Fotokunst in Zeiten der Digitalisierung: Künstlerische Strategien in der digitalen und postdigitalen Phase 9783839432808

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Fotokunst in Zeiten der Digitalisierung: Künstlerische Strategien in der digitalen und postdigitalen Phase
 9783839432808

Table of contents :
Inhalt
1. Einleitung
1.1 Forschungsperspektive
1.2 Zeitleiste
2. Zur Fusion optischer Technologie und Computertechnologie
2.1 Lichtwellen und diskrete Stufen/Die Analog-Digital-Differenz
2.2 Fotografische Strukturen und Darstellungstrager/Zur Spezifizierung neuartiger Bildwerke
3. Zeitstrahl
3.1 Einfuhrung/Die Ubergangssituation
3.2 Eine Zeitleiste 1990-2010
3.3 Nachtrag 2010-2015
4. Kunstlerische Strategien im Kontext der Digitalisierung 1990-2010
4.1 Einfuhrung/Epochale Schritte
4.2 Strategien der Aneignung von fotografischen Bildern
4.3 Strategien totaler Kontrolle am fotografischen Bild
4.4 Verbliebene Kamera-Methoden der Interaktion (Face-to-Face)
5. Analysen zum Vormarsch der Computertechnologie
5.1 Einfuhrung/Theoretische Bezuge
5.2 Fotos, Vorstellungen, Projekte/Erste Analysen zur digitalen Fotografik
5.3 Apparate Freiheit/Zu den Bedingungen der Moglichkeit »gegen den Apparat zu spielen«
5.4 Stilles Bild, fluchtiges Bild/Zur Auflosung verorteter Gegenseitigkeit und den Raumen der Selbstpotenzierung
5.5 Digital Blending, Digital Fake/Kunstlerische Strategien im Kontext der »Postdigitalitat«
5.6 Digitale Traume und Wunschgeburten/»Tote Mutter« trifft »Traumfrau«
5.7 Touched Retouched (Visible Veiled)/Korper und Person, Apparat und Funktion
6. Resumee
6.1 Ubergangszeit
6.2 Ausblick
7. Quellennachweise
7.1 Textquellen
7.2 Bildquellen Verweise A-J
8. Anhang
Kurzbeschreibung zum Kunstlerbuch/Fotobuch: Birgit Wudtke untouched touched retouched
Danksagung

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Birgit Wudtke Fotokunst in Zeiten der Digitalisierung

Image | Band 86

Birgit Wudtke (Dr. phil. in art.), geb. 1973, beschäftigt sich mit dem Medium Fotografie in Theorie und Praxis. Sie forschte hierzu an der Hochschule für bildende Künste Hamburg, beteiligte sich an Ausstellungsprojekten und hielt Gastvorträge im In- und Ausland.

Birgit Wudtke

Fotokunst in Zeiten der Digitalisierung Künstlerische Strategien in der digitalen und postdigitalen Phase

Dissertation zur Erlangung des akademischen Grades Doctor philosophiae in artibus (Dr. phil. in art.), Hochschule für bildende Künste Hamburg

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2016 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Jennifer Kuck Umschlagabbildung: Birgit Wudtke Satz: Justine Haida, Bielefeld Printed in Germany Print-ISBN 978-3-8376-3280-4 PDF-ISBN 978-3-8394-3280-8 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

1. Einleitung  | 7 1.1 Forschungsperspektive | 7 1.2 Zeitleiste | 15 2. Zur Fusion optischer Technologie und Computertechnologie  | 17 2.1 Lichtwellen und diskrete Stufen/Die Analog-Digital-Differenz | 17 2.2 Fotografische Strukturen und Darstellungsträger/ Zur Spezifizierung neuartiger Bildwerke | 23 3. Zeitstrahl  | 29 3.1 Einführung/Die Übergangssituation | 29 3.2 Eine Zeitleiste 1990-2010 | 35 3.3 Nachtrag 2010-2015 | 51 4. Künstlerische Strategien im Kontext der Digitalisierung 1990-2010  | 55 4.1 Einführung/Epochale Schritte | 55 4.2 Strategien der Aneignung von fotografischen Bildern | 60 4.3 Strategien totaler Kontrolle am fotografischen Bild | 74 4.4 Verbliebene Kamera-Methoden der Interaktion (Face-to-Face) | 88

5. Analysen zum Vormarsch der Computertechnologie  | 99 5.1 Einführung/Theoretische Bezüge | 99 5.2 Fotos, Vorstellungen, Projekte/ Erste Analysen zur digitalen Fotografik | 103 5.3 Apparate Freiheit/Zu den Bedingungen der Möglichkeit »gegen den Apparat zu spielen« | 111 5.4 Stilles Bild, flüchtiges Bild/Zur Auflösung verorteter Gegenseitigkeit und den Räumen der Selbstpotenzierung | 121 5.5 Digital Blending, Digital Fake/Künstlerische Strategien im Kontext der »Postdigitalität« | 133

5.6 Digitale Träume und Wunschgeburten/ »Tote Mutter« trifft »Traumfrau« | 147 5.7 Touched Retouched (Visible Veiled)/Körper und Person, Apparat und Funktion | 163

6. Resümee  | 179 6.1 Übergangszeit | 179 6.2 Ausblick | 189 7. Quellennachweise  | 195 7.1 Textquellen | 195 7.2 Bildquellen Verweise A-J | 203

8. Anhang  | 205 Kurzbeschreibung zum Künstlerbuch/Fotobuch: Birgit Wudtke untouched touched retouched | 205

Danksagung  | 207

1. Einleitung 1.1 F orschungsperspek tive Die wissenschaftliche Promotion im Bereich der freien Kunst befindet sich zum Zeitpunkt meines Schreibens im Vergleich mit den Geistes- und Kulturwissenschaften noch in der Probephase. So sehe ich meine Arbeit auch in gewisser Weise als Experiment, mich mit dem praktischen wie mit dem theoretischen Teil aus der Beobachter- und Handlungsperspektive einer freischaffend lebenden Künstlerin und freiberuflichen Bildbearbeiterin interdisziplinär forschend einzubringen. Meine Forschung zielt im Kern auf eine angemessene zeitgenössische Beschreibung und eine kritische Auseinandersetzung mit der Photographie1 im Kontext der Digitalisierung. Auf den ersten Blick scheint es sich bei der Begegnung von Photographie und Digitalisierung geradezu um ein kongeniales Zusammentreffen zweier Technologien zu handeln. Die künstlerische Photographie, die sich im Fluss der vielen Bilder immer wieder neu erfinden, behaupten und der Betrachtung aussetzen muss, trifft auf eine Technologie, die es ihr nicht nur erlaubt flexibel zwischen analogen und digitalen Strukturierungen hin und her zu springen, sondern auch noch nachträglich offen ist für alle produktiven Operationen der Umwandlung, Eliminierung, Erweiterung und Collagierung, kurz der endlosen Variation in allen Dimensionen der Bildgebung und Bildgestaltung. Als digitale Datei beteiligt sich jedes Bild zudem am Driften, Verschwinden und Wiederauftauchen im Internet, in seinen offenen wie verborgenen Diensten und seinen sozialen wie asozialen Netzwerken. Was aber widerfährt hier der Photographie und was bedeutet das für die künstlerische Photographie, ihre kommunikative und ästhetische Zukunft? Im Unterschied zur Malerei wird die photographische Struktur selbst vom Digitalen absorbiert. Das Digitale dient der Malerei allenfalls als weitere 1 | Diese Forschungsarbeit integriert beide Schreibweisen der Übergangszeit: Photo-graphie/Foto-grafie, siehe Begriffserklärungen 2.1.

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Fotokunst in Zeiten der Digitalisierung

Möglichkeit zum Spiel im anderen Medium (Tablet2 -Malerei) oder als neues Mittel zum theatralischen Auftritt auf anderen Bühnen (Bühnenbilder) und an anderen Orten (Lichtkunst-Illuminationen). Die klassische Photographie als (künstlerischer) Umgang mit dem Augenblick und im Realkontakt mit der gegenständlichen Welt wird dagegen im Kern vom Digitalen getroffen – der Sinngehalt des Photographierens (Noema) wesentlich verunsichert. Der uninformierte Betrachter wird heute mit einer Vielfalt von verwechselbaren photographischen Bildformen konfrontiert. Photochemische Abzüge werden digitalisiert und im Netzraum mit digitalen Aufnahmen, manipulierten Fotos und aufwendigen Bildmontagen (darunter auch hybriden Konstruktionen, die im 3D Programm mit fotografisch anmutenden Texturen versehen werden) durchmischt präsentiert. Nur die Spezialisten der »Übergangszeit« der Fotografie vom Analogen zum Digitalen, die diese Arbeit selbst vornehmen, sind bisweilen noch in der Lage, zwischen den dargebotenen photographischen und photographisch anmutenden Bildern zu unterscheiden. Tatsächlich handelt es sich heute, besonderes im Bereich der Gebrauchsfotografie, vorwiegend um Aufnahmen von Objekten, Personen und Orten, die es so nie zu sehen gab und die den digitalen Simulationen immer unähnlicher werden. »Das Foto«, schreibt Baudrillard, »bewahrt das Moment des Verschwindens, während im synthetischen Bild […] das Reale bereits verschwunden ist.«3 Photographien sind Produkte technischer Aufnahmemedien und zugleich Zeugnisse aus den verschiedensten gesellschaftlichen und persönlichen Lebensbereichen. Sie verankern sich auf besondere Weise in unserem privaten wie kollektiven Gedächtnis; sie markieren Haltepunkte in historischer und biographischer Zeit. Im Gegensatz zu den malerischen Bildern will der Wahrheitsgehalt der Photographie im Sinne eines »Es-ist-so-gewesen« (Roland Barthes) erstritten und wieder aufgerufen werden. Selbst die inszenierten Photographien verweisen auf Realkontakte, sie zeigen dann eben die Posen, Spiele und Rituale der kulturell erzogenen Erwachsenen. Künstlerische Photographien, die inszenierte Imaginationen (Jeff Wall, Cindy Sherman) zeigen, sind so real wie Theateraufführungen oder die Spiele der Kinder real sind und sie bereichern die Welt mit der Unterscheidung von realen und fiktionalen Realitäten.

2  |  Wörter englischer Herkunft werden in dieser Forschungsarbeit kursiv gesetzt, auch diejenigen Begriffe, die in der Übergangszeit eingedeutscht wurden (Duden-Beispiele: Layer, pl. Layer; Software, pl. Softwares). 3  |  Baudrillard, Jean: Das perfekte Verbrechen (1994) in: Kemp, Wolfgang/v. Amelunxen, Hubertus: Theorie der Fotografie Band 1-4 (1839-1995), Schirmer/Mosel, München 2006, Band 4 S. 256.

1. Einleitung

In diesem Sinne spaltet sich auch der Wahrheitsdiskurs. Jede analoge Photographie ist immer auch ein Dokument, eine Reportage, eine Erzählung, folglich muss der Betrachter heute im Kontext der allgegenwärtigen großen Täuschungen informiert werden, wenn ihm in photographisch anmutenden Bildern etwas gezeigt wird, was es außerhalb von Medien und Inszenierungen nie zu sehen gab. Inszenierte poetische Photographien oder ornamentale digitale Fotografiken4 – als solche deklariert und ausgewiesen – haben alle Freiheiten, ihre künstlerischen Wahrheiten zu kommunizieren. Photographien dienen der individuellen wie allgemeinen Orientierung und können bei der Suche nach Wahrheit und dem Verstehen unserer Wirklichkeit als dem Ort des menschlichen Daseins bei der Spurensicherung helfen. Die Kehrseite der Wahrheit ist die Un-Wahrheit, die beiden gehören zusammen wie siamesische Zwillinge. Vor Gericht sind Photographien immer noch als Beweismittel zugelassen. Photographische Abbildungen der Wirklichkeit können in der Alltagskommunikation nicht so leichthin als bloße Wirklichkeitskonstruktionen abgetan werden. Wahrheiten und Wirklichkeiten werden allein in der Kommunikation identifiziert und validiert. Die Wahrheit ist kein Faktum sondern ein Geschehen und muss sich in der Kommunikation ereignen und bewähren. So besteht in der Gegenwart weitgehend Übereinkunft über die »Unwahrheit« nationalsozialistischer Propagandabilder – entlarvt nicht zuletzt durch die Photographien aus der Zeit der Befreiung. Das Beispiel erinnert daran, dass sich der Wahrheitsgehalt von Photographien nicht allein durch eine strukturelle Analyse (analog/digital/Montage) aufdecken lässt, sondern im Diskurs über Entstehungsart, Entstehungszeit, Entstehungsort und im Vertrauen auf die Person des Photographen/Künstlers (Standpunkt/Perspektive/Kontexte) abgeklärt und ausgehandelt werden kann. Die künstlerischen Photographen müssen mit ihren Bildwerken aus ihrem sozialen und historischen Kontext heraus verstanden werden. Nimmt man diese Methode ernst, dann verdichtet sich die Annahme, dass jede Konzeptionsform der Photographie vor allem auch eine »subjektive« ist, da sie auf subjektiven Entscheidungsfindungen beruht. Aber auch das subjektive Drehbuch wird in rekursiven Kommunikationsprozessen formuliert, jeder Akteur trägt in sich die Sichtweisen der anderen auf sich selbst und sieht sich selbst als unterschieden von dem Selbst, das er gestern noch gewesen ist. Im Ringen um ein autonomes Werk wirken vielfältige Motivationen und Umstände, also alle Bedingungen der Möglichkeiten – auch die Fremd- und Eigenzwänge sowie die Zwänge des Apparats. Die Auto-

4 | Digitale Fotografiken sind alle Fotos, die als Computergrafiken interpretiert werden; siehe 2.1

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Fotokunst in Zeiten der Digitalisierung

nomie der Fotografie wird – wie Bernd Stiegler (mit Gottfried Jäger) zudem zurecht feststellt – »immer eine technische sein, oder sie wird nicht sein«5. Es gibt Bestrebungen der Kunstwissenschaften, verschiedene fotografische Strömungen auszudifferenzieren und wirksam in prägnanten Begrifflichkeiten zu erfassen. Müssen wir aber anfangen, die Künstler mit der Kamera als institutionelle und apparategesteuerte Arbeiter zu begreifen? Es bestehen noch Zweifel, ob sich die Photographen mit ihrem Schaffen allein in wissenschaftliche Kategorisierungen einreihen lassen und lassen wollen. Es sind komplexere Erfahrungen und Kommunikationen, die durch sie hindurchlaufen. Die Digitalisierung bringt mit ihren neuen Möglichkeiten der Bildbearbeitung, der Montagetechnik, des Morphings und Renderings neue Problematiken ins Spiel, die nicht mehr mit denen vergangener Tage vergleichbar sind, denn sie produzieren für den Betrachter eine vollkommen konsistente »photo-realistische« Oberfläche und verhüllen ihre unterliegende bildgebende Struktur (analog/digital/Einzelaufnahme/Collage/3D-Konstruktion). Diese homogenen Oberflächen sind dabei nicht allein die Ergebnisse von Rechenprozessen, solange die Postproduktion und die Bilderstellung von Hand und nicht rein maschinell getätigt werden. Entsprechend schreiben sich auch die künstlerische Absicht, die künstlerische Strategie und die Entscheidungsketten des Operators bei den Wirklichkeitsmanipulationen ins Bild ein. Die digitalen Operationen sollen in dieser Arbeit anhand ausgewählter Bildbeispiele entschlüsselt werden. Dabei stellt sich die Frage nach der Verantwortung und nach der Position des künstlerischen Fotografen, der immer die Wahl hat, die Bildoperationen vorzuführen und mitzuteilen oder aber sie bewusst zu verschleiern. Es stellt sich (nach Martha Rosler) dabei nicht die Frage, ob Fotos manipuliert werden dürfen, sondern wie und auch, wie man sie unmittelbar dazu verwendet, »die Wahrheit«6 zu sagen, bzw. die Un-Wahrheit. Wenn für die Photographie der Augenblick (Momentum) im Realkontakt mit der gegenständlichen Welt konstitutiv ist, dann ist es geboten sehr viel präziser anzugeben, welche Art von Lichtbild angesichts der nicht abreißenden Bilderströme den Betrachtern jeweils vorgelegt werden. Die Kunst der »durchsichtigen« Photomontage, die noch in den verschiedenen Epochen der Photogeschichte als Mittel der politischen Propaganda und Satire fungierte, wird 5  |  Verleihung des Kulturpreises der DGPh an Gottfried Jäger; Laudatio Bernd Stiegler: Gottfried Jäger: Fotograf der Fotografie, Berlinische Galerie 2014, Quelle: https://www. youtube.com/watch?v=OMDcx_khYpo/ Stand Abruf 29.01.15 6  |  Rosler, Martha: Bildsimulationen, Computermanipulationen: einige Überlegungen (1988, 1995) in: Kemp, Wolfgang/v. Amelunxen, Hubertus: Theorie der Fotografie Band 1-4 (1839-1995), Schirmer/Mosel, München 2006, Band 4, S. 152

1. Einleitung

mit der digitalen Postproduktion ab den 1990 Jahren beinahe zur gängigen strukturgebenden aber »undurchsichtigen« Praxis. Dies gilt insbesondere in den Bereichen der Gebrauchsfotografie, da die digitalen Rohdaten nun schneller anhand verschiedener Softwares entwickelt werden können und damit für beliebige Formen der Bildmanipulation am Monitor bereitstehen. Seit der Digitalisierung ist die fotografische Bilderwelt von diesen unsichtbaren Manipulationsprozessen durchdrungen. Die aktuelle Forschung versucht dem Problem der »Durchlöcherung« der photographischen Struktur nachzugehen. Mit den neuen digitalen Kulturtechniken wird die Annahme eines »Es-ist-so-gewesen« (Barthes) mit deren Simulation (»Es-ist-nicht-so-gewesen«?) zersetzt. Die Grenzen zwischen der kommunikativ validierten Unterscheidung von Fiktion, Projektion und Wirklichkeit verschwimmen. Was bedeutet dies für die Erkennung und Deutung der aktuellen Fotografie und was für die gesellschaftliche Kommunikation? In welcher Weise wirken fiktionale aber zugleich photographisch und realistisch anmutende Bilder auf den Betrachter und sein physisches Dasein in der Welt? In den letzten Jahren erscheinen immer mehr Texte zur sogenannten »postphotographischen Ära«, häufig nur als letztes Kapitel im Rahmen einer Bildoder speziellen Phototheorie. Diese Abhandlungen werden fast ausschließlich aus der Betrachterperspektive geschrieben, fernab vom konkreten Schaffensprozess der Photographen und Künstler im Labor und am Computer. Aus meiner Perspektive wird so die Realität des Herstellungsprozesses unterlaufen und ausgeblendet und kann von Betrachtern ohne eigene Erfahrungen kaum durchschaut werden. So werden im Folgenden einige Aussagen der Philosophie zur Photographie und Bildtheorie mit Ausführungen zu den Herstellungsprozessen und den realen Bedingungen künstlerischen Schaffens in Beziehung gesetzt, um die manipulativen Praktiken im Monitorraum genauer analysieren und beschreiben und dann am Ende die photographisch anmutenden Bilder auch anhand differenzierter Beschreibungen spezifischer unterscheiden und bezeichnen zu können. Wählt man – wie z.B. Michael Fried (20147) – eine Betrachterperspektive im Kontext der Kunstgeschichte, dann sieht man die großformatigen »Photographien« ausschließlich als Nachfolger der großformatigen Gemälde bestimmt für die »Wand«. Die Ausführungen von Fried sind bei Beachtung seiner besonderen Sichtweise lohnend, zumal er seine Zugriffsweise präzise erläutert. Fried interpretiert die Spezifika der analysierten Werke im Rahmen kunstgeschichtlicher Analysen zum Betrachter, zur Objekthaftigkeit und zur 7  |  Fried, Michael: Warum die Photographie als Kunst so bedeutend ist wie nie zuvor, Schirmer/Mosel, München 2014

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Fotokunst in Zeiten der Digitalisierung

Inszenierung von Theatralität/Antitheatralität. Wählt man aber nur diese Perspektive, dann entgehen einem – so scheint es – die viel aufdringlicheren und allseits präsenten Beziehungen zu großformatigen Werbe- und Modefotografiken (digitale Collagen). Fried und auch Hans Belting (2001 8) behandeln Photographien als Unterklasse von Bildern, die nun wie jene längst auf dem »Wege zum Werk« (Belting) sind und sich bereits neben ihren Vorbildern – den großen und kleinen Gemälden – in den Museen etabliert haben. Hängen da aber auch wirklich Photographien? Im aktuellen Diskurs zur Photographie ist es notwendig, sich auch auf philosophische, medientheoretische und soziologische Texte zu beziehen, die erst im Zuge der Digitalisierung veröffentlicht worden sind. Angesichts der codierten Computergrafik werden einige kunsthistorische Betrachtungen vergangener Tage obsolet und lassen sich nur noch bedingt auf die neuen hybriden Bildwerke anwenden. »Eine Kritik der digitalen Fotografie muß (diese) Unterordnung des Fotos unter die Grafik berücksichtigen. Mit dieser Unterordnung verändert sich unser Verständnis des Bildes sowohl hinsichtlich der Art, wie wir das Bild als Zeichen lesen, d.h. der Position, die es innerhalb einer Semiotik einnimmt, als auch hinsichtlich der Art, in der wir es innerhalb von Kontexten sehen, d.h. der Position, die es in der Kunstgeschichte einnimmt. [Fußnote:] Man beachte, daß die fotorealistische Grafik und die digitale Fotografie in ihrer Zusammensetzung nicht voneinander zu unterscheiden sind, da es sich im Grunde einfach um Repräsentationen von binären Paaren handelt: Ja/Nein, 0/1, An/Aus.« 9 (Peter Lunenfeld)

In den frühen 1990er Jahren suggeriert und verspricht die computertechnologische Entwicklung noch einen freien, kreativen Umgang mit immer neuen Werkzeugen. Der anfänglichen Faszination folgt eine weitreichende Depression im Zuge eines »fehlerhaften Fortschritts«10 im Umgang mit Big Data und der intransparenten Entwicklung von Hardware-Software-Komponenten. Die Whistleblower der Industrie und der staatlichen Dienste befördern zusammen mit den kritischen Programmierern derzeit ein lautes Nachdenken in der Öf8  |  Belting, Hans: Das unsichtbare Meisterwerk. Die modernen Mythen der Kunst, C.H. Beck Verlag, München 2001 9 | Lunenfeld, Peter: Digitale Fotografie. Das dubitative Bild, in: Paradigma Fotografie. Fotokritik am Ende des fotografischen Zeitalters, hg. von Herta Wolf, Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft, Frankfurt a.M. 2002, S. 161 10 | Begriff Sandro Gaycken, Panel: Fortschritt durch Technik?, Fortschritts-Camp Kampnagel: Wieviel ist genug?, Hamburg 25.-28.09.2013

1. Einleitung

fentlichkeit über das Digitale als Politikum (totalitarian tool), und die Medienwissenschaft bezeichnet die Gegenwart bereits als »Postdigital«, die Nerds und Whistleblower der transmediale 2014 nennen sie »Post-Snowden-Afterglow« 11. Vorschnelle digitale Fotomanipulationen dürfen im Afterglow genauso kritisch betrachtet werden, wie die globalen kulturellen Veränderungen aufgrund der weitreichenden Digitalisierung. Diese Forschungsarbeit versucht eine genaue Beschreibung künstlerischer Strategien, die die Zeitbilder im Zeitgeschehen einer Übergangsphase (1990-2010) verortet und von dort aus analysiert. Im Unterschied zu Analysen im Kontext der Kunsttheorie und Kunstund Kulturgeschichte kann diese künstlerische Forschung zur Fotografie eine Erfahrungsperspektive anbieten, die das Werk, seine Herkunft, die dahinter stehende Künstlerpersönlichkeit und insbesondere den Herstellungsprozess herausstellt und zeitspezifisch beleuchtet. Einerseits strebt die Kunst nach Autonomie – andererseits sind die Arbeiten zu Beginn der 1990 Jahre plakativ und wirken trotz intendierter Überzeichnung und Manipulation geradezu wie Werbekampagnen für die Digitalisierung: illustrativ, bunt, großformatig, hinter Acryl. Der Kunsthistoriker George Baker kritisiert diese Situation (Symposium: Is Photography Over?12): es gehe heute nicht mehr darum etwas zu suchen, zu finden und somit ein Stück Welt zu zeigen, sondern darum, Realität zu konstruieren im Sinne der Conceptual Art. Plötzlich wollen die Photographen Künstler sein und demonstrieren dies mit ihren großformatigen Arbeiten im Museum. Im Gegenzug sind die Bestrebungen bemerkenswert, in bewusster Abgrenzung zu den digitalen Möglichkeiten der Bildmanipulation zu arbeiten. »Das, was in den Medien gezeigt wird, ist alles überarbeitet […] Diese Linie will ich nicht überschreiten.«13 »Die Kamera lügt immer über das, was vor ihr ist, aber nie darüber, was hinter ihr ist. Bei der Fotografie wird also nur die Absicht, die hinter der Kamera steckt, wahrhaft abgebildet, was davor ist, ist immer nur eine Annäherung an die Wahrheit.«14 (Wolfgang Tillmans) 11 | Transmediale 2014: afterglow – Circumventing the Panopticon, Quelle: www.you tube.com/watch?v=6qxU1voSEDA/ Stand Abruf 03.05.14 12 | YouTube Video: Is Photography Over?, Symposium SFMOMA 2010, Quelle: www. youtube.com/watch?v=86EbCuGkY1k/ Stand Abruf 12.04.14 13 | Quelle: www.heise.de/foto/meldung/Wolfgang-Tillmans-Anti-Gursky-zeigt-seinWerk-1814281.html/ Stand Abruf 12.04.14 14 | Zitat Wolfgang Tillmans Interview Süddeutsche Zeitung 05./06.07.03; Katalog: Konstruktion der Wahrheit. Ein Projekt der Darmstädter Tage der Fotografie e.V., Darmstadt 2007, S. 4

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Fotokunst in Zeiten der Digitalisierung

Das Wiederaufleben der Debatten über Glaubwürdigkeit und Ontologie der Photographie ist als passende, kontemporäre Reaktion auf die Irritationen durch die Digitalisierung zu deuten. Ein neuer Diskurs kreist um den Begriff des »Postdigitalen«. Mit ihm wäre die kritische Rückschau und das Ende der sogenannten »Digitalen Revolution« gemeint. Das Digitale ist keine Utopie mehr, sondern hat die Alltagswelt vollständig durchdrungen; jedes Handeln, jeder Lebensbereich ist von digitalen Technologien geprägt. Mit den Technologien ziehen neue Kulturpraktiken der Manipulation und Kontrolle ins öffentliche wie private Leben ein. Diese Kulturpraktiken lassen sich insbesondere am photographisch anmutenden Abbild diskutieren. Die neuen digitalen Bilder konfrontieren uns zwangsläufig mit der Frage, ob die mediale Erfahrung von Wirklichkeit immer eine reine Wirklichkeitskonstruktion sei. Welche Rolle spielen dabei noch die Realbedingungen der Möglichkeiten, wenn bei der Manipulation medialer Übertragungen alles möglich erscheint? Welche Rolle spielen noch die gegenständliche Welt, die Fesseln des Alltags, der menschliche Körper und der ihn umgebende Konsistenzraum im Diskurs um Wahrheit und Wirklichkeit? Nach Auffassung des bekannten Fotografie-Theoretikers Vilém Flusser ist das digitale Bild gar als Befreiung von der Lüge einer medial erzeugten und verbreiteten Realität zu betrachten. In Anlehnung an Flussers Aufforderung »gegen den Apparat zu spielen« werden im Folgenden beispielhaft Strategien vorgeführt, die den Möglichkeiten der »Sinngebung – in einer von Apparaten beherrschten Welt« nachspüren. Der Künstler/der Fotograf, der schreibt, ist zwangsläufig mit den Herstellungsprozessen und existentiellen Bedingungen des Entstehens eines Werkes/einer Fotografie vertraut. Dank der Zulassung der künstlerischen Promotion können der kritischen Reflexion der vergangenen zwei Jahrzehnte aus Sicht eines forschenden Praktikers neue Perspektiven zugespielt werden; er/sie15 kann anregen und dazu auffordern, fotografische Bilder auf andere Weise zu analysieren und auszudifferenzieren und im Idealfall Anstöße zu einem neuen Umgang mit digitalen Manipulationstechniken geben. Die ökonomische Lage der Künstler eröffnet aber nur selten und nur sehr eingeschränkt die Chance, eine theoretische Forschung und Promotionsarbeit über mehrere Jahre einzurichten. Insofern ist finanzielle Förderung eine große Hilfe und stärkt die Bereitschaft, das Risiko einzugehen und auf lange Sicht zeitgleich der künstlerischen Praxis, Ausstellungsarbeit, Nebenerwerbstätigkeit, zeitintensiven Recherchen und Textarbeiten nachzugehen. Meine Arbeit an der Promotion 15 | Anmerkung: Werden Personenbezeichnungen aus Gründen der besseren Lesbarkeit lediglich in der männlichen Form verwendet, so schließt dies die weibliche Form mit ein.

1. Einleitung

wurde zuletzt zehn Monate von ProExzellenzia, einem Frauenförderungsprogramm der EU, unterstützt, wofür ich mich an dieser Stelle bedanken möchte.

1.2 Z eitleiste Meine Aufmerksamkeit gilt insbesondere den durch das Aufkommen neuartiger Technologien ausgelösten Verschiebungen künstlerischer Strategien. Alle Beobachtungen zur Entwicklung der Photographie beziehen sich auf die vergangenen zwei Jahrzehnte, eine recht kurze Zeitspanne, in der die technologische Entwicklung sich mit einer schwindelerregenden Geschwindigkeit vollzieht. Diese Wegstrecke soll hier noch einmal vor- und zurückblickend nachvollzogen werden. Auf der Folie einer Zeitleiste soll gezeigt werden, wie technische Entwicklungsschübe neuartige, photographisch anmutende Werke ermöglichen und in die Galerien und Museen führen. Es handelt sich um international bekannte Werke, die hier bewusst nach ihrer Popularität ausgewählt und folglich nur knapp skizziert werden. Die Skizze dient einer Veranschaulichung, die auf Abbildungen verzichtet. Die ausgewählten Bildproduktionen sind bereits vielfach veröffentlicht worden und können schnell per Mausklick aufgerufen werden. Der Zeitstrahl beginnt 1990 mit einer Kurzbeschreibung der allgemein bekannten Bearbeitungs-Software Photoshop 1.0 und endet 2010 mit einer Notiz zu dem Artikel »Gursky interpretiert Google Earth« im Zeit-Magazin, in dem seine Bildserie Ocean I-VI beschrieben wird. Diese Form der chronologischen Darstellung wird ergänzt um Notizen und Zitate aus Publikumszeitschriften und dem Internet. Die Zeitleiste dient mit ihrer Gegenüberstellung und Parallelisierung der Phänomene einer chrono-topologischen Veranschaulichung. Die Digitalisierung ereignet sich rasant und verändert die Photographie radikal. Auf der einen Seite werden in dieser recht kurzen Zeitspanne die teuersten »Photographien« der Welt versteigert – von jenen Künstlern, die die Effekte der digitalen Bearbeitung sofort erkannten und schneller einzusetzen wussten –, auf der anderen Seite erleiden Gründerfirmen der Photoindustrie Insolvenzen, obgleich ihre Apparate weiterhin genutzt und die dazugehörigen Materialien von vielen Künstlern bevorzugt werden. Die kommerziellen Strategien der Computerfirmen und die parallel stattfindende Fortschritts-Durchdringung der Bildwerke auf dem Kunstmarkt provozieren Rückzugsstrategien künstlerischen Schaffens am Rande des Geschehens. Einige Photographen kehren gar in die Dunkelkammer zurück, oder sind aus Überzeugung dem photochemischen Handwerk treu geblieben. Photographie bedeutet für sie weiterhin: lichtsensitiver (Material-)Abdruck. Was bleibt, wenn das erste digitale Feuerwerk vorüber ist?

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So endet der integrierte Zeitstrahl 2010 mit einem Nachtrag bis 2014 und Rückblick auf die documenta 13, bei der von 187 Künstlern nur eine Künstlerin (Zanele Muholi) eine rein photographische Arbeit, in Form gerahmter Papierbilder an der Wand, vorstellen konnte. Allerdings muss hierbei zugestanden werden, dass erstmals seit der documenta 6 Photographie wirklich thematisiert wurde16. Der Zeitstrahl zeigt nicht nur eine Entwicklung, er wirft zugleich verstärkt die Frage nach Position und Zukunft der künstlerischen Photographie auf.

16 | Die documenta 6 (1977) präsentiert erstmals die Photographie im Zusammenhang mit zeitgenössischer Kunst und zeigt in einer umfangreichen Retrospektive »150 Jahren Fotografie« die Arbeiten von historischen und zeitgenössischen Fotografen (u.a. mit Arbeiten von Berenice Abbott, Robert Adamson, Hippolyte Bayard, Cecil Beaton, Bernd und Hilla Becher, Ernest J. Bellocq, Louis Jacques Mandé Daguerre, Diane Airbus, Robert Capa, Eugène Atget, Lee Friedlander, Dorothea Lange, Timothy H. O’Sullivan, Robert Mapplethorpe, Nadar, William Henry Fox Talbot, Arthur »Weegee« Fällig, Josef Sudek, Joseph Nicéphore Niépce, Alfred Stieglitz)

2. Zur Fusion optischer Technologie und Computertechnologie

2.1 L icht wellen und diskre te S tufen / D ie A nalog -D igital-D ifferenz Die Feststellung, dass eine analog-photochemische Photographie sich von einer digitalen unterscheidet, und die Anerkennung dieser Differenz stehen am Anfang aller neueren Untersuchungen zur sogenannten »Post-Photographic Era« 1. William J. Mitchell erklärt jenen epochalen Schritt der Digitalisierung mit der (grenzenlosen) Manipulierbarkeit des digitalen Bildes, dem Verlust an Informationen (Diskretisierung) und der Ununterscheidbarkeit von Original und Kopie. All diese Eigenschaften wären bei der Betrachtung von photographisch anmutenden Papierbildern (Ausstellung/Buch) wohl weniger von Bedeutung, wäre die optische Technologie nicht zeitgleich von der Computertechnologie und dem Ausbau des WorldWideWeb vereinnahmt worden. Das WorldWideWeb ändert für alle Bilder Orte und Kontexte und fügt jedem Bild nicht beabsichtigte Verknüpfungen, Wiederaufrufungen und Bildhistorien zu. Retuschen (Bildquellen Verweis A 2) und Montagen gehören dagegen bereits in der photochemischen Epoche zu den Verfahren in der Dunkelkammer. Das Handabzugsverfahren wurde auch vorher dazu genutzt um unverwechselbare Vervielfältigungen (Editionen) anzufertigen. In ihren Leistungen sind digitale Rohdatenformate (Raw-Daten; engl. raw, dt. roh) mit Negativen und Dias vergleichbar und wie diese auch längerfristig archivierbar. Allerdings führen diese Simplifizierungen des Vergleichs der Verfahrensweisen an der aktuellen Realität des Umgangs mit digitalen Bilddaten vorbei. 1  |  Begriff von William J. Mitchell: The Reconfigured Eye: Visual Truth in the Post-Photographic Era, MIT Press, Cambridge 1992 2 | Bildquellen Verweis A: The Art of Retouching Photographic Negatives, Robert Johnson 1913, http://metmuseum.org/exhibitions/view?exhibitionId=%7B36D81705-241D4934-AB02-FD7C8DBBB3E5%7D&oid=299294&pg=2&rpp=100&pos=196&ft=*/ Stand Abruf 15.05.14

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Heute weiß man, dass die Archivierung von digitalen Daten im Vergleich zu den veralteten Formaten komplizierter und kostspieliger ist als anfangs erhofft. Die Daten müssen langfristig »in Bewegung bleiben« (Umkopieren der Daten von Speichermedium zu Speichermedium). Zudem werden zunehmend größere Datenmengen produziert, da sich die Qualität der digitalen Formate und Anwendungen verbessert und sich die Palette der verschiedenen Formate in kurzen Computergenerationen erweitert. Viele Bild- und Filmarchive entscheiden sich daher, die digitalen Daten am Ende wieder auf Filmmaterialien (z.B. Mikrofilme) zu belichten. Auch wenn die Auflösung der Rohdatendatei das Kleinbildformat im Jahre 2002 überholt, gibt es bezüglich des Lichtkontinuums (Lichtwellen) und der Farbwiedergabe qualitative, optische Unterschiede zwischen Großbildnegativen und hochauflösenden Rohdateninformationen. In dieser Phase der Digitalisierung greifen daher einige professionelle Photographen und Künstler wieder auf Filmmaterialien zurück und arbeiten bevorzugt mit photochemischen Papierprozessen. Auch wenn die Industrie mit der Produktion von Tintenstrahldruckern (Inkjet) den Markt beherrscht und weiter ausbauen wird, bezeugen Experten der Übergangsgeneration qualitative optische Vorteile bei den photochemischen Abzügen (Prints) und bei der Archivierung. Die Produktion von analogen Belichtern und photochemischen Materialien kommt dennoch zum Erliegen, denn die optische Technologie muss den Marktregeln der Computertechnologie folgen. Im Unterschied zum alten Verfahren und zu den photochemischen Bildpräsentationen sind die digitalen Fotobilder zudem vorrangig Collageformen, da im Grunde jede Raw Datei erst entwickelt (Bestimmungen der Farbe, Auflösung, Kontrast, Schärfe, Ausschnitt, Störungsbeseitigung, Verzerrung, Skalierung etc.) und damit manipuliert werden muss. Im Unterschied zur analogphotochemischen Entwicklung können in diesem Prozess am Monitor bereits Details eliminiert und unterschiedliche Belichtungssituationen in ein Bild integriert werden. Neben den Entwicklungsprogrammen stehen dann weitere Bildbearbeitungsprogramme zur Verfügung, die bei der professionellen Arbeit am digitalen Bild zum Einsatz kommen. Die Vielzahl der mit einer Computergrafik möglichen Manipulationsvorgänge ist dabei nicht mehr mit der am photochemischen Materialabdruck vergleichbar. »Digital imagers give meaning and value to computational readymades by appropriation; we have entered the age of electrobricollage.« 3 (William J. Mitchell)

Die vorliegende Untersuchung beschäftigt sich mit den manipulierten Strukturen und den Darstellungsträgern photographisch anmutender Bildwerke. 3  |  Mitchell, 1992, S. 7

2. Zur Fusion optischer Technologie und Computer technologie

Diese Bilder tauchen heute in den Grauzonen zwischen photochemischer Materialität und digitaler Immaterialität auf: etwa als photochemische Ausbelichtungen von digitalen Dateien, als Handabzüge von reproduzierten Negativen von digitalen Daten, als digitalisierte Handabzüge auf verschiedenen Displays. So verschiebt sich die strukturelle analog-digital Analyse derzeit in Richtung auf Analysen der digitalen Bildpraktiken und der Qualitäten der Zirkulation und Dissemination, die durch Computertechnologien ermöglicht werden. Diese Untersuchung versucht den Analysen zu folgen und interpretiert zeitgenössische künstlerische Strategien als Folgehandlungen veränderter Lebensrealitäten im Informationszeitalter. Untersucht werden photographisch anmutende Bildwerke von Bildermachern, die die Kameraarbeit bereits um Nachbearbeitungen und Montagearbeiten am Computer ergänzt haben. Weiter werden einige neuartige Maschinenbilder in den Blick genommen, die von Webcams oder »Netzbildgeneratoren« ins Internet übertragen werden. Der scheinbar unbegrenzte digitale Bilderfundus regt zu Strategien an, die vorhandenen Aufnahmen und synthetischen Bilder neu zu kontextualisieren. Die künstlerische Autorenphotographie, die sich aus der dokumentarischen Photographie entwickelte, begibt sich weiter auf die Bildsuche an nachbarschaftlichen wie entfernten Orten und erforscht auch weiterhin das menschliche Antlitz. Dabei nutzt sie heute auch die Möglichkeiten der digitalen Kameras (Schnellschuss-Einstellungen) und des Monitorraums als neuen Raums der Feldforschung (Google Street View). Die verschiedenen (zum Teil tradierten) künstlerischen Strategien, die im Folgenden aufgeführt werden, bewegen sich im Zugzwang eines technologischen Wandels, der alle Lebensrealitäten verändert und somit auch zwangsläufig neue Bildrealitäten kreiert. Diese Veränderungen finden nicht allein auf der vom Künstler/Autor gewählten thematischen Ebene statt, sie betreffen ganz wesentlich die photographische Struktur, das Ausgangsmaterial, mit dem er sich entschieden hat umzugehen. Es soll gezeigt werden, dass digitale Bildwerke als zeitspezifische Gesten gelesen und anhand ausgewiesener Methodenbeschreibungen interpretiert werden müssen. Vor der Deutung künstlerischer Strategien steht hier zunächst eine genauere Spezifizierung der Werke (Bildstruktur/Darstellungsträger) im Vordergrund. In gebotener Kürze sollen die Bedeutungszuschreibungen »analog-digital« weiter ausdifferenziert werden.

Photochemische Analogie/monokausales Verhältnis: In der analogen Photographie geschieht vor allen Dingen eine direkte Einschreibung des physikalischen Mediums (Licht-Kontinuum) in das Material. Der vom Licht erzeugte »Augenblickswert« wird stufenlos, zwischen einem Minimum und einem Maximum (Dynamikumfang) schwankend, vom optischen Apparat eingefangen und von der Filmschicht aufgenommen. Die so

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entstandene Photographie liefert eine relative Konstante (Filmpositiv/Negativ) und besteht in Abhängigkeit vom (Papier-)Material. Der Vorgang wird bestimmt von optisch-chemischen Prozessen, die durch Nutzung unterschiedlicher Apparaturen begrenzt beeinflussbar sind. Das Produkt ist ein Dokument (Abdruck/Print) der verschiedenen Stadien dieser Prozesse und des Augenblicks. Die Produkte können wiederum zum Ausgangsmaterial für weitere Bearbeitungen werden, sie können beispielsweise mit Pinsel und Messer grob bearbeitet werden. Diese Manipulationen lassen sich zumeist »mit bloßem Auge« erkennen. Ein komplettes Zerschneiden und erneutes Zusammenfügen des Materials würde zur »Collage« führen. Eine Collage ist, kunsthistorisch betrachtet, nie als (einzelne) Photographie gelesen bzw. bezeichnet worden – auch wenn eine Collage aus mehreren Photographien zusammengesetzt werden kann. Diese Festlegung scheint sich Anfang der 1990 Jahre kurzzeitig aufzulösen, denn bei den neuartigen hybriden Bildwerken können die Nahtstellen von digitalen Fotocollagen am Computer für den Betrachter praktisch unsichtbar gemacht werden. Anhand jener ersten unpräzisen Deutungen, die aus einem Missverständnis neuer digitaler Bildpraktiken resultierten, konnten sich gewisse effektvolle Bildwerke Anfang der 1990 Jahre etablieren (siehe Zeitleiste).

Digitale Bildwandlungsprozesse: Bei der »digitalen Fotografie« wird das durch das Kameraobjektiv einfallende Licht in elektrische Signale mit »diskreten Stufen« (Diskretisierung) umgewandelt. In der nachfolgenden »Digitalisierung« der Signale durch Analog-Digital-Wandlung (Quantisierung) wird eine erneute Zerlegung der Signale (Berechnungen: Helligkeiten, Farbkonstruktion, sonstige Werkseinstellungen) bewirkt. Im nächsten Schritt erfolgt die Komprimierung und Speicherung der Bilddatei auf einem Chip. Das Signal wird bei der Digitalisierung in numerische Codes zerlegt. Diese sind exakt unterscheidbar und reproduzierbar, gleichzeitig fragil, d.h. unabhängig und verschiebbar – eben nicht bedingungslos an Materie gebunden. Die komputative Datenmenge begünstigt eine nahezu unsichtbare Manipulation und erlaubt digitale Collagearbeiten aus mehreren Aufnahmen. Das Hinzufügen und Eliminieren von Informationen durch Bildbearbeitung am Computer führt zu digitalen Umschreibungen, ohne dass der Betrachter diese erkennen könnte. Genaue Auskunft über die Bilderstellungspraktiken kann in diesem Falle nur eine gewissenhafte Beschriftung der Autoren liefern. Bei Reportagen und journalistischen Portraits können derartige Manipulationen durchaus zur Disqualifikation des Autors führen (siehe Zeitleiste/2010). Der World Press Photo Award verlangt aufgrund solcher Erfahrungen die Abgabe der Rohdaten (Raw Files).

2. Zur Fusion optischer Technologie und Computer technologie

Die digitale Fotografie existiert nach Betätigung des Kameraauslösers zunächst nicht als »Bild«, sondern als Menge mathematischer Werte interpretiert als Computergrafik auf einem Display. Nach einer Untersuchung der simulierten Grafik kann in der Folge ein Verfahren zur optischen Reproduktion auf Material gewählt werden. Die Materialien sind hierbei vielfältig und unendlich variierbar. Ähnlich wie die Textdatei kann nun auch die digitale Bilddatei durch medial-kommunikative Kanäle gesendet werden. Vor allem am Beispiel der Berichterstattung wird deutlich, dass sich das photographische Medium der Kommunikation mit Schrift und Wort angepasst hat. Die photographische Struktur oder Spur wird mit dem Digitalen in einen Algorithmus (Rechenlösung durch Zahlenreihung) gewandelt. Die Informationen am Monitor sind wie »Texte« gleichermaßen variabel, manipulierbar, fragil – flüchtig. Die klassische Photographie in Form relativ stabiler Papierdokumente hat sich so angesichts medialer Bilderfluten scheinbar erledigt. Die neuen Bilder erinnern und verweisen oft nur noch auf die photochemische Epoche. In diesem Sinne formuliert auch Peter Geimer, dass mit der Bezeichnung »digitale Fotografie« jene Gegenstandsbereiche gemeint sind, »die von der Schnittstelle ››analoger‹ und ›digitaler‹ Bilder ausgehen, das computergenerierte Bild also ausgehend von der traditionellen Photographie und seiner Praxis der chemisch-physikalischen Aufzeichnung bestimmen.«4 William J. Mitchell gilt nicht nur als Erfinder der sogenannten »Post-Photographic Era«, sondern auch als Namensgeber für die Geschichte der tradierten photographischen Bilder, die er als sogenannte »analoge« Photographie bezeichnete. Dabei wird derzeit darauf hingewiesen, dass diese Bezeichnung die verschiedenen »analogitalen« Verfahren unscharf differenziert. Diese Forschungsarbeit versucht sich in dem Experiment, verschiedene Verschriftungen zur Unterscheidung und Ausdifferenzierung fotografischer Bilder einzubringen. Es scheint, als sei die alte Schreibweise Photo-graphie5 in der deutschen Schriftsprache erhalten geblieben, da sie Bezug nimmt auf alte Verfahrensweisen des photochemischen Handwerks – insbesondere auf die Licht(ein)schreibung als materialgebundenen Abdruck. Im online-Duden wird Foto-grafie lediglich als Verfahren zur »Herstellung dauerhafter, durch elektromagnetische Strahlen oder Licht erzeugter Bilder«6 bezeichnet, womit nicht nur die Deutung des zweiten Wortbestandteils offen 4  |  Geimer, Peter: Theorien der Fotografie, Junius Verlag, Hamburg 2009, S. 99 5 | Photographie, Wortherkunft griechisch φῶς, phos, im Genitiv: φωτός, photós, Licht (der Himmelskörper), Helligkeit und γράφειν, graphein, zeichnen, ritzen, malen, schreiben, Quelle: http://de.wikipedia.org/wiki/Fotografie/ Stand Abruf 18.04.14 6  |  Quelle: www.duden.de/rechtschreibung/Fotografie/ Stand Abruf 17.04.14

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bleibt. Diese Untersuchung sammelt Beschreibungen und Zitate aus der Zeit der Übergangsgeneration. In dieser Phase vermischen sich auch die verschiedenen Schreibweisen/Übersetzungen: Photographie (Photography), Fotografie. Diese Schreibweisen entsprechen oftmals den unterschiedlichen Bezugnahmen in der Übergangszeit der Digitalisierung. Als digitale Fotografiken werden im Folgenden Bilder bezeichnet, die (etwa anhand ihrer digitalen Rohdaten) als Computergrafiken interpretiert werden. Wie schon erläutert, können diese Interpretationen je nach Anwendung der entsprechenden Entwicklungs- und Bearbeitungs-Software bereits Formen der Pixelumwandlung sein. Gottfried Jäger benutzt die Spezifizierung Fotografik bereits 1988 als Sammelbegriff für alle analogen bildnerischen Verfahren, bei denen fotografische und grafische (zeichnerische, drucktechnische, montierende) Mittel zusammenwirken; »ihr Kennzeichen ist das Zusammenspiel zwischen Apparat (Foto) und Hand (Grafik)«.7 Den analogen wie digitalen Fotografiken ist im Gegensatz zu den »Lichtgrafiken« gemein, dass ihnen ein wenn auch »abstraktes, so doch nachvollziehbar abbildendes Motiv zuzuschreiben ist« (Jäger), wogegen letztere vorrangig ein Interesse an den bildnerischen Formen des Lichts erkennen lassen. Die digitale Collage ist eine künstlerische Form des manipulativen Umgangs mit Bildern am Monitor und eine bewusste Umschreibung der aufgenommenen fotografischen Struktur als Folge einer intendierten künstlerischen Konzeption. Der oftmals unscharf verwendete Begriff des synthetischen Bildes meint im allgemeinen Hybridbilder, die in ihrer Struktur »analogital« durchmischt sind. Dabei könnte man die photochemische Bilderzeugung gleichermaßen als Bildsynthese bezeichnen. Auch sind den fotografischen Bildern, die als »rein digital« erstellt gelten, stets Vorgänge der Analog-Digital-Wandlungen inhärent. Digitale Computergrafikmodelle liegen den Bildern zugrunde, die keine photographische Struktur oder fotografische Spur mehr aufweisen und rein komputativ anhand einer Software erstellt werden. Für die Ansichten und Abbildungen dieser Konstruktionen (3D Modulationen) gibt es im Deutschen keinen Begriff. Rendering (ein digitales Rechenbild) soll hier aus dem Englischen übernommen werden. Ein »gerendertes« Bild ist nicht das Produkt eines fotografischen Verfahrens sondern das Produkt von Berechnungen nach Software-Algorithmen. Das Gleiche gilt für das sogenannte Bildschirmfoto (Screenshot), das mit einer Tastenkombination erstellt wird. Es handelt sich um die Kopie einer Auswahl der Monitorfläche, um das Abspeichern des aktuellen grafischen Bildschirminhalts oder eines Teils davon als Rastergrafik. Scanbilder, die mit einem Computerscanner erstellt werden, sind noch Bestandteil des fotografischen Verfahrens, da sie optomechanisch funktionieren. 7 | Jäger, Gottfried: Bildgebende Fotografie. Fotografik. Lichtgrafik. Lichtmalerei. Ursprünge, Konzepte und Spezifika einer Kunstform, DuMont, Köln 1988, S. 274

2. Zur Fusion optischer Technologie und Computer technologie

Der Scanner nimmt die analogen Daten der physikalischen Vorlage mit Hilfe von Sensoren auf und übersetzt sie anschließend mit Analog-Digital-Wandlern (Quantisierung) in eine digitale Bildform, die dann mit Computern weiter verarbeitet, analysiert oder visualisiert werden kann. Ein Scanbild entspricht damit einer digitalen Fotografik mit dem Unterschied, dass das Licht künstlich gesetzt und dabei beweglich ist. Die Lichtabtastung erfolgt zumeist linear auf einer Ebene – kann aber auch rotieren (Rotationsscanner). »The vocabulary we evolved for discussing static two-dimensional lens-derived images on paper can’t suffice for this situation; it applies only to a small slice thereof.« 8 (Allan Douglas Coleman)

2.2 F otogr afische S truk turen und D arstellungs tr äger /Z ur S pezifizierung neuartiger B ildwerke »Jedes bildliche Medium transportiert in einer bestimmten Weise die historische und technische Signatur seiner Epoche, seiner Entstehungs- oder Erfindungszeit. Indem es eine je spezifische Abbildungs- und Darstellungsart entwickelt, entspricht jedes Medium ebenfalls einer ›kulturellen Logik‹. Sie ist […] in kapitalistischen Industriegesellschaften Ausdruck einer Entsprechung, nämlich der zwischen dem jeweilig avancierten Stand der ökonomischen und gesellschaftlichen Entwicklung und des kulturellen ›Stils‹ von Realismus, Moderne und Postmoderne.« 9 (Barbara Naumann)

Schon wegen der Nutzungsrechte wird in der Musik genauer zwischen einem Musikstück (Musikaufnahme) und einem Sampling unterschieden. Die Möglichkeiten des Samplings haben in den letzten Jahrzehnten ständig neue elektronische Musikrichtungen geschaffen (Hip-Hop, Trip-Hop, Disco, House, Techno etc.), die entsprechend genrespezifisch rezipiert werden. In ähnlicher Weise müssten auch die photographischen und photographisch anmutenden Bilder genauer auf Herstellung und Material hin untersucht und beschrieben werden, um angemessene Interpretationen vorlegen und neue Stilrichtungen erkennen zu können. Dabei ist es nicht immer einfach, einem photographisch anmutenden Bildwerk seine Herstellungstechnik anzusehen, zumal bei der Reproduktion die Grenzen zwischen analog-photochemisch und digital verschwimmen. Demnach müssten bei der kritischen Rezeption die Reproduk8  |  Interview A. D. Coleman mit Gregory Eddi Jones 2014 in: In The In-Betweens – Journal of Digital Imaging Artists, Quelle: www.inthein-between.com/in-dialogue-with-adcoleman/ Stand Abruf 18.03.15 9 | Naumann, Barbara: Vom Doppelleben der Bilder: Bildmedien und ihre Texte, Wilhelm Fink Verlag, München 1993, S. 9

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tionen ausgeklammert und einzig die Erstveröffentlichungen analysiert und gewürdigt werden. Bei Ausstellungen wäre dies leicht zu organisieren, da der Künstler über die Herstellung und Präsentation seiner Fotografie allein entscheidet. So werden in Katalogen und auf Webseiten zu den verkleinerten Bildkopien oftmals schon die Maße der Erstveröffentlichung neben Titel und Erstellungsjahr angegeben. Mittlerweile werden auch die verschiedenen Herstellungstechniken und Materialien der Darstellungsträger genauer beschrieben um zur Deutung und sachangemessenen Würdigung der Bilder beizutragen. Die Manipulation der photographischen Struktur kann, wie bereits angedeutet, auf die unterschiedlichste Weise geschehen und ist dabei immer das Ergebnis von subjektiven Entscheidungen. Schon bei der Entwicklung der Raw-Daten können die Bilder verzerrt, geschärft, kontrastiert, beschnitten und ausgefleckt werden. Bei der weiteren Bildbearbeitung können Objekte und Personen gemorpht, verflüssigt, skaliert, verfärbt, ausgetauscht oder gelöscht werden. Bildteile können aus den unterschiedlichsten Bildquellen zusammencollagiert und montiert werden. Es können Objektsimulationen aus 3D-Programmen eingebaut und die Lichtsituation anhand von Filtern und (auf Ebenen wirksamen) Fremdbildern verändert werden. All diese Manipulationsvorgänge zu verschleiern wäre eine alltägliche Strategie der Werbung und der Hochglanzfotografie – und häufig auch eine heimliche, oft gar illegale Methode der Pressefotografie. Die postproduktiven Praktiken mit Fotografien im journalistischen Bereich werden besonders bei internationalen Wettbewerben öffentlich diskutiert und anhand der zusätzlich angeforderten Rohdatendatei von ausgewählten Gremien untersucht (siehe Zeitleiste 2010 WPP Award Disqualifizierung Stephan Rudik10). Die künstlerische Fotografie hat sich in der Übergangszeit (Zeitleiste 19902010) ebenfalls aktiv mit allen manipulativen Techniken auseinandergesetzt und diese ebenso vielfältig angewendet. Der Künstler entscheidet, ob diese Operationen mit der Präsentation offengelegt und thematisiert werden – doch müssen sich auch hier die Praktiken der Manipulation (im Sinne der Kunstfreiheit) erst beweisen, besonders wenn dabei fremdes Bildmaterial collagiert oder neu kontextualisiert wurde. Wenn alle Forschungen in den Bereichen von Kunst und Medien sich weiter der Entschlüsselung der fotografischen Bilder annehmen (so von Vilém Flusser oder Martha Rosler gefordert), dann werden sie zwangsläufig anhand 10 | Siehe auch die Diskussion um die Qualifikation Paul Hansen 2012 WPP Award; Quelle: www.worldpressphoto.org/news/digital-photography-experts-confirm-integritypaul-hansenimage-files/ Stand Abruf 02.03.15

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der Spezifikationen und gefächerten Begrifflichkeiten geordnet und gedeutet werden. Die unterschiedlichen Strukturen, die photographischen und photographisch anmutenden Bilder zugrundeliegen, führen jeweils zu unterschiedlichen Deutungsweisen und Interpretationen. Die analog-photochemische Photographie ist dabei nicht mit der digitalen Fotografik gleich zu setzen. Beides sind bildgebende Verfahren; in ihrer Bestimmung und kulturellen Praktik aber sind sie grundsätzlich verschieden. In einer aktuellen Abhandlung The Digital Eye 11 untertitelt die Kuratorin Silvia Wolf ihre Auswahl der Werke informativ und exemplarisch mit: Photocollage, Computercollage, Computerwork, Constructed Photograph, Prerendered Computer Graphic Content. Neben diesen vorgeschlagenen Bestimmungen der Bildstrukturen werden üblicherweise auch die Darstellungsträger genauer beschrieben und unterschieden. Mit der Wahl der Darstellungsträger und der Präsentation der Bildwerke in Galerien und Buchräumen kann sich die künstlerische Fotografie von den angewandten Medien absetzen und eine Sicht auf fotografische Bilder entwerfen, die von den kommerziellen und privaten Interessen entfernt stattfindet. Die Bildträger können hier zwar ebenso identisch sein (Zeitungspapier, Plakatformat), verweisen damit jedoch bewusst auf eine medienreflexive Bezugnahme. Bezüge zur Privatsphäre und zum Alltagsleben können durch die Wahl von alten oder neuen Fotoalben, Holzrahmen und kleinformatigen Abzügen hergestellt werden. Fotografische Bilder können analog oder digital gedruckt, ausbelichtet oder fotokopiert werden. Im Ausstellungsraum können sie geklebt, gehängt, gelegt, gefaltet oder projiziert werden. Auch hier sind die Wahlmöglichkeiten und Entscheidungen mannigfaltig, subjektiv und am Ende nicht ohne hohen Materialaufwand zu realisieren. Die Ausstellungskonzeption von Photographien hat sich in der Übergangszeit ebenso entscheidend verändert. Während photochemische Materialabdrucke vorwiegend kleinformatig präsentiert werden, tritt die digitale Fotografik vor allem großformatig auf. Die (Re-)Produktionsmöglichkeiten mit Tintenstrahldruckern und digitalen Ausbelichtern kommen nun zum Einsatz. Die Überformate passen sich den Formaten großflächiger Werbefotografiken auf den Straßen an. Im Gegensatz zu den sogenannten »Becher-Schülern«, die ihre Arbeiten Anfang der 1990 Jahre lediglich mit C-Print12 kennzeichnen, legt Silvia Wolf besonderen Wert auf genauere Beschreibungen der Darstellungsträger der 11 | Wolf, Sylvia: The Digital Eye, Photographic Art in the Electronic Age, Prestel Verlag, München 2010 12  |  »F1 – BOXENSTOPP II, 2007, C-PRINT, 223,4 X 609 CM« Titel/Arbeit Andreas Gursky auf der Webseite der Galerie Sprüth Magers Berlin London, Quelle:http://spruethmagers. net/exhibitions/135@@viewq4/ Stand Abruf 12.04.14

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Erstauflagen von Kunstwerken, die sie in ihrem Buch abbildet und bespricht: Chromogenic Color Print with Diasec, Transparancy in Lightbox, Ultrachrome Archival Photograph, Gelatine Silver Print from Digital File, Pigmented Inkjet Print, Ilfochrome Print, Iris Print, Archival pigment Print, Mixed Media on Arches, Pure Pigment on Paper, Photographic Mural, Digital Photographic Projection, Digital bromide Print, Laserchrome Print, C-Print on Endura Metallic Paper, Cibachrome Print, Lambda Print, Cibachrome mounted to Plexiglas on Dibond, Silver dye bleach Print (Ilfochrome) mounted to Plexiglas on Aluminium, Diasec on Aluminium, Computer aided Painting on Canvas etc. Die verschiedenen Bildherstellungsverfahren und das Material der Darstellungsträger werfen eine Fülle konzeptionsbezogener Fragen auf: Liegt eine medienreflexive Strategie vor? Geht es um Bildmanipulation und deren Enthüllung? Sollen also die Strategien der Werbung und kommerziellen Gebrauchsfotografie reflektiert werden? Versucht der Operateur eine Verschleierung der Effekt-Palette durch eine Imitation photochemischer Analogie (Körnungsfilter, Polaroid-Look, Sepia-Look)? Wie positionieren sich das Werk und der Künstler angesichts der aktuellen ökonomisch-sozialen Situation? Im anschließenden Fallbeispiel Andreas Gursky interessiert weiter die Frage, warum der »Photograph« durch Anwendung digitaler Technologien Bildwerke schafft, die uns eine kameraunmögliche Perspektive präsentieren; eine Perspektive, die ein Photograph selbst nicht einnehmen, sondern nur ein Bildermacher synthetisch herstellen kann. Warum sind die Bilder dieser erhabenen Perspektive zugleich die teuersten Bilder der Welt?13 Wozu die Wahl von Übergrößen hinter Acryl? Wer kauft seine Bilder und wie positioniert man sich mit deren Hängung im privaten und öffentlichen Raum? Welches inhaltliche Interesse verfolgt Gursky also mit seiner Strategie? Natürlich muss der Künstler nicht antworten, es genügt, wenn er sich mit seinen Bildern der Betrachtung und Interpretation aussetzt. Die Werkbeispiele von Andreas Gursky stehen hier exemplarisch für eine neuartige Konzeptkunst mit der digitalen Fotografik, die die kleinformatige »pure« Photographie der Übergangszeit kurzzeitig ablöst, um dann im Nebeneinander aufzutreten. Auch die kunsthistorischen Rezeptionen in den dazugehörigen Ausstellungskatalogen sollen hier noch einmal hinterfragt werden, wenn digitale Fotografiken – deren nachbearbeitetes Ausgangsmaterial Photographien sind – mit der Malerei verglichen werden. Warum vertraut die neue photographisch anmutende Konzeptkunst einer Ästhetik des Momenthaften nicht mehr und bringt die poetischen Augen13 | »99 Cent II Diptychon« Versteigerungserlös 3,34 Mio. Dollar (siehe Zeitleiste 2007)

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blickspartikel in eine eigene Ordnung? Warum wird allein die Bildgestaltung in Bezug zur Malerei rezipiert und die Bilderstellung dabei ignoriert? Der Vergleich wird haltlos in Anbetracht der Realität der beiden sehr unterschiedlichen Bildproduktionsweisen14; kann man einen Farbtopf mit Pixeln, einen Pinsel mit einer Computermaus, eine Leinwand mit einem Monitor gleichsetzen? Damit wäre zwar eine neuzeitliche Form der digitalen Malerei beschrieben, aber nicht der Umgang mit Bilddaten von fotografischen Aufnahmen, denen bereits eine bildgebende Struktur als Ausgangsmaterial zugrunde liegt. »Die Malerei zeigt sich vor den geschlossenen Augen des Schlafs; die Photographie öffnet sich auf die ungewissen Bilder des Quasi-Sichtbaren.«15 Eine Annäherung mag auf thematischer Ebene gelingen, denn einige Fotografen wählen ihre Ausschnitte nach Vorbildern aus der Malerei, wenn sie ihre Stillleben inszenieren oder reale Szenenabbildungen am Computer zusammensetzen (Beate Gütschow: Placements). Daneben können bildbearbeitende Fotografiker Software-Tricks anwenden, um die Ästhetiken malerischer Strukturen am Computer zu simulieren, indem sie ihren digitalen Fotografiken eine »künstliche Strichführung« mithilfe von Photoshop Filtern einrechnen (Heidi Specker: Bildings) oder einen Fake-Duktus entstehen lassen, wie bei übergroßen Drucken von Bilddaten mit geringer Auflösung (Thomas Ruff: Jpegs). Aus der Betrachterperspektive mögen sich die digitale Fotografik und die Malerei bei vergleichender Analyse wie folgt begegnen: »Die Verschmelzung zweier unterschiedlicher medialer Horizonte mit einer unterschiedlichen Geschichte und – in diesem Fall – direkter Konkurrenzsituation führt zu Bildern, die an der Sehnsucht nach dem Original ebenso partizipieren wie an der Realität technischer Reproduzierbarkeit. Die Brüchigkeit in ihnen liegt in dem kalkulierten Verzicht auf das Pathos der Eindeutigkeit, auf dem Glauben an einen Königsweg, in dem Bilder noch einmal als Totalität aller an sie gestellten Forderungen gelingen können.«16 (Stephan Berg)

Entgegen einer kunsthistorisch noch akzeptablen Beschreibung sind Wand und Fenster doch ungleich zu deuten. Der Maler projiziert seine erlebte oder 14 | »Pollock’s drip paintings were produced, (Morris wrote), by the conjunction of ›the nature of materials, the restrains of gravity, the limited mobility of the body interacting with both‹.« Glenn Adamson zitiert Robert Morris in: Adamson, Glenn: Thinking Through Craft, Berg Publishers/The Bloomsbury Group, London 2007 15 | Hubertus von Amelunxen zitiert Michel Foucault in: Theorie der Fotografie Band 1-4 (1839-1995), Schirmer/Mosel, München 2006, Band 4, S. 11 16 | Ausstellungskatalog: Unschärferelation – Fotografie als Dimension der Malerei, hg. von Stephan Berg, Hatje Cantz Verlag, Ostfildern 2000, S. 10

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nur imaginierte Welt auf die Leinwand, der Photograph mit der Kamera begibt sich dagegen wissentlich in die Abhängigkeit von der Außenwelt, die ihn umgibt. Der Grafiker wiederum kennt sich aus mit Materialmix und Collageformen. Hinsichtlich der digitalen Fotografik geht es im Folgenden also um Fotografiker.

3. Zeitstrahl 3.1 E inführung /D ie Ü bergangssituation Die Offenlegung ökonomischer Verhältnisse ist eines der Anliegen, die innerhalb meiner Forschungsarbeit von Bedeutung sind. Mit Digital Divide bezeichnet man Anfang der 1990 Jahre eine gesellschaftliche Spaltung, die insbesondere ihre Auswirkungen auf Arbeitsbereiche mit der Photographie hat; Digital Divide beschreibt eine Kluft zwischen dem zwar möglichen, aber nicht ermöglichten Zugang zu spezialisiertem Wissen der sogenannten Informationsgesellschaft – oder aber die Folge einer ablehnenden Haltung zu deren Kommunikationsmedien und den damit verbundenen manipulativen Strategien. Ganz besonders die Photographie, die zur Bilderstellung in allen Bereichen und allen gesellschaftlichen Schichten genutzt wird, erfährt seit mehr als 20 Jahren einen drastischen Wandel durch die voranschreitende Digitalisierung. Künstler, Photographen und Kreative sind dabei nachhaltig gefordert, sich innerhalb derartiger Prozesse neu zu positionieren. Die Photographie, als eine Erfindung des Industriezeitalters, passiert an der Schnittstelle von Mensch und Apparat und kann sich somit nur bedingt den Maschinenwelten entziehen. Analog-photochemische Technologien unterscheiden sich nicht nur in ihrer Beständigkeit – derweilen ziehen Computergenerationen an ihnen vorbei – sondern auch aufgrund ihrer eigenen Bedingungen der Bildproduktion von digitalen Technologien. Ist der Digital Divide nach mehr als 20 Jahren der Digitalisierung heute überwunden? Der amerikanische Kritiker und bekannte Fototheoretiker Allan Douglas Coleman erklärt im Journal of Digital Imaging Artists1, dass die lang erwartete Demokratisierung des Mediums Photographie bereits eingetreten sei, da heute fast jeder eine Kamera bei sich trage (etwa in Form einer SmartphoneKamera), beinahe täglich Fotos erstelle und sie sofort mit anderen teile. Nach 1 | In The In-Between – Journal of Digital Imaging Artists, Interview Allan Douglas Coleman mit Gregory Eddi Jones 2014, Quelle: www.inthein-between.com/in-dialoguewith-ad-coleman/ Stand Abruf 18.03.15

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seiner Auffassung ist jetzt zum ersten Mal ein »Bürger-(Photo-)Journalismus« möglich, der zur Meinungsbildung neben der vorherrschenden Medien- und Nachrichtenausstrahlung beitragen kann. In der Phase des Post-Snowden-Afterglow entsteht aber ein neues Bewusstsein, ausgelöst durch die Erkenntnis, dass nicht jede brisante Information ungefiltert und problemlos ihre Empfänger erreicht (vgl. Geschichte Wikileaks). Zudem verlangt jede Nutzung und Vernetzung eines Smartphones, wie auch die Nutzung der bereitgestellten Netzwerksysteme am Heimcomputer zuerst die Eingabe personenbezogener Daten – oder aber greift auf diese ungefragt zu 2 . Eine Umgehung dieser Aufforderung wie auch eine Umgestaltung und 2 | siehe auch Datenschutz Mobiltelefon/Eintrag T-online/Abruf 19.03.15: »Gratis-Apps finanzieren sich unter anderem durch die Sammlung und Weitergabe Ihrer persönlichen Daten. Wenn Sie sich eine App oder auch ein Spiel auf Ihr Telefon laden, landen gleichzeitig sogenannte Ad- oder Tracking-Module auf dem Smartphone, die den Entwicklern zeigen, wie ihre Programme verwendet werden. Hierbei können die gesammelten Daten gleichzeitig auch direkt an Werbeanbieter übermittelt werden. Denn nur auf diese Weise finanzieren sich die kostenlosen Anwendungen. […] Vor allem hinter kleinen, vermeintlich harmlosen Apps, die auf den ersten Blick sehr simpel wirken, können sich sogar gleich mehrere Datensammler verbergen. […] Viele Apps übertragen auch GPS-Koordinaten des Smartphone-Nutzers. Das bedeutet, sie geben Informationen über den jeweiligen Aufenthaltsort des Nutzers weiter. Das Messenger-Programm WhatsApp greift auf die Einträge in Ihrem Adressbuch zu.« Siehe Cookies/Wikipedia/Abruf 19.03.15: »Meistens werden Cookies willkürlich gesetzt, um das Surfverhalten zu protokollieren. Dies zu unterbinden, ist lästig, sorgt aber für Informationelle Selbstbestimmung und Datenschutz. […] Nicht selten versucht eine einzige kommerzielle Webseite, ein Dutzend und mehr Cookies zu setzen. Google-Cookies und ihre ›PREFID‹ können den Browser eindeutig identifizieren. […] Im Zuge der Enthüllungen von Edward Snowden wurde bekannt, dass diese von der NSA missbraucht werden, um zielgerichtet Spionagesoftware auf einzelnen Rechnern zu platzieren und diese automatisiert zu überwachen und per Fernsteuerung auszubeuten.« Siehe auch Software Uroburos/Zeit Online/Eintrag 03.03.14: »Fast ein Jahr hat Ralf Benzmüller von der Sicherheitsfirma G Data gebraucht, um die Spionagesoftware Uroburos zu entschlüsseln. Vergangene Woche veröffentlichte er seine Erkenntnisse. Sie verdeutlichen, dass selbst Computer, die selbst nicht mit dem Internet verbunden sind, aus der Ferne ausspioniert werden können.« Vgl. auch Datenschutzgesetz/Wikipedia/Abruf 19.03.15: »Zugang zu personenbezogenen Daten darf nur gewährt werden, soweit das Informationsinteresse des Antragstellers das schutzwürdige Interesse des Dritten am Ausschluss des Informationszugangs überwiegt oder der Dritte eingewilligt hat. Besondere Arten personenbezogener Daten im Sinne des § 3 Abs. 9 des Bundesdatenschutzgesetzes dürfen nur übermittelt werden, wenn der Dritte ausdrücklich eingewilligt hat.« (§ 5 Informationsfreiheitsgesetz)

3. Zeitstrahl

Selbstgestaltung der Netzwerke erfordert professionelle Hilfe und spezifische Fachkenntnisse. Es handelt sich also um eine »Techno-Demokratisierung« mit erheblichen Einschränkungen. Ganz offenbar ist jedes Individuum gleich welchen Staates heute selbst für den Schutz seiner persönlichen Daten im Sinne des Informationsfreiheitsgesetzes zuständig. Es sind am Ende nur ganz wenige Personen und Konzerne, die von der globalen Bildgrafikerstellung und digitalen Kommunikation wirklich profitieren und sie zugleich kontrollieren. Allan Douglas Coleman konstatiert im angegebenen Interview einen Zusammenbruch des professionellen kreativen Sektors und berichtet zugleich von jenen professionellen Kunstschaffenden, die heute immer häufiger unentgeltlich arbeiten. »You can’t make money blogging about the arts. Under those circumstances, who would make a long-term commitment to writing regularly about some aspect of the medium for a broad general audience? Who could? […] If publishers require authors to fund their own books and handle their own publicity, who needs them? […] Here in the West we live in the first culture that has ever produced far more formally credentialed artists than it can possibly employ or otherwise support.« (Allan Douglas Coleman)

Jaron Lanier als »Dissident« des Silicon Valley, Professor, Autor und Musiker beschreibt die Verschiebung künstlerischen Schaffens in den USA: »it was really astonishing how big the middle class of musicians was […] that was replaced by phantasma […] the illusion of creativity […] looking at the real world of journalism, photographers, musicians and so on, there was a sharp cut off between a very small number of winners and a very large number of loosers.« 3 (Jaron Lanier)

In der Zeit meines ersten Studiums in Hamburg wurde bis zum Jahr 2000 die Photographie rein analog gelehrt. Professor Hans Hansen, ein renommierter Sach- und Werbephotograph, kam selbst von der Grafik und war in der Photographie Autodidakt. Er entließ uns mit den Worten: »Ich bin froh, nicht in eurer Generation arbeiten zu müssen.« Insbesondere die weniger finanzstarken Photographen konnten sich nach dem Studium den Umstieg auf Digital kaum leisten. Man hatte schließlich den Einstieg in die selbstständige angewandte Arbeit gerade erst geschafft und sich dazu Labor und Studio selbst eingerichtet. Die Nebentätigkeiten in großen, professionellen Photolaboren oder PortraitStudios brachen durch Insolvenzen langsam weg, und aufgrund ansteigender Mietpreise wurde es zunehmend schwieriger, eigene Arbeitsräume halten zu können. Praktisch jede künstlerische Studio-Arbeit, in der beharrlich weiter 3  |  Jaron Lanier, Vortrag: »Link. What is a Person?«, CJM San Francisco 2010; Quelle: www.youtube.com/watch?v=jtuM1j-vFsA/ Stand Abruf 01.05.14

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an der Kreation von Objekten gearbeitet wurde, erfuhr eine Transformation von der Studio-Art zur Post-Studio-Art, vom Atelierraum zum Monitorraum. Um 1997 öffneten die ersten Digitalstudios, in denen man Nebenjobs auf Honorarbasis bekommen konnte und somit die Möglichkeit erhielt, alle neuartigen Computeranwendungen von Anfang an kennenzulernen. Allerdings führte einem diese Arbeit auch vor Augen, wie rasch voraussichtlich die angewandte Autorenphotographie, wie sie noch zu Studienzeiten gelehrt wurde, von einer Arbeit mit Datenmengen günstiger Materiallieferanten und Fotos aus Bildagenturen abgelöst werden könnte. Auch in den Werbestudios wurde die Arbeit an und mit Fotografien uninteressanter und kontrollierter: Die Layouts der Artdirectoren (AD) mussten zumeist nur noch in Einzelteilen abgelichtet werden und wurden dann später in der Postproduction in Absprachen zwischen dem AD und dem Kunden zusammengebaut. Die Arbeit an der Bildpräsentation war nun kaum noch die Angelegenheit des Fotografen. Zunehmend spielte auch das persönliche Verhältnis zwischen Agenten und Agenturen eine entscheidende Rolle. Fotografen waren gezwungen, sich einer starken Lobbygruppe anzuschließen, sie konnten, obwohl als Experten und Künstler durch ihr Portfolio ausgewiesen, kaum noch alleine agieren. Zeitgleich wurden Teilbereiche der gerade erst erlernten digitalen Arbeit – wie etwa das »Abpfaden« und »Freistellen« von fotografierten Produkten – teils nach China und teils nach Indien ausgelagert, um schneller, billiger und konkurrenzfähiger agieren zu können. Ständig wurde neue Software entwickelt, die weitere Arbeitsschritte automatisierte. All jene zügig aufeinanderfolgenden Phasen der Digitalisierung bewirkten anhaltende Gefühle der Unsicherheit in allen Arbeitsverhältnissen. Die »kreative Klasse« (von Mercedes Bunz so bezeichnet) probiert sich heute in einer Kombination aus Selbstständigkeit und Grundsicherung an der Stelle aus, an der ehemals die Sozialversicherung die Folgen der Industrialisierung abmilderte. »Wird die Mittelklasse in der Digitalisierung jene undankbare Rolle spielen müssen, die dem Proletariat im Zuge der Industrialisierung zukam? […] Ähnlich wie die Arbeiter im Zeitalter der Industrialisierung durch die Automatisierung ihrer Arbeit ihre einige Einkommensquelle gefährdet sahen, werden diese Qualifikationen und Rollen, die wir uns durch lange Ausbildung und harte Arbeit angeeignet haben, nun durch Algorithmen infrage gestellt.« 4 (Mercedes Bunz)

Die weitreichende Digitalisierung hat zu sozialen und ökonomischen Verschiebungen geführt. Die Bestrebungen der Industrie nach schneller und optimaler Bildverwertung führen dazu, den Beruf des Photographen durch flexible Ma4 | Bunz, Mercedes: Die stille Revolution, Edition unseld 43, Suhrkamp, Berlin 2012, S. 39

3. Zeitstrahl

teriallieferanten weitgehend zu ersetzen. Die Geister und Gespenster der analog-photochemischen Epoche agieren noch in den wenigen Dunkelkammern von Amateuren, Liebhabern und Kunsthochschulen. An der folgenden Zeitleiste kann man ablesen, dass in den letzten zwei Jahrzehnten die erfolgreichen photographisch anmutenden Kunstwerke gleichzeitig technische Neuerungen vorgestellt haben. Handelt es sich bei den Ausstellungen großformatiger Werke in Museen und Galerien folglich nur noch um eine effektvolle Werbung für Paintbox, Photoshop, Google Earth? Oder geht es ganz im Sinne der Kunst darum, neue Aspekte unserer Wahrnehmung und Wahrnehmungskonstruktionen zu erschließen und zu thematisieren, so wie sie aktuell auch in anderen Wissenschaften erforscht werden? Wie zeigt sich Realität, wenn es in der Welt Kunst gibt? Welche Menschenbilder und Chimären werden präsentiert? Lädt die Thematik zu einer neugierigen kritischen Betrachtung ein oder dient das Spektakel nur der bloßen high-end-Vorführung neuartiger technisch generierter Ästhetik? Wenn der Kunsthistoriker George Baker kritisierte, dass die Photographen heute plötzlich viel mehr Konzeptkünstler sein wollten als Photographen im Sinne von Entdeckern und Sammlern (siehe Einleitung/Forschungsperspektive), dann hat jene Feststellung auch damit zu tun, dass man in der Gebrauchsphotographie plötzlich kaum noch existieren konnte und wollte. War dies auch einer der Gründe, die etwa den Photographen Andreas Gursky dazu bewogen haben, Künstler zu werden? Waren doch sein Großvater Hans Gursky und sein Vater Willy Gursky beide erfolgreiche Werbephotographen der alten Generation. Der Sohn absolvierte ebenfalls ein angewandtes Studium der visuellen Kommunikation, entschied sich später jedoch, weitere Lehrjahre an der Kunstakademie in Düsseldorf anzuschließen. Der Zeitstrahl von 1990-2010 veranschaulicht auch die Zeit seiner Meisterschaft in der Geschichte der »Photographie« – und photographisch anmutender Bilder. Gursky hat die erfolgreiche Arbeitsweise seiner Vorväter in die Kunst überführt. »Denn sehr wohl haben kommerzielle Datensammler durch die Gründung von Lobbygruppen einen Vorsprung, ebenso wie Hacker, die weitreichende technische Kenntnisse besitzen. […] Es muß also angenommen werden, daß klassische Identitätsarbeit im analogen wie auch im digitalen Raum ungleich stattfindet, und aufgrund des Digital Divide einerseits und der fortschreitenden Digitalisierung unserer Gesellschaft andererseits diese Ungleichheit noch verstärkt wird. […] Die Digitalisierung bringt weitere und neue Herausforderungen mit sich: hier spielen vor allem Wissen und Tempo eine Rolle.« 5 (Stephan Humer) 5  |  Humer, Stephan: Digitale Identitäten. Der Kern digitalen Handelns im Spannungsfeld von Imagination und Realität, Edition Digitalkultur, CSW Verlag, Winnenden 2008, S. 126

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Es ist nicht die digitale Technik an sich, die einige Authentizitäts-Debatten erneut entfachte. Kritische Anfragen finden vielmehr in Reaktion auf den Aktionismus und die Temposteigerung statt, mit denen digitale Technologien zum Einsatz kommen. Die Zeitleiste lässt erkennen, dass nahezu jede Innovation (z.B. Hardware Paintbox, Bildformat JPG, Software-Filter Weichzeichner, Suchmaschine Google Earth) markterfolgreiche künstlerische »Fotoarbeiten« hervorbringt. Der Erfolg mag sich aus der schnellen Vorlage der auf den ersten Blick attraktiven Bildproduktionen und dem noch gleichzeitigen Fehlen eines erfahrenen und kritischen Publikums im Umgang mit photographisch anmutenden synthetischen Bildern erklären. Gerade zu Beginn der Digitalisierung hat die Computertechnologie die optische Technologie in der Weise absorbiert, dass sich in Anlehnung an die Präsentationen auf dem Konsummarkt eine neue, neoliberale6 Ästhetik gewisser photographisch anmutender Bildwerke auch auf dem Kunstmarkt etablieren konnte. Gebrauchsphotographen – und damit viele analog arbeitende Photographen – wurden im Zuge dieser Entwicklung weitestgehend an den Rand gedrängt. Eine zuletzt erfolgreiche Konzeptkunst mit photographisch anmutenden Bildern näherte sich inhaltlich wie strategisch den Praktiken der kommerziellen Werbung an. Die Macht jener Künstler resultierte aus der schnellen Präsentation neuer Immersionseffekte. Diese funktionierten zusammen mit dominanten Ausdrucksformen und medialen Bildklischees, die als Symptome des Globalisierungsstrebens zu betrachten wären. »If print-capitalism was a cultural-economic condition of nationalism, photo-capitalism is a distinctively transnational and translinguistic cultural-economic form.« 7

Seit ich für diese Arbeit recherchiere, entpuppt sich der gesamte digitale Webraum – die Ausdruckssphäre der Digitalisierung – als neuer Herrschaftsraum und als Spielfeld großer Konzerne und Lobbygruppen, der zunehmend an Attraktivität und Vertrauen verliert. Ist der Zeitpunkt schon gekommen, zu den physischen Begegnungsräumen zurückzukehren, zurück zur menschenmöglichen Perspektive, weg von den Maschinenbildern und Kontrollperspektiven? Mit dem Internet wird auch die permanente Verbreitung von Informationen über Verschmutzung, Krieg und Ausbeutung anhand fotografischer Bilder generiert. Ist eine unschuldige Anteilnahme in einer Welt voll schuldhafter Verstrickungen überhaupt noch möglich?

6  |  Der Begriff wird hier verwendet in Hinblick auf Maurizio Lazzaratos: Die Fabrik des verschuldeten Menschen. Ein Essay über das neoliberale Leben, b_books, Berlin 2012 7 | Osborne, Peter: Anywhere or not at all. Philosophy of Contemporary Art, Verso, London 2013, S. 118

3. Zeitstrahl

Es kann und muss auch in der Kunst darüber nachgedacht werden, inwieweit sich eigene Handlungsspielräume im Herstellungsprozess eines Werkes noch entfalten lassen, das mittels vorgefertigter Einheiten und Nutzeroberflächen erstellt wird. Der Künstler und Bildermacher Kim Asendorf justiert die mikroelektronischen Einheiten seiner Kamera und programmiert die Dateiformate zu seinen digitalen Fotos selbst. Er erklärt: »Mir war es auch wichtig, ein Dateiformat als Kunstwerk zu erzeugen. Man könnte es vergleichen mit einem Maler, der seine Leinwand selber baut.«8 (Siehe Zeitleiste/Nachtrag 2013)

3.2 E ine Z eitleiste 1990-2010 Zeitliche Einordnung und Gegenüberstellung digitaler Hardware/Software/Internetportale/Kamerasysteme und künstlerischer Strategien mit digitalen Fotografiken, Bildmanipulation und synthetischen Bildern. Zeitliche Einordnung relevanter Awards/Auktionen/ Gruppenausstellungen und Katalogveröffentlichungen/Insolvenzen/Urteilssprechungen zur Bildmanipulation.

1990 Auf der Ars Electronica, Internationales Kompendium der Computerkünste (Linz; Motto: »Digitale Träume, virtuelle Welten«) zeigt Jeffrey Shaw eine seiner bekanntesten Installationen: The Legible City, die auf einem interaktiv befahrbaren Stadtplan Manhattans beruht. Die über Karten mögliche Orientierung ist ein Grundmotiv von Shaws Kunst. Seine Arbeit Narrative Landscapes (1985/1995, CD-ROM) gleicht einer Odyssee durch Zeichen und Bilder. »Der Roman war zur Zeichenmaschine geworden, deren Bilder einer visuellen Repräsentation bedurften: von der Bilderfährte über den Bildhunger zur Bilderflut brauchte es nur eine vergleichsweise kurze Zeitspanne. Genau diese Reise bietet Jeffrey Shaw den Mitwirkenden seiner Installation an – oder mutet sie ihnen zu.«9

8  |  Quelle: www.arte.tv/de/glitch/7524184,CmC=7503936.html/ Stand Abruf 12.04. 14http://creative.ar te.tv/de/magazin/kim-asendor f-erklaer t-das-dateiformat-zumkunstwerk/ Stand Abruf 12.04.14 9 | Beitrag von Prof. Dr. Rolf Sachsse zu Jeffrey Shaw: The Narrative Landscape, Katalog: Fotografie nach der Fotografie, Verlag der Kunst und Siemens Kulturprogramm, München 1996, S. 263

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Photoshop 1.0 (Von Adobe exklusiv für den Apple Macintosh). Bildbearbeitung für digitalisierte, gescannte Bilder; alle Bearbeitungsschritte passieren in der ersten Version auf einer originalen Bildebene.

1991 Photoshop 2.0 (Auswahlfunktion: Pfad Unterstützung u.a.). Bildelemente können gezielter ausgewählt, verschoben, skaliert und modifiziert werden.

1992 JPEG ist die gebräuchliche Bezeichnung für die 1992 vorgestellte Norm ISO/ IEC 10918-1 bzw. CCITT Recommendation T.81, die verschiedene Methoden der Bildkompression beschreibt. Die Bezeichnung JPEG geht auf das Gremium Joint Photographic Experts Group zurück, das die JPEG-Norm entwickelt hat. JPEG schlägt verschiedene Komprimierungs- und Kodierungsmethoden vor, darunter verlustbehaftete und verlustfreie Komprimierungen, verschiedene Farbtiefen sowie sequenzielle oder progressive Modi (normaler Bildauf bau bzw. allmähliche Verfeinerung). Weithin verbreitet ist nur die verlustbehaftete Komprimierung bei sequenziellem oder progressivem Modus und 8-Bit-Farbkanälen. (siehe auch Jpgs 2003) In einem Interview erklärt Jeff Wall zur digitalen Collage und Manipulation seiner Photographie: »I think that ›The Giant‹ [1992], which is an imaginary scene, is a painting of modern life. It originated in my imagination, and my imagination is in the here and now in the same way that something I might see in the street is here and now. Baudelaire’s art ideal was a kind of fusion of reportage with what he thought of as the ›high philosophical imagination‹ of older art.« 10

1993 Während eines Studio-Stipendiums des PS1 Contemporary Art Centers New York arbeitet die holländische Fotografin Inez van Lamsweerde an der Serie Final Fantasy. Zu dieser Serie »gehören die Abbildungen von vier 3jährigen Mädchen namens Wendy, Ursula, Caroline und Topaze. Die lachenden Kinder tragen glänzende rosa Anzüge, deren Träger verrutscht sind. Ihre Kindermünder ersetzt die Künstlerin mittels der Paintbox durch die Münder von Männern.«11 Lamsweerde übertreibt den Look der Cleanness ihrer chimären Protagonisten,

10  |  Quelle: www.museomagazine.com/JEFF-WALL/ Stand Abruf 12.04.14 11  |  Quelle: www.medienkunstnetz.de/werke/final-fantasy/ Stand Abruf 12.04.14

3. Zeitstrahl

um auf ein Unheil unter den glatten Oberflächen der Werbung zu deuten. Sie schlägt die Werbeindustrie mit ihren eigenen Mitteln der Bildmanipulation. Zeitgleich entsteht die Serie Thank you Tightmaster. »Die Fotoreihe besteht aus vier Aufnahmen, jede zeigt einen lebensgroßen Frauenakt mit einem perfekt glänzendem Leib vor weißem Hintergrund. Die Geschlechtsmerkmale der spindeldürren Frauen namens Pam, Kim, Joan und Britt sind ausradiert.«12 In vier Bildern zeigt Ines van Lamsweerde Frauenfiguren, die aus Teilen von Schaufensterpuppen und Menschenkörpern zusammengebaut sind. Dazu nutzt sie die dem Institut eigene Computertechnologie Paintbox, die zu jener Zeit kaum einem Künstler oder einer Privatperson zur Verfügung steht. Der Name Paintbox steht für Grafikcomputer der englischen Firma Quantel. Die Paintbox ist vom Markteintritt Mitte der 80er Jahre bis weit in die 90er sehr beliebt, wenn es um die professionelle Bildbearbeitung und das Composing von Bildern geht. Insbesondere die Kombination aus spezieller Hardware (Mehrtastenmaus »Ratte«, Grafiktablett, High-End-Monitor), spezialisierter Software (geschwindigkeitsoptimiert durch den Verzicht auf eine MultitaskingUmgebung, eine revolutionäre Benutzerfreundlichkeit ähnlich dem heutigen Dock unter Mac OS X) und einer großzügigen RAM-Ausstattung ermöglicht die Umsetzung völlig neuer Bildideen und Konzepte. Herausragende Möglichkeiten bieten sich durch das Morphen, das Verzerren von Bildern und das Texturieren von Oberflächen. Auch das schichtenweise Übereinanderlagern von Bildern und die ausgefeilten Farbanpassungen ermöglichen die Entstehung eines eigenständigen Paintbox-Looks, der als Novum besondere Aufmerksamkeit erregt. Dies hat unmittelbar zur Folge, dass insbesondere die Werbeindustrie die Möglichkeiten der Paintbox schnell aufgreift, um mit ihren Motiven mehr Exklusivität zu vermitteln (was bei den damaligen Preisen für Paintbox-Operating Systems auch kein Problem darstellte). Im Laufe der 90er Jahre imitiert das Programm Adobe Photoshop nach und nach viele Funktionen der Paintbox erfolgreich (übertrifft sie teilweise) und bietet gleichzeitig den Vorteil frei wählbarer Hardware und der offeneren Umgebung von Desktop-Betriebssystemen. Die Paintbox fristet seitdem nur noch ein Nischendasein. Quantel ist heute ein Hersteller von Hard- und SoftwareLösungen für Film und TV.

1994 Photoshop 3.0 (Power-PC-Unterstützung; u.a. Arbeit mit Ebenen, Paletten).

12  |  Quelle: www.medienkunstnetz.de/werke/thank-you-tighmaster/ Stand Abruf 12. 04.14

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Bilder können übereinander angelegt und damit auch besser ineinander collagiert werden. Analoge Signale können digitalisiert und als stilgebende Mittel (in historisierender Anmutung) mit der Praktik des Blendings in die Bildebenen eingerechnet werden (Staub, Kratzer, Film-Alterung, Schlieren). Zudem kann die Bearbeitungsebene von der Originalebene getrennt werden.

1995 Im Kunstverein Leipzig zeigt Heidi Specker zum ersten Mal die Serie: »Speckergruppen Bildings«. »Der Begriff ›Bildings‹ setzt sich aus ›Bild‹ und ›Buildings‹ zusammen und charakterisiert Speckers Arbeitsweise: Sie ist einerseits an der Herausforderung interessiert, die die analoge Photographie durch die Computertechnologie erfährt, und beschäftigt sich andererseits mit Bildgestaltungen von Baukörpern. Specker photographiert Gebäude oder bauliche Details, um diese anschließend einzuscannen und zu bearbeiten. Sie eliminiert Schatten und Tiefenwirkungen zugunsten einer flächigen Struktur, die den ornamentalen Charakter der architektonischen Form betont.«13 Dabei benutzt sie u.a. Photoshop-Filter (Weichzeichner, Anti-Staub/Kratzer Filter), die zu einer Reduktion der Informationen führen, aber zugleich die Struktur des Objekts auf ihren Photographien hervorheben.

1996 Fotografie nach der Fotografie (Katalog und Ausstellungstournee: Verlag der Kunst und Siemens Kulturprogramm); »Die Ausstellung konzentriert sich auf fotografische Bildstrategien des Computerzeitalters um die Themenkomplexe Körper, Raum, Identität, Authentizität, Erinnerung […] Portrait/Körper, Überwachung, Erinnerung/Zeugenschaft, Fälschung/Manipulation. Brisante Themen wie Bildzensur und Umgang mit pornografischer Fotografie in den Computernetzen werden ebenso bildlich reflektiert wie Voyeurismus in Bezug auf Gewalt in fotografischen Bildern oder das Ausüben von Gewalt durch Fotografie.« (aus dem Vorwort im Katalog). Insgesamt werden im Katalog die Arbeiten (Bilder/Texte) von 51 Künstlern vorgestellt. Photoshop 4.0 Einstellungsebenen (alle Farb- und Kontrastveränderungen können nun auf vom Hintergrundbild getrennten Ebenen vorgenommen werden).

13 | Quelle: www.medienkunstnetz.de/werke/speckergruppen-bildings/ Stand Abruf 12.04.14

3. Zeitstrahl

1997 Photoshop 5.0 (Undo-Funktion mit Historie, Farbmanagement, optimierte Auswahlfunktionen: »magnetisches Lasso«; es werden editierbare Texte im Bild möglich, Optimierungsmöglichkeiten für Bilder für das Internet u.a.). In der »Historie« können nun die aufgelisteten Bearbeitungsschritte nachvollzogen und gezielt rückgängig gemacht werden. Durch das optimierte Farbmanagement können die Bilder von der Monitoransicht bis hin zur Druckqualität besser kontrolliert werden. In diesem Jahr präsentiert das Rogaland Kunstmuseum in Stavanger (Norwegen) die Einzelausstellung Living Together von Vibeke Tandberg. Die norwegische Fotografin zeigt hier neue Selbstportraits mit einer von ihr selbst (virtuell) erschaffenen Zwillingsschwester. Sie fotografiert und montiert sich gedoppelt in verschiedenen Alltagssituationen: »zusammen« im Bad, beim Frühstück, beim Sonntagsausflug. Die Bilder sehen aus wie Schnappschüsse – intim und familiär. Umso melancholischer ihre Wirkung, wenn man um die manipulativen Praktiken der Künstlerin weiß. Es geht in dieser Arbeit um die Phantasie und Imagination von einer nicht existenten Familie. Tandberg versucht mit ihrer digitalen Operation keine Zukunftsvision zu entwerfen. Sie schafft neuartige Selbstportraits, die ihre eigene Vergangenheit und Gegenwart psychosozial untersuchen und darstellen, indem sie diese bildlich entstellen. 2003 arbeitet Tandberg an der Serie Undo. In dieser Serie von Selbstportraits dokumentiert sie ihren eigenen Körper in der Schwangerschaft. Die Bilder werden bei der Nachbearbeitung an verschiedenen Stellen digital verformt. Tandberg visualisiert damit die temporären Veränderungen ihres Körpers und den radikalen Wandel ihrer Lebenssituation. Die genaue Verformung von Körpern und Objekten wird mit dem Verflüssigungsfilter der Photoshop-Version 6.0 (2000) gerade erst ermöglicht. Personendoppelungen sind in der photochemischen Photographie durch Mehrfachbelichtung oder Montagen in der Dunkelkammer erzeugt worden. Sie wirken blass, »geisterhaft«, grob und lassen sich weniger genau und realitätsnah erstellen. Seit der Digitalisierung haben sich viele Künstler und Kreative verstärkt mit dem virtuellem Cloning beschäftigt. Eine ganze Reihe von entsprechenden Arbeiten wird später in der Publikation The Cindy Shermans: inszenierte Identitäten14 von Fritz Franz Vogel dokumentiert.

14  |  Vogel, Fritz Franz: The Cindy Shermans: inszenierte Identitäten. Fotogeschichten von 1840 bis 2005, Böhlau Verlag, Köln 2006

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1998 Am 27. September 1998 ist die Suchmaschine Google erstmals online. Der deutsche Künstler Peter Piller präsentiert in diesem Jahr erstmals seine Arbeiten im Heftformat des Materialverlags der Hochschule für Bildende Künste Hamburg. Seine ersten Bildsammlungen »3 Hefte/Autos berühren/ Regionales Leuchten/Überschattete Aufnahmen« werden vier Jahre später im Wiens Verlag Berlin publiziert. In den folgenden Jahren veröffentlicht er eine Reihe von photographischen Serien, deren Material er seinen zuvor erworbenen Bildarchiven entnimmt und dazu neu kontextualisiert. Zum Material seiner konzeptionellen Arbeit gehören historische Postkarten und Fotos aus dem Internet, aus Werkszeitungen, Zeitungs- und Luftbildarchiven.

1999 Der Fotograf und Filmemacher Charlie White präsentiert in einer Einzelausstellung In a matter of days (Andrea Rosen Gallery, NY) verschiedene hybride Fotografien, die analoge Aufnahmen mit digitalen Bildern dreidimensionaler Modelle in einem Motiv zusammenbringen. Bekannt wird er später mit der fiktiven Bildserie Understanding Joshua (2001)15, in der er einen alienhaften (»E.T.« ähnlichen) Dummy inszeniert. White experimentiert mit Interaktionen zwischen Puppe und Mensch. Auf den Fotografiken wirkt »Joshua« lebendiger als die cleanen amerikanischen Typen und Rollenmodelle von Mann und Frau, die White präsentiert. In unterschiedlichsten Szenarien, die sich in middleclass Interieurs abspielen, steht die Figur von Joshua für eine (männliche) existentielle Unsicherheit, die inmitten unbeseelter, oberflächlicher Zusammenkünfte lebendig wird. Cornelia Sollfrank lässt von vier Programmiererinnen eine Google-Bildcollagemaschine generieren und stellt sie in diesem Jahr online mit dem pointierten Motto auf der Einstiegsseite: »A clever artist makes the machine do the work«.16

2000 Digitalkameras werden seit den 2000er Jahren zunehmend in andere Geräte integriert (Mobiltelefone/Smartphones, Video-Camcorder) (siehe auch iPhone Photography 2010) 15  |  Interview mit Charlie White zu Understanding Joshua, Quelle: www.pbs.org/wnet/ egg/234/cwhite/interview_content_1.html/ Stand Abruf 12.04.14 16  |  Quelle: www.medienkunstnetz.de/werke/net-art-generator/ Stand Abruf 12.04.14

3. Zeitstrahl

Anlässlich einer gleichnamigen Ausstellung im Kunstverein Freiburg erscheint der Ausstellungskatalog: Unschärferelation – Fotografie als Dimension der Malerei. Die Heisenbergsche Unschärferelation oder Unbestimmtheitsrelation ist die Aussage der Quantenphysik, dass zwei Eigenschaften eines Teilchens nicht immer gleichzeitig beliebig genau messbar sind. Das bekannteste Beispiel für ein Paar solcher Eigenschaften sind Ort und Impuls. Die Unschärferelation ist dabei nicht die Folge von Unzulänglichkeiten eines entsprechenden Messvorgangs, sondern prinzipieller Natur. »Der Ausstellungstitel bezieht sich dabei einerseits auf die von Gerhard Richter diskutierte Unmöglichkeit unscharfer Malerei und die damit verbundenen Konsequenzen für eine malerisch angelegte Fotografie. Andererseits zielt dieser Begriff aber auch auf die strukturelle Unschärfe, der sich das Medium aussetzt, indem es seine eigene, mediale auf Schärfe angelegte Struktur mit der des Konkurrenzmediums Malerei kreuzt.«17 Ausstellung und Katalog präsentieren die Arbeiten von Joachim Brohm, Andreas Gursky, Hartmut Neumann, Walter Niedermayr, Simone Nieweg, Abigail O’Brien, Jörg Sasse, Heidi Specker, (e.) Twin Gabriel. Photoshop 6.0 (Vektorformen, Ebenenanzahl von 99 auf 8000 erhöht, Verflüssigungsfilter, Ebenenstile u.a.). Durch die Erhöhung der Ebenenanzahl können nun aufwendigere Collagen und Bildillustrationen aus vielen Bildelementen und Ebenen mit Gradations- und Farbeinstellungen generiert werden. Der Verflüssigungsfilter wird dazu benutzt, Bildelemente in verschiedene Richtungen zu bewegen und flexibel umzuformen. Diese Funktion wird im Mode- und Beauty-Bereich vorrangig dazu verwendet, Gesicht und Gliedmaßen schmaler zu formen oder Kleidung und Haaren mehr Volumen zu geben. Mit der Funktion »Ebenenstile« wird es möglich, der Überlagerung von Ebenen einen visuellen Charakter zuzuteilen (z.B. »Aufhellen«, »Negativ Multiplizieren« etc.). Damit werden Operationen des digitalen Blendings vielseitig anwendbar und die originalen Bildelemente unerkennbar miteinander verwoben. Die deutsche SPHERON-VR AG stellt eine Weltneuheit vor: die SpheroCam HDR. Das ist eine 32-Bit-Kamera, die ein volles, kugelförmiges Bild mit bis zu 26 Blendenstufen in einem einzelnen Scan aufnimmt und speichert. Das Produkt gilt als Pionierleistung in der High Dynamic Range-Bildgebungstechnologie. Ein High Dynamic Range Image (HDRI, HDR-Bild, »Bild mit hohem Dynamikumfang« oder Hochkontrastbild) ist ein digitales Bild, das die in der Natur vorkommenden großen Helligkeitsunterschiede detailgetreu speichern kann. HDR-Bilder können nicht nur mit den entsprechenden Spezialkameras, 17 | Ausstellungskatalog: Unschärferelation – Fotografie als Dimension der Malerei, hg. von Stephan Berg, Hatje Cantz Verlag, Ostfildern 2000, S. 7

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Fotokunst in Zeiten der Digitalisierung

sondern auch mit dem Programm Photoshop erstellt werden. Stilistisch kann damit ein digitaler »Hyperrealismus« erzeugt werden. Das hochqualitative Bildmaterial kann allerdings auch bei 3D-Anwendungen und Animationen weiterverarbeitet werden. In der kommerziellen CGI (Computer Generated Imagery) Produktion (z.B. Automobilwerbung) wird das Material vor allem als Hintergrundmaterial im 3D-Raum eingerechnet und mithilfe von Software-Parametern auf die integrierten Raumobjekte (z.B. Auto) gespiegelt. Nick Knight, der prominente britische Modefotograf und Fotografiker, gründet in diesem Jahr die Plattform SHOWstudio.com und agiert damit als Art Director vieler kooperativer Projekte mit bekannten Designern, Musikern und Performern. Bereits 1997 wird er mit seinen neuartigen hybriden Bildwelten bekannt. Dazu gehören Präsentationen von aufwendigen Bildcollagen (z.B. Serie War) und die Cyborg Portraits von Devon und Björk. 1999 veröffentlicht er die Bildserie Sister Honey. Dafür fotografiert er erotische Szenen, die dann durch digitale Nachbearbeitung unkenntlich gemacht werden. Er bearbeitet die Aufnahmen mit starken digitalen Weichzeichnern, so dass sie schließlich wie mit Wasserfarben gemalte Aquarelle aussehen. Diese Bilder mögen eine Inspirationsquelle für Thomas Ruffs Nudes (siehe 2003) gewesen sein. Phaidon Press publiziert den Bildband: The Impossible Image. Vorgestellt werden phantastische, hybride Bildkonzeptionen von neun international erfolgreichen Modefotografikern (Nick Knight, Solve Sundsbo, Phil Poynter, Norbert Schoerner, Mario Testino, David Lachapelle, Inez van Lamsweerde, Guido Mocafico Steven Meisel). »Their work is incredible, revolutionary even, but they’re unmade commitment to producing art, rather than fashion photographs, comes down to the very real fact that one profession will make them rich, and the other just barely pays the rent. […] Digital image manipulation is now so sophisticated that you wonder why any model needs to be in standard shape. […] To really stand out, a girl has to sport a gash in her forehead, antelope horns in her shoulders or get herself modified into an S&M coffee table.« (online review 18)

2001 Gründung der Plattform Wikipedia; (»Das Ziel der Wikipedia ist der Auf bau einer Enzyklopädie durch freiwillige und ehrenamtliche Autoren. Der Name Wikipedia setzt sich zusammen aus Wiki (entstanden aus wiki, dem hawaiischen Wort für ›schnell‹), und encyclopedia, dem englischen Wort für ›En18  |  Quelle: www.peterrent z.com/webarchive/impossibleimage/print.html/ Stand Abruf 12.04.14

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zyklopädie‹. Ein Wiki ist ein Webangebot, dessen Seiten jeder leicht und ohne technische Vorkenntnisse direkt im Webbrowser bearbeiten kann.«19) Das internationale Festival transmediale, das aus einem Videofestival hervorgegangen ist, strukturiert sich im Jahr 2001 neu: Es zieht um in größere Räumlichkeiten (Haus der Kulturen der Welt, Berlin) und arbeitet mit wechselnden Schwerpunktthemen (transmediale.01: Do it Yourself !). Inzwischen umfasst das Festival ein weites Spektrum multimedialer Kunstformen. Gelegentlich werden auch fotografische Arbeiten ausstellungsthematisch einbezogen.

2002 »Es wird angenommen, dass es der Menschheit im Jahr 2002 das erste Mal möglich war, mehr Informationen digital als im Analogformat zu speichern […], was deshalb als der Beginn des ›Digitalen Zeitalters‹ gesehen werden kann. Die fast vollständige Digitalisierung der weltweit gespeicherten Informationsmenge vollzog sich in weniger als 10 Jahren, während des Jahrzehnts um die Millenniumswende. Es wird geschätzt, dass im Jahr 1993 lediglich 3 % der weltweiten Informationsspeicherkapazität digital war, während es 2007 bereits 94 % war.«20 »Kyocera [Konzern Kyoto/Japan] stellt erstmals eine digitale Spiegelreflexkamera (engl. digital single Lens Reflex, DSLR) mit einem Sensor in voller Kleinbildgröße (Contax N Digital) vor. Inzwischen gibt es eine unüberschaubare Fülle an Modellen in allen Preisklassen und Ausstattungsstufen.«21 Photoshop 7.0 (Texte im Bild sind nun vollkommen vektorisiert modifizierbar; Camera Raw Einstellungen zur Entwicklung von Raw-Daten der Digitalkamera; neue Tools: z.B. Healing Brush). Der Healing Brush macht es möglich, dass abgebildeter Staub (von Kamerachip oder Scanner) und »Flecken« entsprechend dem Verlauf von Licht/Schatten und der Struktur des Originals entfernt bzw. durch eine Errechnung der Bildumgebung ersetzt werden können. Die Funktion wird unter anderem bei der Beautyretusche verwendet, um die Haut von »Unreinheiten« zu befreien und um eine gleichmäßig cleane Struktur (digitale Haut) herzustellen.

19  |  Quelle: http://de.wikipedia.org/wiki/Wikipedia: Über_Wikipedia/ Stand Abruf 12. 05.14 20  |  Quelle: http://de.wikipedia.org/wiki/Digitale_Revolution/ Stand Abruf 12.04.14 21  |  Quelle: http://de.wikipedia.org/wiki/Digitalkamera/ Stand Abruf 12.04.14

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2003 Photoshop 8.0, CS1 (Neue Effekte und Filtergalerien sind verfügbar; Ebenen können in Ordnern gruppiert werden; Ebenenkompositionen u.a.). 2003 veröffentlicht Thomas Ruff den Foto-Band Nudes mit einem Text des französischen Schriftstellers Michel Houellebecq. Ruffs sammelt Pornobilder aus dem Internet, die er mit Hilfe elektronischer Bildbearbeitung verfremdet. Er verwendet dazu hauptsächlich Filter, die Bewegungsunschärfen erstellen. Dabei geht die grobe Pixel-Struktur der Webbilder, die zumeist eine kleine Bildauflösung aufweisen, verloren. Später (2009) stellt er in dem Buch Jpgs eine neue Sammlung von Webbildern vor, die gerade durch ihre spezifische Qualität der geringen Auflösung, durch ihre Rasterung in eine grobe Pixelstruktur wirken, indem er sie vergrößert auf Papier ausdruckt. »Alles begann mit dem 11. September 2001. Als Augenzeuge des New Yorker Terrorangriffs brachte Ruff aufgrund einer defekten Kamera nur unbelichtete Negative mit nach Hause. Als er im Internet nach WTC-Fotos suchte, fand er die bildzersetzenden Störphänomene in jpeg-Dateien ästhetisch interessant. Zunächst waren die Exponate also von Katastrophen dominiert: dem Crash der Doppeltürme, Vulkanausbrüchen, Atompilzen. Für den Künstler sind es Bilder voller Ambivalenz, Anblicke, die er als ›furchtbar schön‹ bezeichnet.«22, nicht unähnlich den Äußerungen der Futuristen zu Gefechtsereignissen im ersten Weltkrieg. Die amerikanische Schauspielerin Kate Winslet fällt 2003 mit ihrem Protest gegen die Postproduktion eines Shootings für das GQ Magazine (UK) aus der Reihe und gewinnt ihren Gerichtsprozess gegen die Manipulation ihrer Bilder im Sinne der Persönlichkeitsrechte: »I actually have a Polaroid that the photographer gave me on the day of the shoot… I can tell you they’ve reduced the size of my legs by about a third. For my money it looks pretty good the way it was taken.« (Adobe Photoshop News 03.04.05) »GQ editor Dylan Jones said the 27-year-old Titanic actress had approved the photographs, but that they had been ›digitally altered‹. Winslet’s agent told BBC News Online the star approved the original photos – but was not consulted about the digital changes. ›She has done many magazine covers and knows that once you’ve done the photos it is out of her control,‹ said her agent. ›Once you shoot them, the magazine has them and can do what they will with them, and the actor is really not part of that approval process‹.« (BBC News 9. Januar 2003)

22  |  Quelle: www.artnet.de/magazine/thomas-ruff-in-der-johnen-galerie-berlin/ Stand Abruf 12.04.14

3. Zeitstrahl

2004 In diesem Jahr stellt Jörg Sasse erstmals seine »Skizzen« vor: eigene bearbeitete Aufnahmen in kleineren Formaten. »Die aus Skizzen entstehenden Arbeiten bezeichnet er als Tableaus, sie bilden seit den 90er Jahren den Schwerpunkt seines Werkes. Es handelt sich um großformatige Bilder, die teilweise stark [digital] verfremdet sind und sich von einer Auseinandersetzung mit dem Alltag entfernen. Sie zeichnen sich aus durch eine Art malerische Komponente.«23

2005 Die Merz Akademie (Hochschule für Gestaltung, Stuttgart) publiziert in der »Reihe Projektiv« den Fotoband: .tif – Einflüsse Neuer Medien auf zeitgenössische Fotokunst. Die Autoren analysieren die Arbeiten von zwölf internationalen Fotokünstlern unter drei thematisch aufeinanderfolgenden Begriffen: »Remediation« (Cindy Sherman, John Hillard, Chip Lord, Michael Brodsky, Thomas Ruff, Natascha Merrit). »Mutation« (Nancy Burson, Joan Fontcuberta, Keith Cottingham). »Synästhesie« (Miwa Yanagi, Mariko Mori, Theresa Hubbard/Alexander Birchler). »Zwischen Wirklichkeit und Bild: Positionen deutscher Fotografie der Gegenwart« heißt eine Ausstellung des National Museum of Modern Art in Tokyo, auf der auch computergenerierte Landschaftscollagen ausgestellt werden, die sich hierbei als »Photographien« ausgeben. In ihrer ersten Serie »LS« (Abkürzung für Landschaft) rekonstruiert Beate Gütschow Landschaftsdarstellungen der Malerei des 17. und 18. Jahrhunderts mit den Mitteln der digitalen Montage. Am Rechner montiert sie aus vielen fotografischen Fragmenten hybride Bilder, die den Gestaltungsprinzipien der idealen Landschaft folgen. AGFA (seit 1867) meldet Insolvenz an. Laut Presseberichten ist dem Film- und Fotopapierhersteller der Boom der Digitalfotografie und der damit verbundene Preisverfall im Filmbereich sowie die unzureichende Liquiditätsausstattung des übertragenen Geschäftsbereichs zum Verhängnis geworden. Agfa war über Jahrzehnte einer der größten europäischen Hersteller von fotografischen Filmen und Laborausrüstungen (weltweit führend: Kodak und Fujifilm). Für den Massenmarkt werden auch Kameras und Diaprojektoren hergestellt. Die Unternehmen der heutigen Agfa-Gevaert-Gruppe konzentrieren sich auf Produktbereiche jenseits der Photographie (Graphics, Materials, Health Care).

23  |  Quelle: http://de.wikipedia.org/wiki/Jörg_Sasse/ Stand Abruf 12.04.14

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Fotokunst in Zeiten der Digitalisierung

Die Postproduktionsfirma Zerone gründet zerone-CGI.com mit zwei weiteren Büros in Düsseldorf und New York. Das Unternehmen spezialisiert sich im wesentlichen auf Automobil-Kampagnen die 3D-Modelle integrieren. Zerone kooperiert mit weiteren Firmen, die sowohl 3D-Rekonstruktionen liefern als auch HDR-Is (High Dynamic Range Images), um diese als Bildhintergründe einzubauen. CGIs (Computer Generated Images) haben insbesondere in der Automobil-Werbung die analoge Photographie ersetzt und die Rolle des Photographen in diesem Bereich relativiert. Dieser wird nurmehr beauftragt, Bildteile und Texturen als Material zur Bildillustration zu liefern, sofern sie nicht von einer Bildagentur angekauft werden können. Die Werbeindustrie profitiert davon, eine Kampagne noch vor der Produktion von Prototypen rein digital entwickeln zu können. Man erspart sich u.a. Transportkosten zu den Aufnahmeorten und verhindert eine mögliche Spionageaktion durch »Auto-Paparazzis«. Erste CGI-Effekte tauchen bereits 1977 in Star Wars auf (computererzeugte Animation des »Todessterns«). Weltweit bekannt wurden CGI-Effekte durch Filme wie Terminator II (1981) und Jurassic Park (1993). Unter Anwendung der 3D Software 3DStudio wird Thomas Ruff im Jahre 2013 seine neue Bildserie photograms24 in Anlehnung an analoge Photogramme synthetisch generieren. Photoshop 9.0, CS2 (u.a. editierbare, graphische Benutzeroberfläche; HDRISupport: 16- und 32-Bit-Daten können geöffnet und modifiziert werden; Verkrümmen (Warp) und Fluchtpunkt-Werkzeug, Linsenkorrektur, Selektives Scharfzeichnen, Veränderte Ebenenhandhabung, erste Version, in der mehrere Ebenen gleichzeitig ausgewählt werden können).

2006 Gründung der Enthüllungsplattform Wikileaks; das Projekt gibt an, denen zur Seite stehen zu wollen, »die unethisches Verhalten in ihren eigenen Regierungen und Unternehmen enthüllen wollen«. Dazu wurde nach eigenen Angaben ein System »für die massenweise und nicht auf den Absender zurückzuführende Veröffentlichung von geheimen Informationen und Analysen« geschaffen.25 (siehe auch Wikipedia-Eintrag) Photoshop 10.0, CS3 (optimierter Umgang mit Kurven, mit dem Fluchtpunkt, Kanalmixer, Helligkeit, Kontrast- und Druckdialog; der Schwarzweiß-Funktion wurden weitere Einstellungsmöglichkeiten hinzugefügt; neue Auto-Far-

24  |  Ausstellung David Zwirner: Thomas Ruff, photograms and m.a.r.s., New York 2013, Quelle: www.davidzwirner.com/exhibition/thomas-ruff-9/ Stand Abruf 12.04.14 25  |  Quelle: http://de.wikipedia.org/wiki/WikiLeaks/ Stand Abruf 09.01.2015

3. Zeitstrahl

ben/Farbton/Kontrast-Funktionen; Optimierung der Klon- und »Heilungsfunktionen« (Healing Brush) u.a.). Das im Jahre 2001 gegründete Unternehmen Keyhole Corp. entwickelt eine neue Software unter dem Namen Keyhole. 2004 kauft Google Inc. das Unternehmen und benennt die Software in Google Earth um. Die Portierung auf Mac OS X wird im Januar 2006, die Linux-Portierung im Juni 2006 veröffentlicht. Google Earth ist eine in der Grundform unentgeltliche Software der Google Inc. und stellt einen virtuellen Globus dar. Sie kann Satelliten- und Luftbilder unterschiedlicher Auflösung mit Geodaten überlagern und auf einem digitalen Höhenmodell der Erde zeigen. Neben der einfachen Navigation auf dem virtuellen Globus sind noch eine Suchfunktion und ein Messwerkzeug integriert. Über ein Auswahlmenü lassen sich die unterschiedlichsten Kartenschichten ein- und ausblenden und eigene Punktkoordinaten abspeichern. Mit der Version 4.0.2735 unterstützt das Programm die Darstellung von Texturen auf 3D-Modellen. Neben Google Earth entwickelt das Unternehmen zusätzlich Google Ocean, Google Sky, Google Moon, Google Mars (zukünftig Google Street View). (siehe auch 2010 Google Earth/A. Gursky; Google Street View/D. Rickard)

2007 Während einer Auktion bei Sotheby’s wird das fotografische Motiv eines Cowboys von Richard Prince für 3,4 Millionen US-Dollar versteigert. Das 2001/2002 entstandene Bild gehört zu einer Serie, die aus reproduzierten Ausschnitten von Werbeanzeigen der Firma Marlboro besteht. Prince erhöht die Körnigkeit mit Hilfe digitaler Filter, verändert die Farbe und vergrößert die Bilder (in diesem Fall auf 2,5×1,5 Meter). Der Cowboy von Prince bricht den Rekord des deutschen Fotografikers Andreas Gursky für das teuerste Foto der Welt mit seiner Montage 99 Cent II Diptychon, das nur wenige Monate zuvor für 3,34 Millionen Dollar versteigert wurde. Das Motiv ist typisch für Gurskys manipulative Praktik mit der Fotografie. Gezeigt werden endlose Supermarktregale, repräsentativ für einen globalen Warenüberfluss in einer seelenlosen Konsumgesellschaft. Der Raum wirkt »leer« trotz der Fülle an Produkten und der integrierten Bildelemente von Personen zwischen den Regalen. Es fehlt an sozialer Interaktion. Es fehlt ein zentraler Fokuspunkt oder Bildgegenstand. Es entsteht ein Mangel an Dramaturgie im Bildauf bau (»goldener Schnitt«). Alle Details scheinen gleich bedeutend bzw. gleichermaßen unbedeutend in einer sich wiederholenden Reihung angeordnet, digital gedoppelt. Die Konstruktion als Diptychon spielt auf die Tradition der zweiflügeligen Altarbilder an. Gursky konstruiert die Kathedrale des globalen Marktes im hellen Schein des Warenüberflusses.

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Fotokunst in Zeiten der Digitalisierung

2008 Im Sommer 2008 findet das erste internationale FotoBookFestival in Kassel statt. »Ist das Fotobuch heute noch ein demokratisches Medium? – mit dieser Frage eröffnet Dr. Thomas Wiegand die Podiumsdiskussion, die mit Martin Parr, John Gossage, Cuni Janssen, Wolfgang Vollmer, Dr. Christoph Schaden, Markus Hartmann und Prof. Gabriele Götz prominent besetzt ist. Parr, dessen Buch [The Photobook: A History] mittlerweile als Kanon gilt, plädiert überraschend dafür, Listen und Art-Classics zu ignorieren und sich eine Sammlung nach eigenem Interesse aufzubauen.«26 Photoshop 11.0, CS4 (die »Intelligente Skalierung« ermöglicht inhaltssensitiv zu skalieren, wichtige Bildbestandteile bleiben unverändert erhalten; 3DFunktionen werden erweitert; so wird es möglich, direkt auf 3D-Objekten zu zeichnen oder animierte 3D-Szenen zu erstellen; weiter wird es möglich bei vergrößerter Ansicht über den Bildrand hinaus zu arbeiten u.a.).

2009 Suns from Flickr heißt ein Projekt der amerikanischen Künstlerin Penelope Umbrico, das 2009 erstmals auf der Pulse-Art Fair New York vorgestellt wird. Die Bildinstallation zeigt 2000 Digitalprints eines Archivs, das die Künstlerin von Sonnenmotiven erstellte, die sie auf der online-Plattform der Foto-Community Flickr (Yahoo-Projekt von 2004) finden und sammeln konnte.

2010 Photoshop 12.0, CS5 (u.a. optimiertes Auswahlwerkzeug; inhaltssensitives Füllen, Bereichsreparatur und Objektivkorrektur/Linsenverzerrungen/Vignettierung; verbesserte Performance, HDR-Funktionen, Camera Raw 6 (optimierte Rendering-Engine, Rauschreduzierung, Objektivkorrektur, Effekte), Puppet-Warp (Formgitter), optimierte Maleffekte, Integration von Mini Bridge und CS Live, Verbesserte 3D-Darstellung (Schatten, Lichteffekte, Materialdarstellung). Diese Version von Photoshop ermöglicht es, dass Objekte und Bildelemente anhand optimierter Tools schneller und detaillierter angewählt und Elemente mit einem »inhaltssensitiven Füllwerkzeug« durch danebenstehende Flächen ersetzt werden können. Die Puppet-Warp-Funktion erlaubt es, die Gliedmaßen von Figuren zu bewegen.

26 | Quelle: http://2010.fotobookfestival.org/wp-content/themes/fbf2/library/down loads/Festivalreport2008.pdf/ Stand Abruf 12.04.14

3. Zeitstrahl

X für U – Bilder, die lügen heißt eine Wanderausstellung (1998-2010) der Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland in Kooperation mit der Bundeszentrale für politische Bildung. Idee und Konzept stammen von Jürgen Reiche. Die Ausstellung thematisiert die Objektivität von Bildern und zeigt Grundmuster der Manipulation von und mit Bildern. In einem »LügenABC« veranschaulichen rund 300 Objekte die Bandbreite des Themas. Der Name der Ausstellung spielt auf die Redewendung »Jemandem ein X für ein U vormachen« an.27 Zum ersten Mal in der Geschichte des World Press Photo Award steht in der Liste der Gewinner 2010 unter Sport Features beim dritten Preisträger nur Disqualified. Dem ukrainischen Fotografen Stephan Rudik wird der Preis aberkannt, da er Elemente der Originalfotos entfernte. Auf Anfrage müssen die Photojournalisten nun Raw-Daten einschicken und untersuchen lassen. Im Falle Rudik ist der Unterschied zwischen Originaldaten und eingereichten Arbeiten besonders groß und auffällig. Rudik entfernt sich überschneidende Bildelemente, wählt stark verkleinerte Ausschnitte, konvertiert seine Bilder in Schwarz-Weiß und generiert per Filter ein grobes Filmkorn. Er simuliert zuletzt eine dunkle Vignettierung, wie sie gelegentlich von Kameraobjektiven minderer Qualität erzeugt wird oder bei bestimmten Weitwinkel-Einstellungen entstehen kann. Der WPP Award muss als Vertreter »journalistischer Wahrheit« das Entfernen von Bildelementen als Ausschlusskriterium anwenden. »During an embed with the 3rd Battalion, 6th Marines, in February 2010, Associate Press photographer David Guttenfelder used his iPhone to make images of the battle for Marjah in Afghanistan’s Helmand province. ›I was on assignment for the Associated Press, so my priority was photographing hard news, but I also had my iPhone with me. I used it with the application ShakeItPhoto, which gives the image the look and feel of a Polaroid photo. Afghanistan, the front lines of a war, is one of the few remaining places that the public, with its consumer camera phones, does not go. […] I wanted to make some pictures that had the look or mood of the keepsake shots that the Marines take themselves. I’ve noticed that the new generation of Marines and soldiers take a lot of photos and videos, even when they are in combat situations. Most use phones or point-and-shoot cameras and make gritty keepsake pictures to remember what their lives were like on the deployment and to post or show their friends and family back at home. […] People who might normally ignore coverage of Afghanistan or ignore traditional photos from the war,‹ Guttenfelder observes, ›paid attention to these iPhone pictures because they use similar cameras every day to doc-

27 | Quelle: http://de.wikipedia.org/wiki/X_für_U_–_Bilder,_die_lügen/ Stand Abruf 12.04.14

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Fotokunst in Zeiten der Digitalisierung

ument their own lives. As a result, they were drawn into the story by these photos, a connection was made, and the photos got a lot of attention.‹«28 The Digital Eye, Photographic Art in the Electronic Age (Prestel Verlag) heißt eine zusammenfassende Publikation zur Entwicklung digitaler Fotokunst von den Anfängen der 1980er Jahre bis 2010. Die amerikanische Kunsthistorikerin und Kuratorin Sylvia Wolf stellt ein breites Spektrum zeitgenössischer Werke von rund 80 Künstlern vor. Unter Nutzung von Google Street View erforscht der Soziologe und Historiker Doug Rickard die amerikanischen Suburbs und erstellt seine Bilder per Tastenkombination. Eine Auswahl der so entstandenen Bildschirmfotos präsentiert er in seinem Buch A New American Picture, White Press 2010; in den dazu publizierten Verkaufstexten ist zu lesen: »As Geoff Dyer has commented on the work, ›It was William Eggleston who coined the phrase ›photographing democratically‹ but Rickard has used Google’s indiscriminate omniscience to radically extend this enterprise-technologically, politically and aesthetically.‹« Neben Rickards experimentieren zeitgleich weitere Fotokünstler mit Google Street View (Michael Wolf: A Series of Unfortunate Events, Peperoni Books 2010; Viktoria Binschtok: World of Details, Klemm’s Showroom Berlin 2011) Gursky interpretiert Google Earth, Zeit-Magazin 18/201029 »Wie viele Arbeiten von Andreas Gursky verdankt sich auch die neue, sechsteilige Serie Ocean I-VI einem spontanen Seherlebnis. Auf einem Nachtflug von Dubai nach Melbourne, so erzählt der Künstler, habe er längere Zeit auf den Flugmonitor gestarrt: das Horn von Afrika weit links, einen Zipfel Australiens weit rechts – und dazwischen die blaue Leere. Mit einem Mal habe er die grafische Darstellung als Bild wahrgenommen. Der Weg vom Diagramm zu den großformatigen Fotoarbeiten gestaltet sich aufwendig. Gursky verwendet hochauflösendes Satelliten-Material und ergänzt es mit diversen Bildquellen aus dem Internet. Die Satelliten-Fotos beschränken sich jedoch auf die Wiedergabe scharf umrissener Landmassen. Daher müssen die Übergangszonen zwischen Land und Wasser wie die Weltmeere selbst vollständig künstlich generiert werden; und da sie den weitaus größten Anteil in den Arbeiten ausmachen, ist ein gigantisches Projekt entstanden, nur vergleichbar mit dem Aufwand, den Gursky bei der Serie ›F1 Boxenstopp‹ (2007) walten lässt. Dass all diese Ausschnitte nichts desto weniger den Eindruck realer Meerestiefen ver28 | Quelle: http://lightbox.time.com/2010/12/29/photojournalism-at-the-cross roads-2-david-guttenfelders-iPhone-photography/#1/ Stand Abruf 12.04.14 29  |  Quelle: www.zeit.de/2010/18/Atelierbesuch-Andreas-Gursky/ Stand Abruf 12.04. 14

3. Zeitstrahl

mitteln, ist Gurskys bildnerischer Präzision geschuldet. So orientiert er sich an Untiefe-Karten um die Meeresoberflächen farbig auszudifferenzieren. Auf den zweiten Blick erkennt man, dass Gurskys Bildinteresse nicht etwa kartografisch motiviert ist. Die Distanzen zwischen den Kontinenten folgen nicht einem systematischen Programm, wie es zum Beispiel Google Earth bietet, sondern sind nach kompositorischen Gesichtspunkten leicht verkürzt oder gedehnt. Vor allem aber rücken Gurskys Arbeiten ins Zentrum, was die Kartografie nur schematisch und am Rande behandelt, weil es ökonomisch kaum nutzbar ist: das Meer. In nachtblaue Farben getaucht, die sich deutlich von den Farben kartografischer Meeresdarstellungen abheben, verleiht Gursky seinen Ozeanen eine Dimension des Erhabenen, die sich sonst nur in den Meeresdarstellungen der Malerei finden lässt. […] Indem er das Formlose und Unfassbare der Ozeane in den Bildmittelpunkt rückt, von den Kontinenten aber nur Ränder und Bruchstücke sehen lässt, geht Gursky über die Darstellung des Kosmos als einer gefügten Ordnung hinaus – aus der Mitte heraus erwächst eine unbestimmte, namenlose Bedrohung. Damit spricht der Künstler ein sehr gegenwärtiges Lebensgefühl an: nämlich das Gefühl der Aussichtslosigkeit, angesichts der fortschreitenden Zerstörung der Natur durch den Menschen jemals wieder die alte Ordnung des Kosmos herstellen zu können.«30

3.3 N achtr ag 2010-2015 2011 gründet Michael Mack von Mack Books (Independend Publishing House) zusammen mit John Koh (Antiquariat und Unternehmer) die online-Plattform MAPP. In Zusammenarbeit mit international bekannten Künstlern, Sammlern und Kuratoren werden besonders wertvolle Künstlerbücher und seltene Papierversuche, Illustrationen und Publikationen mit der Fotografie digital erhältlich. Zu den ersten Fotobuch Applications gehört auch The Pencil of Nature von W. H. F. Talbot (1844). 2012 findet die documenta 13 statt, bei der von 187 Künstlern nur eine Künstlerin eine rein photographische Arbeit in Form von gerahmten Papierbildern an der Wand vorstellen kann (Zanele Muholi: Mapping Our Histories: A Visual History of Black Lesbians in Post-apartheid South Africa 2009). Photoshop 13.0, CS6 Diese neue Version (2012) zeichnet sich vor allem durch Arbeitszeit-Effizienz aus. Es wird u.a. möglich, aufgerufene Bilddaten »im 30  |  Quelle: www.art-report.com/de/events/andreas-gursky/ Stand Abruf 12.04.14

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Fotokunst in Zeiten der Digitalisierung

Hintergrund« zu speichern und gleichzeitig an anderen Bildern weiterzuarbeiten. Es geht keine zusätzliche Arbeitszeit durch die Speicherung der Daten verloren. Beim Absturz der Software können Daten wiederhergestellt werden, die durch den Abbruch des Programms unerwartet geschlossen wurden. Neue Plug-ins unterstützen zusätzliche digitale Kameraformate. Kim Asendorf zeigt in einer Dokumentation auf ARTE31 (2013), wie er eine digitale Kamera elektromagnetisch beeinflusst, um sie zur Produktion von Störungsbildern (Glitch Art) zu bewegen und am Ende eigene Dateiformate zu kreieren. »Mir war es auch wichtig, ein Dateiformat als Kunstwerk zu erzeugen. Man könnte es vergleichen mit einem Maler, der seine Leinwand selber baut.« Dazu nutzt Asendorf weitere Programmieranwendungen, die in ihrer ästhetischen Fülle auf seiner eigenen Webseite32 sichtbar werden und mit vielen weiteren links auf Glitch Art Events weltweit verweisen. Die Universität Hamburg veranstaltet im Sommer 2013 eine internationale Tagung zur Postdigitalität33. Es referieren zwölf Wissenschaftler und Künstler zu neuartigen kreativen Strategien, die im Laufe der Diskussion als »postdigitale Phänomene« verhandelt werden sollen. 2013 wird das Wort Selfie als Wort des Jahres bestimmt. »Ein Selfie ist eines dieser Bilder, wobei die Kamera auf sich selbst gerichtet ist.« (Jim Krause: Photo Idea Index, 2005, S. 148). Während das frühe Selbstportrait (Dürer) der Entdeckung des Selbst und des Menschen als Individualität diente, wird das Selfie heute als kommunikative Praxis eingesetzt, die vor allem auf virtuellen Portalen wie Facebook die Summe von Likes generiert, wodurch sich das Selbst einer direkten Bewertung seitens der virtuellen Gemeinschaft aussetzt. Als Hashtags (Meta-Kommentierung) gelten After-Sex-Selfies, Rache-Porno-Selfies, After-Funeral-Selfies etc.34 2013 Pressemeldungen über Insolvenzverfahren der Firma Kodak (Gründung 1892). 31  |  Quelle: www.arte.tv/de/glitch/7524184,CmC=7503936.html/ Stand Abruf 12.04. 14, Quelle: http://creative.arte.tv/de/magazin/kim-asendorf-erklaert-das-dateiformatzum-kunstwerk/ Stand Abruf 12.04.14 32  |  Quelle: http://kimasendorf.com/ Stand Abruf 12.04.14 33  |  Quelle: http://postdigital-film.de/ Stand Abruf 12.04.14 34 | Beitrag über das Selfie Phänomen: www.ardmediathek.de/bayern-2/zuendfunkgenerator-bayern-2?documentId=21141352/  Stand Abruf 19.05.14, Webseiten-Beispiele: http://selfiesatfunerals.tumblr.com/; http://selfiesatseriousplaces.tumblr.com/etc.;/ Stand Abruf 19.05.14

3. Zeitstrahl

Pressetext transmediale 2014: »The digital revolution was a dinner party but its afterglow is not«. Die utopischen Versprechen hochauflösender audiovisueller Daten, elektronischer Echtzeit-Kommunikation und unendlicher Speichermöglichkeiten sind ins Wanken geraten. Zwischen Hightech-Glanz, Elektroschrottplätzen, Big Data-Firmen und Überwachungssystemen: Unter dem Titel afterglow erkundete die 27. transmediale, wie in der postdigitalen Gegenwart einstige Schätze des mediatisierten Lebens zu Müll werden. Trash oder Treasure? Internationale Denker und Kulturproduzenten beschäftigten sich mit dem gegenwärtigen ambivalenten Zustand der digitalen Kultur, in dem Medientechnologien sowohl Alltag als auch physische und immaterielle Abfallprodukte geworden sind. transmediale 2014 begriff den afterglow des Digitalen als Chance, drängende aktuelle Themen zu behandeln und neue spekulative Praktiken zu entwickeln.35 Mit der Einführung der Adobe Creative Cloud 2014 beginnt ein neuer Prozess der schleichenden Enteignung des Arbeitsplatzes von Selbstständigen durch die Digitalindustrie. Ab sofort soll erst mit der Zahlung einer monatlichen oder jährlichen Miete und mit der Freischaltung eines Lizenzschlüssels die Software funktionsfähig werden. Wenn die Zahlung nicht erfolgt, wird die Software abgemeldet und der eigene Arbeitsplatz somit funktionsunfähig. Zuvor war es Standard, jede erworbene Software bis zum Ende der eigenen Hardware weiterlaufen zu lassen.

35  |  Quelle: www.transmediale.de/de/past/2014/ Stand Abruf 21.03.15

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4. Künstlerische Strategien im Kontext der Digitalisierung 1990-2010

4.1 E inführung /E pochale S chrit te Die Erfindung der Photographie war in ihrer Anfangszeit ein ziviles Projekt – ganz im Gegensatz zum ARPANET1, das im Auftrag der US-Luftwaffe am MIT entwickelt wurde und als Vorläufer des Internets gilt. Den frühen Erfindern der photochemischen Photographie (Niépce: Lithograph, Daguerre: Diorama-Schaubühnenbetreiber) ging es darum, die Bilder der Camera Obscura auf realen Medien fixieren zu können. Die Camera Obscura wurde zum ersten Mal von Leonardo da Vinci als Verfahren zur Herstellung von Bildern eingesetzt. 1685 erweiterte Johann Zahn, ein deutscher Philosoph, Optiker und Erfinder die Technik der Camera Obscura und entwarf einen mit Spiegel und Linse versehenen transportablen Kasten, der als Hilfsapparat zur Erstellung von Zeichnungen dienen sollte. Es ging darum, Bilder von Objekten der Lebenswelt (Stillleben), von vertrauten oder bekannten Personen (Portraits) sowie Ansichten von Landschaften und Städten zu erstellen und sie für immer festhalten und fixieren zu können. Über lange Zeit scheiterten die Versuche, das so eingefangene Bild mit sensiblen Chemikalien zu fixieren. Chemiker und Künstler arbeiteten noch nicht zusammen, obgleich geeignete Chemikalien schon bekannt waren und in anderen Zusammenhängen Anwendung fanden. Bildermacher und Lithographen experimentierten unabhängig voneinander weiter an ihrem Projekt, direkte Naturaufzeichnungen technisch realisieren zu können und damit die Photographie aus der Taufe zu heben, so wie sie 1839 an der Akademie der Wissenschaften in Paris als BildAufzeichnungsverfahren der Welt bekannt gegeben wurde2 . Zur gleichen Zeit, als es den französischen Entwicklern gelang, die ersten Photographien mit einer Kochsalzlösung auf versilberten Kupferplatten zu fixieren, konnte auch

1  |  Quelle: http://de.wikipedia.org/wiki/Arpanet/ Stand Abruf 18.04.14 2  |  Baatz, Willfried: Geschichte der Fotografie, DuMont, Köln 1997, S. 22

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Fotokunst in Zeiten der Digitalisierung

William Henry Fox Talbot in England erste Papierbelichtungen von Pflanzenblättern (Photogramme) erstellen. Besonders in den Anfängen der Photographie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurden alle Aufnahmen – selbst die Fehlbelichtungen – und alle Phasen der Materialentwicklung fasziniert beobachtet und bestaunt. Nicht selten wurden die »Erscheinungen« gar als »übernatürliche, magische Phänomene« gedeutet.3 Phototheorien titulierten und studierten die analogen Bilder als »Bruchstücke der Welt«, als »Spiegelbilder«, als Memento Mori (lat. Gedenke des Todes). Eine dem Dokument innewohnende Wahrheit wurde anhand des photographischen Bildes beschworen und im Zusammenhang mit dem Standpunkt des Operators (Referenz) und seiner Blickrichtung (Perspektive) wiederholt diskutiert. Eine Vielzahl an fototheoretischen Diskursen sollte darauf folgen; sie wird in den vier Bänden »Theorie der Fotografie« von Wolfgang Kemp und Hubertus v. Amelunxen exemplarisch vorgeführt und zusammengefasst. In dieser Forschungsarbeit werden vor allem zwei herausragende Positionen – mit Barthes zum Materialabdruck und mit Flusser zum synthetischen Bild – in einen zugespitzten Dialog gestellt, um die fotografischen Bildwerke im Zugzwang der technologischen Entwicklung in einer Übergangsphase (Zeitleiste 1990-2010) zu analysieren. Mit dem Eintritt in die nächste – sogenannte postdigitale – Phase droht diese Gelegenheit zu verstreichen und ein vergleichender Diskurs der verschiedenen fotografischen Strukturen und deren Spezifikation bereits überholt zu sein. Am Anfang der Digitalisierung photographischer Bilder und der Bearbeitung durch Paintbox und Photoshop gilt die Faszination den neuen Möglichkeiten erhöhter Kontrolle und Manipulation am Abbild der Realität. Seit der medienübergreifenden Digitalisierung, die vor allem in Hinblick auf ihre ökonomische Verwertung vorangetrieben wurde, sprechen wir nicht mehr von der Potenz der Photographie, der Chemie, der Referenz sondern von fotografischen Erzeugnissen »von Apparaten« als Verhandlungssachen, Konstruktionen oder medienreflexiven Simulakren. Die künstlerische digitale Fotografik thematisiert jetzt nicht mehr explizit den Umgang mit dem Augenblick im Realkontakt mit der gegenständlichen Welt, sondern deutet hin auf eine Erfahrung der Abbildung oder des Bildes als einer »Erfahrung der Erfahrung«4. Jeff Wall führt uns mit seinen Werken seine Erfahrung mit der fotografischen Inszenierung vor. Die künstlerischen Fotografen seiner Zeit verleihen der Fotografie 3 | Geimer, Peter: Bilder aus Versehen. Eine Geschichte fotografischer Erscheinungen, Philo Fine Arts, Hamburg 2010 4  |  Hubertus von Amelunxen zitiert Jeff Wall in: Theorie der Fotografie Band 1-4 (18391995), Schirmer/Mosel, München 2006, Band 4, S. 13

4. Künstlerische Strategien im Kontext der Digitalisierung 1990-2010

eine »Aura«, die bisher nur den malerischen Bildern zu eigen war. Inszeniert wird hier eine »geisterhafte Präsenz« (Douglas Crimp), die vor allem die Anwesenheit des im Bild abwesenden Künstlers und seine Auseinandersetzung mit Vorbildern präsentiert und dabei seine momenthafte Kontaktaufnahme mit dem Realraum thematisch zurückstellt. Es gilt, die historischen Bilder aus dem kollektiven Gedächtnis in die eigene Zeit zu holen. Andere Künstler nehmen sich der aktuell verbreiteten Fotografiken an, um sie erneut medienreflexiv zu kontextualisieren. Die sozial und ideologisch restriktive Informationsverbreitung, die der Fotografie vorausgeht, gilt dabei als »wichtigste Herausforderung für die Zivilisation« (Martha Rosler). In einer Zeit der rasant anwachsenden Bebilderung der Welt stellt sich – nach Amelunxen – die Frage, ob nun die Wirklichkeit bebildert wird oder ob die Bilder sich an die Stelle der Wirklichkeit gesetzt haben. Digitale Fotografiken und digitalisierte Photographien werden heute eher am Monitor als auf Papier betrachtet. Sie sind Konstruktionen einer »virtuellen« Matrix – eines Systems, das nicht mehr an Materie gebunden ist, sondern dessen Signal jederzeit und an jedem möglichen Ort aufgerufen werden kann. Die flexible Datenmenge wird zunächst auf variablen Displays sichtbar. Jene neuen Formen einer breitgestreuten Bildveröffentlichung inspirieren Künstler und Bildermacher dazu, das reichhaltige globale Angebot zu nutzen und mit ihm kreativ zu spielen. Angesichts des angehäuften Fundus erscheint es einigen Künstlern geradezu unnütz, überhaupt neue Fotografien zu erstellen. Es gilt also, die Bilderberge umzuwälzen, abzutragen und erneut sinnvoll zu kontextualisieren. Zu den »Strategien der Aneignung fotografischer Bilder« werden im ersten Abschnitt des Kapitels verschiedene Projekte gezählt, die sich auf eine bereits etablierte Kunststrategie des Sammelns und Kopierens von Photographien berufen können, sich aber heute nicht ohne Selbstgefährdung in die neue Dimension der digitalen Bilder und Nutzeroberflächen begeben können. Zu Beginn der Digitalisierung wird der globale Austausch von (Bild-)Daten noch von einer Open-Source-Euphorie getragen. Die Sprache der Nutzer (User) muss sich jedoch zwangsläufig der Sprache jener Konzerne unterwerfen, die mithilfe ihrer Programmierer alle Nutzeroberflächen erst bereitstellen. Jede Interaktion und Anteilnahme (Sorge, Dialog) bei der Netzkommunikation schließt auch die »Nutzung« codierter Oberflächen ein. Die legalen und illegalen kommerziellen Formen der »Ausnutzung« der User im Zuge der Bereitstellung dieser Oberflächen führen uns zuletzt in den Post-Snowden-Afterglow – in die Ära der Open-Source-Depression. »Jahrhundertealte Gewissheiten über Zweiteilung in Ich und Du, aktiv und passiv oder in toten und lebendigen Prozess geraten ins Schlingern. Die Dichotomien, mit denen die abendländische Philosophie jahrhundertelang glaubte, die Welt im Griff zu haben,

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Fotokunst in Zeiten der Digitalisierung werden brüchig, seit das Objekt denkt, das menschliche Subjekt von seinem Schatten bedroht wird und die Übertragung zwischen Ich und Du als Drittes mitspricht.« 5 (HansChristian Dany)

Aktuelle Debatten über den postfordistischen Kontrollstaat beschreiben das Internet als digitales Panoptikum, in dem sich das Individuum selbst ausleuchtet und ausbeuten lässt. Durch das Aufkommen digitaler Kommunikationstechniken begünstigt, werden tradierte Schaffensbereiche der dokumentarischen Photographie (Feldforschung im Realraum) zugunsten einer Feldforschung am Monitorraum aus der »musealen Photographie« verdrängt und die klassische Portrait-Photographie durch monumentale Fotografiken von Faces und Menschencollagen mit Gesichtszitaten ersetzt. Der Kunstmarkt liefert jetzt eine millionenschwere Fotokunst, die eine synthetische Totalumschau collagiert. Als eine »Strategie der totalen Kontrolle am fotografischen Abbild« werden hier im zweiten Abschnitt des Kapitels die Werke von Andreas Gursky genauer auf ihre manipulative Struktur hin analysiert. Wenn wir die Welt, in der wir heute leben, als »Monitorwelt«, als vollständig errechnet und konstruiert begreifen wollen, dann mag uns die Kunst der ehemaligen Becher-Schüler zeitgemäß erscheinen. Diese relativ neue Kunst der monumentalen Fotografik orientiert sich nicht mehr an der Spur des Realraums, des Alltags oder der Unperfektheit des menschlichen Körpers; sie feiert die Künstlichkeit der Computerkonstruktion als höchste Form der (abstrakten) Konzeptkunst. Die großformatigen digitalen Fotografiken, die seit den 1990 Jahren in die Museen drängen, besitzen vor allem »photo-realistische« Oberflächen, die keine Bruchstellen aufweisen und von ihrer Modellhaftigkeit ablenken. Damit können sie durchaus als »Trugbilder« bezeichnet werden. Sie müssen, wie alle digitalen Nutzeroberflächen, erst explizit ausspioniert und verstanden werden, um nonkonforme (vom Kunstmarkt abweichende) Bedeutungszuschreibungen zuzulassen. Digitale Trugbilder hinterlassen den Menschen im hypnotischen Taumel. Der Betrachter muss erst lernen, das Funktionieren der Technobilder zu durchschauen, ihre Programmierungen zu entschlüsseln, um nicht von den Apparaten in seinen Wahrnehmungen dirigiert und damit beherrscht zu werden. »Techno-Imagination soll nun die Fähigkeit genannt werden, durch Apparate erzeugte Bilder (›Technobilder‹) zu verschlüsseln und zu entziffern. [Dem] liegt die Hypothese zu-

5 | Dany, Hans-Christian: Morgen werde ich Idiot. Kybernetik und Kontrollgesellschaft, Edition Nautilus, Hamburg 2013, S. 47

4. Künstlerische Strategien im Kontext der Digitalisierung 1990-2010 grunde, daß sich diese Fähigkeit von der traditionellen Imagination radikal unterscheidet.« 6 (Vilém Flusser)

Die Möglichkeiten der digitalen Computerkonstruktion geben uns zugleich Anstöße, über die Konstruktionsweisen tradierter Bildformen, gerade auch über die analogen, vor-digitalen Photographien erneut nachzudenken. Am Beispiel der Suche nach der »authentischen, intimen Photographie« kann man deutlich machen, dass diese mit den Bildern von Nan Goldin und Wolfgang Tillmans an wenigen herausragenden Künstlerpersönlichkeiten festgemacht wurde und dann im Verlauf der 1990 Jahre als modischer Trend vereinnahmt wurde. »Authentische Looks« wurden plötzlich massentauglich inszeniert und vermarktet. Es kommt zu Gegenbewegungen von Bildermachern, die die »totale Konstruktion« zelebrieren, verfeinern und sie am Ende ausschließlich in großen Museen und auf Kunstmarktmessen präsentieren. Alle Computerkonstruktionen rühren direkt oder indirekt an die Frage nach der Mensch-Maschine-Differenz und damit an das Verhältnis des Menschen zu seiner (natürlichen wie künstlichen) Umgebung. Inwieweit lässt sich auch noch »Authentizität« konstruieren? Lassen sich auch Emotionen produzieren oder gar errechnen? Es sind nicht die Bilder, nicht die Kunstwerke, nicht die Konstruktionen allein, die uns einen zugewandten Dialog eröffnen und sichern, sondern erst die Interaktion zwischen Operator und Spectator zieht das Bild in das Gespräch und in das Spiel der Hinsichten hinein. Ein solches Bild kann nun vollkommen errechnet sein – es muss jedoch vom menschlichen Operator sinnhaft kontextualisiert werden, um sich nicht unbemerkt (ohne die Aufmerksamkeit eines Spectators) in der Nulldimension zu verflüchtigen. Mit dem Aufkommen des synthetischen Bildes feiert Vilém Flusser noch eine neue Gegenseitigkeit ohne Anwesenheit: die Telematik. Er erfindet die Utopie einer telematischen Gesellschaft, die keine Machtkonzentration kennt, sondern aus einem Netz von dezentralen Kommunikationen besteht, das »dialogisch« in alle Richtungen funktioniert. Diese neue Form der Gegenseitigkeit soll im dritten Teil des Kapitels anhand eines Vergleichs der Strategien Andreas Gurskys und Joel Sternfelds untersucht werden. Wie verschieden wird das Menschenantlitz in der Fotografie vorgeführt? Auf welche Weise stiftet die Herangehensweise des Photographen oder Fotografikers Anteilnahme oder Distanz? Ist der Künstler und Operator – in seinen Bildern ablesbar – am Anderen, an den Sorgen seiner Zeitgenossen interessiert? Die alten, analogen 6  |  Flusser, Vilém: Schriften in 9 Bänden, Band 1: Lob der Oberflächlichkeit. Für eine Phänomenologie der Medien, hg. von Edith Flusser und Stefan Bollmann, Bollmann Verlag, Bensheim und Düsseldorf 1993, S. 153

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Tools verlangen noch ein Heraustreten in die Welt und eröffnen einen physischen Begegnungsraum (Face-to-Face). Die neuen Tools dagegen ersetzen das Heraustreten und Wandern durch ein »Durchforsten« von Suchmaschinen (Face-to-Screen). Brauchen wir überhaupt noch das Menschenantlitz im gegenseitigen Dialog, das Gespräch von Angesicht zu Angesicht? Flusser wagt eine Umkehrung unserer gängigen Vorstellung von der Hervorbringung menschlicher Nähe. Er stellt die Frage, ob körperliche Anwesenheit nicht auch zur Verhinderung von Gegenseitigkeit und aufschließender Begegnung führen kann. Vielleicht kann jeder Reisende von seinen Erfahrungen in fremden Umgebungen berichten, in welcher Weise das »physisch Andere« verhindernd auf die (körperliche) Unmittelbarkeit einwirkt. Genauso kann sich soziale Ab- und Ausgrenzung aufgrund einer Nichtanpassung an physische (Sub-)Kulturnormierungen (Rede- und Dresscodes) in vertrauten Nachbarschaften vollziehen. Die neuzeitliche Form der Gegenseitigkeit, die Flusser anhand seiner (positivistischen) Vorstellungen von einer digitalen Proxemik aufzeigt, spielt mit der Möglichkeit einer spirituellen Nähe, die weder Antlitz noch physische Anwesenheit braucht. Es ist wahrlich genug geschrieben worden über Formen der Unterwerfung vor dem Blick des Anderen: Die von Flusser proklamierte Face-to-Screen-Situation scheut gerade diesen Blick des Anderen. Die digitale Netzkommunikation kann demnach eine gleichberechtigte körperlose Kommunikation ermöglichen. Es öffnet sich ein informativer Raum der »gegenseitigen Verobjektivierung« 7 als möglicher Voraussetzung des eigenen Subjektstatus. Flussers euphorisches Verhältnis zur computerisierten Kommunikation muss zwingend im Kontext seiner Herkunft gelesen werden, um nicht missverstanden zu werden. Seine engagierten Reflexionen zu einer »Philosophie der Fotografie« haben den anfänglichen Weg der Digitalisierung fruchtbar begleitet; im weiteren Verlauf (nach 1991) wird man nun auf seine Beiträge verzichten müssen. Es bleibt uns also, seine Fragen auf die aktuelle Kommunikation mit fotografischen Bildern anzuwenden.

4.2 S tr ategien der A neignung von fotogr afischen B ildern »Die im Apparatprogramm enthaltenen Möglichkeiten sind praktisch unerschöpflich. Man kann nicht alles Fotografierbare tatsächlich fotografieren. Die Imagination des Apparates ist größer als die jedes einzelnen Fotografen und die aller Fotografen zusammen: Gerade darin liegt die Herausforderung an den Fotografen. […] Im Grunde will 7  |  Bidlo, Oliver: Vilém Flusser – Einführung, Oldib Verlag, Essen 2008, S. 125

4. Künstlerische Strategien im Kontext der Digitalisierung 1990-2010 also jeder Fotograf noch nie vorher dagewesene Sachverhalte herstellen, und er sucht nach ihnen nicht dort draußen in der Welt, da ihm die Welt nur ein Vorwand für die herzustellenden Sachverhalte ist, er sucht nach ihnen unter den im Apparatprogramm enthaltenen Möglichkeiten. Insofern ist die traditionelle Unterscheidung zwischen Realismus und Idealismus mit der Fotografie überwunden: Nicht die Welt dort draußen ist wirklich und nicht der Begriff hier drinnen im Apparatprogramm, sondern wirklich ist erst die Fotografie.« 8 (Vilém Flusser)

Es erscheint zunächst nur konsequent, wenn einige Künstler sich heute entschließen, auf die Herstellung eigener Fotografien gänzlich zu verzichten, und sich gleich aus dem globalen Pool von Bildern bedienen, um sie dann zu verfremden, zu collagieren und neu zu kontextualisieren. Sie überspringen den Schritt der Bilderstellung und gehen gleich zur Realisation (und Vermarktung) szenischer oder ornamentaler Ideen über. Jeder Fotograf – der Laie wie der Profi – wird unter diesen Bedingungen mit seinen Bildern im Netz zum Materiallieferanten, der zuweilen auch den Künstlern im Atelier zuarbeitet, wenn diese die Bildrechte im Sinne der Kunstfreiheit außer Kraft zu setzen wissen. Trotz der etablierten Kunsttradition, Bilder zu sammeln und mit Archiven zu arbeiten, begünstigt diese Vorgehensweise den Trend, dass Sammler und Bildbearbeiter Strategien in kreativer Büroarbeit der mühevolleren Feldforschung und Ausübung eines Handwerks in Atelier und Dunkelkammer vorziehen. Die Praktiken der originalen Bildherstellung entfallen zugunsten der Operationen an vorhandenen Bildern. Das Studio wird zum Post-Studio. Die Distanz zur physischen Arbeit und zu Arbeitsmaterialien nimmt stetig zu bei Konzentration auf den Monitorraum. Diesen Arbeitsraum gilt es im Folgenden genauer zu untersuchen. Es handelt sich im Gegensatz zum konkreten, stillen Raum um eine Virtual Reality (Begriff: Jaron Lanier), die ihrerseits von immateriellen, selbstaktiven Prozeduren bestimmt wird. Zu Beginn des WorldWideWeb erscheint beinahe jede Plattform als OpenSource; die offenen Quellen wirken stimulierend auf kreative Prozesse. Dieser scheinbar freie Zugriff führt aber sehr bald zu Verschiebungen der Nutzungsrechte im globalen Netz. Nach nunmehr drei Jahrzehnten Webentwicklung ist es nicht unüblich, die Kamera am Laptop abzukleben, um sich vor unangenehmen Zugriffen zu schützen; tatsächlich sind es heute die unscheinbaren Nerds9, die Programmierer, die die Fäden in der Hand haben und die 8  |  Flusser, Vilém: Für eine Philosophie der Fotografie, European Photography hg. von Andreas Müller-Pohle, Edition Flusser, Band 3, Göttingen 1983, S. 34 9 | Jaron Lanier kommentiert den Typ des Computerfreaks und Sonderlings den er selbst verkörpert, so: »[…] it is very strange that nerds instead of wars decide who makes it in this century. It used to be wars and oil and now it’s like nerds – I think sometimes the whole world is some kind of revenge of highschool-sexual-politics or something […]«;

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weltweite Kommunikation mit ihren eigenen Algorithmen kontrollieren. Die Netzinformationen bereichern darüber hinaus auch die Wissenschaftler, allen voran die Entwickler von Text-Suchmaschinen (z.B. Software Text Guard), die beispielsweise über Nacht ihre Computer Doktorarbeiten mit Texten im Netz abgleichen lassen (Plagiats-Erfassung). Programmierer stellen Softwares zur Verfügung oder bieten Dienstleistungen an, die entweder Texte lokalisieren oder aber neu zusammenstellen – je nach Bedarf. Sie entwickeln Algorithmen, die journalistische Texte ohne aufwendige Recherchen und eigene Schreibleistungen generieren (Software Stats Monkey). Sie geben sich neutral, unpolitisch motiviert und überlassen die Klärung der moralischen Aspekte jenen, die diese Dienstleistungen nutzen und damit zu verantworten haben. Über die Algorithmen von Suchmaschinen und Datenbanken erhalten wir Diagnosen ohne Arzt, Post ohne Postboten, Filmkritiken ohne Kritiker – Mengen bedeutungsvoller Informationen generiert ohne Experten, die sie erst zusammentragen und anhand sinnvoller Methoden auswählen und bewerten müssten. Das von vielen betriebene aufwendige Einschreiben des Wissens ins Netz füttert bloß noch die Software-Anwendungen und Internetprotokolle, die dann von Programmierern ausgewertet werden können – und alle helfen mit. »Weite Bereiche der digitalen Öffentlichkeit werden mit privatem Kapital finanziert, genauer gesagt bauen sie auf Kommunikationsplattformen auf, die Privatunternehmen gehören; […] Die digitale Öffentlichkeit ist damit abhängig von Firmen, was politisch zwar brisant, aber nicht unbedingt neu ist.«10 (Mercedes Bunz)

Was widerfährt den Bildern, digitalen Fotografiken und digitalisierten Photographien im Netz? Man muss wissen, dass alle Werkseinstellungen von Kameras und die dazugehörigen Entwicklungs- und Bildbearbeitungsprogramme Metadaten in die Bilder einschreiben, so dass die Künstler nur noch eine eingeschränkte Kontrolle bei der Produktion und Präsentation ausüben können. So ist es heute durchaus denkbar, dass man eine Rechnung von Adobe zugeschickt bekommt, weil man »die eigene« Fotografik auf einer Webseite mit einer nicht lizensierten Photoshop Version überarbeitet hat. Jeder Programmierer kann mit einem entsprechenden Programm an einem digitalen Bild als Datenmenge die damit verbundenen Software-Nutzungen und Nutzungsrechte ablesen. So wird aus einem Überlebenskünstler plötzlich ein Kleinkrimineller, und jeder, der eben noch zum freien Zugriff eingeladen worden ist, kann dann optimal abkassiert werden. Es kann sich lohnen, die AGBs einiger Plattformen Auszug aus Vortragsrede CJM San Francisco: »Link. What is a Person?«, Quelle: www. youtube.com/watch?v=jtuM1j-vFsA/ Stand Abruf 01.05.14 10  |  Bunz, Mercedes: Die stille Revolution, Edition unseld 43, Suhrkamp, Berlin 2012, S. 139

4. Künstlerische Strategien im Kontext der Digitalisierung 1990-2010

genauer zu lesen, bevor man sein Bild dort publiziert.11 Sachverhalte wie diese werfen Fragen auf, ob man innerhalb einer autonomen künstlerischen Strategie, die das Internet mit einbezieht, nicht mehr nur Bildmacher, sondern auch Programmierer sein sollte, auch um eigene Metadaten kreieren zu können (siehe Kim Asendorf/Zeitleiste). Doch ist eine so umfangreiche Beschäftigung mit technologischen Lösungen eben nicht jedes Künstlers Anliegen. »Das einmalige Foto ist nun gezwungen, sich in die allgemeine grafische Umgebung einzufügen, wenn nicht in ihr unterzugehen.«12 (Mercedes Bunz)

Odyssee im Netz – ein Bild auf Wanderschaft 2006 photographierte ich mit meiner Hasselblad eine Hamburger Sprüherin, mit einem T-Shirt über den Kopf gezogen, vor einem ihrer Wandbilder.13 Das Bild wurde 2008 innerhalb einer Serie von weiblichen Künstlerportraits/ Werkschau im ersten Missy-Magazin veröffentlicht. Über die Jahre tauchte es auf den verschiedensten Portalen im Netz wieder auf: innerhalb von Reviews zur Missy-Werkschau, auf Facebook-Seiten (mit gleichzeitiger Übertragung von Nutzungsrechten), als Cover eines online-Graffiti-Magazines (ohne Nutzungsrechte abgedruckt). Am absurdesten: in der Seattle Weekly Online als Bild zu einem Text gegen das illegale Sprühen (ebenfalls ohne Nutzungsrecht veröffentlicht). 2007 konnte ich in einem gedruckten Graffiti Magazin (bebildert) nachlesen, dass das Motiv umgewandelt als Stencil (Sprühschablone) einer niederländischen Girls-Writer-Crew in den Straßen von Amsterdam zu sehen sei. Bei meiner Netzrecherche stieß ich wieder auf den Stencil des Motivs, der nun – auf Leinwand gebracht – in einer Galerie zum Kauf angeboten wurde. Diese Art der Verbreitung inspirierte mich weitaus weniger als die Vorstellung, das Bild auf Häuserwänden entdecken zu können. Man möchte zur Ausstellungseröffnung doch vielleicht eingeladen werden. Jegliche Partizipation ist aber 11 | Siehe Facebook AGBs/ Stand Abruf 14.06.13 »Für Inhalte wie Fotos und Videos, die unter die Rechte an geistigem Eigentum (sog. ›IP-Inhalt‹) fallen, erteilst du uns durch deine Privatsphäre- und Anwendungseinstellungen die folgende Erlaubnis: Du gibst uns eine nicht-exklusive, übertragbare, unterlizenzierbare, gebührenfreie, weltweite Lizenz zur Nutzung jeglicher IP-Inhalte, die du auf oder im Zusammenhang mit Facebook postest (›IP-Lizenz‹). Diese IP-Lizenz endet, wenn du deine IP-Inhalte oder dein Konto löschst, außer deine Inhalte wurden mit anderen Nutzern geteilt und diese haben die Inhalte nicht gelöscht.« 12  |  Lunenfeld, Peter: Digitale Fotografie. Das dubitative Bild, in: Paradigma Fotografie, hg. von Herta Wolf, Suhrkamp, Frankfurt a.M. 2002, S. 164 13  |  Bildquellen Verweis B: Graffiti Artist, Birgit Wudtke 2006, www.birgitwudtke.net/ html/collaborations/female-artists/02.html/ Stand Abruf 15.05.14

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innerhalb dieser Strategie der einseitigen Bereicherung im Galeriekontext ausgeschlossen. Zuletzt meldete sich über meine Webseite ein privater Sammler, um eine Edition der Photographie käuflich zu erwerben – Happy End? Dieses Beispiel einer chaotischen und überregionalen Verbreitung zeigt neue Wege und Netze der Publikation, die sich das Bild beinahe selbst zu suchen scheint. Ob mit oder ohne Zustimmung – die eigene digitalisierte Photographie erregte immerhin Interesse. Und wahrscheinlich hätte man allein kaum eine derartig wirksame Verbreitung geschafft. Euphorisch stimmte dabei die kreative Kopierarbeit der niederländischen Girls-Writer-Crew. Es schien beinahe, als hätten sich heimliche Unterstützerinnen angeschlossen, die sich dem Bild gemäß seiner Botschaft und Intention verpflichtet fühlten. Es handelt sich schließlich um das Portrait einer Künstlerin, die in der Nacht illegal malt, und in diesem Sinne sollte das Bild seine Verbreitung finden: frei zugänglich zur Partizipation am kreativen Prozess. Da ich selbst ein internationales Künstlernetzwerk mit gegründet hatte, waren mir diese Formen der Interaktion willkommen, denn vielerorts hatten sich Gruppen und Netzwerke zusammengetan, um die Autorenschaft zugunsten einer Kunstproduktion im Kollektiv aufzugeben und diese zu erproben. »The concept of the genius is absurd. I have never met someone who exclusively invents by himself, with no interferences. With such representations, there is always something incorrect. Therefore it’s more honest to say, that I am solely imaginable in a system of cooperation, a system of giving and taking.« (Twin Gabriel, Künstlerpaar)

Tatsächlich waren ich und Künstlerkolleginnen zu Beginn des WorldWideWeb von dem Gedanken inspiriert, man könne sich freundschaftlich mit Künstlern aus der ganzen Welt austauschen und von Fall zu Fall auf Augenhöhe und ohne verdeckte strategische Absichten zusammenarbeiten. So entstand ein Kollektiv mit wechselnden internationalen Gastkünstlern, ein Netzwerk mit gleichnamiger virtueller Plattform TheBeetoBeeNet14. Auf regelmäßigen Zusammenkünften konnten innerhalb von sieben Jahren verschiedene Wanderausstellungen, Publikationen und Shows geplant, organisiert und realisiert werden. Heute leben alle Künstler der Gruppe derart weit voneinander entfernt, dass ein gemeinsames Treffen an einem realen Ort schon aus Kostengründen nicht mehr zu organisieren ist. Diese realen Treffen zum künstlerischen Austausch und zu produktiver Ausstellungsplanung lassen sich jedoch nicht vollständig durch virtuelle ersetzen. Zumindest nicht bei einer Formation, die sich »Künstlergruppe« nennt. Als reine Künstlervernetzung, als besonderer Künstlerpool, ließe sich die virtuelle Planungskultur noch weiter betreiben, 14  |  Quelle: www.thebeetobee.net/ Stand Abruf 12.04.14, Bildquellen C

4. Künstlerische Strategien im Kontext der Digitalisierung 1990-2010

sollte ein zweiter Veranstalter alle situationsbedingten Probleme vor Ort lösen wollen und die Kosten der Zusammenkunft zum Auf bau übernehmen. Allerdings wäre ein hohes Maß an Vertrauen nötig, um überhaupt verbindliche Abmachungen (virtuell) zwischen den entfernt lebenden Mitgliedern des Netzwerkes treffen zu können. Eine Philosophie der Webromantik entwickelte sich Anfang der 1990 Jahre in Anlehnung an die Rhizomatik von Deleuze und Guattari. Zumindest inspirierten die Strukturen des Rhizoms zur Beschreibung und Organisation von virtuellen Netzwerken einige Künstler und Medientheoretiker. Eine dieser Überlegungen lief auf die Entmachtung und Ersetzung autoritärer, linearer Ordnungen (Baumstruktur) durch freie Verkettungen hinaus. Gerade jene sogenannte Baumstruktur entfaltet derzeit ihre Macht, etwa in Anwendung des Urheberrechts nach Eugen Ulmer15: als Stamm des Baumes, aus dem als Äste und Zweige untrennbar sowohl vermögensrechtliche als auch urheberpersönlichkeitsrechtliche Befugnisse erwachsen. »Manche Theorien waren in bestimmten Dekaden gleichauf mit dem Zeitgeist. Auf wundersame Weise schienen sie die Belange aller anzusprechen. Man lese sie 20 Jahre später und sie sind tot. Man komme in 50 Jahren noch einmal auf sie zurück und ihre Verschrobenheit hat einen altmodischen Charme. Heutzutage werden die Heiligen Schriften der Pariser Theorien oft nur noch als indifferente Textmaschinen wahrgenommen, die nur aus einem einzigen Grund existieren: um akademische Karrieren zu legitimieren.«16 (Geert Lovink)

Geert Lovink schreibt als Netzaktivist, ungeachtet der Tatsache, dass Deleuze und Guattari selbst keine Theorien zum Internet liefern wollten, sondern sich vorrangig mit Formen der hypertextuellen Schreibweise (etwa von Romanen oder philosophischen Abhandlungen) beschäftigten. Jene vernichtenden Aussagen Lovinks decken sich mit der anfänglichen Rezeption von Deleuzes Philosophie in Deutschland. Dabei ging es den Poststrukturalisten gerade um die Chance, alle feststehenden Herleitungen – sei es in der Philosophiegeschichte oder in der generativen Literatur – aufzulösen, um Freiräume in festen Begriffssystemen und erstarrten Denkstrukturen wiederzugewinnen. Sollte man den Versuch wagen, in jene Denkräume tiefer einzusteigen, würde einem die Vielfalt der ungenutzten Möglichkeiten bewusst werden. Tatsächlich wäre es auch möglich, das Internet rhizomatisch wachsen zu lassen und sich in dieser 15  |  Vgl. die Baumtheorie von Ulmer, Eugen: Urheber- und Verlagsrecht, Springer Verlag, Berlin 1980 16  |  Lovink, Geert: Das halbwegs Soziale. Eine Kritik der Vernetzungskultur, transcript Verlag, Bielefeld 2012, S. 106

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Weise dort einzuschreiben. Allerdings bedarf es dazu mehr als der Gestaltung der Oberflächen. Erst wenn die Algorithmen vergleichbar einer Sprache gelehrt würden, könnten auch vielfältige Strukturen eingeschrieben werden. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt drückt sich das Netz vornehmlich marktkonformistisch aus. 2004 gestaltete das Künstlernetzwerk TheBeetoBeeNet, in dem ich mit weiteren Mitgliedern aktiv wurde, ein verästeltes stammloses Gebilde als Oberfläche einer virtuellen Flash-Gallery, das freischwebend im dunklen Raum als animiertes Bild Personenverlinkungen anzeigt (Bildquellen Verweis C17). In den letzten Jahren stellte sich heraus, dass Adobe die Flash Nutzung nicht weiter ausbauen wird, was bedeutet, dass alle so gestalteten Anwendungen auf verschiedenen Plattformen in unbestimmter Zeit nicht mehr lesbar sein werden18. Somit gehört unsere Plattform zu einer vom Aussterben bedrohten Netzspezies. Und tatsächlich könnte man sich dafür entscheiden, sie als solche stehen zu lassen: als »nutzer-un-freundliche«, veraltete Plattform einer ehemals freien Freundschaftsverkettung. Alte Netzarchitekturen bleiben dem WorldWideWeb allerdings genauso wenig erhalten wie etwa ältere Gebäude in ostasiatischen Großstädten. Tatsächlich scheinen sich zeitliche Referenzen und Geschichte(n) im virtuellen Raum aufzulösen. Beim Aufsuchen von Netzkunst (Kunst, die sich rein virtuell präsentiert) wird immer auffälliger, dass sie aktuell als Netzstörung auftritt. Oberflächen wirken chaotisch, sie entziehen sich »user-un-friendly« und irritieren durch unkontrollierbare, nicht interaktive Bewegungen und eine eher verstörende Art der krankhaften, virulenten Gestaltung (z.B. Künstlerplattform JODI19). »Genau wie Theater, Bildende Kunst, Film und Literatur verdient auch das Internet eine kenntnisreiche und anspruchsvolle Form der Kritik und Theorie, die über Journalismus und bloße Berichterstattung hinausgeht. Interessanterweise hat ihre marginale Position der Netzkritik aber ermöglicht, sich über die letzten Jahre in außerakademischen Räumen weiterzuentwickeln: im Rahmen zeitgenössischer Kunstprojekte, auf OnlineMailinglisten und in medienaktivistischen Netzwerken. Die Geschichte dieser Ära

17 | Bildquellen Verweis C: Webseite TheBeetoBeeNet, www.frombeetobee.net/bee tobee.html/ Stand Abruf 15.05.14 18  |  Flash-Anwendungen wurden bereits zur Entwicklung des iPads nicht kompatibel übernommen 19  |  Quelle: www.jodi.org/ Stand Abruf 12.04.14 (die Plattform aktualisiert sich derzeit mit jedem Abruf neu)

4. Künstlerische Strategien im Kontext der Digitalisierung 1990-2010 der kulturell-künstlerischen Zufluchtsorte muss noch geschrieben werden.« 20 (Geert Lovink)

Das Internet ist für viele Benutzer mittlerweile zur wichtigsten Informationsquelle geworden. Es gewährt zusätzlich den Austausch von Informationen über weite Distanzen und die schnelle Veröffentlichung von Nachrichten zu Ereignissen und Missständen im Nahraum. Das amerikanische Großprojekt WorldWideWeb etabliert mit dem Ausbau des Netzes jedoch gleichzeitig eigennützliche Macht- und Kontrollstrukturen, die der Idee des freien Informationsaustausches widersprechen. Die hier herrschenden Ordnungshierarchien offenbaren sich heute um so deutlicher; ein autonomes Netzwerk von Perspektiven und Vorhaben kann im Grunde nur in Zusammenarbeit mit Programmierern geschaffen werden. Die Mehrheit der Menschen sind Nutzer und nicht Gestalter der Struktur, und diese Mehrheit füttert mit jeder Nutzung nur die Datenprotokolle, die von Programmierern im Auftrag von privaten Firmen durchmustert und marketing-konform abgeschöpft und umgeschrieben werden. »Apple und Facebook, Amazon und Google zeigen, was es heißt in einem Global Village zu leben. Das war einmal eines der größten Versprechen fürs Informationszeitalter. Jetzt führt genau das zu einem gesellschaftlichen Rückschritt: Das Dörfliche entfaltet wieder seine beklemmende Wirkung.« 21 (Hahmann/Rohwetter)

Die sozialen Kontrollen, Intrigen und Verleumdungen (Shitstorms) nehmen genauso ganz neue Dimensionen an wie die Wirkungen eines Netzgedächtnisses ohne autonomes Vergessen. Ein Recht auf Vergessen muss erst eingeklagt werden. Man muss zur Kenntnis nehmen, dass den freien Kontaktwahlen im Netz die selektive Kontrolle und unfreie Verkettung durch Maschinen im Hintergrund folgt. Wie kommt man aus dem Netz der selbst eingegebenen Informationen und der fremdinstallierten Verkettungen wieder heraus? 2007 tauchen Webseiten neuartiger Personensuchmaschinen auf, die alle Inhalte vermeintlich passend zu den eingegebenen Namen aus dem globalen Netz filtern, kombinieren und ohne Auftrag zu einem Informationsportal eigenständig zusammenfügen. Dazu gehört die sogenannte »Begriffswolke«, bestehend aus Schlagwörtern, die von verschiedenen Webseiten im Zufallsprinzip zusammengestellt werden, in Kombination mit photographisch anmutenden Bildern, die angeblich die ausgewählte Person darstellen sollen. Dabei entstehen häufig irreführende und falsche Profile durch die Zusammenstel20  |  Lovink, Geert: Das halbwegs Soziale. Eine Kritik der Vernetzungskultur, transcript Verlag, Bielefeld 2012, S. 94 21 | Hahmann, Götz, Rohwetter, Marcus: Wie Apple, Facebook, Amazon und Google dem Internet ihre Grenzen aufzwingen, DIE ZEIT Nr. 32, August 2012, S. 19

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lung mit den Portraits von Namensgeschwistern im Netz. Die so gestaltete Negativ-Akquise mit ihren verfälschten Informationen stellt besonders Freiberufler und Arbeitssuchende in prekären Abhängigkeitsverhältnissen vor neue Probleme. Pressemeldungen informieren in dieser Zeit bereits darüber, dass Personen vor Bewerbungsgesprächen aussortiert werden, nachdem man etwa ihr Facebook-Profil gegengeprüft hat. Dabei handelt es sich immerhin teilweise um selbstgenerierte Profile. Im Falle der Personensuchmaschine 123People verärgerte besonders, dass ohne jede rechtliche Grundlage Profile erstellt wurden, in denen Inhalte aus ihren Zusammenhängen herausgerissen und maschinengeneriert neu zusammengesetzt wurden. Zudem forderte die Suchmaschine 123People für eine Löschung der Falschdaten eine Bezahlung. Die amerikanische Gründungsfirma schien sich ihres illegalen Treibens bewusst und startete wohl einen Testlauf. Als ich mich selbst dazu entschied, eine Löschung des gesamten Profils per Email zu verlangen, und dabei rechtliche Schritte vortäuschend ankündigte, wurden (überraschenderweise) alle generierten Daten zu meinem Namen sofort entfernt. Ganz ohne die geforderte Bezahlung war das Profil leer. 2009 erhielt die Personensuchmaschine 123People den Big Brother Award, den Negativ-Preis im Bereich Kommunikation und Marketing. Zur Begründung wurde auf gefährliche Beliebigkeit und Leichtfertigkeit im Umgang mit personenbezogenen Daten verwiesen. Zur Problematik des Einschreibens von Informationen ins Netz gehört gleichrangig die Problematik des Löschens von Informationen, wie alle erfahren mussten, die zu Beginn von Facebook versuchten, ihre Profile zu entfernen, was kaum zu realisieren war. Heute bieten spezielle Firmen gegen Bezahlung an, unerwünschte Daten aus dem Internet zu eliminieren. Kann man nun die unkontrollierte Verbreitung von Bildinhalten zur eigenen künstlerischen Methodik erklären? Kann man die Oberflächen und Strukturen vollkommen generieren, ohne die Netze der Märkte zu kreuzen? Angesichts dieser Befunde, bei denen es am Ende um Existenz- und Urheberfragen geht, kann es nicht überraschen, dass sich der Netzraum heute rechtlich neu justiert. In dieser Phase der globalen Digitalisierung wird beim Streit um Bilder immer deutlicher, dass Machtkämpfe zwischen den Disziplinen (Gebrauchsfotografie und künstlerische Fotografie) und Gesetzes-Territorien stattfinden im Blick auf Urheberrechte und sich stetig aktualisierende Metadaten. Die expansiven Strategien amerikanischer Konzerne entsprechen einer kulturell erwünschten und forcierten Goldgräberstimmung. In diesem Moment der Digitalisierung sind sie dabei, sich uneingeschränkt und ungebremst durchzusetzen. »Neben den eindeutigen Rechtsverletzungen missachtet Google massiv die Autorenrechte. So löst Google die Fotos aus ihrem Sinnzusammenhang – komplette Reportagen

4. Künstlerische Strategien im Kontext der Digitalisierung 1990-2010 wurden in Einzelbilder zerlegt und teilweise bildschirmfüllend dargestellt. Dabei werden die Bildunterschriften und die Autorenhinweise unterschlagen. Dazu Bertram Solcher, Vorsitzender von FREELENS: ›Es ist erschreckend, welch geringe Wertschätzung und welche Missachtung elementarster Autorenrechte den Urhebern durch Google entgegengebracht wird. Es kann nicht sein, dass Fotografen zu reinen Content-Lieferanten von Google degradiert werden.‹« 22

Auch wenn ein Gebrauchsfotograf seine Feldforschung im Auftrag betreibt, bedeutet das nicht, dass er seine Fotografien nicht auch selbst kommentieren kann oder in der Lage ist, eine Kontextualisierung und Rahmung zu produzieren. Viele ausgebildete Fotografen gestalten ihre Serien und Ausstellungswände in Eigenregie. Der Umgang mit geistigem Eigentum ist kulturell, öffentlich und privat neu zu verhandeln. In der bildenden Kunst werden aktuell die Strategien der Bildkontextualisierung in Anknüpfung an historische Verfahrensweisen diskutiert, die in Verbindung mit künstlerischer Bild-Forschung (Ikonografie/Aby Warburg23) und den philosophischen Diskursen um hypertextuelle, mediale Kommunikationsweisen (Rhizomatik/Deleuze und Guattari, Kommunikologie/Flusser) formuliert worden sind. Allerdings passt das (dt.) Urheberrecht dazu nur in Ausnahmefällen; die Strategien des Found Footage (Appropriation Art) vereinen zuweilen ähnliche Verhaltensweisen des amerikanischen Wirkungsraumes anything goes, fair use, try and error. Jüngst wurden einige Auswirkungen lokalglobaler Differenzen im Rechtskonflikt deutlich: Beispielsweise sind Musikvideos (YouTube) global aufruf bar, lassen sich jedoch nicht immer in Deutschland abspielen. Es sieht so aus, als wenn sich die virtuellen Nutzergrenzen den territorialen anpassen. Wozu werden Besitzansprüche an Bildern geltend gemacht, die im Austausch kreativer Kooperation und Partizipation erfolgen? Hierbei geht es sicherlich weniger um eine philosophische Debatte als um die Frage: Was bedeutet Arbeit (im gleichberechtigten Austausch), was bedeutet Existenz (und Macht über Existenz) – zeitspezifisch und lokal betrachtet? Wie sich darüber global einigen? Wer den Namen Vilém Flusser bei Wikipedia eingibt, findet Beiträge in 11 Sprachen mit beträchtlichen dimensionalen Abweichungen. Gilles Deleuze bietet immerhin Einträge in 41 unterschiedlichen Sprachen. Manchmal gibt es ein Bild, manchmal gibt es eine Jahreszahl, zwei, drei Sätze dazu. Unter Fushā (Hocharabisch) kein Bild, unter Yeruba kein Text, Suomi und Esperanto zeigen das gleiche Portrait. Zwischen 6.000 und 7.000 Sprachen gibt es auf diesem 22  |  Verein der Fotojournalistinnen und Fotojournalisten e.V.: FREELENS/Email-Newsletter 26.04.13 23  |  Gruppenausstellung: Lieber Aby Warburg, was tun mit Bildern? Vom Umgang mit fotografischem Material, Museum für Gegenwartskunst, Siegen 2012

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Planeten. Vielleicht nutzen etwa 30 % der Weltbevölkerung das Internet. In den großen Städten leben wir beeinflusst von Menschen verschiedener Kulturen; durch die Gesamtheit der Medien global beeinflusst. Vermutlich wird es sehr schwierig werden, sich weltweit zu einigen über den Umgang mit Bildern und Videomaterial im Netz. Also agiert jeder so lange lokal, bis sich ein »feindlicher Übergriff« ereignet. Im »Kleinen« baut sich jeder seine eigene Festung, geschützt durch Familie, Freunde, Gelehrte, Anwälte, die Firma etc. In Folge der Rechtsansprüche auf Bilder hat sich (in Deutschland) eine ganze Abmahnungsindustrie entwickelt, die in den Hinterzimmern der Kanzleien oder Zweitkanzleien unter Decknamen arbeitet. Es gehört nicht zum »guten Ruf« mit den entsprechenden Softwares das Netz zu durchforsten, um Geld einzutreiben, dennoch betreiben einige Anwälte genau diese Strategie im Auftrag ihrer Kunden. Es wird heute ebenso deutlich, dass nicht mehr nur wir es sind – egal ob Künstler oder Hobbyfotograf – denen die kreative Bildproduktion und Verbreitung in die Hände spielt. Denjenigen, die sich mit der Bilderstellung beschäftigen, sind alle Software-Entwickler und Programmierer mit ihren Ideen vorausgeeilt. »Die vielen zirkulierenden Ebenen, auf denen gleichzeitig Bilder gemacht und ausgetauscht werden, stehen in einem offenem Wettbewerb zueinander, der qualitativ bzw. quantitativ durch die Massenmedien bzw. durch die Künste reguliert wird. […] Jedoch zeichnet sich meiner Meinung nach ab, dass tradierte und aktuelle künstlerische Instanzen in diesem Regulierungsprozess sich anders legitimieren und positionieren müssen als bisher.« 24 (Arthur Engelbert)

Arthur Engelberts aktuelle Studie zu Global Images führt an, welche Künstler sich zeitspezifisch mit den neuen Formen der Bildkontextualisierung und den synthetischen Medienbildern beschäftigt haben. Seine Beispiele deuten darauf hin, dass insbesondere die Künstler der Übergangsgeneration vor der Digitalisierung weitaus individuellere Perspektiven und weniger trendbezogene Strategien verfolgten. In seiner Analyse verfolgt er übergeordnete Fragestellungen, um die Strategien der Aneignung und Aufordnung von Bildern zu hinterfragen. Der »kollektive Körper« der gesammelten Global Images wirkt ortlos und weltlos, fragmentarisiert, zerstückelt und isoliert von seinen Autoren. In Sammelprozessen und Kontextsimulationen werden Betrachtungsweisen generiert, die auf eine Präformierung von Grundmustern zielen, welche sich an technologischen Schemabildungen und Erweiterungen orientieren. Letztendlich werden dabei visuelle Bezüge und Prozesse produziert, die nach seiner Deutung selbst bildlos zu verstehen sind.

24 | Engelbert, Arthur: Global Images. Eine Studie zur Praxis der Bilder, transcript, Bielefeld 2011, S. 93

4. Künstlerische Strategien im Kontext der Digitalisierung 1990-2010

Der deutsche Konzeptkünstler Peter Piller, der sich seit geraumer Zeit mit Strategien der Bildkontextualisierung einen Namen macht, ist mit ersten Publikationen 1998 auf der hier integrierten Zeitleiste zu finden. Zu dieser Zeit arbeitet er noch neben dem Studium in Zeitungsarchiven. Diese Tätigkeit beginnt seine künstlerische Arbeit zu inspirieren. Im selben Jahr startet auch die Suchmaschine Google. Sie wird bald neben allen online-Bilddatenbanken die Bildsuche der Tagespresse bestimmen. Peter Pillers Archiv basiert auf einer Sammlung von ca. 15.000 Photographien aus den verschiedensten Printmedien und aus dem Internet, die er zu den unterschiedlichsten Bedingungen erworben hat. Sein Werk etabliert sich in der Nachfolge und schöner Nachbarschaft zu den Arbeiten von Hans Peter Feldmann. Er lehrt derzeit als Professor für Photographie an der Hochschule für Buchkunst und Grafik in Leipzig. Auch wenn Peter Piller mit seiner Art der formalen Archivierung eine Poesie der Vergleichsstudie souverän etabliert, wird es angesichts der voranschreitenden Digitalisierung fraglich, ob diese Strategien des Bild-Archiv-Arbeiters an Kunsthochschulen weiter gelehrt werden sollten. Immerhin hat er zur Veröffentlichung seiner Sammlungen nicht wenige Bildrechte ankaufen müssen. Mit dem Eigentumsrecht am Besitz der Bilder wird allerdings nicht gleichzeitig das Urheberrecht aufgehoben. Das Urheberrecht löst sich rechtlich erst 70 Jahre nach dem Tod des Autors auf. Neben der Arbeit mit Bildern der Printmedien verführt die virtuelle Bildsuche zu schnellen Erfolgsgefühlen und gleichzeitig zu leichtsinnigen Handlungsweisen bezüglich der Quellen. Aktuell muss jeder bei der Arbeit mit Fremdmaterial beachten, dass es neue Software-Anwendungen gibt (z.B. Image Guard seit 2008), die nicht nur jedes dort geladene Bild mit den Bildern im Netz abgleichen können, sondern auch alle in dieser Datenmenge enthaltenden Bildteile (etwa innerhalb von Collagen) auffinden können. Image Guard hat hierzu eine Oberfläche bereitgestellt, die alle markierten Domain Hits (Treffer im Internet) sogleich rechtsrelevant auflistet und an den für die eigenen Bildrechte arbeitenden Anwalt versandfähig auf bereitet. »Man suche nur nichts hinter den Phänomenen; sie selbst sind die Lehre.« (Goethe-Zitat auf Peter Pillers Webseite)

Die Maschinen unserer Zeit generieren Bilder wie Texte auf Befehl und nach algorithmischer Programmierung. Dabei entstehen kalkulierte Verlinkungen, personenferne und ortlose Wahrnehmungszustände. Bilder und Photographien werden austauschbar, sie erfüllen reine Profilfunktionen. Die photographische Feldforschung wirkt gegen das Sammeln am Monitor wie ein offenes, physisches Wagnis mit dem Zufall als Begleiter. Sie ist ein Heraustreten ins

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körperlich zugängliche Milieu und eine neugierige Kontaktaufnahme mit einer besonderen Sensibilität für Licht, Material und Raumtiefe. Das Selbst am Monitor verliert dagegen seine Fähigkeiten zur Fokussierung. Die Augen beginnen zu starren bei immer gleicher Distanz. Aufgrund dieser Muskelschonung wirkt der umgebende Raum zunehmend flach und verliert seine Tiefe. Selbst Hand anlegen an Objektiv, Blende, Zeiteinstellung, sich selbst positionieren und Ausschnitte setzen, sind aktive Handlungen in physischen Umgebungen. Die Arbeit in der Dunkelkammer scheint ökonomisch nicht mehr effizient. Sie bleibt jedoch Teil eines intimen Umgangs mit der Photographie, der erst mal ohne Clicks und Likes einige Selbstzweifel zu überwinden hat – auch weil die Vorbilder aus der photochemischen Epoche sich viel Zeit für diesen Prozess genommen und eine hohe Qualität angestrebt haben. Es mag ein Vorteil sein, dass der gesamte Papierprozess unbeobachtet passiert und (Buchveröffentlichungen eingeschlossen) mehr Autonomie gegenüber allen virtuellen Verbreitungsmaschinen verspricht als ein digitaler Prozess. Heute wirken die schwarz-weißen Handabzüge der Photographien von Bernd und Hilla Becher wenig distanziert, obgleich sie der »Neuen Sachlichkeit« und Konzeptkunst zugerechnet werden. Es muss doch einem sehr subtilen Bedürfnis und sehr spezifischen Weltverhältnis entsprechen, diese wohl komponierten Aufnahmen von Industrieanlagen über Jahre hinweg anzufertigen. Würden die beiden Künstler heute auch eine Webcam aufstellen, um alle digital erreichbaren Betrachter am Sterben der großen Industrie und an der Demontage und dem Zerfall der großen Maschinen und Fabriken teilnehmen zu lassen? Oder ging es schon bei ihrer Strategie darum, eine möglichst privilegierte Form der Photographie vorzuführen? Schließlich stellte ein schwarzweißer Handabzug in der photochemischen Epoche einen besonderen Wert dar und wurde im Rahmen der mühevollen Langzeitstudie zur kulturellen Geschichte des Landes NRW mit Interesse und Respekt behandelt. Das heutige kreative Schaffen im Selbstunternehmertum gehört keiner Institution mehr an und versucht sich allein im Abhängigkeitsverhältnis zu sich selbst. »Betrachtet man die Maschinen [Industriezeitalter/Digitalisierung], erkennt man einen ›kleinen Unterschied in der Anordnung‹. Schaut man […] auf die […] Angestellten, ›sieht man, dass [der] eine von der Überwachung der Maschine absorbiert ist, dass [der] andere frei ist, sich nach Gusto zu amüsieren, und dass, von da aus, die Differenz radikal ist: [Der] eine wird in kaptiver Aufmerksamkeit gehalten, dem zweiten wird gekündigt.‹« 25 (Bergson/Lazzarato)

25  |  Auszug aus dem Bergson Beispiel in: Lazzarato, Maurizio: Videophilosophie. Zeitwahrnehmung im Postfordismus, b_books, Berlin 2002, S. 56

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Welche neuen Strategien und Projekte in der Fotografie werden in der Zukunft relevant sein und können im Rahmen intensiver Forschungen und Recherchen noch durchgeführt werden? Das Fotografieren ist nur eine Möglichkeit des Bildermachens, realisiert von Individuen, die im Bild regelhaft abwesend sind. Aber keine Fotografie entsteht ohne eine (eigennützige) Autorenperspektive; es ist der Autor, der die Methode gestaltet und entwickelt. Kein Apparat stellt sich von selbst auf. So weit reicht noch das humane Schaffen inmitten der computerisierten Maschinenwelt. Selbst die Webcams werden aufgestellt und eingestellt und sind auf virtuellen Plattformen verbunden mit Sponsoren und lokalen Veranstaltungen. Diese Webcam-Aufnahmen könnte man nun zu verschiedenen Tageszeiten sammeln und zu interessanten Serien zusammenstellen. Eine Webcam in der Antarktis kann uns z.B. Pinguine in unterhaltsamen Situationen zu den verschiedenen Tageszeiten auf unseren heimischen Bildschirm zaubern26: Die Pinguine zeigen ihr Hinterteil, schnäbeln zu dritt oder schwimmen vereinzelt auf Eisschollen im Sonnenuntergang. Man sieht, es geht ihnen doch ganz gut (noch sieht es eiskalt dort oben aus) und dem Kameramann auch, denn der sitzt im Warmen zu Hause. Vielleicht arbeitet er für ein Forschungsunternehmen? Der Künstler beobachtet und kontextualisiert – vielleicht hat er ein Stipendium? Ein nachhaltiges Arbeiten mit der Fotografie? Man stört sich nicht und kann doch teilhaben. Die Internet-Kamera blickt nur in die eine Richtung. Diese Strategie funktioniert gut »zwischen« Menschen und Tieren, wovon die Tiere wenig profitieren, aber immerhin fallen die Belästigungen durch Kameramann und Feldforscher weg. Zwischen Menschen und Gebäuden funktioniert sie vorrangig zur Überwachung. Zwischen Menschen und Menschen noch als quotensicheres Fernsehformat zur Unterhaltung (z.B. Big Brother). Neben aktuellen Projekten, die mit Bildern von Webcams, Überwachungskameras und mit virtuellen Kontrollperspektiven experimentieren27, sind künstlerische Arbeiten zu erwähnen, die sich mit Google-Bildcollagen beschäftigen. Die Künstlerin Cornelia Sollfrank hatte die Idee zu einer Webseite, auf der man durch Eingabe eines Begriffs eine Collage aus Suchbildern erhält (net.artgenerator.com). 1999 ließ sie von vier Programmiererinnen einen »Netzkunstgenerator« erstellen und ging mit dem Slogan online: »A clever artist makes the machine do the work«. Man kann die Seite immer noch aufrufen (Stand 2013) 26  |  Quelle: www.martingrund.de/pinguine/pinguincam2.htm#1/ Stand Abruf 12.04. 14 27 | Rickard, Doug: A New American Picture, White Press, Köln 2010, Verlag Aperture, New York 2012

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und bedienen – powered by Google. Hier wird die Collage-Erstellung ein »Zufallsspiel« zur sogenannten Kunstproduktion, bei der »der Künstler« anonym bleibt und allenfalls zur Begriffseingabe dient – die allerdings auch ohne ihn stattfinden kann. Man probiert den Spaß einmal aus und stellt sofort fest: Das Zufallsspiel ohne Quellenbezüge wirkt ermüdend. Man füttert bloß noch die Maschinen mit leeren Symbolen und die ausgespuckten Resultate können kaum Verbindungen zum Leben herstellen. Gedanken, Gefühle, Handlungen werden hier robotisiert. Es bleibt die Frage nach menschlicher Freiheit in einer Maschinenrealität. »Sie werden auf Hologrammen tippen und in numerisch generierten Landschaften spazieren. Aber das wird die gegenwärtige Glaubenskrise, den Vertrauensverlust zu irgendeiner Wirklichkeit, welcher auch immer, nicht lösen. Computer sind gewaltige Instrumente zum Projizieren alternativer Wirklichkeiten, vorher ungeahnter Welten. Aber das alles hat wenig Sinn, solange wir nicht wissen, wozu das alles.« 28 (Vilém Flusser)

4.3 S tr ategien totaler K ontrolle am fotogr afischen B ild »Jedesmal, wenn der Fotograf auf eine Hürde stößt, entdeckt er, daß der von ihm eingenommene Standpunkt aufs ›Objekt‹ konzentriert ist und daß ihm der Apparat unzählige andere Standpunkte gestattet. Er entdeckt die Vielzahl und Ebenbürtigkeit der Standpunkte seinem ›Objekt‹ gegenüber. Er entdeckt, daß es nicht darum geht, einen vorzüglichen Standpunkt einzunehmen, sondern darum, so viele Standpunkte wie möglich zu realisieren. Seine Wahl ist also nicht qualitativer, sondern quantitativer Art.« 29 (Vilém Flusser)

Seit zwei Jahrzehnten wird Andreas Gursky als konzeptioneller »Photograph« und sogenannter »Becher-Schüler« auf dem Kunstmarkt gefeiert. Seine Bilder sind Paradebeispiele für die Fusion der optischen und digitalen Technologien, deshalb sollen seine Arbeiten an dieser Stelle der Methodenbeschreibungen besonders herausgestellt und analysiert werden. Gursky taucht mit seinen Werken innerhalb der integrierten Zeitleiste zweimal auf: Im Jahre 2006 wird die bis dahin teuerste »Photographie« der Welt versteigert (99 Cent II Diptychon), und 2010 vier Jahre nach dem Start der Suchmaschine Google Earth, 28  |  Beitrag: Neue Wirklichkeit aus dem Computer? (1990), in: Flusser, Vilém: Standpunkte. Texte zur Fotografie, hg. von Andreas Müller-Pohle, Edition Flusser, Band 8, Göttingen 1998, S. 216 29 | Flusser, Vilém: Für eine Philosophie der Fotografie, European Photography hg. von Andreas Müller-Pohle, Edition Flusser Band 3, Göttingen 1983, S. 35

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präsentiert Gursky seine Bildserie Ocean I-VI (digitale Collagen aus Satellitenbildern). Gursky kann seit Beginn seiner Karriere als Künstler und Anbieter auf dem Kunstmarkt als Fotografiker bezeichnet werden. Die Mehrzahl seiner Bilder sind Montagen aus digitalen Fotografiken und digitalisierten Photographien. In einer Fernsehdokumentation30 gibt Gursky informative Hinweise zur Manipulation seines photographischen Materials. Bei dem Bild »Rhein II« (1999) entfernt er aus der Originalaufnahme alle – aus seiner Sicht – störenden Elemente (Heizkraftwerk Lausward/Bildquellen Verweis D31) und begründet dieses Vorgehen damit, dass der Blick des Betrachters ohne Ablenkung vom malerischen Duktus des Wassers angezogen werden soll. Gursky erklärt, dass es ihm bei dieser Arbeit darum ging, seiner Empfindung beim täglichen Jogging Ausdruck zu verleihen, nicht aber darum, eine dokumentarische Ansicht zu bieten. Die Kunstkritik reiht seine künstlerische Strategie in die Becher-Tradition ein. Dabei wirkt seine Methode geradezu konträr zu der seiner Lehrer Bernd und Hilla Becher, die zwar ähnlich distanziert (Neue Sachlichkeit) und doch weniger spektakulär zur Vergänglichkeit arbeiten. Die (kleinformatigen) Schwarz-Weiß-Photographien von stillgelegten Gebäuden lassen in seriellen Präsentationen melancholische Anteile sichtbar werden. Die Industriebauten funktionieren als Monumente und Denkmäler. Sie heben die Erinnerung an eine große Zeit auf. Sie wecken beim Betrachter Empfindungen und Erinnerungen, die ganz entscheidend durch die mühevolle und rational geplante Art der Bildproduktion (serielle Frontalansichten bei bestimmten Lichtverhältnissen) sowie der sorgfältigen Dokumentation und Archivierung des Künstlerpaares herbeigeführt werden. Dem zentralen Objekt, aber auch der Umgebung und allen Details werden so »dauerhafte Augenblickswerte« verliehen. Das dargestellte Objekt, nach Barthes der Referent der analogen Photographie, wird mit dem lichtsensitiven Abdruck, den Handvergrößerungen der BecherMotive remanent. Mit der Reproduktion auf Papier wird in die Bildobjekte die Vergänglichkeit aller Dinge eingeschrieben. In der genannten Fernsehreportage werden Andreas Gursky und Hilla Becher im Gespräch zusammengebracht. Mit seiner Beschreibung der eigenen künstlerischen Strategie offenbart sich Gursky überraschend als oppositionell. Die medienwirksame Behauptung einer Nähe zwischen den Methoden der beiden Künstler wird so ad absurdum geführt. Die ehemalige Professorin lässt 30  |  Künstlerportrait: Andreas Gursky – Das globale Foto, Arte 2009; Quelle: www.you tube.com/watch?v=jTAYMeI9hlg/ Stand Abruf 12.04.14 31 | Bildquellen Verweis D: Rhein II, Andreas Gursky 1999, www.rp-online.de/regionduesseldorf/duesseldorf/nachrichten/kultur/gursky-und-sein-bild-vom-rhein-1.259 9883/ Stand Abruf 15.05.14

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sich seine Jogger-Perspektive freundlich erklären und freut sich mit ihm über seinen Erfolg – der in diesem Falle auch darin besteht, die Industrieanlagen so unmerklich entfernen zu können: »[…] natürlich hast Du da was in Ordnung gebracht […].« Doch wird an dieser Stelle nicht veranschaulicht, um welche Art der Bildbereinigung es sich handelt. Bei der Netzrecherche trifft man auf eine vergleichende Ansicht des Ortes, den Gursky im Werk präsentiert (s.o. Bildquellen Verweis D). So erfährt man über das »Rheinbild«: Bilder lügen nur, wenn der Künstler seine Strategie und Manipulationen verschleiert und nicht als Bestandteil der Bildintention vorführt. Im Jahre 2002 stellt Gursky das »Rheinbild« Gerhard Schröder für den Bundestagswahlkampf zur Verfügung. Der Politiker sonnt sich im Prestige eines erfolgreichen Künstlers (3,1 Mio Verkaufswert), so wie sich der Künstler im Prestige des Kanzlers sonnt. Ist Gursky zum »Hofphotographen« avanciert? In den 30er Jahren verkündete der Künstler John Heartfield: »[…] die Fotomontage war und bleibt die Waffe der revolutionären Künstler.«32 Allerdings waren hiermit vordigitale Fotomontagen gemeint, welche die Bruchstellen im Bildherstellungsprozess mit vorführten und den Akt der Montage selbst als politische Handlung verstanden, die auf revolutionäre Theorien Bezug nahm. Heartfields Montagearbeiten suchten der manipulativen Propaganda seiner Zeit entgegenzuwirken. Gurskys erfolgreicher Einstieg in den Kunstmarkt Anfang der 1990 Jahre beginnt mit seiner Positionierung als »Photograph« und »Becher-Schüler«. Er weiß um die photorealistische Effekthaftigkeit seiner Oberflächen. Als die Möglichkeiten der digitalen Manipulation später auch in die Amateurbereiche der Photographie Einzug halten, positioniert sich Gursky neu als »Bilder32 | Markt, Maria: Fotomontage als politische Aussage. Kontextualisierung durch Fotomontage – eine kunstgeschichtliche Betrachtung, VDM Verlag Dr. Müller, Saarbrücken 2008, S. 97; Vollständiges Zitat John Heartfield, Rede an der Universität in Moskau: »Wir müssen die Fotomontage überall als Mittel des Klassenkampfes benutzen, wo sie auch nur anwendbar ist – in Schulen, in Fabriken und wissenschaftlichen Institutionen. In den Händen eines Menschen, der dieses Mittel geschickt gebrauchen kann, wird es zu einer wahren, wirksamen Waffe des Kampfes, der Einsicht und des Aufbaus. Die Bourgeoisie steht der proletarischen Fotomontage feindlich gegenüber, darin besteht ihre Kraft. Die Bourgeoisie begreift sehr gut die Wirksamkeit dieses Mittels und ist bestrebt, es für eigene Zwecke zu nutzen. Aber ihre eigenen Versuche auf diesem Gebiet sind blass, denn die Fotomontage war und bleibt die Waffe der revolutionären Künstler.« (Töteberg, Michael: 1978, Quelle: www.katy-teubener.de/joomla/index.php/65-semi nare/ifs-2009-mb/245-interdependenzenvon-kunst-und-politik-modifikation-undstrategiewechsel-kunstpolitischer-diskurse/ Stand Abruf 02.06.2014)

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macher« und gewährt der Fernsehdokumentation Einsicht in seine wertschöpfende Arbeitsweise. Diese Dokumentation zeigt, wie Gursky seinen Retoucher 33 delegiert, um Ordnung in seine »Photographien« zu bekommen. Bildteile werden neu zusammengefügt, um eine harmonisch ornamentale Struktur zu erreichen. Für diesen Zweck werden Objekte und Menschen vervielfältigt oder gedoppelt. Die Bildteile werden Aufnahmen entnommen, die zu ganz verschiedenen Zeitpunkten aufgenommen wurden. Unterschiedliche Kameraperspektiven werden am Computer durch Transformationsprozesse und großformatige Composings der Ansichten von den verschiedenen Standpunkten im Raum aufgelöst. Es entsteht eine menschenunmögliche Perspektive – das Bild einer abstrakten Hyperrealität. Alle Menschendarstellungen werden ebenfalls umgeordnet und zu verschiebbaren und kopierbaren Spielfiguren in spektakulären Masseninszenierungen degradiert. »Die Struktur des Massenornaments spiegelt die der gegenwärtigen Gesamtsituation wider. Da das Prinzip des kapitalistischen Produktionsprozesses nicht rein der Natur entstammt, muß es die natürlichen Organismen sprengen, die ihm Mittel oder Widerstände sind. Volksgemeinschaft und Persönlichkeit vergehen, wenn Kalkulabilität gefordert ist; der Mensch als Massenteilchen allein kann reibungslos an Tabellen emporklettern und Maschinen bedienen. Das gegen Gestaltunterschiede indifferente System führt von sich aus zur Verwischung der nationalen Eigenarten und zur Fabrikation von Arbeitermassen, die sich an allen Punkten der Erde gleichmäßig einsetzen lassen. – Der kapitalistische Produktionsprozeß ist sich Selbstzweck wie das Massenornament.« 34 (Siegfried Kracauer)

Das »Ornament der Masse« wird lange vor Gurskys Bildkonzeptionen in den 1970 Jahren von Siegfried Kracauer theoretisch analysiert. Kracauer konzentriert sich dabei bevorzugt auf die Revues der Tillergirls (UK) als Formationen aus Menschenkörpern, die sich hinsichtlich ihrer ökonomischen Funktionalität ausrichten. Das Ornament aus Massengliedern deutet Kracauer als »ästhetische[n] Reflex der von dem herrschenden Wirtschaftssystem erstrebten Rationalität«35. Seine Ästhetik ist die Abstraktion, die »rationale Leerform des Kultes«36. Ein Kult als Rückzug auf mythologische Sinngehalte, deren Schicksal die Irrealität, als Flucht vor der Realität ist. Die Formation der Tillergirls

33 | Engl. Retoucher: Bildretuscheur/Bildbearbeiter 34  |  Kracauer, Siegfried: Ornament der Masse, Suhrkamp, Frankfurt a.M. 1977, S. 53 35  |  Kracauer, 1977, S. 54 36  |  Kracauer, 1977, S. 61

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wirkt laut Kracauer durch ihre Niedrigkeit: »über (s)eine leere und äußerliche Flachheit«37. Verwandte Abhandlungen zu »Masse und Macht« (Elias Canetti, 1980) und zum Bild der Masse (in: Medien-Bildern/Götz Großklaus, 2004) untersuchen die unterschiedlichen Masse-Typen, denen Gurskys Bildproduktion gerade zuspielt; dabei ist nicht nur die entsprechende Wahl seiner Aufnahmeorte gemeint: Arirang-Festival Nordkorea, Madonna-Konzert LTU Arena Düsseldorf, Fußballstadion Signal-Iduna-Park Dortmund etc. Auch mit der Durchführung der Bildmontage, die danach strebt die ornamentale Struktur zu glätten und zu perfektionieren, statt sie zu durchbrechen, demonstriert Gursky seine Strategie der Verflachung durch ornamentale, geschlossene Massenanordnungen. Canetti unterscheidet die »offene, natürliche Masse, die immer wachsen will« von der »geschlossenen Masse«, die sich immer nur innerhalb bestimmter Grenzen formiert. Der Prototyp der geschlossenen Masse ist die kriegerische Masse, die Armee und jede Menschenmasse, die sich auf Druck totalitärer Regime formiert. »Aber auch alle anderen gesteuerten und ideologisch zugelassenen Massen-Ansammlungen, wie etwa die bei großen Sport-Veranstaltungen, gehorchen diesem Typus einer durchgängigen Modellierung eines einzigen Massen-Körpers.«38 Großklaus unterscheidet mobile Massen (Freizeit-Massen), global zerstreute Massen und lokal verdichtete Massen. Bei allen Beschreibungen der verschiedenen Typen wird offenbar, dass jedes Zeitgeschehen und jede Zeugenschaft in einer parallelen, medialen Zeugenschaft stattfindet und dass sich mit der Möglichkeit der Echtzeitübertragung eine Gleichzeitigkeit von Bild und Geschehen realisiert. Diese Realität der Beobachtung zweiter Ordnung, »den idealen Beobachtungsplatz«, deutet Großklaus als privilegiert und elitär. Er befindet sich auf der hyperrealen Ebene der Medienrealität. Gurskys Bildkonstruktionen fungieren als Ansichten dieses zweiten Beobachtungsplatzes. Das Besondere an seinen Bildern sind dabei die aufwendigen Fotomanipulationen, die großformatig, voller scharfer Details und nachträglich harmonisch geordnet funktionieren. Indem er die Nahtstellen seiner Collagearbeiten verwischt und unsichtbar macht, produziert er eine homogene, geschlossene Bildoberfläche, die nun scheinbar die dokumentarische Fotoansicht eines Augenblicks präsentiert. Die Doppelung der Details und der Spielfiguren vergrößert und erhöht die gezeigten Spektakel und Events. Gurskys Platzierung und Montage der Menschenfiguren erinnert an die Modelle von künstlichen Landschaften und Warenhäusern in Architektenbüros und an die Art und Weise, wie dort gestylte Figuren als Prototypen eingebaut und verschoben werden können.

37  |  Kracauer, 1977, S. 63 38  |  Großklaus, Götz: Medien-Bilder, Suhrkamp, Frankfurt a.M. 2004, S. 17

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In dem Buch »Andreas Gursky. Architektur« werden eine Vielzahl seiner bekannten Werke von jeweils einem von ihm selbst ausgesuchten Autor besprochen. So schreibt Alfred Nordmann über das Bild »Nha Trang«, einer Collage aus dem photographischen Material von einer KorbflechterInnen-Fabrik. In der Fabrik arbeiten 6500 Frauen, die zum Zeitpunkt der Aufnahme 2004 einen Stuhl für Ikea anfertigen. »So wenig die industrialisierte Handarbeit der vietnamesischen Fabrik unserer westlichen Erfahrungswelt entspricht, so treffend […] doch, wie wir deutschen Konsumenten unsere anonym-individuellen Lebensräume gemütlich ausstaffieren. Aus Gurskys außerplanetarischer Warte betrachtet, rücken die vietnamesischen Produzentinnen in eine unheimliche Nähe zu ihren um Welten geschiedenen Abnehmern. Diese Nähe erscheint so unglaubwürdig wie die außerplanetarische Warte selbst, wenn wir unsere Nasen an Gurskys großartiger Fülle platt drücken. Und so hält uns das Bild in der Schwebe zwischen der Verführungskraft einer grenzenlosen Welt immer gleicher Produktion und Konsumtion und der Grenze unseres Fassungsvermögens, das an den alten Geschichten von Ressourcenknappheit, menschlicher Entfremdung und sozialer Differenz festhält. Die Fülle murmelt nur, sie spricht nicht.« 39 (Alfred Nordmann)

Diese Interpretation führt einleuchtend und zugleich mystifizierend vor, welche Art der Auseinandersetzung Gursky wählt, wie groß seine Distanz zu den Menschen ist, die er ablichtet und wie sich der Abstand zwischen dem Betrachter und den Dargestellten vergrößert. Der Betrachter befindet sich im erhabenen Museumsraum, dem White Cube: »Der neue Gott, der extensive und homogene Raum«40 (Brian O’Doherty). Durch übergroße, sich spiegelnde Fenster (Fotolaminierungen hinter Acryl) schaut er hinab auf die Erde. Die Abgebildeten führen dort unten ihren so exponierten irdischen Sklaventanz auf. Und tritt man dichter an das Bild heran, dann ist den Gesichtern, die durch eine enorme Tiefenschärfe des addierten Großbildmaterials gerade noch gut zu erkennen sind, keine Regung anzusehen (– nicht jede Kultur erlaubt es, den Unmut über seine Arbeitssituation, wenn auch nur mimisch, öffentlich zu kommunizieren). Gezeigt wird die Arbeitssphäre, nicht der private Raum oder ein darauf verweisendes Momentum, sondern eine Szene aus der global organisierten Niedriglohnarbeit. Hier begründet sich die Macht und Funktionsweise des Turbokapitalismus, die sich seit den 1990 Jahren verstärkt überregional an Effizienz, Aktienwerten und Profitmaximierung ausrichtet. 39  |  Publikation anlässlich der Ausstellung: Andreas Gursky. Architektur, hg. von Ralf Beil und Sonja Feßel, Institut Mathildenhöhe Darmstadt und Hatje Cantz, Ostfildern 2008, S. 89 40  |  O’Doherty, Brian: In der weißen Zelle. Inside the White Cube, Merve Verlag, Berlin 1996, S. 99

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Die Kunststrategie von Gursky steht in deutlicher Opposition zu den Verfahren der Reisenden mit Kamera, die sich an entfernten Orten um eine sich von der heimischen Berichterstattung unterscheidende Perspektive und um eine besondere Einfühlung in die Lebenslagen der Bewohner bemühen. Das menschliche Antlitz, der Ausdruck von Menschengesichtern, die Lektüre ihrer Lebensspuren ist nicht Gurskys Thematik. Gesichter werden hier nur als geschichtslose Faces, als »Gesichtszitate« gebraucht. Es geht dabei um eine neue Art technik-affiner Wahrnehmungen; um selektive Recherchen von Musterflächen, Reihungen und Paraden. »Es ist der Blick des Adlers mit den Augen einer Fliege«41, der Blick eines Zwitterwesens, ein hybrider Mensch-MaschineBlick. Eine erhabene, menschenunmögliche Perspektive. Die Maschinenperspektiven finden sich bei paralleler Betrachtung von interaktiv animierbaren Webcontents wie Google Earth wieder. Hier fliegt man virtuell visualisiert um den Erdball, zoomt sich in Vorgärten und checkt Verbindungswege ab. Ein anderes Beispiel jener Darstellungen zu körperfernen Höchstgeschwindigkeiten findet man in ähnlich anmutender Weise auf flightradar24. com (Stand Abruf 14.06.2013). Hier kann man in Echtzeit Geschwindigkeit und Masse von Flugobjekten global verfolgen. Rein optisch wieder ein erhabener Blick – aber erschreckend zugleich, wird hier doch deutlich, dass der aktuelle Flugverkehr alle Bemühungen von Klimakonferenzen als lächerliche Scheinveranstaltungen demaskiert. Hier können wir schauen, wo unsere Fernbeziehungen gerade fliegen. Man gibt dazu lediglich die Flugnummer und die Fluggesellschaft ein, und schon kann kontrolliert werden, wo die vertraute Person sich gerade befindet: über sibirischen Steppen oder dem offenen Meer. Die Kontrollperspektiven lassen sich ihrer Herkunft gemäß kriegsstrategisch einsetzen, wie sich anhand neuzeitlicher Software mit ferngesteuerten Drohnen belegen lässt. Diese Kriegstechnologie kommt (wie das Arpanet) aus Amerika. EADS, Europas zweitgrößter Rüstungskonzern ist ebenfalls mit der Weiterentwicklung und Produktion von Drohnen beschäftigt. Der Sitz der Deutschland-Zentrale des Konzerns befindet sich in Ottobrunn bei München. Der weltweite Drohnenkrieg, wie er in diesem Moment stattfindet, kann ohne den Luftwaffenstützpunkt Ramstein nicht funktionieren. Dort laufen alle nötigen Informationen und Satellitensignale zur Steuerung der Drohnen zusammen. Der U.S. Stützpunkt soll dabei nicht der einzige in Deutschland sein, der die Einsatzführungskommandos der amerikanischen Streitkräfte steuert (siehe AFRICOM/Stuttgart-Möhringen). Eine politische wie völkerrechtliche Konsequenz bezüglich der Bereitstellung von Informationen und Signalen lässt noch auf sich warten. 41  |  Rauterberg, Hanno: Gursky, Gursky über allem, DIE ZEIT Online 25. Januar 2012, Quelle: www.zeit.de/2012/04/Gursky/ Stand Abruf 01.05.14

4. Künstlerische Strategien im Kontext der Digitalisierung 1990-2010 »Piloten und Panzerführer wurden zu Cyborgs, untrennbar verbunden mit ihren hoch entwickelten visuellen Prothesen, die ihnen die digital verstärkten, geisterhaft-grünlichen Ansichten der dunklen Kampfgebiete lieferten. Es gab keinen Matthew Brady, der uns die Leichen am Boden zeigte, keinen Robert Capa, der uns mit der menschlichen Realität eines Kopfschusses konfrontierte. Stattdessen wurden die Leute zu Hause mit sorgfältig ausgewählten, elektronisch aufgenommenen und manchmal sogar generierten Bildern einer distanzierten, unpersönlichen Zerstörung abgespeist. Abschlachtung wurde zum Computerspiel: ›Der Tod imitierte die Kunst.‹ Das Zitat steht beispielhaft für die moralische Aufladung, die die Diskussion um fotografische und postfotografische ›Wahrheit‹ über diesen Kontext erhielt: Die elektronische Bildtechnologie steht für den Blick von oben, den Feldherrenblick, der nur anonyme Ziele im Visier hat.« 42 (Susanne Holschbach)

Neben dem Maschinenblick von oben, den Gursky als ordentliches Muster inszeniert, präsentiert der Konzeptkünstler eine imaginierte und collagierte Architektur, die er durch Auflösung und Rekombination des objektiven Raumes computergeneriert. Das Kameraobjektiv herkömmlicher Photoapparate verzerrt jede Raumansicht mit »stürzenden« Linien. Diese können mithilfe der Standarte und Verschwenkungsmöglichkeiten einer Großbildkamera gerichtet werden. Genauso können sie mithilfe des Transformationswerkzeugs im Photoshop gerichtet werden. Gursky weiß jene bekannten Raumbilder noch zu steigern. So photographiert er von einem Hubschrauber oder Kran aus. Im nächsten Schritt werden die Aufnahmen von nebeneinander liegenden Standpunkten aneinandergereiht, zusammengesetzt und die Nahtstellen photorealistisch retuschiert. Bei Gursky wird die Erde wieder flach, wie eine Scheibe, aus erhöhter Warte betrachtet. Seine Arbeiten zur Gebäude- und Landschaftsarchitektur erinnern an Gemälde Pierre Patels (»Schloss Versailles«, 1668, Bildquellen Verweis E 43), an Modellansichten von Albert Speer (Berlin, Modell der Neugestaltung 1993, Bildquellen Verweis F44) und an Photographien von 42 | Holschbach, Susanne: Kontinuitäten und Differenzen zwischen fotografischer und postfotografischer Medialität, Quelle: www.medienkunstnetz.de/themen/foto_ byte/kontinuitaeten_differenzen/ Stand Abruf 12.04.14 43 | Bildquellen Verweis E: Stadium, Andreas Gursky, www.areasucia.com/andreasgursky,/ Stand Abruf 17.05.14; vgl. Chateau de Versailles, Pierre Patel 1668, http:// commons.wikimedia.org/wiki/File:Chateau_de_Versailles_1668_Pierre_Patel.jpg/ Stand Abruf 17.05.14 44  |  Bildquellen Verweis F: Nha Trang, Andreas Gursky 2004, www.mrmagoosmilktruck. com/wp-content/uploads/2012/03/andreas-gursky-02.jpg/ Stand Abruf 15.05.14; vgl.: Modell der Neugestaltung Berlins (»Welthauptstadt Germania«), Architekturmodell Albert Speer 1939, http://de.wikipedia.org/wiki/Welthauptstadt_Germania/ Stand Abruf 15.05.14

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Massenkundgebungen zur NS-Zeit, die auch Götz Großklaus in seiner Analyse von Medien-Bildern und »Bild[ern] der Masse« beispielhaft abbildet.45 In distanzierter Weise formuliert Gursky, dass die Wirklichkeit konstruiert werden muss, weil sie immer einem Konstrukt entspricht. Dies kann als seine eigene wahrhafte und zeitspezifische Geste gelesen werden. Auch setzt er auf eine gewisse Autonomie des Kunstwerks ohne Subjekt, das sich vom Künstler ablöst und sich selbst seinen Platz im rekursiven Driften des Kunstbetriebs sucht. Da sich die »Welt« bei all unseren Versuchen der »Welt-Beschreibung« sogleich entzieht, ist keine Beschreibung der Welt mit der Welt selbst zu verwechseln. In diesem Sinne ist jede Weltbeschreibung textueller oder grafischer Art immer nur eine »Konstruktion«. Das allein aber ist noch kein Gütekriterium, zumal es in der Vielfalt kultureller Kodierungen keine Beliebigkeiten gibt. Was auch immer ein Bild-Konstrukt ohne Subjekt sein soll (eine Selbsttäuschung?), die Betrachter lesen »ihre« Bilder im Kontext ihrer Erwartungen und Bereitschaften, sich überraschen zu lassen. »Zwar irritiert auch diese Bildproduktion zunächst das visuelle Regime; letztlich aber fixiert sie Klischees ebenso wie die Konzertfotografie und trägt gerade nicht zur Erweiterung und Ausdifferenzierung des Sinnlichen bei. Gurskys Bildstrategie kann von daher als Symptom dafür herausgelesen werden, dass das Ästhetische, wenn es sich nicht mit dem Politischen in Rancières Sinn verbindet, als welches es reale Partizipationsansprüche erhebt und sich von den gesellschaftlichen Vorgängen affizieren lässt, zu einem ideologische und bildliche Vorannahmen festschreibenden künstlerischen Spiel vorkommt.« 46 (Michaela Ott)

Je mehr man sich mit der Strategie von Gursky beschäftigt, desto deutlicher wird vor allem ihre Effizienz: Gursky hat einen bildgebenden Stil gefunden, der sich auf unterschiedlichste Orte und Events übertragen lässt und dabei stets ähnlich monumental anmutende Effekte garantiert. Tatsächlich muss er zur Umsetzung seiner Bildvorstellungen heute weder photographieren noch retuschieren noch Abzüge oder Drucke selbst erstellen, wie es in der oben angeführten Fernsehdokumentation nachvollziehbar demonstriert wurde. Gurskys Operationen gleichen den Werbestrategien, bei denen der Art Director den photographischen Materiallieferanten (wie Gursky seine Assistenten) auf Style und Location »brieft« und anschließend die Postproduktion delegiert, supervi45  |  Bildquelle: Nürnberger Parteitag 1934, in: Götz Großklaus: Das Bild der Masse, in: Medien-Bilder, Suhrkamp, Frankfurt a.M. 2004, S. 31 46  |  Ott, Michaela: Zum Verhältnis des Ästhetischen und Politischen in der Gegenwart, in: Ästhetik + Politik. Neuaufteilungen des Sinnlichen in der Kunst; hg. von Michaela Ott und Harald Strauß, Textem Verlag, Hamburg 2009, S. 25

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sed. Am erfolgreichsten sind zur Zeit jene Künstler, die möglichst schnell zu einer agenturähnlichen Arbeitsweise übergehen und sich nicht mehr selbst mit der mühsamen Erstellung der Objekte auf halten. Begünstigt wird diese Arbeitsweise gegenwärtig durch die Masse unversicherter Creative Freelancer, die in Kombination mit einer Grundsicherung jederzeit und ungeregelt bereit sind, als Assistenten von Künstlern Aufträge anzunehmen. Gursky etabliert sich mit seiner Delegation aus Mitarbeitern und Unterstützern als postmoderner Konzeptkünstler, und es gelingt ihm, übergroße Formate in die Museen einzuschleusen. Gursky zeigt uns mit seinen »Photographien« – die keine mehr sind – wie Bildproduktionen in Zeiten der Globalisierung prozessieren und wie diese Bildgestaltungen denen von kommerziell orientierten Fotodesignern nahekommen. Sein Umgang mit Bildmaterial deckt sich mit dem großangelegter Werbe-Composings. Die photochemische Epoche scheint erledigt. Gurskys Kontrollperspektiven faszinieren nicht nur Politiker, sie sprechen auch Börsenmakler und Finanzdienstleister direkt an. Gurskys Motive sind wiederholt als Referenzen und Mood-Vorlagen für Plakatkampagnen genutzt worden.47 Seine Strategie und Ästhetik passen »nahtlos« zur kommerziellen Werbung, denn es geht ums Gefallen, ums Wiederholen, um Aufmerksamkeit, um Größe, um größtmögliche Kontrolle und ums Verkaufen. Mit 99 Cent II Diptychon hat Gursky die teuerste »Photographie« der Welt produziert – eine photographisch anmutende Bildcollage, ein Warenpuzzel in Bannergröße. Chicago Board of Trade II als eine von zwei Börsen-Darstellungen von 1999 gehört vielleicht zu den Bildern, bei denen wir außer einer »digitalen Struktur aus Menschen« am wenigsten wahrnehmen können, was unserer Erinnerung an Photographien entspricht. Wieder wird der Raum in der Nachbearbeitung flach aufgelöst und die Bewegung der Menschen durch Mehrfachdoppelung zusammengesetzt. Es stellt sich keine Empfindung ein – weder zu den Gesichtern, noch zu den unterschiedlichen Momentaufnahmen, die der ornamentalen Doppelung und nicht der vergleichenden Studie dienen. »Chicago Board of Trade offenbart […] die Funktionsweise einer entfesselten globalen Wirtschaft. Einer Handelswelt, die trotz Hightech archaischen Gesetzen und Ritualen folgt, die unüberschaubar geworden ist und dennoch von übergeordneten Energie-

47 | Vgl.: Outdoor Lions. Plakatkampagnen aus Cannes, Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg, Edition Braus im Wachter Verlag, Heidelberg 2008

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Fotokunst in Zeiten der Digitalisierung strömen gelenkt wird, deren Verursacher selbst nicht mehr sichtbar sind.« 48 (Reinhard Spieler)

Nicht erkennbar sind die Zeitpunkte, an denen die Aufnahmen erstellt worden sind, die hier per Photoshop zu einem ästhetischen Muster zusammengefügt wurden. Erkennbar und entfesselt erscheinen aber einmal mehr die Preise für Gurskys Bilder, die mittlerweile selber wie »Aktien« global ge-handelt und nicht wie »Bilder« be-handelt werden. Einst waren auch Aktien kleine grafische Kunstwerke wie Papiergeld und Briefmarken, heute bestehen Aktien nur noch aus Signifikantenketten in imaginären Depots, die immer wieder umgebucht werden können. Diese Realität zeigt vielleicht die Zukunft der digitalen Kunst an. Diese kann jederzeit verschwinden und wieder auftauchen, wird als binäre Kette hinterlegt, aufgerufen und umgebucht. Die »übergeordneten Energieströme« unserer Zeit, wie sie von Reinhard Spieler in dem Börsenbild identifiziert werden, lassen sich ebenso auf die vorherrschenden kapitalistischen Machtstrukturen und deren weniger spirituelle Anwendungen beziehen. Dass die Verursacher von den Machern getrennt werden, begünstigt ein Handeln ohne Verantwortung. Die Spekulation, das Glücksspiel an den Börsen, hat bei Vielen, die über keine Mittel zur Spekulation verfügen, die nicht spielen, sondern arbeiten und diesen Unterschied noch kennen, zu einem weitreichenden Verlust der Existenzgrundlagen geführt. Diejenigen, die die Verluste produzieren, werden keinesfalls zur Verantwortung gezogen. Man muss vielmehr erkennen, dass die Banken und Börsen unter dem Schutzschirm des Staates stehen. »Ökonomie ist nicht – und war nie – neutraler Tauschplatz gleichberechtigter Partner, sie setzt immer asymmetrische Machtbeziehungen voraus.« 49 (Maurizio Lazzarato)

Die Börse ist die Kathedrale, in der die Messen der Geldmehrung und geräuschlosen Umbuchungen gefeiert werden. In denen das Wunder der Wandlung von vergifteten Papieren in Wertpapiere stattfindet. Gegen die Künste der Banken und Börsen, die auf das »Falschnehmen« setzen, sind die Künste der Künste, die auf das »Wahrnehmen« setzen, ohnmächtige Künste. Die Faszination für diese Arenen- und Kathedralenästhetik lässt sich für die 1990 Jahre vielleicht noch verständlich machen, wirkt aber heute vor dem Hintergrund der Länderinsolvenzen und zusammenbrechenden Arbeitsmärkte als Resultat globaler Spielsüchte wie eine perverse Überhöhung. 48  |  Reinhard Spieler in: Andreas Gursky. Architektur, hg. von Ralf Beil und Sonja Feßel, Institut Mathildenhöhe Darmstadt und Hatje Cantz, Ostfildern 2008, S. 61 49  |  Ankündigung/Klappentext zu: Lazzarato, Maurizio: Die Fabrik des verschuldeten Menschen – ein Essay über das neoliberale Leben, b_books, Berlin 2012

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Bei Gursky haben die Geldströme, Finanzkrisen und Umbuchungen per Knopfdruck keine Gesichter. Der Rhythmus der Ornamente ist digital und entspricht nicht den natürlichen menschlichen Bewegungen, die sich, passend zu den Raumvorgaben, nicht homogen und gleichgeschaltet ereignen können, sondern durchaus »unschöne« Lücken in der Struktur aufzeigen. Der Grund, warum sich bei dieser Art der Abstraktion kein photographischer Erfahrungsgehalt ermitteln lässt, liegt mit an der Beschneidung und (Um-/)Ordnung aller unintendierten Details, die laut Roland Barthes in ihrer Fülle erst die Faszination der Photographie ausmachen (Effet du reel). So ist es am Ende die Orientierung an der abstrakten Malerei, vielleicht auch an den Malereiklassen der Düsseldorfer Akademie, auf die Gurskys übergroße Formate und Collagearbeiten mit photographischem Material Bezug nehmen wollen. Gursky lenkt den Betrachter auf diese Fährte, indem er ein Werk von Jackson Pollock One (Nr. 31, 1950, Größe 270 x 530 cm), aus der Distanz aufzeichnet. Die abstrakte Oberflächenstruktur der Drip Paintings ähnelt der Struktur seiner monumentalen Szenarien aus bunten Menschenflecken, wenn der Betrachter sich selbst auf diesen vorgeschlagenen Standpunkt zur Museumswand entfernt. Beim Herantreten kann man den Titel lesen und dann die Bilddetails identifizieren. Ein großes Gebäude, ein Festgelände, eine Landschaft erkennt man sofort, wenn man sich den flirrenden Flächen nähert und damit photorealistische Details (Häuser, Menschen, Bäume) deutlich erkennbar werden. Dann wird eindeutig, dass diese Fotocollagen keine Malereien sind, dass das akribisch Gebaute – starren Blickes auf den Computermonitor – kaum mit der Farbtropf-Methode mit Körpereinsatz vergleichbar wird. Über die Phänomene der Abstraktion bei Gursky führt Eva Witzel 2012 eine umfassende, vergleichende Untersuchung aller kunsttheoretischen wie fototheoretischen Beschreibungen zur Abstraktion durch. Sie kommt dabei selbst zu dem Schluss, dass sich die Phänomene der Abstraktion in der bildenden Malereikunst wesentlich von denen in der Fotografie unterscheiden, da »der Betrachter die Ungegenständlichkeit in der Fotografie nicht so wahrnehmen kann wie in der Malerei. Die Fotografie wird zunächst gegenständlich erzeugt, die Licht- und Schattenspuren eines Objektes werden in Verbindung von Optik und Chemie in die Fläche überführt und fixiert. Die Wirkung des fotografischen Ergebnisses kann dann wiederum ungegenständlich sein. Da eine Fotografie in der Regel immer eine Gegenstandsbeziehung voraussetzt – unabhängig davon, ob dieser Gegenstand im Bild später wahrgenommen wird oder nicht – bleibt ihre Abstraktion stets eine relative. In der Malerei hingegen kann eine ›reine‹ oder absolute Abstraktion realisiert sein«50. Nun handelt es 50  |  Witzel, Eva: Die Konstitution der Dinge. Phänomene der Abstraktion bei Andreas Gursky. transcript Verlag, Bielefeld 2012, S. 49 f

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sich bei Gursky nicht um rein photochemische Abdrucke, sondern um digitale Fotocollagen aus zumeist analogen gescannten Filmmaterialien. So wird es ihm möglich, anhand der Collagetechnik ornamentale Strukturen zu bauen, die aus der Entfernung betrachtet malerisch wirken. Gleichzeitig wird mit der photorealistischen Detailtreue jede abstrakte Wahrnehmung gebrochen, und die Bilder werden wieder als gegenständlich und photographisch gelesen und aufgefasst. Allerdings dürfte es nicht ausreichend sein, nur die Distanz zum Bild und das verschwommene Schauen auf ein Bild als Bedingung anzuführen, um die Fotografik in die kunsthistorische Tradition der Abstraktion einzureihen. Die rhetorische Bezugnahme und die rein ästhetische Allegorie vermögen natürlich vom eigentlichen Gegenstandsbereich der Photographie abzulenken und das Zeitbild aus seiner Verortung zu lösen und in die Kunsthistorie einzupassen. Gursky selbst lässt in einem Interview verlauten, dass es niemals seine Absicht gewesen sei, »kunstimmanente Fragestellungen bewusst aufzugreifen und sie in modernen Ausprägungen neu zu formulieren. Eine solche kontextbezogene Vorgehensweise führt meiner Meinung nach letztendlich zu langweiligen Ergebnissen, weil das Kalkül den irrationalen Gesetzen der Bildfindung den Freiraum entzieht.«51 Der Kunsthistorik sei also Einhalt geboten, die Analysen der Abstraktion auf die Fotografik bzw. auf »photo-realistische« Oberflächen anzuwenden. Ein Bezug zwischen Gursky und Pollock mag vielmehr auf inhaltlicher als auf genrespezifischer Ebene zu finden sein: So wird die Abstraktion in der amerikanischen modernen Malerei rückblickend als politischer Selbstbehauptungsprozess innerhalb der Zeit des Kalten Krieges interpretiert.52 Gurskys Kontrollperspektiven können heute vielleicht auch als Ausdruck eines Selbstbehauptungsprozesses in einer Welt der globalen Massenproduktion gelesen werden. Seine Ansichten markieren den eigenen Standort Deutschland im Zukunftsprojekt einer Europäischen Union, im Ringen um Gewinne und Verluste in einer Übergangszeit. Beim Vergleich der zeitgenössischen Strategien von Andreas Gursky und Joel Sternfeld geht es im Weiteren um die Wiedereinführung der Frage nach dem Sinn und nach der besonderen Wahrheit von Kunst in der Übergangsgesellschaft; zu fragen ist nach den Erwartungen an künstlerische Fotografie. Ist die Forderung nach Authentizität noch kommunizierbar und ist es legitim, nach den Absichten der Künstler zu fragen? Oder muss das Werk für sich sprechen und in sich selbst stehen im Spiel von Offenbarungen und Verhüllungen?

51  |  Witzel, 2012, S. 98 52 | Guilbaut, Serge: How New York Stole the Idea of Modern Art: Abstract Expressionism, Freedom and the Cold War, University of Chicago Press, Chicago 1985

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Joel Sternfeld wechselt seinem eigenen Selbstverständnis nach über die Jahre frei zwischen Sujet, Aufnahmetechnik und Stil hin und her. Er will keinerlei Erwartungshaltung in Bezug auf die Endprodukte befriedigen müssen. Jedes Projekt ist ein Projekt seiner Wahl und entspringt seinem persönlichen Interesse. Sternfeld fühlt sich nur sich selbst und den Anderen, die er aufsuchen wird, verpflichtet. Zweifel sind allerdings berechtigt: Kann sich ein Individuum in seinen latenten und offenen Absichten selbst so durchsichtig sein, dass es alle geheimen Milieuaufträge und traditionellen Einschreibungen von kulturellen und normativen Schemata in sich bemerken, tilgen und kontrollieren kann? Den mühsamen Weg, auf den er sich begibt, kaum planbar, zeitaufwendig, mit der Kamera in der Hand, kann man in jedem seiner Bücher und Projekte verfolgen. Hier geht es nicht um eine abstrakte Wahrheitssuche. Auch nicht um die Perfektionierung und Erhaltung eines gefundenen Stils oder um effektive Ausweitung des Werks. Sternfeld geht es um eine kontinuierliche Suche nach dem Menschen mit seinen sozialen Prägungen inmitten seiner Lebenswelt und um den Versuch, innerhalb der Feldforschung selbstreflektiv zu handeln, zu interagieren, sich selbst zu verändern. Der Umgang mit der Fotografie scheint bei Gursky und Sternfeld zeitspezifisch zu sein und dokumentiert für uns alternative Bemühungen in einer Übergangszeit. Wenn wir uns heute im Zuge der voranschreitenden Digitalisierung fragen, inwieweit die Fotografie unsere Zeit in Bilder fassen kann, dann muss sogleich die Frage folgen, um wessen Zeit es denn dabei geht? Wenn jeder in seiner eigenen Wirklichkeit und Lebenszeit lebt, dann können wir die Fotografie als Geste der Mitteilung verstehen – die Zeit miteinander zu teilen und ein kollektives Bewusstsein zu schaffen. Communicare heißt teilen. Künstlerische Strategien können dazu dienen, Dialoge anzubieten. Genauso können sie sich der Kommunikation verweigern und mit dem schönen Dekorieren der Welt zufriedengeben. »For me personally, the big difference obviously is you are working with a client in an ongoing dialogue […] I am telling you that my creative process [in the darkroom] has a lot of self-doubt. […] I am not making it for a particular market, I am making it to please myself. At my time the art was much more personal and I am coming from this tradition […] I am trying to create images, so that it is working out for me – and hopefully for the audience – but that would be the last thing I would think about!« 53

53 |  Jerry N. Uelsmann (Vorreiter der analogen Photomontage/60er Jahre) im Gespräch/ Ausstellung: Faking It – Manipulated Photography Before Photoshop, Metropolitan Museum of Art, Oktober 2012, Quelle: www.youtube.com/watch?v=cK70OCd88Gw/ Stand Abruf 12.04.14

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4.4 V erbliebene K amer a -M e thoden der I nter ak tion (Face -to -Face ) »Die von der Fotokritik an die Fotografie zu stellende Frage lautet (demnach): Inwieweit ist es dem Fotografen gelungen, das Apparatprogramm seiner Absicht zu unterwerfen, und dank welcher Methode? Und umgekehrt: Inwieweit ist es dem Apparat gelungen, die Absicht des Fotografen zugunsten des Apparatprogramms umzuleiten, und dank welcher Methode? Auf der Grundlage dieses Kriteriums ist jene Fotografie die ›beste‹, bei welcher der Fotograf das Apparatprogramm im Sinn seiner menschlichen Absicht besiegt, das heißt, den Apparat der menschlichen Absicht unterworfen hat. Selbstredend gibt es solche ›guten‹ Fotografien, in denen der menschliche Geist über das Programm siegt.« 54 (Vilém Flusser)

Bei einem Besuch des Ausstellungshauses C/O Berlin 2012, verdichteten sich meine Fragen zu konzeptionell manipulierten Fotografiken im Vergleich zu perzeptiven Abbildern, die als photographische Spiegelbilder in Erscheinung treten. In der Ausstellung wurde eine (vorzeitig vorgenommene) Retrospektive zu den Werken des noch aktiven Photographen Joel Sternfeld gezeigt. Er gilt als ein Vertreter der New Color Photography der späten 1970 Jahre. Seine verschiedenen Projekte zeichnen sich dadurch aus, dass er alltägliche soziale Situationen und Szenen photographiert und Portraits an Orten realisiert, denen eine besondere Geschichte anhaftet. Seine Reiseexperimente sind als intensive Entdeckungsfahrten zu verstehen, wollen sie doch den wechselseitigen Prägungen von Mensch und Milieu auf die Spur kommen. Bekannt wurde er durch seine Recherchen zu Tatorten menschlicher Gewalt in den USA 55. Zum Millennium wiederum photographiert er eine von der Natur eingenommene stillgelegte Hochbahntrasse in Manhattan und trägt mit seinem Projekt zu ihrem Erhalt bei. Sie wird – durch seine Photographien als humaner Raum ausgewiesen – zu einem begehbaren Park für die Allgemeinheit umgestaltet. Im Anschluss daran arbeitet er an Orten praktischer menschlicher Utopien, in Ökodörfern und alternativen Lebensgemeinschaften56. Sein spätes Interesse an der Umweltthematik führt ihn zuletzt zu zwei Mega-Events der Szene. Auf den Protestmärschen zum G8-Gipfel in Genua 2001 entsteht seine Portrait-Serie Trading on Kings. 2005 produziert er eine weitere Reihe von Portraits auf der 11th United Nations Conference on Climate Change in Montreal.

54  |  Flusser, Vilém: Für eine Philosophie der Fotografie, European Photography hg. von Andreas Müller-Pohle, Edition Flusser Band 3, Göttingen 1983, S. 43 55 | Sternfeld, Joel: On This Site. Landscape in Memoriam, Steidl Verlag, Göttingen 2012 (Photos 1997) 56 | Sternfeld, Joel: Sweet Earth, Steidl Verlag, Göttingen 2006

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Im Unterschied zu Gurskys distanzierten Totalen taucht Sternfeld in die »Massen-Ansammlungen« ein, um sein menschliches Gegenüber aufzusuchen, zu befragen und dann mithilfe der Photokamera kontextsensible Portraitbilder aufzunehmen. Diese deutlich andere strategische Geste mit dem Apparat folgt nicht den kontemporären Verhaltensaufforderungen, geschichtsbildende Momente aus der Distanz zu betrachten und die Welt als bildgebende Ressource aufzufassen und zu bearbeiten – oder auch nur in Passivität am Monitor zu erfahren – sich also nicht mehr aktiv auf die Suche zu begeben, einzutauchen, einzugreifen, beteiligt zu sein. Der photographischen Feldforschung in eigener Sache nachzugehen ist eine Möglichkeit, im Interaktionsraum außerhalb des Studios dem Anderen zu begegnen, um im Spiel und Wechsel der Perspektiven neue Hinsichten zu erfahren und mithilfe der Kamera festzuhalten. Angesichts der bekannten Bilder von Börsenhektik und Bankenkrisen stellte ich mir selbst oft die Frage, was die Gesichter der Wertpapierhändler wohl ausdrücken mögen – aufgenommen an den schwarzen Tagen wie an den Rekordtagen der Börsen? Die Spekulationskommunikationen, diese Wetten auf die Zukunft, werden von Personen vollzogen, beobachtet, interpretiert und validiert – zwar mithilfe von hochtechnischen Apparaten und global vernetzten Rechenleistungen – die aber wiederum von Menschen beobachtet werden, die im Moment der Realperzeption und Berührung mit den Apparaten auch chaotisch reagieren können. Der heute 70 Jahre alte amerikanische Photograph Sternfeld interessiert sich schon lange für die Gesichter der Menschen. Er photographiert wie Gursky zumeist mit einer Großbildkamera – speziell bei seinen Landschaftsaufnahmen. Photographiert er aber Menschen in Aktion (Demonstrationen, Versammlungen, Konferenzen), dann bevorzugt er zuletzt kleinformatige Kameras und Videokameras. Bei den Aufnahmen von den Teilnehmern der Klima-Konferenz arbeitet er mit einem Teleobjektiv, um – ohne Beeinträchtigung der Delegierten – konzentriert agieren und die individuellen Mimiken in Nahaufnahme einfangen zu können, während die Teilnehmer den Rednern und Informationstafeln auf dem Podium folgen. Seine Fotografien sind folglich Aufnahmen von Beobachtern, die Kommunikationen beobachten und verfolgen. »What I heard and saw in Montreal shocked me as nothing else. I went there wondering if climate change existed but most of the twenty thousand delegates were already considering the possibility that it not only existed but was about to become irreversible. I took photographs of the participants at moments when the horror of what they were hearing about ecological collapse was most visible on their faces.« 57 »Future generati57 | Quelle: www.prixpictet.com/portfolios/power-shortlist/joel-sternfeld/statement/ Stand Abruf 18.02.15

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Fotokunst in Zeiten der Digitalisierung ons are going to wonder about us, the inhabitants of the Earth when the climate began to change. If seas are rising and at the same time drinking water is scarce, they are going to want to know what scientific evidence was before us and what we did in response to it.« 58 (Joel Sternfeld)

Seine Bildauswahl stellt Sternfeld später in einem besonderen Buchformat und Seiten-Layout vor59. Hier werden die Gesichter jeweils mit einer Seite kryptischer Datensammlungen kombiniert (Bildquellen Verweis G60). Das Textbild symbolisiert die anfängliche Zeit der Digitalisierung und Vernetzung globaler Informationen und Datenströme. Auf dem Bild ist der Datenstrom gestoppt und erstarrt zu einem datierten Abdruck auf Papier. Diese Momentaufnahme erschließt sich dem Betrachter nur mittelbar. Diese Kombination aus Bildern und Zitaten wirft eine Vielzahl von Fragen auf, die der Betrachter auch ganz abweichend von der Intention Sternfelds beantworten kann: Sind die versammelten Experten auf dieser Konferenz in der Lage, all die Werte zur Klimaveränderung, die als Signifikantenketten vorüberrauschen, zu erfassen und in Kenntnis alternativer Modelle zu beurteilen und zukunftsbezogen in ihren Entscheidungen zu berücksichtigen? Oder können sie die Datenmengen selbst nur noch hinnehmen wie Naturereignisse? Die sich stetig aktualisierenden Statistiken, wissenschaftlichen Hochrechnungen und globalisierten Datenströme besitzen neben den Möglichkeiten der Informationsteilhabe ebenso Eigenschaften, uns zu zerstreuen und sich dabei (wellenähnlich) in uns zu überschlagen. »Die Digitalisierung (hingegen) assoziieren wir mit anhaltender Informationsüberflutung, unüberschaubarem Durcheinander und zunehmenden Aufmerksamkeitsdefiziten. […] Wir wissen und wissen nicht […]. Wir wissen, dass eine Nachricht konsumiert werden will, aber wir wissen nicht, was sie bedeutet.« 61 (Schirrmacher/Bunz)

58 | Quelle: https://steidl.de/Buecher/When-it-Changed-0920283457.html/ Stand Abruf 18.02.15 59 | Sternfeld, Joel: When it Changed, Steidl Verlag, Göttingen 2008 (Photographien von 2005) 60  |  Bildquellen Verweis G: When it Changed, Buchcover, Joel Sternfeld, Steidl Verlag, Göttingen 2008, www.photoeye.com/BookteaseLight/bookteaseenlarge.cfm?catalog= DP522&image=2/ Stand Abruf 15.05.14 61  |  Mercedes Bunz zitiert Frank Schirrmacher: Payback. Warum wir im Informationszeitalter gezwungen sind zu tun, was wir nicht tun wollen und wie wir die Kontrolle über unser Denken zurückgewinnen, Karl Blessing Verlag, München 2009, S. 166 in: Bunz, Mercedes: Die stille Revolution, Edition unseld 43, Suhrkamp, Berlin 2012, S. 59, S. 77

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Auf den internationalen Konferenzen geht es wie an den Börsen stets um den globalen Spielraum, der von keinem Teilnehmer beherrscht, von allen Teilnehmern aber bei der Entscheidungsfindung in Rechnung gestellt werden muss – mit weitreichenden Konsequenzen für alle anderen Erden-Bewohner. Wie viele Informationen kann ein Mensch auf solche Termine hin entscheidungsreif bearbeiten? Können wir das, was wir selbst verursachen, was uns täglich aufs Neue informiert, irritiert und in Unruhe versetzt, überhaupt noch verständig steuern? »My voice may be small because I am from a small country. But those who will be washed away, their voices must be heard.« 62 (M. Reazuddin, COP 11 Montreal)

Die im Bild präsentierten Gesichter zeigen dem Betrachter Gestimmtheiten; er wird hineingezogen in das Theater der Gesichter und Masken und den Ort, die Bühne der Zusammenkunft – jedes momenthafte, stille Bild lässt Ereignisse zu Posen gerinnen. Man weiß wenig über die Personen als Individuen, nichts über ihre jeweilige Rolle auf dieser Tagung, noch über ihr Tun in den Pausen, wir wissen nicht, zu welchem Zeitpunkt und in welcher Situation die Aufnahme gemacht wurde. Die Bilder zeigen Stimmungen der Anteilnahme, aber auch erhöhter Anspannung, Anstrengung und Erschöpfung. Die Experten sind angereist, um die Vereinbarungen des Kyoto-Protokolls von 1997 gemeinsam umzusetzen, genauer gesagt, um neue Richtlinien für Emissionen von sechs Treibhausgasen zu bestimmen und herabzusetzen. An elf Verhandlungstagen blicken 10.000 Konferenzteilnehmer der globalen Bedrohung ins Auge, und elf Tage haben sie Zeit, die errechneten und imaginierten Zukünfte mit den aktuellen wirtschaftlichen Interessen ihres eigenen Landes zusammen zu denken und ihre Entscheidungen zu vertreten. In diesem Zeitraum sind sie aus ihrem Alltagsleben und dem lebensweltlichen Horizont ihrer ganz eigenen individuellen Bedürfnisse und Besorgungen herausgerissen. Werden die Konferenzteilnehmer (globale) Informationen auch dann ernsthaft berücksichtigen, wenn diese sie selbst (lokal) nicht direkt betreffen? Bis heute, acht Jahre später, und nach weiteren sieben Klimakonferenzen dieses Formats ist es nicht gelungen, die gemeinsamen Beschlüsse des Kyoto-Protokolls umzusetzen. Der Titel des Buches schließt Hoffnungen und Zweifel ein; die Portraits der Delegierten und Umweltaktivisten offenbaren Schwäche und Ohnmacht. Natürlich handelt es sich hier um die bestimmte Perspektive von Joel Sternfeld und um seine Auswahl von Bildern. Diese Bilder lassen uns bei intensiver 62  |  Zitat/Buch: Sternfeld, Joel: When it Changed, Steidl Verlag, Göttingen 2008 (Photos von 2005)

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Beschäftigung nicht nur den Künstler Joel Sternfeld kennenlernen, sondern gleichermaßen auch uns selbst, denn er verhandelt in seinen Bildern unsere Sache.63 Wir sind Zeitgenossen und Weggefährten von Sternfeld, er lädt uns wiederholt ein, seinen Blick auf die Welt kennenzulernen, gleichsam mit ihm zu reisen und dabei gemeinsam mit ihm seinen Fragen zur Beziehung der Menschen zu ihrer Umgebung, ihrer Nah- und Mitwelt, zu den Gegebenheiten des realen menschlichen Daseins nachzugehen. Es handelt sich um die Perspektive eines fragenden Menschen, der nach Antworten im Angesicht des Anderen sucht und sie dort findet, denn der Andere sieht sich gleichzeitig im Angesicht seines Betrachters gespiegelt. Der Photograph und der Fremde kommunizieren wortlos im Medium der (spiegel-reflektiven) Photokamera. Diese künstlerische Strategie wirkt bis heute nach als ein Wissen aus vergangener, aber noch präsenter Zeit, in der man das photographische Portrait als Spiegelbild zu lesen lernte (»I’ll be your mirror«64). Die Authentizität dieser Bilder erschließt sich nicht ohne die Fähigkeit zur Entschlüsselung von Bildbotschaften; Operator und Spectator – der Photograph und sein Publikum – gehören aber nach einer gemeinsamen Wegstrecke der wechselseitigen »Erziehung« zur gleichen Kommunikationsgemeinschaft. Die Photographie schafft nicht nur einen Dialog zwischen Innen und Außen, sie produziert neue Sehkriterien und Bild-Auffassungen und erzieht ihre Betrachter auch zu neuen Sehweisen. Überzeugende Formen der photographischen Welterfahrung können sich dann in das kollektive Gedächtnis einschreiben. Nun werden die Präsentationsformen der alten Tools (analoge Phototechnologien) durch massive Bilderströme der neuen Tools (digitale Netzwerktechnologien, Kommunikationstechnologien) interferiert. Tagtäglich aktualisieren sich Fotografiken algorithmisch vor unserem Auge auf privaten Displays und 63 | »I tried to make photographs of delegates at the moment when the horror of what they were hearing was visible in their faces […] I do know that nothing I’ve ever done has addressed a more desperate matter.« Quelle: www.theguardian.com/artanddesign/2013/feb/20/joel-sternfeld-best-photographs-climate-change, Artikel vom 20. 02.13/ Stand Abruf 27.08.14 64 | Vergl. Titel Ausstellungskatalog Nan Goldin New York 1996, vgl. Songtitel »All Tomorrow’s Parties« (1966) von Nico and the Velvet Underground, vgl. Buchuntertitel The selected Warhol Interviews (2004); David A. Ross: »I’ll be your mirror spricht über die krebshafte Entfremdung, welche die verängstigte Seele der Jugendkultur der Nachkriegsjahre bestimmt (…) wie große Rockmusik entsteht Goldins Werk gleichzeitig aus dem kollektiven Gedächtnis und dem unbeschränkten persönlichen Raum heraus. Goldin erreicht ihre Wirkung direkt und pragmatisch: Sie spiegelt ihr eigenes Leben und, in Erweiterung davon, das unsere.« Nan Goldin Katalog, 1. Auflage für Zweitausendeins, Frankfurt a.M. 1998, S. 15

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öffentlich angebrachten Screens. Die gegenseitige Anteilnahme bei Geschehnissen und eine Interaktion der Zeitgenossen kann jedoch auf diese Weise kaum gefördert, gar erzwungen werden. Der Betrachter muss die visuellen, künstlerisch gestalteten Räume in eigener Initiative aufsuchen, um an photographische Bilder herantreten zu können. Diese freiwillig aufgesuchten Räume können immer noch Buch- und Ausstellungsräume sein. Es muss aber bedacht werden, dass diese »kultivierten« Räume schon immer nur von den Bildungseliten aufgesucht wurden, die ihrerseits subtile Formen sozialer Ausgrenzung praktizieren (Rede-und Dresscodes), wie sie in der simplen Flachheit der medialen Screens kaum etabliert werden können. Im Gegenteil, es ist gerade diese Informationsteilhabe ohne Schwellenangst, die digitale Netzwerktechnologien schichtübergreifend attraktiv macht. Keine Monitorbeleuchtung vermag den vor ihr liegenden privaten Raum derart nachhaltig zu beeinflussen, einzuweihen und zurechtzuweisen, wie es die elitären Ausstellungsräume mit den ihnen eigenen Verhaltenscodes tun. Die Face-to-ScreenSituation passt also auch in unsere Zeit der totalen individuellen Freiheit – gleichzeitig lässt sie uns im Alleinsein ohne aktive Teilhabe zurück. »Unsere Wahrnehmung und unser Weltbild sind in erheblichem Maße von den Einflüssen der Mode, Propaganda, der Tradition usw. geprägt. Entscheidungs- und Willensfreiheit, die wir uns zusprechen, beruhen, so gesehen, tatsächlich auf vielfältigen Verflechtungen und Manipulationen, denen wir im Schmelztiegel der Massenkultur ständig ausgesetzt sind. […] Wir können nicht sicher sein, dass es im Zeitalter der Computersimulation und seiner interaktiven und virtuellen Trugbilder möglich sein wird, die Abbildungstreue graduell so weit zu steigern, dass sich irgend jemand auf deren Bilder verlassen könnte. Im Gegenteil. Es ist zu erwarten, dass sich der Betrachter in der künstlich geschaffenen Raum-Zeit und ihrer Dimensionslosigkeit verliert.« 65 (Jerzy Olek)

Angesichts der neuzeitlichen Entwicklungen und Anforderungen an den Menschen im Zuge der Digitalisierung irritieren und stimulieren auch die Ausführungen des Philosophen Vilém Flusser, der von dieser letzten medialen Revolution sagt, dass sie eine spirituelle Revolution sei. In einem Interview von 1990 spricht er zunächst über seine eigene Spiritualität und den jüdischen Glauben. Im Christentum sieht er eine Glaubensrichtung, die eine Seele und eine spirituelle Kraft in jedem Einzelnen vermutet, die den Tod überwinden kann und unsterblich sei. Im Unterschied dazu sieht das Judentum diese spirituelle Kraft weniger im individuellen Seele-Körper-System, sondern vielmehr losgelöst davon, in der lebendigen Erinnerung der Lebenden und im aktiven 65  |  Olek, Jerzy: Gewissheit der Ungewissheit, in: Kann Fotografie unsere Zeit in Bilder fassen?, hg. von Jörg Boström und Gottfried Jäger, Kerber Verlag, Bielefeld 2004, S. 53

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Gedenken der Toten (We shall survive in the memory of others 66). So spricht man bei einem jüdischen Begräbnis zur Beisetzung des Leichnams die Worte: »Let his memory be a blessing«, was nach Flusser bedeuten könnte, dass die Nachfahren für die Erinnerung an die Verstorbenen verantwortlich sind; »[…] we the Jews are responsible for the immortality of Jesus. Now, if this is a fact, if this is true Judaism, then, of course, the information revolution, with the artificial memories and the bi-vocal connection of terminals would be Jewish Utopian […] through the computer-image, I can talk to the other person. He sends me his image, I work on it, and sent it back to him – so this is the Jewish image. This is not an idol.« 67

Flusser erläutert weiter sinngemäß: Der Mensch könne sich Gott nicht vorstellen. Die einzige Möglichkeit der Annäherung besteht darin, unser menschliches Gegenüber anzuschauen. Im Informationszeitalter kann man jetzt Bilder in seine Einheiten zerteilen, bearbeiten und versenden – in gegenseitiger Projektion. Wir sind nicht länger Subjekte, sondern Projekte vor Gott, so Flusser. Mit dem synthetischen Computerbild – weder Ebenbild noch Nachbild noch Vorbild – produzieren wir Alternativen und spielen im geschichtslosen (aber auch gesichtslosen) universalen Spielraum. Flusser bekundet in diesem Interview mit László Beke and Miklós Peternák freimütig seine Unsicherheit darüber, ob seine Äußerungen und Interpretationen mit den Auslegungen der Theologen verträglich sind. Angesichts der aktuellen Strategien mit der Fotografie bleibt offen, inwieweit seine Aussagen zur Arbeit mit digitalen Fotografiken und synthetischen Bildern zum Bereich von Kunst und Gebrauchsfotografie passen. Der Computer ist noch nicht in der Weise mit unserer Einbildungskraft verbunden, dass Bilder oder Photographien in bloßer Folge unserer Gedanken ohne Kamera auf dem Schirm sich zeigen würden. Photographien mit Kameras bilden nicht analog unsere inneren Bilder ab, sondern suchen noch nach einem Analogon in der Welt. Bezieht sich die Philosophie Flussers vielleicht weniger auf das Bildermachen und Photographieren als auf das Spielfeld visualisierter Daten-Formate im Internet (the bi-vocal connection of terminals)? Am ehesten könnten etwa die 66 | Vergl. Titel DVD Flusser Interviews, Vilém Flusser Archiv UDK Berlin und Buchhandlung Walther König, Köln 2010 67  |  Interview László Beke, Miklós Peternák: On religion, memory and synthetic image, Budapest 1990; Peternák, Miklós: We shall survive in the memory of others, DVD Flusser Interviews, Vilém Flusser Archiv UDK Berlin und Buchhandlung Walther König, Köln 2010; Booklet S. 32 f

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Bildersuchmaschinen als reale Anwendungen gemeint sein, die wir heute täglich eigenprojekttauglich nutzen. Oder auch die Möglichkeiten, anhand eines Smartphones eine Snapshot-Kommunikation aus der Distanz zu betreiben. Im Unterschied zur tradierten zeitintensiven Feldforschung von Photographen mit der Kamera, die ihre Projekte und Fotobücher in der linearen historischen Zeit realisieren und damit langfristig als Zeiterfahrung zur Verfügung stellen, können mit der Schnelligkeit der Schnappschuss-Kommunikation Meinungen und Handlungen befördert werden, die affektiv bzw. im Affekt erfolgen. Die Bedeutung des einzelnen Bildes wird dabei eine relative. Es gilt also nicht, das gezeigte Bild »gemeinsam« zu bearbeiten, sondern durch die Erstellung neuer Bilder zu ersetzen. Tempo und Geschwindigkeit sowie Computerfertigkeiten spielen dabei eine entscheidende Rolle. Bezüglich der Betrachtung einer einzelnen Fotografie bleibt also offen, inwieweit mehr ein digitales Bild eine Projektion und ein interaktives Projekt im Unterschied zu einem analogen Bild sein kann? Dass sich ein Bild im Auge des Betrachters und im Diskurs zwischen Operator und Spectator stetig verändert, ist schon immer so gewesen. Es ist also nicht die Bilddatei, die sich als sinnbildliche Projektion zeitspezifischer Projekte wandelt, sondern unsere Wahrnehmung. Um es mit Barthes zu pointieren: Die Photographie wird »falsch [ambivalent] auf der Ebene der Wahrnehmung und wahr auf der Ebene der Zeit.«68 Beim Wechsel des Bildträgers (Darstellendes/Zeichenträger) vom Papierabdruck zur Computergrafik bleibt der strukturelle Bildinhalt (Darstellung/Bildobjekt) im Vergleich zur Erstveröffentlichung (einer Fotografie) weitestgehend bestehen, sofern keine weiteren Praktiken der Collagierung oder Kontextualisierung mit anderen Fremdbildern stattfinden. Wie genau können wir also im gegenseitigen Wechselspiel Computerbilder teilen, bearbeiten, versenden? Ohne Auftrag, ohne spezialisierte Software-Kenntnisse wird sich der Laie und der durchschnittliche Nutzer nicht an den zirkulierenden Bilddaten abarbeiten wollen. Zur interaktiven Kamera-Methode von Angesicht zu Angesicht erinnert man zuerst die Portraits von Wolfgang Tillmans (»Wer Liebe wagt lebt morgen«, 1996) und Nan Goldin (»I’ll be your mirror«, 1996). Aber diese Arbeiten (Operator-Actor-Interaktion) meint Flusser nicht, wenn er von der spirituellen Anschauung unseres Gegenüber spricht. Wann sind die neuen Arbeitsweisen mit synthetischen Bildern verbesserte Projekte im Vergleich zu den tradierten Methoden? Die aktuellen Verfahrensweisen scheinen unscharf zu verschwimmen in Flussers Projekt der medialen Spiritualität.69 68  |  Barthes, 1985, S. 126 69 | Ein Gedankenspiel: Man denke beispielsweise daran, den Nachbarsjungen mit einem Meerschweinchen zu überraschen, da er so oft – warum auch immer – davon

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Man könnte noch Brücken schlagen zu den (bebilderten?) Antikriegs-Bloggerformaten und freien digitalen Radioprojekten, die Geert Lovink in seiner »Kritik der Vernetzungskultur (Das halbwegs Soziale)« zu den wenigen hoffnungsvollen Netzaktivitäten zählt. Flusser formuliert in eindringlicher Weise: »[…] but this is my Judaism. I would say: synthetic images as an answer to Auschwitz.« 70 Zu jener Zeit der Abwesenheit Gottes schienen Gesichter verhüllt, und Gott projizierte sie wieder zurück auf die Menschen. An der Ernsthaftigkeit seiner Äußerungen kommt man nicht vorbei. Wenn Flusser einer Geschichtsschreibung mit analogen Bildern keinen Glauben mehr schenken will, da die Fotografie vor allem der (medialen) Inszenierung dient und Gursky uns mit seinen Kontrollperspektiven aufzeigen will, dass die Wirklichkeit ihn nur als Materiallieferanten interessiert – wozu dann noch Bilder? Die »Bildermacher« und Fotografiker interessieren sich vor allem für die schöne stimmige Konstruktion, das Ornament. Das Bild erschöpft sich im Vorzeigen seiner Mittel, die souverän kombiniert und perfekt beherrscht werden. Was führen uns die Bildermacher (mit der Nutzung der Fotografie) vor, solange ihre Ausstellungen noch in der Welt stattfinden? Welche Zukunft erwartet uns in Hinblick auf die dialogische Verhandlung mit synthetischen Bildern? Das Universum der synthetischen Bilder ist nicht mehr der Umgang mit der Lebenswelt in Erwartung von Zufälligkeiten, sondern die visuelle Popularisation intendierter Bildoperationen – unter Nutzung jener Infrastrukturen, die das Machtspiel der schnellen Informationsverbreitung beherrschen. »[…] ich habe Angst, wenn die nächste Generation übernimmt. Eine wohlmeinende Diktatur ist immer noch eine Diktatur. Irgendwann werden die Leute merken, dass Google spricht und sich sehnlichst eins wünscht. Nachdem man den Gedanken bei Google Mail mit Freunden kommuniziert hat, gibt man nun unter der Google-Bildsuche den Begriff Guinea Pig ein und erhält dazu das gesamte, globale Meerschweinchen-Mensch-Verhältnis: Tiere, die aussehen wie Frisuren, freilaufend, in Käfigen, gegrillt am Spieß oder geklopft aus dem Ofen, als Animationsfilm-Charaktere, alleine, zu zweit, als Torte, als Kettenanhänger – in der Zwischenzeit läuft aufgrund unseres Google-Mail-Verkehrs eine Software im Hintergrund, die uns inhaltssensitive Werbung zu Käfigen und Fressnäpfen schaltet. Diese können wir dann per Klick auf Amazon finden und bestellen. Das alles passiert schneller, als uns jemand beantworten könnte, ob der Junge das Tier wirklich mehr als vier Jahre umsorgen möchte. 70  |  Interview László Beke, Miklós Peternák: On religion, memory and synthetic image, Budapest 1990; Peternák, Miklós: We shall survive in the memory of others, DVD Flusser Interviews, Vilém Flusser Archiv UDK Berlin und Buchhandlung Walther König, Köln 2010; Booklet S. 35

4. Künstlerische Strategien im Kontext der Digitalisierung 1990-2010 alles über jeden weiß. Vor allem, sie können sogar sehen, welche Fragen du stellst, in Echtzeit. Sie können buchstäblich deine Gedanken lesen.« 71 (Jacob Appelbaum, Menschenrechtler/Wikileaks-Aktivist)

Die perzeptive Photographie kann uns zeigen, dass wir in parallelen Lebenswelten existieren und grundverschiedene Perspektiven und Weltbeschreibungen entwickeln. Die konzeptionelle Fotografik, die uns der Kunstmarkt Anfang der 1990 Jahre kommentarlos präsentiert, wirkt wie ein abgeschlossenes, auf sich selbst bezogenes System mit undurchsichtigen machtvollen Mechanismen. In diesem Sinne sind auch Gurskys Werke als spektakuläre Propaganda und Wertanlage begehrt. All jene Photographen, die sich im gleichen Zeitraum um intimere Einsichten in Subkulturen und individuelle Lebensentwürfe bemühten, haben sich mit dieser Strategie in Opposition zu seinen Ansichten und Aufsichten positioniert. Dabei geht es nicht um eine strategische Abgrenzung zur Digitalisierung; die Kritik entfacht sich aber an den nachträglichen Bildmanipulationen – zumal dann, wenn diese Bildwerke immer noch als »Photographien« und nicht als Fotografiken und digitale Collagen vorgeführt werden. Solange diese unscharfen Perzeptionen und Beschreibungen kursieren, darf sich der Betrachter in ähnlicher Weise manipuliert fühlen, wie es bei aller Gebrauchs- und Werbefotografie der Fall ist. Wenn sich die Photographie und die Kunst davon absetzen möchten, dann muss entsprechend kommentiert werden. Ansonsten verschwimmen die Grenzen zwischen Sachverhalten, denn bildliche Darstellungen sind immer auch kulturelle Realobjekte, und so wenig, wie eine Briefmarke eine Banknote ist, so wenig ist eine Fotografik eine Photographie, und auch die Kopie oder synthetische Collage einer Banknote ist keine Banknote. Die »pure« fotografische Aufnahme steht in einer Tradition des photographischen Materialabdrucks. Digitale Fotografiken stehen dagegen in der Tradition medienreflexiver Collagen, denen fotografische Produkte als Ausgangsmaterial dienen.

71  |  In: Lovink, Geert: Das halbwegs Soziale. Eine Kritik der Vernetzungskultur, transcript Verlag, Bielefeld 2012, S. 193

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5. Analysen zum Vormarsch der Computertechnologie

5.1 E inführung /Theore tische B ezüge »Wir glauben heute, dass wir kein unterworfenes Subjekt, sondern ein freies, sich immer neu entwerfendes, neu erfindendes Projekt sind. Dieser Übergang vom Subjekt zum Projekt wird vom Gefühl der Freiheit begleitet. Nun erweist sich dieses Projekt selbst als eine Zwangsfigur, sogar als eine effizientere Form der Subjektivierung und Unterwerfung. Das Ich als Projekt, das sich von äußeren Zwängen und Fremdzwängen befreit zu haben glaubt, unterwirft sich nun inneren Zwängen und Selbstzwängen in Form von Leistungs- und Optimierungszwang.«1 (Byung Chul-Han)

Im ersten Abschnitt dieses Kapitels soll die digitale Fotografik im Unterschied zur tradierten Photographie (Materialabdruck) als »Vorstellung« und »Projekt« untersucht werden. Der Projekt-Begriff, auf den sich Byung Chul-Han in seiner aktuellen Schrift zur (neoliberalen) Psychopolitik bezieht, wurde von Flusser in seinen zahlreichen Vorträgen wiederholt auf die digitale Kommunikation (anhand synthetischer Bilder) angewendet und in die Debatte über die Techno-Imagination eingeführt. Dass sich die Techno-Imagination heute bevorzugt auf vorgefertigten kommerziellen Oberflächen abspielt und sich damit der Gefahr der Selbstausleuchtung und Datenausbeutung ausliefert, konnte Flusser zu seiner Zeit nicht in seiner heutigen Dimension vorhersehen. In der Zeitspanne meines Schreibens scheinen sich die Euphorie, digital zu kommunizieren, und die Motivation, sich im Netz künstlerisch zu betätigen, bereits zu erschöpfen. Aktuell werden Mobilfunk-Applikationen (Smartphone Apps) als kommunikative Werkzeuge attraktiv, welche scheinbar weniger Informationen speichern, weil vermutlich auch weniger relevante und komplex eingebundene Informationen eingegeben werden. Zudem bieten sie eine gewisse Flexibilität bei der Organisation von realen Treffs der Nutzergruppen. So spielt 1 | Han, Byung-Chul: Psychopolitik. Neoliberalismus und die neuen Machttechniken, S. Fischer Verlag, Frankfurt a.M. 2014, S. 9

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die Open-Source-Applikation Firechat2 aktuell eine wichtige Rolle, etwa bei der Organisation von Demonstrationen (Demokratiebewegung Hongkong, »Sonnenblumen-Bewegung« Taiwan), da sie ohne Internetzugang auf der Straße per Funkverbindung WPAN (Bluetooth) funktioniert. Werden wir uns in der Zukunft aus den (selbst-)ausbeuterischen Netzwerken wieder befreien können? Die Apparateprogramme werden sich weiter ständig neu erfinden und uns mit dem altbekannten Wechselspiel von gewollter sinnvoller Nutzung und ungewollter hinterlistiger Ausnutzung weiterhin beschäftigen. Im Kontrast zum Streben nach Zeit-Effizienz und der Suche nach sinnvoller Beschäftigung steht dagegen das Bedürfnis, sich zu »zerstreuen«. Die so scheinbar »ungenutzte Zeit«, die weder kommunikativ noch zielgerichtet noch wertschöpfend verbracht wird, vermag poetische Zwischenräume zu eröffnen die als »neuartig« empfunden werden und damit ebenfalls schöpferisch sein können. Eine Wanderschaft ohne Ziel, ein Wachträumen oder kontemplatives Sich-Besinnen in der Stille sind mögliche, alltägliche Rituale der eigenen »Zerstreuung« und gleichzeitig Prozesse der inneren »Sammlung«. Die neuzeitlichen Rituale der apparategesteuerten »Zerstreuung« – das Chatten, Surfen, Switchen – entlassen uns dagegen in den offenen Raum der Techno-Imagination, der nach Flusser aber ebenso poetisch beseelt werden kann. Byung ChulHan setzt mit seiner aktuellen Analyse der Psychopolitik dagegen, indem er – wohl seiner eigenen Herkunft geschuldet – wiederholt auf den Unterschied zwischen dem kontemplativen Wandern (im Sinne der östlichen Philosophie/ Beispiel: buddhistischer Wandermönch) und der »Sorge« um sich selbst und die eigene ökonomische Existenz (im Sinne Heideggers) verweist 3. Seine aktuelle Kritik am Neoliberalismus und den apparategesteuerten Handlungsweisen, die einer ausbeuterischen Psychopolitik zuspielen, ist zudem im zeitlichen Kontext des Post-Snowden-Afterglow zu lesen. Es bleibt abzuwarten, wie sich die Techno-Imagination weiter entwickeln wird, wenn Künstler gar selbst 2 | Firechat Produkt des 2011 in San Francisco gegründeten Startups Open Garden; siehe auch Wikipedia: Quelle: https://en.wikipedia.org/wiki/Open_Garden/ Stand Abruf 12.11.14 3 | »Der Mensch, der nirgends wohnt, ist nicht bei sich zu Hause. Er ist vielmehr bei sich selbst zu Gast. Verzichtet wird auf jede Form des Besitzes und des Selbstbesitzes. Weder Leib noch der Geist ist mein. […] Das Ich hängt ab von der Möglichkeit des Besitzes und der Sammlung. Oikos (Haus) ist der Ort dieser ökonomischen Existenz. So stellt das Nirgends-Wohnen die Gegenfigur zum Ökonomischen, zum Haushälterischen dar. […] Die ›Sorge‹ als Sorge um sich wäre die Verfaßtheit des als ›Existenzial‹ verstandenen Hauses. Die Sorge beseelt das In-der-Welt-sein. Das Dasein vermag nicht zu wandern.« Han, Byung-Chul: Philosophie des Zen-Buddhismus, Reclam Verlag, Stuttgart 2009, S. 86 f

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programmieren und ihnen die Programmiersprache (weltweit) zur zweiten »Muttersprache« wird. In diesem Moment scheint der Mensch von seinen eigenen Werkzeugen diktiert, dirigiert und überfordert zu sein. So wendet er sich noch den tradierten Ritualen der »Zerstreuung« und »Sammlung« zu, wie der Naturbetrachtung, dem Betrachten von Museumsobjekten und dem Studium von Büchern (Kontemplation). Vorgefundene stille Objekte können heute sowohl analoge Materialabdrucke wie digitale Papierdrucke sein. Trotz ihrer Apparateherkunft können sie poetische Räume eröffnen, da sie (nach Roland Barthes) wie zufällig (Effet du reel/unintendierte Details) und unter gewissen Bedingungen vom Betrachter beseelt werden. Barthes’ philosophische Betrachtungen zur analogen Photographie sollen im Folgenden, im Vergleich mit Flussers Visionen, wieder aufgegriffen werden. Im zweiten Abschnitt des Kapitels sollen die Bedingungen der Möglichkeit, gegen den Apparat zu spielen (Flusser), zeitgemäß nachvollzogen werden. Als Beispiel dienen kreative Unternehmungen, die tradierte Produktionsweisen ersetzen: virtuelle Galerien, digitale Vertriebswege, digitale (on demand) Printmedien. Welche dialogischen Qualitäten und existenzerhaltenden Praktiken werden hier geboten? Der Sprung ins Nichts (Flusser) und das Wagnis virtueller Projektunternehmungen sollen in Kenntnis realer Gegebenheiten verhandelt werden. Im dritten Abschnitt des Kapitels folgen Überlegungen zum flüchtigen Bild in einer permutationellen Welt. Florian Rötzer untersucht die unendliche Kombinatorik im Digitalen und erlaubt sich, (mit Virilio im ausgewählten Zitat) eine Wertung abzugeben. Zahlreiche aktuelle Abhandlungen warnen gar davor, dass mit der Auflösung der Linearität die wissenschaftlichen Methoden der Erkenntnisgewinnung und das sinnerfüllte Geschichtenerzählen von einer rein mechanisierten Addition und sinnlosen Datengewinnung (Big Data) abgelöst werden4. 4 | »Die fortgesetzte Addition allein ergibt keinen Schluss. Der Schluss ist keine Addition, sondern Narration. Der absolute Schluss ist etwas, das eine weitere Addition ausschließt. Der Schluss als Narration ist die Gegenfigur der Addition. Big Data ist rein additiv und gelangt nie zum Schluss oder Abschluss. Im Gegensatz zu Korrelationen und Additionen, die Big Data generieren, stellt die Theorie eine narrative Wissensform dar. Der Geist ist Schluss, eine Ganzheit, in der Teile sinnvoll aufgehoben sind. Die Ganzheit ist eine Schlussform. Ohne Geist zerfällt die Welt zum bloß Additiven. Der Geist bildet ihre Innerlichkeit und Sammlung, die alles in sich versammelt.« Han, Byung-Chul: Psychopolitik. Neoliberalismus und die neuen Machttechniken, S. Fischer Verlag, Frankfurt a.M. 2014, S. 94

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Unter jenen Vorzeichen und Warnungen sollen einmal diejenigen Methoden in der Fotografie untersucht werden, die durch digitale Technologien angeregt werden. Die amerikanische Vorstadtfotografie dient der folgenden Untersuchung als Beispiel. Die neuen Vertreter führen uns ihre digitalen Methoden in seriell gestalteten Fotobüchern vor: Die kurzweilige Aufmerksamkeit am eigenen Umfeld – die Kultur des Chatten-Surfen-Switchen – ermöglicht neue Projekte, die sich durch eine Form der Schnellschuss-Nomaden-Fotografie auszeichnen. Bei einigen Projekten vollzieht sich das Interesse am Anderen – an der Gegenseitigkeit – nurmehr rein im virtuellen Raum; man holt sich die Weltbilder direkt ins Haus. In Anlehnung an etablierte Vorbilder wird versucht, digital generierte Bilder dem Charme analoger Materialabdrucke anzupassen. Alle Störungsmomente und Zufälligkeiten tradierter Herstellungsweisen werden heute mithilfe von Photoshop-Filtern und Kamerafilterapplikationen in die Aufnahmen eingerechnet. Derartige Fake-Strategien sollen im Abschnitt über »künstlerische Strategien im Kontext der Postdigitalität« einmal zusammenfassend untersucht werden. Roland Barthes’ frühe Überlegungen zur Denotation und Konnotation bezüglich der photographischen Struktur dienen in dieser Untersuchung der theoretischen Orientierung. Gegen die Unvollständigkeit und Fehlerhaftigkeit des photochemischen Materialabdrucks steht also die Perfektion (Cleanness) der digitalen Fotografik und all ihrer postproduktiven Operationen. Mit den neuen digitalen Kulturtechniken wird die Annahme eines »Es-ist-so-gewesen« (Barthes) mit deren Simulation (Es-ist-nicht-so-gewesen?) zersetzt, durchlöchert, collagiert. Die Grenzen zwischen Illusion und Wirklichkeit verschwimmen. Was bedeutet dies für die Erkennung und Deutung der aktuellen Fotografie? In welcher Weise wirken imaginierte, aber zugleich photographisch anmutende Bilder auf den Betrachter und sein physisches Dasein in der Welt? Um diesen bereits in der Einleitung formulierten Fragen abschließend nachgehen zu können, gilt es wiederholt den Forderungen des Systemtheoretikers Niklas Luhmann zu folgen, auf den sich auch Dirk Baecker in seinen »Studien zur nächsten Gesellschaft« bezieht: »[…] dass weitere Forschungsfragen exploriert werden können, indem man viel genauer als bisher nach dem Überschusssinn von Geld und Macht, Wahrheit und Liebe in ihrer Produktion und Reduktion durch verschiedene Institutionen der Gesellschaft fragt, von der Familie über die Schule bis zur Universität, von der Kirche über das Theater bis zum Militär.«5

5 | Luhmann, Niklas: Die Gesellschaft der Gesellschaft, Suhrkamp, Frankfurt a.M. 1997, S. 405 zitiert in: Baecker, Dirk: Studien zur nächsten Gesellschaft, Suhrkamp, Frankfurt a.M., 2007, S. 10

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Der Perfektionierungswahn, angewendet auf den Bereich der Photographie, bewirkt insofern weit weniger eine Durchlöcherung der photographischen Struktur als vielmehr eine Vollstopfung – mit »Überschusssinn«. Was wollen neue Bildwerke uns ansinnen, die Ansichten alter Photographien als Renderings perfektionierter Rechenmodelle in Neuauflage ausdrucken? Sie sind groß, bunt, scharf und teuer. Welchen Ideen sie folgen, bleibt am Ende des Kapitels zu fragen.

5.2 F otos , V orstellungen , P rojek te /E rste A nalysen zur digitalen F otogr afik Vilém Flusser geht davon aus, dass jede wichtige Veränderung in der Menschheitsgeschichte durch technische Entwicklungen ausgelöst wird. Werkzeuge verlängern zunächst die menschlichen Glieder. Im Industriezeitalter erweitert und ersetzt die Maschine die Arbeitskraft des menschlichen Körpers und heute übernimmt der Computer spezifische Leistungen unseres Nervensystems und Gehirns. Dies gilt insbesondere für schnelle Rechen- und umfangreiche Recherche-, Memorier- und Erinnerungsprozesse. Welche neuen Aufgaben sind dem Menschen damit gestellt, wie wird er auf diese Herausforderungen, die sein Innerstes angehen, reagieren? Nach Vilém Flusser ist der Mensch aufgerufen, nicht nur mit dem Apparat zu arbeiten, sondern auch »gegen den Apparat zu spielen«6, um nicht zum Knecht des Apparats zu werden. Kurz vor seinem Tode 1991 sieht Flusser die Zukunft der computerisierten Fotografie noch positiv, geradezu euphorisch, da nun endlich das Bild als »Vorstellung« und nicht mehr als momenthafte »Zeitspur« begriffen werden kann. Insbesondere die digitalen Fotografiken, die er als vollständig durchanalysiert begreift, feiert er als mögliche Befreiung von der Geschichtsschreibung und als kreatives Medium zum Durchspielen möglicher Zukünfte. In verschiedenen Vorträgen und Interviews7 legt er eindringlich dar, dass die neuen Computerbilder keine »Fotos« mehr sind, sondern vielmehr unabgeschlossene »Projekte«, die mit »Vorstellungen« gleichzusetzen wären. Vom »Foto« als scheinbar objektiver Mitteilung (von einem politischen »Ereignis«) gehen ohne (historische) Kontextualisierung zu viele Gefahren aus. Er demonstriert anhand vieler Beispiele, dass die politische und die private Wirklichkeit heute ständig medial inszeniert werden und damit ihre Überzeugungskraft verlieren. Als problematische Hinterlassenschaft sieht er auch die 6  |  Siehe Zitateinführung 5.3. 7 | Peternák, Miklós: We shall survive in the memory of others, DVD Flusser Interviews, Vilém Flusser Archiv UDK Berlin und Buchhandlung Walther König, Köln 2010

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in den frühen Perioden gedruckter Geschichtsschreibung oft beobachtete rasche Vereinnahmung der Photographien für einseitige – scheinbar objektive – Bedeutungszuschreibungen. Heute ist es dagegen möglich, eine Vielzahl von privaten und professionellen Perspektiven unterschiedlicher Medialität aufzurufen, um aus ihren Informationen einen mehrperspektivischen »Sachverhalt« zu komponieren. Die Vernetzung der Informationen und Verknüpfung der Perspektiven hilft dabei, allzu eindeutige Beschreibungen von Situationen zu vermeiden, die sich zumeist in Abwesenheit der Beobachter ereignet haben. Allerdings wird derzeit auch deutlich, dass individuelle Beobachter nur hochselektiv und erwartungsgesteuert komplexe Informationsmengen aufnehmen und verarbeiten können. Die Überforderung durch unselektierte Informationsmassen kann geradezu zum Stillstand der wahrnehmenden Kräfte führen. Zu den Informationslasten aus den professionellen und öffentlich zugänglichen Kanälen kommen die aus den privaten Nachrichten-Strömen hinzu: die Emails (Mail-Groups, Newsletter), Blogger- und Twitter-Meldungen, die Facebook-Nachrichten und seit Neuestem die Nachrichten der Instant-Messaging-Dienste8. »Die Maschinen, die die Zeit durch Erhalten und Anhäufung der Dauer kristallisieren, können dazu beitragen, die ›Empfindungs-‹ und die ›Handlungskraft‹ zu entwickeln oder auszuschalten, sie können unser ›aktives Werden‹ unterstützen oder uns in Passivität erstarren lassen.« 9 (Maurizio Lazzarato)

Die elektro-analogen Signale der Fernsehapparate wirkten vorbereitend auf die neuen flüssigkristallinen Flächen (Monitore, Displays). Den Fernsehschirmen unterliegt ein sensibles Flimmern, das sich bei Bildstörungen als Rauschen bemerkbar macht. Den digitalen Displays unterliegt dagegen eine codierte Matrix, die bei Defekt Pixeltreppen abbildet. Monitore und Schirme erscheinen und »erhellen« wie alle Fenster, zu denen man schaut, um sich innen ein Bild vom Außen im Dasein zu machen. Die Wachsamkeit gegenüber dem Außen dient der eigenen Sicherheit; der Blick aus dem Fenster dem Abgleich mit der eigenen Lebenssituation. Das, was Apparate ausstrahlen, betrifft uns heute wie das Leben vor dem eigenen Fenster. In diesem Sinne beschreibt Flusser unsere Wände und Häuser als »durchlöchert« von strahlenförmig und netzförmig strukturierten Kanälen. Gleichzeitig lähmt die Monitorstrahlung den physischen Körper und bannt den Blick, während die Bildschirmansichten sich fortlaufend erneuern. Die neue, algorithmisch gesteuerte Interaktion beschwört eine Kontaktaufnahme 8 | Beispiele: WhatsApp, Firechat, Viber. 9 | Lazzarato, Maurizio: Videophilosophie. Zeitwahrnehmung im Postfordismus, b_books, Berlin 2002, S. 27

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mit Apparaten herauf, deren Stimulanzen weniger sensationelle Zustände als solche des »Halbwachseins« erzeugen. So beschreibt Elisabeth von Samsonow den Blick auf die neuzeitlichen »Hypnosetechnologien«. In einer Publikation der International Flusser Lecture vergleicht sie die Wirkungen der Bildschirmstimulationen mit den Wirkungen von indigenen Totemzeremonien: Beide versetzen und überführen die Teilnehmenden – Anwesende in den Stammesgesellschaften, Abwesende in den Informationsgesellschaften – in Halbwachoder Trancezustände. Ein solches »Sich-ausliefern an das Nicht-Menschliche«10, das die chaotisierenden Phantasmen der vielen Einzelnen in Ritualen, Klischees und Zeremonien formt und bändigt, sieht sie in Übereinstimmung mit ethnologischen Beschreibungen als basale Versuche, menschliche Gemeinschaften durch Zeichenreihen und Rhythmen zu bilden. Doch ist zu fragen, wie ein Objekt (Pfahl, Maske, Holzfigur), das (scheinbar) nicht informiert, nichts ausstrahlt, beseelen und beseelt werden kann, und wie es die neuzeitlichen Apparate können? Wie kann man die indigenen physischen Rituale innerhalb verorteter Gemeinschaften vergleichen mit den heutigen Wahrnehmungsrealitäten des in(ter)aktiven »Selbst« am Computerschirm? Oder geht es in beiden Fällen nicht nur um Wahrnehmung sondern schon um Kommunikation – um Kommunikation unter Anwesenden im einen Fall, in der die Wahrnehmung, dass man wahrgenommen wird, als Kommunikation ausreicht, um die weitere Kommunikation zu befeuern; und im anderen Fall, um die telematische Kommunikation unter Abwesenden, bei der sich alle den immer wieder gleichen Kommunikationen aussetzen, die sich in sie einschreiben. Sind die vielen Televisionen bei aller Oberflächenvielfalt stets durch dieselben Klischees, Muster, Wiederholungen, Takte und Rituale gesteuert? Betreiben die Massenmedien heute die gesellschaftlichen Feinabstimmungen bei den Millionen Abwesenden? Ethnologen und Jugendforscher beschreiben und identifizieren heute eine Verlängerung der Adoleszenzphase (der Übergangsphase nach der Ablösung vom familiären Umfeld), in der es kaum noch gemeinschaftliche Rituale für die Alterskohorten zur Eingliederung und Einspielung in bestimmte sinnvolle Rollen in der Gesellschaft gibt. In dieser Lücke erscheinen aktuell die kleinen, handlichen Apparate der Selbstregulierung und Klärung der eigenen Funktion inmitten eines körperfernen Kommunikationsnetzes. Diese Sozialisationsvorgänge gestaltet das »Selbst« allein, wenn auch im Kontext zugespielter Möglichkeiten. Das Individuum wählt seine Bindungen scheinbar selbst aus; aber freie Selbstbindungen können im Laufe der Zeit auch zu unfreien Selbstfesselungen mutieren; so handelt es sich bei der Face-to-Screen Situation um die neuzeitliche Möglichkeit, bei Abwesenheit konkreter Anderer die anwesenden 10 | Von Samsonow, Elisabeth: Was ist anorganischer Sex wirklich?, International Flusser Lecture, Verlag der Buchhandlung Walther König, Köln 2005, S. 27

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Apparate in an- und ausschaltbaren Prozessen und im Spiel von Präsentation und Applaus monologisch zu beseelen. Das Subjekt ist Regisseur, Held, Opfer, Mitspieler und Publikum in einem Spiel. Pfahl, Maske, Holzfigur, die stummen Objekte kommen dem stillen Bild, der Photographie näher als die ausstrahlenden Apparate. In welcher Weise und unter welchen Bedingungen sie beseelt werden, hat Roland Barthes seinerzeit treffend in den Schriften zum Referenten und zur Wahrnehmung un-/ intendierter Details beschrieben11. In »Roland Barthes Revisited. 30 Jahre Die helle Kammer«12 resümiert Ronald Berg jene verschiedenen Haltungen bei Begegnungen mit der Photographie, die er als Produkt eines subjektiven Imaginären kennzeichnet: Es öffnet sich ein poetischer Raum zwischen Subjekt und Photo, zwischen dem Erkennendem und dem zu-Erkennenden. In solcher affektiven Interferenz punktiert das Subjekt »was mich betrifft; ich mag/ich mag nicht«. Dagegen bringt die digitale Fotografik mit ihren nachträglich manipulierten Bildern die Details (Effet du reel) in Ordnung und zwingt den Blick in eine intendierte Beobachtungs- und Interpretationsrichtung. Der Betrachter »verkümmert«, wenn er andauernd und unausweichlich diesen kalkulierten Wahrnehmungssteuerungen ausgesetzt ist. Der Propaganda muss im späteren künstlerischen Experiment ein menschliches Moment und poetisches Scheitern erst wieder beigefügt werden, um die Betrachter erneut in Spannung zu versetzen. Derartige Operationen an und mit Bildern sollen in dieser Untersuchung (Kapitel 5.5/Postdigitalität) analysiert und dargelegt werden. Flusser vergleicht: Synthetische Bilder sind aus Bytes zusammengesetzt wie Körper aus Atomen – beide sind in sich teilbar und verschiebbar und somit niemals wahrhaft feststehende Gegebenheiten. Allerdings merkt er zum physikalischen Körper13 an, dass diesem Vertrauen entgegengebracht wird, sich eben nicht zu teilen und neu aufzubauen – wie es etwa beim Beamen der Fall sein könnte. (Derzeit ist die Teleportation noch unmöglich, und sollte es je zu derartigen Versuchen mit lebenden Menschen kommen, werden sich wohl zuerst dem Tode Geweihte dazu bereit erklären?)

11  |  Barthes, Roland: Die helle Kammer, Suhrkamp, Frankfurt a.M. 1989 12 | Sykora, Katharina, Leibbrandt, Anna: Roland Barthes Revisited. 30 Jahre Die helle Kammer, Graue Reihe Salon Verlag, Köln 2012, S. 38 f 13  |  »Wir haben Vertrauen zur Solidität des Tisches, weil wir spezifische punktförmige Reize zum Zweck dieses Vertrauenhabens komputieren.« Vilém Flusser 1990: Neue Wirklichkeit aus dem Computer? In: Flusser, Vilém: Standpunkte Texte zur Fotografie, hg. von Andreas Müller-Pohle, Edition Flusser Band 8, Göttingen 1998, S. 211

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Nach Flusser werden digitale Fotografiken nun wie Texte nach der Vorstellung und forcierten »Einbildungskraft«14 eingesetzt, das heißt vor allem subjektiv und intentional. Das Informationszeitalter mit seinen digitalen Fotografiken eröffnet uns damit inspirierende (verbesserte) Kommunikationen, in denen virtuelle Projekte statt objektiver Tatsachen kommuniziert werden. Doch scheinen von den digitalen Manipulationen und den nachträglichen Umordnungen auch neue »Gefahren« auszugehen. So werden die Resultate von einer Mehrheit als neue »Wirklichkeit« gelesen und alltäglich (in Echtzeit) konsumiert. Photographien sind vor Gericht immer noch als uneingeschränktes Beweismittel zugelassen. Pressefotos werden abhängig von der »gefühlten Seriosität« des jeweiligen Mediums bewertet. Der Diplomjournalist Frank Miener zitiert 2004 in seiner Studie über »Bilder, die lügen«: »Das[s] Fotos tatsächlich für sehr objektiv gehalten werden, zeigt eine repräsentative Umfrage der Firma TNS Emnid aus dem Jahr 2004. Diese hat ergeben, dass 83 Prozent der Deutschen glauben, Medien manipulierten durch Worte, 82 Prozent befürchten auch eine Einflussnahme der Bilder. In der gleichen Umfrage haben aber auch 55 Prozent gesagt, dass ›Bilder ehrlicher seien als Worte‹. (Journalist 2/2004, Seite 7)«15

All jene Erscheinungen gestalten eine Wirklichkeit, die auf die Inszenierungen in den Medien zurückwirkt. Beispielsweise wäre es möglich, die digitalen Körperbilder der Printmedien mit parallel stattfindenden Schönheitsoperationen und mit Versuchen zu synthetischen und biogenetischen Körpern in Bezug zu setzen. Die menschlichen Figuren der aktuellen Gebrauchsfotografiken trainieren uns täglich darauf, uns an manipulierten, ewig-jungen Körpern zu orientieren und mit ihnen zu identifizieren. Die stattfindenden Prozesse optischer Verjüngung der Städtebewohner lassen sich kaum bestreiten. Offensichtlich reagieren die Menschen der Metropolen hochsensibel auf die Einflüsterungen der Vermarktungsrealitäten; das Öffentliche und das Private sind durchlässiger geworden für die kommunikativen Strategien der Globalisierung, für die permanente Simulation einer perfekten Parallelwelt, die sich als virtuelle Welt von der Lebenswelt abgelöst hat. Gleichwohl handelt es sich bei den Darstellungen, die uns umgeben, nicht um »Projektionen der Globali-

14 | Er bezieht sich hierbei auf Kant: Kritik der Urteilskraft, »ein Bild ein(zu)setzen« im Sinne einer Emanationskraft; Interview László Beke, Miklós Peternák: On religion, memory and synthetic image, Budapest 1990; Peternák, Miklós: We shall survive in the memory of others, DVD Flusser Interviews, Vilém Flusser Archiv UDK Berlin und Buchhandlung Walther König, Köln 2010 15  |  Miener, Frank: Bilder, die lügen. Tourist Guy und Co. – Digitale Gefahr für die Medien?, Shuhari Books, Bremerhaven 2004, S. 29

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sierung«, sondern um Bilder (z.B. Fotografien und Fotografiken) die (noch) von Menschen gemacht werden. Beim Studium von Fototheorien und Bildwissenschaften fällt stellenweise auf, dass sowohl die semiotischen Beschreibungen (Darstellendes/Zeichenträger, Darstellung/Inhalt, Dargestelltes/Referenz) als auch die nicht-semiotischen (Bildträger, Bildobjekt, Bildsujet) von Personen (Operator/Fotografiker) und ihren zeitspezifischen Schaffensbedingungen absehen. Kameras und Computer können jedoch keine Bilder autark erstellen und auswerfen. Auch handelt es sich angesichts des Arbeitsalltags von Fotografen um einen (beinahe neoliberalen) Irrtum davon auszugehen, dass Bilder – wie im Kopf – auch in der Außenwelt in Folge von Gedanken auftauchen und wieder verschwinden können. Um professionelle Aufnahmen zu realisieren, müssen noch Perspektiven gewählt, Stative aufgestellt, Objekte oder Personen platziert, Blenden- und Zeitwerte eingestellt, Bildentwicklungen justiert, Prints oder Bildretuschen in langwieriger Arbeit häufig von mehreren Personen arbeitsteilig getätigt werden. Man unterliegt einer Täuschung, wenn man vermutet, dass das professionelle Bildermachen ohne Zeitaufwand und ohne eine Vielzahl von Handlungen passiert. Jede Herstellung von Sichtbarkeiten erfordert Entscheidungen. Die Bildwissenschaften beenden mitunter an jenem Punkt ihre semiotischen oder wahrnehmungstheoretischen Analysen von synthetischen Bildern, an dem die Bildproduktion erst verhandelt werden muss. »Erst wenn wir die mit Computern synthetisierten Bilder ins Auge fassen, […] können wir überhaupt zu ahnen beginnen, welche Gewalt der Einbildungskraft hier ausbricht.« [Flusser] Diese neuen Möglichkeiten bedürfen durch die Bildwissenschaften gleichermaßen der transzendentalen Reflexion wie auch der sozialen Aufmerksamkeit. Denn man mag diesen für die Menschheitsgeschichte zweifelsohne epochalen Schritt der neuen Bilder bedauern oder begrüßen, doch stoppen oder gar rückgängig machen wird man diesen Vorgang nicht mehr können.«16 (Lambert Wiesing)

In diesem Moment sind wir noch weit von jenem epochalen Schritt entfernt, wie es Lambert Wiesing in seiner Abhandlung über »artifizielle Präsenz« ausführlich vorführt. Virtuelle Realitäten und Computerbilder sind vor allem nicht-immersiv, wenn auch in ihrer Effekthaftigkeit hochgradig präsent – doch als Bilder noch deutlich erkennbar und damit nicht mit der Wirklichkeit zu verwechseln. Zu diesen nicht-immersiven Bildern zählt Wiesing sowohl die alten Wandbildpanoramen als auch computermanipulierte Fotografiken. »Das eher seltene Phänomen der Immersion ist für eine virtuelle Realität nicht von 16 | Wiesing, Lambert: Artifizielle Präsenz. Studien zur Philosophie des Bildes, Suhrkamp, Frankfurt a.M. 2005, S. 123 f

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essentieller Bedeutung, denn eine virtuelle Realität kann zwar, muß aber keineswegs immersiv sein.«17 Neben der nicht-immersiven virtuellen Realität, wie man sie etwa aus Computerspielen kennt, steht nun eine gesteigerte Effekthaftigkeit: die Immersion aus dem Cyberspace. Sie verringert die Wahrnehmung der physischen Umgebung, indem das Bewusstsein vom physischen Körper auf einen simulierten Körper (Avatar) abgelenkt wird. Es bleibt weiter abzuwarten, wie sich Computersimulationen auf unsere Wahrnehmung der Wirklichkeit, auf unser Leben und Handeln auswirken werden (Google Glass, Nanocamera, Neuroimaging). Nach Wiesings Analyse haben bei den Bildern der »neuen Medien« somit keine epochalen Veränderungen stattgefunden. Demnach wäre alles, worum sich die Bildwissenschaft in diesem Moment bemüht, eine Erklärung verbesserter Immersionseffekte. »Die Bedingungen der Möglichkeiten von Bildproduktion sind identisch mit den Bedingungen der Möglichkeiten des bewussten, menschlichen Daseins.«18 (Lambert Wiesing)

Als wirklich epochalen Schritt mag man die veränderte Rolle des haptischen Materials im Informationszeitalter erklären. Zu Beginn der Photographie waren Film und Papiermaterial eine Notwendigkeit. Heute stellen sie nurmehr eine Möglichkeit dar. Eben jene Ablösung des Augenblickswertes vom Materialkörper der Erscheinung und sein ständiges Abtauchen im virtuellen Raum mag als wichtiger Verursacher neuzeitlicher Authentizitätsdebatten angesehen werden. Der apologetische Streit um den medienontologischen Status der Fotos, der immer auf die Referenzspuren photographischer Bilder verweist, und das mit Skepsis zu beobachtende Spiel von Dekonstruktion und Konstruktion, welches dieses Realitätsprinzip als reinen Eindruck, als Effekt demaskiert, liegen wie der Diskurs um die Analog-Digital-Differenz auf der gleichen argumentativen Ebene, »blind gegenüber dem Faktum, dass der Betrachter sieht, was er sehen will«.19 Jedes Authentizitätsversprechen ist selbst diskursiv und kann jeweils mit Beispielen belegt werden, wie in einer ausführlichen Studie von Volker Wortmann geschehen. Katharina Eusterbrock fasst innerhalb ihrer Forschungsarbeit über Unterscheidungsfragen zur »Spur des Realen oder Konstruktion« zusammen: »Am Beispiel der Geschichtsschreibung wird deutlich, dass der Glaube an die Möglichkeit einer prämedialen authentischen Repräsentation der Wirklichkeit schon immer eine Illusion war. Insofern haben wir es am Übergang zum Zeitalter des Digitalen auch nicht mit einer Krise der Reprä17  |  Wiesing, 2005, S. 109 18  |  Wiesing, 2005, S. 19 19 | Wortmann, Volker: Authentisches Bild und authentisierende Form, Herbert von Halem, Köln 2003

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sentation zu tun. ›Wenn diese Krise‹ – wie Jäger formuliert – ›in der Unerreichbarkeit medial unvermittelter mentaler Weltrepräsentation durch erkenntnisautonome Subjekte gesehen wird, dann ist die Krise entweder so alt wie die Kulturgeschichte des Menschen – oder doch wohl eher überhaupt keine Krise, sondern Kennzeichen der medialen Anthropologie des Menschen.‹«20 Infolge der Digitalisierung geht die Kunstgeschichte erneut durch einige zeitspezifische Krisen hindurch, die mit dem Aufkommen des synthetischen Bildes entstehen. Der kunstgeschichtliche Betrachter muss sich, wie der Künstler mit den Werken, mit den Methoden und Themen, ständig weiter entwickeln und neu positionieren. Erst mit der Offenlegung künstlerischer Strategien im Kontext ihrer Zeit kann ein Bildwerk angemessen beurteilt und inhaltlich zutreffend gedeutet werden. Eine nachlässige Auslegung, welche die Herstellungsmethoden nicht durchschaut, würde die Präsentationen weder zeitspezifisch noch autoren- und milieuspezifisch verorten können. Ohne Autor aber würde jedes photographisch anmutende Bildwerk zum einsamen Konstrukt ohne Kontext, zur Projektion ohne Projektor, zur Datenmenge ohne Medium; es würde sich somit als nicht zu fassende Erscheinung im unendlichen Raum verflüchtigen. Jedes fotografische Bild ist vor allem als zeitspezifische Geste des Autors zu verstehen. Die erklärte Strategie wird die einzig verlässliche Referenz zu dem, was wir »wirklich« sehen und sehen wollen. Die Kunstgeschichte muss also darüber aufklären, dass die Mehrzahl fotografischer Darstellungen vor allem keine Photographien mehr sind, sondern digitale Fotografiken und damit vorrangig Computercollagen, und weiter, dass diese Collage-Formen auch keine Malereien sind. Es sind künstlerische Arbeiten infolge digitaler Manipulationen mit fotografischen Bilddaten. Hier besteht weder eine reale noch eine virtuelle Entsprechung, es geht weder um Index noch um Ikon, hier wird nachträglich geordnet. Zu den reinen Komputationen kommen die postproduktiven Komputationen (Retusche, Composing, 3D-Modulation, Komprimierung) hinzu. »Die neuen Bilder lassen Komputationen als Spuren von Partikeln sichtbar werden. Sie sind nicht komputierte Bilder, sondern Bilder von Komputationen, im Unterschied zu den alten Bildern, welche zwar gepinselte Bilder, aber nicht Bilder von Pinseln waren. Wir haben neue Augen nötig, um aus den Computerbildern die Komputationen herauszulesen.« 21 (Herbert W. Franke) 20 | Eusterbrock, Katharina: Spur des Realen oder Konstruktion?, GRIN Verlag für akademische Texte, München 2010, S. 87 21  |  Franke, Herbert W.: Computergrafik-Galerie 1984, in: Flusser, Vilém: Standpunkte. Texte zur Fotografie, hg. von Andreas Müller-Pohle, Edition Flusser Band 8, Göttingen 1998, S. 98

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Tatsächlich bedarf es einiger Seherfahrung, um postproduktive Komputationen aus den hybriden Bildern herauslesen zu können. Letztendlich handelt es sich zumeist weniger um Bilder von Komputationen (z.B. automatisierten Prozessen: Renderings, Filterbearbeitungen etc.) als etwa um handgemachte Collagearbeiten von Bildbearbeitern. Die reinen und noch unbearbeiteten Raw Files sind lichtsensitiv aufgenommene Daten von Digitalkameras, die von Fotografen und Künstlern aufgestellt und justiert werden. Erst die digitalen Überwachungskameras und Webcams erstellen Bilder nach algorithmischer Programmierung. Angesichts der zügigen Entwicklung der Computertechnologien tauchen neue maschinengesteuerte Operationen auf, die von jenen des kunstfertigen Umgangs mit Kameraobjektiven zu unterscheiden sind. Anhand der Zeitleiste wird die parallele Entwicklung kommerzieller Webportale, die jene optischen Operationen vorführen, mit dem Erscheinen neuartiger Arbeiten auf dem kommerzialisierten Kunstmarkt sichtbar gemacht und zeitspezifisch zusammengeführt. Der Abschnitt des Zeitstrahls, in dem ein Künstler seine Arbeit öffentlich präsentiert, entbirgt die Schichten und Bündelungen von Kausalitäten, die dem Werk innewohnen. Alle sinngebenden Umstände liegen hier verborgen: in der Anerkennung seiner Zeitspezifik und im Entwicklungstand der Künstlerpersönlichkeit.

5.3 A ppar ate F reiheit/Z u den B edingungen der M öglichkeit » gegen den A ppar at zu spielen « »Freiheit ist die Strategie, Zufall und Notwendigkeit der menschlichen Absicht zu unterwerfen. Freiheit ist, gegen den Apparat zu spielen. […] Die Philosophie der Fotografie hat die Aufgabe, über diese Möglichkeit der Freiheit – und damit der Sinngebung – in einer von Apparaten beherrschten Welt nachzudenken.« 22 (Vilém Flusser)

Flussers Sinnofferte soll hier als Anstoß zum Nachdenken und nicht als wörtlicher Handlungsbefehl genommen werden, denn man kann seine Aufforderung auch leicht ergänzen und damit geschmeidiger machen: spiele mit dem Apparat gegen den Apparat. Es gilt zu bedenken, dass auch die traditionellen Industrien schon apparatenahe Tätigkeiten verlangen und dass ein apparategestütztes Handeln dem Menschen wesentlich ist. Alle kulturellen Tätigkeiten verlangen Bewegungen in und mit Gebilden, in und mit Apparaten. Kunst kommt als Techne auf den Weg. Erst wenn die Apparate uns dirigieren, in Regie nehmen, ist Widerstand geboten, um herauszufinden, wie die beabsich-

22 | Flusser, Vilém: Für eine Philosophie der Fotografie, European Photography hg. von Andreas Müller-Pohle, Edition Flusser Band 3, Göttingen 1983, S. 73

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tigten Entlastungen im Kontext von Ökonomie und großer Industrie sich ins Gegenteil verkehren und den Menschen ins Joch zwingen. Die Aufforderung lautet zudem, zu »spielen«. In jedem gelingenden Spiel wird einem aber auch mitgespielt, und nur wer die Balance halten kann, wer auch ein Spiel beenden und wieder beginnen kann, ist noch ein souveräner Spieler, anderenfalls holt einen noch auf dem Spielfeld die Spielsucht und das Getriebensein ein. Die digitalen Kommunikationssysteme haben erwiesenermaßen dieses hohe Suchtpotential. Den Apparaten und Maschinen auszuweichen oder sie zu ignorieren, das wäre die paradiesische Methode, sich mit der Digitalisierung (nicht) auseinanderzusetzen; man verweigert sich dem Biss in den digitalen Apple. Der Künstler zieht sich in die Gestaltungsräume der vor- und außerdigitalen Photographie zurück und reizt die dort vorliegenden und noch nicht genutzten Möglichkeiten weiter aus. Die öffentlich wahrgenommene künstlerische Arbeit mit der Photographie findet dann aber möglicherweise an anderen Orten statt, und man ist freiwillig aus dem Feld gegangen. Das kann man als Zeichen für IchStärke und »Lebenskunst« interpretieren und sich mit Sloterdijk trösten, »daß Lebenskunst über weite Strecken sich auf die Kunst der Nebensachen bezieht« und dass sich das wirkliche Leben »nicht auf dem Spielfeld, sondern im Seitenaus abspielt, nicht während des Hauptprogramms, sondern in der Pause […] die Nebenfiguren sind die Helden.«23 Wer dagegen mit dem Apparat auch gegen den Apparat spielen will, muss den Weg der Entfremdung gehen. Er ist gezwungen, sich zum Apparat, den Kameras und allen neuen Computeranwendungen zu positionieren, mehr noch – er ist gezwungen, sich dem Apparat anzuverwandeln, um all die Geschicklichkeiten zu erwerben, die es erst erlauben, sich wiederum zum Apparat verhalten zu können, um dann frei zu entscheiden, welche Dienste man annimmt, weil sie auch eigenprojekttauglich sind. Photographie als Erfindung der Industrialisierung und die digitale Fotografie als neue Möglichkeit des Bildermachens ereignen sich an der Schnittstelle von Mensch und Apparat. Die Fotografie oszilliert zwischen Originalität und Klischee, Entwurf und Imitation, Einfall, Zufall und mechanischer Repetition. Paradiesische Methode – wo ist der Teufel? Die folgende Passage aus Flussers Ausführungen zur »Einbildungskraft« liest sich bereits wie eine diabolische Einflüsterung, denn im Freiheitsgestus verbergen sich auch Verführungsangebote und falsche Verlockungen.

23  |  Sloterdijk, Peter: Zur Welt kommen – Zur Sprache kommen, Suhrkamp, Frankfurt a.M. 1988, S. 129

5. Analysen zum Vormarsch der Computer technologie »Wir müssen lernen nicht mehr ›Freiheit wovon‹, sondern ›Freiheit wozu?‹ zu fragen. Zum anderen: wir werden herausgefordert, unsere Arbeitsmoral durch eine andere zu ersetzen, wenn es nicht mehr darum geht, gegebene Wirklichkeiten zu verändern, sondern darum, gegebene Möglichkeiten zu realisieren. Mit anderen Worten: die an uns gestellte Herausforderung ist, aus der linearen Existenzebene in eine völlig abstrakte, nulldimensionale Existenzebene (ins ›Nichts‹) zu springen. Das ist zweifelsohne ein Wagnis, aber wir haben keine Wahl: wir müssen es wagen. Ob wir dies wollen oder nicht: die neue Einbildungskraft ist auf die Bühne getreten. Und es ist ein begeisterndes Wagnis: die Existenzebene, die wir dank dieser neuen Einbildungskraft zu erklimmen haben, verspricht uns Erlebnisse, Vorstellungen, Gefühle, Begriffe, Werte und Entscheidungen, von denen wir uns bisher bestenfalls haben träumen lassen, und sie verspricht, bisher in uns nur schlummernde Fähigkeiten ins Spiel zu bringen.« 24 (Vilém Flusser)

Der Sprung ins »Nichts« ist (wie der Sprung aus dem Fenster) zu jeder Zeit möglich. Im alltäglichen Dasein aber ist der Mensch wie sein physischer Körper den Bedingungen seiner Umgebung unterworfen. Der Mensch kann kognitiv und fiktiv in der Abstraktion und Imagination, in Sphären der Irrealität und Virtualität, in Ablösung vom Wirklichen und von der gegenständlichen Welt Ideen produzieren. Die Welt der synthetischen Bilder – die Flusser so oft nicht genauer differenziert – entsteht weiter im traditionellen Hin und Her zwischen Abstraktion und Gegenständlichkeit. Fotografische Bilder werden weiter auf unterschiedliche Weise unter den verschiedenen Konsistenzbedingungen der Wirklichkeit – des Außen, des Lichts und Schattens, der Farbe, der Bewegung der Hand und des Körpers – produziert. Jetzt am Computer (Rechenmaschine und Werkzeug) können die Bilder mit dem Tablet Pen gezeichnet werden, mit einer Digitalkamera fotografiert und am Monitor manipuliert – oder auch anhand von 3D-Softwares gerendert werden. Die Malerei, die Zeichnung und jetzt die Computergrafikmodelle bleiben in ihrer Referenz chimärisch – die Photographie als Aufnahmemedium dagegen ist gänzlich mit dem Außen verbunden. Die Bildschirmkamera, die Marssonde, die Smartphone- und Nanokamera, sie alle blicken aus der Maschine (dem »Ding« im Sein) heraus; sie zeichnen Licht, Schatten und Farbe auf. Wie schon dargelegt, werden auch in der digitalen Welt allein durch Gedankenkraft noch keine Photographien erzeugt. Mit dem Computer können lediglich die vorhandenen und eingespeisten Grafiken gesammelt, sortiert, ausgesucht, beschriftet und versendet werden. Aber die meisten Nutzer bedienen dazu nur die Oberflächen – nicht die Algorithmen. Somit bleibt die Bildproduktion an sichtbaren Oberflächen kleben, bevor »reine Vorstellungen« – kommunikative Komputationen – daraus werden. Wer spricht algorithmisch? Computersprachen 24  |  Flusser, Vilém: Eine neue Einbildungskraft, in: Bohn, Volker: Bildlichkeit, Edition Suhrkamp, Frankfurt a.M. 1990, S. 126

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werden noch von Programmierern gelernt und ausgeführt. Bisher werden algorithmische Sprachen kaum in Schulen und Informatik übergreifenden Disziplinen gelehrt und angewendet. Der Zustand beschreibt reale Bedingungen, die bewirken, dass keine (Inter-)Aktion am Monitor als echte, eigene Handlung nachvollzogen werden kann, da es sich lediglich um die Bedienung von vorgefertigten Nutzeroberflächen handelt. Worin bestehen also die epochalen Schritte zur computerisierten Kommunikation? Vor allem ist es eine kontrollierte Kommunikation ohne Anwesende und damit ohne Blickkontakte, da die vielen User auf dem (Touch-)Screen agieren. Man kann sich auch weniger verbindlich verabreden. Die kommunikativen Portale bieten einen Überblick, wo etwas passiert und wo man gegebenenfalls dazustoßen kann. Wer schaut mich an, wer sind diese neuen »Freunde«? Von welcher Welt treten wir zurück? Wäre es die Welt von Angesicht zu Angesicht, dann würde ein direkter Blick plötzlich Nähe und Intimität kommunizieren. Mit der Faszination für die Kommunikation mit den neuen technischen Medien vollzieht sich schleichend eine Abwendung vom direkten Zusammensein und von physischer Konfrontation. Das Social Networking raubt die Zeit, die wir früher mit Familie, Freunden und Nachbarn verbracht haben. Jetzt umgeben wir uns mit virtuellen Beobachtern, Stalkern, Followern. Mit ihnen gibt es wenige direkte Auseinandersetzungen. Eine wirkliche Kommunikationsverbesserung lässt sich bei denjenigen nachweisen, die durch die digitalen Werkzeuge eine körperliche Behinderung kompensieren können. Das Textmessaging und gewisse Sprachfunktionen werden heute dazu unentbehrlich. Bieten die digitalen Techniken bei physischen Einschränkungen Hilfen, so stellen sich bei ausgedehnter täglicher Nutzung aber selbst bei gesunden Nutzern gewisse neurologische Veränderungen ein, die nach Susan Greenfields Beobachtungen geradezu in autistischen Verhaltensweisen enden können. So beschreibt sie die Teilnehmer der Screen Culture als dem digitalen Flimmern zugewandte »Mondsüchtige«25, die aus der Isolation heraus den hypertextuellen Reizen folgen. Das Gehirn beginnt im täglichen Training, auf leuchtende, optische Sinneseindrücke lernend, schließlich strukturbildend zu reagieren. Die taktilen und aktiven Muskelbewegungen werden geschont. Die Körpersprache, die emotionalen Fähigkeiten zur Empathie und zur Identitätsbildung beginnen nach den Untersuchungen von Greenfield zugunsten eines Hypertext-Stils und kommunikativer Bild-Dominanzen zu verkümmern.

25  |  Zu Susan Greenfields Hirnforschung siehe Kapitel 9 in: Peters, Otto: Kritiker der Digitalisierung, Peter Lang Internationaler Verlag der Wissenschaften, Frankfurt a.M. 2012

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Die hier benannten Bild-Dominanzen im Internet passen zu Befunden jener Recherchen und Diskurse, die sich weniger mit Fotografien und Bildern als mit dem Image beschäftigen. Es handelt sich dabei um Schemata und Skripts, die in der Gesellschaft umlaufen und sich als Modelle für die Konstruktion von Identität und für vorteilhafte Formen der Selbstdarstellung anbieten. Die neuartigen Profildarstellungen sollen eindeutig und prägnant gestaltet und flexibel einsetzbar sein. Auch die Prozessbeschreibungen der Image-Pflege, des Image-Marketing und der Image-Politik gehören zum Sprachgebrauch des Informationszeitalters. Das neue »Nichts«, in das wir springen, ist auch der Abgrund des »Selbst«, um den sich derzeit wichtige soziologische Abhandlungen drehen und die öffentlich dringlich dazu auffordern, sich mit jenem Abgrund gesellschaftspolitisch auseinanderzusetzen. Es scheint sich dabei um die letzte bedrohte Ressource zu handeln. In ihrer »Selbst-Erschöpfung«, der »Arbeit am Selbst«, dem »Selbst-Unternehmertum«, dem prekären Selbst jener Existenzebenen, wie Lazzarrato sie zu beschreiben weiß, oder dem verwirklichten, therapierten Selbst, das (nach Eva Illouz26) mit allen Qualen der Liebe auf die eigene private Geschichte und die Fähigkeit »sich selbst zu gestalten« zurückgeworfen wird. Die Image-Produktion des Selbst muss im Kapitalismus stetig ihre Wertigkeit demonstrieren, darf niemals veralten, muss sich ständig aktualisieren. Man kann vermuten, dass Flusser über reale Phänomene philosophierte, als er euphorisch über Fotografien und »synthetische Bilder« sprach – aber vermutlich Images meinte. Dieses positive Engagement ist im weiteren Verlauf der Digitalisierung kaum noch zu vernehmen. Heute dominieren eher bedrückende Verlautbarungen darüber, sich so weit von der eigenen Identität und seiner relevanten Mitwelt entfernt zu haben, nur um durch ein kalkuliert funktionales und angepasstes Verhalten seine Karriere zu befördern. Solche Befunde beleuchten zugleich die absteigenden Karrieren vieler Photographen vom Autor zum Materiallieferanten im Zuge der Digitalisierung. Der Sprung ins »Nichts« will geplant, aber doch sinnvoll und nutzbringend sein. Eine Verknüpfung zwischen dem Internet und den realen Existenzebenen haben bisher am besten die amerikanischen Konzerne herzustellen gewusst. In den unterschiedlichsten kulturellen Bereichen wachsen Strukturen neuartiger Unternehmungen, für die die Internetportale ebenso unverzichtbar sind wie die zusätzliche Grundsicherung. Man züchtet sich hier seine eigene Lobbygruppe, auf Facebook, mit ge-like-ten Bildern, Kommentaren, Snapshots, um zu Partys, Vernissagen und Release-Veranstaltungen einzuladen. Per Klick 26  |  Illouz, Eva: Gefühle in Zeiten des Kapitalismus, Suhrkamp, Frankfurt a.M. 2006; Illouz, Eva: Warum Liebe weh tut, Suhrkamp, Berlin 2012

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können (zuerst 1.000, neuerdings 5.000) »Freunde« geladen werden – dann muss man nur noch die wirksamen Tunes und Samples ablaufen lassen und Getränke verkaufen. (Davon könnte man leben? Eine neue Freiheit?) Gegenwärtig wird vermutet, dass alle eingespeisten Momentaufnahmen auf Facebook, auch die nächtlichen Tanz- und Veranstaltungsszenerien, gesammelt werden (mit eben jener gleichzeitigen Übertragung von Nutzungsrechten), um irgendwann in einer Facebook-Bilddatenbank verfügbar zu werden – dann allerdings per Paypal. Mit derartigen Vorgängen befasst sich bereits die Rechtsprechung im Niemandsland zwischen den verschiedenen Gesetzesterritorien. Es wird sich zeigen, wie das Verhältnis von Gewinn und Verlust im Übergang der Justagen zu bilanzieren sein wird. Unter welchen Bedingungen entstehen heute die »synthetischen Bilder«, die digitalen Fotografiken, von denen bereits gesagt wurde, dass sie höchstens verbesserte Immersionseffekte vorführen könnten? Die realen Herstellungsprozesse funktionieren am anderen Ort und vor der Einspeisung der Bilder in die Kanäle. Auf welche Weise diese Bilder entstehen, scheint an dieser Stelle nicht relevant (irgendeiner wird sie schon irgendwie irgendwo machen), da die Kommunikation zur Vorstellung im Anschluss, mit der Digitalisierung stattfindet. Dort befindet sich auch der Gegenstandsbereich poststrukturalistischer Philosophien, die wir immer noch am liebsten in Büchern lesen – nur dass wir diese heute bei Amazon27 bestellen, anstatt in einen Buchladen zu gehen, der ohnehin geschlossen werden soll. Welche Rolle spielt die Digitalisierung heute, wenn wir uns photographisch anmutende Bilder anschauen? Flusser weist zurecht darauf hin, dass die zirkulierenden Bilder am Monitor ihren »Simulationscharakter«28 nicht mehr verhüllen. Es geht also auch darum zu erkennen, dass wir von den digitalen Manipulationen immer mehr wissen und bereits darauf abgestimmte generative Verhaltensweisen erlernen. Die Gesamtheit interaktiver, optischer Oberflächen versucht uns in Abhängigkeitsverhältnisse zu bringen, die sich tatsächlich auf unser Leben auswirken können. Wir kommunizieren mit Screens und Touchscreens: bestimmte Fahrtickets werden nicht mehr am Schalter ausgegeben, sondern müssen im Internet bestellen werden, »Freunde« interagieren täglich netzverbal. Wird man plötzlich nicht mehr eingeladen, weiß man mitunter nicht warum (Cybermobbing). Vielleicht kein Einzelfall, wäre man 27  |  Seit 2011 gehört nun auch das Zentrale Verzeichnis antiquarischer Bücher (ZVAB) zu Amazon (über AbeBooks). Die professionellen Antiquariate bieten hier (überwiegend deutschsprachige) Bücher an. 28  |  Flusser, Vilém: Eine neue Einbildungskraft, in: Bohn, Volker: Bildlichkeit, Edition Suhrkamp, Frankfurt a.M. 1990, S. 122

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darauf verwiesen per Mail zu verhandeln, anstatt und trotz aller Dringlichkeit persönlich mit jemandem sprechen zu können. Auf vielen Webseiten werden längst keine Telefonnummern mehr angegeben. Eine kritische Situation kann von heikel bis fatal ausarten, ohne die menschlich- emotionalen Räume direkt anzusprechen. Die Face-to-Screen-Kommunikation konfrontiert mit sauberen Oberflächen, öffnet Fenster und schirmt ab; der Schirm wird Mauer, wird spiegelnder Abgrund, Flüssigkristalle werden zu Panzerglas. Man sammelt seine Erfahrungen und weiß mitunter darum, was es heißt ins »Nichts« zu springen. Mit dem Neoliberalismus hat auch eine Entwicklung stattgefunden, die keine bestehenden Abhängigkeitsverhältnisse mehr verändern wird (da keine geregelten Abhängigkeitsverhältnisse mehr bestehen), sondern im Eigenunternehmertum zuerst Arbeitsprozesse simuliert und im Folgenden Schulden selbst verwaltet werden. »Das neoliberale Handeln wirkt sich gleichermaßen und unterschiedslos auf die Ökonomie der Subjektivität, auf die ›Arbeit‹ und auf die ›Arbeit am Selbst‹ aus und reduziert die Letztere auf den Befehl, sein eigener Chef zu werden, und d.h. alle Kosten und Risiken, die die Unternehmen und der Staat auf die Gesellschaft abgewälzt haben, auf ›sich Selbst zu nehmen‹. Das Versprechen, dass die ›Arbeit am Selbst‹ eine ›Arbeit‹ hervorbringe, die als Emanzipation verstanden werden kann (Freude, Verwirklichung, Anerkennung, Experimentieren mit Lebensformen, Mobilität etc.) findet sich als Imperativ wieder, die Risiken und Kosten zu übernehmen, die den Unternehmen wie dem Staat zu teuer geworden sind. Mit eingefrorenen Löhnen (via Gehaltsdeflation) und drastischen Kürzungen der Sozialausgaben produzieren die zeitgenössischen Neoliberalen ein Humankapital oder einen ›Selbstunternehmer‹, der mehr oder weniger verschuldet oder verarmt ist, in jedem Fall aber prekarisiert.« 29 (Maurizio Lazzarato)

Die alte Welt mit ihren (staatlichen) Institutionen und gemeinschaftlichen Verortungen befindet sich in Auflösung, wenn jene Existenzstrukturen weiter wachsen. Allerdings gilt es zu bedenken, dass es in den kulturellen Arbeitsbereichen der »kreativen Klasse« (nach Mercedes Bunz so bezeichnet) immer schon prekäre Verhältnisse gegeben hat. Was bieten nun die neuen Möglichkeiten? Im Selbst-Unternehmertum setzen sich Ideen auch ohne die alten Planungsstrukturen, Produkt- und Vertriebsketten vereinfacht um. Aufgrund digitaler Verfahrensweisen, die beispielhaft Design und Printbereiche revolutionierten, kann heute schneller und günstiger produziert werden. Dies löste einen Printboom und eine gesteigerte Buchproduktion aus, die sich derzeit angesichts simulierter Darstellungsformate qualitativ behaupten muss. Es 29  |  Lazzarato, Maurizio: Die Fabrik des verschuldeten Menschen. Ein Essay über das neoliberale Leben, b_books, Berlin 2012, S. 87 f

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zeichnet sich eine Verschiebung der Produktion von Objekten zu Objektsimulationen ab. Jene Vorgänge manifestieren die wahren, epochalen Schritte: Die Rolle des haptischen Materials verschiebt sich bedeutsam, indem es – früher eine Notwendigkeit – nunmehr lediglich eine Möglichkeit darstellt. Die alten Präsentationsräume zur Verhandlung von Qualitäten lösen sich auf. Vernetzte Lobbygruppen stimulieren sich selbst, in Abgrenzung zur physisch-emotionalen Konfrontation. Im Bereich der Photographie kann beispielhaft die reale Produktion von Photobüchern beliebiger Auflagenmodelle angeführt werden. Dazu äußert sich Marcus Schaden als ein bekannter Vertreter öffentlich zu Produktions- und Vertriebsangelegenheiten von Photobüchern. 2010 spricht er noch begeistert von seinem Ladengeschäft in einem der Hatje Cantz Interviews30. Und bereits zwei Jahre später in veränderter Weise in einem Gespräch mit der Photonews31 (Anlass: Auflösung seines Ladengeschäfts): »1995, als wir das Ganze angefangen haben, gab es noch die ›alte Welt‹ mit Buchhandel, Antiquariaten, Verlagen und dem Ramschverkauf. Heute ist das Wissen um Fotobücher gestiegen, weil es plötzlich die entsprechende Literatur darüber gab. Allein Photobook: A History hat, wenn man die französische Ausgabe hinzurechnet, eine Auflage von 60.000 oder mehr. Das hat natürlich viele Leute auf den Plan gerufen – auch viele kleine Händler. Und die Sammler haben auch angefangen zu handeln. 1995 war der Internetbuchhandel noch nicht so gut aufgestellt – das ist im Jahr 2012 anders. Und das hat auch Auswirkungen auf die Messen. Parallel dazu bringen Fotografen heute ihre eigenen Bücher heraus und stellen sie ins Netz, wo man sie direkt kaufen kann. Die Bezahlvorgänge sind da auch viel einfacher geworden. Alles ist viel einfacher geworden. Für uns als Buchhändler ist das aber immer ein Verlust. Und dann haben wir noch den Bereich Social Networks. Die Kommunikation über das Material ist hoch. Und, das ist ein entscheidender Punkt: Sie ist global. Wir haben Fotobuch-Fans aus Japan, aus Indonesien und aus Australien. Und dann sitzt da Alec Soth in Minnesota, macht ein Buch in einer kleinen Auflage von 500 Stück, das wird rumgetwittert und nach 48 Stunden ist das ausverkauft. Die Fans haben das alle schon, bevor ich das überhaupt mitkriege. Ich sehe das ja an meiner eigenen Homepage. Ich biete dort Sachen an, weil ich gut informiert bin, weil ich glaube zu wissen, was gut ist und weil man mir vertraut. Und die Leute nehmen das an. Aber sie kaufen es nicht. Ich habe täglich 10.000 Besucher auf der Seite, aber nur drei Bestellungen – so ist in etwa das Verhältnis. […] Ich entwickle ein neues ›Schaden.-com-Library-System‹. Auf der einen Seite kauft man sich die Din30 | Quelle: www.hatjecantz.de/controller.php?cmd=interviews&id=50/ Stand Abruf 12.04.14 31 | Quelle: http://photonews-blogbuch.de/2012/07/die-mission-fotobuch-bleibt-inter view-mit-markusschaden/ Stand Abruf 12.04.14

5. Analysen zum Vormarsch der Computer technologie ge, die man wirklich liebt. Ich nenne es das ›Manifest 100‹. Vielleicht braucht man nur 100 Bücher – und zwar die, die man nachts um 4 Uhr noch aufschlagen will. Aber es gibt auch viele Bücher, die man mag, die man aber nicht als Riesenband im Regal stehen haben muss. Das macht ja auch immobil. […] Ich will keine Diskussion ›eBook gegen gedrucktes Buch‹ entfachen, ich will es nicht als Ersatz für das Fotobuch haben. Beide Formen werden parallel existieren. Das ergibt dann auch ganz neue Möglichkeiten. Stell dir mal vor, Horacio Fernández würde jedes einzelne Buch, das in The Latin American Photobook vorgestellt ist, digitalisieren. Und dann hast du eine App für 150 Euro oder so, in der du alle 200 Bücher komplett durchlesen kannst. Das wäre doch der Hammer. Und für zehn Euro gäbe es dann sogar Sleeping by the Mississippi von Alec Soth.«

Marcus Schadens Bericht zur Photographie deckt sich mit den von Lazzarato konstatierten neoliberalen Prozessen des prekären Selbst-Unternehmertums. Euphorische Töne durchmischen sich mit gleichzeitigen Bestätigungen der Selbstverschuldung32 und heiklen Einwilligungen von einst zur Auflösung von realen Räumen. Es muss sich erst zeigen, ob und wie Kunstschaffen und Kunstmarkt im Internet bestehen können. Ganz offensichtlich sind die Präsentationsräume Internet, Galerie-/Ladenraum und Buch höchst divergent. Der Computer ist und bleibt in erster Linie ein Werkzeug. Er steht vor allem für Arbeit, wenn die tägliche Arbeitszeit am Screen verbracht wird. Diese scheinbar eher körperlose Beanspruchung sucht nach ausgleichenden Wahrnehmungsräumen. Der Touchscreen kann informative Unterstützungen anbieten. Aber welche Anreize gibt es, nach der Arbeitszeit und dem Social Networking auch noch sein kulturelles Interesse an Bildern, Büchern, Musik und Theater am Monitor auszuleben und bisweilen sogar ganztägig online zu gehen? Liegt nicht der Sinn kultureller Veranstaltung gerade im Besuch sozialer Räume? In der Möglichkeit, die eigene Wahrnehmung im Realkontakt zu erweitern? Aus der eigenen kommunikativen Begrenzung auszutreten? Bei der Sichtung neuartiger virtueller Kunstgalerien wie Seditionart.com wird deutlich, dass hier wiederum eine Selbst-Produktion unterstützt wird, indem man sein komputiertes Profil mit Kunst schmückt, um auf sich aufmerksam zu machen. Hier wird jeder zum Collector und zwar per Klick für 10 Euro mit einer Schmetterlingsbilddatenmenge von Damien Hirst (in Edition of 10.000).

32  |  »Wie vielen Leuten schuldest Du noch Geld? [Schaden:] Es sind noch zu viele. Aber ich versuche das Beste und das wird auch irgendwie klappen.« Zitat aus Interview, Quelle: http://photonews-blogbuch.de/2012/07/die-mission-fotobuch-bleibt-interviewmit-markus-schaden/ Stand Abruf 12.04.14

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»I like the idea of original pieces of art going directly to people for a low price.« lautet eine Botschaft von Tracey Emin auf Sedition33. Sie soll zum kostenpflichtigen download ihres 20-sekündigen mp3-Clips motivieren, den man nach beigefügter Vermarktungsanweisung zum I-phone seiner (Fern-)Beziehung schicken kann: Auf dem Touchscreen animiert sich in der Folge ein leuchtendes Neonherz mit den Worten »I promise to love you« in der Mitte. Im diskursiven Zwischenraum zur »postdigitalen« Zeit werden jene Stimmen deutlicher vernehmbar, die aufzeigen, warum die digitale Kommunikation qualitativ nicht funktioniert: »Digital« wird immer noch als Medium und nicht als Infrastruktur angesehen. Netzwerke und Plattformen bedeuten Austausch in Echtzeit, zu teilen, was man allein für relevant hält, und zu vermarkten, was das Selbst verhandelnd simuliert. Die Digitalisierung wird folglich keine traditionellen Kanäle ersetzen, sondern lediglich versuchen, uns unsere Zeit zu stehlen. »Screens are getting boring« 34 – interessanterweise handelt es sich hierbei um Stimmen auf den Blogs der Werbeindustrie, die aktuell bedauern, dass sich angesichts des digitalen Feuerwerks kaum Aufmerksamkeit mehr herstellen lässt. Diese Zustandsbeschreibungen erinnern an erste Besuche ostasiatischer Metropolen. Zu jeder Zeit und an jedem belebten Ort wird man dort von einem Dutzend Screens bestrahlt, zur Lunchtime, in den Shops und auf der Straße. Für Neuankömmlinge ist das zuerst eine irritierende Situation; für die Einheimischen nur noch ein beiläufiges Flimmern und eine unzureichende Straßenbeleuchtung. Der Sprung ins »Nichts«, ins Flimmern der Fensterbilder, macht uns zu Abwesenden im Abwesenden und führt auf Dauer zum Verlust aller vertrauenswürdigen Verbindungen. Die Freiheit des Spiels kann ohne freiheitliche Netze nicht funktionieren. Der Computer als Rechenmaschine und Werkzeug ist eine der interessantesten Erfindungen unserer Zeit, und doch gleicht er aktuell einem Spielzeug mit vorgefertigten Nutzeroberflächen, an die wir wie Kinder herangeführt werden, um am Ende den Erfindern zuzuspielen. Der Computer eignet sich, um Images zu erstellen, sie in Profile einzubinden und in der Verlinkung mit anderen Images Image-Collagen anzufertigen. Diese Formen des Umgangs mit Bildern haben wenig mit den Bemühungen der Photographie zu tun, sich dem Außen der Objekte anzunehmen und dem Anderen in seiner »Wahrheit« zu begegnen. Die Möglichkeiten im Umgang 33 | S-edition meint in dieser Trennung »Screen-Edition«, Sedition in einem Wort kann mit »Aufruhr« und »Volksverhetzung« übersetzt werden. 34 | Quelle: www.fischmarkt.de/2011/09/post-digital_ist_die_digitale_revolution. html/ Stand Abruf 12.04.14

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mit selbstleuchtenden Flächen entsprechen nicht den Möglichkeiten des Spiels mit Licht und Schatten, jener dualen Zwiefalt und metaphysischen Spannung, die sich im Photographischen positiv wie negativ abbildet.

5.4 S tilles B ild , flüchtiges B ild/Z ur A uflösung verorte ter G egenseitigkeit und den R äumen der S elbstpotenzierung Die künstlerische Photographie der 1990 Jahre scheint sich in Deutschland in zwei Strömungen zu teilen. Die ehemaligen Studenten der Düsseldorfer Akademie streben danach (angeregt durch die neuen Technologien), fiktionale Realitäten zu konstruieren und großformatig in Museen auszustellen. Andere Künstler (eher Einzelgänger) die auch den Weg in die Museen schaffen, präsentieren weiter kleinere Formate und Handabzüge als Zeugnisse gefundener und erlebter Wirklichkeiten, die ins Bild gebracht ihre eigenen kommunikativen Wirkungen erzeugen. »Die Präsentation soll möglichst pur sein«, sagt Wolfgang Tillmans »die Menschen sollen ein Bild sehen und nicht ein Kunstwerk. […] Obwohl ich weiß, dass die Kamera lügt, halte ich doch fest an der Idee von einer fotografischen Wahrheit.«35 Die Arbeit mit der Fotografie wird von neuen Technologien irritiert und herausgefordert und gleichzeitig von alten und neuen Anfragen umschwirrt. Wenn Tillmans kein »Kunstwerk« zeigen will, so stellt er sich als Künstler eine paradoxe Aufgabe, folgt aber dem Versuch »Theatralität«, Posen und alle arrangierten Dekorationen zu vermeiden. Das »pure Bild« schwebt Tillmans als (un-)erreichbare Idee seiner photographischen Absichten vor Augen. Das tradierte photographische Bild erzeugt Zeitgenossenschaft und ist ein Angebot zur Kommunikation, stiftet Neugier und Anteilnahme im Betrachten von Vertrautem und Unvertrautem. Das je aktuelle photographische Gebrauchsbild spielt dabei dem alltäglichen Ritual des gegenseitigen Abgleichs mit sich selbst und dem Anderen zu. Welche Rolle können Galerieräume und Fotobücher einnehmen, wenn sich die »Gemeinschaft« heute vorwiegend digital im Netzraum austauscht? Welche Rolle spielt das Papier als Relikt einer Brief- und Buchkultur im Vergleich zu den kristallinen Oberflächen? Was meint »permutationelle Welt« im Zusammenhang mit digitalen Nutzeroberflächen? Wie wirkt sich die körperferne Kommunikation auf Gemeinschaften aus?

35 | Rauterberg, Hanno: Perfektionist des Hingeschluderten, DIE ZEIT Nr. 44/2000; Quelle: www.zeit.de/2000/44/200044_tillmanns.xml/ Stand Abruf 11.04.14

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Fotokunst in Zeiten der Digitalisierung »Das wahre Problem liegt darin, daß heute das, was interessiert, nicht so sehr die Variabilität des Schemas ist als vielmehr die Tatsache, daß man endlos auf ihm variieren kann. Und eine endlose Variabilität hat alle Merkmale der Wiederholung, aber nur sehr wenige der Innovation. […] Man füttert eine Struktur in die Maschine ein, gibt ein wenig permutationelle Neuheit dazu und jedermann ist zufrieden: der Konsument, der Künstler, der Ingenieur, der Händler. … Die Folge wäre eine permutationelle Welt, in der alles unendlich fortgesetzt werden kann.« 36 (Eco/Moles/Rötzer)

Florian Rötzer nimmt hier die Hinweise auf, dass eine Fülle von neuen Werken (z.B. Filme, Musikstücke) heute vermehrt aus Zitaten und Bildern bereits bestehender Werke zusammengesetzt werden. Dank der neuen Technologien ist es immer leichter möglich, mit weniger Zeitaufwand und weniger Arbeitskräften eine hohe ästhetische Qualität zu produzieren. Die neuen Produkte perfektionieren aber nur die Oberflächen und orientieren sich an bereits etablierten Unternehmungen. Das Gefühl der Permutation, einer ständigen Neuordnung der selben Sache, stellt sich deutlich bei der Betrachtung von Profilportalen, den Oberflächen Facebook (oder Google+) ein. Innerhalb einer bestimmten kulturellen Szene kann man dieselben Bilderschnipsel, verlinkten Fotos, Filmchen, Zitate, mitunter dieselben »Freunde« in variabler Anordnung, unter den verschiedensten Namenszuordnungen und Personenportalen wiederentdecken. Alles, was auf Facebook bewegt und geordnet wird, folgt einer vorgefertigten Struktur – und wird sich am Ende gemäß dieser Struktur und Nutzeroberfläche präsentieren. (Genauso produziert die Nutzung von Photoshop, am Ende »Photoshop-Bilder«.) Der Stil der Nutzeroberfläche schreibt sich also in die Kommunikation mit digitalen Bildern ein. Stil und Nutzungsrechte der Firmen schreiben sich so bei jeder scheinbar »eigentätigen« Aktion auf kommerziellen Portalen in fotografierte Bilder ein. Die technischen Zurichtungen digitaler Kameras führen darüber hinaus zu Einschreibungen von Werkseinstellungen und Metadaten. Die Arbeit am Profil wird scheinbar selbstproduktiv verwirklicht. Profile werden virtuell verbreitet in der Hoffnung auf ihre (selbst-)wertsteigernde Entwicklung; die permutationelle Gesellschaft versammelt all jene Ideen innerhalb expandierender Netzwerke, die von einigen wenigen im Verborgenen kontrolliert und profitabel abgeschöpft werden können. So bilden sich gesellschaftliche Praktiken heraus, die kaum noch verorteter Situationen der Anwesenheit, der personalen Verantwortung und Vertrauensbildung bedürfen. Der 36  |  Florian Rötzer zitiert Umberto Eco: Die Innovation im Seriellen, in Eco: Über Spiegel, Hanser, München 1988, und aus einem Gespräch von F. R. mit Abraham Moles, veröffentlicht im Kunstforum 105, Dezember 1989, in: Rötzer, Florian: Digitaler Schein. Ästhetik der elektronischen Medien, Edition Suhrkamp, Frankfurt a.M. 1991, S. 24 f

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Postfordismus zeichnet sich durch seine flexiblen Handlungsweisen aus, die jederzeit neu justiert werden können. Alles baut auf bewegliche Erfahrungshorizonte, nicht auf tatsächliche Standorte. Lebensläufe generieren zwar noch die Erlebnisse, diese werden aber verrechnet und den Individuen als quantifizierte Leistungen zurückgespiegelt, die sich auf selbstpotenzierenden Portalen aktualisieren. Qualitäten lassen sich dank der Techno-Imagination heute vereinfacht simulieren. Die Selbstpotenzierung im virtuellen Raum funktioniert in dem Sinne effektiv, da sich mit vergleichsweise geringen Investitionen (Bewegung und Zeit) unentwegt Verbindungen herstellen lassen, die das Selbst kurzfristig stimulieren bei gleichzeitiger Absenz des realen Anderen. Da die Kommunikation auch unter Verwendung von Schrift vollzogen wird, könnte man an eine Wiederbelebung und Fortsetzung der Briefkultur denken, aber die dafür nötigen tage- bis wochenlangen Pausen zwischen den Sendungen fallen weg, es gibt kein Nachsinnen, kein geduldiges Projizieren und Imaginieren, denn »Schriftrede« und »Schriftwiderrede« erfolgen gleich einem Schlagabtausch fast simultan, die Kommunikationsgeschwindigkeit befördert eine immer tiefere Verstrickung in Kommunikation oder forciert ein Ausweichen auf schematisierte Scripts, in denen man sich am Ende mehr verbirgt als entbirgt. Der kalkulierenden Netz-Interaktivität entsprechen strategische Umgangsformen mit dem »Anderen«; man kann ihn anschalten, vergrößern, stumm schalten, löschen. Ein kalkuliert kontrollierter Blick auf das instabile Abbild des Anderen. Diese Umstellung der Imagination vollzieht sich in Erlösung von den Leibern und in Befreiung von allen Gefahren physischer Ansteckung. Die neuen Viren bedrohen zwar noch die existenziellen Accounts, doch nicht mehr den eigenen physischen Körper, den es gleichzeitig zu schonen und durch gezielte Trainingsformen monologisch zu optimieren gilt. Unter diesen Bedingungen der permanenten Selbst-Befriedung werden auch die Möglichkeiten anhaltender physischer Trennung von der Gemeinschaft geschaffen. Es wird sogar vermutet, dass die neuen Medien uns daran hindern »erwachsen zu werden«: Es verlängern sich die »Adoleszenzphasen« (Übergangs- und Schwellenriten), weil sie uns im Spielalter festhalten. In welcher Weise die neue Psychomacht der Kulturindustrie sich unserer Aufmerksamkeit in jenen Übergangszonen bemächtigt und sich in unseren Selbst-Entwürfen einnistet, beschreibt Bernard Stiegler ausführlich in seinem Buch »Logik der Sorge«37. Seiner Ansicht nach sind die »Psychotechnologien« in der Lage, »diese Übergangsräume zu zerstören, einschließlich der darin erscheinenden Übergangsobjekte, welche die frühesten Formen der tertiären Retentionen (primäre, se37  |  Stiegler, Bernard: Die Logik der Sorge. Verlust der Aufklärung durch Technik und Medien, Edition unseld 6, Suhrkamp, Frankfurt a.M. 2008, S. 31

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kundäre/kollektive Erinnerungen) sowie die Grundlagen jedes Sorge-Systems sind: Ein Übergangsraum ist in erster Linie ein System der Umsorgung«. Der Übergangsraum der Umsorgung braucht vor allem einen physischen Begegnungsraum. Ist es möglich, den Verlust dieser realen Konfrontations- oder Begegnungsräume durch die Verschiebung der Kommunikation in den virtuellen Raum als Erklärung dafür anzusetzen, dass man sich für Photographien (als Produkte kollektiver Erinnerungen) außerhalb der sozialen Räume (Ausstellungsräume, Buchhandlungen) nur noch flüchtig interessiert? Wird eine Bildproduktion und Bildbetrachtung ohne verortete soziale Interaktion auf Dauer leer? Angesichts des täglichen Wahrnehmungstrainings, das auf flüchtige Präsenz und Schaulust an medialen Bewegungen hin ausgebildet wird, scheint es die Photographie besonders schwer zu haben, denn nach Florian Rötzer beträgt heute »die durchschnittliche Verweildauer eines Betrachters vor einem Bild etwa sechs Sekunden«. In beispielhafter Beschreibung unterschiedlicher Bildgenres führt er mit Peter Weibel weiter aus: »Von der Dreiteilung des Raumes […], gehe ich in die Multischichtung. Zum Beispiel kann ich in einem Raum fünfmal hintereinander auftreten und jedes Mal einen anderen Gegenstand in der Hand halten. Das ist nur ein simples Beispiel dafür, wie durch den aufgesplitterten Technoraum auch der Raum der Realität aufbricht, da ich gleichzeitig in den verschiedenen Räumen anwesend bin. Das ist eine Polytropik des Vielzeitigen und Vielräumlichen. … Da kann man nicht mehr sagen, das Bild ist schön komponiert, weil die Vielräumigkeit und auch die Widersprüchlichkeit der Räume das Schöne am Bild sind.« 38 (Weibel/Rötzer)

Das stille Bild weicht dem flüchtigen Bild. Gegenwärtige theoriegeleitete Untersuchungen zum »Bild« beschäftigen sich kaum mehr mit der zeitgenössischen Photographie als stillem Bild. Sie widmen sich primär den digitalen Bildanimationen, Videobildern, live-Bildern oder verlinkten Bilddatenbanken. Die Photographie wird noch als Form kommunikativer Strategien erwähnt, sei es in den Ausführungen von Weibel zum Technoraum, von Flusser zur virtuellen Kommunikation (»the bi-vocal connections of terminals«), Lazzarato zum live-Bild (Videophilosophie39) und auch in allen nachfolgenden Ausführungen zur medialen Affizierung, die sich wiederum dem Zeit-Bild widmen. 38  |  Florian Rötzer zitiert Peter Weibel aus einem Gespräch: Kunst machen (Peter Weibel, Florian Rötzer, Sara Rogenhofer) in: Rötzer, Florian: Digitaler Schein. Ästhetik der elektronischen Medien, Edition Suhrkamp, Frankfurt a.M. 1991, S. 34 39 | Lazzarato, Maurizio: Videophilosophie. Zeitwahrnehmung im Postfordismus, b_ books, Berlin 2002

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In den aktuellen Bildtheorien herrscht zunehmend Unwissenheit über das gewachsene professionelle Handwerk der Photographie und die realen Schaffensprozesse in ihr, was zwingend zu der Frage führt, inwieweit sich die künstlerische Photographie am Computer als eigenständiges künstlerisches Genre überhaupt weiter betreiben lässt. Aufgrund der geringen Pixelmengen, die von Bilddaten im Netz ausreichend dargestellt werden können, handelt es sich bei den photographischen Darstellungen der neuen Medien um reproduktive Datenkompressionen, Film- und Videostills, Telefonbilder und Bildschirmfotos. Es scheint dringlicher, die Qualitäten von Photographien auf haptischen Materialien angesichts synthetischer Bildmedien herauszuarbeiten und nach »30 Jahre[n] Die helle Kammer«40 in Fortführung und Neuformulierung der Analysen von Roland Barthes das Noema der Photographie zeitspezifisch neu zu klären. Die experimentelle Photographie vermag sich noch zu behaupten, indem sie souverän die vorherrschenden Massentechnologien und die dazu passenden Bilderströme und Bildtheorien ignoriert. Bei der Betrachtung von Photographien auf Papier kommen die eigenen poetischen Fähigkeiten des Betrachters ins Spiel. Der »stumpfe Sinn« reagiert dagegen bevorzugt und zuerst auf Technoräume, um jene vorher beschriebene Polytropik erfassen zu können. Er will manipuliert und manövriert werden, um Differentielles anzustoßen. Der »entgegenkommende Sinn« ist jener, der nach Barthes ohne die Stimulanz der Eindeutigkeit Vielschichtigkeiten nachsinnt. Ein sensitiv sehender Körper vermag beim Anblick des stillen Bildes zu verweilen, ohne gelenkt werden zu müssen, um eigene Visualisierungen/Imaginationen aufgrund des Sichtbaren zu erzeugen. Tatsächlich geht es gerade um diesen Spalt zwischen dem, was gezeigt und dem, was dazu geschrieben wird, der in eigener Kreativität und im Wechselspiel von Beobachtung und Information aufzufüllen ist. Das kann zu verzweigten Einsichten, zu Verknüpfungen sich einstellender Wahrnehmungen mit spontanen, funkelnden Erinnerungen, aktuellen Bezügen, emotionalen Impulsen und Imaginationen führen. Ferner eröffnen stille Bilder auf Papier im Verbund mit zusätzlichen Leerflächen Zwischenräume, die mit eigenen Interpretationen aufzufüllen und auszuweiten sind; das gilt auch für die Betrachtung von Photographien an Ausstellungswänden wie in Buchräumen und Büchern in blätternden Händen. »Heute ist die Wahrnehmung selbst unfähig zum Schluss, denn sie zappt sich durch das endlose digitale Netz. Sie zerstreut sich total. Nur ein kontemplatives Verweilen ist fähig zum Schluss. Augen schließen ist ein Sinnbild für den Schluss. Der rasche Wechsel von 40 | Sykora, Katharina, Leibbrandt, Anna: Roland Barthes Revisited. 30 Jahre Die helle Kammer, Graue Reihe Salon Verlag, Köln 2012

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Fotokunst in Zeiten der Digitalisierung Bildern und Informationen macht das Augen-Schließen, den kontemplativen Schluss unmöglich.« 41 (Byung Chul-Han)

Die künstlerische Photographie stellt sich bis in die Mitte der 1990 Jahre der Aufgabe, zu »intersubjektivieren« – Bilder nur im ständigen Austausch zwischen Erzähler und Akteur zu produzieren. Gemeint ist eine Strategie, welche die zu beleuchtende kulturelle Szene oder gar Gemeinschaft an den verschiedenen Orten zur Verhandlung einlädt, die auch alle Akteure im Projekt mit einbindet. Es gilt nun der Frage nachzugehen, welche neuen künstlerischen Strategien durch digitale Technologien (Digitalkameras, Internetbilder) hervorgebracht und welche sozialen und kommunikativen Räume dadurch produziert werden. Es sollen Arbeiten vorgestellt werden, die die aktuellen Kommunikationsmöglichkeiten und Formenspiele des digitalen Bildes erproben. Dabei wird die Entwicklung der amerikanischen New Color Photography anhand aktueller Konzeptionen der Vorstadtfotografie nachgezeichnet. Die neuen Vertreter dieser Strömung testen mit der Digitalfotografie die Möglichkeiten der lautlosen Schnellschuss-Methode und sammeln photographisch anmutende Bilder von Webportalen, um sie künstlerisch zu kontextualisieren. William Eggleston hat mit seinen Ikonographien des Banalen eine spezielle Form der Bildpoetik meisterhaft ausgearbeitet und vorgeführt. Beispielhaft soll hier an den Schnappschuss einer verkabelten Glühbirne an der Decke eines Raumes mit blutrotem Anstrich von 1974 in Mississippi erinnert werden. Diese Photographie untitled wurde berühmt durch die tragischen Ereignisse in dem gezeigten Schlafzimmer, in dem Eggleston mit seinem Freund und seiner Frau plaudernd auf dem Bett liegen – für einen Moment durch den Akt des Photographierens unterbrochen. Einige Tage später wird sein Freund, der in Drogengeschäfte verwickelt war, in diesem Haus ermordet aufgefunden. Auf dem Bild ist der Anschnitt eines Posters zu sehen – knapp gewählt – unverkennbar sind auf dem Poster Zeichnungen von Sexpositionen zu sehen. Dieser Anschnitt wirkt seltsam beiläufig zur roten Farbe, die zu tropfen droht. Die Glühbirne leuchtet wohl – wird hier jedoch noch grell erhellt durch den Blitzlichteinsatz des Photographen. Das Bild hat Geschichte gemacht und ist selbst ein Stück Geschichte; die Glühbirne wirkt heute fast nostalgisch. Die Person Eggleston, die Drogen und Frauen zu schätzen wusste und dazu noch Ehefrau und Kinder an sich binden konnte, scheint nun genauso überholt wie seine Bilderbuchkarriere, die 41  |  Han, Byung-Chul: Psychopolitik Neoliberalismus und die neuen Machttechniken, S. Fischer Verlag, Frankfurt a.M. 2014, S. 95 f

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er trotz seiner wortkargen Art kontinuierlich ausbauen konnte. Populär wurde Eggleston durch seine Einblicke in den amerikanischen Provinz-Alltag der 70er, 1980 Jahre. Jüngere Aufnahmen von Egglestone aus Beijing und Kyoto haben deutlich weniger Beachtung erfahren, möglicherweise erreichen diese Bilder sein Publikum nicht mehr. In den amerikanischen Provinzen war Eggleston zu Hause, er wusste, wovon er »sprach« und wählte daher so treffend die Motive aus. Eggleston gilt als Wegbereiter der künstlerischen Farbphotographie. Viele Photographen berufen sich mit ihren Folgearbeiten auf seine anerkannte und geschätzte Position, die er in Zusammenarbeit mit John Szarkowski (MOMA) etablieren konnte. Nicht jeder Photograph der amerikanischen New Color Photography sollte später eine derart verbindliche und langjährige Zusammenarbeit entwickeln können. Die Poesie des Banalen, des täglichen Lebens, scheint derzeit von außen nach innen gewandert zu sein, vollzieht sich nunmehr in den eigenen einsamen Räumen und ist deshalb nur noch der Selbstbeobachtung zugänglich (z.B. Hiromix, Rinco Kawauchi). Die Zeit der auf- und eindringlichen Straßenphotographie ist vorbei und weicht distanzierteren Beobachtungs- und Aufnahmetechniken mithilfe von Teleobjektiven (z.B. Joel Sternfeld) oder arbeitet mit der lautlosen Schnellschuss-Methode digitaler Kameras (z.B. Paul Graham). Zwischen der photographierenden Geste des Künstlers und dem »Anderen« hat sich ein Sicherheitsabstand gebildet. Heute muss der Photograph Persönlichkeitsrechte sensibler berücksichtigen, da heute jedes Bild jederzeit instrumentalisiert, ohne Zustimmung weiter verbreitet und kalkuliert eingesetzt werden kann. Eine bestimmte Form der Straßenphotographie hätte es mit der heutigen Rechtslage niemals gegeben. Nan Goldin photographierte damals sich selbst und ihr Umfeld um zu überleben; ihre Photographie war ihre Therapie, der Versuch, die eigene Sucht in selbstreflexiver Betrachtung innerhalb ihres Freundeskreises zu überwinden. Ihrer Arbeit folgte keine vergleichbare Photoarbeit als (Überlebens-)Strategie nach. Die britische Photographin Corinne Day wird mit ihrem Buch »Diary« Anfang der 1990 Jahre als in dieser Tradition stehend rezipiert; sie entscheidet sich jedoch dafür, den Look des »Unperfekten« (drogenabhängiger Freunde) in die Modewelt zu überführen. Sie stirbt 2010 an einem Hirntumor. Wolfgang Tillmans Bilder wiederum werden im Zuge der Technobewegung von der Mode vereinnahmt, wobei er diesen Trend mit einer eigenen Bildauswahl für die Printmedien unterstützt. Nach dem (Aids-)Tod seines Freundes wird seine Kunst experimenteller und medienferner. Neuere Aufnahmen lesen sich wie einsame, zufällige Momente auf Reisen und Besuchen kommerzieller Messeveranstaltungen.

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In der aktuellen Gegenwart scheint sich das Gegenüber dem photographischen Bild zu entziehen, da es sich der Macht der Aneignung und des Verlierens stärker bewusst wird. Sich selbst zu zeigen, die Droge im Lebensvollzug, den Tod im Gesicht des Anderen, das alles waren Ziele in der Photographie der Sichtbarmachung, aber plötzlich stehen sie im Dienste einer »Tyrannei der Intimität« (Richard Sennett)42 oder einer »Tyrannei der Sichtbarkeit« (Byung-Chul Han)43 und rufen, selbst bei inszenierten Bildern im gegenseitigen Einverständnis, zunehmend Gefühle der Ablehnung und Verweigerung beim Betrachter hervor; vor allem dann, wenn diese visualisierten Dramen Einzug halten in werbende Vermarktungsrealitäten, wie geschehen mit kindlichen Figuren wie Kate Moss und Amy Winehouse. An diesem Punkt haben sich Goldin und Tillmans zuletzt von Day und denjenigen abgegrenzt, die weiter eine genre-übergreifende Fotografie vorantrieben oder aufgrund finanzieller Zwänge im Zuge der Digitalisierung vorantreiben mussten. »Eine Macht der Bilder äußert sich aus einem rezeptionsbezogenen Blickwinkel vor allem dort, wo die Möglichkeit einer aktiven wie auch passiven Teilnahme und Teilhabe am öffentlichen Diskurs in entscheidendem Maße von Möglichkeiten des Rückgriffs und Zugriffs auf bildliche Darstellungsmedien abhängig ist. Angesprochen ist durch dieses Szenario eine Macht, die an der eigentümlichen ›Schöpfermacht‹ des bildkonstituierenden Wahrnehmungssubjekts ansetzt und einen grundlegenden Freiheitsverlust desselben zu verfestigen droht. [… Es] sollte auf die Virulenz eines Diskursmilieus aufmerksam gemacht werden, in welchem zunehmend nur noch dasjenige sagbar ist, was auch sichtbar ist.« 44 (Mark Ashraf Halawa)

Wir sind uns sicher bewusster geworden, wie weit sich menschliches Leben heute schon medial inszeniert und wie das Selbst vom Technoraum gleichsam eingesogen und täglich in den Massenmedien, besonders in den Rollenklischees der Soap-Serien wieder ausgespuckt wird. Darüber hinaus definieren die Fernsehtalkshows Schönheit und Berühmtheit. Die Matrix der Selbstoptimierung überzieht die Menschenbilder dermaßen, dass wir uns ihnen zunehmend verweigern müssen. Ein Aufruf wird laut »mit Sprachlosigkeit ein Dickicht undurchsichtiger Inseln wachsen zu lassen«45. Sich zu entziehen,

42  |  Sennett, Richard: Verfall und Ende des öffentlichen Lebens. Die Tyrannei der Intimität, Berlin Verlag Taschenbuch, Berlin 2008; (amerikanische Erstauflage 1974) 43  |  Han, Byung-Chul: Transparenzgesellschaft, Matthes & Seitz, Berlin 2013, S. 24 44  |  Halawa, Mark Ashraf: Die Bilderfrage als Machtfrage, Kulturverlag Kadmos, Berlin 2012, S. 406 45  |  Dany, Hans Christian: Morgen werde ich Idiot. Kybernetik und Kontrollgesellschaft, Edition Nautilus, Hamburg 2013

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sich zu verweigern, entspricht auch nach Halawa einer Verantwortung dem »Willen zum Sehen« nicht Folge zu leisten; dem Recht nicht zu sehen. Die visuelle Bildkultur befindet sich in einer Krise, die es scheinbar schwieriger macht, weiter photographisch (von Angesicht zu Angesicht) in einer Form der vertrauensvollen Hinwendung zum Anderen zu arbeiten. Die Photographie windet sich um die Problematiken der medialen Überreizung, des Konzentrationsmangels der Betrachter, der zunehmenden Verweigerung bildlicher Darstellungen und um die Problematiken der Unglaubwürdigkeit (aufgrund postproduktiver Manipulation) und einer sensiblen Entwicklung des Urheber- und Persönlichkeitsrechts herum. Mit dem Verlust des analogen Handwerks eines etablierten Genres verliert die Photographie zudem an Wert und Legitimation in allen Bereichen der visuellen Kultur. Zu viele Bildermacher, zu viel Arbeit am Selbst? »In dem Maße, wie der menschliche Blick erstarrte und seine natürliche Geschwindigkeit und Sensibilität verlor, sind umgekehrt die Filmaufnahmen immer schneller geworden. Heute bescheiden sich die professionellen Photographen und andere größtenteils damit, wie mit einem Maschinengewehr zu schießen, wobei sie sich auf die Geschwindigkeit und die große Zahl von Aufnahmen verlassen, die ihre Apparate aufnehmen können, sie treiben Schindluder mit ihren Kontaktabzügen und ziehen es vor, zu Zeugen ihrer eigenen Photographien, statt zu Zeugen irgendeiner Wirklichkeit zu werden.« 46 (Virilio/Rötzer)

Auf welche photographischen Werke ein solch kritischer Blick von Virilio seinerzeit (1989) geworfen wurde, kann man an dieser Stelle nur vermuten. Bezüglich der seriellen Schnellschuss-Methode mit digitalen Kameras denkt man zuerst an Paul Graham und sein 2009 veröffentlichtes Fotobuch: A shimmer of possibility47. Dabei handelt es sich auch um den erneuten Versuch, die amerikanischen Vorstädte farbfotografisch und damit vermeintlich zeitgemäßer erfassen und ins Bild setzen zu können; wegweisende Projekte (Eggelston) mögen noch als Ausdruck der Gegenseitigkeit im Sinne einer verorteten Spiegelung der eigenen Lebensumstände funktionieren. Mit der Einführung der Farbe und dem Versuch, eine neue Ästhetik und neue Materialverfahren in Kunsträumen zu etablieren, wurde dennoch eine nachhaltige Distanz geschaffen zu den vorangegangenen sozialen Studien der amerikanischen SchwarzWeiß-Photographie (vgl. Diane Airbus, Robert Frank, Walker Evans). 46 | Florian Rötzer zitiert Paul Virilio: Die Sehmaschine, Merve Verlag, Berlin 1989, in: Rötzer, Florian: Digitaler Schein. Ästhetik der elektronischen Medien, Edition Suhrkamp, Frankfurt a.M. 1991, S. 58 47 | Graham, Paul: A shimmer of possibility, SteidlMACK, Twelve Volumes, Göttingen 2007; Single Volume, Göttingen 2009

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Paul Graham teilt uns wenig aus seinem eigenen Leben mit. Mit seinen Projekten will er aber nah sein an den ganz und gar gegenwärtigen gesellschaftlichen Bewegungen und »Tänzen« von unbekannten Anderen im sozialen Raum; er reist und arbeitet allein. Als Nomade auf Zeit treibt es ihn hinaus, andere Nomaden und Sesshafte in ihren flüchtigen Bewegungen einzufangen, ins Bild zu bannen. Er weilt zu Kurzbesuchen in acht verschiedenen Kleinstädten und Suburbs, die er mit dem Auto an- und abfährt. Aufgrund einer forcierten seriellen Bildproduktion gleicht sein Projekt keiner sozialen Studie, keiner Recherche, auch nicht einer Suche nach Anbindung, Verstehen oder menschlicher Anteilnahme. Seine Strategie ähnelt vielmehr der eines Stalkers, der seine »Opfer« mit Blicken verfolgt und sich ihre unbewussten Posen und Gesten in eigener Sache durch mehrere Schüsse mit der Digitalkamera aneignet unter Nutzung einer beinahe geräuschlosen, seriellen Aufnahmetechnologie. Folgt man Michael Fried, dann handelt es sich wie bei Tillmans um ein Beispiel für Antitheatralität. Paul Graham fotografiert (zumeist von den Protagonisten unbemerkt) das kleinstädtische Realtheater, wie es sich an jedem Ort der Welt zu jeder Tageszeit ereignet, die Orte sind dabei die Realbühnen. Wer das weiß, kann jeden Tag den Aufführungen von Realdramen und Realballetten zusehen. Die digitale Technik erlaubt es, alles ohne große Vorbereitungen festzuhalten und seine Auswahl später vorzunehmen. »I don’t want to feign being intimate with somebody I met 5 minutes ago. I accept and embrace that so much in life is ›ships passing in the dark‹. The world is comprised of 99.9 % strangers.« 48 (Paul Graham)

Innerhalb des Buchraumes arrangiert Graham seine Aufnahmen sequentiell und fordert den Betrachter auf, zwischen parallelen visuellen Strängen hin und her zu springen, so als sei er bei den verschiedenen Ereignisketten zeitgleich präsent gewesen. Seine Bildnarration spielt mit kurzweiligen Hinwendungen zu den alltäglichen Handlungen und Bewegungen jener sonderbaren Leute, die hier ihre Zeit auf der Straße verbringen. Sie werden zwangsläufig zu Spielfiguren in seiner Inszenierung, die einen »allsehenden« Blick auf eine Fülle von Simultanereignissen vorführt. PG: »I like staging my work. I’ve never wanted to become a filmmaker. I’ve always seen the two major tropes in photography as the studio and the street. And I’m a street person. I don’t get tired of trying to understand and look at the wonderful amazing nature of what’s around us. Yes, I have dissatisfaction with classic documentary language. It was wonderful when it was invented. But it has to be alive, to grow, develop, just like the 48  |  Quelle: www.paulgrahamarchive.com/interviews.html/ Stand Abruf 15.08.10 (das Interview mit Richard Woodward wurde später gelöscht)

5. Analysen zum Vormarsch der Computer technologie spoken word. We don’t speak the same way we spoke in 1938 or 1956, so why should we make pictures the same way? RW: But the dissatisfaction of others, particularly with the narrative limitations of photography, has led them to add sound or moving image sequences. You seem determined – and happy – to stay within the boundaries. PG: Well, some might see these books as leading toward building a narrative. RW: Clearly. PG: Part of this is about the new flexibility of digital photography. You are able to shoot and shoot and then look at everything on screen. The technology does liberate people. You can get remarkable quality, close to 4x5, working on the street.« (Paul Graham im Interview mit Richard Woodward)

Die momenthafte, kurzweilige Aufmerksamkeit des Alleinreisenden und die touristische Teilnahme am fernen Leben der Anderen scheinen der modernen Haltung eines Voyeurs ohne Verantwortung zu entsprechen; vielleicht besonders kennzeichnend für ein soziales Verhalten im globalen Raum, das sich zunehmend gezwungen sieht, sich in neuen Zeithorizonten und an veränderten Selektionsregeln zu orientieren. In bewusster Abwendung von den sozialen Zwängen der Nähe und der Nachbarschaft und in Erfahrung des raschen Zerfalls von vertrauten Milieus suchen diese Fotografen den flexiblen Verhaltensmustern der modernen Nomaden nachzuspüren. Der Blick in die Fremde oder in sozial unvertraute Mitwelten erscheint interessanter als der Blick auf die Heimat, die eigene Familie, die alltäglichen Sichtbarkeiten, die kaum mehr motivstiftende Projektionen und Phantasmen zulassen, weil sie als feste Gegebenheiten stumm geworden sind. Wer kein Reisestipendium hat, bleibt in seinen eigenen vier Wänden, holt sich die Welt per Knopfdruck in seine Behausung und schaut durch sein Monitorfenster auf jene entfernten, exotischen Nachbarschaften. Der Blick, der hierbei kultiviert wird, mag in Anlehnung an Foucaults Panoptismus dem Blick des Voyeurs ähnlich sein, der alles sehen kann, ohne selbst gesehen zu werden. Unter Nutzung von Google Street View erforscht Doug Rickard vom Schreibtisch aus die amerikanischen Suburbs und erstellt seine Bilder per Tastenkombination. Eine Auswahl der so entstandenen Bildschirmfotos präsentiert er in seinem Buch: A New American Picture (2010)49. Im Zuge der Auflösung des (photographischen) Handwerks eröffnet die Welt der »neuen Medien« die Möglichkeit, genreübergreifende Arbeiten hervorzubringen; so beschäftigen sich Photographen heute mitunter damit, Dok-

49 | Rickard, Doug: A New American Picture, White Press, Köln 2010, Aperture, New York 2012

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torarbeiten zu schreiben, während Historiker und Soziologen (wie Doug Rickard) Fotobücher zusammenstellen. Mit der Digitalisierung folgt der Versuch, die uns umgebende Lebenswelt im Netzraum zu vereinigen, anzusammeln und abzubilden, um sie dann zentralistisch organisiert darstellen zu können. Die distanzierte Teilhabe am MonitorWelt-Geschehen erscheint deshalb »hypnotisch«, da nur das Auge involviert ist. Das Erlebnis wird zur Beobachtung von Erlebnissen. Die tradierte Feldforschung aber vereint Auge und Körper in aktiven Handlungen: im Aufblicken, Heraustreten, Anblicken, Eingreifen, Ansprechen. Zustände des »Halbwachseins« werden hier bewegungsaktiv unterbrochen – die »Wachheit« also körperlich herbeigeführt. Diese »Wachheit« wird »Wahrheit«, bezogen auf die Erlebnisse einer Person mit der Kamera bei der Feldforschung. Das aktive Ins-Bild-setzen und das Abbilden bedeuten: wirkliches Vorfinden, Befinden, Aufnehmen, Ausschneiden. Mit der Nachzeichnung der Entwicklungen in der Portrait- und Reisefotografie am Beispiel der amerikanischen Vorstadtfotografie wird der Eindruck erweckt, die neuzeitliche Monitor-Welt-Wahrnehmung, das fokussierte Starren, panoptische Wachen, Allsehen, (Ab-)Suchen, Chatten, Switchen, Surfen wirkt selbst in den aktuellen Projektunternehmungen der aktiven Feldforschung nach. Es soll noch ein letztes Beispiel der amerikanischen (Vorstadt-)Photographie vorgeführt und im Vergleich mit aktuellen Kunstkonzeptionen angesprochen werden. Das berühmte Künstlerbuch Twentysix Gasoline Stations von Ed Ruscha, das als eines der ersten modernen Künstlerbücher gilt, zeigt uns 26 Photographien von Tankstellen, die Ruscha in den 60er Jahren auf dem Weg von seinem Haus in L.A. zu seiner Mutter in Oklahoma City abfährt. Entgegen dem damaligen Photographie-Trend, ästhetisierte Landschaftsaufnahmen vorzuführen, bediente er sich minimalistischer Methoden der zeitgenössischen Kunst und knüpfte an die Serienkonzeption der Pop Art an (Collection of Readymades). Rückblickend lässt sich anhand der Buchpublikation ein bildhistorischer Topos erkennen, der die Erinnerung an Industriegebäude (und AutoKulturstätten) der Nachkriegsjahre archivarisch dokumentiert und bewahrt. Heute präsentiert uns der New Yorker Künstler Gregory Eddi Jones50 neue Perspektiven auf Ruschas Erzählorte. 2014 publizierte er im Eigenverlag ein kleinformatiges Künstlerbuch mit dem Titel Another Twentysix Gasoline Stations (another26.com). Gezeigt wird eine Sammlung von Bildern, die Überwachungskameras erstellen, um Beweismaterial zu Tankstellen-Überfällen liefern zu können. Die abgebildeten (außerordentlich erschreckenden) Gewaltdarstellungen könnten authentischer nicht sein, denn die der Sammlung vo50  |  Gründer und Herausgeber des Journal of Digital Imaging Artists: In The In-Between (seit 2012)

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rangegangene Bildoperation erstellte neutral Zeugnisse von Ereignissen, die sich zufällig abbilden und erst später ausgesucht und kontextualisiert werden sollten. Es handelt sich um Standbilder aus Videofilmen, aufgenommen von Kameras, die Versicherungsbeauftragte und Ladenbesitzer vorsorglich installiert hatten. Eine Kulturtechnik, die auf eine um sich greifende und für Amerika typische »Angstkultur« verweist. Eine neue Epoche also (»post 9/11 age«/ Jones), welche die vergnügliche Periode der Autokultur und des Wirtschaftswunders längst hinter sich gelassen hat. Die aktuellen Bilder sind jetzt nicht mehr die Photographien, die auf einer Entdeckungsreise im vertrauten Gelände entstanden sind, sondern das distanziert aufgezeichnete, gesammelte Zeugnis von Ereignissen, denen wir nicht mehr wirklich beiwohnen wollen. Erst die nachträgliche künstlerische Kontextualisierung der Bildmaterialien von Webcams und Überwachungskameras macht es möglich, den allgemein verbreiteten Genuss am Gewaltbild ästhetisch zu kultivieren. Zu den kultivierten Formen gehören Kleinsteditionen von Künstlerbüchern oder digitale Präsentationen auf exklusiv gestalteten Webportalen. Im Falle der künstlerischen Bildkontextualisierung von Gregory Eddi Jones wird dem Kunstpublikum damit eine Lebenswelt zugänglich, wie sie sich heute zwischen prekär Beschäftigten und Kriminellen in Amerika ereignet. Die distanzierte Beobachtung von Ereignissen und die zentralistische Organisierung der Monitor-Welt hilft uns vor allem dabei, die uns umgebende Lebenswelt auf Abstand zu halten und die Welt-Wahrnehmung umsorgend auf sich selbst umzulenken.

5.5 D igital B lending , D igital Fake/K ünstlerische S tr ategien im K onte x t der »P ostdigitalität« »When too perfect, lieber Gott böse.« (Nam Yun Paik)

Der Begriff der »Postdigitaliät« soll in diesem Abschnitt zunächst medienübergreifend skizziert werden. Es handelt sich hierbei um einen recht allgemeinen und noch jungen Begriff. Als Ausgangspunkt dienen mir die Vorträge der Tagung »Postdigitalität und Film«51, die im Juli 2013 an der Universität Hamburg gehalten wurden. In einem weiteren Schritt soll dann untersucht werden, ob und inwieweit die sogenannten »postdigitalen« Phänomene bereits in die Fotografie eingedrungen sind. Die verschiedenen Ausführungen und Stimmen der Medienwissenschaftler und Kommentatoren des Symposiums werden dann auf zwei Arbeiten bezogen, die aktuell im Kontext der künstlerischen Fotografie ausgestellt werden. 51  |  Tagung: Post-Digitalität und Film, Universität Hamburg 19./20. Juli 2013, Quelle: http://postdigital-film.de/ Stand Abruf 22.09.13

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Weiter sollen tradierte wie neuartige Operationen mit Bildern vorgestellt werden in Hinblick auf die Frage, inwieweit die gegenwärtige technologische Entwicklung, insbesondere die Vereinnahmung der optischen Technologie durch die Computertechnologie, die Arbeit mit der Fotografie inspiriert und neuartige Perspektiven (auf unsere und fremde Welten) hervorbringt und inwieweit die Digitalisierung mit ihren Möglichkeiten der Konstruktion von Wirklichkeit auf der Objektebene eine Abwendung von der fotografischen Spur, bzw. der »photographischen Struktur« nach Roland Barthes bedeutet. Auf der Tagung zur »Postdigitalität« führt Peter Kirn52 (Berlin/City University of New York) als Gastredner zur Elektronischen Musik offensichtlich erstaunt und amüsiert aus, dass sein Freund, der Musiker Kim Cascone im Jahre 2000 diesen Begriff zum ersten Mal verwendet, als er »Fehler-Ästhetiken« als neuartige Tendenzen innerhalb der aktuellen Computermusik beschreibt53. Zur gleichen Zeit erschöpfte sich die medienwissenschaftliche Debatte um die Analog-Digital-Differenz in Folge der Vermischung der Strukturen zu neuartigen »analogitalen«54 Formen. Am Beispiel der Film-Restauration wird besonders deutlich, dass etwa die Materialitäten der photochemischen Epoche bei der digitalen Auf bereitung (z.B. Kolorierung, Staubfilterbearbeitung) und Archivierung medial transformiert werden und neuzeitliche, manipulative Spuren synthetischer Cleanness aufweisen55. Es ist nun zu fragen, ob chemische Abdrucke, aber auch Kratzer, Risse und Nahtstellen als zeitspezifische Spuren innerhalb archivarischer Methoden nicht erhalten werden müssen. Soll man sie als Folgen der Alterung überarbeiten und glätten, gar eliminieren, oder als Verweise auf vor-digitale Prozesse, Materialien und Apparate soweit als möglich erhalten? Im Diskurs um »postdigitale« Phänomene geht es unter anderem um die bewusste Neuinszenierung dieser – ehemals nicht beabsichtigten – zeitbedingten Störungsmomente. So verweist etwa ein ins Musikstück hinein arrangiertes »Rillen-Grundrauschen« auf die ehemals hörbare Tonabnahme einer 52 | Kirn, Peter (Berlin/City University of New York) Gastredner der Tagung: Post-Digitalität und Film, an der Universität Hamburg; Vortragstitel: Between Thought and Object: Music and the Material 53 | Cascone, Kim: The Aesthetics of Failure. ›Post-Digital‹ Tendencies in Contemporary Computer Music, MIT Press, Cambridge 2000 54  |  Begriff aus dem Vortrag von Verena Kuni (Universität Frankfurt): Nach dem Film ist vor dem Film F (ANALOGITAL), download pdf Quelle: http://post-digital-culture.org/ kuni/ Stand Abruf 05.04.16 55 | Siehe auch Vortrag: Franziska Heller (Universität Zürich): Ständig zurück in die Zukunft. »Mythos Digital« und Konzepte der Mediengeschichte im Alltag, Tagung: Post-Digitalität und Film, Universität Hamburg 19./20. Juli 2013

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Langspielplatte; ein »Klacken« beim Bildwechsel einer Projektion auf den gleichzeitig betriebenen Dia-Apparat – diese akustischen Gesten sind heute als Klangmodus-Option den digitalen Präsentations-Software optional beigefügt. Unstete Bildwechselfrequenzen in ersten Kinofilmen verweisen auf die damals gebräuchlichen Kameras mit Handbetrieb; die Kratzer wiederum auf die Filmschicht. Diese Artefakte können nun als digitale Stilmittel etwa in historisierender Absicht produktiv oder spielerisch eingesetzt werden. Die Computerindustrie hat ihrerseits keine immateriellen oder gar Ressourcen schonenden Technologien hervorbracht; Software-Versionen und Hardware-Komponenten funktionieren nur in gegenseitiger Abhängigkeit. Nicht nur ältere, auch inkompatible Hardware und Software können digitale Bildund-Ton-Störungen verursachen. Bei Stromschwankungen oder Verunreinigungen können fehlerhafte Scanvorgänge ungewollte Linienmuster auf Bildkopien erzeugen; Signalfehler können Pixelstörungen bei der Fernsehübertragung hervorrufen; diese Artefakte inszenieren Künstler und Kreative heute bewusst, um digitale Perfektion zu brechen, um der Langeweile der Cleanness56 eine Poesie des Scheiterns und des Fehlers hinzuzufügen und das Vorhandensein der magischen Apparate zu enttarnen. So gehört etwa der Klang einer »springenden« CD im Laufwerk jetzt zum Repertoire experimenteller Künstler in der Elektronischen Musik. Derartige Praktiken werden als Glitch-Art bezeichnet. Zu den analogen Störungsphänomenen kommen also digitale hinzu, die wiederum historisierend neuinterpretiert werden können. Damit wird der Begriff des »Postdigitalen« strittig, da er sich selbst zu überholen scheint und es sich dabei auch um eine parallele Entwicklung von Phänomenen handelt. Zudem sind die technischen Innovationen im Bereich der Digitalisierung nicht abgeschlossen, es werden also immer neue Störungsmomente dazukommen. Im Gegensatz zur »Post-Moderne« oder »Post-Industrialisierung« handelt es sich hierbei also weniger um den Begriff für eine neue Epoche als vielmehr um eine Umschreibung der Gleichzeitigkeit von epochalen Prozessen (vgl. PostPunk, Post-Colonial)57. Man könnte sich auch fragen, ob es sich nicht um einen Ausdruck der Sehnsucht nach einer neuen Epoche handelt, in der der technologische Fort56  |  Das Konzept der »Cleanness/cleanliness« wird zuerst bei Susan Hayward aufgegriffen und kritisch reflektiert: Cinema Studies: The Key Concepts, 4 edition Routledge Key Guides, 2013 57  |  Gedanke aufgegriffen von Florian Cramer: What is ›Post-digital‹?, online newspaper: A Peer-Reviewed Journal About/POST-DIGITAL RESEARCH 3.1 2014, Quelle: www. aprja.net/ Stand Abruf 05.04.16

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schritt langsamer taktet und weniger technische Innovationen in unseren Alltag einziehen, in der es mehr Zeit gibt, medienreflektiert zu denken und zu handeln, bevor man neue Gadgets probieren muss. Jede neue Technologie führt auch zu Verlusten, mindestens zur Verdrängung bestehender Technologien, wobei die Technologien der 80er, 1990 Jahre zu denen zählen, die innerhalb nostalgischer Retro-Strategien bereits wiederbelebt werden. Jede Hardware und Software weist auf eine gewisse Zeitspanne innerhalb der Digitalisierung hin. Die groben Pixelstrukturen der ersten Computerspiele etwa (z.B. Space Invaders 1978, Pac-Man 1980) finden daher wiederholt Verwendung innerhalb aktueller Konzeptionen der Design-Branchen und gelten als neuartiger Retro-Style. Die simplen Pixelfiguren tauchen auf in Videoclips58, auf LP-Covers oder Stoffdrucken der Modeindustrie59. Aufgrund ihrer wiederentdeckten low-tech Anmutung werden sie ebenfalls als »postdigitale« Phänomene bezeichnet. Innerhalb der künstlerischen Strategien im Kontext der Postdigitalität werden derzeit vier unterschiedliche Praktiken untersucht. Dabei sind zuallererst jene anzuführen, die wieder auf traditionelle, rein analoge Verfahrensweisen zurückgreifen. Eine Motivation mag in der existenziell-ökonomischen Situation der Künstler zu finden sein, wobei genrespezifische Faktoren und individuelle Umstände bei den jeweiligen Kunstproduktionen gesondert zu berücksichtigen sind. Die Digitalisierung macht es einerseits möglich, das Produktionsteam (Film, Musik) zu verkleinern, mitunter ist es sogar am günstigsten, vollständig allein am Computer zu arbeiten. Andererseits werden ältere (wenn auch hochqualitative) Apparaturen erschwinglich angeboten – wie etwa Dia- und Tageslichtprojektoren, Kassettenspieler (Audiokassetten), VHS-Rekorder (Videokassetten), Polaroidkameras (Polaroidfilme), Schallplattenspieler (Schallplatten), Röhren- und Transistorfernseher. So greifen einige Medienkünstler auf diese älteren (analogen) Apparaturen zurück. Viele der ersten Mittelformatkameras werden heute gebraucht erworben, um die schon damals erreichte hohe Qualität des Filmmaterials zu nutzen. PerformanceKünstler nutzen die alten Tageslichtprojektoren, um visuelle Collagen direkt vor Ort zu inszenieren. Eine Arbeit ohne Apparaturen und Geräte (Performance/Streetart) wird sich dann vermehrt einstellen, wenn Künstler aufgrund von Wirtschaftspleiten 58 | Beispiele Auswahl Videoclips: Architecture in Helsinki: Do the Whirlwind 2006, Leeni: underworld 2008, Deerhoof: Buck and Judy 2009, Junior Senior: Move Your Feet 2011 59  |  Beispiele Auswahl Modeindustrie: Aaryn West surface design studio: keep it pixelated, fashion spring 2012, Designer Kunihiko Morinaga für Anrealage Autumn/Winter 2011/2012

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und Kürzungen der Kulturgelder weniger Produktionsmittel zur Verfügung haben. Dann ginge es nicht mehr nur um »rein analoge« Arbeitsweisen, sondern um ein freies Experimentieren mit allen noch vorhandenen und verfügbaren Mitteln. Die Unterscheidungen des »Analogen« und »Digitalen« werden innerhalb der Debatte um Postdigitalität kaum mehr greifen, da etwa in der Musik ein analoges Signal Strom bedeutet. In der Photographie verweist »analog« dagegen auf ein monokausales Verhältnis, das zwischen dem physikalischen Kontinuum »Licht« und dem chemischen Material (Filmschicht) besteht. Tatsächlich integriert beinahe jede Apparatur einen Analog-Digital-Konverter, womit eine klare Unterscheidung der signalabhängigen Technologien bezüglich des Differenzverhältnisses unmöglich wird. Als weitere künstlerische Strategie im Kontext der Postdigitalität gilt die Digitalisierung analoger Artefakte, um diese später als Effekte in Kunstproduktionen wieder einführen und kontemporär arrangieren zu können. Dazu gehören auch postproduktive Verfahren des Blendings, zu dem u.a. Störungsebenen in die Rohdaten eingerechnet werden. Weiter werden in Bereichen der Musik und des Theaters die performativen Praktiken der live Digitalisierung und des live Samplings genutzt, bei denen unter physischen Echtzeitbedingungen Bilder und Töne aufgenommen und direkt vor Ort arrangiert. Zuletzt sei noch die Strategie der »Überdigitalisierung«60 genannt als selbst-reflexive Anwendung digitaler Strategien auf das digitale Medium selbst. Damit kann eine intendierte Übertreibung digitaler Effekte (Pixelstrukturen) genauso wie die Strategie der »Überperfektion« (Cleanness) gemeint sein. Es bleibt durchaus fragwürdig, ob der Begriff der Postdigitalität auf die aktuellen Phänomene der verschiedenen Medien und künstlerischen Strategien überhaupt sinnvoll angewendet werden kann, oder ob es nur um eine gute medienwissenschaftliche Erzählung geht: Am Anfang war die Epoche der »digitalen Revolution« mit ihren Utopien in den 90ern, gefolgt von der Epoche der sozialen Netzwerke, die zeitlich mit dem Millennium zu verbinden ist. Ungefähr ab 2010 ist eine neue Phase einzuläuten, in der das Digitale in alle Lebensbereiche unserer Alltagswelt unumkehrbar eingezogen ist: eine Phase, in der es bereits zur Strategie wird, Störungsphänomene veralteter Technologien wieder als Effekte in digitale Simulationen einzubauen. Jene Effektpalette kann nun innerhalb verschiedenster (historisierender) Formate ausgereizt 60 | »Überdigitalisierung« oder auch »Hyperdigitalisierung«; siehe Vortrag Holger Lund: Make It Real & Get Dirty!, Tagung: Post-Digitalität und Film, Universität Hamburg 19./20. Juli 2013, download pdf Quelle: http://post-digital-culture.org/hlund/ Stand Abruf 05.04.16

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werden. Dabei bleibt zu untersuchen, ob diese zur kulturellen Aufarbeitung beitragen oder aber die Erinnerungen verwischen, indem sie irgendwann nicht mehr unterscheidbar werden von den historischen Formaten, die hierbei zitiert werden. Eine zeitgenössische künstlerische Strategie des Reenactments, der Re-Inszenierung historischer Situationen und Ereignisse scheint laut einer Untersuchung der Kunsthistorikerin Inke Arns inhaltlich daraus zu resultieren, »dass Welterfahrung, ob geschichtlich oder aktuell, immer weniger auf direkter Anschauung beruht, sondern heute fast ausschließlich medial, also über Bilder oder anderweitige Aufzeichnung von (historischen) Ereignissen funktioniert; Geschichte scheint zu jeder Zeit und an jedem Ort präsent zu sein, gleichzeitig rückt aber auch jegliche Form von Authentizität durch diese permanente Verfügbarkeit medialer Repräsentation in weite Entfernung. In der heutigen Situation des potenzierten Spektakels herrscht eine zunehmende Verunsicherung darüber, was die Bilder bedeuten.«61 Die Störungsphänomene verweisen allerdings nicht nur auf Materialitäten vergangener Epochen; sie stehen auch für physische Erfahrbarkeit von allen (noch) vorhandenen Technologien. So geht es laut Peter Kirn heute vor allem darum, jene (physische) Erfahrbarkeit wieder möglich zu machen, zum Beispiel um den Versuch, das »Haptische« in den elektro-digitalen Bereich wieder einzuführen. Weiter geht es nach Kirn darum, alle Technologien transparent vorzuführen (»postdigital transparency versus invisible virtuality«62) im Zuge einer politischen Autonomisierungsstrategie, die allen ökonomischen Versuchen trotzt, eine Inkompatibilität zwischen digitaler Hardware und Software festzulegen und wiederholt neue Technologien als feste Einheiten verkaufen zu wollen. In diesem Sinne bleibt zu erwarten, dass sich Künstler in Zusammenarbeit mit Techno-Ingenieuren (oder Techno-Ingenieure als Künstler) auf kreative Weise den Kontrollzentren der Cybermächte entgegenstellen. Kirn erklärt so anhand einer Reihe aktueller Beispiele eine kontemporäre Strategie, die jegliche Alltagsgegenstände selbst elektrosensitiv gestaltet und dabei live performativ zu vernetzen weiß (vgl. Zeitleiste/Nachtrag Kim Asendorf). Weiter, dass es sich hierbei nicht um Retro-Inszenierungen handelt, sondern vielmehr um eine Offenlegung aller (mikro-)elektronischen Materialitäten, die bisher kaum jemand gesehen oder beachtet hätte – von denen bisher kaum jemand etwas wissen oder auch nur verstehen wollte. Vielleicht ein wichtiger 61 | Arns, Inke/Horn, Gabriele (Hg.): History will repeat itself. Strategien des Reenactment in der zeitgenössischen (Medien-)Kunst und Performance, Revolver, Frankfurt a.M. 2007, S. 42 62  |  Kirn, Peter (Berlin/City University of New York): Between Thought and Object: Music and the Material, Tagung: Post-Digitalität und Film, Universität Hamburg 19./20. Juli 2013

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Hinweis darauf, dass in Zukunft neben der algorithmischen Programmierung auch die mikro-elektronische Lehre (künstlerische) Freiheit und Autonomie im Arbeitsprozess bedeuten könnte. Es gehören also zum Spektrum aller Störungsmomente jene der Filmschicht (z.B. Kratzer, Staub, Risse), der Chemie (z.B. Alterung, Schlieren), der defekten Technologien und Geräte (z.B. Rauschen, Knacken, digitales »Springen«, DeFragmentierung) und der fehlerhaften Anwendung (z.B. Unschärfe, Über-/ Unter-Belichtung, Profil-/Kompressionsfehler), womit auch die Artefakte der digitalen Störungen erfasst sind (vgl. Glitch-Art). Mit dem Versuch, dem Digitalen »Störungen« bzw. Fehlerästhetiken einzurechnen, muss man fragen, ob es sich dabei nicht immer um Praktiken der Simulation und damit um Fake-Strategien handelt. Es bleibt im Einzelfall zu untersuchen, ob die Störungsphänomene im fehlerhaften Herstellungsprozess entstanden und damit authentisch sind – als Teil der Denotationsebene, und in welchem Falle sie dagegen als authentisierende Ästhetik postproduktiv und damit konnotativ eingesetzt wurden. Bezüglich der Photographie weist Roland Barthes bereits 1990 darauf hin, dass derartige Konnotationsverfahren (Ästhetizismus, Syntax, Fotogenität) »strenggenommen nicht zur fotografischen Struktur [gehören]«63. Eine Strategie des Ästhetizismus ist nach Barthes der Versuch, »sich selbst als ›Kunst‹ zu bedeuten […], oder um ein gewöhnlich subtileres oder komplexeres Signifikat herauszustellen, als dies andere Konnotationsverfahren erlauben würden.«64 Unter anderem ging es ihm dabei um eine beschreibende Unterscheidung zwischen dem »spirituellen Wesen« gewisser Gemälde, einer »Seinsweise«, die sich bei der Betrachtung offenbare und einer »strukturierten Botschaft« einer Photographie, die keine signifikante Einheit derartiger »Seinsweisen« anbiete. Jene »Spiritualität« alter Gemälde würde in der Photographie also konnotativ erzeugt, durch eine »imitierende« Inszenierung (Pose, Objekt, Montage) oder »eine Komposition, die absichtlich ›pastos‹ bearbeitet ist«65 in Anlehnung an Vorbilder aus der Malerei (Unschärfe/Gegenlicht; Beispiel Cartier-Bresson). Die Bildbearbeitung mit Photoshop bietet nun heute eine ganze Palette von Effekt-Filtern an, die einen malerischen Fake-Duktus synthetisch in die Bilder einrechnen können: Gegenlichteffekte und Weichzeichnungen, gewisse historische (und kulturelle, etwa als poetisch geltende) Phänomene werden dabei postproduktiv simuliert. Neben diesen konnotativen Strategien eines Ästhe63 | Barthes, Roland: Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn, Edition Suhrkamp, Frankfurt am Main 1990, S. 16 64  |  Barthes 1990, S. 19 65  |  Barthes 1990, S. 19

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tizismus, wurde zuletzt auch die Montage, wie schon bei Barthes beschrieben, in vergleichender Komposition zur Malerei angewendet (Gursky/Pollock, Wall/Hokusai) mit eben jenem Resultat, Kunst großformatig in die Museen bringen zu können. Im Bereich der dokumentarischen Fotografie tauchen neuerdings ReportageArbeiten auf, die nicht nur aufgrund ihrer Nachbearbeitung diskutiert und bisweilen disqualifiziert werden (siehe Zeitleiste/2010), sondern auch wegen der Verwendung von Software-Filtern (z.B. SW-Filter, Filmkornfilter, Blendeneffekte) und iPhone Applications (z.B. Hipstamatics, Instagram) als fragwürdig gelten. Dabei ist denkbar, dass auch Störungsphänomene aus der photochemischen Epoche ins Spiel gebracht werden (Lochkamera und Polaroid-Look), um im Vergleich mit Vorlagen der wegweisenden und geschätzten Agentur-Photographie (z.B. Magnum, Associated Press) zu bestehen. Grundsätzlich lässt sich feststellen, dass dem dokumentarischen Bereich der Photographie die radikalsten Veränderungen im Zuge der Digitalisierung widerfahren, denn beinahe jede Auftragsarbeit kann heute von Laien mit Profi-Ausrüstung, wie auch von Profis mit Laien-Ausrüstung (siehe Zeitleiste/iPhone-Fotografie) durchgeführt werden. Tatsächlich gibt es heute immer mehr Journalisten, die Texte schreiben und gleichzeitig das nötige Bildmaterial mitliefern. Bei aufwendigeren Berichten können zusätzliche Bild- und Textinformationen der Nachrichtenagenturen per Software generiert, also passend angeboten und verarbeitet werden. Sie müssen zuletzt vom Postproduktioner druckfähig gesetzt werden. Angesichts dieser Veränderungen versuchen die dokumentarisch engagierten Photographen, ihre Arbeiten kleinformatig in Galerien zu zeigen oder in Eigenregie eigene Photobücher zu gestalten und zu vertreiben. Solche Bestrebungen können wertvoll werden, weil sich die Medienerinnerung angesichts der Datenflut der Nachrichtenagenturen und informativen E-Formate verflüchtigt und bald kaum mehr archivierbar sein wird. Eine zukünftige Reflexion der Zeitläufe wird aber nur bei freiem Zugriff auf erhaltene Formate möglich sein. Zukünftig werden die vertrauten Störungsästhetiken veralteter Apparate den neuen, mischtechnischen Looks weichen, da jede Generation mit den ihr eigenen zeitspezifischen Apparaturen und Anwendungen aufwächst. Eine Zuordnung gewisser Störungsmomente wird dadurch noch erschwert werden. Tendenziell muss auch in der zeitgenössischen Kunst ein Prozess der individuellen Autonomisierung und konzeptionellen Konzentration stattfinden, wenn der Laie weiter aufrüstet und sich die Qualität von Profis und Laien produktionstechnisch angleicht und kaum mehr unterscheidbar wird. Wie auch immer man die derzeitige Phase der Digitalisierung bezeichnen mag – es scheint, dass sämtliche authentisierenden Formalismen synthetisch herstellbar werden und sich das Spektrum transmedialer Strategien dazu noch erwei-

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tern ließe. Transmedialität wäre hierbei in Abgrenzung zur Intermedialität zu erklären, als »medienspezifische Phänomene, die in verschiedensten Medien, mit den dem jeweiligen Medium eigenen Mitteln ausgetragen werden können, ohne dass hierbei die Annahme eines kontaktgebenden Ursprungsmediums wichtig oder möglich ist«66 (Irina Rajewsky). In einer Phase, in der versucht wird, eine kreative Operation durch Simulation von Störungsästhetiken glaubhaft erfahrbar zu machen, und alle technoiden Applikationen dazu verfügbar werden, mag der Künstler/das Künstlerkollektiv sich in eine medienferne (stillere) Auseinandersetzung zurückziehen, um selbst noch als Medium zu wirken in einer Situation, in der alle zur Verfügung stehenden Apparate im Sinne der Ideen technisch justiert werden können und sich weitestgehend unterordnen. Die Kunstproduktion richtet sich dann vor allem inhaltlich aus und vereint dabei alle verorteten Umstände der Existenz. Eine gesellschaftliche Ausnahmesituation also, in der auch die mikro-elektronischen Einheiten zum Material des Handwerks werden können, wie die Ölfarbe, der Ton und all jene verfügbaren Werkstoffe, die den Künstler/das Künstlerkollektiv zur Praxis führen. Mit dem Begriff der »Postdigitalität« schafft sich die Medienwissenschaft eine Situation, in der es möglich ist, auf die Vielzahl ästhetischer Trends schnelllebiger Medienformate diskursiv zu reagieren. Gleichzeitig kann der Diskurs dazu beitragen, dass gewisse künstlerische Strategien als aktuell und neu wahrgenommen werden, obgleich es sich bei ihnen um langjährige Versuche handelt, die sich aber von den vorherrschenden technologischen Veränderungen kaum haben beeinflussen lassen. In diesem Sinne wäre etwa die photographische Arbeit des Künstlers und Biologen Jochen Lempert als »postdigitale« Praktik deutbar, da es sich dabei ausschließlich um »rein analoge«, photochemische Papierversuche handelt, die ausgerechnet jetzt, in dieser Phase der kreativen high-end-Produktion häufig ausgestellt werden67. Lemperts Arbeit widmet sich vornehmlich dem Studium von lebenden Organismen im Labor und von Tieren im städtischen Raum. Er präsentiert Handabzüge kleinformatiger Schwarz-Weiß-Negative, die das Filmkorn absichtlich vergrößert abbilden, so dass eine pulvrige Gradation von Grauwerten entsteht. Lempert experimentiert mit Belichtungsweisen, die das Umfeld des Dargestellten vom helleren Grau zum Papierweiß auslaufen lassen, so dass 66 | Zitat aus der Vortragsreihe/dem Symposium Post-Digitalität und Film, Universität Hamburg 19./20. Juli 2013; Rajewsky, Irina O.: Intermedialität, UTB Stuttgart 2002 67 | Beispiel Ausstellung: Jochen Lempert, Galerie der Gegenwart, Hamburg, September 2013

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einige Bögen beinahe unfertigen, fragmentarischen Bleistiftskizzen ähneln. Sein gewähltes Papier führt er als Resultat des Experiments im Labor vor. Das Papier wird ohne Rahmung punktuell an Ausstellungswänden fixiert, so dass das Material weiterhin auf Luft und Feuchtigkeitsveränderungen der Räume reagiert und »atmen« kann. Die großen Bögen und kleineren Photopapiere in den Vitrinen führen alle technischen Mängel einer photochemischen Versuchsreihe vor. Eine Poesie des Makels und der Unvollkommenheit wirkt in Lemperts Präsentationen und fokussiert seine Arbeiten auf ein elementares Zeigen ohne jede effekthafte Überhöhung. Die enge Beziehung zwischen biowissenschaftlicher Studie und photographischem Laborversuch wird bei der Betrachtung seiner Photogramme besonders deutlich. Diese Bilder werden allein auf der Oberfläche des Materials erzeugt, indem etwa leuchtende Organismen, Algen oder Glühwürmchen das Papier direkt belichten, oder indem sich im Bildpositiv die Schatten von kleinen Fröschen hell fixieren. Lemperts Bilder entstehen in Versuchsreihen in der Dunkelkammer und im Rahmen seiner alltäglichen Feldforschung. Die schwarz-weißen Aufnahmen wirken dabei niemals historisierend, sie dokumentieren vielmehr einen sehr spezifischen interdisziplinären und unerwarteten Versuch mit der Photographie: ein Experiment, bei dem sich Lebendiges in totes, abstraktes Bildmaterial verwandelt. Es handelt sich hier um eine zeichenhafte und zeitlose Studie von lichtsensitiven Abdrucken (prints/ empreintes), die ausgerechnet im »post-digitalen« Zeitalter an den Ursprung der Photographie erinnert. Beinahe 170 Jahre nach The Pencil of Nature (1844/45) knüpfen Lemperts Versuche an die Enthusiasmen zu Zeiten Henry Fox Talbots an, dass die Photographie eine »Magie der Natur« sei. Was eine Photographie zeigte, schien bei der damaligen Bewunderung weniger relevant zu sein, als die Frage nach dem Zustandekommen des photographischen Abdrucks, der immer auf einer physischen Verbindung mit dem Dargestellten beruhte. Die Bilder sind »mit optischen und chemischen Mitteln« geformt. »Die Hand der Natur hat sie abgedruckt […].« Eine fotografische Aufnahme zeigt ein »Schauspiel von Licht und Schatten«, das »sein Abbild (Image) oder seinen Abdruck (Impression) auf dem Papier hinterlassen hat«68. Lemperts photochemische Praktik reduziert den photographischen Prozess auf die notwendigen Schritte der Belichtung und der Entwicklung und Fixierung des Lichts auf Papier – dem Material seiner Präsentationen im Ausstellungsraum.

68 | Kapitel: Magie des Abdrucks: W. H. F. Talbot und die ersten Bestimmungen der Fotografie, in: Geimer, Peter: Theorien der Fotografie, Junius Verlag, Hamburg 2009, S. 17

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Seine Arbeitsweise klammert eine digitale Produktionskette aus, die fortwährend Oberflächen simuliert und die materiale Präsentation bis zuletzt in Frage stellt; die Kette einer Produktion, die ihrerseits durch kamera- und softwareinterne Einstellungen von Programmierern eine komputierte und kalkulierte Ästhetik anbietet. Sämtliche »Fehler«-Korrekturen (analoger Artefakte) werden heute von der eingebauten Technik selbstständig durchgeführt oder als immerwährende, begleitende Praktik angeboten. Die totale Korrektur photochemischer »Fehler« oder auch digitaler Belichtungsfehler wird erst mit der digitalen Nachbearbeitung möglich. Zuvor galten alle dem photographischen Prozess innewohnenden Artefakte als Folgerealität der Produktion und wurden zuweilen nicht als »Störung«, sondern ganz einfach als bildgebend empfunden. Somit wird auch die inhaltliche Analyse jener neuartigen digitalen Ästhetik (Cleanness) erst im Vergleich zwischen den bildgebenden Technologien möglich. Lempert wählte sein Material (sw-Filme/sw-Chemie) bereits zu Beginn seiner künstlerischen Tätigkeit Anfang der 1990 Jahre. Seine Entscheidung in Schwarz-Weiß zu arbeiten, wirkte auch in der Weise »Motive zu sehen« und immerfort neu zu entdecken. Es handelt sich bei den zuletzt ausgestellten Arbeiten zugleich um die Präsentation einer grundsätzlichen Haltung und eines langjährigen Autonomisierungsprozesses innerhalb der Photographie. Entgegen allen (technischen) Trends bleibt Lempert dem Material und der Feldforschung verbunden und ist damit heute wieder attraktiv: Alle Stadien der »Berührung«, des Lichts, der Laugen, der lebenden Organismen mit dem Material, berühren zuletzt auch den Betrachter. Ohne Verglasung vorgeführt, werden seine Papiere, einer photographischen Haut ähnlich, »lebendig«. »Nicht nur im menschlichen Körper kann dem Eigenrauschen etwas Unfassbares innewohnen, auch in den Apparaten bietet es eine gastfreundliche Sphäre für die Gespenster, jene Verlockungen ohne Gegenstück oder bekanntes Muster. […] Mit der Hinwendung zum vom Rauschen optimal befreiten Digitalen wird die Grundlage dafür gelegt, dunkle, undurchsichtige Bereiche zu bereinigen und die Erscheinungen unkontrollierten Rauschens aus den Maschinen zu vertreiben. […] ›Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen.‹ [Wittgenstein] Aus ihm wird immer öfter ein: ›Worüber man nicht sprechen kann, was sich nicht beschreiben lässt, soll aus den Abläufen verschwinden.‹« 69 (Hans-Christian Dany)

69 | Dany, Hans-Christian: Morgen werde ich Idiot. Kybernetik und Kontrollgesellschaft, Edition Nautilus, Hamburg 2013, S. 37 f

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»Fotogramme für das 21. Jahrhundert« 70? Im Folgenden soll Lemperts Arbeit »Vier Frösche« (2010) einer aktuellen Arbeit von Thomas Ruff »phg.04_I« (2013) gegenüber gestellt werden (Bildquellen Verweis H71). Die Bilder haben ganz offensichtlich nichts miteinander gemein und doch wird ein deklarativer Zusammenhang hergestellt, indem beide Werke als »Photogramme« bezeichnet werden. Im Falle Lemperts zurecht, denn es handelt sich um eine Papierbelichtung von vier kleinen springenden Fröschen, deren teils bewegungsunscharfe Körperschatten hier als helle Aussparung, schablonenhaft belichtet und fixiert wurden. Daneben nun die Bilddatei einer 3D-Software, in der zuvor per Mausklick modellierte, teils errechnete »Kristalle« mit einer synthetisch generierten »Licht«-Situation versehen wurden, deren »Schatten« und »Reflexionen« hierbei algorithmischen Kontrastberechnungen entsprechen. Ein Jahr lang haben Thomas Ruff und sein Team mit der 3D-Software 3D Studio an sechs Computern gleichzeitig gearbeitet, um dieses Bild mit einer neuen Serie an die Galerie David Zwirner in New York liefern zu können. Die Ausstellung photograms and ma.r.s. zeigt außerdem Nasa Aufnahmen (Quelle: nasa.gov) der Marsoberfläche, die Ruff und sein Team so nachbearbeitet haben, dass die Formen nun mithilfe einer 3D-Brille betrachtet werden können. Der farbige Ausdruck der Datei »phg.04_I« im Magazin Monopol wirkt auf den ersten Blick wie eine Werbekampagne von Swarovski. Die 3D Brille, die eine Besucherin der Zwirner Ausstellung trägt, kennt man aus den 1970er Jahren. Was ist neu an den Bildern, die im Monopol als »Fotogramme [des] 21. Jhds« bezeichnet werden? Sie sind groß, bunt und scharf 72, aber kann das den Betrachter noch überraschen? Die Bilder der Werbekampagnen vor der Haustür sind auch groß, bunt und scharf. Sie sind zudem ebenso synthetisch nachbearbeitet. Ruff bezeichnet sich selbst als Künstler und Bildermacher – nicht als Photograph. Es handelt sich bei seinen Bildern seit den 2000er Jahren auch nicht 70  |  Interpretation Alexandra Wach zu den Fotogrammen von Ruff: 5. DC Open, Artikel: Aus der Umlaufbahn, Monopol Magazin für Kunst und Leben, Sonderheft DC Open, Berlin, Sept. 2012, S. 22 71 | Bildquellen Verweis H: Vier Frösche, Jochen Lempert 2010, http://fokussiert. com/2010/04/26/jochen-lempert-das-auge-des-biologen// Stand Abruf 15.05.14 vgl. phg.04_I, Thomas Ruff 2012 in: Monopol Magazin für Kunst und Leben Sonderheft DC Open, Berlin, Sept. 2012, S. 22 72 | »I think the success of the so called Düsseldorf School was the preciseness of the image. It was just the sheer sharpness and the size of the image, people had not seen before.« (Thomas Ruff im Künstlergespräch, siehe Quelle 137)

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mehr um Photographien. Photogramme sind nicht mit einer Photokamera erstellt; Photos sind sie jedoch, da es sich um lichtsensitive Abdrucke aus der Dunkelkammer (Photovergrößerer) handelt. »phg.04_I« ist ein in kreativer Anwendung erstelltes Datenformat der Software 3D Studio. Es ist kein Photogramm. Es entspricht der Sichtbarkeit einer komputierten Datenmenge. Frösche betrachten auf Lemperts Photos ist, wie wenn man selbst auf seinen Wegen eine Entdeckung macht. Schaut man auf zu den glatten, verglasten Postern von Ruff, dann ruft diese Art der kalkulierten Perfektion einige ungute Vergleiche auf: sie erinnern an Kampagnen vor der Haustür, an Schaufenster von Schmuckfilialen, an Diamanten von De Beers. In der Vorstellung mag jeder Krieg, vom Mars aus betrachtet, schön anzuschauen sein: ein funkelndes Glühen vielleicht. In Distanz zum Leben wird der Widerschein des Schrecklichen schön. Bezeichnend auch, dass es sich bei den Becher-Schülern des Nachkriegs-Photographen-Pärchens nicht um befreundete Kollegen sondern um Konkurrenten handelt, wie Ruff in Interviews bestätigt (dasselbe gilt auch für die Gründer von Facebook). In welcher Atmosphäre wird dort gearbeitet? Wer gehört zum »Team« von Ruff? Was interessiert Gursky und Ruff außer der Arbeit mit neuen Technologien? »[Okwui Enwezor:] What do you see as the challenge of photography, now that you have gone from the analog to the digital. What is that new frontier for you that perhaps interests you at this particular time? [Thomas Ruff:] I must confess I don’t know, because it is not me who is deciding. It is the companies who create new thechnologies. So I think everybody of us will run after, we are no more able to decide anything we are just runing after what people produce and give us as a kind of a Spielgerät. So we have no chance.« 73

Ruff weiß mit dem Apparat zu spielen – aber nicht mit ihm gegen ihn zu spielen. Seine Strategie wirkt weniger autonom als marktorientiert. Er agiert mit seinen Bemühungen als Testperson der Konzerne, indem er Computersimulationen den alten Bildern gleich macht und sich von der Verbindung zu den Photogrammen von László Moholy-Nagy einen öffentlichkeitswirksamen Werbeeffekt verspricht. Was er dem Betrachter damit nachhaltig vermittelt, ist vor allem eine Distanz zum Leben und eine atmosphärische Leere. Ein Ausschnitt dieser Leere mit einer Kennziffer wie »phg.04_I« kostet 70.000 Euro (das lässt sich schnell online recherchieren). 73  |  Künstlergespräch: Thomas Ruff und Okwui Enwezor (Kurator documenta 11), Haus der Kunst, München 2012, Quelle: www.hausderkunst.de/index.php?id=132&no_cache =1&t x _ttnews%5Btt _news%5D=1345&cHash=ecf966def6789ef02f05c8a7715fa ee1/ Stand Abruf 11.11.13

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Als Künstler und Autor kritisiert Hans-Christian Dany die Verführungskraft der digitalen Räume und das Internet als das Land, »wo die Schatten leer sind […] wie der Charme einer leeren Person, die verführt, weil sich alles Mögliche in sie hineinprojizieren lässt«.74 Demnach muss der Betrachter angesichts synthetischer Bilder ausfüllen, was Apparat und Operateur nicht zu vermitteln vermögen: die Bedeutung der Wechselbeziehung der neuen Technologien und Maschinensysteme mit dem Menschen. Das synthetische Bild als Bild der »nulldimensionalen Existenzebene […] ›Nichts‹ [Flusser]« lässt sich noch feiern, weil es die Differenz zum »Bild vom Leben« darstellt, so wie sich dunkle Materie erst als Diskrepanz zwischen beobachteter Materie und bestimmter Masse erklären lässt. »Das virtuelle Bild ist eine Synthese der lichtgewordenen Materie, es ist eine Sichtbarkeit, die in ihrer Inhärenz stattfindet und sich damit begnügt, einfach nur sie selbst zu sein, ohne die Modems zu transzendieren, die es auf numerische Weise steuern. Deshalb erwartet seine Klarheit, sein Strom von Flüssigkristallen nichts mehr von oben. Seine Schönheit strebt nicht nach der Spur einer unerreichbaren, ewigen (éternelle) Gestalt, sondern verästelt sich und höhlt sich in einem Hohlraum, dessen Widerschein, um ein Wort Péguys zu verwenden, ›inwendig‹ (internelle) wäre.« 75 (Jean-Clet Martin)

Produkte der puren Imagination und phantasierenden Vorstellungskraft können mit digitalen Werkzeugen so perfekt ins Bild gesetzt werden, dass sie die Betrachter mit ihrer Eindeutigkeit, Brillanz und Klarheit verführen und überzeugen. In Abwendung von den 3D Modulationen kann hinzugefügt werden: Auch die tradierte Photographie ist ein Versuch dem Tempo und der Fülle der Phänomene in dem uns umgebenden Ereignisraum mithilfe einer Komposition, einer favorisierten Farbgebung zu begegnen und das Chaos der Lebenswelt durch einen sorgfältig gewählten Ausschnitt einzugrenzen und in eine stilgebende Präsentation zu überführen. Die Möglichkeiten, der nachträglichen Manipulation der Einzelaufnahme sind dabei aber begrenzt. Un-intendierten Details müssen akzeptiert werden und können überraschend zum Gelingen – der Generierung von unerwarteten Bedeutungen – eines Motivs beitragen. Es eröffnet sich also eine rückblickende Entdeckung von Zufälligkeiten, ein Spiel mit dem »Unvorhersehbaren«, dem Nicht-Kalkulierten. Dieses Spiels in und mit der Lebenswelt nehmen sich zunächst auch die postmodernen Fotografiker an, wenn sie mit ihrer Kamera auf die Reise gehen 74 | Dany, Hans-Christian: Morgen werde ich Idiot. Kybernetik und Kontrollgesellschaft, Edition Nautilus, Hamburg 2013, S. 84 75  |  Martin, Jean-Clet: Die Mauer des Bildes, in: Telenoia. Kritik der virtuellen Bilder, hg. von Elisabeth von Samsonow und Éric Alliez, Turia und Kant, Wien 1999, S. 195

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und an ausgesuchten Orten – wissend um die Bildnachbearbeitung – ihr RohMaterial produzieren. Die Bildnachbearbeitung gibt ihnen ein mächtiges Kontrollwerkzeug an die Hand, nämlich die Möglichkeit die Aufnahmen entweder nachträglich ihrer zufälligen Details zu entleeren oder aber mit überschüssigen Details und Objekten aufzufüllen. Mit den Worten Martins: die photographische Struktur in den Strom von Flüssigkristallen hineinzuholen und den Konsistenzraum in einen (der eigenen Intention anhaftenden) Hohlraum zu verwandeln. Damit nicht genug, lassen sich den so gewonnenen Bildprodukten zuletzt noch mit gekonnter Regieführung bildzersetzende Filterungen zufügen, die mit imitierenden Störungselementen auftreten oder als operative Verweise auf historische Photographien und auf die Dinge im Sein – die Kamera, das Licht, Staub usw. – gelesen werden. Der Computerkünstler beherrscht die hohe Kunst der Künstlichkeit. Sein Anliegen ist nicht mehr die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit anhand photographischer Aufzeichnungen, sondern die Konstruktion einer phantastischen Zukunft zu deren Entwurf die Fotografie nurmehr als Material dient.

5.6 D igitale Tr äume und W unschgeburten / »Tote M ut ter « triff t »Tr aumfr au « Die nach Barthes unvermeidliche Begegnung mit dem Tod in der analogen Dokumentar- und Amateurphotographie und der nach Flusser zu riskierende Start aus dem »Nichts«, aus der »Leere« (und der 0/Null) der Algorithmen hinter den digitalen Fotografiken und Computergrafikmodellen sollen im Folgenden weiter erörtert werden. In Anlehnung an die metaphorische Sprache von Barthes und Flusser soll hier der Bogen von der Suche nach der (imaginären) Wahrheit der »toten Mutter« bis zur Suche nach der »Traumfrau«, jener Wunschgeburt und Traumvorstellung, die in den neuen digitalen Fotografiken als Illusionsprojekt vorgeführt wird, gespannt werden. Hier lässt sich in neuem Gewande und herausgefordert durch die neuen Technologien ein bekannter Streit erkennen: Ist Kunst in ihrem geheimen Kern Mimesis und Imitatio (Fremdreferenz) inmitten der realen Welt (Realismus) oder ästhetische Konstruktion und Imagination, die sich an ihre eigenen Phantasmen und Mittel hält und sich selbst genügt (Selbstreferenz)? In seinen Betrachtungen zur analogen Photographie weist Roland Barthes darauf hin, dass dem Spektrum dieser Bilder der unheimliche Beigeschmack der »Wiederkehr des Toten« 76 eigen ist. Bei der Aufnahme eines Portraits bringen die Operationen mit dem Apparat und der Chemie ein Gebilde hervor, in dem 76  |  Barthes, Roland: Die helle Kammer, Suhrkamp Frankfurt a.M. 1985, S. 17

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die Person ganz und gar Bild und damit »der Tod in Person« 77 geworden ist. Nach Barthes bringt der Operator – der Photograph – die lebende Person auf diese Weise in seine Gewalt; er unterwirft sie und reiht sie als Objekt und Ding in seine Sammlung von Besitztümern ein. Die Photographie wandelt das Subjekt zum Objekt als Subjekt kann es nach Barthes nur im »Privatleben«, in einer »Sphäre von Raum, von Zeit, wo [es] kein Bild, kein Objekt« 78 ist, bestehen. Die Oberfläche von Porträtbildern teilt dem Betrachter wenig von den Personen selbst mit, erzählt mehr von der Perspektive, die der Photograph bei der Aufnahme zum Modell eingenommen hat. So wird es dem Macher wie dem Betrachter auch immer wieder möglich, anhand des Gebildes vergangene Begegnungen wieder in Erinnerung zu rufen und das Abbild wieder zu beseelen. Das Abenteuer der Photographie besteht nach Barthes in der Beglaubigung der Existenz eines geliebten Menschen. Bei einem Fremden oder einer bloßen Szene ereignet sich die Magie der Photographie nur, wenn das Bild einen »anspringt« und den Beobachter aus einer nur mäßig interessierten Betrachtung herausreißt. Ansonsten bleibt es bei einem interessierten Studium von verständigen Zeitgenossen; so können Portraits (innerhalb einer dokumentarischen und/oder künstlerischen Auseinandersetzung präsentiert) dazu anregen über universelle oder ganz singuläre Beziehungsmuster nachzudenken, wie sie in Familien oder zwischen Freunden und Fremden entstehen. Portraitphotographien können auch dazu anregen, über Zeitgenossenschaft zu reflektieren, wie sie sich in Kleidung, Frisur und Pose zeigt. Das Subjekt wird Objekt, wird Zeit. Photographische Zeugnisse binden Zeitgenossen aneinander und verknüpfen sie mit zukünftigen Generationen. Photographien markieren Zeitabschnitte und erzählen aufgereiht Geschichte in Bildsequenzen; sie erzeugen visuelle Narrationen. Beim Studium einer Photographie von unbekannten Ereignissen oder von Fremden ist der Betrachter nach Barthes in der Regel nur mit einem durchschnittlichen Affekt, einer verantwortungslosen Interessiertheit und moderaten Neugierde in Folge einer sozialen Dressur beteiligt, die durch das »vernunftbegabte Relais einer moralischen und politischen Kultur gefiltert« wird. Das Punctum wäre dagegen »[der] Stich, kleines Loch, kleiner Fleck, kleiner Schnitt – und: Wurf der Würfel. Das Punctum einer Photographie, das ist jenes Zufällige an ihr, das mich besticht (mich aber auch verwundet, trifft).« 79 (Roland Barthes)

77  |  Barthes 1985, S. 23 78  |  Barthes 1985, S. 23 79  |  Barthes 1985, S. 36

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Das gespannte Interesse, sich mit einer analogen Photographie näher zu beschäftigen, resultiert nach Barthes aus persönlichen und individuell gefärbten Momenten, aus dem Zusammenspiel einer Offenheit gegenüber (sozio-)kulturellen Recherchen und dem Aufmerken gegenüber gewissen intendierten aber auch unintendierten Details (was mich betrifft/ich mag/ich mag nicht). Wie an anderer Stelle schon erwähnt, können diese Details sowohl der Denotationsebene, der photographischen Struktur als auch einer Inszenierung entsprechen, die im Vorfeld, zum Zeitpunkt der Aufnahme oder auch nachträglich arrangiert wurde (Konnotationsverfahren). Als Beispiel könnten es sogar ausgedrückte Zigarettenkippen sein, die bei der Aufnahme einer Person zufällig mit festgehalten wurden. Ob im Aschenbecher oder am Boden um die Füße des Portraitierten herum sichtbar, erzählen sie doch von einem Gestus oder gar Ritus des Abgebildeten, sich mit Rauch zu umgeben, oder – weniger romantisierend ausgedrückt – sich nur deswegen zur Fitness, zum Aerobic zu bewegen, da man die Zersetzung der eigenen Organe bereits in Schwung gebracht hat. Zigarettenkippen gehören zu den »unschönen« und zumeist unintendierten Details, die man heute in der Gebrauchsfotografie bei der digitalen Nachbearbeitung schlicht beseitigt. Diese Methode der digitalen Nachbearbeitung, die Barthes sicher als »Fotomontage« beschreiben würde, wäre historisch zu deuten – und wäre auch in diesem Falle in jeweiligen Bild- und Nachbearbeitungsmoden verankert. Mit dem Einzug der Digitalisierung in die Amateur- und Gebrauchsphotographie mussten die Möglichkeiten der Nachbearbeitung zunächst getestet und ausgereizt werden. So galt es Anfang der 1990 Jahre noch als chic, alle Frauen wie Maschinen (Cyborgs) aussehen zu lassen und mit einer digitalen, weichgezeichneten Haut zu überziehen. Aktuell werden weibliche wie männliche Modelle lieber »life-ig«, »natürlich aussehend« retuschiert – was allerdings nicht bedeutet, dass in der Postproduktion weniger Aufwand betrieben werden muss. Ein Leberfleck kann jetzt im Gesicht neu arrangiert oder auch nur verkleinert oder vergrößert werden. Auf der Bearbeitungsebene eliminierte Falten lässt man mit 50  % Deckkraft der digital angelegten Retuscheebene wieder durchscheinen. Um dem Bild zuletzt einen analogen Look zu verleihen, kann in der Postproduktion ein grobes Korn eingerechnet werden in nostalgischer Erinnerung an analoge Kleinbildfilme. In den aktuellen Gebrauchsfotografien, den digitalen Fotografiken und insbesondere den Werbebildern gibt es keine Zigarettenkippen am Boden, keine störenden Haarsträhnen im Gesicht des Portraitierten, keine unpassenden Farbkombinationen (z.B. Vordergrund: Kleidung, Hintergrund: Straßenschilder) oder gar ausgerissene, überstrahlte Himmel im Bild. Die Erstellung digitaler Raw-Daten ermöglicht es, die Himmel um einige Blendenstufen dunkler zu ziehen und hinter der gut ausgeleuchteten Person im Vordergrund wieder

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einzubauen. Unintendierte Details wie Grashalme vor der Linse oder auch Insekten, Pickel, Haarsträhnen werden also neu geordnet oder eliminiert, »weggestempelt«. Das stumme Drehbuch der zeitgenössischen digitalen Fotografik scheint zu befehlen: Mag das!/Mag das nicht! Ungewohnt wirkt dagegen noch die intendierte Inszenierung von »unschönen« Details und zunehmend abstoßend wirkt der unveränderte Aufnahmeraum, die ungeschönte Realität. Amateur- wie Gebrauchsfotografie sind davon betroffen, wenn digitale Raw-Daten zu Fotografiken generiert werden. Das allgemeine Rauchverbot, das unsere Öffentlichkeit seit einigen Jahren prägt, gilt also auch in der zeitgenössischen Bilderwelt. Im zweiten Teil der »hellen Kammer« geht es Roland Barthes um die Suche nach einem, oder besser gesagt: nach dem Bild der toten Mutter, das »ihr Wesen, ihre Wahrheit« für ihn entbirgt. Es entspricht dieser Intention, dass er das gefundene Bild nicht veröffentlicht, denn einen fremden Betrachter kann das Bild nur zum Studium einladen. Es ist innerhalb eines Wahrheitsdiskurses nun interessant, dass er die »Wahrheit seiner Mutter« in einem Kinderbild von ihr im Alter von 5 Jahren findet. Er hat sie so selber nie gesehen, aber er hat seine Mutter in der Pflegesituation – hilflos wie ein Kind – erlebt, als ihr seine Sorge galt. Sein höchst persönliches Anliegen – die Wiederauferstehung, Bewahrung und Weihe seiner toten Mutter – wird exemplarisch in eine Betrachtung analoger Photographie überführt, die sich wesentlich von der Betrachtung von (analoger und digitaler) Malerei oder von digitalen Fotografiken und synthetischen Computergrafikmodellen unterscheidet. »Die Malerei kann wohl eine Realität fingieren, ohne sie gesehen zu haben. Der Diskurs fügt Zeichen aneinander, die gewiß Referenten haben, aber diese Referenten können ›Chimären‹ sein, und meist sind sie es auch. Anders als bei diesen Imitationen läßt sich in der Photographie nicht leugnen, daß die Sache dagewesen ist. Hier gibt es eine Verbindung aus zweierlei: aus Realität und Vergangenheit. Und da diese Verschränkung nur hier existiert, muss man sie als das Wesen, den Sinngehalt (Noema) der Photographie ansehen. Worauf ich mich in einer Photographie intentional richte (vom Film wollen wir noch nicht sprechen), ist weder die Kunst noch die Kommunikation, sondern die Referenz, die das Grundprinzip der Photographie darstellt. Der Name des Noemas der Photographie sei also: ›Es-ist-so-gewesen‹ oder auch: das Unveränderliche.« 80

An dieser Stelle wird deutlich, dass die interpretative Sprache von Barthes sich insbesondere im Umgang und in Auseinandersetzung mit kleinformatigen analogen Amateurphotographien (und analogen Dokumentarphotographien)

80  |  Barthes 1985, S. 86 f

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entfaltet. Künstlerischen Photographien – als solche intendiert und inszeniert – widmet er keine besondere Aufmerksamkeit. Er vergleicht an anderem Ort das interessierte Betrachten von Photographien mit dem Lesen von Haikus – jenen berühmten dreizeiligen japanischen Gedichten, in denen das Daseinsrätsel (Leben, Tod, Zeit, Dauer, Wiederkehr) in höchst verdichteter Form sich öffnend und zugleich verschließend zum Ausdruck kommt. Bei Barthes ist wie bei Heidegger die Poesie, die Dichtung das Leitmedium der Kunst. Entsprechend gibt sich Barthes als Bürger der alteuropäischen Buch-Gesellschaft mit Schrift und Buch als Leitmedien zu erkennen. Der sich zurückziehende, lesende Bürger, der sich fern jeder aufdringlichen Interaktion beim einsamen Lesen und Betrachten seine Weltanschauungen und sein Weltbild formt, ist zugleich auch der erzogene und kultivierte Beobachter der Bildwerke. Gedichte und Photographien sind wie Stillleben – Nature Mort. In aller Kunst klingt das Menschheitsrätsel des Todes an (Memento Mori), das heute aber im Destruieren und Rekombinieren, im Zerklauben und Zusammensetzen, im Einfrieren und Auftauen, im Klonen und Befruchten, in Genomentschlüsselungen und Stammzellenverschlüsselungen überspielt, verdrängt, gar überwunden werden soll. Damit unterscheidet sich der Zugriff von Roland Barthes ganz wesentlich von der Perspektive Vilém Flussers, der vor allem synthetische Computerbilder (und Videobilder) als Kommunikate in den neuen Medien untersucht (»Kommunikologie«81). Man könnte es geradezu auf eine Formel bringen: Wo noch Natur und Tradition sind, sollen Kunst Technik und Zukunft werden. Flussers Freude über die neuen, ganz offensichtlich chimärischen Bilder lässt sich vielleicht mit seinem Versuch der Abwehr eines gefährlichen Bilderkults (Idolatrie) in der aktuellen Rundfunk- und Fernsehkultur erklären (in Bezug auf einen festgeschriebenen Sender-Empfängerstatus) und vielleicht auch aus seiner Wieder-Hinwendung zur jüdischen Kultur. Gebote des Zeigens und Nicht-Zeigens von Bildern finden wir in jeder (religiös geprägten) Kultur; wobei manche Bilder nur unter bestimmten Bedingungen gezeigt oder verhüllt und wieder verwahrt (Kultpraktiken) werden. Seit Barthes und Flusser versucht kaum noch ein Philosoph, umfassend die Bedeutung der zeitgenössischen Photographie – der photographisch anmutenden Bilder, der digitalen Fotografiken und Computergrafikmodelle – und deren Oberflächen und Tiefenstrukturen zu untersuchen. Aktuelle Theorien und Analysen widmen sich eher der Klärung spezifischer Begrifflichkeiten

81 | Flusser, Vilém: Kommunikologie weiter denken. Die Bochumer Vorlesungen, Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt a.M. 2008

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(Virtualität, Affektion, Medium etc.) und deren Bedeutungsverschiebung im Zuge der Digitalisierung.82 Barthes wendet sich in der »hellen Kammer« ausschließlich der analogen Photographie zu und beschreibt sie als das Produkt eines lebendigen Prozesses, der in seinen Anfängen nicht aus der Malerei, sondern aus der Wissenschaft, speziell der Chemie hervorging. Jedes Objekt und jede Person, die als anwesend und/oder lebendig erlebt wurde, konnte direkt eingefangen und festgehalten werden. Die Strahlen des Lichts, die Atmosphäre der Lichtsituation, die Personen und die Objekte wurden in diesem Prozess zum Bild gemacht. Das Noema der Photographie ist jedoch nicht das »Lebendige« oder die »Analogie« (»ein Merkmal, das sie mit allen Techniken der Abbildung gemein hat«), auch nicht die »Kopie« einer Wirklichkeit – sondern die »Emanation des vergangenen Wirklichen: als Magie und nicht als Kunst« 83. Der vom Punctum getroffene Betrachter sieht die Sache oder die Person und nicht die Darstellung. Für Barthes – man kann es nur paradox ausdrücken – sind Photographien, die berühren, Realsymbole wie totemistische Figuren. Aus diesem Grunde überbietet bei Barthes der Amateurphotograph oft den Professionellen und den Künstler, da er dem Noema der Photographie in seiner Praxis näher steht. »Phänomenologisch gesehen, hat in der Photographie das Bestätigungsvermögen den Vorrang vor der Fähigkeit zur Wiedergabe.«84 Die Zeugenschaft bezieht sich dabei nicht auf das Objekt, sondern auf die Zeit. Die Photographie wird »falsch auf der Ebene der Wahrnehmung und wahr auf der Ebene der Zeit.«85 »Die helle Kammer« endet mit dem Vorschlag, sich den aufkommenden Bilderfluten zu entziehen, um sich dem Wesen der Photographie gezielt nähern zu können, sich »dem Erwachen der unbeugsamen Realität zu stellen«, anstatt sich dem Schauspiel des zivilisierten Codes »der perfekten Trugbilder zu unterwerfen«.86 Die von Barthes in seinem Schlusswort angesprochene Tiefendimension der photographischen Frage wird seltsamerweise von niemandem so recht aufgenommen, sieht man von gewissen Anspielungen bei Michael Fried (2014) ab. Mystifiziert Barthes die Photographie oder übersetzt er hier nur den Heideggerschen Gedanken, dass allem Welt-Anschauen immer noch die Erde als der unbegriffene Subtext (letztes Medium) unterliegt und diese in die Welt hineinragt? Die Erde und ihre Geschichte haben ihre eigene Generativität, Konst82  |  Die Bildwissenschaften fragen (nach Flusser) noch grundsätzlicher: »Was ist ein Bild?« (siehe Gottfried Boehm, 1995). 83  |  Barthes 1985, S. 99 84  |  Barthes 1985, S. 99 85  |  Barthes 1985, S. 126 86  |  Barthes 1985, S. 130

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ruktivität und Dekonstruktivität, uneinholbar für den Künstler und Techniker. Aber dieses Spiel der Entbergung, Verbergung und Offenbarung kann nur im Weltkontakt und nicht im Rechenraum gespielt werden. Man kann Welt-Beschreibungen dekonstruieren, umschreiben, aber damit erreicht der Beobachter nicht die Erde, die sich entzieht, die aber in allen Welt–Beschreibungen durchscheint. Es kann aber auch sein, dass die Kunst nur noch in ihren eigenen Referenzen, Fiktionen und Mitteln kreist und sich durch Welt und Erde gar nicht mehr irritieren lässt. Den Analysen und Anregungen von Barthes folgend zielt diese Forschungsarbeit zunächst darauf ab, die Masse »analogitaler« Bilder als von einander verschieden zu erkennen und entsprechend differenziert auch zu beschreiben und zu bezeichnen, um Falschtitel zu verhindern – wie es etwa bei der Ausstellung »Photograms« von Ruff und bei einigen anderen Präsentationen (Gurskys »C-Prints«) Anfang der 1990 Jahre geschehen ist. Zu dieser Zeit ist noch die Kunst des geschickten Täuschungsmanövers erfolgreich. Es ist zu bedenken, dass Bildwerke heute nicht nur wegen ihrer Themen beobachtet und geschätzt werden, sondern ganz entscheidend auch darin, wie die Kunstwerke selbst gearbeitet sind. Kunstwerke sollen sich ja nicht nur von anderen Dingen, sondern auch von anderen Kunstwerken unterscheiden. Wenn sich heute (neben den Amateuren) Profis und Künstler einer fotografischen Methode bedienen, dann können doch die unterschiedlichen Herstellungsprozesse in ihrer Vielfalt mitgeteilt und zugleich das Noema der analogen Photographie herausgestellt werden. Diese Differenz, diese Unterscheidung kann doch die Operatoren und Spectatoren in allen kreativen Bereichen zu spannungsreichen Gegenüberstellungen von analoger Photographie, digitaler Fotografik und dreidimensionalen Computergrafikmodellen anregen. Gursky hat sich selbst zuletzt vornehmlich als »Bildermacher« bezeichnet und sich als solcher präsentiert. In der gegenwärtigen Phase der Digitalisierung kann er sich auch nicht mehr als Photograph bezeichnen, obgleich sich seine Methode seit Anfang der 1990 Jahre kaum verändert hat. Ruff sucht mit seinem aktuellen Ausstellungstitel besondere Aufmerksamkeit zu erzielen, indem er gerade mit Falschbegriffen provoziert. Seine Bilder geben vor, etwas zu sein, was sie nicht sind. Ruff simuliert – sein Team arbeitet mithilfe von Computer-Simulationen. Dem Wort Simulation (Simulatio) und seiner neuzeitlichen Wiedereinführung, der Computer-Simulation, sei dabei bereits die diametral entgegengesetzte Bedeutungszuschreibung inhärent, dass es sich hierbei um ein Oberflächenverhalten, eine Verflachung handelt, die täuscht, die betrügt – obgleich die Computer-Simulation in der Wissenschaft gewinnbringend eingesetzt wird und zu Erkenntnissen führen soll.

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Ruffs Bilder sind zuerst einmal neu, d.h. vor allem bunter, größer, schärfer als die von László Moholy-Nagy und bereits zur Vernissage teurer als einige der 70 Jahre alten Vorbilder. Man kann also – wie bereits vermutet – annehmen, dass es sich bei Ruff um eine auf den Kunstmarkt zielende höchst effektive Strategie handelt, erfolgreichen Vorbildern nachzufolgen. Gleichzeitig birgt jene Provokation einen zeitspezifischen Moment. Wir sind zunehmend umgeben von Bildern, die auf Computeralgorithmen beruhen. Sie entsprechen dem Oberflächenverhalten von Modellen, die sich wiederum von ihren materiellen Erscheinungsformen abgelöst haben. Zudem impliziert Intermedialität, dass sich diese Sichtbarmachungen auf die verschiedenen Medien übertragen lassen, so dass es kein Ursprungsmedium, kein Original gibt. In der interdisziplinären Forschung werden derzeit neue Institute aufgebaut, um Bilder zu generieren, mit empirischen Methoden zu vergleichen und auszuwerten (z.B. Max-Planck-Institut für empirische Ästhetik; Musik/Sprache/ Neurowissenschaften). An den verschiedenen Schnittstellen, die zu einer postmodernen »empirischen Ästhetik« führen, werden neben den wenigen erkenntnisträchtigen Darstellungen auch alle Übertragungsfehler einer neuzeitlichen Hypothesenforschung auf bereitet, deren Sinn nicht mehr darin besteht, über Erkenntnismodelle und wirklich neue (für den Menschen nützliche) Theorien aufzuklären, sondern vor allem Daten zu generieren, bevor es zu einer genaueren, folgenträchtigen Untersuchung der Bedeutung und ihrer Anwendung kommt. In dieser Weise beschreibt auch Cornelius Borck 87 die aktuellen Strategien der Wissenschaft, mithilfe von Forschungsgeldern so viele Daten wie möglich zu erzeugen, abzuschöpfen und aufzusaugen (Data Fishing) und deren Sinngehalt durch interessante Bilder und Bildvergleichskataloge zu belegen und zu erschließen. Jede theoretische Unmöglichkeit gilt derzeit geradezu als Herausforderung, visuelle Belege mithilfe neuzeitlicher Apparaturen zu generieren. Es geht also vor allem darum, Zusammenhänge zu bauen, anstatt eine gute Theorie vorzustellen. In diesem Sinne wäre die empirische Ästhetik der Wissenschaft mit der Kunst vergleichbar (Beweisführung = Perspektive) und die Kunst damit auch eine Form der Wissenschaft. In diesem Sinne spielt auch Ruff seine Bilder einer postmodernen empirischen Ästhetik zu. »Gegenüber den Übertragungen aus nicht sichtbaren physikalischen Bereichen unter dem Vorzeichen wissenschaftlicher Entdeckungen ist also Vorsicht geboten. Das ›forschende Auge‹ ist nur dann überzeugend, wenn es technisches Sehen nicht einfach illustriert und hierbei auf allzu bekannte Schemata und Muster von Oberflächen zurück87 | Borck, Cornelius: Big Data in Neuroimaging, mecs Lecture Series 2013, Quelle: www.youtube.com/watch?v=mmQkMHiZhWM/ Stand Abruf 3.04.14

5. Analysen zum Vormarsch der Computer technologie greift und somit in naturwissenschaftlich orientierte Oberflächen-Klischees abdriftet, wie sie nicht nur in populär-wissenschaftlichen Zeitschriften gern benutzt werden. So sind wissenschaftliche Bilder, beispielsweise neue Stern- oder ›Nano‹-Bilder, oft pure visuelle Erfindungen; eigentlich noch nicht einmal das. Eine Kritik des wissenschaftlichen Bildes steht noch aus.« 88 (Arthur Engelbert)

Der Kunstpraxis nicht nahestehende GeisteswissenschaftlerInnen wie etwa Sybille Krämer schreiben der künstlerischen Kreativität zu, dass deren Leistung darin bestehe, zu einer »Versinnlichung von Sinn« beizutragen, der in theoriebasierten Wissensgebieten entsteht. »Kunst wie Wissenschaft zehren davon, Ideen zu materialisieren, also sinnliche Manifestationen des Geistigen zu bilden und mit diesen Vergegenständlichungen des Ungegenständlichen dann auch praktisch umzugehen.« 89 Den Begriff der Virtualität definierte Sybille Krämer in einer Einführung zum Deutschen Kongress für Philosophie 2005 als »wirkliche Erfahrung mit ideellen Sachverhalten«. Ihren Beschreibungen folgend wäre die Konkretisierung des Abstrakten (im virtuellen Raum/am Monitor) und damit auch der Mathematik, der algorithmischen Zahlenreihen, des Befehls 0/1, bereits »Versinnlichung von Sinn«90. Dagegen werden im Kolloquium kritische Kommentare geäußert, da es sich bei Zahlen/Ziffern immer noch um Sphären abstrakter Nichtexistenz und Irrealitäten handelt. »Die Darlegung eines Entstehens, das sich in der realen Welt vollzieht, unterliegt Konsistenzbedingungen, die ihm durch die Realität des Gegenstandsbereichs auferlegt sind. Davon unabhängig sind solche Darlegungen im allgemeinen von der Weltsicht geprägt, die als maßgebende Vorannahmen in die Erklärung eingehen. Im Gegensatz zur realen Welt sind virtuelle Welten nicht vorgefunden. Sie sind Erzeugnisse und werden von Menschen geschaffen. Im Unterschied zur realen Welt sind sie das Ergebnis gedanklicher Konstruktionen in gedachten Räumen von Denkmöglichkeiten. Deshalb ist Entstehen in einer virtuellen Welten schwebend. Der Darlegung eines Entstehens in einer virtuellen Welt fehlt die erfahrbare Realität als Regulativ. Dadurch eröffnen virtuelle Welten aber Raum für Irreales, das heißt Raum für das Entstehen von Etwas, dem in der realen Welt nichts entspricht.« 91 (Bernd Mahr) 88 | Engelbert, Arthur: Global Images. Eine Studie zur Praxis der Bilder, transcript, Bielefeld 2011, S. 74 89  |  Krämer, Sybille: Wie aus »nichts« etwas wird: Zur Kreativität der Null, in: Kreativität XX. Deutscher Kongress für Philosophie, Sektionsbeiträge Band 1, hg. von Abel, Günter, Universitätsverlag der TU Berlin 2005 (Verfügbarkeit Text Krämer online PDF Universität Hamburg) 90  |  Krämer, 2005, S. 342 91 | Mahr, Bernd: Die Schöpfung der Maschine. Ein Modell des Entstehens und der Gegensatz vom Maschinellen und Kreativen, in: Kreativität XX. Deutscher Kongress für

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Bezüglich des »Mars-Raums« beschränkt sich ein »Es-ist-so-gewesen« bisher auf Maschinenerfahrungen und Darstellungen, die uns von Weltraumsonden übertragen werden. Alle Mars-Simulationen dienen offenbar dazu, uns mit Entfernungen und Zeiträumen vertraut zu machen, die bisher kein Mensch überwinden konnte. Sie befördern Träume von der menschlichen Territorienerweiterung, um vor allem neue Forschungs- und Projektgelder zu generieren. Grundsätzlich ist ein Leben auf dem Mars ohne Sauerstoff, ohne Wasser und bei einer Durchschnittstemperatur von -55 Grad Celsius weder attraktiv noch möglich. Diese aktuellen Projektionen von und Projekte zu Marsmissionen dürften kaum die Mehrheit der Menschen angehen. Es könnte dringlicher sein, sich mit den globalen Veränderungen auf der Erde zu beschäftigen, welche die menschliche Existenz bedrohen. Angesichts der atomaren Verseuchungen in Tschernobyl oder Fukushima kann die Anpassung des menschlichen Lebens an die verschiedenen Planeten sich mit der Anpassung an die Realität heute unbewohnbarer Orte gut vergleichen. Dokumentarische Photographien, die die Menschenleere atomar verseuchter Gebiete zeigen und maschinelle Marsdarstellungen sind sich wohl in einem Sinne – im Sinne von Albträumen – ähnlich. Ein Mitglied des Marsmissions-Unternehmens MarsOne/Niederlande kommentiert in einem Interview92, dass es für ihn kein Problem darstellt, seine letzten Lebensjahre in einer Kapsel zu verbringen. Schließlich sei man ein Leben auf engstem Wohnraum bereits gewöhnt. Zudem hat seine Lebenspartnerin bereits erklärt, dass seine Marsmission wichtiger ist, als dass er lebend von dieser zu ihr zurückkommt. (Der stetig schrumpfende Wohnraum in wachsenden Metropolen – bei gleichzeitig steigenden laufenden Kosten – scheint sich bereits in der Weise auf das Miteinander auszuwirken, dass selbst die Liebe nicht mehr notwendig gelebt werden muss.) Die Datenübertragungen der Nasa-Webseite sind aktuell und neu. Ruffs Nachbearbeitung, die 3D-Brillen zur Betrachtung erfordert, basiert auf älteren Techniken, dennoch sind die neuen Bilder groß, bunt und scharf. Sie geben vielleicht Teile der Oberflächenabtastungen des Mars »authentischer« wieder als erste Aufzeichnungsversuche, was mehr mit der Nutzung neuer Technologien der NASA zu zu tun hat als mit der Nutzung der Bearbeitungsprogramme, die Ruff seit den 1990 Jahren einsetzt.

Philosophie, Sektionsbeiträge Band 1, hg. von Günter Abel, Universitätsverlag der TU Berlin 2005, S. 390 (Verfügbarkeit Text Mahr online PDF Universität Hamburg) 92 | Quelle: http://videos.arte.tv/de/videos/marsmission--7818908.html/Erstausstrah lung 15.März 2014

5. Analysen zum Vormarsch der Computer technologie

Bezüglich der Computergrafikmodelle (Renderings) kann Ruff als Beispiel für einen zeitspezifischen Gestus verstanden werden, Visualisierungen von Modellen möglich zu machen mithilfe digitaler Technologien. Um zu einer Deutung der Tiefenstruktur zu gelangen, könnte man sich also die Modelle anschauen, die den Simulationen zugrunde liegen. Diese spielen aber bei seinen Galeriepräsentationen keine Rolle. Vielmehr verbirgt er sie hinter Falschbegriffen, die vom eigentlichen Herstellungsprozess ablenken. Dagegen lautet eine Affirmation unserer Zeit, sich gerade mit den Modellen und den Prozeduren hinter den Oberflächen zu beschäftigen: »Kunst sollte sich nicht über die Bildinhalte definieren, sondern über die bildgebenden Verfahren und die verborgenen Prozesse.« Denn, so Friedrich Kittler, »es gibt Verbindlichkeiten für des Schöne in der Kunst.« Dagegen sei »unsere durchschnittliche menschliche Kommunikation nichts, was eine Verdopplung rechtfertigt.« Bildschirmgestützte HTML-Computerkunst, als »Wiederauferstehung der käuflichen Kunst nur mit anderen Mitteln«, interessiert ihn also nicht: »Das kann ja schon jedes Kind!« Dagegen sucht Kittler in der Kunst heute womöglich vergeblich nach Genies mit ebenbürtiger Reichweite wie Leon Battista Alberti mit seinem Beitrag zur Erfindung der Perspektive: »Es gibt viele, die lernen können, korrekt perspektivisch zu malen, aber es brauchte ein Genie wie Battista Alberti, um sie zu erfinden! Man muss etwas Genialisches erfinden […] Aufgabe der Kunst ist, das unendlich Ewige in der Endlichkeit der Kunst zu zeigen!«93 Diese pointierte Aufgabenbeschreibung von Kunst muss nicht auf allgemeine Zustimmung stoßen, sie kennzeichnet aber sehr genau eine formalabstrakte Kunsttheorie, die die Grammatik und Algorithmen der Werke zu lesen versteht. Jede interdisziplinäre Forschung ist ein Versuch, sich in entfernte Wissensgebiete – wie es die Kunstpraxis für Kittler ist – produktiv einzumischen. Für Künstler, die nach neuen Wegen suchen, mag es inspirierend sein, sich dem Teil seines theoretischen Denkens zu widmen, den Kittler selbst als den spannenden Teil des Denkens Martin Heideggers für die Neuzeit proklamiert: »Für eine allgemeine Theorie dessen, was ist, müsste man Computerregister, also die Stellen, wo es rechnet, Computerspeicherzellen, Stellen, wo Nullen und Einsen sich ablegen, Computerbusse, wo Nullen und Einsen steuern, zwischen CPU und RAM hin- und herlaufen, als Röhren denken, also grundsätzlich von dieser Offenheit her, von dieser

93 | Interview mit Friedrich Kittler, ARTE Kultur Digital Februar 2007, Text zum Interview von Jens Hauser, Quelle: www.arte.tv/de/friedrich-kittler/1470868,CmC=14 84386.html/Erstellt 15.02.07 letzte Änderung 02.09.08 Stand Abruf 04.04.14

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Fotokunst in Zeiten der Digitalisierung Lochheit her – mir fällt kein anderes Wort ein als Abwesen – weiter denken.« 94 (Friedrich Kittler)

Die »Lochheit« mag man mit »Abwesen«, »Leere«, »Nichts« umschreiben. Die Philosophin Sybille Krämer versucht sie als »0« zu denken – dem schriftlichen Rechensystem entwendet, als »Null« in schriftliche Denksysteme überführt. Aus »nichts« wurde »etwas« in Folge einer »Versinnlichung von Sinn« »Es ist also der rechenhafte Umgang mit der Verkörperung des ›Nichts‹, der ›Leere‹ und der Abwesenheit, welche deren positive Bestimmung als etwas, das quantifizierbar ist, als Zahl, überhaupt erst ermöglicht. Das Operieren mit der Null (Techne) geht ihrer Interpretation als Zahl (Episteme) voraus und bereitet ihr überhaupt erst den Weg.« Ohne die errechnete Null gäbe es keine Schulden; ohne die visuelle Null keinen Fluchtpunkt in der Zentralperspektive; ohne Leere, ohne Vakuum keine Fülle, keinen Raum. Bei Krämers Ansammlungen von dualen Pärchen, zu der sie die Schriften von Brian Rotman inspirieren95, scheint es um Beschreibungen des Gegensätzlichen zu gehen. Um eine Anregung, der Dualität in der Welt nach-zu-sinnen oder auch nur die Diskrepanz zur sichtbaren Masse an-zu-sinnen. Irrig scheint jedoch die Annahme, dass der Algorithmus, die Zahl 1, die Zahl 0, die virtuelle Welt bereits mit der »Versinnlichung von Sinn« gleichzusetzen wären, welche sich durch kreative Prozesse »unter Konsistenzbedingungen« vollziehen könne. Bleibt der kreative Prozess dem Abstrakten (Denkund Schreibprozess) verhaftet, kommt es nicht zu einer »Darlegung eines Entstehens, das sich in der realen Welt vollzieht« (Mahr). Dann wäre die Praxis wie die Theorie gleichberechtigt vom Leben entfernt. Jede Wissenschaft ohne Praxis kann man »Sinn bringend« nennen, aber kaum mit »Versinnlichung von Sinn« gleichsetzen. Das gilt wohl gleichberechtigt für alle wissenschaftlichen Bereiche, die Feldforschung, Laborarbeit (Atelierarbeit) und Theoriearbeit (anhand von Schrift, Zahlen, algorithmischen Computersimulationen) vereinen. Bezüglich der Kunstpraxis fragt Glenn Adamson (2007): »Isn’t craft something mastered in the hands, not in the mind? Something consisting of physical actions, rather than abstract ideas? […] ›practice‹, which, bolstered by its homology with ›praxis‹ (a Marxist philosophical term meaning roughly ›theoretical knowledge put to use‹), has become the universal occupation of today’s creative class. 94 | Kittler, Friedrich: Ontologie der Medien, Vortrag auf dem Bochumer Kolloquium Medienwissenschaften 2007, Quelle: www.youtube.com/watch?v=W-yV8igrfxo/ Stand Abruf 03.04.14 95  |  Rotman, Brian: Die Null und das Nichts: Eine Semiotik des Nullpunkts, Kadmos, Berlin 2001

5. Analysen zum Vormarsch der Computer technologie Practise, like work, is a relative newcomer, having displaced ›action‹, which again suffered from too much definition. While action carries strong connotations of the freighted gestures of the Abstract Expressionists, a practice can reasonably include every aspect of an artist’s life.« 96 (Glenn Adamson)

In der Photographie als relativ neuer Kunstpraxis existiert seit den 60er Jahren eine Strömung, die sich mit Sympathie dem alltäglichen Leben und besonders dem Leben in subkulturellen Parallelwelten widmet. Viele prominente Photographen haben wiederholt dargelegt, dass sie ihre Arbeit mit der Kamera weniger als »Konstruktion von Wirklichkeit« verstehen denn als den immer wieder neuen Versuch mit der Kamera die »Wirklichkeit zu sehen«. Der Digitalisierung und ihrer Kulturtechnik – der Computerarbeit – scheinen die Konstruktion von Wirklichkeiten und die Simulation als wissenschaftliche Methode eigen zu sein. Mit dem Versuch, die Photographie diesem Trend vollständig zu unterwerfen, wird das Noema der Photographie verspielt, wie es Barthes ihr zugeschrieben hat. Von daher müssen die Praktiken der »Versinnlichung«, wie sie sich einst aus der Photographie ergaben (»als Emanation des vergangenen Wirklichen: als Magie und nicht als Kunst«), nun im Hinblick auf Fotografiken und Computergrafikmodelle weitergedacht werden. Zunächst weist die Philosophie darauf hin, dass sich aufgrund der Verschränkung des Abstrakten (dessen »was nicht ist«) und seiner Manifestation (dessen »was ist«) in der gegenständlichen Welt keine klare Trennlinie ziehen lässt. Diese kann mit dem menschlichen Denken nur mutmaßlich und unscharf beschrieben werden: »Heidegger denkt uns das Dasein aus der Ferne her. […] Wir geraten hinaus in unseren Tod, den wir uns nie vorstellen, sondern in den wir nur hineinlaufen können. Wir sind immer ausgespannt in unserem Anwesen in die großen Abwesenheiten. […] Das Wesen von allem Sein [Beispiele: Gläser, Taschen, Ringe] liegt nicht nur in dem was anwesend ist, sondern in dem was abwesend ist, also der Lochheit. […] in einer fast sexuellen Zwiefalt, dem männlichen und weiblichen.« 97 (Kittler zu Heidegger)

Ganz im Sinne einer fruchtbaren Einmischung in die Kunstpraxis, wie sie sich Kittler zu gegebenem Zeitpunkt erlaubte, wagen auch wir hier im Kontext interdisziplinärer Forschung eine Einmischung in jene Zwischentöne, die Kittler im Referat zu Heidegger verlauten lässt. Wenn das »Nichts« und die »Leere« 96 | Adamson, Glenn: Thinking Through Craft, Berg Publishers, London 2007, S. 1, S. 165 97 | Kittler, Friedrich: Ontologie der Medien, Vortrag auf dem Bochumer Kolloquium Medienwissenschaften 2007; Quelle: www.youtube.com/watch?v=W-yV8igrfxo/ Stand Abruf 03.04.14

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angedacht werden sollen, so gehören Mannsein und Frausein wohl gleichermaßen zum Dasein, zum Anwesenden. Auf die Frage, ob die Maschinen als »Dinge im Sein«, welche sich in kurzen »Computergenerationen« wie Lebewesen zu entwickeln scheinen, eine Bedrohung für die Menschheit darstellen können, antwortet Kittler: »Die Coexistenz von Männern und Frauen ist schon schwer genug, dann muss die von Menschen und Computern auch noch möglich sein.«98 Bislang scheint die Bedrohung durch atomare Verseuchung und Umweltverschmutzung noch größer als die durch Maschinen und Computersimulationen zu sein, so auch Kittler im angegebenen Interview. Dennoch werden (und wurden in dieser Forschung bereits) Gefahren beschrieben, die sich genau an jenem Platz der Maschine, nämlich zwischen den Menschen (MannMaschine-Mann-Maschine-Frau-Maschine-Frau) entfalten. An der Stelle, an der die Medientechnologien in der Lage sind, uns die Ferne heranzuholen und Distanzen zu überwinden, bleibt die lebensweltliche Distanz des Raumes dennoch weiterhin bestehen. Dank der digitalen Nachbearbeitung von Photographien ist es möglich, mit der Rechenmaschine photographische Spuren von Raumansichten und Menschenbildern mit einem »Es-ist-nicht-so-gewesen« zu durchlöchern. (Einige der Bildbearbeitungspraktiken wurden im Text beschrieben und sollen auch im Folgenden an den entsprechenden Stellen weiter erklärt werden.) Was also, wenn die Lochheit um das Vorhandene, das Anwesende zerlöchert? Mit dieser Frage soll der Bogen von der toten Mutter zur Traumfrau gespannt werden, auf die jene trifft. Das Spezifikum am Beispiel von Barthes’ Bild der »toten Mutter« ist, dass »sie gewesen ist«. Die »Traumfrau« dagegen: »wird nicht gewesen sein«. Die »Traumfrau« lässt sich anhand einer Computersimulation darstellen oder erzeugen; sie wird sich nicht in der Welt, auch nicht in einem menschlichen Körper inkarnieren, und es wird auch kein Abbild von ihr (als: »Emanation des vergangenen Wirklichen: als Magie und nicht als Kunst«) geben. Das Bild der toten Mutter gibt keinen Platz frei, nichts lässt sich hinzufügen, so Barthes. Es ist ferner ohne Zukunft und damit wird das Pathos des Bildes melancholisch. Diese Stauung, dieser Stillstand lässt sich nur wandeln, indem das Papierbild zu Müll wird. (»Nicht nur teilt es das Schicksal des (vergänglichen) Papiers, es ist, auch wenn es auf härterem Material fixiert wird, um nichts we-

98 | ARTE, Metropolis Interview mit Friedrich Kittler über die heutigen Computerspiele, 9. April 2011, Quelle: http://videos.arte.tv/de/videos/metropolis-vom-9-april2011-bonus--3823376.html/Erstausstrahlungstermin 07.04.11 Stand Abruf 05.04.14

5. Analysen zum Vormarsch der Computer technologie

niger sterblich: wie ein lebender Organismus.«99) Das digitalisierte oder digitale Bild aber lässt sich an verschiedensten Orten, auf verschiedensten Darstellungsmedien aufrufen. Es beseelt uns mit seiner unvorbereiteten Spontanität (denn nur Papier ist geduldig). Nicht einmal der Operator, der das Bild erstellt, hat nach der Einspeisung ins Netz noch eine Kontrolle über den Verbleib des Bildes, sein Bestehen, sein Sterben – sein Zu-Müll-werden. Die kristallinen Bilder, die uns umgeben, sind in gewisser Weise unsterblich geworden. Sie befinden sich im schwebenden Raum der Virtualität und können hier und dort wieder auftauchen. In diesem Sinne wird unser Dasein zerlöchert – oder auch vollgestopft – von dem, was nicht ist, von Bildern, die uns nicht mehr wirklich abbilden, die wir weder anfassen noch vernichten können. Das gilt für kursierende Braut-Fotografiken, die von Hochzeitsfotografikern versendet und von der Braut (auf Facebook) ins Netz gestellt werden (bei Übertragung der Nutzungsrechte), wie es auch für die Modemodels- und Prominentenbilder der Gebrauchsfotografiker gilt. Auf Plakatwänden kann man noch Bärte anbringen und mit Sprühdose und Farbstiften beigehen. Bei den Displays müsste man sich in die aufgerufene Datei einrechnen um eingreifen zu können. Das dürfte die Zukunftsversion der Street Art sein. Dort, wo die Black Box sich unserem Zugriff verwehrt, wo sich die Schaltkreise entziehen, dort lassen sich die eigentlichen Gefahren für die menschliche Existenz, für ein menschliches Zusammenleben in einer vertrauensvollen Hinwendung zum Anderen, vermuten. Mit dem Ende des vertrauten Realen, greift das Abwesen ins alltägliche Dasein ein mit geringeren Möglichkeiten der Abwendung und der Zur-Wehrsetzung. Die Lochheit (bzw. Vollstopfung) breitet sich in unserem Anwesen aus, wenn sich unser Denken und unsere Ideen nicht mehr sinnhaft zu unserem täglichen Leben in Beziehung setzen lassen. Unser Anwesen schwingt sich dann selbst zur Lochheit auf, sehnt sich in Mars-Räume, und der Tod wird zum letzten Abenteuer und attraktiven Reiseziel. Unsterbliche Schönheiten, festgehalten in den digitalen Portraits prominenter Traumfrauen, werden zu unsterblichen Bildern, die nicht mehr zu Müll werden können, sondern sich fortwährend mit einem Look der Unsterblichkeit überziehen und sich von Jahr zu Jahr (mit zunehmenden Alter der Prominenten) auf diese Weise im Netz revitalisieren und aktualisieren. »Der Computer als Symptom der elektronischen Kultur ist ein Indikator und zeigt an, dass der Code der Natur, das natürliche Territorium nicht identisch ist mit dem Code des Universums, mit dem Code des Menschen.«100 Doch bleibt die Darlegung eines Entstehens in der realen Welt den Konsis99  |  Barthes 1995, S. 104 100  |  Weibel, Peter: Territorium und Technik, in: Philosophien der neuen Technologien, Ars Elektronika, Merve Verlag Berlin 1989, S. 111

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tenzbedingungen – und damit auch der menschliche Körper den Regeln der Natur – unterworfen. Bezüglich der neuen Gebrauchsfotografiken (und Computersimulationen) scheint sich die Bilderwelt von unserer Lebenswelt zu entfernen, die Designer und Biometriker konstruieren die Gebrauchsformate für den Kampf der Geschlechter, den Kampf um den Arbeitsplatz und die amtliche Identität. Im unmöglichen Versuch, den neuen Bildern Entsprechung zu bieten, liegt auch das Misstrauen begründet, das damit produziert wird. Es scheint, als strebten wir nicht mehr dem vertrauten Anderen, sondern dem Abwesenden, dem Illusionären entgegen. »Das ›Menschenantlitz‹ mit [seinem] Kultwert ist heute längst aus der Fotografie verschwunden. Das Zeitalter von Facebook und Photoshop macht aus dem ›Menschenantlitz‹ ein Face, das ganz in seinem Ausstellungswert aufgeht. Das Face ist das ausgestellte Gesicht ohne jede ›Aura des Blicks‹. Es ist die Warenform des Menschenantlitzes.«101 (Byung-Chul Han)

Ist das Aufrufen der Lebenswelt heute nur noch ein leerer Verweis auf längst verschwundene sinnhafte Selbstverständlichkeiten? Ersatzweise liefern die massenmedialen Bilderwelten labile Sinnofferten in einer Umwelt von Ungeheuerlichkeiten, und jeder ist nun genötigt, sich inmitten der konkreten Sorgenmassen seine Nische in der Welt zu erbasteln, sofern die »hineinragende Erde« (Heidegger), die systemischen Kommunikationen und Technologien noch Spielräume belassen. Die analoge Photographie und ihre heute scheinbar umständliche Technologie scheint selbst schon Signum einer vergangenen Lebenswelt geworden zu sein, erinnert aber immer noch an unabgegoltene Aufgaben und fordert nach wie vor auf, das festzuhalten, was der Fall ist, auch wenn von interessierter Seite versucht wird, das Wirkliche zu durchlöchern und als das Verschwindende zu ignorieren. Die Besonderheit der Photographie liegt in ihren prälogischen Operationen: sie »sieht« und »zeigt«, sie redet nicht, sie argumentiert nicht. Sie zeigt Bestimmtes und Unbestimmtes. Die Behauptung »Es-ist-so-gewesen« wird begleitet von den Fragen »Was hast du gesehen?«, »Warum hast du es für dich behalten? Warum hast du es mir nicht gezeigt?« Diese Fragen stellen sich auch bei der Betrachtung von digitalen Collagearbeiten mit photographischem Bildmaterial und manipulativen Fotoretuschen, und zwar bezüglich der Veranschaulichung der Herstellungsprozeduren. Und was ist die Botschaft der Fotografik, wenn sie in fotografischer Anmutung zeigt »Es-ist-so-nicht-gewesen«? Eine künstlerische Strategie kann die Modelle und Rechenprozesse hinter den Grafiken aufdecken. Sie kann ornamentale 101  |  Han, Byung-Chul: Transparenzgesellschaft, Matthes&Seitz, Berlin 2013, S. 20

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Verflachungen dekonstruieren und Nahtstellen von Collagen wieder sichtbar machen, aber es genügt auch die aufklärende Beschriftung. Dann darf das Vergnügen weiter darin bestehen, das Auge zu narren und zu täuschen, und warum nicht auch darin, noch die Täuschung als Täuschung vorzuführen? Kunst dient – auch wenn sie es dementiert – stets der Erzeugung eines »schönen Scheins«. Dem Künstler ist es freigestellt, seine Arbeitsweise durchsichtig zu machen oder zu verhüllen. Aber da alle Werke und auch Nicht-Werke (Happenings) unausweichlich in Kommunikationsprozesse hineingezogen werden, können sie weder der Frage nach der Machart noch der Frage nach den Absichten ausweichen.

5.7 Touched R etouched (Visible Veiled)/ K örper und P erson , A ppar at und F unk tion Um verborgene Gebote des Zeigens wie Nicht-Zeigens und veröffentlichte Praktiken der Sichtbarmachung wie Verhüllung weiblicher Körper in Bildpräsentationen geht es in den folgenden Ausführungen. Die Verknüpfung von Materialien aus unterschiedlichen Quellen entspricht meiner eigenen visuellen Recherche zu Frauenbildern und den von mir gesammelten Retouching-Layer 102 – Körperbild-Bearbeitungen – aus der digitalen Bilderwelt. Körperzwänge und Fesselungen in unserer aktuellen visuellen Kultur sollen hier zur Sprache kommen und die Praktiken der digitalen Manipulation an Körperbildern dabei offengelegt werden. Diese Prozeduren betreffen gleichermaßen Frauenwie Männerbilder und gerade das Nebeneinander dieser Bilder kann das spannungsgeladene Spiel um Sichtbarmachung und Verhüllung deutlich machen. Da wir in einer Zeit leben, in der die Generierung und Manipulation bildgebender Prozesse scheinbar keine Grenzen mehr kennt, sind digitale Fotografiken dank ihrer weiten Verbreitung im Netz Global Images. Beim Übertritt und Eintritt der Bilder in kulturell unterschiedlich geprägte Hemisphären kann man besonders deutlich erkennen, dass die Gebote des Zeigens und Nicht-Zeigens machtpolitischen und ökonomischen Funktionen dienen, aber zumeist vorschnell als »gegenkulturell«, aversiv und religiös motiviert verstanden und damit vor allem missverstanden werden. Wird eine Reflexion der eigenen Kulturpraktiken blockiert, so führen Beobachtungen und Begegnungen oft absichtswidrig zu schärferen Ablehnungen und zunehmender Distanz. »Entgegen vielen Errungenschaften des technischen Fortschritts im massenhaften Einsatz optischer Geräte ist die Zunahme visueller Unmündigkeit der 102 | Siehe Anhang/Kurzbeschreibung zum Künstlerbuch/Fotobuch: Wudtke, Birgit: untouched touched retouched, Materialverlag HFBK (Materialverlag Katalog: Material 322, ISBN 978-3-938158-90-6), Hamburg 2013

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Zeitgenossen ein politisches Problem«103. In Arthur Engelberts Analyse von Global Images wird im Blick auf das Medienereignis 9/11 deutlich, wie aus der Sichtbarkeitsmanipulation eine neue Sichtbarkeitsordnung erwächst. Die neue ästhetische Macht der Nachrichtenagenturen (z.B. NBC), die sich auch in der permanenten Darstellung von Gewalt und Terror (»good versus evil«) niederschlägt, wird durch die schnelle Einspeisung von Bildern in die Massenmedien ständig forciert. Engelbert versucht diese inszenierten Wirklichkeiten mit kritischen Instrumenten und anhand ausgewählter künstlerischer Strategien zu dekonstruieren. Seiner Auffassung nach schwindet auf politischer Ebene die Sensibilität für die Differenz von Wirklichkeit und Wirklichkeitskonstruktion, weil die Bilder mit der Echtzeitübertragung zum bloßen Diktat verkommen ohne die nötige Zeit zur kritischen Hinterfragung, Kommentierung, Kontextualisierung und Prüfung ihres Gehalts. Für Engelbert dienen die neuen elektronischen Medien immer weniger der Wahrung und Kultivierung rechtsstaatlicher, transnationaler oder demokratischer Perspektiven und Haltungen; die Akteure sind ökonomisch getrieben, schnell zu handeln, und befördern auf der Jagd nach der Quote mit ihren massiven Bilderströmen und kurzatmigen Text-Telegrammen ein sensationsgeschürtes und skandalisierendes Meinungsklima, das geeignet ist, Werte und Haltungen aufzulösen. In diesem Schlusskapitel sollen meine Recherchen zu den global kursierenden Körper- und Frauenbildern mit meiner künstlerischen Praxis (s.o. Künstlerbuch/untouched touched retouched) zusammengeführt und vergleichend untersucht werden. Der einführende Text stellt ein photojournalistisch angelegtes Projekt der Londoner Photographin Olivia Arthur vor, das sie 2012 in Form eines Künstlerbuches im Eigenverlag veröffentlicht hat (Jeddah Diary, Olivia Arthur, Fishbar, London 2012). Vorgestellt wird ferner die Arbeit Drawings for my mother (MOMA Collection/1999) der Künstlerin Emily Jacir (Bildquellen Verweis I104). Am Ende des Abschnitts werden Beschreibungen zum Archiv der Retouching-Layer (siehe Anhang), dem letzten Kapitel meiner Publikation untouched touched retouched im Rahmen der künstlerischen Promotion, abschließend angefügt.

103 | Engelbert, Arthur: Global Images. Eine Studie zur Praxis der Bilder, transcript, Bielefeld 2011, S. 15 104 | Bildquellen Verweis I: From Paris to Riyadh/Drawings for my Mother, 19992001, Emily Jacir, Marker auf Transparentpapier, Dokumentation der illegalen Stellen des Vogue-Magazin, Installation OK, Linz 2003, http://archiv.ok-centrum.at/presse/ jacir_belongings_fotos.html/ Stand Abruf 01.06.14, Installation Johann König, Berlin 2010, www.johannkoenig.de/data/65/emily_ jacir_-_from_paris_to_riyadh_drawings _for_my_mother.jpg/ Stand Abruf 01.06.14

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Jeddah Diary ist ein bebildertes Tagebuch, das die Londoner Photographin Olivia Arthur in der Stadt Jeddah/Dschiddah in Saudi-Arabien zu entwickeln und zu produzieren begann. Im Magazin »Fotos für die Pressefreiheit 2013« (Reporter ohne Grenzen) berichtet sie vom Zustandekommen des Projektes. Sie wurde eingeladen, einen Fotoworkshop für Frauen in Dschiddah durchzuführen. In Saudi-Arabien aber gänzlich eigensinnig und eigenmächtig ein Projekt zu planen und zu realisieren, schien ihr zunächst zwar verlockend, aber auch unrealistisch, da das Photographieren im öffentlichen Raum strengstens verboten ist und Darstellungen von Frauen ohne schwarzen Schleier nicht genehmigt werden. Insbesondere westliche Photographen sind in Saudi-Arabien wiederholt verhaftet worden, wenn sie auf offener Straße Aufnahmen machen wollten. Über die Organisatoren des Workshops vor Ort gibt Arthur wohl aus guten Gründen keine genauen Auskünfte. Bereits kurz nach Beginn des Workshops wird einer Teilnehmerin der weitere Besuch des Kurses von ihrer Familie untersagt, weil sie ihre Cousine – wie auch schon ihre Freundinnen – in knapper westlicher Kleidung portraitiert und auf ihrem Laptop der Gruppe vorgeführt hat. Die Photographin aus London wird in dieser Situation zugleich zur Feindin und Komplizin der Teilnehmerinnen. Ihre Funktion wirkt hier in Überlagerung ihrer Möglichkeiten zur Bildproduktion und Begutachtung, sowohl als Lehrerin wie als Gast, als Botschafterin, als Frau – wohl weniger als bleibende Freundin und Vertraute als vor allem als allein reisende, privilegierte Fotografin. Das Projekt von Arthur fasziniert zuerst, da es den abenteuerlichen und nicht ganz risikofreien Versuch darstellt, in einer bildtabuisierenden Welt – scheinbar ohne Kameras – eigene Sichtbarkeiten mit Hasselblad-Aufnahmen und überblendeten Reproduktionen von Digitalfotos zu produzieren. Die Idee der Überblendung der Papierreproduktionen entsteht erst im Austausch und im Einvernehmen mit den Abgebildeten: sie bestimmen mit, welche Bilder und Bildfragmente präsentiert und publiziert werden können105. Die von Arthur offerierten »Spiegelsplitter« suchen nach Vervollständigung in der Wahrneh105  |  Zitatverweis zur Titelphotographie-Reproduktion (Covermotiv Künstlerbuch Jeddah Diary): »So kommt es, dass man dem Mädchen auf dem Cover meines Buches noch beinahe in die Augen sehen kann, ohne dass sie wirklich zu erkennen wäre. Genau das bezeugt, so scheint mir, die beiden Seiten der saudischen Wirklichkeit. Als ich meinen saudischen Freundinnen diesen Effekt vorführte, zeigten sie sich zufrieden – jedenfalls fast. ›Ganz toll‹, meinten sie, ›aber kannst du nicht etwas mehr von ihren Augen zeigen, damit die Leute sehen können, wie schön sie ist?‹; Interview mit Olivia Arthur in: Fotos für die Pressefreiheit 2013/Reporter ohne Grenzen, S. 69

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mung des Betrachters. Die Gesichter werden zu Leerstellen und dirigieren den Blick auf Körper und Räumlichkeiten. Angesichts der Gegebenheiten vor Ort kann die Autorin auf diese Weise die verschiedensten Aspekte der alltäglichen Lebenswelt der Frauen in Dschiddah – am Tage unter Frauen und nachts in der Begegnung mit Männern – andeuten. Arthur fotografiert bei Tageslicht Häuser mit verhangenen Fenstern und Badestellen, die von hohen Mauern umgeben sind. In gewisser Weise erscheint das Leben an diesem entfernten Ort einfach strukturiert: Das Öffentliche und das Private präsentieren sich in Dschiddah als streng voneinander getrennt. Die Beobachtungen bestätigen zunächst scheinbar die üblichen Geschichten und Stereotype, wie sie in den Medien kursieren. Zum Teil schlagen sich diese Erwartungsschemata auch in den Aufnahmen der Magnum-Fotografin Arthur selber nieder, obwohl ihre Arbeiten nicht das Resultat eines direkten Auftrags sind. Ihr Buch dokumentiert und bezeugt am Ende Arthurs eigene Regie, Bildauswahl und Zusammenstellung. Gleichwohl sucht sie nach einem Weg, tiefere Einblicke in das Leben der Frauen zu gewinnen, mit denen sie in reger Kooperation ihr Buch produziert. Sie selbst jedoch verbirgt sich hinter den Darstellungen der Anderen, die – es sind alles junge Frauen – vermutlich spontan und situationsabhängig Aspekte ihres Lebens offenbaren. Vor allem aber handelt es sich bei den Teilnehmerinnen des Fotoworkshops um junge Frauen aus wohlhabenden Familien. Arthur selbst schließt sich aus den Bildern aus, zeigt sich nicht als anwesend im Geschehen. Ihre Anteilnahme und Sympathie äußert und zeigt sich in der Zusammenstellung eigener und gesammelter Textbeiträge zu den Aufnahmen in einer Umgebung, zu der sie sich selbst distanziert verhält und auch distanziert verhalten muss. Sicherlich möchte Arthur Konflikte mit der Religionspolizei vermeiden, um keine der Frauen ihres Projekts in Gefahr zu bringen. Arthur ist eine Reisende aus dem Westen, eine professionelle Touristin, bewaffnet mit einer Kamera, ein Kulturspion; sie erscheint zu einem Projekt und verschwindet dann wieder. Dementsprechend sind auch ihre vorsichtigen bis flachen Einsichten, die sie in ihrem Buch nur präsentieren kann. Spannend ist es dagegen, die Geschichte des Tagebuchs und – gemäß der ursprünglichen Motivation Arthurs – jene Spuren zu verfolgen, die auf eine Verschränkung der scheinbar fremden kulturellen Welten hinweisen. Das Tagebuch thematisiert, findet und zeigt kommunikative Praktiken mittels technischer Apparate, wie sie heute weltweit realisiert werden. Die beobachtete Welt in Dschiddah, die ohne Kameras funktionieren soll, schließt längst alle Möglichkeiten und Wirklichkeiten der digitalen Bilderstellung und neuzeitlichen Kommunikationsmedien ein.

5. Analysen zum Vormarsch der Computer technologie »Das Herrscherhaus repräsentiert die konservativste Form des Islam, den Wahhabismus, zugleich aber ist das Land sehr stark von seinem Bündnispartner USA beeinflusst. Es war genau diese Kombination, die meine Neugier geweckt und mich motiviert hat, mehr über das Land herauszufinden.«106 (Olivia Arthur)

Die Autorin begibt sich in einen Diskurs widerstreitender Kräfte und spürt ihren besonderen Neigungen nach: zur Fahrt im GMC Acadia, zum Einkauf im Hilfiger Shop, zu den Wartezeiten während des Blackberry-Messaging ihrer Studentinnen. Bei ihrem zweiten Besuch bringt sie die gleiche Digitalkamera mit, die auch die Teilnehmerinnen des Fotoworkshops verwenden. Im Vergleich zu den Hasselblad-Aufnahmen, die in interaktiver Aufmerksamkeit inszeniert und produziert werden, wirken die Schnappschüsse mit der kleineren Digitalkamera dagegen wie Spionage-Dokumente und sind natürlich nicht zur Veröffentlichung freigegeben. Sie werden aber am Ende im Einverständnis mit den Abgebildeten, teilweise überblendet reproduziert und präsentiert. Arthurs Buch berichtet von heimlichen Verabredungen der Frauen per Bluetooth-Verbindung mit Blackberry Phones, von Fahrern, die ihre Telefonnummern zur Verabredung aufleuchten lassen, von glamourösen Partys, wie wir sie uns in der Phantasie weiter ausmalen können, von Treffpunkten lesbischer Freundinnen und von unehelichen Schwangerschaften. Sie widmet sich den Spannungen im Vorfeld erhoffter oder auch befürchteter Ereignisse, wie sie in allen kulturellen Gemeinschaften an der Tagesordnung sind. Die vielen kleinen visuellen Andeutungen und Texthinweise kreieren eine Spannung, die allem Anschein nach den Kern menschlicher Begegnungen, insbesondere zwischen Männern und Frauen, an jenem Ort ausmacht. Hier beobachtet jeder jeden und versucht ihn mit seinen Blicken zu kontrollieren (»The most important thing, […] is what other people think.«107). Heute aber werden diese Formen der sozialen (Blick-)Kontrolle, welche die (globalisierten) Gesellschaften im Rhythmus unendlicher Wiederholungen bestätigen, formen und zusammenhalten, kulturübergreifend in wesentlichen Aspekten auf Facebook praktiziert. Allerdings erscheint die Person (lat. Persona; Maske des Rollendarstellers) auf dem Schirm nicht als das mit einem Schleier verhüllte Antlitz, dem man leibhaftig begegnen kann, sondern als selbst-optimiertes schwebendes Bild (Mobilfoto/Selfie). Auch in den globalen »sozialen Medien« findet eine Form der systematischen Verhüllung statt, indem das eigene Abbild und Profil marktkonform (im Sinne der User Group) modelliert und perfektioniert wird. 106  |  Fotos für die Pressefreiheit 2013/Reporter ohne Grenzen, S. 58 107 | Arthur, Olivia: Jeddah Diary, Eigenverlag Fishbar, London 2012, S. 5

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Die israelische Soziologin Eva Illouz untersucht die optimierten Bilder zur Selbstpräsentation im Netz und deutet sie als Dokumente und Beweise für die verkümmerten Gefühle im Kapitalismus. Der natürliche Körper sei nach ihrer Analyse eher misslich in der Netzkultur und ein Hindernis für das ungestörte Vergnügen bei der telematischen Interaktion. Illouz untersucht die Profilbilder auf den verschiedenen Portalen und bei den Online-Partnersuchdiensten. Die Probanden ihrer Studie erläutern, wie sie ihr Äußeres vor allem durch Diäten, Schönheitskuren und ein spezifisches Posing bei der Bilderstellung optimieren. Die Profilbilder müssen sich den schönen Beschreibungen der eigenen Person anpassen. Die Selbstpräsentation verlangt nach Illouz heute ganz offensichtlich ein Höchstmaß an Bewusstsein für die eigene physische Erscheinung, damit die Maske der Selbstpräsentation mit der trainierten Körpermaske beim gemeinsamen Maskenball auftreten kann. Der Körper wird dabei zur »Hauptquelle sozialer und ökonomischer Werte«108. Es geht darum, in der Konkurrenz zu anderen Darstellungen Likes zu sammeln und möglichst viele Matches zu erzielen beim automatisierten Partnerabgleich der Profile. Als Folge der Profilarbeit entsteht eine Differenz zwischen Realität und Projekt, die sich nach Illouz’ Studie beim ersten date mit dem »Foto-Schock« offenbart. Der physische Konfrontationsraum kann dem virtuellen dann keine Entsprechung mehr bieten. Nach Illouz’ Diagnose verursachen die digital visuellen Prozesse somit eine Störung verbaler und physischer Prozesse, indem sie Illusionen produzieren, die den Körper (und die Seele) verhüllen. Die Annahme, dass sich anhand der medialen Betrachtung verschiedener Kulturen eine Divergenz in der Repräsentation der privaten und öffentlichen Person feststellen ließe, kann auch mit Verweis auf Arthurs Reisebilder abgewiesen werden. Jede heranwachsende Person erprobt und präsentiert eine Maske und damit eine Form der Verschleierung. In jeder Kultur wird der »authentische, natürliche« Körper verborgen. Die jungen Frauen in Dschiddah sind in vielfacher Hinsicht von »Verschleierung« betroffen und im verheimlichten Doppelleben einem transkulturellen Maskenspiel unterworfen. Die vom kleidenden Schleier (Hidschāb) enthüllten Körper offenbaren bei Arthurs Partyschnappschüssen jenen Schleier der Schönheitsindustrie, als Folgerealität ökonomischer Interessen. Die illegalen Tanzveranstaltungen ohne Hidschāb, die wir als reproduzierte Mobilfotos in Arthurs Buch finden, zeigen eine von amerikanischen Dresscodes und Gadgets geprägte Welt, die hier keine Alternative als Raum des individuellen Ausdrucks bieten kann. Die pornographische Partywelt (Gucci-Designs/Tattoos/Piercings) trifft wie eine neuzeitliche koloniale Waffe auf eine Kultur, die allein wegen ihres Reichtums geschröpft

108  |  Illouz, Eva: Gefühle in Zeiten des Kapitalismus, Suhrkamp, Frankfurt a.M. 2006, S. 123

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werden will. Das erotische Verlangen, den Schleier zu entfernen, entspricht einer traditionsreichen kolonialen Blickrichtung, wie sie Dr. Bradford Vivian 1999 in seiner Schrift The Veil and The Visible historisch nachzeichnet: »For European colonizers, the enigma of veiled women – the inability to see and therefore to know what lay beneath the veils – became an incitement to see and therefore to know such women in a sexualized way. The visible in this case never began nor ended with an ideal spectator, but instead formed a highly public, and therefore rhetorical, network of knowledge-production about such women, which ultimately helped drive the engine of imperialism. […] Minh-ha (1997) adds, ›If the act of unveiling has liberating potential, so does the act of veiling. It all depends on the context in which such an act is carried out.‹«109 (Bradford Vivian)

Die global kursierenden Körperbilder veranschaulichen die verschiedenen Formen der Verschleierung. Der authentische, natürliche, gar unberührte (untouched) Körper – Träger der Seele – wäre allein noch der kindliche Körper, der somit in besonderer Weise geschützt werden muss; er verändert sich notwendig mit der Adoleszenz und mit der Übernahme der Rollen, die man gesellschaftlich einzunehmen beginnt oder die einem aufgezwungen werden. Die Maske (lat. Persona) soll dem Schutz der Seele dienen. Der Schleier oder die Maske der Schönheitsindustrie jedoch – wie etwa die amerikanische Maske, abgezogen von den Visagen der Fernsehstars und Prominenten – stellt die Person aus, lässt sie obszön aussehen, bereit zur Prostitution und Ausbeutung. Diese Annahme vertritt neben Illouz auch die philosophische Kritik Byung-Chul Hans hinsichtlich der heutigen Transparenzgesellschaft. Die Masken der Schönheitsindustrie, die die Körperbilder global aufstrebender Länder überziehen, lösen mit dem Zwang zur Selbstoptimierung eine Spirale der Erschöpfung (Burn-out) im privaten wie im öffentlichen Leben aus. In allen Gesellschaften werden dann aber auch ganz eigene Gegenbewegungen entstehen, die nach philosophischen, spirituellen wie künstlerischen Möglichkeiten suchen, um das Wesen der Person und der Gegenstände unter gewissen Bedingungen vollständig zu verbergen und um sich den Praktiken der Zurschaustellung und der Ausbeutung zu entziehen. »Angesichts des Pathos der Transparenz, das die heutige Gesellschaft erfasst, täte es Not, sich im Pathos der Distanz zu üben. Distanz und Scham lassen sich nicht in die beschleunigten Kreisläufe des Kapitals, der Information und der Kommunikation integrieren. So werden alle diskreten Rückzugsräume im Namen der Transparenz beseitigt. 109 | Vivian, Bradford: The Veil and the Visible; journal article western union communication 1999, Quelle: http://vpa.syr.edu/sites/default/files/downloads/Theveiland thevisible.pdf, S. 122, S. 131/ Stand Abruf 31.05.14

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Fotokunst in Zeiten der Digitalisierung Sie werden ausgeleuchtet und ausgebeutet. Die Welt wird dadurch schamloser und nackter.«110 (Byung-Chul Han)

Einige Kunsthistoriker versuchen den neuzeitlichen fotografischen Akt, ein Selfie 111 zu erstellen (Selbstportrait mithilfe eines Mobiltelefons) anhand der Entstehung des Selbstportraits in der Malerei zu erklären. Der Autor und Kunstkurator Bart van der Heide112 untersucht diese Verbindung, verlangt aber eine genauere Prüfung und Beachtung der Entstehungszeiten dieser unterschiedlichen Portraitbilder. Das frühe Selbstportrait wird mit den Malereien Albrecht Dürers und mit einer Geisteshaltung assoziiert, die den Menschen und seine individuellen Belange in den Mittelpunkt stellen, damit der Einzelne im prüfenden Blick auf sich selbst seine Fähigkeit zur Menschlichkeit entwickeln kann (Renaissance-Humanismus). Das Selfie wird heute als kommunikative Praxis eingesetzt, um es auf virtuellen Portalen wie Facebook zu zeigen und damit Likes zu generieren. Das Selbst setzt sich somit einer direkten Bewertung durch die virtuelle Gemeinschaft aus. Die Grundmotivation, ein Selfie zu machen ist es, in den sozialen Netzwerken wahrgenommen zu werden (Selfie-Outsourcing). Dort muss man sich seine Identität zuerst auf bauen, um sie dann permanent zu aktualisieren. Das erfordert Zeit, die bis zur Abhängigkeit (Selfie-Addiction) führen kann. Diese neue Form der Abhängigkeit wird anhand des Falls Danny Bowmann deutlich, der am Tag 200 Selfies von sich erstellte, bis er in eine psychiatrische Klinik eingewiesen wurde. Die Ärzte diagnostizierten ihm eine Dysmorphophobie: eine Störung der Wahrnehmung des eigenen Leibes. Die normalpsychologische Grundlage der Körperschemastörung ist hier ein falsches Konzept des Körperschemas. Die Nicht-Akzeptanz und Ablehnung des eigenen Körpers, will der Betroffene anscheinend anhand durch die sich selbst überbietenden und von Dritten positiv bewerteten Selfies

110  |  Han, Byung-Chul: Transparenzgesellschaft, Matthes&Seitz, Berlin 2013, S. 9 f 111 | Selfies sind Selbstportraits die zumeist von der eigenen Hand mit dem Smartphone fotografiert und versendet werden. Der Begriff wurde mit dem Aufkommen der Facebook-Profilbilder und Instagram-Smartphone Bilder geprägt. (Wikipedia: »Der Begriff Selfie wurde im Jahr 2005 von dem Fotografen Jim Krause diskutiert und folgendermaßen definiert: Ein Selfie ist eines dieser Bilder, wobei die Kamera auf sich selbst gerichtet ist.« Quelle: Jim Krause: Photo Idea Index, 2005. S. 148.); siehe auch Zeitleiste 2013 112 | Beitrag über das Selfie-Phänomen: Quelle: www.ardmediathek.de/bayern-2/ zuendfunk-generator-bayern-2?documentId=21141352/Webseiten-Beispiele: http:// selfiesatfunerals.tumblr.com/; http://selfiesatseriousplaces.tumblr.com/etc.;/ Stand Abruf 19.05.14

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überwinden (Bowmann: »This would not have happened if it was not in the media age.« 113). Die westliche Welt, die nach dem Krieg als soziale Marktwirtschaft eine Zeit lang scheinbar ausgleichend und schichtennivellierend funktionierte, maximiert heute wieder das Auseinanderdriften und den Anstieg der Ungleichheiten. Die ausgleichende soziale Marktwirtschaft schwindet und es verschwinden buchstäblich auch die Superreichen – im Ausland oder in inländischen eingezäunten Parallelgesellschaften. Mit der Wiederauferstehung des Almosen spendenden Kapitalismus schwinden damit auch die Vorstellungen von individueller Freiheit für jedermann im Übergang zu einem globalen, netzkommunikativen Wettbewerb, in dem das Individuum am Ende ungeschützt, aber allseitig beobachtet und kontrolliert zurückbleibt. Familiäre Verbindlichkeiten mit verlässlichen Anderen, intime Kommunikationen und der physische Konfrontationsraum sind in Gefahr sich aufzulösen. Byung-Chul Hans Aufruf zu Distanz und zum Rückzug des Individuums kann als die Befolgung einer künstlerischen Strategie gelesen werden: als Strategie des Defacement und des Refacement. Es handelt sich dabei um künstlerische Annäherungen an das Nicht- oder Un-Gesicht und um Realisierungen von Darstellungen anhand von Übermalung, Überzeichnung und Schichtung als Techniken der Akzentuierung, Pointierung, Verwandlung und Verfremdung. Das Anti-Portrait geht auf eine Kunsttradition zurück, die mit den Variationen der Entleerung, der Löschung und des Gesichtsentzugs der existentiellen Frage nach dem Menschenbild im Bild und im Nicht-Bild des Menschen umgeht. Als »wichtigste Initialzündung gilt die Poetik der ›Leere‹ Kasimir Malewitschs, an dessen Karriereende als Maler die berühmten Bauernbilder mit leeren Gesichtern […] stehen.«114 Demnach verweisen die Anti-Portraits Malewitschs auf eine »Zerstörung der bäuerlichen Welt durch Kollektivierung und symbolisieren mit dem Nicht-Gesicht den verschwindenden Menschen der Zukunft« (Judith Elisabeth Weiss). Das Schwinden einer gesellschaftlichen Lebensform und die Neuorientierung der Individuen an fremden Rollen können die Spaltung einer Person bewirken, die gezwungen ist, ihre Maske zu wechseln oder schutzlos in indifferenten sozialen Zonen zu wandeln. Bezüglich der Frauenbilder, die im Austausch zwischen den verschiedenen Kulturen erstellt und bearbeitet werden, dient eine aktuelle Serie von Zeichnungen der Künstlerin Heike Lydia Grüss als beispielhafte andere Strategie 113 | Quelle: www.dailymail.co.uk/news/article-2588364/Selfies-killed-Schoolboytook-200-photos-day-wanted-perfection-describes-addiction-drove-attempt-suicide. html/ Stand Abruf 17.06.14 114  |  Weiss, Judith Elisabeth: Defacement/Refacement. Löschung, Leere, Verlust. Titelartikel im Kunstforum, Bd. 216, Juli-August 2012, S. 73

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des Seelenschutzes anhand einer Praktik der Gesichtsradierung und Überzeichnung von Portraits. Als Vorlage nimmt Grüss sich der photographischen Portraits an, die von Ferdinand Freiherr von Reitzenstein 1913 im Buch »Das Weib bei den Naturvölkern. Eine Kulturgeschichte der Frau« veröffentlicht hat. Weiss kommentiert: »Dem Gesichtsverlust durch die visuelle Aneignung der Frau als Sehenswürdigkeit und ihre medialen Festschreibung als Aktmodell stellt die Künstlerin den buchstäblichen Gesichtsverlust durch Unklassifizierbarkeit entgegen »Dem Blick entzogene Gesichter deuten an, dass die Seele nicht angetastet werden darf. Das dabei mitschwingende mosaische Gebot, sich kein Bild zu machen, lässt sich auch auf die fremde Kultur als Ganzes beziehen.« (Zitat der Künstlerin Heike Lydia Grüss)«. Bei der vergleichenden Erforschung von Körperbildern in verschiedenen Kulturen wird deutlich, dass die Gebote des Zeigens und Nicht-Zeigens auf religiöse Bilderverbote Bezug nehmen – auch dann, wenn sie in scheinbar konfessionslosen Räumen (Kunstkatalogen, Galerien, Museen) kursieren. Der totale Rückzug des Individuums, der Gesichts- und Bildentzug als Konsequenz gegenseitiger Ausbeutung mag wiederum nur in denjenigen Gesellschaften möglich werden, die die Techniken der Ausbeutung des Selbst und anderer Kulturen erst bereitstellen. Indem sie diese Techniken erproben, ausweiten und durchsetzen, müssen sie als Folgehandlung der Erlernung dieser Techniken mithilfe neuer Techniken wieder unterbrochen, zerlegt und stillgelegt werden. In Saudi-Arabien ist die Kontrolle und Klärung der weiblichen Rolle keine Aufgabe von Individuen, sondern die Aufgabe der Familie, des Clans, mitunter sogar eine Staatsangelegenheit. In Jeddah Diary machen Arthurs Tagebuchnotizen und die Briefe der jungen Frauen deutlich, dass das Gebot, den Körper unter einem Schleier zu verhüllen, letztendlich einem willkürlichen Gebot der Elterngeneration folgt. Natürlich weiß jede heranwachsende Generation die Gebote der Eltern zu durchbrechen und dafür jeweils ihre eigenen Wege zu finden. Sicherlich können sich die jungen Frauen wohlhabender Familien in dieser Sache mehr Freiheiten erlauben als die jungen Frauen nicht wohlhabender Familien. Die Grenzen der Freiheit in Dschiddah stehen und fallen zugleich mit der willkürlichen Entscheidung über das Strafmaß bei Überschreitung der Gebote. In welcher Weise die wahhabitische Lehre (wie auch die sunnitische Organisation) auf das Rechtssystem in Saudi-Arabien Einfluss nimmt und mithilfe der Religionspolizei umgesetzt wird, kann im Detail nicht Gegenstand dieser Untersuchung sein. Die auffälligen Praktiken der schwarzen Übermalung von Frauenkörpern auf Produkt-Fotografiken verdienen aber einen festen Platz in meiner vergleichenden Untersuchung zu Verhüllung und Entbergung. In Saudi-Arabien werden diese Praktiken

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der Überzeichnung von Körperbildern nicht von Künstlern, sondern von Eltern und der Religionspolizei durchgeführt. In Arthurs Buch finden wir den Schnappschuss einer Produktaufnahme, auf dem ein Frauenkörper auf der Verpackung schwarz übermalt wurde115. Es handelt sich um die Verpackung eines importierten Produktes, welches zur Bewerbung eine Familie abbildet. Männer und Kinder bleiben allein abgebildet und neben den schwarz übermalten Flächen sichtbar. Frauen-Körperbilder werden in Dschiddah/SaudiArabien in dieser Weise übermalt, zensiert (un-)sichtbar, verdeckt. Diese Praktiken der Zensur entsprechen den alltäglichen, gängigen Praktiken mit Bildern in Saudi-Arabien, für die jedoch offiziell kein eindeutiges Bilderverbot gilt – weder gesetzlich, noch religiös. »Man täte sich schwer, wollte man im Koran eine ›Theorie des Bildes‹ oder zumindest eine klare Position hinsichtlich dieses Themas belegen. Wie hätte der Koran auch einen Bilderkult verbieten können, den es, aller Wahrscheinlichkeit nach, in Arabien nicht (oder so gut wie nicht) gegeben hat?«116 (Silvia Naef)

Die in Saudi-Arabien aufgewachsene Künstlerin Emily Jacir berichtet im Rahmen ihrer Arbeit Drawings for my mother (MOMA Collection/1999) davon, dass ihre Mutter im Flugzeug auf dem Wege von Europa in die Heimat alle Vogue-Exemplare für sie sammelt und die Flugzeit dazu nutzt, alle nackten Körperteile schwarz zu markern, um die Magazine später durch die Kontrollen bringen zu können. Diese Retuschearbeiten stellt Jacir – getrennt vom Originalbild (den Fashion-Fotografiken) – als schwarze Zeichenfragmente auf einer Serie kleinformatiger Papiere aus. Das Interesse an Mode und der Neigung anhand modischer Kleidung kurzfristige Äußerungen des Zeitgeistes spielerisch zu kommunizieren, entspricht dem allgemeinen Bedürfnis, den richtigen Ausdruck für die eigene Person zu finden. Die Erprobung der eigenen Person im Rollenspiel (Familie, Partnerschaft) ist besonders für heranwachsende junge Frauen interessant. So versucht auch die Mutter von Jacir einem Wunsch ihrer Tochter zu entsprechen, indem sie die Magazine für sie sammelt. Das Material ist im saudischen Alltagsleben durchaus nützlich: etwa beim gemeinsamen Shopping der Frauen, das auch in Dschiddah viel Zeit in Anspruch nimmt, wie man Arthurs Tagebuch entnehmen kann. Unter dem Schleier und in Räumen ohne den Schleier – an Frauen-Universitäten, zu Hause und auf illegalen Partys – tragen die saudischen Frauen die Kleidung der aktuellen Mode, wie sie überall zu kaufen ist. Die Abaya, als Mindeststandard der Verhüllung, ist heute selbst zu einem Modeartikel geworden: im

115 | Jeddah Diary, Olivia Arthur, Fishbar, London 2012, S. 46, S. 47 116  |  Naef, Silvia: Bilder und Bilderverbot im Islam, C. H. Beck, München 2007, S. 13

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Schmetterlings-, Oman- oder China-Stil, bestickt und mit Pailletten besetzt, kann sie hohe Preise erzielen. Wahhabitische Clans aus Saudi-Arabien sind im Ausland vor allem deshalb herzlich willkommen, weil ihre wirtschaftliche Potenz die Modebranche zu allerhand Sonderphantasien animiert. So werden in München ganze Einkaufsstraßen für den Besuch aus Saudi-Arabien konzipiert. Dazu werden auch die (halbnackten) Darstellungen westlicher Frauenbilder gerne aus dem Konzept genommen, um auch Kundinnen empfangen zu können, die möglicherweise gemeinsam mit ihrem Ehemann auftauchen. Der Kapitalismus ist wahrlich flexibler als jede Religion und jede Politik; er reagiert anpassungsfähig auf Kaufkraft und hochsensibel auf Käuferbedürfnisse. 2012 entfernt Ikea alle Frauenbilder aus dem Katalog für Saudi-Arabien, die zuvor nach westlichen Beauty-Standards retuschiert wurden. Auf einigen Webseiten kann man diese Katalogpräsentationen aus Schweden und Saudi-Arabien vergleichen. So sähe und sieht eine Lebenswelt aus, in der nur Männer und Kinder vorkommen und in der selbst die Designerinnen der vorgestellten Produkte verschwinden (Bildquellen Verweis J117). So wandern die komputierten Frauenbilder beim Kreuzen der kulturellen Grenzen rein und raus aus den Verkaufskatalogen. Beinahe liebevoll werden sie in Saudi-Arabien noch mit der Hand schwarz übermalt, bevorzugt mit einem schwarzen dicken Stift, notfalls aber auch nur mit mit dünnen Linien verkritzelt. Die saudischen handgefertigten »Retuschearbeiten« markern die Tabuzonen, die »aufreizenden« nackten Zonen der Fashion Bodies. Die westliche Moderetusche dagegen überzieht alle Körperbilder mit dem Schleier der Schönheitsindustrie; als Tabu gilt hier der »authentische, natürliche«, der unkontrollierte und der alternde Körper. Die Körperaufnahmen werden dabei postproduktiv nachkontrolliert, verformt und mit unsichtbaren Ebenen der Reinheit und robotierten Perfektion verkleidet. Die Schönheitsretuschen beinhalten das Entfernen von Muttermalen, Leberflecken, Arm-und Beinhaaren, aber auch das Verlängern von Beinen wie das Verkleinern von Händen und Füßen – kurz die Umwandlung zum synthetisch perfektionierten Körper – er wird zum Abbild seines Computerabbilds. In der Gebrauchsfotografie existiert heute kein Bild mehr, das nicht ein computermanipuliertes Körperbild präsentierte. Insbesondere Frauenkörper werden in der Nachbereitung mit einer digitalen Haut überzogen. Sie tragen 117 | Bildquellen Verweis J: Ikea Katalog 2012 Saudi-Arabien/Schweden, www.n-tv. de/wirtschaft/Ikea-zensiert-Frauen-fuer-Saudis-article7358871.html/ Stand Abruf 01. 06.14

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gleichsam einen digitalen Anzug und sind somit ebenso wenig »nackt« dargestellt. Zur abbildenden »Nacktheit« gehören gewisse tonwertige Unebenheiten, Härchen und Achselfalten und Zeichnungen von Knochen- und Fettpartien dazu. Dagegen wird mit der Postproduktion am Bild eine perfektionierte, glatte Oberfläche der Person simuliert, die einmal vor der Kamera stand. Diese neuzeitlichen, photographisch anmutenden Menschenbilder werden den vollständig künstlich simulierten 3D-gerenderten Körpern noch vorgezogen, denn die Identifikation erfolgt im Abgleich mit dem eigenen Spiegel- und selbstverbreiteten Profilbild. Erst wenn jeder über einen virtuellen Avatar, eine 3Danimierbare Figur kommunizierte, könnten gerenderte Abbildungen und 3DKörperdarstellungen zu neuen Identifikationsträgern werden. In der Vogue zeigen heute 90  % der weiblichen Modelle verlängerte Beine, manchmal verkleinerte Hände, Füße, Nasen und Ohren und vergrößerte Brüste. Diese Manipulationen entsprechen fast den realen Möglichkeiten von Schönheitsoperationen. Die Realität spiegelt heute keineswegs eine revolutionierte und kultiviertere Form von der Schönheit und Gesundheit des Körpers. Der so manipulierte Mensch gleicht eher einem Abbild vom Abbild, einer lebenden Collage: Schließlich lässt sich die Haut im Gesicht operativ glätten, nicht aber am Hals. Behandelte Botox-Partien wirken prall und glatt, die fettabgesaugte Bauchdecke aber wird uneben. Die Prominenten führen uns seit einiger Zeit vor, wie ungleich sich ihre Körperteile in Hochglanz-Fotografien einerseits und in Boulevard-Medien andererseits widerspiegeln. Die Hochglanz-Fotografie vermag durch erneute Bildbearbeitung die operierten Körperteile den nicht operierten harmonisch anzupassen. Viele Bilder der Tagespresse und der illustrierten Magazine (Paparazzi-Material) lassen jedoch keine aufwendige Postproduktion zu. Dort können wir dann die alternden Collage-Körper von Madonna oder Sylvester Stallone betrachten und die Folgebilder zeigen die Details: dort wischen faltige Finger die Tränen von allzu glatten Wangen; auf dem roten Teppich gedopte Muskelmassen, daneben ein Paar kostspielige Implantate auf gleicher Höhe; unter dem Rocksaum die Füße – wund und geschwollen im hohen Schuh. Die Collagetechnik verwirklicht sich mit der Schönheitschirurgie, diese aber kann Naht- und Bruchstellen am physischen Körper nicht so perfekt tilgen wie die Fotografik es zeigt – es bleibt dabei, der Körper und nicht das Portrait altert (wie bei Dorian Gray). »The other is no longer an object of passion, but an object of production. Each individual repeats on his or her own body this (successful?) takeover of the feminine by masculine projection, and no longer as otherness and destiny. […] if it is a site of identification,

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Fotokunst in Zeiten der Digitalisierung then you have urgently to reconcile yourself with it, to repair it, perfect it, turn into an ideal object.«118 (Jean Baudrillard)

Der Wunsch nach Gleichberechtigung hat in den europäisch-amerikanisch geprägten Kulturen nicht zwangsläufig zu mehr Freiheit des Individuums geführt. Eine geglückte Individualisierung hängt nicht unerheblich davon ab, ob das Individuum auch frei kommunizieren kann und ein Leben in freiwilliger Gemeinschaft (neben anderen freiwilligen Gemeinschaften) gestalten und realisieren kann. Eine Kultur, die tradierte Erfolgsattribute der männlichen (Reichtum) und weiblichen Rolle (Schönheit) in popularisierten Darstellungen androgyner Hybridwesen vereint, ruft letztendlich ein Gefühl der Doppelbelastung bei beiden Geschlechtern hervor. Freiheit muss auch ein seelisch empfundener Zustand bei gegebenen sozialen Voraussetzungen sein, der sich anhand des Abbilds einer Person nicht beweisen lässt – aber anhand von Fotos wiederholt diskutiert wird. Am Diskurs um Körperbilder in unterschiedlichen Kulturen wird erkennbar, dass vorschnelle Annahmen über die Freiheit und Unfreiheit des Lebens von Frauen und Männern in anderen Kulturen am Erscheinungsbild nicht einfach abgelesen werden können: auch Abbilder müssen erst mehrfach entschlüsselt werden. Eine kritische, zeitintensive Dokumentarphotographie, die sich bemüht, die Distanz zum Anderen, zum Fremden zu verringern, wird derzeit von den nicht abreißenden aktuellen Bilderströmen und massenhaften Verbreitungen von Bildklischees überflutet. Zeitaufwendige Forschungen mit der Kamera werden von den Nachrichtenagenturen kaum noch gefördert, und eine reflektierte Dokumentarphotographie wird heute fast nur noch in Eigeninitiative produziert und bevorzugt in den Schaffensbereichen der Kunst- und Kulturförderung verfolgt und realisiert. Flussers Erwartung einer sich steigernden »Gegenseitigkeit« durch die Kommunikation mit synthetischen Bildern scheint sich in der heutigen Welt globaler Bilderfluten und harter ökonomischer Interessen nicht zu verwirklichen. Es sei denn, dass Flusser die heute schon realisierte telematische Kommunikation bereits als Einlösung seiner Hoffnungen verstanden hat. Seine Ausführungen gleichen aber häufig genug einem Flusser-Orakel. »Die Telematik hat Empathie als Basis. Sie vernichtet den Humanismus zugunsten des Altruismus.«119 Aus Äußerungen dieser Art muss nun jeder seine eigenen Schlüsse ziehen. Freiheit, im Sinne gegenseitiger Toleranz, entsteht im Respekt, im Mitgefühl und in der Anteilnahme am Leben des Anderen. Bei Barthes kann dieses Mit118 | Baudrillard, Jean: Screened Out, Verso, London 2002, S. 51 119  |  Flusser, Vilém: Kommunikologie weiter denken. Die Bochumer Vorlesungen, Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt a.M. 2008, S. 251

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gefühl bei der Beseelung bestimmter Photographien entstehen, beispielhaft bei der Betrachtung einer Amateurphotographie von seiner toten Mutter; oder aber beim Studium unintendierter Details dokumentarischer Bilder, die sich mit seiner persönlichen Perspektive verbinden. Sich seinen Zeitgenossen zu nähern, am Zeitgeschehen Anteil zu nehmen und so Distanzen zu überwinden, das sind genau die Motivationen, die Joel Sternfelds Photographie tragen. Nan Goldin und Wolfgang Tillmans erklären in den 1990 Jahren ihre eigene subkulturelle Szene zu ihrer Ersatzfamilie und erstellen in diesem Sinne Familienbilder als Spiegelbilder voller Intimität und Nähe. Mit dem Bestreben, das Abbild der Wirklichkeit des physischen Konfrontationsraums und des menschlichen Körpers zu perfektionieren, zu verjüngen, zu konfektionieren, wird das Noema des photographischen Aktes, ein Bild vom originalen Raum, vom »Gewesen« des Lebens und vom Menschen als »Seelenkörper«, als »auratischem Körper« zu versuchen, verspielt. Insbesondere die ökonomisierte Pressefotografie, die manipulierte Fotografik, das optimierte Selfie, die Modefotografie, die Prominentenbilder und alle konstruierten Konzeptfotografiken, die kriegsstrategische digitale Kontrollperspektiven aufgreifen, befeuern eine Bildproduktion, die gerade eine Distanz zur Wirklichkeit herstellen soll. Die spontane Anteilnahme bleibt eine unkontrollierbare Empfindung und mit dem physischen Körper als Seelenträger verbunden und letztendlich in ihm verborgen.

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6. Resümee 6.1 Ü bergangszeit Solange die Werbung und die Gebrauchsfotografie mit der Bereitstellung und Anwendung neuer Technologien und stilgebender Strategien schneller sind als die Kunst, wird sich die künstlerische Fotografie allein mit der Anwendung der digitalen Möglichkeiten kaum behaupten und von anderen kreativen Freizeitund Luxus-Spielereien auch kaum unterscheiden können. Das Internet hat uns mit einer Rasanz und Gleichzeitigkeit konfrontiert, die eine sofortige Zugänglichkeit sämtlicher Ereignisse und Phänomene (in Echtzeit) ermöglicht. Neue Begrifflichkeiten und visuelle Strategien werden ohne Verzug genreübergreifend von allen Disziplinen und den massenhaften privaten Alltagsanwendungen parallel ausgereizt. Die digitalen Infrastrukturen konfrontieren uns vor allem mit neuartigen Kommunikationsweisen. Tradierte Formen der linearen Beschreibung und Darstellung von Sachverhalten werden losgelöst von physischen Bedingungen mehrstimmig codiert, vernetzt und verbreitet. Diese Kommunikation geschieht körperfern, unkontrolliert, spielerisch und im Affekt. »Wir sind in der Tat ohnmächtige Zeugen des Untergangs des Bodens, aller Böden; und zwar zu Gunsten des Himmels und seines gasförmigen Zustands, in dem sich Wellen und Wolken tummeln, in dem Gewitter als meteorologische Figuren eines Himmelskörpers entstehen, dessen Festigkeit in der optischen Täuschung der Lichtgeschwindigkeit verschwimmt.«1 Die Geschwindigkeiten, mit denen die neuen Technologien in unseren Alltag (und den Kunstbetrieb) Einzug halten, unterlaufen den Zeitbedarf, den Publikum und Künstler brauchen, um diese Technologien zu verstehen, zu hinterfragen und sich anzuverwandeln. Nicht jeder Künstler ist (wie z.B. Gottfried Jäger) auch Ingenieur, Photograph und Theoretiker zugleich und damit auch in der Vermittlung seiner strategischen Kunst erfolgreich. Wenn die Autonomie der Photographie im technischen Zeitalter dennoch »nur eine technische

1  |  Virilio, Paul: Der Futurismus des Augenblicks, Passagen Verlag, Wien 2010, S. 53

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sein [kann] – oder sie wird nicht sein«2 – dann muss sich der Operator auch mit seinen Apparaten und Verfahren am Werk erklärend zu erkennen geben. Sollte dann ein Künstler, der mit der digitalen Fotografik arbeitet, nicht im besten Falle auch Informatiker sein? Die Beschäftigungen mit den Übergangstechnologien setzen uns permanent unter Druck und rauben uns auch die Zeit für die inhaltlich-konzeptionelle Entwicklungsarbeit und für existenziell fruchtbare Begegnungen. Die ständige Präsentation neuer digitaler Effekte gehört zur Strategie der Konzerne, die permanent um unsere Aufmerksamkeit ringen, uns ablenken, uns schwindelig und bewusstlos drehen. Gemeint ist eine kommerzielle Propaganda, welche die hypnotische Wirkung der ausstrahlenden Apparate zu nutzen weiß und ständig neue Geräte, Kanäle und Programme auf den Markt wirft. Es wird versucht, den Betrachter im Bann der schnell wechselnden Bildabfolgen festzuhalten. Stille Objekte – wie die Papierbilder im Ausstellungs- und Buchraum – laden dagegen dazu ein, eine wache eigene Imagination zu entwickeln. Der Betrachter wird hierbei selbst zum Medium. Die Interaktion zwischen (Papier-) Photographie und Betrachter folgt einem Innehalten und Abgleich des Bildes mit der eigenen Lebens- und Erinnerungswelt. Das stille Objekt wird vom interessierten Betrachter in forschender Anschauung beseelt und mit Bedeutung aufgeladen, so wie ein Gedicht durch sein Immer-wieder-gelesenwerden zwar an Information abnimmt, aber stetig an Sinn gewinnt. In diesem Sinne wird sich die Photographie weiter auf Papiermaterialien (mit der bewussten Zugabe von Weißräumen und Zwischenräumen) zeigen. Auch lässt sie sich – im Gegensatz zu digitalen Netzgrafiken – je nach Entscheidung des Photographen präsentieren, hängen, abhängen, archivieren, vernichten. Die Unterscheidung und Bedeutung der Technologien ist wichtig. Die »pure« photographische Aufnahme steht in einer Tradition des photographischen Materialabdrucks. Digitale Fotografiken, digitale Collagen dagegen stehen in der Tradition (medienreflexiver) Collagen, denen photographische Produkte als Ausgangsmaterial dienen (vgl. Heartfield, Gursky). Von zentraler Bedeutung aber sind heute auch die sozialen Praktiken und kulturellen Kommunikationsformen im Umgang mit Photographien und Computertechnologien. Kunst mit der Photographie wird auch kommunikativ in Bezug zu methodischen Beschreibungen im Ausstellungsraum verhandelt. Vielleicht muss der virtuelle Galerieraum für Netzkünstler erst existenziell wertvoll werden, um eine 2  |  Bernd Stiegler zu Flusser/Jäger in dem Vortrag: Gottfried Jäger: Fotograf der Fotografie – Berlinische Galerie 2014, Quelle: https://www.youtube.com/watch?v=OMDcx_ khYpo/Abruf Stand 26.01.15

6. Resümee

sinnvolle Alternative zur informativen Infrastruktur der Werbeportale darzustellen. Zur Zeit taugt der Netzraum kaum als vertrauenswürdiges interaktives Gefüge und eignet sich nicht zur Ausstellung von Kunst. (Hier werden vor allem künstlerische Lebensläufe und Profile (Images) generiert und präsentiert.) Das »unintendierte Detail« bleibt für die Photographie charakteristisch als der Nachweis eines »Es-ist-so-gewesen« (Barthes). Eine Photographie wird auch heute noch als das Erzeugnis einer momenthaften Aufzeichnung wahrgenommen, es wird die nur momenthaft mögliche wirkliche Simultaneität von »Welt« und »Beobachtung« festgehalten. Das Ereignis verschwindet sofort und ist nicht wiederholbar, das Bild ist nun die symbolische Gabe – es gibt uns diesen Moment wieder, wenn wir vom »Bild« absehen können. Innerhalb einer diskursiven Praktik kann es noch als Beweis verhandelt werden. Die erklärte Strategie des Operators wird dabei die einzig verlässliche Referenz zu dem, was wir »wirklich« sehen und sehen wollen. Die Aufgabe der tradierten Ausdrucksformen der Photographie bleibt es, vor allen Dingen Lebendiges, Historisches, Individuelles einzufangen und sichtbar zu machen und uns zur wiederholten Anschauung und »Beseelung« vorzulegen. Sie werden sich behaupten, wenn sie sich bewusst von den hybriden Electrobricollages (W. J. Mitchell) absetzen und angesichts der Computergrafikmodelle als methodisch andersartig präsentieren, weil sie auch anderes zeigen und mitteilen wollen. Als relative Konstante bleibt die analog-chemische Photographie im Kern noch ein Produkt der momenthaften Aufzeichnung und des Realkontakts. Der lichtsensitive Abdruck bedarf weiterer Ressourcen, um präsentiert werden zu können. Die Buchseite und die Hängung im Ausstellungsraum erzeugen ihre eigene Stille, ihr ganz eigenes soziales Setting. Der interessierte Betrachter kann – wie in der Zeit des Buchdrucks – in Ruhe vom buchstäblichen Schauen zur Lektüre des Bildes übergehen. Der Betrachter füllt mit seinen Imaginationen und Interpretationen die Zwischenräume zwischen den Spuren und Zeichen auf, bis das Bild des Anderen zum eigenen anderen Bild wird und im rekursiven Bildergedächtnis sich mitbewegt, aufrufen und umordnen lässt: das Bild des Autors, das Bild des Betrachters, das Bild in der Hängung, das Bild unter Bildern in der Kommunikation. Die digitale Fotografik hat sich bereits von den Möglichkeiten des Abdrucks und Realkontakts mit der Außenwelt gelöst. Sie existiert schwebend als fragile, flüchtige Datenmenge, die sich multimedial interpretieren lässt. Die digitale Fotografik erzwingt heute nicht nur, sich mit den neuen Technologien zu beschäftigen, sondern vor allen Dingen eine kritische Haltung zu den alltäglichen Manipulationen von Informationen einzunehmen. Weil das so ist, kann auch die künstlerische Fotografie heute nicht einfach in der Tradition des

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»schönen Scheins« fortfahren und Täuschungs- und Technospiele aufführen und wie die Werbung und die Bankberater die Kunden strategisch mit vergifteten Lichtbildern hinters Licht führen. Würden die Künstler in der Maske der Falschmünzer und Magier auftreten und bekennen: »wir lehren Euch das Falschnehmen«, nur dann würden sie ihren Auftrag und Beitrag zum Wahrnehmen wiederum erfüllen. Die Fotografie ist nur eines der Medien multimedialer Künstler. Ihre lichtsensitive Struktur transformiert sich mit der Digitalisierung zur synthetischen Zahlenmenge, womit sich Prosa und Mathematik gegenüberstehen. Chemische Prozesse werden hierbei durch Algorithmen ersetzt. Die totale Fusion unseres Nervensystems mit den Maschinensystemen bleibt noch nur ein unheimlicher Traum. Kein Photo entsteht, ohne eingerichtet zu werden. Auch Webcams und Satellitenkameras werden eingerichtet und deren Bilderzeugnisse von Menschenhand kontextualisiert. Mechanik und Organismus stehen sich weiter gegenüber (»Es gehört zu einer der menschlichen Gewissheiten, dass Ding und Seele zueinander divergent sind.«3). Die menschliche Navigation und Aufmerksamkeit folgt noch den unberechenbaren Emotionen. Auch der menschliche Körper bleibt von ihnen beeinflusst. Die Darstellung von Computersimulationen auf kristallinen Flächen scheint noch in der abstrakten, schwebenden Sphäre festzuhängen. Aktuelle Versuche mit 3D-Druckern können Formen der Versinnlichung anbieten, die sich zu diesem Zeitpunkt kaum von billigem Kinderspielzeug unterscheiden lassen. Immer noch steht die Qualität digitaler Raw-Daten – ihre Pixelreihungen in diskreten Stufen – der Auflösung und Lichtkontingenz großformatiger Negative nach. Die Generation nach der Übergangsgeneration wird sich weniger mit der Klärung der Strukturen (analog/digital), sondern wieder mehr mit einer Klärung der Bedeutung der Bildkommunikation beschäftigen (»Techno-Imagination«), die traditionell auf Interaktion und Spiegelung beruht und sich erst mit der Arbeit am Monitorraum vor allem als selbst-potenzierende Kommunikation zu erkennen gibt. Die künstlerische Fotografie bedarf nicht der digitalen Technologien, muss sie aber einschließen, muss sie spielerisch erproben und austesten und auch gegen sie selbst einsetzen, gerade auch um Computertechnologien und ihre Manipulationsmöglichkeiten zu thematisieren, zugänglich und durchsichtig zu machen. Es könnte sogar nötig werden, die Kontrollprojekte in der Gesellschaft zu durchkreuzen und die Kontrolleure selbst mit ihren eigenen Mitteln zu kontrollieren. Manchmal muss eine solche Strategie illegal sein, muss sich 3  |  Dany, Hans-Christian: Morgen werde ich Idiot. Kybernetik und Kontrollgesellschaft, Edition Nautilus, Hamburg 2013. S. 42

6. Resümee

aber dann vor der Öffentlichkeit erklären und kann versuchen, mit der Legitimation »Freiheit zu schaffen« selbst freigesprochen zu werden. »Kunst ist eine Praxis der Freiheit« (Georg W. Bertram). Strategien der Aneignung haben derzeit Konjunktur (Appropriation Art, Mash-up Art). Das Urheberrecht – ein juristisches Tool – versucht Werke und Bilder vor der reinen Kopierarbeit zu schützen, die vor allem im europäischen Kontext nicht als Eigenleistung anerkannt wird. Ideen und künstlerische Konzeptionen bleiben dabei außen vor und können nicht geschützt werden. Sie können nicht nachweislich an eine individuelle Schöpferkraft gebunden werden. Schon immer haben sich Künstler wie Wissenschaftler aufeinander bezogen und Schaffensprozesse im Austausch vorangetrieben. Die Strategien der Aneignung können in kooperativer und freundschaftlicher Weise geschehen. Das Misstrauen gegenüber der Informationsverbreitung im Netz resultiert aus einem Gefühl der permanenten Aneignung und feindlichen Entwendung und einem Gefühl des zunehmenden Kontrollverlustes und des Getriebenseins. Das ohnehin nur gebrochene Vertrauen zur neoliberalen Freiheit des Selbst schwindet mit der Auslöschung realer Existenzebenen und der Auflösung von Begegnungs- und Kooperationsräumen. »In den letzten Jahren wurde zunehmend deutlich, daß die Strategie der Aneignung keine besondere Einstellung zu den Verhältnissen der zeitgenössischen Kultur mehr bezeugt. […] Wenn alle Bereiche der Kultur diesen neuen modus operandi anwenden, dann kann er selbst nicht als Ausdruck von besonderem Nachdenken über die Kultur genutzt werden.« 4 (Douglas Crimp)

Gegenwärtig sind es die täglichen Informationen über die Abhörmethoden der NSA und speziell die Enthüllungen der gejagten und »exkommunizierten« Whistleblower, die die totale Kontrolle und das Ende der Demokratie im Netz als unsere nahe Zukunft bereits bezeugen. Viele kritische Veröffentlichungen in kultur- und geisteswissenschaftlichen Disziplinen berichten vermehrt von der allgemeinen Ermüdung und diffusen Hintergrundempörung in der Kontrollgesellschaft. Die Open-Source-Faszination der digitalen Revolution scheint beendet. Die freie kreative Arbeit mit den digitalen Medien wird nun begleitet von der unheimlichen Vorahnung, ausgehorcht, gesteuert und schon morgen kriminalisiert zu werden, wenn man den AGBs und Zahlungsbedingungen der Software-Anwendungen nicht mehr Folge leisten kann – sich gleichzeitig jedoch von deren (freiberuflicher) Nutzung abhängig gemacht hat. Mit der Einführung der Adobe Creative Cloud 2014 wird der eigene professionelle 4 | Crimp, Douglas: Die aneignende Aneignung (1982), in: Kemp, Wolfgang/v. Amelunxen, Hubertus: Theorie der Fotografie Band 1-4 (1839-1995), Schirmer/Mosel, München 2006, Band 4, S. 250

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Arbeitsplatz beinahe vollständig zum Eigentum Adobes umgebucht. Softwares funktionieren ab jetzt also nur noch nach Ankauf von Lizenzschlüsseln für kurze Laufzeiten. Nach deren Ablauf wird die Software automatisch abgemeldet – der eigene Arbeitsplatz also funktionsunfähig, unbrauchbar. Zuvor war es noch möglich, mit einer käuflich erworbenen Software als seinem Eigentum bis zum Ende der Hardware weiterzuarbeiten. Der eigene Computer wird nun also zu einer Hülle für einen Arbeitsplatz, den man monatlich bezahlen muss. So gibt es bald für alles ein Abonnement – nur nicht für den eigenen Lohn. Es scheint, als müssten Alternativen für Künstler auch von (programmierenden) Künstlern geschaffen werden. Die noch bekannten traditionellen analogen Technologien und ihre Interaktionsformen werden damit wieder attraktiv und erinnern an verlorene Spielräume, Räume zum Atmen und Momente der Autonomie. Die Arbeit der sogenannten Becher-Schüler zeichnet sich durch eine serielle Produktion von großformatigen Museumsbildern aus. Vorbilder lieferten dafür die erfolgreichen Werke der Malerei-Klassen der Düsseldorfer Akademie. Gursky und Ruff entziehen sich bewusst einer kritischen Betrachtung des zeitspezifischen Kontextes, in dem ihre Bildwerke stehen. Diese Übergangsgeneration bietet sich mit einem immensen Zeitaufwand als Testgeneration amerikanischer Konzerne und marktorientierter Ingenieure an. Digitale Fotografiken und Computergrafikmodelle faszinieren uns in ihrer Abstraktion und in Anmutung an photographische Vorbilder. Ihre glamouröse Oberfläche und deren Brillanz liegen den aktuell möglichen high-end-Berechnungen und Ausgaben zugrunde. Bei der konzeptionellen Malerei entspringen die Motive der reinen Vorstellung (chimärische Referenz); man könnte übertreiben und wie in der KonzeptMalerei von »Gedankenkunst« im Gegensatz zur »Augenkunst« sprechen (Sol LeWitt). In den konzeptionellen digitalen Fotocollagen von Gursky wird nichts mehr dem Zufall überlassen, alle Details werden konzeptkonform und gemäß der Raumkonstruktion ersetzt, umgebaut und ständig bis zur Perfektion kontrolliert überarbeitet. Der Referenzraum solch photographisch anmutender, digital collagierter Bilder ist kein Raum in der physischen Welt, sondern ein graphisches Phantasma, ein Bühnenbild aus der Innenwelt mit Spielelementen aus der Außenwelt und dadurch eine photographisch anmutende Weltkonstruktion. Die photographische Spur dagegen ist die Mitteilung aus einem Leben im Wissen um den Tod und die Endlichkeit des Lebens. Baudrillard schreibt: »Wenn ich von einem Ort spreche, dann deshalb, weil er verschwunden ist. Wenn ich von einem Menschen spreche, dann deshalb, weil er schon tot ist. Wenn ich von der Zeit spreche, dann deshalb, weil sie schon nicht mehr ist. […] Genau dies fehlt dem Digitalen: die Zeit des In-Erscheinung-

6. Resümee

Tretens, ohne die das digitale Bild nur noch ein zufälliges Segment der universellen Verpixelung ist, die überhaupt nichts mehr zu tun hat mit dem Blick oder mit dem Spiel des Negativs und der Distanz.«5 In der klassischen Zeit der Photographie war man davon getrieben, Motive zu sehen statt sie zu denken, zu konzipieren. Wahrnehmungen sind Spezialformen des Bewusstseins, folgen Intuitionen oder szenischen Erfahrungen. Wahrnehmungen, auch bloß innere Wahrnehmungen, führen ihr Eigenleben, wie es Träume und Traumata zeigen, sie vagabundieren neben der Sprache, werden aber auch verfolgt und eingefangen von der Sprache, um dann von der Sprache dirigiert zu werden. Die Photographie ist selbst eine Erfindung des Zufalls, wie Daguerre die Entstehung erster chemischer Abdrucke zu beschreiben wusste. Photographie hält auch das fest, was wir nicht sehen; der Zufall führt hier mit Regie. Die Photographie, die wir in der photochemischen Epoche zu lieben gelernt haben, geht vor allem dieses Wagnis ein: dem Zufall zu begegnen. Arbus, Eggleston, Sternfeld, Goldin, Tillmans – um nur eine sehr kleine Auswahl bekannter Photographen zu nennen – sie alle haben sich mit Photographien als Botschaften und Mitteilungen aus ihrem eigenen Leben beschäftigt. Einige haben als »teilnehmende Beobachter«6 ihre photographische Feldforschung im benachbarten, vertrauten Umfeld betrieben. Sie alle bezeugen, dass Kontrolle dem Zufall entgegensteht. Zur photographischen Methode führt die Photographin Judy Linn aus: »Wenn Sie die Technik einmal beherrschen, denken Sie nicht mehr darüber nach. Man muss vorbereitet sein, aber gleichzeitig offen für neue Entdeckungen. Ohne das erzeugt man tote Kunst. Sie sollten einen Film eingelegt haben, ihre Kamera kennen, einen Hintergrund haben, aber dann lassen Sie es passieren.« 7 »Alles Wirkliche ist zufällig.«8 Der Mensch ist kein planbares Programm. Die Ungewissheit chaotischer Reaktionen beschäftigt gegenwärtig Künstler wie Wissenschaftler. Kontrolle bedeutet immer auch, versucht zu sein, den eigenen Vorteil auszureizen. Dem Zufall steht die (eigennützliche) Komputation 5 | Baudrillard, Jean: Warum ist nicht alles schon verschwunden?, Matthes & Seitz, Berlin 2012, S. 5 6 | Der Ausdruck der »teilnehmenden Beobachtung« ist als grundlegend neue Methode der ethnologischen Feldforschung entwickelt worden von Bronislaw Malinowski (1884-1942), die ihn berühmt gemacht hat. Siehe Taussig, Michael: Durch Farbe segeln, in: Die Tropen. Katalog zur Ausstellung, Berlin 2008, S. 295 7 | Quelle: www.art-magazin.de/fotografie/45096/judy_linn_interview/ Stand Abruf 2013 8 | Mauthner, Fritz: Beiträge zu einer Kritik der Sprache; Bd. 3: Zur Grammatik und Logik (1901/02, 1913), Reprint Frankfurt a.M., Berlin, Wien 1982, S. 576.

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von Wahrscheinlichkeiten gegenüber. Die »Freiheit gegen den Apparat zu spielen« fängt im Bewusstsein an und kann sich mit der Kunstpraxis und im Leben versinnlichen, indem humane Freiräume erforscht, gefunden, ausgeweitet werden. Der Computer ist zwar das interessanteste der neuen Werkzeuge der letzten Jahrzehnte. Doch ist es vielleicht nicht das Hardware-Software-Modell amerikanischer Konzerne, das den Künstler von morgen interessiert, sondern die Möglichkeit, Schaltkreise und Speichermodule dem eigenen Kunstwerk und seinen Entstehungsprozessen zu unterwerfen. Vilém Flusser ruft auf, »gegen den Apparat zu spielen«, und meint damit, sich alle technologischen Möglichkeiten im Sinne der Freiheit und Gegenseitigkeit nutzbar zu machen. Das Netz und seine Verzweigungen vermögen alle menschlichen Beobachterperspektiven aufzurufen, zu variieren und zu kombinieren und eröffnen alle möglichen Wege globaler Kommunikation. Umso wichtiger scheint es, diejenigen Programmierer zu unterstützen, die sich als autonome Strukturgeber und Schreiber des Netzes zu erkennen geben und unabhängig von Konzerninteressen tätig werden wollen. Noch warten wir auf die Entwicklungen der (im Exil lebenden amerikanischen) Programmierer, die es sich zuerst zur Aufgabe gemacht haben, einige sichere Anonymisierungs-Softwares9 zu konstruieren, um die Freiheit im Netzraum und autonome Datenströme sicher zu machen. Gespannt warten wir auf Netzkünstler, die den Algorithmus so zu beherrschen wissen wie andere die Farbe mit dem Pinsel. »Technik ist, in Heideggers Worten, ein ›Herausfordern, das an die Natur das Ansinnen stellt, Energie zu liefern, die als solche herausgefördert und gespeichert werden kann.‹ […] ›Das Wesen der Technik bedroht das Entbergen, droht mit der Möglichkeit, daß alles Entbergen im Bestellen aufgeht und alles sich nur in der Unverborgenheit des Bestandes darstellt.‹«10 (Heidegger/Fried)

Bei allen unübersehbaren Unterschieden lassen sich beide Autoren – Barthes, Flusser – zu Beginn ihrer Karrieren in Nachfolge phänomenologischer (Husserl) und fundamentalontologischer (Heidegger) Reflexionen – Intentionalität, Noema, eidetische Variation, geworfener Entwurf, Stoß/Punctum, Unverborgenheit – verorten, dann aber gabeln sich ihre Wege. Barthes’ Reflexionen verbleiben im Rahmen der Heideggerschen Fundamentalontologie, deren Leitbegriffe die endliche menschliche Existenz, das Menschheitsrätsel des Todes, die 9  |  Quelle: https://www.torproject.org/ Stand Abruf 12.04.14 10  |  Heidegger, Martin: Die Frage nach der Technik, Neske, Pfullingen 1954, in: Fried, Michael: Warum die Photographie als Kunst so bedeutend ist wie nie zuvor, Schirmer/ Mosel, München 2014, S. 14, S. 63, S. 34

6. Resümee

Sorge um die eigene Zukunft (geworfener Entwurf) und das Selbstverständnis des Menschen in seiner Geschichtlichkeit sind. In genau dieser Welt ist die analoge Photographie mit ihren momenthaften Weltkontakten und ihren aufzeichnenden und bewahrenden Zeitbildern beheimatet. Der Photograph – im Sinne Barthes’ – ist nicht der kalte Beobachter, wie ihn die Wissenschaften fordern, er ist Zeitgenosse, Mitlebender, durch den die Sorgenmassen seiner Zeit hindurchlaufen und der nach dem einzigartigen Du Ausschau hält, das auf seine Weise sich in dieser Welt entwirft und seine Form findet und im geglückten Fall in sich steht. Für Barthes hat die zerbrechliche Photographie mit »der Schwierigkeit des Existierens, die man Banalität nennt«11 selbst zu tun. Barthes imaginiert im Blick auf die Photographie eine auch für ihn »unmögliche Wissenschaft vom einzigartigen Wesen«12, wohl wissend, dass wir alle eher Kopien von Kopien und Darsteller von Posen als authentische Eigenschöpfungen sind. Barthes fahndet nach der Lücke, in der sich im Photo für ihn die »Wahrheit« entbirgt, um sich zugleich wieder zu verhüllen, denn die Wahrheit ist kein Faktum, sondern ein Geschehen, ein Ereignis, das erscheint und sofort wieder zerfällt (Momentum). Das geglückte Photo hat dieses Momentum festgehalten. So sehr das Photo auch vom wachen Operator und seinen Vorkehrungen abhängig ist, so schreibt sich das momenthafte Weltereignis selbst als Abdruck in den Film ein, erstarrt zum Zeitbild, während es als Ereignis selbst schon wieder verschwunden ist. Flusser dagegen operiert im Horizont der mathematischen Spieltheorien und der modernen Natur- und Informationswissenschaften, die den konkreten Sachverhalten und ihren ontologischen Konzepten nicht mehr trauen (wenn sie ihnen auch im Alltag unvermeidlich folgen müssen) und alle primären Evidenzen destruieren und innerhalb des Möglichen zu Neukombinationen zu gelangen. Die Wissenschaften zersetzen, »zerklauben« (Flusser) alles bis in die kleinsten Teile – Atome, Elektronen, Zellen, Zellkerne, Pixel – und die Operatoren bewegen sich apparategestützt in unsichtbaren Welten und feiern ihre Projekte im Lichte bereits realisierter Möglichkeiten: Man denke nur an die Biogenetik, die Genomentschlüsselung, das Klonen, die Stammzellentherapien, aber auch an Schönheitsoperationen nach entworfenem Design, an die »kalkulierten vergifteten Papierpakete der Banken«, die per Mausklick in der Welt zirkulieren, Staaten und Firmen in die Insolvenz treiben, und an die Drohnen, die dank bildgebender Verfahren das »Gottesurteil« in die Wohnungen bomben. Voreilig feiert Flusser die Befreiung von der Geschichte in einem Atemzug mit der Befreiung vom festen Ding und von den tradierten Seinsgewissheiten – und all dieses noch als die Befreiung für bessere Zukünfte. Aber ohne feste 11  |  Barthes, Roland: Die helle Kammer, Suhrkamp, Frankfurt a.M. 1989, S. 29 12  |  Barthes 1989, S. 81

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Dinge und ohne Gewissheiten auf Zeit könnten Menschen kaum vertrauensvoll kommunizieren und überleben. Auch die Geschichten der Vergangenheit werden wir nicht los. Für Flusser spielen die bildgebenden Verfahren in der Mikrobiologie, Astrophysik, Biogenetik, Meteorologie die zukunftsweisende Rolle, denn sie machen Sachverhalte sichtbar, die dem menschlichen Auge völlig unzugänglich sind und die auf keine andere Weise aus der Unsichtbarkeit in die »Lichtung« (Heidegger) hineingeholt werden können. Algorithmengesteuerte kombinatorische Projektionen im Möglichkeitsraum, und das Mögliche soll das Reale werden; woher aber nehmen wir dann das sinnvolle und lebbare Reale? Werden im Hintergrund schon die Wunschautomaten gefüttert mit all den käuflichen Wünschen und Waren, die bei Facebook, Twitter, Google schon sortiert (und jedermann als seine Wünsche zurückgespiegelt) und bei Amazon und Alibaba bereits gestapelt werden? Flusser setzt auf Kreationen in einer offenen Zukunft ohne bewahrende Anknüpfung an die Tradition. Aber noch hat keiner gezeigt, wie man von Strukturen, Grammatiken, Algorithmen zu sinnvollen Ereignissen kommen kann. Können so digitale Projekte am Ende nicht nur Collagen aus den Klischees der Archive sein? Ferner thematisiert Flusser nicht die rasch eintretende fesselnde Wirkung eigener Festlegungen und das Sichfestlaufen in selbstgesteuerten Projekten und Gebilden und das überall zu beobachtende Befeuern der Gewaltweitergaben. Ist das nicht längst das Signum der Zeit, dass überall die Gesellschaft auf sich selbst stößt und sich in ihren eigenen Artefakten und Widerständen festläuft? Der Überschuss an Sinnofferten zwingt uns in der Unruhe zur Suche nach Sinn, der immer wieder nur auf Zeit uns tragen kann und immer nur die nächsten Schritte uns gehen lassen wird. Die Fotografie als Kunst ist nicht entlassen aus dem Projekt des selektiven Umgangs mit den Bilderfluten und dem Überschusssinn (Luhmann) und der Erprobung neuer, stets riskanter Kulturformen des Ins-Bild-Setzens und der Anschauung von Welt im Wechselspiel von Entbergung und Verbergung, Transparenz und Intransparenz. Referiert die Kunst aber am Ende nur noch auf sich selbst ohne wachen Weltkontakt und führt sie nur noch ihre eigenen Mittel vor, dann wetteifert sie mit den großen Spielen in den Arenen, den Events in den Spielhallen und den Einkaufsoperetten auf den schwimmenden Kreuzfahrtschiffen – den nomadisierenden Kleinstädten – umzingelt von den fahruntüchtigen Schiffen der Flüchtlinge.

6. Resümee

6.2 A usblick »Die Erfindung der Photographie hat den alten Ausdrucksformen einen tödlichen Schlag versetzt – sowohl in der Malerei wie in der Dichtung, in der das automatische Schreiben, mit dem man gegen Ende des 19. Jahrhunderts begann, eine wahrhaftige Photographie des Denkens ist.«13 Kann man den prophetischen Abgesang André Bretons fortsetzen? Hat am Ende des 20. Jahrhunderts die Computerindustrie nun der Photographie einen tödlichen Schlag versetzt, indem sie ihre Struktur ins Digitale überführt und damit den Akt des Photographierens den algorithmischen Prozessen unserer modernen Kommunikation mit Schriftdateien und Bildgrafiken unterordnet? Aber Malerei und Dichtung erfreuen sich weiter einer ungebrochenen Vitalität. Es ist noch ein Spiel mit einem offenen Ende, wie sich jeweils die photographischen und die photographisch anmutenden Bilder in der Zukunft positionieren werden. Die photochemische Photographie kann sich noch in einer gewissen Distanz zu den neuen Infrastrukturen als Kunstform behaupten; weicht sie damit aber nicht auf Nebenschauplätze aus, oder kann sie im Zuge ihrer eigenen Neufindung von dort aus einen kreativen Austausch für die Zukunft anstoßen? Künstler-Photographen präsentieren ihre »puren« Aufnahmen weiter als kleinformatige Papierzeugnisse in Galerien und Buchräumen, und gleichzeitig präsentieren Künstler-Fotografiker im Museum ihre digitalen Fotografiken und Renderings als collagierte und synthetisierte Gebilde – großformatig gedruckt, projiziert, selbstleuchtend. Die Operatoren, Kuratoren und ihre Beobachter betreten dann gemeinsam die Agenda zu offenen Wahrnehmungsabenteuern. Bei Offenlegung ihrer Technologien, Perspektiven und Standpunkte entwickeln und kultivieren sie Diskurse, um der Wahrheit und Wirklichkeit von Bildern in der Kommunikation Geltung zu verschaffen. In solchen Diskursen und Recherchen können Neugierde und Anteilnahme stimuliert und lohnende (medienreflexive) Kommunikationen zwischen den Zeitgenossen zum Zeitgeschehen und zu den Sorgen um die Weltzustände realisiert werden. Trotz all der regen Bemühungen um einen Diskurs über Wahrheit und Autonomie der Photographie werden die Präsentationen der Übergangsphase längst von der Sorge begleitet, »dass die Fotografie als das dominante visuelle Medium in einem Maße gesellschaftlich vereinnahmt wird, dass sie zu ihrem eigenen Wesen: der Entdeckung und des Begehrens des Ungesehenen, nicht

13 | Jaguer, Edouard: Surrealistische Photographie. Zwischen Traum und Wirklichkeit, DuMont Buchverlag, Köln 1984, S. 3

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mehr gelangen kann«.14 Nicht nur die verwirrende Masse an zirkulierenden Global Images von Privatpersonen und Agenturen tragen zu dieser Sorge bei; es sind auch die Bestrebungen eines entfesselten Kunstmarktes, der vor allem in der Übergangsphase die neuen Bildwerke als Anlagen anbietet und die verschiedenen Bildformen undifferenziert ausstellt. Im Nebeneinander der verschiedenen photographischen und computergrafischen Bildformen wird dabei auch versucht, die tradierte analog-photochemische Photographie unter Absehung von ihrer kulturellen Bedeutung allein auf ihren Objektwert zu beschränken. Der amerikanische Künstler und Kritiker Allan Sekula spricht angesichts der dargebotenen Präsentationen überspitzt von einer »Folklore der fotografischen Wahrheit«. »Die Re-Auratisierung des Vintage Print führe etwa zu einer Aufhebung der historischen Sprengkraft der Fotografie zugunsten eines letztlich monopolistisch verwalteten Kunstmarkts, dem die Signatur der Autorschaft bedeutender sei als das Vermögen der Fotografie, aktiv in den historischen Prozeß einzugreifen.«15 Allen Sekula fordert wie Martha Rosler eine Einsicht in die politische Ökonomie der fotografischen Arbeit. Die vorliegende Forschungsarbeit hat versucht, dieser Aufforderung Folge zu leisten. Es geht keinesfalls darum, eine neue Doxa, eine »pure Photographie« anhand von Regeln einzufordern, sondern um die Ausformulierung der Einsicht, dass aktuell eine ökonomisierte Bebilderung unserer Lebenswelt vorangetrieben wird, die alle möglichen Formen der Visualisierung gegen einen Diskurs um Wahrheit und gegen eine Autonomie der Photographie ausnutzt und manipuliert. Die ökonomisierte Pressefotografie, die manipulierte Fotografik, das optimierte Selfie, die Modefotografie, die Prominentenbilder und all die konstruierten Konzeptfotografiken, die kriegsstrategische, digitale Kontrollperspektiven aufgreifen, befeuern eine Bildproduktion, die eine immer größere Distanz zur Wirklichkeit herstellt. Mit dem Streben, das Abbild der Wirklichkeit zu perfektionieren, zu verjüngen, zu konfektionieren, wird das Noema des photographischen Aktes – ein Bild vom originalen Raum, vom vergangenen »Jetzt« des Lebens und des menschlichen Körpers als »Seelenkörpers«, als »auratischen Körpers« zu versuchen – verspielt. Es besteht aber immer noch die Möglichkeit des Festhaltens von Ereignissen und der Erkundung abweichender Lebenswelten und verborgener Lebensrealitäten. Die nicht manipulierten und nicht inszenierten Aufnahmen vom physischen Realraum und vom Menschen für sich oder in dem Raum können auch nach der Übergangs14  |  Amelunxen zu Lemagny in: Wider den ästhetischen Kanon, in: Kemp, Wolfgang/v. Amelunxen, Hubertus: Theorie der Fotografie Band 1-4 (1839-1995), Schirmer/Mosel, München 2006, Band 4 S. 171 15  |  Kemp, Wolfgang/v. Amelunxen, Hubertus: Theorie der Fotografie Band 1-4 (18391995), Schirmer/Mosler, München 2006, Band 4, S. 82

6. Resümee

zeit noch zu spannungsreichen Präsentationen zusammen mit ausgewiesenen Fotografiken von Faces und Gesichtscollagen führen. Das Künstlerbuch untouched touched retouched präsentiert eine solche Konstellation beispielhaft und erprobt einen Kommunikationsvorschlag im Versuch von Gegenüberstellung und Zusammenstellung (Abbild/Computergrafik). Müssen wir nun im Kampf um die Autonomie der Photographie nicht genauso einen Kampf – im Sinne einer spezifischen Klärung – um die Autonomie des »synthetischen Bildes« anstreben? Wenn die Photographie die lineare, historische Zeit für sich beansprucht, indem sie die Momente (lückenhaft) an Zeitreihen heftet, dann wäre es bei dem (sich stetig aktualisierenden) »synthetischen Bild« die Gleichzeitigkeit, die hier vorgeführt wird und der wir uns heute vornehmlich widmen, wenn wir es vorziehen, am Monitor anstatt unter Menschen im Realraum zu weilen und eigenprojekttauglich zu agieren. Ist es aber nicht ebenso menschlich, sich lieber der Fülle des Moments in seiner unerschöpflichen schöpferischen Gleichzeitigkeit anzunehmen, als die Vergangenheit betrachtend zu bewahren, aufzusuchen und zu reflektieren? Im interkulturellen philosophischen Diskurs ist es Byung-Chul Han, der den Computer als die falsche Technologie ansieht, den Augenblick sinnhaft zu erfahren. Besucht man aber die ostasiatischen Metropolen, dann wirken seine rückblickenden Beschreibungen des Zen-Buddhismus plötzlich im Rückblick selbst zurückgeblieben – denn sie fordern eine lange Zeit der in-sich-gekehrten Reflexion, wie sie nur noch wenigen Privilegierte zur Verfügung steht. Gehört die Zukunft den vor Monitoren (Face-to-Screen) wandelnden Eremiten, die im Flimmern eines globalen Warenaustauschs, entfernt von den menschlichen Ereignissen (Face-to-Face) überleben? Es wurde in dieser Forschungsarbeit versucht, im Rückblick auf die Übergangszeit der Fotografie vom Analogen zum Digitalen eine prägnante Rückschau mit kritischem Blick nach vorne zu entwerfen. Flussers zukunftsweisende Analysen zur Fotografie halfen dabei, die aktuellen Schaffensbedingungen und künstlerischen Projekte in der Fotografie, die nach seiner Zeit entstanden sind, zu interpretieren. Die Ausführungen zum Barthes-Flusser-Dialog hatten den Sinn, die digitalen Fotografiken zu den tradierten photographischen Materialabdrucken in Beziehung setzen zu können – um mit zwei wichtigen Vertretern im Schaffensbereich der Fotografie und Fototheorie die Reflexion und das Nachsinnen weiterzutreiben. Eine Schwierigkeit bei dieser Unternehmung liegt in der von Flusser unscharf formulierten Unterscheidung von »synthetischem Bild« und »Photographie«, die hier an verschiedenen Stellen aufgezeigt worden ist. Zukünftige Forschungsarbeiten, die sich um eine Autonomie des »synthetischen Bildes« kümmern, müssen sich dieser Klärung sorgfältig annehmen. Die digitalen Fotografiken, die Radarbilder, die Satellitenbilder, die

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Elektronenmikroskopien, die bildgebenden Computersimulationen, die entweder »pure« Rechenbilder oder »fotografische« Rechenbilder sind – alle sogenannten synthetischen Bildformen, um die es zukünftig gehen wird, müssen dann genauso auf ihre ebenso unterschiedlichen Verfahren der Bildgebung hin weiter ausdifferenziert und spezifisch besprochen werden. Anhand der Äußerungen Flussers kann so weit ein Weltbezug anhand »synthetischer Bilder« formuliert werden, wie er vor allem in einer euphorisch gestimmten Kommunikation zum Ausdruck kommt: als eine Form des Weltbezugs anhand digitaler Bildtechnologien, die nun in der Lage sind, »die Oberflächen des Sichtbaren zu durchstoßen«, um bisherige Nicht-Sichtbarkeiten und »verdrängte Wirklichkeiten« aufzudecken. (Aber ist dies nicht ebenso anhand der tradierten photographischen Apparattechnologie möglich?) Bezüglich der digitalen Fotografiken und Computersimulationen handelt es sich vor allem um Wahrheiten der Wahrnehmung, auch um Wahrheiten des Nicht-Sichtbaren, um eine Techno-Imagination, die sich mit der digitalen Abtastung des Realen der Gefahr aussetzt, sich in seiner manipulativen Struktur festzulaufen. Alle künstlerischen Fotografiker, die sich den Ästhetiken wissenschaftlicher Bilder annähern, begeben sich auf ein gefährliches Terrain der intendierten »Ausblendung von Umwelten« und einer Bildargumentation, die am Ende wissenschaftlicher Versuchsreihen als »Veranschaulichungen« vorgeführt werden. Die Aufgabe der dokumentarischen Photographen bleibt dann noch die Auswirkung dieser (un)sichtbaren Versuchsreihen in der sichtbaren Umwelt aufzunehmen. Ist die »pure« Aufnahme alltäglicher Szenerien vielleicht zu »unschön« geworden um heute noch erfolgreich sein zu können? Bisweilen bleiben diese Bilder im Aufkommen einer kurzlebigen Schnappschuss-Kommunikation stecken. »Die Reichweite der Werbung kennt keine Grenze, und wo alle ins lauteste Horn blasen, ist das Problem wie man Gehör findet, gar nicht leicht zu lösen. Werbung ist Kunst, sie ist Literatur, sie ist Phantasie. Mißerfolg ist ihre Todsünde.«16

Die kritische Sicht auf sogenannte Wissenschaftsbilder und künstlerische Bildkonstruktionen, die in dieser Arbeit mitschwingt, darf als Reaktion auf die »Unfälle« der Übergangszeit verstanden werden, die aufgrund einer schlechten und noch minderwertigen Abtastung des Realen passieren. Die Bankenkrisen, die Drohnenopfer, die Open-Source-Depression sind Anzeichen einer minderwertigen Abtastung – nicht zu vergessen die Pleiten derjenigen hand16  |  Zitat aus dem Magazin Colliers Weekly (1909), in: Hine, Lewis: Sozialfotografie: Wie die Kamera die Sozialarbeit unterstützen kann. Ein Lichtbildervortrag 1909, in: Kemp, Wolfgang/v. Amelunxen, Hubertus: Theorie der Fotografie, Schirmer/Mosel, München 2006, Band 1, S. 270

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werklich arbeitenden Fotografen, die der Digital Divide – im Zugzwang digitaler Umstrukturierungen evoziert – herbeiführte. Die Erfolgsstories technologischer Entwicklungen klammern in der Regel die Misserfolge des Fortschritts aus. Die Geschwindigkeit, mit der die Fortschrittsmaschinerie angetrieben wird, ist dieser strategischen »Ausklammerung« dienlich und spielt der Fehlerunterdrückung zu. Die Verlierer des »fehlerhaften Fortschritts« werden ignoriert, aber ersatzweise in den Statistiken registriert. Der technologische Fortschritt hat sich schon lange von den alltäglichen Bedürfnissen der Menschen abgelöst. Öffentliche und private Gelder fließen in hochspezialisierte Forschungsbereiche, die sich innerhalb ihrer Arbeitsbereiche nur noch sich selbst erklären können. Die Bebilderungen, die den öffentlichen Erklärungen von Forschungsprojekten (etwa der Nano- und Gentechnologie) dienen, kann man durchaus als Werbebilder bezeichnen. Hier werden keine fotografischen Abbilder des »Sichtbaren«, sondern Abtastungen des »Nicht-Sichtbaren« vorgelegt, die in ihrer Eindeutigkeit zunächst Behauptungen bebildern und nicht als Beweisführung (wie im Falle der Gerichtsfotografie) vorgelegt werden können. Sie zeigen nicht mehr die Summe »unintendierter Details« – die Summe an Zufälligkeiten im Moment – sondern intendierte, bildargumentative Aspekte. Es sind nicht allein die Enthüllungen der Whistleblower, die ans Licht bringen, dass wir permanent und ungefragt als Probanden technologischer Versuchsreihen dienen. Dieser Missbrauch führt auch zu einem steigenden Vertrauensverlust in Politik, Forschung und Gesellschaft. Dieser Vertrauensverlust resultiert aus undurchsichtigen und undemokratischen Praktiken, die lichtscheu die Öffentlichkeit und die öffentliche Meinung dirigieren. Es greift eine Form der »ausschließenden Kommunikation« um sich, die in Wahrheit keine Interaktion und dialogische Verhandlung mehr zulässt. Dazu gehören auch die täglichen medialen Schlagwortkommunikationen mit Bildern und das repräsentative Emporschnellen eines global durchorganisierten Kunstmarktes mit glamourösen, effektvollen Bildwerken. In den letzten Jahren werden der Netzraum und die digitale Kommunikationskultur als zentralistisch durchorganisiert erkennbar. Heute schon profitieren die Global Player, die in der Hierarchie der digitalen Dienste die Führungspositionen einnehmen und mit den für die Digitalisierung spezifischen Machtinstrumenten einen »halbwachen« Menschen-Schwarm zu lenken wissen; und sie gewinnen unverantwortliche Macht- und Ausbeutungspositionen. Allein dieser Zustand kann Kunstschaffende nun auch dazu motivieren, aus den digitalen Netzwerkkommunikationen herauszutreten und sich dem Dasein in neuen Formen zu stellen – das heißt vor allem in kommunikative Realräume einzuladen. Dort können dann auch die existenziellen menschlichen Sorgen und Bedürfnisse wieder (Face-to-Face) kommuniziert werden. Diese Orte könnten als Experimentierfelder genutzt werden, um gegen die zur Kon-

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Fotokunst in Zeiten der Digitalisierung

kurrenz anfeuernden Images und angstgesteuerten Schlag-Bild-Kommunikationen anzutreten. Die allgemein vorherrschende digitale Kommunikationskultur verschärft Tendenzen, die uns umgebende Lebenswelt auf Abstand zu halten und die Lebenswelt-Wahrnehmung als Monitor-Welt-Wahrnehmung auf eine sich selbst umsorgende Selbstwahrnehmung umzulenken. Das »Wir« aber findet woanders statt. Das Begehren zu fotografieren gründet in der menschlichen Neugier, die Welt zu entdecken und neu zu verstehen, um ein lesbares und in die Zukunft führendes Erinnerungsbild zu gewinnen. Man muss aber vermuten, dass in der Zukunft der kommunikative Gebrauch und die diskursive Verhandlung von Bildern vor allem ohne photographische Aufnahmen und Abbilder – insbesondere ohne die Photographie als Materialabdruck – stattfinden wird. Die vorherrschende Bilderwelt wird dann vor allem eine sich selbst darstellende und werbende Image-Welt von Computergrafiken im Dienste unsichtbarer Systeme sein.

7. Quellennachweise 7.1 Te x tquellen Literatur Adamson, Glenn: Thinking Through Craft, Berg Publishers, London 2007 Alessandro Ludovico: Post-Digital Print – The Mutation of Publishing since 1894, Onomatopee 77, Eindhoven 2013 Arns, Inke und Horn, Gabriele (Hg.): History will repeat itself. Strategien des Reenactment in der zeitgenössischen (Medien-)Kunst und Performance, Revolver Archiv für aktuelle Kunst, Frankfurt a.M. 2007 Baatz, Willfried: Geschichte der Fotografie, DuMont Köln 1997 Baudrillard, Jean: Warum ist nicht alles schon verschwunden?, Matthes & Seitz, Berlin 2012 Baudrillard, Jean: Screened Out, Verso, London 2002 Barthes, Roland: Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn, Edition Suhrkamp, Frankfurt a.M. 1990 Barthes, Roland: Die helle Kammer, Suhrkamp, Frankfurt a.M. 1989 Belting, Hans: Das unsichtbare Meisterwerk. Die modernen Mythen der Kunst, C. H. Beck Verlag, München 2001 Belting, Hans: Faces. Eine Geschichte des Gesichts, C. H. Beck Verlag, München 2013 Bidlo, Oliver: Vilém Flusser – Einführung, Oldib Verlag, Essen 2008 Bohn, Volker: Bildlichkeit, Edition Suhrkamp, Frankfurt a.M. 1990 Boström, Jörg und Jäger, Gottfried (Hg.): Kann Fotografie unsere Zeit in Bilder fassen?, Kerber Verlag, Bielefeld 2004 Bunz, Mercedes: Die stille Revolution, Edition unseld 43, Suhrkamp, Berlin 2012 Dany, Hans-Christian: Morgen werde ich Idiot. Kybernetik und Kontrollgesellschaft, Edition Nautilus, Hamburg 2013 Deleuze, Gilles: Foucault, Suhrkamp, Frankfurt a.M., 1992 Engelbert, Arthur: Global Images. Eine Studie zur Praxis der Bilder, transcript Verlag, Bielefeld 2011

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Eusterbrock, Katharina: Spur des Realen oder Konstruktion?, GRIN Verlag für akademische Texte, München 2010 Flusser, Vilém: Kommunikologie weiter denken. Die Bochumer Vorlesungen, Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt a.M. 2008 Flusser, Vilém: Für eine Philosophie der Fotografie, European Photography hg. von Andreas Müller-Pohle, Edition Flusser Band 3, Göttingen 1983 Flusser, Vilém: Schriften in 9 Bänden. Band 1: Lob der Oberflächlichkeit. Für eine Phänomenologie der Medien, hg. von Edith Flusser und Stefan Bollmann, Bollmann Verlag, Bensheim und Düsseldorf 1993 Foucault, Michel: Schriften zur Medientheorie, Suhrkamp, Berlin 2013 Fried, Michael: Warum die Photographie als Kunst so bedeutend ist wie nie zuvor, Schirmer/Mosel, München 2014 Geimer, Peter: Theorien der Fotografie, Junius Verlag, Hamburg 2009 Geimer, Peter: Bilder aus Versehen. Eine Geschichte fotografischer Erscheinungen, Philo Fine Arts, Hamburg 2010 Großklaus, Götz: Das Bild der Masse, in: Medien-Bilder, Edition Suhrkamp, Frankfurt a.M. 2004 Guilbaut, Serge: How New York Stole the Idea of Modern Art: Abstract Expressionism, Freedom and the Cold War, University Of Chicago Press, Chicago 1985 Halawa, Mark A.: Die Bilderfrage als Machtfrage. Perspektiven einer Kritik des Bildes, Kulturverlag Kadmos, Berlin 2012 Humer, Stephan: Digitale Identitäten. Der Kern digitalen Handelns im Spannungsfeld von Imagination und Realität, Edition Digitalkultur CSW Verlag, Winnenden 2008 Han, Byng-Chul: Transparenzgesellschaft, Matthes&Seitz, Berlin 2013 Han, Byung-Chul: Psychopolitik. Neoliberalismus und die neuen Machttechniken, S. Fischer Verlag, Frankfurt a.M. 2014 Han, Byung-Chul: Philosophie des Zen-Buddhismus, Reclam Verlag, Stuttgart 2009 Illouz, Eva: Gefühle in Zeiten des Kapitalismus, Suhrkamp, Frankfurt a.M. 2006 Illouz, Eva: Warum Liebe weh tut, Suhrkamp, Berlin 2012 Jäger, Gottfried: Bildgebende Fotografie. Fotografik. Lichtgrafik. Lichtmalerei. Ursprünge, Konzepte und Spezifika einer Kunstform, DuMont, Köln 1988 Jaguer, Edouard: Surrealistische Photographie. Zwischen Traum und Wirklichkeit, DuMont Buchverlag, Köln 1984 Kemp, Wolfgang/v. Amelunxen, Hubertus: Theorie der Fotografie Band 1-4 (1839-1995), Schirmer/Mosel, München 2006 Krämer, Sybille: Wie aus »nichts« etwas wird: Zur Kreativität der Null, in: Kreativität XX. Deutscher Kongress für Philosophie, Sektionsbeiträge Band 1, hg. von Abel, Günter, Universitätsverlag der TU Berlin 2005 (Verfügbarkeit Text Krämer online PDF Universität Hamburg)

7. Quellennachweise

Kracauer, Siegfried: Ornament der Masse, Suhrkamp, Frankfurt a.M. 1977 Lazzarato, Maurizio: Die Fabrik des verschuldeten Menschen – ein Essay über das neoliberale Leben, b_books, Berlin 2012 Lazzarato, Maurizio: Videophilosophie. Zeitwahrnehmung im Postfordismus, b_books, Berlin 2002 Lovink, Geert: Das halbwegs Soziale. Eine Kritik der Vernetzungskultur, transcript Verlag, Bielefeld 2012 Mahr, Bernd: Die Schöpfung der Maschine. Ein Modell des Entstehens und der Gegensatz vom Maschinellen und Kreativen, in: Kreativität XX. Deutscher Kongress für Philosophie, Sektionsbeiträge Band 1, hg. von Abel, Günter, Universitätsverlag der TU Berlin 2005, S.  390 (Verfügbarkeit Text Mahr online PDF Universität Hamburg) Mauthner, Fritz: Beiträge zu einer Kritik der Sprache; Bd. 3: Zur Grammatik und Logik (1901/02, 1913), Reprint: Frankfurt a.M., Berlin, Wien 1982 Markt, Maria: Fotomontage als politische Aussage. Kontextualisierung durch Fotomontage – eine kunstgeschichtliche Betrachtung, VDM Verlag Dr. Müller, Saarbrücken 2008 Miener, Frank: Bilder, die lügen. Tourist Guy und Co. – Digitale Gefahr für die Medien?, Shuhari Books, Bremerhaven 2004 Mitchell, William J.: The Reconfigured Eye: Visual Truth in the Post-Photographic Era, MIT Press, Cambridge 1992 Naef, Silvia: Bilder und Bilderverbot im Islam, Verlag C. H. Beck, München 2007 Naumann, Barbara: Vom Doppelleben der Bilder: Bildmedien und ihre Texte, Wilhelm Fink Verlag, München 1993 Ott, Michaela; Strauß, Harald: Ästhetik + Politik. Neuaufteilungen des Sinnlichen in der Kunst, Textem Verlag, Hamburg 2009 O’Doherty, Brian: In der weißen Zelle. Inside the White Cube, Merve Verlag, Berlin 1996 Osborne, Peter: Anywhere or not at all. Philosophy of Contemporary Art, Verso, London 2013 Peters, Otto: Kritiker der Digitalisierung, Peter Lang Internationaler Verlag der Wissenschaften, Frankfurt a.M. 2012 Rötzer, Florian: Digitaler Schein. Ästhetik der elektronischen Medien, Edition Suhrkamp, Frankfurt a.M. 1991 Rotman, Brian: Die Null und das Nichts: Eine Semiotik des Nullpunkts, Kadmos, Berlin 2001 Stiegler, Bernard: Die Logik der Sorge. Verlust der Aufklärung durch Technik und Medien, Edition unseld 6, Suhrkamp, Frankfurt a.M. 2008 Sykora, Katharina, Leibbrandt, Anna (Hg.): Roland Barthes Revisted. 30 Jahre Die helle Kammer, Graue Reihe Salon Verlag, Köln 2012

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Fotokunst in Zeiten der Digitalisierung

Sennett, Richard: Verfall und Ende des öffentlichen Lebens. Die Tyrannei der Intimität, Berlin Verlag Taschenbuch, Berlin 2008 (amerikanische Erstauflage 1974) Sloterdijk, Peter: Zur Welt kommen – Zur Sprache kommen, Edition Suhrkamp, Frankfurt a.M. 1988 von Samsonow, Elisabeth und Alliez, Éric (Eg.): Telenoia. Kritik der virtuellen Bilder, Turia und Kant, Wien 1999 von Samsonow, Elisabeth: Was ist anorganischer Sex wirklich?, International Flusser Lecture, Verlag der Buchhandlung Walther König, Köln 2005 Virilio, Paul: Der Futurismus des Augenblicks, Passagen Verlag, Wien 2010 Weibel, Peter: Territorium und Technik, in: Philosophien der neuen Technologien, Ars Elektronika, Merve Verlag Berlin 1989 Witzel, Eva: Die Konstitution der Dinge. Phänomene der Abstraktion bei Andreas Gursky. Transcript Verlag, Bielefeld 2012 Wortmann, Volker: Authentisches Bild und authentisierende Form, Herbert von Halem Verlag, Köln 2003 Wolf, Herta (Hg.): Paradigma Fotografie, Suhrkamp Frankfurt a.M. 2002 Wolf, Sylvia: The Digital Eye, Photographic Art in the Electronic Age, Prestel Verlag, München 2010 Wiesing, Lambert: Artifizielle Präsenz, Suhrkamp, Frankfurt a.M. 2005 Wortmann, Volker: Authentisches Bild und authentisierende Form, Herbert von Halem Verlag, Köln 2003

Ausstellungskataloge, Photobücher Andreas Gursky, hg. vom Kunstmuseum Basel, Hatje Cantz, Ostfildern 2007 Arthur, Olivia: Jeddah Diary, Eigenverlag Fishbar, London 2012 Berg, Stephan (Hg.): Unschärferelation – Fotografie als Dimension der Malerei, Institut Mathildenhöhe Darmstadt und Hatje Cantz, Ostfildern 2000 Beil, Ralf und Feßel, Sonja (Hg.): Andreas Gursky. Architektur, Institut Mathildenhöhe Darmstadt und Hatje Cantz, Ostfildern 2008 Day, Corinne: Diary, Kruse Verlag, Hamburg 2000 Fotografie nach der Fotografie, Verlag der Kunst und Siemens Kulturprogramm, München 1996 Graham, Paul: A shimmer of possibility, SteidlMACK, Twelve Volumes, Göttingen 2007; Single Volume, Göttingen 2009 Konstruktionen der Wahrheit. Ein Projekt der Darmstädter Tage der Fotografie e. V., Darmstadt April 2007 Lempert, Jochen: Phenotype, Verlag der Buchhandlung Walther König, Köln 2013 Nan Goldin – I’ll be your mirror, hg. von Elisabeth Sussmann, Scalo Verlag, Zürich 1996

7. Quellennachweise

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DVD, CD, Vinyl Peternák, Miklós: We shall survive in the memory of others, DVD Flusser Interviews, Vilém Flusser Archiv UDK Berlin und Buchhandlung Walther König, Köln 2010 The Velvet Underground & Nico (I’ll be your mirror), Label Verve, United States 1967

Artikel Zeitungen, Magazine Hahmann, Götz, Rohwetter, Marcus: Wie Apple, Facebook, Amazon und Google dem Internet ihre Grenzen aufzwingen, DIE ZEIT Nr. 32, August 2012 Wach, Alexandra: Aus der Umlauf bahn, Monopol Magazin für Kunst und Leben Sonderheft DC Open, Berlin September 2012 Cascone, Kim: The Aesthetics of Failure. Post-Digital Tendencies in Contemporary Computer Music, MIT Press, Cambridge 2000 Fotos für die Pressefreiheit 2013/Reporter ohne Grenzen

Tagungen, Symposien Universität Hamburg: Postdigitalität und Film, Hamburg 19./20.07.13 Handelskammer: Brauchen wir noch Verlage? Hamburg 04.09.13 Fortschritts-Camp Kampnagel: Wieviel ist genug?, Hamburg 25.-28.09.13 Deichtorhallen: Lead Awards Symposium, Hamburg 13.09.13 Universität Göttingen: Bilder der Gegenwart – Aspekte und Perspektiven des digitalen Wandels, Göttingen 03.11.13 Deutscher Künstlerbund/Berlinische Galerie: Mash-Up-Arts?, Berlin 09.11.13

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Webseiten, Quellen Fließtext Transmediale 2014 afterglow – Circumventing the Panopticon, www.youtube. com/watch?v=6qxU1voSEDA/Stand Abruf 03.05.14 Verleihung des Kulturpreises der DGPh an Gottfried Jäger; Laudatio Bernd Stiegler: Gottfried Jäger: Fotograf der Fotografie, Berlinische Galerie 2014, https://www.youtube.com/watch?v=OMDcx_khYpo/Stand Abruf 29.01.15 http://de.wikipedia.org/wiki/Cookie/Stand Abruf 19.03.15 http://de.wikipedia.org/wiki/Datenschutz#Datenschutz_und_Informationsfreiheit/Stand Abruf 19.03.15 www.t-online.de/ratgeber/technik/handy/id_56287884/smartphone-apps-vorsicht-vor-datensammlern.html/Stand Abruf 19.03.15 www.zeit.de/digital/internet/2014-03/Spionage-Russland-Virus-Uroburos-Entdeckung/Stand Abruf 19.03.15 Jaron Lanier, CJM San Francisco: Link. What is a Person?, www.youtube.com/watch?v=jtuM1j-vFsA/Stand Abruf 01.05.14 Interview mit Sandro Gaycken, www.youtube.com/watch?v=gRCfrvC_ofI/ Stand Abruf 17.04.14 Podiumsdiskussion: Is Photography Over?, Symposium SFMOMA 2010, www.youtube.com/watch?v=86EbCuGkY1k/Stand Abruf 12.04.14 www.heise.de/foto/meldung/Wolfgang-Tillmans-Anti-Gursky-zeigt-seinWerk-1814281.html/Stand Abruf 12.04.14 Klein, Julian: Was ist künstlerische Forschung, in: kunsttexte.de/Auditive Perspektiven, Nr. 2, 2011 (5 Seiten), http://edoc.hu-berlin.de/kunsttexte/2011-2/ klein-julian-1/PDF/klein.pdf/Stand Abruf 12.04.14 www.duden.de/rechtschreibung/Fotografie/Stand Abruf 17.04.14 http://de.wikipedia.org/wiki/Fotografie/Stand Abruf 18.04.14 Interview Allan Douglas Coleman mit Gregory Eddi Jones 2014 in: In The In-Betweens – Journal of Digital Imaging Artists, www.inthein-between. com/in-dialogue-with-ad-coleman/Stand Abruf 18.03.15 »F1 – BOXENSTOPP II, 2007, C-PRINT, 223,4 X 609 CM« Titel/Arbeit Andreas Gursky auf der Webseite der Galerie Sprüth Magers Berlin London, http://spruethmagers.net/exhibitions/135@@viewq4/Stand Abruf 12.04.14 Diskussion um die Qualifikation Paul Hansen 2012 WPP Award; www.worldpressphoto.org/news/digital-photography-experts-confirm-inte grity-paul-hansenimage-files/Stand Abruf 02.03.15 http://de.wikipedia.org/wiki/Arpanet/Stand Abruf 18.04.14 www.thebeetobee.net/Stand Abruf 12.04.14 www.jodi.org/Stand Abruf 12.04.14 (Die Plattform aktualisiert sich derzeit mit jedem Abruf neu) www.martingrund.de/pinguine/pinguincam2.htm#1/Stand Abruf 12.04.14

7. Quellennachweise

Künstlerportrait: Andreas Gursky – Das globale Foto, Arte 2009; YouTube: www.youtube.com/watch?v=jTAYMeI9hlg/Stand Abruf 12.04.14 Heartfield Rede/Töteberg, Michael: 1978, www.katy-teubener.de/joomla/index.php/65-seminare/ifs-2009-mb/245interdependenzenvon-kunst-und-politik-modifikation-und-strategiewechselkunstpolitischer-diskurse/Stand Abruf 02.06.2014 Holschbach, Susanne: Kontinuitäten und Differenzen zwischen fotografischer und postfotografischer Medialität, www.medienkunstnetz.de/themen/ foto_byte/kontinuitaeten_differenzen/Stand Abruf 12.04.14 Conversation – Featured Media zur Ausstellung: Faking It – Manipulated Photography Before Photoshop, Metropolitan Museum of Art, Oktober 2012, www. youtube.com/watch?v=cK70OCd88Gw/Stand Abruf 12.04.14 www.theguardian.com/artanddesign/2013/feb/20/joel-sternfeld-best-photo graphs-climate-change, Artikel vom 20.02.13/Stand Abruf 27.08.14 www.prixpictet.com/portfolios/power-shortlist/joel-sternfeld/statement /Stand Abruf 18.02.15 www.steidl.de/flycms/de/Buecher/When-it-Changed/0111174152.html/Stand Abruf 12.04.14 Interview Marcus Schaden: www.hatjecantz.de/controller.php?cmd=interviews &id=50/Stand Abruf 12.04.14 Firechat Produkt des 2011 in San Francisco gegründeten Startups Open Garden; siehe auch Wikipedia: https://en.wikipedia.org/wiki/Open_Garden/Stand Abruf 12.11.14 http://photonews-blogbuch.de/2012/07/die-mission-fotobuch-bleibt-interviewmit-markus-schaden/Stand Abruf 12.04.14 www.fischmarkt.de/2011/09/post-digital_ist_die_digitale_revolution.html/ Stand Abruf 12.04.14 Rauterberg, Hanno: Perfektionist des Hingeschluderten, DIE ZEIT Nr. 44/2000; www.zeit.de/2000/44/200044_tillmanns.xml Stand Abruf 11.04.14 www.paulgrahamarchive.com/interviews.html/Stand Abruf 15.08.10 (Das Interview Paul Graham mit Richard Woodward wurde später gelöscht) Tagung: Post-Digitalität und Film, Universität Hamburg 19./20. Juli 2013, http://postdigitalfilm.de/Stand Abruf 22.09.13 Thomas Ruff und Okwui Enwezor (Kurator documenta 11), Haus der Kunst, München 2012, www.hausderkunst.de/index.php?id=132&no_cache=1&tx_ ttnews  %5Btt_news  %5D=1345&cHash=ecf966def6789ef02f05c8a7715fa ee1/Stand Abruf 11.11.13 Borck, Cornelius: Big Data in Neuroimaging, mecs Lecture Series 2013, www.youtube.com/watch?v=mmQkMHiZhWM/Stand Abruf 3.04.14 http://videos.arte.tv/de/videos/marsmission--7818908.html/Erstausstrahlung 15. März 2014

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Fotokunst in Zeiten der Digitalisierung

Mahr, Bernd: Die Schöpfung der Maschine. Ein Modell des Entstehens und der Gegensatz vom Maschinellen und Kreativen, in: Kreativität XX. Deutscher Kongress für Philosophie, Sektionsbeiträge Band 1, hg. von Abel, Günter, Universitätsverlag der TU Berlin 2005, S.  390 (Verfügbarkeit Text Mahr online PDF Universität Hamburg) Kittler, Friedrich: Ontologie der Medien, Vortrag auf dem Bochumer Kolloquium Medienwissenschaften 2007, www.youtube.com/watch?v=WyV8igrfxo/Stand Abruf 03.04.14 ARTE, Metropolis Interview mit Friedrich Kittler über die heutigen Computerspiele vom 9. April 2011, http://videos.arte.tv/de/videos/metropolis-vom9-april-2011-bonus--3823376.html/Erstausstrahlungstermin 07.04.11 Abruf 05.04.14 Vivian, Bradford: The Veil and the Visible, http://vpa.syr.edu/sites/default/files/ downloads/Theveilandthevisible.pdf, S. 122/Stand Abruf 31.05.14 https://www.torproject.org/Stand Abruf 12.04.14 www.art-magazin.de/fotografie/45096/judy_linn_interview/Stand Abruf 2013 Bernd Stiegler zu Flusser/Jäger in dem Vortrag: Gottfried Jäger: Fotograf der Fotografie – Berlinische Galerie 2014, https://www.youtube.com/watch?v=OMDcx_khYpo/Abruf Stand 26.01.15

Webseiten, Quellen Zeitleiste www.museomagazine.com/JEFF-WALL/Stand Abruf 12.04.14 www.medienkunstnetz.de/werke/final-fantasy/Stand Abruf 12.04.14 www.medienkunstnetz.de/werke/thank-you-tighmaster/Stand Abruf 12.04.14 www.medienkunstnetz.de/werke/speckergruppen-bildings/Stand Abruf 12.04.14 Interview mit Charlie White zu Understanding Joshua, www.pbs.org/wnet/ egg/234/cwhite/interview_content_1.html/Stand Abruf 12.04.14 www.medienkunstnetz.de/werke/net-art-generator/Stand Abruf 12.04.14 www.peterrentz.com/webarchive/impossibleimage/print.html/Stand Abruf 12.04.14 http://de.wikipedia.org/wiki/Digitale_Revolution/Stand Abruf 12.04.14 http://de.wikipedia.org/wiki/Digitalkamera/Stand Abruf 12.04.14 www.artnet.de/magazine/thomas-ruff-in-der-johnen-galerie-berlin/Stand Abruf 12.04.14 http://de.wikipedia.org/wiki/Jörg_Sasse/Stand Abruf 12.04.14 Ausstellung David Zwirner: Thomas Ruff photograms and m.a.r.s., New York 2013, www.davidzwirner.com/exhibition/thomas-ruff-9/Stand Abruf 12. 04.14 http://2010.fotobookfestival.org/wp-content/themes/f bf2/library/downloads/ Festivalreport2008.pdf/Stand Abruf 12.04.14

7. Quellennachweise

http://de.wikipedia.org/wiki/X_für_U_–_Bilder,_die_lügen/Stand Abruf 12.04.14 http://lightbox.time.com/2010/12/29/photojournalism-at-the-crossroads-2-david-guttenfelders-iPhone-photography/#1/Stand Abruf 12.04.14 www.zeit.de/2010/18/Atelierbesuch-Andreas-Gursky/Stand Abruf 12.04.14 www.art-report.com/de/events/andreas-gursky/Stand Abruf 12.04.14 www.arte.tv/de/glitch/7524184,CmC=7503936.html/Stand Abruf 12.04.14 http://creative.arte.tv/de/magazin/kim-asendorf-erklaert-das-dateiformatzum-kunstwerk/Stand Abruf 12.04.14 http://kimasendorf.com/Stand Abruf 12.04.14 http://postdigital-film.de/Stand Abruf 12.04.14 Beitrag über Selfie Phänomen: www.ardmediathek.de/bayern-2/zuendfunkgenerator-bayern-2?documentId=21141352/Stand Abruf 19.05.14 Webseiten-Beispiele: http://selfiesatfunerals.tumblr.com/; http://selfiesatserious places.tumblr.com/etc.;/Stand Abruf 19.05.14 www.transmediale.de/de/past/2014/Stand Abruf 21.03.15

7.2 W ebseiten , B ildquellen V erweise A-J A: The Art of Retouching Photographic Negatives, Robert Johnson 1913, http://metmuseum.org/exhibitions/view?exhibitionId=%7B36D81705241D-4934-AB02-FD7C8DBBB3E5%7D&oid=299294&pg=2&rpp=100&p os=196&ft=*/Stand Abruf 15.05.14 B: Graffiti Artist, Birgit Wudtke 2006, www.birgitwudtke.net/html/collabora tions/female-artists/02.html/Stand Abruf 15.05.14 C: Webseite TheBeetoBeeNet, www.frombeetobee.net/beetobee.html/Stand Abruf 15.05.14 D: Rhein II, Andreas Gursky 1999, www.rp-online.de/region-duesseldorf/dues seldorf/nachrichten/kultur/gursky-und-sein-bild-vom-rhein-1.2599883/ Stand Abruf 15.05.14 E: Stadium, Andreas Gursky, www.areasucia.com/andreas-gursky,/Stand Abruf 17.05.14, vgl. Chateau de Versailles, Pierre Patel 1668, http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Chateau_de_Versailles_1668_ Pierre_Patel.jpg/Stand Abruf 17.05.14 F: Nha Trang, Andreas Gursky 2004, www.mrmagoosmilktruck.com/wpcontent/uploads/2012/03/andreas-gursky-02.jpg/Stand Abruf 15.05.14, vgl. Modell zur Neugestaltung Berlins (»Welthauptstadt Germania«), Architekturmodell Albert Speer 1939, http://de.wikipedia.org/wiki/Welthaupt stadt_Germania/Stand Abruf 15.05.14

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G: When it Changed, Buchcover, Joel Sternfeld, Steidl, Göttingen 2008, www.pho toeye.com/BookteaseLight/bookteaseenlarge.cfm?catalog=DP522&image =2/Stand Abruf 15.05.14 H: Vier Frösche, Jochen Lempert 2010, http://fokussiert.com/2010/04/26/jochenlempert-das-auge-des-biologen//Stand Abruf 15.05.14 I: From Paris to Riyadh/Drawings for my Mother, 1999-2001, Emily Jacir, Marker auf Transparentpapier, Dokumentation der illegalen Stellen des Vogue-Magazins, Installation OK, Linz 2003, http://archiv.ok-centrum.at/presse/jacir_belongings_fotos.html/Stand Abruf 01.06.14, Installation Johann König, Berlin 2010, www.johannkoenig.de/data/65/ emily_jacir_-_from_paris_to_riyadh_drawings_for_my_mother.jpg/ Stand Abruf 01.06.14 J: Ikea-Katalog 2012 Saudi-Arabien/Schweden, www.n-tv.de/wirtschaft/Ikeazensiert-Frauen-fuer-Saudis-article7358871.html/Stand Abruf 01.06.14

8. Anhang Kurzbeschreibung zur Kunstpraxis, Fotobuch: untouched touched retouched Materialverlag HFBK 1 Hamburg 2013 Die Buch-Edition UNTOUCHED TOUCHED RETOUCHED ist der künstlerische Teil einer Promotionsarbeit, innerhalb welcher Birgit Wudtke photographische Methoden im Kontext der Digitalisierung untersucht. Ihr Photobuch zeigt in drei Kapiteln Landschaftsaufnahmen, Portraits und Bildschirmfotos (Snapshots), die in der Art der Anordnung gestalterisch getrennt wurden und doch inhaltlich aufeinander reagieren. Zunächst geht es um Unberührtheit (untouched) als eine Empfindung innerhalb unserer Wahrnehmung von Natur; dann um die eigene Berührtheit (touched) bei der Betrachtung unseres menschlichen Gegenübers und zuletzt um das Spektrum automatisierter und virtueller Berührungen (retouched) mithilfe von Computern. Bei der Bildbearbeitung eines kommerziellen Auftrags stoppte Birgit Wudtke den Vorgang der digitalen Retusche und dokumentierte einzelne »Layer«: Bildebenen, die sich hierbei ins Originalbild einschreiben. Diese Pixelfragmente – Fetzen von Haut oder Abmaskierungen von Gliedmaßen – sind visuelle Verweise hinsichtlich einer real stattfindenden Körperverletzung. Die Portraits von Freundinnen beschreiben einen Wechsel von Nähe und Ferne, mal in der Unschärfe der dichten Aufnahme sich auflösend, mal verdeckt dargestellt, teils fern und distanziert aufgenommen. Wie immer bei Portraits geht es hier auch um eine Spiegelung 
– um die Erforschung eines gemeinsamen, zeitlichen Verhältnisses. Die Landschaftsaufnahmen folgen einer Komposition, die wiederholt den Blick auf die Bildmitte fokussiert. So wirkt

1 |  Materialverlag Katalog: Material 322, ISBN 978-3-938158-90-6, http://materialverlag.hfbk-hamburg.de/

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das Blättern der Buchseiten meditativ, einer atmosphärischen Wanderung gleich, durch Orte, die Birgit Wudtke in Island aufsuchte. Die Arbeit verbindet die klassischen Genres Portrait und Landschaftsphotographie mit Computerbildern, die auf die Zeit nach 1990 verweisen. Hierbei geht es auch um zeitgenössische Erfahrungen in Bezug auf den abgebildeten menschlichen Körper. Ein Vorwort zum Buch wurde von der Autorin Ursula Meyer-Rogge verfasst, die unter anderem durch die Veröffentlichung »Metamorphosen. Künstlerinnen in Hamburg mit Werken seit 1968« bekannt wurde.

Danksagung

Zuerst möchte ich mich bei der Hochschule für bildende Künste Hamburg bedanken, den Professorinnen Dr. Michaela Ott und Silke Grossmann, die das vorliegende Promotionsvorhaben mit mir auf den Weg gebracht und kritisch begleitet haben, ferner dem Materialverlag der Hochschule, Wigger Bierma, Ralf Bacher und meiner Promotionskollegin, der Künstlerin Leena van der Made für Inspiration und Hilfe bei Übersetzungen. Besonderer Dank gilt meiner Betreuerin Prof. Dr. Verena Kuni von der Goethe-Universität Frankfurt für die Bereitschaft, mein Forschungsvorhaben extern zu begleiten und dabei nachhaltig zu unterstützen. Ohne die Promotionsförderung von Pro Exzellenzia wäre die intensive Forschung und Umsetzung des Künstlerbuches nicht durchführbar gewesen. Mein Dank geht vor allem an das Projektteam Anne-Kathrin Guder und Dr. Britta Buth. Für die vorliegende Buchtitelgestaltung möchte ich mich bei Jennifer Kuck bedanken. Sie wählte dafür ein Motiv aus meinem Archiv der Bildbearbeitungsebenen aus (siehe Künstlerbuch untouched touched retouched, Materialverlag der HFBK). Für die hervorragende Zusammenarbeit am Lektorat möchte ich mich bei Dr. Jens Hagestedt vom Hamburger Textbüro bedanken. Großer Dank gilt meinen Eltern Gabriele und Hubert Wudtke für die verlässliche Unterstützung während meiner Forschungszeit. Auch möchte ich meinem Freund Idrissa Soulama, allen Künstlern und guten Freunden herzlich danken, die mich die letzten Jahre gestärkt, motiviert und inspiriert haben: Carmen Gloger, Daphne Pajunk, Aya Fujita, Tatsuya Fuji, Cordula Ditz, Nobuko Watabiki, Johannes von Stenglin, Anna Voswinckel, Gregor Hohenberg.

Image Annette Jael Lehmann Environments: Künste – Medien – Umwelt Facetten der künstlerischen Auseinandersetzung mit Landschaft und Natur Mai 2018, ca. 250 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 28,80 €, ISBN 978-3-8376-1633-0

Sabiene Autsch, Sara Hornäk (Hg.) Material und künstlerisches Handeln Positionen und Perspektiven in der Gegenwartskunst Februar 2017, ca. 240 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., ca. 34,99 €, ISBN 978-3-8376-3417-4

Astrit Schmidt-Burkhardt Die Kunst der Diagrammatik Perspektiven eines neuen bildwissenschaftlichen Paradigmas November 2016, ca. 280 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 34,99 €, ISBN 978-3-8376-3631-4

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Image Leonhard Emmerling, Ines Kleesattel (Hg.) Politik der Kunst Über Möglichkeiten, das Ästhetische politisch zu denken Oktober 2016, ca. 240 Seiten, kart., ca. 34,99 €, ISBN 978-3-8376-3452-5

Werner Fitzner (Hg.) Kunst und Fremderfahrung Verfremdungen, Affekte, Entdeckungen September 2016, ca. 250 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 34,99 €, ISBN 978-3-8376-3598-0

Goda Plaum Bildnerisches Denken Eine Theorie der Bilderfahrung Juli 2016, 328 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-3331-3

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Zeitschrif t für Kultur wissenschaf ten Erhard Schüttpelz, Martin Zillinger (Hg.)

Begeisterung und Blasphemie Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Heft 2/2015 Dezember 2015, 304 S., kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 14,99 €, ISBN 978-3-8376-3162-3 E-Book: 14,99 €, ISBN 978-3-8394-3162-7 Begeisterung und Verdammung, Zivilisierung und Verwilderung liegen nah beieinander. In Heft 2/2015 der ZfK schildern die Beiträger_innen ihre Erlebnisse mit erregenden Zuständen und verletzenden Ereignissen. Die Kultivierung von »anderen Zuständen« der Trance bei Kölner Karnevalisten und italienischen Neo-Faschisten sowie begeisternde Erfahrungen im madagassischen Heavy Metal werden ebenso untersucht wie die Begegnung mit Fremdem in religiösen Feiern, im globalen Kunstbetrieb und bei kolonialen Expeditionen. Der Debattenteil widmet sich der Frage, wie wir in Europa mit Blasphemie-Vorwürfen umgehen – und diskutiert hierfür die Arbeit der französischen Ethnologin Jeanne Favret-Saada. Lust auf mehr? Die ZfK erscheint zweimal jährlich in Themenheften. Bisher liegen 18 Ausgaben vor. Die ZfK kann – als print oder E-Journal – auch im Jahresabonnement für den Preis von 20,00 € bezogen werden. Der Preis für ein Jahresabonnement des Bundles (inkl. Versand) beträgt 25,00 €. Bestellung per E-Mail unter: [email protected]

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