den Kriegsalltag. Dort kommen Konzentrationslager, Vernichtungen oder andere Grausamkeiten des NS-Regimes nicht vor. Der Erzähler wird gerade durch das Fehlen der Gräueltaten stutzig, denn dies zeugt von der partiellen Blindheit, die die vermeintliche Normalität nicht als die eigentliche Abnormität erkennen lässt. Im Laufe der Erzählung wird das Erschrecken vor der Normalität des brüderlichen Verhaltens ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt, da gerade durch diese Normalität des Barbarentums die alltäglichen Gewalttaten des NSRegimes „selbstverständlicher, rücksichtsloser, mechanischer“ (BB, 104) geworden sind. Das Entsetzliche dieses Alltags wird durch die Kursivsetzung des ‚Normalen‘ im Text gekennzeichnet. An die Stelle der Furcht vor den potenziellen Taten des Bruders, die ihn zur faktenorientierten Recherche angetrieben hat, richtet der Erzähler nun ihren Fokus auf die Normalität der Verbrecher und die Erklärungsversuche für die sozialen Rahmenbedingungen und Mechanismen, die dafür verantwortlich waren, dass ganz normale Männer sich ohne Vorbereitung, Indoktrination und Nazifizierung an dem Holocaust beteiligten. Als Beurteilungsrahmen zieht er die von Browning belegte Tatsache heran, dass die Polizisten des Polizeibataillons 101 die Beteiligung an ihren ersten Morden an der Zivilbevölkerung hätten verweigern können, ohne bestraft zu werden. Brownings Forschung als empirische Wahrheit führt „das Unfaßliche“ (BB, 104) des normalen und deswegen umso beunruhigenderen Fehlverhaltens vor Augen: Es gab Männer, einige, wenige, die sich weigerten, Zivilisten zu erschießen. Sie wurden daraufhin nicht erschossen, wurden nicht degradiert, auch vor kein Kriegsgericht gestellt. Einige

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wenige haben Nein gesagt, wie Browning in seinem Buch belegt, aber das waren eben nicht die normalen Männer. (BB, 141, Hervorh. i. O.)

Das Interesse des Erzählers an der Wahrheit der Abnormität steht der Normalität des Täterbewusstseins gegenüber, das im weiteren Verlauf der Erzählung zu einem zentralen Thema wird. Im Zusammenhang mit der partiellen Blindheit seines Bruders sucht der Erzähler all das Grausame, was dieser ausgeklammert hätte. Er liest hinein, was nicht da ist, und macht die Leerstellen sichtbar, indem er die ‚festgeschriebene Erinnerung‘ des Bruders in den Kontext der kulturellen Gedächtnisse, also der historischen Forschungen oder Veröffentlichungen von Tätern und Opfern stellt. Die Zitate aus einem Armeebefehl des Generaloberst von Manstein, der die Heeresgruppe Süd des Bruders befehligte und die Ausrottung des „jüdisch-bolschewistische[n] System[s]“ (BB, 104, Hervorh. i. O.) anordnete, und des Generalfeldmarschalls von Reichenau, der „die Notwendigkeit der harten, aber gerechten Sühne am jüdischen Untermenschen“ (BB, 146, Hervorh. i. O.) beteuert, machen aufmerksam auf die Macht und Funktion der Sprache, die Realität schafft⁵³, und darauf, wie die nationalsozialistische Sprachpolitik zur Pervertierung der Moral geführt hat. Der Erzähler stellt fest, dass die unermesslichen Verbrechen des NS-Staates durch eine „angelernte Sprache“ möglich wurden, die „mit der größten Selbstverständlichkeit“ die Tötungsaktion wie „eine hygenische Maßnahme“ erscheinen ließ und somit „das Töten erleichtert[e]“ (BB, 94). Die Auseinandersetzung mit den archivierten Materialien der Täter führt zu der Frage nach einer möglichen Beteiligung des Bruders an der Ermordung von Zivilisten und mündet schließlich in die Mutmaßung über die „Bilder“ (BB, 103), die der Bruder nicht hätte übersehen können. Möglicherweise sind die kalten, zurückhaltenden Worte des Tagebuches nur Beweise des grausamen Kriegsalltags, der kaum in Worte gefasst werden konnte. Aufgrund nachweisbarer Taten seiner militärischen Einheit betrachtet der Erzähler die NS-Verbrechen als Teil der persönlichen Geschichte des Bruders. In dieser markanten Überblendung von individueller und kollektiver Dimension der Schuld zeigt sich die ablehnende Haltung des Erzählers gegenüber allen entschuldigenden Argumenten für das Unfassbare und das Unausgesprochene. Dem jegliche Fassungskraft übersteigenden Entsetzen über den „normale[n] Blick auf den Kriegsalltag“ (BB, 95, Hervorh. i. O.) von den Tätern setzt der Erzähler die Zeugnisse der Opfer, deren Stimmen größtenteils mit ihrer Erinnerung ausge Vgl. Hanjo Kesting/Axel Ruckaberle: Uwe Timm, in: Heinz Ludiwig Arnold (Hrsg.): KLG. Kritisches Lexikon zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, München 2004, S. 2: „Wer über die Sprache verfügt, kann tendenziell auch über die Realität verfügen; er kann sie in der Sprache verdrehen und verdecken.“

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löscht wurden, entgegen. Es ist zum einen Jean Amérys „tiefe verzweifelte Erkenntnis, [dass] nicht Bildung, Kultur, nicht das sogenannte Geistige, […] die Täter von den Untaten bewahrt [hat]“ (BB, 62), zum anderen Primo Levis Bemerkungen zu der Auslöschung der Existenz der KZ-Häftlinge, der „tiefe[n] Verlassenheit, die aus dem Wissen erwächst, nicht mehr erinnert zu werden“ (BB, 106). Primo Levi schreibt in Die Untergegangenen und die Geretteten, dass mit ihren Namen, der physisch imprägnierten Nivellierung ihrer Existenz zu eintätowierten Nummern, die Individualität der KZ-Häftlinge, ihre Geschichte und schließlich ihre sprachlich in anderen erinnerte Identität ausgelöscht worden sind. Es war „dieses Verlassensein, das zu all den Demütigungen, […] und dem Solidaritätsverlust unter den Gefangenen hinzukam“ (BB, 106). Vor und nach dem Verweis auf Primo Levis Zeugnis zitiert der Erzähler einen Brief des Bruders an die Mutter, in dem der Bruder von der Ergatterung einer Pistole schwärmt und der auf die Möglichkeit für den regelmäßigen Briefkontakt zwischen ihm und der Familie hinweist, die den KZHäftlingen verwehrt blieb: „Nun liebe Mutsch will ich schließen, schreibe mir bald wieder.“ (BB, 106, Hervorh. i. O.) Durch diese Textmontage werden die Art und das Ausmaß des Leidens der Opfer der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik gleichzeitig mit Blindheit und Wegsehen der Deutschen hervorgerufen. Unmittelbar nach dem Zitat von Reichenau werden eine Reihe von Einzelbeispielen deutscher Soldaten, die ihren eigenen moralischen Kompass verfolgten, Solidarität mit ihren jüdischen Landesleuten zeigten und deswegen als Verräter denunziert wurden, im Rekurs auf Wolfram Wettes Buch Die Wehrmacht, in den Text eingenommen. Hier wendet sich der Erzähler deutlich gegen den entlastenden Diskurs über die Berufung auf den „Befehlsnotstand“ (BB, 131), mit dem die Täter nach dem Krieg alle Verbrechen erklärten und wodurch sie meist auch unbehelligt blieben. Durch die konsequente Gegenüberstellung von den Täter- und Opferperspektiven konfrontiert der Erzähler faktische Inhumanität mit dem möglichen Handlungsspielraum für Humanität. Damit fordert er implizit auf, die Schuldfrage auf individuell verantwortliches Handeln jedes Einzelnen zu beziehen und die durch Erziehung und Sozialisation konditionierte ‚Normalität‘ der gesellschaftlichen Bedingungen bezüglich ihrer Kehrseite zu hinterfragen. In diesem Zusammenhang schließt er diesen Abschnitt mit einem Zitat von Sören Kierkegaard, das intertextuell auf einen universellen ethischen Verhaltenskodex verweist, in dem Ehre und Gehorsam eine ganz andere Bedeutung erhalten als in den preußischen Tugenden und die individuelle Autonomie im Vordergrund steht: „Es kommt darauf an, daß einer es wagt, ganz er selbst, ein einzelner Mensch, dieser bestimmte einzelne Mensch zu sein; allein vor Gott, allein in dieser ungeheuren Anstrengung und mit dieser ungeheuren Verantwortung.“ (BB, 147, Hervorh. i. O.)

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1.1.2.2 Selbstlegitimation der Tätergeneration Die Frage, warum sich der Bruder, „ein eher ängstliches Kind“ (BB, 16), zur WaffenSS freiwillig gemeldet hatte, führt schließlich zu den Bedingungen, die diese Entscheidung beeinflußt haben: „Es war nur die wortlose Ausführung von dem, was der Vater im Einklang mit der Gesellschaft wünschte.“ (BB, 56) Seinen Bruder sieht der Erzähler als ein Beispiel einer Generation von Tätern, die schon in sehr jungen Jahren durch die eingeimpfte Ideologie systematisch gedrillt wurden: „Er war, als er das schrieb, 19 Jahre und drei Monate alt und sollte nocht zwei Monate zu leben haben. Er hatte eine Lehre gemacht. Er war beim Jungvolk, dann in der HJ gewesen. […] Er wurde geschliffen.“ (BB, 93, Hervorh. i. O.) Die kalte, unpersönliche Sprache des Tagebuches seines Bruders ist für den Erzähler„das Spiegelbild einer Erziehung, die bedenkliche Werte wie Wille, Gehorsam, Opferbereitschaft und Treue offenbar mit Erfolg vermittelt hat“⁵⁴. In diesem Hinblick erscheint der Bruder nicht einseitig als Täter, sondern als Fehlgeleiteter, als Produkt des nationalsozialistischen Erziehungssystems, das durch den Nationalismus des Vaters gestützt wird.⁵⁵ Ein Fixpunkt in der Beschäftigung mit dem Bruder ist folglich die Auseinandersetzung mit dem Vater: „Über den Bruder schreiben, heißt auch über ihn schreiben, den Vater“ (BB, 21), bemerkt der Erzähler gleich zu Beginn seiner Erzählung. Aus dem ihm knapp zur Verfügung stehenden Material fasst er die privaten und politischen Faktoren zusammen, die das Handeln seines Vaters bestimmten, und beleuchtet damit die Art und Weise, wie die ideologische Übereinstimmung mit dem Nationalsozialismus hergestellt wurde. Sein Vater Hans Timm sei zwar „kein Nazi“ (BB, 130) gewesen. Er war aber ein leidenschaftlicher Nationalist und Miliarist, der sich in der deutschen Kriegsgeschichte auskannte, sich freiwillig für den aktiven Dienst im Ersten Weltkrieg meldete und nach dem Krieg im Baltikum gegen die Rote Armee weiter kämpfte, wo er sich die rassischen Einstellungen sowie die sozialen Ambitionen der preußischen Offiziere aneignete. In Weimarer Republik stand er der rechtsextremen Organisation Consul nahe, die für die politischen Attentate auf führende De-

 Marcel Atze: Er war anständig. Uwe Timm zeigt am Beispiel seines Bruders, wie fest uns die NSVergangenheit im Griff behält, in: Literaturkritik (2003) Nr. 9. Online unter https://literaturkritik.de/ id/6315, zuletzt abgerufen am 02.11. 2022.  Für diese Einsicht ist Timms Verständnis von der Täter-Opfer-Dichotomie ausschlaggebend. Dazu hat er sich in einem Gespräch folgendermaßen geäußert: „[D]ie Täter müssen immer auch als Opfer gezeigt werden, das heißt, daß die Gesellschaft immer irgendwo auftauchen muß, die so etwas produziert. […] [M]uß man fragen, was die gesellschaftlichen Verhältnisse sind, die so etwas erst ermöglichen? Und das bedeutet immer auch, daß sie änderbar sind. Das ist das Humane daran, daß jemand nicht genetisch festgelegt ist, von Geburt an Killer zu sein, sondern daß es ein Umfeld gibt, das solchen Menschen produziert.“ Colin Riordan: „Eine Deklaration gegen Gewalt und Tod“. Gespräch mit Uwe Timm, in: David Basker (Hrsg.): Uwe Timm, Cardiff 1999, S. 26 – 37, hier S. 37.

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mokraten verantwortlich war. Im Zweiten Weltkrieg kämpfte er in der Luftwaffe. Der Vater ist somit die Verkörperung der autoritären deutschen Männlichkeit. Existenzielle Unsicherheit durch die beiden Weltkriege, Niederlage und Inhaftierung geht einher mit der Schwierigkeit, eine nachhaltige Orientierung in der neugegründeten Bundesrepublik zu finden. Der Vater kann sich mit der politischen Wende innerlich nicht abfinden und ist unfähig, das Scheitern des auf Militarismus gegründeten Wertesystems zu erkennen. Was die Deutung des Ausgangs der NS-Zeit und des Krieges angeht, beharrt er auf die „Verabsolutierung von Erfahrung“ (BB, 109), die zum Bewertungsmaßstab wird: „Du hast keine Ahnung. Du hast das nicht mitgemacht. […] man muß das erlebt haben“ (BB, 109, Hervorh. i. O.). Das vom Vater abgelegte Zeugnis ist aber durch eine zweckgebundene Unvollständigkeit gekennzeichnet, die darauf abzielt, sein Gesicht nicht zu verlieren. Die Luftwaffe, der er angehörte, „hatte mit dem Mord an den Juden nichts zu tun, sagte er. Die hatte nur tapfer gekämpft“ (BB, 98). Allein das Wort ‚nur‘ zeigt seine sehr eingeschränkte Betrachtungsweise der geschichtlichen Ereignisse. In seinen Erinnerungen werden die politischen Ziele, für die sich er eingesetzt hat, sowie die zeitlichen und kausalen Zusammenhänge, die wesentlich für das Verständnis der Geschichte sind, verdrängt. So siedelt der Vater sich in der sicheren Grauzone des Mitläufertums an, das nach Kriegsende zum kollektiven Mythos wurde, der darauf hinausläuft, dass die deutsche Bevölkerung der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft quasi „hilflos geliefert war“ und daher die Schuldzuweisung dem NS-Regime galt.⁵⁶ Statt mit seinem eigenen Involviertsein ins NS-System und dem eigenen Leiden auseinanderzusetzen, schiebt der Vater anderen die Schuld für die Niederlage des Krieges und den Holocaust in die Schuhe: den „militärische[n] Dilettanten, […] [den] Drückeberger[n], […] [den] Verräter[n]“ (BB, 78) und auch den Alliierten. Dies deutet auf die Projektion als zentralen Abwehrmechanismus hin. Es macht ihn auch unfähig, affektiv mit seinem Sohn zu sprechen. Der frustrierte Vater führt nach 1945 „zu Hause, in den vier Wänden“ (BB, 69) einen neuen Krieg „gegen die Kultur der Sieger“ (BB, 71), was ihn häufig auch in Konflikt mit seinem jugendlichen Sohn bringt, der die Jeans den Lederstiefeln seines Vaters, den freizügigen Charme amerikanischer Filme, Bücher und Jazz „dem Trümmerland, mit seiner quetschenden Enge, seinen Vorschriften und Anordnungen“ (BB, 90) vorzieht. Gerade die rechthaberische Strenge des Vaters gegenüber der Familie und dessen Unfähigkeit, sich der Verantwortung seiner Generation zu stellen, lassen den Erzähler als Jugendlichen sensibel werden für den „Widerspruch im Leben des Vaters“ (BB, 80), „der so sehr auf Haltung, Anstand, Stolz, auf seine Ehre bedacht

 Vgl. Margarete Mitscherlich: Erinnerungsarbeit. Zur Psychoanalyse der Unfähigkeit zu trauern, Frankfurt a. M. 1993, S. 18 f.

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war“ (BB, 82). Die unüberbrückbare Kluft „zwischen dem, was er darstellte, und dem, was er wirklich war“ (BB, 45) führt den Vater schließlich dazu, in die tiefe Melancholie zu versinken, deren „Ursache schwer benennbar war“ (BB, 110). Nur kann der Erzähler spekulieren, dass diese Melancholie auf die unterdrückten Erinnerungen und nicht verarbeiteten Kriegserfahrungen zurückzuführen ist. Er berichtet, wie er seinen Vater einmal weinen sah, nicht nur wegen des toten Sohnes, sondern auch wegen der verdrängten grauenhaften Erinnerung. „Die Last angehäufter Enttäuschung, das Gleichgültig-werden der Ereignisse, der langsame Wunschverlust“ (BB, 110 f.) des Vaters sind für den Erzähler gleichbedeutend mit dem Verlust einer eigenen, individuellen Souveränität, der seinen Anfang in der blinden Unterwerfung unter das autoritäre System genommen hat und durch das Festhalten auch nach 1945 an diesem alten Wertesystem gefestigt wurde. In dem persönlichen und geschäftlichen „Versagen“ (BB, 108) des Vaters sieht der Erzähler die Verschränkung von Privatem und Politischem. Der Vater steht für eine Generation, die an der tiefgreifenden Auseinandersetzung mit ihrer Schuld und den im Nationalsozialismus propagierten Werten scheiterte. Sein relativ früher Tod durch den Herzinfarkt ist für den Erzähler „schon Interpretation des davor einsetzenden Niedergangs“ (BB, 86), der über die private Bedeutung hinausweist. Im Gegensatz zu sensibler Annäherung an den Bruder wirkt in der Auseinandersetzung mit dem Vater die anhaltende Enttäuschung und Empörung des heranwachsenden Sohnes über die Feigheit des Vaters nach, der seine moralische Verfehlung nicht eingestehen wollte. Während der Bruder exemplarisch für eine Generation der Betrogenen in einem System steht, in dem „der Mut, nein zu sagen, zu widersprechen, Befehle zu verweigern“ (BB, 146) nichts galt, vertritt der Vater eine vorherige, die den Betrug nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg eingefädelt und diesen als Selbstbetrug nach 1945 perpetuiert hat.⁵⁷ In aller Deutlichkeit nennt der Erzähler daher „die Vätergeneration[] die Tätergeneration“ (BB, 102).

1.1.3 Von der Ambivalenz koexistenter Gedächtnisformation In Bezug auf das Familiengedächtnis wird die Frage nach Tätern und Opfern besonders prekär: Die formelhafte Zusammenfassung der Eltern für das Geschehen war der Schicksalsschlag, ein Schicksal, worauf man persönlich keinen Einfluß hatte nehmen können. Den Jungen verloren und das Heim, das war einer der Sätze, mit denen man sich dem Nachdenken über die Gründe entzog. Man glaubte mit diesem Leid seinen Teil an der allgemeinen Sühne geleistet zu haben.

 Vgl. Clemens Kammler: Uwe Timm, S. 48.

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Fürchterlich war eben alles, schon weil man selbst Opfer geworden war, Opfer eines unerklärlichen kollektiven Schicksals. Es waren dämonische Kräfte, die entweder außerhalb der Geschichte walterten oder Teil der menschlichen Natur waren, auf jeden Fall waren sie katastrophisch und unabwendbar. (BB, 87 f., Hervorh. i. O.)

Dieser lange Kommentar bringt die wesentlichen Leitbegriffe für das zum Ausdruck, was im Spannungsfeld von dem Familiengedächtnis und dem kollektiven Gedächtnis als Rechtfertigungsstrategie der Tätergeneration diente. Es ist das Gefühl von Verlust und Leiden während des Krieges, das die familiäre Erinnerung an die NS-Zeit charakterisiert – der Verlust des geliebten Sohnes und der Besitztümer im Hamburger Feuersturm von 1943. Die Eltern glauben mit dem Opfer des ältesten Sohnes und dem eigenen Leiden ihren Teil an der allgemeinen Sühne geleistet zu haben. Der Erzähler setzt die Dynamik bei der wiederholten Beschwörung der Bombardierung Hamburgs mit der Rekonstruktion der Erinnerung der Familie an den Bruder gleich; ebenso wie seine einzige fragmentarische Erinnerung an seinen Bruder nachträglich Bedeutungskonturen durch die Erzählungen der Familie erlangte, so finden auch die „in der Luft schwebenden Flämmchen“ (BB, 38) seiner Kindheitserinnerung an den Hamburger Feuersturm ihre Erklärung in der unaufhörlichen Nacherzählung der Familie nach Kriegsende. Der Erzähler rekonstruiert diese traumatischen Erinnerungen – das Gefühl des Verlusts, die Angst und das Grauen im Luftschutzbunker – aus einer wirklich einfühlsamen Perspektive. Dabei unterscheidet er seine eigenen isolierten Erinnerungsbilder deutlich von der mündlichen Überlieferung des Ereignisses in der Familie. Er thematisiert somit das Phänomen der anekdotisch geflochtenen familiären Erinnerung an den Krieg und dessen „Gefahr, glättend zu erzählen“ (BB, 38) und zu verfälschen.⁵⁸ Das Familiengedächtnis besteht aus den heroischen, ikonischen Details, welche – aus ihrem ursprünglichen Zusammenhang gerissen – durch unterhaltsam schmückende Schematisierungen und ihre fast mechanische Reproduktion den schrecklichen Geschehnissen ihren unerhörten Charakter wegnehmen. Darin gibt es keinen Platz für tiefergehende Gefühle und Widersprüche der Erfahrungen. Die familiären Erinnerungen an die Erfahrungen des Bombardements oder die fatale Entscheidung des Bruders wurden mit den nahezu gleichen „Sprachformeln“ (BB, 42) erzählt, was „das Erlebte faßbar und schließlich unterhaltend machte“ (BB, 39): „Hamburg in Schutt und Asche. Die Stadt ein Flammenmeer.“ (BB, 42, Hervorh. i. O.) „Ausgebombt und kurz darauf der Junge gefallen“ (BB, 37, Hervorh. i. O.). Im Rahmen dieser

 Vgl. dazu z. B. Clemens Kammler: Die Gefahr, glättend zu lesen. Über einige narrative Strategien in Uwe Timms Erzählung ‚Am Beispiel meines Bruders‘, in: Text+Kritik (2012) H. 195, S. 67– 74; Friedhelm Marx: ‚Erinnerung, sprich.‘ Autogiobraphie und Erinnerung in Uwe Timms ‚Am Beispiel meines Bruders‘, in: ders. (Hrsg.): Erinnern, Vergessen, Erzählen, S. 27– 35.

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sprichwörtlichen Redensart wird die jegliche Perspektive einer eigenen (Mit‐)Verantwortung kategorisch ausgeschlossen. Im Rückblick erscheint der gelebte Nationalsozialismus als lediglich hingenommenes und nicht individuell zu verantwortendes Leben. Durch die nachträgliche Distanzierung sowie den selektiven Blick auf die Vergangenheit steht nur eine eigene Opferschaft im Zentrum des Familiennarrativs. Obwohl der Erzähler eine familiäre Vorliebe für das Geschichtenerzählen beschreibt, unterstreicht die Anzahl der unbeantworteten Fragen seine Annahme, dass dieses Geschichtenerzählen in der Familie aus einer ritualisierten und bedeutungslosen Sprache bestand, die tatsächlich als ein Weg funktionierte, von bestimmten Themen nicht zu sprechen: „Nur diese zwei Möglichkeiten schien es zu geben, entweder ständig davon zu reden oder gar nicht.“ (BB, 99) Um eine Gegenerzählung gegen das tradierte geglättete Familiennarrativ zu schaffen, muss ein komplizierter Mittelweg zwischen den beiden Extremen des Schweigens und des Schwadronierens, die beide eine konstruktive Formierung des Gedächtnisses verhindern, gefunden werden. Der Erzähler versucht in keiner Weise, das Ausmaß und die schreckliche Natur der Kriegserfahrung, die ihn und seine Familie heimgesucht hat, zu minimieren. Bezogen auf die Kriegsgeneration wird die Unschärfe ihres Blicks auf die NS-Vergangenheit zum Teil verständnisvoll thematisiert, überträgt sich jedoch nie auf das auf Fakten basierte Geschichtsbild. Zu der auf die Heroisierung und Opferschaft reduzierten Familienlegende, die ebenfalls den „Mythos von der anständigen, tapferen Waffen-SS“ (BB, 88) beinhaltet, bezieht der Erzähler eindeutige Position: Er zieht eine klare Grenze zwischen seelischem Leid seiner Familie und der nationalen Geschichte Deutschlands. Die „gefühlte[] Geschichte“⁵⁹ der Familie führt nicht zu Viktimisierung oder Relativierung der Schuld. So sind die eigenen Erinnerungen des Erzählers an das Gefühl von Beklommenheit und Todesangst sowie die beängstigten Menschen im Luftschutzkeller und ein Brief des Bruders, der seine Empörung über die Zerstörung von Hamburg durch die Alliierten und sein Mitgefühl mit dem Schicksal der Familie vermittelt, zwischen einer damaligen lokalen Manifestation des Antisemitismus und der Information eingerahmt, dass Juden „das Betreten des Luftschuztraums verboten“ (BB, 40) war. Die Erinnerung an das Leid der Deutschen durch den Krieg wird aus heutiger Sicht im Rahmen der nationalsozialistischen Verfolgungs- und Vernichtungspolitik erzählt. Dieser Abschnitt weist auf die Bill Nivens Konzept von „inclusiveness“ hin, durch die das deutsche Leid unter Berücksichtigung seiner kausalen Zusammenhänge mit der

 Halrad Welzer: Schön unscharf, S. 53.

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deutschen Schuld verstanden werden kann.⁶⁰ In diesem Zusammenhang kommentiert der Erzähler: „Über die Leiden zu schreiben, über die Opfer, das heißt auch, die Frage nach den Tätern zu stellen, nach der Schuld, nach den Gründen für Grausamkeit und Tod.“ (BB 120) Ihm geht es ganz speziell darum, das Versäumnis seiner Eltern nachträglich auszugleichen, ohne dabei ihr Leiden herunterzuspielen oder gar zu ignorieren.

1.1.4 Erinnern an die Verdrängung von Erinnerungen Lässt sich der Begriff der Schuld generell als „die Abweichung vom anerkannten Maßstab, die sich im Fehlverhalten bekundet“⁶¹ definieren, so ist die Unterscheidung von subjektivem Schuldgefühl und objektivem Schuldbewusstsein wesentlich für den engeren juristischen Schuldbegriff, auch wenn beide bezüglich der Wahrnehmung von eigener Verantwortung einerseits, kollektiver Verantwortlichkeit andererseits relevant sind⁶²: [Das] zur Reue notwendige, auf sittlichen Kriterien beruhende Schuldbewusstsein ist von einem sittlich unbegründeten Schuldgefühl zu unterscheiden. Letzteres kann im Verhältnis zur juristischen Schuld übermäßig groß, gar nicht vorhanden oder durch äußere Sanktionen erzwungen sein.⁶³

Für den Erzähler beschränkt sich die Frage der Schuld der eigenen Familie nicht auf Zeit des Nationalsozialismus. In seine Überlegungen zur Dimension der individuellen Schuld bezieht er Fragen ein, wie sich die innere Befindlichkeit und Haltung nach dem Krieg im kommunikativen Gedächtnis von Familie und Freundeskreis der Eltern darstellten und in welcher Form die Werte und Ideale des Nationalsozialis-

 Bill Niven: Facing the Nazi Past, London/New York 2002, S. 5. Vgl. dazu auch Aleida Assmann: Der lange Schatten der Vergangenheit, S. 188: „Die Opfererfahrung kann umso eher zur Sprache kommen, je deutlicher die moralischen Koordinaten etabliert und die Erinnerung an die Opfer des verbrecherischen NS-Regimes gefestigt ist. […] Die Traumata der deutschen Zivilbevölkerung haben in dem Maße Platz neben den Traumata der Holocaustopfer, in dem sich ein Bewusstsein historischer Zusammenhänge etabliert.“  Gesine Schwan: Politik und Schuld, S. 54.  Vgl. ebd. „Schuldgefühl wird hier im Sinne einer Emotion verwendet, die – gemessen an ‚objektiven‘ Maßstäben oder an denen, die das Subjekt für sich anerkennt – eine Schuld anzeigen kann, aber nicht muß. Schulgefühl benennt einen Befragungsanstoß, aber es ist noch kein Indikator für Schuld. Schuldbewußtsein bezeichnet das reflektierte Wissen um das eigene Fehlverhalten […].“ Hervorh. i. O.  Wilhelm Vossenkuhl: Schuld, in: Lexikon der Ethik, München 1997, S. 259 f.

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mus dort weiterlebten. In Bezug auf die kollektiven Wertvorstellungen und den allgemeinen Sprachgebrauch macht der Erzähler darauf aufmerksam, wie grotek die Art und das Ausmaß der kollektiven Schuld werden konnte, wie groß die Kluft zwischen dem Schuldbewusstsein und dem Schuldgefühl sein konnte und welcher Strategie sich die Tätergeneration für die moralische Selbstlegitimation nach Kriegsende bediente. So erinnert sich der Erzähler an die Gespräche, die nach dem Krieg der Vater und seine ehemaligen Kriegskameraden zu Hause oder am Stammtisch führten. Es sind Geschichten über „die Schlacht um Stalingrad“, über „die Rückeroberung Charkows“ und auch über Kiew, wo „die Russen vor ihrem Rückzug 1941 Häuserblocks, ganze Stadtviertel, mit Sprengsätzen unterminiert und, nachdem die Deutschen eingerückt waren, die Häuser durch Fernzündung in die Luft gesprengt hatten“ (BB, 140). Anschließend berichtet der Erzähler: „Nicht geredet wurde über Babij Jar, eine Schlucht in der Nähe von Kiew.“ (BB, 140) Er holt eine der schlimmsten Gräueltaten des Krieges, nämlich das Massaker von Babij Jar nachträglich in seine Erzählung als Gegengeschichte hinein und ergänzt diese Gegengeschichte des Massenmordes an der jüdischen Bevölkerung durch die Ereignismeldung aus sowjetischen Archiven und eine detailierte Beschreibung von Fotos eines deutschen Berichterstatters der Propaganda-Kompanie. Dann weist er auf die Beispiele des Widerstands gegen den Tötungsbefehl auf Grundlage der Forschung Brownings. In diesen ganzen Textblöcken holt der Erzähler also gestalterisch auf komplexe Weise das verdrängte und verschwiegene Wissen der Kriegsteilnehmer durch historische Quellen in seinen Text hinein und macht damit das eingeschränkte Denken der moralisch unverbesserlichen Kriegsgeneration sichtbar. Der Erzähler verknüpft das Thema Schweigen und Verschweigen mit Fragen nach Wissen und Nichtwissen der Kriegsgeneration. Er zeigt also Übereinstimmung mit der Meinung von Primo Levi, der dieses deutsche „Totschweigen“ (BB, 106, Hervorh. i. O.) über das Schicksal der Juden während und nach dem Holocaust als „die tiefste Schuld der Deutschen“ (BB, 106) ansieht. Das „Nicht-darüber-Sprechen“ der Eltern begründet der Erzähler mit dem „tiefverwurzelten Bedürfnis, nicht aufzufallen, im Verbund zu bleiben“ (BB, 133). Er setzt Totschweigen mit der „zur Gewohnheit gewordene[n] Feigheit“ (BB, 133) gleich. Dieses von Alexander und Margarete Mitscherlich in ihrem Buch Die Unfähigkeit zu trauern untersuchte kollektive Phänomen gipfelte für den Erzähler in der Tatsache, „daß nach dem Krieg und mit dem Wissen um die systematische Tötung – die Ausrottung – der Juden öffentlich eine breite, ernsthafte Diskussion darüber geführt werden konnte, wie man den Krieg doch noch hätte gewinnen können“ (BB, 99, Hervorh. i. O.). Der Erzähler richtet sich weiter auf eine öffentliche Person, auf den Generalfeldmarschall Manstein, der in seinem Buch Verlorene Siege ausführlich „über seine eigenen Planungen, Konzepte, Entscheidungen und Befehle schreibt“ (BB, 105),

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seinen Armeebefehl, die Ausrottung des „jüdisch-bolschewistische[n] System[s]“ (BB, 104, Hervorh. i. O.) vom 20. November 1941 hingegen verschweigt. Der Erzähler merkt an, dass Mansteins Vergangenheit kein Hindernis dafür war, dass er nach dem Krieg beim Aufbau der Bundeswehr als Berater tätig war. Dass Mansteins Buch eines der vom Vater eifrig gelesenen Bücher über die Kriegserinnerungen aus den Reihen der Generäle war, macht anschaulich, wie private Familiennarrative der Opferschaft intertextuell mit öffentlichen Diskursen in der Nachkriegszeit verwoben sind. Der Hinweis auf die personellen Kontinuitäten bei der Besetzung öffentlicher Funktionen und Ämter mit ehemaligen Nationalsozialisten und schmerzliche Kindheitserinnerungen des Erzählers an psychischen Terror und physische Gewalt im familiären wie öffentlichen Leben der Nachkriegszeit spiegeln die Kontinuität des postfaschistischen Autoritarismus und der latenten Gewalt wider, die Brownings ‚normale Männer‘ in der NS-Zeit bereits kennzeichneten und ihr zerstörerisches Wirken ermöglichten. Indem der Erzähler dem seine Fassungskraft übersteigenden Grauen der geschichtlich festgeschriebenen Fakten recherchierend nachgeht und „das bloß Behaltene in Erinnerung auf[löst]“ (BB, 21), leidet er an den durch eine Hornhautablösung verursachten starken Augenschmerzen, die er selbst als Symptom deutet. Es löst sich in Tränen auf. Es sind die Tränen der Trauer über all das, was seine Eltern weggesehen und verdrängt haben, und über die Erkenntnis, dass sein Bruder und sein Vater ganz normale Männer waren und dass gerade diese Normalität sie zu Tätern gemacht hat.⁶⁴ Im nachträglichen Zur-Sprache-Bringen kommt das Verdrängte und Verschwiegene ans Licht im wörtlichen Sinne, indem das Auge als Sinnesorgan zur Wahrnehmung des Tageslichts betroffen ist.⁶⁵ Dieser verspätete Akt der Trauer steht nicht isoliert, sondern ist als Teil einer Familiengeschichte angelegt, in der auch die Opfer der Judenvernichtung explizit genannt werden. Die selbstauferlegte Aufgabe „Wenigstens das – Zeugnis ablegen“ (BB 120) für die deutsche Täterschaft lässt sich als eine reziproke Handlung zu Victor Klemperers Tagebuch lesen, das für die Gegenerzählung steht: anstatt entweder ein Verschweigen zu bewahren oder endlos über ihr eigenes Leiden zu schwadronieren.

 Vgl. Clemens Kammler: Uwe Timm, S. 65.  Vgl. Markus Lorenz: Subversiver Meistersang, S. 54.

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1.1.5 Unabschließbarkeit der Geschichte Timms Versuch, erzählerisch den persönlichen „quälenden Erinnerungen“⁶⁶ nachzugehen, führt weder zu Formen der schematischen Anschuldigung noch zur euphemistischen Umschreibung der eigenen Familiengeschichte. Auch wenn er das familiäre und historische Geschehen aus der Distanz mehrerer Jahrzehnte reflektierend verarbeitet, vermeidet er die Verknüpfung zu einer kohärenten, mit einem eindeutigen Sinn versehenen Geschichte. Statt zu moralisieren und den Zeigefinger gegen den Schuldigen zu heben, entwirft Timm rekonstruktive Annäherungen an seine Familienmitglieder als „gesellschaftliche Einzelschicksale“, indem er ihre Möglichkeiten und Grenzen „in ihrer historischen und gesellschaftlichen Dimension“⁶⁷ aufzeigt. Sein Blick richtet sich auf die soziale Bedingtheit individuellen Verhaltens und Handelns sowie die zwischenmenschlichen Wechselwirkungen. Damit wird auf die Ambiguität der Täter und auf die Verschränkung von individueller und kollektiver Verantwortung aufmerksam gemacht. Die ihn antreibende Frage, wie von den schuldbelasteten vergangenen Handlungen der Vorfahren der Weg zu einem verantwortlichen Verhalten der Nachkommen jenseits des beschwichtigenden Verschweigens gefunden werden kann, löst sich folglich nicht in die endgültige Befreiung von der Ambivalenz der Erinnerung. So werden die „Ambivalenzen, […] das Unversöhnliche, Heterogene“⁶⁸ in individuellen Erfahrungen und Erinnerungen ins Zentrum der Auseinandersetzung mit dem Familiengedächtnis gerückt. Damit lehnt Timm sich gegen die eindeutige Unterscheidung zwischen wahren und falschen Erinnerungen auf. Was die Formierung der Geschichtsbilder betrifft, geht es ihm nun um das „Deuten der Zeitläufe“ und die Sensibilisierung für den „Zusammenhang zwischen katastrophischen Ereignissen und dem Erzählen“⁶⁹, weil der historische Zusammenhang erst durch das Erzählen überhaupt sichtbar wird. Seine Erinnerungen zeigen sich folglich nie feststehend, sondern bleiben immer auch interpretationsbedürftig und enthalten genügend Widersprüchliches. Die daraus entstehenden Leerstellen und Unstimmigkeiten fordern die Deutungs- und Reflexionsarbeit des Lesers heraus. Die Fra-

 Uwe Timm: Erzählen und kein Ende. Versuche zu einer Ästhetik des Alltags, Köln 1993, S. 66.  Uwe Timm: Von den Schwierigkeiten eines Anti-Realisten, in: Peter Lämmle (Hrsg.): Realismus – welcher?: Sechzehn Autoren auf der Suche nach einem lieterarischen Begriff, München 1976, S. 164– 177, hier S. 173.  Uwe Timm: Erzählen und kein Ende, S. 87. Aus diesen Gründen bewertet Harald Welzer die Erzählung positiv: „Timm riskiert dort Ambivalenz, wo andere Schriftsteller zur Eindeutigkeit und folglich zur Befreiung tendieren. Das macht sein Buch einerseits verstörend und andererseits inkompatibel mit dem neuen deutschen Opferdiskurs, […].“ Vgl. Harald Welzer, Schön unscharf, S. 59.  Ebd., S. 98

1.1 Uwe Timm: Am Beispiel meines Bruders

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gen, warum der Bruder das Tagebuch, nachdem er zuvor keinen Tag ausgelassen hat, plötzlich abbricht und ob der letzte Tagebucheintragung, die die Sinnlosigkeit des Tagebuchführens notiert, „für ein Nein […], für das non servo“ (BB, 152) steht, bleiben ebenso unbeantwortet wie die nach seiner möglichen moralischen Weiterentwicklung nach Kriegsende: Was würde der Bruder, hätte er überlebt, zu diesem Buch Ganz normale Männer sagen? Wie würde er sich heute zu seiner Militärzeit stellen? Wäre er Mitglied in einem der Kameradschaftsverbände der SS? Was würde er heute sagen, wenn er diesen Satz lesen würde: 75 m raucht Iwan Zigaretten, ein Fressen für mein MG?“ (BB, 154, Hervorh. i. O.)

Insofern lässt sich Timms Antwort auf die Schuldfrage als Reflexion über Schuld in der „konjunktivischen Form“ betrachten, durch ein „vorsichtiges Ausforschen zwischen dem, was wirklich war, und dem, was hätte sein können“⁷⁰. Die Schuldfrage knüpft sich damit an eine Frage der „Modalität in der Realität“⁷¹, die zum Nachdenken über das Verhältnis von Gegenwart und Vergangenheit und über die daraus resultierende Frage nach der Übernahme der ethisch-moralischen Verantwortung anregt. In diesem Zusammenhang beschließt die Schlußbemerkung des Tagebuches des Bruders zugleich Timms Familienbuch: „Hiermit schließe ich mein Tagebuch, da ich es für unsinnig halte, über so grausame Dinge wie sie manchmal geschehen, Buch zu führen.“ (BB, 159, Hervorh. i. O.) Der Satz lässt viel Freiraum für unterschiedliche Interpretationen des Lesers. Schweigen und Leerstellen machen die Projektionsfläche der Interpreten sichtbar. Timm thematisiert die eigene Projektion, die von der Mehrdeutigkeit jenes letzten kryptischen Tagebucheintrags herrührt. Er will zwar nicht so weit gehen, den letzten Tagebucheintrag als „aufkeimenden Widerstand“ (BB, 152) zu interpretieren, glaubt er doch darin den „Anfang der Aufkündigung von Gehorsam“ (BB, 152) entdeckt zu haben. Mit der ausdrücklichen Kennzeichnung dieser Interpretation als „Wunsch, mein Wunsch“ (BB, 152), der im Gegensatz zu der Irritation steht, die durch das Fehlen jeglicher Gefühle und Andeutung einer Kritik im Tagebuch des Bruders hervorgerufen wird, spielt er wiederum auf die affektiven Abwehrmechanismen an, die Harald Welzer für die Kinder- bzw. die Enkelgeneration in deutschen Familien in Bezug auf die Konfrontation mit der NS-Familiengeschichte konstatiert. So kann der Leser sich mit Timms Deutung wie auch der Wunschstruktur der nachgeborenen Generation bezüglich der NS-Familienvergangenheit auseinandersetzen. Timms Interpretation des letzten Tagebucheintrags wirft ferner die Frage auf, ob und welche Formen widerständlichen Verhaltens im  Ebd., S. 66 und 87.  Ebd., S. 87.

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NS-Regime möglich gewesen wären.⁷² An der von ihm erwünschten Bedeutung des letzten Satzes lässt sich Timms Verständnis von Zivilcourage ablesen, die mit der Aufkündigung des Gehorsams seinen Anfang nimmt.⁷³ Die Platzierung der letzten Tagebucheintragung am Ende seines Familienbuches lässt sich als Aufforderung an den Leser verstehen, selbst über diesen kryptischen Satz zu reflektieren, der sowohl die Möglichkeit und Grenze des Widerstands im Dritten Reich als auch die sorgfältige Abwägung der Zweideutigkeit der Erinnerung an die NS-Zeit thematisiert. Timms Wechseln zwischen emotionalem und intellektuellem Erzählen, das im Grenzgebiet zwischen familiärer und politischer Sphäre die verschiedenen, nicht widerpruchsfreien Interpretationen initiiert, ermöglicht dem Leser ein Pendeln zwischen imaginativem Nachvollzug und analytischer Distanz.⁷⁴ Zwar trifft auch zu, was einige Kritiker Timms Erzählung generell bescheinigt haben: dass er nämlich „keine Antworten hat, sondern nach ihnen sucht“⁷⁵ und die politisch-gesellschaftlichen Ursachen für den „Abmarsch des Bruders zur SS und die Idiosynkrasien des Vaters“ „in seinem schmerzlichen Erinnerungspuzzle“ nur unzureichend fasst⁷⁶. Aber gerade in zahlreichen unbeholfen wirkenden Passagen des Textes, die „Ungewissheiten“⁷⁷ aufkommen und keine Beruhigung über das Vergangene entstehen lassen, erkennen die meisten Literaturkritiken und Forschungsbeiträge das Bemühen um eine kritische Auseinandersetzung mit der „unabgeschlossenen“⁷⁸ deutschen Vergangenheit, die trotz der erfolgreichen Demokratisierung keinesfalls so bewältigt und vergangen ist, wie offiziell geglaubt wird. Es gelinge Timm, auf der Basis eines fragmentarischen und heterogenen Quellenmaterials die Abgründe kenntlich zu machen und die Distanz zum Geschehen zu

 Vgl. Ulrich Simon: Die Leistung des Scheitern. Widerstehen als Thema und als Problem in Uwe Timms Texten, in: Friedhelm Marx (Hrsg.): Erinnern, Vergessen, Erzählen, S. 203 – 222.  Vgl. Michael Braun: Die Wahrheit der Geschichte(n). Zur Erinnerungsliteratur von Tanja Dückers, Günter Grass, Uwe Timm, in: Judith Klinger/Gerhard Wolf (Hrsg.): Gedächtnis und kultureller Wandel. Erinnerndes Schreiben – Perspektiven und Kontroversen, Tübingen 2009, S. 97– 112, hier S. 110.  Vgl. Sabine Pfäfflin: Einem Schatten auf der Spur – Am Beispiel meines Bruders von Uwe Timm, in: Deutschunterricht (2005) H. 4, S. 24– 30, hier S. 26.  Vgl. Ulrich Greiner: Der Geschichtensammler. Weshalb Uwe Timms Bücher die Kritik nicht wirklich benötigen, in: Helge Malchow (Hrsg.): Der schöne Überfluß. Texte zu Leben und Werk von Uwe Timm, Köln 2005, S. 29.  Vgl. Klaus Siblewski: Die schwierigste aller Fragen, in: Frankfurter Rundschau, 19.09. 2003. Online unter https://www.fr.de/politik/schwierigste-aller-fragen-11729944.html, zuletzt abgerufen am 02.11. 2022.  Ekkehart Rudolph: Familienbild mit Unschärfen. Uwe Timm rechnet ab: Am Beispiel meines Bruders, in: Stuttgarter Zeitung, 07.10. 2003.  Helmut Böttiger: Die braven deutschen Männer, S. 72.

1.2 Dagmar Leupold: Nach den Kriegen. Roman eines Lebens

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halten.⁷⁹ Er könne „seine Erinnerungen nicht belehren, aber er kann mit Hilfe eines inzwischen erworbenen Wissens aus der Geschichte lernen“⁸⁰. Trotz einer ambivalenten Grundhaltung gegenüber der (Familien‐)Geschichte positioniert Timm sich ethisch insofern eindeutig, als er das Postulat der Autonomie des Subjekts, „Nein zu sagen, auch gegen den Druck des sozialen Kollektivs“ (BB, 147), so vehement dem konzept der Normalität entgegenhält. So sehr Timm die Unzugänglichkeit der absoluten Wahrheit über die Vergangenheit voraussetzt, so rutscht er nicht in den moralischen Relativismus, der die Tür zu einem apologetischen Diskurs über den Nationalsozialismus und den Holocaust öffnen könnte.

1.2 Dagmar Leupold: Nach den Kriegen. Roman eines Lebens Im Gegensatz zu Timms Einbeziehung von allen Familienmitgliedern in seine Erzählung und dialogischen Auseinandersetzung mit ihnen nimmt die 1955 geborene Autorin Dagmar Leupold in ihrer 2004 veröffentlichten Familiengeschichte Nach den Kriegen. Roman eines Lebens weniger die Familie als Ganzes in den Blick, als die Vater-Tochter-Beziehung und die Lebensläufe des Vaters. Somit schließt der Text an eine Konstellation der Väterliteratur um 1980 an und kehrt zur antagonistischen Auseinandersetzung mit der Vätergeneration zurück.⁸¹ Der Text beginnt mit dem

 Vgl. dazu Aleida Assmann: Unbewältigte Erbschaften; Rhys Williams: Eine ganz normale Kindheit; Simone Costagli: Family Plots. Literarische Strategien dokumentarischen Erzählens, in: dies./ Matteo Galli (Hrsg.): Deutsche Familienromane, S. 157– 168; die Beiträge von Andrea Albrecht, Michael Braun und Dirk Niefanger in Friedhelm Marx (Hrsg.): Erinnern, Vergessen, Erzählen; Hubert Spiegel: Der Nachkömmling, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 13.09. 2003, S. 44; Jochen Hörisch: Abwesend und doch anwesend, in: Neue Züricher Zeitung, 09.09. 2003, S. 43; Lothar Müller: Bruder ist in großer Not. Und wie die Tür aufging, in: Süddeutsche Zeitung, 05.09. 2003. Online unter https:// www.buecher.de/shop/drittes-reich/am-beispiel-meines-bruders/timm-uwe/products_products/de tail/prod_id/11914993/, zuletzt abgerufen am 02.11. 2022; Ursula März: Gespenstervertreibungen, in: Die Zeit, 18.09. 2003. Online unter https://www.zeit.de/2003/39/L-Timm, zuletzt abgerufen am 02.11. 2022.  Aleida Assmann: Generationsidentitäten und Vorurteilsstrukturen in der neueren deutschen Erinnerungsliteratur, Wien 2006, S. 50.  Werner Jung vergleicht Dagmar Leupold mit Ludwig Harig, dem kanonischen Vertreter der Väterliteratur, um die Vorzüge ihres Romans zu beschreiben. Er lobt die Form für den Prozess der Suche nach Erkenntnis, der Konfrontation mit der Wahrheit und die Offenheit, die die Unsicherheit des Suchenden nicht verbirgt und zieht sein Fazit wie folgt: „Alles in allem jedoch eine wunderbare Erzählung über die Unmöglichkeit des Verstehens und die Notwendigkeit des unausgesetzten kontrafaktischen Versuchs eben hierzu – mithin ein gelungenes Stück Literatur.“ Vgl. Werner Jung: Versuch im Familienarchiv, in: Frankfurter Rundschau, 05.01. 2005. Online unter http://www.fr-aktu ell.de/ressorts/kultur_und_medien/belletristik/?cnt=613595, zuletzt abgerufen am 04.07. 2016.

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Sterben des Vaters und endet mit dem Gang der Tochter zu dessen Grab, was ein strukturelles Merkal der Väterliteratur ist. Die zentrale Frage der Autorin ist, wie „ein gewöhnlicher, begabter Mann“ (NK, 34) so radikal von der nationalsozialistischen Gesinnung geblendet sein konnte. Im Unterschied zu Timm, der die gesellschaftlichen Ursachen für das Fehlverhalten seiner Familie nicht eindeutig erklären will, ist Leupold bemüht, die Mentalität und das Verhaltensmuster der Vätergeneration vor, während und nach dem Krieg zu erfassen.⁸² Während erster Impuls der früheren Väterliteratur der Wunsch nach der generationellen Erneuerung durch den Bruch mit der transgenerationalen Solidarität ist, deutet jedoch die Kraft ihres Antagonismus auf ein zugrunde liegendes Gefühl des Verlusts von Genealogie und ein latentes Verlangen nach einer Herkunftsfamilie hin, die von dem Nationalsozialismus nicht berührt wurde.⁸³ Dabei bildet die Schreibdelegation eine spezifische Form einer psychodynamischen Reaktion auf den Wunsch nach der Rehabilitierung der Genealogie.⁸⁴ Bereits im Titel des ersten Kapitels, das sich wie eine Vorrede liest, wird die auf diesem Wunsch beruhende Position der Erzählerin festgeschrieben: „Vom Verfasser überreicht.“ Angesichts des von ihrem Vater auf sie übergegangenen Stempels, den der Vater für sein Romanprojekt anfertigen lassen hat, spricht die Erzählerin von einem Auftrag: „Der Stempel liegt vor mir, mit seinem wunderlichen Auftrag. Ich nehme ihn mir zu Herzen.“ (NK, 7) Es war der lebenslange Wunsch des Vaters, einen autobiografischen Roman zu schreiben, der erkannt werden würde, „daß die Umwälzungen und Ereignisse seines Lebenszeitraums – der zweier Kriege – noch nie so epochal erfaßt worden seien, wie es in seinem Roman der Fall sein werde“ (NK, 103), ein Vorhaben, welches unerfüllt als bleibender Mangel sein letztes Lebensjahrzehnt prägte. Die Erzählerin sieht diesen vom Vater geerbten Stempel als eine posthume Aufgabe, sein gescheitertes Romanprojekt zu Ende zu bringen.Wenn die Tochter sich nun „seinem wunderlichen Auftrag“ widmet, signalisiert sie zugleich ihr Bedürfnis danach, mehr über ihren Vater zu erfahren, um dessen Wesen und Verhalten besser zu begreifen: „Im Roman hätte sein Leben eine Form und ein Format erhalten, da er ungeschrieben blieb, schien es ihm immer vergeblicher und ungestalter.“ (NK, 7) Sie begreift ihr Schreibunternehmen als „die Übertragung der Interpretationsaufgabe“⁸⁵, die dem beschädigten Selbst von Vater und Tochter die

 Vgl. Angelika Overath: Vaterarbeit, in: Neue Züricher Zeitung, 14.09. 2004, S. 45.  Vgl. Anne Fuchs: Generational Conflict and Masculinity in Väterliteratur by Christopf Meckel, Uwe Timm, Dagmar Leupold and Ulla Hahn, in: dies. (Verf.): Phantoms of war in contemporary german literature, films and discourse. The politics of memory, Houndmills [u. a.] 2008, S. 20 – 44.  Vgl. Michael Ostheimer: Ungebetene Hinterlassenschaft, S. 316.  Heinz Bude: Die Achtundsechziger-Generation im Familienroman der Bundesrepublik, in: Helmut König/Wolfgang Kuhlmann/Klaus Schwabe (Hrsg.): Vertuschte Vergangenheit. Der Fall Schwerte und die NS-Vergangenheit der deutschen Hochschulen, München 1997, S. 287– 300, hier S. 297.

1.2 Dagmar Leupold: Nach den Kriegen. Roman eines Lebens

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Gestalt, d. h. Möglichkeit der Identitätsbildung verleiht, die nur das geschriebene Wort zur Verfügung stellen kann⁸⁶: Auch mir geht es hier um diese vermißte Gestalt, eine Gestalt, deren Beschädigung durch Krieg geschah. Der Krieg geht mitten durch die Familie, ein Graben. Auf der einen Seite diejenigen, die ihn erlebt haben, und auf der anderen diejenigen, die ihn nicht erlebt haben. Vielleicht wäre ein Buch eine Brücke gewesen, vielleicht wäre ein Buch die Lüge schlechthin gewesen. Erst in der Imagination gewinnt Gestalt, was mir in der Wirklichkeit entging. (NK, 7)

An dieser Stelle lässt sich feststellen, dass die Familienmitglieder durch unterschiedliche historische Erfrahrungen in zwei Lager eingeteilt sind und die NS-Vergangenheit dabei eine zentrale Rolle spielt. Angesichts der zerrissenen familiären Generationenbeziehung drängt sich die Frage auf, wie man bei dieser dichotomischen Ausgangskonstellation eine geschädigte Familiengenealogie als Teil der persönlichen Identität rekonstruieren bzw. restaurieren sollte. Der Graben, der aus der durch die beiden Weltkriege verursachten „fundamentalen Erfahrungsasymmetrie“⁸⁷ zwischen dem Vater und der Tochter hervorgeht, prägt auch formal und inhaltlich die Gestalt des Textes. Der Roman unterteilt sich nach einer kurzen Vorrede in zwei Erzählungen. Die eine Hälfte ist durch die rückblickende Erinnerung der Erzählerin an ihre Kindheit, den Familienalltag und den Umgang des Vaters mit seiner Vergangenheit im Nachkriegsdeutschland geprägt. Auf dieser Ebene wird der Vater als ein Privatmann dargestellt. Der zweite Teil (ab S. 111) konzentriert sich hauptsächlich auf die Forschung zur beruflichen Laufbahn des Vaters in der NS-Zeit. Der Vater wird hier vor allem als politisch handelndes Subjekt betrachtet. Dieser Teil der Nachforschung stützt sich hauptsächlich auf die nachgelassenen Tagebücher und literarischen Versuche des Vaters sowie Archivquellen. Das Verfahren basiert auf dem Hinterfragen und der Dekonstruktion des bisherigen Vaterbildes, das einer Korrektur unterzogen wird. Parallel dazu ändert sich auch eine Erzählsituation von dem erlebenden Ich aus der Perspektive eines Kindes hin zum erzählenden, kommentierenden und reflektierenden Ich in der Schreibgegenwart. Mit den zwei verschiedenen Lebensphasen (vor und nach dem Tod des Vaters) gehen die unterschiedlichen Haltungen der Erzählerin gegenüber dem Vater (emotionale Distanz, Entfremdung vs. die Suche nach der Erklärung, der Wille zum

 Die Ansätze zur narrativen Identität weisen darauf hin, „dass eine Erzählung nicht nur pragmatisch-interaktive oder ästhetische Funktionen erfüllt, sondern als elementarer anthropologischer Modus der Orientierungsbildung spezifische Funktionen für die Identitäsformation erfüllt“. Vgl. dazu Birgit Neumann: Literatur, Erinnerung, Identität, in: Astrid Erll/Ansgar Nünning (Hrsg.): Gedächtniskonzepte der Literaturwissenschaft. Theoretische Grundlegung und Anwendungsperspektive, Berlin/New York 2005, S. 149 – 178, hier S. 155.  Michael Ostheimer: Ungebetene Hinterlassenschaften, S. 311.

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Verständnis) und die unterschiedlichen Modi des autobiografischen Erinnerns (field memories vs. observer memories) einher.⁸⁸

1.2.1 Spaltende Kraft der Familienlegende Das zweite Kapitel beginnt mit der rückblickenden Erzählung der Erzählerin, Mutter einer „wenige Monate alten Tochter“ (NK, 11), die im Flugzeug sitzt, um an der Beerdigung des Vaters teilzunehmen, die sie jedoch wegen der Verspätung ihres Fluges verpasst. Sie erinnert sich an den letzten Besuch bei ihrem todkranken Vater im Krankenhaus. Die Erinnerung daran, den nackten Körper des Vaters vor seinem Tod gesehen zu haben, kommt ihr besonders unheimlich vor: Daß ich von ihm abstammte – eine Abzweigung, ein Ausschnitt war –, schien mir im Zustand der Nacktheit auf die wörtliche Bedeutung reduziert, alles Potentielle war gelöscht zugunsten einer fest berechneten Summe. […] Kleidung war etwas Öffentliches, war Lebensstoff, Kleidung erzählte vom Vater und wies nicht auf die Tochter zurück. Im nackten Körper dagegen war der Vater – auf dem Kind unheimliche Weise – ohne Vorwände zu Hause und ähnelte darin allen anderen Menschen. Also auch der Tochter. (NK, 19)

Ohne den Schutz seiner eitel gepflegten öffentlichen Persönlichkeit entblößt der Vater in seiner Krankheit den natürlichen Verfallsprozess und die „Haltlosigkeit“ (NK, 105), die er zeit seines Lebens zu verbergen suchte. Für die Erzählerin ist dieser Anblick des nackten Körpers des sterbenden Vaters beklemmend, weil er eine existenzielle Gemeinsamkeit zwischen ihr und ihrem Vater, dem sie sich durch die Distanzierung glaubte entzogen zu haben, in den Vordergrund rückt. Während ihre neu geborene Tochter „Zukunft und Zuversicht“ „ohne Geschichte, ohne Vergangenheit“ (NK, 11) und den Wunsch nach einem Neubeginn verkörpert, zwingt der Tod ihres Vaters sie, sich als Teil einer unerwünschten Genealogie zu sehen. An dieser Stelle wird die Erzählerin sich der Ausweglosigkeit der Vater-Kind-Beziehung bewusst. Sie erkennt, dass die Identität des Kindes allein durch die Existenz des Vaters begründet wird: „Den Vater gab es auch ohne sie, sie, die Tochter, gab es ohne ihn nicht. Beklemmend war das und raubte den Mut.“ (NK, 67) Damit wird die Vergeblichkeit der bisherigen Bemühungen, sich von dem Vater abzugrenzen⁸⁹

 Vgl. ebd., S. 310; Verena Auffermann: Drei Finger und ein Esel, in: Süddeutsche Zeitung, 30.08. 2004, S. 14.  Vg. NK, 24: „Ich ging nach Italien; eine von vielen Entscheidungen, die aus dem Wunsch geboren waren, das genaue Gegenteil dessen zu tun, was über die Familiengeschichte gewissermaßen standardisiert, als Norm vorgegeben war.“

1.2 Dagmar Leupold: Nach den Kriegen. Roman eines Lebens

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deutlich, da der Vater als eine Gegenidentifikationsfigur einen festen Bestandteil ihrer Identität bildet. Aus dem Wunsch, einen anderen Weg einzuschlagen als ihr Vater erfolgte die bewusst gestaltete Ich-Entwicklung der Erzählerin auf Basis einer Negativfolie, nämlich des Lebens ihres Vaters. In dieser Hinsicht ist die Verleugnung des Vaters paradoxerweise einer Flucht vor dem eigenen Selbst gleichzusetzen. Deshalb bildet der Tod des Vaters den Anlass für die Erzählerin, sich auf die Suche nach Souveränität mit eigenen Handlungsansätzen zu begeben.⁹⁰ Die frühe Distanzierung, die sie als Kind aus einem Selbstschutz-Instinkt heraus entwickelt hat, bricht mit dem Tod des Vaters. Sie sieht das Bedürfnis, ihren Vater zu verstehen, als ein Zeichen der Veränderung in ihrem Prozess der Selbstwerdung. Trotz der Anerkennung der Unvermeidbarkeit familiärer Zugehörigkeit bringt die Begegnung mit dem Vater bald an den Tag, dass der bevorstehende Tod des Vaters nur einen schwelenden inneren Konflikt neu entfacht hat, der von der versehrten Liebe geprägt ist: Ich hatte mir […] Klarheit vom Ende erhofft. Auf einen Schlag zu begreifen, was es hieß, Tochter zu sein, Tochter dieses Mannes. Es war aber alles wie immer: Unlust, Hadern, versehrte Liebe, Wunsch nach Ferne. Entsprungen will man sein, nicht erzeugt. Hier aber wurde alles wieder auf die Anfänge zurückgeführt. (NK, 30) Den Tod hatte ich für das Ereignis gehalten, das die Verstellungen und das Hadern überwindet, sie Lügen straft. Aber derjenige, der hier im Bett lag und seinem Ende entgegendämmerte, rückte nicht näher. (NK, 33)

Die Unfähigkeit, irgendwelche Gefühle für den im Sterben liegenden Vater zu empfinden und von ihm auch emotional Abschied zu nehmen, bringt die Erzählerin dazu, über ihre Beziehung zu ihm zu reflektieren.Vor dem Hintergrund der Aussicht auf den endgültigen Abschied sowie der genealogischen Kontinuität, deren symbolischer Ausdruck der vom Vater geerbte Stempel ist, sieht sie sich mit der „Frage nach Klärung von Herkunft und zukünftigen Selbstentwurf“⁹¹ konfrontiert. Dabei wird es für sie deutlich, dass der Vater ihr unnahbar geblieben ist: „Worauf freute er sich? Wovor hatte er Angst? Ich wußte fast nichts über ihn.“ (NK 31) Die Beziehung zu ihm wurde nie näher definiert. „Vater beschrieb kein Verhältnis, sondern war ein Name.“ (NK, 67) Während seiner Lebzeiten blieb der Vater für die Tochter ein aufgeschlossener, liberaler Sympathisant für die 68er, der sich allem Etablierten gegenüber – zum Beispiel der christdemokratischen Regierung – kritisch, sogar spöttisch verhielt. Dabei weist die Erzählerin darauf hin, dass sich dieses Vaterbild  Erikson weist darauf hin, dass „die Identitätsbildung beginnt, wenn die (ungefragt übernommenen) Identifikationen mit den Personen aus der Vergangenheit enden“. Vgl. Erik Homburger Erikson: Identität und Lebenszyklus. Reihe Theorie 2, Frankfurt a. M. 1966.  Mathias Brandstädter: Folgeschäden, S. 186.

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der Aussparung der eigenen biografischen Unwägbarkeiten und Fehler sowie der Wiederholung und Stilisierung vergangener Ereignisse durch den Vater verdankt. In diesem Zusammenhang macht sie auf den trügerischen Charakter von Familienbindungen aufmerksam, die auf Mythen fußen: Keine Familie ohne Legendenbildung, aber unsere, dachte ich hier, hielten nicht stand. Sie hatten nicht Bindungen geschaffen, ja nicht einmal Gewissheiten, sondern Hindernisse, Zweifel, Ballast. Daß immer wieder dasselbe erzählt wurde, machte es für mich, hier, an seinem Bett sitzend, vom Abschied verstört, nicht vertrauenswürdiger, sondern verdächtiger. Es waren womöglich Deckversionen, Tarnungen des Schweigens und Widersprüchlichen. […] Was er war, bevor er mein Vater wurde, blieb so lange unter einer Schichte schützender Mythen verborgen, wie Erzähler und Zuhörer diese speisten. […] Sich gegenseitig etwas anzudichten ist nicht ausschließlich dem Wunsch geschuldet, Unangenehmes zu beschönigen. Es entsteht auch aus dem Verlangen nach begründbarem Zusammenhalt: Der stellt sich ein, kaum daß eine Geschichte beginnt. (NK, 33 f.)

Im Gegensatz zu der Sichtweise, die der deutschen Nachkriegsfamilie eine Leistung der„Bewältigung der Auswirkungen von Nationalsozialismus und Kriegsgeschehen“ zuschreibt⁹², bringt die Erzählerin hier erhebliche Zweifel an dem „umstandslose[n] Vertrauen auf die Heilkraft der Familie“⁹³ zum Ausdruck. Die harmlose bürgerliche Fassade ihrer Familie stützte sich nicht auf Geborgenheit und Verständnis, sondern auf Kommunikationsmuster, die zur „Aussparung, Blockierung und Verzerrung ganzer Themenfelder“⁹⁴ führten und bei den Nachgeborenen ein „Vermeidungsverhalten“⁹⁵ erzeugten. Nach der Logik dieser Kommunikationsmuster wurde nichts zum Thema, was nicht zum Thema werden durfte. Bei Familie Leupold trug die Herausbildung der Legende einen zwiespältigen Charakter. Zum einen bewahrt die Familienlegende das zum Klischee erstarrte Vaterbild, zum anderen entstand sie dadurch, dass die Tochter dem Vater „Vorlieben und Aversionen“ (NK, 217) andichtete und ihm dadurch „eine Gestalt mit festen Umrissen“ (NK, 217, Hervorh. i. O.) verlieh, „weil er so fremd blieb“ (NK, 217). Die Aufgabe, dem Leben des Vaters durch Erzählung die endgültige Gestalt zu verleihen, besteht somit darin, dem Wahrheitsgehalt von Familienlegenden auf die Spur zu kommen und das auf Mythen basierte Vaterbild zu dekonstruieren.

 Vgl. Vera Neumann: Nicht der Rede wert. Die Privatisierung der Kriegsfolgen in der frühen Bundesrepublik. Lebensgeschichtliche Erinnerungen, Münster 1999, S. 167.  Svenja Goltermann: Die Gesellschaft der Überlebenden. Deutsche Kriegsheimkehrer und ihre Gewalterfahrungen im Zweiten Weltkrieg, München 2009, S. 131.  Brigitte Rauschbach: Stille Post, S. 253.  Ebd.

1.2 Dagmar Leupold: Nach den Kriegen. Roman eines Lebens

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1.2.2 Nachkriegsfamilie. Die Gefahr der Alltäglichkeit Die Erzählerin stützt sich zunächst auf ihre Kindheitserinnerungen, die das Nebeneinander von alltäglichen Riten und refressiver Atmosphäre im Familienleben der Nachkriegszeit vergegenwärtigen. Im ersten Teil des Romans geht es um eine Kindheits- und Familiengeschichte, deren Erzählgestus die wankenden Fassaden einer Nachkriegsfamilie aus der naiven Perspektive des Kindes mit viel Ironie und Humor bloßlegt. Eine entscheidende Rolle spielt dabei nicht der Mechanismus des Erinnerns, sondern primär die des Vergessens. Die Erzählerin mißtraut dem Prozess und der Funktionsweise des Erinnerns, „[d]enn Erinnern gilt zunächst nur dem, was bereits da ist“ (NK, 37). Im Akt des Erinnerns ist die Realität schon der „Fabrikationen, Eingemeindungen des Fremden“ (NK, 39) ausgesetzt, indem man „erzählt, also verknüpft“ (NK, 39). Die Erzählerin macht auf Schutzmechanismen des Vergessens aufmerksam, der die vom Bewusstsein nicht zu verarbeitenden Geschehnisse filtert und im Körper „fossilisiert“ (NK, 39), wo diese in einem Zustand der Latenz versetzt werden und als „Zeichen und Beschwörung“ (NK, 38) unterschwellig wirken, bis sie als Symptome plötzlich unverhofft wiederauftauchen: Warum fiel mir das jetzt bloß ein? Aus welcher Verwerfung entstehen inmitten verhangener Ungewißheiten stechend scharfe Bilder? […] Womöglich ist das Vergessen viel stärker mit der eigenen Haut verbündet als das Erinnern. Das Erinnern findet seine Gegenstände, seine Umstände vor, das Vergessen wählt aus, was es nicht mehr Geschichten anvertraut, sondern nur noch einem internen Stoffwechsel. Es wehrt sich gegen das Vorgefundene aus Not. (NK, 26)

Das Vergessene wird auf diese Weise – als Spuren der Zeit – im Körper eingelagert. Die Erzählerin vergleicht die unbewusst im Körper gespeicherten Daten mit „der Zeppelin an jenem fernen Samstag- oder Sonntagherbstmorgen“, einer „Art Satzzeichen am Himmel, das sich erst Jahrzehnte später in einen Satz würde einfügen lassen“ (NK, 38). Dieser Vergleich enthält wichtige Hinweise auf die dem Roman zugrunde liegende Vorstellung von Körpergedächtnis und Erinnerungsprozess. Der Bewusste Erinnerungsprozess verliert seine Funktion, paradoxerweise genau in dem Moment, wo die vergessen geglaubten, aber im Körper eingebrannten Erlebnisse rückgängig gemacht worden sind. Folglich steht der episodische Charakter des autobiografischen Erinnerns im Vordergrund, das nicht aus einem Zeitfluss, sondern aus einer Reihe von Punkten besteht, von denen die Erzählerin ihre Kindheitserinnerung neu rekonstruiert. Mit der Reflexion über das Verhältnis von Erinnern und Vergessen signalisiert die Erzählerin, dass „die Signaturen des Vergessens“ (NK, 38) für sie in der Folge das Reservoir der Vergegenwärtigung ihrer Kindheit und des Familienlebens bilden werden:

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Ich erinnere ihn. Der einzige verläßliche Teil der Erinnerung ist der Körper. Das ist der Anfang. Riechen, Schmecken, Tasten. Hören und Sehen vergehen nicht. Erinnern und Vergessen sind verschränkt und beauftragt in einer Selbstschöpfung – wir erfinden uns und geben unseren fragmentarischen Körpern die Würde einer Geschichte, in der Fiktion zum ersten Mal total. Aus Bruchstücken der Vater, aus Bruchstücken die Tochter […]. (NK, 34)

Mit diesen Reflexionen lehnt sie sich gegen den allein über das Bewusstsein des erzählenden Subjekts ausgeführten Rekonstruktionsprozess auf, da er den Mechanismen des Vergessens und des Körpergedächtnisses nicht gerecht ist. Außerdem lässt sich an diesen Reflexionen über die Erinnerung auch ihr poetologisches Selbstverständnis ablesen: Ein adäquater Identitätsentwurf und eine Klärung von familiärer Herkunft durch die Konstruktion des greifbaren Vaterbildes und Selbstbildes können nur über den Weg der Transformation der vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Spuren ins Narrativ gelingen. Erst durch die zur Sprache gebrachte Aufarbeitung der Vergangenheit werden der Vater und die Tochter mir realer Gestalt versehen und der unterschwelligen Dynamik des Vergessens entzogen. Entsprechend beschreibt die Erzählerin ihre Kindheitserlebnisse fortwährend in der dritten Person, nennt das erlebende Ich ‚die Tochter‘. Die Erzählung wechselt bisweilen jedoch in die heterodiegetische Erzählsituation, die die gegenwärtig noch wirksame distanzierende Haltung der Erzählerin gegenüber ihrer beklemmenden Kindheit kommentiert. Symptomatisch für das Familienleben in der Nachkriegszeit sind die anhaltende Fixierung des Vaters auf die Kriegserzählungen und die Überlagerung des Alltags von vergangenen Ereignissen: „Krieg und Essen hingen jedenfalls zusammen.“ (NK, 43) Der Vater war 1913 im schlesischen Bielitz zur Welt gekommen, der nach dem ersten Weltkrieg polnisches Staatsgebiet wurde. Er hat im Laufe des Krieges ein paar Finger durch Granatbeschuss beim Partisanenangriff in Serbien verloren. Nach dem verlorenen Krieg ins Deutschland übergesiedelt, wird er Studienrat für Mathematik und Physik in Mainz. In der Schule ist er für seine „Wutausbrüche“, „Scharfzüngigkeit“ und „Unbarmherzigkeit“ (NK, 23) bekannt. Im familiären Rahmen erweist sich der Vater als ein von einem „krankhaften Geltungsdrang“ (NK, 105) dominierter Despot. Er schiebt es auf die seiner Meinung nach widrigen Umstände, wie z. B. den Schuldirektor, den Kultusminister, die regierenden Christdemokraten und die ihn „zum Unwesentlichen“ zwingende Familie, dass er als ein Flüchtling aus dem Osten wie ein Mensch zweiter Klasse behandelt wird, dass seine hochfliegenden Pläne gescheitert sind und dass sein Leben schließlich „die Enttäuschung“ (NK, 87) geworden ist. Nachdem der Wunsch, „Dichter sein zu wollen“ (NK, 26) nicht erfüllen lässt, ist der Vater bestrebt, „die eigene Teilhabe am Wirtschaftswunder-Wohlstand unter Beweis zu stellen“ (NK, 23). Der Besitz von Statussymbolen wie „ein[em] Haus,

1.2 Dagmar Leupold: Nach den Kriegen. Roman eines Lebens

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ein[em] Auto, „ein[em] Fernseher“ (NK, 104) kann allerdings „die erlittenen Verluste“ (NK, 93) nicht ausreichend kompensieren, die der Vater als Kriegsversehrter und Heimatvertriebener glaubt erfahren zu haben: „Die Depressionen kehrten zurück, in dem Maße, in dem die Freude über das Erreichte und Gekaufte verblaßte.“ (NK, 104) „[Die] Vertriebenepolitik, [das] Treffen der Franken in Salzburg und [die] Lautverschiebungen in den slawischen Sprachen“ (NK, 99) stehen darum immer wieder im Mittelpunkt der „gefürchteten Vorträge, die anstelle eines Gesprächs traten“ (NK, 98) und „unaufhaltsam wie Dauerregen“ (NK, 44) strömten. Wie bei Familie Timm ist die wiederholten Erzählungen der Vergangenheit bei Familie Leupold auch auf die Formel reduziert: „Bei der Vertreibung hat man alles verloren, […] Es hat uns hierher verschlagen.“ (NK, 72, Hervorh. i. O.) Dieses Übermaß der väterlichen Monologe führt zur regelrechten Erstarrung und Störung der Realitäts- bzw. Selbstwahrnehmung der Tochter: Der Krieg beherrschte die Gespräche – vielmehr das Reden des Vaters – derartig, daß die Tochter das, was sie selbst erlebte, nicht für wirklich, also für erzählbar, hielt. Der Krieg, der fünfzehn, zwanzig Jahre zurücklag, war das einzige Geschehen, das Erzählung verdiente und erzwang. Und Nicht-erzähltes gewann einfach nicht den Rang eines Ereignisses. Vielleicht ist dies das Katastrophalste an Katastrophen. (NK, 45)

Im Gegensatz zur Dominanz der Kriegsgeschichte in der familiären Kommunikation, wird die Beziehung der Tochter zum Vater durch „eine ungeheure Isolation“ (NK, 99) gekennzeichnet. Es scheint ihr, „daß Familie die Lebensform der Einsamkeit war“ (NK, 101). Selbst ein missglückter Selbstmordversuch der Tochter scheint im Gegensatz zu den Kriegsgeschehnissen nicht genügend Gesprächsstoff zu bieten, um persönliche Beziehung zu den Eltern zu verbessern, wie die Erzählerin rückblickend immer noch betroffen beschreibt: Wenn man stürbe, dann wäre man genau beschrieben, dann hätte man eine abgeschlossene, gewisse Geschichte. […] Der Tochter schien es einen Versuch wert. […] Aber es erhellte nichts und veränderte nichts, das Schweigen blieb der Inbegriff jedes Gesprächs. (NK, 99)

Die gefühlte „Hilflosigkeit und kein Entrinnen“ (NK, 98) des Familienalltags, welche durch die kommunikative Dominanz des Vaters mit einem Verlust an Realitätssinn der Tochter einhergehen, versucht die Tochter über den Weg der Schaffung der Fantasiewelt zu bewältigen: „Vorerst mußte man Veränderungen erfinden.“ (NK, 47) Mit der kindlichen Fantasie schafft sie ein alternatives Leben als Pferd und ein alter Ego namens Leonie: der unausgesprochene Kampf in der identitätsbedrohenden und die Seele tief verwundenden Familie um die Wahrnehmung der eigenen Emotionen. Die Derealisation und gleichzeitige Erfindung einer Fantasiewelt

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1 Deutscher Opferdiskurs

kann als psychische dissoziative Symptomatik, also eine unbewusste Strategie der Abspaltung betrachtet werden⁹⁶: Die angenehme Folge davon war, daß das Leben als Pferd und das Leben als Leonie dadurch wirklicher wurden – wenn das als Tochter im Vergleich zu dort unwirklich war, dann war das eine automatisch eintretende, wundersame Aufwertung der Erfindungen. (NK, 74)

Diese psychische Bewältigungsmaßnahme der Tochter durch die Flucht von der bedrohlich empfundenen realen Welt in die imaginäre Welt und die Schaffung anderer Identitäten deutet auf eine transgenerationale Übertragung hin. Im Hinblick auf den hier angedeuteten psychodynamischen Übertragungsprozess sind die Fragen, die Freud in seiner Studie Der Mann Moses und die monotheistische Religion aufgeworfen hat, relevant: „Wieviel man der psychischen Kontinuität innerhalb der Generationsreihen zutrauen kann und welcher Mittel und Wege sich die eine Generation bedient, um ihre psychischen Zustände auf die nächste zu übertragen.“⁹⁷ Befreit sich der Vater von seinen traumatischen Kriegserlebnissen und der mit der Vertreibung stattgefundenen narzisstischen Kränkung versuchsweise durch die Fixierung auf die Vergangenheit, also ‚dort und damals‘ sowie die eher fiktiv aufgeladenen Erzählungen, die den Kindern den Blick auf die Realität, also ‚hier und jetzt‘ verstellen, so greift dieser psychische Abwehrmechanismus auf die Tochter über. Die transgenerationale Übertragung findet nicht nur durch die verbalisierte Familienerzählung statt, sondern mehr noch durch den Habitus im Sinne Pierre Bourdieus, also die „Prägung präreflexiver Haltungen, die ihren Ausdruck finden in basalen Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsschemata, aber auch […] in Gefühlen und Körperhaltungen“⁹⁸. Das Puppenspiel der Töchter veranschaulicht die von den Kindern habitualisierten Erziehungsstile und Gewaltmuster der Eltern. Mit dem Puppenspiel ahmen die Töchter ihr Familienleben „unter halblauten, eher strengen Ermahnungen“ nach, „von dem sie sich auf diesem Wege einholen“ (NK,

 Vgl. Ruth Leys: Trauma. A Genealogy, Chicago 2000. Das Konzept der Dissoziation geht zurück auf Pierre Janet, der Freuds Theorie der Verdrängung vorweggenommen hat.  Sigmund Freud: Der Mann Moses und die monotheistische Religion: Drei Abhandlungen, in: ders.: Studienausgabe Bd. 9, hrsg.von Alexander Mitscherlich, Frankfurt a. M. 1974, S. 441. Freud geht davon aus, „daß im psychischen Leben des Individuums nicht nur selbsterlebte, sondern auch bei der Geburt mitgebrachte Inhalte wirksam sein mögen, Stücke von phylogenetischer Herkunft, eine archaische Erbschaft“ (Ebd., S. 545, Hervorh. i. O.) und behauptet, „daß die archaische Erbschaft des Menschen nicht nur Dispositionen, sondern auch Inhalte umfaßt, Erinnerungsspuren an das Erleben früherer Generationen“ (Ebd., S. 546).  Sebastian Winter: Lieber „Kriegskind“ als „Täterkind“? Sozialpsychologische Überlegungen zur affektiven Funktion erinnerungskultureller Generationenkonstruktionen, in: Oliver von Wrochem (Hrsg.): Nationalsozialistische Täterschaften, S. 102– 112, hier S. 103.

1.2 Dagmar Leupold: Nach den Kriegen. Roman eines Lebens

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55). Wenn die Puppenkinder bei dem Vortrag der die Rolle des Vaters spielenden Puppe namens Hans nicht stillhalten, strafen die Töchter sie „mit Prügel auf den nackten Puppenhintern“ (NK, 55). Die permanente Thematisierung der Eltern von „dort, von wo es die Eltern nach hier verschlagen hatte“ (NK, 73, Hervorh. i. O.) und die Beschwörung des Vaters von der vermeintlichen Diskriminierung der Flüchtlinge finden ihre Nachwirkungen im beiläufigen Verhalten der Kinder, wenn sie die den Dialekt sprechende Puppe bestrafen. In diesem Zusammenhang tritt die Frage nach dem Antreten des väterlichen Erbes auf den Plan. Was ihre Sehnsucht nach der Formung der Gestalt des Wesens erst durch das Narrativ anbetrifft, so thematisiert die Erzählerin am Ende des Romans explizit das Phänomen der transgenerationalen Determination⁹⁹ durch den väterlichen Wunsch, den autobiografischen Zeitroman zu verfassen: „Bereits als Kind verkündete ich, Schriftstellerin werden zu wollen. War das meine Idee? Oder war das der Reflex auf das vom Vater so behaarlich betriebene, so beharrlich vermiedene Streben nach Form und Fomat?“ (NK, 189) Den ersten Teil ihrer Erzählung, der ihre Kindheit und ihren Vater als private Person aus der beschränkten Perspektive eines Kindes sowie mit Hilfe des Körpergedächtnisses rekonstruiert und daher aus Gefühlen, Eindrücken und Ahnungen aufgebaut wird, schließt die Erzählerin mit einer Modifikation des Platonischen Höhlengleichnisses, das mit dem Motiv des Gefesselten den repressiven Rahmen des von dem Vater dominierten Familienlebens und die Verblendung ihres Vaters und ihrer selbst illustriert. Gleichzeitig äußert sich darin der Wille zur Befreiung aus der Welt des Vaters, des Schattens und ihrem Geblendet-Sein, sowie zum Aufstieg ans Tageslicht:

 Vgl. Jörn Rüsen: Historisch trauern – Skizze einer Zumutung, in: Burkhard Liebsch/Jörn Rüsen (Hrsg.): Trauer und Geschichte, Köln/Weimar/Wien 2001, S. 72. Als Delegierte ihrer Eltern sind Kinder oftmals unbewusst bestrebt, das elterliche Ich-Ideal zu realisieren, „d. h. in die unbewußten Triebkräfte ihres Handelns gehen oftmals Wünsche ihrer Eltern ein, die den Beteiligten nicht bewußt sind, da sie nicht eingestanden und nicht gelebt werden können“. Vgl. auch dazu Heinz Bude: Die Achtundsechziger-Generation im Familienroman der Bundesrepublik, S. 296 f.: „Für die Kriegskinder stellt die Geschichte ihrer Eltern daher eine Last dar, die ihre eigene Geschichte zu erdrücken droht. Sie bilden einen Behälter für Erwartungen, die nicht ihr eigenes, sondern das Leben ihrer Eltern betreffen. […] Es handelt sich um eine besondere Form der Identifizierung, durch die eine verborgene Geschichte der vorhergehenden zur beherrschenden Geschichte der nachfolgenden Generation wird. Der Mechanismus dieses Ineinanderrückens der Generationenfolge besteht in einer identifikatorischen Gefangennahme. In Umkehrung des Gesetzes der Sozialisation muß das Kind stellvertretend die Deutung gewisser Probleme seiner Eltern übernehmen. […] Das ist etwas ganz anderes als die mehr oder minder normale Delegation überschüssiger Affekte und unausgelebter Wünsche von seiten der Eltern auf ihre Nachkommen.“

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Wenn einer entfesselt wäre und gezwungen würde, sogleich aufzustehen, den Hals herumzudrehen, zu gehen und gegen das Licht zu sehen, und, indem er das täte, immer Schmerzen hätte und wegen des flimmerden Glanz nicht vermöchte, jene Dinge zu erkennen, wovon er vorher die Schatten sah: was meinst du wohl, würde er sagen, wenn ihm einer versicherte, damals habe er lauter Nichtiges gesehen, jetzt aber, dem Seienden näher und zu dem mehr Seienden gewendet, sähe er richtiger, und, ihm jedes Vorübergehende zeigend, ihn fragte und antworten zwänge, was es ist? Meinst du nicht, er werde ganz verwirrt sein und glauben, was er damals gesehen, sei doch wirklicher als was ihm jetzt gezeigt werde? (NK, 109, Hervorh. i. O.)

Diese Passage bringt das Anliegen der Erzählerin zum Ausdruck, die eindimensionale, verzerrte Vaterlegende zu vervollständigen, die ausschließlich auf stichwortartigen Erinnerungsmustern von „Angriffen, Lazaretten, Schußwunden und Schlesien“ (NK, 44) fußt und nichts anderes als das beredte Schweigen ist. So erklärt die Erzählerin in Verknüpfung ihrer Identität mit dem Nachlass ihr Vorhaben: So bleibt mir, dem damaligen Zuhörer, nur, alles Erzählte – nicht anders als das Nichterzählte – neu aufzusuchen, neu zu begreifen, zu einer Geschichte zu vollenden – oder dem Unfertigen, Unverständlichen stattzugeben. Als nachgelassene Tochter. Als niemals verabschiedete Tochter. (NK, 111)

In dieser Ankündigung bringt die Erzählerin ihren Wunsch nach der Neubewertung der familiären Genealogie im Rahmen der eigenen Generationsidentität zum Ausdruck. Den Krieg nicht erlebt zu haben hat die Erzählerin durch die Zugehörigkeit zu der Nachkriegsgeneration als „eine unverdiente Vergünstigung, die man nur schweigend, verschwindend und schuldbewußt in Anspruch nehmen durfte“ (NK, 45) empfunden. Die Erzählerin leitete daraus ihre eigene Position einerseits als einen passiven Zuhörer auf der familiären Ebene und andererseits als Vertreter einer nachgeborenen Generation und deren Blicks auf die Zeitgeschichte auf der politisch-gesellschaftlichen Ebene ab. Das Wissen um „ein historisches Privileg“ (NK, 168), sich empören zu können, in Kombination mit dem Selbstvorwurf wegen ihres Versäumnisses, den Vater nicht zur Rede gestellt zu haben, als er noch am Leben war, bildet die Grundhaltung der Erzäherin für die Konstituierung des neuen Vaterbildes im zweiten Teil der Erzählung. Im Zentrum der Rekonstruktion des Lebens des Vaters steht die Haltung des Verstehenwollens unter besonderer Berücksichtigung der Hintergründe und Handlungsspielräume der damaligen Zeit. Die Beweggründe und Motive des Vaters werden genauso wie die Folgen der väterlichen Entscheidungen nach dem Erklären-Verstehen-Prinzip und auf der Logik des Wahrscheinlichen aufbauend untersucht. Die Erzählerin knüpft ihre zeitgenössische Perspektive auf die NS-Vergangenheit an den geschichtlichen Horizont, in dem der Vater verankert war. Dies ist ein Versuch, um zeitliche Generationengrenzen und emotionale Grenzen in der Vater-Kind-Beziehung zu überschreiten.

1.2 Dagmar Leupold: Nach den Kriegen. Roman eines Lebens

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Dabei schreibt die Erzählerin dem Zeitgeist eine entscheidende Bedeutung für das Verhalten und Handeln des Vaters zu. Der Ausgangspunkt der Erforschung der Biografie des Vaters lässt sich in folgender Kernfrage zusammenfassen: Wie kann ein kluger, gebildeter Mann so verblendet sein, daß er Krieg und Völkermord nicht mit einem einzigen kritischen Wort kommentiert, sondern diese als eine Wegbereitung wahrnimmt, die ihm das Erreichen seiner ehrgeizigen Ziele wesentlich erleichtert. (NK, 134)

Dabei werden auch Fragen nach den alternativen Handlungsmöglichkeiten in Betracht gezogen: „Hätte er einen anderen Blick darauf werfen können? Hätte er so frei sein können? Gab es Spielräume? Hätte er sie nutzen können?“ (NK, 168)

1.2.3 Historische Wahrheit über den Vater Um ein Persönlichkeitsprofil des Vaters zu erstellen, greift die Erzählerin auf die Tagebücher und die literarischen Entwürfe des Vaters sowie historische Forschungsergebnisse zurück. Das, was die Erzählerin aus diesen Quellen erfährt, ist jedoch radikal diskontinuierlich einerseits und erschreckend kontinuierlich andererseits. […] Wie von der falschen Seite des Magneten in alle Richtungen zerstreute, zerstobene Späne breiten sich die Lebenszeugnisse vor mir aus […]. Die Splitter lassen sich chronologisch und räumlich ordnen, aber weil, damit, um zu, so daß, obwohl versagen oft ihre Dienste als Klebstoff des Disparaten. (NK, 113, Hervorh. i. O.)

Gerade aber narrative Verfahren sind es, die aus dieser „Fundstelle“ (NK, 113) ein Leben rekapitulieren und somit es fassbar machen können. Um das Innenleben des Vaters begreifbar zu machen, füllt die Erzählerin biografische Leerstellen mit Imaginationen und historischen Quellen auf, die die Eintragungen aus dem Diensttagebuch des Generalgouverneurs Hans Frank, das Beförderungsschreiben von Eichholz, Leiter der Hauptbeteilung Wissenschaft und Unterricht in der Regierung des Generalgouvernments und das Parteiprogramm der Jungdeutschen Partei umfassen. Unter Rückgriff auf die persönlichen wie historischen Quellen nimmt sie verschiedene Blickwinkel ein und erstellt aus ihnen dann auf Grundlage der Plausibilität und der Logik ein dichtes Psychogramm ihres Vaters. Dies erlaubt einen Einblick in die Lebensumstände und Gedankenwelt des Vaters in den jeweiligen Lebensphasen. Sie schildert diese in dem Kapitel Ich bin ein heiliger Reiter, mit dieser Zeile aus einem Binding-Gedicht beginnt der zweite Teil des Kriegstagebuches des Vaters. Dieses Gedicht weist auf den Anspruch hin, unter dem der junge Rudolf Leupold

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sein Leben gestellt sieht: „Nun bin ich ledig aller Laun/und Gunst der Welt und Gunst der Fraun/Ich bin ein heiliger Reiter/und zieh in einen heiligen Krieg/Frag nicht nach Lohn, frag nicht nach Sieg/Ich bin ein heiliger Reiter.“ (NK, 112, Hervorh. i. O.) Im Zuge der Recherchen stellt sich heraus, dass der Vater kein einfacher Wehrmachtsangehöriger war. Er war stärker in den Nationalsozialismus verwickelt, als die Tochter angesichts seiner unauffälligen Nachkriegsexistenz ahnte. Es wird zudem deutlich, dass Rudolf Leupold unter „einer, anscheinend von ihm als strukturell empfundenen Zurücksetzung“ (NK, 136 f.) gelitten hat, die in seiner Zugehörigkeit zu der deutschen Minderheit wurzelt und ihn „für die deutsch-nationale Radikalisierung, […] für die Phantasien der Machtgreifung und Selbstbahauptung“ (NK, 115) empfänglich gemacht haben mag. In Bielitz, „unweit von Krakau, unweit von Auschwitz entfernt“ (NK, 115), wo Rudolf Leupold geboren und aufgewachsen ist, herrscht eine radikale deutsch-nationale Einstellung vor. Er glaubt, dass die deutsche Minderheit von anderen Bevölkerungsgruppen diskriminiert wird. So, laut seiner später „zu einer Anekdote verschnürte[n]“ (NK, 115) Erzählung über den Tod seines Vaters, habe sein Vater verzweifelt „an der Arbeitslosigkeit und der Benachteiligung, die er als Deutscher erfährt“ (NK, 114), Selbtmord begangen. Die Erzählerin sieht die Überempfindlichkeit des Vaters gegen „[j]ede Benachteiligung – die reale ebenso wie die eingebildete, die schwerwiegende ebenso die geringfügige […] – „ (NK, 116) als einen der Faktoren, welcher zwangsläufig sein ganzes späteres Leben bedingt hat: Die Kränkung, als Deutscher zwanzig Jahre lang unter polnischer Herrschaft gelebt haben zu müssen, wird für ihn, Mitglied der deutschen ‚Minderheit‘ (numerisch allerdings war die deutsche Bevölkrung in der Mehrheit) zum Auslöser für alle folgenden – auch zwanghaften – Wahrnehmungen von Zurücksetzung. (NK, 116, Hervorh. i. O.)

Nach der Matura 1932 und dem Selbstmord seines Vaters wird Rudolf Leupold Mitglied des Vereins Deutscher Hochschüler und studiert, unterstützt von seiner Schwester, in Lemberg Mathematik und Physik. 1935 tritt er der Jungdeutschen Partei für Polen bei. In den Augen des geltungssüchtigen Rudolf Leupold erscheinen Aussichten auf eine bessere Zukunft realisierbar im Kontext der Politik der Jungdeutschen Partei, die ihre Fortsetzung im Nationalsozialismus findet. Die Erzählerin zitiert ausführlich aus dem Parteiprogramm und macht aufmerksam auf den darin enthaltenen strammen Antisemitismus. Im Anschluss daran kommentiert sie zu dem sich jetzt abzeichnenden Werdegang des Vaters: Die nationalsozialistisch-rassistische Ideologie der Jungdeutschen fällt bei dem Studenten R.L. auf fruchtbaren Boden, eröffnent ihm die Perspektive einer naturgegebenen herausgehobenen Stellung. Weniger überzeugend fand er vermutlich die dem völkischen Prinzip innewohnende Vorstellung der Gleichheit aller Mitglieder der deutschen Volksgemeinschaft und die darin

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enthaltene – auch von Hitler propagierte – Feindseligkeit gegenüber Intellektuellen und Bildung im allgemeinen. […] Daß er, R.L., der angehende Magister und ein einfacher Straßenkehrer, wie es im Leitsatz 16 heißt, für die Volksgemeinschaft gleichwertig sind, ist mit dem Stolz auf seine herausstechende Begabung, seine akademischen Erfolge kaum zu vereinbaren. (NK, 124, Hervorh. i. O.)

Die politisch indoktrinierte Ideologie wird hier also auf ihre Funktionsweisen und Wirkungsmechanismen hin befragt. Daran lässt sich nicht nur das Motiv des Eintritts in die Partei ablesen, sondern auch, wie das Politische und das Private ineinandergreifen. Denn die charakterliche Veranlagung Leupolds zur Führung und sein ganz persönliches Lebensziel, der größte Mathematiker aller Zeiten zu werden, entfalten erst in Kombination mit den ideologischen Leitsätzen ihre fatale Wirkung: Vielleicht hätte er ohne den Nationalsozialismus und ohne den Kriegsausbruch einfach nur der berühmteste Mathematiker sein wollen; mit dem Krieg kam, anstelle der bloßen Machtphantasien, die reale Möglichkeit der Machtsübung und damit die Einladung, das Deutschsein nicht nur als Kern der eigenen Identität zu empfinden, sondern auch als Grundlage einer bedeutenderen Karriere anzusehen als diejenige, die lediglich aufgrund einer Ausbildung hätte angetreten werden können. (NK, 116)

Diese Spekulation der Erzählerin über den Zusammenhang zwischen dem gesellschaftlich-politischen Kontext und der Entscheidung und dem Handeln des Vaters darf jedoch nicht als Ausdruck einer apologetischen Haltung gelesen werden, die durchaus bereit ist, den Vater auch als ein Opfer der leidvollen Erfahrung zerrütteter Familienverhältnisse und ungünstiger gesellschaftlicher Umstände zu sehen. Vielmehr kommt es ihr darauf an, am Beispiel des fatalen Werdegangs des Vaters zu verdeutlichen, welche psychologischen Mechanismen einen ganz normalen Menschen für die Unterwerfung unter autoritäre, gewaltige Strukturen anfällig machen können. Im Fall Leupold zeigt sich erstens, dass der Nationalsozialismus Zustimmung und Unterstützung großer Teile der deutschen Bevölkerung fand und zweitens, dass es kein fanatischer Antisemit wie Julius Streicher oder kein ideologisch indoktrinierter Nationalsozialist sein muss, um für die nationalsozialistische Verfolgungs- und Vernichtungspolitik funktional zu sein. Dies korrespondiert mit der neueren Sichtweise der Täterforschung, die das Gewalthandeln der Täter als „Resultat eines komplexen Zusammenwirkens von kontingenten Handlungssituationen und Persönlichkeits-strukturen“ erklärt.¹⁰⁰ Täterschaften sind in „Karrierekontexte“¹⁰¹ einzuordnen. In diesem Zusammenhang bezeichnet Götz Aly den National-

 Vgl. Thomas Kühne: Dämonisierung, Viktimisierung, Diversifizierung, S. 32– 35.  Astrid Messerschmitd: Selbstbilder zwischen Unschuld und Verantwortung, S. 121.

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sozialismus als „Gefälligkeitsdiktatur“¹⁰², indem er das Augenmerk auf finanzielle Vorteile für die regimekonformen Deutschen richtet und folgert: „Die NSDAP eroberte und konsolidierte ihre Macht aufgrund der situativen Konstellationen.“¹⁰³ Der Nationalsozialismus ermöglichte Rudolf Leupold, seine beruflich-gesellschaftlichen Ambitionen zu verwirklichen. Nach dem Überfall auf Polen nimmt er im Generalgouvernement die Stelle eines kommissarischen Kreisschulrates an, wohnt einige Male in enteigneten jüdischen Wohnungen und tritt 1941 der NSDAP bei. Was man aus Tagebuchaufzeichnungen zu dieser Zeit erfährt, ist Überlegungen über ideologische Mission und die hoch ambitionierten Zukunftspläne. Wie sein Minderwertigkeitsgefühl und „seine Sehnsucht nach Bedeutung und Ruhm in Übereinstimmung mit der Geschichte“ (NK, 117) ihn zu noch stärkerem Ehrgeiz und Geltungsdrang antreiben, lässt sich an der folgenden Tagebuchaufzeichnung ablesen: Oh ich sehne mich nach der Führung über Menschen. So lange ich gewöhnlicher Muschkote bin, werde ich kaum zufrieden sein. (NK, 120, Hervorh. i. O.) Die Gespräche mit Wiesner. Sie drehen sich um unsere Zukunft. Es war oft beglückend zu spüren, zu den Auserwählten zu gehören. Diesmal haben wir auch die Last um dieses Wissen verspürt. Es drehte sich um das große was ‚Dann‘ aber auch was ‚Nun‘. (NK, 133, Hervorh. i. O.)

In seinem Tagebuch zeichnet Rudolf Leupold ausführlich die Gespräche zwischen seinem politischen Förderer Rudolf Wiesner, dem Führer der Jungdeutschen Partei und dem Generalgouverneur Hans Frank über „die Fülle der Probleme, die der Osten in sich bringt“ (NK, 121, Hervorh. i. O.). Angesichts des zitierten Satzes des Generalgouverneurs Hans Frank „Das Polen=Ukrainer=Judenproblem ist noch nicht gelöst.“ (NK, 121, Hervorh. i. O.) ist der Vater wahrscheinlich früh über die Vernichtungspolitik informiert. Die Erzählerin hebt den bürokratischen Tonfall „des Chefstrategen“ (NK, 133) und die vollständige emotionale Distanz des Vaters vom Thema dieser Gespäche hervor. Das, was sie besonders verstört, ist der letzte Satz des Vaters „Ich bin gespannt auf das weitere.“ (NK, 122, Hervorh. i. O.) bei dieser Aufzeichnung. Sie reagiert auf das völlige Fehlen von moralischem Gewissen und Einfühlungsvermögen des Vaters in das Leiden der Juden und Polen mit den zynisch-vorwurfsvollen rhetorischen Fragen: Worauf ist R.L., […], gespannt? Auf den Fortgang seiner Karriere im zunehmend judenfreien, rein deutschen Generalgouvernement, das dann vielleicht gar kein Nebenland (Franks Sprachgebrauch) mehr ist, sondern Hauptland, dem Reich zugehörig? Ist der Triumph der

 Götz Aly: Hitlers Volksstaat. Raub, Rassenkrieg und nationaler Sozialismus, Frankfurt a. M. 2005, S. 36.  Ebd., S. 35.

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ehemals deutschen Minderheit, die nun, […], mit Polen und Juden nach Belieben grausam verfährt, so groß, die vorangegangene Kränkung so gewaltig, daß er schlechterdings unerörtert lassen kann, womit der Triumph erkauft, die Kränkung gerächt wurde? Daß jedes Mitgefühl für die Gequälten fehlt? Reichen die wenigen, verquasten Darlegungen bezüglich der rassistischen Andersartigkeit der Juden in den Leitsätzen der Jungdeutschen aus, derartig gleichmütig die daraus folgende Vernichtungspolitik als nur mehr logistisches Problem zu sehen? Anscheinend. (NK, 129, Hervorh. i. O.)

Die mögliche Erklärung für diese Gleichgültigkeit des Vaters gegenüber dem Schicksal der Juden findet die Erzählerin in einer durchaus autobiografisch gefärbten Erzählung des Vaters, die von einer Lebensphase des jungen, ambitionierten Mannes namens Georg Larisch in Lemberg Mitte der dreißiger Jahre handelt und die sie „als Zeugnis einer Mentalitätsgeschichte überaus aufschlußreich“ (NK, 194) findet. Bei der Lektüre begreift sie, „in welchem Milieu, in welchem Humus der Nationalsozialismus, der damit verbundene Machtsanspruch und der Antisemitismus“ (NK, 195) gedeihen konnten. Im Umgang von Larisch mit jüdischen Geschäftsleuten lässt sich „[d]as Herabwürdigende, Tendenziöse“ „mit gruseliger Nonchalance“ (NK, 210) verschränken. Die Erzählerin merkt, dass für die Ausdrücke wie „schlaue Mandelaugen“ (NK, 196, Hervorh. i. O.) oder „so gute Nasen sind normalerweise Tieren vorbehalten“ (NK, 201) in den Beschreibungen von Juden nicht die Gemeinheit intendiert war, sondern die Wertungen „organischer, integraler Teil der Beschreibungen“ (NK, 196) waren, und findet genau das verstörend: „Das ist das Gemeine – auch in der anderen Bedeutung des Wortes: das ganz Gewöhnliche.“ (NK, 196) An dieser Stelle erinnert sie sich an viele Witze aus Salcia Landmanns Jüdische Witze, die der Vater zum Vergnügen der Töchter in einem österreichischschlesisch unterwandertem Jiddisch pausenlos erzählt hat. Angesichts dieser über Generationen hinweg unbewusst tradierten und fast verinnerlichten Vorurteile und Fremdheiten ist es nicht verwunderlich, dass der Wahrnehmungshorizont eingeschränkt war und somit die Empathie breiter Teile der deutschen Bevölkerung den Juden gegenüber fehlte. Die Juden wurden aus der Wahrnehmung ausgegrenzt. Was eigentlich Anlass zur Empörung und zum Widerstand hätte geben müssen, wurde dann auch aus dem Bewusstsein verbannt: „Der Blickende ist blind für seinen eigenen Blick […]. So entgeht ihm die Abschätzigkeit, so entgeht ihm die Möglichkeit einer eigenen Sprache.“ (NK, 195) Hier rückt die Erzählerin das Problem der Unartikulierbarkeit des Bewusstseinszustands und der Erinnerung, die auf die fehlende Wahrnehmug zurückzuführen ist, ins Zentrum der Aufmerksamkeit: die blinden Flecken. In ihrem Roman Stadt der Engel oder The Overcoat of Dr. Freud definiert Christa Wolf den Begriff des blinden Flecks folgendermaßen: DER BLINDE FLECK: VIELLEICHT IS ES UNS AUFGEGEBEN, DEN BLINDEN FLECK, DER ANSCHEINEND IM ZENTRUM UNSERES BEWUSSTSEINS SITZT UND DESHALB VON UNS NICHT

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BEMERKT WERDEN KANN, ALLMÄHLICH VON DEN RÄNDERN HER ZU VERKLEINERN, SO DASS WIR ETWAS MEHR RAUM GEWINNEN, DER UNS SICHTBAR WIRD, BENENNBAR WIRD.¹⁰⁴

Hierbei handelt es sich um etwas, „was nie ‚vergessen‘ werden konnte, weil es zu keiner Zeit gemerkt wurde, niemals bewußt war“¹⁰⁵. In seinem Buch Aussetzer. Wie wir vergessen und uns erinnern unterscheidet Daniel Schacter sieben Typen von „Fehlleistungen des Gedächtnisses“, die er als sieben Sünde der Erinnerung bezeichnet: „Transienz (Vergänglichkeit), Geistesabwesenheit, Blockierung, Fehlattribution, Verzerrung und Persistenz (Beharrlichkeit)“.¹⁰⁶ Bezogen auf das Phänomen ‚die blinden Flecken‘ scheint insbesondere Gedächtnisfehler durch Geistesabwesenheit von Bedeutung zu sein. Bei der Geistesabwesenheit handelt es sich um „geteilte Aufmerksamkeit“¹⁰⁷ bei dem Enkodierungsprozess und/oder beim Abruf von Erinnerungen: Die benötigten Informationen sind nicht im Laufe der Zeit verloren gegangen; entweder wurden sie nie im Gedächtnis eingespeichert, oder wir sind in dem Augenblick, da wir sie brauchten, nicht richtig bemüht, sie abzurufen, weil unsere Aufmerksamkeit anderen Dingen gilt.¹⁰⁸

Demnach wären die blinden Flecken der Deutschen im Hinblick auf das Problem der Erinnerungsgeschichte in erster Linie durch „ungenügende Aufmerksamkeit bei der Enkodierung“¹⁰⁹ zustande gekommen, da die Deutschen aufgrund der „über Jahrhunderte und Jahrtausende antrainierte[n] Fremdheit und Gleichgültigkeit“¹¹⁰ offenbar versäumt haben, die Situation der Juden im Dritten Reich wahrzunehmen. Was nicht wahrgenommen wird, kann nicht später zu einem Gegenstand der Erinnerung werden. In diesem Zusammenhang erklärt die in der Milieustudie des Vaters gezeichnete „anthropologische Konstante“ (NK, 201) einerseits, wie die Juden hinreichend ausgegrenzt wurden, so dass die Verfolgung und schließliche Ermordung ohne große Hemmschwelle ins Werk gesetzt werden konnte, und andererseits, warum nach dem Krieg Schuld und Verantwortung von meisten Deutschen abgewehrt wurden.

 Christa Wolf: Stadt der Engel oder The Overcoat of Dr. Freud, Berlin 2011, S. 48. Hervorh. i. O.  Sigmund Freud: Erinnern, Widerholen und Durcharbeiten, S. 209.  Vgl. Daniel Schacter: Aussetzer. Wie wir vergessen und uns erinnern, Bergisch Gladbach 2005, S. 13.  Ebd., S. 75.  Ebd., S. 13 f.  Ebd., S. 76.  Vgl. Aleida Assmann: Der lange Schatten der Vergangenheit, S. 174.

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In Anlehnung an Christopher Browning versteht die Erzählerin die chauvinistische, menschenverachtende Einstellung des Vaters als Ergebnis einer Explosion eines „gedemütigte[n] Nationalismus“ (NK, 136). Brownings sozialpsychologische These, die auf den Zusammenhang zwischen „Ressentiment, Herrschaftsansprüche, Zurücksetzung“ (NK, 199) als den psychischen Folgen des verlorenen Ersten Weltkrieges und der Einzigartigkeit der Vernichtungspolitik des NS-Regimes verweist, weitet sie hinsichtlich ihrer Erklärungskraft auf die Haltung des Vaters in der bundesrepublikanischen Nachkriegsgesellschaft aus. Beim Lesen des Tagebuches des Vaters erinnert sie sich an die unzähligen Szenen, in denen der Vater erregt verschiedene Verschwörungstheorien vorträgt, deren Protagonisten wie z. B. Schuldirektor oder die regierenden Christdemokraten ihm die verdiente Anerkennung verweigern. So lässt sich die mangelnde Verantwortung des Vaters für die Fehlentscheidungen und Beschädigungen in dem eigenen Leben hauptsächlich mit der subjektiv gefühlten Benachteiligungserfahrung erklären. Anstatt das eigene Handeln einer selbstkritischen Prüfung zu unterziehen, nimmt er die „Umwelt als eine gegen ihn verschworene Macht“ und „sich als Opfer von Intrigen, Umständen und Zeitläufen“ (NK, 167) wahr. Darin erkennt die Erzählerin eine „Kontinuität der Kränkung: als Deutscher in Polen, als Flüchtling in Deutschland, später, im gehobenen Schuldienst, als progressiver […] unter konservativen Pädagogen“ (NK, 167).¹¹¹ Die Erzählerin findet keine entschuldigenden Umstände für die nationalsozialistische Karriere ihres Vaters. Aus der Beschäftigung mit den individuellen wie historischen Informationen kann sie nur den folgenden Schluss ziehen: Der Vater war ein mindestens in damaliger Zeit engagierter Nationalsozialist, der sich ganz eifrig für ein Regime einsetzte, dessen verbrecherische Absichten er schon frühzeitig hätte erkennen können und „im Krieg die Berechtigung einer kollektiven Lizenz zum Töten anerkannt und sich selbst damit der Möglichkeit eines individuell verantworteten und begründeten Handelns beraubt“ (NK, 157) hat. Krieg und Völkermord, so die Erzählerin, waren für Rudolf Leupold nur Mittel, um seinen dominanten Aufstiegswillen durchzusetzen: „Das Sendungsbewusstsein kümmert sich nur um den Zweck, nie um die Mittel. Herz und Hirn sind an verschiedenen Einsatzorten.“ (NK, 129) Doch mit seinem Einzug zur Wehrmacht und der eigenen Verwundung werden die hochfliegenden Pläne zerstört. Der plötzliche Verlust der körperlichen Unversehrtheit markiert einen Einbruch in seinen Denkstrukturen: Der „heilige Reiter“ mit Machtfantasien ist nun  Vgl. Aleida Assmann: Geschichte im Gedächtnis, S. 80: „Durch den verlorenen Krieg wurden diese Machtphantasien freilich mit neuen Kränkungen bezahlt und setzten in dieser Generation abermals neue Ressentments frei. Genau deshalb wütete der Krieg nach 1945 […] in der Familie weiter: als Endlosgeschichte eines Verlierers, der sich mit seinem Los nicht abfinden konnte.“

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„angeschlagen, resigniert und ernüchtert“ (NK, 137 f.). In seinem Tagebuch gibt es keine imaginativen Schlachtpläne mehr, keine von dem Größenwahn aufgeladene Selbstbeschwörung mehr. Der Abschied von dem Übermenschen vollzieht sich allerdings nicht mit der Anstrengung einer kritischen Überprüfung eigenen Handelns und der Umwertung, was sich die Tochter gewünscht hätte. Der Einschnitt löst im Bewusstsein keine Reflexion über das Geschehen in ihm und um ihn herum aus, es gibt keinen Ausdruck des Schamgefühls über den Zivilisationsbruch und die eigene Rolle dabei, kein Anzeichen des Fragens, des Zweifelns, nur der persönliche Absturz wird konstatiert. Die Erzählerin sieht, wie sich seine körperliche Beschädigung ausspricht, z. B. in einem als Gestern betitelten, literarischen Entwurf des Vaters: Ich erkannte, daß ich nun einem anderen Gesetz gehorchte, daß ich als Gast nur schauen durfte, wo ich früher als Stürmender den Pulsschlag fühlte. Wenn das Schwert nicht mehr spricht, will ich zurück. Es wird anders sein als es war, auch in Bezug auf meine Person, die Jahre drängen sich geheuer und vehement dazwischen. Aber es könnte Berufung sein zum Lebenswerk. (NK, 155, Hervorh. i. O.)

Statt eine Geschichte, die eine moralische Haltung, eine politisch-ideologische Position oder zumindest „eine tatsächliche, eine sinnliche Präsenz und Anteilnahme verrät“ (NK, 156), zu schreiben, reagiert der Vater auf die eigene Verwundung nur mit der für ihn typischen abstrakten „Konfektionsware“ (NK, 156). Am liebsten möchte die Tochter in diesem Entwurf einer Erzählung „weiterschreiben, umschreiben“ (NK, 155). Wonach sie vergeblich sucht, sind „Hinweise einer Umkehr, einer verweigerten Bejahung“ (NK, 152). Während um ihn herum die Geschichte tobt, verschanzt sich der Vater hinter seinen unwirklichen, mythischen Erzählungen, „die seine eigene ins Märchen- und Schicksalhafte übersetzen“ (NK, 149), und bemüht sich um Selbststilisierung und eine ästhetische Pose. Die Tochter sieht im literarischen Schaffen des Vaters einen Fluchtversuch vor der grausamen Gegenwart und der kritischen Auseinandersetzung mit ihr: [D]em Mathematiker R.L. [sind] das Heilige des Krieges und die eigene Sendung vielleicht in dem Maße fragwürdig geworden, daß ihm eine Äußerung zu ihrer Verteidigung nicht mehr möglich ist. Dagegen allerdings auch nicht. […] [A]ls verwundeter Soldat, als Kriegsversehrter ist eine solche Verrenkung unendlich viel schwerer. R.L. entzieht sich ihr und versucht, das Trauma des Verlusts der körperlichen Unversehrtheit schöpferisch, also metaphysisch zu überwinden. […] Kein Wort zum unmittelbaren, alltäglichen Geschehen um ihn herum. (NK, 148 f.)

Der Schritt zur Reflexion über die Ursachen und Zusammenhänge der eigenen Beschädigung wird nicht gegangen. Am schwersten zu begreifen ist für die Tochter vor allem der Gestus emotionsloser Deskription, der nicht „über das rein protokollarische Festhalten von Zeit und Ort hinausgeht“ (NK, 146) und mit den Überle-

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gungen zu mathematischen Problemen und den weltfremden Geschichten eher die Tendenz zum Eskapismus eines „Wirklichkeitsdeserteurs“ (NK, 151) zeichnet. Zugleich ist man schon auf dem Weg, sich selbst in die Welt der Opfer zu integrieren.

1.2.4 Eine Mentalitätsstudie In der geistigen Haltung des Vaters sieht die Erzählerin die „Unfähigkeit zur Gegenwart“ (NK, 193) als die Antwort auf den herrschenden Zeitgeist, also „das Kennzeichen einer Generation, die beide Weltkriege erlebt hat und der zwischen nostalgischem Verherrlichen oder Verdrängen der Vergangenheit einerseits und größenwahnsinnigem Entwerfen der Zukunft andererseits die Gegenwart abhanden gekommen ist“ (NK, 193). Die Art und Weise der geistigen Haltung dieser Generation während und nach dem Krieg werden in einem weiteren Schritt in kulturgeschichtlichen und intertextuellen Zusammenhängen gedeutet. In Bezug auf den politischen Standpunkt geht es der Erzählerin darum, ihren Vater als Vertreter einer für die damalige Zeit nicht untypischen Mentalität zu porträtieren. Der Vater erscheint hier also als ein Vertreter seiner Generation und deren Verhaltensweisen. Als sehr oft vorkommende Vorbilder in den Tagebuchaufzeichnungen des Vaters erweisen sich Ernst Jünger und Gottfried Benn. Die Erzählerin analysiert den prägenden Einfluss von Jünger und Benn auf den Vater und somit seine Generation von Männern. Dabei rekurriert sie auf die inzwischen Klassiker gewordene mentalitätsgeschichtliche Studie Verhaltenslehre der Kälte. Lebensversuche zwischen den Kriegen von Helmut Lethen.¹¹² Darin geht Lethen auf die geistige Situation nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg ein und weist durch die Auseinandersetzung mit den Denkern und Schriftstellern der zwanziger Jahre wie z. B. Ernst Jünger, Helmuth Plessner und Carl Schmitt die Haltung der Distanz, das Kult der Sachlichkeit und die Panzerung des Ichs mit der kalten persona als repräsentatives geistesgeschichtliches Paradigma für die Weimarer Gesellschaft aus. Durch die Auseinandersetzung mit den Tagebuchaufzeichnungen des Vaters, den Werken von Jünger und Benn und Lethens Studie entwickelt die Erzählerin ein mentales Bild der Vätergeneration.

 Helmut Lethen: Verhaltenslehren der Kälte. Lebensversuche zwischen den Kriegen, Frankfurt a. M. 1994. Helmut Lethen beschreibt die kalte Persönlichkeit als Ausdruck und Schutzmaßnahme der Krisenerfahrung nach dem ersten Weltkrieg.Vgl. S. 7: „In Augenblicken sozialer Desorganisation, in denen die Gehäuse der Tradition zerfallen und Moral an Überzeugungskraft einbüßt, werden Verhaltenslehren gebraucht, die Eigenes und Fremdes, Innen und Außen unterscheiden helfen. Sie ermöglichen, Vertrauenszonen von Gebieten des Misstrauens abzugrenzen und Identität zu bestimmen.“ Für Ernst Jünger wird beispielsweise der Erste Weltkrieg zur Schule des kalten Blicks.

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Sie weist auf stilistische Ähnlichkeiten zwischen dem Nachkriegstagebuch ihres Vaters und Jüngers Strahlungen hin und zeigt, inwieweit der Vater den für Jünger charakteristischen Posten des kühlen Beobachters einnimmt, der die Welt mit dem „interessenlose[n] Interesse“ bzw. der „teilnahmslose[n] Teilnahme“ (NK, 169) des Forscherblicks betrachtet. Als Jüngers Epigone imitiert der Vater in seinem Tagebuch Jüngers Sprache „bis in die Diktion: Gedanke: schreibt Jünger und läßt dann den Gedanken folgen. Gedanke: schreibt R.L. und führt ihn in einer kurzen Skizze aus“ (NK, 169). Jüngers Interesse an der Oberfläche der Erscheinungen in einer Welt ohne Korrelation und kausale Zusammenhänge wird als Beispiel einer modernistischen Ästhetik betrachtet. In Jüngers Arbeit wird die Anthropologie der kalten persona in der Figur des Stahlkriegers symbolisiert, der sich in den Todeszonen des Krieges gegen die Schmerzempfindlichkeit immunisiert. Im Satz von Jünger „In Stürmen reife ich.“ (NK, 169, Hervorh. i. O.) entdeckt die Erzählerin die metaphorische Parallele mit dem jungen Stürmenden in Vaters Erzählentwürfen, der ohne das Schwert nun einem anderen Gesetz gehorchen will: „Er ist nun gereift zum reinen Betrachter.“ (NK, 169) Im Nachkriegstagebuch des Vaters bemerkt die Erzählerin einen „neutralen Blick“ „des kompeteten, kalten Interpreten und des Opfers des Gewaltigen, das jetzt auch als Katastrophales gesehen wird“ (NK, 168). Die Erzählerin bezeichnet Jünger als den Vorläufer des Scanners, der die Oberfläche von Objekten ohne Ursache und Wirkung „erfasst und katalogisiert“ (NK, 169): Man ist Teil des Geschehens, aber eben nicht aktiver. Ein neutraler Blick ist das; eine Kameraführung der Bestandsaufnahme. […] Dem Forscherblick ist alles gleichgültig: die Blüte, die Verdauung, das Theater, die Hinrichtung […]. Die Welt ist ein Labor, in dem das Schreckliche die Charakteristik schrecklich hat, so wie der Laubfrosch die Farbe grün hat. […] [D]er Scanner [ist] an Kausalitäten und Funktionszusammenhängen desinteressiert. Er will nur die Beschaffenheit erfassen – der Grausamkeit, der seelischen Verfassung, der Lindenblüte.Was auch immer. (NK, 168 f.)

Sie zitiert eine Episode in Strahlungen, Jüngers Kriegstagebuch, die paradigmatisch steht für die moralischen Konsequenzen einer solchen sterilen Objektivität „zur Verhinderung der Kontamination durch ethische oder politisch-ideologische Vorgaben“ (NK, 169 f.). Jüngers Tagebucheintrag vom 29. Mai 1941 berichtet, dass er aufgefordert wurde, die Erschießung eines Deserteurs zu bezeugen. Jünger bezeichnet dies als „Flut von widrigen Dingen“ (NK, 179, Hervorh. i. O.), um die er sich kümmern muss. Am Ende nimmt er jedoch den Auftrag an, weil er von höherer Neugier getrieben wird: Auch weil ich mir gestehen, daß ein Akt von höherer Neugier den Ausschlag gab. Ich sah schon viele sterben, doch keinen im bestimmten Augenblick. Wie stellt sich die Lage dar, die heute jeden

1.2 Dagmar Leupold: Nach den Kriegen. Roman eines Lebens

149

von uns bedroht und seine Existenz schattiert? Und wie verhält man sich in ihr? (NK, 179, Hervorh. i. O.)

Das Interesse der Erzählerin liegt gerade in den ethischen Konsequenzen dieser modernistischen Trennung der Ästhetik vom moralischen Bereich. Auf die Politik bezogen, erzeugt die Stilisierung moralentlasteter, außengeleiteter kalter Persönlichkeit das Verhaltensrepertoire, das sich in den Selbstbildern und Praktiken von Nationalsozialisten und Kampfeinsatzgruppen widerspiegelt. Jüngers amoralische Beobachtung der Welt mit seiner Metaphorik des Sturms geht einher mit einer metaphysischen Weltanschauung, die den Menschen als ein Wesen betrachtet, das „von außen, eben von Stürmen“ (NK, 174) angetrieben wird und die Geschichte als „eine nach eigenen Gesetzen sich vollziehende, periodisch wiederholende Dynamik“ (NK, 167). In der Nachkriegszeit, so die Erzählerin, ermöglicht diese Vorstellung eines höheren Determinismus den bequemen Übergang von der beunruhigenden Frage „wer bin ich (in der Geschichte)“ in die Frage „wer sind wir (im Raum, in der Zeit)“ (NK, 173) und einen „gramatikalischen Gestus des Passiv: Was ihnen zugestoßen ist oder genommen wurde, definiert sie, nicht, was sie taten oder unterließen zu tun“ (NK, 168); eine Verschiebung vom Individuum zum Kollektiv, von Introspektion zu externen Faktoren. Der zweite Pate des Tagebuchs des Vaters ist Gottfried Benn. Die verachtende Stellungnahme des Protagonisten namens Ptolemäer in Benns Novelle Der Ptolemäer über das Versagen von Wissenschaft und Kultur als moralischer Instanz angesichts der Verheerungen des 20. Jahrhunderts scheint für die Erzählerin darauf hinzudeuten, „daß er eher ein strukturelles als ein subjektives Versagen annimmt“ (NK, 180) und damit das individuelle Handeln der Akademiker wie Rudolf Leupold entlastet. Die Erzählerin verbindet die Gleichgültigkeit von Jünger, Benn und ihrem Epigonen Rudolf Leupold gegenüber den Opfern des NS-Regimes mit der Sprache der ‚Charta des Bunds der deutschen Heimatvertriebenen‘, in dem sich ihr Vater sehr engagierte. In jenem Gründungsdokument der Vertriebenenverbände von 1950 werden weder der von Deutschland begonnene Krieg noch die Verbrechen des NSRegimes mit einem einzigen Wort erwähnt. Die euphemistische Formulierung, „das unendliche Leid, welches im besonderen das letzte Jahrhundert über die Menschheit gebracht hat“ (NK, 184, Hervorh. i. O.) und die die Dimension der Kausalitäten völlig ignorierende Forderung nach „Mitverantwortung am Schicksal der Heimatvertriebenen als der vom Leid dieser Zeit am schwersten Betroffenen“ (NK, 182, Hervorh. i. O.) machen die Erzählerin fassungslos und irritiert. Auch wenn sowohl die Distanz als auch die Gleichgültigkeit von Jünger und Benn gegenüber dem Nationalsozialismus und dessen Opfern eine ästhetische Haltung ist, die aus der Vermeidung der Instrospektion angesichts einer Enttäuschung der modernen Zivilisation resulitert, erzeugt ihre ästhetische Pose statt politisch-ethische für die Erzählerin eine auf „das

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1 Deutscher Opferdiskurs

Faktische“ (NK, 152) reduzierte Weltanschauung, die lediglich die Phänomene der Welt ohne Zusammenhang und Urteil zur Kenntnis nimmt. Diese ästhetische Pose hat die angenehme Eigenschaft, dass Ursachenforschung nicht betrieben werden muss und die Frage nach Schuld und Verantwortung außer Betracht bleibt. Die einflussreiche Stellung der Schriftsteller im kulturellen Leben spiegelt somit das ethische Versagen einer Gesellschaft wider, ihrer historischen Verantwortung gerecht zu werden: „Die von Jünger und Benn ästhetisch begründete Distanz wird hier politisch mißbraucht, und der Zweite Weltkrieg erhält den Charakter einer Jahrhundertnaturkatastrophe, die ohne menschliches Zutun über die Völker hereinbrach.“ (NK, 184) Die kulturellen Diskurse stellen Erzählmuster für die (Selbst‐) Wahrnehmung und Konfliktlösung des Individuums zur Verfügung, die zumindest auf Teile der Bevölkerung Einfluss nehmen können, und die Folge ihrer verbreiteten Übernahme ist „eine zeittypische Mentalität“.¹¹³ Die Analyse des Einflusses, den Jünger und Benn auf die Vätergeneration genommen haben, hilft daher, den Wurzel ihrer moralischen Abstumpfung zu erklären.¹¹⁴ Die ästhetische Perspektive von Jünger und Benn auf alle Phänomene der Welt diente dazu, den tiefsten Mangel an moralischen Urteilen dieser Generation zu entschuldigen und ihnen einen metaphysischen Determinismus zu vermitteln, der sie letztlich von der Anstrengung der Introspektion entband. In diesem Zusammenhang sind der Mangel an literarischstilistischer Originalität des Vaters und seine Identifizierung mit Jünger und Benn, die sich in seiner literarischen Nachahmung widerspiegelt, als seine Unzulänglichkeiten als politisches Subjekt zu betrachten. Dabei ist kalte persona, deren Maske der Vater zur Anpassung an die jeweiligen vorgefundenen Bedingungen und Umstände getragen hat, für die Erzählerin schon Teil der Ich-Spaltung, die die Erfahrungen vor, während und nach dem Krieg im Vater verursacht und hinterlassen haben. Auf die immer wiederkehrende Frage, „wie kann ein kluger, gebildeter Mann so verblendet sein, dass er Krieg und Völkermord nicht mit einem einzigen kritischen Wort kommentiert“ (NK, 134) scheint die Erzählerin nach der anstrengenden Auseinandersetzung mit den individuellen wie kulturellen festgeschriebenen Gedächtnissen die klare Antwort gefunden zu haben: Der Wunsch, von sich selbst abzusehen – als Versehrter, als Irrender, vielleicht Mitschuldiger –, ist stärker als der nach einer gründlichen Introspektion. Genauer gesagt: Introspektion kann es gar nicht geben, weil durch die Spaltung in ein handelnd-pragmatisches Ich und ein emotio-

 Vgl. Sebastian Winter: Lieber „Kriegskind“ als „Täterkind“?, S. 108.  Vgl. Anne Fuchs: Generational Conflict and Masculinity in Väterliteratur by Christopf Meckel, Uwe Timm, Dagmar Leupold and Ulla Hahn.

1.2 Dagmar Leupold: Nach den Kriegen. Roman eines Lebens

151

nales Ich, also durch die Aufteilung in verschiedene Spiel-Räume, der Begriff des intakten, integeren, ungeteilten Individuums Fiktion, Makulatur geworden ist. (NK, 173, Hervorh. i. O.)

In den Augen der Erzählerin erscheint der Ratschlag „Sich abfinden und gelegentlich aufs Wasser sehen“ (NK, 161, Hervorh. i. O.), den Benn in seiner Erzählung Ptolemäer gibt und den der Vater seinem Tagebuch als Motto vorangestellt hat, programmatisch für das Leben und die Haltung des Vaters in der Nachkriegszeit. Noch nach dem Krieg arbeitet er weiterhin eitel, ehrgeizig an seinem beruflichen Erfolg, da „[d]er Dünkel bleibt – für alle Fälle“ (NK, 125), allerdings ohne Grundsätze und Ideale. Der Kurswechsel hat ihn offenbar keine große Überwindung gekostet. Er wandelt sich nun zum Künstler-, Polen- und Judenfreund. Was die politische Einstellung anbetrifft, nimmer er ebenfalls einen neuen Kurs auf und wird ein aufgeschlossener Liberaler, der den politisch Unvernünftigen ablehnt und Willy Brands Ostpolitik befürwortet. Im Lebenslauf, den der Vater im Rahmen seiner Promotion verfasst hat, erwähnt er weder seine Mitgliedschaft in der NSDAP noch seine Tätigkeit im Generalgouvernement. Der Vater hat seine Erinnerungen gelöscht und seine Identität an die ganz neue gesellschaftliche Ordnung der neu gegründeten Bundesrepublik angepasst, da die Ideologie des Nationalsozialismus ihm offenbar nichts mehr bieten konnte: Er wurde in der Bundesrepublik nicht zum Reaktionär, weil ihm der Nationalsozialismus nur so lange ideologisch nah war, wie es ihm zum Vorteil gereichte. Nach dem Krieg hatte das Deutschsein nichts Auszeichnendes mehr – so widerstrebt ihm dessen politische Aufladung. (NK, 218)

Ob der Vater damit die bislang idealisierten Werte und Idole tatsächlich aufgegeben hat, bleibt offen. Schließlich versteht die Erzählerin den Grund für die kontinuierlichen Diskontinuitäten und die konsequenten Widersprüche der Biografie des Vaters. Sie attestiert dem Vater „das Schaffen einer neuen persona“ (NK, 172, Hervorh. i. O.). Nach der Erforschung der Vergangenheit des Vaters erkennt sie, dass das Schweigen das geeignete „Biotop“ (NK, 195) für das Gelingen der Anpassung ist, die die fiktiven Legenden zur Folge hat: Jede Familie erzeugt solche Legenden, […], welche die Verschiebungen im Inneren der Konstellation regulieren. Sie speisen sich mehr oder weniger aus der Wirklichkeit. Bei uns waren sie nahezu fiktiv. […] Die Manufaktur des Vaters war nicht wirklich schwierig, weil auch er selbst zuließ, daß sich Legenden verselbständigen. […] Da er uns als Pole, als Kirchengegner, als aufgeschlossener Liberaler und Künstler(‐freund) gegenübertrat (oder gegen diese Auslegung nichts unternahm), entband er uns vom Fragen, sich selbst vom Antworten. Das Schweigende ist so weit vorgeschritten. (NK, 217– 219, Hervorh. i. O.)

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1 Deutscher Opferdiskurs

1.2.5 Umschreibung der Familienlegende Indem die Tochter das nicht zu Ende gebrachte Schreibprojekt des Vaters übernimmt und das mit den Spuren im eigenen Körpergedächtnis sowie den verschiedenen Quellen in eine „mit Fragen, Zweifeln und imaginären Anteilen versehene Vater-Biographie“¹¹⁵ umschreibt, erhebt sie das väterliche Erbe erst in den Status eines realen Geschehens mit Form und Format. Während die Tagebuchaufzeichnungen und die literarischen Fragmente des Vaters nicht der selbstreflexiven Auseinandersetzung, sondern lediglich der narzisstischen Präsentation dienen, unternimmt die Tochter eine äußerst kritische Aufklärungsarbeit, indem sie den Bruch verdeutlicht, der die Biografie des Vaters durchzieht und der sich darin zeigt, dass die vom Vater nach dem Krieg demonstrierte Rechtschaffenheit nicht zu dem passt, was im Tagebuch notiert ist. Infolgedessen kann sich die Erzählerin von dem irreführenden fiktiven Vaterbild verabschieden. Der Mythos des Vaterbildes als Opfer widriger äußerer Umstände wird schließlich durch seine Mittäterschaft ersetzt. Der Schreibprozess ist für die Erzählerin von therapeutischer Bedeutung, d. h., er dient als „die erste Verbindungslinie zur Psychotherapie“, wie Tillmann Moser in Bezug auf „das Schreiben über die Kindheit in der Form der Suche nach den ElternFiguren“¹¹⁶ feststellt. Moser schreibt: Auch sie sucht Vergegenwärtigung und Aufarbeitung, Integration des Nicht-Gewußten und Nicht-Gefühlten in eine akzeptierbare, verstandene, gedeutete und noch einmal gelebte Biographie. Erinnerungsphotos, Erinnerungsfetzen, ein Wust von Abwehrgefühlen, von Schleiern vor der Wahrheit, von unverstandenen und unabgeschlossenen Szenen werden neu belebt und in ein neues Deutungsmuster gebracht. Die eigene Identität wird noch einmal geöffnet, durchlässig gemacht.¹¹⁷

Die intensive Auseinandersetzung mit dem Vater verhilft der Erzählerin zur Aufarbeitung verborgener Ahnungen, ungelöster Konfliktgefühle und Ängste. Psychische Konflikte, die jahrelang mitgetragen und unterdrückt wurden, konnten durch den fiktiven Aufbau einer im realen Leben ausgebliebenen Beziehung zum Vater und die dadurch erreichte endgültige Loslösung aufgearbeitet werden. Trotz ihrer scharfsinnigen Kritik an der ideologischen Zusammensetzung der Vätergeneration akzeptiert die Erzählerin den Vater mit allen erkennbaren Schwächen und betrachtet ihn nicht mehr als die Gegenidentifikationsfigur.  Michael Ostheimer: Ungebetene Hinterlassenschaften, S, 316.  Tilmann Moser: Das zerstrittene Selbst. Berichte, Aufsätze, Rezensionen, Frankfurt a. M. 1990, S. 19 und 18.  Ebd., S. 19.

1.2 Dagmar Leupold: Nach den Kriegen. Roman eines Lebens

153

Nachdem sie die Tagebücher des Vaters durchgearbeitet hat, besucht Dagmar Leupold sein Grab und legt auf sein Grab einen Blumenstrauß. Dabei erinnert sie sich an eine andere Familienlegende. Diesmal geht es jedoch um ihre eigene Geburt. Nach Angaben ihres Vaters pflegte er sie, nachdem sie und ihre Zwillingsschwester vorzeitig geboren wurden: Auch mir gehört eine Legende: Als ich, zusammen mit der Zwillingsschwester, zwischen mit Rheinkieseln gefüllten Säcken unter der Infrarotlampe lag, […], da sei er es gewesen, der mich gefüttert habe, ebenso habe er, zwei Monate später, nach unserem Einzug zu Hause, in der Nachtschicht mich übernommen, in seinen Schoß gebettet, den großen Glatzkopf in der Armbeuge – das machte er pantomimisch vor –, habe gestaunt über das häßliche Kind, dem Wimpern, Haar und Nägel fehlten. Grottenmolch, sagte er, du sahst aus wie ein Grottenmolch […] So hast du ausgesehen. Ich habe dich trotzdem gefüttert. (NK, 221)

Das ist die einzige Erinnerung, in deren Zentrum sich ein Bild bedingungsloser Liebe und Fürsorge des Vaters befindet, aber eben nicht die eigene. Dass Leupold dabei der Frage, ob es sich damals wirklich so zugetragen hat, keine sonderliche Bedeutung mehr einräumen will, liegt in dem poetologischen Selbstverständnis des Textes begründet, das die aktuelle Identität des Subjekts durch die ständige narrative Umschreibung bzw. Fortschreibung von Geschichte vermittelt¹¹⁸: „Im Grunde spielt es keine Rolle, ob es so war oder nicht. Es ist der Anfang einer Geschichte.“ (NK, 221) Dieses Ende ist lesbar als Hinweis auf die Herausbildung der neuen Familienlegende, die die Akzeptanz von Genealogie und Zugehörigkeit und somit die Versöhnung mit dem Vater hervorbringt. Dabei gelingt die Versöhnung nicht durch die Glättung und Harmonisierung der Brüche und Widersprüche, die sowohl die Geschichte des Vaters als auch die deutsche Geschichte durchziehen, sondern durch die Erklärung und das Verständnis. Erst durch klare Trennung der eigenen Identität von der des Vaters kann Leupold den eigenen Platz in der familiären Genealogie finden. Insofern ist der stilistische Bruch, der den aus beschränkter kindlicher Perspektive erzählten ersten Teil von der wissenschaftlichen und metafiktionalen Auseinandersetzung im zweiten Teil trennt, und den einige Rezensenten als Einbuße der „literarischen Glanzlichter“¹¹⁹ kritisiert haben, in erster Linie als eine

 Vgl. Mathias Brandstädter: Folgeschäden, S. 195.  Thomas Kraft: Suche nach einem Phantom. Spurensuche Dagmar Leupolds Vater-Roman „Nach den Kriegen“ demonstriert, wie schwierig es ist, Biografie in Kunst zu überführen, in: der Freitag, 18.02. 2005. Online unter https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/suche-nach-einem-phantom, zuletzt abgerufen am 03.11. 2022: „Zäh liest sich das, eher wie ein Aufsatz. Die Dokumente verfügen nur über eine bedingte Strahlkraft, natürlich leidet das sprachliche Niveau, auf das sich die Autorin nun einlässt, darunter, die Leselust geht verloren.“ Vgl. auch Kolja Mensing: Nachdenken über Rudolf L., in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 23.02. 2005. Online unter https://www.faz.net/aktuell/feuille

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1 Deutscher Opferdiskurs

narrative Strategie zu verstehen, die eine veränderte innere Haltung der Tochter gegenüber dem Vater andeutet.¹²⁰

1.3 Fazit: Vereinbarkeit von Leid und Schuld Die in diesem Kapitel untersuchten Romane von Uwe Timm und Dagmar Leupold bemühen sich um die Herausbildung eines transgenerationalen Erinnerungsraums durch die dialogische Verschränkung von Vergangenheit und Gegenwart. Es ist ihr Schreibanlass, mit dem geschärften Blick auf die nicht-expliziten Formen der Familienkommunikation den transgenerationalen Übertragungsprozess und das dafür ursächliche Nachleben des Nationalsozialismus im privaten Umfeld aufzuklären. Die beiden Autoren reflektieren den Umgang mit einem früheren Schuldzusammenhang, an dem sie allerdings „keinen biographisch zu verantwortenden Anteil“¹²¹ mehr haben, in der Zeitform der Nachträglichkeit. Im Zuge der Auseinandersetzung mit der Familiengeschichte wird deutlich erstens, wie nachhaltig sich das nicht selbst Erlebte auf das eigene Selbstverständnis der Nachgeborenen auswirkt und zweitens, dass mithin ein endgültiger Bruch mit der familiären Herkunft und die Etablierung eines sich entsprechend weit von ihr absetzenden Selbstentwurfs nicht gelingen kann. Darüber hinaus machen die beiden Familienerzählungen darauf aufmerksam, wie die unterdrückten Ereignisse und Emotionen die familiären Beziehungen in der Nachkriegszeit gestört haben. Sie deuten auf bestimmte Symptome hin, die ihr eigenes Selbstverständnis verunsichern und ihre Herkunft und die verschwiegenen Aspekte der familiären NS-Vergangenheit als einen schwierigen Komplex kennzeichnen. Anstatt diese Verunsicherung durch eine vermeintliche Kohärenz des Selbst zu überschreiben, gehen sie der Entdeckung verschwiegener Ebenen der Familiengeschichte nach und setzen sich konstruktiv damit auseinander. Ausgelöst durch die herkunftsbedingten Symptome greifen sie auf Freudsche Einsichten in den oft hindernisreichen und mit starken Affekten einhergehenden Erinnerungsprozess zurück, der wiederum die Nachträglichkeit auf den Plan ruft. Die Rekonstruktionen der familiären NS-Vergangenheit zeigen auf, dass die beiden Erzähler sowohl mental als auch formal mehrere Suchetappen durchgegangen sind, wie Freud u. a. in dem Aufsatz Erinnen, Wiederholden,

ton/buecher/rezensionen/belletristik/nachdenken-ueber-rudolf-l-1214641.html, zuletzt abgerufen am 03.11. 2022: „So ist zwischen abstrakten akademischen Formulierungen und verschachtelten Sätzen schon bald nichts mehr von dem schlichten und schönen Tonfall zu hören, mit dem der Roman zunächst so vielversprechend begonnen hatte, […].“  Vgl. Mathias Brandstädter: Folgeschäden, S. 194.  Helmut Dubiel: Niemand ist frei von der Geschichte, S. 289.

1.3 Fazit: Vereinbarkeit von Leid und Schuld

155

Durcharbeiten darlegt.¹²² Ihr Rekonstruktionsprozess lässt sich mit „fünf Stufen des Durcharbeitens“ beschreiben, die Gesine Schwan im Rekurs auf die Arbeit von Dan Bar-On wie folgt zusammenfasst: 1. Anerkennung der Tatsachen: Wissen, was im Vernichtungsprozeß geschehen ist, und speziell, welche Rolle die Eltern dabei hatten. […] 2. Verstehen der moralischen Bedeutung: Nicht nur die Tatsachen verstehen, sondern auch ihre moralische Bedeutung für die Eltern sowie für die eigene moralische Verantwortung. […] 3. Emotionale Beteiligung: Emotional reagieren, wenn man die Details kennt und ihre Bedeutung im Hinblick auf die moralische Verantwortung versteht. […] 4. Emotionaler Konflikt: Den Konflikt spüren zwischen den neu erlebten Emotionen und den positiven Gefühlen bzw. der guten Beziehung zu den Täter-Eltern. […] 5. Integration: Wissen, Bedeutung und unterschiedliche emotionale Reaktionen in die eigene Moralität integrieren.¹²³

Dies ermöglicht es ihnen, sich mit den scheinbar polaren Gegensätzen von Opferrolle und Täterschaft der Deutschen auseinanderzusetzen, die die deutsche Erinnerungskultur in Bezug auf den angemessenen Umgang mit der NS-Geschichte dominieren. Die Taten des Bruders bei Timm und des Vaters bei Leupold bezeichnen deutsche Täterschaft; der Brand der Heimatstadt der Familie, der fast gleichzeitige Verlust eines Sohnes bei Timm und die Vertreibung aus der Heimat bei Leupold bedeuten das Leiden der Deutschen. An die Stelle eindeutiger Zu- und Abneigungen rücken die beiden Autoren das komplexe Zusammenspiel von individuellen und gesellschaftlichen Faktoren ins Zentrum der Auseinandersetzung, die auf einer Enttarnung des Scheins der von den Eltern behaupteten Erlebnisauthentizität des Dabeigewesenseins und einer Rekontextualisierung der eigenen bzw. fremden Erinnerungen basiert: Leupold setzt sich mit den Tagebüchern und den literarischen Manuskripten ihres Vaters auseinander und Timm mit dem Kriegstagebuch und den Feldpostbriefen seines Bruders. Diese Dokumente stehen wiederum im Zusammenhang mit anderen historischen Archivmaterialien. Sowohl Timm als auch Leupold stellen somit die allgegenwärtigen Erzählungen von Vertreibungen und Bombenangriffen der Nachkriegsfamilie in den historischen Kontext – den Kontext der traumatischen Folgen des Ersten Weltkrieges, der moralisch ausweichenden Auseinandersetzung der Bundesrepublik mit der jüngsten Vergangenheit in den 1950er Jahren und der stereotypischen Opfererzählungen im familiären wie auch öffentlichen Bereich. Die konkrete Aufgabe der Kontextualisierung  Vgl. Sigmund Freud: Erinnern, Wiederholen, Durcharbeiten.  Dan Bar-On: Die Kinder der Holocaust-Täter und ihre Suche nach moralischer Identität, in: Integrative Therapie (1990) H. 3, S. 230. Zit. nach: Gesine Schwan: Politik und Schuld, S. 161 f. Hervorh. G.S.

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1 Deutscher Opferdiskurs

besteht jeweils darin, den Einfluss des historischen Wandels auf die Schnittstellen zwischen den Psychen der Familienmitglieder zu erschließen und die transgenerationalen Wirkungen der über die Eltern bewusst oder unbewusst vermittelten Geschichte und deren Sinnstiftung auf die Ich-Entwicklung der Nachkommen darzustellen. Auf diese Weise werden die Familienlegenden im Verlauf des Erzählprozesses immer wieder auf Dietanz gebracht und hinterfragt. Bei Leupold werden die Sozialisationsbedinungen und die Mentalität der Vätergeneration in den Blick genommen. Es soll nachvollzogen werden, was die Vätergeneration charakterlich prägte, um über diese Erwägungen ihre ideologischen Haltungen und die damit einhergehenden Prägungen und Sozialisationszwänge ihrer Kinder zu konstruieren. Dies führt zu einem Einblick in das „Biotop“ (NK 195), in dem Nationalismus, Antisemitismus und hegemoniale Machtfantasien gewachsen sind. Diese Vorgehensweise lässt ein ambivalentes Bild der Familiengeschichte und die Kritik an ihren persönlichen und ideologischen Hinterlassenschaften entstehen. Während sich Leupold weitgehend auf die Langzeitschäden richtet, die durch die Kriegsgeneration in der Nachkriegsfamilie verursacht wurden, und um die Zusammenlegung von einzelnen Elementen in ein logisches Ganzes durch die Kriterien Kausalität und Sinngebung bemüht ist, nimmt Timm eine äußerst selbstreflexive und dialogische Haltung ein. Er berücksichtigt die affektiven Positionen der Familienmitglieder und lässt den Blick auf zahlreiche Lücken und Leerstellen des Gesagten und Geschriebenen zu. Timm sieht die Reflexion und das Aushalten von Widersprüchlichkeiten als Aufgabe des Schreibenden und nimmt sich des noch nicht erkundeten Teils der Familienvergangenheit an, nach dem Leitspruch: „Erst wenn etwas zur Sprache gebracht wird, kann sich auch Widerspruch bilden.“ (BB, 133) Timms Familienbuch sucht nach einer Gegensprache, die jede teleologische Sinn-Behauptung zurückweist. In unterschiedlichem Maße evozieren die beiden Erzählungen letztendlich ein ambivalentes Nebeneinander von sich einstellendem Mitgefühl und Verständnis und gleichzeitig aufkommender Entrüstung und Kritik. Dies führt nicht mehr zum großen Bruch mit der Generation der Eltern und bringt somit nicht die vergangene Schuld in Form eines Vorwurfs zur Sprache. Dass Timm und Leupold die Thematisierung von dem zeitlichen und kausalen Vorrang deutscher Täterschaft gelingt, ohne in einen moralischen Rigorismus zu verfallen, liegt daran, dass sich das emotionale Reservoir ihrer Auseinandersetzungen mit der Familiengeschichte aus einer den Eltern trotz aller Kritik entgegengebrachten Empathie speist. Unter Empathie ist zu verstehen, dass sich die beiden Erzähler versuchsweise vorstellen, wie sie als Angehöriger der Generation der Eltern gehandelt hätten.¹²⁴ Diese korrespondiert zugleich wiederum mit der Selbtkritik. Es ist

 Vgl. Gerrit Bartels: „Ich wollte das in aller Härte“: „Wie hätte ich gehandelt? Ich würde es mir

1.3 Fazit: Vereinbarkeit von Leid und Schuld

157

das selbstprüfende Bewusstsein, als Angehöriger der von den Zeitumständen geschonten Generation nicht mit dem Faschismus konfrontiert zu sein, das die beiden Erzähler eine urteilende Wertung vermeiden lässt. Diese Erzählhaltung erlaubt den beiden Autoren, Teile der Mentalität der Elterngeneration nach einer kritischen Reflexion zu tolerieren, Aspekte des elterlichen Habitus in ihre Lebenswelt zu integrieren und schließlich eigenes Selbstbild zu entwerfen. Die beiden Romane zeichnen sich insgesamt dadurch aus, dass sie – vor der schonungslosen Selbstbefragung dabei gerade nicht Halt machend – die mögliche individuelle Verantwortung der Familienmitglieder sowie den universellen Charakter moralischer Schuld im Sinne von Karl Jaspers¹²⁵ thematisieren: Im Grunde handelt es sich bei ihrer Thematisierung der Schuld und Verantwortung um „eine Solidarität zwischen Menschen als Menschen, welche einen jeden mitverantwortlich macht für alles Unrecht und alle Ungerechtigkeit in der Welt, insbesondere für Verbrechen, die in seiner Gegenwart oder mit seinem Wissen geschehen“¹²⁶. Nach Schuld und Verantwortung zu fragen und der Opfer der NS-Verbrechen zu gedenken sind somit für Timm und Leupold ganz offensichtlich nicht die alleinige Aufgabe der staatlich-öffentlichen Rituale und der Gedenkstätte, sondern in erster Linie ein individueller Akt der Selbstbefragung und Gewissensprüfung. Dies korrespondiert mit der Forderung von Hannah Arendt, dass in einer wahrhaft demokratischen Gesellschaft „jeder Bürger und jede Bürgerin imstande sein müsste, die Verantwortung für die gemeinsame Geschichte ihrer Gesellschaft zu übernehmen“¹²⁷. Die Übernahme der Verantwortung ist nicht mit der Vorstellung von der Erblichkeit der Schuld und von der stellvertretenden Buße für die Verfehlungen der vorherigen Generation zu verwechseln. Damit laufen die beiden Romane auf eine im Akt des

zwar wünschen, aber ich kann leider nicht sagen, ich hätte mich ganz verweigert.“; Dagmar Leupold: Nach den Kriegen, S. 168: „All das habe ich nie gefragt, und so weiß ich noch immer nicht, ob die Erfahrung des Kriegs, die Erfahrung einer Fernsteuerung also (selbst wenn sie begrüßt wird, bleibt sie das), diesen Fragen ihre Berechtigung nimmt.“  Vgl. Karl Jaspers: Lebensfragen der deutschen Politik, München 1963. Schon ein Jahr nach Kriegsende hat Karl Jaspers mit der Schuldfrage und dem Umgang Deutschlands mit seiner historischen Schuld auseinandergesetzt. Dabei unterscheidet er zwischen krimineller, politischer, moralischer und metaphysischer Schuld. Kriminelle Schuld sind objektiv nachweisbare Verbrechen, die gegen Gesetzt verstoßen. Politische Schuld ist die Haftung für staatliches Handeln, die sich aus gemeinsamer Staatsbürgerschaft ergibt. Moralische Schuld ist begründet in der Verantwortung des einzelnen für alles, was er selbst tut, auch im militärischen und im politischen Bereich. In dieser Hinsicht gilt die Entschuldung durch den Hinweis auf den Befehlsnotstand niemals. Schließlich ist metaphysische Schuld der Stützpunkt für alle Schuld, der die einzelnen Schuldarten theoretisch ausweist.  Ebd., S. 45 f.  Helmut Dubiel: Niemand ist frei von der Geschichte , S. 286.

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1 Deutscher Opferdiskurs

individuellen Erinnerns vollzogene Zurückweisung des alten „mythischen Nexus von Schuld und Sühne in der Kette der Generation“ hinaus, insofern die einzelnen Familienmitglieder vom „Prinzip der Schuldfähigkeit und Schuldhaftung des Individuums“ nicht ausgenommen sind.¹²⁸ Jenes Konzept von Schuld und Sühne in der Kette der Generation kann letztendlich dazu führen, dass man sich über den konkreten Schuldanteil des Einzelnen hinwegtäuscht, indem man ihn hinter dem Horizont der mythischen Vorstellung der Erbsünde verschwinden lässt. Dazu äußert Georg Lukács: Die kollektive Verantwortung einer Nation für einen Abschnitt ihrer Entwicklung ist etwas derart Abstraktes und Ungreifbares, daß sie an den Widersinn streift. Und doch kann ein solcher Abschnitt wie die Hitlerzeit nur dann im eigenen Gedächtnis als abgetan und erledigt betrachtet werden, wenn die intellektuelle und moralische Einstellung, die ihn erfüllte, ihm Bewegung, Richtung und Gestalt gab, radikal überwunden wurde. Erst dann ist es […] möglich, auf die Umkehr zu vertrauen, die Vergangenheit als wirklich Vergangenes zu erleben.“¹²⁹

Für Timm und Leupold ist die Bereitschaft zur verantwortungsvollen Beschäftigung mit „den Verfehlungen einer Auseinandersetzung mit der eigenen Verwicklung in die historische Tat“¹³⁰ der Elterngeneration, d. h. „deren Trauer- und Schuldabwehr“¹³¹ nämlich „aufs engste mit der Autonomie des Individuums“¹³² verknüpft, denn gerade die Identifikation des Einzelnen ist die Voraussetzung für die von Lukács postulierte „radikale Überwindung“. Die Familiengeschichten der beiden Autoren zeigen, wie ihre ganz normalen, anständigen Familienmitglieder aus dem Bedürfnis nach sozialem Aufstieg und Überleben unter dem faschistischen Regime im eigenen Bereich zur Durchsetzung und Stabilisierung der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft beitragen und an deren Untaten mirwirken konnten. Und hierbei geht es keineswegs um die Schuldzuweisung, sondern um das Identifizieren und Begreifen des ‚Bösen‘. Das Böse, das von ihren Familienmitgliedern getan wurde, ist nicht das Monströse, sondern die banale alltägliche Gleichgültigkeit, von der jeder auch einen Teil in sich selbst trägt: Das Böse als der permanente Verweis auf als absolut geltende Befehlsketten, als die Weigerung, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen, als die Flucht vor Verantwortung und als „de[r] Unwille[] oder [die]

 Vgl. Jan Assmann: Vorwort, in: ders. (Hrsg.): Schuld, Gewissen und Person. Studien zur Geschichte des inneren Menschen, Gütersloh 1997, S. 12. Hier liegt die Demarkationslinie zwischen dem christlich-eschatologischen Schuldbegriff und dem Verantwortungsprinzip der Moderne.  Georg Lucács: Von Nietzsche bis Hitler, Frankfurt a. M. 1966, S. 21.  Sigrid Weigel: Télescopage im Unbewussten, S. 66.  Ebd.  Helmut Dubiel: Niemand ist frei von der Geschichte, S. 286.

1.3 Fazit: Vereinbarkeit von Leid und Schuld

159

Unfähigkeit, durch Urteil zu Anderen in Beziehung zu treten“¹³³. Auf diesem Wege füllen die beiden Romane eine Lücke zwischen der drohenden Entleerung von öffentlichen „ritualisierten ‚Anlass-Erinnerungen‘“¹³⁴ auf der einen Seite und dem Rückzug auf die „gefühlte Unschuld“¹³⁵ des kommunikativen Gedächtnisses der Deutschen auf der anderen. Somit kann die „Externalisierung“, die Aleida Assmann neben dem Aufrechnen, Ausblenden, Schweigen und Umfälschen zu Entlastungsstrategien im Umgang mit der NS-Vergangenheit zählt, in die „Internalisierung“ übergehen, indem sich die nachfolgenden Generationen die problematischen Aspekte der (Familien‐)Geschichte aneignen.¹³⁶

 Hannah Arendt: Über das Böse. Eine Vorlesung zu Fragen der Ethik, München 2007, S. 150.  Aleida Assmann: Der lange Schatten der Vergangenheit, S. 183.  Gerhard Friedrich: Erdachte Nähe und wirkliche Ferne, S. 177.  Vgl. Aleida Assmann: Der lange Schatten der Vergangenheit, S. 169 – 182. Vgl. auch dazu Helmut Dubiel: Niemand ist frei von der Geschichte, S. 70. In diesem Zusammenhang unterscheidet Helmut Dubiel zwischen der Abspaltung, Opferhaltung, Aufrechnung, Existentialisierung, Verleugnung, Relativierung.

2 Heimat, Tradition und Identität im familiären Chronotopos: Stephan Wackwitz’ Ein unsichtbares Land. Familienroman und Thomas Medicus’ In den Augen meines Großvaters Familiengeheimnis und Wiederholungszwang Dann wird seine Vergangenheit kritisch betrachtet, dann greift man mit dem Messer an seine Wurzeln, dann scheitert man grausam über alle Pietäten hinweg. Es ist immer ein gefährlicher, nämlich für das Leben selbst gefährlicher Prozeß: und Menschen oder Zeiten, die auf diese Weise dem Leben dienen, daß sie eine Vergangenheit richten oder vernichten, sind immer gefährliche Menschen und gefährdete Zeiten. Denn da wir nun einmal die Resultate früherer Geschlechter sind, sind wir auch die Resultate ihrer Verirrungen, Leidenschaften und Irrtümer, ja Verbrechen; es ist nicht möglich, sich ganz von dieser Kette zu lösen. Wenn wir jene Verirrungen verurteilen und uns ihrer für enthoben erachten, so ist die Tatsache nicht beseitigt, daß wir aus ihnen entstammen.¹

Was Nietzsche in seinem Buch Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben formulierte, scheinen die Autoren der in diesem Kapitel untersuchten Familienerzählungen besonders in Anspruch zu nehmen. Stephan Wackwitz’ Ein unsichtbares Land. Familienroman ² und Thomas Medicus’ In den Augen meines Großvaters ³ sind Beispiele für die zeitgenössische deutsche Familienerzählung, mit der eine Änderung der Blickwinkel und Modi in der Aufarbeitung der (Familien‐)Geschichte verbunden werden soll, um den nach Ansicht der Autoren allzu häufig bisher verwendeten moralisierenden Duktus der Erinnerung durch ein differenzierteres Bild der NS-Vergangenheit zu ersetzen. Der Hinweis auf Nietzsches Betrachtung ist deshalb den folgenden Überlegungen zu den beiden Familienerzählungen von Wackwitz und Medicus vorangestellt, weil letztere den Fokus auf die genealogischen Kontinuitäten legen. Sie kehren die Abgrenzungsbemühungen und die staatlich gelenkten Erinnerungsimperative der deutschen Erinnerungspolitik insofern um, als in ihnen die kritische Stellungnahme zu etablierten Erinnerungspraktiken

 Friedrich Nietzsche: Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, in: ders.: Werke in drei Bänden, hrsg. von Karl Schlechta, Bd. 1, München 1969, S. 33.  Stephan Wackwitz: Ein unsichtbares Land. Familienroman, Frankfurt a. M. 2003. Im Folgenden sind weitere Zitate aus Ein unsichtbares Land mit der Sigle (UL, Seitenzahl) gekennzeichnet.  Thomas Medicus: In den Augen meines Großvaters, München 2004. Im Folgenden sind weitere Zitate aus In den Augen meines Großvaters mit der Sigle (AG, Seitenzahl) gekennzeichnet. https://doi.org/10.1515/9783111009094-007

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mitschwingt und alternative Umgangsformen mit der (Familien‐)Geschichte implizit beworben werden. Sowohl Wackwitz als auch Medicus, die in der frühen Nachkriegszeit geboren sind, rekonstruieren ihre Familiengeschichte ganz dezidiert aus der Perspektive der 68er-Generation, setzen sich mit der Geschichte der Großväter auseinander und bringen sie mit der eigenen Lebensgeschichte in Verbindung. Ihre Großväter, beide preußischer Abstammung, gehören der Generation der Frontsoldaten an. Der Großvater von Medicus, General Wilhelm Crisolli, war als Armeekommandant in Norditalien in Kriegsverbrechen verwickelt, bevor er 1944 von Partisanen getötet wurde. Wackwitz’ Großvater Andreas Wackwitz war ein protestantischer Priester und Veteran des Ersten Weltkrieges, und am Kapp-Putsch von 1920 beteiligt. Er war in den 1930er Jahren im schlesischen Anhalt, zehn Kilometer von Auschwitz entfernt, als Pfarrer stationiert, bevor er ins deutsche Mandatsgebiet Süd-Westafrika entsandt wurde, und war tätig von 1940 bis 1950 in Luckenwalde, dem Geburtsort des Studentenbewegungsführers Rudi Dutschke. Anders als Timm und Leupold, die sich mit der NS-Vergangenheit der Familie auseinandersetzen, interessieren sich die beiden Autoren indes für die Vor- und Nachgeschichte des Nationalsozialismus und deren Zusammenhang. Sie konfrontieren gleich zwei historische Epochen, namentlich die wilhelminische Zeit der Großvatergeneration und die Zeit der Studentenbewegung ihrer Generation. In beiden Werken überlagern sich mehrere problematische und kontroverse Aspekte des Umgangs mit der (Familien‐)Geschichte. Medicus wie Wackwitz wuchsen in einer „Fülle von Geheimnissen“ (AG, 17) auf, die unbewusst in ihrem Seelenleben abgelagert wurden. Sie wurden in Bann gezogen von den Geheimnissen ihrer Familie, die bei ihnen unheimliche Eindrücke hinterließen. Unbewusst verknüpfen sie die eigene Geschichte mit der der Vorfahren. Sowohl für Medicus als auch für Wackwitz beruht die genealogische Positionierung, die sich in ihren Erzählungen vollzieht, rhetorisch auf Motiven des Unheimlichen.⁴ In seinem 1919 veröffentlichten Aufsatz über das Unheimliche entwickelt Freud verschiedene Motive aus dem Bereich des Ängstlichen, die unheimlich wirken: Wiederkehr der Toten, Geister und Gespenster, Aberglaube, Animismus oder auch die Wiederholung von Erlebnissen, Charakteren, Schicksalen usw. in eigentlich unzusammenhängenden Ereignissen.⁵ Sie stellen nach Freud „wirklich nichts Neues oder Fremdes, sondern etwas dem Seelenleben von alters her Vertrautes“ dar,  Vgl. Helmut Schmitz: Annäherung an die Generation der Großväter. Stephan Wackwitz’ Ein unsichtbares Land und Thomas Medicus’ In den Augen meines Großvaters, in: BIOS – Zeitschrift für Biographieforschung, Oral History und Lebensverlaufsanalysen (2006) 2, S. 247– 266.  Vg. Sigmund Freud: Das Unheimliche, in: ders.: Studienausgabe, Bd. 4, hrsg. von Alexander Mitscherlich, Frankfurt a. M. 1970, S. 241– 274.

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evozieren die Angst, erst nachdem sie „durch den Prozess der Verdrängung entfremdet worden“⁶ sind. In den Texten von Medicus und Wackwitz findet man Beispiele für beide Arten des Unheimlichen – das, was aus der Rückkehr des Verdrängten (Wackwitz) resultiert und das, was aus der Wiederkehr des alten Aberglaubens (Medicus) entsteht. Diese Form der Wiederkehr in veränderter oder entstellter Form bringt Freud mit dem aus dem infantilen Seelenleben stammenden Wiederholungszwang in Verbindung. Dabei entsteht das Gefühl des Unheimlichen, weil die Wiederholung nicht erkannt wird. In seinem Aufsatz Erinnern, Wiederholen, Durcharbeiten verweist Freud darauf, dass eine solche Wiederkehr nicht erinnert, sondern ausagiert wird: „Der Analysierte erinnert überhaupt nichts von dem Vergessenen oder Verdrängten, sondern er agiert es. Er reproduziert es nicht als Erinnerung, sondern als Tat, er wiederholt es.“⁷ Freud betrachtet das wiederholende Agieren als Ausdruck eines unbewussten Widerstands, der auf traumatische Erlebnisse zurückzuführen ist. Das Trauma entsteht in Folge des Durchbruchs eines innerpsychischen Reizschutzes aufgrund der zu starken äußeren Erregung. Das Trauma ist etwas, das sich durch die Plötzlichkeit, die Heftigkeit und die Unerklärlichkeit eines Ereignisses dem Bewusstsein entzieht und mithin durch verpasste und verspätete Erfahrung gekennzeichnet ist, wie Cathy Caruth betont: „[Trauma] is experienced too soon, too unexpectedly, to be fully known and is therefore not available to consciousness until it imposes itself again, repeatedly, in the nightmares and repetitive actions of the survivor.“⁸ Weil das Trauma eine seelische Verletzung, die nicht wahrgenommen werden kann, ist, sind traumatisierte Menschen nicht im Besitz des Ereignisses, sondern vielmehr von ihm besessen. In Folge der nichtbewussten Erfahrung wiederholt sich die Verletzung unkontrollierbar an anderen Orten und zu anderen Zeiten. Das wiederholende Agieren und somit die beständige Wiederkehr zu einer traumatischen Situation ist als ein nachgeholter, unbewusster Versuch zur Bewältigung des Traumas zu verstehen, indem der Schreck reinszeniert, rematerialisiert und erfahren wird, sodass nachträglich ein Reizschutz aufgebaut wird. Diese Wiederholungen beziehen sich allerdings nicht auf wirkliche Ereignisse, sondern auf eine der Nicht-Erfahrung inhärente Leerstelle in der Struktur der Seele. Nur die Identifizierung der wiederholt erlebten Struktur der Erfahrung als Trauma ermöglicht die nachträgliche Integration der traumatisch erlebten Ereignisse ins Bewusstsein, die Entlastung der Psyche und schließlich die Aufhebung der unbewussten Wiederholung. Dies lässt erlebte Traumata zur Ver-

 Ebd., S. 264.  Sigmund Freud: Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten, S. 129.  Cathy Caruth: Unclaimed Experience: Trauma, Narrative, and History, Baltimore/London 1996, S. 4.

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gangenheit werden und stellt damit „die Bedingung zur Befreiung der Lust und zur Konstituierung der Zukunft“⁹ dar. Wackwitz wie Medicus begreifen den Ersten Weltkrieg als Urtrauma der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts. „Der große, bis in die tiefsten Schichten des Unbewußten durchschlagende Schrecken“ (AG, 143) des Krieges setzt sich in den Nachkommen fort, die die „Scham, Demütigung und Desorientierung“ (AG, 137) ihrer Vorfahren in Form von Familiengeheimnissen erbt. Sie dringen in die Lebensgeschichte der Nachkommen ein und erschwert die Entwicklung einer unabhängigen Existenz. Sigrid Weigel zufolge wirkt die transgenerationale Traumatisierung als eine Art „Télescopage im Unbewußten“, durch die die Familiengeheimnisse der vorangegangenen Generation umgebildet werden in Phantome, welche sich auf die nachfolgenden Generationen übertragen.¹⁰ Wackwitz und Medicus befassen sich speziell mit den Familiengespenstern, die in den nachfolgenden Generationen (un‐)heimlich wieder auftauchen und sie unbewusst agieren lassen. Ihre Auseinandersetzung mit der Generation der Frontsoldaten motiviert sich durch die Einsicht, dass der Erste Weltkrieg als Urtrauma des 20. Jahrhunderts nicht nur den Nährboden für den Faschismus bereitet, sondern noch die nachfolgende Generation der Studentenbewegung in der jungen Bundesrepublik bis zur Wiedervereinigung affiziert. In diesem Zusammenhang verwundert es nicht, dass sowohl Wackwitz als auch Medicus ihren Gesinnungswandel in Bezug auf den Umgang mit der (Familien‐)Geschichte auf das Epochenjahr 1989 als das Ende der Nachkriegszeit zurückführen, die ihnen im Rückblick als gespenstische Jahrzehnte erscheint. Sie ringen um eine Lösung des Spannungsverhältnisses zwischen Familienphantomen und ihrem Nachkriegsbewusstsein. Jene Familienphantome werden besonders durch die im Inneren sedimentierten Erinnerungen der beiden Autoren an osteuropäische Landschaften als das Produkt der transgenerationalen Übertragung von Heimat-Bildern innerhalb der Familie anschaulich gemacht.¹¹ Die Erzählungen von Wackwitz und Medicus lenken das Augenmerk auf ortszentrierte Formen von familiären wie kulturellen Gedächtnissen durch eine konkrete räumliche Verortung historischer Ereignisse. Angesichts des Mangels an expliziter Auseinandersetzung mit geografischen Räumen auf der Ebene der öffentlichen Erinnerungspolitik in Deutschland, wo die

 Haydée Faimberg: Die Ineinanderrückung (Telescoping) der Generationen. Zur Genealogie gewisser Identifizierungen, in: Jahrbuch der Psychoanalyse 20 (1987), S. 114– 142, hier S. 128.  Sigrid Weigel: Télescopage im Unbewußten. Zum Verhältnis von Trauma, Geschichtsbegriff und Literatur, S. 75.  Vgl. Anne Fuchs: Heimat and Territory in Thomas Medicus’s In den Augen meines Vaters and Stephan Wackwitz’s Ein unsichtbares Land, in: dies (Verf.): Phantoms of War in Contemporary German Literature, Films and Discourse. The Politics of Memory, Houndmills [u. a.] 2008, S. 77– 108.

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Kategorie Raum und Heimat „durch ihre Instrumentalisierung in der nationalsozialistischen Propaganda“¹² als Synonym für Vaterland und territoriale Gerüste beschädigt zu sein scheint und somit in der Nachkriegszeit unpopulär war¹³, führen Wackwitz wie Medicus mit ihren Romanen diese wichtige Dimension in die Erinnerungslandschaft wieder ein – also die Vorstellung, dass Ort eine der wichtigen Komponente für die transgenerationale Übertragung des familiären bzw. kulturellen Gedächtnisses und somit für die Vergangenheitserschließung ist. Geografische Räume als Medium des Gedächtnisses beruhen auf der anthropologischen Grundverfassung der Räumlichkeit der menschlichen Existenz.¹⁴ Da der Mensch sich existenziell in einem geografischen Raum, in dem sich das Leben abspielt, bewegt, schließt dessen Erfahrung und Erinnerung all das ein, was sich in diesem Raum ereignet und ihn prägt. In den Raum sind folglich nicht nur die Materialität des Raumes, sondern auch kollektive Erfahrungen und Erinnerungen sowie kulturelle Symbolisierungen und Wissenbestände eingeschrieben. Sowohl Wackwitz als auch Medicus begreifen geografische Räume nicht nur als Schauplatz des historischen Geschehens, sondern vor allem als „menschlich erlebte Räume, in denen räumliche Gegebenheiten, kulturelle Bedeutungszuschreibungen und individuelle Erfahrungsweisen zusammenwirken“, kurzum als „kulturelle[n] Bedeutungsträger“¹⁵. Henri Lefebvre geht davon aus, dass die soziale Produktion des Raumes aus der Wechselwirkung dreier Dimension hervorgeht: Die Rede ist von der „räumliche[n] Praxis“ im Sinne der materiellen Nutzung des Raums, der „Raumrepräsentationen“ als dem Wissen vom Raum und schließlich den „Repräsentationsräume[n]“, „die man möglicherweise nicht als Raumcode, sondern als Code der Repräsentationsräume auffassen kann“¹⁶. Auf die Idee Lefebvres rekurrierend,

 Michael Frank: Die Literaturwissenschaften und der spatial turn. Ansätze bei Jurij Lotman und Michail Bachtin, in: Wolfgang Hallet/Birgit Neumann (Hrsg.): Raum und Bewegung in der Literatur. Die Literaturwissenschaften und der Spatial Turn, Bielefeld 2009, S. 53 – 80, hier S. 59.  Vgl. für eine umfassende Erläuterung der verschiedenen Phasen der Einstellung der Deutschen gegenüber dem Konzept Heimat Gunther Gebhard/Oliver Geisler/Steffen Schröter (Hrsg.): Heimat. Konturen und Konjunkturen eines umstrittenen Konzepts, Bielefeld 2007.  Vgl. Peter Burke: Geschichte als soziales Gedächtnis, in: Aleida Assmann/Dietrich Harth (Hrsg.): Mnemosyne. Formen und Funktionen der kulturellen Erinnerung, Frankfurt a. M. 1993, S. 289 – 304.  Wolfgang Hallet/Birgit Neumann: Raum und Bewegung in der Literatur: Zur Einführung, in: dies.(Hrsg.): Raum und Bewegung in der Literatur, S. 11– 32, hier S. 11: „Kulturell vorherrschende Normen,Werthierarchien, kursierende Kollektivvorstellungen von Zentralität und Marginalität, von Eigenem und Fremdem sowie Verortungen des Individuums zwischen Vertrautem und Fremdem erfahren im Raum eine konkret anschauliche Manifestation.“.  Henri Lefebvre: Die Produktion des Raumes, in: Jörg Dünne/Stephan Günzel (Hrsg.): Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt a. M. 2006, S. 330 – 342, hier S. 333.

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wonach die Trennung von physischem und mentalem Raum beiseitegelegt wird, plädiert Edward Soja mit seinem Konzept eines dritten Raumes dafür, reale und imaginäre Räume zusammenzubringen.¹⁷ Soja kritisiert die Vorherrschaft der Kategorie ‚Zeit‘ als zentrales Erklärungsmuster der geschichtliche Entwicklungen, die aus der Vorstellung von Raum als einer statischen und neutralen Kulisse hervorgeht.¹⁸ Er versucht, dieser einseitigen Konzentration eine starke Akzentuierung der Kategorie ‚Raum‘ entgegenzusetzen, indem er die Bedeutung von „Raum als produktive[m] Faktor kultureller Prozesse“¹⁹ in den Vordergrund rückt. Dabei vertritt er die Ansicht, dass die Betrachtung des physisch-konkreten Raumes allein (erster Raum) und des mentalen, imaginären Raumes allein (zweiter Raum) zu kurz greift, denn beide Fälle sind unmittelbar ineinander verschränkt. Soja zufolge muss Raum als gleichzeitig real und imaginär betrachtet werden (dritter Raum), denn er stellt immer eine Verklammerung zwischen physischen, geografischen Räumen und imaginären, kulturellen Raumkonstruktionen dar. Sojas Konzept ‚real-and-imagined place‘ bietet für die Betrachtung der Erzählungen von Wackwitz und Medicus einen relevanten Ansatzpunkt. Die imaginären Räume werden soja zufolge durch „all jene symbolischen Verfahren, mit denen Bedeutungen auf materielle Räume projiziert werden“²⁰, konstituiert. Eben an diesem Prozess der räumlichen Bedeutungskonstitution sind die beiden Erzählungen beteiligt. Die beiden Texte zeigen dabei „die sowohl repräsentierende wie performative Dimension“²¹ der Raumordnung, indem sie die Verschränkung zwischen einem raum- und imaginationsbezogenen ‚Behaltgedächtnis‘ und einem zeitorientierten Erinnerungsprozess reflexiv widerspiegeln und kulturelle Ambivalenzen, Ängste und Widersprüche durch die Rückbindung an Orte greifbar und zugänglich machen. Sie können somit als Praxis kultureller Selbstreflexion in die Debatte über die räumliche Eingebundenheit der kulturellen Erinnerungsprozesse eingreifen.²² Anders als die anderen Gedächtnis-

 Vgl. Edward W. Soja: Thirdspace. Journeys to Los Angeles and Other Real-and-Imagined Places, Cambridge/Oxford 1996.  Vgl. Wolfgang Hallet/Birgit Neumann: Raum und Bewegung in der Literatur, S. 15.  Ebd.  Ebd., S. 16.  Vgl. ebd.: „Erzählte Räume erlauben daher Einblicke in zweierlei: Als Repräsentationen von Raum bieten sie erstens Zugang zu kulturell vorherrschnden Raumordnungen. Als Konstruktionen kultureller Ordnungen erlauben sie zweitens Aussagen über die kulturpoietische Kraft der in der Literatur inszenierten Raummodelle, die die Realität von Machtverhältnissen mitprägen oder aber unterlaufen. Darin liegt die sowohl repräsentierende wie performative Dimension aller literarischen Raumordnungen.“  Vgl. Birgit Neumann: Imaginative Geographien in kolonialer und postkolonialer Literatur. Raumkonzepte der (Post‐)Kolonialismusforschung, in: Wolfgang Hallet/Birgit Neumann (Hrsg.): Raum und Bewegung in der Literatur, S. 115 – 138, hier S. 117: „Literarische Werke werden […] daher

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medien fordern die Orte dazu auf, sich zu bewegen: „Erst durch die Bewegung werden verschiedene, auch imaginierte Räume zueinander in bedeutungsstiftende Relationen gesetzt, also Unterschiede, Ähnlichkeiten und Ungleichzeitigkeiten zwischen ihnen nachvollziehbar gemacht.“²³ Für die beiden Autoren gehört genau diese Tätigkeit zu ihrem Schreiben elementar dazu. Sie reisen sehr viel in ehemalige deutsche Gebiete in Polen, um das Besondere der Heimat ihrer Familien, die gleichzeitig Ort der Zerstörung, des Todes und der Kriegsführung ist, selbst aufzuspüren. Für sie haben die Räume eine magische Ausstrahlung, sie werden von ihnen angezogen. Jeder Text birgt einen ganz eigenen Umgang mit ihr in sich und doch sind sich beide ähnlich, nicht nur durch den Umstand, dass ihre Erzähler reisen und sich zu den Orten begeben, die für ihre Familien bedeutend waren, sondern vor allem dadurch, dass durch die Raumerfahrung und Beschreibung der imaginären Dimension geografischer Räume ihre auf die bestimmten Orte projizierten, unbewussten Erinnerungen eine Art Leiblichkeit erlangen und somit in die Bewusstseinsebene gelangen. Diese kann psychische Wirksamkeit haben. Postmemory für Restauration der Genealogie Die narrative Strategie beider Erzählungen lässt sich mit Marianne Hirschs Begriff des postmemory beschreiben.²⁴ Unter postmemory versteht Hirsch eine spezielle Form der phantasmatischen Erinnerung, in der das Trauma der Holocaust-Überlebenden deren Nachkommen vermittelt wird: In my reading, postmemory is distinguished from memory by generational distance and from history by deep personal connection. Postmemory is a powerful and very particular form of memory precisely because its connection to its object or source is mediated not through recollection but through an imaginative investment and creation. That is not to say that memory itself is unmediated, but that it is more directly connected to the past. Postmemory characterizes the experience of those who grow up dominated by narratives that preceded their birth, whose own belated stories are evacuated by the stories of the previous generation shaped by traumatic events that can be neither understood nor recreated.²⁵

als poietische Medien der Raumaneignung, -auslegung, und –schaffung verstanden, die die Raumordnungen ihrer Zeit und die ihnen eingeschriebenen Werte darstellen, reflektieren, permanent neu setzen und gegebenfalls auch transformieren.“  Ebd., S. 14.  Am Beispiel von Art Spiegelmans Holocaust-Comic Maus entwickelt und illustriert die amerikanische Literaturwissenschaftlerin Marianne Hirsch die Merkmale von Postmemory. Bei Postmemory geht es weniger um den Holocaust selbst, als vielmehr um dessen Verarbeitung und Weitergabe durch die Nachkommen der Holocaust-Überlebenden.  Marianne Hirsch: Family Frames. Photography, Narrative and Postmemory, Cambridge/London 1997, S. 22.

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An anderer Stelle bezeichnet sie postmemory als „familial inheritance and transmission of cultural trauma“ und „retrospective witnessing by adoption“ und erweitert somit den Begriff auf „a space of remembrance more broadly available through cultural and public, and not merely individual and personal, acts of remembrance, identification, and projection.“²⁶ Hirschs Konzept wurde von vielen Wissenschaftlern in Bezug auf die deutschen Narrative der nachfolgenden Generationen übernommen. Postmemory bezieht sich auf die Übertragung einer kollektiven, traumatischen Vergangenheit auf die nachfolgenden Generationen, was konsequenterweise das spezielle Rezeptionsphänomen aufseiten der Nachkommen entstehen lässt²⁷: „Die nächste Generation macht sich zwangsläufig etwas von ihren Eltern zu eigen“²⁸, indem sie – bewusst oder unbewusst – versucht, „often based on silence rather than speech, on the invisible rather than the visible“²⁹ die traumatischen Leerstellen des Familiengedächtnisses durch Imagination, Identifikation und Projektion auszufüllen. Eben hieraus resultiert die besondere Relevanz literarischer Texte für transgenerationale Erinnerungsprozesse mit Hilfe der fiktionalisierend-ergänzenden Rekonstruktionsarbeit. Für eine Vergangenheit im Spannungsfeld von Erinnern, Verschweigen und Verdrängen bietet sich demnach in besonderem Maße eine Annäherung durch „representation, projection, and creation“³⁰ an. Dabei gilt es zu berücksichtigen, so James E. Young, dass dem Begriff postmemory die Frage nach der ethischen Dimension der Erinnerungsarbeit der nachgeborenen Generation im Hinblick auf die prekäre Repräsentation ihrer „notwendigerweise hypervermittelte[n] Erfahrung der Erinnerung“ der vorangegangenen Generation inhärent ist.³¹ Die postmemoriale Auseinandersetzung mit der Ver Marianne Hirsch: Surviving Images : Holocaust Photographs and the work of postmemory, in: The Yale Journal of Criticism 14 (2001) Nr. 1, S. 5 – 37, hier S. 9 f. Vgl. auch Marianne Hirsch: Family Frames. Photography, Narrative and Postmemory, S. 22: „I have developed this notion in relation to children of Holocaust survivors, but I believe it may usefully describe other second-generation memories of cultural or collective traumatic events and experiences.“  Ebd., S. 12: „[I]f trauma is recognizable only through its after-effects, then it is not surprising that it is transmitted across generations. Perhaps it is only in subsequent generations that trauma can be witnessed and worked through, by those who were not there to live it but who received its effects, belatedly, through narratives, actions and symptoms of the previous generation.“  Anita Eckstaedt: Nationalsozialismus in der ‚zweiten Generation‘. Psychoanalyse von Hörigkeitsverhältnissen, Frankfurt a. M. 1992, S. 496.  Marianne Hirsch: Surviving Images, S. 9.  Ebd.  Vgl. James E. Young: Nach-bilder des Holocaust in zeitgenössischer Kunst und Architektur, Hamburg 2002, S. 7– 20, hier S. 7. Für postmemoriale Ästhetik arbeitet Young drei Voraussetzungen heraus: „[E]rstens, daß eine Erinnerungsarbeit nach Auschwitz nur antierlöserisch sein kann und darf; zweitens, daß eine Generation, die nach Auschwitz geboren wurde, ethisch und historisch

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gangenheit muss einen selbstreflexiven Impuls aufrechterhalten, der „sich der moralischen Verpflichtung zur Erinnerung bewußt sein [kann] und zugleich auch der Unmöglichkeit, sie mit den Mitteln von Kunst und Literatur zu leisten“³². Andernfalls läuft es Gefahr, sich in eine Art Sehnsucht nach der Faszination des Faschismus hineinfallen zu lassen und/oder nostalgische Versionen der Geschichte zu produzieren, die die Vergangenheit zu alternativen Identitäten machen. Young fordert in diesem Zusammenhang „eine anti-erlöserische Geschichtserzählung, eine, die systematischen Zweifel zum Ausdruck bringt, die den Verlust jeder Gewißheit aufbewahrt, die das Erzählen als Prozeß begreift und niemals als fertiges Ergebnis“³³. In ihren autobiografischen Erzählungen greifen Wackwitz und Medicus wohlgemerkt auf die gestalterischen Mittel zurück, die speziell der Literatur für die imaginative und mediale (Re‐)Konstruktion der Erinnerung zur Verfügung stehen. In den beiden Familienerzählungen überschneidet sich die autobiografisch gesicherte Authentizität mit den distanzierenden und imaginierenden Möglichkeiten einer Fiktionalisierung des (Nicht‐)Erlebten. Ferner begrüßen sie eine solche Herangehensweise als Chance, die Trennung zwischen kognitivem historischem Wissen und dem affektiv besetzten Raum von Familiengeschichten zu überbrücken und neuartige Bilder der „Vergangenheit aus zweiter Hand“³⁴ zu erzeugen.

2.1 Stephan Wackwitz: Ein unsichtbares Land. Ein Familienroman Stephan Wackwitz, 1952 geboren, ist Essayist und hatte in verschiedenen Funktionen für das Goethe-Institut in Tokio, New Delhi, Bratislava, New York und Tiflis gearbeitet, bevor er 1999 die Leitung des Goethe-Instituts in Krakau übernahm. Der berufsbedingte Umzug in die Stadt Krakau, die eine Autostunde entfernt von der Heimat seiner Familie liegt, wird ein Katalysator für die Auseinandersetzung mit

verpflichtet ist, die Erfahrung des Erinnerungsprozesses selbst zum Thema zu machen; drittens schließlich, daß die mit der Vernichtung der europäischen Juden zurückgebliebene Leerstelle zunächst eine Reflexion der genauen Umstände der Vernichtung selbst verlangt. Erinnerungsarbeit besteht in dem unendlich schwierigen Versuch, zu wissen, zu imaginieren und Erfahrungen Sinn abzugewinnen, die man nicht selbst gemacht hat.“ (S. 17.) Vgl. auch Michael Ostheimer: Ungebetene Hinterlassenschaft, S. 44 f.  James E. Young: Nach-bilder des Holocaust in zeitgenössischer Kunst und Architektur, S. 13.  James E. Young: Zwischen Geschichte und Erinnerung. Über die Wiedereinführung der Stimme der Erinnerung in die historische Erzählung, in: Harald Welzer (Hrsg.): Das soziale Gedächtnis. Geschichte, Erinnerung, Tradierung, Hamburg 2001, S. 41– 62, hier S. 62.  James E. Young: Nach-bilder des Holocaust in zeitgenössischer Kunst und Architektur, S. 8.

2.1 Stephan Wackwitz: Ein unsichtbares Land. Ein Familienroman

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den umfangreichen Memoiren seines Großvaters.³⁵ In seiner aus der drei Jahre langen intensiven Arbeit hervorgegangenen Familiengeschichte Ein unsichtbares Land. Ein Familienroman erzählt Wackwitz die Geschichte von drei Generationen, deren Mittelpunkt und Zentrum der Großvater ist und dahinter das eigene Ich. Dabei synthetisiert er die Geschichte des deutschen Idealismus, des Nationalismus und des Kolonialismus vom 19. Jahrhundert über den Nationalsozialismus bis zur Studentenbewegung in der Nachkriegszeit durch das Prisma der Lebensgeschichte und der Memoiren seines Großvaters, Andreas Wackwitz. Die beiden, so erinnert sich Stephan, „konnten […] nichts miteinander anfangen“ und eine „monumentale Verhältnislosigkeit [hat] immer zwischen uns geherrscht“ (UL, 56). Im Zuge der Herausarbeitung des Generationenkonflikts zwischen ihm und seinem deutschnational gesinnten Großvater thematisiert Stephan Wackwitz nicht nur die Verwicklungen der Kriegsgeneration in den Nationalsozialismus, vertreten durch den Großvater, sondern auch die Verblendungen der eigenen Generation. Der Enkel, der als Mitglied des Marxistischen Studentenbunds politisch aktiv war, beschreibt seine eigene politische Radikalisierung in einem Ausmaß, das dem Festhalten seines Großvaters an der Politik des Nationalsozialismus entspricht. Die beiden seiner Ansicht nach psychopathologischen Fehlentwicklungen der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts versucht Wackwitz letztendlich in einen größeren historischen Kontext zu stellen.³⁶ Stephan Wackwitz steht die umfangreiche Quellensammlung aus dem Familienarchiv zur Verfügung, die die über zwei Jahrzehnte hinweg entstandenen Memoiren des Großvaters, die Briefe eines im Ersten Weltkrieg gefallenen Großonkels und die autobiografische Erzählung des Vaters und seine eigenen Tagebücher einschließt. Memoiren des Großvaters werden – durch Kursivdruck abgesetzt – ausgiebig zitiert, kommentiert und gedeutet. Auch Fotografien aus dem Familienalbum werden in die Betrachtung einbezogen, von denen eine Reihe im Roman reproduziert ist. Diese reichhaltige familiäre Quellenlage dreier Generationen erlaubt auf inhaltlicher Ebene eine zeitlich und räumlich ineinandergreifende und eng verzahnte Perspektive auf die Vergangenheit und auf gestalterischer Ebene die „teleskopische Anordnung“ (UL, 105) des Familienromans. Mit ihr wird nicht nur die geistige Haltung des Großvaters in verschiedenen zeitlich-politischen Kontexten erfasst, sondern auch eine Kontinuitätslinie zwischen der Kriegsgeneration und der 68er-Generation herausgearbeitet, etwa wie der folgende Abschnitt veranschaulicht:  Vgl. Stephan Wackwitz: Ein unsichtbares Land, S. 19 – 36.  Vgl. Friederike Eigler: Gedächtnis und Geschichte in Generationenromanen seit der Wende, Berlin 2005; Michael Ostheimer: Ungebetene Hinterlassenschaften. Zur literarischen Imagination über das familiäre Nachleben des Nationalsozialismus, Göttingen 2013, S. 347.

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Die Tagebuchstelle, die mein Großvater zitiert, stammt aus dem Jahr 1918; sein Kommentar ist von 1956. Wie zwei Linsen sind die beiden Textstellen hintereinander montiert, in einer Entfernung von 38 Jahren, 44 Jahre wiederum von uns entfernt: Eine teleskopische Anordnung, mit deren Hilfe ich nicht nur den jungen Mann von 1918 aus der Nähe betrachten kann, sondern zugleich auch den, der 1933 vierzig war; der 1956 alt, stumm und weinerlich am Frühstückstisch saß (und noch weiter in der Entfernung, ein kleines, schwach umrissenes Gespenst: meine eigenen politischen Verwirrungen mit vierundzwanzig). (UL, 105)

Bei Wackwitz ist das intertextuelle Bezugsfeld besonders vielfältig. Es reicht von den Titeln der Kapitel – „Unverhofftes Wiedersehen“ und „Im Palast des Kaisers“ – über Mottos, die vielen Kapiteln vorangestellt sind, bis hin zur Annäherung an die Biografie des Großvaters über zahlreiche kulturgeschichtliche Bezüge sowie der Struktur der Geschichten und der gesamten Romankonzeption. Der Autor rekurriert auf die psychoanalytischen, literatur- bzw. kulturgeschichtlichen und philosophischen Ansätze, die bis ins 18. Jahrhundert zurückreichen. Dabei werden sie immer mit persönlichen Kommentaren versehen und häufig mit der eigenen (Familien‐)Biografie verknüpft. Immer interessiert er sich für ihre verdeckten Sinnbezüge, für den Zusammenhang mit anderen Geschichten, Ereignissen und Ansätzen, um dann eine allgemeingültige Aussage zu treffen. Daraus entsteht ein „kohärenter Gesamttext“³⁷. Besonders die Memoiren des Großvaters werden hermeneutisch und psychoanalytisch erschlossen³⁸ und letztlich dem narrativen Gesamtkonzept des ‚Unheimlichen‘ untergeordnet.

2.1.1 Topografie der Erinnerung Wie aus dem Buchtitel ‚Ein unsichtbares Land‘ hervorgeht, thematisiert Wackwitz die unmittelbare Verschränkung der Biografie des Großvaters mit den zentralen Aspekten der nationalen Geschichte besonders „anhand der topographischen Konstellation“³⁹, die er im Zuge der Auseinandersetzung mit der Familiengeschichte entdeckt. Er schreibt seinem Großvater „die seltsame Begabung […] [zu], an verschiedenen historisch bedeutsamen Orten des letzten Jahrhunderts und während

 Friederike Eigler: Gedächtnis und Geschichte in Generationenromanen seit der Wende, S. 189. In diesem Zusammenhang bescheinigt Friederike Eigler dem Wackwitzschen Roman „den suggestiven Charakter“.  Vgl. Helmut Schmitz: Annäherung an die Generation der Großväter, S. 262. Die Annäherung von Wackwitz an den Großvater und sein Umgang mit der (Familien‐)Geschichte verdanken sich laut Helmut Schmitz in erster Linie „der integrativen Absicht hermeneutischer und psychoanalytischer Praxis“.  Ebd., S. 185.

2.1 Stephan Wackwitz: Ein unsichtbares Land. Ein Familienroman

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verschiedener historisch bedeutsamer Augenblicke seiner Zeit im Hintergrund irgendwie aufzutauchen und anwesend zu sein – ohne dass er sich in diese Momente und Orte wirklich verwickelt, ohne dass sein Auftauchen gerade zu dieser Zeit an diesem Ort irgendwelche Konsequenzen gehabt hätte […]“ (UL, 47). Andreas Wackwitz hat am Ersten Weltkrieg teilgenommen, war von 1921 bis 1933 Pfarrer der deutschen Gemeinde im oberschlesischen (seit 1918 polnischen) Anhalt, von 1933 bis 1939 Missionspastor im deutschen Mandatsgebiet Süd-Westafrika (bis 1918 deutsche Kolonie) und in den 40er Jahren Pastor und Generalsuperintendent in Luckenwalde, wo der spätere Studentenführer Rudi Dutschke geboren ist. Bei zwei Gelegenheiten kam er Hitler bis auf Sicht- und Rufweite nahe. Für den Enkel stellt die Anwesenheit seines Großvaters an diesen Orten „einen wirklich etwas beunruhigenden Zug“ (UL, 47) in dessen Leben dar. Durch die Rekonstruktion der Biografie des Großvaters anhand der für die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts bedeutsamen Orte erkundet Wackwitz die kulturelle und geistige Tradition Deutschlands, die seiner Ansicht nach den ideologischen Boden für den völkischen Traum der osteuropäischen Expansion im Dritten Reich wie auch für die politischen Verwirrungen der 68er-Generation bereitet hat.⁴⁰ Die Verknüpfung von historischen Epochen und Orten im literarischen Text ist gut mit Michail Bachtins Begriff des Chronotopos zu beschreiben. Bachtin bezeichnet „den grundlegenden wechselseitigen Zusammenhang der in der Literatur künstlerisch erfaßten Zeit-und-Raum-Beziehungen“ als Chronotopos.⁴¹ Er versteht Raum und Zeit als „Formen der realen Wirklichkeit selbst“⁴², welche er für historisch variabel hält. Mit dem Begriff Chronotopos macht er auf die sich gegenseitig beeinflussende Beziehung zwischen der in den Raum eingeschriebenen Zeit und dem bestimmte Zeitabschnitte manifestierenden Raum aufmerksam: Im künstlerisch-literarischen Chronotopos verschmelzen räumliche und zeitliche Merkmale zu einem sinnvollen und konkreten Ganzen. Die Zeit verdichtet sich hierbei, sie zieht sich zusammen und wird auf künstlerische Weise sichtbar; der Raum gewinnt Intensität, er wird in die Bewegung der Zeit, des Sujets, der Geschichte hineingezogen. Die Merkmale der Zeit offenbaren sich im Raum, und der Raum wird von der Zeit mit Sinn erfüllt und dimensioniert.⁴³

 Vgl. Günter Pakendorf: Die Gegenwart des Vergangenen. Stephan Wackwitz’ Ein unsichtbares Land als postkolonialer Roman. Goethezeitportal. Forum: postkoloniale Arbeiten/Postcolonial Studies, in: http://www.goethezeitportal.de/fileadmin/PDF/kk/df/postkoloniale_studien/pakendorf_wack witz.pdf, zuletzt abgerufen am 20.09. 2018.  Michail Bachtin: Chronotopos, Frankfurt a. M. 2008, S. 7.  Ebd., S. 8.  Ebd., S. 7.

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Durch diese mit einer spezifischen Zeitqualität ausgestattete Räumlichkeit schafft der Chronotopos die Grundlage für „die szenische Entfaltung der Ereignisse“ und macht aufmerksam auf „die Gegebenheit epochenspezifischer Semantiken des Raumes und der Zeit“⁴⁴ und somit auf die historisch veränderliche, kulturell konstituierte Weltwahrnehmung, die „stets emotional-wertmäßig gefärbt“⁴⁵ ist. Zur gestalterischen Bedeutung des Chronotopos in der Literatur führt Bachtin aus: „Alle abstrakten Romanelemente – philosophische und soziale Verallgemeinerungen, Ideen, Analysen von Ursachen und Folgen und dgl. – werden vom Chronotopos angezogen, […].“⁴⁶ In Ein unsichtbares Land werden kulturelle Ausprägungen und geschichtliche Entwicklungen durch ästhetisch verdichtete und historisch bedeutsame Raumordnungen, verkoppelt mit der historischen Epoche, inszeniert. Die Dynamik geschichtlicher Entwicklungen spiegelt sich dabei in den impliziten und expliziten Selbstverortungen des Großvaters wider, die aus den bewohnten Orten und den erlebten Zeitabschnitten hervorgehen. Folglich ist die Erforschung der Familiengeschichte in Ein unsichtbares Land als Reise „in sehr merkwürdige Gegenden, in mehr als ein unsichtbares Land und in beängstigend fremde Zeiten“ (UL, 59) konzipiert. So weist der Erzähler darauf hin, dass er auf diese Weise „inzwischen auf eine nicht ganz geheure Weise ein familiäres Verhältnis zu einigen zentralen Ereignissen des letzten Jahrhunderts gewonnen“ (UL, 177) hat. Zu jenem unsichtbaren Land und jenen fremden Zeiten, die Wackwitz im Laufe der Reise sichtbar zu machen sucht, gehören das untergegangene Land, an dem sich der Großvater über zwei verlorene Weltkriege hinweg noch bis zu seinem Tod nostalgisch orientierte und „als dessen Bürger er sich noch immer verstand“ (UL, 40), ebenso auch die Zeit der Studentenbewegung der eigenen 68er-Generation, die die neu gegründete Bundesrepublik als die Fortsetzung des faschistischen dritten Reiches ansah und die ihrerseits gegen den Kapitalismus und Imperialismus dieser Republik kämpfte. Bezogen auf die unüberbrückbaren ideologischen Differenzen zwischen Großvater und Enkel inszeniert Wackwitz den Generationenkonflikt metaphorisch als „territorial dispute that concerns the emotional and the geographical attributions of place“⁴⁷ wie die polnische Stadt Anhalt im ehemaligen preußischen Oberschlesien, Windhuk im ehemaligen Deutsch-Südwestafrika oder Luckenwalde in der Bundesrepublik. Das jeweilige Land wird mit dem das jeweilige Kapitel der deutschen

 Michael Frank: Die Literaturwissenschaften und der spatial turn, S. 73.  Michail Bachtin: Chronotopos, S. 180.  Ebd., S. 188  Anne Fuchs: Heimat and Territory in Thomas Medicus’s In den Augen meines Vaters and Stephan Wackwitz’s Ein unsichtbares Land, S. 100. Vgl. auch Gunther Pakendorf: Die Gegenwart des Vergangenen, S. 6 „Großvater und Enkel Wackwitz bewohnen so zwei verschiedene Zonen, […].“

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Geschichte des 20. Jahrhunderts prägenden Zeitgeist verknüpft und ist somit als „der geistige Raum“⁴⁸ angesehen, aus dem das Bewusstsein der Generation des Großvaters und der des Enkels hervorgegangen ist: „Solange er redete, war sein Land stärker als meines und die Vergangenheit wirklicher als Gegenwart und Zukunft.“ (UL, 157) Später in den siebziger Jahren, als die Tanten, das loyalste Publikum der Vorträge des Großvaters die Köpfe zu schütteln begannen und ihm aus dem Weg gingen, heißt es: „Mein Land hatte gewonnen.“ (UL, 163) Die Kollision und gleichzeitige Verbindung zwischen diesen beiden Ländern, die weit über seine Familiengeschichte hinaus die Weltanschauung und das Leben mehrerer Generationen in Deutschland bestimmt haben sollen, will Wackwitz fassbar machen, und dies immer durch die im Laufe der Auseinandersetzung mit der eigenen Familienbiografie gewonnene Einsicht in „ein familiäres Verhältnis zu einigen zentralen Ereignissen des letzten Jahrhunderts“ (UL, 47). In diesem Sinne verwendet Wackwitz die Bezeichnung ‚Familienroman‘ für die Rekonstruktion des Generationenkonflikts also sowohl für die Nachzeichnung der jüngsten deuschen Geschichte als auch für die eigene Familiengeschichte. So spielt der Untertitel Ein Familienroman auf Freuds kurzen Artikel Der Familienroman des Neurotikers an. Wie er im Text im Rekurs auf Freud erläutert, handelt es sich beim Begriff ‚Familienroman‘ um ein Fantasiegebilde, das der Wunscherfüllung wie auch einer Korrektur des Lebens dient, indem Heranwachsende, insbesondere aber Neurotiker, die eigenen Eltern – als Reaktion auf narzisstische Kränkungen – durch die Imagination der Erhöhung der Eltern oder der Vergeltung verleugnen und letztendlich durch vornehmere Personen ersetzen. Solche Phantasmen an sich tragen psychopathologische Züge, denn die Neurotiker halten sie nicht für bloß Imaginäres, sondern für eine Wirklichkeit, die ihr Denken und Handeln beeinflusst. Das politische Engagement und den Umgang der 68er-Generation mit der Erlebnisgeneration bezeichnet Wackwitz als einen „politischen Familienroman“, „in dem dann eine Zeit lang meine ganze Generation mitgespielt hat“ (UL, 257), insofern die 68er bestrebt waren, ihre angeblichen Naziväter durch jüdische Linksintellektuelle der zwanziger Jahre als Wunscheltern zu ersetzen⁴⁹, was Wackwitz im Nachhinein

 Gunter Pakendorf: Die Gegenwart des Vergangenen, S. 6.  Wackwitz zitiert die Erinnerung von Rudi Dutschkes Frau, Gretchen Dutschke.Vgl. UL, 257 f.: „Wie viele andere, die nicht ganz verdrängen konnten, […] hatte Rudi Schwierigkeiten mit seiner Identität als Deutscher. […] Die Schande war unermeßlich groß. Um sich davon distanzieren zu können, bildete er sich ein, daß er ein Jude sei, den die Dutschkes bei sich versteckt hätten.“ Vgl. dazu auch Gerd Koenen: Das rote Jahrzehnt. Unsere kleine Kulturrevolution 1967– 77, Köln 2001, S. 121: „Als die ‚neuen Juden‘ bezeichneten sich die Aktivisten der deutschen Außerparlamentarischen Opposition immer wieder und mit Inbrunst.“

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als „die Zeitenverwirrung“ und als „Irrsinn[]“ (UL, 263) begreift: „Aus uns sprachen die Toten.“ (UL, 263) Freud zufolge schlummert unter den treulosen und feindseligen Fantasien indes stets die „Sehnsucht des Kindes nach der verlorenen glücklichen Zeit“, in der Eltern noch vollkommen erhöht wurden, was Freud folglich als einen „Ausdruck des Bedauerns, daß diese glückliche Zeit entschwunden ist“ betrachtet.⁵⁰ Das Bedauern um die entschwundene Zeit, in der Wackwitz seine Vorfahren hätte idealisieren können, nimmt insofern einen hohen Stellenwert in seinem Familienroman ein, als er zuweilen in überaus bedauerndem Ton spekuliert, dass die Charakterzüge des Großvaters wie z. B. „seine praktische Nüchternheit, seine Abenteuerlust, sein Freiheitsdrang, sein Sinn für die Natur, sein Mut, sein Selbstbewusstsein, jene steinerne oder projektilartige Geschlossenheit seiner Meinungen und Handlungen unter anderen politischen Umständen ein Vorbild hätten sein können, das ich dringend gebraucht hätte“ (UL, 57).

2.1.2 Das Unheimliche als Deutungsrahmen In Ein unsichtbares Land ist das ‚Unheimliche‘ das Hauptmotiv, das die semantische Unsicherheit im kommunikativen wie im kollektiven Gedächtnis markiert. Um die zentralen Aspekte der familiären und nationalen Geschichte darzustellen, verwendet der Erzähler sehr häufig die Adjektiven ‚unheimlich‘, ‚geisterhaft‘ und ‚gespenstisch‘. Im gesamten Text wimmeln sozusagen „dicht an dicht gedrängt die Geister der Toten“ (UL, 89). Dem Erzähler geht es darum, die unheimlichen Dimensionen der deutschen (Familien‐)Geschichte sichtbar zu machen und ihre Bedeutung für das deutsche Selbstverständnis zu erschließen. So zitiert er eine lange Passage aus Freuds Aufsatz Das Unheimliche: ‚Die Bedingung, unter der hier das Gefühl des Unheimlichen entsteht‘ hat Sigmund Freud 1917 geschrieben […], ‚ist nicht zu verkennen. Wir – oder unsere primitiven Vorfahren – haben dereinst diese Möglichkeiten für Wirklichkeiten gehalten, waren von der Realität dieser Vorgänge überzeugt. Heute glauben wir nicht mehr daran, wir haben diese Denkweisen überwunden, aber wir fühlen uns in dieser neuen Überzeugung nicht ganz sicher, die alten leben in uns fort und lauern auf Bestätigung. So wie sich nun etwas in unserem Leben ereignet, was diesen alten Überzeugungen eine Bestätigung zuzuführen scheint, haben wir das Gefühl des Unheimlichen, zu dem man das Urteil ergänzen kann: also ist es doch wahr, daß man einen anderen durch den bloßen Wunsch töten kann, daß die Toten weiterleben und an der Stätte ihrer früheren Tätigkeit sichtbar werden und dgl.!‘ (UL, 241, Hervorh. i. O.)

 Vgl. Sigmund Freud: Der Familienroman der Neurotiker, in: ders.: Studienausgabe, Bd. 4, hrsg. von Alexander Mitscherlich, Frankfurt a. M. 1970, S. 221– 226, hier S. 226.

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Hier macht Freud auf die schwer rationalisierbaren Phänomene aufmerksam, die von den modernen Menschen als unheimlich erlebt werden. Der Erzähler sieht dieses unheimliche Phänomen in der NS-Zeit am Werk und weist darauf hin, dass die Deutschen jener Zeit in einer Welt lebten, in der unausgesprochene Wünsche wie von Zauberhand erfüllt wurden. Dazu gehörten nicht nur ihre „heroischen und idyllischen Träume“ von einem starken Deutschland, sondern auch „die geheimen und bösen Teufelswünsche, die man manchmal vor dem Einschlafen, unter der Dusche oder beim Staubsaugen hat: dass der kranke Nachbar endlich abkratzen soll und der reiche Jude von nebenan auch, damit wir seine Wohnung kriegen“ (UL, 242). Orte, Figuren und Ereignisse, die als schicksalhaft oder verhängnisvoll, weil unheimlich erlebt werden, werden in Wackwitz’ Familienroman mit „eine[r] allegorisch verdichtete[n] Bedeutung“⁵¹ aufgeladen. Diese Grundkonstellation offenbart sich auf der Gestaltungsebene der ersten beiden Kapitel. Der Erzähler greift auf eine Reihe von Intertexten zurück, die ein Gefühl der Unheimlichkeit hervorrufen, und verbindet sie immer wieder mit konkreten (familien‐)geschichtlichen Konstellationen. Er beginnt das erste Kapitel „Geister“ mit den Spukgeschichten, die in der polnischen Region um Auschwitz durch Polen, Deutschen und Juden jahrhundertelang überliefert wurden: „Im neunzehnten und noch bis weit ins zwanzigste Jahrhundert hinein hat es in der Gegend um die alte galizische Residenzstadt Auschwitz viel gespukt.“ (UL, 7) Der Erzähler weist darauf hin, dass diese Geistergeschichten jedoch damals keine Instanzen des Unheimlichen waren, sondern Teil des Alltags in diesem Teil des Landes. Hier hat jede historische Periode ihre eigenen furchterregenden Geschichten: Es ist, als ob alle Dämonen […] sich seit dem Ausgang des Mittelalters in den Bäumen, Teichen, Dörfern und Pfarrhäusern des Herzogtums und der umliegenden Herrschaften bereitgehalten hätten. Polen, Deutsche und Juden haben jahrhundertelang von überall her ihre Geschichten und Gespenster in das moorige, birkenbewachsene Hügelland am Oberlauf der Weichsel mitgebracht und das Gruseln vor Doppelgängern, umgehenden Gestorbenen und Poltergeistern war noch zwischen den Weltkriegen so lebendig und alltäglich in der österreichisch-preußisch-polnischen Provinz wie die Sagenerinnerungen an die Mongoleninvasion des dreizehnten und an die Schwedengreuel im siebzehnten Jahrhundert. (UL, 7)

Die Geistergeschichten in diesem Landstrich werden als anschauliche Manifestation von „kursierende[n] Kollektivvorstellungen“⁵² der jeweiligen Völker in der jeweiligen Epoche verstanden, die den archaischen Glauben des früheren Kollektivs an den Einfluss der Toten auf die Lebenden widerspiegelt. Dann merkt der Erzähler  Friederike Eigler: Gedächtnis und Geschichte in Generationenromanen seit der Wende, S. 207.  Wolfgang Hallet/Birgit Neumann: Raum und Bewegung in der Literatur, S. 11.

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an, dass einige dieser Gespenster zu seiner Familie gehörten, denn die Familie Wackwitz lebte bis in die 1930er Jahre im Pfarrhaus in Anhalt, einem kleinen Dorf, das knapp zehn Kilometer nördlich von der Residenzstadt Auschwitz entfernt liegt. Er erzählt eine Reihe lokaler Geistergeschichten. Es gibt zum Beispiel die Geschichte einer Prozession von Kerzenlichtern, die beim Betreten eines Hauses plötzlich ausgehen und so den Tod eines Familienmitglieds ankündigen; oder die Legende des toten Pfarrers, der jede Nacht vor dem Pfarrhaus der Familie Wackwitz saß und ein Buch las, während von unsichtbaren Händen die Mangel im Vorraum gedreht wurde. Der Großvater hat einige dieser Spukgeschichten für das 1931 veröffentlichte Buch Die Sagen der Beskidendeutschen aufgezeichnet. Die im sachlich-journalistischen Tonfall berichteten regionalen Spukgeschichten erzeugen auf familiärer Ebene eine nostalgische Stimmung, was auch für die von allen Familienmitgliedern geteilten Erinnerungen an die früheren Zeiten kennzeichnend ist. Abrupt werden die Erinnerungen und die Stimmungslage des Ortes indes gewandelt, wenn der Erzähler die Anfahrt zum Pfarrhaus in Anhalt beschreibt, denn es steht heute „an einer viel befahrenen Zubringerstraße von der Autobahn Teschen-Kattowitz zu den Auschwitzer Gedenkstätten“ (UL, 9). Hinzu kommen die Kindheitserinnerungen des alten Hausmeisters der Anhalter Kirche an den Rauch aus den „Industrieanlagen von Auschwitz“ (UL, 9) und den unerträglichen Gestank von verbrannten Haaren. Auschwitz, das zunächst im Bericht über die regionalen Spukgeschichten schlicht als Ortsname verwendet wird, verwandelt sich durch die Assoziation, die die Wörter wie ‚Industrieanlagen‘, ‚Rauch‘ und ‚Gestank‘ evozieren, in die geschichtliche Signifikanz für „ein schwarzes Loch in der Historie der modernen Welt, in das alles hineinstürzt, was in seine Nähe kommt“ (UL, 138). Die jahrhundertelang überlieferten Legenden „von unheimlichen Tieren im Lobnitzer Judengrund“ oder „von gespenstischen Bergen und Wäldern in der Nähe von Bielitz, in die man durch Irrlichter gelockt wurde und aus denen man nicht mehr herausfand“ (UL, 7 f.), die andernfalls für den typischen alten Aberglauben gehalten werden und weniger Angst als die mythologische Fantasie für die modernen Menschen erweckt hätten, werden mit der unheimlichen Wirkung versehen, nachdem anhand der erzählerischen kombinatorischen Ordnung die kleine galizische Stadt mit „einem Symbol des zwanzigsten Jahrhunderts“ (UL, 9) in Verbindung gebracht wurde.⁵³ Im weiteren Verlauf des Kapitels wird dann wieder wie in dem Bericht über die Spukgeschichten von der allgemein-historischen auf die familiäre Ebene übergegangen. Der Erzähler erinnert sich daran, dass seine Großmutter ihren Enkelkin Vgl. Sigmund Freud: Das Unheimliche, S. 250 und 267: „Also heimlich ist ein Wort, das seine Bedeutung nach einer Ambivalenz hin entwickelt, bis es endlich mit seinem Gegensatz zusammenfällt. Unheimlich ist irgendwie eine Art von heimlich. […] Die Vorsilbe ‚un‘ an diesem Worte ist aber die Marke der Verdrängung.“

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dern – den Erzähler eingeschlossen – immer wieder vom unbekümmerten, fast idyllischen Familienleben in Anhalt erzählte, aber hingegen „kein einziges Mal erwähnt hat, was in dieser Landschaft zehn Jahre später dann passiert war“ (UL, 148) und dass sein Vater, seine Tanten und Onkel auch nie darüber gesprochen haben, „dass der Schauplatz ihrer Kindheit und der Ort des Jahrhundertverbrechens einen längeren Spaziergang und ein knappes Jahrzehnt voneinander entfernt sind“ (UL, 10 f.). Was dem Erzähler besonders „merkwürdig und eigentlich haarsträubend“ (UL, 148) vorkommt, ist dabei die Tatsache, dass seine Familie die rein zufällige, geografische Nähe ihres ehemaligen Wohnorts Anhalt zu Auschwitz verschwiegen hat, obwohl sie schon 1933 den Ort verlassen und daher nichts mit dem systematischen Massenmord dort zu tun hat. Freud zufolge lässt sich Zufall als Phänomen verstehen, „welches das sonst Harmlose unheimlich macht und uns die Idee des Verhängnisvollen, Unentrinnbaren aufdrängt“⁵⁴. Erst als der Erzähler 1999 selbst die Heimat seines Vaters besuchte, von der er als Heranwachsender aufgrund des familiären Schweigens angenommen hatte, sie liege irgendwo in der DDR, weiß er, „wo der Ort eigentlich liegt“ (UL, 10). Die lustigen, anekdotischen Geschichten über die Kindheit seines Vaters, die seine Großmutter dem Erzähler als Kind vor dem Einschlafen erzählte und die ihm am schönsten im Gedächtnis geblieben sind, verlieren in „der welthistorischen Gespensterlandschaft“ (UL, 34) ihre Unschuld. Später im Kapitel „Ein unsichtbares Land“ bemerkt der Erzähler die Leerstelle in den zwischen 1964 und 1965 entstandenen Memoiren des Großvaters über die deutsche Siedlung in Anhalt und Auschwitz, die in der Auslassung der historischen Ereignisse im Zusammenhang mit dem Holocaust besteht. Andreas Wackwitz, zeitlebens ein eifriger Zeitungsleser, der sicherlich die zeitgenössischen, monatelangen Berichterstattungen über die 1963 eröffneten Frankfurter Auschwitz-Prozesse verfolgt haben muss, hat die daraus gewonnenen Erkenntnisse mit keiner Zeile erwähnt. Der Großvater schreibt seine Erinnerungen an die Anhalter Zeit auf die elysische Weise „Stifters, Storms und Kellers“ (UL, 143), „als habe er sich und uns, dem hessischen Oberstaatsanwalt Fritz Bauer zum Trotz, seine eigene Erinnerung an diese Landschaft vor Augen führen wollen“ (UL, 144). Aber solche als literarisches Gegenprojekt zu jenen Frankfurter Augenzeugenberichten geplanten poetischen Erinnerungen von Andreas Wackwitz, so der Erzähler, schaffen es jedoch nicht, die vom Unheimlichen überschriebene Landschaft dieser Gegend zu bereinigen und die enthistorisierte Idylle zu restaurieren. Die Landschaft, die der Großvater in seinen Memoiren beschreibt, ist für die Augen des Enkels die des unsichtbaren Landes, „das es nur noch in seinem Kopf gab“ (UL, 113). Seine Familie konnte nichts wissen von Auschwitz, damals in den 1930er Jahren. Nach 1945 aber wollte sie nichts von

 Ebd., S. 260 f.

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Auschwitz wissen. Hier wird sichtbar, dass eine Familie, die sich nicht direkt in das verbrecherische Nazi-Regime verstrickt hat, auch so eng mit der kollektiven Geschichte von Verdrängung und Entsorgung des Gedächtnisses verwoben ist: Das schwarze Loch in der Geschichte des Jahrhunderts hatte zu Beginn der sechziger Jahre die geographische Lage des Ortes in sich hineingerissen und zugleich war in die Gespräche unserer Familie ein kleines, bedeutsames Schweigen eingeschleppt worden. Je deutlicher der Gesellschaft um uns wurde, auf welches Ereignis sich dieses Schweigen bezog, desto umfassender hat es sich unter uns ausgebreitet, desto mehr Themen und Gegenstände, Personen und Orte wurden von ihm erfasst – bis wir offenbar nur noch unter Einhaltung strenger Regeln, Sicherheitsabstände und Rituale überhaupt über etwas reden konnten. Um jenes ‚Anhalt‘ aber, wo mein Vater auf die Welt gekommen war, […] war unterdessen die geographische Unbestimmtheit, […], zu einem vollends nicht mehr durchschaubaren Nebel verdichtet. (UL, 148, Hervorh. i. O.)

In der Heimat seiner Familie, wo das Familiengeheimnis gelüftet wird, vermag der Erzähler das unerklärliche Gefühl, mit dem er aufwuchs, „aus einem unsichtbaren Land“ (UL, 148) zu stammen, sowie seine „eigenen politischen Verwirrungen mit vierundzwanzig“ (UL, 105) zu begründen: „Elternhäuser sind Seelenarchitekten.“ (UL, 115) Auschwitz als Kehrseite der Familiengeschichte blieb in den „Jahrzehnten des Schweigens und der nervösen Gleichgültigkeit“ (UL, 34) für alle Familienmitglieder unsichtbar. Die unheimliche geografische Nähe der Heimat der Familie zu Auschwitz, die zuerst auf einen reinen Zufall zurückzuführen ist, erlangt historische Bedeutung, weil sie aus den Erinnerungen aller Familienmitglieder mühsam entsorgt ist. Im Hinblick auf die geisterhafte Gleichzeitigkeit von unsichtbarer Anwesenheit und sichtbarer Abwesenheit von Auschwitz, die der Familiengeschichte anhaftet, legt der Erzähler die beängstigende Kehrseite der Heimat offen: die Angst vor dem Unheimlichen, das von heimlichen und verdrängten Seiten des Heimischen herrührt, wie Freud treffend zum Ausdruck gebracht hat. In diesem Zusammenhang bezeichnet der Erzähler seine eigenen Familienmitglieder metaphorisch als die Bewohner eines unsichtbaren Landes, nämlich als Geister: „Als seien sie selbst Gespenster, sind meine Großeltern, meine Tanten, mein Onkel und mein Vater in einem schmalen Korridor durch eine Zeit und eine Gegend gegangen, die fast jedem Menschen auf der Welt etwas ganz anderes bedeutet als ihnen.“ (UL, 10) Das Motiv der Unheimlichkeit, die aus einer assoziativen Verbindung zwischen den über Generationen hinweg tradierten Legenden der nach dem Tod wiederkehrenden Geister von Auschwitz, dem historischen Ereignis Holocaust und der geografischen Nähe der Heimat der eigenen Familie zu Auschwitz hervorgerufen wird, dient als „Code der Repräsentationsräume“⁵⁵. Die ästhetische Verdichtung des  Henri Leferbvre: Die Produktion des Raumes, S. 333.

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Orts Auschwitz als ein als mystisch erlebbarer Raum hat den Effekt, dass dem historischen Unheil des Nationalsozialismus und des Holocaust ein scheinbar prädeterminiertes Schicksal zugeschrieben wird, das als vermeintlich unhintergehbare, natürliche Begründung fungiert und den Rezipienten die Wahrscheinlichkeit der transgenerationalen Kontinuität suggeriert. Dies führt zur Feststellung des Erzählers, „dass der Spuk im Pfarrhaus von Anhalt in meinem Leben weitergegangen ist“ (UL, 11). Darüber hinaus schafft Unheimlichkeit als Code der Repräsentationsräume einen Deutungsrahmen für die weitere (familien‐)geschichtliche Rekonstruktionsarbeit, der auf die gespenstischen Aspekte und Akteure ebenso der deutschen Geschichte wie auch der Auseinandersetzung der 68er-Generation mit der NS-Vergangenheit weist. Auschwitz als Repräsentationsraum des „schwarze[n] Loch[es] in der Geschichte des Jahrhunderts“ (UL, 148) wird damit doppelt codiert zum „unsichtbare[n] Zentrum der verwirrenden, verborgenen und verschlungenen Windungen eines Familienromans“ (UL, 18) nicht nur bei Familie Wackwitz, sondern auch in der deutschen Geschichte. Das Motiv von den wiederkehrenden Toten, das typisch für die Geistergeschichte ist, und das dadurch evozierte Gefühl der Unheimlichkeit als Deutungsrahmen werden im nächsten Kapitel, der den Titel der Kalendergeschichte von Johan Peter Hebel „Unverhofftes Wiedersehen“ trägt, durch ein zufälliges, fast surreales Ereignis noch verdichtet. Der Erzähler berichtet, wie eine alte KodakFilmkamera 1993 völlig unerwartet nach über fünfzig Jahren an seinen Vater, Gustav Wackwitz von der ‚Dienststelle für Benachrichtigung der Angehörigen ehemaliger Soldaten der Wehrmacht‘ in Berlin-Tegel zurückgesendet wurde. Die Kamera des damals siebzehnjährigen Vaters wurde 1939 von der Royal Navy beschlagnahmt, als die Familie Wackwitz das ehemalige Deutsch-Südwestafrika verließ, um an Bord des Dampfers Adolpf Woermann nach Deutschland zurückzukehren. Nachdem sie den Hafen verlassen hatten, brach der Zweite Weltkrieg aus. Das Schiff wurde von einem britischen Kreuzer aufgebracht und, nachdem Passagiere und Mannschaft evakuiert worden waren, versenkt. Die Geschichte über die „aus jenem Totendepot in Tegel zu seinem alt und grau gewordenen Besitzer“ (UL, 14) zurückgekehrte Kamera wird überblendet mit Hebels Kalendergeschichte vom ‚unverhofften Wiedersehen‘ einer alten Frau mit ihrem verschollenen Verlobten, der nach fünfzig Jahren tot, aber äußerlich „unverwest und unverändert“ (UL, 15) in der dunklen Erde gelegen hat. Über die Kamera, die anders als „fünfzig Millionen Menschen“ (UL, 13) den Zweiten Weltkrieg überlebt, jahrzehntelang auf seinen Besitzer gewartet hat und schließlich zu ihm zurückgekehrt ist, sagt die zuständige Sacharbeiterin in der Dienststelle, „so einfach sei das nicht immer.“ (UL, 15) Dieser surreale Umstand, sekundiert mit der Metapher des Totendepots, der Jahreszahlenverdrehung (1939/1993) und der Kamera als visuellem Speicherungsmedium verleiht diesem Ereignis schicksalhaften Charakter. Grund

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genug, dass Vater und Sohn „insgeheim auf eine Erleuchtung“ (UL, 16) der dunklen Vergangenheit hoffen. Im Gegensatz zu dem unversehrten Bräutigam in Hebels Geschichte wurde der Film jedoch mit der Zeit zersetzt. Es gibt keinen zu Tränen rührenden dramatischen Moment. Die Kamera als visuelles Speicherungsmedium der Vergangenheit erweist sich als bedeutungslos: „Das Halogensilber auf der Gelatinefolie aus den dreißiger Jahren hatte es nicht geschafft, die Zeit stillzustellen.“ (UL, 17) Für den Erzähler bietet der durch den intertextuellen Rahmen erzeugte Kontrast zwischen der dramatisch-glücklichen Begegnung mit der unveränderten Vergangenheit in Hebels Geschichte und seiner Enttäuschung über den Misserfolg mit der Entwicklung des Films den Anlass zur Reflexion über die Beweiskraft der Zeugnisse aus der Vergangenheit und den Umgang mit der medialen Vermitteltheit der Geschichte: Vergangenheit ist nicht einfach zu bewahren und zu finden. Anders als in den Tragödien und Romanen kann der Wiedergänger aus der Vergangenheit in der realen Welt keine „Pointe einer klassischen Anekdote“ hervorbringen, sondern nur „als unsichtbares Zentrum […] eines Familienromans“ (UL, 18) dienen. Auf einer metakritischen Ebene thematisiert der Erzähler das eigene Erzählverfahren zur Rekonstruktion der (Familien‐)Geschichte: „[D]as Schwarze“ (UL, 17) des zersetzten Films muss durch die imaginierten Bilder erhellt und „ein Sinn“ davon „auf eine viel kompliziertere und fragwürdigere Weise“ (UL, 18) durch die Einbettung des Geschehens in übergreifende Zusammenhänge in der Narration hergestellt werden. In diesem Zusammenhang rekurriert der Erzähler am Ende des nächsten Kapitels wiederholt auf Hebels ‚unverhofftes Wiedersehen‘, um „ein rührendes Wiedersehen“ (UL, 35) mit seinem toten Großvater nicht durch die entwickelten Bilder des Kamerafilms aus den 1930er Jahren, sondern durch ein auf die eigene Vorstellungskraft angewiesenes postmemoriales Verfahren zu vermitteln: Ich sehe den toten alten Mann, […], seit der Wiederkunft jener Kamera trotzdem plötzlich deutlicher. […] Es ist, als hätten sich die Bilder eines fremden Landes und eines toten Mannes, die ein halbes Jahrhundert lang in einem Pappkarton in Tegel vergessen worden waren, unterdessen in meinen Vorstellungen und Erinnerungen entwickelt, ‚also daß man seine Gesichtszüge und sein Alter noch völlig erkennen konnte, als wenn er erst vor einer Stunde gestorben oder ein wenig eingeschlafen wäre an der Arbeit‘. (UL, 34– 36, Hervorh. i. O.)

Im Kapitel „Unverhofftes Wiedersehen“ manifestiert sich eine kritische Stellungnahme des Erzählers zur geläufigen Annahme, ein „vollständiges und unverfälschtes Ensemble aller vergangenen Fakten“⁵⁶ vergegenwärtigen zu können. Durch den intertextuellen Verweis auf Hebels Kalendergeschichte und die dadurch

 Alexander Schuller: Auf der Suche nach dem verlorenen Vater, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 03.04. 2005, S. 15.

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ausgelöste Reflexion über die mediale (Un‐)Reproduzierbarkeit der Vergangenheit und deren Wahrheitsgehalt wird die Anekdote der wiedergefundenen Kamera in ihrer Bedeutung weit über den einfachen Mystifizierungsstatus hinausgehoben.⁵⁷

2.1.3 Im Labyrinth der Traditionen Dem Kapitel „Transusigkeit“, wo er die Unmöglichkeit der transgenerationalen Kommunikation mit dem Großvater in dessen Lebzeiten beschreibt, stellt der Erzähler L. P. Hartleys Worte als Motto voran: „a foreign country: they do things differently there.“ (UL, 52, Hervorh. i. O.) Das Land des Großvaters im metaphorischen Sinne erscheint dem Enkel unnahbar, unzugänglich und unsichtbar. Geografisch gesehen, handelt es sich bei dem Land des Großvaters vor 1940 tatsächlich für längere Zeit um Landstriche, die „außerhalb jener auf der Landkarte gestrichelten Grenzen“ (UL, 40) liegen. Seit seiner polnischen Zeit war Andreas Wackwitz im Grunde „ein Auslandsdeutscher“ (UL, 45, Hervorh. i. O.), geprägt von der politischen Stimmung, die dort in jener Zeit, während der er dort lebte, geherrscht hat und deren Spur sich auch im territorialen Gebiet hinterlassen hat, denn „[d]er evangelische Pfarrer von Anhalt war eine Art preußischer Landrat im Widerstand gegen die Versailler Nachkriegsordnung“ (UL, 45). Der Erzähler wird sich dessen vor allem dann bewusst, als er selbst das Land des Großvaters, nämlich Krakau besucht. 2.1.3.1 Tradtionsstörung Die Auseinandersetzung mit dem Land des Großvaters findet über die großväterlichen Aufzeichnungen von mehreren tausend Seiten statt, die er als eine Art „Flaschenpost“ (UL, 35) bezeichnet, begleitet mit den Reisen an die ehemaligen Wohnorte des Großvaters und deren Landschaften. Der Erzähler versucht, die vom Großvater nachgezeichnete Geschichte in einen historischen und kulturgeschichtlichen Zusammenhang deutschnationaler Fantasien einzuordnen. Ausgestattet mit der Erinnerung des Großvaters an seine Kindheit, sucht und findet der Erzähler das Dorf und den Park, die sein Großvater datailliert beschrieben hat. Von der geschriebenen Erinnerung des Großvaters heißt es beim Enkel, dass dieser Abschnitt der Memoiren „das erste, das ausführlichste, das traurigste und, […], das schönste und menschlichste Stück seiner Lebensbeschreibung“ (UL, 112) sei. Indem er seine eigenen Eindrücke mit Zitaten aus den Memoiren des Großvaters überblendet, vergleicht der Erzähler den „Erinnerungspalast“ (UL, 124) des Großvaters mit der heutigen Parkumgebung. Zu seiner Überraschung präsentiert sich der Park als eine  Vgl. Ariane Eichenberg: Familie – Ich – Nation, S. 45.

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mehr oder weniger unveränderte Anordnung. Und als der Erzähler schließlich auf das Fortsthaus stößt, in dem sein Großvater mit seinen Eltern gelebt hatte, ist er schockiert darüber, „wie [es] völlig und im kleinsten Detail […] noch aussieht wie auf den Fotografien im gelben Heft“ (UL, 115). Die ausdrückliche Betonung des Großvaters zur Entstehungszeit der Memoiren, 1959, „dass sich über dreißig Jahre weder die Stellung der Möbel noch sonst irgendetwas im Haus seines Vaters verändert habe“ (UL, 116), und die ungeheure realistische Beschreibung seiner Kindheit liest der Erzähler als Ausdruck der Seelenlandschaft seines Großvaters. Der Kontrast zwischen der durch den Erzähler imaginierten postmemorialen Szene des vereinsamten 70-Jährigen, der 1959 in seinem düsteren, von Gespenstern belebten Hamburger Arbeitszimmer immer noch vom wilhelminischen Laskowitz träumt, und der Gemütlichkeit und Vertrautheit seiner nachgezeichneten Kindheit im Forsthaus ist für den Enkel grotesk. Er stellt fest, dass diese minutiöse Erinnerung an das Leben im Elternhaus „ein Inbild einer Ordnung“ für den Großvater darstellt, „deren Erhaltung er sein Leben widmen wollte und die ihm im Lauf des Jahrhunderts verloren gegangen ist“ (UL, 116). An dieser Stelle rekurriert der Erzähler erneut auf Freuds Aufsatz ‚Familienroman der Neurotiker‘, der besagt, „‚daß noch in späteren Jahren in Träumen vom Kaiser oder von Kaiserin diese erlauchten Persönlichkeiten Vater und Mutter bedeuten‘“ (UL, 123, Hervorh. i. O.). Er liest jedoch die Kindheitserinnerungen des Großvaters als Umkehrung der Freudschen Traumdeutung. Seiner Ansicht nach träumte der Großvater von dem Kaiser oder dem Reich, zu dem er unbedingt gehören wollte, gerade weil diese Fantasie an „die Umstände und Bewandtnisse seines Vaters, der beinahe so etwas wie ein preußischer Landrat“ (UL, 123) war, erinnerte. Die imperialistisch gestimmten politischen Einstellungen von Andreas Wackwitz wirkt insofern lächerlich, als sie laut Enkel aus einem kleinbürgerlichen Lebensstil hervorgehen: Die Revolution, der Weltkrieg, die narzisstisch-wuterfüllte Zerstörung der im Krieg geprüften und zu leicht befundenen Nation und ihr unbestimmt-grandioser Wiederaufbau in Jahrhunderten, von denen er in seinem Tagebuch 1918 phantasiert, schließlich der neue Lebenskaiser und das Reich von 1933 – all das, scheint es, sollte irgendwie dem Teckel, dem Sofa, dem Oberförster und dem Mittagsschlaf gleichen. Auf die unbestimmte, wenig durchdachte und merkwürdig verantwortungslose (sozusagen fahrlässige) Weise, […], scheint er sich das gute Leben und das richtig regierte Land nie anders gedacht zu haben als ein Forsthaus, in dem es nach Hunden, Leder und Zigarren roch. (UL, 123 f.)

Was der Erzähler „in der schlesischen Erinnerungslandschaft“ des Großvaters findet, ist „eine gespenstische wilhelminische Pubertät“ (UL, 157) eines alten Mannes, der auch nach 1945 ständig damit hadert, „warum all das nicht mehr so weitergehen konnte wie im neunzehnten Jahrhundert“ (UL, 125 f.). Eine Niederlage im Ersten Weltkrieg, den Vertrag von Versailles und insbesondere Abgabe von Anhalt an Polen

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konnte Andreas Wackwitz nicht akzeptieren. Seine Memoiren lassen nur allzu deutlich erkennen, wie tief sein Glaubenssystem in der kolonialen Fantasie des völkischen Nationalismus verankert ist. In Bezug auf sein inneres starkes Verlangen nach der Revolution, seine Enttäuschung über die Novemberrevolution, seine Teilnahme am Kapp-Putsch und schließlich seine Begeisterung für Hitler schreibt der Großvater 1956 bilanzierend: Ich habe das Gefühl, daß eine Revolution fällig ist, […] Mag das Reich auseinanderbrechen, wir richten ein neues auf, der deutsche Geist muß wieder siegen, […] Es war die Sorge um die Erhaltung der Volkssubstanz und auf die inneren guten Kräfte im deutschen Volk. – Die Revolution kam dann ja bald, aber ohne Geist, mit roten Fahnen, schmutzigen Händen und dummen Hetzreden. Rückschauend frage ich wiederum: ist es ein Wunder, daß alle, die wie ich sie erwartet hatten und von ihr dann bitter enttäuscht wurden, – und das waren wir alten Frontsoldaten fast alle – 15 Jahre später dann glaubten, nun sei es soweit? (UL, 104 f., Hervorh. i. O.)

Die letzte rhetorische Frage deutet darauf hin, dass sich Andreas Wackwitz hier ganz offensichtlich als Vertreter der Generation von Frontsoldaten an die Generationen seiner Kinder und Enkelkinder als Leser richtet und ihnen ausführlich die verlorene Welt seiner Generation und ihre Beweggründe für die Unterstützung des Nationalsozialismus zu beschreiben sucht. Laut dem Erzähler hat Andreas Wackwitz seit den fünfziger Jahren bis fast zu seinem Tod über ein Vierteljahrhundert lang obsessiv die Erinnerungen aufgeschrieben und beim Familientreffen jedes Jahr seinen fünf Kindern gebundene Exemplare „dieser fortlaufenden Ich-Erzählung“ (UL, 25) geschenkt, die der Enkel als eine „merkwürdige und peinliche Schrulle“ (UL, 25) seines Großvaters angesehen hat. Den großväterlichen Versuch einer an die Nachkommen adressierten Selbstauslegung vergleicht der Erzähler im Kapitel „Im Palast des Kaisers“ mit einer ‚kaiserlichen Botschaft‘ von Kafkas Parabel, die die vergebliche Bemühung des Boten, das Scheitern von Kommunikation und die enttäuschte Erwartung des Adressaten darstellt. Das Motto des Kapitels ist der erste Satz von Kafkas Parabel: „Der Kaiser, so heißt es, hat Dir, dem einzelnen, dem jämmerlichen Untertanen, dem winzig vor der kaiserlichen Sonne in die fernste Ferne geflüchteten Schatten, gerade Dir hat der Kaiser von seinem Sterbebett aus eine Botschaft gesendet.“ (UL, 110, Hervorh. i. O.) Die Parenthese „so heißt es“ deutet an, dass die Botschaft des Kaisers wahrscheinlich über mehrere Generationen hinweg weitergegeben wurde und auf dem indirekten Weg zum Empfänger gelangt. Daraus lässt sich schließen, dass der Bote niemals das Ziel, nämlich die Übermittlung der absoluten Wahrheit, erreichen wird, weil die angeblich kaiserliche Botschaft durch die generationale Weitergabe schon ein Teil der Tradition geworden ist und die Tradition keine Äquivalenz der Wahrheit ist. Kafkas Parabel beschreibt, wie sich der Bote auf seinem Weg durch den riesigen Palast mit seinen endlosen Korridoren, Türen und Höfen in einer la-

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byrinthischen Struktur verfängt, was mit zahllosen Wendungen der Vorstellung einer unbestrittenen autoritären Botschaft des Kaisers widerspricht. Eine ersehnte Begegnung des Empfängers der Botschaft mit dem Boten ist somit von vornherein zum Scheitern verurteilt. Angesichts der gesandten Botschaft des Großvaters wird die Enttäuschung über die betrogene Erwartung des Enkels als des Adressaten deutlich, wenn der Erzähler den Ort der Kindheitserinnerungen des Großvaters in Laskowitz bei Breslau besucht und über die politischen Konsequenzen der sich darin widerspiegelnden Seelenlandschaft des Großvaters reflektiert. Trotz der detailgenauen Beschreibungen misslingt es dem Großvater, sein Weltverständnis, das seiner Meinung nach von den historischen und kulturellen Umbrüchen der Nachkriegszeit zerstört wurde, an den Enkel als positive Tradition weiter zu reichen. Im Gegenteil: Der Versuch des Großvaters wird vom Enkel als „Traditionsstörung“⁵⁸ erkannt. Die unzeitgemäße idyllische Beschreibung der Landschaft von Auschwitz in Andreas Wackwitz’ Aufzeichnungen und die komplette Aussparung des Holocaust aus seinen Memoiren liest der Erzähler als Zeichen einer narzisstischen Kränkung und massiven Abwehrbewegung gegenüber dem Nachkriegsbewusstsein der Nachkommen. Für den Enkel führten diese für die Generation von Frontsoldaten symptomatischen „merkwürdig wirren und national-autistischen Ideen von 1914“ (UL, 105) „ins dann schon ganz unverschämt und ungebremst [n]ationalsozialistische“ Illusionäre (UL, 200). Den deutlichsten Ausdruck dafür findet der Erzähler in einem Tagebucheintrag aus der Zeit im Ersten Weltkrieg mit dem Titel „Ein Traum vom Osten“, in dem sich Andreas Wackwitz an einem verschneiten Eisenbahngleis in Galizien die Unterwerfung Osteuropas vorstellt: Es war der Osten, der mir zum ersten Mal richtig ins Blickfeld kam. So fremd er vor mich hintrat, so spürte ich doch auch eine unerklärliche, geheimnisvolle Lockung von ihm ausgehen. War es der unbewußte Drang in die freie Weite, den ich später so oft in Südwestafrika fühlte, war es der Sog des auf Tat und Unterwerfung wartenden Ostlandes, […]? (UL, 98)

Solchen kolonialen Visionen des Großvaters von einem Land, das in paternalistischer Weise autoritär regiert wird, hält der Enkel sein eigenes Postmemory „Traum von Amerika“ als Gegenbild entgegen, den Inbegriff für die Befreiung und die Entstehung der westlichen Demokratie in der Nachkriegszeit. Obwohl er erst sieben Jahre nach Kriegsende geboren wurde, will er sich an „eine[] phantasmagorische[] Schönheit“ der Sommerperioden in den Trümmerjahren nach 1945 erinnert haben, die „ein Aufatmen, ein Gefühl des Neuanfangs, eine plötzliche Ahnung von Luxus und Weite, ein Traum von Amerika“ (UL, 98) bedeuteten. Am Ende verurteilt der Enkel das, was er den „Erinnerungspalast meines Großvaters“ nennt, ausdrücklich  Anne Fuchs: Landschaftserinnerung und Heimatdiskurs bei Medicus und Wackwitz, S. 83.

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als „ein schwer durchschaubares, undurchdringliches und unbestimmt deprimierendes Gerümpel“ (UL, 124). Der Enkel lehnt sich entschieden auf die Botschaft des Großvaters auf: „Die Botschaft des Kaisers wird bei mir nie mehr eintreffen.“ (UL, 124) 2.1.3.2 Tradition des Großvaters Um die schwer durchschaubare Tradition sichtbar zu machen, die der Großvater über seine ‚Flaschenpost‘ an den Enkel weiter geben wollte, macht sich der Erzähler zuerst daran, mit der Landesgeschichte Oberschlesiens auseinanderzusetzen. Dieses Vorhaben begründet er mit der folgenden Aussage: „Historische Erfahrungen können zu einem Teil des zentralen Nervensystems werden, wenn sie über Generationen hinweg ein Teil des Wirklichen gewesen sind.“ (UL, 64 f.) Die Spuren seiner Vorfahren bis ins 15. Jahrhundert verfolgend, vertieft der Erzähler sich in die Geschichte der protestantischen Revolution von Seibersdorf/Kozy und der europäischen Migrationsbewegungen. Besonders die protestantisch-pietistischen Reformbewegungen rechnet er jenen sich ins zentrale Nervensystem eingebrannten historischen Grunderfahrungen zu: „Heute gibt es ohne diese Disposition keine Moderne, keine Konsumgesellschaft, keine Demokratie. Sie ist grenzenlos und unsichtbar.“ (UL, 65) Als modernisierende Kraft trugen diese Traditionen sowohl zur individuellen Subjektivität und Autonomie als auch zu Preußens Aufstieg als europäische Großmacht sowie dem exklusiven Nationalismus im 19. Jahrhundert bei. Die geistigen Strömungen des deutschen Idealismus und des literarischen ‚Sturm und Drang‘ seien nur vor dem Hintergrund der Reformbegeisterung der protestantisch-pietistischen Tradition zu verstehen. Bezogen auf die Migrationsbewegungen in Europa sieht der Erzähler die mittelalterliche Kolonisierung des deutschen Ostens sowohl als utopischen Traum von Freiheit als auch als Vorläufer des Wilhelminischen Unternehmens in Südwestafrika. Als „ein so selbstverständlicher Teil unseres Innenlebens“ (UL, 65) stimulierten sie später den Traum des expansionistischen Kolonialreiches, der den Völkermord an den Hereros in Südwestafrika⁵⁹ und Hitlers Vernichtungspolitik in Osteuropa zur Folge hat: „[D]as ist diejenige Tradition meiner Vorfahren, die mit den Ideologien und Unternehmungen der Nazis von vornherein ganz in Einklang gewesen ist und vielleicht insgeheim schon lang auf sie gewartet hatte.“ (UL, 198) Gegen Ende des Buches stellt der Erzähler eine symbolisch aufgeladene, sogenannte „Schlangengeschichte“ des Großvaters vor, nach der das Kapitel betitelt ist.

 Um die Verbindung zwischen dem wilhelminischen Kolonialismus und der NS-Zeit zu unterstreichen, bezeichnet der Erzähler den Völkermord an den Hereros als einen „der Late Victorian Holocausts“ (UL, 219, Hervorh. i. O.).

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Die Schlangengeschichte repräsentiert für den Erzähler auf geheime aber sinnige Weise den inhärenten Zusammenhang zwischen der wilhelminischen völkischen Vorstellungskraft, der kolonialen Fantasie und ihrer Wiederbelebung im Nationalsozialismus. Die Geschichte trägt die Züge einer traditionellen unheimlichen Literatur, die von mysteriösen Ereignissen und Umständen erzählt. Der Erzähler beginnt das Kapitel mit einer Reflexion über „kleine, nicht erklärbare oder sonst irgendwie logische Ereignisse“ (UL, 212), die die Wendung der Epoche oder des Lebens wie „ein Symbol, ein Kasus, eine Legende oder ein Rätsel“ (UL, 213) schlüssig zusammenzufassen scheinen. Da die Schlangengeschichte des Großvaters gerade auf mancherlei Merkmale solcher Begebenheiten hinweist, kommt die Bedeutung „dieser unerhörten Begebenheit“ dem Erzähler als „etwas sehr Wichtiges“ (UL, 217) vor. Entsprechend dem Inhalt der großväterlichen Geschichte gestaltet der Erzähler das Kapitel strukturell und inhaltlich im Stil des Schauerromans wie z. B. E.T.A. Hoffmanns Erzählung Der Sandmann: Die Geschichte wird von wechselnden Erzählern erzählt. Der Erzähler verweist zuerst auf den unrealistischen Charakter der Begebenheit, versichert aber zugleich die Glaubwürdigkeit des Großvaters: „Und schließlich wird jeder, der meinen Großvater kannte, seinen Versicherungen glauben, dass diese Geschichte wirklich so stattgefunden hat, wie er sie erzählt. Denn was immer man über ihn sagen mag, er war das Gegenteil eines Hysterikers.“ (UL, 213) Dann berichtet der Ich-Erzähler der Aufzeichnung des Großvaters von einer mysteriösen Begebenheit, anschließend bietet der Erzähler verschiedene Deutungsansätze an. In den Memoiren wird erzählt, wie sich Andreas Wackwitz und sein Freund Gerhard eines Tages während einer Reise in den Norden Südwestafrikas auf einem Friedhof aufhielten, wo im Hereroaufstand gefallene deutsche Schutztruppen beerdigt sind. Als die beiden Männer auf einem der Gräber auf eine schwarze Kobra stoßen, prügeln sie sie in heftiger Wut und durchbohren ihren Kopf mit einem Stock. Sie legen die tote Schlange auf den Rücksitz ihres Autos, um ihren eingeschlafenen Hererodiener zu erschrecken. Obwohl Andreas Wackwitz der Schlange mehrfach das Rückgrat zerschlug und durch den Kopf bohrte, bewegt sich die Schlange im Auto. Der Streich scheitert und die beiden Männer sind vom Überleben der Schlange selbst erschrocken. Gerhard packt die Schlange am Schwanz und wirft sie weit weg vom Auto. Die Schlange ringelt sich jedoch schnell unter das Auto und die beiden Männer suchen eine Weile lang vergebens nach der Schlange. Schließlich fahren sie weiter, verbringen die Nacht bei Freunden, zwanzig Meilen vom Ort des Vorfalls entfernt und setzen ihre Reise am nächsten Morgen fort. Kurz darauf treffen sie ihren Hererojungen wieder, der ihnen erzählt, dass die Schlange in der Nacht wieder aufgetaucht sei und die Hausherrin erschreckt habe. Diesmal wird die Schlange von einem Sohn der Familie getötet. Das Loch im Kopf der Kobra bestätigt, dass es sich tatsächlich um dieselbe Schlange handelt, die Andreas Wackwitz und

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sein Freund am vorigen Tag aus den Augen verloren hatten. Darüber hinaus habe der Junge eine Schlangenspur vor den Türen der beiden Zimmer gesehen, in denen die beiden weißen Männer übernachtet hatten. Am Ende der Geschichte schreibt Andreas Wackwitz, dass er über seine eigene Geschichte immer noch erstaunt ist, beschwört aber deren Authentizität: „Die ganze Geschichte klingt so unglaublich wie unheimlich, aber ich versichere nochmals, sie ist Wort für Wort wahr und genau so passiert wie hier aufgezeichnet!“ (UL, 217, Hervorh. i. O.) Nach einem langen Auszug aus den Memoiren von Andreas Wackwitz folgt nun eine Reihe von Interpretationen des Erzählers, allerdings mit dem Vorbehalt, dass er trotz mehrfacher Lektüre dieser Geschichte „in keiner Weise zu Rande gekommen“ sei, und dass er sich deshalb damit begnügen müsse, „einige Umstände, Parallelstellen und Überlegungen nachzutragen“ und mit deren Hilfe einen Reim „auf die Bedeutungsdichte dieser unerhörten Begebenheit“ (UL, 217) zu machen. Zunächst liefert der Erzähler eine realistische Interpretation, die darauf hindeutet, dass der Hererojunge die Geschichte der Rückkehr der Schlange erfunden hat, als Rache für den Versuch der älteren weißen Männer, einen gefährlichen Streich zu spielen. Diese Interpretation passt zum historischen Hintergrund und unterstreicht den postkolonialen Kontext: Das Ereignis fand etwa dreißig Jahre nach dem Aufstand des Hererovolkes in Namibia statt, den das wilhelminische Deutschland militärisch vernichtend niedergeschlagen hatte. Als einer der wenigen Überlebenden eines Volkes, das durch die deutsche Kolonialmacht fast ausgerottet worden war, hätte der Herero-Nachkomme gute Gründe gehabt, sich an den „Söhne[n] der wilhelminischen Völkermörder“ (UL, 219) zu rächen. Aus der Sicht des Nachkommens des besiegten Volkes könnte die Schlange auch für einen geisterhaften Wiedergänger der toten Häuptlinge und Krieger des Hereros stehen, der zurückkehrt, um die Kolonialisten zu verfolgen. Der Erzähler bietet aber auch eine psychoanalytische Interpretation. Er bemerkt, dass die Schlange für Freud das wichtigste Symbol für die männlichen Genitalien ist, und dass diese afrikanische unsterbliche Kobra eine Bedrohung für die Männlichkeit von Andreas Wackwitz und somit eine Konkurrenz zwischen dem Kolonialisten und dem Kolonisierten darstellt. Eine weitere Bestätigung dieser Interpretation findet er in einer späteren Passage in den Memoiren seines Großvaters, in der Andreas Wackwitz schildert, wie er von einer Gruppe von Frauen wegen seiner „männlichen Entschlossenheit“ (UL, 221, Hervorh. i. O.) bewundert wurde, als er mit seinem Taschenmesser eine Schlange tapfer getötet hat. In einer dritten Interpretation weist der Erzähler darauf hin, dass die Schlange das mächtigste christliche Symbol des Bösen ist. Aus dieser Perspektive liegt der Fehler des Großvaters für den Erzähler darin, dass jener die Symbolik der Geschichte falsch verstanden zu haben scheint. Während Andreas Wackwitz „das besiegte und unterschwellig doch noch rumorende Böse“ in das aufständische, feindselige Hererovolk projiziert, behauptet der Erzähler, zur Schreibzeit seines Romans im Jahr

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2001 unzweifelhaft zu wissen, dass das Böse auf seinen Großvater in Wirklichkeit nicht in Afrika, sondern zu hause „in seinem eigenen Land gewartet hat, in das er 1940 zurückgekehrt ist“ (UL, 222). Obwohl der Erzähler die Unzufriedenheit mit allen Interpretationen zugibt und darauf beharrt, dass es ihm nicht gelungen sei, die Bedeutung der Geschichte zu fassen, ist die Platzierung dieses Kapitels an sich hinsichtlich der Reihenfolge und Struktur des gesamten Textes schlüssig, denn nach der Erwähnung über den Untergang des Dampfers ‚Adolph Woermann‘, die Internierung des Großvaters und die Gefangennahme des damals siebzehnjärigen Vaters am Ende des Kapitels begibt er sich im nächsten Kapitel „Mord“ auf den deutschen Schauplatz im Spätherbst 1940, nämlich „auf dem Höhe- und Scheitelpunkt seiner kurzen Weltherrschaft“ (UL, 224), die mit der völkischen Fantasie versuchte, Osteuropa in einen Lebensraum für das deutsche Volk zu verwandeln. Die Schlangengeschichte scheint gerade zu jener unheimlichen symbolischen Geschichte zu gehören, die ganz in sich abgeschlossen, den eigenen Entwicklungsgesetzen folgend, folgerichtig die Wendung eines Lebenslaufs (von Andreas Wackwitz) und der historischen Epoche (der deutschen Geschichte) zusammenfasst. 2.1.3.3 Wurzel des deutschen Faschismus und Suche nach einer alternativen Tradition Im Kapitel „Fünf Professoren/Träume von Jürgen Habermas“ spekuliert der Erzähler über die prägende Rolle der Bücher in Bezug auf die Lebensläufe des Individuums wie auch auf den Versuch, die Motive für das Verhalten und Handeln der anderen zu verstehen: Bücher können im Leben eines Menschen auf verschiedenen und komplizierten Umwegen eine Rolle spielen. Nicht immer wüssten die Leser oder Opfer eines Buches zu sagen, wo sie es gekauft, ausgeliehen, gelesen oder von ihm geträumt haben. Vielleicht haben sie es nie in der Hand gehabt – und man kann ihr Leben trotzdem nicht verstehen, ohne gerade jenes eine bestimmte Buch. (UL, 170)

So dient ihm die Lektüre von Johann Gottlieb Fichtes Reden an die deutsche Nation als Möglichkeit, die Geisteshaltung des Großvaters ideologiekritisch zu rekonstruieren. Die Wurzel der deutschen kolonialen Fantasie findet der Erzähler in der deutschen philosophisch-theologischen Tradition des Idealismus aus dem 19. Jahrhundert. In Bezug auf die politisch ähnlichen Situationen am Anfang des 19. Jahrhunderts und am Anfang des 20. Jahrhunderts entwickelt der Erzähler historische Parallelen. Die verlorene Hoffnung auf ein vereintes deutsches Reich durch den Sieg Napoleons über Preußen entspricht der verlorenen Hoffnung auf glorreiche Zeiten nach der Niederlage im Ersten Weltkrieg und angesichts der Forderungen des

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Versailler Vertrags. 1808 reagierte Fichte auf die napoleonische Besetzung Preußens in seinen Reden an die deutsche Nation. Er vertrat einen deutschen Nationalismus, der auf der Reinheit der deutschen Sprache und des deutschen Volkes beruhte. Fichte verankerte die deutsche Freiheit in der Idee eines auserwählten ursprünglichen Volks, das von den Römern nie vollständig erobert worden war und nie das Lateinische als Verkehrssprache benutzt hatte. In Fichtes Flammenrede lässt sich eine phobische Rhetorik erkennen, die die Fremdheit als eine Quelle der Entfremdung von den vorherbestimmten Zielen des berufenen deutschen Volkes ansieht. Beim Lesen der „feldherrenartig stipulatorischen, merkwürdig adolfhitlerhaften Ursprungsphantasien, Ableitungen, Folgerungen, Forderungen und Aufrufen“ (UL, 171) Fichtes erkennt der Erzähler die Gedankenwelt des Großvaters – von seinen bis zum Tod aufrechterhaltenen deutschnational-rassistischen Einstellungen gegenüber „Polen“, „Kaftanjuden“ und „Negern“⁶⁰ über seinen Stolz bis zu seiner Angst – in ihrer „Urform“⁶¹: Ob mein Großvater Fichtes ‚Reden an die deutsche Nation‘ gekannt hat, weiß ich nicht. Aber Fichte hat meinen Großvater gekannt und ihn in dem kleinen grünen Buch beschrieben: die Art, in der Andreas Wackwitz deutsch sein wollte, tief, ernst, protestantisch, tapfer, kindlich, unüberwindlich, eine feste Burg und vollkommen anders als Franzosen, Engländer und Neger. (UL, 172)

Der Erzähler stellt fest, dass „Fichtes theoretische Nationalismusmaschine“ (UL, 173) vor und nach dem Ersten Weltkrieg als „Hintergrundgeräusch“ (UL, 174) wieder wirksam geworden ist, als „ein vages Gefühl übervorteilter, nicht anerkannter, schlafender, aber wirklicher Überlegenheit aller und alles Deutschen und ein leerer  1973 schrieb Andreas Wackwitz über seine Reise in die USA: „Vom Weißen Haus führt die Pennsylvania Avenue direkt auf das Kapitol zu. Je näher man auf ihr dem Kapitol kommt, um so öfter wundert man über die Verwahrlosung vieler Häuserfassaden, Hofeingänge, Seitenstraßen – Kennzeichen dafür, daß hier Neger wohnen. […] Lancaster, eine Stadt von 60 000 Einwohnern mit viel Industrie und prächtigen Villenstraßen, ist ein Muster an Ordnung und Sauberkeit, es wohnen nur 2000 Neger dort. […] Dagegen schien uns Alexandria, dicht bei Washington, doch an manchen Stellen durch Neger ramponiert.“ (UL, 162) Während der Auschwitz-Prozesse in Frankfurt schrieb er über seine Erinnerung an den Besuch des jüdischen Oświęcim, der später Auschwitz genannten Stadt: „Unsere Besucher konnten nicht genug staunen, wenn sie auf dem Wochenmarkt das primitive Leben und Treiben, den Schmutz, die Kaftanjuden mit Kappen, Pajes, Samthüten, schwarzen und roten Bärten sahen, […] Wenn schon die Kaftans und das Herleiern der Psalmen einem, der das alles noch nie gesehen hatte, fremdartig und abstoßend erscheinen mußten, so konnte sich beim Anblick dieser Schächtprozedur niemand des Gefühls erwehren, daß er es hier mit einer fremden, unheimlichen Welt zu tun hatte.“ (UL, 177, Hervorh. i. O.) 1964 schrieb er über den 1933 verschollenen Hund, den die ganze Familie sehr gern hatte: „wahrscheinlich hat ihn irgendein Pole gefangen und gefressen.“ (UL, 176, Hervorh. i. O.)  Gunter Pakendorf: Die Gegenwart des Vergangenen, S. 7.

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Stolz auf eine ungreifbare deutsche Tiefe und Tapferkeit“ (UL, 173), der die Generation seines Großvaters affiziert hat. Die Erklärung dafür, wie sein Großvater dazu gekommen sein konnte, sucht der Erzähler auch in den biografischen Konstellationen des Großvaters als Pfarrer für die deutsche Gemeinde im schlesischen Ort Anhalt und im ehemaligen DeutschSüdwestafrika. Die Anpassung an die seinerzeit herrschenden Wertesysteme lässt sich nach dem Erzähler auf die Herkunft, den Beruf und letztendlich das menschliche Bedürfnis nach Orientierung zurückführen: „Das Leben ist schwer, man möchte sich irgendwo festhalten, und mein Großvater griff nach dem, was er für den Ursprung seines Landes, seiner Kultur, seiner Religion hielt.“ (UL, 176) Auch wenn ‚sich festhalten‘ und ‚greifen‘ immerhin als eigenständig gesteuerte Handlungen gedeutet werden können, kommen die Orientierungsmittel doch von woanders, die „im Innern des politisch enttäuschten jungen Leutnants zu einem Gewissheitsgeräusch“ (UL, 174) verstärkt werden. Mit wachsendem Verständnis durch die postmemoriale Identifikation, wie die oben zitierte erlebte Rede zeigt, neigt der Erklärungsversuch des Erzählers zunehmend zu einer apologetischen Tendenz: „Vielleicht ist diese Rückhaltlosigkeit vom Jahr 1921 aus gesehen auch gar nicht so skandalös, wie es heute uns, die wir wissen, wie alles ausging und worauf es damals schon hinauswollte, vorkommt.“ (UL, 205) In Bezug auf jene allgegenwärtige räumliche Präsenz des Großvaters an verschiedenen Schauplätzen der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts schreibt der Erzähler seinem Großvater eine gewisse „pathologische Geschmeidigkeit“ zu, eine „Anverwandlungsfähigkeit“ (UL, 48), die ihn für den herrschenden Zeitgeist anfällig machte, was darauf hindeutet, dass er sich eher von der Masse und den Zeitumständen mitreißen ließ, als autonom eine eigene Perspektive zu entwickeln. Hier greift der Erzähler auf das Narrativ ‚Opfer der Konditionierung und Manipulation‘ zurück, das die moralische Relativierung und Entschuldung der Tätergeneration aus der Kenntnis der historischen Umstände impliziert.⁶² Als er in den Aufzeichnungen seines Großvaters auf die abscheuliche Bemerkung über Polen gestoßen ist, vergleicht er den reflexhaften Gebrauch deutschnational-rassistischer Sprache durch seinen Großvater mit dem „völkischen Tourette-Syndrom“ und bezeichnet den Großvater als eines „jener Opfer des Tourette-Syndroms“, die dazu bestimmt sind, die obszönen Äußerungen „unvermittelt und wie nicht sie selber etwas wie ‚Fick, fick‘ auszustoßen und einzuwerfen“ (UL, 176). Der Erzähler verzichtet offensichtlich darauf, dem Großva Vgl. Matthias Fiedler: Das Schweigen der Männer. Geschichte als Familiengeschichte in autobiografischen Texten von Dagmar Leupold, Stephan Wackwitz und Uwe Timm, in: Weimarer Beiträge 53 (2007), S. 5 – 16; Julian Reidy: „Die Geschichte einer Solidarität“. Problematische intergenerationelle Kontinuitäten in Stephan Wackwitz’ ‚Generationenroman‘ „Ein unsichtbares Land“, in: Weimarer Beiträge 59 (2013), S. 93 – 113.

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ter als politischem Akteur die eigene Handlungsmächtigkeit und somit die Verantwortung für seine Taten zuzuschreiben. Durch die Vorstellung, dass Andreas Wackwitz „fast tickartig“ (UL, 175), „unfreiwillig“ (UL, 177) an einer Art nationalistischem Tourette-Syndrom leidet und mit einer Stimme spricht, die außerhalb seines freien Willens liegt und nicht seine eigene ist, erklärt der Erzähler die Verinnerlichung seines Großvaters der deutschnational-rassistischen Einstellungen als einen pathologischen „Zwang“, der nicht ernst genommen werden muss: Es war ein Zwang und eine Behinderung und wenn man sich, wie sein Enkel, nicht entschließen wollte oder durfte, derlei ernst zu nehmen (worauf ich den Kontakt zu meinem Großvater dann konsequenterweise hätte abbrechen müssen), blieb einem nichts übrig, als Andreas Wackwitz in Gottes Namen von seiner unfreiwillig komischen Seite zu nehmen. (UL, 176)

Mit der Einsicht in die Bedingungen des Lebenslaufs des Großvaters und die damit unmittelbar einhergehenden kulturhistorischen Zusammenhänge, in welche die Weltanschauung des Großvaters eingebunden ist, wirkt dessen deutschnationalrassistische Kolonialfantasie nicht mehr grundsätzlich inakzeptabel. Im Gegensatz zu Uwe Timm und Dagmar Leupold, die darum bemüht sind, die eigentliche Abnormität und Unerhörtheit der damals für normal gehaltenen Geisteshaltungen und Handlungen der Elterngeneration bewusst zu machen, rückt Wackwitz umgekehrt die unheimlichen Größenfantasien des Großvaters und dessen Beteiligung am Nationalsozialismus durch die Verbindung mit den philosophischen und kulturgeschichtlichen Traditionen wieder in die Nähe der zeitgenössischen Norm, des Normalen, Erwartbaren und Verständlichen. „Die Träume und Phantasien, die Hitler während seiner Aufstiegszeit mit einer solchen Gewalt befreite“ (UL, 198), sind im Kontext der Fichteschen Tradition zu verstehen, die „den Ursprung des Deutschseins […] in einer völkischen Substanz“ (UL, 179) findet. Der Erzähler begreift die philosophisch-theologischen Traditionen des deutschen Idealismus, der auf die Ursprünglichkeit und den höchsten Wahrheitsanspruch fixiert ist, gar als Frühformen von Totalitarismus, welche die politischen Phänomene des Nationalsozialismus und Marxismus geistesgeschichtlich präfiguriert hätten. So begreift er seine eigene politische Verblendung als Mitglied der kommunistischen Partei im Rahmen der deutschen Geistestradition, deren typischer Dogmatismus sich von den protestantisch-pietistischen Traditionen über den deutschen Idealismus bis hin zum Faschismus und Marxismus fortschreibt: Die Fichte-Tradition der Flammenrede, das prophetische Sprechen und die dazu gehörenden hochfahrenden Ansprüche auf Redezeit, Sektengehorsam und Sündenzerknirschung haben in der deutschen Linken schon immer eine böse und zugleich ein bisschen lächerliche Hauptrolle gespielt. (UL, 248)

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Die vergangene Verblendung der 68er-Generation im marxistischen Größenwahn wird im Nachhinein als religiöse Verrücktheit und Paranoia gedeutet, deren Wahnsinn und Sektenlogik „zwanghaft das wiederholen, von dem sie sich zu befreien suchen“⁶³. Es gab also Alternative, nur sie hat sich nicht durchgesetzt. Im Zuge der Beschäftigung mit der Geistestradition des Großvaters lenkt der Erzähler seine Aufmerksamkeit auf „zwei grundlegend verschiedene Möglichkeiten deutscher Tradition“ (UL, 179) am Anfang des 19. Jahrhundert. Wurde die Fichtesche Tradition bei der Herausbildung der herrschenden Weltanschauungen im Land des Großvaters wegweisend, so war dennoch ihre Alternative stets anwesend. Gemeint ist Fichtes Zeitgenosse und lebenslanger Feind Friedrich Schleiermacher und seine Hermeneutik. Gegen die völkisch geprägte Fremdenfeindlichkeit Fichtes und seines Großvaters und den dogmatischen Absolutheitsanspruch der linksradikalen Ideologie beruft sich der Erzähler als ideologische Alternative auf Schleiermachers Kunst des Verstehens. Dass Schleiermacher als geistiger Verbündeter des Erzählers in Anspruch genommen wird, hängt einerseits mit der philosophischen Gegenposition Schleiermachers zu Fichte zusammen, andererseits mit der familienbiografischen Konstellation. In diesem Zusammenhang zitiert der Erzähler eine Passage aus den Memoiren seines Großvaters, in der erwähnt wird, dass der Vater von Friedrich Schleiermacher als Anhalts erster Pastor gewirkt und den Garten des Anhalter Pfarrhauses entworfen habe. Dass ausgerechnet in demselben Ort, der für den Großvater die Fichtesche Vorstellung des wahren ‚Deutschseins‘ verkörpert, ein Intellektueller der kritischen und liberalen Tradition in der deutschen Geistesgeschichte gefunden wird, ist für den Erzähler von symbolischer Bedeutung. Diese persönliche Gemeinsamkeit zwischen Familie Schleiermacher und Familie Wackwitz wird als die geistige Verwandtschaft mit den Frühromantikern gedeutet, deren „ironischen, fragmentarischen, selbstbezüglichen und spielerischen Sprachen“ (UL, 183) durch die des Ernstes von Fichte und Hegel vorerst verstummten. Die geistige Tradition der Frühromantik verhilft dem Erzähler zum Entwurf einer alternativen Tradition und nationalen Identität, die nicht von „der Ursprünglichkeit und von der Abgrenzung besessen“ (UL, 180) ist: „Ich hatte einen von uns entdeckt. Hier war jemand, der mir gegen meinen Großvater helfen würde.“ (UL, 184) In einem Kapitel mit dem Titel „Eine erfundene Geschichte“, das die Geschichte der Region Oberschlesien nachzeichnet, zitiert der Erzähler eine Anekdote aus Schleiermachers eigenen autobiografischen Schriften, in der dieser seinen Verdacht aus der Jugendzeit schildert, dass „alle alten Schriftsteller und mit ihnen die alte Geschichte untergeschoben wären. Andere Gründe hatte ich nicht dafür als die, daß

 Helmut Schmitz: Annäherung an die Generation der Großväter, S. 253.

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ich keine Zeugnisse über ihre Echtheit wußte und daß mir alles, was ich davon wußte, romanhaft und unzusammenhängend vorkam“ (UL, 78 f.). Für den Erzähler steht diese Kindheitserinnerung Schleiermachers paradigmatisch für einen progressiven Liberalismus, der keinen Anspruch auf die absolute Wahrheit und Allgemeingültigkeit erhebt, sondern von der Kontingenz der Wahrheit und Kontextabhängigkeit des Deutungsprozesses ausgeht.⁶⁴ Die Auseinandersetzung mit Schleiermachers Hermeneutik veranlasst den Erzähler, über die Geschichtsphilosophie nachzudenken. Wiederum unter Berufung auf Schleiermacher bringt er das Geschichtsverständnis mit der Konstruktivität der Narration in Verbindung: Ich […] denke an Friedrich Schleiermacher, der […] darüber nachgegrübelt hat, ob die ganze antike Geschichte vielleicht nur schöne Literatur sein könnte und alle Ursprünge nur Fiktion, jedes Land ein erfundenes, jedes Volk ein Zufall und jede Tradition nur eine Geschichte, die auch anders ausgehen kann. Die wir anders weitererzählen könnten. (UL, 179)

In Anlehnung an Schleiermachers polemisch-humoristische Rezension von Fichtes „Vorlesungen über die Grundzüge des jetzigen Zeitalters“ reklamiert er eine spielerische und ironische Auseinandersetzung mit der Frage nach der nationalen Identität: „Jedenfalls hat Friedrich Schleiermacher gewusst, dass wir uns im Verstehen der Vergangenheit und der alten Texte selber verstehen und dass nicht von jeher zwangsläufig ausgemacht ist, wie wir sind und wohin wir gehen müssen.“ (UL, 180) Die Übernahme von Schleiermachers Zweifel am objektiven Wahrheitswert der Geschichte ermöglicht es dem Erzähler, darüber nachzudenken, wie historische Wirklichkeit im Laufe der Zeit durch Narration geschaffen wird: Historische Ereignisse entstehen manchmal erst lang, nachdem sie geschehen sind. Man hat den Eindruck, dass auch ihre Existenz den Gesetzen jenes flüchtigen, locker und veränderlich zusammengefügten Landes der Erinnerungen, Stimmungslagen und Interessen folgt; dass sogar die so genannte historische Wirklichkeit erst in zweiter Linie eine Sache von Ort und Zeit ist. (UL, 138)

Die moderne Variante der von Schleiermacher vertretenen philosophischen Tradition sieht der Erzähler in dem Verfassungspatriotismus von Jürgen Habermas und dem Pragmatismus von Richard Rorty. Die Aussage des Erzählers, dass die Bücher von Rorty und Habermas ihm geholfen haben zu verstehen, „dass man nicht nur die Geschichte, sondern auch die Wahrheit herstellen muss und nicht einfach besitzen kann“ (UL, 153), spiegelt die Motive für die hier entworfene alternative philosophische Traditionslinie wider, die jeden Einzelnen gewissermaßen zu seinem eigenen Verständnis von Geschichte berechtigt. Darüber hinaus schafft die Schleiermacher  Der Erzähler bezeichnet Schleiermacher als „ein[en] preußische[n] pragmatist liberal“ (UL, 180).

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entlehnte Auffassung von Geschichte und Herkunft auf der persönlichen Ebene einen Spielraum, in dem der Erzähler im Wesentlichen auswählen kann, welche Aspekte der familiären Vergangenheit für ihn in welcher Weise bedeutsam sind. Dies erlaubt eine größere Freiheit des Selbstverständnisses im Kontext der Familiengeschichte. Das trifft sowohl auf die Suche nach der anschlussfähigen Tradition als auch auf die selektive Identifikation des Erzählers mit seinem Großvater zu.

2.1.4 Kontinuität der Genealogie Obwohl die Beziehung zwischen Großvater und Enkel zu Lebzeiten des Großvaters durch die unterschiedlichen kulturhistorischen Konstellationen beider von ihnen bewohnten unsichtbaren Länder zur „gegenseitigen Irritation“ (UL, 40), also zum Scheitern verurteilt war und der Erzähler nach wie vor den völkischen Nationalismus des Großvaters nicht teilt, verweist er im Nachhinein darauf, wie ähnlich sie sich im Grunde doch sind. Neben Ähnlichkeiten mit der äußeren Erscheinung des Großvaters wie „eine[r] große[n] Nase“ und „eine[r] Neigung zu frühem Grauwerden“ (UL, 102) glaubt der Erzähler „die Lebensform des expatriot“ (UL, 47, Hervorh. i. O.) vom Großvater geerbt zu haben: Andreas Wackwitz’ „Abenteuerlust“ und seine Lebensweise als „ein Auslandsdeutscher“ (UL, 45, Hervorh. i. O.), die sich in seinen langen Lebensjahren in Polen und Südwestafrika widerspiegeln, werden vom Enkel geerbt, der als Angestellter des Goethe-Instituts seit Jahrzehnten im Ausland lebt. Je länger der Erzähler sich mit den Memoiren des Großvaters beschäftigt, erkennt er vor allem, wie er mit seinem Großvater die „Vorstellung vom Glück“ (UL, 55) teilt, „die am tiefsten, unwillkürlichsten und unzugänglichsten in meinem Innern aufbewahrt“ (UL, 186) ist. Am ausgeprägtesten scheint das von beiden geteilte Glücksgefühl in der Sehnsucht nach der weiten Naturlandschaft zum Ausdruck zu kommen. Wenn der Erzähler eine längere Passage aus der 1935 in der Zeitschrift ‚Welt und Haus‘ veröffentlichten Geschichte des Großvaters über seinen Jagdritt unter freiem Himmel in der namibischen Wüstenlandschaft zitiert, gibt es Momente der tiefen Identifikation mit der Begeisterung des Großvaters für die Weite und Unendlichkeit, als hätte er sie selbst geträumt: Manches im Bericht meines Großvaters kommt mir vor, als hätte ich es selbst geträumt – am deutlichsten der stundenlange Ritt durch Herden von Zebras und Oryx-Antilopen. Wenn ich glücklich bin, träume ich manchmal von Landschaften oder von Parks, die nicht aufhören, sich zu erstrecken, […]. (UL, 54)

Auch „der Sog des auf Tat und Unterwerfung wartenden Ostlandes“, den der Großvater in jenem Tagebucheintrag mit dem Titel „Ein Traum vom Osten“ geäußert

2.1 Stephan Wackwitz: Ein unsichtbares Land. Ein Familienroman

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hat, verwandelt sich im Verlauf der Erzählung in eine durchaus positiv gewertete Gemeinsamkeit zwischen den beiden. Der Textabschnitt „Ein Traum vom Osten“ wird insgesamt dreimal zitiert. Während der Erzähler beim ersten Zitieren sein Unverständnis für die koloniale Fantasie des Großvaters thematisiert und dem großväterlichen „Traum vom Osten“ seinen „Traum von Amerika“ (UL, 98) gegenüberstellt, zitiert er denselben Abschnitt zum zweiten und dritten Mal in Zusammenhang mit den eigenen Erinnerungen an seine Wanderungen und Lebensläufe als Auslandsdeutscher in verschiedenen Ländern. Was die beiden verbindet, ist dabei die Faszination an Traumlandschaften und Abenteuer in unbekannten Gebieten, „ohne andere Sicherheiten als die Märchen-Überlegung, dass ich […] etwas Besseres als den Tod noch allemal finden würde“ (UL, 191). Ideologisch steht die Faszination des Großvaters beim Anblick der freien Weite offensichtlich für „eine zeittypische wilhelminische Kolonialisten-Epiphanie“⁶⁵, die dann in der Vision des ‚Volks ohne Raum‘ von Hitlers Außenpolitik wieder auftaucht. Der Erzähler weist zwar auf die Anfälligkeit des darin manifestierenden Expansionsdrangs für die nationalsozialistischen Ideologien hin und kommentiert den Zusammenhang zwischen den beiden wie folgt: „Diese Träume sind untergegangen in der Scham, die ans Licht geratene Größenphantasien hinterlassen. Wir sehen heute nur noch die traumlosen Ruinen der Bedenkenlosigkeit, der Blindheit, des Verbrechens, und wir verstehen sie nicht mehr.“ (UL, 198 f.) Trotzdem ruft „der unbewußte Drang in die freie Weite“ (UL, 98), den der Großvater auf Polen projiziert, bei ihm eine so fesselnde Wirkung hervor, dass sein Umgang damit nicht von Ambivalenz frei ist. Der Erzähler thematisiert selbst das Hin und Her zwischen den Momenten der Identifikation und seinem Unbehagen dabei. Er kann letztendlich nicht anders, als sich „aus dieser Passage nur die merkwürdige völkische Arroganz“ (UL, 210) wegzudenken, damit Großvater und Enkel doch noch etwas gemeinsam haben. Wäre das Wegdenken der politisch inkorrekten Einstellung des Großvaters nicht gut genug, versucht er in einem weiteren Schritt, diese gemeinsame Sehensucht nach „dem Anders- und dem Anderswosein“ (UL, 187) von ihrer Verbindung mit der politischideologischen Konsequenz zu entkoppeln. Dazu ergreift der Erzähler die Strategie der Historisierung: Er ordnet die Unendlichkeitsfantasien des Großvaters in eine lange Tradition der Wackwitzschen Familie, „das Leben an einem Ort aufzugeben und ins Ungewisse aufzubrechen“ (UL, 198) ein, die in der Auswanderungsgeschichte der deutschen Seibersdorfer im Mittelalter ihren Anfang nimmt. Dazu zieht er eine weitere Quelle aus dem familiären Archiv heran, nämlich eine „vierhundert Seiten dicke[] Broschüre mit dem Titel ‚A pictorial history of the Wackwitz Family 1402– 1988‘“ (UL, 193), die ein amerikanischer Nachkomme dem Erzähler in

 Julian Reidy: „Die Geschichte einer Solidarität“, S. 100.

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den 1990er Jahren zugeschickt hatte. Anhand dieser amateurhaften Ahnenforschung imaginiert der Erzähler das Leben seiner Urahnen, die „durch Heirat, durch Kauf, durch Tapferkeit im Totschlagen, Niederbrennen und In-die-Sklaverei-Verkaufen“ (UL, 194) „immer schon irgendwann irgendwo angekommen sind, […], auf Schiffen an Küsten entlang, zu Fuß durch traumunendliche Wälder, Steppen“ (UL, 195). Dieser Imagination folgt die Erinnerung des Erzählers an sein Lieblingsmärchen der Kindheit, „Die zwei Brüder“ der Brüder Grimm, das von zwei Brüdern erzählt, die in einen großen, tiefen Wald immer weiter fortgingen und nicht mehr herauskamen. Durch diese gestalterische Überlagerung unterschiedlicher Gedächtnisformen (Postmemory und eigene Kindheitserinnerung) werden die Visionen des Großvaters als zeitlose Eigenschaften, als Niederschlag von so etwas wie „archaischen und archetypischen Träumen“⁶⁶ neu kodiert, die ins Mittelalter zurückreichen und bis zur Gegenwart fortgesetzt werden. Die „feine Grenze zwischen kolonialen, ja faschistoiden Eroberungsphantasien des Großvaters und der männlich kodierten Phantasie von Expansion und Autonomie, die der Enkel mit dem Großvater teilt“⁶⁷ ist somit verschwommen. Im Rekurs auf seine eigenen seit der Kindheit wiederkehrenden Träume von Parks und Landschaften, die „immer tiefer und unendlich weit in die Welt hinein weitergehen“ (UL, 186) und die aus der Generationenforschung gewonnenen Erkenntnisse der ‚Télescopage‘ stellt der Erzähler fest, dass solche Träume die Folge eines generationenübergreifenden Transfers sind. Aufgrund dieser Überzeugung entwirft er hier eine nahtlose Genealogie: Wie die Rohre eines ausziehbaren Fernrohrs, sagen die Generationssoziologen, seien die Erinnerungen und Träume der Väter und Söhne und Enkel ineinandergeschoben, und wahrscheinlich lebt wirklich keiner sein innerstes Leben nur für sich. (UL, 188 f.)

Das Problematische an dieser Stelle ist, dass der teleskopartige Charakter der Ineinanderrückung der Generation hier nicht im Zeichen einer transgenerationalen Traumatisierung und eines „Moment[s] der Störung von ‚Geschichte‘“⁶⁸ steht, die für das Konzept ‚Télescopage‘ eigentlich konstitutiv sind, sondern sich im Gegenteil „unter der Hand in einen Glücksmoment“⁶⁹ verkehrt. Die Ergebnisse der Generationenforschung, die Mechanismen der transgenerationalen Weitergabe der Traumata beschreiben, dienen dem Erzähler als Interpretationswerkzeug für die Wiederherstellung der identitätsstiftenden Genealogie. Durch die „teleskopische Anordnung“ (UL, 105) generationaler Gemeinsamkeiten der Wackwitzschen Familie

   

Gunther Pakendorf: Die Gegenwart des Vergangenen, S. 11. Friederike Eigler: Gedächtnis und Geschichte in den Generationenromanen, S. 212. Sigrid Weigel: Télescopage im Unbewußten, S. 64 f. Aleida Assmann: Geschichte im Gedächtnis, S. 89.

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werden die männlichen Merkmale und Träume des Großvaters als positive Erbanlagen gedeutet. Auf diese Weise wird die genealogische Kontinuität zwischen den Männern der Familie Wackwitz für einen neuen Entwurf männlicher Identität des Erzählers anschlussfähig gemacht. Der Erzähler vermittelt sogar eine Art tiefgreifendes Bewusstsein über den Einfluss von „undenkbare[n] Zeiträume[n] und Generationenfolgen“ (UL, 194) auf seine Seele: Und ich weiß heute und habe in Wirklichkeit schon immer gewusst, dass die unendlichen Landschaften, die ich im Traum manchmal sehe, nicht nur die Wüste Namib sind, die mein Großvater 1934 gesehen hat […], nicht nur der Park von Laskowitz, in den mein Vater beim Spielen im Garten hinausschaute, […], nicht nur der nie mehr zu Ende gehende Rosensteinpark, sondern auch die Gegend um die sorbische Orakelquelle bei Meißen, wo ein mir vielleicht nicht so unähnlicher Mann, ein Auslandsdeutscher im Hochmittelalter, vor achthundert oder tausend Jahren nicht mehr weiterwollte, […]. (UL, 196)

Mit dem Verweis auf die eigenen Träume – gespeist von fremden Erinnerungen aus anderer Zeit – suggeriert diese Passage eine fast metaphysische Verbindung zwischen den Generationen⁷⁰, so dass die gemeinsamen Charakterzüge nicht als das internalisierte Produkt der familiären Werte durch die Erziehung und Sozialisation, sondern als wie die Gene vererbte und offensichtlich intrinsische Eigenschaften der Wackwitzschen Männer definiert werden. Die Vorstellung, dass die väterliche Linie der Familie Wackwitz durch eine transgenerationale innere Bindung zusammengehalten wird, scheint, dem Erzähler das Gefühl der Sicherheit und jene Orientierung zu verleihen, die er in seiner Familientradition zu etablieren sucht. Das zeigt sich in aller Deutlichkeit, wenn der Erzähler im Hinblick auf die Erinnerung des Großvaters an sein knappes Überleben an der Front im Ersten Weltkrieg die patrilineare Wackwitzsche Genealogie auf die Überlieferung nicht nur der Gene, sondern auch der Erinnerung zurückführt⁷¹: „Das Überleben meines Großvaters, die Überlieferung seiner Gene und Erinnerungen durch meinen Vater und mich an meinen Sohn, ist die Geschichte einer Solidarität.“ (UL, 91)

 In diesem Zusammenhang kommentiert Ariane Eichenberg im ironischen Ton, dass Stephan Wackwitz „einen Familienroman der menschlichen Gattung: eine universale Familiengeschichte“ schreiben will. Vgl. Ariane Eichenberg: Familie – Ich – Nation, S. 123.  Vgl. Friederike Eigler: Gedächtnis und Geschichte in Generationenromanen seit der Wende, S. 193: „Denn indem Wackwitz die Tradierung von Erinnerungen als ‚Vererbung‘ allegorisiert, entwirft er eine Genealogie, der durchaus Selbstvergewisserungsfunktion zukommt.“

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2.1.5 Selbsthistorisierung oder Entdifferenzierung der Geschichte? In den vorletzten zwei Kapiteln „Kleine Propheten“ und „Die Toten“ befasst sich der Erzähler mit den politischen Irrwegen sowohl in der eigenen Biografie als auch in der kollektiven Geschichte seiner Generation. Damit steht Ein unsichtbares Land der Tendenz der öffentlichen Diskurse um die Rolle und Wirkung der 68er-Protestbewegung in der bundesdeutschen Gesellschaft entgegen, die den Beitrag der Protestgeneration zur Etablierung der jetzigen Erinnerungskultur und zur Demokratisierung der Nation in den Vordergrund rücken und die Studentenrevolte somit als „Baustein der Erfolgsgeschichte der Bundesrepublik“⁷² und „Ursprungslegende“⁷³ bewerten.⁷⁴ Aus der psychohistorischen Perspektive bezieht der Erzähler die Anfälligkeit der eigenen Generation für die linksradikalen Ideologien sowie deren unbewussten Wurzeln und Hintergründe „hinter und zwischen den sachlichen, fassbaren und historisch zurechenbaren Gegebenheiten“ (UL, 51) auf die psychosozialen Spätfolgen des Nationalsozialismus und des Holocaust. Von den zahlreichen, historisch signifikanten Zufällen angesichts der beunruhigenden ‚Fähigkeit‘ von Andreas Wackwitz, in die Nähe zu historisch bedeutsamen Orten und Personen zu gelangen, erscheint es dem Erzähler in diesem Zusammenhang völlig unglaublich, „dass nach der Rückkehr aus Afrika, nach Schiffbruch und Gefangenschaft, zehn Jahre, bevor er von den Kommunisten aus ihrem Herrschaftsgebiet vertrieben wurde […], mein Großvater sich ausgerechnet im märkischen Luckenwalde niederließ und als Pastor und Generalsuperintendent […] für einen frommen und sportlichen Jugendlichen zuständig geworden ist, der eigentlich Alfred Willi Rudolf Dutschke hieß“ (UL, 49). Das Zusammentreffen der beiden Protagonisten des politischen Familienromans, die jeweils die gegensätzlichen ideologischen Positionen sowie die daraus hervorgehenden politischen Verwerfungen der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts vertreten und dabei nolens-volens für die Selbstwerdung des Erzählers keine kleine Rolle gespielt haben, rückt dem Erzähler seinen Großvater „in das geisterhaft-bedeutungsvolle Licht, das nicht im wirklichen Leben herrschen sollte, sondern eigentlich und legitimerweise nur in den Gegenden und

 Gerd Koenen: Das rote Jahrzehnt, S. 22.  Vgl. Heinz Bude: „Achtundsechzig“ in: Étienne François/Hagen Schulze (Hrsg.): Deutsche Erinnerungsorte. Bd. 2, München 2001, S. 122– 134, hier S. 122.  Trotz des überwiegend positiven Bildes von ‚1968‘ fällt die Bewertung der Studentenrevolten selbst innerhalb der ehemaligen 68er-Generation unterschiedlich aus. Besonders seit der Jahrtausendwende befassen sich die damaligen Akteure der Studentenbewegung in Form von fiktionalen Texten oder wissenschaftlichen Studien kritisch mit der eigenen politischen Vergangenheit.Vgl. dazu Gerd Koenen: Das rote Jahrzehnt. Unsere kleine Kulturrevolution 1967– 77, Köln 2001; Götz Aly: Unser Kampf 1968. Ein irritierter Blick zurück, Frankfurt a. M. 2007.

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Zeiträumen eines Romans“ (UL, 49). Der eine, nämlich Andreas Wackwitz steht für die Genealogie auf familiärer Ebene, die man nicht einfach wie einen Verein verlassen kann, und der andere, Rudi Dutschke, für den trotzdem von seiner Generation angestrebten genealogischen Bruch auf politischer Ebene. Diese beunruhigende Konvergenz von familiärer und politischer Generation sieht der Erzähler als das an, was Freud zufolge überhaupt das Gefühl des Unheimlichen auslöst: verdrängte, abgespaltene und daher sich wiederholende konflikthafte Aspekte der Vergangenheit. Als das unverarbeitete Verdrängte, das im abgespaltenen Bereich liegt, kehrte „das faschistische Imaginäre“⁷⁵ wie unerlöste Geister in den Nachkommen wieder und affizierte das Denken und Handeln der 68er-Generation so stark, dass es zu einer scheinbar gegensätzlichen aber im Kern ähnlichen ideologischen Konstellation kam: „Morde, über die niemand ein Wort verloren hatte, als sie begangen worden waren, meldeten sich damals mit verspäteten und wunderlichen Stimmen zu Wort.“ (UL, 244) Am Beispiel von Portraits von prominenten Vertretern der Studentenbewegung wie z. B. Rudi Dutschke und RAF-Mitgliedern entwickelt der Erzähler ein unheimliches Bild seiner ganzen Generation, die dem „prophetischen Halluzinieren[] über das wirkliche Gesicht des deutschen Staats“ (UL, 250) verfallen war. In diesem Sinne greift er wiederholt das Hamletmotiv auf.⁷⁶ Rudi Dutschke, den „größten Charismatiker“ (UL, 50) seiner Generation, stellt er als ein „Medium“ (UL, 257, Hervorh. i. O.) der vom Nationalsozialismus verfolgten jüdischen Linksintellektuellen dar:

 Helmut Schmitz: Annäherung an die Generation der Großväter, S. 251.  Zur Beschreibung seiner Generation mit dem Hamletmotiv rekurriert Wackwitz auf die Studie von Michael Schneider, der in seinem Essay Väter und Söhne, posthum. Das beschädigte Verhältnis zweier Generationen auf Shakespeares Hamlet-Tragödie als Deutungsrahmen für den Generationenkonflikt angesichts der Auseinandersetzung der 68er-Generation mit der NS-(Familien‐)Geschichte zurückgreift.Vgl. Michael Schneider: Väter und Söhne, posthum. Das beschädigte Verhältnis zweier Generationen, in: ders. (Verf.): Den Kopf verkehrt aufgesetzt oder Die melancholische Linke. Aspekte des Kulturzerfalls in den siebziger Jahren, Darmstadt/Neuwied 1981, S. 8 – 64, hier S. 14 f.: „Viele studentische Rebellen gerieten damals in eine Art Hamlet-Situation (sofern man, in einer möglichen psychologischen Interpretation des Hamlet-Stoffes, den Geist des toten Vaters und dessen verbrecherischen Bruder auf dem Thron, Hamlets heuchlerischen Ersatz-Vater, als zwei Seiten ein und derselben Vater-Figur, d. h. als theatralische Vergegenständlichung eines gespaltenen VaterBildes begreift): Es war, als wenn ihnen plötzlich der Geist ihrer Väter in Nazi-Uniform erschienen wäre und ihre lebenden Väter, mit denen sie zwanzig Jahre lang brav zu Tisch gesessen, der furchtbarsten kollektiven Verbrechen anklagte, die je eine Generation in diesem Jahrhundert verübt hat. Und wie Hamlet wußten sie oft nicht, ob diese Erscheinung nur ein Gespenst ihrer Einbildung, ihres plötzlich entfesselten Argwohns oder aber eine wirkliche Erscheinung war, die das wahre, vor ihnen nur verheimlichte Wesen ihrer Väter ausdrückte.“

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Rudi Dutschkes Stimme […] scheint nicht vom Ende der sechziger, sondern aus den zwanziger Jahren zu kommen. […] Dutschkes Stimme wirkt, als sei sie auf einer spiritistischen Sitzung aufgenommen. Schon als er noch lebte, klang Rudi Dutschke, als rede er in der Sprache der Toten. (UL, 256)

In blanker Demagogie Holger Meins, die mitunter ausgesprochen paranoide Züge aufweist, sieht der Erzähler die „Hamletbesessenheit durch Gespenster ermordeter jüdischer Vatergestalten“ (UL, 249). Die darauf folgende autobiografische Erinnerung des Erzählers an die Vernehmung auf der Polizeiwache anlässlich des Todesfalls eines Mitglieds des MSB-Spartakus dient der Bestätigung und Verstärkung des durch die Darstellungen der zentralen Figuren der Studentenbewegung sukzessiv entwickelten Bildes der 68er-Generation, die unter Verfolgungswahn leidet. Hier stellt der Erzähler das „wachsam[e] und sachlich[e]“ (UL, 251) Vorgehen der Kriminalbeamten dem eigenen „unkontrollierbar ausartenden Leibesschlottern und Zähneklappern“ (UL, 252) gegenüber, das sich am Ende als unbegründet und irrational erweist, denn die Polizei fragte kein einziges Mal nach den politischen Inhalten. Damit wird das von seiner Generation halluzinierte Bild des faschistischen Staates korrigiert. Die Umbrüche von 1968 werden unter der rigorosen selbstkritischen Analyse des Erzählers zu „hysterischen Inszenierungen, historischen Scheinschwangerschaften, theatralischen Selbstverkennungen und Sinnestäuschungen“ von „Geistererscheinungen“ (UL, 265) aus einer anderen Zeit, die im Grunde keine legitimen Ziele verfolgten: „Ich kämpfe in meiner Zeit gegen Goebels, die SA und meinen Großvater.“ (UL, 264) Die Studentenbewegung und die RAF, die in der Sehnsucht nach einem genealogischen Neuanfang durch einen Generationenbruch, paradoxerweise gleiche totalitären Erlösungs- bzw. Gewaltfantasien wie die (Groß‐)Elterngeneration reproduzierten, sieht der Erzähler damit als ein sich wiederholendes Phänomen an, das von der „tiefe[n] narzisstische[n] Kränkung“ herrührt, „die in der 2. und 3. Generation sogar größere Virulenz angenommen hat, als in der Generation der unmittelbar Betroffenen (d. h. Belasteten)“⁷⁷, wie Gerd Koenen feststellt. Die Studentenrevolte steht seiner Ansicht nach in der deutschen Geistestraditionslinie der Inanspruchnahme der Absolutheit der eigenen Glaubenssätze wie einst die (Groß‐) Elterngeneration, die Hitler und den Nationalsozialisten den Weg bereitete.⁷⁸ Be-

 Gerd Koenen: Das rote Jahrzehnt, S. 413.  Vgl. zur Parallelisierung der ideologischen Anfälligkeit der 33er-Generation und der 68er-Generation Jillian Becker: Hitler’s Children. The Story of the Baader-Meinhof-Gang, Granada 1978, S. 353: „They had no political or moral cause to fight for. They were acting out perilous dreams at the cost of any number of other people. […] [They] saw themselves as passion-driven heroes who had every right to use brute force; […] as the Nazis had fervently believed of themselves. Of such stuff

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zogen auf die untergründige Verwandtschaft zwischen Faschismus und Marxismus bringt der Erzähler explizit die Verblendungsmechanismen des Großvaters mit seinen in Verbindung.⁷⁹ Gestalterisch geschieht dies in der Gegenüberstellung der Aufzeichnung des Großvaters und seiner eigenen. So vergleicht er die verharmlosende Bemerkung des Großvaters über die Zwangsarbeiter des Konzentrationslagers mit der eigenen Tagebuchaufzeichnung über den DDR-Besuch als Mitglied des MSB-Spartakus in den siebziger Jahren, in der sich seine selektive Wahrnehmung und Verdrängung der wahren Lebensverhältnisse im DDR-Realsozialismus ausdrückt. Zuerst zitiert der Erzähler die Notizen des Großvaters über den Eindruck beim Anblick der KZ-Häftlinge, die in den Fabriken und an den öffentlichen Bauanlagen Zwangsarbeit verrichten: [S]ie sahen nicht schlecht genährt aus, hatten weder böse noch verzweifelte Gesichter, und schienen sich ganz ihrer Aufgabe hinzugeben. […] Der Oberingenieur versicherte mir […] daß sie willig wären und man gut mit ihnen auskommen könne. Trotzdem war mir die ganze Sache doch sehr unheimlich. (UL, 232, Hervorh. i. O.)

Diese Beobachtung des Großvaters, die auf die unterschwellige Ahnung von den menschenverachtenden Praktiken des NS-Regimes und das gleichzeitige ‚Weg-Sehen‘ hindeutet, bezieht er auf die Geisteshaltung seiner von kommunistischer Ideologie geprägten Vergangenheit: Wie leicht und bereitwillig man sich bei derlei Besichtigungen und scheinbar unvorbereiteten Einsichtnahmen in sinistre Sphären von den in Wirklichkeit sorgfältig […] arrangierten potemkinschen Dörfern täuschen lässt und täuschen lassen will, habe ich kürzlich, ungläubig kopfschüttelnd, über der Lektüre meiner Tagebuchaufzeichnungen einer Besichtigungsreise in die DDR im Jahr 1974 als Mitglied einer ‚Delegation‘ des MSB Spartakus an mir selber erfahren. (UL, 233, Hervorh. i. O.)

tyrants are made, but not the resisters of tyranny.“ Gerd Koenen und Götz Aly teilen auch die gleiche Meinung. Nach Koenen war die RAF von einem „blinden Wiederholungszwang“ beherrscht: „Der deutsche Herbst war offenkundig eine ferne Replik auf die nebligen Untergänge des April 1945.“(Gerd Koenen: Das rote Jahrzehnt, S. 496 und 390); Götz Aly betrachtet die Studentenbewegung als speziell deutschen Spätausläufer des totalitären 20. Jahrhunderts und kommt nach der Untersuchung der „Ähnlichkeiten der Mobilisierungstechnik, des politischen Utopismus und des antibürgerlichen Impetus“ (Götz Aly: Unser Kampf, S. 170) zu dem Schluss: Die revoltierenden Kinder der Dreiunddreißiger-Generation waren ihren Eltern ähnlicher, als ihnen lieb sein kann: „Ohne im angeblich aufklärerischen Eifer eine Sekunde lang daran zu denken, knüpften die deutschen Achtundsechziger an den Aktionismus ihrer Dreiunddreißiger-Väter an.“ (Götz Aly: Unser Kampf, S. 169)  Auf ähnliche Weise arbeitet Götz Aly die ähnlichen Verblendungsmechanismen der beiden Generationen heraus, indem er zeigt, was die damaligen Maoisten über die Verbrechen Mao Tsetungs hätten wissen können und wie sie vor der Last der nationalen Vergangenheit in die Verherrlichung ferner Guerilleros flohen. Vgl. Götz Aly: Unser Kampf, S. 110 – 115.

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Er setzt die bereitwillige Verblendung des Großvaters, der trotz der Wahrnehmung der damaligen Situation die Gräueltaten des NS-Regimes duldete, mit seinen linksextremistischen Aktivitäten gleich. Mit der Ratlosigkeit im Rückblick auf das politische Engagement seiner Generation in den 1970er Jahren diffamiert der Erzähler die unterschiedlichen politischen Gruppierungen als „karnevalistisch-kommunistische[] Kampfbünde“ und seine eigene Mitgliedschaft im MSB Spartakus als „eine freiwillige Sklaverei“ und „ein verlorenes halbes Jahrzehnt“ (UL, 58). Im Rückblick erscheint die Phase der Protestbewegung dem Erzähler ebenfalls als ein anderes Land wie das des Großvaters: „Auch damals lebten wir in einem ganz anderen, heute unsichtbaren Land.“ (UL, 260) Im Zuge der Gleichsetzung und Pathologisierung der beiden Generationen, die ganz einer ideologischen Wahnidee von dem Nationalsozialismus und dem Marxismus verfallen waren, werden die unterschiedlichen zeitgeschichtlichen Zusammenhänge der Entstehung der beiden politischen Ideologien ignoriert. Statt die Gründe für die damalige politische Weltanschauung des jungen alten Ichs bzw. seiner Generation und die politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse in den 1960er Jahren, die die Studentenbewegung motiviert und geprägt haben, zu erschließen, konzentriert sich der Erzähler überwiegend auf die Parallelisierung der beiden totalitären Ideologien. Er setzt sich somit über die für den Totalitarismusdiskurs wichtigen Unterschiede der jeweiligen historischen Kontexte hinweg.⁸⁰ Das birgt implizit die Gefahr, dass dadurch dem Nationalsozialismus ihr unbestreitbarer historischer Ausnahmestatus im Rahmen der menschenverachtenden, rassistischen Einstellungen und ihrer realen Erscheinungsformen genommen wird.

2.1.6 Rückkehr zur Normalität Wackwitz setzt seine „Zukunft ohne den MSB Spartakus“ mit der Rückkehr in die „Wirklichkeit“ (UL, 254) gleich. Der vermeintliche Wiedereintritt in die Realität wird auf Sommer 1978 datiert, als er die von den im Pariser Jeu de Paume ausgestellten Bildern ausgehende „Indifferenz gegenüber allem Politischen und Moralischen“ (UL, 253) als befreiende Kraft empfunden hat. Wie sein politischer Irrweg mit dem Zusammentreffen von seinem Großvater und seinem politischen Idol, Rudi Dut-

 Vgl. Friederike Eigler: Gedächtnis und Geschichte in den Generationenromanen seit der Wende, S. 220: „Was bei dieser Erkundung intergenerationeller Kontinuitäten aber kaum berücksichtigt wird, sind intergenerationelle Differenzen. In diesem ‚politischen Familienroman‘ stehen generationstypische Verblendungen und Projektionen so stark im Vordergrund, dass die Unterschiede zwischen unterschiedlichen politischen Gruppierungen und die Abgrenzung zu den Gewaltverbrechen der RAF verloren geht.“

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schke in Luckenwalde begonnen hat, fällt Wackwitz’ Ablösung von der marxistischen Ideologie zeitlich mit dem Tod Dutschkes und des Großvaters Ende der siebziger Jahre zusammen. Hier überkreuzen sich wiederum die persönliche und kollektive Geschichte. Die unheimliche Epoche der deutschen Geschichte, die ihren Anfang in dem verlorenen Ersten Weltkrieg genommen hat und deren transgenerationalen Auswirkungen noch den politischen Werdegang der nachfolgenden Generationen bestimmt haben, sei, so Wackwitz, 1989 zu Ende gegangen. Wackwitz führt das durch die Lektüre von Rorty entstandene Glücksgefühl und eine „Atmosphäre der fortschreitenden theoretischen Demokratisierung“ (UL, 152) auf das Ende der DDR zurück: Die frühen Neunziger des letzten Jahrhunderts sind in Deutschland die Jahre der großen Normalisierung gewesen, die Zeit, in der das Land zurückgefunden hat aus einem Sonderweg der Bußzerknirschung und des Sündenstolzes in die merkwürdig fließende, unabschließbare, ambivalente und personenabhängige Art von Wahrheit und Moral, die in wirklichen Demokratien gilt. […] Unser Land entstand noch einmal neu. (UL, 153)

Das Ende einer katastrophischen historischen Epoche und die Entstehung eines normalen Landes setzt Wackwitz mit dem Abschied von „Wahrheitsliebhaber[n] und Moralisten wie Heinlich Böll, Rudi Dutschke, Peter Brückner oder Walter Jens“ (UL, 153) gleich. Diese sogenannten Moralisten scheinen keinen Platz im neu entstandenen Deutschland zu haben, weil sie Wackwitz zufolge zu der Zeit vor dem Krieg gehören. Der philosophische Ansatz, an dem sich Wackwitz nun neu orientiert, ist damit die pragmatische Geisteshaltung von Richard Rorty’s ‚liberal ironist‘: I use ‘ironist’ to name the sort of person who faces up to the contingency of his or her own most central beliefs and desires – someone sufficiently historicist and nominalist to have abandoned the idea that those central beliefs and desires refer back to something beyond the reach of time and chance.⁸¹

Auf Schleiermacher, Rorty und Habermas rekurrierend, plädiert Wackwitz für einen nüchternen und gelassenen Umgang mit Auschwitz, einer „welthistorischen Gespensterlandschaft (UL, 34), „an die […] das ganze Land seit einem halben Jahrhundert auf eine verschwiegene und unheimliche Weise gebunden ist“ (UL, 59). Die Aussage „Aber das war nicht immer so und es ist erst in den letzten Jahrzehnten so geworden.“ (UL, 138) mutet wie ein Einwand an und deutet auf seinen Gesinnungswandel und Apell zur Änderung der Perspektive auf die NS-Geschichte hin: Der Umgang mit der Geschichte muss nicht starr bleiben. Weg von dem Denken der Zwangsläufigkeit, Alternativlosigkeit und Unbedingtheit zu einem liberalen, spon Richard Rorty: Contingency, irony, and solidarity, Cambridge [u. a.] 1989, S. XV. Hervorh. i. O.

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tanen Denken und Handeln, was nur in der wirklichen Demokratie möglich ist. Wackwitz’ Auseinandersetzung mit den geistesgeschichtlichen Traditionen und der Geschichte Deutschlands nach der generationalen Ordnung und aus psychohistorischer Perspektive bemüht sich im Endeffekt um eine Historisierung der transgenerationalen Spätfolgen des Nationalsozialismus und des Holocaust⁸², die „als drohender Horizont alles umgeben, was man von nun an über das letzte Jahrhundert und über die Geschichte überhaupt wird sagen können“ (UL, 138). In diesem Zusammenhang ist es wohl so zu verstehen, dass er zwar die für die Nachkommen gedachten Memoiren des Großvaters als Dokumente einer „merkwürdig verantwortungslose[n]“ und „sozusagen fahrlässige[n]“ politischen Einstellung erkennt, aber aus dieser Einsicht – anders als Timm und Leupold – keine eindeutigen Konsequenzen zieht. Schließlich zeigt er Verständnis für „das Nicht-hinsehen-undnicht-davon-reden-Wollen“ (UL, 178) der Familienmitglieder bezüglich des Orts ihrer Kindheit: „Jeder Mensch hat ein Recht auf eine geschichtslose Kindheit.“ (UL, 11) Diese Erzählhaltung wurde von den Kritikern als „Fähigkeit bzw. Bereitschaft, Ambivalenzen und Kontinuitäten wahrzunehmen“⁸³ oder als „ein Bewusstsein um die Differenz zwischen privatem Erinnern und öffentlicher Performanz von Erinnerung“⁸⁴ fast durchgängig positiv bewertet. Merkwürdig inkonsequent und irritierend an Wackwitz’ Familienroman scheint nur, dass die Tendenz des Romans, den Sinn der (Familien‐)Geschichte zu vereindeutigen und die daraus gewonnenen Erkenntnisse zu verabsolutieren, unübersehbar ist. Was an der deutschen Geistestradition der Frühromantik Wackwitz fasziniert, ist vor allem Schleiermachers erkenntnistheoretische Perspektive auf „Unsicherheitserlebnis“, dem Schleiermacher sein ganzes Leben lang „treu zu bleiben“ (UL, 179) versucht hat. Ein aufgeklärter, undogmatischer ‚liberal ironist‘ im

 Vgl. Helmut Schmitz: Annäherung an die Generation der Großväter, S. 261– 263.  Friederike Eigler: Gedächtnis und Geschichte in den Generationenromanen seit der Wende, S. 213.  Helmut Schmitz: Annäherung an die Generation der Großväter, S. 263. Vgl. auch Anne Fuchs: Heimat and Territory in Thomas Medicus’s In den Augen meines Vaters and Stephan Wackwitz’s Ein unsichtbares Land; Dirk Knipphals: Opas Gespenster, in: taz, 20.03. 2003. Online unter https://taz.de/! 798750/, zuletzt abgerufen am 03.11. 2022; Ursula März: Erforschen oder Nacherzählen. Stephan Wackwitz und Simon Werle zeigen, wie verschieden Familienromane heute sein können, in: Die Zeit, 30.04. 2003. Online unter https://www.zeit.de/2003/19/L-Wackwitz_2fWerle, zuletzt abgerufen am 03.11. 2022; Volker Hage: Die Enkel wollen es wissen, in: Der Spiegel, 17.03. 2003. Online unter https:// www.spiegel.de/kultur/die-enkel-wollen-es-wissen-a-33a2910d-0002-0001-0000-000026609841, zuletzt abgerufen am 03.11. 2022; Manfred Koch: Das Anhalter Gefühl. Stephan Wackwitz berichtet aus den Kladden seines Großvaters, in: Neue Zürcher Zeitung, 02.08. 2003; Oliver Fink: „Schattenboxen. Literarisch, aber nicht fiktional: Stephan Wackwitz legt einen irrwitzigen ‚Familienroman‘ vor“, in: Frankfurter Rundschau, 19.03. 2003, S. 7.

2.1 Stephan Wackwitz: Ein unsichtbares Land. Ein Familienroman

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Rortyschen Sinne wäre Wackwitz auch gerne. Wackwitz’ Haltung, alles erklären zu wollen, kann allerdings als angreifbares und auch bereits kritisiertes Muster einer spekulativen Suche nach allgemein verbindlicher Wahrheit gelesen werden, wodurch jegliche Unsicherheit in Bezug auf die Vergangenheit und Erinnerung auf ein Minimum reduziert wird. Das im Verlauf der Rekonstruktion der Familiengeschichte immer konsolidierte transgenerationale Prinzip familiärer Tradierung zeigt deutlich, dass er seinem Ideal liberaler Geisteshaltung von Schleiermacher und Rorty, die sich mit dem Unsicherheitserlebnis und der Kontingenz der Wirklichkeit genügen, nicht entspricht. Besonders was die unbequeme Anziehungskraft der großväterlichen Eroberungsfantasie vom „Sog des auf Tat und Unterwerfung wartenden Ostlandes“ anbelangt, kann sich Wackwitz mit einem anhaltenden ambivalenten Gefühl nicht zufriedengeben. Er„habe die Szene in den Erinnerungen meines Großvaters“ so „oft gelesen“ (UL, 204) und die großväterlichen Erinnerungen auf seine eigenen stolzen Erfahrungen projiziert, bis er zu einer von jeglichem völkischen Gedankengut gereinigten Version der Interpretation gelangt, und zwar in seinem Sinn: Denn natürlich haben die Weiten des Ostlands sowenig wie das Kap der guten Hoffnung, die Jacaranden von Madeira oder die Blüten in Funchal de Las Palmas auf Tat und Unterwerfung gewartet. Gewartet haben sie einfach auf Andreas Wackwitz, so wie andere Blüten, Länder und Weiten in meiner Zeit auf mich gewartet haben und wie ich mein Leben aufgegeben und ruiniert hätte, wenn ich ihrem ‚Sog‘ […] nicht wie mein Großvater […] gefolgt wäre […]. (UL, 210, Hervorh. i. O.)

Auffällig an dieser Passage, die die gemeinsame Leidenschaft für die unendlich weite Landschaft als eine zeitlose Freiheits- bzw. Autonomiefantasie verklärt, ist ein nostalgischer Tenor, welcher Wackwitz’ Verlangen nach einer ungebrochenen, intakten Tradition ohne Zivilisationsbruch zum Ausdruck bringt, d. h. einer Tradition, die sich ohne weiteres in das positive Selbstverständnis integrieren lässt. Die Bilanz, die Wackwitz nach der über dreijährigen Beschäftigung mit dem Manuskript des Großvaters zieht, ist, dass er und sein Vater „nicht viel anderes und Selbständigeres getan“ haben, „als das Leben meines Großvaters fortzusetzen (als sei dieses Leben etwas von uns dreien Unabhängiges; vielleicht größer und wichtiger als wir)“ (UL, 272). Er schreibt somit seinen „central beliefs and desires“ in Bezug auf die familiäre Tradition und Genealogie sehr wohl die Qualität „beyond the reach of time and chance“ zu. Das scheint nicht mit Schleiermachers Erkenntnis vereinbar zu sein, wonach „wir uns im Verstehen der Vergangenheit und der alten Texte selber verstehen und […] nicht von jeher zwangsläufig ausgemacht ist, wie wir sind und wohin wir gehen müssen“ (UL, 180). Wenn Wackwitz in seiner Auseinandersetzung mit der (Familien‐)Geschichte auf der Basis „alter Texte“ derart eindeutige Erkenntnisse über sich selbst und die mehrere hundert Jahre überdauernde Verbindung der

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2 Heimat, Tradition und Identität im familiären Chronotopos

Wackwitzschen Männer gewonnen haben will, dann lässt sich daraus schließen, dass er eben durchaus „von jeher zwangsläufig ausgemacht“ (UL, 180) ist, wie er ist. Wackwitz kritisiert die Fichtesche Tradition zur geistesgeschichtlichen Präfiguration des Totalitarismus und bezieht gegen ein teleologisches Geschichtsverständnis vehement Stellung. Aber am Ende entsteht der Eindruck, dass er dieses indes nur durch eine andere Variante der habitualisierten Sinnstiftungsstrategien ersetzt, denn jedes noch so triviale vergangene Ereignis der Familiengeschichte und seiner Biografie erlangt für den weiteren Verlauf der nationalgeschichtlichen Entwicklung innerhalb des von ihm entworfenen familiären Chronotopos den Status einer zwangsläufigen, geradezu schicksalhaften Notwendigkeit. Die wohl kulturbzw. literaturgeschichtlich, philosophisch und psychoanalytisch geschulten Spekulationen und eloquenten Deutungen scheinen über den Rahmen der tatsächlichen Familiengeschichte hinauszugehen und bloße Kontingenz in vermeintliche Evidenz zu transformieren. Der von Wackwitz gekonnt ästhetisch konstruierte, chronotopische Kosmos kreiert den ideellen Bezugsrahmen, wodurch die individuell-biografischen wie nationalgeschichtlichen Ereignisse und Handlungen in einer bestimmten Reihenfolge auftreten und in einem hohen Grad sinnstiftend wirken. Ein unsichtbares Land erweist sich in ihrer Gesamtgestalt als nicht-kontingente Einheit und das hat im Endeffekt ein problematisches Geschichtsverständnis zur Folge: Weil „Wackwitz die Historie nur durch die Geschichte seiner eigenen Genealogie fokalisiert“⁸⁵, wird dadurch ein teleologischer und fast determinierter Geschichtsverlauf suggeriert.

2.2 Thomas Medicus: In den Augen meines Großvaters Thomas Medicus, geboren 1953, ist hauptberuflich Journalist und hat vereinzelt als Gastwissenschaftler am Hamburger Institut für Sozialforschung gearbeitet. Zum Thema ‚Faschismus im Familiengedächtnis‘ und ‚das Genre Familienroman‘ hat er eine Reihe von Zeitungsartikeln und Essays verfasst. Darin plädiert er stets für einen Paradigmenwechsel der Auseinandersetzung mit dem Familiengedächtnis.⁸⁶

 Julian Reidy: „Die Geschichte einer Solidarität“, S. 105.  Vgl. Thomas Medicus: Im Archiv der Gefühle. Tätertöchter, der aktuelle „Familienroman“ und die deutsche Vergangenheit, in: Mittelweg 36 (2006) H. 3, S. 2– 15; Thomas Medicus: Die Stunde der Enkel. Zum Boom der „Familienromane“, in: Süddeutsche Zeitung, 25.04. 2006, S. 20; Thomas Medicus: Schatten. Hannes Heer muß gehen, in: Frankfurter Rundschau, 15.08. 2000; Thomas Medicus: Abschied von gestern. Was kann aus der Wehrmachtsausstellung werden?, in: Frankfurter Rundschau, 04.11. 2000; Thomas Medicus: Sieben Weise. Das Gutachten zur Wehrmachtsausstellung liegt vor, in: Frankfurter Rundschau, 04.11. 2000; Thomas Medicus: Das Gold des Krieges. Eine Biografie der

2.2 Thomas Medicus: In den Augen meines Großvaters

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Sein erstes, 2004 erschienenes Buch In den Augen meines Großvaters kann in diesen erinnerungsdiskursiven Kontext gestellt werden, zumal die Arbeit am Text durch das Hamburger Institut für Sozialforschung finanziell unterstützt wurde und der dort tätige Soziologe Heinz Bude Medicus angeregt hat, „dieses Buch zu schreiben“ und während der Arbeit an dem Buch „ein richtungsweisender Ratgeber“ (AG, 249) war, wie Medicus in seiner Danksagung schreibt. Das Familienbuch von Medicus geht der Frage nach, ob sein Großvater mütterlicherseits, Wilhelm Crisolli, 1944 für Kriegsverbrechen an der italienischen Zivilbevölkerung in den Bergen des Apennins verantwortlich war und unter welchen Umständen er getötet wurde. Wilhelm Crisolli, 1895 geboren, Leutnant, Rittmeister unter Hitler, dann Kommandeur und Generalmajor der 6., 13. und 16. Panzer- sowie der 333. Infanterie-Division und der 20. Luftwaffen-Felddivision, wurde im Herbst 1944 in der Toskana bei einem Überfall italienischer Partisanen erschossen. Bei seinem Tod war er 49 Jahre alt, und es wird angedeutet, dass der Vater von Medicus im gleichen Alter Selbstmord begangen hat. Als Medicus selbst sich dem Alter von 49 Jahren nähert, treibt ein bedrohliches Gefühl, „in einer Lebensendzeit“ (AG, 54) zu leben, ihn dazu an, „nach Wilhelm Crisolli zu forschen und das Rätsel seines Todes zu lösen“ (AG, 55). In dem Jahr, das das letzte Lebensjahr seines Großvaters und seines Vaters war, beschließt Medicus, „die Zeitkapsel“ (AG, 38), nämlich die von seiner Großmutter geerbten Schatulle mit Dokumenten und Fotos zu eröffnen, die in seinem Schreibtisch eingeschlossen ist: „Mein Großvater erschien mir plötzlich als der geheime Fluchtpunkt meiner Biographie, auf den alles zustrebte, was ich je getan oder nicht getan hatte, geworden oder nicht geworden bin.“ (AG, 54 f.) Medicus’ Interesse an seiner Familiengeschichte lässt sich auf die Geheimhaltung der Familienmitglieder zurückführen, die er in seiner Kindheit erfahren hat: „Bei uns sprach nie jemand über den Krieg. Weder meine Mutter noch mein Vater verloren je ein Wort darüber.“ Besonders der Großvater war in seiner Familie ein streng gehütetes Geheimnis. Das familiäre Schweigen über Crisolli hängt mit dem Verdacht seiner Witwe Annemarie zusammen, dass der Überfall der Partisanen auf Crisolli ein Racheakt für seine Beteiligung an Repressalien sein könnte. Eine mögliche Beteiligung an Kriegsverbrechen hätte den sozialen Aufstieg der Familie gefährdet, da sie in der Nachkriegszeit ein tabuisiertes Thema war. Angesichts des

Unternehmerfamilie Reemtsma, in: Süddeutsche Zeitung, 12.09. 2007, S. 16. In diesem Zusammenhang hat er die überarbeitete Version der Wehrmachtsausstellung vom Hamburger Institut für Sozialforschung positiv gewertet und als Chance begriffen, sich von der „Erinnerungs- und Betroffenheitskultur der alten Bundesrepublik“ ebenso wie von der „Erinnerungs- und Geschichtspolitik“ der Nachkriegsgeneration zu distanzieren. In einer 2007 verfassten Rezension über die Biografie der Unternehmerfamilie Reemtsma lobt er ausdrücklich den Verzicht auf jede „anklagende Polemik oder moralischen Überlegenheitsgestus“.

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2 Heimat, Tradition und Identität im familiären Chronotopos

„selbst unter Kriegsbedingungen nicht alltägliche[n] Tod[es]“ (AG, 233) ihres Mannes befürchtete die ehemalige Gutsherrin, die auch nach dem Ende der NS-Zeit an „Standesehre“ festhielt, „dass die ihre auf dem Spiel stand“ (AG 121). Weder der gewaltsame Tod von Wilhelm Crisolli noch die Flucht von Ostpreußen und der Verlust des Standes werden in der Familie aufgearbeitet. Die Familienmitglieder schützen Medicus vor der familiären Vergangenheit, machen ihn jedoch durch unbewusste Signale auf „eine Fülle von Geheimnissen“ (AG, 17) aufmerksam. So bekommt Medicus im Alter von zehn Jahren von seiner Mutter Saint-Exupérys Kriegsroman Flug nach Arras geschenkt. Indem sie ihrem Sohn „dieses Buch für Erwachsene“ (AG, 19) überreicht, versucht die Mutter offensichtlich, ihn über den Krieg aufzuklären, ohne Unbehagen und schwierige Fragen zu wecken, und so dafür zu sorgen, dass die mögliche Schuld der Familie ungesagt bleiben. Der Inhalt des Buches löst jedoch im zehnjährigen Kind nur Verwirrung aus: „Ich begriff nicht, wer hier gegen wen kämpfte und wer vor wem wohin floh.“ (AG, 19) Rückblickend deutet Medicus das Buch als „ein Hüter unserer häuslichen Geheimnisse“, dessen Bilder ihn „unbegriffen in Besitz nahmen“ (AG, 19) und in sein Vorstellungsvermögen eingraviert sind. Dieser Tatbestand ist der Ausgangspunkt von Medicus’ Roman, der sich in zwei gestalterisch sehr unterschiedlich angelegten Kapiteln mit jeweils sieben Unterkapiteln „der Lösung eines Rätsels, das unterschwellig meinen gesamten Familienroman beeinflußt hatte“ (AG, 102), widmet. Das Familienbuch von Medicus unterscheidet sich sowohl inhaltlich als auch auf gestalterischer Ebene von den anderen drei Romanen von Timm, Leupold und Wackwitz. Beim entscheidenden Impuls zur Rekonstruktion der Familiengeschichte geht es nicht primär um die Erkundung der Psychogenese und moralischen Verfehlungen des Großvaters und das Thema ‚Schuld und Verantwortung‘, sondern einzig und allein um die Fragen, „wie die Orte aussahen, in denen sich Wilhelm Crisolli aufgehalten, was er dort getan hatte und wo genau und unter welchen Umständen er gestorben war“ (AG, 71). In den Augen meines Großvaters ist ganz und gar von großer Sehnsucht geprägt, den von seiner Familie ‚vertriebenen‘ Vorfahren kennenzulernen. Auf gestalterischer Ebene verknüpft Medicus postmemoriale Prozesse mit der vorzugsweise durch die Betrachtung der Landschaft und der Fotografien betriebenen Verbildlichung des Lebens des Großvaters. Er macht somit auf die bildspezifische Wahrnehmungs- bzw. Deutungsprozesse aufmerksam. Postmemoriale Prozesse werden immer wieder durch visuelle Erinnerungsmedien in Gang gesetzt. Folglich wird der Erinnerungsraum durch die Imagination des Erzählers, die die Betrachtung visueller Medien auslöst, konditioniert. Medicus erprobt mit verschiedenen Erinnerungsmedien das Potenzial und die Grenzen der durch die Verbildlichung stimulierten Verarbeitung und Aneignung der (Familien‐) Geschichte. „The epistemological question of how we know the past joins the on-

2.2 Thomas Medicus: In den Augen meines Großvaters

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tological one of the status of the traces of that past“, so Linda Hutcheon.⁸⁷ Insofern geht es bei Medicus um eine alternative Spurensuche. Von Beginn an wird die Landschaft in Bezug zur Erinnerungsarbeit gesetzt. Dabei stehen die folgenden Medien als erinnerungsstützend zur Verfügung: ein Landschaftsgemälde des deutschen Malers Walter Leistikow, die Sonette des englischen Dichters Rupert Brooke und ein Foto eines italienischen Gartens, das seinen Großvater in einer arkadischen Umgebung zeigt. Ein durch den intermedialen Austausch betriebenes postmemoriales Verfahren, das von Malerei über Poesie zur Fotografie wechselt, erlaubt Medicus einen großen Spielraum für die alternative Spurensuche.

2.2.1 Nachbilder der Landschaft Im ersten Kapitel „Gärten, Parks, Kiefernwälder“ beschreibt der Erzähler die durch familiäres Schweigen über die Vergangenheit konstituierte diffuse Suchbewegung anhand einer Reihe von Landschaftsbetrachtungen, die sich von der Erinnerung an seine Heimat in Franken bis nach Berlin und schließlich in die Kiefernwälder Osteuropas bewegen. Dabei ist auffällig, wie der Erzähler kommentiert, sein unerklärliches anhaltendes Interesse an „ostelbische[n] Landschaften“ (AG, 13), die sich bereits ins Gedächtnis des Erzählers eingeprägt haben: Ich besaß eine Erinnerung an den Osten, ohne daß ich ihn je besucht hätte. Ich erinnerte mich an ihn wie an etwas, von dem ich überhaupt nicht verstand, daß es überhaupt existierte. Nachdem ich nach Berlin umgezogen war, begannen Bilder nie besuchter Landschaften in mir aufzusteigen. (AG, 14)

Der Erzähler erwähnt eine Reihe ostelbischer Ortsnamen wie „Kolberg, Rügenwalde, Stolp, Stolpmünde, Belgard“ (AG, 13 f.), die von früher Kindheit an im Inneren als „Klänge“ (AG, 14) und die aus Sand, Kiefern und Seen bestehenden imaginären Landschaften sedimentiert sind. Neben Formen der Schriftlichkeit, durch die die Vergangenheit dem individuellen Gedächtnis eingeschrieben, aufbewahrt und geordnet werden können und die als „generelle Strukturmomente menschlicher Entwicklung und Selbstverständigung“⁸⁸ zu begreifen sind, spielen auch Bilder als „Medium der Bildung und der

 Linda Hutcheon: A Poetics of Postmodernism. History, Theory, Fiction, New York/London 1988, S. 122.  Dieter Baacke (Hrsg.): Aus Geschichten lernen. Zur Einübung pädagogischen Verstehens, München 1979, S. 8. Zit. nach Ursula Stenger/Volker Fröhlich: Einführung, in: dies. (Hrsg.): Das Unsicht-

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Subjektgenese des Menschen“⁸⁹ eine wichtige Rolle bei der Formierung des Gedächtnisses und somit der geschichtlichen Orientierung. Die Wirkmächtigkeit des Bilder-Gedächtnisses liegt in symbolischer Verschlüsselung: „Ein ‚Bild‘ ist mehr als ein Produkt von Wahrnehmung. Es entsteht als das Resultat einer persönlichen oder kollektiven Symbolisierung. […] Wir leben mit Bildern und verstehen die Welt in Bildern.“⁹⁰ Was dem Bild besonders symbolischen Charakter verleiht, lässt sich auf die Einsicht zurückführen, dass es kein abgeschlossenes System grundlegender Bilder gibt, sondern „eine Vielzahl und Pluralität möglicher Sinn-Bilder“⁹¹ und dass Bildlichkeit „allen Kategorisierungen und Rubrizierungen“⁹² entzieht, weil Bilder als Manifestation der einmaligen Momente mit besonderen subjektiven Vorzügen zu begreifen sind. Darüber hinaus hängt die Deutung der Bilder von der jeweiligen Wahrnehmung des Betrachters ab. Johannes Bilstein fasst in diesem Zusammenhang zentrale Leistungen der Bilder wie folgt zusammen: „[Bilder] machen Äußeres im Inneren, Früheres im Späteren präsent, sie repräsentieren Abwesendes in der Gegenwart und sie erzeugen schließlich Illusion und Simulation eines anderen oder früheren Zustandes.“⁹³ Für den Erzähler erfüllt gerade Walter Leistikows Gemälde „Abendstimmung am Schlachtensee“ (AG, 14) die Funktion der Präsentation, Repräsentation und Simulation einer abwesenden Sache. Leistikows Landschaftsmalerei versinnbildlicht voll und ganz seinen inneren Osten. Die stark stilisierte Komposition seiner inneren Landschaft wird durch den Abdruck von Leistikows Landschaftsmalerei unterstrichen. Auf das Bild projiziert der Erzähler verschiedene Emotionen und Sehnsüchte: „ein großer Friede, aber auch eine Wehmut, die Ausdruck eines ebenso unsagbaren wie unwiederbringlichen Verlustes zu sein schien“ (AG, 14). Er bemerkt, dass die Tiefe des Gemäldes ein Effekt des Zusammenspiels zwischen den dunklen Kiefern im Vordergrund und dem glühenden Sonnenuntergang im Hintergrund ist. Die Intensität des Lichts wird durch die Reflexion an der Oberfläche des Sees noch verstärkt. Die Landschaft hilft als eine subjektiv konnotierte – unabhängig von dem unmittelbaren Bezug zur erinnerten Vergangenheit – der inneren Rückwendung bare sichtbar machen. Bildungsprozesse und Subjektgenese durch Bilder und Geschichten, Weinheim/München 2003, S. 7– 22, hier S. 8.  Ursula Stenger/Volker Fröhlich: Einführung, in: dies. (Hrsg.): Das Unsichtbare sichtbar machen, S. 8.  Hans Belting: Bild-Anthropologie. Entwürfe für eine Bildwissenschaft, München 2001, S. 11.  Andreas Nießeler: Erinnerung als Teilhabe. Aspekte sozial- und kulturanthropologischer Gedächtnistheorien, in: Günther Bittner (Hrsg.): Ich bin mein Erinnern. Über autobiographisches und kollektives Gedächtnis, Würzburg 2006, S. 143 – 160, hier S. 146.  Johannes Bilstein: Symbol – Metapher – Bild, in: Volker Fröhlich/Ursula Stenger (Hrsg.): Das Unsichtbare sichtbar machen, S. 23 – 44, hier S. 26.  Ebd., S. 27.

2.2 Thomas Medicus: In den Augen meines Großvaters

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des Erzählers atmosphärisch assoziativ auf die Sprünge.⁹⁴ „To look is to embed an image within a constantly shifting matrix of unconscious memories“⁹⁵ , wie Kaja Silverman konstatiert. Das Landschaftsbild, auf dem besonders Kiefern herausstechen, als Erinnerungsstütze weckt seine Kindheitserinnerung an einen kleinen Ausflug in den Kiefernwald mit seiner Mutter und Großmutter und an ein von Kiefern umgebenes Jagdschloss, das er aus dem Fenster seines Elternhauses gesehen und sich als eine unerreichbare Insel voller faszinierender Geheimnisse vorgestellt hat: „Es war nicht verboten, ihn zu betreten. Aber ich wußte nicht, wo sich der Eingang befand, und ich fragte auch nie danach.“ (AG, 17) Diese von der kontemplativen Landschaftsbetrachtung ausgelösten Prozesse des Erinnens an die Kindheitsepisoden gehen mit dem Gefühl des Glücks, der Trauer, der Nostalgie aber auch des Mystischen und des Rätselhaften einher. Von dem gemeinsamen Motiv der Kiefer in der Kindheitsszene sowie auf dem Gemälde ausgehend, knüpft der Erzähler die Landschaft des Gemäldes Leistikows als Ikone seines inneren Ostens an die Sehnsucht nach dem verlorenen paradiesischen Garten an. So kärglich die Landschaft der Kiefern auf dem Bild ist, wie der Erzähler bemerkt, glaubt er in ihr doch „einen idyllischen Garten“ (AG, 16) wiederzuerkennen. Die auf Sinneseindrücke konzentrierte, atmosphärische Dichte erzeugende Beschreibung des emotional getönten Kiefernwaldes auf dem Bild macht deutlich, wie prägend der Osten, der „weder Namen noch Raum“ (AG, 16) hat, für den Erzähler ist. Die transgenerationale Übertragung der Erfahrungen der Vorfahren wird insbesondere durch Überfluten des Bewusstseins der Nachkommen mit bildhaften, halluzinatorischen Eindrücken gekennzeichnet, wie Werner Bohleber wie folgt darlegt: „Was in der ersten Generation konkrete Erfahrung war, beschäftigt die nachfolgende Generation in ihrer Bilder- und Symbolwelt.“ Dabei handle es sich um eine „unbewusste Identifizierung, die nicht Verdrängung entstammt, sondern der direkten Einfühlung in den unbewussten, verschwiegenen oder totgesagten Inhalt eines elterlichen Objekts. […] Eigene Gefühle und eigenes Verhalten entpuppen sich als entlehnt und gehören eigentlich der Geschichte der Eltern an“⁹⁶ In der Landschaftsmalerei Leistikows erfährt die sinnbildliche Dimension des Unbewussten des Erzählers hinsichtlich der weitgehend unbekannten Familienvergangenheit eine exemplarische Konkretisie-

 Vgl. Joseph G.Weber: The Poetics of Memory, in: Symposium (1979) XXXIII, S. 293 – 298, hier S. 295: „[T]here are privileged places of epiphany where memory speaks the most clearly and forcefully of life – the topoi of lakes, cataracts, streams, mountains, meadows, castles, churches, ruins, etc. Like memory, landscape is the face of eternity in time, is the source of energy, genius, art, poetry, and life itself.“  Kaja Silverman: The Threshold of the visible world, New York/London 1996, S. 3.  Werner Bohleber: Transgenerationelles Trauma, Identifizierung und Geschichtsbewusstsein, in: Jörn Rüsen (Hrsg.): Die dunkle Spur der Vergangenheit, S. 256 – 275, hier S. 256 und 263.

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rung. Auf der Landschaft baut er sein inneres Sinnbild über die unbekannte Familiengeschichte mit den Motiven von Wald und Garten auf, die durch die ganze Erzählung hinweg als Metapher für etwas Widersprüchliches, Ambivalentes in Bezug auf seinen Umgang mit der (Familien‐)Geschichte dienen. Die narrative Semantisierung des Raumes, die Ereignisse, Figuren und Zeitumstände zu einem postmemory zusammenfügt, ist mithin dem Romankonzept untergeordnet, wie die Titel der beiden Kapitel des Buches „Gärten, Parks, Kiefernwälder“ und „Garten der Frauen, Wald der Männer“ signalisieren: Der Raum tritt als Folie für das geschlechtsspezifische Porträtieren der Familienmitglieder (vorzugsweise der Großeltern) und die damit assoziierten mentalen Bilder der (Familien‐)Geschichte in Erscheinung. Erzählerisch wirksam werden der Ort und die Umgebung in dem Roman primär als Erinnerungsstütze für das zu rekonstruierende postmemory. Von besonderer Bedeutung ist in diesem Zusammenhang das Waldmotiv, welches eine Mittlerposition zwischen dem Konkreten im Sinne des geografischen Raumes und dem metaphorischen Erinnerungsort im Sinne des mentalen Raumes einnimmt. Das Konzept ‚Erinnerungsort‘, das die Geschichtswissenschaft zum Herausarbeiten des Zusammenhangs zwischen kulturellen Deutungsmustern sowie symbolischen Ordnungen und der Entwicklung der Vorstellungen, Erfahrungen und Sinnstiftungen des Individuums eingeführt hat, verweist auf einen materiellen oder immateriellen Vergangenheitsbezug, der in besonderem Maße mit symbolischer Bedeutung aufgeladen und in der kulturellen wie geschichtlichen Tradition fest verankert ist.⁹⁷ Der Begriff Erinnerungsort umfasst geografische Orte, Denkmäler, historische Ereignisse, Persönlichkeiten, Begriffe oder Kunstwerke. Sie bewahren nicht nur kollektiv relevante Erfahrungen und Erinnerungen auf, sondern strukturieren zugleich gemeinsame Vorstellungswelt und Lebnseinstellung. Den Erinnerungsorten kann man nun „erkenntnisbildende[] und verstehensleitende[]“⁹⁸ Funktionen zuschreiben. Die Sehnsucht nach imaginären osteuropäischen Landschaften bringt der Erzähler allmählich mit seinen tatsächlich unternommenen Reisen in die Kiefernwälder in Einklang. Er räumt zwar ein, dass Kiefern im Gegensatz zu anderen mythenbildenden Bäumen „keine die Einbildungskraft anregenden, poetischen Gewächse“ sind, weist aber gleichzeitig auf ihr „massenhaft aufgereiht[es]“ (AG, 26) „Kollektivwesen“ (AG, 24) hin. An dieser Stelle wird ein Bild einer schwarz ge-

 Vgl. Étienne François/Hagen Schulze (Hrsg.): Deutsche Erinnerungsorte, München 2001, S. 13. Das Projekt der Deutschen Erinnerungsorte wurde durch das von Pierre Nora initiierte Projekt zu den nationalen Erinnerungsorten Frankreichs, Les Lieux de mémoire angeregt. In den Deutschen Erinnerungsorten geht es um ein breites Panorama von Ereignissen, Begriffen und Orten, das das kulturelle Gedächtnis und das Selbstverständnis der Deutschen darstellt.  Andreas Nießeler: Erinnerung als Teilhabe, S. 149.

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punkteten Karte des „Atlas Florae Europaeae“ eingefügt, das die sich „über fast ganz Skandinavien und Osteuropa bis zum Ural“ (AG, 25) erstreckenden Kiefernwälder schematisch verortet. Indem Osteuropa mit dem Merkmal der Kiefernwälder als Kollektivwesen in Zusammenhang gebracht wird, steht dieser „dunkle Kontinent“ (AG, 25) offensichtlich nicht mehr für die anfängliche imaginäre pastorale Landschaft der Heimat der Familie, sondern assoziiert sich mit der Vorstellung des Expansionskrieges von Hitler: Der Waldfrieden um mich her hatte jede Unschuld verloren. Getarnt bis zur fast völligen Unsichtbarkeit, ging etwas vor sich. Irgendwann schoß der Begriff ‚Camouflage‘ lebendig wie ein Kobold aus dem Waldboden meiner Nachbilder. (AG, 27)

Der Erzähler verzichtet jedoch bewusst darauf, den von Kiefernwäldern bedeckten Raum als territoriales Gebiet zu betrachten. Stattdessen lässt er sich auf die Sogwirkungen und die mentalen Nachbilder ein, die Kiefernwälder auslösen. Albrecht Lehmann zeigt in seinem Artikel „Der deutsche Wald“ vom dritten Band der Deutschen Erinnerungsorte, welche Wirkung der deutsche Wald als Sehnsuchtslandschaft seit der Frühromantik auf die Deutschen ausübt.⁹⁹ Er zitiert die Überlegung des Germanisten Eugen Mogk über die Bedeutung des Waldes für die Deutschen aus dem Jahr 1918: „Wir erfahren von Tacitus, mit welch heiliger Scheu die Germanen ihre Wälder betraten. Noch heute wirkt die Stille oder das Rauschen der Bäume tief auf das Gefühl unseres Volkes ein.“¹⁰⁰ Der deutsche Wald als Identifikationssymbol wurde etwa der urbanen Zivilisation Frankreichs entgegengesetzt. Lehmann weist gleichzeitig darauf hin, dass aufgrund der ideologischen Symbolpolitik des Nationalsozialismus das Motiv des deutschen Waldes verdächtig geworden ist. In seinem Buch Masse und Macht bringt Elias Canetti den deutschen Wald als deutsches Kulturgut mit dem Heer als deutschem Massensymbol in Verbindung: Das Massensymbol der Deutschen war das Heer. Aber das Heer war mehr als das Heer: es war der marschierende Wald. In keinem modernen Land der Welt ist das Waldgefühl so lebendig geblieben wie in Deutschland. Das Rigide und Parallele der aufrechtstehenden Bäume, ihre Dichte und ihre Zahl erfüllt das Herz des Deutschen mit tiefer und geheimnisvoller Freude. Er sucht den Wald, in dem seine Vorfahren gelebt haben, noch heute gern auf und fühlt sich eins mit Bäumen.¹⁰¹

 Vgl. Albrecht Lehmann: Der deutsche Wald, in: Étienne François/Hagen Schulze (Hrsg.): Deutsche Erinnerungsorte, Bd. 3, S. 187– 200.  Ebd., S. 189.  Elias Canetti: Masse und Macht, München 1980, S. 190 f.

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2 Heimat, Tradition und Identität im familiären Chronotopos

Die Spekulation des Erzählers, dass er mit seiner leidenschaftlichen Suche nach den Landschaften der Kiefernwälder „unterschwellig schon immer im Einvernehmen gestanden zu haben“ (AG, 26) scheint, deutet auf das geerbte Unbewusste hin und korrespondiert somit mit den Betrachtungen Lehmanns und Canettis. An der Erfahrung des Erzählers von den Kiefernwäldern und deren symbolischer Aufladung lässt sich ablesen, dass der Erzähler als das Subjekt nicht die einzige Instanz ist, die Wahrnehmung und emotionales Erleben reguliert. Seine Naturempfindung ist in latente Sinnschichten eingebettet, die von einer kulturellen Perspektive geprägt sind. Man muss von „einem Netz symbolischer Bedeutungen“¹⁰² ausgehen, in das der Erzähler als Individuum eingebunden ist und das die Formen und Inhalte des kulturellen bzw. familiären Gedächtnisses umfasst, ohne die die subjektive Wahrnehmung des Erzählers von den Kiefernwäldern kaum zustande gekommen wäre. Auf seinen Reisen in die Kiefernwälder gerät der Erzähler in einen fast halluzinatorischen Zustand, wo er zusehends von den verführerischen Träumen der phantomartig anmutenden Wehrmachtssoldaten heimgesucht wird: Aus dem Kieferngehölz drang das Geräusch von Karabinern, die durchgeladen und entsichert wurden. In diesem Moment ahnte ich, dass ich mich inmitten eines Trupps von Soldaten befand. Nicht irgendwelchen. Mit der Sicherheit des Schlafwandlers spürte ich, daß es deutsche Wehrmachtssoldaten waren, stumm, reg- und gesichtslos. Die Aura des Gefährlichen dieser Männer verängstigte, zugleich bannte sie mich. (AG, 27)

Insofern es dem Erzähler um eine alternative Spurensuche geht, die nicht-rationale Korrespondenzen zwischen den Kiefernwäldern in der realen Welt und seiner auf sie projizierten mentalen Erinnerungslandschaft freilegt, um eine verdrängte und in der Subjektivität verankerte, fesselnde Wirkung der militärischen Welt des Großvaters zum Vorschein zu bringen, kommt ihm eben jener halluzinatorische Charakter des Schlafwandlers in den Sinn, der der psychoanalytischen Theorie zufolge die Logik des Phantoms ausmacht. Über die Natur des Phantoms schreibt Nicolas Abraham so: Das ‚Phantom‘ (le Fantôme, das Gespenst, der Geist) – in allen seinen Formen ist eine Erfindung der Lebenden. Eine Erfindung in dem Sinne, daß es wenn auch auf halluzinatorische Weise, individuell oder kollektiv, die Lücke vergegenständlichen muß, die die Verdunkelung eines Abschnitts im Leben eines Liebesobjekts in uns erzeugt hat.¹⁰³

 Andreas Nießeler: Erinnerung als Teilhabe, S. 148.  Nicolas Abraham: Aufzeichnungen über das Phantom. Ergänzung zu Freuds Metapsychologie, in: Psyche 45 (1991) H. 8, S. 691– 698, hier S. 691 f. Hervorh. i. O.

2.2 Thomas Medicus: In den Augen meines Großvaters

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Die Geheimnisse, die Eltern aufgrund ihrer traumatischen Qualität ihren Kindern nicht mitteilen, werden von Kindern sukzessive unbewusst imaginiert. Das Phantom bezieht sich somit auf „eine Bildung des Unbewussten, deren Eigentümlichkeit darin besteht, dass sie niemals bewusst geworden ist, und zwar ist sie hervorgegangen aus dem […] Übergang aus dem Unbewussten eines Elternteils in das Unbewusste eines Kindes“¹⁰⁴. Insofern wird das Vordringen in „das numinose Herz des Kiefernwaldes“ (AG, 27) vom Erzähler als „Phänomen[] unheimlicher Zweideutigkeit“ (AG, 28) wahrgenommen, was auf das Spannungsverhältnis zwischen seinem kritischen Bewusstsein und dem Hingezogensein zum Krieg gegen alle Vernunft hindeutet. Dass er dabei zuerst „voller Angstlust“ (AG, 28) „einer rein ästhetischen Kriegswahrnehmung“ (AG, 37) nachgibt, verdankt sich einer von ihm rechtzeitig neu entdeckten Identifikationsfigur, nämlich dem englischen Dichter Rupert Brooke: Er war ich und doch nicht ich, und er gab mir, was ich gesucht und mir zuvor keiner gegeben hatte: Glück, Mitleid, Abneigung, Schrecken. Vor allem stillte er mein Verlangen nach dem Außergewöhnlichen, dem Wagnis, nach Einsamkeit und Männerfreundschaft. (AG, 33)

Der Erzähler berichtet, wie er während einer Reise nach Großbritannien in einem Teegarten in der Nähe von Cambridge zufällig, doch im Nachhinein schicksalhaft auf ein Porträt des englischen Dichters Rupert Brooke gestoßen war. In diesem englischen Garten liest er Brookes berühmtes Kriegssonett „The Soldier“ von 1915, das, wie der Erzähler betont, ein „schwärmerisch-patriotischer Hymnus“ (AG, 32) ist und in dem sich der Dichter den Krieg in exotischen Landschaften vorstellt: „‚If I should die, […] think only this of me: / That there’s some corner of a foreign field / That is for ever England.‘“ (AG, 32, Hervorh. i. O.) Durch diese pathetische Darstellung des Krieges betört, beginnt der Erzähler, sich in Brookes Leben und Werk einzutauchen. Brooke, der beim Ausbruch des Ersten Weltkrieges von einer Reise nach Tahiti zurückkehrte, begrüßte wie viele junge Männer seiner Generation den Krieg: „Die feurigen Landschaften, von denen er immer häufiger geträumt hatte, waren Wirklichkeit geworden. Das Verheißungsvolle war da, das Wunderbare: der Krieg.“ (AG, 34) Eine solche Ästhetisierung des Krieges war nur möglich, weil Brooke nie ein richtiges Schlachtfeld gesehen hatte: Er starb an Fieber, als er an Bord eines Schiffes von Ägypten nach Griechenland reiste. Sein früher Tod schien das idealisierte Bild eines schönen Todes zu bestätigen, das sein Sonett in solch lyrischem Stil hervorgerufen hatte. Offensichtlich hatte dies nichts mit dem blutigen Massaker in den Gräben des Ersten Weltkrieges zu tun. Wie der Erzähler kommentiert, bot Brooke ihm „den schönen Krieg“ in „arkadische[n] Kriegslandschaften“ an, in de Ebd., S. 694.

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nen „noch der größte Schrecken zum poetischen Arsenal subtiler ästhetischer Reize gehörte und sich das Gefährliche und Verworfene in die schöne, die zivilisierte Form ergoß“ (AG, 37). Die intertextuell an Brookesche Verklärung der Kriegslandschaft angelehnte „Simulation von Kriegsbegeisterung“¹⁰⁵ verhilft dem Erzähler dazu, „eine kulturelle Tabugrenze“ (AG, 62) zu überschreiten und sich auf das großväterliche preußische Kriegspathos einzustimmen: „Mir blieb nichts anderes übrig, als wenigstens zeitweise abzustreifen, was ich über Krieg, Militär und Wehrmacht im Kopf trug. Ich mußte den Mut aufbringen, zu meinen unbewußten Wissensspeichern vorzudringen.“ (AG, 64)

2.2.2 Fotografien als visuelle Gedächtnismedien Im Zuge des vom Erzähler durchaus als Tabubruch begriffenen Vordringens in seine eigenen bildhaften Eindrücke, die er unbewusst abgespeichert hat, ist der Erzähler nicht mehr über die dürftigen schriftlichen Dokumente des Großvaters beunruhigt. Die wichtigsten Zeugnisse der Vergangenheit des Großvaters und die Hauptquelle für den postmemorialen Prozess sind die einundfünfzig Schwarz-Weiß-Fotografien, die dem Erzähler „Wege ins Unbekannte, die mir kein Buchstabe je hätte eröffnen können“ (AG, 64) weisen: „Im Herzen der Zeitkapsel waren die letzten sieben Lebensmonate meines Großvaters aufbewahrt.“ (AG, 58) Getrieben von einem Verlangen nach einer vollständigen Auslöschung der mannigfaltigen Kluft zwischen der Gegenwart und der Vergangenheit untersucht der Erzähler diese Fotografien, indem er sie in Gruppen einordnet und sie in seinen Computer einscannt, um jedes Detail zu vergrößern, bis er sich mit der in diesen Bildern dargestellten Welt zu verschmelzen scheint: „Ich hatte den Wunsch, die Vergangenheit, die diese Bilder fixierten, läge hinter Türen, die ich nur zu öffnen bräuchte, um hinüberzutreten.“ (AG, 56) Die in In den Augen meines Großvaters eingefügten Fotografien fungieren zum einen als zentraler Erzählimpuls und sind somit integraler Bestandteil des postmemorialen Verfahrens. Zum anderen dienen Sie als Anlass zur Reflexion über das durch diesen postmemorialen Rekonstruktionsprozess entstandene Spannungsverhältnis zwischen emotionaler Annäherung und kritischem Bewusstsein, Identifikation und Distanz, Imagination und Wahrheitsanspruch. Auf der metakritischen Ebene geht es um die epistemologischen Schwierigkeiten, die alle Rekonstruktionen der Vergangenheit durch das Medium Fotografie als visuelle Quelle historischer Erkenntnis und die damit verbundenen Fragen der Referenzialität und Authentizität im Hinblick auf mimetische Funktionen begleiten.

 Mathias Brandstädter: Folgeschäden, S. 235.

2.2 Thomas Medicus: In den Augen meines Großvaters

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Eine Fotoserie, die einen kurzen Aufenthalt von Wilhelm Crisollis Division in Dänemark im Jahr 1943 dokumentiert, zieht den Erzähler angesichts der hervorgehobenen Präsenz der Vergangenheit unmittelbar in ihren Bann: „Der Tiefenschärfe gelingt es, der abgebildeten Vergangenheit eine gewisse Überpräsenz zu verleihen. Als ob sie eingefrorene Gegenwart wäre, ist die Vergangenheit auf diesen Fotografien einfach da.“ (AG, 61) Die Fotografien setzen den postmemorialen Prozess in Gang. Dabei verlässt sich der Erzähler offensichtlich auf die scheinbare Wirklichkeitsbeglaubigende Funktion der Fotografie. Intuitive und affektiv-emotionale Zugänge zur fotografisch dargestellten Vergangenheit werden durch die einzigartige Beziehung der Fotografie zu ihrem Referenten unterstützt. Wie Roland Barthes in seinem Essay Die helle Kammer argumentiert, unterscheidet sich die Fotografie vor allem aufgrund ihrer Referenzialität als mediales Grundprinzip von anderen Bildern: „Anders als bei diesen Imitationen läßt sich in der PHOTOGRAPHIE nicht leugnen, daß die Sache dagewesen ist. Hier gibt es eine Verbindung aus zweierlei: aus Realität und Vergangenheit.“¹⁰⁶ Als eine Ausstrahlung der Existenz ihres Ursprungs, nicht als eine Kopie stellt die Fotografie für Barthes insofern einen zuverlässigen Blick in die unhintergehbare Vergangenheit sicher: ‚Photographischen Referenten‘ nenne ich nicht die möglicherweise reale Sache, auf die ein Bild oder ein Zeichen verweist, sondern die notwendig reale Sache, die vor dem Objektiv platziert war und ohne die es keine Photographie gäbe. […] Der Name des Noemas der PHOTOGRAPHIE sei also: ‚Es-ist-so-gewesen‘ oder auch: das UNVERÄNDERLICHE.¹⁰⁷

Darüber hinaus schreibt Barthes dem referenziellen Status der Fotografie ein besonderes Wirkungspotenzial zu.¹⁰⁸ Um dies näher zu erläutern, unterscheidet er zwei Betrachtungsweisen der Fotografie, denen die verschiedenen Arten von Interesse zugrunde liegen, und entwickelt dafür zwei Begriffe: das studium und das punctum. Während das ‚studium‘ eines Fotos etwa als „Zeugnis politischen Geschehens“ oder als „anschauliche Historienbilder“¹⁰⁹ aus einer distanziert-interessierten Perspektive unbekümmert geschieht, ist das ‚punctum‘ durch die unverhoffte Betroffenheit der Wahrnehmung eines Fotos gekennzeichnet, die nur von einem bestimmten Detail des Fotos herrührt, weil dieses die Aufmerksamkeit und das Interesse des Betrachters auf sich zieht:

 Roland Barthes: Die helle Kammer. Bemerkungen zur Photographie, Frankfurt a. M. 2016, S. 86. Hervorh. i. O.  Ebd., S. 86 f. Hervorh. i. O.  Vgl. ebd., S. 33 – 37.  Ebd., S. 35.

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Das zweite Element durchbricht (oder skandiert) das studium. Diesmal bin ich nicht es, der es aufsucht (wohingegen ich das Feld des studium mit meinem souveränen Bewußtsein ausstatte), sondern das Element selbst schießt wie ein Pfeil aus seinem Zusammenhang hervor, um mich zu durchbohren. […] Das punctum einer Photographie, das ist jenes Zufällige an ihr, das mich besticht (mich aber auch verwundet, trifft).¹¹⁰

Das ‚punctum‘ stellt eine gestörte Reaktion dar, die durch scheinbar nebensächliche Details ausgelöst wird, aber gleichzeitig das ‚studium‘ als „eine Art allgemeiner Beteiligung […] ohne besondere Heftigkeit“¹¹¹ aus dem Gleichgewicht bringen kann. Die Auseinandersetzung des Erzählers mit den in Dänemark aufgenommenen Militärfotografien lässt sich als Wechselspiel zwischen dem ‚studium‘ und dem ‚punctum‘ beschreiben: Auf diesen Bildern schob sich etwas in den Vordergrund, was lange im Hintergrund geblieben war. Der überzeitliche moralische Geltungsanspruch, den mir die Traditionsgebundenheit dieser Männer vermittelte, berührte mich auf eine Weise, von der ich nicht für mich möglich gehalten hätte, daß er mich je würde erreichen können. […] Das Versprechen verkörpernd, Preußen wisse seine Unwirtlichkeiten zu kultivieren, standen die Herren Offiziere auf der Lichtung eines Kiefernwaldes. […] Die Offiziere, […], strahlten zu meiner eigenen Verblüffung nicht allein negative Empfindungswerte aus. (AG, 63 f.)

Der Erzähler setzt sich selbst unverkennbar in Bezug zu diesem Männerbund, dessen Narzissmus und der suggestiven Kraft des Fotos. Der Blick des Erzählers auf die Fotografie ist so sehr von der Sehnsucht nach Identifikation und Verschmelzung bestimmt, dass sich die Distanz zwischen der Gegenwart des Erzählers und der unhintergehbaren Vergangenheit der anderen auf dem Bild auflöst: „[A]uch er [der Erzähler] möge den auf Treu und Glauben miteinander verschworenen Männern angehören. Ich nahm den Wink auf, durchschritt die Pforte, die mir diese Bilder öffneten, und ging hinein.“ (AG, 62) Der Erzähler vergegenwärtigt die makellose Erscheinung und körperliche Disziplin der Wehrmachtsoffiziere, die er als „Ausdruck ihrer inneren Haltung […], ihrer Tugendhaftigkeit und Aufrichtigkeit“ (AG, 63) liest. Er beschreibt weiter, wie er sich einer eher „dandyesk[en]“ (AG, 63) Erscheinung der Offiziere hingibt, die in seinen Augen den Anschein ruhiger ästhetischer Gegensätze zu militärischer straffer Haltung erweckt. Seine Beschreibung des Fotos beruht unübersehbar auf Projektion und Einfühlung in den anderen, die jegliche Differenz zwischen sich Selbst und anderen negieren und auf eine affektive Identifikation mit den Wehrmachtsoffizieren hinauslaufen. Gleichzeitig erkennt sein kritisch-distanzierter Blick, dass diese Fotografien von einem professionellen Fo Ebd., S. 35 f. Hervorh. i. O.  Ebd., S. 35.

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tografen stammen und der Fotograf durch die sorgfältige Bildkomposition und Inszenierung der Pose der Figuren ein Manöver in Szene setzt. Hier knüpft der Erzähler an Susan Sontags Einsicht in die „mutmaßliche[] Aufrichtigkeit“ fotografischer Aussagen an, die sie dann erkennt, wenn die technische und ästhetische Beschaffenheit der Fotografie durch den Fotografen ihr bewusst wird.¹¹² Nach einem sorgfältigen ‚studium‘ von Haltung und Pose der Figuren gelangt der Erzähler zu folgendem Schluss: Kein Zweifel, dieser Bilderzyklus protzte mit dem Formideal des Herrenhaften, wollte aber nicht nur ästhetisch, sondern auch moralisch gefallen. […] Jeder sollte mit bloßen Augen sehen können, dass sich diese Elite einem überlieferten Kanon gemäß sozial exklusiv und dabei ethisch rigoros verhielt. Das war es, worauf es den Fotos ankam, das war es, was sie mitteilen wollten. Ich übersah dabei nicht, daß die ihrer exklusiven Rolle offenbar nicht mehr ganz sicheren Herren auftraten, als seien sie Schauspieler ihrer Selbst. (AG, 63)

Allerdings kann das kontextuelle ‚studium‘ das plötzliche ‚punctum‘, das den Abstand zwischen der Gegenwart und dem fotografisch festgehaltenen Moment kurzschließt und in dem die Toten vergegenwärtigt werden können, nicht beeinträchtigen. Weit über das kritisch-distanzierte ‚studium‘ des Fotos hinaus schreibt der Erzähler in die Fotografie hinein, was das Dargestellte vermeintlich beglaubigt: „den Widerschein altpreußischer Militärtradition“ (AG, 62). Obwohl der Erzähler die Militärfotografie aus einer metakritischen Perspektive studiert, die die Ideologiekonstruktionen in der Komposition des Bildes und die politische Instrumentalisierung aufdeckt, schreibt er der Fotografie als Referenzmedium weiterhin eine Beglaubigungsfunktion zu. So gesehen ist diese Militärfotografie eine Manifestation des Fortsatzes des wilhelminischen Verhaltenscodex in den Wehrmachtsoffizieren. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass ausgerechnet das den Erzähler so durchbohrende Porträtfoto der Wehrmachtsoffiziere im Gegensatz zu anderen ekphrastisch beschriebenen Fotografien im Text nicht abgedruckt ist. Dies kann mit Roland Barthes darin begründet liegen, dass die Interpretation des Erzählers sich weniger dem Objektivitätsgehalt der Fotografie als vielmehr seiner empathischen Empfindung verdankt. In seinem Essay Die helle Kammer verzichtet Barthes bewusst darauf, das Wintergartenfoto seiner Mutter, anhand dessen er die Wirkung des ‚punctum‘ beschreibt, im Text abzudrucken, denn das punctum, welches

 Vgl. Susan Sontag: Über Fotografie, Frankfurt a. M. 2008, S. 12: „Aber trotz der mutmaßlichen Aufrichtigkeit, die allen Fotografien Autorität, Bedeutung und Reiz verleiht, bildet die Arbeit des Fotografen ihrem Wesen nach keine Ausnahme in dem meist etwas anrüchigen Gewerbe, das zwischen Kunst und Wahrheit angesiedelt ist. Selbst wenn die Fotografen es als ihre Hauptaufgabe betrachten, die Realität widerzuspiegeln, bleiben sie dennoch den stummen Befehlen des Geschmacks und des Gewissens ausgesetzt.“

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diese Fotografie auf ihn ausübt, betrifft nicht das auf dem Foto abgebildete Wesen der Mutter, sondern bezieht sich lediglich auf seine subjektive Befindlichkeit.¹¹³ Für einen unvoreingenommenen Rezipienten kann jenes Porträtfoto der Wehrmachtsoffiziere in In den Augen meines Großvaters eine von vielen Militärfotografien des NS-Regimes sein und andere Vorstellungen wie z. B. nationalsozialistische Propaganda oder die Verbrechen der Wehrmacht evozieren. Erst indem Medicus die Fotografie den Lesern vorenthält, kann er zum einen ihr etwas Mystisches und Geheimnisvolles verleihen und die suggestive Wirkung der Fotografie verstärken. Zum anderen kann er die Leser daran hindern, eine eigene Interpretation der Fotografie zu bilden. Er kann im Endeffekt seine eigene Deutung als einzige narrative Lesbarkeit jenes Fotos aufbewahren. Aus der Auseinandersetzung des Erzählers mit der Militärfotografie kann man in erster Linie eine Erkenntnis ziehen, dass die Aussagekraft der Fotografien sowohl von subjektiven Inszenierungsverfahren des Fotografen als auch von individuellen Wahrnehmungsprozessen des Betrachters abhängig ist. Wenn man auf rezeptionsästhetischer Ebene Medicus’ Umgang mit Fotografien im Hinblick auf das Barthessche ‚punctum‘ in Betracht zieht, lässt sich daraus schließen, dass es letztendlich der Betrachter ist, welcher die unhinterfragbare, unhintergehbare Wahrheit des Bildes endgültig festlegt. So verstanden, gehören Fotografien besonders in Bezug auf den narrativen Kontext zu jenen Bildern, die nach William J. T. Mitchell nicht lediglich „Spiegelungen der Welt“, sondern bereits „Weisen der Weltzeugung“¹¹⁴ darstellen. Fotografien stellen somit einen Vorrat an „visullen Inhalt[en] von Tärumen, Erinnerungen und der Wahrnehmung“¹¹⁵ zur Verfügung. Für In den Augen meines Großvaters ist der subjektive Blick auf die fotografierte Wirklichkeit ein sehr charakteristisches Verfahren, an dem sichtbar wird, dass die Deutung der Fotografie von dem Betrachter abhängig ist. Es geht weniger um historische Dokumentation im Dienst des Faktischen, als um eine emotional-motivational geprägte subjektive Aneignung der Vergangenheit durch die visuelle Wahrnehmung. Bei der Betrachtung der Fotografien imaginiert der Erzähler die Geschichte um den Großvater, die mit den zugrundeliegenden Fotografien nur noch

 Vgl. Roland Barthes: Die helle Kammer, S. 83: „Ich kann das PHOTO aus dem Wintergarten nicht zeigen. Es existiert ausschließlich für mich. Für Sie wäre es nichts als ein belangloses Photo, einer der tausend Manifestationen des absolut beliebigen ‚Gegenstands überhaupt‘; es kann auf keine Weise das sichtbare Objekt einer Wissenschaft darstellen; es kann keine Objektivität im positiven Sinn des Begriffs begründen; bestenfalls würde es für Ihr studium von Interesse sein: Epoche, Kleidung, Photogenität; doch verletzen würde es Sie nicht im mindesten.“  Vgl. William J. T. Mitchell: Das Leben der Bilder. Eine Theorie der visuellen Kultur, München 2008, S. 13.  Ebd., S. 18.

2.2 Thomas Medicus: In den Augen meines Großvaters

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lose verbunden ist. Marianne Hirsch argumentiert, dass Fotografien aufgrund ihrer fragmentarischen Qualität ein ideales Medium für postmemoriale Verfahren sind.¹¹⁶ Ihr zufolge verhelfen Fotografien den Nachkommen maßgeblich dazu, eine neue Verbindung zu den Vorfahren und der Vergangenheit herzustellen, indem sie die Existenz des Abgebildeten bezeugen, aber auch den unüberbrückbaren Abgrund und Unterschied zwischen Vergangenheit und Gegenwart sichtbar werden lassen: Photographs in their enduring ‘umbilical’ connection to life are precisely the medium connecting first- and second-generation remembrance, memory and postmemory. They are the leftovers, the fragmentary sources and building blocks, shot through with holes, of the work of postmemory. They affirm the past’s existence and, in their flat two-dimensionality, they signal unbridgeable distance.¹¹⁷

Es ist gerade diese fragmentarische Qualität der Fotografie, die den imaginativen Prozess in Gang setzt und postmemory schafft. Dieser Prozess hebt die Unterscheidung zwischen der dokumentarischen und der ästhetischen Qualität einer Fotografie auf. Nach Hirsch ist es precisely the utter conventionality of the domestic family picture that makes it impossible for us to comprehend how the person in the picture was, or could have been, annihilated. In both cases, the viewer fills in what the picture leaves out: the horror of looking is not necessarily in the image but in the story the viewer provides to fill in what has been omitted.¹¹⁸

Paradigmatisch für dieses postmemoriale Verfahren in In den Augen meines Großvaters ist der Umgang mit einem Gruppenfoto, das im Sommer 1944 während der Besatzungszeit in Italien aufgenommen wurde und auf dem der Generalmajor Wilhelm Crisolli, seine Adjutanten, zwei Männer in Zivil und die „größtenteils sehr jungen und verführerisch schönen Frauen“ (AG, 65) vor einer Villa abgebildet werden. Diese Fotografie wird zweimal im Text ekphrastisch beschrieben, allerdings nur einmal abgebildet. In der ersten Beschreibung, zu der das Foto noch nicht abgedruckt ist, liegt der Fokus der Erzählung auf der Vorstellung der abgebildeten Personen und dem Umstand der Stationierung des deutschen Generalmajors mit dem italienischen Namen in einer italienischen Villa, die in einem Park liegt, der seinerseits im Stil klassischer italienischer Gartenkunst angelegt ist. Den Großvater beschreibt der Erzähler folgendermaßen:

 Marianne Hirsch: Family Frames, S. 23.  Ebd. Hervorh. i. O.  Ebd, S. 21. Hervorh. i. O.

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[D]er todunglücklich dreinschauende Wilhelm Crisolli, der sich in den Arm, der jeweils neben ihm stehenden Frau untergehakt hat. Nicht die Herrinnen der Villa bei ihm, er sich bei ihnen. Der Generalmajor wirkt, als suche er Halt. (AG, 66)

Der Erzähler entwirft hier das Bild von dem Generalmajor, der so kriegsmüde geworden ist, dass er sogar Halt suchen muss – „jeder männlichen Form“ (AG, 76) beraubt. Ganz anders hundert Seiten später, als der Erzähler den Krieg als bukolischen Zustand zu begreifen sucht und die Beziehung zwischen Crisolli und den italienischen Frauen als „erotische Fraternisierung“ (AG, 185) in einer sommerlichen Atmosphäre darstellt: Als er sich bei seinen Gastgeberinnen unterhakte, versteinerte er. In dem Augenblick, in dem Platen auf den Auslöser drückte, wusste sich der Generalmajor nicht anders zu helfen, als sich gegen die ihn umringenden Körper, deren Wärme und Gerüche aufzubäumen. (AG, 185)

Die beiden Beschreibungen betreffen auf Haltung und Pose Crisollis auf ein und demselben Foto. Einmal wird er als ein Halt suchender, entmannter General beschrieben und dann ist er ein Besatzungsoffizier, der sich durch Versteinerung gegen die Erotik der Frauen des besetzten Landes aufbäumt. Weder ein Aufbäumen gegen Gerüche und Wärme der Frauen noch das Halt-Finden bei Frauen sind bei unvoreingenommener Betrachtung selbstverständliche Eindrücke bei der Beschreibung des Bildes. Entscheidend dabei ist, dass die Fotografie sowie Bildbeschreibungen keineswegs als Authentizitätssignale im Sinne einer mittels Fotografien bezeugten historischen Wirklichkeit fungiert. Die Spekulation über die auf dem Bild abgebildeten Figuren und Situationen geht hier unmerklich in eine fiktive Geschichte über, die weniger den möglichen historischen Kontext als die Imagination und Sehnsucht des Erzählers offenlegt. Von den Brookeschen arkadischen Kriegslandschaften inspiriert, projiziert der Erzähler in die Fotografie seine Vorstellung von der großväterlichen Kriegslandschaft, wonach er „auf vielen Irr- und Umwegen gesucht hatte“ (AG, 64) und in der sich der Krieg „in Licht und Erotik, Licht und Vergänglichkeit, Licht und Poesie auflöste“ (AG, 66). Die zunehmende Verdrängung der im Foto festgehaltenen historischen Momente durch imaginative Vorgänge zeigt sich auch in der Vervielfältigung der Erzählperspektive. Diese Interpretation des Fotos verweist auf den stark selektiven Wahrnehmungsprozess des Betrachters sowie darauf, dass jedes Foto erst durch die narrative Einbindung mit Sinn aufgeladen wird. Der interne Blick in die Gedanken und Gefühle des Großvaters zeigt, wie sehr sich die Wahrnehmung und Deutung ein und desselben Fotos selbst in einem neuen narrativen Kontext je nach der Erzählintention des Erzählers verändern kann. Die Fotografie scheint unter dem Deckmantel von „Emanation des

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Referenten“¹¹⁹ zu einer Erinnerungsstütze werden zu können, die Authentizitätswie Beglaubigungseffekte evoziert und somit die Fiktionalisierung der vermeintlichen Historie verschleiert. In der Bildrezeption des Erzählers bleibt der historische Kontext der Fotografie dagegen fast bedeutungslos. Der Umgang des Erzählers mit der Fotografie praktiziert genau das, was Susan Sontag in ihrem Essay über die Fotografie geschrieben hat¹²⁰: Eine Fotografie ist nur ein Fragment, dessen Vertäuung mit der Realität sich im Laufe der Zeit löst. Es driftet in eine gedämpft abstrakte Vergangenheit, in der es jede mögliche Interpretation (und auch jede Zuordnung zu anderen Fotos) erlaubt. Man könnte die Fotografie auch als Zitat bezeichnen […].¹²¹

Fotografien dienen bei der Erzählung Medicus’ weniger als indexikalische Referenz auf das Abgebildete als vielmehr als Projektionsfläche und Versatzstücke zur subjektiven Aneignung der Vergangenheit. Die Sichtweise der Fotografie als Evidenz des ‚Es-ist-so-gewesen‘ wie in Barthes’ Diktum, dass das Ereignis in der Fotografie „niemals über sich selbst“¹²² hinausweise, oder Jörn Glasenapps Feststellung, dass das Foto im Gegensatz zum Text als „abstraktions- und fiktionsunfähig“¹²³ gelte, wird damit augenfällig unterminiert. Dass Fotografien problematische Quellen für eine postmemoriale Untersuchung der Vergangenheit sein können, offenbart sich im Verhältnis des Erzählers zum sogenannten Rokoko-Foto. Es ist eine Fotografie, die Wilhelm Crisolli und einen seiner Untergebenen in dem idyllischen Garten einer italienischen Villa zeigt: Sosehr ich die Fotos früher gehaßt oder mißachtet hatte, sosehr schloß ich jetzt diese mir bukolisch erscheinende Gartenszene ins Herz. Vor allem der Melancholie ihrer lichtdurchfluteten träumerischen Unwirklichkeit wegen nannte ich die fotografische Impression das Rokoko-Foto. (AG, 68)

 Roland Barthes: Die helle Kammer, S. 90: „Die PHOTOGRAPHIE ist, wörtlich verstanden, eine Emanation des Referenten.Von einem realen Objekt, das einmal da war, sind Strahlen ausgegangen, die mich erreichen, der ich hier bin; […]; die Photographie des verschwundenen Wesens berührt mich wie das Licht eines Sterns.“ Hervorh. i. O.  Vgl. Ariane Eichenberg: Familie – Ich – Nation, S. 50: „Medicus’ Interpretationen zeigen genau das – dass der Zusammenhang zwischen dem referenziellen Objekt und dem auf dem Foto abgebildeten Objekt im Laufe der Zeit immer loser wird bis hin zu einer referenziellen Unlesbarkeit.“  Susan Sontag: Über Fotografie, S. 73.  Roland Barthes: Die helle Kammer, S. 12.  Jörn Glasenapp: Editorial. Licht/Schrift. Intermediale Grenzgänge zwischen Fotografie und Text, in: Fotogeschichte 28 (2008) H. 108, S. 3.

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Der Erzähler erwähnt eine Reihe von intertextuellen Assoziationen, die die imaginäre Qualität der Szene transportieren, und vergleicht das Bild mit der Vorstellung des „mythologische[n] Arkadien[s]“: „Wer hätte der Aura solch eines Bildes widerstehen können? Das Rokoko-Foto war das perfekte Erinnerungsbild“ (AG, 68 f.) Das Bild fängt also zwar die Fantasie des Erzählers ein, aber aus den falschen Gründen, nämlich wegen seiner ästhetischen Qualitäten, die einer „paradiesische[n] Entrückung“ (AG, 68) ähneln. Der Erzähler scheitert letztlich daran, die Grenzen des Ästhetischen und des Dokumentarischen aufrechtzuerhalten. Er betrachtet das Rokoko-Foto ausschließlich aus einer ästhetischen Perspektive. Die dokumentarischen Qualitäten des Fotos spiegeln sich nicht in seinem fantasievollen Ansatz wider. Die Atmosphäre eines toskanischen Sommernachmittages und die Ruhe der Landschaft verdecken den Kontext der historischen Realität, in der das Bild aufgenommen wurde. Folglich sind die Erinnerungen, die das Foto hervorruft, weit entfernt von den Schrecken des Krieges, in den der Wehrmachtsgeneral verstrickt ist, und sagen fast nichts über Crisollis Rolle in diesem historischen Kontext aus. Anne Fuchs weist darauf hin, dass Fotografie allgemein als Werkzeug für die Bildung des postmemory dort ethisch problematisch wird, wo sie als Gedächtnisikone im Sinne einer Fetischisierung begriffen und verwendet wird, die nur bestimmte Nachbilder produziert.¹²⁴ Eine naive, identifikatorische Rezeption der Fotografien birgt die Gefahr, dass die Grenzen zwischen sich Selbst und anderen sowie zwischen den auf den Fotos Abgebildeten und mentalen Nachbildern verwischt werden.¹²⁵ In der Schilderung des Rokoko-Fotos zeigt sich deutlich das Ergebnis der solchen naiven Bildwahrnehmung des Erzählers, der auf Distanz und Reflexion völlig verzichtet: Projektion und Idealisierung. Trotz seiner einseitig affektiven Betrachtung begreift der Erzähler das Rokoko-Foto zunächst als das perfekte Erinnerungsbild, das sich aus der unhintergehbaren Vergangenheit ableitet. Gleichzeitig merkt der Erzähler an, dass der auf dem Bild unsichtbare Krieg erst in der Nachkriegszeit sichtbar geworden ist. Die Tatsache, dass das Foto einfach nur da ist und nur eine Momentaufnahme der Realität bietet, ohne jegliche Form der

 Vgl. Anne Fuchs: Heimat and Territory in Thomas Medicus’s In den Augen meines Großvaters and Stephan Wackwitz’s Ein unsichtbares Land, S. 85: „His intense study of the photographs does, of course, not open the door to the past, rather it results in a titillating fetishization of images that give expression to the self ’s semi-conscious longing for a „Männerbund“ (men’s club) and the Prussian military tradition. […] The postmemorial story the grandson provides at this point does not just fill in the gaps of meaning that are inherent in portrait or group photographs, but it generates an overdetermined iconography that heightens his own role in the text. In this way, the narrative underlines the proximity between a postmemorial representation of the past and its fetishization.“  Vgl. dazu Silke Horstkotte: Nachbilder. Fotografie und Gedächtnis in der deutschen Gegenwartsliteratur, Köln 2009.

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kontextbezogenen Erzählung, die mit ihm verbunden ist, bereitet dem Erzähler fast unüberwindbare Schwierigkeiten.

2.2.3 Reise und Ortsgedächtnis Indem er die Kriegslandschaft durch die von der Kamera eingefangene Landschaft betrachtet, entdeckt er die Lücke zwischen ästhetischen Wahrnehmungen der Umgebung und einer verborgenen historischen Realität, die in diesen Bildern offensichtlich nicht vorhanden ist. Die Fotos selbst bieten nicht genügend Hintergrund, um eine Verbindung zur Vergangenheit seines Großvaters herzustellen. Die Dekonstruktion der Brookeschen pastoralen Fantasie geschieht im Zuge von zwei Reisen nach Italien. Der Erzähler beschließt, Crisollis Spuren zurückzuverfolgen und nach Italien zu reisen, um die letzten Monate des Lebens seines Großvaters zu rekonstruieren: Ich wollte den auf meinen Fotos unsichtbaren Krieg sichtbar machen und herausfinden, ob der Kiefernwald ein camouflierter Garten oder der Garten ein gut getarnter Kiefernwald war. Ich mußte selbst nach Italien fahren. (AG, 69)

So unternimmt der Erzähler die gleiche Reise, wie sie auch der Großvater unternahm: „In den folgenden Jahren reiste ich häufig in die Toskana […]. Um der größtmöglichen Authentizität und Erfahrung willen wäre ich am liebsten selbst dreieinhalb Monate lang an jeden der drei Orte gereist, die mir die Fotos der Zeitkapsel zeigten.“ (AG, 71) Die erste Reise des Erzählers nach Italien ist jedoch eine Enttäuschung, denn er hat seine sämtlichen Unterlagen und Fotografien, die er vor der Reise vorbereitet hat, zu Hause vergessen. Er ist einer Reihe von „Selbsttäuschungen“ (AG, 82) ausgesetzt, die auf seine fortlaufende Projektion von Nachbildern und Erwartungen in die Umgebung zurückzuführen sind. Der Grund für den Misserfolg der ersten Reise liegt wohl darin, dass der Erzähler nicht auf die epistemologische Kluft zwischen seiner auf visuellen Medien und Imaginationen beruhenden, inneren Landschaft und ihrer wirklichen Äquivalenz geachtet hat: „Ich fand nichts, was mit meinen Fotos zu tun gehabt und an meinen Großvater erinnert hätte.“ (AG, 81) Seine zweite Reise in die Toskana ist etwas erfolgreicher. Ausgestattet mit den Fotos und besseren Hintergrundinformationen gelingt es ihm unter anderem, die auf dem Rokoko-Foto abgebildete Renaissance-Villa, die seit dem 16. Jahrhundert in Familienbesitz ist, zu finden. Sein junger Besitzer identifiziert den Garten auf dem Foto, und die Suche gipfelt in einer Entdeckung der idyllischen Szene des RokokoFotos: „Wir sprangen wenige Stufen hinauf in den Garten und liefen direkt in die

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Fotografie hinein.“ (AG, 84) Dem Erzähler ist die imaginäre Qualität des RokokoFotos immer noch nicht bewusst. In seinen Augen bestätigt die ästhetische Qualität des realen Gartens in der Gegenwart die Beweiskraft der stilisierten Schärfe der Schwarz-Weiß Fotografie: Das Rokoko-Foto dokumentierte schwarz auf weiß, daß der in den Anblick des Apenninpanoramas vertiefte Wilhelm Crisolli am selben Fleck gesessen hatte, an dem ich in diesem Augenblick saß. Ich zweifelte nicht daran, daß das Rokoko-Foto die Ikone bleiben würde, […]. (AG, 84)

Die magische Kraft des Ortsgedächtnisses scheint hier aktiviert zu werden. Die Landschaft bezeugt „unmittelbare Gegenwart“ (AG, 74) des Großvaters, als habe er sich in die Landschaft eingeschrieben. Anstelle des historischen Schulddiskurses vertieft sich der Erzähler in die italienische Gartenkultur und spekuliert über die Wirkung der sorgsam komponierten Gartenästhetik der besetzten Renaissance-Villa auf den deutschen Generalmajor: „Gerade der Garten mußte den Krieg für meinen Großvater zu einer erst recht unerträglichen Last gemacht haben.“ (AG, 76) Trotz seines erfolgreichen Fundes fällt es dem Erzähler offensichtlich schwer, die sanfte, bukolische Landschaft mit der brutalen Kriegsrealität zu verbinden, die sein Großvater erlebt hatte. Sowohl die ästhetischen Qualitäten der Fotografien als auch „Harmonie und Glückseligkeit“ (AG, 73) des italienischen Gartens assoziieren sich nicht mit der Vermutung, dass ein deutscher Offizier mit dem italienischen Namen an Repressalien gegen italienische Zivilbevölkerung beteiligt war: „Keine Repressalien in Arkadien.“ (AG, 86) Die Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg bleiben sowohl in den Fotografien als auch in der realen Landschaft verborgen. Damit wird die Methodik des Erzählers infrage gestellt. Sie führt zu einer ästhetischen Darstellung der Vergangenheit seines Großvaters, die diese Vergangenheit noch weiter von der historischen Realität des Krieges entfernt, nicht zuletzt von der Frage nach der möglichen Verwicklung des Großvaters in die Kriegsverbrechen. Der Erzähler bemüht sich um eine mimetische Rekonstruktion der Ereignisse von 1944. Betroffen von der starken Wirkung der ländlichen Umgebung versucht er beispielsweise, die Ereignisse nachzuspielen und übernimmt eine imaginäre Partisanenoptik bei einem Spaziergang über die Berge. Im Zuge dessen wird die arkadische Landschaft Schritt für Schritt als „Landschaft des Verrates“ (AG, 105) enthüllt. Sein Misstrauen wird schließlich geweckt, als weitere Untersuchungen, darunter verschiedene Gespräche mit Augenzeugen der Ereignisse von 1944, eine Reihe von Widersprüchen zeigen. Manche kennen die Geschichte aus den Erzählungen der Familienangehörigen, manche behaupten sogar, sie hätten das Geschehene miterlebt. Je näher er seinem Großvater bei der Rekonstruktion des Ereignisses kommt, desto rätselhafter und unglaubwürdiger sind die Auskünfte.

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Beispielsweise erscheint ihm die Erinnerung des italienischen Eigentümers der Villa als eher unwahrscheinlich, dass Partisanen zwar am Ende des Krieges einen deutschen Offizier erschossen, aber keine Repressalien gegen die italienische Bevölkerung von Seiten der Deutschen erfolgten. Er reflektiert, dass diese märchenhafte Geschichte eine Deckerinnerung sein muss, bei der es sich weniger um das tatsächlich Geschehene als vielmehr um die Hoffnung der italienischen Zivilbevölkerung im Sommer 1944 handelt, „vor Repressalien durch die Okkupanten verschont zu bleiben“ (AG, 104). Der Erzähler erkennt nun, dass er von „Legende[n], Gerüchte[n] und Halbwahrheiten“ (AG, 102) gefangen genommen wurde. Nachdem er sowohl den Ort der Gartenszene als auch den Ort der Ermordung besucht hat, muss der Erzähler „[d]ie Aura des Rokoko-Fotos“ (AG, 110) aufgeben: „Militärische Überlegungen oder historische Fakten verschwanden jedoch hinter der Unwirklichkeit, die mich hier umfing.“ (AG, 109) Die durch Fotografien und Landschaft angeregte visuelle bzw. leibliche Annäherung an die Vergangenheit wird hier in ihrer Unzulänglichkeit als verlässliche Methode der historischen Forschung ausgestellt: „Mein Verfahren, Vergangenheit durch die Unmittelbarkeit der visuellen Erfahrung zu erschließen, hatte ausgedient.“ (AG, 110)

2.2.4 Historie im Spannungsfeld von Fakten und Fiktionen Die beiden Reisen zu den historischen Orten der Ereignisse von 1944 zeigen, dass die Rekonstruktion der Geschichte durch visuelle Medien den Zugang zu einer zutiefst beunruhigenden historischen Realität verhindert. Um die Ereignisse der Vergangenheit aufzudecken, muss der Erzähler seine Methode ändern. Sein neuer Ansatz ist eine traditionelle historische Forschungsmethode, die ihm eine kritische Perspektive auf die Vergangenheit seines Großvaters ermöglicht. Die Zeitlosigkeit der Landschaftsbilder wird durch eine historische Perspektive ersetzt, die die Spuren des Zweiten Weltkrieges sichtbar macht. Im zweiten Kapitel „Garten der Frauen, Wald der Männer“ verortet er seine Familienmitglieder an historischen Schauplätzen. Aufgrund der großen Lücke des Familiengedächtnisses und des Fehlens von handschriftlichem Quellenmaterial aus dem Besitz des Großvaters muss er für die Rekonstruktion der Familiengeschichte vor seiner Geburt auf literarisch-fiktionale Techniken zurückgreifen: „Wo die empirischen Fakten nicht ausreichten, vertraute ich mich literarischen Einbildungskräften an.“ (AG, 235) Auf einer Vielzahl von Erinnerungsspuren, empirischen Fakten und fiktionaler Fantasie basierend, sucht er im Wechsel von Nullfokalisierung und interner Fokalisierung sowie mittels der erlebten Rede ein möglichst

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2 Heimat, Tradition und Identität im familiären Chronotopos

plastisches Bild des Innenlebens seiner Familienmitglieder im Stil von historischem Roman zu erzeugen.¹²⁶ Er kehrt zur Heimat seiner Familie in Ostpreußen zurück. Umgeben von Hinterlassenschaften der preußisch-protestantischen Kultur, nimmt er den Ort nun als territorialen Raum wahr: „Am Ende des Zweiten Weltkrieges waren sie umkämpft, verteidigt, fast komplett zerstört worden.“ (AG, 47) Der Erzähler stellt seinen Großvater in die preußisch-wilhelminische Militärtradition und schafft damit ein historisch kontextualisiertes postmemory an seinen Großvater: „Bei den Crisollis waren Luthertum, Preußentum und Soldatentum beispielhaft miteinander verschmolzen.“ (AG, 141) Crisollis Heirat mit Annemarie veranschaulicht die Verbindung von preußischem Soldaten und pommerschem Adel und stellt die Familie politisch in die Nähe der völkisch-nationalistischen Ideologie. Dabei stattet der Erzähler den Großvater mit historisch beschränkten Bewusstseinszuständen aus und beschreibt dessen Haltung als die im historischen Erfahrungskontext üblichen Reaktionen und Denkweisen. Was seine Persönlichkeit und politische Einstellung betrifft, gibt der Erzähler in direkter Rede die Erinnerung der Gräfin Johanna, einer Cousine mütterlicherseits, wieder: Den Nazis, das konnte man […] seinem ganzen Verhalten entnehmen, hat er mit einer ganz tiefen, inneren Ablehnung gegenübergestanden. Er war sehr streng, auch seiner Tochter gegenüber, aber hinter diese Strenge verbarg sich eine große Menschlichkeit. Er war von Kopf bis Fuß ein Preuße, auch in Zivil. (AG, 214)

Als Wilhelm Crisolli und Annemarie Rosetzki in den 1920er Jahren heirateten, glaubten sie, dass die Abgeschiedenheit von den Ereignissen der Weimarer Republik und die ländlichen Strukturen von Hinterpommern die Niederlage von 1918 wirklich auslöschen könnten. Für alle Familienmitglieder war es ein Teil des verlorenen Reiches. Doch der Untergang des Dritten Reiches bedeutet auch den Untergang von Crisolli und des ostpreußischen Paradieses seiner Familie. Crisolli wird 1944 bei einem Partisanenangriff getötet, und gleichzeitig müssen die weiblichen Familienmitglieder ihre Heimat in Ostpreußen verlassen, um vor den herannahenden Russen zu fliehen. Durch die leibliche Erfahrung des geografischen Raumes erkennt der Erzähler die geschlechtsspezifische Natur seiner inneren Landschaft: „Ich hatte etwas wiedererkannt. Ich war hier zu Hause. Die Landschaft hüllte das Haus, das Haus hüllte mich ein.“ (AG, 46) In seinen Erinnerungen ist Pommern ein Repräsentationsraum, der hauptsächlich von den weiblichen Familienmitgliedern besetzt, durch sie vermittelt und über die Einbildungskraft des Erzählers gestaltet wurde. Nach dem  Vgl. Mathias Brandstädter: Folgeschäden, S. 232– 241.

2.2 Thomas Medicus: In den Augen meines Großvaters

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Krieg nahmen sie nicht an den Aktivitäten der Vertriebenenorganisationen teil. Dennoch projizierte die Großmutter die Sehnsucht nach der verlorenen Heimat auf ihren Enkel, der für diese Erinnerungen ein unbewusstes Medium wurde. Der Erzähler begreift seine eigenen Fantasien über die arkadischen Kiefernwälder als transgenerationale Weitergabe der Erinnerung der Großmutter an den pommerschen Garten: Das hinterpommersche Haus begann den inneren Osten meiner Familie nach außen [zu] stülpen. […] Richtung Osten, […], erstreckten sich karge Sandböden und dunkle Kiefernwälder. Ich war im Land der großen Mütter angekommen, wo sie bis zum Frühjahr 1945 gelebt hatten, im Ursprungsland ihrer Erinnerungen und Erinnerungsbilder. Ich war lange ihr Medium gewesen, war es vielleicht immer noch. Jetzt sah ich, woran sie sich still erinnert hatten. (AG, 50)

Aus historiografischer Perspektive bezieht sich die Reise des Erzählers in den von Erinnerungen weiblicher Familienmitglieder besetzten ehemaligen deutschen Osten auch auf ihre historischen Erfahrungen von „Heimatlosigkeit, Flucht und Vertreibung“ (AG, 49). Einfühlsam erzählt der Erzähler von der Flucht seiner Familie über die gefährliche Ostsee und ihren erbärmlichen Lebensverhältnissen in den ersten Jahren der Bundesrepublik. Dabei kontextualisiert er seine Familiengeschichte deutlich innerhalb des deutschen Opferdiskurses, den er mit der Fokussierung auf die Leiden seiner Mutter und Großmutter, die im wörtlichen Sinne alles verloren haben, zu bestätigen scheint. An dieser Stelle nimmt der Erzähler die Perspektive seiner Mutter, Heidemarie, an und zeigt, wie das Ende des Krieges ihre Lebenseinstellung „ohne Vater, Villa und Heimat“ (AG, 164) weiter prägte. Obwohl sich Heidemarie schnell an die Anforderungen der aufstrebenden Nachkriegsordnung anpasst, hält sie an ihren pommerschen alten Werten fest und etabliert „Flüchtlingskultur“ (AG, 171) im fränkischen Familienleben. Die Statusangst des östlichen Flüchtlings, der die pommersche Kindheit nachahmen will, wird jetzt durch die Anhäufung von Eigentum und den Lebensstil der mittleren Klassen der 1950er Jahre gemildert. Im Gegensatz zu der Großmutter, die auf einem pommerschen Lebensstil bis zu ihrem Tod besteht, schafft es die Mutter schließlich, mit der Vergangenheit zu brechen. Nach dem Selbstmord ihres Mannes verkauft sie den fränkischen Besitz und zieht nach München, wo sie eine neue Karriere beginnt. Die Großmutter betrachtet Pommern nach wie vor als einen idealisierten Raum, in dem sie eine quasi-aristokratische Existenz führen konnte, die bis 1945 von den politischen Ereignissen der turbulenten Weimarer Zeit, dem Aufstieg Hitlers und dem Krieg völlig unberührt geblieben war: „Preußen war hier nie verloren gewesen.“ (AG, 221) In ähnlicher Weise spricht Tante Johanna über den Krieg in Form eines „sentimentalen Roman[s]“ (AG, 217), der von attraktiven preußischen Offizieren bevölkert wird, die das wilhelminische Männlichkeitsideal von Disziplin, Pflichtgefühl und Selbstaufgabe für das Vaterland verkörpern. Für Johanna wie die

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2 Heimat, Tradition und Identität im familiären Chronotopos

Großmutter sind „Männer, Liebe und Krieg“ unmittelbar miteinander verwoben und ihre „Liebesgeschichte“ (AG, 215) endet mit der militärischen Niederlage der Deutschen. Die Beschreibung der geschlechtsspezifischen Erfahrungen des Kriegsendes und der Nachkriegszeit verlagert den Schwerpunkt von der arkadischen Verbildlichung der Vergangenheit hin zu einer historisch-psychologischen Perspektive auf die langfristigen Auswirkungen der beiden Weltkriege auf die jeweilige Generation und das jeweilige Geschlecht. Nachdem der Erzähler den sozio-historischen Hintergrund und die Leidensgeschichte seiner Familie rekonstruiert hat, widmet er sich schlussendlich der Untersuchung der Ereignisse rund um das Attentat seines Großvaters im Jahr 1944. Er bettet die militärischen Züge seines Großvaters in die Umstände und Zustände des Kriegsendes ein. Die Hinwendung des Erzählers zu einer traditionellen Methode der Bearbeitung von Vergangenheit umfasst ausführliche Archivrecherchen, Interviews mit Augenzeugen und Konsultationen mit Militärhistorikern. In diesem Prozess verwandelt sich die Region Apennin von einem getarnten Garten in einen militärischen Kampfplatz, in dem die auf dem Rückzug befindliche deutsche Armee Kriegsverbrechen gegen die Zivilbevölkerung begangen hat. Nach der Landung der alliierten Streitkräfte in der Normandie am 6. Juni 1944 und dem Vormarsch der russischen Armee in Richtung Berlin aus dem Osten nahmen die Partisanenaktivitäten in Italien zu. Der Großvater befehligte die 20. Luftwaffen-Felddivision, die Küstenlinien zu verteidigen und die sogenannte Grüne Linie gegen Partisanenangriffe zu sichern. Am 24. Juli verhaftete die SS einen lokalen Priester und zwei Frauen, die wegen der Unterstützung der Partisanenaktivitäten angeklagt wurden. Sie wurden drei Tage später unter dem Kommando der Abteilung Crisollis erschossen. Da nach dem Krieg einige Vorgesetzte von Crisolli wegen Kriegsverbrechen gegen die Zivilbevölkerung angeklagt und verurteilt wurden, hat die Familie gefürchtet, dass auch Crisolli in diese Gräueltaten verwickelt und seine Ermordung ein direkter Vergeltungsschlag der italienischen Partisanen war. Aus Angst vor der Aufdeckung der Schuld wurde Crisolli aus dem Familiengedächtnis komplett gelöscht. Als der Erzähler nach der umfassenden Untersuchung schließlich eine Kopie der einschlägigen Unterlagen des Kriegsverbrechensamtes in den Vereinigten Staaten erhält, kann er nun sicher feststellen, dass der Großvater tatsächlich für die Hinrichtung des Priesters und der beiden Frauen verantwortlich war. Einige der italienischen Augenzeugen halten jedoch Fürsprache für Wilhelm Crisolli. Laut den Augenzeugen drückte der Generalmajor bei Einheimischen „dann und wann ein Auge zu“ und ließ Beschuldigte bei kleineren Vergehen „ungestraft davonkommen“ (AG, 197). Sie sagen, der Commandante habe sich „höflich und korrekt“ (AG, 197) verhalten. Die den Großvater entlastenden Zeugenaussagen werden in vermeintlich authentischer direkter Rede zitiert: „Nein, der Commandante war nicht schlimm.

2.2 Thomas Medicus: In den Augen meines Großvaters

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Schlimm wurde es erst, als die SS kam. Alle in Nocchi waren traurig, als der Commandante Crisolli weggegangen ist.“ (AG, 95) Trotz der den Großvater entlastenden Zeugenaussagen und einiger Beweise dafür, dass bis auf eine, alle Gräueltaten der ebenfalls in der Villa stationierten SS zugerechnet wurden, kommt der Erzähler zu dem Schluss, dass es in diesem speziellen Fall wenig zur Verteidigung seines Großvaters zu sagen gibt, denn „die Erschießung von Nocchi sprach von einem spezifischen Vernichtungswillen, dessen Unbarmherzigkeit mich nicht an willkürliche Opfer glauben ließ“ (AG, 240). Zu dieser demonstrativen Aussage stehen jedoch die die Umstände des Falls in Nocchi flankierenden Spekulationen des Erzählers im Widerspruch. Aus seinen auf historischen Quellen und eigenen Vermutungen beruhenden Stellungnahmen lässt sich schließen, dass die einzig nachweisbare Tat von Wilhelm Crisolli erstens von einem „unpolitisch dünkenden Offizier[] alter Schule“ angeordnet worden ist, dessen Tätigkeit „dabei größtenteils bürokratischer Natur“ (AG, 189) war und der darüber hinaus „angeblich dem Führer und der Partei voller Abneigung gegenübergestanden“ (AG, 194) hat, zweitens im Vergleich zu den von deutschem Militär an italienischen Zivilisten begangenen Gewalttaten „kein bedeutendes Ereignis“ (AG, 195) war, und drittens vom Standpunkt des „damaligen Völkerrechts“ (AG, 244) nicht als Kriegsverbrechen gewertet werden kann. Damit wird ein Bild von Wilhelm Crisolli als „vergleichsweise anständig geblieben[em]“ (AG, 239) Täter suggeriert. Der Mythos der ‚sauberen Wehrmacht‘ wird wiederbelebt. Schließlich billigt der Erzähler auch Wilhelm Crisolli einen Opferstatus zu, dessen Züge sich im postmemory des Enkels von denen der zuvor unter seiner Anordnung Hingerichteten nicht mehr unterscheiden: Wilhelm Crisollis Schicksal besaß jedoch seine eigenen Tücken, Täterschaft und Opferschicksal waren in seinem Fall derart dicht miteinander verwoben, daß sich für seine Familie nicht ohne weiteres Orientierung ergab und sich vielleicht auch gar nicht hatte ergeben können. Manchmal überblendet sich in meiner Vorstellung die Erschießung von Nocchi mit dem Überfall bei Olivaci. Erst sah ich den Pater und die beiden Frauen in grotesken Verrenkungen, dann meinen Großvater blutbeströmt zusammenbrechen. (AG, 243)

Der Erzähler projiziert über das Bild der Opfer das Bild der Täter. Hier schwingt eine latente Tendenz zur Aufrechnung mit. Der Modus der im Verlauf der Erzählung zunehmenden konjunktivistischen Aussagen des Erzählers zeigt, dass sein Blickwinkel deutlich von der Identifikation mit dem Großvater und somit parteiisch bestimmt ist. Das Resultat dieses von der distanzlosen Identifikation mit dem Großvater geprägten Narrativs ist, wie Helmut Schmitz zu Recht feststellt, „dass die preußische Militärtradition letztendlich vom historischen Kontext und Geruch der

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Nähe zum Nationalsozialismus befreit wird“¹²⁷. Ferner führt der Erzähler zugunsten des Großvaters auch einige Gerüchte an, die der Stilisierung des Großvaters zum aufrichtigen preußischen Offizier dienen: Nicht völlig aus der Luft gegriffen war, daß Wilhelm Crisolli darum gebeten haben soll, auf Repressalien zu verzichten. […] Möglicherweise hielt der Generalmajor bis zum letzten Atemzug daran fest, Reguläres zu ehren und Irreguläres zu bestrafen. (AG, 208)

Dies kann als sein innerer Konflikt zwischen historischen Fakten und familiärer Royalität gedeutet werden. So ist der Erzähler hin- und hergerissen zwischen einer sentimentalen Empathie für seinen aus dem Familiengedächtnis gelöschten Großvater und der Hoffnung, dass er letztlich ein ehrenhafter Mann bleibt, und einem obligatorischen kritischen Bewusstsein, das auf den wenigen historischen Beweisen beruht, die er bei seinen Untersuchungen findet. Letztlich bleibt die Schuldfrage in der postmemorialen Untersuchung des Erzählers ungeklärt. Das heißt allerdings nicht, dass der Erzähler an der Annäherung an den Großvater gescheitert ist. Im Gegenteil: „Niemand konnte mit Willelm Crisolli vertrauter sein, als ich [der Erzähler] es war.“ (AG, 235) Wichtig war ihm von Anfang an, die Aufklärung über den Großvater, die Herkunft und sich selbst zu verschaffen, indem man das Vergessene wieder ins Bewusstsein ruft. In dieser Hinsicht ist ihm die selbst auferlegte Aufgabe gelungen: „Das Geheimnis war gelüftet, die Nachkriegszeit zu Ende, Italien aus dem Nebel des familiären Gedächtnisses ins Bewußtsein zurückgekehrt.“ (AG, 239)

2.2.5 Quellenkritik auf metahistoriografischer Ebene Am Ende des Buches thematisiert Medicus seinen inneren Konflikt und die Schwierigkeiten, sich der Geschichte des unheimlichen Großvaters als des hochrangigen Mitglieds von Hitlers Armee und möglichen Täters anzunähern und dabei eine unbefangene Haltung zu ihm einzunehmen bzw. zu behalten: Der innere Widerstand war die Herausforderung, die ich brauchte, um dem Familiengeheimnis auf die Spur zu kommen. Weder wollte ich der Ankläger noch der Verteidiger meines Großvaters sein, geschweige denn sein Richter. […] Die einzige Rolle, die ich mir zutraute, war die des Ermittlers, des Ermittlers in fremder wie zugleich eigener Sache. (AG, 237)

Moralischen Positionierungen verweigert sich Medicus ebenso wie einer eindeutigen Antwort auf die Frage der (Mit‐)Verantwortung des Großvaters für die Untaten

 Helmut Schmitz: Annäherung an die Generation der Großväter, S. 256.

2.2 Thomas Medicus: In den Augen meines Großvaters

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des Dritten Reiches, denn seine Ermittlung trifft, wie er zugibt, „auf keinen archimedischen Punkt […], aus dem sich politisch-moralische, geschweige denn politischideologische Notwendigkeiten ergeben hätten“ (AG, 243). Medicus wendet sich nun einer metakritischen Analyse seiner eigenen postmemorialen Untersuchung zu und unterzieht die verschiedenen historiografischen Methoden für die Aneignung der Familiengeschichte einer abschließenden Bewertung. Er weist darauf hin, dass alle erinnerungsstützenden Medien, die während seiner Ermittlungen verwendet wurden, inhärente Einschränkungen aufweisen und durch Unzuverlässigkeit gekennzeichnet sind. Die Fotografien stellen nur einen bruchstückhaften Blick auf die Vergangenheit seines Großvaters dar und können die Leerstellen im Familiengedächtnis nicht auffüllen, während die Aussagen der Augenzeugen aufgrund der durch die zeitliche Distanz bedingten Unzuverlässigkeit und Subjektivität von autobiografischen Erinnerungen gleichermaßen fiktiv sind. Die Betrachtung von Landschaften, deren Anziehungskraft die ursprüngliche Untersuchung auslöste, und die Erfahrung des Raumes lassen die apokalyptische Vorstellung von brutaler Kriegsrealität in die akzeptable und ästhetisierte Version idyllisch-exotischer Kriegslandschaften verwandeln. Der Wechsel von der visuellen und eher intuitiven Betrachtung zur kontextorientierten Auseinandersetzung mit den historischen Materialien ermöglicht es Medicus, die Landschaft schließlich als einen geografischen Raum einer historisch umkämpften Umgebung zu betrachten. Aus all den Methoden der Rekonstruktion der Vergangenheit zieht Medicus folgende Schlussfolgerungen: Sowohl die sprachlich erinnerte als auch die fotografierte sechzig Jahre zurückliegende Realität eröffnete einen von Fakten, Fiktionen, Legenden, Mythen und Gerüchten erfüllten vielstimmigen Raum, in dem das Wahrscheinliche gegenüber dem Unwahrscheinlichen abzuwägen eine meiner Hauptsorgen war. (AG, 245)

Wie das für Medicus’ Rekonstruktion der Vergangenheit zentrale Medium Fotografie keineswegs Dokument und Abdruck des Realen, sondern Objekt des bewussten Bild-Text-Arrangements durch den Erzähler ist, so erweist sich bei Medicus jede Version der Vergangenheit als Ergebnis der höchst subjektiven Deutungsverfahren. Medicus bilanziert, dass eine klare Unterscheidung zwischen objektiven Fakten und subjektiv imaginierten Fiktionen nun nicht mehr möglich ist: „Eine Trennschärfe zwischen Fakten und Fiktionen konnte ich weder in einem noch im anderen Fall feststellen.“ (AG, 224) Damit wirbt er implizit für das Verständnis von Geschichte, die nur unvollständig überliefert wird und allenfalls einen subjektiv gefärbten Ausschnitt dessen, was wirklich war, liefert: Die Geschichte ist lediglich als fiktionsbildendes, weil narratives Verfahren durch die Interpretation des Geschichtsschreibenden begreifbar. Medicus setzt sich damit für eine eindeutige

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2 Heimat, Tradition und Identität im familiären Chronotopos

Aufwertung der erinnerungstheoretischen Perspektive in der Historiografie ein, die darauf besteht, dass jede Form der historischen Erkenntnis keine schlichte Vergegenwärtigung des Vergangenen, sondern ein aus dem individuellen Erinnerungsprozess hervorgehendes, narratives Konstrukt ist. Mit anderen Worten, wir haben hier ein Beispiel für die Art von Erinnerungsliteratur, die die Kluft zwischen familiärem und kollektivem Gedächtnis dadurch zu überbrücken sucht, einen Erinnerungsdiskurs zu schaffen, der die konstruierte und perspektivgebundene Natur der Geschichtsschreibung in den Vordergrund rückt und somit die Grenzen zwischen privater und öffentlicher Erinnerung ins Unkenntliche verschwimmen lässt. Verbindliche Formen des kollektiven Gedächtnisses und die Geschichte im Sinne der Historie werden in In den Augen meines Großvaters durch eine zunehmend imaginative Aneignung der Vergangenheit ausgehöhlt. Medicus’ Schlussfolgerung betrifft daher nicht so sehr die angeblichen Gewalttaten des Großvaters oder seine Todesumstände und deren Bedeutung an sich, sondern vielmehr seine eigene Haltung gegenüber diesen Geschehnissen: „Aber wie sah die ethische Handlungsleitung aus, die für mich daraus folgte?“ (AG, 244) Diese Frage scheint sich provozierend gegen die 68er-Generation und ihren Umgang mit der (Groß‐)Elterngeneration zu richten, der seiner Auffassung nach zum Bruch mit den Ahnen und den Traditionen geführt hat. Somit scheint es sich hier eher um eine rhetorische Frage zu handeln, denn anstatt über jegliche ethischen Entscheidungen und gesellschaftlich-politischen Konsequenzen der Geschichte des Großvaters für sich selbst als die nachfolgende Generation nachzudenken, setzt er unmittelbar zur Überlegung über die Unmöglichkeit und Absurdität des Austretens aus der familiären Genealogie an. Trotz der „Gewißheit über die Täterschaft“ (AG, 239), räumt Medicus ein, sei der Bruch und Abschied von seinem Großvater, so umstritten seine Taten auch gewesen sein mögen, nicht etwas, zu dem er fähig ist: „Von seiner Familie kann niemand davonlaufen. Man kann nur im Guten wie im Bösen mit ihr leben, viel mehr war nicht möglich.“ (AG, 243) An dieser Stelle vergleicht er sich mit Alfred Andersch und will seine Familienerzählung als eine Art Gegenmodell von „Andersch’ triumphale[m] Erzählmodell“ (AG, 243) verstanden wissen. Auf Alfred Andersch, der dem Regiment Crisollis in Dänemark zugeteilt worden war, dann aber wenige Tage nach seiner Ankunft im italienischen Einsatzgebiet erfolgreich desertierte und die Erfahrung der Fahnenflucht später in seiner autobiografischen Erzählung Die Kirschen der Freiheit literarisch verarbeitete, reagiert Medicus mit „blank[em] Unverständnis“¹²⁸ und sogar Ächtung, die sich auf die aus preußischem Geist als Verantwortungslosigkeit und purer Egoismus geltende Desertion bezieht:

 Mathias Brandstädter: Folgeschäden, S. 242.

2.2 Thomas Medicus: In den Augen meines Großvaters

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Umso stärker irritierte mich Andersch’ negatives Heldentum. […] Andersch’ Fahnenflucht mochte dem Zeitgeist der frühen Bundesrepublik widersprochen haben, de facto war sie jedoch weit weniger heroisch, als man damals glaubte. Am meisten befremdete mich, daß Andersch dieser Tat wegen glaubte, aus seiner Familiengeschichte wie der Genealogie der Täter ausgetreten und fortan moralisch salviert zu sein. (AG, 242, Hervorh. i. O.)

Medicus’ unverkennbar negative und zynische Stellungnahme zu Andersch’ Fahnenflucht scheint seine Sehnsucht nach jener preußischen Tradition zu spiegeln, die Ordnung und Disziplin voranstellt bzw. verheißt, vermeintlich herrührend aus einer längst vergangenen Epoche, bevor neue politische Herrschaftsformen eigene Versuche der Aneignung versucht haben.¹²⁹ Karin Beindorff sieht in dieser Abwertung von Andersch Medicus’ Proklamation des gekippten erinnerungskulturellen Klimas am Werke.¹³⁰ Sie attestiert Medicus’ Roman die Tendenz zu „Verklärung und Entschuldigung“¹³¹. Viel schärfere Kritik kommt von Hannes Heer, der Medicus als „Lohnschreiber – für die eigene Familie und im Dienst des Zeitgeistes“ abtut und Medicus’ Unbehagen in Bezug auf Andersch’ Desertion als die von der Abwehrhaltung stammende „ganze Wut“ des „an die Familie gekettete[n] Enkel[s]“¹³² lächerlich macht. „Was Thomas Medicus liefert“, so Hannes Heer, sei „Rechtfertigungsliteratur“¹³³. Die Urteile von Heer und Beindorff werden von anderen Rezensenten und Literaturwissenschaftlern geteilt.¹³⁴ In der Tat lesen sich der hohe

 Vgl. Helmut Schmitz: Annäherung an die Generation der Großväter, S. 257: „Preußische Tradition taucht in Medicus Familienroman durchweg im Gewand nicht korrumpierter Bestände auf, der ‚überzeitliche moralische Geltungsanspruch‘ der ‚Traditionsgebundenheit‘ preußischen Herrenmenschentums bleibt selbst in seinem historisch ambivalenten Kontext unangetastet.“  Karin Beindorff: Thomas Medicus: In den Augen meines Großvaters, in: Deutschlandfunk, 17.05. 2004. Online unter https://www.deutschlandfunk.de/thomas-medicus-in-den-augen-meines-grossva ters-100.html, zuletzt abgerufen am 03.11. 2022: „Medicus bedient den Zeitgeist. Wie in den Nachkriegsjahren werden die militärischen Mitläufer aus Vollstreckern zu Verführten, angehaucht von preußischer Patina. Widerstand dagegen, sofern er nicht zum 20. Juli gehörte, trägt das Stigma der persönlichen Vorteilsnahme, ist eigentlich Verrat. ‚Moralisch salviert‘ wird am Ende dieser MedicusFamiliendichtung nur der mythisch beschworene Ahn, die Bilder der Toten vermischen sich im Kopf des Enkels zu einer entlastenden Melange.“  Ebd.  Hannes Heer: „Hitler war’s“, S. 220 f.  Ebd., S. 220: „Statt die öffentliche Rolle des militärischen Befehlshabers und wahrscheinlichen Kriegsverbrechers an der Ostfront wie in Italien zu rekonstuieren, präsentiert er den intimen und fiktiven Dialog zwischen dem anteilnehmenden Enkel und dem zu früh verstorbenen Großvater. Er wiederholt damit das, was Millionen Deutsche nach dem Krieg mit ihren aus dem Krieg und von den Verbrechen heimgekehrten Angehörigen getan haben.“  Vgl. Bernd Hesslein: Thomas Medicus: Pardon für den General, in: Die Zeit, 25.03. 2004. Online unter https://www.zeit.de/2004/14/P-Medicus, zuletzt abgerufen am 03.11. 2022; Susanne Fröhlich: Pardon in eigener Sache. Thomas Medicus und sein Großvater, in: Neue Zürcher Zeitung, 03.06. 2004;

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Grad an emotionaler Beteiligung und die fehlende Distanz zwischen Erzähler und Großvater in zahlreichen Textstellen als deutliches Indiz für eine apologetische Erzählung, die „von einem intergenerationellen Solidaritätsbündnis“¹³⁵ gesteuert wird. Medicus scheint alles andere als ein zuverlässiger Ermittler mit der behaupteten unparteiischen, neutralen Haltung zu sein. Diesen Eindruck unterstützen schließlich seine zynische, wenn nicht feindselige Einstellung gegenüber der 68erGeneration und seine Kritik an den Vaterbüchern. Unter Berufung auf das Beispiel eines italienischen Wissenschaftlers, der, nachdem er angefangen hatte, die Geschichte seines eigenen Großvaters zu erforschen, so von diesem besessen wurde, dass er das Leben in der Gegenwart aus den Augen verloren hat, schließt Medicus sein Familienbuch mit folgendem Kommentar: Sich tagtäglich, jahraus, jahrein, vielleicht lebenslänglich in den Augen seines Großvaters zu spiegeln, schien mir nicht der empfehlenswerte Weg zu sein, aus dem Labyrinth der damnatio memoriae, der Tilgung des Andenkens, herauszufinden. Man mußte sich erinnern, aber auch vergessen. (AG, 248, Hervorh. i. O.)

Die in Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben postulierte These Nietzsches, dass es zwar möglich sei, fast ohne Erinnerung glücklich zu leben, aber umgekehrt „ganz und gar unmöglich, ohne Vergessen überhaupt zu leben“¹³⁶ findet hier ihr literarisches Pendant.

2.3 Fazit: Pluralisierung der Geschichte und Ethik der Erinnerung Stephan Wackwitz’ Ein unsichtbares Land und Thomas Medicus’ In den Augen meines Großvaters sind durch eine unauflösliche Verschränkung von Autobiografischem, Biografischem und Imaginiertem gekennzeichnet, wobei ein Oszillationseffekt zwischen Erinnertem und Erfundenem entsteht. Sie sind Beispiele für die zeitgenössische deutsche Familienerzählung, die auf die konstruierte Natur der historischen Wahrheit aufmerksam macht. Das darin entworfene instabile Geschichtsbild läuft auf grundlegende Überzeugungen der Postmoderne hinaus, die den Geschichte konstituierenden Erinnerungsprozess, die der historischen Repräsentation genuin inhärenten narrativen Verfahrensweisen und folglich das ‚Ge-

Helmut Schmitz: Annäherung an die Generation der Großväter; Mathias Brandstädter: Folgeschäden.  Mathias Brandstädter: Folgeschäden, S. 241.  Friedrich Nietzsche: Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, S. 10. Hervorh. i. O.

2.3 Fazit: Pluralisierung der Geschichte und Ethik der Erinnerung

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macht-Sein‘ der Geschichte in den Vordergrund rückt¹³⁷: Die reine Wiedergabe der geschichtlichen Fakten, objektive Geschichtsschreibung und Ordnungssysteme in der Historiografie sind nicht möglich. Stattdessen wird die historische Realität zum „Ergebnis einer poetischen und ästhetischen Schöpfung der Historiker“ und mithin zu einer Art „Erfindung, die überhaupt nicht mehr auf eine ethische Instanz der Verantwortung und Rechtfertigung bezogen ist“¹³⁸. Während die postmoderne Perspektive bei Am Beispiel meines Bruders und Nach den Kriegen es den Autoren ermöglicht, Verständnis und kritische Perspektive auf die NS-Familienvergangenheit und die Opfererzählungen ihrer Familie in der Nachkriegszeit miteinander zu verknüpfen und das unlösbare Spannungsverhältnis zwischen beiden aufrechtzuerhalten, wirkt sich die Integration postmoderner Geschichtsvorstellungen von Wackwitz und Medicus anders aus. Einerseits haben Ein unsichtbares Land und In den Augen meines Großvaters eine performative Qualität, indem sie die Tatsache aufzeigen, dass die Konstruktion von Sinn oder Wahrheit in Bezug auf die Vergangenheit ein aktiver Prozess ist, der von einer Vielzahl subjektiver wie äußerer Faktoren beeinflusst wird. Andererseits lenkt das Beharren der beiden Autoren auf der Kontingenz aller Geschichtserzählungen und auf dem selektiven und interpretativen Aspekt jeglichen Verständnisses historischer Prozesse die Aufmerksamkeit des Lesers von einer Betrachtung dessen ab, welche Implikationen diesen narrativen Vorgehensweisen innewohnen. Beide Texte führen im Endeffekt zu einer problematischen Gleichsetzung von Fiktion und historischer Wirklichkeit, indem sie auf die Medien- und Kontextabhängigkeit der Formierung des Gedächtnisses und somit auf die Vermitteltheit und Perspektivgebundenheit jeder historischen Erkenntnis aufmerksam machen. Wie der israelische Historiker Saul Friedländer aufgezeigt hat, ist dies ein häufiges Problem bei postmodernen Ansätzen der Geschichtsschreibung, das aus epistemologischer wie ethischer Perspektive besondere Implikationen und Konsequenzen für die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und dem Holocaust hat. Friedländer argumentiert:

 Vgl. Jörn Rüsen: Geschichte im Kulturprozeß, S. 125 – 171: „Die postmoderne Auffassung von Geschichte negiert also radikal und vollkommen die Vorstellung, daß es einen einzigen und übergreifenden historischen Prozeß der Entwicklung der Menschheit gibt. ‚Die‘ Geschichte sei überhaupt keine faktische Entität, sie sei nichts als eine ideologiegeladene fiktionale Vorstellung. Dementsprechend beschreibt die postmoderne Historik die Prinzipien des historischen Denkens völlig anders als die moderne: Sie sieht nicht in der Methode einer rationalen Argumentation und in den Regeln der empirischen Forschung die für das historische Denken wichtigsten Regulative, sondern in den sprachlichen Formen der historischen Erzählung. Statt Methodologie der Forschung betont sie die Poetik und Rhetorik des historischen Erzählens.“ (S. 143)  Vgl. Jörn Rüsen: Geschichte verantworten, in: ders. (Verf.): Kann Gestern besser werden?, Berlin 2003, S. 47– 87; beide Zitate: S. 82.

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[N]otwithstanding the importance one may attach to postmodern attempts at confronting what escapes, at least in part, established historical and artistic categories of representation, the equivocation of postmodernism concerning ‘reality’ and ‘truth’ – that is, ultimately, its fundamental relativism – confronts any discourse about Nazism and the Shoah with considerable difficulties.¹³⁹

In diesem Zusammenhang warnt der britische Historiker Richard J. Evans vor dem postmodernen Relativismus, der die Revision des Nationalsozialismus und des Holocaust begünstigen kann.¹⁴⁰ Er weist darauf hin, dass insbesondere in den USA „das postmoderne intellektuelle Klima“¹⁴¹ für die seit Mitte der 70er Jahre zunehmenden Aktivitäten der Holocaust-Leugner instrumentalisiert wird. Der Sozialwissenschaftler Jan Lohl zeigt in seiner Forschung über das Verhältnis von dem Nationalsozialismus und dem aktuellen Rechtsextremismus in Deutschland, wie der neonazistische Geschichtsdiskurs, der sich auf den Einfluss postmoderner Gedanken zurückführen lässt, das Geschichtsbild des Nationalsozialismus in eine rechtfertigende Betrachtung umschreibt und damit den verbrecherischen Charakter des Dritten Reiches von vornherein leugnet. Die Leugnung, Verschleierung und Verharmlosung des Holocaust geschehe hauptsächlich dadurch, dass man die moralischen Grundsätze bei der Betrachtung der Geschichte völlig außer Acht lässt: Ein Merkmal des neonazistischen Geschichtsdiskurses ist, im Umgang mit der Vergangenheit eine moralische Dimension ‚überhaupt für irrelevant zu erklären‘. In rechtsextremen Gruppen werden jene kulturellen Werte und sozialen Normen außer Kraft gesetzt, die es erst ermöglichen, die NS-Taten als Schuld und Verbrechen zu bezeichnen. Psychoanalytisch betrachtet, geht es hierbei nicht um die Abwehr von Schuldgefühlen, sondern um die Abwehr der strafenden Anteile des Über-Ichs, die die Bedingung von Schuldgefühlen darstellen. Durch diese projektive ‚Neutralisierung‘ des Gewissens wird die Schulddimension ausgeblendet, sodass im Umgang mit der NS-Vergangenheit auch keine Schuld mehr abgewehrt werden muss.¹⁴²

Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass die Erzählungen von Wackwitz und Medicus die Postmoderne geradezu als Chance für die von allem Moralischen und Politischen befreite Aneignung der belasteten (Familien‐)Geschichte feiern und damit an jene Gedanken anschließen, die den postmodernen Abschied von den

 Saul Friedländer: Introduction, in: ders. (Hrsg.): Probing the Limits of Representation. Nazism and the „Final Solution“, Cambridge/London 1992, S. 1– 21, hier S. 20. Hervorh. i. O.  Vgl. Richard J. Evans: Fakten und Fiktionen. Über die Grundlagen historischer Erkenntnis, Frankfurt a. M./New York 1999, S. 227– 231.  Ebd., S. 229.  Jan Lohl: „Morden für das vierte Reich“. Transgenerationalität und Rechtsextremismus, in: ders./Angela Moré (Hrsg.): Unbewusste Erbschaften des Nationalsozialismus, S. 169 – 195, hier S. 186. Hervorh. i. O.

2.3 Fazit: Pluralisierung der Geschichte und Ethik der Erinnerung

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großen Erzählungen legitimieren, etwa wie Wolfgang Welsch folgendermaßen beschreibt: Diese großen Erzählungen sind für uns – nicht zuletzt angesichts moderner Totalitarismen – unglaubwürdig geworden. Das postmoderne Denken hat daraus die Konsequenz gezogen. Es reagiert auf den Verlust der großen Erzählungen nicht mit Trauer, eben weil es die Kehrseite all solcher Ganzheiten erkannt und eingesehen hat, daß deren ‚Verlust‘ eher einen Gewinn bedeutet. Die Kehrseite von Ganzheit ist Zwang und Terror, ihr ‚Verlust‘ hingegen ist mit einem Gewinn an Autonomie und Befreiung des Verschiedenartigen verbunden. Daher sieht die Postmoderne […] keinen Anlaß zur Betrübung.¹⁴³

Sowohl Wackwitz als auch Medicus scheinen das von der Postmoderne postulierte ‚Ende der Geschichte‘ als Beginn einer neuen Ära verstehen zu wollen. Die Verkündigung vom Ende der Nachkriegszeit in beiden Romanen steht im Zeichen des ersehnten Neuanfangs, der endgültig von der Bürde und Last der (Familien‐)Vergangenheit befreit wird. Der postmoderne Ruf nach Offenheit und Pluralität lässt ein Element der gewissensfreien Versöhnung entstehen, wobei die beiden Autoren, die das mittlere Alter erreicht haben, bereit sind, einen früheren, ideologisch motivierten Familienkonflikt zu historisieren und zu revidieren. Die Sorge um die Historisierung des Nationalsozialismus, die aufgrund der Einordnung der NS-Geschichte in einen „episch breiten historischen Zusammenhang“¹⁴⁴ häufig mit ihrer Relativierung gleichgesetzt wurde, trifft hier beispielhaft zu. Dies geschieht hauptsächlich über den Umweg der Historisierung der eigenen Generationserzählung und der Selbstbezichtigung. Indem Wackwitz seine marxistisch-kommunistische Vergangenheit explizit mit der Mitläuferschaft seines Großvaters im Nationalsozialismus korreliert und einseitig die irrationale Haltung seiner Generation in den Vordergrund rückt, und Medicus die rigoros moralische Perspektive der 68er-Generation auf die (Familien‐)Geschichte kritisiert, relativieren sie implizit die Positionen der Großvatergeneration. Im starken Gegensatz zu Timm und Leupold, deren Beziehung zu ihren Vätern von einer unüberwindlichen emotionalen Distanz und bleibenden psychischen Beeinträchtigungen, die das Familienklima der Nachkriegszeit verursacht hat, geprägt ist und für die die Aufarbeitung der nationalsozialistischen (Familien‐)Vergangenheit letztendlich ein unabgeschlossener und unabschließbarer Prozess bleibt, konstruieren Medicus und Wackwitz ein verständliches Bild ihrer Großväter und streben eine in letzter Konsequenz harmonisierende und wohlwollende Integration der NS-Zeit ins Familiengedächtnis an.

 Wolfgang Welsch: Postmoderne – Pluralität als ethischer und politischer Wert, Köln 1988, S. 39. Hervorh. i. O.  Helmut Dubiel: Niemand ist frei von der Geschichte, S. 70.

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2 Heimat, Tradition und Identität im familiären Chronotopos

Konsequenterweise schrecken sie nicht davor zurück, den Schlussstrich unter eine nicht mehr glaubhafte Auseinandersetzung ihrer eigenen Generation mit der (Familien‐)Geschichte zu ziehen. Mehr noch, sie schreiben sich problemlos in eine männliche Genealogie hinein. Während Leupold und Timm die männlichen Traditionen und Werte, die das Leben der Elterngeneration prägten, einer ständigen kritischen Überprüfung unterziehen und sich entsprechend um eine Neuorientierung der Traditionen bemühen, sprechen Wackwitz und Medicus den Traditionen der Großelterngeneration durchaus positive Eigenschaften zu. Nicht zu übersehen sind „unverhohlene Bewunderung, Sehnsucht und Nostalgie“¹⁴⁵ gegenüber den durch die Großväter vertretenen preußischen bzw. pietistisch-protestantischen Traditionen. Sowohl Medicus’ als auch Wackwitz’ Familienromane sind durch ein „neu definierte[s] Verhältnis zu deutschen Traditionsbeständen“¹⁴⁶ gekennzeichnet. Sie stehen somit im Dienste der Aufrechterhaltung nicht nur von familiärer Loyalität, sondern auch individueller wie kollektiver Identität.

 Helmut Schmitz: Annäherung an die Generationen der Großväter, S. 256 f. und 259.  Ebd., S. 250.

3 Von der Schamabwehr zum Dialog: Alexandra Senffts Schweigen tut weh. Eine deutsche Familiengeschichte und Claudia Brunner/Uwe von Seltmanns Schweigen die Täter, reden die Enkel Scham und Deutsch-Sein in den nachwachsenden Generationen Das, was wir uns angewöhnt haben als Zivilisationsbruch zu bezeichnen, gehört zu den Erbschaften, die auf die Subjektwerdung der nachwachsenden Generation nicht ohne Einfluss blieben. Es kann davon ausgegangen werden, dass die Kriegs- und Nachkriegsgeborenen ähnliche strukturelle Beeinträchtigungen ihrer psychischen Entwicklung erfahren haben.¹

Wie das obige Zitat von Ulrike Jureit verdeutlicht, ist es heute unumstritten, dass die Folgen der lang zurückliegenden NS-Vergangenheit noch immer auf das Leben der dritten und vierten Generation einwirken und deren Zukunft bestimmen können. Dies treffe, so Jureit, nicht nur auf die individuelle Psyche, sondern auch auf „die entscheidende Kontroll- und Regulierungsfunktion von gesellschaftlichen Institutionen“² zu. Dies lässt sich aus psychoanalytischer Perspektive dadurch erklären, dass vergangene Erlebnissen und Erfahrungen sich unmerklich, stillschweigend in den Körper einschreiben und Handlungsdispositionen und habitualisierte Praktiken der sozialen Akteure bestimmen.³ Im Zuge von sozialen Interaktionen, die „sich in den von unserer Leiblichkeit besetzten Zwischenräumen kommunikativen Handelns vollziehen“⁴, werden die Erfahrungen der vorangegangenen Generation an die nachfolgende Generation weitergegeben. Laut Jürgen Straub und Kurt

 Vgl. Ulrike Jureit: Generationenforschung, S. 74 f.  Ebd.  Vgl. Jürgen Straub/Kurt Grünberg: Die Gegenwart der Vergangenheit, S. 8: „Die Tatsache, daß Erfahrungen nicht nur bewußt erinnert, kommuniziert und reflektiert werden können, sondern sich auch in die Körper von Menschen einschreiben und die habitualisierten Praktiken leiblich Handelnder bestimmen, rechtfertigt es, von der Gegenwart der Vergangenheit auch dort zu sprechen, wo vergangene Wirkliechkeiten gar nicht intentional und bewußt repräsentiert werden. In psychologischer Perspektive sind vergangene Wirklichkeiten auch im leiblichen Handeln, in interaktiven Inszenierungen und enactments präsent, und in solchen Interaktionen werden sie tradiert.“ (Hervorh. i. O.)  Ebd., S. 8 f. https://doi.org/10.1515/9783111009094-008

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Grünberg ist diese Art der „leiblichen Register der Mitteilung“⁵ besonders wirksam bei transgenerationalen Tradierungen in Familien, weil die Eltern-Kind-Beziehung von mehr Intimität und Emotionalität geprägt ist. Aufgewachsen mit traumatisierten Eltern, die als Kinder der Erlebnisgeneration sowohl ihre persönlichen Erfahrungen in der NS-Zeit als auch die Verstrickungen ihrer Eltern in das NS-System nicht verarbeitet, sondern verdrängt haben, ist die dritte Generation in den letzten Jahren verstärkt ins Zentrum der gesellschaftlichen Aufmerksamkeit gerückt.⁶ Es ist die Generation der zwischen 1960 und 1975 Geborenen, „die in Deutschland heute an den Schalthebeln der Macht in Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Kunst steht“⁷. Die stärkste Motivation der dritten Generation, sich mit der weit zurückliegenden Familiengeschichte auseinanderzusetzen, ist die, die Last der Vergangenheit nicht auch noch an die eigenen Kinder weiterzugeben und denen die Entwicklung einer offenen und aufgeschlossenen Identität zu ermöglichen. Aufgrund ihrer Sozialisation und Erziehung einerseits und aufgrund des zeitlichen Abstands zu den historischen Ereignissen andererseits wird ihnen kognitives und emotionales Potenzial zugeschrieben, mit der Herausforderung der Auseinandersetzung mit der NS-Geschichte besser umzugehen. Mit ihren Familienerzählungen Schweigen tut weh. Eine deutsche Familiengeschichte und Schweigen die Täter, reden die Enkel melden sich Alexandra Senfft⁸, Claudia Brunner und Uwe von Seltmann⁹ als die dritte Generation zu Wort. Sie sind davon überzeugt, dass die Spätfolgen der NS-Vergangenheit bis heute Schaden anrichten – in Individuen, in Familien und in der Gesellschaft: „Diese dritte Generation ist nicht so weit von den historischen Ereignissen entfernt, wie immer wieder – von Jungen und Alten, vor allem aber von der Generation zwischen ‚ihnen‘ und ‚uns‘, also von unseren Eltern – behauptet wird.“ (TE, 7)

 Ebd., S. 9.  Vgl. Anne-Ev Ustorf: Wir Kinder der Kriegskinder. Die Generation im Schatten des Zweiten Weltkriegs, Freiburg 2010; Michael Schneider/Joachim Süss (Hrsg.): Nebelkinder. Kriegsenkel treten aus dem Traumaschatten der Geschichte, Berlin [u. a.] 2015; Matthias Lohre: Das Erbe der Kriegsenkel. Was das Schweigen der Eltern mit uns macht, München 2016; Ingrid Meyer-Legrand: Die Kraft der Kriegsenkel. Wie Kriegsenkel heute ihr biografisches Erbe erkennen und nutzen, Berlin [u. a.] 2016; Joachim Süss: Die entschlossene Generation. Kriegsenkel verändern Deutschland, Berlin [u. a.] 2017; Sabine Bode: Kriegsenkel. Die Erben der vergessenen Generation, Stuttgart 2019.  Joachim Süss: Die entschlossene Generation, S. 8.  Alexandra Senfft: Schweigen tut weh. Eine deutsche Familiengeschichte, Berlin 2007. Im Folgenden sind weitere Zitate aus Schweigen tut weh. Eine deutsche Familiengeschichte mit der Sigle (SW, Seitenzahl) gekennzeichnet.  Claudia Brunner/Uwe von Seltmann: Schweigen die Täter, reden die Enkel, Frankfurt a. M. 2004. Im Folgenden sind weitere Zitate aus Schweigen die Täter, reden die Enkel mit der Sigle (TE, Seitenzahl) gekennzeichnet.

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Scham- und Schuldgefühle zählen zu dem Kernthema der Erzählungen der drei Autoren. Senfft spricht von der „schwarze[n] bedrohliche[n] Wolke in meinem Empfinden“ (SW, 20), Brunner von „dem Schleier des schlechten Gewissens“ (TE, 49), Seltmann von „Scham und Ekel“ (TE, 156). Sie teilen alle die Vorstellung, dass ihre tiefsitzenden, diffusen Scham- und Schuldgefühle von der nicht verarbeiteten Familienvergangenheit herrühren. In seiner Studie über die Auswirkungen der Konfrontation mit den NS-Verbrechen auf die dritte Generation spricht Konrad Brendler von einer „Traumatisierung des Identitätsgefühls“¹⁰: Die Befragten nehmen Deutschsein wie ein „Identitätsschatten“¹¹ wahr und fühlen sich entwertet. Hinsichtlich der auf den Holocaust bezogenen Emotionen der dritten Generation beobachtet Brendler massive Abwehrprobleme: Einige kämpfen vehement gegen die Erinnerung und die Konsequenzen der Vergangenheit. Statt aus dem Versagen der Vorfahren moralische Impulse für ihre persönliche Lebensgestaltung zu gewinnen, investieren sie Lebensenergie für die Abwehr der Schatten ihrer kollektiven Identität.¹²

Laut Ergebnis der Befragung im quantitativen Teil der Studie schämen sich 65 Prozent der jungen Deutschen ihrer Herkunft, wenn der Holocaust thematisiert wird. Diese Quote ist viel höher als die derjenigen, die Schuldgefühle empfinden (41 Prozent).¹³ Brendler zufolge gelang nur wenigen der Befragten eine differenzierte Auseinandersetzung mit der „Beschämungsangst und Bloßstellungsphantasien“¹⁴, die die Abwehr ihrer gestörten Identität verschwinden lassen soll. In Diskursen über den Nationalsozialismus und den Holocaust ist viel von der Kollektivschuld oder Generationenhaftung die Rede. Die Kollektivschuldthese fußt auf einer Identifizierung der Angehörigen der Gruppe, des Volkes oder der Nation untereinander. In diesem Zusammenhang weist Elke Horn darauf hin, dass in den öffentlichen Diskursen dem Schuldgefühl ein großer Stellenwert eingeräumt wird,

 Konrad Brendler: Die NS-Geschichte als Sozialisationsfaktor und Identitätsballast der Enkelgeneration, in: Dan Bar-On/Konrad Brendler/A. Paul Hare (Hrsg.): „Da ist etwas kaputtgegangen an den Wurzeln“: Identitätsformation deutscher und israelischer Jugendlicher im Schatten des Holocaust, Frankfurt a. M./New York 1997, S. 53 – 104, hier S. 69.  Ebd.  Ebd., S. 93 f.  Ebd., S. 54.  Ebd., S. 78.

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wohingegen die dazugehörige Scham oft verdeckt bleibt.¹⁵ Hinsichtlich der Folgen der Verstrickung der Familie in den Nationalsozialismus problematisiert Katharina Obens die Annahme, die nachgeborenen Deutschen litten unter unbewussten Schuldgefühlen.¹⁶ Dabei greift sie auf die Bemerkungen von Gertrud Hardtmann und Judith Kestenberg zurück, die das Schweigen über die Schuld nicht als Verdrängung von Schuldgefühlen, sondern als Abspaltung und Verleugnung verstehen. Hardtmann und Kestenberg zufolge muss das Schweigen nicht zwangsläufig aus Schuldbewusstsein bzw. -gefühlen resultieren.¹⁷ Katharina Obens geht davon aus, dass in den Diskursen über die Auswirkungen der NS-Vergangenheit auf die Nachkommen Schuld- und Schamgefühle nicht systematisch differenziert wurden und es dadurch zu einer Überbetonung von Schuldgefühlen bei den Nachkommen kam. Damit werden die wichtigen Differenzen dieser sozialen Gefühle negiert, so Obens. Sie argumentiert, dass es sich bei den als Schuldgefühle diagnostizierten Phänomenen vielmehr um Schamgefühle handelt. Tatsächlich merkt Stephan Marks an, dass Scham heute eine zentrale Rolle bei der Geschichtsvermittlung über den Nationalsozialismus und den Holocaust für deutsche Jugendliche spielt.¹⁸ Er deutet die Tendenz zu dem Gedenken an den Holocaust als narzisstischer Kränkung der nachwachsenden Generationen aus der Tatsache, dass heutige Jugendliche auf die pädagogischen Bemühungen um die Vermittlung der NS-Verbrechen mit massiver Schamabwehr reagieren. Nach Léon Wurmser können Konflikte nicht adäquat bearbeitet werden, wenn „ein Schamproblem angegangen wird, als ob es ein Schuldproblem wäre […]“¹⁹. Die Unterscheidung von Scham und Schuldgefühl scheint demnach für den Umgang der nachwachsenden Generationen mit der NSGeschichte von großer Bedeutung zu sein.  Vgl. Elke Horn: Was tun mit dem transgenerationalen Erbe? Von der Abwehr durch Spaltung zum Dialog, in: Jan Lohl/Angela Moré (Hrsg.): Unbewusste Erbschaften des Nationalsozialismus, S. 249 – 270.  Vgl. Katharina Obens: Generation der Scham? Eine Reanalyse sozialwissenschaftlicher Forschung zu Schuld- und Schamgefühlen in der dritten Generation der Täter/-innen, in: Maja Figge/ Konstanze Hanitzsch/Nadine Teuber (Hrsg.): Scham und Schuld. Geschlechter(sub)texte der Shoah, Bielefeld 2010, S. 39 – 59.  Vgl. Gertrud Hardtmann: Lebensgeschichte und Identität, S. 45: „Zunächst wurde ein Schweigen tradiert, das auf der Täter- und Opferseite sehr Unterschiedliches bedeutete. Während die Opfer meist ihre Kinder und Angehörigen schützen wollten, die Kinder vor allem, um ihnen nicht alle Illusionen und allen Lebensmut zu nehmen, wollten die Täter in der Regel sich selbst schützen, um nicht ihr Gesicht zu verlieren.“  Vgl. Stephan Marks: „Jemanden öffentlich beschämen ist wie Blutvergießen“ (Talmud). Scham und Schamabwehr als Thema für die Schule, in: Wilhelm Schwendemann/Georg Wagensommer (Hrsg.): Erinnern ist mehr als Informiertsein. Aus der Geschichte lernen (2), Münster 2004, S. 20 – 32.  Léon Wurmser: Flucht vor dem Gewissen. Analyse von Über-Ich und Abwehr bei schweren Neurosen, Berlin [u. a.] 1987, S. 169, zit. nach Katharina Obens: Generation der Scham?, S. 41.

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Während es bei der Schuld um Handeln („Ich habe etwas Schlechtes getan“²⁰) geht, geht es bei der Scham um das Sein, d. h. darum, wer wir sind („Ich bin schlecht“²¹): „Scham zeigt in diesem Fall eine Spannung zwischen Ich und Ideal an – im Gegensatz zur Schuld, die eine Spannung zwischen Ich und Über-Ich bezeichnet. Schuldgefühle beziehen sich auf die Verletzung des anderen, Schamgefühle auf die Verletzung des Selbst […].“²² In der Schamsituation wird das Individuum mit eigenem Makel und persönlichen Schwachstellen konfrontiert, was zur Erkenntnis führt, an dem Idealbild des eigenen Selbst gescheitert zu sein: „Im Schamgefühl vergegenwärtigt sich eine Person, in einer Verfassung zu sein, die sie selbst als defizitär, als mangelhaft und auch als entwürdigend empfindet.“²³ Scham ist also „eine selbst-(wert)relevante Emotion“²⁴ und geht somit tiefer als jedes Schuldgefühl. Die oben vorgestellten Studien zeigen, dass das Phänomen Scham und Beschämungsangst relevante Anhaltspunkte für die Beschäftigung mit den Auswirkungen des Nationalsozialismus und des Holocaust auf die Identität der nachwachsenden Generation liefern kann, da Scham unmittelbar mit der Frage der Verletzung des eigenen Selbstbildes verbunden ist. Als soziales Gefühl entsteht Scham besonders „durch den plötzlichen Perspektivwechsel“²⁵ „im interpersonellen Kontext“²⁶: „Wenn wir uns schämen, so schämen wir uns für etwas vor jemandem.“²⁷ Bereits die Vorstellung eines fiktiven Publikums, das erblickt, bewertet und beschämt, kann die Scham erzeugen.²⁸ Da Beschämung immer von außen zugeführte Verletzung ist, die das Selbstbild der beschämten Person infrage stellt, offenbart sich im Phänomen Scham ein Machtprozess: Die Anerkennung von Normen durch Handlungssubjekte ist als ein Machtprozeß beschreibbar, der über Scham sanktioniert wird. Normen sind über die Scham im Individuum leiblich ver-

 Brené Brown: Verletzlichkeit macht stark. Wie wir unsere Schutzmechanismen aufgeben und innerlich reich werden. München 2013, S. 92.  Ebd.  Micha Hilgers: Scham. Gesichter eines Affekts, Göttingen 1996, S. 14.  Sighard Neckel: Status und Scham. Zur symbolischen Reproduktion sozialer Ungleichheit, Frankfurt a. M./New York 1991, S. 16.  Hans-Werner Bierhoff/Michael Jürgen Herner: Begriffswörterbuch Sozialpsychologie, Stuttgart 2002, S. 187.  Hilge Landweer: Scham und Macht. Phänomenologische Untersuchungen eines Gefühls, Tübingen 1999, S. 82.  Hans-Werner Bierhoff/Michael Jürgen Herner: Begriffswörterbuch Sozialpsychologie, S. 187.  Hilge Landweer: Scham und Macht, S. 2.  Vgl. Bernard Williams: Scham, Schuld und Notwendigkeit: eine Wiederbelebung antiker Begriffe der Moral, Berlin 2000, S. 97: „[…] ein imaginierter Beobachter ausreicht, um die Reaktion der Scham auszulösen.“

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ankert, da es mit der Scham als Sanktion die Normen, an denen es sich orientiert, als legitim anerkennt.²⁹

Scham ist insofern durch eine Unterwerfungsneigung gekennzeichnet, als sich das Schamsubjekt in beschämenden Situationen zurückzieht und die Anderen dazu berechtigt sind, die Ordnung wiederherzustellen: „Scham ist Wahrnehmung von Ungleichheit, Beschämung eine Machtausübung, die Ungleichheit reproduziert.“³⁰ Daher können Schamgefühle leicht in Schuldgefühle umgewandelt oder substituiert werden, da Gefühle von Ohnmacht, Ausgeliefertsein und Erniedrigung, die mit Scham einhergehen, schwieriger zu ertragen sind als Schuldgefühle.³¹ Dies bestätigt die These der unauflösbaren Verwobenheit von Scham- und Schuldkultur Deutschlands, die sich gegenseitig hervorbringen. In seinem Aufsatz Über Nationalsozialismus, Scham und die Folgen fasst Stephan Marks den Zusammenhang zwischen der aus der Niederlage des Ersten Weltkrieges hervorgehenden deutschen Scham, dem Nationalsozialismus als Form der „Scham-Abwehr“³² und der weiteren Niederlage des Zweiten Weltkrieges wie folgt zusammen: Wo aber ist diese ‚deutsche Scham‘ nach 1945 geblieben? Hat diese sich etwa in Luft aufgelöst? Wohl kaum: ‒ Angesichts einer weiteren Kriegsniederlage – Verlieren gilt ja traditionellerweise als schändlich.

 Hilge Landweer: Scham und Macht, S. 215.  Sighard Neckel: Status und Scham, S. 21. Hervorh. i. O. Vgl. auch Hilge Landweer: Scham und Macht, S. 96: „[…] daß man die Personen, vor denen man Scham empfindet, mindestens als kompetent für die Beurteilung des Sachverhalts, aufgrund dessen man sich schämt, ansieht und ihnen unterstellt, daß sie diese Norm teilen oder sogar erfüllen.“  Vgl. Konstanze Hanitzsch: Deutsche Scham. Gender, Medien, „Täterkinder“. Eine Analyse der Auseinandersetzungen von Niklas Frank, Beate Niemann und Malte Ludin, Berlin 2013, S. 19. Vgl. auch Katharina Obens: Generation der Scham?, S. 53: „Der Motivation, das Schamgefühl zu verschweigen oder es als Schuldgefühl zu deuten, liegt eine Abwehr des Gefühls des ‚ohnmächtigen Ausgeliefertseins‘ zugrunde.“  Vgl. Stephan Marks: Über Nationalsozialismus, Scham und die Folgen, in: Michael N. Ebertz/ Werner Nickolai/Helmut Schwalb (Hrsg.): Opfer, Täter und Institutionen in der nationalsozialistischen Gesellschaft. Blicke aus der Gegenwart, Konstanz 2009, S. 75 – 88, hier S. 84. Zu Abwehrformen der Scham zählt Stephan Marks emotionale Erstarrung, Projektion, Beschämung, Zynismus, Negativismus, Arroganz und Rechtfertigungen. Die Niederlage des Ersten Weltkrieges, Versailler Vertrag, Arbeitslosigkeit, Armut und politische Schwäche der Weimarer Republik wurden von der deutschen Bevölkerung als Beschämung erlebt. Adolf Hitler und die Nationalsozialisten instrumentalisierten diese Scham, indem sie den Deutschen Erlösung von der Scham versprachen. Die Theorie von der Herrenmenschenrasse (Arroganz), die menschenverachtenden Praktiken (Projektion, Beschämung), ein hartes Weltbild und Verachtung humanistischer Werte (emotionale Erstarrung, Zynismus) stellen laut Marks Abwehrmechanismen der Scham dar.

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‒ Angesichts millionenfacher traumatischer Erfahrungen an der Front und in Kriegsgefangenschaft, in Luftschutzbunkern, durch Vergewaltigungen, Flucht und Vertreibung – Traumata hinterlassen Scham. ‒ Und angesichts der millionenfachen Verbrechen des Holocaust und der Wehrmacht – Verletzungen des Gewissens führen zu Schamgefühlen. Scham und noch mehr Scham, die […] in die deutsche Nachkriegsgesellschaft ‚eingesickert‘ ist und in ihrer Abwehr unsere zwischenmenschlichen Beziehungen bis heute vergiftet. […] Scham und ihre Abwehr ist so sehr Teil unserer Kultur geworden, dass wir sie oft nicht mehr bemerken.³³

In diesem Zusammenhang sieht Aleida Assmann den Grund für das fehlende Schuldbewusstsein in der deutschen Bevölkerung nach Kriegsende vor allem in der Schamkultur.³⁴ Aus Scham vor der öffentlichen Bloßstellung und Erniedrigung vor den Augen der ganzen Welt wurde die Schuldfrage meist zurückgewiesen: „Die schockartige Konfrontation mit einem entgegengesetzten Werthorizont und das Öffentlichmachen der Verbrechen hat, so könnte man sagen, zu einem ‚Trauma der Scham‘ geführt, das mit der Zerstörung des Selbstbildes einhergeht.“³⁵ Und an dieser Stelle lässt sich wieder die Verschränkung zwischen den familiären und gesellschaftlichen Erinnerungsdiskursen erkennen: Wenn die Erlebnisgeneration jegliche Verantwortung für die Schuld ablehnt, deren Aufdeckung beschämt, so kann die Kinder- bzw. Enkelgeneration dieselbe Maßnahme für die Bewältigung der Beschämungsangst ergreifen, die den Instinkt für Selbstschutz hervorruft und die Abwehr stimuliert, denn, wie Haydée Faimberg schreibt: [w]hat is transmitted is not always a content but essentially a narcissistic way of solving the conflicts. This means the parents transmit to their child the narcissistic functioning they used to solve their intrapsychic conflicts […].³⁶

„So wird Scham von der einen an die folgende Generation weiter delegiert.“³⁷, stellt Stephan Marks fest. „Die bei bereits antizipierter (angeblicher) Beschämung einsetzende Schamabwehr“³⁸ erschwert den Nachkommen eine tiefergehende Auseinandersetzung mit der Schuld der Vorfahren und mit dem Leid der Opfer, weil anstelle der Verletzung des Anderen die Verletzung des Selbst in den Vordergrund  Ebd., S. 84 f. Hervorh. i. O.  Aleida Assmann/Ute Frevert: Geschichtsvergessenheit – Geschichtsversessenheit, S. 115.  Aleida Assmann: Der lange Schatten der Vergangenheit, S. 97.  Haydée Faimberg: The narcissistic dimension of the Oedipal configuration, in: dies. (Verf.): The Telescoping of Generations. Listening to the Narcissistic Links between Generations, London/New York 2005, S. 50.  Stephan Marks: Über Nationalsozialismus, Scham und die Folgen, S. 85.  Katharina Obens: Generation der Scham?, S. 42.

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rückt, was im Wesen des Schamgefühls, nämlich in der Selbstbezogenheit begründet liegt.Vor diesem Hintergrund betrachtet Katharina Obens Schamangst bzw. -abwehr bei der nachwachsenden Generation als „tragende Säule der generationsspezifischen Verleugnung“³⁹ und betont somit die Rolle der Emotion Scham für das Verhältnis der nachwachsenden Generation zu der NS-Geschichte. Elke Horn sieht gar den „Kern der deutschen Identitätskrise“⁴⁰ in dem Schamproblem. Wege zu einem konstruktiven Umgang mit Scham Aus den oben vorgestellten verschiedenen Studien geht hervor, dass Scham unmittelbar Einfluss auf die Identität der jüngeren deutschen Generation hat. Alle Autoren der oben vorgestellten Studien stimmen darin überein, dass die Auseinandersetzung mit Scham als Voraussetzung für die Anerkennung und Abgrenzung von der Täterschaft der Vorfahren notwendig ist. Die Übernahme der Verantwortung im Umgang mit der NS-Geschichte ist laut Micha Brumlik nur möglich „durch eine sehr weitgehende Einfühlung im Sinn einer aufgeklärten Scham: sowohl bezüglich der Handlung der Täter als auch des Leidens der Opfer“⁴¹. Es stellt sich also die Frage, wie mit Schamgefühl bzw. -abwehr selbstbewusst und aufgeklärt umgegangen werden kann. Für einen konstruktiven Umgang mit Scham schlägt die USamerikanische Psychologin Brené Brown vor, anstelle „Schamresistenz“ „Schamresilienz“ zu entwickeln.⁴² Schamresilienz ist eine Strategie für die differenzierte Wahrnehmung der Schamgefühle, um „von der Scham zur Empathie zu gelangen“⁴³. Es geht nicht darum, Scham zu vermeiden (was Brown ohnehin für unmöglich hält), sondern die Schamangst und die dahinterliegenden Abwehrreaktionen zu erkennen und bewusst damit umzugehen. Um die Schamresilienz zu entwickeln, ist es notwendig, in erster Linie seine eigenen Schamgefühle zu akzeptieren, sich kritisch damit auseinanderzusetzen und darüber mit anderen zu reden.⁴⁴ Brown zufolge gewinnt Scham an Macht erst dadurch, dass sie nicht ausgesprochen wird.⁴⁵ Um dieser vereinnahmenden Macht entgegenzuwirken, sollte das Schweigen aufgebrochen und eine Kultur des Dialogs entwickelt werden. Durch den gemeinsamen

 Ebd., S. 40.  Elke Horn: Was tun mit dem transgenerationalen Erbe?, S. 251.  Micha Brumlik: Erziehung nach „Auschwitz“ und Pädagogik der Menschenrechte. Eine Problemlage, in: Bernd Fechler/Gottfried Kößler/Till Lieberz-Groß (Hrsg.): ‚Erziehung nach Auschwitz‘ in der multikulturellen Gesellschaft. Pädagogische und soziologische Annäherungen, Weinheim/ München 2001, S. 47– 58, hier S. 56.  Vgl. Brené Brown: Verletzlichkeit macht stark, S. 95. Hervorh. i. O.  Ebd.  Vgl. ebd., S. 96.  Vgl. ebd., S. 77.

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Austausch über die eigenen Schamgefühle oder Schamsituationen können die Betroffene für das Thema Scham und Beschämung sensibilisiert werden. In Bezug auf die Dialogarbeit zur fortgesetzten Aufarbeitung der NS-Vergangenheit betonen Monique Eckmann und Elke Horn aus psychoanalytischer Sicht die zwei Dimensionen, nämlich „biografische Arbeit und Dialog“.⁴⁶ Die Voraussetzung und gleichzeitig der erste Schritt für einen Dialog, so Monique Eckmann, sei die biografische Arbeit: „Mann kann nicht Dialog mit dem Anderen führen, wenn man sich nicht über sich selbst Gedanken macht, […].“⁴⁷ Bezogen auf den Umgang mit transgenerational vermittelten Scham- und Schuldgefühlen kann das biografische Verstehen laut Elke Horn den inneren Raum auf verschiedenen Achsen aufspannen, „im Hinblick auf die Zeit (was war früher, was ist jetzt), im Hinblick auf die Generationengrenze (was gehört zu meinen Eltern, was zu mir) und im Hinblick auf Innenwelt und Außenwelt (was spielt sich in mir ab, was ist außen)“⁴⁸. Sie weist darauf hin, dass durch Biografie-Arbeit die nachgeborenen Generationen sich ihrer inneren Verflechtungen mit den Vorfahren bewusst werden können. Das sei der erste Schritt, um sich in einem bewussten Aufarbeitungsprozess von transgenerationalen destruktiven Loyalitäten abzulösen. Erst durch diesen Prozess könne die Fähigkeit entwickelt werden, „nicht jede Einladung, sich als Opfer oder Täter zu fühlen, anzunehmen und sich gegen solche Zuschreibungen abzugrenzen“⁴⁹. Die drei Autoren der in diesem Kapitel untersuchten Werke thematisieren auf unterschiedliche Weise die transgenerational übernommenen Scham- und Schuldgefühle. Alexandra Senfft setzt sich mit dem Leben ihrer Mutter auseinander, die sich in selbstzerstörerischer Weise mit den Schuld- und Schamgefühlen identifiziert, die nicht von eigenen Taten herrührten, sich selbst in Schweigen gehüllt und schließlich sich in die tiefste Einsamkeit zurückgezogen hat. Claudia Brunner thematisiert emotionale Überflutungen beim persönlichen Aufarbeitungsprozess der schamauslösenden Familiengeschichte. Uwe von Seltmann legt seine Erfahrung von der Schamsituation und seiner Schamabwehr, die aus der Identifikation mit der Nation herrührt, ganz offen und zeigt damit, wie man künftig mit diesem Gefühl im Rahmen der Aufarbeitung der NS-Geschichte differenziert umgehen kann. Die familiäre Biografie-Arbeit der drei Autoren mit Blick auf die nicht selbst erlebte Vergangenheit ist angelegt als eine unabdingbare Voraussetzung für den Dialog

 Vgl. Dokumentation I. Umgang mit Täterschaft – Perspektiven für die Zukunft. Monique Eckmann, Verena Haug, Astrid Messerschmidt und Jan Philipp Reemtsma im Gespräch mit Oliver von Wrochem, in: Oliver von Wrochem (Hrsg.): Nationalsozialistische Täterschaften, S. 170 – 189, hier S. 172. Vgl. auch Elke Horn: Was tun mit dem transgenerationalen Erbe?  Ebd.  Elke Horn: Was tun mit dem transgenerationalen Erbe?, S. 268.  Ebd.

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untereinander sowie den zwischen den Nachkommen von Opfern und Tätern des Nationalsozialismus.

3.1 Alexandra Senfft: Schweigen tut weh. Eine deutsche Familiengeschichte Alexandra Senfft, geboren 1961, ist Islamwissenschaftlerin und arbeitete als freie Journalistin für zahlreiche Medien. Anfang 1990 war sie als Pressesprecherin des Hilfswerks der Vereinten Nationen für Palästinaflüchtlinge (UNRWA) im Gazastreifen tätig. Sie hat mehrere Bücher über das Thema Nahostkonflikt veröffentlicht und zusammen mit dem israelischen Psychologen Dan Bar-On am Dialog-Trainingsseminar ‚Storytelling in Conflict‘ (2006 – 2008) gearbeitet. Für Schweigen tut weh. Eine deutsche Familiengeschichte wurde Alexandra Senfft mit dem Deutschen Biographiepreis 2008 ausgezeichnet. Während die Väter bei vielen Nachgeborenen den zentralen Status in ihrer Beschäftigung mit der familiären NS-Vergangenheit einnehmen, wohingegen die Mütter dabei oft ausgeklammert und marginalisiert bleiben, geht es im Familienbuch Senffts um das Leben von drei Frauen in drei Generationen, die zeitlebens durch die unverarbeitete NS-Vergangenheit belastet sind. Es ist die geliebte Großmutter, die in dieser Familie den Mythos des guten Nazis gepflegt und damit nicht nur sich selbst, sondern auch alle anderen betrogen hat. Und es ist die Enkelin, die es entlarvt und sich schonungslos mit den transgenerationalen Folgen der nicht eingestandenen Verbrechen der Vorfahren für die Nachkommen auseinandersetzt. Im Mittelpunkt des Buches steht das lebenslange Leiden der Mutter der Autorin, die an der Unfähigkeit, um den guten und schuldigen NaziVater zu trauern, und an dem familiären Leugnen seiner Schuld zerbricht und in die Depressionsschwere verfällt. Der Ehemann, Vater und Großvater Hanns Elard Ludin, 1905 geboren, war von 1941– 1945 Gesandter des Dritten Reiches in der damaligen Slowakei und als solcher mit verantwortlich für die Organisation und Durchführung der Deportation slowakischer Juden. In seiner Amtszeit wurden ca. 70 000 Juden in die Konzentrationsund Vernichtungslager deportiert. Er war auch an der Niederschlagung des slowakischen Nationalaufstands des Jahres 1944 beteiligt, der sich gegen das mit dem Dritten Reich kollaborierenden slowakischen Regime unter Jozef Tiso richtete. Im April 1945 floh Hanns Ludin zusammen mit der slowakischen Regierung nach Österreich, stellte sich jedoch nach einigen Wochen den Allierten. Er wurde in einem amerikanischen Internierungslager in Natternberg inhaftiert und im Oktober 1946 aus amerikanischer Gefangenschaft als Kriegsverbrecher an die Tschechoslowakei ausgeliefert. Nachdem er als Zeuge der Verteidigung im Prozess gegen den ehemaligen Staatspräsidenten Jozef Tiso vernommen wurde, wurde er ebenfalls

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angeklagt und nach einem mehrmonatigen Prozess vom Volksgerichtshof in Bratislava 1947 zum Tod durch den Strang verurteilt. Kurz darauf wurde er hingerichtet.⁵⁰ Hanns Ludin hat der Autorin zufolge „indirekt auch meine Mutter auf dem Gewissen, denn sie hat seine Schuld unbewusst übernommen, ja fast internalisiert und damit nicht leben können“ (SW, 16). Geboren 1933, starb Erika Ludin, die Älteste von sechs Kindern, 1998 bei einem tragischen Unfall. Sie hat sich eine Badewanne einlaufen lassen und ist in eine mit fast kochendem Wasser gefüllte Badewanne gefallen, was vermutlich auf ihre Trunkenheit zurückzuführen ist. Sie stirbt an den Folgen starker Verbrennungen am ganzen Körper. Den Auslöser der traurigen Lebensentwicklung von Erika Ludin und die Ursache für ihre selbstzerstörerische Neigung sieht Alexandra Senfft bei ihrem Großvater Hanns. Als Erstgeborene litt Erika am stärksten unter dem Verlust des Vaters. Sieben Jahre nach dem tragischen Tod ihrer Mutter beginnt Senfft, sich mit dem Leben Erika Ludins und der Bedeutung ihres Nazi-Vaters für ihr ganzes Leben auseinanderzusetzen und veröffentlicht 2007 das Familienbuch. Anhand von zahlreichen Briefen, Fotos und Gesprächen mit den Verwandten und Freunden der Mutter rekonstruiert Senfft akribisch und minutiös, wie Erika Ludin durch das „Trauma des gewaltsamen Vaterverlusts“ (SW, 113) und die ungestillte „Sehnsucht nach Seelenfrieden“ (SW, 121) psychisch schwer beschädigt bis zum tragischen Ende leidet. Es wird erzählt von der glücklichen Kindheit der Mutter in der vom Deutschen Reich besetzten Slowakei über den Vaterverlust und die unterdrückte Trauer der Mutter um ihren Vater bis zu das Zerbrechen ihrer Ehe und ihre Vereinsamung. Dadurch wird gezeigt, wie die Suche Erikas nach einer Möglichkeit, den guten und den schuldigen Vater in einem von ihr selbst entworfenen Vaterbild zu vereinigen, am Ende scheitert und wie sehr dies von der Familiendynamik geprägt ist. Darüber hinaus setzt Senfft sich mit ihrem von der traumatisierten Mutter geprägten eigenen Leben und der schwierigen Hassliebe-Beziehung zu ihrer Mutter, auseinander. Sie gesteht, dass sie ihre Mutter, ihr Leiden und das eigene Leben in der Gegenwart erst nach einer intensiven Auseinandersetzung mit der weit zurückliegenden NS-Familiengeschichte verstehen konnte: Fakt ist, dass wir mit der seelischen Aufarbeitung unserer Familiengeschichte, wenn überhaupt, erst zaghaft begonnen haben. 2007 sind sechzig Jahre vergangen, seit mein Großvater

 Alexandra Senfft fasst die Anklagepunkte des Prozesses gegen ihren Großvater wie folgt zusammen: „Ludin wird unter anderem vorgeworfen, vom 13. Januar 1941 bis Ende März 1945 ‚als Gesandter des nazistischen Deutschlands und höchster politischer Repräsentant und Vertreter seines Führers Adolf Hitler die politischen, militärischen und wirtschaftlichen Forderungen des Reiches gegenüber dem slowakischen Staat‘ durchgesetzt zu haben.“ (SW, 39 f.)

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gehenkt wurde – fast ein Menschenleben. Wenn ich bedenke, wie sehr die Schuld von damals noch heute in uns, den Nachkommen, weiterwirkt – unbemerkt versteckt, verdeckt, verschwiegen –, dann sind diese Jahre keine Zeit. Keine Zeit oder nicht genutzte Zeit. (SW, 16)

Obwohl sie sich politisch für den Dialog zwischen Israelis und Palästinensern sehr aktiv engagiert hat, hat sich Senfft bis zum Zeitpunkt der Veröffentlichung ihres Familienbuches nicht getraut, Diskussionen über das heikle Thema NS-Familienvergangenheit mit ihren Verwandten zu führen. Sie wollte den Konflikt vermeiden und befürchtete vor allem, ihre Familienangehörigen zu verlieren. „[D]er letzte Anstoß“ (SW, 18) für Senfft, sich mit ihrer Familiengeschichte auseinanderzusetzen, erfolgte durch den Dokumentarfilm 2 oder 3 Dinge, die ich von ihm weiß von ihrem Onkel, Malte Ludin, der 2005 das Porträt seines Vaters und das Verdrängen in der Familie nachzeichnet.⁵¹ Im Film werden das Nichtwahrhabenwollen der Schuld des Vaters und die psychischen Konflikte der Familienmitglieder, die sich zwischen den Loyalitätsgeboten und dem Wunsch, die Wahrheit zu ertragen, hin- und hergerissen fühlen, anschaulich dokumentiert. Die aktenkundige Schuld Hanns Ludins ist in der Familie „nie ohne Wenn und Aber“ (SW, 16) anerkannt worden und seine Nachkommen bestreiten sie zum Teil noch heute. Besonders die Töchter Hanns Ludins verteidigen die Legende des guten Nazis, die durch die Mutter kultiviert wurde. Demnach sei Hanns Ludin zwar überzeugter Nationalsozialist, aber kein Täter gewesen. Für die Töchter sei der Vater einer der vielen unschuldigen Nationalsozialisten, so Alexandra Senfft. Anhand der Rekonstruktion des Lebens der drei Frauen in drei Generationen veranschaulicht Senfft die Denk- und Gefühlsblockaden als Folge der unausgesprochenen Schweigegebote in Bezug auf die NS-Vergangenheit sowie die Strukturen und Mechanismen der Machtverhältnisse innerhalb der Familie.

3.1.1 Die Hüterin des Familiengedächtnisses In dem Familienbuch Senffts steht weniger das Leben Hanns Ludins als die Rolle seiner Frau Erla Ludin als familiäre Tradierungsinstanz für den Mythos des guten Nazis im Vordergrund. Als Mutter und Großmutter hat sie das Ludinsche Familiengedächtnis und die Vorstellungswelt der Nachgeborenen maßgeblich geprägt:

 Laut Alexandra Senfft sei Malte Ludin der Einzige, der im Gegensatz zu allen anderen fünf Kindern offensiv sagen kann: „Mein Vater war ein Nazi. Er schenkte seinen Geschwistern Dan BarOns Buch ‚Die Last des Schweigens‘, das in den 1980er Jahren beschrieb, wie Täterkinder sich im Gespräch über ihren Eltern äußern und wie schmerzhaft das ist“. (SW, 309)

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Sie verkörperte das Gute, ja sie war fast unsere Königin der Gerechten. […] Meine Großmutter hat ihre sechs Kinder im Glauben an den guten Nationalsozialisten erzogen; sie hat ihnen beigebracht, nur seine guten Seiten zu sehen, und ein guter Mensch kann keine Verbrechen begehen. (SW, 14)

Das Innere des Familiengedächtnisses ist durch das Bild „des schuldfreien, wahrhaftigen und stets anständigen“ (SW, 16) Nazi-Vaters besetzt, das es zu schützen gilt: „Erla wacht über das Tabu, das nicht gebrochen werden darf.“ (SW, 307) Durch ihr Schweigen und ihre Beschwichtigungen – sei es aus familiärer Harmoniesucht oder unveränderten politischen Anschauungen – hat Erla die innerfamiliäre Auseinandersetzung mit der Verstrickung Hanns Ludins in die NS-Verbrechen verhindert und somit entscheidend zu dem idealisierten Vaterbild in den nachfolgenden Generationen beigetragen: Dass er Deportationen […] veranlasst hat, ist in meiner Familie nie erwähnt worden und ich habe auch nicht genauer nachgefragt, […]. Also habe ich die häufig berichtete ‚Judenrettung‘ aufgegriffen, denn auch ich konnte damals nicht umhin, diese kleine Tür des Zweifels offen zu lassen. (SW, 17)

Das den Kindern auferlegte Schweigegebot und die Loyalität zu den Eltern mündeten schließlich in den Denkverboten. Erla von Jordan, geboren 1905 in Strasbourg, zog nach Freiburg, nachdem Strasbourg 1919 im Zuge des Versailler Vertrags Frankreich zugesprochen worden war. Dort in der Zeit im Gymnasium lernte sie Hanns Ludin kennen. In den 1920er Jahren absolvierte Erla eine Ausbildung zur Bode-Gymnastik-Pädagogin. Als Hanns Ludin wegen des Versuches „einer nationalsozialistischen Zellenbildung innerhalb der Reichswehr“ (SW, 51) im März 1930 verhaftet und im Ulmer Reichswehrprozess des Hochverrats angeklagt wurde, besuchte sie ihn im Gefängnis. In Briefen, die Erla während dieser Haftzeit an Hanns schrieb, steht, dass sie „stolz“ auf die Verurteilten war und „von Anfang an“ begeistert „die nationale Idee“ (SW, 52) Hanns Ludins teilte. Erla Ludin war die treue Ehefrau, die ihren Mann Zeit seines Lebens unterstüzt und ihm einen emotionalen Rückhalt gegeben hat. In der Slowakei, genauer gesagt in Pressburg, lebte die Familie in einer arisierten Villa. Als Diplomatengattin ging Erla sehr engagiert den Repräsentationspflichten nach. Laut ihrer Aussage soll Hanns Ludin über seine politischen Entscheidungen immer mit ihr gesprochen haben. In Bezug auf seine politische Karriere sei Hanns Ludin zweimal verzweifelt gewesen: einmal 1934 nach dem Röhm-Putsch, bei dem Hanns als SAFührer ungeschoren davongekommen war, aber viele seiner Fruende verloren hatte, und einmal 1944/45 am Ende des Krieges. Bezogen auf die erste Verzweiflung ihres Mannes habe Erla Ludin nicht an eine Verschwörung der SA unter Röhm geglaubt. Aber sie ist auch davon überzeugt, dass Hitler ein solches Vorgehen nicht

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in Auftrag gegeben hätte, wenn nicht ein konkreter Anlass dafür vorlag. Trotz der Ermordung einiger guter Freunde riet sie ihrem Mann nicht dazu, die NSDAP zu verlassen, obwohl Hanns dies ernsthaft in Erwägung gezogen hatte. Was die zweite persönliche Krise im Winter 1944/45 angeht, erinnert sich Erla daran, dass ihr Mann sich verzweifelt gefragt habe „ob wir von einem Genie oder einem Wahnsinnigen geführt wurden“ (SW, 86). Folglich ermunterte sie ihn mit folgenden Worten: „Wo gehobelt werde, fielen eben auch Späne […].“ (SW, 87) Die Erzählerin entlarvt Erla Ludin als überzeugte Nationalsozialistin: „Erla habe ihren Mann genau verstanden, im Auswärtigen Amt hätten doch alle gewusst, was mit den Juden geschah, […].“ (SW, 318) Während bei Hanns Ludin die Schuldfrage zwangsläufig immer – auch wenn sie in der Familie vielfach verleugnet und verdrängt wurde – mit im Raum steht, war dies bei Erla nicht der Fall. In der Familie wurde sie als Opfer und Heldin der Nachkriegszeit wahrgenommen, die den schwierigen Nachkriegsalltag tatkräftig bewältigt hat. Und so wurde ihr weitgehend Mitleid und Bewunderung entgegengebracht. Eine eigenständige politische Meinung und die Rolle des aktiv handelnden Subjekts wird der Mutter nicht zuerkannt. Durch die Auseinandersetzung mit der familiären NS-Vergangenheit zeigt die Erzählerin, dass es auch in Bezug auf Erla Ludin viele belastende Zuschreibungen gibt, die ganz offensichtlich der Vorstellung des apolitischen, passiven und unschuldigen Opfers widersprechen, die ganz unabhängig davon konstruiert wurde, was sie in der NS-Zeit getan bzw. gedacht hat und ob sie sich nach 1945 von ihren NS-Gesinnungen getrennt hat oder nicht. Die Großmutter, die sie „früher abgöttisch geliebt und nichts als idealisiert“ (SW, 21) habe, könne die Erzählerin heute schonungslos als „[e]ine Komplizin“ bezeichnen, „weil sie ihren Mann bedingungslos unterstützt und weggesehen hat“ (SW, 20). Erla Ludin starb 1997, acht Jahre bevor der Dokumentarfilm ihres Sohnes in die Kinos kam und zehn Jahre bevor das Familienbuch ihrer Enkelin erschien. Bis zu ihrem Tod leugnete sie die Schuld und Verantwortung ihres Mannes für seine während des Dritten Reiches begangenen Taten.

3.1.2 Der Mythos vom guten Nazi Anhand der Rekonstruktion der Diskurse über den Nationalsozialismus in den ersten Nachkriegsjahren zeigt die Erzählerin, wie Schule und Medien an der Konstruktion der Geschichtsbilder sowohl in der Öffentlichkeit als auch in der Familie mitgewirkt haben und welchen Einfluss sie auf die Verfestigung des Bildes des

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‚anständigen Nationalsozialisten‘ Hanns Ludin in der Familie genommen haben.⁵² Sie beschreibt, wie ihre Mutter den Tod ihres Vaters wahrgenommen hat: Eri erzählt […] von der Hinrichtung ihres Vaters, sie beharrt darauf, Hanns sei zu Unrecht gestorben, und wiederholt, was in der Familie Sprachregelung ist – dass die kommunistischen Tschechen nach dem Krieg einen propagandistischen Prozess geführt und an Ludin stellvertretend Rache für die Deutschen genommen hätten. (SW, 220)

Für Erika war ihr Vater ein irrtümlich falsch verurteiltes Opfer der internationalen Nachkriegspolitik. Laut der in der Familie geläufigen Formel sei Hanns Ludin als „ein[] exponierte[r] Vertreter des Dritten Reiches“ „nicht nur für seine eigenen Vergehen, sondern auch stellvertretend für die aller deutschen Täter zur Rechenschaft gezogen“ (SW, 43) worden. Es ist durchaus wahr, dass nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges in allen kommunistischen Staaten Schauprozesse organisiert wurden. Auch die neu gegründete Tschechoslowakei führte solche Prozesse gegen die deutschen Kriegsverbrecher, um gegenüber der Sowjetunion die Bewältigung der Kollaboration mit dem Dritten Reich zu demonstrieren.Vor diesem Hintergrund berücksichtigt die Erzählerin die Auswirkung der internationalen Nachkriegsordnung auf ihre Familiengeschichte, und zwar in doppelter Hinsicht: zum einen, wie die internationale Konstellation des Kalten Krieges auf die damalige Verurteilung und Hinrichtung Hanns Ludins wirkte, zum anderen, wie dieser politische Umstand in der Familie als Perzeptionsmuster der Relativierung der Schuld des Vaters diente: Ist das Plädoyer des Anklägers gegen Hanns Ludin nun eine propagandistische Rede, die nicht nur die Schuld der Slowaken am Holocaust verdeckt, sondern auch exemplarisch zeigt, wie übel die UdSSR den ehemaligen Gesandten missbraucht hat, um an den Deutschen Rache zu machen? So zumindest sagt man es in meiner Familie. (SW, 341)

Die Weltbühne des Kalten Krieges wurde von der Familie als Austragungsort des Mächtespiels wahrgenommen, an dem Hanns Ludin zum Bauernopfer der spannungsreichen Konfrontation der Siegermächte des Zweiten Weltkrieges nach 1945 wurde. Durch solche Erklärungsmuster wird aus einem verurteilten Kriegsverbrecher ein zu Unrecht hingerichtes Opfer der Siegerjustiz. Diese Bedeutungszuschreibung ist in der Familie derart fest verankert, dass sie nach dem Ende des Kalten Krieges im Rahmen der familiären Diskussion um die Schuld des Nationalsozialismus immer wieder in ein Argument mündet, „dass es doch an der Zeit sei, die stalinistischen Verbrechen aufzuklären“ (SW, 341). Diese Vergleiche sind eine Ablenkung und bergen die Gefahr der Rechtfertigung.

 Vgl. Konstanze Hanitzsch: Deutsche Scham, S. 287– 302.

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Die Erzählerin bringt die Konstruktion des Vaterbildes auch mit der Schulbildung in Verbindung. Auf den Wunsch Hanns Ludins hin besuchten vier Geschwister, Erika, Ellen, Tilman und Malte das deutsche Elitebildungsinstitut, nämlich das Internat Salem, dessen jüdischer Leiter Kurt Hahn an das tschechoslowakische Gericht ein Affidavit für Hanns Ludin geschrieben hat. Hahn verdanke es unter anderem Ludin, dass er 1932 nach seinem Protest gegen Hitler mit dem Leben davon gekommen sei. Ludin habe sich öffentlich für ihn eingesetzt, obwohl er bereits prominenter Nationalsozialist war. Noch lange nach Kriegsende blieb die Familie mit Kurt Hahn in Kontakt. Auch Berthold von Stauffenberg ist ein Mitschüler Erikas. Die Geschichte dieser Schule vor, während und nach dem Nationalsozialismus, die die Erzählerin beschreibt, bringt zum Vorschein, dass der Deutschnationalismus und die nationalsozialistische Ideologie eng miteinander verschränkt sind. In national-konservativen Kreisen wurde Hanns Ludin als unschuldiges Opfer angesehen. Indem die Rolle Hans Ludins als Hitlers Gesandter auch in der Schule ausgeblendet wurde, galt er nur als „der holde Judenretter“ (SW, 14). Die Geschwister Ludin wurden somit in dieser Eliteschule als die Kinder eines deutsch-nationalen Widerstandskämpfers wahrgenommen, der das Leben des ehemaligen jüdischen Leiters gerettet hatte. Für die Nachkommen wäre es umso schwieriger gewesen, sich kritisch mit der wahren Rolle ihres Vorfahrens im Nationalsozialismus auseinanderzusetzen. Als Wahrnehmungsfolie für den guten Nazi-Vater in der Familie fungiert in letzter Zeit vor allem das Bild des aufrechten Nationalsozialisten und Märtyrers Hanns Ludin, den der Autor Ernst von Salomon in seinem autobiografischen Roman Der Fragebogen ⁵³ porträtiert. Der 1951 erschienene Roman Der Fragebogen zählt zu den erfolgreichsten Büchern in den 1950er und 1960er Jahren.⁵⁴ Salomon beschreibt darin seine Begegnung und Gespräche mit Hanns Ludin während der Internierung in einem Internment Camp bei Natternberg. Versehen mit der Widmung „‚Für Eri Ludin‘, mit dem innigen Wunsch, ihr alles und noch viel mehr erklärlich zu machen. E. v. S.“ (SW, 168 f.) bekam Erika den Roman 1953 von Salomon geschenkt: Ob ihr der ‚Fragebogen‘ wirklich irgendetwas und gar noch viel mehr erklärlich gemacht hat, bleibt fraglich, zumal, wie ein Zeitzeuge sagt, Wahrheit und Dichtung bei diesem Werk nahe beieinanderliegen. Festzuhalten ist zumindest, dass Salomon ähnlich sozialisiert war wie Hanns – beide sahen die Kameradschaft und das Bemühen um Deutschland als hohe Werte an – und noch lange nach dem Krieg gern mit Freunden wie Ernst Jünger und Richard Scheringer Lieder anstimmte, die sie aus der Soldatenzeit kannten. Mit seinem Bestseller hat Sa-

 Ernst von Salomon: Der Fragebogen, Hamburg 1967.  Vgl. Torben Fischer/Matthias Lorenz (Hrsg.): Lexikon der „Vergangenheitsbewältigung“ in Deutschland. Debatten- und Diskursgeschichte des Nationalsozialismus nach 1945, Bielefeld 2007, S. 113 – 115.

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lomon die Persönlichkeit von Eris Vater stellvertretend für diese verlorenen Werte dargestellt und ihm ein Denkmal gesetzt. Auch wenn er einen parteiischen Blick und ein verklärtes Bild entworfen hat, so ändert das gewiss nichts daran, dass viele andere Menschen, die Ludin kannten, ihn ebenfalls als ‚anständigen Mann‘ wahrgenommen hatten. (SW, 169, Hervorh. i. O.)

Hier weist die Erzählerin darauf hin, welch großen Einfluss Salomons Roman – ungeachtet seiner politischen Einstellung – auf die Ausformung des Familiengedächtnisses genommen hat. In erster Linie verwendet sie den Roman als Dokument der Geschichte, aus dem sie die in direkter Rede wiedergegebenen Äußerungen und Gedanken Hanns Ludins und die Beurteilung und Bewertung Salomons zitiert, um die letzten Tage ihres Großvaters, die für die Familie unbekannt waren, und seine Beweggründe plastisch zu rekonstruieren. Dadurch veranschaulicht sie, welche Rolle das von Salomons Roman geschaffene Bild des aufrechten Nationalsozialisten für die Verleugnung und Abspaltung im verklärten Familiengedächtnis gespielt hat. Auf fast 700 Seiten stellt Der Fragebogen, der formal als Abarbeitung des Entnazifizierungsfragebogens der Alliierten konstruiert ist, die Mehrheit der deutschen Bevölkerung als in Opposition zum NS-Regime stehend dar. Im letzten Kapitel des Romans beschreibt der Autor seine lange Haftzeit im Internment Camp bei Natternberg, in dem er auf Hanns Ludin traf und sich mit ihm intensiv unterhielt, um seine Motive dafür zu verstehen, warum Ludin Hitler unterstützt und ihm bis zum Schluss die Treue gehalten hat. Dabei werden die aufrechten, vorbildlichen Deutschen den arroganten, brutalen amerikanischen Besatzern gegenübergestellt. Gerade Hanns Ludin steht stellvertretend für jene „intelligente[n], gebildete[n] und in allen Fragen des Lebens erstaunlich aufgeschlossene[n]“ (SW, 166) deutschen Männer: „Ludin, alter braver Ludin. Verstehe einer die Welt! Ludin verstand sie.“ (SW, 166) Sowohl Ludin als auch Salomon führen ihre angebliche Schuld auf Notwendigkeit und Schicksal zurück, was typische, phrasenhafte Schuldabwehr von zahlreichen hochrangigen Nationalsozialisten war. Ludin sei davon überzeugt, im Sinne der Deutschen und der Slowaken gehandelt zu haben. Als er erfahren hat, dass die slowakischen Juden nicht ausgesiedelt, sondern umgebracht worden waren, soll er gegenüber Salomon in seinem heimatlichen, badischen Dialekt ausgerufen haben: „Das ischt eine bodenlose Sauerei!“ (SW, 167) Das in Der Fragebogen nachgezichnete Bild Hanns Ludins läuft darauf hinaus, dass er zum Opfer seiner Treue und Liebe zum deutschen Volk geworden ist. Hinzu kommt Ludins Bekenntnis, dass die Familie ein Hauptgrund für ihn gewesen sei, nicht zu fliehen, sondern sich seiner Verantwortung zu stellen: „Und außerdem möchte ich nicht, daß meine Kinder jemals von ihrem Vater sagen können, er habe für seine Sache nicht geradegestanden.“ (SW, 169) Insofern mag sein Tod der Familie ein schweres Erbe hinterlassen haben, diesem von Salomon geschaffenen Andenken Rechnung tragen zu müssen. Auf die phrasenhafte Formulierung der Schuld stützend stilisiert

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Salomon mit nationalem Pathos Hanns Ludin zum „Lager-Christus“⁵⁵, der sich stellvertretend für die Schuld des deutschen Volkes opfert.⁵⁶ Aus diesen Umständen lässt sich schließen, dass diese im Roman Salomons gezeichnete religiöse Erlöserfigur Ludins eine kritische Auseinandersetzung der Familie mit seiner Verstrickung in den Holocaust erschwert hat. Vor diesem Hintergrund spekuliert die Erzählerin, dass „er als lebender Anwesender unter uns vielleicht nicht so idealisiert worden wäre wie der große Unbekannte, der am Galgen Gehenkte“. (SW, 119) Die strikte Trennung zwischen dem verurteilten Kriegsverbrecher und dem aufrichtigen, würdigen Mann konnte sich in der Familie Ludin gerade deswegen aufrechterhalten, weil die Kinder vaterlos aufgewachsen sind und somit keine Möglichkeit dazu gehabt haben, ihren Vater zur Rede zu stellen. Die schemenhafte „Allgegenwärtigkeit des väterlichen ‚Phantoms‘“⁵⁷, dessen Hüterin die „das Gute“ (SW, 14) verkörpernde Mutter ist, läuft nicht zuletzt auf die Idealisierung des Vaterbildes hinaus. In der Ludinschen Familie dient der tote Vater den Kindern als Projektionsfläche für die eigenen Vorstellungen und Ideale, die nicht mit der Realität in Einklang gebracht werden müssen. Dies unterscheidet sie von jenen Täterkindern, die von dem in der Nachkriegszeit real erlebten Vater nicht selten „Enttäuschungen und Entidealisierungen“ erfahren haben.⁵⁸ Die Erinnerung an Hanns Ludin wurde zum einen durch seine Frau in der Familie gepflegt und ist zum anderen auf das engste mit den gesellschaftlichen Diskursen verwoben, innerhalb derer der Mythos des guten Nazis weitgehend unbeschädigt bleibt. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Hoheit der Mutter über das familiäre Gedenken an den Vater als guten Nazi durch die verklärenden Diskurse über die NS-Zeit in der jungen Bundesrepublik unterstützt und bestärkt wurde. Infogedessen konnte die Verstrickung des Vaters in die NS-Verbrechen mit seiner moralischen Integrität in Einklang gebracht werden. So muss die nachweisliche historische Schuld Hanns Ludins nicht zwangsläufig das positive Vaterbild und damit das eigene Selbstbild, Nachkomme eines Helden zu sein, beeinträchtigen. Als Erstgeborene Hanns Ludins und als sein Lieblingskind litt Erika unter diesem

 Ernst von Salomon: Der Fragebogen, S. 648.  Der Roman Der Fragebogen endet mit der Hinrichtung Hanns Ludins und seinen letzten Worten: „Hanns Ludin, entsetzlich abgemagert in seinem viel zu weit gewordenen grauen Flanellanzug, bekam den Strick um den Hals gelegt. Der Henker drehte ihn langsam zusammen. Hanns Ludin litt zwanzig Minuten lang. Seine letzten Worte waren ein Gedenken an seine Frau und seinen Sohn Tille und der Ruf: Es lebe Deutschland!“ (Der Fragebogen, S. 668)  Margit Reiter: Vaterbilder und Mutterbilder. Geschlechtsspezifische Zuschreibungen von Täterschaft und Schuld un der NS-Nachfolgegeneration, in: Maja Figge/Konstanze Hanitzsch/Nadine Teuber: Scham und Schuld, S. 61– 79, hier 68. Hervorh. i. O.  Vgl. ebd.

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Erbe am stärksten. Die Erzählerin berichtet, dass ihre Mutter häufig zu Gast bei Ernst von Salomon war und den Fragebogen ihr ganzes Leben lang immer wieder an gute Freunde und ihre Geliebten verschenkte.

3.1.3 Trauer und Melancholie Handle in Taten und Worten immer so, dass du Taten und Worte jederzeit vor dir und, wenn es sein muss, vor den Menschen verantworten kannst. […] Ein Mädchen, eine Frau, die sich gehen lässt und die der Frau angeborene Zurückhaltung verletzt, verliert unrettbar die Achtung gesund denkender Männer; ob das gerecht oder nicht ist, mag dahingestellt bleiben. Es ist so und danach richte dich. (SW, 163)

In einem langen Brief, den Hanns Ludin Erika während der Haftzeit 1946 schrieb, riet er ihr, „anständig und nützlich“ (SW, 163) zu sein. „Wahrheitsliebe, Gerechtigkeit, Geduld und Ausdauer, Verschwiegenheit, Selbstbeherrschung und Härte gegen sich selbst“ (SW, 163) sind die Tugenden, welche er die Tochter zu befolgen auffordert. Aus zahlreichen Briefen Erikas an ihre Mutter geht hervor, dass diese Ratschläge und Ideale des Vaters Erika sehr geprägt haben: „Vatis Brief ist mir zurzeit so viel wie noch nie. Ich verstehe ihn jetzt auch so viel mehr, und zwar nicht vom Verstand her […] , sondern vom Gefühl aus, […].“ (SW, 162) Wenige Monate nach der Hinrichtung ihres Vaters verbringt Erika wegen einer schweren Krankheit, deren eindeutige Diagnose jedoch nicht gestellt werden konnte, eine lange Zeit isoliert im Krankenhaus. Die Erzählerin deutet diese Krankheit als ein aus dem grausamen Vatertod resultierendes psychosomatisches Symptom der Trauer, die nicht ausgelebt werden konnte. In jener Zeit hatten Trauer und Ohnmacht in der Familie offensichtlich keinen Platz, denn „[a]uch in den regelmäßigen Briefen zwischen Erla und Erika taucht der Mann und Vater so gut wie nie auf – fast, als wäre nichts geschehen. Das unerträgliche Schmerzhafte wird nicht ausgesprochen“ (SW, 120). Hinzu kam noch, dass Erika nach ihrer Entlassung aus dem Krankenhaus das Internat verlassen musste. Die Schulleitung schreibt an Erla Ludin, dass Erika den Anforderungen der Elitenschule nicht mehr gewachsen sei. Später beziehen sich die Familienmitglieder immer wieder auf die damalige als Hormonsstörung vermutete Erkrankung und schwache Schulleistung Erikas und schließen daraus eine Erklärung für ihre unglückliche Entwicklung und späteren Suchtprobleme. Nach der Absolvierung einer Ausbildung zur Fotografin heiratet Erika Heiner Senfft, einen Anwalt. Ihre Hamburger Wohnung ist das Zentrum des „links-bürgerliche[n] Establishment[s]“ (SW, 246), wo die prominenten linken Intellektuellen ein und ausgehen. Das Ehepaar Senfft soll sich unter anderem mit Günter Gaus und dem Ehepaar Brandt angefreundet haben. Die Erzählerin vermuttet, dass ihre Mutter in dieser

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aufgeklärten Gesellschaft, in der man viel über „die immer wieder neuen Enthüllungen über die Verbrechen der Nationalsozialisten“ (SW, 205) und ihren Einfluss auf die Gegenwart diskutiert hat, unter einer „tiefe[n] Unsicherheit“ und „einem Minderwertigkeitskomplex“ gelitten hätte, die sie indes mit „einer Mischung aus Selbstüberschätzung und Anspruchshaltung“ (SW, 246) überspielt hat. Ihre Scham einerseits darüber, den Wünschen und Idealen ihres Vaters nicht entsprochen zu haben,⁵⁹ und andererseits durch den Vater, dessen wahre Rolle im NS-Regime ihr allmählich in den Sinn kommt, ließen in ihrer Psyche ein verborgenes schwarzes Loch entstehen, das die positiven Erinnerungen an den Vater und die Gründe für seine Hinrichtung, mit denen sie schließlich im linksintellektuellen Freundeskreis häufig konfrontiert wird, in sich vereinigt. Selbst ihr Ehemann Heiner, der dem Nationalsozialismus und der Rolle Hanns Ludins als Hitlers Gesandter mit einer äußert kritischen Haltung begegnet, hielt Erika ihre unkritische Haltung gegenüber ihrem Vater vor. Und die Erzählerin gesteht, dass sie als Tochter mit hilflosen Predigten immer wieder versucht hat, ihre Mutter von ihrer Sicht der Dinge zu überzeugen. Vor diesem Hintergrund ist es nicht verwunderlich, dass Erika sich verschließt und allmählich anfängt, sich selbst auszuschließen. Erika ist zwischen dem Andenken Hanns Ludins und Schuldvorwürfen hinund her gerissen. Dies zeigt sich darin, dass sie einerseits nach der Scheidung den Namen ihres Vaters wieder annimmt aber andererseits ihm die doppelte Schuld vorwirft: „Erst habe er als Nationalsozialist Unrecht begangen und dann gar noch seine Familie verlassen.“ (SW, 263) Ihre Emotionskonflikte bezüglich der Rolle ihres Vaters im NS-Regime manifestieren sich vor allem in Konflikten mit ihrer Mutter. Erika wirft Erla vor, ihren Mann falsch behandelt zu haben: „Das hätte alles nie geschehen dürfen!“ (SW, 317) Aus den Briefen Erikas an ihre Mutter lässt sich indes schließen, dass trotz scharfer Vorwürfe die Tochter in einem emotionalen Abhängigkeitsverhältnis zu ihrer Mutter steht. Was das Gedenken des Vaters angeht, ist sie auf die Deutungshoheit der Mutter über das Leben Hanns Ludins angewiesen. Erla und Erika teilen Erinnerungen an den Ehemann und Vater, wird dieser doch in äußeren Konflikten zwischen Mutter und Tochter komplett ausgeklammert. Anhand von Briefen, die Erika und Erla miteinander gewechselt haben, beschreibt die Erzählerin Konflikte zwischen Mutter und Tochter als „Randgefechte […], die ver-

 An einem Brief an ihre Mutter während der Ausbildungszeit lässt sich ein tiefes Schamgefühl Erikas ablesen: „Wahrhaftig, es tut mir so schrecklich leid, dass ich euch nur Kummer und Enttäuschung, aber keine Freude bereite. Bin selbst vielleicht am unglücklichsten darüber. Aber ich bin nun mal eine Missgeburt, zu nichts selbst fähig, kann nichts leisten. Erwarte nichts von mir. Alle haben was von mir erwartet, aber es ist nichts da. Darum hat es auch keinen Sinn, wenn ihr dauernd euer Geld und Hoffnungen auf mich setzt. Setzt alles auf die anderen Geschwister. Dümmer bin ich wohl nicht als sie, aber ich werde mit nichts fertig und kann das Leben nicht meistern.“ (SW, 137)

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hindern, dass sie sich mit dem eigentlichen Thema befassen, welches zu sehr wehtut, um es anzurühren: Hanns Ludin“ (SW, 227). Die immer gehässiger werdenden Streitigkeiten zwischen Erika und Erla sind in den Augen der Erzählerin nichts anderes als ein „subtile[r] Kampf um ‚die Wahrheit‘“ (SW, 239, Hervorh. i. O.). Dass hinter den „scharfe[n] und irrationale[n] Vorwürfe[n]“ (SW, 262) Erikas gegen ihre Mutter die Sehnsucht nach einem Eingeständnis der Wahrheit nicht nur über Hanns Ludin, sondern auch über Erla steckt, lässt sich an dem folgenden vorwurfsvollen Brief Erikas an ihre Mutter erkennen: Es widerstrebt mir auch, dich immer, wie so viele andere auch, schonungsvoll und mitleidig zu behandeln, […], und ich finde, du verdienst nicht, nur mit Mitleid und Schonung behandelt zu werden, für so schwach kann ich dich nicht halten. […] Du bist nämlich gar nicht schwach, das hast du in bestimmten Situationen oft genug bewiesen. […] Ich glaube einfach nicht, dass du dich nicht mehr ändern kannst, wie du immer behauptest. (SW, 226 f.)

Erika spricht von Erlas „feigem Verstellen vor der Wirklichkeit“ (SW, 225), doch was sie genau damit meint und was sie, vom „wahren Leben“ (SW, 227) schwadronierend, ihrer Mutter eigentlich vorwirft, bleibt in ihren Gezänken unklar. Ihre eigene Meinung über die Mutter kann Erika nicht übers Herz bringen. Es ist offensichtlich, dass sie nicht in der Lage ist, sich aus der Zone der Tabus, der Denk- und Sprechgebote zu befreien. Sie ist loyal an das von der Mutter oktroyierte Schweigegebot gebunden. Erla hält an ihrer Ansicht der Dinge fest und kommt der unausgesprochenen Aufforderung der Tochter zum Geständnis nicht nach. Eine Befreiung Erikas von der Beschämung angesichts der doppelten Erkenntnis (der Täterschaft des Vaters und des durch die Mutter verfestigten Mythos des guten Nazis) könnte unter anderem dadurch zustande kommen, dass das voneinander abweichende oder widersprüchliche Vaterbild aus der Deutungshoheit der Mutter gelöst wird. In diesem Zusammenhang bemerkt die Erzählerin, dass ein ehrliches Schuldeingeständnis der Mutter Erika zur Versöhnung mit der Familiengeschichte hätte verhelfen können: Die Mutter weiß, was ihrer Tochter fehlt, doch sie bringt es nicht über sich zu sagen: Du hast recht, Vaters Taten waren ein Unrecht und ich habe daran mitgewirkt, weil ich ihn unterstüzt habe, verzeih mir, lass uns um ihn und lass uns um seine Opfer trauern. Sie sagt es nicht, sie kann es nicht, ihre Liebe zu ihrem Mann ist stärker, dabei hat Hanns doch bis zur letzten Konsequenz die Verantwortung für sein Handeln getragen. (SW, 307)

Aus der Loyalität ihrem Mann gegenüber kann Erla nicht wagen, auf ein offenes und ehrliches Gespräch mit der leidenden Tochter einzugehen. An dieser Stelle beruft sich die Erzählerin auf einen Freund der Familie, der bemerkt, Erika sei „von den beiden Frauen die schwächere, die kränkere gewesen, Erla habe sich von ihr nicht kleinkriegen lassen. Erla sei wohl sogar stärker als ihr Mann gewesen“ (SW,

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3 Von der Schamabwehr zum Dialog

318). So sieht die Erzählerin in Erla eine der „einflussreichen Frauen im Hintergrund, die in der Geschichte allzu oft vergessen werden“ (SW, 318). Für Erika sind Schuldzuschreibung und Verinnerlichung des idealen Vaterbildes ineinander verschränkt. Sie kann nicht mit „widerstreitenden Gedanken, Gefühlen, Mutmaßungen und unerträglichen Tatsachen“ (SW, 21) fertig werden. Letztendlich scheitert sie daran, die Schuld des Vaters in ihr inneres Bildnis von ihm zu integrieren und ein eigenes, auf überprüfbaren Fakten beruhendes Gegenbild des Vaters zu schaffen. Sie verharrt somit ihr ganzes Leben lang in den „fortgesetzten und immer dezidierteren Vorwürfe[n]“ (SW, 317) gegen die Mutter und andere Familienmitglieder, die die Mutter nur mit Mitleid und Respekt behandeln, bewahrt sie doch gleichzeitig die von Liebe und positiven emotionalen Bindungen geprägte Beziehung zum Vater sowie dessen Verlust unbetrauert im Inneren auf. Hier kommt die Konfliktspirale in Gang, die das einheitliche Andenken des Vaters gefährden kann.

3.1.4 Krypta als familiäre Angelegenheit Während Erla im Familiengedächtnis positiv konnotiert ist, so ist Erika negativ konnotiert, denn diese soll die Einzige in der Familie gewesen sein, die – wenn sie alkoholisiert war – den toten Vater beschimpft, verurteilt und als Schwein bezeichnet und die von allen Familienmitgliedern angehimmelte Mutter so hässlich behandelt hat. Erla ist getragen von dem schablonenhaften Bild des übertrieben idealisierten Ehemanns und (Groß‐)Vaters, Erika hingegen von dem Wissen um dessen Mitwirkung am Holocaust. Aus psychoanalytischer Perspektive beschreibt die Erzählerin, wie das negativ besetzte Familienmitglied und mit ihm das NichtErwünschte aus der Familie ausgeschlossen wird: „[Erika] verletzt sich immer wieder aufs Neue an der Mauer, die ihre Familie bildet, und ihrer eigenen, die sie um sich herum errichtet hat.“ (SW, 318) Mit dieser Bemerkung weist die Erzählerin auf den subtilen Ausschluss Erika Ludins aus der Familie hin. Dieser lässt sich vordergründig auf ihre Symptome wie Alkoholsucht und psychische Erkrankung zurückführen, deren Ursachen die Familienmitglieder bei der hormonellen Krankheit, ihrem Ehemann, der späteren Scheidung von ihm und der genetischen Disposition sehen. Nach der Auseinandersetzung mit der Familiengeschichte glaubt die Erzählerin jedoch nicht mehr an diese Familienlegende, die sie jahrelang unbewusst verinnerlicht und mitgetragen hat. Ihrer Auffassung nach fungiert Erika in der Familie als Symptom der Verdrängung und Abspaltung, das sich aufgrund des familiären Schweigens über die Schuld des Nazi-Vaters gebildet hat:

3.1 Alexandra Senfft: Schweigen tut weh. Eine deutsche Familiengeschichte

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In unserer Familie herrschte stets eine immense Abwehr gegen alles ‚Böse‘: Der Vater, mein Großvater, galt als ‚guter Nazi‘ […]. Einer, der zwar Deportationsanordnungen für slowakische Juden unterzeichnet hatte, aber doch angeblich nicht ahnen konnte, dass diese Juden keineswegs in Arbeitslager kamen, sondern ermordet wurden. […] Oder selbst ein Opfer seiner Zeit, wie es bei uns auch heißt. […] Alles, was in das makellose Bild nicht passte, durfte nicht sein, wurde verschwiegen, wegdiskutiert, schöngeredet. Die Täter, das waren die vulgären Nazis, nicht wir, das können wir gar nicht sein, denn wir sind gebildet und kultiviert. Nur meine Mutter war mitunter ‚böse‘ […]. (SW, 13 f., Hervorh. i. O.)

Der Abwehrmechanismus einer schmerzvollen Erkenntnis, der von dem schamauslösenden Tun eines geliebten Anderen herrührt, und der Verbleib des Abgewehrten lassen sich nach Nicolas Abraham und Maria Torok mit dem psychoanalytischen Konzept der Kryptisierung bzw. der Krypta fassen.⁶⁰ Bei einer Kryptisierung wird der Verlust des geliebten Anderen nicht in Worte gefasst und unbewusst an einem „abgeschlossenen Ort inmitten des Ichs“⁶¹ abgelagert: „Es muß um den plötzlichen Verlust eines narzißtisch unersetzlichen Objekts gehen, wobei der Verlust selbst eine Kommunikation darüber verbietet.“⁶² Dies ist der Fall, wenn der geliebte Andere unbetrauerbar ist, da das Eingestehen seiner Existenz und/oder seines Verlustes wegen seiner „schändliche[n], schmähliche[n], ungehörige[n] Handlungen“⁶³ das Scham- und Schuldgefühl erzeugen würde. „Die unsagbare Trauer errichtet im Inneren des Subjekts eine geheime Gruft“⁶⁴, in der das Verlorene sich zusammen mit den Umständen seines Verlustes verschlossen ist. Die Krypta verhindert somit die beschämende Erkenntnis der Taten des geliebten Objekts, die Scham hervorruft. Zusammen mit dem verlorenen Anderen sowie Schamund Schuldgefühlen wird auch die positiv besetzte „Erinnerung an eine Idylle [kryptisiert], wie sie mit einem bevorzugten Objekt gelebt wurde und die […] als uneingestehbar verborgen wurde; eine Erinnerung, die fortan an einem sicheren Ort verwahrt bleibt, in Erwartung ihrer Auferstehung“⁶⁵. Infolgedessen können sich in der Krypta „Lust und Leid gleichermaßen“⁶⁶ befinden. Eine „heimliche Lust“ werde damit als dissoziiertes „intrapsychisches Geheimnis“ verewigt, so Abraham

 Vgl. Nicolas Abraham/Maria Torok: Trauer oder Melancholie. Introjizieren – inkorporieren, in: Psyche 55 (2001) H. 6, S. 545 – 559; Nicoals Abraham/Maria Torok: Das verloren gegangene Objekt-Ich. Anmerkungen zur endokryptischen Identifikation, in: Psychoanalytisches Seminar Zürich (Hrsg.): Sexualität, Frankfurt a. M. 1975, S. 61– 88.  Nicolas Abraham/Maria Torok: Das verloren gegangene Objekt-Ich, S. 63.  Nicolas Abraham/Maria Torok: Trauer oder Melancholie, S. 549.  Ebd., S. 552.  Ebd., S. 551.  Nicolas Abraham/Maria Torok: Das verloren gegangene Objekt-Ich, S. 62.  Ebd., S. 75.

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3 Von der Schamabwehr zum Dialog

und Torok.⁶⁷ Markus Brunner überträgt das psychoanalytische Modell der Krypta konkret auf die Nachkommen der nationalsozialistischen Täter und die postnationalsozialistische Gesellschaft.⁶⁸ Er richtet sein besonderes Augenmerk speziell auf „die Mechanismen der postnazistischen Melancholievermeidung“⁶⁹ angesichts des Zusammenbruchs des Dritten Reiches und „die Spezifität der durch die Nachwirkungen des Nationalsozialismus geprägten innerfamiliären Prozesse“⁷⁰ d. h. die Mechanismen der Weitergabe des NS-Erbes. In Bezug auf das Verhältnis von Trauma und Krypta, die beide ähnliche psychische Abwehrmechanismen der Abspaltung aufzeigen, weist Brunner darauf hin, dass sie auf unterschiedlichen Bedingungen fußen: Während beim Trauma ein überwältigendes Erleben als Unübersetzbares abgeschottet werden muss, spaltet die Krypta etwas schon Symbolisiertes ab, einen benannten Wunsch, gar eine gelebte Lust, die aber als Geheimnis nicht ausgesprochen werden darf und deshalb isoliert werden muss. Während das Loch des Trauma ein ‚Jenseits des Lustprinzips‘ darstellt, gehorcht die Inkorporation gerade diesem Lustprinzip, indem es die Lust konserviert und in der Krypta das Versprechen auf ihre Wiederkehr festhält.⁷¹

Demnach sei die kryptische Abspaltung auf die Täterseite, die Abspaltung der traumatischen Botschaften auf die Opferseite einzuordnen. Da die Krypta auch „die Lust in Form einer Hoffnung auf ihre reale Wiederholung“⁷² durch den die Trauerarbeit verhindernden Mechanismus der Inkorporation unbewusst bewahrt, kann sie – an das verlorene Objekt und die mit ihm verbundenen Wünsche fixiert – sehr lange wirkmächtig bleiben: beispielsweise die lustvolle Teilhabe an der omnipotenten Volksgemeinschaft und die idyllische Kindheit, die viele Nachkommen der NS-Täter während der NS-Zeit erlebt haben. In diesem Zusammenhang bezeichnet Brunner die Angehörigen der Erlebnisgeneration als „Krypta-TrägerInnen“⁷³. Aus psychodynamischer Perspektive hat die Kryptisierung statt Trauer das affektisolierte Sprechen einerseits, ein unkontrolliertes, leiblich-affektives Agieren des Kryptisierten andererseits zur Folge. Die Familie Ludin verfertigte die Krypta unter Berufung auf die Mutter als primäre Erinnerungs- bzw. Kryptaträgerin sowie auf die gesellschaftlichen Diskurse

 Nicolas Abraham/Maria Torok: Trauer oder Melancholie, S. 551.  Vgl. Markus Brunner: Trauma, Krypta, rätselhafte Botschaft. Einige Überlegungen zur intergenerationellen Konfliktdynamik, in: Psychosozial 34 (2011) H. 2, S. 43 – 59.  Ebd., S. 52.  Ebd., S. 43.  Ebd., S. 54. Hervorh. i. O.  Jan Lohl: „Morden für das vierte Reich“, S. 175.  Ebd., S. 55.

3.1 Alexandra Senfft: Schweigen tut weh. Eine deutsche Familiengeschichte

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über den Nationalsozialismus in der frühen Bundesrepublik. Durch die Kryptisierung schützt die Familie das gute Vaterbild. Dies behütet auch die jeweiligen Familienmitglieder vor der schamauslösenden Erkenntnis der Involvierung des Vaters in den Holocaust sowie vor dem Verlust der Erinnerung an das idyllische Leben während des Dritten Reiches. Das Selbstbewusstsein der Nachkommen, aus einer anständigen, bildungsbürgerlichen Familie zu stammen, ist gemeinsam mit dem idealisierten Vaterbild in der Krypta zu bewahren. Das Bild des guten Vaters verbirgt indes die beschämende historische Schuld Hanns Ludins. Die Familie Ludin verdrängt die Konfrontation mit einem verleugneten bösen Teil des Vaters, der an dem Holocaust beteiligt war, durch die Verlagerung dieser Erkenntnis auf Erika, die an die abgespaltene, dunkle Seite der Vergangenheit erinnert.⁷⁴ Alles ‚Böse‘ wird in die Schwester Erika projiziert. Krypta als eine Form der Schamabwehr kann auch die Angst verbergen, aus einer Gesellschaft verstoßen zu werden, indem Scham als „Angst vor der sozialen Degradierung“⁷⁵ oder als „Furcht vor der Verringerung des eigenen Ansehens in den Augen anderer“⁷⁶ definiert wird. Erika wird so unauffällig wie möglich aus der Familie ausgegrenzt, damit der schamauslösende Anlass möglichst wenig offenbar wird und die Familie sich in die anständige Gesellschaft eingliedern kann.⁷⁷ Dieser Vorgang des Ausschlusses Erikas aus der Familie Ludin, der mit der Kryptisierung der beschämenden Geschichte des Vaters einhergeht, korrespondiert mit der Erklärung von Hans Peter Dreitzel in Bezug auf den Ausschluss des Schamsubjekts durch andere Teilnehmer der Schamsituation: Damit die Scham des Schamsubjekts nicht auf die Gemeinschaft übergreifen und andere Mitglieder stören kann, wird das Schamsubjekt nicht „wie bei der Schuld, bloßgestellt, angeprangert und veröffentlicht, sondern genau umgekehrt versteckt und auf

 Vgl. Konstanze Hanitzsch: Deutsche Scham, S. 312.  Norbert Elias: Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen. Zweiter Band, Wandlungen der Gesellschaft. Entwurf zu einer Theorie der Zivilisation, Frankfurt a. M. 1991, S. 397. Norbert Elias beschäftigt sich vor allem mit den sozialen Ursprüngen der Scham. Den Ursprung der Emotionen sieht er im Aufbau der Gesellschaft. Soziale Emotionen wie die Scham entstehen aus dem sozialen Druck, sich angemessen zu verhalten, wobei man eher an dem ausgerichtet ist, was andere denken. Im Zuge dieser Vorgänge verinnerlicht man immer mehr die Sittlichkeit und überträgt diese auf das eigene Handeln.  Ebd., S. 347.  Dass die Schamvermeidung und somit die Kryptisierung kein rein individuelles Anliegen ist, sondern alle Familienmitglieder daran beteiligt sind, lässt sich an der folgenden Bemerkung von Hans Peter Dreitzel ablesen: „In peinlichen Situationen zeigt sich erst so recht, was Vergesellschaftung heißt: unverzüglich stehen alle zusammen, um das peinliche Ereignis auszulöschen. […] In peinlichen Situationen leisten alle zusammen Reparaturarbeit zur Wiederherstellung sozialer Normalität.“ Vgl. Hans Peter Dreitzel: Reflexive Sinnlichkeit. Mensch-Umwelt-Gestalttherapie, Köln 1992, S. 162.

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3 Von der Schamabwehr zum Dialog

die Hinterbühne der Intimräumlichkeiten geschoben“⁷⁸. Indem nach außen hin vorgespielt wird, dass alles in Ordnung sei, kann die Scham vermieden werden. Um ein einheitliches Bild der guten Eltern zu bewahren, muss die Familie Erikas Leiden, das auf die schamauslösende „dunkle[] Seite“ (SW, 118) der NS-Familienvergangenheit hinweist und somit das konfliktfreie Familiengedächtnis jederzeit ins Wanken bringt, kryptisieren. Als Symptom der Verdrängung der Familiengeschichte kann Erikas Leiden nicht losgelöst von ihr betrachtet werden. Die wahren Ursachen ihrer Symptome werden jedoch innerhalb der Familie ebenfalls verdrängt. Die Familienlegende, dass Erikas Alkoholismus und ihre Depression einer „vermeintliche[n] ‚hormonelle[n] Dysfunktion‘ sowie ihr[em] Ex-Mann Heiner“ (SW, 309) geschuldet sei, ist in der Tat das Resultat der Kryptisierung, die der Familie als schamvermeidende Strategie dient und einen realitätsgerechten Umgang mit der familiären NS-Vergangenheit verhindert. Wenn Erikas Leiden ernst genommen worden wäre, hätten sowohl der Mythos des guten Nazis, der im mütterlichen Familiengedächtnis bewahrt bleibt, als auch das positive Mutterbild als unschuldiges Opfer und apolitische Frau neu verhandelt werden müssen. „Stattdessen wird sie von niemandem ernst genommen und mit ihren Bemerkungen über die Vergangenheit gar noch pathologisiert: ‚Du spinnst doch!‘“ (SW, 310, Hervorh. i. O.) Die Taten des Vaters und die Mitverantwortung der Mutter im Nationalsozialismus in Worte zu fassen, käme dabei der Befreiung der abgespaltenen dunklen Seite des Familiengedächtnisses aus der Krypta gleich. Erst die Erzählerin als „die Nächste in der weiblichen Linie“ (SW, 16) nach den kurz hintereinander erfolgten Toden von Erla und Erika deutet die Lebensgeschichte ihrer Mutter in entsprechender Weise, indem sie von den Symptomen auf den Auslöser, d. h. von der beschädigten Seele Erikas auf die „ursprüngliche, nie überwundene Traumatisierung“ (SW, 338) durch den unbetrauerten Vaterverlust und die Abspaltung der familiären NS-Vergangenheit zurückgeht.⁷⁹ In der Ludinschen Familie repräsentiert Erika das widersprüchliche Doppelte, das darin besteht, dass der Vater als „ein Leit- und Idealbild“ (SW, 281) nach dem Tod wie ein Phantom in der Familie fortbesteht, gleichzeitig aber dessen Tun mit Scham besetzt ist. Damit der Anschein der intakten Familie bewahrt wird, mussten Erika als Störfaktor des ambivalenzfreien positiven Familiengedächtnisses sowie ihr sprachloses Leiden, das von der Erkenntnis der historischen Schuld der Eltern herrührt, verborgen werden: „Alle wollen Harmonie.“ (SW, 262) Vor diesem Hintergrund betrachtet die Erzählerin Erika „als das ‚schwarze Schaf‘, als einen Schrei in das Schweigen hinein, als die offene Wunde der scheinbar intakten Familie, als Mahnmal gegen das Vergessen“ (SW, 308, Hervorh.

 Ebd.  Vgl. Konstanze Hanitzsch: Deutsche Scham, S. 343.

3.1 Alexandra Senfft: Schweigen tut weh. Eine deutsche Familiengeschichte

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i. O.). Das Resultat der Krypta, die sich um Hanns und Erika immer mehr verfestigt, ist das eiserne Schweigen. Sowohl die Erinnerungen an die glückliche Kindheit in der Slowakei als auch das Wissen darüber, wessen Leid sich diese verdankte, werden in der Krypta aufbewahrt. Nach der Hinrichtung Hanns Ludins werden der Vater und seine älteste Tochter auf subtile Weise aus der Familie ausgegrenzt, aus dem Bedürfnis, Schamanlässe aus der Familie weitgehend fernzuhalten und sich in ein gutes Licht zu setzen: „Ihr Vater und sie, die beiden Verbannten“ (SW, 101), so stellt die Erzählerin fest. In der Familie werden nur die falschen Erinnerungen an sie gepflegt, „weil ihr Leben auf eine Weise gedeutet wird, die ihnen nicht gerecht wird“ (SW, 336). Nach dem Tod von Erla und Erika ist die zweite Tochter Barbel in die Fußstapfen Erlas als der Hüterin des Familiengedächtnisses getreten und kämpft um das Andenken ihrer Eltern.

3.1.5 Die ‚Geschichte in uns‘ erkennen Gegen Ende des Buches erinnert sich Alexandra Senfft an einem Tag, den sie mit ihrer Mutter verbracht hatte und an dem Erika ihr viel aus der Vergangenheit berichtet hätte, sodass sie ihre Mutter besser hätte verstehen können. An jenem Tag besuchte Erika sie nach einer sechswöchigen Entzugskur in ihrer Wohnung. Erika sah etwas verschüchtert aus, als wolle sie einen neuen Versuch wagen, auf ihre Tochter zuzugehen und die stark strapazierte Mutter-Tochter-Beziehung zu verbessern. Rückblickend meint Senfft, dass es der richtige Zeitpunkt gewesen wäre, um mit ihrer Mutter über die Vergangenheit zu sprechen, vorausgesetzt, sie war bereit, zuzuhören. Dabei hätte sie ihre Mutter lediglich bitten müssen, ihr zu erzählen und ihr versprechen müssen, sie dabei nicht zu korrigieren, nicht zu kritisieren. Aber damals war Senfft selbst eine von der psychisch gestörten Mutter völlig überforderte Tochter. Aus Selbstschutz fehlte ihr die Offenheit ihrer Mutter gegenüber. Also habe sie ihrer Mutter und sich selbst die Chance für den Dialog und die Verständigung nicht gegeben. So hat sich „das andauernde Schweigen“ (SW, 319) fortgesetzt. Senfft bedauert, dass sie bei ihrer Mutter das Thema Hanns Ludin nicht angerührt hat, aus Angst vor depressiven Ausbrüchen ihrer Mutter und aus Angst, dass diese Depression auf sie überspringt. Senfft gesteht, dass sie erst durch die intensive Auseinandersetzung mit der Familiengeschichte um ihre Mutter wirklich trauern konnte. Darüber hinaus habe sie einen emotionalen Zugang zu den Opfern des Holocaust gefunden. Aus ihrer eigenen Erfahrung vertritt Senfft die Ansicht, dass kein Geschichtsbuch und keine pädagogische Veranstaltung zur Aufklärung führen werden, wenn man nicht „den persönlichen Bezug“ (SW, 342) erkennt. Dabei spricht Senfft mit Jürgen Müller-Hohagen von Aufdeckung der „Täter in uns selbst“ (SW, 343). Damit gemeint ist, „unseren Mikrokosmos als Person und als Familien-

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3 Von der Schamabwehr zum Dialog

mitglied mit den historischen Entwicklungen in Verbindung zu bringen und Schuld zu benennen“ (SW, 343). Erst durch diesen schmerzhaften seelischen Prozess sei es möglich, den „Zwiespalt zwischen historischer und persönlicher ‚Wahrheit‘“ (SW, 336, Hervorh. i. O.) aufzulösen und aufrichtig der Opfer zu gedenken, ohne es bei Lippenbekenntnissen zu belassen, die der politischen Korrektheit geschuldet sind.

3.2 Claudia Brunner und Uwe von Seltmann: Schweigen die Täter, reden die Enkel Bei Schweigen die Täter, reden die Enkel handelt es sich um einen Gemeinschaftsband, der aus Vorworten der beiden Autoren, zwei Familiengeschichten, einem Nachwort von Historiker Wolfgang Benz und der Bibliografie besteht. Claudia Brunner, geboren 1972 in Österreich, und Uwe von Seltmann, geboren 1964 in Deutschland, haben sich im Mai 2001 anlässlich einer Podiumsdiskussion über das Thema ‚Schatten der Vergangenheit‘ in Klagenfurt, Österreich, kennengelernt. Brunner und Seltmann, die beide der Enkelgeneration von NS-Tätern angehören, waren eingeladen worden, um über ihre Erfahrungen zu berichten, wie sie mit der NS-Vergangenheit ihrer Nazi-Vorfahren umgehen. Brunners Großonkel Alois Brunner war als die rechte Hand von Adolf Eichmann für die Ermordung von 130 000 Juden verantwortlich. Seltmanns Großvater Lothar von Seltmann war 1943 an der Niederschlagung des Aufstands im Warschauer Ghetto beteiligt. Obwohl sich ihre Wege noch nie zuvor gekreuzt haben, entdecken Brunner und Seltmann im stundenlangen Gespräch nach der offiziellen Podiumsdiskussion verblüffende Parallelen in ihren Lebensläufen: Als Angehörige der dritten Generation sind sie in ihren Familien die Einzigen, die das Schweigen über die Nazi-Vorfahren gebrochen haben. Sie sind beide kirchlich engagiert und mehrfach nach Israel gereist. Es hat sie zufällig immer an Orte geführt, an denen ihre Nazi-Vorfahren unterwegs waren. Sie haben beide Schuld- und Verantwortungsgefühle Jahrzehnte nach den tatsächlichen Ereignissen, Tabus und Familiengeheimnissen übernommen. Und nicht zuletzt teilen sie beide das rational kaum begründbare Gefühl, in besonderer Mission für irgendeine Art von Wiedergutmachung zuständig zu sein. Aus den mehreren Treffen und lebhaften Diskussionen wird die Idee für das Buch Schweigen die Täter, reden die Enkel geboren, das 2004 veröffentlicht wird. Wie die Form der Doppelautorschaft signalisiert, ist die Grundlage ihrer Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, die nicht die ihre ist und die sie trotzdem in sich tragen, ob sie das nun wollen oder nicht, der Dialog mit anderen, mit sich selbst und mit den physisch abwesenden Vorfahren. Beteiligung an Tagungen und Gespräche mit den Wissenschaftlern aus verschiedenen Disziplinen sowie mit den Zeitzeugen nehmen eine große Rolle in ihrer Auseinandersetzung mit der Familiengeschichte ein. Die beiden

3.2 Claudia Brunner und Uwe von Seltmann: Schweigen die Täter, reden die Enkel

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Erzählungen, die in Form eines Tagebuches geschrieben wurden, berühren nur kurz die Schuld des Kollektivs und rücken den persönlichen Bezug zur Geschichte im Sinne der Historie ins Zentrum der Erzählung. Im Mittelpunkt stehen somit weniger die vergangenen Geschichten der Vorfahren als vielmehr die phasenhaften Prozesse der persönlichen Nachforschung und Beschäftigung mit der belasteten Familiengeschichte sowie die damit einhergehenden psychischen Befindlichkeiten. Die psychologische Funktion des Tagebuchschreibens, die Verarbeitung der Erlebnisse durch deren Verschriftlichung aus Sicht der Gegenwart, steht deutlich im Vordergrund. In chronologischer Reihenfolge beschreiben sowohl Brunner als auch Seltmann, wie sie zwei Generationen später mit einer Realität konfrontiert sind, die in ihnen Unbehagen, Angst und Schmerzen auslöst. Es geht konkret um das Wissen um die Familienvergangenheit und was sie für sie bedeutet und warum sie glauben, dass ihre persönlichen Geschichten bei anderen Anklang finden werden: Wenn wir reden, beginnen plötzlich auch andere zu reden – Enkel, die wissen wollen, was ihre Großmütter und Großväter getan haben, Söhne und Töchter, die sich für die Taten ihrer Mütter und Väter schämen und mit ihren Schuldgefühlen nicht fertig werden. […] Denn erstens hat es sich bei den NS-Täterinnen und –Tätern nicht nur um eine Hand voll Personen gehandelt und zweitens hat infolgedessen auch heute noch eine ganze Generation von Leuten mit diesem Thema zu tun. […] Unser Anliegen ist es vielmehr, mit unseren persönlichen Erzählungen ein Thema öffentlich zu machen, das bisher den individuellen Horizont und den familiären Bereich kaum überschritten hat. […] Die Vergangenheit wirft ihre Schatten bis in die Gegenwart, sie wirkt in uns weiter, erst recht, wenn wir versuchen, sie zu verdrängen und zu beschweigen. (TE, 12– 14)

Die beiden Autoren meinen, andere könnten dazu motiviert werden, das familiäre Schweigen zu durchbrechen und die verschwiegene Vergangenheit der eigenen Familie zu hinterfragen, wenn sie erfahren, wie prägend sich die Geschichte der Vorfahren auch auf die eigene Biografie auswirkt. Damit könne ein neues Kapitel im Umgang mit der NS-Vergangenheit aufgeschlagen werden. Sie schreiben auch für diejenigen, die die Reaktionen der beiden Autoren auf das neu gewonnene Wissen über die Familienvergangenheit auf die leichte Schulter nehmen oder gar ignorieren: Diese Realität, die nicht immer einfach benennbar und angreifbar ist, wollen wir in diesem Buch auch anderen zugänglich machen. Jenen, die ähnliche Erlebnisse wie wir gemacht haben und sich darin wiederfinden können, aber auch jenen, die unsere Erzählungen für übertrieben, unsere Unbehagen für gekünstelt halten. (TE, 7)

In einem Nachwort bezeichnet der Historiker Wolfgang Benz die Texte von Brunner und Seltmann als „wichtige Quellen für eine noch ausstehende Mentalitätsge-

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3 Von der Schamabwehr zum Dialog

schichte des Nationalsozialismus und seiner lang anhaltenden Folgen und Wirkungen“ (TE, 190).

3.2.1 Claudia Brunner: Phantomschmerzen „Phantomschmerzen“, so Claudia Brunner, sei der Begriff, der den Zustand sehr treffend beschreibt, in dem sie sich nach der Auseinandersetzung mit ihrem unbekannten Nazi-Großonkel befindet – ein Mann, dessen Existenz sie bis zu ihrem 13. Lebensjahr nicht kannte, und jemand, der in fast sechzig Jahren keinen Fuß in seine Heimat gesetzt hatte, geschweige denn in seine Heimatstadt. Alois Brunner, der Großonkel von Claudia Brunner, gilt als einer der berüchtigtsten SS-Verbrecher. Im März 1999 hat die damalige Studentin der Politikwissenschaft für ihr Referat des Seminars an der Universität Alois Brunner zu ihrem „Forschungsobjekt“ (TE, 18) gewählt. Dies ist ein erster Schritt in ihrer persönlichen Aufarbeitung eines geheimnisvollen Kapitels in der Familiengeschichte. Obwohl ihr Großonkel eine bekannte Person, also der berüchtigte Nazi ist, ist von ihm in der Familie nie die Rede gewesen: „Die Brunners (…) hüllen sich mittlerweile drei Generationen in Unwissenheit oder Schweigen – fast alle.“ (TE, 17 f.) Brunner berichtet, dass sie erst als 13Jährige von der Existenz Alois Brunners erfahren habe. Seitdem hat dieser Name für sie „eine Aura des Geheimnisvollen, des Unaussprechbaren, des Gefährlichen“ (TE, 18). Dies ändert sich mit ihrer ganz bewussten Entscheidung, nach Alois Brunner zu recherchieren, um die wahre Identität dieser Person herauszufinden, die irgendwo zwischen dem guten Bruder in der Erinnerung ihrer Tante und dem alten Mann liegt, der 1985 in einem Interview mit der deutschen Zeitschrift Die Bunte seine Taten während des Krieges auch Jahrzehnte später„weder leugnet noch bereut“ (TE, 18). Bereits 1931, im Alter von 19 Jahren, hatte Alois Brunner seine politischen Überzeugungen durch seinen Eintritt in den Ortsverband der NSDAP unter Beweis gestellt. Als die Partei in Österreich illegal wurde, gab Brunner die Ideologie nicht auf, sondern verließ seine Heimat und ging nach Bayern, um in der dort gegründeten Organisation seine politischen Überzeugungen weiter zu verfolgen. Zum Zeitpunkt des Anschlusses Österreichs an Deutschland 1938 kannte Brunner wichtige zukünftige Nationalsozialisten, darunter Adolf Eichmann, der die Zentralstelle für jüdische Auswanderungen in Wien gegründet hatte. Nachdem Brunner nach Wien zurückgekehrt war, meldete er sich freiwillig zur SS und wurde kurz darauf die rechte Hand von Adolf Eichmann. Alois Brunner war dafür zuständig, die Deportationen von Juden und deren Enteignung zu planen und effektiv auszuführen. Er verfolgte das persönliche Ziel, die bisherige Quote der Abschiebungen jeden Monat zahlenmäßig zu übertreffen, und setzte seine Aktivitäten mit großer Be-

3.2 Claudia Brunner und Uwe von Seltmann: Schweigen die Täter, reden die Enkel

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geisterung fort. Tatsächlich wurde Alois Brunner während seiner Karriere an viele Orte in Europa geschickt, um seine erfolgreichen Methoden für die dortigen Deportationen umzusetzen. Die Spur seiner Verbrechen zieht sich von Wien über Berlin, Saloniki, Südfrankreich, bis in die Slowakei. Zudem war er kein Schreibtischtäter, sondern er führte selbst Verhöre, beging Folterungen und Gewaltakte: „In Brunners Persönlichkeit sind Intelligenz und Brutalität offensichtlich keine Gegensätze, sondern scheinen viel mehr das Geheimnis seines Erfolgs auszumachen.“ (TE, 22). Nach dem Zusammenbruch des Dritten Reiches gelingt es ihm, zu fliehen und in Syrien Asyl zu finden. Jahrelang lebte er unter falschem Namen in Damaskus. Er ist einer der meistgesuchten Nazi-Verbrecher in der Enzyklopädie des Holocaust. Simon Wiesenthal und Serge und Beate Klarsfeld waren ihm Jahrzehnte lang auf den Fersen. Brunner wurde von Syrien nie ausgeliefert. Nachdem sie in verschiedenen historischen Quellen erfahren hat, wie „dieser junge clevere Kerl Karriere gemacht hat“, ist der Erzählerin „zum Heulen zu Mute“ (TE, 28). Beim Betrachten der Fotos von ihrem Großonkel tritt die sichtbare Ähnlichkeit zwischen ihm und ihr hervor, und sie wird sich ihrer familiären Verbindung zwischen ihm und sich selbst bewusst, was bei der Erzählerin „allerlei reale und irreale Ängste“ (TE, 29) verursacht. Im Zuge ihrer Auseinandersetzung mit dem unbekannten Nazi-Großonkel wird er ihr zu einer Figur, in der sich „das gesamte Grauen jener Zeit zu einem Klumpen verdichtet“ (TE, 7) hat, der ihr schwer im Magen liegt. Gerade deswegen erfährt sie eine persönliche Veränderung in ihrem Umgang mit dem Thema Nationalsozialismus. Erst durch die persönliche Beschäftigung mit der eigenen Familiengeschichte erkennt sie, dass das dunkle Kapitel der österreichischen Geschichte auch ihre Familiengeschichte und damit ein Teil ihrer eigenen ist. Die abstrakten Fakten und Zahlen aus den Geschichtsbüchern beginnen plötzlich mit Namen und Gesichtern eine konkrete Bedeutung zu erlangen und „die Rede vom angeblich zu ziehenden Schlussstrich wirkt auf einmal absurd“ (TE, 8). 3.2.1.1 Vom Privaten in die Öffentlichkeit Die Ergebnisse ihrer Forschung ihren Kollegen an der Universität zu präsentieren bedeutet für die Erzählerin „der erste Schritt vom Privaten in eine Form der Öffentlichkeit“ (TE, 29). Damit will sie davon zeugen, dass wissenschaftliche Arbeit und persönliche Betroffenheit keine Gegensätze sein müssen. Nach dem Referat und der anschließenden Diskussion glaubt sie, unter ihren Kollegen „neben Entsetzen und Betroffenheit“ auch „intensives Nachdenken“ (TE, 31) wahrzunehmen, das es vorher nicht gegeben habe. Es mag nicht einfach gewesen sein, ihre Beziehung zu einem so berüchtigten Verbrecher öffentlich zu machen. In dieser Diskussionsrunde wurde der Erzählerin klar, dass ihr Verwandter zwar vielleicht berühmter war als mancher andere, dass aber viele von ihren Kollegen eine Fa-

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miliengeschichte hatten, über die es nachzudenken galt. Zu diesem Zeitpunkt ist ihr jedoch noch nicht in den Sinn gekommen, dass das Gewicht der Geschichte noch gravierender für sie sein wird. Als der Leiter der Lehrveranstaltung nach dem Vortrag sie vorsichtig fragt, ob sie eine Psychotherapie in Betracht gezogen habe, fand sie es lächerlich, dass die Konfrontation mit ihrer Familiengeschichte zu der Notwendigkeit einer Psychotherapie führen würde, und lehnte diesen Vorschlag ab. Sie hielt sich selbst für stark genug, um allein mit den Fakten fertig zu werden, denn man hat schließlich nur eine Möglichkeit, sie so zu betrachten und zu akzeptieren, wie sie sind: [I]ch werde doch wohl mit dem bisschen Familiengeschichte im Rucksack allein fertig werden. Ist ja schließlich nur mein Großonkel, der vielleicht nicht einmal mehr lebt und den seit über 50 Jahren niemand gesehen hat. Und schließlich war es ja trotz allem doch nur ein Referat. Das wäre doch gelacht, wenn ich den Alten nicht wegstecke. (TE, 31 f.).

Die Erzählerin ging davon aus, dass sie trotz der Brisanz ihrer Befunde wieder ein normales Leben führen könne. Sie lebte bis zu diesem Zeitpunkt unbekümmert mit dem Wissen über die Verbrechen ihres Großonkels. Die österreichische Gesellschaft um sie herum funktionierte normal mit den vergangenen Verbrechen im Hintergrund. Sie glaubte nicht, dass das bestimmte Wissen diesen Weg verändern würde. Die Andeutung, sie schien eine Psychotherapie zu brauchen, ließ die Erzählerin eine Zeitlang ungerührt. 3.2.1.2 Persönliche Verbindungen zur Geschichte herstellen Die Beziehung zur jüdischen Gesellschaft auf der individuellen Ebene herzustellen, ist für Brunners Auseinandersetzung mit ihrer Familien- wie nationalen Geschichte von großer Bedeutung, was in ihrer Erzählung in zweierlei Hinsicht zum Ausdruck kommt. Zum einen nimmt die Erzählerin im Oktober 1999 am Treffen zwischen jungen Israelis und österreichischen Angehörigen der dritten Generation teil, einer Veranstaltung mit dem programmatischen Titel ‚Breaking the Silence‘, die von Jugendorganisationen in beiden Ländern gemeinsam initiiert wurde. Die Idee war, eine persönliche Verbindung herzustellen, um Geschichten über familiäre Hinterlassenschaften auszutauschen. Was die einzelnen Personen gemeinsam hatten, war ein Interesse an der weit zurückliegenden Vergangenheit ihrer Vorfahren. Erstaunliche Gemeinsamkeiten fanden die beiden Gruppen auch im Umgang mit der Vergangenheit: die Übernahme von diffusen Schuldgefühlen, die Ahnung von Familiengeheimnissen und Tabus, die Loyalität gegenüber Verwandten, die die Konfrontation mit der Vergangenheit nur erschwert, das Gefühl, Teil eines Prozesses zu sein, um die Dinge wieder gut zu machen, und schließlich die Angst im Umgang mit harten Realitäten. Die Erzählerin beschreibt, dass die kurze Dauer des Treffens

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hilfreich war, obwohl sie sehr wohl erkannte, dass ihr Großonkel wohl das Schicksal von Verwandten der anderen Teilnehmer auf dem Gewissen hatte, und diese Einsicht alles andere als leicht zu akzeptieren ist. Im zweiten Treffen im Juli 2000 als eine Gegeneinladung aus Jerusalem gesteht die Erzählerin indes ein, dass der Dialog zwischen den Nachkommen von Opfern und Tätern eine große Herausforderung darstellt. Das Treffen mit denen, deren Vorfahren vor Leuten wie den Vorfahren der österreichischen Teilnehmer geflohen sind, in einem Land, das in seiner Staatsgründung und Kulturpolitik ganz unmittelbar mit dem Holocaust verbunden ist, geschieht diesmal weniger euphorisch und mit viel mehr Vorsichtigkeit und Rüchsichtsnahme auf beiden Seiten. Am Ende des Seminars sei die Euphorie vom vergangenen ersten Treffen längst verflogen. In Jerusalem besucht sie die Museen und Gedenkstätten des Grauens. Obwohl sie alle Informationen dort historisch und politisch einordnen kann – zumal sie genau zu ihren Studienschwerpunkten gehören –, sind die Empfindungen, die sie dabei überkommen, das schlechte Gewissen und Schuldbewusstsein: In jedem Museum erdrücken mich die Bilder und Texte mehr als im vorherigen, in jedem Abschnitt der riesigen Gedenkstätte Yad Vashem lasse ich mich tiefer in den Abgrund des Entsetzens und der Hilflosigkeit hineinziehen, als gäbe es keine Alternative zu dieser Ausgeliefertheit an die Macht der Erinnerung, die nicht einmal meine eigene ist. (TE, 49)

Die Erzählerin nimmt dies ebenso auf ihr Gewissen wie die Tatsache, dass sich in Österreich heute Rechtsextremisten zu den gleichen Überzeugungen bekennen wie ihr Nazi-Großonkel. Sie räumt ein, dass die Vergangenheit fortwährend ihren Schatten auf die Gegenwart wirft, nicht als etwas, das zurückbleibt: „[E]in dunkler Schauer, ein Schatten, der mich nicht mehr so schnell verlässt. Nicht immer ist er sichtbar, aber er kann immer breiter dorthin fallen, wo ich gerade stehe, und eine Zeit lang für mich auf unangenehme Weise spürbar bleiben.“ (TE, 36 f.) In diesem Zusammenhang zitiert die Erzählerin die einleuchtende Erkenntnis des Sozialpsychologen Karl Fallend. Was heute an die Oberfläche kommt, seien Fallend zufolge Formen von unterdrückter Trauer des Verlusts des untergegangenen Reiches, die in Österreich weit verbreitet seien. „Hierzulande sei der Nationalsozialismus keine verdrängte Geschichte, sondern eine mit großem emotionalem Aufwand unterdrückte, die ständig latent und kontinuierlich präsent sei.“ (TE, 51 f.) Die Antwort der Erzählerin auf diese Bürde ist die ständige Aufarbeitung der Vergangenheit durch die Konfrontation mit ihr, in Form jener geschilderten Aktivitäten, an denen sie sich bereitwillig beteiligt. In einem zweiten Versuch, eine persönliche Verbindung zur jüdischen Gesellschaft aufzubauen, nimmt die Erzählerin im März 2001 als alleinige Vertreterin ihrer Familie – weil keine anderen Familienmiglieder daran interessiert sind – an

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dem Prozess gegen ihren Großonkel in Paris teil. Beate und Serge Klarsfeld, die jahrzehntelang und weltweit auf der Jagd nach Nazi-Verbrechern sind, haben den Prozess initiiert. Für die Ermordung von 345 Juden wird Alois Brunner angeklagt. Er ist natürlich nicht anwesend. Obwohl ihre Bemühungen der letzten Jahrzehnte um die Auslieferung von Alois Brunner umsonst gewesen sind, halten die Klarsfelds der Gerechtigkeit wegen dieses Prozesses für notwendig, zumal es auf diesem Wege gelingen kann, „das öffentliche Interesse wieder auf die Versäumnisse der letzten Jahrzehnte zu lenken“ (TE, 54). Der Fall Brunner zeigt, wie wenig Mühe die Bundesrepublik sich in ihren Gründungsjahren gegeben hat, Naziverbrecher aufzuspüren und vor Gericht zu stellen. Angesichts des gespenstischen Prozesses ohne Angeklagten teilt die Erzählerin die von Simon Wiesenthal geäußerte Überzeugung, dass ein solches Gerichtsverfahren nicht zuletzt die Vergangenheit vor dem Vergessen bewahrt und somit in historischer wie moralischer Hinsicht besonders wichtig für junge Menschen sei. Sie ist der Meinung, dass, auch wenn die Vorstellung einer Erbschaft von Schuld abzulehnen ist, ihre Generation doch die Verantwortung für deren Folgen geerbt habe. Diese Verantwortung erfordert, dass sie im Gerichtssaal sitzt, die Verbrechen des abwesenden Großonkels, dessen Namen sie teilt, bezeugt und um die Opfer trauert. Im Rahmen der formellen Anklage gegen Alois Brunner werden die Namen der 345 Mordopfer vorgelesen: Nachname, Vorname, Geburtsort, Geburtsdatum. Nachname, Vorname, Geburtsort, Geburtsdatum. Nachname, Vorname, Geburtsort, Geburtsdatum. 345-mal. Ganze zwei Stunden lang. Und 345-mal sitzt niemand auf der Anklagebank, auf die ich trotzdem, wie viele der Anwesenden, immer breiter hinstarren muss. (TE, 59)

Erst dadurch, dass sie dem Prozess beiwohnt, versteht die Erzählerin auf emotionaler Ebene die politische Theorie aus ihrem Studium, die erklärt, warum Gewaltentrennung eine der wichtigsten Errungenschaften der Demokratie ist. Am eigenen Leib erlebt sie „den Sinn einer vom Individuum losgelösten Justiz“ (TE, 62). Die Erzählerin hört jeden Namen und stellt sich vor, wie eine Flamme 345-mal erlischt. Zum einen schildert sie die lebhafte Trauer um eine kleine Zahl von Opfern, deren individuelle Identität auf sinnvolle Weise im Gedächtnis behalten wird. Andererseits spürt sie Schmerzen in den Ohren und ist emotional sehr aufgewühlt, als der Name Brunner ständig im Gerichtssaal fällt. Sie fühlt sich angesprochen. So gibt sie zu, dass sie sich wider ihres Verstandes doch nicht gegen die Vorstellung über das Schulderbe wehren kann, deren Existenz inzwischen auch wissenschaftlich bestätigt wird. Ein paar Tage später landet sie mit Gehirnhautentzündung auf der Intensivstation des Pariser Krankenhauses. Offensichtlich hat der Prozess gegen ihren Großonkel sie heftig getroffen. Darüber hinaus – wie sich später herausstellte – war

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ihre Krankheit fast ein unbewusstes Durchleben des Todes des Großonkels. Durch einen Freund erfährt sie später, dass Alois Brunner Ende März/Anfang April 2001 gestorben ist, zu jenem Zeitpunkt, wo sie wegen einer schweren Erkrankung in ein Krankenhaus eingeliefert wurde. Angischts der surrealistischen Tatsache wird die Erzählerin fassungslos: Mir rieselt es kalt über den Rücken. […] Es sind genau die zwei Wochen rund um meinen Krankenhausaufenthalt in Frankreich, rund um die Gehirnhautentzündung, die mir im wahrsten Sinne des Wortes in Mark und Bein gegangen ist. (TE, 81 f.)

3.2.1.3 Zwischen Familienloyalität und Aufklärung Während die Information und Faszination über den Nationalsozialismus und den Holocaust schier unerschöpflich zu sein scheint, bliebe die Rechenschaftspflicht von Einzelpersonen ein weitgehend unberührtes Gebiet, bis die dritte Generation sie aufgriff, meint die Erzählerin. In Bezug auf die Aufarbeitung der NS-Vergangenheit der Familie thematisiert Brunner ein weiteres bekanntes Thema der Generationendynamik in der eigenen Familie. Die Erzählerin beschleicht nämlich ebenfalls das Gefühl, dass ihre Eltern es vorgezogen hätten, lieber das bisherige Schweigen zu bewahren, das sie in der Erziehung ihrer Tochter gefördert hatten: Ganz im Gegenteil, mit einem Gemisch aus Sorge um mich und Angst vor der eigenen Konfrontation damit hätten vor allem meine Eltern es wohl lieber gesehen, ich hätte diesen Weg niemals eingeschlagen und mich stattdessen um harmlosere Dinge gekümmert. (TE, 74).

Selbst ihr Vater, mit dem die Erzählerin regelmäßig im Rahmen einer „lebendigen familiären Diskussionskultur am Mittagstisch“ (TE, 74) über Politik und Geschichte diskutiert, und der im Grunde nur selten grundsätzlich anderer Meinung als Claudia ist, findet keine deutlichen Worte für das ominöse Familienmitglied. Das Interesse an der persönlichen Abrechnung hat offenbar gefehlt, bis die Erzählerin als Enkelgeneration die Familiengeschichte aufnimmt: „Mein Vater […] hatte von der Existenz seines Onkels mehr Nichtwissen als Wissen gehabt, begrenzte jener doch eine absolute Tabuzone, in die sich auch die nächsten Angehörigen nicht einzudringen getraut hatten.“ (TE, 76) Indem sie Alois Brunner für seine Taten verurteilt und auch öffentlich dazu Position bezieht, versucht die Erzählerin, sich von der verbrecherischen Geschichte des nahen Verwandten zu distanzieren. Ihr Vater hingegen ist viel stärker an die familiäre Loyalität gebunden, sodass die rein hypothetische Möglichkeit der Unterstützung für die Auslieferung von Alois Brunner für ihn gar nicht in Frage kam. Für ihren Vater wäre das einem „familiäre[n] Hochverrat“ (TE, 75) gleichgekommen. Aus diesem Grund hat die Erzählerin jahrelang ihrem Vater ideologische Sympathien für den Nationalsozialismus angedichtet und mit ihm Streitgespräche geführt, was sie rückblickend als „eine Form

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von Pubertätskonfliktaustragung“ (TE, 75) aus ihrem Unverständnis, ihrer Verzweiflung und ihrer Aggression ansieht. Ihr Großvater, der Bruder von Alois Brunner, wird in ihrer Erzählung zweimal erwähnt. Einmal, um sein Schweigen über seinen Bruder zu beschreiben: Er war „kein Mann vieler Worte“ (TE, 60), der seinen Bruder angeblich seit seinem Untertauchen 1945 nie wieder gesehen hat. Und ein anderes Mal, um die Ereignisse zu beschreiben, die sich nach dem Tod des Großvaters abspielten. Interessanterweise wird seine Kriegsbeteiligung in der Familie nie erwähnt. Die erste Generation wird in Brunners Erzählung durch die Ehefrau von Alois Brunner, Anna, repräsentiert, die zu dieser Zeit in Wien lebt und von der die Erzählerin behauptet, dass ihre Familie mit Anna nicht den geringsten Kontakt hat. Die erste und zweite Generation – eisern in Schweigen gehüllt – bietet keinen Zugang zur Familiengeschichte. Die Erfahrungen der Erzählerin mit ihren Familienmitgliedern bestätigen, dass die NS-Vergangenheit von der ersten und zweiten Generation meist mit Verleugnung und Verdrängung verarbeitet wurde. 3.2.1.4 Von der Verheimlichung zur Veröffentlichung Brunners Erzählung liefert keine weitere Schlussfolgerung, als einen Blick auf den Prozess ihrer persönlichen Auseinandersetzung mit dem Nazi-Großonkel zu werfen, zu der ihre Familienmitglieder der ersten und der zweiten Generation offenbar nicht in der Lage waren. Sie gesteht die schrecklichen Verbrechen ihres Großonkels und beschließt: „Von nun an würde ich keinen Hehl mehr daraus machen, mit einem Massenmörder verwandt zu sein“ (TE, 29). Darüber hinaus macht sie zum ersten Mal öffentlich, dass ihr Vater und Alois Brunner jahrelang schriftlichen Kontakt gehabt hatten. Sie gesteht, dass sie aus der Angst und der familiären Loyalität heraus, die sie im Verhältnis zwischen ihrer Familie und Alois selbst so heftig kritisierte, den Briefkontakt zwischen ihrem Vater und dessen Onkel verdrängt hat. Mit dem Geständnis ihrer selbst geleisteten Tabuisierung dieses Briefwechsels wehrt Claudia Brunner sich dagegen, „die Verheimlichungsstrategien“ (TE, 85) innerhalb ihrer Familie zu wiederholen. Sie erwähnt, dass es notwendig ist, sich der Geschichte zu stellen, dass die Verbrechen eingestanden werden müssen, dass die Trauer um die Opfer Teil des Prozesses ist und dass die Vergangenheit nicht gemeistert, sondern nur bewusst gelebt und verarbeitet werden kann. In ihrer Erzählung weist Brunner immer wieder darauf hin, dass der einzig mögliche Weg, mit der Vergangenheit umzugehen, darin besteht, sie kennen zu lernen. In diesem Zusammenhang beschreibt sie, wie sie diese Überzeugung mit den jungen Menschen aus verschiedenen Ländern teilte. In einer internationalen Jugendbegegnung mit dem Titel ‚Junger Widerstand gegen alte Zeiten!‘ (TE, 37) anlässlich des 55. Jahrestages der Befreiung des Konzentrationslagers Mauthausen ermahnt Brunner: „Auch wenn es tatsächlich einen Unterschied macht, welche Schritte wir gehen, um uns

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unserer Vergangenheit zu nähern: Es ist unbedingt erforderlich, dass wir sie unternehmen!“ (TE, 42). Sie argumentiert, dass man aus verschiedenen Gründen lernen muss, sich der Vergangenheit anzunähern: um uns unserer menschlichen Schwächen und Grenzen bewusst zu werden, um ein Zeichen für die Gegenwart zu setzen, um wieder Vertrauen in die Zukunft gewinnen zu können und schließlich um jede Art von „Wiederholung dessen, was bereits geschehen ist und in einer anderen Form vielleicht wieder geschehen kann“ (TE, 44) zu verhindern. Mit ihrer Erzählung behauptet Claudia Brunner als Enkelgeneration ihren Platz in der Aufarbeitung des Nationalsozialismus und des Holocaust. Sie weist jede Vorstellung zurück, dass die dritte Generation aufgrund der großen zeitlichen Distanz problemlos mit diesem dunklen Kapitel der Geschichte zurechtkommen könnte, wie es von manchen für möglich gehalten wurde. Sie habe selbst angenommen, dass sie durch ihre jahrelange Auseinandersetzung mit dem Thema ausreichend abgesichert und immun gegenüber möglichen Angriffen und psychischen Absturzungsgefahren sei. Aber bei der wöchentlichen psychoanalytischen Gruppenarbeit zum „Thema Politik und Geschichte“ (TE, 86), an der die Nachkommen von Opfern und Tätern des Nationalsozialismus teilnehmen, und deren Grundidee darin besteht, das Unbewusste zuzulassen und beim Namen zu nennen, erlebe sie jedes Mal Angst, die sich wider den Verstand ihres Gefühls und ihres Körpers bemächtigt. Die sich dort abspielende intrapsychische Dynamik der Teilnehmer lässt sich nicht einfach mit klugen psychoanalytischen Deutungen und versöhnlichen Erklärungen wegtreiben. Obwohl Brunner so viel zu wissen und zu durchschauen geglaubt und solch eine Gruppendynamik im Verlauf der psychoanalytischen Gruppenarbeit für selbstverständlich gehalten hat, ist die Teilnahme an der auslösenden Situation anspruchsvoll und verletzend. Tatsächlich schließt Brunner ihre Erzählung mit einem Tagebucheintrag vom April 2003, in dem sie beschreibt, dass sie sich entschlossen hat, mit einem Psychologen zu sprechen, und dass der Psychologe zugestimmt hat, dass sie allen Grund zur Beunruhigung hätte. Brunner hält immer noch die aktive Konfrontation mit der Vergangenheit für den einzig richtigen Umgang mit der NS-Vergangenheit. Darüber hinaus sieht sie ihren gegenwärtigen Geisteszustand eindeutig als Teil eines Prozesses an. Das Gewicht der Wahrheit ist indes schwerer, als sie auszuhalten geglaubt hat: „Es ist wieder einmal vorbei mit der Ruhe vor dem Sturm, und der Zeitpunkt scheint noch nicht gekommen, an dem mir die Wiederherstellung der inneren Sicherheit gelingen wird.“ (TE, 89)

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3.2.2 Uwe von Seltmann: „Er war ein großer Charmeur …“ Ein Zitat aus Hermann Hesses Roman Siddhartha „Es kommt alles wieder, was nicht bis zu Ende gelitten und gelöst wird“ (TE, 14) ist für den Schriftsteller und Journalisten Uwe von Seltmann ein Grundsatz, der auch auf seine eigene Familiengeschichte anzuwenden ist. Vor allem auf das Leben seines Großvaters, den er selbst nie kennengelernt hat – und über den in der Familie nie gesprochen wurde: „das Phantom, das Tabu“ (TE, 95). Lothar von Seltmann, der Großvater von Uwe von Seltmann, war „ein vergleichsweise namenloses Rädchen im Getriebe der NS-Maschinerie“ (TE, 11). Über ihn weiß man nichts in der Familie, außer dass er SS-Mann war und dass er seit Februar 1945 in Schlesien als vermisst galt. Vor Schweigen die Täter, reden die Enkel hat Seltmann 2000 einen fiktiven Roman Karlebachs Vermächtnis über die NS-Geschichte veröffentlicht. Bei Karlebachs Vermächtnis handelt es sich um die Folgen des Schweigens, des Vermeidens und des Versäumnisses, den Einzelnen für seine Verbrechen zur Rechenschaft zu ziehen, auch wenn diese Jahrzehnte zurückliegen. Dabei nähert sich Seltmann dem schweren Thema mit Humor und einem unterhaltsamen Ton. 3.2.2.1 Die Macht der kollektiven Identität Komplett geändert wird die leicht unbekümmerte Haltung Seltmanns gegenüber seiner unbekannten Familiengeschichte wie auch sein objektiv-distanzierter forschender Blick auf die deutsche Geschichte durch eine zufällige, aber sehr bewegende Begegnung mit einem Fremden. Im November 1999 reist Seltmann nach Krakau, um eine Reportage über Kazimierz zu schreiben, jenem Viertel, in dem die meisten Krakauer Juden lebten und das als Kulisse für den Spielfilm Schindlers Liste diente. In der Remuh-Synagoge, die er aufsucht, um die verbleibende Zeit vor dem Treffen mit einer Zeitzeugin zu nutzen, spricht er einen Mann mittleren Alters an und bittet ihn um ein Interview. Dieser Mann lebe in London und fahre ein Mal im Jahr nach Krakau, um seiner während der NS-Zeit ermordeten Eltern zu gedenken. Bevor Seltmann mehr von dem Mann erfahren kann, werden die Rollen getauscht. Der Londoner Jude, wie Seltmann ihn nennt, fängt an, Seltmann Fragen zu stellen: „Warum interessiert Sie das jüdische Leben?“ […] „Warum haben Sie sich im Studium mit dem Judentum auseinandergesetzt? Warum sind Sie nach Israel gegangen?“ […] „Sie hätten sich auch für den Islam oder den Hinduismus interessieren können. Also warum?“ (TE, 97 f.)

Mit den ständigen Warum-Fragen und dem bohrenden Blick bringt der Londoner Jude Seltmann in Verlegenheit. Auf die Frage „Fühlen Sie sich schuldig?“ antwortet Seltmann zunächst lachend: „Warum soll ich mich schuldig fühlen? Ich bin Mitte dreißig.“ (TE, 98) Seltmann empfindet diese Frage als anmaßend und unverschämt

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und hätte eigentlich unter irgendeinem Vorwand die Synagoge verlassen wollen. Aber aus unerklärlichen Gründen kann er das nicht. Er erstarrt und antwortet weiter auf die Fragen des Londoner Juden nach seinem Vater und Großvater. Dann verändert eine beschämende Aussage des Juden aus London das Leben von Uwe von Seltmann, wie er rückblickend feststellt: „Sie interessieren sich für Juden, weil Sie sich schuldig fühlen. Sie fühlen sich schuldig für das, was Ihr Großvater getan hat – was immer es auch war.“ (TE, 99) In diesem winzigen Augenblick erscheint Seltmann die Gestalt seines Großvaters, von dem er jedoch keine Fotografie besaß, und die Hassgefühle ihm gegenüber befallen Seltmann. Er weiß, es gibt zwar keinen Grund, auf seinen Großvater stolz zu sein, aber rein rational betrachtet auch keinen, sich seinetwegen schuldig zu fühlen. Trotzdem kommt er nicht umhin, sich schuldig zu fühlen: Und ich hasse ihn. Ja, verdammt noch mal, ich fühle mich schuldig. Seit zwanzig Jahren fühle ich mich schuldig. Dieser Londoner Jude, der nichts anderes sein sollte als schmückendes Beiwerk für meine Reportage, hat es mir unmissverständlich deutlich gemacht. Seitdem die Bilder der amerikanischen Serie ‚Holocaust‘ über die bundesdeutschen Bildschirme geflimmert waren und die ganze Familie heulend vor dem Fernseher kauerte, hatte ich mich schuldig gefühlt. (TE, 99)

An dieser Stelle lässt sich ablesen, dass Seltmann unbewusst schon lange eine Art Schuldgefühl mit sich herum trug, die auf die Nazi-Vergangenheit seines Großvaters zurückgeht, obwohl er nicht genau weiß, was dieser während der NS-Zeit getan hat. Auch Uwes Vater weiß nichts über Lothar, da er und seine Geschwister als Vollwaisen bei Pflegeeltern oder im Heim aufgewachsen sind, nachdem ihre Mutter, die Großmutter von Uwe, 1945 an Typhus gestorben war. Damals sei Uwes Vater als zweitjüngstes von sechs Kindern gerade einmal zweieinhalb Jahre alt gewesen. Zu klein, um sich an etwas zu erinnern. Er und seine Geschwister hätten also nichts oder kaum etwas über die Eltern gewusst. Die Fassungslosigkeit Seltmanns bei der plötzlichen Konfrontation mit dem Bild des weitgehend unbekannten Großvaters durch den Londoner Juden rührt daher, dass die nationale Geschichte und persönliche Betroffenheit in diesem Moment nicht zu trennen sind. So wird hier aus dem Forschenden und Interviewenden mit objektiv-distanzierter Vorgehensweise plötzlich der Nachkomme von Tätern. In dem winzigen Augenblick wird Seltmann sich dessen bewusst, dass er sich mit dem identifiziert, was nicht aus seiner eigenen Biografie, sondern aus der familiären bzw. nationalen Geschichte hergeleitet wurde. Hier findet der plötzliche Perspektivwechsel statt, der ein herausragendes Merkmal der Scham ist.⁸⁰ Das Ich von Seltmann tritt an die Stelle des Londoner Juden als

 Vgl. Hilge Landweer: Scham und Macht, S. 111 ff.

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Nachkomme der Holocaust-Opfer und betrachtet das mit dessen Augen, vor dem er sich schämt: sein eigenes, zweites Ich. „Während das Ich in die Welt hinausschaut, schaut das mich dieses Ich an, vom Anderen als handelndem Subjekt auf das Ich gewendet.“.⁸¹ Der emotionaler Ausbruch Seltmanns zeugt davon, dass er sich von der kollektiven Täteridentität auf einer persönlichen, emotionalen Ebene nicht lösen konnte. In dieser Anfangsszene wird zum einen Seltmanns schamvolle Abwehr mit dem Geständnis seiner emotionalen Verbundenheit mit seinem Großvater sowie der nationalen Geschichte gezeigt. Der Londoner Jude fungiert hier als Instanz des Scham-Zeugen. Seltmann wird zum Träger der kollektiv vermittelten Scham aufgrund der NS-Verbrechen und der Schamangst, als Nachkomme von Tätern beschämt zu werden. In Bezug auf die Merkmale der Scham weist Günter Seidler darauf hin, dass die Scham plötzlich da ist, unvorhergesehen auftaucht, so beispielsweise im direkten Kontakt mit anderen. Es ist ein besonderer Moment – ein Moment, der nicht allein durch die Zäsur ‚vorher/nachher‘ bestimmt ist, sondern einen Prozess der Auseinandersetzung einleitet, indem nämlich „die Zeit in zwei Zeitspannen unterteilt wird: In eine, wo die Scham momentan erlebt wird und in die andere, wo die Beschämung einen personalen Einbruch hervorruft“⁸², da das Subjekt im Erleben der Scham in einem weiteren Schritt „auf sich selber zurückgeworfen wird“⁸³. In dieser Situation der „Vereinzelung“ erlebt das Individuum „einen radikalen Bruch im Selbstverhältnis“⁸⁴, was durch den Umgang mit anderen Individuen ausgelöst wird. Das Selbstbild von Seltmann als das des Forschenden wird durch den Blick des Scham-Zeugen erschüttert und mit persönlichen Defiziten und einer tiefgreifenden Selbstwertstörung konfrontiert, denn „Scham entsteht, wo man sich selbst nicht in der Lage fühlt, den akzeptierten Standard zu erreichen“⁸⁵. In der Schamsituation gerät er vorübergehend in den Einfluss einer Täterzuschreibung und damit einhergehenden Bloßstellungsangst, gegen die er sich als Deutscher nur schwer abgrenzen kann. Ihm kommt die wie eine „Inquisition“ (TE, 96) erscheinende Fragestellung in gewisser Weise absurd vor, denn er hat sich nichts zuschulden kommen lassen. Dies kann mit dem eigenen Selbstbild nicht in Übereinstimmung gebracht werden. Infolgedessen entsteht das Gefühl der Verletzung, ungerecht angeklagt zu sein. Seine reflexhafte Reaktion war daher zunächst, sich gegen die angebliche Beschämung zu wehren, indem er sein Alter betont, bevor

 Günter H. Seidler: Der Blick des Anderen. Eine Analyse der Scham, Stuttgart 2001, S. 60.  Anna Schmölz: Das Gefühl der Scham. Zur Schamtheorie in der japanischen und westlichen Sozial- und Kulturwissenschaft, Wien 2012, S. 114.  Günter H. Seidler: Der Blick des Anderen, S. 4.  Hilge Landweer: Scham und Macht, S. 13.  Micha Hilgers: Scham – Gesichter eines Affekts, Göttingen 1996, S. 172.

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die historische Schuld der Deutschen überhaupt auf der Seite des Scham-Zeugen thematisiert wurde. Durch die antizipierte (Selbst‐)Zuschreibung von Täterschaft wurden gleichzeitig auch die latenten transgenerational vermittelten Scham- und Schuldgefühle aktiviert. Zum anderen überwindet Seltmann seine bei bereits antizipierter Beschämung einsetzende Schamabwehr und die Beschämung über seine abwehrende Haltung, indem er sie bewusst thematisiert: Er fügt sich der Erkenntnis, dass sein Großvater ein Täter und seine Scham auch eine kollektiv übernommene Scham war und dass es ihm immer noch weh tut, diese beschämende Erkenntnis wahrzuhaben. Hier zeigt sich, dass die Erkenntnis die Bloßstellungsangst überwindet und deshalb die Scham- bzw. Schuldgefühle letztendlich nicht abgewehrt, sondern im Gegenteil bewusst offengelegt werden. Durch diese Erfahrung in der Krakauer Synagoge wird Seltmann sich der Notwendigkeit bewusst, dass sich sein Selbstbild neu konstituieren muss. Seine Beziehung zur familiären wie nationalen Geschichte muss neu verhandelt werden. 3.2.2.2 Hindernisreiche Erkundungsprozesse Die schicksalhafte Begegnung mit dem Londoner Juden hat Folgen. Seltmann beschließt, nach dem Leben seines Großvaters nachzuforschen. Was hatte dieser im Zweiten Weltkrieg gemacht und wie tief war er in die NS-Verbrechen verstrickt? Seine Recherche führt ihn durch halb Osteuropa. Er lässt den Leser die Arbeit der langen, mühseligen und aufwändigen Recherchen miterleben, indem er die Biografie seines Großvaters entsprechend den Ergebnissen seiner Recherche phasenweise präsentiert. Entstanden ist eine Spurensuche aus Archivmaterialien, Begegnungen mit Zeitzeugen bzw. Wissenschaftlern aus verschiedenen Disziplinen und Zufallserlebnissen, die am Ende zu einem Bild des Großvaters führt, das er sich selbst nicht gewünscht hat. Lothar von Seltmann, geboren 1917 in Graz, tritt als 14-Jähriger in den NSSchülerbund ein und fliegt nach einem Jahr von der Schule, weil man in seinem Spind politisches Propagandamaterial entdeckt hat. Kurz darauf tritt er der SA bei. Nach dem Verbot der NSDAP in Österreich zieht der 17-Jährige nach Deutschland, um dort Kontakt zu anderen NS-Anhängern zu suchen. Lothar besucht die deutsche Aufbauschule in Gotha. In den Erinnerungen seiner Mitschüler ist er „ein schüchterner junger Mann“, „ein großer Charmeur“ und vor allem ein „begeisterter HitlerAnhänger aus Österreich“ (TE, 109), der in seiner Heimat wegen seiner politischen Gesinnung verfolgt wurde und deswegen nach Deutschland fliehen musste. Während der Zeit in Deutschland macht er als „ein völlig überzeugter Nazi“ (TE, 110) Karriere. Nachdem Lothar von Seltmann 1938 wieder nach Österreich zurückgekehrt ist, arbeitet er als Geschäftsführer des „Volksbundes für das Deutschtum im Ausland“ (TE, 111). Zwei Monate nach Beginn des Zweiten Weltkrieges wird er zu

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den Totenkopf-Verbänden der SS einberufen. Sein Dienst besteht darin, „die deutsche Minderheit in Wolhynien heim ins Reich zu führen“ (TE, 108). Das Dokument der Umsiedlungsaktion hat er 1941 als Buch veröffentlicht. Für die erfolgreiche Durchführung dieser Aktion erhält er 1940 in Berlin „das vom Führer gestiftete ‚Ehrenzeichen für deutsche Volkspflege‘“ (TE, 113). 1940 nahm er als Beauftragter der Volksdeutschen Mittelstelle beim SS- und Polizeiführer Lublin bei Odilo Globocnik an der Aktion zur „Wiedereindeutschung der verpolnisierten Deutschen“ (TE, 113) teil. Schließlich wird er zum Höheren SS- und Polizeiführer im Generalgouvernement nach Krakau berufen. Der Werdegang von Lothar von Seltmann, den der Erzähler durch die Recherche fast lückenlos nachzeichnen konnte, war für nationalsozialistische Verhältnisse geradezu vorbildlich. Ihm werden bei „idealistischem, nationalsozialistischem Denken“ (TE, 116) gute Allgemeinbildung und überdurchschnittliche Begabung nachgewiesen. Sein logisches Denkvermögen wird ebenso gelobt wie seine Veranlagung zu „freier, überzeugender Rede“ (TE, 116). Im Truppendienst hingegen fehlten ihm noch, so der Kommandeur, „persönlicher Schwung, Truppenpraxis und sichere Befehlsgebung“ (TE, 116). Die ärgsten Befürchtungen des Erzählers, der Großvater sei aktiv an der Vernichtung von Juden beteiligt gewesen, werden in keinem seiner Dokumente bestätigt. Das Bild, das der Erzähler von seinem Großvater im Inneren ausgemalt hatte, scheint durch seine Recherchen bestätigt zu sein: Lothar von Seltmann war „ein Theoretiker, kein Praktiker“ (TE, 116). Gewiss, er war ein fanatischer Nationalsozialist und wahrscheinlich auch ein ausgewiesener Antisemit, aber zumindest Blut klebte nicht an seinen Fingern. Das beruhigt das Gewissen des Enkels. Selbst im Gesicht des Großvaters kann der Erzähler nichts Brutales erkennen. Eher im Gegenteil: Lothar von Seltmann macht einen „weichen Eindruck – ein durchaus sympathischer Mensch“ (TE, 119). Bei der Betrachtung der Fotos, die vom Großvater übrigbleiben, ist der einzige verstörende Aspekt, dass er „selbst an Weihnachten seine SS-Uniform nicht abgelegt“ (TE, 119) hat. Erst in einem Treffen mit dem Historiker Bertrand Perz vom Institut für Zeitgeschichte in Wien, der ihm ein Dokument über Lothar von Seltmann überreicht, erkennt der Erzähler schließlich an, dass die fiktive Figur seines Romans Karlebachs Vermächtnis von der Wahrheit seines Großvaters überholt wird. Die Hoffnung des Erzählers, dass Perz sein Bild des Großvaters als eines vergleichsweise harmlosen Schreibtischtäters bestätigen und damit ihm seine diffusen Schuldgefühle nehmen würde, bewahrheitet sich nicht. Das Dokument enthält Beweise dafür, dass der Großvater bei der Niederschlagung des jüdischen Aufstands im Warschauer Ghetto im Frühjahr 1943, die den Tod von 56.065 Juden zur Folge hatte, anwesend war. Lothar von Seltmann hat nicht nur für die Nazis Propaganda gemacht, Bücher herausgegeben, Kongresse organisiert, sondern auch sich an der aktiven Tötung von Juden beteiligt. Den Erzähler schockiert dabei nicht nur die Tatsache, dass sein

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Großvater de facto ein Juden-Mörder war, sondern vielmehr, dass er das von Perz erhaltene Schreiben über die Zugehörigkeit des Großvaters zum SS-Panzer-Grenadier-Ersatz-Bataillon in Warschau bereits in seinen Mappen gehabt aber ausgerechnet dieses Schreiben völlig übersehen hatte, obwohl er alle Dokumente mehrmals durchgegangen war. Seine Reaktion darauf ist heftig: Mein Unbewusstes hatte mir einen Streich gespielt: […] Meine Augen waren im Blick auf dieses Blatt buchstäblich mit Blindheit geschlagen. […] Ein klassischer Fall von selektiver Wahrnehmung? Was befürchtete mein Unbewusstes? Was würde mich so Unangenehmes erwarten? […] Wie ein Blitz schlägt es in meinem Hirn ein. Das beruhigte Gewissen ist plötzlich einem jähen Entsetzen gewichen. Und mit einem Mal meldet sich auch jenes, diffuse längst bewältigt geglaubte Schuldgefühl wieder, das mich seit meiner Jugendzeit nicht mehr loslassen wollte. (TE, 124)

Diese Information bringt den Erzähler aus der Fassung und Gewissensbisse fangen wieder an, ihn zu plagen. Zudem nimmt er wahr, dass er sich unbewusst immer noch gegen die unbequeme Wahrheit wehrt, obwohl er sich auf der Bewusstseinsebene fest dazu entschlossen hat, die Wahrheit ans Licht zu bringen. 3.2.2.3 Familientradition Gegen den innerlichen Wunsch, nichts Weiteres wissen zu wollen, bemüht der Erzähler sich fortgesetzt um die Erforschung der Biografie des Großvaters. Er spekuliert, die treibende Kraft sei vielleicht die „Wut auf mich selbst“ wegen der „[s]chlampige[n] Recherche“ und der „Nachlässigkeit“ (TE, 154), die als unbewusster Abwehrmechanismus gedeutet werden könnten. Seit drei Jahren verbringt er den größten Teil seiner Freizeit damit, sich mit den verschiedenen historischen Materialien im Staatsarchiv zu beschäftigen, Zeitzeugen aufzusuchen und sich von den Historikern beraten zu lassen. Der Erzähler fragt sich immer wieder, warum er sich ständig mit dem dunklen Kapitel der deutschen Geschichte beschäftigt: „Warum tue ich mir das überhaupt an? […] Ja, das ist die wichtigste Frage, die mich umtreibt: Warum gerade ich?“ (TE, 142 f.) Im Zuge der Nachforschung erhält er die Gelegenheit, sich mit den bisher zum Thema ‚Lothar von Seltmann‘ weitgehend schweigenden Verwandten zu unterhalten und die Meinungen auszutauschen. Überraschenderweise erfährt er, dass alle Kinder von Lothar von Seltmann im Laufe der Zeit versucht haben, sich mit dem verschollenen Vater auseinanderzusetzen, obwohl sie nicht oder kaum miteinander darüber geredet haben, und dass sie alle irgendwelche Hinterlassenschaften der Eltern besitzen, ohne dass die anderen davon wissen. Die Reaktionen der sechs Kindern Lothar von Seltmanns auf die Recherchebemühungen des Erzählers und seine Bitte um Unterstützung sind sehr unterschiedlich: Die beiden Ältesten, die noch die Erinnerungen an ihren Vater

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hatten, reagieren auf die Bitte des Erzählers, ihm die Auskünfte über ihren Vater zu erteilen, mit der ablehnenden Haltung und versuchen mit Lügen und Vorwürfen, den Erzähler vom Recherchieren abzuhalten: „Ich bin weit davon entfernt, ihm seine SS-Zugehörigkeit zum Vorwurf zu machen – und Du solltest das auch nicht tun. Im Gegenteil: ich habe großen Respekt vor der‚Lebensleistung‘ meines Vaters, der ja nur 28 Jahre alt geworden ist.“ (TE, 134, Hervorh. i. O.) Die beiden jüngsten Kinder – eines davon ist Uwes Vater – stehen den Forschungen relativ neutral gegenüber, was sie damit begründen, dass sie keinerlei Erinnerungen an den Vater haben, sodass auch kein Bild zerstört werden kann. Zwei andere Geschwister finden seine Forschungen großartig und unterstützen ihn aktiv. Vor allem seine Patentante teilt ihm mit, dass sie über ihren Vater recherchiert, aber aus Selbsterhaltungstrieb aufgehört habe, „weil irgendwann der Punkt erreicht war, an dem es ihr – als Tochter – zu nahe ging“ (TE, 143). Sie behauptet, Uwe „als Enkel könne diesen Punkt überschreiten und weiter gehen“ (TE, 143). Der ständige Drang, das Licht ins Leben des Großvaters zu bringen, wirkt auf die Psyche des Erzählers zurück: „schlaflose Nächte, Albträume, psychosomatische Beschwerden aller Art“ (TE, 142). Obwohl er sich körperlich und seelisch erschöpft fühlt, kann er die selbst auferlegte Aufgabe nicht loslassen und treibt die Forschung weiter voran. Seine Recherchen führen ihn dabei immer wieder an die Orte, an denen sein Großvater in der Vergangenheit tätig war, was ihm übersinnlich erscheint: „Bin ich nicht immer wieder, obwohl ich eigentlich etwas anderes im Sinn hatte, auf Spuren von ihm gestoßen? […] Das, was man ‚Zufall‘ nennt, kam mir zu Hilfe. Aber vielleicht sind diese zufälligen Begebenheiten auch gar nicht zufällig…“ (TE, 138, Hervorh. i. O.) Wie Claudia Brunner kann Seltmann psychische Beschwerden nur mit Hilfe einer Psychoanalytikerin bewältigen, die sich seit vielen Jahren mit Auswirkungen und Ausformungen der „NS-Problematik“ (TE, 145) beschäftigt. Bezogen auf seine ambivalente Haltung gegenüber der Auseinandersetzung mit dem Großvater beruhigt die Psychoanalytikerin Thea Bauriedl den Erzähler mit der Erklärung, dass es anderen ähnlich wie ihm ergeht. Wie seine Tante ist Bauriedl auch der Meinung, dass er als Vertreter der dritten Generation mit zunehmender zeitlicher Distanz zu den historischen Ereignissen die kognitive und emotionale Fähigkeit zur Auseinandersetzung mit der Familiengeschichte entwickelt habe, die der zweiten Generation gefehlt habe. Aus den familiären Begebenheiten, von denen der Erzähler ihr berichtet, zieht Bauriedl die folgende Schlussfolgerung: „Ihr Vater hat Ihnen – unbewusst – den Auftrag erteilt, nach seinem Vater zu forschen. Und Sie haben als sein Ältester diesen Auftrag übernommen. Sie haben gespürt: Da ist was nicht erledigt.“ (TE, 147) Die Episoden, die der Erzähler eher für Nebensächlichkeiten gehalten hat, sieht Bauriedl als gewisse Signale und Hinweise auf den unbewussten Wunsch des Vaters nach Wahrheit an. Und was wie magische Zufälle oder etwas Übersinnliches erscheine, sei Bauriedll zufolge ganz

3.2 Claudia Brunner und Uwe von Seltmann: Schweigen die Täter, reden die Enkel

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einfach zu erklären: „Sie führen die Familientradition fort.“ (TE, 148) Wenn die zahlreichen Familiengemeinsamkeiten die Familientradition ist, wie Bauriedl feststellt, wäre sein „Hang zum Osten“ vielleicht auch ein Teil des Erbes seines Großvaters, das auch von seinen Eltern gepflegt wird, denn seine Eltern verbringen mehr Zeit „in irgendwelchen polnischen Beskidendörfern als zu Hause“ (TE, 145). Dem Erzähler fallen noch mehr charakterliche Ähnlichkeiten zwischen ihm und seinem Großvater auf. Dies führt schließlich zu den schaudernden, hypothetischen Fragen und eigenen Gewissensprüfungen: Oh Gott, wenn es so viele Wesensähnlichkeiten gibt, hätte ich dann auch… Wie hätte ich mich im Dritten Reich verhalten? Wie würde ich mich in irgendeiner anderen Diktatur verhalten? Wäre ich auch zu Verbrechen fähig? (TE, 149)

Gerade deswegen will der Erzähler aufpassen, dass er in dieser Hinsicht nicht in die Fußstapfen des Großvaters tritt, und darauf achten, wenn sich ähnliche Prozesse in der aktuellen politischen Lage abzeichnen. Es ist notwendig, zu verstehen, was in Menschen wie seinem Großvater vorgegangen ist und weshalb sie sich auf die Seite der Gewalttäter gestellt haben. Nur dadurch kann die Wiederholung verhindert werden. Dies sei der Grund dafür, dass der Erzähler davon fest überzeugt ist, „Schlussstriche seien immer der Anfang einer potentiellen Wiederholung des Gleichen“ (TE, 170). 3.2.2.4 Versöhnung durch die Konfrontation mit Scham Uwe von Seltmann schließt seine Erzählung mit der Bemerkung ab, dass die sterblichen Überreste seines Großvaters nie gefunden wurden und die genaue Todesumstände unbekannt sind. Lothar von Seltmann starb vermutlich beim Einmarsch der russischen Armee in Neuhammer (Świętoszów, Polen) im Februar 1945. Dennoch trägt ein Grabstein auf dem Wiener Zentralfriedhof seinen Namen. Uwe von Seltmann sei jedoch nie dort gewesen. Er habe noch nicht seinen Frieden mit dem Großvater geschlossen. Aber er habe aufgehört, ihn zu hassen. Was nach einer Konfrontation mit der schmerzhaften, beschämenden Erkenntnis der Schuld der Vorfahren aus den Fugen gerät, wird durch die bewusste Auseinandersetzung mit der Familiengeschichte und durch die Veröffentlichung der Forschungsergebnisse wiederhergestellt. Am Ende gelingt es Seltmann, eine Grenze zwischen der Familien- bzw. Nationalgeschichte und der persönlichen Betroffenheit zu ziehen, und zwar „vorläufig[]“ (TE, 142). Damit bringt Seltmann seine Ansicht deutlich zum Ausdruck, dass kein endgültiger Schlussstrich unter die Aufarbeitung des Nationalsozialismus gezogen werden darf und kann.

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3 Von der Schamabwehr zum Dialog

3.3 Fazit: Erinnerung als ständige Arbeit an der eigenen Identität Die Familienbücher von Alexandra Senfft, Uwe von Seltmann und Claudia Brunner zeigen, wie die dritte und vierte Generation eine neue Art der Auseinandersetzung mit der mittlerweile über 75 Jahre umfassenden NS-Geschichte anstoßen kann. Dank ihres zeitlichen und emotionalen Abstandes zur Epoche des Nationalsozialismus entwickeln die Autoren einen eigenen Modus der Auseinandersetzung mit diesem Abschnitt der Zeitgeschichte, der sich von dem der früheren Autorengeneration unterscheidet. Dabei steht weniger das detaillierte Wissen über die von ihren Großeltern begangenen Untaten im Zentrum der Aufmerksamkeit. Das Interesse der Autoren liegt vielmehr auf der Art und Weise, wie die Erinnerung an die familiäre NS-Vergangenheit in intergenerationalen Austauschprozessen innerhalb der Familie aufrechterhalten oder zu unterbinden versucht wird. Ihnen geht es ganz verstärkt um die Gegenwart und Zukunft. Trotz des wachsenden zeitlichen Abstands zu der NS-Geschichte ist ihnen eines klar: Die Wirkung der psychischen und moralischen Folgen der nicht bearbeiteten Vergangenheit der Eltern setzt schon früh im eigenen Leben ein, weil Kinder vom ersten Tag ihres Lebens an mit Eltern aufwachsen und die Tradierung der elterlichen Vergangenheit sich kumulativ-assoziativ durch die leibliche Kommunikation vollzieht. Die Erbschaften der vergangenen Wirklichkeit wirken sich somit tief auf alle Lebensbereiche aus. Solange die Schuldverstrickungen wie die traumatischen Erfahrungen der NS-Zeit nicht identifiziert, konfrontiert und aufgearbeitet werden, werden sie weiter Einfluss auf die nachgeborenen Generationen ausüben – unbemerkt, unterschwellig und sequenziell. Die drei Autoren sehen es als eine ganz wesentliche gegenwarts- bzw. zukunftsbezogene Aufgabe an, das familiäre Schweigen über die Verstrickung in das NS-Regime bzw. die selektive Kommunikation darüber aufzubrechen, sich selbst und der nachwachsenden Generation nie wieder die Folgen dieses Schweigens zuzumuten. Bei ihrem über viele Jahre hinweg mühsam vorangetriebenen familienbiografischen Erkenntnisprozess geht es um zweierlei: zu erkennen, welche Auswirkung die Spätfolgen des Nationalsozialismus auf die eigene Biografie und Psyche haben sowie welche politischen Rückschlüsse sich aus dieser biografischen Verbundenheit mit den Vorfahren ziehen lassen. Dabei widersprechen sie dem gängigen Narrativ einer erfolgreichen Aufarbeitung der NS-Geschichte. Ihre Auseinandersetzung mit der Familiengeschichte ist nicht bei allen auf Begeisterung gestoßen. Sie erzählen von einer Mauer aus Ignoranz und Ablehnung, auf die sie in ihren Familien stießen, und von einem schweren Gewicht an Emotionen und persönlicher Nähe zum Umgang mit der Täterschaft in der eigenen Familie. Die Mechanismen, die Individuen in Familien zeigen, wenn die schambesetzten Taten der Vorfahren nicht bewusst verarbeitet werden, übersetzen die drei Autoren

3.3 Fazit: Erinnerung als ständige Arbeit an der eigenen Identität

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auf die aktuellen politischen und gesellschaftlichen Situationen in Deutschland und Österreich und reflektieren, welchen Einfluss das auf die politische Entwicklung der beiden Länder nehmen kann. In dieser Hinsicht können die rechtsextremen und völkisch orientierten Parteien und Gruppierungen wie die ‚Alternative für Deutschland‘ (AfD), die ‚Patriotischen Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes‘ (Pegida) und Identitäre Bewegung (IB) als symptomatisches Merkmal für die (familien‐)biografisch nicht genügend bearbeiteten Folgen der NS-Vergangenheit und die unbewusste Identifizierung mit der vorangegangenen Generation betrachtet werden. Die drei Autoren sind sich darin einig, dass sich die nationalsozialistische Vergangenheit und die sich daraus ergebenden ethischen Fragen nicht allein wissenschaftlich abhandeln lassen. Die Wissenschaft stellt zwar unverzichtbare Erkenntnisse zur Verfügung, doch um sich mit den ideologischen Kontinuitäten und Entwicklungen zu beschäftigen, ist auch der persönliche, biografische Zugang nötig. Das heißt, man sollte sich darum bemühen, nicht nur kognitiv, sondern auch emotional zu erfahren, was man persönlich mit der Geschichte zu tun hat. Die drei Familienerzählungen zeigen, dass mit der Biografie-Arbeit ein Teil ihres Erlebens integriert wurde, der vorher mit diffusen Scham- und Schuldgefühlen besetzt war und ohne eine tiefergehende Auseinandersetzung unbewusst abgespalten werden konnte. Die Erinnerungen an die NS-Vergangenheit im Bewusstsein wach zu halten, bedeutet für Alexandra Senfft, Claudia Brunner und Uwe von Seltmann, die Familien- bzw. Nationalgeschichte als Teil der eigenen Biografie und somit auch Identität anzunehmen. Erst dann kommt man einer zukunftsorientierten Erinnerungskultur näher. Das Credo ihrer Familienerzählungen lautet, um mit Hannah Arendt zu sprechen: „Gewonnen wird Humanität nie in der Einsamkeit und nie dadurch, dass einer sein Werk der Öffentlichkeit übergibt. Nur wer sein Leben und seine Person mit in das Wagnis der Öffentlichkeit nimmt, kann sie erreichen.“⁸⁶

 Hannah Arendt: Was bleibt. Es bleibt die Muttersprache, in: Günter Gaus: Was bleibt, sind Fragen. Die klassischen Interviews, Berlin 2001, S. 335.

Schlussbetrachtung Auf dem Hintergrund des seit der Jahrtausendwende zu beobachtenden Paradigmenwechsels in der deutschen Erinnerungskultur und der damit verbundenen Debatten über den Nationalsozialismus und den Zweiten Weltkrieg hat die vorliegende Arbeit das Phänomen des autobiografischen Familienliteratur-Booms anhand der ausgewählten Texte im Hinblick auf ihre kulturelle und soziale Prägung sowie den Einfluss des öffentlichen und wissenschaftlichen Diskurses untersucht. Die Konjunktur der autobiografischen Familienliteratur seit der Jahrtausendwende hängt vor allem mit dem Generationswechsel und den daraus hervorgehenden Konsequenzen für die Erinnerungspolitik zusammen. Mit dem Aussterben der Zeitzeugengeneration werden die Erinnerungen an den Nationalsozialismus und den Zweiten Weltkrieg nun verstärkt den Vermittlungsformen in der Wissenschaft und in der medialen Öffentlichkeit unterworfen. Die wissenschaftlichen wie medialen Repräsentationsangebote werden das Geschichtsbild daher ganz wesentlich beeinflussen. Der Übergang vom kommunikativen zum kulturellen Gedächtnis wird durch den Erinnerungsboom sowohl in der Gedächtnisforschung als auch in der Öffentlichkeit bzw. den Medien markiert. Der neue Blickwinkel auf die Geschichte und Geschichtsschreibung durch bewusste Erinnerungsarbeit, Gedächtniskonzeption und -theorien fördert ein neues Geschichtsbewusstsein, das auf die weitere Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus unter neuen Bedingungen, d. h. ohne aktive Mitwirkung der Zeitzeugen Einfluss ausübt. Der Erinnerungsboom, der viele kulturelle, soziale und wissenschaftliche Diskurse erfasst hat, hat dazu geführt, dass das konflikthafte Verhältnis von Gedächtnis und Geschichte im Zuge der Historisierung der NS-Zeit und ihrer Ereignisse stärker in den Vordergrund gerückt wird. Einen zweiten Faktor für den Paradigmenwechsel in der deutschen Erinnerungskultur stellt die Zäsur von 1989/90 dar, der mit dem Ende der deutschen Teilung sowie mit der Neubegründung eines deutschen Nationalstaates eine Neuverortung von Geschichtsdiskursen notwendig machte. Erkenntnisse der Gedächtnisforschung und die Geschichte der deutschen Geschichtspolitik veranschaulichen, auch wenn Vergangenes verhandelt wird, dass ihre Erinnerung und Deutung immer in der Gegenwart, d. h. in einer konkreten raumzeitlichen und soziokulturellen Situation erfolgt. Angesichts der Dominanz gegenwärtiger Interessen im Umgang mit der Vergangenheit erweist sich die Verortung der nationalsozialistischen Vergangenheit in einem größeren historischen Zusammenhang als Konstruktion auf der Basis gegenwärtiger Ansprüche und Bedürfnisse. Der Fokus hat sich deutlich weg von den faktenorientierten Darstellungen hin zu einer Auseinandersetzung mit gegenwärtigen Erinnerungsprozessen und dem gesellschaftlich-politisch akzeptablen Umgang mit der NS-Geschichte verlagert. Kontrovers diskutiert wird in diesem https://doi.org/10.1515/9783111009094-009

Schlussbetrachtung

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Kontext vor allem der neue deutsche Opferdiskurs. „Die Deutschen nehmen sich erneut – auch, vielleicht sogar vornehmlich – als Opfer von Bombenkrieg (Friedrich) und Flucht/Vertreibung (Grass) wahr“¹, konstatiert der Geschichtsdidaktiker und Historiker Bodo von Borries. Das Phänomen der autobiografischen Familienliteratur steht im Zusammenhang mit den oben geschilderten soziokulturellen Rahmenbedingungen. Die Rhetorik und die thematische Schwerpunktsetzung der literarischen Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit wurden durch mehrere gesellschaftlichen und politischen Ereignisse sowie sie begleitende öffentliche Diskurse geprägt. So unterschiedlich die Autoren mit ihrer Familiengeschichte auch umgehen mögen, insgesamt lässt sich jedoch feststellen, dass sich die bei einem Großteil der Täter und Mitläufer zu beobachtende, fehlende Bereitschaft, sich ihrer Vergangenheit zu stellen, nachhaltig auf die intergenerationellen Beziehungen innerhalb der Familie und damit auf das gegenwärtige Leben der nachgeborenen Generationen auswirkt. Durch eine umfassende Recherche in Archiven sowie den Rückgriff auf neue Forschungsergebnisse aus verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen stellt die zeitgenössische Familienliteratur eine vielschichtige Auseinandersetzung sowohl mit dem Nationalsozialismus als auch mit dessen Erinnern dar. Dies vollzieht sich vor dem Hintergrund der komplexen Beziehung zwischen privater und öffentlicher Erinnerung angesichts des seit der Jahrtausendwende öffentlich breit ausgetragenen deutschen Opferdiskurses. Dazu zählen vor allem Themen wie ungelöste Fragen der Schuld und Verantwortung, Ambivalenz der Erinnerung an deutsche Täterschaft und traumatische Kriegserfahrungen und eine deutsche Normalität, d. h. eine positive Identifikation mit der Nationalität, die noch immer in sozialen und politischen Rahmenbedingungen spürbar sind und nicht in ein einheitliches Narrativ gefasst werden können. In diesem Kontext lassen sich die autobiografisch geschriebenen Familienerzählungen als Projektionsfläche gegenwartsgesellschaftlicher Bedürfnisse verstehen, die die NS-Geschichte nicht als homogenes Konstrukt aus einer monolithischen Perspektive betrachten, sondern die Vielfalt der Erfahrungen und Deutungen historischen Geschehens und mehrere widersprüchliche Narrative zusammendenken, indem beispielsweise Polarisierungen eines Täter- und Opfergedächtnisses durch die Reorganisation der Beziehungen wechselseitig infrage gestellt werden oder affektive wie kritische Dimensionen der familiären NS-Vergangenheit angesprochen werden. Die Autoren der zeitgenössischen Familienliteratur tun dies stärker aus der Perspektive der sekundären Aufarbeitung, d. h. sie setzen sich kritisch mit den

 Bodo von Borries: Lernen und Lehren zum Nationalsozialismus 2004, in: Wilhelm Schwendemann/Georg Wagensommer (Hrsg.): Erinnern ist mehr als Informiertsein, S. 48 – 74, hier S. 51 f.

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Schlussbetrachtung

bisherigen familiären wie öffentlichen Erinnerungskonventionen auseinander. Indem sie sich selbstreflexiv auf die Narrativität der individuellen Erinnerung und der Geschichtsschreibung beziehen, betonen die hier untersuchten Erzählungen den konstruierten Charakter persönlicher wie öffentlicher Erinnerungen und somit die Rolle des Individuums in größeren historischen Kontexten. Damit soll nicht behauptet werden, dass die Formen des kollektiven Gedächtnisses unzulänglich sind, sondern dass der Prozess des Erinnerns in der Gegenwart stattfindet und damit eher die Bedürfnisse der Gegenwart widerspiegelt als eine akkurate Darstellung der Vergangenheit. Der literarische Diskurs schafft somit einen Raum für konkurrierende und zuvor marginalisierte Aspekte der privaten wie kollektiven Erinnerungen. Die Texte sind durch vielfältige Überschneidungen und Durchmischungen charakterisiert, um nachgerade Oppositionsbildungen von Gedächtnis und Geschichte zu verhindern. Statt die Verbindlichkeit und normative Deutungshoheit zu behaupten, stellen die hier untersuchten Werke durch das Zusammenspiel von Geschichte und Gedächtnis die Konstruiertheit dessen, was wir gemeinhin als Geschichte im Sinne der Historie bezeichnen, performativ zur Schau und lassen reichlich Interpretationsspielraum zu. Folglich steht die Darstellung historischer Ereignisse nicht mehr im Mittelpunkt der Erzählungen. Der Fokus der Texte liegt vielmehr auf der Wahrnehmung der NS-Vergangenheit in aktuellen Diskursen und auf vielfältigen Aspekten des kollektiven Gedächtnisses und der daraus abzuleitenden individuellen wie nationalen Identität. Faktentreue und Recherchequalität der Texte erfüllen einerseits die Bedürfnisse der Leser nach der Aufklärung und dem Verständnis über die Geschichte des Dritten Reiches. Die Erfahrungsnähe und der persönliche, emotionale Bezug machen andererseits Identifikationsangebote. Dass die Autoren der hier untersuchten Werke zur zweiten und dritten Generation gehören, wirkt sich auch auf die Textgestaltung aus. An der Schwelle, wo der direkte kommunikative Austausch mit der Zeitzeugengeneration unmöglich ist, blicken diese nachgeborenen Autorengenerationen auf die familiäre und kollektive Geschichte des 20. Jahrhunderts zurück. Der Generationenwechsel führt nicht nur dazu, dass die Autoren die Funktionsweise der individuellen bzw. kollektiven Erinnerung sowie die Schwierigkeiten der Rekonstruierbarkeit der Vergangenheit stärker in den Vordergrund rücken, sondern er ermöglicht es ihnen auch, die NSVergangenheit aus einer dezidiert gegenwärtigen Perspektive zu betrachten. Den Autoren geht es daher verstärkt um die Problematik der Überlieferung bzw. nachträglichen Aneignung der NS-Vergangenheit und deren Folgen für persönliche wie auch nationale Identitätsbildungen. In dem Maße, wie die zeitliche Distanz zur NS‐Vergangenheit wächst, dient die literarische Auseinandersetzung mit ihr nicht nur dazu, das Vergangene zu vergegenwärtigen, sondern vielmehr den Umgang mit diesem prekären Abschnitt der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts zu reflektieren. Damit geht die formale Vielfalt der literarischen Auseinandersetzung mit

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der (Familien‐)Geschichte einher. Die hier untersuchten Texte zeichnen sich durch ein besonderes Verhältnis von Fiktionalität und Referenzialität aus. Die Referenzialität beruht auf vielfältigen Bezügen zu Quellen und Materialien aus historischen und familiären Archiven. In der Rekonstruktion der Familiengeschichte überkreuzen sich Vorgehensweise autobiografischen und historiografischen Schreibens. In der konzeptionellen Verknüpfung beider Vorgehensweise offenbart sich zugleich die diskursive Strategie der narrativen Aufarbeitung der Zeitgeschichte anhand der eigenen Familiengeschiche. Die angestrebte Aufarbeitung weit zurückliegender NS-Geschichte diesseits des floating gap im Niethammerschen Sinne wird über die Anbindung an das Familiengedächtnis gewährleistet und somit nicht zu Historie abstrahiert, sondern erhält die lebendige Verbindung zur Gegenwart, die das wichtigste Kennzeichen des individuellen Gedächtnisses ist. Der durch die angestrebte Kopplung von Gedächtnis- und Geschichtserzählung bestimmte Umgang mit der (Familien‐)Geschichte öffnet die Vergangenheit auf die Gegenwart hin, verschafft ihr also die Aktualität. Es lässt sich als Ausdruck der Hoffnung verstehen, dass das Gedenken an die NS-Vergangenheit nicht an seiner gegenwärtigen Relevanz in Bezug auf die Frage verliert, was man aus der Geschichte lernen kann, und dass das Narrativ individueller wie kollektiver Selbstvergewisserung immer wieder aktualisiert wird. Die Untersuchung der Werke hat ein besonderes Augenmerk auf die gestalterischen Maßnahmen gerichtet, die subjektiven Familiengedächtnisse mit einer ausgreifenden Zeitgeschichte in Beziehung zu setzen. Es hat sich gezeigt, dass die Erzählungen autobiografische Erzählkonventionen aufgreifen, jedoch eine objektive distanzierte Rekonstruktion der historiografischen Textsorte vermeiden. Das besondere Anliegen der Autoren ist dabei, der Tendenz der Beschönigung und Verharmlosung des Familiengedächtnisses, das hinsichtlich der NS-Zeit und des Zweiten Weltkrieges weitgehend vom kollektiven Gedächtnis abgespalten ist, entgegenzuarbeiten. In ihrer Auseinandersetzung mit der eigenen Familengeschichte, die durch die Erinnerung an Leiden und Opferschaft geprägt ist, verknüpfen die Autoren daher die in einen zeitlich weiten historischen Rahmen gestellte Rekonstruktion der Familiengeschichte mit einer besonderen Erinnerungsproblematik. Um die Komplexität der Erinnerungsprozesse und die Mechanismen des Gedächtnisses sprachlich auch auf textueller Ebene zu gestalten, bedienen sie sich der literarischen Strategien. Dies zeigt sich unter anderem an einer diskontinuierlichen und fragmentarischen Erzählweise, der Schaffung des Postmemory, das die Leerstelle des Familiengedächtnisses durch Imagination auffüllt, sowie der Integration der verschiedenen Medien als Gedächtnisstütze in die Erinnerungsarbeit. Auf einer metafiktionalen Ebene geschieht dies durch Kommentare und Reflexionen über die Entstehung, Verschriftlichung und Weitergabe von Gedächtnis und Geschichte.

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Schlussbetrachtung

In ihrer sensibel-aufmerksamen Feinfühligkeit der Auseinandersetzung mit der Schwelle zwischen gelebter Vergangenheit der Familie und einem historischen Blick der nachgeborenen Generation auf die nicht selbst erlebte nationale Geschichte widersetzen sich die Autoren der autobiografischen Familienliteratur einer historisierenden Tendenz, die NS-Vergangenheit in einer vom gegenwärtigen sozialen, politischen und lebensweltlichen Erleben und den emotionalen Empfindungen des Einzelnen abgespaltenen Perspektive zu betrachten. Es geht daraus eine subjektive Geschichtsschreibung hervor, die die vermeintliche Opposition von Geschichte und Gedächtnis unterläuft. Autobiografische Familienliteratur schafft die erzählerischen Möglichkeiten, die NS-Vergangenheit der Familie weder ausschließlich mit dem verengten Tunnelblick des Autobiografen, noch mit dem affektneutralen distanzierten Blick des Geschichtsschreibers zu betrachten. Angesichts des der Autobiografie inhärenten kommunikativen Zuges, d. h. der performativen Äußerungen, kann die zeitgenössische autobiografische Familienliteratur als Verständigungstexte definiert werden, die aufgrund ihrer medialen Eigenart geeignet sind, die Grenzen zwischen der persönlichen Lebenswelt und den öffentlichen Diskursen zu überwinden. Die Stärke der Texte liegt in der Angleichung an den familiären und politisch-kulturellen Diskurs, indem sie durch die Aufarbeitung der eigenen Familiengeschichte Glaubwürdigkeit und Authentizität herstellen. Dem Akt der Veröffentlichung kann in diesem Zusammenhang ein weiteres Motiv zugeschrieben werden, das alle Autoren treibt. Mit ihrer subjektiven und authentischen Aufarbeitung der NS-Familiengeschichte wenden sie sich an die Öffentlichkeit, weil sie die auf sie gekommene Problematik im Sinne einer transgenerationalen Übertragung bezüglich der von der Elterngeneration nicht bearbeiteten NS-Vergangenheit nicht als private sehen, sondern als Angelegenheiten von allgemeinem Interesse. Im Erkennen der Verschränkung von Vergangenheit und Gegenwart ebenso wie in der Aufmerksamkeit für das Ineinander von individueller und kollektiver Geschichte liegt ihr Anspruch auf Veröffentlichung begründet. Der Blick auf die nachfolgenden Generationen und damit auf die Zukunft der Erinnerung spielt eine entscheidende Rolle für die Veröffentlichung. Das Phänomen der autobiografischen Familienliteratur, die seit der Jahrtausendwende auf dem Büchermarkt hohe Auflagenzahlen erzielt, kann somit auch als eine Antwort auf die Frage, warum die weit zurückliegende NS-Vergangenheit selbst von den Nachgeborenen noch auf individueller Ebene aufgearbeitet werden muss, gedeutet werden. Die verschiedenen Möglichkeiten des Umgangs mit der Familiengeschichte, die die autobiografische Familienliteratur mit ihrer Wahrheits- und Erfahrungsnähe bietet, können die nachwachsende Generation, die mit dem Nationalsozialismus und dem Holocaust nur in einer durch Bildungsinstitutionen und Medien vermittelten Form historischen Wissens konfrontiert wurde und daher die Position der passiven Rezipienten eingenommen hat, dazu anregen, sich selbst gefühlsmäßig mit der eigenen NS-Fami-

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lienvergangenheit zu beschäftigen, eigene Fragestellungen zu entwickeln und dadurch ihre eigene Position zur NS-Geschichte zu beziehen. Erinnerungskultur heute und in Zukunft Angesichts des Generationswechsels äußerte der Historiker Reinhart Koselleck die Sorge, dass im Übergang von der persönlichen Geschichtserfahrung zur wissenschaftlichen Geschichtsforschung der Vergangenheitsbezug verblassen werde: Aus der erfahrungsgesättigten, gegenwärtigen Vergangenheit der Überlebenden wird eine reine Vergangenheit, die sich der Erfahrung entzogen hat. […] Bald sprechen nur noch die Akten, angereichert durch Bilder, Filme, Memoiren. […] Die Forschungskriterien werden nüchterner, sie sind aber auch vielleicht farbloser, weniger empiriegesättigt, auch wenn sie mehr zu erkennen oder zu objektivieren versprechen. Die moralische Betroffenheit, die verkappten Schutzfunktionen, die Anklagen und die Schuldverteilungen der Geschichtsschreibung – all diese Vergangenheitsbewältigungstechniken verlieren ihren politisch-existentiellen Bezug, sie verblassen zugunsten von wissenschaftlicher Einzelforschung und hypothesengesteuerten Analysen.²

Die Befürchtung Kosellecks hat sich bisher jedoch nicht bewahrheitet. Über 75 Jahre nach Kriegsende scheint die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus noch längst nicht abgeschlossen zu sein. Die Geschichte des Nationalsozialismus und der Umgang mit dieser bildet nach wie vor ein explosives Thema sowie gleichzeitig einen wesentlichen, wenn nicht den wesentlichsten Teil in Selbstvergewisserungsprozessen in Deutschland. Die Frage, was der 8. Mai 1945 für Deutschland bedeutet, d. h. ob der Tag des Kriegsendes als ein Tag der Befreiung und des Neuanfangs oder als ein Tag der bedingungslosen Kapitulation und der totalen Niederlage wahrgenommen werden soll, ist immer noch ein politisch heikles und umstrittenes Thema, wovon verschiedene Stellungnahmen der noch lebenden Zeitzeugen, Intellektuellen und Politiker zum 75. Jahrestag des Kriegsendes 2020 zeugen. Mit der Forderung, den 8. Mai zum nationalen Feiertag zu erklären, hat die Holocaust-Überlebende Esther Bejarano eine breite gesellschaftliche Debatte angestoßen und viel Zustimmung aber auch Ablehnung erhalten.³ Der Historiker Martin Sabrow plädiert etwa dafür, den 8. Mai

 Reinhart Koselleck: Nachwort, in: Charlotte Beradt: Das Dritte Reich des Traums, Frankfurt a. M. 1994, S. 117– 132, hier S. 117. Zit. nach Aleida Assmann/Ute Frevert: Geschichtsvergessenheit – Geschichtsversessenheit, S. 28. Hervorh. i. O.  Vgl. Stephan Hebel: 75 Jahre nach Kriegsende: Die tägliche Befreiung, in Frankfurter Rundschau, 08.05. 2020. Online unter https://www.fr.de/meinung/8-mai-befreiung-nationalsozialismusdeutschland-75-jahre-zweiter-weltkrieg-kriegsende-13754216.html, zuletzt abgerufen am 01.11. 2022; Marcel Fürstenau: Vor 75 Jahren: Ende des Zweiten Weltkriegs. 8. Mai 1945: Totale Niederlage oder Tag der Befreiung?, in: https://www.dw.com/de/8-mai-1945-totale-niederlage-oder-tag-der-befreiung/

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„als gesetzlichen Feiertag dauerhaft im gesellschaftlichen Gedächtnis zu verankern“⁴. Damit würde Deutschland seiner Erinnerungskultur angemessen Rechnung tragen und zum Ausdruck bringen, „dass der 8. Mai 1945 ein die Zeiten überdauernder Tag der befreienden Niederlage und des rettenden Zusammenbruchs war“⁵. Der AfDFraktions- und Ehrenvorsitzende Alexander Gauland hingegen hat mit seiner provozierenden Äußerung zum 8. Mai als „ein Tag der absoluten Niederlage, ein Tag des Verlustes von großen Teilen Deutschlands und des Verlustes von Gestaltungsmöglichkeit“ für große Empörung gesorgt.⁶ Dass die AfD regelmäßig mit radikalen Äußerungen zur NS-Vergangenheit Aufmerksamkeit erringt, ist vor dem Hintergrund der zunehmenden rechten Protestbewegungen in Deutschland nicht mehr zu ignorieren. „Die Grenzen des Sagbaren haben sich deutlich in Richtung rechts verschoben. Das ist eine Folge des gesellschaftlichen Diskurses, der auch mit einem Erstarken des Rassismus, auch des Antisemitismus, aber auch der Islamfeindlichkeit zu tun hat.“⁷, so Jens-Christian Wagner, Geschäftsführer der Stiftung niedersächsische Gedenkstätten. Laut Umfrageergebnisse im Auftrag des Instituts für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung (IKG) der Universität Bielefeld befürchten zwei Drittel aller Befragten (64,6 %), dass die deutsche Erinnerungskultur von Rechtspopulisten vereinnahmt wird.⁸ Rund die Hälfte aller Befragten a-53290295, zuletzt abgerufen am. 01.11. 2022; Ulrich Schlie: Kriegsende am 8. Mai 1945. Die Geschichte kennt keine Stunde Null, in: Cicero, 08.05. 2020. Online unter https://www.cicero.de/kultur/kriegsen de-1945-achter-mai-zweiter-weltkrieg-nationalsozialismus-geschichte-stunde-null, zuletzt abgerufen am 01.11. 2022; Andrea Nüsse: Der 8. Mai sollte der Feiertag der Befreier bleiben, in: Tagesspiegel, 08.05. 2020. Online unter https://www.tagesspiegel.de/politik/der-8-mai-sollte-der-feiertag-der-be freier-bleiben-5065297.html, zuletzt abgerufen am 01.11. 2022; 75 Jahre Kriegsende: Befreiung und Leid, in: Süddeutsche Zeitung, 22. Mai 2020. Online unter https://www.sueddeutsche.de/kolumne/75jahre-kriegsende-befreiung-und-leid-1.4915178, zuletzt abgerufen am 09.05. 2020; Deutscher Gewerkschaftsbund: Gedenken an die Befreiung vom Faschismus 1945. Darum muss der 8. Mai ein bundesweiter Feiertag werden, in: https://www.dgb.de/++co++92aa4a92-a805-11eb-a926-001a4a160123, zuletzt abgerufen am 09.06. 2021; Victoria Morasch: Sieg über die Nazis im Mai 1945. Lasst uns diesen Tag feiern!, in: taz, 30.04. 2021. Online unter https://taz.de/Sieg-ueber-die-Nazis-im-Mai-1945/!5763602/, zuletzt abgerufen am 01.11. 2022.  Martin Sabrow: 75 Jahre Kriegsende – der 8. Mai, ein Tag zum Feiern?, in: RND, 14.03. 2020. Online unter https://www.rnd.de/politik/75-jahre-kriegsende-der-8-mai-ein-tag-zum-feiern-YDTR4EQVYZCK XFQYW3CUVVKFPQ.html, zuletzt abgerufen am 01.11. 2022.  Ebd.  https://www.tagesschau.de/inland/afd-gauland-kritik-101.html, zuletzt abgerufen am 09.05. 2020.  Henry Bernhard: Erinnerungskultur in Zeiten des Rechtspopulismus. Die Zukunft der Vergangenheit, in: Deutschlandfunk, 08.05. 2019. Online unter https://www.deutschlandfunk.de/erinnerungs kultur-in-zeiten-des-rechtspopulismus-die-100.html, zuletzt abgerufen am 01.11. 2022.  Vgl. MEMO Deutschland – Multidimensionaler Erinnerungsmonitor. Studie III (2020), in: https:// www.stiftung-evz.de/fileadmin/user_upload/EVZ_Uploads/Publikationen/Studien/EVZ_Studie_-ME MO_2020_dt_Endfassung.pdf, zuletzt abgerufen am 19.05. 2021.

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(50,3 %) macht sich gar Sorgen darüber, dass die Erinnerung an die Zeit des Nationalsozialismus verschwinden könnte. Binnen einiger Jahre ist der völkische Nationalismus, der ganz gezielt an das Gedankengut der Rechtspopulisten in der Weimarer Republik anknüpft, auf den Straßen in Deutschland zur Normalität geworden, verpackt als rechte Protestbewegung. Um diese zu rechtfertigen, wird eine Bedrohungslage konstruiert. Der große Austausch (Bevölkerungsaustausch, Umvolkung), die Merkel-Diktatur oder der Untergang Deutschlands werden beschworen. Vor dem Hintergrund des erstarkenden Rechtspopulismus und Rechtsextremismus in Deutschland wird die Bundesrepublik häufig mit der Weimarer Republik verglichen.⁹ Der Historiker Eckart Conze konstatiert eine „klare Kontinuitätslinie“ von Zwischenkriegszeit zur heutigen Zeit.¹⁰ Der Versuch, Lehren aus dem Scheitern der Weimarer Republik zu ziehen, sei erneut gescheitert. Am 09. März 2020 wurde ein Dokumentarfilm mit dem Titel ‚Weimar und heute‘ in der ARD ausgestrahlt.¹¹ Durch die Vergleiche der Strukturen und Vorgehensweisen rechtsextremer Gruppierungen und der Wählerschaft der Parteien von der Weimarer Republik und der Bundesrepublik zeigt die Dokumentation zahlreiche Übereinstimmungen und Ähnlichkeiten. Der Politikwissenschaftler und Antisemitismusbeauftragte des Landes Berlin Samuel Salzborn, der Historiker und Direktor des Instituts für Zeitgeschichte München Andreas Wirsching und der Sozialwissenschaftler Oliver Nachtwey machen auf einige Punkte aufmerksam, die die Parallelen der Weimarer Republik zur Gegenwart aufweisen: gesellschaftliche Polarisierung, Rechtsextremismus, der Aufstieg einer antidemokratischen Partei, die Wählerschaft der Parteien, Angriffe auf die politische Elite, Vorwürfe gegen die Lügenpresse oder Systempresse, rechtsextreme Gewalttaten und die Regierung, die diese Lage nicht im Griff zu haben scheint. Eine historische Konstellation wiederhole sich zwar nicht eins zu eins, aber der eingängige Slogan, Berlin sei nicht Weimar, sei gleichzeitig

 Vgl. Andreas Wirsching/Berthold Kohler/Ulrich Wilhelm (Hrsg.): Weimarer Verhältnisse? Historische Lektionen für unsere Demokratie, Bonn 2018; Ralf Julke: Sieben Wissenschaftler befragen die Parallelen der Weimarer Republik zur krisenhaften Gegenwart, in: Leipziger Zeitung, 27.03. 2018. Online unter https://www.l-iz.de/bildung/buecher/2018/03/Sieben-Wissenschaftler-befragen-die-Par allelen-der-Weimarer-Republik-zur-krisenhaften-Gegenwart-211107, zuletzt abgerufen am 19.05. 2021; Jenny Genzmer: „Weimarer Verhältnisse“. Die Karriere eines politischen Arguments, in: Deutschlandfunk, 19.06. 2019. Online unter https://www.deutschlandfunkkultur.de/weimarer-verhaeltnissedie-karriere-eines-politischen-100.html, zuletzt abgerufen am 05.06. 2021; Kira Urschinger: Wissenschaftler vergleichen: Machtergreifung Hitlers vs. Heute, in: https://www.swr3.de/aktuell/wissen schaftler-vergleichen-machtergreifung-hitlers-vs-100.html, zuletzt abgerufen am 05.06. 2021.  Eckart Conze im Gespräch mit Anja Reinhardt: Weimarer Republik. „Parallelen zu heute sind unübersehbar“, in: Deutschlandfunk, 23.06. 2019. Online unter https://www.deutschlandfunk.de/wei marer-republik-parallelen-zu-heute-sind-unuebersehbar-100.html, zuletzt abgerufen am 19.05. 2021.  Vgl. https://www.dw.com/de/weimar-und-heute/av-50534555, zuletzt abgerufen am 01.06. 2021.

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auch eine Beruhigungs- oder Beschwichtigungsformel, so Salzborn. Damit sich Weimar nicht wiederhole, müsse man im Bewusstsein von Weimar Weimar verhindern, meint Nachtwey. Interessant ist in diesem Zusammenhang unter anderem der Vergleich der Wählerschaft zwischen der NSDAP und der AfD, den die Untersuchung der Universität München anhand von Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg, den beiden Bundesländern, deren Bevölkerungszusammensetzung sich im Laufe der Zeit am wenigsten verändert hat, zeigt. Es sind erstaunliche Kontinuitäten im Wahlverhalten festzustellen, die bis in die Zeit zum Nationalsozialismus zurückreichen: Dort, wo Menschen 1933 die NSDAP gewählt haben, haben sie bei der Bundestagswahl 2017 oft verblüffend übereinstimmend die AfD gewählt. Und wie ein großer Teil der NSDAP-Wähler zuvor Nichtwähler waren, ist die AfD „eine Mischung zwischen sozial etablierten Wählern aus der Mitte, die nach rechts driften und Neuwählern, Protestwählern, die in der Tat ihrem Protest dadurch Ausdruck geben“¹². Der Soziologe und Rechtsextremismusforscher Matthias Quent folgert daraus, dass „die politische Kultur, das rechtsradikale Denken nichts ist, was auf einmal verschwindet oder sich über Nacht verändert, sondern dass es in den Familien, im Zusammenleben Kontinuitäten gibt“¹³. Diese empirischen Daten zeugen von der wissenschaftlich vielfach konstatierten These, dass rechtsextreme Einstellungen Generationen überdauern. Die Frage, die die Reportage am Ende des Films aufwirft, regt zum Nachdenken an: Wenn es der AfD schon in wirtschaftlich prosperierenden Zeiten gelingt, die Unzufriedenheit jener Menschen aus der bürgerlichen Mitte mit dem System zu schüren, bei denen das rechte Gedankengut durch die transgenerationale Weitergabe in Familien fest verankert ist, was würde dann also passieren, wenn die Wirtschaft stagniert und es zu einer neuen Krise kommen sollte, die auch die Mittelschicht verunsichert? In seinem 2020 erschienenen Essay Kollektive Unschuld. Die Abwehr der Shoah im deutschen Erinnern bezeichnet Samuel Salzborn den Glauben der erfolgreichen Aufarbeitung der NS-Vergangenheit als „die größte Lebenslüge der Bundesrepublik“¹⁴. In der Tiefe des Bewusstseins der Mehrheit der deutschen Bevölkerung habe es, so Salzborn, eine umfassende Schulderkenntnis nicht gegeben. Die Tatsache, dass Täterbiografien in jeder deutschen Familie vorhanden sind, werde aus der Sehnsucht nach Unschuld ausgeblendet. Aus dem „kollektiv getragene[n] und komplizenhafte[n] Verschweigen der Verbrechen durch weite Teile der Nachkriegsgesellschaft“¹⁵ sei „die deutsche Gesellschaft […] zur Erinnerungsabwehrge Ebd., 39:10.  Ebd., 17:47.  Samuel Salzborn: Kollektive Unschuld. Die Abwehr der Shoah im deutschen Erinnern, Berlin 2020, S. 104.  Ebd., S. 105.

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meinschaft […] geworden“¹⁶. Anders könne man nicht erklären, dass Vorstellungen von einer ethnisch homogenen Volksgemeinschaft derzeit selbst in den Parlamenten lautstark zum Ausdruck kommen. Die heute so virulente Israelkritik bezüglich des Nahostkonflikts erweise sich bei genauem Hinsehen als über die Jahrzehnte hinweg tradierter latenter Antisemitismus und schuldabwehrende Täter-OpferUmkehr, die auf der Verdrängung und Verleugnung der deutschen Täterschaft beruht. Durch eine breit angelegte Darstellung der Geschichtsdiskurse in den letzten Jahrzehnten (besonders seit der Jahrtausendwende) knüpft Salzborn die derzeit vielfach zu beobachtenden Tendenzen, die NS-Geschichte zu relativieren, an die Gefährdung der Demokratie durch den Rechtsextremismus. Die Mahnung des 1966 von Theodor W. Adorno im Hessischen Rundfunk gehaltenen Vortrages Erziehung nach Auschwitz scheint bis heute an ihrer Gültigkeit nichts verloren zu haben: „Barbarei besteht fort, solange die Bedingungen, die jenen Rückfall zeitigen, wesentlich fortdauern.“¹⁷ Diese Umstände, die veranschaulichen, dass die vermeintlich fest etablierte Demokratie und die auf dieser fußende Erinnerungskultur in Deutschland keine Selbstverständlichkeit sein muss, sind Grund dafür, dass die Wissenschaftler aus verschiedenen Disziplinen die Bedeutung der Aufarbeitung der eigenen Familiengeschichte ausdrücklich begrüßen, denn eine offene Auseinandersetzung mit Täterschaft und Verantwortung sei in den meisten deutschen Familien bis heute immer noch kein Thema¹⁸ und nur wer die eigene Familiengeschichte zur Zeit des

 Ebd., S. 6.  Theodor W. Adorno: Erziehung nach Auschwitz, S. 674.  Vgl. MEMO Deutschland – Multidimensionaler Erinnerungsmonitor. Studie II (2019), in: https:// www.stiftung-evz.de/fileadmin/user_upload/EVZ_Uploads/Projekte/EVZ_Studie_MEMO_2019-_dt_ 20190423.pdf, zuletzt abgerufen am 19.05. 2021. Die Umfrageergebnisse verdeutlichen, dass nach wie vor eine große Diskrepanz zwischen dem allgemeinen Wissen um die NS-Zeit und der Wahrnehmung der eigenen Familiengeschichte besteht: Viele Deutschen interessieren sich zwar für die NSGeschichte und sind relativ gut informiert über diese. Was allerdings die eigene Familiengeschichte angeht, gibt die Hälfte der Befragten an, nicht einmal die Mitläufer des NS-Regimes in der eigenen Familie zu haben und dass über die NS-Vergangenheit der eigenen Familie nie oder nur selten gesprochen wird. Vgl. dazu auch Thilo Jahn: Familiengeschichte und Nationalsozialismus. War Opa ein Nazi? Archive helfen bei Recherche, Deutschlandfunk, 12.04. 2019. Online unter https://www. deutschlandfunknova.de/beitrag/familiengeschichte-und-ns-zeit-name-und-geburtsdatum-reichenaus, zuletzt abgerufen am 19.05. 2021; Jule Hoffmann: Deutsch und damit nicht normal, in: Die Zeit, 12.03. 2021. Online unter https://www.zeit.de/kultur/2021-03/ns-vergangenheit-nazihintergrund-shesaid-buchladen-emilia-von-senger, zuletzt abgerufen am 19.05. 2021: „Wir haben nicht gelernt, darüber zu sprechen, nicht einmal untereinander. Ich kenne eigentlich niemanden, die oder der offen erzählt, dass die Großeltern Nazis waren. Der fehlende Umgang, die Aura eines Tabus, hat sich fortgepflanzt in die dritte und vierte Generation.“; Katja Iken: Wie Nachkommen von NS-Tätern mit ihrer Familiengeschichte umgehen. Mein Opa, der Massenmörder, in: Der Spiegel, 08.06. 2021. Online

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Nationalsozialismus kennt, könne einen tieferen Einblick in die Psychodynamik des Nationalsozialismus und somit die historischen und politischen Zusammenhänge bezüglich der derzeit erstarkenden rechtsradikalen Strömungen gewinnen.¹⁹ Das Ziel der Aufarbeitung der Familiengeschichte liegt nach wie vor in einer von Adorno geforderten, „auf die subjektive Seite“ gewendeten gesellschaftlichen Erziehung, „die ein geistiges, kulturelles und gesellschaftliches Klima schafft, das eine Wiederholung nicht zulässt, ein Klima also, in dem die Motive, die zu dem Grauen geführt haben, einigermaßen bewusst werden“²⁰. Das Studienzentrum der KZ-Gedenkstätte Neuengamme bietet Rechercheseminare an und hilft den Nachkommen von Tätern und Mitläufern bei der Archivarbeit, um die Familiengeschichte zu erforschen. Der 2016 veröffentlichte Sammelband Nationalsozialistische Täterschaften. Nachwirkungen in Gesellschaft und Familie ging aus wissenschaftlichen Konferenzen und der Arbeit der Gedenkstätte Neuengamme mit Nachkommen von Tätern und Mitläufern hervor. Neben den wissenschaftlichen Beiträgen beinhaltet der Sammelband sechzehn Familiengeschichten, die die Teilnehmer der Seminare selbst verfasst haben. Ihre Herangehensweise an die Familienvergangenheit und ihr Umgang mit historischen und familiären Quellen weisen Ähnlichkeit mit denen der in dieser Arbeit untersuchten autobiografischen Familienliteratur auf. Die faktenorientierte Rekonstruktion der NS-Familienvergangenheit durch Archivmaterialien geht mit der emotionalen Aufladung und kritischer Reflexion über die psychodynamischen Auswirkungen des konfliktbeladenen Familiengedächtnisses auf das eigene Leben im Hier und Jetzt einher. Dies zeugt von der erinnerungskulturellen Wirkungskraft des Genres der autobiografischen Familienliteratur. An den oben geschilderten gegenwärtigen politischen und gesellschaftlichen Diskursen über die Geschichte und die Erinnerungskultur lässt sich erkennen, dass autobiografische Familienliteratur als ein Teil der Geschichtsdiskurse durch ihre selbstreflexive Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Täterschaft und ihrer Auswirkungen auf das Leben der Nachkommen und somit auf die heutige Gesellschaft dem öffentlichen Diskurs seinerzeit voraus war und als Erinnerungsmedium durch ihr performatives Schreiben der Familienbiografie bei der Gedächtnisbildung mitwirkt. Anzumerken ist in diesem Zusammenhang, dass die

unter https://www.spiegel.de/geschichte/die-wahrheitssucher-wie-nachkommen-von-ns-taetern-mitihrem-erbe-umgehen-a-d63f41d7-0002-0001-0000-000177512615, zuletzt abgerufen am 01.11. 2022: „Kaum eine deutsche Familie gesteht sich ein, dass unter den Vorfahren vermutlich auch Täter oder Profiteure des NS-Regimes waren.“  Vgl. Melanie Longerich: Klarheit ja, Erlösung nein.Was es bedeutet, einen NS-Täter in der Familie zu haben, in: Deutschlandfunk, 19.04. 2020. Online unter https://www.deutschlandfunk.de/klarheit-jaerloesung-nein-was-es-bedeutet-einen-ns-taeter-102.html, zuletzt abgerufen am 01.11. 2022.  Theodor W. Adorno: Erziehung nach Auschwitz, S. 677.

Schlussbetrachtung

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Texte von Wackwitz und Medicus, die das Ende der Nachkriegszeit durch die Wiedervereinigung als das Ende des ideologischen Zeitalters (zu früh und euphorisch) feiern und damit implizit die von allem Politischen und Moralischen befreite Betrachtung der Geschichte propagieren, aus der heutigen Perspektive historisch geworden sind und naiv wirken. Von den gegenwärtigen rechtsextremen Strömungen und einem Wiederstarken der autoritären Politikentwürfe sowohl in Deutschland als auch auf internationaler Ebene findet sich in den Erzählungen von Wackwitz und Medicus kein Hinweis dergestalt, dass eine leise Skepsis gegenüber dem Verschwinden von überkommen geglaubten Ideologien besteht. Aber dies zählt auch zum Wirkungspotenzial dieses Genres, denn man kann nicht nur aus der Geschichte im Sinne der Historie lernen, sondern auch aus der Geschichte der Erinnerungen an die Geschichte, die die Belange und Bedürfnisse des jeweiligen Erinnerungs- bzw. Schreibzeitpunktes widerspiegeln. Das ist sicherlich der Grund dafür, dass die Erinnerung nicht in der Vergangenheit stehen bleiben darf, sondern immer wieder erneuert und erzählt werden muss. Wenn man eine Geschichte erzählt, wird sie nicht vergessen. Und sie verwandelt sich in die Erinnerung an das, was einmal war, und in die Hoffnung auf das, was sein kann und soll.

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Personenverzeichnis Abraham, Nicoals 214, 215, 263, 264 Adorno, Theodor W. 1, 297, 298 Agazzi, Elena 7, 10 Albrecht, Andrea 107 Aly, Götz 142, 201 Arendt, Hannah 159, 287 Assmann, Aleida 3, 6, 10, 24, 25, 29, 30, 31, 34, 35, 37, 40, 42, 43, 44, 46, 48, 55, 62, 92, 94, 127, 144, 145, 159, 196, 247 Assmann, Jan 22, 23, 158 Austin, John L. 81 Bachtin, Michail 171, 172 Baer Ulrich 64 Bajohr, Frank 43 Bar-On, Dan 51, 155 Barthes, Roland 217, 218, 220, 223 Becker, Jillian 200 Belting, Hans 210 Benjamin, Walter 95, 97 Berek, Mathias 17, 18, 27 Bohleber, Werner 55, 95, 211 Böttiger, Helmut 126 Braun, Michael 98, 99, 109, 126 Brendler, Konrad 243 Broszat, Martin 59 Brown, Brené 245, 248 Browning, Christopher 1, 43, Brumlik, Micha 39, 61, 62, 102, 248 Bruner, Jerome 74 Brunner, Markus 264 Brunssen, Frank 36 Bruss, Elisabeth W. 80, 81 Bude, Heinz 1, 57, 128, 198 Burke, Peter 164 Cambi, Fabrizio 4 Canetti, Elias 213 Caruth, Cathy 162 Costagli, Simone 4 de Bruyn, Günter 85 Dilthey, Wilhelm 71 https://doi.org/10.1515/9783111009094-011

Dreitzel, Hans Peter 265, 266 Dubiel, Helmut 31, 36, 154, 157, 158, 239 Dulffer, Jost 42 Eakin, Paul John 76, 79 Echterhoff, Gerald 16, 17, 18 Echternkamp, Jörg 32 Eckstaedt, Anita 167 Eichenberg, Ariane 8, 181, 197, 223 Eigler, Friederike 170, 175, 196, 197, 202, 204 Elias, Norbert 265 Elm, Michael 64 Erikson, Erik Homburger 131 Erll, Astrid 16, 19, 20, 86, 87, 88 Evans, Richard J. 238 Faimberg, Haydée 93, 95, 163, 247 Fiedler, Matthias 190 Finck, Almut 96 Frank, Michael 164, 172 Frei, Norbert 7, 28, 29, 47, 69 Freud, Sigmund 53, 96, 97, 136, 144, 155, 161, 162, 174, 176, 177 Frevert, Ute 10, 24, 25, 29, 30, 31, 35, 40, 42, 43, 44, 247 Friedländer, Saul 238 Friedrich, Gerhard 61, 102, 159 Fuchs, Anne 6, 128, 163, 184, 224 Galli, Matteo 100 Genette, Gérard 78 Goldhagen, Daniel 1, 43, Goltermann, Svenja 132 Greiner, Ulrich 126 Greitner, Bernd 42 Gusdorf, Georges 76 Habermas, Jürgen 30, 34, Halbwachs, Maurice 20, 21 Hardtmann, Gertrud 244 Hardtwig, Wolfgang 63 Hartmann, Geoffrey 64 Heer, Hannes 6, 7, 108, 235

322

Personenverzeichnis

Herbert, Ulrich 41 Hettling, Manfred 59, 60 Hielscher, Martin 106 Hilgers, Micha 245, 280 Hirsch, Marianne 166, 167, 221 Holdenried, Michaela 65, 71, 72, 73, 77 Hölscher, Lucian 69 Horn, Elke 244, 248, 249 Iser, Wolfgang

110

Jarausch, Konrad H. 69, 70 Jaspers, Karl 157 Jureit, Ulrike 3, 39, 41, 48, 57, 241 Kammler, Clemens 118, 119, 123 Klüger, Ruth 72 Koenen, Gerd 198, 200 Kolstruck, Michael 57 Koselleck, Reinhart 37, 293 Kotre, John 105 Krejci Erika 53, 54, 55, 56 Kühne, Thomas 1, 43, 141 Lachmann, Renate 62 Landweer, Hilge 245, 246, 279 Lefebvre, Henri 164, 178 Lehmann, Albrecht 213 Lehmann, Jürgen 71, 73, 82, 83 Lejeune, Philippe 72, 77, 78 Lethen, Helmut 147 Leys, Ruth 136 Lohl, Jan 238, 264 Lucács, Georg 158 Markowitsch, Hans J. 17 Marks, Stephan 244, 246, 247 Matussek, Peter 19, 27, 73 Medicus, Thomas 206, 207 Messerschmidt, Astrid 1, 28, 58, 141 Misch, Georg 71 Mitchell, William J. T. 220 Mitscherlich, Alexander 122 Mitscherlich, Margarete 117, 122 Moller, Sabine 30 Moré, Angela 53, 56

Moser, Tilmann 152 Müller-Hohagen, Jürgen

51, 62

Naumann, Klaus 28, 42 Neckel, Sighard 245, 246 Neumann, Birgit 70, 165, 166, 175 Niefanger, Dirk 99 Nießeler, Andreas 212, 214 Niethammer, Lutz 22, 68 Nietzsche, Friedrich 27, 160, 236 Niven, Bill 44, 45, 47, 121 Nolte, Ernst 34, Nolte, Paul 69 Nünning, Ansgar 75 Ostheimer, Michael Pfäfflin, Sabine 126 Pietsch, Yvonne 101 Polkinghorne, Donald

8, 128, 129, 130, 152

26, 74

Rauschenbach, Brigitte 56, 132 Reichel, Peter 32, 35, Ricœur, Paul 86 Rorty, Richard 203 Rosenthal Gabriele 52, Rüsen, Jörn 58, 59, 70, 75, 137, 237 Sabrow, Martin 294 Salzborn, Samuel 44, 47, 296, 297 Schacter, Daniel 17, 48, 144 Schlant, Ernestine 94 Schmidt, Siegfried J. 16, 18, 74, 75, 95 Schmitz, Helmut 45, 161, 170, 192, 199, 204, 232, 235, 240 Schneider, Christian 3, 39, 41, 52, 53 Schneider, Michael 199 Schneider, Peter 45 Schwan, Gesine 93, 94, 121 Sebald, W.G. 44 Segebrecht, Wulf 79, 80 Seidler, Günter H. 280 Silverman, Kaja 211 Simon, Ulrich 126 Sloterdijk, Peter 75, 83, 84, 85 Soja, Edward W. 165 Sontag, Susan 219, 223

Personenverzeichnis

Stanzel, Franz K. 76 Straub, Jürgen 4, 54, 74, 75, 94, 241 Stürmer Michael 33 Thamer, Hans-Ulrich 37 Timm, Uwe 104, 124, 125 Tulving, Endel 17 von Borries, Bodo 289 von Goethe, Johann Wolfgang 73 von Weizsäcker, Richard 31, 32 Wagner-Egelhaaf, Martina Waldmann, Günter 72

323

Walser, Martin 39 Weigel, Sigrid 7, 60, 158, 163, 196 Welsch, Wolfgang 239 Welzer, Harald 1, 7, 18, 20, 25, 35, 37, 41, 46, 47, 48, 49, 50, 63, 91, 93, 108, 120 Wesseling, Elisabeth 79 Wilczek, Reinhard 104, 107 Williams, Bernard 245 Winkler, Heinrich August 30 Wolf, Christa 143, 144 Wolfrum, Edgar 33, 42 Wurmser, Léon 244

76 Young, James E.

167, 168