Narrativische Perspektiven in Wolframs »Willehalm«: Figuren, Erzähler, Sinngebungsprozeß 9783110911589, 9783484321045

This study picks up current debates about perspective and meaning in Wolfram von Eschenbach's »Willehalm«. Adapting

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German Pages 210 [212] Year 2001

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Narrativische Perspektiven in Wolframs »Willehalm«: Figuren, Erzähler, Sinngebungsprozeß
 9783110911589, 9783484321045

Table of contents :
I. Fragestellung
1. Abriß der Forschung
2. Terminologie
II. Figuren und Erzähler
1. Methodisches
2. Forschungsbericht
2.1. Geistesgeschichte
2.2. Höfischer Roman
2.3. Heldenepik
3. Charakteristika der Wolframschen Charakterisierung
4. Giburg
5. Rennewart
6. Willehalm
7. Positionsbestimmung
III. Erzähler und Autor
1. Einleitung
2. Das erzählerische Ich
2.1. Der ›Willehalm‹ im Schatten des ›Parzival‹
2.2. Wahrheitsbeteuerungen
2.3. Quellen, Wissen und Nicht-Wissen
2.4. Der Erzähler als Augenzeuge
2.5. Positionsbestimmung
3. Thematische Perspektiven
3.1. Grundlinien im Prolog
3.2. Sippe, Minne, Religion am Anfang des Erzählens
3.3. Die Rettung des Protagonisten
3.4. Freude und Leid
3.5. man sach und der Blick des Ichs
3.6. Sippe, Minne, Religion am Ende des Erzählens
IV. Ergebnisse
Literatur
1. Quellen
2. Forschungen

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Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte Band 104

Christopher Young

Narrativische Perspektiven in Wolframs »Willehalm« Figuren, Erzähler, Sinngebungsprozeß

Max Niemeyer Verlag Tübingen 2000

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Young, Christopher: Narrativische Perspektiven in Wolframs »Willehalm« : Figuren, Erzähler, Sinngebungsprozeß / Christopher Young. - Tübingen: Niemeyer, 2000 (Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte; Bd. 104) ISBN 3-484-32104-0 ISSN 0083-4564 © Max Niemeyer Verlag GmbH, Tübingen 2000 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Satz: Johanna Boy, Regensburg Druck: AZ Druck und Datentechnik GmbH, Kempten Einband: Industriebuchbinderei Nadele, Nehren

Vorwort

Die erste Hälfte dieses Buches entstand aus einer breiter angelegten, 1995 in Cambridge angenommenen Dissertation über Perspektivität bei Wolfram. Danken möchte ich allen, die mich in den Jahren vor und nach der Promotion unterstützt haben. Die Promotion wurde durch Stipendien vom Northern Ireland Board of Education, vom Campbell College Belfast (meinem ehemaligen Gymnasium) und vom DAAD, der Druck vom Tiarks German Fund und vom Department of German der Universität Cambridge finanziert. Wer über Wolfram schreibt, kann sich keine besseren Berater wünschen als die Vorsitzenden der Wolfram von Eschenbach-Gesellschaft. Peter Johnson hat die erste Phase der Arbeit als Doktorvater mit der ihm eigenen Mischung aus Liebe und Fachwissen betreut und seit 1995 als Kollege und Freund meine Karriere mit großem Interesse verfolgt. Von Joachim Heinzle, der 1991-92 die Rolle des Ooktor-oheims gespielt hat, fHelmut Lomnitzer und meinen lieben Kommilitonen und Kollegen aus dem berühmten Raum 511 des Instituts für Deutsche Philologie des Mittelalters der Philipps-Universität Marburg habe ich gelernt, wissenschaftlich zu arbeiten und die Wissenschaft zu würdigen. Den letzten Fassungen ist der gute Rat von Professor Heinzle zugute gekommen, der auch den Weg zum Niemeyer Verlag geebnet hat. In Cambridge hat mir Bettina Bildhauer, mein sprachlicher Schutzengel, in entscheidenden Phasen immer mit tatkräftiger Effizienz zur Seite gestanden. Alle restlichen Fehler sowie sprachlichen Unebenheiten nehme ich natürlich auf mein eigenes Konto. Gewidmet ist dieses Buch Angela, Alex und Peter, die mir am meisten geholfen haben.

Inhalt

I.

Fragestellung 1. Abriß der Forschung 2. Terminologie

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II.

Figuren und Erzähler 1. Methodisches 2. Forschungsbericht 2.1. Geistesgeschichte 2.2. Höfischer Roman 2.3. Heldenepik 3. Charakteristika der Wolframschen Charakterisierung 4. Giburg 5. Rennewart 6. Willehalm 7. Positionsbestimmung

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III.

Erzähler und Autor 1. Einleitung 2. Das erzählerische Ich 2.1. Der >Willehalm< im Schatten des >Parzival< 2.2. Wahrheitsbeteuerungen 2.3. Quellen, Wissen und Nicht-Wissen 2.4. Der Erzähler als Augenzeuge 2.5. Positionsbestimmung 3. Thematische Perspektiven 3.1. Grundlinien im Prolog 3.2. Sippe, Minne, Religion am Anfang des Erzählens 3.3- Die Rettung des Protagonisten 3.4. Freude und Leid 3.5. man sach und der Blick des Ichs 3.6. Sippe, Minne, Religion am Ende des Erzählens

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IV.

Ergebnisse

176

Literatur 1. Quellen 2. Forschungen

188 188 190 VII

I. Fragestellung

Wer sich bemüht, im Zitat zu bezeugen, wie er das Zitat verstanden hat, wird in jedem Satz seine historische Differenz zu zeitgenössischen Autoren bemerken. Karl Bertau

1. Abriß der Forschung Die Auseinandersetzung zwischen Christen und Sarazenen, die in der deutschen volkssprachigen Literatur zum ersten Mal vom Pfaffen Konrad thematisiert wurde, ist eine Generation später erneut ein zentrales Thema in Wolframs >WillehalmParzival< hat Wolfram schon einen bedeutenden Schritt zu einer Reduzierung der Differenz zwischen Christen und Heiden gemacht. Dort wird die enge Verwandtschaft des Titelhelden mit dem heidnischen Feirefiz als entscheidendes Moment des ganzen Romans inszeniert: Parzival schlägt auf den ihm unbekannten Bruder mit demselben Schwert ein, das er zuvor dem toten Ither geraubt hatte. Es zerbricht und läßt den Helden wehrlos und der Gnade seines Gegners ausgeliefert — woraufhin Feirefiz sein Schwert großmütig zur Seite wirft und sich als Parzivals Bruder zu erkennen

1

Ich zitiere durchgängig nach Heinzles Ausgabe (1991) der Sankt Gallener Handschrift (G) von Wolframs >WillehalmAliscans< Wolframs Vorlage am nächsten kommt, ist in der Forschung nach wie vor umstritten. Ich habe die Ausgabe von Holtus (1985) herangezogen, die auf M (dem französisch-italienischen Manuskript aus dem 14. Jahrhundert, das Wolframs >Willehalm< am meisten zu ähneln scheint) basiert, werde aber aus der Standardausgabe von Wienbeck, Hartnacke und Rasch (1903) zitieren, die kaum von M abweicht. Die Ausgaben, die ich für sonstige Texte benutzt habe, sind in der Bibliographie verzeichnet.

gibt. Diese Verwandtschaft läßt Wolfram die Figuren selbst »im Sinne der Identität« deuten,2 indem er Feirefiz bemerken läßt: mit dir selben hästu hie gestritn. l gein mir selbn ich kam üfstrtt geritn (Pz. 752,15-16). Mit diesen Worten wird eine sinntragende strukturelle Parallele zwischen den Halbbrüdern explizit: Dem elsternfarbenen Menschen des Prologs, der sowohl am Himmel als auch an der Hölle teilhat, steht jetzt der schwarzweiß gefleckte Heide gegenüber, der die letzte kämpferische Station des Protagonisten auf der Suche nach dem Gral bildet. Schließlich erwählt Parzival, der nur einen Gefährten nach Munsalvaesche mitnehmen darf, seinen Bruder Feirefiz, der sich dann vor der Hochzeit mit Repanse de Schoye taufen läßt. Das Problem der religiösen Differenz scheint hier zumindest ansatzweise über die Dynamik einer schon gegebenen Identität und Verwandtschaft lösbar zu sein. Was im >Parzival< angedeutet wurde, wird zum zentralen Thema des >WillehalmParzival< zu erwarten, ist aber in der Darstellungsweise »der Verzicht auf die übliche Schwarz-Weiß-Malerei« konsequent durchgeführt. Aufgrund eines umfassenden Vergleichs von Wolframs Werken mit ihren französischen Quellen entdeckte Mergell ein inzwischen zum Gemeingut der Forschung gehörendes »Grundgesetz Wolframscher Gestaltung«, die »Zweischau«: »Während >Aliscans< alle Aufmerksamkeit ausschließlich auf die christlichen Helden richtet und die Heiden nur als ungeformte Masse und bei der Einzelschilderung mit negativer Wertung sieht, steht Wolfram in der durchschauenden Distanzhaltung des epischen Erzählers über dem Ganzen, übersieht symmetrisch Christen- und Heidenheer, französische und sarazenische Helden, denen bei der Schilderung oft gleichviel Raum und nicht minder lobende Prädikate gewidmet werden.«-5 Erzählperspektive - in der Literaturkritik als »die Essenz der Erzählkunst« bezeichnet — ist nicht nur Darstellungsmittel, sondern Vermittlungsinstanz der Ethik. Sie ist »der Begriff für die Subjekt-Objekt-Beziehung in mehrfacher Weise: [sie] definiert das Verhältnis des hervorbringenden Subjekts zum darzustellenden Gegenstand ebenso wie zum hervorgebrachten Kunstgegenstand und beschreibt weiterhin die Möglichkeit des rezipierenden 2 3 4 5 6

Bumke, Wolfram (61991), S. 121. s. zuletzt Ortmann (1993), S. 86; Kirchert (1994), S. 264. Bumke, Wolfram (61991), S. 250. Mergell (1936), S. l Off Scholes und Kellogg (1966), S. 240.

Subjekts, sich gegenüber dem Kunstgegenstand zu verhalten.«7 Die gewichtige Rolle der Perspektive bei der Entstehung einer ethischen Haltung ist ein in der >WillehalmMittel< Wolframs sehr wahrscheinlich dadurch zustandegekommen sind, daß sie eben nicht als »technische Mittel< virtuos >eingesetzt< worden sind, sondern aus moralisch-ästhetischer Nötigung heraus als Ausdrucksform entdeckt werden konnten, weil die Darstellung von Schlacht als Leid für den Dichter Problem geworden war.«9 Die meisten Arbeiten, die sich mit dem Problem der darstellungstechnischen und/oder ethischen Perspektivierung des >Willehalm< auseinandersetzen, gehen vom Erzähler aus. Die wesentliche Unterscheidung zwischen dem historisch bezeugten Verfasser des Werkes und einem Erzähler, der als dessen fiktiver Reflex innerhalb des Textes fungieren mag, wurde in der deutschen Literaturkritik früh getroffen. Wie Ellis festgestellt hat, war Kate Friedemann die erste, die sich kritisch von der damals in der Germanistik vorherrschenden Ansicht distanzierte, die Rolle des Erzählers bestehe einfach darin, die Begebenheiten des Werkes zu zeigen, auf keinen Fall aber zu besprechen.10 Friedemann unterstrich also die zentrale Rolle des Erzählers - »das Wesen der epischen Form [besteht] gerade in dem Sichgeltendmachen eines Erzählenden« (S. 3) - und unterschied grundsätzlich zwischen Autor und Erzähler: »Es handelt sich nicht um den Schriftsteller Soundso, der in mehr oder weniger verblümter Form Indiskretionen gegen sich und andere begeht, denen nachzuspüren die literarhistorische Kritik nicht müde wird« (S. 26). In der mediävistischen Germanistik blieb diese fortschrittliche narrativische Position unbeachtet, bis in den 60er und 70er Jahren eine ganze Reihe von Monographien über den Erzähler in einzelnen Werken des Mittelalters die Thematik erneut in Angriff nahmen.11 Im ganzen genommen, waren diese,

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Gramer, Perspektive (1988), S. 100. Ruh (1980), S. 165. Bertau, Literaturgeschichte (1983), S. 88. Vgl. auch Kiening (1991), S. 68; Fuchs (1997), S. 247. Ellis (1974), S. 26ff.; Friedemann (1910). Nellmann (1973) zu Wolfram; Dittrich-Orlovius (1971) zu >Reinfried von Braunschweig.; Clausen (1970), L. Peiffer (1971) und Eifler (1975) zu >TristanNibelungenliedErec< und >IweinIwein< und Mecke (1965) zu >ErecFrauendienstWillehalm< und den Spielmannsepen.

um mit Bradley zu sprechen, geprägt von »neopositivistic tendencies [... which] treat narrative techniques as objects to be catalogued«.12 Die Arbeiten von Pörksen und Nellmann, die sich beide mit Wolframs Werken beschäftigen, sind hier keine Ausnahmen.13 Nellmann konzentriert sich auf das Verhältnis zwischen Erzähler und Publikum und stellt einen klassifizierenden Katalog der verschiedenen Arten von Erzählerkommentaren auf, um dann die Charakteristika erzählerischen Hervortretens bei Wolfram mit denen in der früheren mittelhochdeutschen Literatur und der traditionellen Rhetorik zu vergleichen. Ebenso verfährt Pörksen, der vom »Vordringen eines systematischen, auf die Erkenntnis typischer Strukturen gerichteten Denkens« (S. 223) fest überzeugt ist. Mit Hilfe einer systematischen, zweckspezifisch aufgestellten Morphologie des Erzählerbegriffes zieht er dreizehn mittelhochdeutsche Texte (vom Spielmannsepos über Hartmann zu Wolfram) zum Vergleich heran. Gerade weil sich aufgrund rhetorischer Muster, die letztendlich auf Curtius' einflußreiches Modell14 zurückzuführen sind, dreißig verschiedene Spielarten des erzählerischen Hervortretens ableiten lassen, deren Ursprünge in der klassischen Rhetorik wie in der mittelalterlichen Ars Rhetorica liegen, können bei dieser Systematisierungslust nur sehr eingeschränkte Schlüsse über den eigentlichen Stellenwert der Kategorien im Text gezogen werden.1' Die Unzulänglichkeit solcher Methodik ergibt sich daraus, daß trotz der durchaus angemessenen und erfolgreichen Kategorisierung der rhetorischen Schemata Wolframs die Rolle des Erzählers nicht auf ihre Bedeutung für die Hermeneutik des Textes hingeprüft wird.16 Für Pörksen gelten »die Formen

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Bradley (1981), S. 4.

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Pörksen (1971); Nellmann (1973). Curtius (51965). Kritiker (wie Green [1973], W. T. H. Jackson [1973], Knapp [1972], Curschmann [1973] und W. Schröder [1973]) sehen Pörksens größte Schwächen in seiner heterogenen Quellenauswahl, seiner Vernachlässigung wesentlicher Gattungsrepräsentanten (wie Gottfried und Hartmann) und seiner Inkonsequenz in der Unterscheidung zwischen Erzähler und Autor. In vielen Arbeiten über mittelhochdeutsche Erzählkunst ist die Isolierung des Erzählerkommentars mit einer weiteren narrativischen Problemstellung verbunden: Wie ist ein Eingriff des Erzählers überhaupt zu definieren? In den zitierten Studien führt der Wunsch nach präziser Kategorisierung des erzählerischen Hervortretens zur Überdefinition. Die Definition von L. Peiffer (1971) beispielsweise läßt nur jene Textpassagen als Erzählerkommentare gelten, die länger sind als vier Verse. Demgegenüber muß betont werden, daß der Erzähler sich oft in kurzen, tief im Text eingebetteten Vergleichen oder einzelnen Wortgruppen äußert, die sich nur schwer in ein Verhältnis zu anderen Strängen des Werkes setzen lassen. Solche quantitativen Konzeptualisierungen des Erzählers scheitern spätestens dann, wenn, um nur ein Beispiel anzuführen, der Erzähler seine eigene rhetorische Frage mit dem Weitererzählen der Handlung beantwortet.

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erzählerischen Hervortretens nicht so sehr als Einstieg zu Werkinterpretationen, sondern als Teil der empirisch faßbaren praktizierten Poetik des mittelhochdeutschen Epos« (S. 16). Nellmann zufolge gibt »die Isolierung der Eingriffe, die aus methodischen Gründen notwendig war, [...] keine adäquate Vorstellung von ihrem Funktionieren im Erzählzusammenhang« (S. 187).17 Während in früheren Studien zu Wolframs Erzählkunst jede Textinterpretation bewußt ausgeklammert wurde, strebt Kiening,18 der von einem stark narrativisch geprägten Gesichtspunkt ausgeht,19 eine genaue Bestimmung des Verhältnisses zwischen Erzähler und Hermeneutik an. Auf dem Hintergrund wissenschaftlicher und methodischer Spannungen versucht seine Analyse, »einerseits die narrative Diachronie (der - im strukturalistischen Sinne — >OberflächenstrukturNarration< und >Reflexion< zusammengefaßt. Von vornherein weiß Kiening, daß man sein Schema »zweifellos als Reduktion auffassen kann. [... Die] Reden der handelnden Personen wären auf ihren reflektierenden Gehalt, ebenso auf ihre Stellung in der Narration zu befragen, auf ihren inneren Aufbau und thematischen Zusammenhang.« Weil »die Betrachtung von Aussagen auf Erzähler- und Figurenebene — erzähllogisch — eine Verdoppelung des hermeneutischen Problems [offenbart]«, würde eine Untersuchung, die die Figuren mehr als kursorisch einbezöge, »eine methodische Fundierung zugleich erschwerten]« (S. 6). Anlaß zu Bedenken geben die methodologischen Voraussetzungen von Kienings Modell, das mit einem »traditionellen Begriff von Erzähler« (S. 26) operiert. Das Verhältnis zwischen diesem Erzähler (»Synchronies >ReflexionDiachronieNarrationWillehalm< anhand eines Modells überzeugend analysieren, das an den deutschen Bearbeitungen höfischer Romane Chretienscher Prägung gewonnen wurde? Diese Frage tendiert zu negativen Antworten auf zwei Fronten. Erstens: Kiening nennt den >Willehalm< eine »Wende zur Geschichte«, die zu einem »Genus novum« (S. 117) führte, ja eine »Abwendung von einem strukturell vermittelten fiktionalen Heilsweg« (S. 67). Das Werk einerseits revolutionär zu nennen, es andererseits mit der gleichen Dichotomic zu untersuchen, die sich für andere Werke der Zeit als ergiebig erwies, scheint — trotz einigem Gewinn für die Forschung —20 paradox. Zweitens: Dieser im Grunde genommen traditionelle Ansatz läßt die Stimmen der Figuren, die den Kern des Werkes bilden, weitgehend außer acht. Die religiöse Debatte zwischen Giburg und ihrem Vater, Willehalms Dialog mit dem Heidenkönig Matribleiz und Giburgs sogenannte Toleranzrede vor dem zweiten Kampf aus dem hermeneutischen System auszuklammern, bedarf gewichtigerer Rechtfertigung als den Wunsch nach »einer präziseren Erfassung«.21 Kienings Raster scheint insofern in sich widersprüchlich zu sein, als die Taten und Worte der Figuren wieder ins Spiel gebracht werden müssen, um die Gebrochenheit der Relation zwischen Erzähler und Erzähltem adäquat zu erklären. Wenn die Matribleiz-Szene aber doch eine solche als wesentlich erkannte Eigenschaft des Werkes aufzeigt,22 müßte man sich sicherlich überlegen, wie die anderen Stellen, an denen die Stimmen der Figuren noch deutlicher zum Ausdruck kommen, für den Sinn oder die sinnstiftenden Möglichkeiten des Werkes ausschlaggebend sind.

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So hat Kiening als erster die Brüchigkeit der aus Erzählgang und Erzählerkommentar entstandenen Erzählwelt des >Willehalm< systematisch aufgearbeitet. In einem neueren Aufsatz betont Kiening (1993), S. 226£, wieder die Bedeutung der Figuren - »Wolfram schuf zwar einen Erzähler, der wie kaum ein anderer in der Literatur seiner Zeit ins Geschehen eingreift, kommentiert und abschweift, und Witze macht und Dichterkollegen aufs Korn nimmt. Doch die entscheidenden Diskussionen spielten sich auf Figurenebene ab« —, fährt aber dessen ungeachtet in einer Analyse fort, die lediglich eine Zusammenfassung seiner früheren Position darstellt. Kiening (1991), S. 239: »Die Matribleiz-Handlung ist schließlich ein deutliches szenisches Signal, die preimerun-Enahlung bewußte Subjektivität der Erfahrung anstelle des Erzählerberichts.«

Gerade die Figuren — genauer die Figur des Helden Willehalm — rücken in der neuesten Monographie zum >WillehalmWigaloisWillehalmWigaloisWillehalmWigalois< beobachtet Fuchs das Prinzip der »Hybridität« (Versuch der völligen Vermeidung von Negativität, S. 373), die sich dem narrativen Prinzip der »Diversität« (die totale Belastung gerade des Helden mit Negativität, S. 373) im >Willehalm< gegenüberstellt (S. 330). Da es in der Absicht der Untersuchung liegt, die möglichen Vergleichspunkte mit einem weniger komplexen Text zu erarbeiten, wird der >Willehalm< bewußt »auf wenige, selektive Perspektiven auf Figur und Handlung reduziert« (S. 239). Dabei stellt sich aber die Frage, ob es überhaupt legitim sein kann, im Hinblick auf den Protagonisten von der »dargestellte[n] Unmöglichkeit einer letztgültigen Legitimation« und der »radikale [n] Durch-

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Fuchs (1997). Daß Fuchs (1997) selber um die Legitimation seines Schemas ringen muß, ist klar aus seinem Text herauszulesen (z.B. S. 237—240).

Führung der Nicht-mehr-Geltung all[er] Modelle und Diskurse« (S. 373) zu reden, ohne ein für eine Gesamtinterpretation des Werkes methodisch konsequentes Verfahrensmodell entwickelt zu haben. Ironischerweise werden hier weitreichende Schlüsse gezogen, während die Arbeit behauptet, auf solche verzichten zu wollen. Außerdem läßt Fuchs jede Kritik der verschiedenen narrativen Ebenen des Textes in seinen Überlegungen vermissen. Statt die Eingriffe des Erzählers, die für die Brüchigkeit des Textgewebes konstitutiv sind, in sein Instrumentarium aufzunehmen, konzentriert sich Fuchs beinahe ausschließlich auf das komplexe Ineinander von Diskursen, die sich im Werk ständig überschneiden und relativieren. Aus welcher Perspektive diese Diskurse artikuliert werden und wie diese Perspektiven ihren jeweiligen Stellenwert im Text gewinnen, wichtige Fragen also für die Erschließung der Texthermeneutik, bleiben nebensächlich. Einer oberflächlichen Lektüre dieser Forschungsskizze ließe sich vielleicht entnehmen, daß die Wolfram-Forschung auf dem Gebiet der Perspektive nicht gerade ergänzungsbedürftig ist. Es liegen vor: rhetorische Analysen des Hervortretens des Erzählers; eine stark narrativisch geprägte Untersuchung des Verhältnisses zwischen dem Erzähler und der Gesamtinterpretation des Werkes; eine eingehende Analyse (hauptsächlich) einer Figur vor dem Hintergrund narrativischer sowie literaturgeschichtlicher Entwürfe. Hält man sich aber vor Augen, was gerade bei jeder Arbeit jeweils ausgelassen worden ist, dann ergibt sich ein ganz anders aussehendes Inventar. In der WolframForschung haben wir bis jetzt: rhetorische Analysen, die auf breitere Aspekte der Interpretation weitläufig verzichten; eine Gesamtinterpretation, die den Stellenwert der Figuren von vornherein außer acht läßt; und eine Analyse der Figuren, in der die Stimme des Erzählers nur als Teil der Diskurse gilt und keine Interpretation des Werks in seiner Gesamtheit unternommen wird. Wegen bewußter, methodologisch begründeter Ausklammerungen bleibt die >WillehalmWillehalmPerspektive/Blickwinkel· hat sich aus einem Zusammenspiel zwischen dem theorieorientierten und dem nicht theorieorientierten Zweig des narrativischen Diskurses entwickelt.25 Die Pionierarbeiten von Forschern wie James, Lubbock, Forster, Friedmann und Booth, die sich mit dem schon früh geprägten Begriff Point of View beschäftigten,2" wurden in der Folge aufgegriffen in der Auseinandersetzung über die theorieorientierte Seite dieses Gebietes durch Kritiker wie Genette, RimmonKenan und Bai.27 So hält etwa Genette Lubbocks Behandlung des Point of View für beinahe mustergültig und versucht, seinen einzigen Einwand, nämlich daß Lubbock den Unterschied zwischen dem Erzähler und der Figur, aus deren Sicht erzählt werde, nicht angemessen ausarbeite, dadurch zu korrigieren, daß er den Text in mode (Distanz und Perspektive) und voix

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Kiening (1991), S. 15-27, und Fuchs (1997), S. 20-99, bieten einen Überblick über die Entwicklung der Narrativik und ihre Anwendbarkeit auf mittelalterliche Literatur. Der Ablehnung des »romantischen Privilegs der ersten Person« durch James (1934), S. 317, folgend ist Lubbock der erste, der das Phänomen Perspektive/ Blickwinkel« in seinem Werk >The Craft of Fiction« (1957), S. 251, 265, thematisiert. Er betrachtet den Point of View als »a question of method [...] deciding the look that the story is to wear as a whole«. Demgegenüber betont Forster ("1978), S. 82ff., das Vermögen des Autors, die Perspektive im Verlauf eines Werkes zu verändern, um bestimmte Effekte zu erzielen, »bouncing the reader around with his power to expand and contract perception as a parallel [to] our perception of life.« Friedmans (1955; 1967) Typologie des Point of View, die auf Kriterien wie Informationsmenge, Perspektive, Identität und Einstellung des Erzählers gründet, und das fünfte Kapitel von Booths (1961) gewichtigem Werk >The Rhetoric of Fiction« bezeugen weiteres Interesse an diesem Gebiet. Ersterer betrachtet den Point of View als »die Basis für die ästhetische Beziehung zwischen Autor und Werk« (S. 109), während letzterer die Notwendigkeit betont, »präziser zu werden und zu beschreiben, wie die einzelnen Qualitäten des Erzählers sich zu spezifischen Effekten verhalten« (S. 150). Diese und andere Typologien werden intensiver diskutiert in Romberg (1962), S. 11-26; Van Rossum-Guyon (1970); Genette (1972); S. 203-206; Lanser (1981), S. 19-63; und Rimmon-Kenan (1983). Genette (1966; 1969; 1972); Rimmon-Kenan (1983); Bai (1985).

(Stimme) aufteilt. Um Sprecher und Seher in einem begrifflichen Rahmen zu unterscheiden, der darauf ausgerichtet ist, »eviter ce que les termes de vision, de champ et de point de vue ont de trop specifiquement visuel«, kehrt Genette zu Brooks und Warrens Begriff des focus of narration zurück und entscheidet sich für den Begriff focalisation (Fokalisierung).28 Weil man mit dieser Bezeichnung Sprecher und Seher nicht hinreichend auseinanderhalten konnte, beging Genette genau den Fehler, den er zu beheben suchte. Dieser Mangel wird besonders deutlich in Genettes Verteidigung seiner Position gegenüber Mieke Bals Kritik an diesem Punkt: »focalisateur, s'il appliquait ä quelqu'un, ce ne pourrait pas etre qu'ä celui qui focalise le rech, c'est-ä-dire le narrateur«.29 Ähnlich formuliert Rimmon-Kenan: »The narrator creeps in again through the back door«. Bals Modell, das sich um die Etablierung einer Unterscheidung zwischen »the vision through which the elements are presented and [...] the identity of the voice that is verbalising that vision«^1 bemüht, stellt somit den neuesten Ansatz in der narrativischen Debatte um den Point of View dar. Bai und ihre Schülerin de Jong,32 deren >IliasWillehalmricithistoire< und >narration< gestützt. de Jong (1989), S. 31. 10

Fokalisierung und Erz hlen. Diese werden nicht als Personen verstanden, sondern als Funktionen des Textes. Erstere ist f r die perzeptive, emotionelle und intellektuelle Pr sentation der fabula verantwortlich, w hrend letztere, definiert als »that agent which utters the linguistic signs that constitute the text«,35 die verbale Pr sentation der story durchf hrt. Die Klaviatur des Balschen Modells stellt de Jong graphisch folgenderma en dar: S nger/Autor (singt/schreibt)

H rer/Leser text

Erz hler (erz hlt) story Fokalisierungsinstanz (fokalisiert) fabula Figur (handelt)

Von entscheidender Bedeutung f r die Analyse der narrativen Wahrnehmung und Realisation ist de Jongs (S. 33—36) nachfolgende Auseinandersetzung mit der Identit t, Funktion und Interaktion von Erz hler und jeweiligem wahrnehmendem bzw. realisierendem Subjekt, d. h. Fokalisierer/Fokalisierungsinstanz, sowie die Frage nach deren Erkennbarkeit im Text, (i) Die Funktion des Erz hlers und des Fokalisierers kann durch eine der Figuren ausgef llt werden; (ii) Die Funktionen von Erz hler und Fokalisierer k nnen in einer Identit t kombiniert werden: denn jeder Erz hler ist auch eine Fokalisierungsinstanz;37 (iii) Sowohl Erz hlen als auch Fokalisierung k nnen

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Bai (1985), S. 120.

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de Jong (1989), S. 1-14, versucht au erdem, diese Kategorien in einen breiteren literarischen Zusammenhang zu setzen, indem sie Plato, Aristoteles, Plutarch und die Scholia auf fr he Anzeichen kritischer Reflexion ber Erz hlformen im Epos untersucht. Plato (>Politeia< III 392c—394b) unterscheidet zwischen απλή όιηγήσει (durch Einzelerz hlung) und όιά μιμήσεως γιγνομένη (durch indirekte Erz hlung - also alles zwischen Anf hrungszeichen, oft durch ein Verb des Sagens eingeleitet oder abgeschlossen), l' αμφοτέρων bedeutet eine durch beides eingeleitete Erz hlung. Aristoteles (>Poetik< I448a 19-28; I460a 5-11), ist vielleicht der erste, der zwischen Autor und Erz hler unterscheidet, wenn er den Erz hltext in »mimetische« und »nicht-mimetische« Abschnitte unterteilt - Mimetik hier in dem Sinne verstanden, da der Dichter in den nicht-mimetischen Teilen selbst spricht (z. B. im Prolog der >IliasErzähler< mehr leisten, als es in der modernen Theorie gewöhnlich der Fall ist. Die primäre Rezeption der mittelhochdeutschen Epik erfolgte über den öffentlichen Vortrag, der definitiv seine Spuren im Text hinterließ.^ Dieser Vorgang dokumentiert sich nicht zuletzt bei Wolfram, der unter allen Dichtern der Blütezeit am häufigsten und deutlichsten diese orale Kultur reflektiert. Der Begriff >Erzähler< ist in der mediävistischen Forschung als Ausdruck für das explizite Hervortreten des im Balschen Sinne primären Erzähler-Fokalisierers bereits so etabliert, daß eine konsequente Durchführung eines narrativischen Modells die Einfuhrung eines ganzen Inventars von fremd wirkenden Symbolen zur Differenzierung erforderlich machen würde. Weil eine solche Methode meiner Überzeugung nach mehr irritierend als erhellend wirken würde, habe ich im Lauf der Untersuchung weitgehend auf narrativische Terminologie verzichtet. Die Bedeutung des >ErzählerUlyssesOthelloOthello< (1,3), zu verlassen, hat demzufolge keinen Sinn. In der Literatur, wie im Leben, muß bei jeder Interpretation eines Sprechaktes erst der Sprecher selbst und dessen Standpunkt bewertet werden. Als Fazit des knappen Theorieentwurfes des ersten Kapitels gilt aber, daß die Grenzen von Erzählen und Fokalisierung verschwimmen. In Ermangelung fest umrissener erzählerischer Konturen muß dieses Kapitel die Rolle der Figuren im allgemeinen als Ausgangspunkt nehmen. Hier seien nicht nur die Aussagen der Figuren analysiert, sondern auch deren Stellenwert im gesamten hermeneutischen System des Werkes. 14

Der Begriff >FigurFigur< oder >RolleCharakter< dagegen steht für das individuelle Gepräge eines wirklichen Menschen durch ererbte oder erworbene Eigenschaften, impliziert im literarischen Diskurs also Psyche und Emotion. Im folgenden wird >Charakter< die Gesamtheit der Psyche und Emotionen, >Figur< den narrativischen Begriff acteur bezeichnen. Genau wie z.B. vorgefaßte Gattungsbegriffe,3 kann auch unser Konzept der literarischen Figur und ihres Charakters unseren Zugang zum Text schon im voraus bestimmen. Die Frage, ob und inwieweit eine Figur charakterliche Komponenten zum Vorschein bringt, spielt für die Beurteilung

Ähnlich Fuchs (1997), S. 40. In einer Übersicht über die literarturtheoretischen Ansätze zur Figur warnt Toolan (1988), S. 90ff., davor, Figuren aus der Textoberfläche heraus psychologisch zu »rekonstruieren«: »Surface text cannot be dismissed as censored testimony, heavily repressed, requiring startlingly unexpected symbolic readings. (Here we may begin to see how the more radical psychological readers of character may even come to join hands with endlessly rereading deconstructionists, behind the backs, as it were, of plodding structuralists)« (S. 92). Greimas (1966; 1970). Siehe Warning (1979) für eine umfassende Diskussion von Greimas' Ansätzen in einem germanistischen Kontext. Todorov (1970).

der literarhistorischen Stellung eines Werkes eine gewichtige Rolle.4 Die Narrativik hat aber bisher kaum untersucht, wodurch Figuren zu Charakteren werden.5 Diesen Mangel führt Culler auf eine historische Unterscheidung in strukturalistischen Literaturdebatten zurück, in denen der Mensch im Foucaultschen Sinne als Produkt seines sich mit der Zeit ständig wandelnden Wissens gesehen wird. Unser Menschenbild und Charakterbegriff sind dementsprechend provisorisch. Figur- und Charakterkonstellationen müssen also anhand der literarischen Konventionen der jeweiligen Entstehungszeit eines Werkes überprüft werden: »The expectations and procedures of assimilation appropriate to nineteenth-century novels with their individuated psychological essences fail before the faceless protagonists of modern fiction or the picaresque heroes of earlier novels.«6 Die unfeste, ja transparente Konstruktion von Figuren in der neueren Literatur (etwa im nouveau roman) setzt schon Konzepte vorangegangener Jahrhunderte voraus, vor deren Hintergrund sie auf spielerisch-reflexive Weise eine gewisse Weltanschauung und ein Literaturverständnis übermittelt. In der Mediävistik muß man also auf diesem Gebiet vorschnell gefaßte, ahistorische Schlüsse vermeiden. Ebensowenig läßt sich der Charakterbegriff eines gegebenen Werks in linearer Relation zum Erzählvorgang bestimmen. Dieses Verhältnis ist nicht hierarchisch, sondern dynamisch. Im Aristotelischen Modell ist das annäherungsweise mit >Charakter< zu übersetzende ethos der Handlung untergeordnet. Ethos spielt bei der Entstehung des Textes zwar keine unwichtige Rolle, kann in der Literatur aber weder autonom stehen noch aus sich selbst heraus eine Erzählung generieren. Daß der Charakter dagegen die Handlung kontrolliert, stellt z.B. Henry James im Vorwort zu >The Portrait of a Lady< als ein in der eigenen literarischen Tätigkeit gerne praktiziertes Prinzip dar. Figuren bedürfen einer Erzählung, auf deren Situationen und Verhältnisse sie reagieren müssen. Diese Reaktionen prägen den Charakter der Figuren, die sich notwendig in weitere Erzählstränge verwickeln. Dieser Prozeß wiederholt sich immer wieder im Text nach dem Prinzip, daß »character [...] generate[s] narrative, just as narrative generates character«.7 Im Hinblick auf die deskriptiven Passagen in der Heldenepik schlägt Kay weiterhin vor, nicht zwischen Handlungsverlauf und Charakterisierung zu unterscheiden.8 Solche

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6 7

8

Vgl. Fuchs (1997), S. 95. Dies ist symptomatisch für die von Toolan (1988) diagnostizierte allgemeine Vernachlässigung der Figur in der narrativischen Diskussion (vgl. Stückrath [1992], S. 40, und in mediävistischem Kontext Kay [1984]). Culler, Structualist Poetics (61989), S. 231. Kermode (1979), S. 77 (vgl. auch S. 99). Kay (1984), S. 479. 16

Textstellen »would [not] lead to a distinction between characterization and emplotment; rather one should see them as indissolubly bound up together.« So nimmt die Analyse Kays Versuch zum Ausgangspunkt, »to challenge the easy assumption that either character or plot has a simple, unanalysable priority of status in the economy of the literary text.«"

2.

Forschungsbericht

2.1.

Geistesgeschichte

Die oben skizzierte allgemeine Bedeutung des Charakterbegriffs muß jetzt auf seine spezifische Aussagekraft im philosophischen und sozioliterarischen Kontext des hohen Mittelalters hin geprüft werden. In seinem Versuch, eine historische Typologie von Charakteren und damit verbundenen Konzepten logisch zu untermauern, stellt der Philosoph Rorty fest, daß der Charakterbegriff immer auf den jeweiligen sozialen Kontext hin orientiert ist.10 Dagegen kann man nicht ohne weiteres behaupten, daß ein Wandel des philosophischen Klimas sich sofort und unmittelbar in der Literatur niederschlägt. Ebensowenig darf man daraus schließen, daß literarische Phänomene auf neue Erscheinungen in anderen Bereichen zurückzuführen sind.11 Eine Par-

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Kay (1984), S. 493. Rorry, Literary Postscript (1976). Verschiedene Wissenschaftler, die sich mit der Verbindung von Literatur und anderen Wissensgebieten im Mittelalter beschäftigen, mahnen zur Vorsicht. Cramer, Wege (1988), S. 8, weist darauf hin, wie lange es dauern kann, bis sich neue Konzepte (hier Subjektivität) in anderen Bereichen etablieren: »Wenn für verschiedene Disziplinen, Literaturwissenschaft und Geschichte, das gleiche Phänomen etwa die Subjektivierung — zu ganz unterschiedlichen Zeitpunkten greifbar wird, so ist dies kein auf differierenden Untersuchungsmethoden beruhender Widerspruch, sondern Befund eben eines Prozesses, der, beschreibbar im Bild der brennenden Lunte, in den Köpfen (und artikuliert in Literatur) schon lange begonnen hat, bevor er in der politischen Geschichte manifestiert wird«. Kartschoke (1988), S. 159, behauptet, daß die Idee des »Gewissens« in der volkssprachlichen mittelalterlichen Literatur nicht in direkter Verbindung zu gleichzeitigen theologischen Debatten steht: »Wenn nun aber die im 12. Jahrhundert aufbrechende Diskussion um das Gewissen mehr ist als ein theoretischer, innertheologischer Klärungsprozeß, dann erhebt sich die Frage, ob nicht die gleichzeitig entstehende volkssprachige Literatur weltlichen Interesses in irgendeiner, genauer zu bestimmenden Hinsicht individuell verantwortete Handlungsformen darstellt und im epischen Diskurs reflektiert, die - wenn es sie gibt — sicher nicht im direkten Zusammenhang mit der theologischen Diskussion und der theoretischen Gewissensbestimmung stehen, möglicherweise aber dieser Diskussion sich an die Seite stellen lassen und ihrerseits bestätigen, daß die Vereinzelung des Einzelnen hier wie dort zum Problem wird«. Lewis (1964), S. 13, beschreibt sein mittelalterliches literatur-

allelität der Disziplinen mag wohl in einer bestimmten Epoche einen generell konvergenten Trend in der Geistesgeschichte bestätigen. Ursprung und Richtung dieser Strömung nachzuspüren, ist aber eine sehr prekäre Aufgabe. Einerseits argumentiert Sollers, daß unsere Vorstellungen von Charakter und das darauf basierende Modell für die Wahrnehmung des anderen als Menschen aus dem discours romanesque stammt.12 Andererseits konstatiert Kermode in seinem Überblick über die theoretischen Schriften Turgenevs und Henry James', daß die vorrangige Stellung der Wahrnehmung und Auffassung der Figur als Charakter im Roman — »at this late moment in the history of narrative« — eigentlich ihren Ursprung im traditionellen Konzept des Individuums hat.13 Die Rolle des Individuums im sozialen Kontext des Mittelalters bleibt aber nach wie vor ein heiß umstrittenes Thema. Daß darüber kein Konsens bestehen kann, resultiert aus den oft radikal verschiedenen Auffassungen vom Mittelalter im Rahmen der historischen Epochenlehre. Als einigermaßen dominant hat sich bis in die letzten Jahrzehnte hinein der Einfluß des Weberschen Entwurfes von historischen Prozessen erwiesen, der später auch von Horkheimer und Adorno in ihrer >Dialektik der Aufklärung< übernommen wurde. Weber postuliert eine sich über Jahrhunderte hinziehende »Entzauberung der Welt«, die eine breite Palette religiöser Sitten - von magischen Riten über die rationalisierte Ethik des jüdischen Glaubens bis zur höchst persönlichen Frömmigkeit Calvins — einbezieht. In diesem Rahmen wurde das Individuum als ein dem Mittelalter völlig fremdes Phänomen charakterisiert.1-' Typisch für diesen Zugang ist Weimann, der das Mittelalter, in dem »das Individuelle in keiner wirklichen Spannung zum Allgemeinen [steht]«, der Renaissance gegenüberstellt, in der die »dialektische Wechselbeziehung zwischen Wesen und Erscheinung« auf »neuartige Methoden der künstlerischen Verallgemeinerung« hindeutet, »die nicht länger mit den bis dahin gängigen Formen der Typik im mittelalterlichen Sinne zu vereinbaren sind.«

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theoretisches Modell folgendermaßen: »[It] ignores even the great change from a predominantly Platonic to a predominantly Aristotelian outlook and the direct conflict between Nominalists and Realists. It [Lewis' Modell] does so because these things, however important for the historian of thought, have hardly any effect on the literary level. The Model, as regards those elements in it which poets and artists could utilise, remained stable.« Sollers (1968). Vgl. auch Chatman (1971), S. 212; Bremond (1973). Kermode (1979), S. 76ff. M. Weber (1920; 41973); Horkheimer und Adorno (21947). Burckhardt (1930); Benjamin (1928), S. 165-170; Lugowski (1932); Weimann, Realismus (1977). Weimann, Strukturen (1977), S. 66f. 18

In den letzten zwei Jahrzehnten haben aber Mediävisten gegen die oft abqualifizierenden Implikationen des ursprünglich in der Renaissance erfundenen und in der historischen Epochenlehre meistens unreflektiert übernommenen Mittelalterbegriffes rebelliert. Mehr aus Trotz als aus ernsthaften etymologischen Gründen haben die New Philologists sogar das Wort >modern< für sich verbucht mit der Behauptung, es sei eine karolingische Neubildung, um zeitgenössiche und klassische Ideen zu unterscheiden.17 In verschiedenen Disziplinen18 — insbesondere in der Religionswissenschaft und in der Philosophie — hat man begonnen, die Charakteristika des 12. Jahrhunderts neu zu überdenken.19 So postuliert Morris drei Zeitalter der Renaissance: Die karolingische Zeit, das 12. und das 15. Jahrhundert. Den Ausgangspunkt seines Arguments bildet die These: es existiere »a very distinctive element in European history [... with] few parallels among other primitive societies: the barbarian nations in the Dark Ages were heirs to a complicated and sophisticated cultural tradition.«20 Der christliche Glaube sowie die Klassik hatte den Akzent auf das Individuum und dessen Selbstbewußtsein gelegt. »When circumstances were sufficiently advantageous«, hätte der Mensch versucht, zum Wissenstand vergangener Epochen zurückzufinden und das bei der Expansion der frühen Kirche zur Weltreligion aus dem Gleichgewicht gebrachte Verhältnis zwischen Individuum und Gemeinschaft wieder auszubalancieren. Aus einer Kombination verschiedener Faktoren des Wachstums der Städte, eines immer radikaler werdenden Mönchtums, der finanziellen Stabilität und veränderten Erbrechte des Adels, und der neu gegründeten Domschulen und Universitäten — erschien im 12. Jahrhundert (besonders in Frankreich) eine ganze Reihe neuer Gruppen und sozialer Schichten. Jede Gruppe bzw. Schicht brauchte Ideale und Ethiken und orientierte sich neben klassischem und patristischem Gedankengut hauptsächlich am eigenen Ichgefühl.21 Abelard's >Nosce te ipsum< (c. 1135) sowie die Werke von Bernhard von Clairvaux, Petrus Damiani, Aelred von Rielvaux und Willhelm von St. Thierry bringen die auf der Augustinischen Maxime beruhende Überzeugung der Zisterzienser zum Ausdruck: Weil Gott der menschlichen Seele selbst innewohne, könne Kenntnis von Gott nur über

17

Nichols (1991), S. 9.

18

Vgl. Ullmann (1966) in der Politologie, Dronke (1970) und Manning (1977) in der Literaturwissenschaft. Bynum (21984), S. 82-109, verweist auf die zahlreichen Studien auf diesem Gebiet. Morris (21987), S. 20f. Morris (21987), S. 54ff., zeigt jedoch, daß der »Humanismus des 12. Jahrhunderts« keineswegs als Klassizismus verstanden werden kann.

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das Bewußtsein des Ichs als denkendes und fühlendes Wesens erlangt werden. Morris zufolge war das Lexem >Individuum< mit seiner heutigen Verwendung zwar nicht gleichbedeutend: Etymologisch verwandte Wörter wie Individuum, individualis, singularis gehörten damals ausschließlich zur Disziplin der Logik und deren Debatten um Universalien (S. 64ff.). Trotzdem kann Morris behaupten, daß sich Spuren eines Interesses für die menschliche Persönlichkeit doch in anderen Wörtern der Zeit erkennen lassen. Begriffe wie anima (Seele und Geist), der >innere Mensch< Otlohs von St. Emmeram, und das >innere Mysterium< Guiberts von Nogent sind Zeichen eines uns jetzt wohl fremden Wortschatzes, der aber »rich in terms suited to express the ideas of self-discerning and self-exploration« war. Das für sich alleine stehende Individuum mit seiner persönlichen Frömmigkeit und inneren Motivation dermaßen hervorzuheben, daß es zum eigentlichen Kern der religiösen Welt des 12. Jahrhunderts wird, wäre Bynum zufolge weit übertrieben. Der Ansatz leite sich her von unserem »modern sense that a person's exterior may be a screen that keeps us from getting to his true personality - our idea that each personality is unique and therefore seeking a unique expression.«22 Bynum schließt sich eher der Meinung Bentons an,2^ daß >anima< dem modernen Individualitätsbegriff, d.h. innerem Geist bzw. spezifischem, isoliertem Ich, in keiner Weise entspricht. Die Entdeckung des >homo interion definiert sich vielmehr durch das Sich-Bewußtmachen der nach dem Bilde Gottes erschaffenen menschlichen Natur sowie durch die selbstbewußte Rollenverteilung innerhalb der neuen Gruppenbildungen. Die auf diesen ganz verschiedenen philosophischen Ansätzen aufbauenden Interpretationen der literarischen Zeugnisse der Epoche weichen konsequenterweise drastisch voneinander ab. Was die höfische Literatur betrifft, hebt die erstere Schule das Thema des Individuums hervor, während die letztere dieser Thematik nur das Typische entnimmt. Dementsprechend wird sogar die bisher als wesentliches Moment des mittelalterlichen Individualismus geltende Autobiographie Abaelards als typischer Aufstieg und Niedergang eines Philosophen interpretiert. Philosophische Ansätze, die die Literatur mitberücksichtigen, lassen Gattungsunterschiede aber meistens außer

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Bynum (21984), S. 104.

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Benton (1977). Bynum (21984), S. 95: »The twelfth century discovered the outer as well as the inner man, the literal and external as well as the subjective and emotional, the model as well as the motive. And the models that are so emphasised are a way of talking about the newly apparent groups, a way in which these groups created group identification.«

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acht. Die charakterlichen Konstruktionsmöglichkeiten der zwei Gattungen, die für den >Willehalm< konstitutiv sind, nämlich der höfische Roman und die Heldenepik, seien jetzt aus literaturwissenschaftlicher Perspektive kurz skizziert.

2.2. Höfischer Roman Der höfische Roman im französischen wie im deutschen befaßt sich wohl mit dem Individuum und seiner Individualität, tut dies aber nur programmatisch.25 Die inhärente Spannung dieses Komplexes beschreibt L. P. Johnson folgendermaßen: »Der höfische Roman erzählt die Karriere eines Helden, der Proben zu bestehen hat, die zwar auf ihn als Individuum gerichtet sind, doch kollektiver, gesellschaftlicher Art sind und höfische Werte implizieren. Man würde meinen, daß Charakterisierung unentbehrlich wäre. Das ist aber falsch.«26 Diese Position entspricht Borsts Analyse des persona-Begriffs bei Alanus ab Insulis (c. 1200). Im Mittelalter hatte sich die ursprüngliche Bedeutung des Wortes >persona< (die Maske eines Schauspielers) noch nicht zur modernen Idee eines psychologisch voll entwickelten Menschen gewandelt: »Der Einzelmensch ist als solcher nicht Person; er wird es erst, indem er die Rolle übernimmt, die nicht er geschrieben hat, und sie sich zu eigen macht.«27 Dementsprechend interpretiert Borst die Rückkehr des Individuums zu sich selbst als ersten Schritt zur vorprogrammierten Wiederherstellung der höfischen Gesellschaft. In dieser Hinsicht sind die Probleme Yvains/Iweins eher soziologisch als psychologisch zu bewerten: »Sein Verhalten wird zwar mit psychologischer Raffinesse beschrieben, enthüllt aber nicht einen psychologischen, sondern einen sozialen Konflikt. Heute würde man gelehrt sagen, Yvains Neurose sei eine Soziose. Was er denkt, erfahren wir nicht; wir sehen nur seine Reaktionen«. Weiterhin stellt Kartschoke fest, daß sich im höfischen Roman die Prinzipien des menschlichen Gewissens nicht subjektiv im Geiste des Individuums selbst entwickeln, sondern schon längst in einem breiteren sozialen Kontext etabliert sind: »Was ere und schände ist für Iwein oder Daniel [von dem Blühenden Tal], ist ihnen auf der historischen Stufe ihrer Existenz noch vorausgesetzt, nicht schon individuelle Interpretation. Die reflektierenden Gestalten der höfischen Epik treten mit ihren Entscheidungen nie in Gegensatz zur Gemeinschaft, sondern

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26 27

Der Aspekt des Individuums und dessen Entstehung im höfischen Roman ist von der Forschung hinlänglich abgesichert (z. B. Walker [1928]; Kartschoke [1988]; Morris [21987]). L. P. Johnson (*1994). Borst, Lebensformen (1979), S. 252 21

integrieren sich vielmehr in sie als deren vorbildliche Mitglieder.«28 In diesem Rahmen scheinen die jüngst geäußerten Meinungen von Kasten und Ehrismann, nämlich daß »Programmatik und Figurenpsychologie im höfischen Roman [...] nur locker miteinander verknüpft sind«29 und daß »[im >ErecAliscans< zeigt sich darin, daß die verwirrte Guiborc erst nach der Bestätigung ihres Verdachts in Tränen ausbricht (AI. 1839), während Giburg schon intuitiv den Umfang der Katastrophe begriffen hat. Demgemäß bricht sie zusammen, bevor sie sich nach dem Ausgang des Kampfes erkundigen kann:

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»Mein Gott«, sagt der Markgraf, »Heilige, verehrte Jungfrau. / Es stimmt alles, was sie sagt. / Von nun an lebe ich nur in Trauer. / Edle Gräfin, verbergen hat keinen Sinn. / Alle meine Kampfgenossen sind tot. / Auf Alischanz wurden sie alle vernichtet. / Es bleibt keiner, der nicht enthauptet wurde. / Ich bin geflüchtet. Da konnte ich nicht länger bleiben. / Die Türken haben mich fast den ganzen Tag verfolgt.« 41

des wanes Giburc sere erschrac. si gedahte: »ob ich in vrägen mac der rehten mcere von Alischanz, ob er selbe und Vivianz daz velt behabeten mit gewalt gein dem künege Tibalt öd wie'z da ergangen wcere?« al weinende si vrägete mcsre: »wä ist der klare Vivianz, Mile unde Gwigrimanz? [...]« 93,1-10

Trotz der schlechten Nachricht, daß Vivianz tot ist und ihr Vater die heidnischen Truppen angeführt hat, vermag sich Giburg, anders als Guiborc, zu fangen. Sie überwindet ihren Schwächeanfall, simuliert ihrem Mann zuliebe ein gesundes Selbstbewußtsein und beißt die Zähne zusammen. Denn angesichts der überwältigenden Macht des Feindes (94,8-22) müssen dringend Verteidigungsmaßnahmen ergriffen werden:

ich erkenne si so vermezzen: wir werden hie besezzen, nü wer sich wif> und man: niht bezzers rates ich nü kan. 'ez nxhste gedingt ist unser leben, daz sul wir niht so gähes geben: si mugen wol schaden erwerben, e daz wir vor in sterben. [...]« 94,23-30

Daß Giburg in einem primär männlichen Bereich aktiv wird, nimmt Willehalm durchaus wahr, und er versucht, das übliche Gleichgewicht der Kräfte zwischen Mann und Frau wiederherzustellen. Willehalms Kuß bestätigt die heterosexuelle Ökonomie der Beziehung und bringt die geschlechtsspezifische Rollenverteilung wieder ins Lot. manlich sprach daz wip, als ob si manlichen lip und mannes herze trüege. er was wol so gevüege, daz er si nähen zuo z'im vienc. ein kus da vriuntlich ergienc, 95,3-8

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Guiborc hört es und fällt ohnmächtig zum Boden hin. / Als sie wieder zu sich kommt, fängt sie an zu toben. / »Ach«, schreit sie, »ich bin wohl verdammt. / Ich 42

Während Guiborc ihren Gefühlen öffentlich Ausdruck verleiht — Molt fa li dens en Orenge pesans; I Pleure Guibors, des untres ne sai quans (AI. 18401841)^ — nimmt Giburg eine ständige und bewußte Abgrenzung der äußeren von der inneren Sphäre vor. Bevor sie ihren aufgestauten Gefühlen freien Lauf zu lassen vermag, muß sie Willehalm in die Abgeschiedenheit des Schlafgemachs führen, um ihn dort alleine zu pflegen. »Es ist Wolframs Kunst, daß er den Riss, der sich hier für Gyburc auftut, nicht schliesst. Weniger versöhnlich als seine Interpreten, die fast immer in Gyburc die zum vollkommenen Christentum findende Frau sehen. Wolfram kennt sie auch anders: Kaum ist sie allein, ohne Zeugen, ohne Gesellschaft [...], bricht der Riss in ihr laut auf«. durh sin gemach und durh ir klagen Giburc den marcrdven dan vuorte, den strifes müeden man, [...] 99,8-10

Erst nachdem die Wunden verbunden sind und der erschöpfte Markgraf nach den Leidenschaften der Liebe an ihrer Brust in tiefen Schlaf gefallen ist, kann Giburg in diesem Moment gänzlicher Stille in ihre innere Sphäre zurückkehren und sich selber ihren Kummer eingestehen. Auf den ersten Blick scheinen die hier geäußerten Worte die von vielen Kritikern vertretene Ansicht, Giburg sei nur Sprachrohr des Autors, zu bestätigen: »ich geloub, Altissimus, daz du got, der hoehiste, bist vil stcete an allen valschen list

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bin ganz miserabel, das sage ich Ihnen. / Meinetwegen ist so viel Jugend vernichtet worden. / Wie schlecht der Tag, wo ich geboren wurde. / Heilige Maria, gekrönte Königin des Himmelreichs, / Wenn ich nur tot und schon begraben wäre! / Meine Trauer darf nicht vergessen werden, / bis mein Körper in die Erde geschleudert wird. Willehalms Antwort (93,26-94,4) ist ebenfalls realistischer als die Guillaumes. Im mittelhochdeutschen Text gibt der Held zu, daß er nicht über jedes Einzelschicksal Bescheid weiß — plausibel für jemanden, der unter Lebensgefahr aus einer Schlacht entkommen ist —, während er im altfranzösischen Text kategorisch behauptet, daß alle tot sind. Grenzler (1992), Ukena-Best (1994), Liebertz-Grün (1996), Schnyder (1999) und Young (*2001) lesen >Willehalm< unter dem gender-Aspekt. Die Trauer in Oransche ist schwer. / Guiborc weint, wieviel andere [weinen], weiß ich nicht. Schnyder (1999), S. 514. Zum Beispiel Bumke (1959), S. 168; W. Schröder (1973), S. 235; Gibbs (1976), S. 14, 24, 26; Ruh (1980), S. 176. Und jüngst, wenn auch vorsichtiger: Haug (1975), S. 217; Kirchert (1994), S. 259. 43

unt daz dm wäriu Trinität vil tugenthafier bermede hat. [...]« 100,28-101,2

Hier steht jedoch viel mehr auf dem Spiel als eine einfache Wiederholung der Grundgedanken des Prologeinganges: reine Treue und Sündenfreiheit (Ane falsch da reiner (1,1)), Standfestigkeit (din stcetiu kraft (1,4)) und der wundersame Begriff der Trinität (du drt und doch einer (1,2)). Der Akzeptanz des christlichen Glaubens bei den heidnischen Völkern steht das Prinzip der Dreieinigkeit im Wege. Dieses Problem wird auch im Text thematisiert, nämlich im Gespräch über religiöse Überzeugungen zwischen Giburg und ihrem Vater, Terramer. Auf Giburgs Behauptung, daß dem Menschen durch den Tod Christi als Vertreter der Trinität Erlösung widerfahren werde, erwidert Terramer schlagfertig: Den einen hätten doch die beiden anderen vor dem Tod bewahren können (219,2—3). Vor dem Hintergrund dieses Streitgesprächs wird klar, daß Giburgs Beschwörung der Dreifaltigkeit in der Einsamkeit der Kemenate weit über eine bloße Wiederholung des im Prolog unangefochtenen Glaubensbekenntnisses hinausreicht. Die Anrufung ist da, wie auch hier, die Behauptung einer neuen Identität. Die in der Stille geäußerten Worte artikulieren vielleicht schon im Geiste ihren Trotz gegen den wohl vorstellbaren Spott ihrer Verwandten, gleichzeitig aber ihr Festhalten an einer entschlossenen Haltung, die überall soviel Leid ausgelöst hat:

·[·..] nü lern ich, des ich nie began, eins jxmerlichen trostes gern: des müeze mich dm güete wem, daz sich kürze nü min leben, sit mir min vater hat gegeben sus ungevüege räche. [...]« 101,16-21

Angesichts des jämmerlichen Zustands ihres Mannes und im Gedanken an die Verstoßung durch ihren Vater gerät Giburg in Verzweiflung und weicht dramatisch von der scheinbar sinngebenden Programmatik des Prologs ab. Darin hatte der Erzähler festgestellt, daß trost nur in der Taufe zu finden sei: so gtt der toufmir einen trost (1,23). Die auseinandergehenden Linien dieser Rede, in der Giburg zunächst ihre religiösen Überzeugungen bestätigt, dann aber bestimmte Glaubensgrundsätze von sich weist, verleiht der Figur eine

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Vgl. auch 108,4-10.

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In der selben Rede: »nü hat mines vater nachvart l mir disiu herzeser getan« (102, 18-19).

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Tiefe und Komplexität, die weit über die eröffnenden Passagen des Werks hinausgeht und daher eine ganz neue Hermeneutik eröffnet. Nicht nur die Attacke des eigenen Vaters beklagt Giburg jetzt, sondern auch die tragische Botschaft vom Tod ihres Neffen, Vivianz, die ihr kurz vorher Willehalm überbringen mußte (101,16ff). Hier zeigt sich wieder die Differenz zur Quelle: Giburg betrauert im Gegensatz zu Guiborc den schrecklichen Ausgang des Kampfes nur im höchst privaten Rahmen außerhalb der Hörweite ihres niedergeschlagenen Mannes sowie der überlebenden Burgbewohner. Als sich endlich dazu Gelegenheit bietet, läßt Giburg ihren Emotionen freien Lauf und versucht, den Preis des totalen Verzichts auf ihr vergangenes Leben nachzuvollziehen:

ei, waz ich hohes prises hän verlorn: maneges heldes triuwe, die ich vant, do ich der Arboise lant und den künec und des kint verliez und der touf den ungelouben stiez von mir und daz ich kristen wart! [...]«

102,12-17 Die Tatsache, daß sie schon soviel aufgegeben hat, scheint aber allen in ihrer Nähe nur ebensoviel Leid zugefügt zu haben. In ihrer Verzweiflung strömen ihr Tränen aus dem Herzen in die Augen und benetzen die Wangen des Markgrafen. Er wacht auf und versucht, sie zu trösten. Das Erwachen ihres Mannes wirkt stabilisierend auf Giburg, die nun ihre Emotionen erneut im Zaum halten muß. An diesem Punkt ist die Vorlage geradezu tränendurchnäßt: »Sire Guillames«, dist Guibors en plorant, »Car i ales par le vostre commant [. . .]« AI. 1946-194770

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Der Aufbau dieser Szene erinnert an ein Tagelied. Die gleichen Elemente - der schlafende Mann, der durch die Tränen seiner Geliebten, die auf seine Brust fallen, geweckt wird; die anschließende Tröstung — finden sich z.B. in der dritten Strophe von Morungens Owe,— Sol aber mir iemer me (MF 143,22), die Wolfram durchaus gekannt haben könnte, da Morungens Gönner Dietrich von Meißen der Schwiegersohn Hermanns von Thüringen war: Owe, / Si kuste ane zal / in dem slafe mich. / do vielen hin ze tal / ir trehene nider sich. / ledoch getroste ich sie, / daz si ir weinen lie / und mich al umbevie. / Do tagte ez (144,1—8). »Guillaume mein Herr«, sagt Guiborc weinend, / »Sie müssen selbst dorthin für Ihre eigene Sache.«

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Ot le Guillames, Guiborc va enbra^ant. Par grant amor se vont entrebaisant, Li uns par lautre de dolor plorant, Tant va Guibors Guillame depriant, K'en France ira, ce It a convenant, Par le secon, dont il sont desirrant. Al. 1963-196871

Guiborc wirft Guillaume vor, sie in einem Land im Stich zu lassen, in dem sie ungeliebt sei, und befürchtet darüber hinaus, er werde den Reizen der wunderschönen Frauen Frankreichs nicht widerstehen können: »Or t'en Iras en France l'alosee, Si me laires dolante et esgaree Entre tel gent dont ne sui fas amee, Et tu iras en la terre asasee. Mainte pucele z veres couloree Et mainte dame par noblece acesmee. Je sai tres bien, tost m'avres obliee, Lues i sera vostre amors atornee [...]« AI. 1970-197772

AJs Guillaume, von taute sä gent (AI. 2028) umgeben und bereit zum Aufbruch, am Tor der Zitadelle steht, wird Guiborc schon wieder vor den versammelten Zuschauern dolente et esploree (2030).73 In der der Chanson de geste eigenen Art und Weise wiederholt sie beinahe formelhaft die Gedanken, die sie schon früher über ihre eigene Bekehrung geäußert hat (AI. 1804—1808), und verlangt dabei, daß Guillaume sie in seiner Abwesenheit ständig vor sein geistiges Auge zitieren möge (AI. 2031-2036). Daraufhin muß Guillaume vom Pferd absteigen, um seiner tränenüberströmten Frau weiteren Trost zukommen zu lassen. An dieser Stelle wirft die subtile Schilderung ein besonderes Licht auf die Charakterisierung der Heldin im mittelhochdeutschen Text: Wolfram faßt den Erzählvorgang seiner Quelle in relativ gedrängter Form zusammen und inszeniert Giburgs Gefühlsausbruch als spontane Geste. So wie die Trä-

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Guillaume hört zu und umarmt Guiborc, / mit großer Liebe küssen sie sich. / Der eine beweint die Trauer des anderen. / Guiborc fleht Guillaume nach wie vor an, / er sollte nach Frankreich gehen, / um da die notwendige Unterstützung zu holen. »Jetzt müssen Sie nach dem berühmten Frankreich. / Mich lassen Sie hier in Trauer und Verzweiflung zurück / unter einem Volk, das mich nicht liebt. / Und Sie reiten in das reiche Land. / Dort werden Sie viele schöne Jungfrauen / und viele edle, geschmückte Frauen sehen. / Ich weiß, Sie werden mich schnell vergessen. / Ihre Liebe wird dorthin gerichtet sein. dem ganzen Volk (2028); trauernd und weinend (2030). 46

nen schon vor dem Erhalt der schlechten Nachricht instinktiv zu fließen begannen, spürt sie, erst nachdem Willehalm seine Rüstung angelegt und sich auf den Weg gemacht hat (103,26ff.), die Angst in sich aufsteigen und ihre äußere Gelassenheit schwinden. Bevor der letzte Augenblick des Alleinseins vorübergegangen ist, hält sie ihn abrupt zurück: unlange er danne viirbaz gie, unz in diu künginne umbevie. Giburc sprach: »herre markts, läz dinen erweiten pris, an mir nu wesen stctte, daz du durh iemens rcete wenkest an mir armen, und laze mich dir erbarmen! /. . .]«

103,29-104,6 Im Gegensatz zu Guiborcs Worten sind die Worte Giburgs mehr Ermahnung als Vorwurf: Sie hat nicht nur die möglichen Versuchungen, denen Willehalm auf seiner Reise ausgesetzt sein wird, richtig eingeschätzt, sondern ist sich auch ihrer eigenen verblühenden Schönheit bewußt:7

dennoch was ich in der schouwe, daz man mir klärheit jach, vriunt unt vient, swer mich sach. du möhtes mich noch wol liden, und solt uns kumber miden.« 104,26-30

Im Hinblick auf die Tränen, die sie bei Willehalms Auszug vergießt — al weinende wart er üz verlän (105,17) -, ließe sich Giburg also mit zwei Figuren der mittelalterlichen Literatur vergleichen. Auf der einen Seite haben diese Tränen der Giburg-Figur so feine und komplexe Züge verliehen, daß Guiborc und deren ununterbrochenes, monotones Jammern daneben völlig verblaßt. Auf der anderen Seite steht Kriemhild, deren Verhalten in der zweiten Hälfte des >Nibelungenliedes< durch ihr still und langsam heranwachsendes, destruktives Weinen geprägt ist. Im Vergleich tragen die Tränen zu einer genaueren Konturierung der Innenwelt Giburgs bei, während Kriemhilds Psyche meistens nur grob umrissen bleibt. Denn Kriemhild, von einem Massenzerstörungstrieb besessen, folgt ihrer mörderischen List, wobei bis zuletzt die innere Sphäre von der äußeren differenziert werden muß. Um

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Vgl. Schnyder (1999), S. 515.

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des Markgrafen willen bemüht sich Giburg, ihre Gefühle unter Kontrolle zu halten. Denkt sie einmal kurz über vergangenes und sicher noch bevorstehendes Gemetzel und Leid nach, so gerät ihre innere Sphäre in Verwirrung. Die äußere Sphäre wird davon sofort durchdrungen. Der zweite Abschnitt der religiösen Debatte, in der sich Giburg auf dem Schutzwall der belagerten Burg zu Oransche trotzig gegen die drohende Streitmacht ihres Vaters durchsetzt, bildet einen anderen Kontext, in dem die schon früher im privaten Rahmen formulierten Gedanken neu artikuliert werden können. Insbesondere bemerkenswert sind hier einige Motive des früher über ihrem schlafenden Mann geflüsterten Monologs, die jetzt in der Anwesenheit ihres Vaters anders akzentuiert werden. Im Laufe des Gesprächs gelobt die Heldin dem Markgrafen und dem christlichen Glauben folgendermaßen Treue:

salt ich durh Mahmeten Krist unt den marcraven verkiesen unt minen tauf Verliesen unt manege werdecliche ger, die under schilde mit dem sper, mit helme verdecket, so dicke hat volrecket der marcgräve mit heldes tat und noch vil guoten willen hat, ze dienen nach miner minne? ich was ein küniginne, swie arm ich urbar nü st. ze Arabia unt in Aräbi gekroenet ich vor den vürsten gie, e mich ein vürste umbevie. durh den hdn ich mich bewegen, daz ich wil armuot pflegen, unt durh den, der der höchste ist. [. . .]«

215,16-216,3 Diese Äußerungen scheinen zunächst ihren vorhergehenden Gedanken zu widersprechen. Wegen ihrer Liebe zu Willehalm weigert sie sich hier explizit, dem christlichen Glauben abzuschwören. Für Willehalm und Gott habe sie auf Länder, Reichtum und Ehre in Arabien verzichtet und sich entschlossen, in (relativer) Armut zu leben. In diesen Worten kann man »gleichwohl einen Bezug zum religiösen Ideal der Nachfolge des >armen< Christus sehen.«7·' Viel stärker aber muß betont werden, daß diese Passage weder einen

75

Heinzle, Ausgabe (1991), S. 979. 48

chamäleonartigen Meinungsumschwung noch einen Widerspruch im Charakter Giburgs darstellt. Hier schildert Wolfram eine literarische Figur, die in verschiedenen Umständen zu verschiedenen Reaktionen fähig ist. Einmal spricht Giburg aus innerer Anteilnahme am Leid ihres Mannes. Im zweiten Fall muß sie in Abwesenheit Willehalms, der sich todesmutig heimlich auf die Suche nach Verstärkungstruppen nach Frankreich aufgemacht hat, zu physischen und geistigen Verteidigungsaktionen bereit sein. Sie ist fest entschlossen, heidnische Angriffe gegen die Stadt Oransche abzuwehren und an ihrer Abkehr vom Islam zugunsten einer neuen Religion und aufgrund ihrer Liebe zu Willehalm festzuhalten. Die aufwühlenden Gedanken, die Giburg nach Willehalms Rückkehr durch den Kopf gehen — die Liebe zu ihrem Mann, das kaum erträgliche Leid dieses Mannes, ihr persönliches Leid angesichts der Verfolgung ihres eigenen Vaters -, verursachen zwar eine gewisse Trauer. Als sie aber dem Urheber dieses Kummers von Angesicht zu Angesicht gegenübersteht, schöpft sie wieder trotzige Stärke. Was in dem einen Kontext Bedauern weckte, wird jetzt zum Grundstein ihres Widerstandes: Liebe zu Willehalm, religiöse Zuversicht und der daraus folgende Verzicht auf Reichtum. Weit davon entfernt, eine wankelmutige Figur zu sein, ist diese scheinbar ganz veränderte Reaktion bloß auf die veränderten Umstände zurückzuführen, in der sie sich befindet. Die Gefühlsschwankungengen sind eigentlich Ausdruck verschiedener Aspekte der Liebe und Sorge, die den Charakter der Figur zutiefst prägen. Liebe und Sorge verursachen Giburg Leid, verleihen ihr aber auch die innere Stärke, die ihr Leben in die gebotenen Bahnen lenkt. Giburgs Rede im Kriegsrat stellt einen weiteren veränderten Kontext dar, in dem auch andere Grundmotive des Dialogs mit ihrem Vater in abgewandelter Form wiederkehren. Zuerst verdient ihre Einstellung zu Adam und anderen Figuren des Alten Testaments unsere Aufmerksamkeit. Das Gespräch mit ihrem Vater kreist um den Sündenfall und das darauffolgende Leid, das nur zwei Menschen — dem Propheten Elias und dem Urvater Henoch — , die Gott ohne Todesqual zu sich entrückte, erspart bleiben sollte:

Sibelle unde Plato die hohen schulde uns kündent so: Eve al eine schuldic wan dar umbe die helleclichen vart Adämes geslehte vuor iedoch. wan Helias und Enoch, die ändern muosen alle queln: däne künde sich niemen von versteln. wer was, der si loste dan unt der die sigenunft gewan,

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daz er die helleporten brach, unt der Adämes ungemach erwante? daz tet diu Trinität! der sich einen selbe dritten hat, ebengelich unt ebenher, [...]« 218,13-27

Im Kern von Giburgs Argument steht die Prämisse, daß die Menschen von Sündhaftigkeit und Verdammnis, für die bei den heidnischen Propheten Eva die Hauptschuld trägt, durch den an den Höllenpforten errungenen Sieg Christi (Ps. 106,18) völlig erlöst sind. Mit diesen Worten, die die Stoßkraft eines christlichen Glaubensbekenntnisses haben, will Giburg dem Glauben des ihr gegenüberstehenden Vaters und dem ihrer aller Ahnen ein für alle Mal abschwören. Später aber wird das gleiche Thema vor den christlichen Truppen in etwas anderem Licht präsentiert. In diesem Kontext liegt ihrem Argument das Dogma zugrunde, daß Christsein an die Taufe gebunden ist. Diese Prämisse hat zur Folge, daß getaufte Mütter ausnahmslos ungetaufte Kinder gebären, impliziert also, daß jeder Christ als Heide auf die Welt gekommen ist. Auf der Basis dieser Argumentation erscheint Adam nicht als negatives Symbol des Sündenfalls, sondern in positivem Licht als heidnischer Urvater der ganzen Menscheit: ein heiden was der erste man, den got machen began. nü geloubet, daz Elias und Enoch vür heiden sint behalten noch. Noe auch ein heiden was, der in der arken genas. Jop vür war ein heiden hiez, den got dar umbe niht verstiez. nü nemt ouch drier künege war, der heizet einer Kaspar, Melchior und Ealthasän; die müezen wir vür heiden hän, diene sint zer vlüste niht benant: got selb enpfie mit smer hant die ersten gäbe ane muoter brüst von in. [...]«

306,29-307,14 In dieser ersten Phase einer langen Gedankenreihe, die von der mittelalterlichen Dreiteilung der Heilsgeschichte in eine heidnische, eine jüdische und eine christliche Zeit ausgeht, weist Giburg nicht einmal verdeckt auf das Leiden aller Menschen (mit Ausnahme von Henoch und Elias) hin, das den Angelpunkt des früheren Streitgesprächs mit Terramer gebildet hatte. Statt 50

dessen zählt sie heidnische Figuren des Alten und Neuen Testaments auf, die in mannigfaltiger Weise durch Gottes Erbarmen gerettet wurden: Noah, der in der Arche die Fluten überlebte, Hiob, der trotz körperlicher und geistiger Qualen nicht verstoßen wurde, und die drei Könige, Kaspar, Melchior und Balthasar, die zur Krippe des Jesuskindes geleitet wurden. Durch die Auswahl und Darstellung dieser biblischen Episoden wandelt Giburg die gegen Terramer angeführten Punkte bewußt ab und richtet sich jetzt an ein christliches Publikum, das die Heiden gewöhlich per definitionem für verdammt hält. Nicht von ungefähr sind die Heiden hier bei Giburg gerade nicht zum Verlust der Seligkeit verdammt: die heiden hin zer vlust l sint alle niht benennet (307,14-15). Dieser Gesichtspunkt wird jetzt nicht durch weitere Umformulierungen der gegen Terramer eingesetzten Argumente unterstützt, sondern unterliegt zunächst dem ständigen internen Umstellungsprozeß des Giburg-Diskurses:

dem sxläehafien tuet ml we, ob von dem vater siniu kint hin zer vlust benennet sint: er mac sich erbarmen über sie, der rehte erbarmekeit truoc ie. [. . .]«

307,26-30 An dieser Stelle scheint Giburg sich derselben Terminologie zu bedienen, um die Verdammnis ihrer Verwandten nun doch zu behaupten. Bei näherer Betrachtung dieser Verse verkehrt sich dieser vordergründige Eindruck jedoch in sein Gegenteil. Erstens wird durch die Verwendung des Possessivpronomens (siniu) mit dem Hauptwort (kint) die bis dahin im Text übliche Dichotomic zwischen den Geschöpfen Gottes (d.h. Christen und NichtChristen) und den Kindern Gottes (nur Christen) momentan gesprengt. Als siniu kint sind die Heiden also nicht unbedingt zur Hölle verdammt.7 Zweitens verdanken die Heiden diese Rettung der Gnade, die Gottes allumfassendem, unveränderlichem Wesen innewohnt. Ohne die theologischen Implikationen ihrer gewagten Äußerungen zu vertiefen, greift Giburg genau die Terminologie des Erbarmens (erbarmen, erbarmekeit) wieder auf, um ein Paradebeispiel für Christi Gnade zu geben: daß er seinen (heidnischen!) Mördern verziehen hat. An diesen Gedankengang anknüpfend, erklärt sie auch, wie der Sündenfall des Menschen seine Begründung in dem enterbten

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Diese Lesart folgt der kürzlich reformulierten opinio communis der Forschung, die jetzt am prominentesten durch Heinzle, Heiden (1994) und (1998), vertreten wird. Die Forschungsdiskussion wird unten eingehender ausgewertet.

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und vom Himmel hinabgestürzten zehnten Engelschor findet. Dieser wurde durch die Erschaffung des Menschen aus der natürlichen Ordnung vertrieben und plagt daher noch immer die Menschheit mit seinem bösen Treiben. Im Gespräch mit Terramer hat Giburg die Position vertreten, Evas Sünde habe den Menschen in den Einflußbereich des Teufels gebracht, in dem nur der sich erbarmende Christus Rettung bringen könne - da, was gewahsen ein gelust, l der si brähte in arbeit, l in des tiuvels gesellekeit (218,6-8). Jetzt aber werden die vorher zitierten Worte als Milderungsgrund für die heidnischen Aktionen eingesetzt. Das Böse, das die Heiden den Christen antun, resultiert, wie jede sündige Tat auf Erden, aus dem aktiven Einflußbereich des zehnten Chors. Daß Christus unter grauenvollsten Umständen verzeihen konnte, sollte also die Bereitschaft zur Vergebung unter allen christlichen Völkern wecken:77

die varent noch hiute dem mennische bt, als ob der kor ir erbe si, der den ist ze erbe läzen, die sich des kunnen mdzen, daz gates zorn erwirket, des saelde niht verdirbet. swaz tu die beiden hänt getan, ir suit st doch geniezen lan, daz got selbe üf die verkos, von den er den lip verlos. ob iu got sigenunft dort git, lat ez iu erbarmen ime strit! [. . .]«

308,25-309,678 Um diesen Gnadenappell weiter zu untermauern, bezieht sich Giburg als nächstes auf den Schöpfungsakt Gottes. Motive aus dem früheren Gespräch mit Terramer treten hier noch einmal in Erscheinung, aber, wie man jetzt fast schon erwarten kann, zu einem ganz anderen Zweck. In beiden Reden wird auf spezifische Momente der Beschwörungsformel im Prolog zurückge-

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Bertau, Literaturgeschichte (1983), S. 100, führt Ruhs (1980), S. 182, Bemerkung zum »Einschub« in eine etwas andere Richtung fort: »Die rebellischen Engel aber wurden verdammt, weil sie von sich aus gegen Gott waren. Die Menschen aber wurden nicht gleichermaßen verdammt, weil sie durch fremde Anstiftung (durch rat Wh. 308,19) sündigten. Das sagt Giburg. Und man soll mitverstehen, daß auch die Ungetauften nicht von sich aus, sondern aus Anstiftung ihrer Teufelsgötter sündigen und ergo nicht ipso facto verdammt sind. Deshalb der >EinschubWillehalmAliscans< beziehen, wonach Rainouart aus dem Elternhaus geflohen ist«.129 Daß Wolfram seinen Text ausgerechnet an dieser Stelle, an der in der Quelle kein Gleichnis vorkommt, an der französischen Vorlage orientieren sollte, scheint aber sehr unwahrscheinlich.1'0 Zwei Punkte sind hervorzuheben. Erstens: Das Adlerjunge, das die Prüfung nicht besteht, darf nicht im Nest bleiben. Zweitens: Dieser Adlersitte folgt aber Rennewart nicht. Er wird nicht gnadenlos hinuntergeworfen, sondern fliegt freiwillig vom Nest hinab. Diese zwei Aspekte entsprechen sowohl dem Sinn des ersten Gleichnispaares als auch der Ursache und Wirkung des Verhaltens, das diesen Charakter im weiteren Ablauf der Handlung definiert: Verachtung der Franzosen wie der Familie. Er >fliegt< in ständiger Hast umher, um an beiden Parteien Vergeltung zu üben. Die Anspielung auf die in der mittelalterlichen Vogelkunde für charakteristisch gehaltene milte des Adlers (189,22—24), eine Rennewart wohl abgehende Eigenschaft, fungiert als Abrundung des Gleichnisses und Vorausdeutung auf den zweiten Kampf, in dem beide Seiten nur auf Rennewarts Erbarmungslosigkeit stoßen werden. In bezug auf diese Gleichnisse ist auch der zweite Erzählerkommentar über Rennewart von Belang. Ein langer Abschnitt, der Rennewarts Lebenslauf von seiner Kindheit an zusammenfaßt, beginnt folgendermaßen: der knappe sinem vater haz und sinem mägen umbe daz truoc, daz st in da niht losten: in dühte, daz si verbosten

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Knapp (1970), S. 73f. 130 Yg| Kleppel (1996), S. 197, der auch versucht, den »Bruch in der Biographie« positiv zu lesen.

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ir triuwe. sin haz unrehte giht, wände sine wüten sin da niht. wxre kein sin böte an si körnen, wait iemen hört haben genomen, sölher gäbe ware nach im gepflegen: Franzoiser mähten galt noch wegen. 285,1-10

Die Perspektive des Satzes — sin haz unrehte giht, l wände sine wisten sin da niht (285,5-6) - läßt sich nicht genau definieren: Aus dem Präsens des Verbums könnte man auf einen expliziten Erzählerkommentar schließen. Aber der Umfang der Passage und deren Vordergründigkeit im Erzählvorgang deutet wieder auf Text mit einfachem Erzähler hin. Von welchem Standpunkt aus auch immer artikuliert, faßt dieser Satz die ganze Rennewart-Tragik zusammen: Zorn, Gewalt, Verzweiflung hatten und haben weder Grund noch Zweck. Durch die Ironie des Understatements - dieser neutralen Darstellung der Tatsachen mit der Distanz einer erzählerischen Retrospektive — steigert sich die Tragik der Situation ins Unermeßliche.

6. Willehalm Die Forschungsdebatte um den Titelhelden selbst geht schwerpunktmäßig der Frage nach, ob und inwieweit sich der Charakter im Laufe der Handlung entwickelt. Die Positionen dazu haben sich in zwei Gruppen polarisiert. Auf der einen Seite hat man für einen allmählichen, sich den ganzen Text hindurch entfaltenden Wandel im Charakter Willehalms plädiert: Seine Sündhaftigkeit am Anfang des Werkes, die in der Arofelszene besonders deutlich werde, gleiche Willehalm am Ende dadurch aus, daß er von seiner Frau wahres Erbarmen lerne, wie man der Freilassung Matribleiz' nach dem zweiten Kampf entnehmen könne. 131 Kennzeichnend für diesen Ansatz ist die Behauptung W. Schröders, daß die Bedeutung des Werkes gerade in dieser Entwicklung zu finden sei:132 Willehalms Entwicklung und das ideelle Ziel der Dichtung laufen an diesem Punkte zusammen, sind nicht voneinander zu trennen. Der Willehalm des IX. Buches steht auf einer höheren Stufe des Menschseins, ist ein anderer geworden, als er zu Anfang der Erzählung war.

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132

Maurer (1951), S. 168-198; G. Weber (1965); W Schröder (1961), Entwicklung (1962), Markgraf (1969), Hinrichtung (1974); Haug (1975); Gibbs (1976), S. 35-41; und Greenfield, Willehalm's Fall (1989). W. Schröder, Entwicklung (1962), S. 272. 8l

Ausgehend von der häufig für den Artusroman postulierten Idee der Charakterentwicklung, muß Schröder aber eingestehen, daß bei Willehalm dieser Entwicklungsprozeß »weniger klar erkennbar [wird]«.133 Weiterhin hält der Ansatz Schröders in mancher Hinsicht auch einer textnahen Interpretation nicht stand: Wie oben erwähnt, scheint Giburgs Gnadenappell völlig ins Leere zu gehen; die Freilassung Matribleiz" durch Willehalm nach dem zweiten Kampf erfolgt aus denselben Gründen wie die Verschonung Ehmereiß' nach dem ersten: daß beide mit Giburg verwandt sind, und in letzterem Fall auch, um eine würdige Bestattung der Blutsverwandten seiner Frau zu gewährleisten; und das Vokabular, mit dem die Willehalm-Figur beschrieben wird (etwa die positiven Attribute), bleibt im Laufe des ganzen Textes unverändert.13 Die Ansätze, die die Entwicklungstheorie mit Hilfe außerliterarischer Momente zu untermauern versuchen, übersehen oft die Komplexitäten des Textes selbst: Willson argumentiert für die Entwicklung des Helden als Parallele zu Bernhards von Clairvaux Stufenweg der Liebe,135 reduziert aber dabei die Motivation a l l e r Figuren Wolframs (Willehalm, Heimrich, Loys, Herzeloyde, Gahmuret, Parzival) auf einen inneren Konflikt von zuht und disordered triuwe. Demgegenüber wird die Annahme einer Entwicklung der Willehalm-Figur von einer ebenso umfangreichen Schule zurückgewiesen.136 An Überzeugungskraft verlieren diese Ansätze aber oft dadurch, daß sie die Beweggründe in einer Reihe spezifischer Szenen vereinfachen, um Willehalm von jeder Schuld freizusprechen und damit belegen zu können, daß sich seine triuwe zu der in Oransche verlassenen Giburg in jedem Schritt seiner Reise niederschlage. Je nach Erkenntnisinteresse sehen somit beide Ansätze - also die Entwicklungs- und Nicht-Entwicklungsschule - über die Vielschichtigkeit des Textes hinweg. Im folgenden soll das eher schwarzweiße WillehalmBild der Forschung um einige Schattierungen bereichert werden.137 Es wird die These aufgestellt, daß Willehalms Charakterisierung auf einem weit über andere Werke der Epoche hinausreichenden Verständnis für die menschliche Psyche gegründet ist.

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W. Schröder, Entwicüung (1962), S. 273. Francke (1975). Willson (1969). Mockenhaupt (1942), S. 21; Kühn (1952), S. 165; Schwietering (21957), S. 174; Bumke (1959), S. 59ff., 99ff und (1970), S. 317ff.; Poag (1961), S. 266; und Heinzle, Ausgabe (1991), S. 822. Die jüngste Monographie von Fuchs (1997) ist insofern eine Ausnahme von den oben grob skizzierten Schulen, als er der »Nicht-Entwicklungsschule« angehört, den Protagonisten aber durchgängig als negativ bewertet (S. 362). Meine Position zu Fuchs' Ansatz im allgemeinen wird in 11.7 ausgeführt. 82

So besteht die Arofelszene aus einem Komplex von Vorgängen, die sich nicht eindeutig interpretieren lassen. Einerseits ist Willehalms Aktion im Wolframschen Moralscherna durch Gurnemanz' Rat an Parzival zu rechtfertigen, von einem Gegner, der einem tiefgehendes oder irreparables Leid zugefügt hat, keine Sicherheit anzunehmen:1^8 an swem ir strifes Sicherheit bezalt, ern hab iu sölhiu leit getan diu herzen kumber wesn, die nemt, und läzet in genesn. Pz. 171, 27-30

Diese Kampfregel betrifft genau den Fall Arofei. Obwohl der Text an keiner Stelle explizit sagt, daß Arofei selbst Willehalms Verwandten getötet hat — eine von W. Schröder wohl überbetonte Tatsache -,139 war er zumindest physisch sowie taktisch mitverantwortlich für die tiefe Verletzung Willehalms, nämlich den Tod seines Neffen Vivianz: der marcräve mit zorne sprach: »du garnest al min herzeser und daz din bruoder Terramer mine besten mage ertoetet hat und daz din helfedicher rat da bi so volleclichen was. 80,16-21

In dem Sinne müßte die Tötung eines Gegners, der zumindest indirekt zum Leidwesen Willehalms beigetragen hat, innerhalb der Spielregeln von Wolfams CEuvre als akzeptabel gelten, um den Leidensdruck zu erleichtern: unz daz sin jamers bürde l ein teil gesenftet wcere (79,30—80,1). Andererseits gerät der Leser bei näherer Betrachtung der Details in interpretatorische Schwierigkeiten, die ein zwiespältiges Bild des Helden entstehen lassen.141 So sollte im entscheidenden Moment der Enthauptung Arofels der kurze Einschub vür unhetrogen (von Heinzle als »ich lüge nicht«

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Rushing (1995), S. 472-473, legt zuviel Gewicht auf die Unterschiede und zuwenig auf die Verbindungen und gemeinsamen Interessen von >Willehalm< und >ParzivalParzival< als externe Quelle zu betrachten, die ebenso(wenig) mit dem >Willehalm< zu tun hat wie z.B. »our own ethical system« (S. 481), ist den Beziehungen mittelalterlicher Werke nicht angemessen. Meine Position teilt zuletzt Liebertz-Grün (1996), S. 393. W. Schröder, Entwicklung (1962), Hintichtung (1974).

Vgl. Lofmark (1970), S. 5; (1972), S. 155. Vgl. Fuchs (1997), S. 275-276.

83

übersetzt)142 die Überraschung des Erzählers über Willehalms Vorgehen implizieren.143 Bei der Beschreibung des Markgrafen, der seinem Gegner Harnisch und Waffenschmuck vom Leibe zieht, könnten die Adjektive balde (81,17; 81,28) und alzehant (82,5) den Eindruck von Impulsivität erwecken. l44 Durch intertextuelle Anklänge an den Zweikampf zwischen Eneas und Turnus im Eneasroman Heinrichs von Veldeke, die die Konturen der Arofelszene weitgehend bestimmen, wird der Charakter der Willehalm-Figur nur noch schwerer zu durchschauen.145 Es steht in der Forschung bereits fest, daß sich durch die Betonung gewisser Bestandteile der Willehalm-Sequenz in der Quelle sowie die Einsetzung neuer Elemente auffallende, wohl vom Autor beabsichtigte strukturelle Ähnlichkeiten mit der älteren EneasSzene ergeben.146 Da auch Veldeke am Thüringer Hof die Gönnerschaft des Landgrafen Hermann genossen hatte, muß Wolfram und seinem unmittelbaren Publikum darüber hinaus der Eneasroman noch deutlich präsent gewesen sein. Gleich am Anfang dieser Episode beruft sich Wolfram in der Form eines Bescheidenheitstopos auf Veldeke, den er als überlegenen Lehrer beschreibt. Wie L. P. Johnson für die Hartmannstellen in der Sigunesequenz im >Parzival< ermittelt hat, deuten solche Bemerkungen manchmal auf die intertextuelle Referenz der folgenden Szene hin.147 Eneas tötet Turnus aus Rache nicht nur für den Tod seines Freundes Palas, sondern auch für die Schändung der Leiche durch den Raub eines Ringes. Daß Wolframs Protagonist genau das gleiche reroup-Verbrechen begeht, für das Turnus (sowie im gleichen Roman Euralus und Camilla) zur Verantwortung gezogen werden, springt ins Auge.148 142 143

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Heinzle, Ausgabe (1991). Kiening (1991), S. 104, Brackert (1992), S. 165-166, und Fuchs (1997), S. 275276, weisen alle zurecht darauf hin, daß der Leser in diesem Porträt im allgemeinen eine kritische Distanz bewahrt. Dies führt Bumke, Wolfram (61991), S. 215, zu dem Schluß: »Wie die Zuhörer darauf reagieren sollten, läßt der Text offen.« Übersetzt man balde jedoch wie Heinzle, Ausgabe (1991), mit »in großer Eile« und »kurzentschlossen«, so tritt Willehalms Drang, nach Oransche zu kommen, hervor. Auf der Basis einer noch positiveren Übersetzung von balde als »kühn und tapfer« kommt Francke (1975), S. 40, zu dem Schluß, daß »sogar ein zorniger Willehalm rational handelt.« Vgl. Kiening (1991), S. 105.

Singer (1918), S. 31; Palgen (1920), S. 232-235; Voß (1991), S. 66-71; Greenfield (1991), S. 106ff; Kiening (1991), S. 102-106. L. P. Johnson (*1994). Dieser Ansatz steht im Gegensatz zu W. Schröder, Hinrichtung (1974), S. 230, der die Funktion von 76, 22-25 durch den Bescheidenheitstopos ausgeschöpft findet. Die Forschungstendenz geht dahin, diese intertextuelle Verbindung etwas zu schlicht zu lesen, als Willehalm = Eneas = positiv (zuletzt Rushing [1995], S. 479-480). Meiner Meinung nach muß Intertextualität nicht linear sein (vgl. Liebertz-Grün [1996], S. 401). Wolframs Inszenierung von Hagens Schwertgeste (s. unten) ist ein weiteres Beispiel dafür. 84

Die Version des Vorfalls, die später im Text aus dem Mund des Markgrafen selbst berichtet wird, bringt die Mehrdeutigkeit seiner Aktionen zum Vorschein. Über zwei Aussagen insbesondere bleibt die Forschungsdiskussion gespalten:

des hat diu minne mir verlern sinen schilt kostebcere. er was auch mir ze swcere: in solle der gefriste tragen, den ich drunder han erslagen. [...]«

204,2-6

ich han der minnen hulde verloren durh die schulde: ob ich minne wolde gern, ich mües ir durh den zorn enbern, want ich Aroffele nam den lip, den immer klagent diu werden wif. [...]«

204,25-30 Die Deutung des ersten Zitats ist problematisch. Daß Willehalm zuvor den Mönchen den Arofei abgenommenen Schild übergibt, hat Heinzle in seinem Stellenkommentar aus ganz konkreten Gründen erklären wollen: »Er will offenbar nicht mit der vollen Kriegsrüstung zum Hoffest kommen«. ^ An dieser Stelle aber erscheint Heinzle die vom Markgrafen selbst vorgebrachte Idee, die Minne habe ihm aus Zorn über die Tötung Arofels den Schild wieder abgenommen, als »ein seltsamer Gedanke«. Willehalms Bemerkung über die zu große Last des Schildes ist vielleicht metaphorisch gemeint, ebenso wie die Beschreibung der Edelsteine, die wie ein schlechtes Omen durch die Asche des in einem rätselhaften Brand zerstörten Klosters hindurchscheinen. Der im verbrannten Kloster glitzernde Schild steht am Ende einer merkwürdigen, sich steigernden Sequenz, die mit der Beraubung von Arofels Leiche in Gang gesetzt wird: Zuerst wird Willehalm wegen der heidnischen Rüstung von seiner eigenen Frau nicht erkannt. Dann wird er am Hof aufgrund seiner unziemlichen Kleidung nicht freudig aufgenommen. Dieses Auftreten hat Wolfram besonders sorgfältig inszeninert, wobei drei Beschreibungen in rascher Folge die Wichtigkeit von Willehalms Bekleidung nahelegen. Die erste beschreibt im Detail den kostbaren, edelsteinge-

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Heinzle, Ausgabe (1991), S. 929. Vgl. auch W. J. Schröder, Ausgabe (1971), S. 458.

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schmückten Kleiderstoff (125,12f£). Die Superlative der zweiten Darstellung bestätigen dies in Form der Mitteilung in direkter Rede an König Loys und seine Gemahlin, daß der Fremde vor den Palasttoren den prächtigsten Mantel über einer rostigen Rüstung trägt. Die dritte Erwähnung zeigt mit Hilfe einer Variation einer man-sach-Konstruktion (s. III.2.4) eine Großaufnahme: sin wapenroc, sin kursit, l an den beiden kos man strit: l die waren verhouwen, etswä verhurt [...] (140,13—15). Die genannten Scharten hat Willehalm jedoch selbst Arofei zugefügt (77, l ff.); aber wie Parzival Ithers Rüstung angezogen hat, hat Willehalm die Identität seines Gegners angenommen. Schließlich liegt der Schild des getöteten Gegners wie ein Vorwurf in der Asche des Klosters. Arofels Rüstung scheint über diese Strecke des Texts Symbolcharakter zu gewinnen. Schwert, Brustpanzer und Schild des Heiden bringen dem Markgrafen kein Glück. Statt dessen verdichten sie sich zu einem möglichen Sinnbild seiner Schuld. Der glimmende Schild fungiert beinahe wie ein Symbol aus der Heldenepik — aber hier wie da bleibt es mehrdeutig. Das zweite Zitat hat sich in der Forschungsdiskussion als nicht weniger problematisch erwiesen. Einige haben darin ein kategorisches Schuldbekenntnis gesehen;1'0 andere nehmen keinerlei Geständnis wahr und wollen durh die schulde als »qua de causa« oder »itaque« verstanden wissen.1·'1 Beide Versionen der Arofelszene — die primär vom Erzähler dargestellte und die von der Figur selbst berichtete — lassen sich also als Belege sowohl für die Entwicklung als auch für die Nicht-Entwicklung der Willehalm-Figur lesen.1-'2 Vertreter jeder Schule haben hier die passenden Anhaltspunkte für ihre Argumentation finden können. Gelten lassen wollen hat bislang aber niemand die latente Doppelbödigkeit der Willehalm-Figur an diesen Stellen. Gerade diese nicht festzulegende, schwer zu interpretierende Natur des Handelns und Temperaments des Protagonisten scheint jedoch ein wichtiges Element der Willehalm-Darstellung zu sein. Der anfangs wohl absichtlich in der Schwebe gelassene Charakter des Markgrafen gewinnt erst im Laufe des ganzen Textes schärfere Konturen. Die folgende Analyse des Protagonisten

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Mergell (1936), S. 16l; Maurer (1951), S. 190; Wentzlaff-Eggebert (I960), S. 267; W. Schröder, Hinrichtung (1974), S. 227. Allgemein zur Szene bemerkt Schröder (S. 228): »Ein Unterton des Bedauerns mindestens ist in dem Tatenbericht nicht zu überhören.«

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Bumke (1959), S. 62; Heinzle, Ausgabe (1991), S. 973.

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Wohl abwegig sind Francke (1975), S. 49, dem zufolge Willehalm sich »somewhat facetiously« ausdrücke, da er glücklich mit Giburg verheiratet sei, also keine minne zu suchen brauche; und Rushing (1995), S. 476, der die Meinung vertritt, »it is impossible to consider Willehalms lines about >der minne hulde< anything more than formulaic, and very tempting to regard them as a hardened warrior's sarcastic play with courtly formulas«.

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geht davon aus, daß Willehalm weder von Anfang an ausschließlich im Recht sein noch sich kontinuierlich von einem Sünder zu einem besseren Menschen entwickeln muß. Brackert hat sicherlich Recht, wenn er bemerkt: »Die exemplarische Deutung von Wirklichkeit oder Figuren ist nirgendwo durchgehalten, vorbildliches Handeln und schuldhafte Verfehlungen treten hart nebeneinander, fast ohne Wertung.«1'3 Die Szenen, die auf den Zweikampf mit Arofei folgen, werden durch eine solche Vermischung von Gut und Böse geprägt. Befürworter der Entwicklungstheorie lesen Willehalms blutige Auseinandersetzung vor Orleans als Vorboten seines Wutanfalls am kaiserlichen Hof in Laon. Willson hält die Tötung des Richters für eine »unhöfische sowie unchristliche Tat«, wobei Willehalm seine Unfähigkeit, seinen Zorn zu beherrschen, deutlich zur Schau stelle.1' Plausibler erscheinen Csendes' und Franckes Interpretationen, die Willehalms Gewalt als notwendige und berechtigte Selbstverteidigung gegen den bedrohlichen Verstoß des Richters gegen den gesetzlichen Ehrenkodex betrachten (113,15—17). Der Markgraf muß sich gegen die Beschlagnahmung seines Pferdes wehren (113,20-24), denn ohne Pferd wäre Giburgs Rettung unmöglich. Den Verstoß der Stadtführung gegen die normalen gesellschaftlichen Verhaltensregeln unterstreichen zwei Erzählerkommentare: ez was iedoch ein sünde, daz man in niht riten liez. 113,18-19 ez solt diu stat laster hdn, daz si gein dem einem man des gerüeßes steh enbarten. 114,9-11

Die Schilderung Willehalms an dieser Stelle betont die moralische Korrektheit seines Handelns: Trotz seiner militärischen Überlegenheit verzichtet er auf weiteres Blutvergießen, um nicht zu sündigen (114,27—30). Daß er sich beinahe unwiderruflich in einen Kampf auf Leben und Tod mit seinem unerkannten Bruder begeben hat, reut ihn außerdem zutiefst. Er dankt Gott für sein gnädiges rechtzeitiges Eingreifen, denn wer mit einem Blutsverwandten kämpfe, schneide sich nur ins eigene Fleisch:15

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Brackert (1992), S. 161. Willson (1969), S. 446. Vgl. Maurer (1951), S. 179. Csendes (1968), S. 201 f.; Francke (1975), S. 4l. Vgl. Pz. 475,21, 689,29ff. und 698,5ff. zu ähnlichen Äußerungen.

waz wunders kan mir got beschern! hie muos ich mich min selbes wem: do ich zer tjoste gein dir reit, mit mir selbem ich da. streit.« 119,15-18

In dieser Szene erscheint Willehalm also in einem durchweg positivem Licht. Aber wie die Arofelszene auch auf weniger positive Aspekte seines Verhaltens schließen läßt, schlägt sich genau dieser Komplex von gemischten Gefühlen und Motivationen in den Aktionen der darauffolgenden Sequenz nieder. Die vornehmen Viertel meidend, reitet er durch eine smaehe gazzen (112,8) und sucht sich als Nachtquartier ein Häuschen aus, in dem sein Pferd kaum aufrecht stehen kann. Dies entspricht wohl seinem Gelübde, bis zu Giburgs Rettung ein kümmerliches Leben in Trauer zu führen: zem jamer er sich pflihte. im was al hoher muot gelegen: des wolt er sus noch so niht pflegen. 112,12-14

Aus diesem Grund enthält er sich auch aller von Wimar reichlich aufgetischten Köstlichkeiten und Weine (l 34,21 ff.) und sitzt später am kaiserlichen Festmahl ungewaschen vor Brot und Wasser. Gleichzeitig ist aber in Willehalm wieder ein gewisser Hochmut aufgestiegen, der weniger durch die Not seiner Frau motiviert wird als durch seine eigene Arroganz. Vom Erzähler wird beispielsweise nachdrücklich betont, daß die Frostigkeit, mit der Willehalm am französischen Hof empfangen wird, auf Gegenseitigkeit beruht. Willehalm bemüht sich genauso wenig um eine Kontaktaufnahme wie die an ihm vorbeilaufenden Scharen: er sach da, volkes ungezalt, kleine, grdz, junc und alt. die befunden in alle vehen. O er newolt auch in niht vlehen, den alten noch den kinden. 126,27-127,1

Schon vor dem ersten Wortwechsel starrt der Markgraf seine Gegner an wie ein Wolf, der in den Schafstall schaut (129,14—17). Sogar der Erzähler kann nachempfinden, warum die Franzosen vor ihm zurückschrecken: da kund er zuo gebären, als er z billiche dolte, daz ir deheiner wolte im bieten ere noch gemach. 130,8-11 88

Daß Willehalm sofort und zumindest teilweise aus von der Reaktion des Hofpublikums unabhängigen, inneren Trieben verärgert ist, bedeutet eine drastische Abweichung von der Quelle. Dort schlagen Guillaume auch nur Spott und Hohn entgegen, aber ihn hatten die Ritter vorher erkannt. Obwohl er ihnen die schreckliche Not seiner Frau und die Gründe für sein Kommen erklärt, ignorieren sie ihn weiter (AI. 2403-2440). Im Gegensatz dazu sind die Gründe für Willehalms plötzliche, ja beinahe unwillkürlich negative Haltung den Franzosen gegenüber nicht ausschließlich im Rahmen dieser Szene zu finden. Betrachtet man diese eine Stelle, ist Willehalms Zorn im Vergleich zur Quelle unberechtigt: Viele, die bei ihm Anstoß erregen, haben ihn nicht einmal erkannt: dennoch was er unbekant von manegen, die da wären. 130,6-7

Dieser Einschub erinnert an Rennewarts Zorn, der sich in einer ebenso objektiven Erzählerbemerkung als unbegründet erweist (s. II.5). Wie Rennewart kann auch Willehalm seinen aufkeimenden Zorn nicht unter Kontrolle halten: Seine Mißfallensäußerung über die vorher von ihm reichlich beschenkten Ritter bekommt zunächst nur Wimar zu hören (131,16—21), aber nachdem er im privaten Raum noch weiter über deren unverschämtes Benehmen nachgedacht hat (136,22—30), wirft er ihnen auf aggressivste Weise diese Unhöflichkeit vor (139,26—140,12). Noch eine weitere Parallele zum Charakter der Rennewart-Figur zeigt sich an diesem Punkt bei Willehalm. Beide geraten leicht in Verzweiflung, wenn sie von anderen schlecht behandelt werden. »mir wxre geselkkeit unkunt, soldet ir min garzün sin. lät mich bt den zühten min! ich volg iu wol ze vuoz: gesellekeit ich leisten muoz.« 131,26-30

Dieser an Wimar gerichtete Satz ist als »Ausdruck der Verlassenheit Willehalms im Kreis seiner Standesgenossen und seiner Selbstentfremdung nach der Katastrophe der Schlacht«1'7 zu verstehen. Die Parallelen zu Rennewart werden noch einschlägiger, wenn man bedenkt, daß Willehalm sich nicht nur dadurch abgelehnt fühlt, daß die Franzosen seine Person visuell nicht

157

Heinzle, Ausgabe (1991), S. 931.

erkennen, sondern vor allem dadurch, daß sie dabei seinen Rang nicht anerkennen. Wegen dieser Respektlosigkeit fällt er sofort aus der Rolle. Seinem Gespräch mit Ernalt kann man entnehmen, daß er die Verweigerung der ihm gebührenden Ehren in Frankreich schon vorausgeahnt hat:

·[...] ir salt daz niht versmähen, sine man den künec umbe mich: den site hiez ich swesterlich. f...]«

122,16-18 Als die Königin ihm nicht freundlich entgegenkommt, fühlt er sich durch ihre smcehe beleidigt: »[...] solt ich in dirre smazhe wesen, dar zuo dunk ich mich ze wert. [...]«

137,14-15 Diese Nicht-Anerkennung seines rechtmäßigen Status erfüllt Willehalm noch weiter mit haz (132,10) und zorn (137,1). Genau diese Frage wird nach einer schlaflosen Nacht im Streitgespräch mit seiner Schwester, den übrigen Familienmitgliedern und dem Kaiser thematisiert. Mitten im Palast legt Willehalm sich sein Schwert am Gürtel in den Schoß: der marcrave den anderen nach gie, unz er den künic such und sine swester, 'es küneges wtp. er truoc daz swert umbe stnen lip. sines komens heten haz der künec und swer da vürsten saz: ir neheiner was so wol geborn, sine widerscezen stnen zorn. der marcrave an den stunden, daz swert niht ab gebunden, er zuct'z vür sich inz schoz.

140,27-141,7 Die Geste kommt schon in >Aliscans< vor, hat aber da eine ganz andere Aussagekraft: Li quens s'asist, not en lui c'a'irier; Sor ses genols a mis son branc d'acier, Soventes fois regrete sä moillier. AI. 2461-2463158

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Der Graf setzt sich, er ist voller Zorn. / Über das Knie legt er seine stählerne Klinge hin / und denkt trauervoll an seine Frau.

90

Im >Willehalm< dagegen findet diese Episode erst am zweiten Tag ohne Rücksicht auf Giburg mitten im Palast statt. Bei der Umgestaltung der Szene muß sich Wolfram der Anklänge an die berühmte Schwertgeste des >Nibelungenliedes< bewußt gewesen sein. Seit Singer steht fest, daß die Erwähnung des goldglänzenden SchwertgrifFs — sin swert, daz umb in was gegurt, l dem was'z gehilze guldin (140,16—17) — das >Nibelungenlied< (1785ff.) beinahe wortwörtlich zitiert.1^9 Darüber hinaus trägt Willehalm wie Hagen das Schwert eines getöteten Gegners. Wie in der Arofelszene soll dieses Zitat wohl die Intertextualität der Szene betonen. Noch weitere Echos des Selbstdarstellungs- und Erkennungsthemas, wie es im >Nibelungenlied< präsentiert wird, sind im Laufe der Episode zu spüren. Daß Willehalm bei seiner Ankunft am Hof den Zaum des Pferdes in der Hand hält, wird nirgendwo in der Quelle, doch dreimal bei Wolfram erwähnt. Bei ihrer Ankunft in Island hält auch Siegfried Günthers Pferd am Steigbügel, wird aber trotz dieses statusmäßig falschen Zeichens von Brünhild sofort erkannt. Beiden Szenen gemeinsam sind auch die Frauen, die aus den Fenstern hinunterblicken. Willehalm wird weder optisch am Hof erkannt noch gesellschaftlich von seiner eigenen Schwester anerkannt, die ihn sofort ausschließen läßt. Wenn Willehalm sein Schwert über die Knie legt, handelt es sich um ein provozierendes Verlangen nach Anerkennung. Wie bei Hagen vollzieht sich gleichzeitig in dieser einen Geste eine kühne Selbstbestimmung sowie die ungenierte Umkehrung der Gesellschaftsordnung.161 Sie ist nämlich auch die Haltung des zu Gericht sitzenden Richters.162 Auf der intertextuellen Ebene kann das aber kein unzweideutig positives Bild sein, da im >Nibelungenlied< die Hagen-Figur mit ihrer unreflektierten, mörderischen Treue entscheidend zur Massenvernichtung beiträgt. Die Figuren innerhalb des Textes selbst kommen auf eine ähnliche Interpretation: sines sitzens da bi in verdroz, l ich uxene, ir iesltchen, l den armen und den riehen (141,8—10). In einer langen, in indirekter Rede dargestellten Gedankenreihe wünschen sie, ihn loszuwerden (141,l Iff).

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161

162

Singer (1918), S. 55. er nam den zoum in eine hant, l den tiuweren heim von im er bant l unt stürzten zuo z'im üf'ez gras (127,11—13); der marcräve et sinen zoum l het in der hende, alda er saz (127,24—25); der marcräve, der trürige man, l het'z ors in siner hant (130,4— 5)Diese Interpretation, die besser zur provokativen Haltung Hagens im >Nibelungenlied< paßt, verschiebt den Akzent von Haugs Lesart (1975), S. 228ff., die Willehalms Handlung als provokativen Ausdruck seines Wunsches versteht, in Anbetracht der kaiserlichen Pflichtvergessenheit die Gerichtsbarkeit selbst in die Hand zu nehmen. Wynn (1965).

91

Als Willehalm Loys endlich gegenübertritt, hat seine Wut den eigentlichen Zweck seiner Reise ausgeblendet. Statt den König um Hilfe bei Giburgs Befreiung anzuflehen, reagiert er erst einmal seinen Zorn ab. Hastig aufspringend - do stuont er üf durh bägen (145,2) -, schmäht er Loys schon mit seinen ersten, fast drohenden Worten: »her künec, ir muget wol wesen vro, daz iu min vater sitzet bi. nü wizzet, wcern iuwer eines dri, die wceren mir ze pfände gevarn: daz wil ich nü durh zuht bewarn. [. . .]«

145,6-10

ich kund iuch wol beswceren: durh mine muoter laz ich'z gar.« 146,12-13

Seinem Zorn darüber, daß seine Familie ihn nicht anerkennen will, läßt er jetzt freien Lauf. Er behauptet, er habe Loys nach dem Tode seines Vaters Karl wichtigen Beistand gegen die fürstlichen Konkurrenten um den Thron geleistet. Daß der König es ihm jetzt nicht vergelten wolle, sei eine Beleidigung:

her künec, nü wcenet ir kreftic sin: gap ich iu roemische kröne nach also swachem lone, als von iu gein mir ist bekant? /. . .]«

145,16-19 Den Wahrheitsgehalt dieser Provokation — gap ich iu roemische kröne — stellt Loys bezeichnenderweise nicht in Abrede. Vielmehr erklärt er sich ohne weiteres bereit, den Markgrafen nach Fürstenrecht zu ehren: »her Willalm, sit ir'z sit, so dunket mich des gein iu zit, daz ich bekenne iu vürsten reht: want sit ich was ein swacher kneht, sä lebt ich iuwers rates ie, auch liez mich iuwer helfe nie. iuwer zorn ist äne not bekant gein mir: [...]«

146,25-147,2

92

Francke, der Loys' Antwort für »misleading« (irreführend) hält, da er Willehalm gäbe und lehen statt riterschafi anbiete, ^ hat die Situation falsch eingeschätzt. Bestimmend für die Deutung der Szene ist vielmehr die Tatsache, daß im Gegensatz zur Quelle (AI. 24l8ff.) Willehalm seit seiner Ankunft am Tag zuvor und insbesondere im ersten Wortwechsel mit Loys nicht ein einziges Mal auf den Gedanken gekommen ist, um Hilfe zu bitten. Während seine Rüstung wohl auf ein kriegerisches Vorhaben schließen läßt, wird das Thema selbst nicht angesprochen. Die Rüstung versinnbildlicht jetzt nicht die dringende Not Giburgs, sondern die aggressive Einstellung des Markgrafen zur Macht des französischen Hofes. Daß sich das Wortgefecht jetzt auf Fragen der Anerkennung und des Status konzentriert, erlaubt einen Blick in die Psyche des Helden. Auf der interrextuellen Ebene schimmert hier wieder das >Nibelungenlied< durch. Nach Siegfrieds öffentlichem Eid erklärt Günther das Kapitel der Hochzeitsnacht mit Brunhild für abgeschlossen, wohl wissend, daß seine Ehe sowie die Stabilität des burgundischen Reiches davon abhängt (s. II.2). Mit dem Sieg über Günthers Vasallen im Turnier aber kippt Haug zufolge das fragile politische Gleichgewicht wieder, und ein für allemal, um.164 Auch die Anerkennung, die Willehalm bei Loys findet, setzt eine Gegenseitigkeit voraus. Nach mehreren Kehrtwendungen des verwickelten Dialogs beginnt der verbale Machtkampf zwischen König und Markgraf, die nur mit Mühe errungene Übereinkunft schon wieder aus der Balance zu bringen: Willehalm kündigt den Rechtsakt der diffidatio an, wobei seinem Herrn das Lehen zurückgegeben und somit die Treue aufgesagt würde.165 Er werde sich weigern, Loys für seine Hilfe zu danken, da dieser schließlich dazu verpflichtet sei. Als Loys darauf antwortet, wird er vom Erzähler als der gezogen und der wise (179,19) beschrieben: »wolt ir eren'z riche, so mäht ir willecltche min helfe gerne enpfahen. [...] muoz aber ich mit miner krefte iu dienen z'undanke, so bin ich'z der muotes kranke.«

179,21-23; 179,28-30 Willehalm und Loys ärgern sich gegenseitig. Willehalm erregt dadurch Anstoß, daß er Loys' Autorität nicht mehr respektieren will, Loys ebenso

163 164 165

Francke (1975), S. 50. Haug (1987), S. 284-285. s. Ganshof (61983), S. 103-104.

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dadurch, daß er die Rolle Willehalms bei seiner eigenen Machtergreifung nicht anerkennt. Unter dem Druck der Familie des Markgrafen gibt der König schließlich nach, vermeidet aber bezeichnenderweise jeden Kontakt mit Willehalm. Ohne den Markgrafen direkt anzusprechen, teilt er seinem Schwiegervater mit, er helfe Willehalm nur um seines eigenen Ansehens willen: do sprach der künc zuo sime sweher. »Ich hilf iu durh min selbes pris, swie iuwer sun, der markis, sich hub an mir vergäbet und sine zuht genähet hin zer missewende. [...]«

183,2-7 Iremschart antwortet mit musterhafter Diplomatie. Obwohl sie den Markgrafen nicht erwähnt, überläßt sie dem König auch nicht das letzte Wort. Weder aus selbstsüchtigen Gründen noch um des Markgrafen willen, sondern für seine Kinder und seine Frau sowie Vivianz zum Andenken solle er seine Unterstützung anbieten: »herre und auch min hoehester sun, iuwern kinden ze eren suit ir'z tuen und durh mine tohter, iuwer wip, daz ir Vivianzes lip rechet«, sprach vrou Irmenschart.

183,11-15 Am tiefsten getroffen wird Willehalm aber dadurch, daß seine eigene Schwester ihm die gebührende Anerkennung vorenthält. Genau deshalb stellt sich die Königin dem ersten Hilfsangebot des Königs entgegen. In ihrer Weigerung, den Markgrafen anzuerkennen, wurzelt auch der Antagonismus, der von vornherein auf beiden Seiten deutlich zu spüren ist: so wcere ich diu erste, die er vertribe (147,8). An der Reaktion des Markgrafen auf Alyzes Bitte um Verzeihung für ihre Mutter sieht man trotz der relativen Ruhe nach ihrem Auftreten, wie schnell solche kaum geheilte Wunden wieder aufbrechen. Schlüsselwörter aus Willehalms Diskurs — schäme, smcehe - kommen hier wieder vor:

si ware des ungeschendet, ob si jaehe: >daz ist der bruoder minAliscans< einen christlichen Ritter aus der älteren >Chanson de Guillaume< (Tedbalz) mit dem Heidenkönig Tiebaus verwechsle. Er zieht daraus den einfachen Schluß: »Guillaume's accusation was a foolish and distasteful error on the part of the author of >AliscansWillehalm< als »really quite preposterous« (S. 75). (Vgl. auch Greenfield [1991], S. 131-136.) Diese Folgerung wird jedoch dadurch in Frage gestellt, daß Wolfram ansonsten oft große Veränderungen an der Aussage und Balance des Werkes vorgenommen hat. Diese Szene und ihre Motive können daher nicht als bloßes Zitat abgetan werden.

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hung zwischen Giburg und Willehalm widersprechen aber alle anderen Textbelege. Dort wird statt dessen die gegenseitige Liebe der zwei Protagonisten hervorgehoben, besonders in zwei zärtlichen Liebesszenen, die in der Quelle fehlen. Die Ansicht, der Markgraf wolle mit seinem Wutanfall bewußt und taktisch den Hof manipulieren, erscheint nicht plausibel. In diesem Sinne will Francke das am Anfang der Sequenz stehende Verbum kunnen als »to be skilled, to understand« verstehen. 7 Dem daraus folgenden Schluß, Willehalm täusche seinen Zorn gezielt vor, wäre doch einiges entgegenzuhalten. In den nächsten Versen erklärt nämlich der Erzähler, daß Willehalm völlig aus der Rolle fällt: sine zuht begunde er stoeren (144,12). Alyze interpretiert die Szene ebenso, wenn sie ihm später den Verlust der höfischen Selbstbeherrschung vorwirft: wem liez diu kiuscheliche zuht? (157,7). Vergessen darf man auch nicht, daß Willehalm in Wut ausbricht, nachdem der König ihm seine militärische Unterstützung bereits zugesichert hat. Die bitteren, widersprüchlichen Worte sind also weniger taktische Verstellung als Zeichen eines tief verwurzelten Zornes, der weit über die spezifischen Umstände dieser Situation hinausreicht. Zweitens muß man wohl davon ausgehen, daß die Ungereimtheiten der Szene den Absichten des Autors entsprochen haben. Angesichts der Umgestaltung und Neubearbeitung der Quelle, die Wolfram sonst in mannigfaltiger Weise vorgenommen hat, ist offensichtlich, daß er den altfranzösischen Stoff für seine eigenen Zwecke zuzuschneiden weiß.16^ Einerseits wird das in der Quelle vom Markgrafen stammende Schimpfwort putain höflich umschrieben und in scheinbar anständiger Form eines Erzählertopos formuliert. Andererseits stammt die dubiose Erklärung für Willehalms Flucht mit Giburg von Wolfram allein.170 Weit davon entfernt, den Markgrafen positiver darstellen zu wollen als in der Quelle, hebt Wolfram an dieser Stelle seinen stolzen Zorn hervor. Im Gegensatz zur Quelle weiß Willehalms Familie an diesem Punkt noch nichts von den tragischen Verlusten auf Alischanz und der immer dringender werdenden Not Giburgs in Oransche. Willehalms Hoffnung auf die Unterstützung seiner Familie, insbesondere seines Vaters, artikuliert sich mit einer merkwürdigen Ungewißheit. Trotz bzw. wegen seiner Enterbung betont er immer wieder seine Blutsverwandschaft mit Heimrich:

167 168

169

170

Francke (1975), S. 43. Diese Lesart widerspricht daher Bertau, Literaturgeschichte (1983), S. 87, DeckeCornhill (1985), S. 200f. und zuletzt Fuchs (1997), S. 260, der die Szene als »untermotiviert« bezeichnet. Möglicherweise verwechselt Wolfram den Heidenkönig mit einem gleichnamigen christlichen Prinzen (CG 2603ff.); aber dieser potentielle Irrtum würde nicht die ganze Szene erklären. Bumke (1959), S. 75; Lofmark (1972), S. 75-76. 96

und mine bruoder, die da sint (ich bin ouch Heimriches kint) — wellent die mit triuwen sin, so erbarmet si min scherpfer pin und miniu dürren herzeser: mir begmonet vröude nimmer mer. 122,21-26

ich wcene, diu niemer sule verdagen, sine beginne Heimriche sagen, daz ich si ir beider kint. [. . .]« 144,25-27

Während der ganzen Zeit, die er auf seinen Vater warten muß, quälen ihn Zweifel:

ich wil mines vater betten mit zwivels arbeiten: die muoz ich haben unz an in. [...]« 139,9-11

Die Spannung der verzögerten Begegnung zwischen Willehalm und seiner Familie steigert Wolfram im Gegensatz zur Quelle. Im >Aliscans< wird der Protagonist gleich von der ganzen Familie, im >Willehalm< zunächst nur von seinen Brüdern begrüßt, während seine Eltern auffälligerweise schweigen. Dafür, daß sich Vater und Sohn offensichtlich mit einigem Unbehagen begegnen, wird keine Erklärung gegeben außer der am Anfang des Textes kurz erwähnten Enterbung Willehalms und der langen Zeit (sieben Jahre), die sich die beiden nicht mehr gesehen haben. Wie unangenehm die Begrüßung für beide ist, wird jedenfalls durch Willehalms vorhergehende Besorgnis und durch Wolframs Umgestaltung der Szene betont. In einer vergleichenden Studie zu Wolframs zwei Hauptwerken charakterisiert Haug die typischen Motivationen der jeweiligen Protagonisten als zwtvel (Parzival) und zorn (Willehalm).171 Dabei vereinfacht er aber zu stark die psychologischen Vorgänge, die den letzteren zumindest zu einem komplexen Charakter machen. Sein Wutanfall in Laon entsteht gerade dadurch, daß er erst nach langem Zögern beim König und dessen Frau Anerkennung findet. Dementsprechend vermutet er auch, daß sein eigener Vater ihm genauso zurückhaltend

171

Haug (1975).

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gegenüber treten werde. Gerade diesen zwivel will Heimrich in seiner Antwort auf Willehalms lange Bitte um Hilfe zerstreuen: der vater sprach: »wie stet daz dir, ob du zwivel hast gein mir? dinen kumber wil ich leiden [...] diner manheit missezimt, ob du zwivel gein mir freist und unser triuwe under leist. [...]« 150,1-3; 150,8-10

Gemildert wird Willehalms Zorn schließlich nicht allein durch die Anerkennung des Königs, sondern auch durch die Beseitigung seiner familiären Ängste, indem Heimrich und die Königin Willehalms Sorgen auf sich nehmen: »min sun ist gesuochet niht: l ich bin, der des lasten giht« (150,23-24); »mine bruoder, die hie sin, l gedenket, daz wir sin ein lip!« (168,12-13). Als Zeichen seiner Versöhnung mit seiner Schwester nimmt ihre Pflege seiner Wunden fast symbolischen Charakter an (l 74, l ff.). Während Willehalm zuvor seine Verachtung der königlichen Autorität dramatisch zur Schau gestellt hatte, indem er seiner Schwester die Krone vom Haupt gerissen und zu Boden geworfen hatte, beugt vor ihm jetzt die Verkörperung dieser Macht, Alyze, die Knie. Angesichts der unterwürfigen Haltung seiner Nichte fühlt sich Willehalm beinahe beschämt, reißt sich aber zusammen, um seinem versprochenen jämer-Schwur Genüge zu tun: Das prächtige Gewand, das sich Loys für das Fest schneidern ließ, lehnt er entschlossen ab. Der Verzicht auf alle Bequemlichkeiten hält ihn aber nicht davon ab, Schwester und Nichte feierlich in den Festsaal zu fuhren. Solches Ansehen bleibt Rennewart im offiziellen sowie familiären Bereich vorenthalten. Daß Rennewart unter Willehalms Herrschaft kommt, entspricht dieser unterschiedlichen Anerkennung beider Figuren.172 Diese Interpretation der Laon-Szenen läuft indes den darauffolgenden Bemerkungen des Erzählers zuwider: Giburc was sin liebistez pfant: nach ir ime sinne und vreude swant. 162,19-20

Die Begründung dieser Aussage des Erzählers wird im nächsten Kapitel, das dem Erzähler gewidmet ist, ausführlich diskutiert. An dieser Stelle muß die 172

Daß im gewissen Sinne Rennewart »zum Pendant, zum Spiegelbild von Willehalm« wird (Fuchs [1997], S. 325; vgl. auch Ortmann [1993], S. 108), leuchtet ein. Mit der These, daß dadurch die Willehalm-Figur »von ihren exorbitanten Zügen entlastet wird« (Fuchs [1997], S. 326), stimme ich aber nicht überein. 98

Wirkung dieser Diskrepanz für die Charakterisierung der Willehalm-Figur kurz erwähnt werden. Weit davon entfernt, die obige Auslegung der Wutausbrüche der Figur zu negieren, scheint sie diese eher zu untermauern. Die Divergenz der Erzählerbemerkung und der Interpretation des Vorgangs eröffnen einen Raum, in dem die Figur ihr eigenes Leben führen kann. Solche scheinbare Widersprüche lassen den Eindruck entstehen, daß die Figur außer der Kontrolle des Erzählers stehe, also für sich handele, und suggerieren dabei ihre charakterliche Tiefe. In dem Raum zwischen der Aussage des Erzählers und den Taten der Figur tritt deren Hintergründigkeit hervor. Der Charakter der Willehalm-Figur entsteht aber nicht nur aus ihrer Hintergründigkeit, sondern auch aus einer klar umrissenen Innerlichkeit. Der Protagonist ist fast immer der Verzweiflung nah. Selbst im Augenblick des Sieges drückt sich bei ihm bezeichnenderweise weder Freude noch Erleichterung aus, sondern eine tiefgehende, bis dahin unterdrückte Sorge:

manegen sperkraches ddn hän ich gehört umb ein wip, diu nü leider minen lip mac dirre vlust ergetzen niht. min herze iedoch ir minne giht. wan din helfe und ir trost, ich wcere immer unrelost vor jdmers gebende. [. . .]« 456,14-21

Als Anlaß zum Kampf kann ihm Giburg die Verluste nicht ersetzen, doch er liebt sie von Herzen. Die problematischen Konsequenzen einer Beziehung in Kauf zu nehmen und trotzdem dem Partner treu bleiben zu wollen - das sind Attribute, die auch den Charakter der Giburg-Figur definieren. Einen weiteren Aspekt seiner Entwicklung zum Charakter hat Willehalm ebenfalls mit Giburg gemeinsam: Auch sein Verhalten wird durch Versuche beeinflußt, die öffentliche und die private Sphäre auseinanderzuhalten. In demselben Monolog wendet er sich an Gott, um sein Geschick zu beklagen:

miner vlust mäht du dich schämen, der meide hint! in dime namen was min verh, min habe veveilet. diu lücke ist ungeheilet, die mir jämer durh'ez herze schdz. stet din tugent vor wanke bloz, du salt an mir niht wenken und mine vlust bedenken, [...]« O

456,1-8

99

Er wirft Jesus die zahllosen Verluste vor und stellt die Zuverlässigkeit seiner Gnade in Frage. In diesen Worten eine ketzerische Sünde zu sehen, die Willehalm ins Unheil führt, ^ ginge aber am Text vorbei. Die Aussage muß eher im Rahmen der grausamen Situation verstanden werden. Indem Willehalm die ganze Verwüstung des Krieges und den Verlust des geliebten Rennewart wahrnimmt, werden die Parallelen zur früheren Situation seiner Frau, die bei seiner ersten Rückkehr nach Oransche auch den Tod Vivianz' beklagen und sich für die künftige Massenvernichtung verantwortlich fühlen mußte, unverkennbar. Mit der ähnlich wie bei Giburg formulierten Hilfsbitte an Gott (Altissimus) (454,22) läßt Willehalm dem Elend seiner inneren, privaten Sphäre freien Lauf:

diz si min hellebrennen, daz diu sele min deheine not vtirbaz enpfähe, sit mir tot des libes vreude ist immer mSr. [. . .]«

454,18-21 In diesem Moment geht Willehalm weit über das programmatische Gedankengefüge des Prologs hinaus, nach dessen Glaubensbekenntnis er bis an diese Stelle gelebt hat. Dabei kristallisiert sich der volle Charakter dieser Figur heraus. Während Giburg ihre Reaktionen je nach den Begebenheiten der spezifischen Situation modulieren konnte, muß Bernhard den Markgrafen eindringlich an seine Pflicht erinnern, um der Truppen willen seine Haltung zu bewahren (457, 3 ff.). Wie auch bei Giburg gibt Willehalms Selbst-Reflexion in diesem Zusammenhang weiteren Anlaß zur Auffassung der Figur als Charakter: Die äußerliche Sphäre muß kontrolliert, manchmal manipuliert werden, um die innere zu verbergen:

iedoch stet ez mir ahö: ich muoz gebaren, als ich vro si, des ich leider niht enbin. ez ist des houbetmannes sin, duz er genendecliche lebe und sime volke troesten gebe. [. . .]«

460,15-20

173

Im Gegensatz zu Kritikern, die Willehalm von Anfang an als Heiligen sehen, betont Greenfield, Willehalm's Fall (1989), S. 247S. (ähnlich auch [1991], S. 224), die »firm relationship with God« des Protagonisten und seinen »state of grace« und versteht ihn als »sündigen Heiligen«. Die Sünde gegen seine sippe in Munleun sei läßlich und »not of sufficient gravity to put his eternal salvation in jeo-

100

Als Fazit dieses Abschnitts läßt sich also behaupten, daß die Willehalm-Figur aus verschiedenen Facetten zum Charakter wird. Einerseits deuten Intertextualität, die fast symbolhafte Sequenz mit Arofels Rüstung und die Distanz der Erzählerbemerkung zu den Ereignissen auf der Handlungsebene auf die psychologische Hintergründigkeit der Figur. Andererseits wird die Innerlichkeit der Figur durch Wort und Tat deutlich erkennbar. Die Charakterisierung von Willehalm stützt sich also auf eine Reihe ineinanderverschlungener Techniken.

7. Positionsbestimmung Dieses Kapitel hat versucht, Details und Stellenwert der verschiedenen Prozesse, durch die Figuren zu Charakteren werden, herauszuarbeiten: Das sich lange hinziehende Erkennen eines Verwandtschaftsverhältnisses; Figuren, die sich in bestimmten Momenten zusammennehmen und ihre Emotionen beherrschen können, an anderen Stellen aber den Belastungen erliegen und in Tränen ausbrechen; eine bei jeder Wiedergabe von Gedanken und Reden evidente Verinnerlichung und bewußte Manipulation des inneren und äußeren Raumes, der privaten und öffentlichen Sphären; die Kombination mehrerer veränderlicher Motivationen innerhalb einer Figur. Den Angelpunkt dieser charakterschaffenden Prozesse bilden die zwar individualisierten, doch vergleichbaren Reaktionen der Figuren auf persönliche sowie allgemeine Problemsituationen. Trotz ähnlicher Rahmenbedingungen unterscheidet sich Giburg von Rennewart durch ihre gegensätzliche Einstellung zur Religion.174 Der Groll, den Willehalm sowie Rennewart gegen Familie und Gesellschaft hegen, bestimmt weitgehend das Verhalten beider Figuren. Willehalm und Giburg halten bis in den Tod treu zueineiner, schaudern aber im Privaten vor den tödlichen Folgen ihrer Liebe.17·'

174 175

pardy«. Auf der Basis von Thomas' von Aquin Definition von Gnade und Dorns (1967) Modell von Heiligkeit in der Legende interpretiert Greenfield jedoch Willehalms Abwendung von Gott nach der zweiten Schlacht als Sündenfall (wie in 3,4f. vorangekündigt). Nur durch eine drastische innere Kehrtwende, wie sie durch Matribleiz" anschließende Freilassung angezeigt wird, kann Willehalm wieder zu Gottes Gnade zurückfinden. Die Argumente gegen eine durchgängige Interpretation von Willehalm als Heiligen oder gegen eine direkte Abhängigkeit seiner Heiligkeit von bestimmten Taten im Laufe der Handlung werden in III.2. l diskutiert. Vgl. Kirche« (1994), S. 269. Vgl. Bracken (1992), S. 163.

Diese Reihe ineinanderverschlungener Probleme erlaubt uns einen Blick in den Charakter der Figuren. Den Kern des "Werkes bildet die im Text sorgfältig aufgebaute Untersuchung ihrer Reaktionen. Nicht von einer Interpretation des Symbolcharakters der Handlung, die in Form des doppelten Kursus« ein Gemeingut der Chretien- und Hartmannforschung ist, sondern von diesem Aspekt aus lassen sich also die Grundlinien der Sinngebung des >Willehalm< skizzieren. »Einen gewissen Halt findet der Rezipient lediglich in der durchgehenden Liebe des Erzählers zu seinen Figuren [...] Die Gestalt [en] komm[en], wie die Erzählung als ganze, aus einer Geschichte, die nicht erzählt wird, nicht erzählt werden kann, weil der Mensch immer schon aus der Geschichte kommt, aus Geschichten und Bedingungen, die sich nie völlig nach ihren Motivationen, nach ihrem Gut und Böse entwirren lassen.«176 Die Dynamik der sogenannten Toleranzrede zeigt deutlich, wie die anschwellenden Emotionen der Giburg-Figur die Schranken ihrer besonderen Zwangslage zu durchbrechen drohen. Daß Giburg diese spezifische Gestaltung ihrer Figur dem Autor Wolfram verdankt, mit anderen Worten also, ihm keine autonome Existenz aufzudrängen hatte, versteht sich von selbst. Giburg als bloßes Sprachrohr eines Autors zu sehen, der unter dem Deckmantel der Figurenrede seine eigenen theologisch riskanten Ideen äußern will, stellt ebenfalls eine unzulässige Vereinfachung dar. Angesichts der subtilen, hoch entwickelten Charakterisierung, die das ganze Textgefüge zu prägen scheint, dürfte man sich auch fragen, ob die Grundgedanken der Toleranzrede nicht eher auf das Ringen des Autors um eine tiefgründige Erforschung der Psyche und der Ausweglosigkeit seiner Protagonistin zurückgeht als auf theologische Impulse.177 Es ist bekanntlich schwierig und (seit den kritischen Debatten der Literaturtheorie der letzten Jahrzehnte) methodisch fragwürdig, die Absichten eines Autors beweisen zu wollen. Daß das Werk den Leser gerade in diese Art von interpretativer Spekulation hineinführt, muß aber für unseren Zugang zum Text von Bedeutung sein.178

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Wachinger (1996), S. 58-59. Die Lesart, die meiner diametral entgegensteht, formuliert am klarsten Rocher (1985), S. 141—142: »Cette parole [...] n'est pas seulement la parole de Gyburc. Elle se situe trop bien dans la ligne de Involution des paroles anterieures, et d'autre part son pathe'tique porte trop visiblement la confession du poete, pour qu'on ne reconnaisse pas qu'il a voulu en arriver lä avec Gyburc, qu'il l'a amenee ä devenir son porte-parole ä force de >maturation objective< — dans la parole cisement.« Dieser Ansatz widerspricht dem von Fuchs (1997), der die Figuren im >Willehalm< am bislang ausführlichsten beschrieben hat. Während die vorliegende Arbeit den organischen Aufbau von Wolframs Charakterisierungen betont, betrachtet Fuchs die Figuren hauptsächlich aus strukturalistischer Sicht (s. Anfang dieses Kapitels, II. 1) als Schnittpunkte von Diskursen, z.B.: »Nichts, keine Szene, kein

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Die Sinngebung des Werkes in nur e i n e r dieser Figuren verkörpert zu sehen, sei es Giburg17" oder Willehalm, ginge ebenfalls an den Merkmalen nicht nur dieses spezifischen Textes, sondern auch des dichterischen Schaffens Wolframs im allgemeinen vorbei. Genau diesen Irrweg betritt aber Greenfield: Indem Willehalm nach dem zweiten Kampf den Heiden nicht mehr mit zorn, sondern mit güete entgegenkomme, übernehme er von Giburg die Verantwortung als »the bearer of the poem's message«.180 Dagegen ließe sich einwenden, daß die oft zu positiv bewertete Matribleiz-Szene181 doch unter einem gewissen Schatten steht. Erstens wird der Anlaß zur Freilassung gegeben durch die Szene am Zelt des heidnischen Priesters, zu dem Willehalm signifikanterweise nicht durch ein brennendes Licht, sondern durch die Schmerzen seiner eigenen Wunde geführt wurde: sölh vinden schuof min wunde (465,10). Zweitens sieht man, wie vorsichtig und be-

179 180 181

Kampf, keine Figur ist mehr als >exemplarisch< für eine Perspektive, einen Motivationskontext, eine sprachliche Welt, einen strukturellen Zusammenhang in Anspruch genommen« (S. 254, ähnlich auch S. 256). Also versucht Fuchs, »die Signale der Erfüllung und Nicht-Erfüllung von Rollen bzw. Rollenerwartungen gleichsam phänomenologisch zu sichten« (S. 290) und entdeckt bei Willehalm eine »geradezu paradox anmutende Verfaßtheit innerhalb der Erzählung: Die Diversität seiner Rollen und Funktionen, die alle in vollem Recht bestehen bleiben« (S. 308). Dreimal muß Fuchs zugeben, von der Widersprüchlichkeit seiner Analyse überrascht zu sein: (1) Im Laufe des Textes glaubt Fuchs feststellen zu können, daß »das Handeln seiner [Willehalms] Person eben nicht mehr im Mittelpunkt steht, sondern er eben nurmehr als Funktion des Geschehens, in den distinkten Rollen auftritt« (S. 326). Später aber muß er zugeben: »Hätte es bis in die Mitte des Neunten Buches auch noch so aussehen können, als habe Willehalm seine Rolle als epischer Held im Kampf gefunden und würde von Rennewart in der Diversität seiner Rollenmodelle entlastet, so bricht das Versagen aller Rollenerwartungen am Ende um so deutlicher und aporetischer über die Heldenfigur herein« (S. 329). (2) Auf ähnliche Weise muß Fuchs seine Analyse der schwindenden Vereinzelung des Helden relativieren: »In dem Maße, in dem Willehalm in die Rolle des Heerführers gerät, schwindet auch seine Vereinzelung. Er tritt nicht mehr als Einzelner in Erscheinung, und letztlich prägt dies mehr als die Hälfte des Werkes. Eine Deutung, die also von der zunehmenden Vereinzelung des Helden sprechen würde, ginge demnach fehl. Umso erstaunlicher und befremdlicher steht die radikale Vereinzelung des Helden nach der zweiten Schlacht am Ende des Werkes« (S. 347). (3) Fuchs liest den Text als eine Entkleidung des Helden von all seinen Rollen. Aber wegen seines »Bewußtseins der eigenen Rollen« muß sich »der Held gleichsam im selben Moment aus allen Rollen hinauskatapultierten]« (S. 339). Diese drei Schwachstellen zeigen deutlich, daß (a) eine Analyse der Figuren im >Willehalm< als Diskurseinheiten dem Verständnis der Charaktere nicht genügt und daß (b) paradoxerweise das Versagen der diskursorientierten Analyse den Vorrang der Charakterisierung vor allen anderen Erwägungen zur Figurenkonstruktion in diesem Text bestätigt. Zum Beispiel Gibbs (1976), S. 24-35. Greenfield, Willehalms Fall (1989), S. 250. Jüngst Ortmann (1993), S. 104-106; Kirchert (1994), S. 270. 103

herrscht der Markgraf dem Skandinavier entgegenkommt. Zusammen mit einigen anderen Königen entläßt Willehalm Matriblei/ aus der Haft, um eine spezifische Aufgabe zu erledigen, behält aber noch die Mehrzahl der siebenundzwanzig Gefangenen zurück. Motiviert ist er also nicht durch philanthropische Impulse im Sinne der Aufklärung, sondern durch eine gewisse, aus der schrecklichen Kriegserfahrung hervorgehende Abgeklärtheit.182 »Und auch darin zeigt die Geste ihre beklagenswerte Realität, daß Willehalm in den Bedingungen, die er stellt, die Hoffnung auf Versöhnung mit der Undenkbarkeit ihrer Realisierung verschränkt.«183 Drittens liegt bittere Ironie in der Tatsache, daß Matribleiz, der eigentlich die heidnischen Reparationszahlungen, für den Fall, daß Giburg wieder zur Religion ihrer Verwandten zurückgehen würde, hätte aushandeln sollen (256,18ff.), jetzt nur mit Leichen beladen nach Hause geschickt wird. Und viertens darf nicht übersehen werden, daß Willehalm zwar bei der Freilassung von Matribleiz um Terramers genäde und hulde bittet, aber nur unter der Bedingung, weder sein Christentum noch seine Beziehung zu Giburg aufgeben zu müssen (466,4-13). Andernfalls würde er keinesfalls gütig, sondern genauso zornig wie zuvor reagieren: »[..·] vür war ich liez e manegen lip verhouwen, als ist hie geschehen. [...]«

466,14-15 Trotz der gerade erst beendeten Feindseligkeiten wäre Willehalm ohne zu zögern bereit, unter solchen Umständen wieder ganze Menschenscharen schlachten zu lassen. »Willehalm wird am Ende nicht etwa >reif< zu einer Verzeihens-Haltung im Sinne Giburcs, er läßt punktuell Gnade walten unter der Einsicht der Unmöglichkeit weiteren sinnvoll-planenden Handelns.«18 Bedenkt man die Trostlosigkeit dieser nach blutiger Erfahrung unverändert gewalttätigen Handlungsperspektive, so läßt sich die Position, das Werk gelange zu einer Synthese — entweder über die Entwicklung einer Figur oder durch die Übertragung »der Bedeutung« des Textes von einer Figur zur anderen -, nicht mehr ernsthaft vertreten.

182

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Liebertz-Grün (1996), S. 386, meint sogar: »Für Willehalm, der nur daran denkt, seine Herrschaft abzusichern, sind die Gefangenen zu kostbar, um sie gegen Rennewart einzutauschen [...] Rennewart [...] wird von dem Christen, dem er zum Sieg verhelfen hat, aus strategischen Gründen >vergessenWillehalmWillehalm< im Schatten des >Parzival< Mit den seinem Werk vorausgeschickten Bemerkungen setzt sich Wolfram von seiner Quelle ab, die nach heldenepischer Tradition mitten in der Geschichte anfängt, und knüpft damit an das deutsche >Rolandslied< des Pfaffen Konrad an, der seinen Stoff ebenfalls gattungsgemäß umarbeiten wollte. Beide Werke rücken in den Bereich der Legende und stützen sich auf Argumentationsmuster, die so konventionell gewirkt haben, daß zumindest im Falle Wolframs Teile davon separat auf Lateinisch und Deutsch in geistliche Kontexte aufgenommen wurden.6 Beide setzen mit der traditionellen Invocatio ein, aber bei Wolfram fällt schon in diesem Moment das ausgeprägte

4 5 6

Kiening (1991), S. 28. Heinzle, Ausgabe (1991), S. 814. Kleinschmidt (1974); Jakobi (1988). 107

Selbstbewußtsein des sprechenden Ichs auf. In der ersten Phase des Prologs artikuliert sich die betende Erzählerstimme im Verhältnis zu Gott als Schöpfer und Bewahrer der Ordnung: Vierzehnmal in 28 Versen kommt das Personalpronomen der ersten Person (wenn auch in verschiedenen Deklinationsformen) vor. Das Gedicht beginnt zwar mit dem Lob des Angebeteten, läßt aber gleichzeitig ein Ich erkennen, das sich nennen und voll entfalten will: din mennischeit mir sippe git: I diner gotheit mich äne strit l der pater noster nennet / z'einem kinde erkennet (1,19—22); so gtt der toufmir einen tröst l [...] duz ich dm genanne bin (1,23, 26). Dieses Formulieren des Ichs realisiert sich in erster Linie in Relation zu dem allmächtigen Du, läßt dieses aber schon am Ende des Prologs hinter sich. Dort nennt sich der Erzähler in Relation zu der Autorfigur Wolfram von Eschenbach, definiert sich im Verhältnis zu einem anderen literarischen Werk, dem >ParzivalParzivalParzival< erklären, in dem genau der gleiche Vorgang vorkommt. In diesem ersten Roman Wolframs äußert sich der Erzähler dreimal mit Namen auf der (fingierten?) biographischen Ebene. Zweimal kommen diese im mittelalterlichen Roman gar nicht selbstverständlichen Autornennungen im Kontext »eingehender Besprechungen dichterischer Prinzipien« vor.12 Die

12

aus Willehalms Leben. W. Schröder, Entwicklung (1962), S. 269, kommt einer textgerechten Lesart wohl am nächsten, wenn er die Ereignisse in Laon als Teil von den sündehafien dingen des Prologs auffaßt. Beide Schulen versuchen jedoch, den Protagonisten entweder zu verdammen oder freizusprechen, weil sie Willehalms Heiligkeit überbetonen. Die erste Schule betrachtet ihn als Heiligen von Anfang an, der nicht sündigen kann und sich daher nicht entwickeln muß. Die zweite glaubt, er werde im Laufe der Handlung zum Heiligen, in dem er sich aus der Tiefe der »Leidenschaften« (Schröder, S. 269) durch die »Problematik eines nach Heiligung strebenden ritterlichen Lebens« (S. 275) hindurchkämpft. Heiligkeit ist kein allzu häufig angestrebtes Lebensziel, und der Prolog stellt auch nur Willehalms Heiligkeit im Hier und Jetzt der Aufführungssituation fest. Im altfranzösischen Wilhelm-von-Orange-Zyklus erhält Guillaume seinen Heiligenstatus erst, als er sich nach Guiborcs Tod in ein Kloster in der >Moniage Guillaumei zurückzieht. Wie weit Wolfram bei der Fertigstellung seines >WiIlehalm< gegangen wäre, ist schwer zu sagen. Bertau, Literaturgeschichte (1983), S. 106, schließt: »Wie Willehalm als Ritter ein Heiliger werden konnte, ist in bestürzender Weise offen«. Mohr (1979), S. 310, hat daher recht, wenn er bemerkt: »Schuld und Sünde ist für Wolfram eine Sache, die jeder an sich selbst erfährt, und nicht etwas, was man aus dem sicheren Abstand des literarischen Publikums an den Figuren seiner Geschichten registrieren und zensieren will [...] Wenn wir Willehalm darauf prüfen, ob und wann er sich bis zu dem Punkt entwickelt hat, daß er die Zensur >heilig< verdient, dann hindern wir uns daran, aus seinen Einsichten Einsicht zu gewinnen [...]«. Der jüngste Beitrag zu dieser Debatte (Fuchs [1997]) geht trotz aller Finesse nicht weit über die Feststellung hinaus: »Dies ist nicht Heiligkeit, es ist die Bedingung der Möglichkeit für Heiligkeit« (S. 363). L. R Johnson (1999), S. 326. IIO

Subjektivierung der mittelhochdeutschen Erzählerfigur scheint also mit der Möglichkeit der literarischen Reflexion zusammenzuhängen. Diese Hypothese läßt sich anhand einer eingehenden Analyse einer dieser Stellen, der sogenannten Selbstverteidigung, verdeutlichen. An dieser Stelle, die, falls die ersten zwei Bücher später hinzugedichtet wurden, vielleicht Reste des ursprünglichen Prologs vertritt und in deren Mittelpunkt die Frage steht, wie der Dichter von den Frauen sprechen soll, geht es prinzipiell »um eine literarische Standortbestimmung, und zwar einerseits gegenüber dem übersteigerten Frauenpreis des Minnesangs, andererseits gegenüber dem Bildungsanspruch der gelehrten Epiker«. Swer nu wtben sprichet baz, deiswär daz laz ich äne haz: ich vriesche gerne ir freude breit, wan einer bin ich unbereit dienstlicher triuwe: min zorn ist immer niuwe gein ir, sit ich se an wanke sach. ich bin Wolfram von Eschenbach, unt kan ein teil mit sänge. Pz. 114,5-13

In seiner Literaturgeschichte hat L. P. Johnson kürzlich auf eine mögliche biographische Deutung dieser Stelle aufmerksam gemacht. Daß ein Auftraggeber einem literarisch Unbekannten den Auftrag erteilt hat, den kompliziertesten Roman Chretiens nicht nur zu übertragen, sondern auch abzurunden, ist höchst unwahrscheinlich. Der Gedanke liegt nahe, »daß Wolfram den >ParzivalWillehalm< die Einstellung des Autors zur Gelehrsamkeit zeitgenössischer volkssprachiger Autoren und deren Beharren auf dem Primat des Buchwissens zum Ausdruck bringt:

16 17 18

Bumke, Wolfram (61991), S. 5. L. P. Johnson (1999), S. 325. Nellmann, Ausgabe (1994), II, S. 516. 112

swer des von mir geruoche, dem zels ze keinem buoche. ine kan decheinen buochstap. da nement genuoge ir urhap: disiu äventiure vert ane der buoche stiure. e man si hete ßir ein buoch, ich wcere e nacket ane tuoch, so ich in dem bade sceze, ob ichs questen niht vergceze, Pz. 115,25-116,4

Diese Behauptung ist im 20. Jahrhundert entweder wörtlich, als Zeichen dafür, daß Wolfram keine geregelte lateinische Schulbildung genossen hat, oder als Absage an die Regeln der Rhetorik und Poetik aufgefaßt worden.1^1 Der Sinn der ganzen Stelle läßt sich aber meiner Meinung nach nur in bezug auf zwei spezifische Dichter verstehen, mit denen sich der Autor zumindest stofflich auseinanderzusetzen hatte, nämlich Chretien, dessen Gralroman er direkt bearbeitete, und Hartmann, dem er selber die Einführung der Gattung in Deutschland zuschrieb. Zusätzlich sollten die eben besprochenen Bemerkungen über Ritterschaft berücksichtigt werden. Prüft man diese drei einflußreichen Autoren der Blütezeit auf ihre Einstellung einerseits zur Buchgelehrsamkeit, andererseits zum Rittertum, dann wird eine deutliche (in der Tabelle unten graphisch skizzierte) Differenz erkennbar: CHRETIEN KLERIKER BUCHGELEHRTER

HARTMANN -

WOLFRAM -

Die Stilisierungen dieser Autor/Erzählerfiguren sind jeweils durch zwei Faktoren gekennzeichnet: (1) ihren sozialen Stand; (2) ihren Umgang mit der Schriftlichkeit. Chretien projiziert das Bild eines Klerikers schlechthin. In seinen Handlungen und Kommentaren wahrt er einen gewissen Abstand zur Tatkraft und Ideologie seiner ritterlichen Helden, die auf die ironische Distanz eines ständisch Außenstehenden schließen läßt. Im Prolog zu >Erec et Enide< greift er zwar auf die mündliche Überlieferung der bretonischen fahrenden Sänger als Quelle zurück, um sie in einer sinnvermittelnden Struktur

19

Vgl. Zusammenfassung bei Nellmann, Ausgabe (1994), II, S. 516-517.

113

zusammenzufügen. Aber fast im gleichen Atemzug prophezeit er selbstbewußt und »im Wissen um die Möglichkeiten des schriftlichen Konzipierens«,20 daß sein Werk bis ans Ende aller Zeiten überdauern wird. Um die arturischen Stoffe behandeln zu können, muß der Autor zwangsläufig auf mündliche Traditionen zurückgreifen. Was aber dabei herauskommt, ist von vornherein als Produkt der Schriftkultur konzipiert. In diesem Rahmen unterscheidet sich Hartmann von Chretien nur im Hinblick auf den Stand. Er gibt sich nämlich mehrfach in seinen Werken stolz als ritter und dienstman zu erkennen. Aber genau wie Chretien legt er großen Wert auf Buchwissen und die Erforschung von Quellen: Hartmann präsentiert sich also als Mitglied des Ritterstandes in dem gegen Ende des 12. Jahrhunderts breiter gewordenen Sinne und als legitimen Literatus klassischer Prägung zugleich. Vor diesem Hintergrund kristallisieren sich Wolframs Worte als drastisches Gegenprogramm heraus: Er gibt sich als Ritter u n d Analphabet aus. Daß Wolfram des Lesens und Schreibens aber doch kundig gewesen sein muß, ist jedem klar, der auch nur oberflächlich mit seinem Oeuvre vertraut ist. In dieser lebhaft ausgedrückten Polemik will er vielmehr seine Distanz zu einer bestimmten Art von Lesen und Schreiben zeigen. Chretien und Hartmann bewegen sich beide ganz dezidiert in dem fiktionalen Medium, das die von ersterem unternommene schwellenüberschreitende Verschriftlichung mündlicher Erzählungen ermöglicht hatte. Die Äußerungen beider über ihr dichterisches Vorhaben verstricken sich aber in fundamentale Widersprüche. Auf der einen Seite versuchen ihre literaturtheoretischen Reflexionen, Freiraum für das Behaupten eines neuen fiktionalen Status aufzutun, auf der anderen aber bleiben sie noch an die alten Legitimationstechniken der Schreibtradition gebunden. Bei Chretien sowie Hartmann, Wolframs engsten Dichterkollegen, hält sich die Innovation in gewissen Grenzen. Wolfram schreckt aber vor dieser bahnbrechenden Poetik nicht zurück und artikuliert die Neuartigkeit seines Schaffens ohne Hemmungen. Weit davon entfernt, sich zum Analphabetismus zu bekennen, will Wolfram mit dem Satz ine kan deheinen buochstab Fiktionalität als völlig neue, unabhängige Mentalität propagieren. In dem Sinne sieht man eine Entwicklung des Reflektierens, die mit Chretien begonnen, bei Hartmann fortgesetzt und in Wolframs >Parzival< auf ein radikal höheres Niveau des Selbstbewußtseins erhoben wird. Bemerkenswert ist hier auch, wie der Ritterbegriff in die Reflexion über Werk und Fiktion aufgenommen wird. Das Umwälzende bei Hartmann lag darin, daß seine Erzählerfigur sich als Lesekundiger und Ritter zugleich ausgeben konnte. Merkwürdigerweise versetzt uns dann Wolfram in Erstaunen, gerade weil

20

Haug (21992), S. 103. 114

sein Erzähler ein ganz normaler leseunfähiger Ritter sein soll. Bei Wolfram fungiert diese Ritteridentität auch in Opposition zum Minnesang als Gattungssymbol des höfischen Romans. Der Biographisierung der Erzählerfigur liegt also mehr zugrunde als Selbstdarstellung des Dichters: Sie wird vielmehr zum Gattungsmerkmal sowie zum Kennzeichen eines sich über mehrere Jahrzehnte hin entfaltenden Fiktionalitätsdiskurses. Jetzt muß der Frage nachgegangen werden, inwieweit diese Analyse des >Parzival< sich auf den >Willehalm< übertragen läßt. Die Stilisierung der Erzählfigur erfolgt in wichtigen Momenten beider Werke über eine Anlehnung an den Hauptthemenbereich des Textes selbst. Der Ritter des >Parzival< hat sich im >Willehalm< zu einem Sünder und Legendenautor gewandelt. Um mit Nellmann zu sprechen, »empfiehlt sich Wolfram [im >ParzivalWillehalmWillehalm< zuwenden, sollen die Quellenberufungen des >Parzival< kurz dargestellt werden. Die Äußerungen des >ParzivalParzival< hat Klaus Ridder diese jetzt zum Gemeingut gehörende Ansicht einen wichtigen Schritt weiter gebracht. Seine Argumentation sei hier kurz wiedergegeben.23 21 22 23

Nellmann (1973), S. 21. Bumke, Wolfram (61991), S. 166. Ridder (1998).

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Angesichts der Tatsache, daß Quellenberufungen eigentlich in Widerspruch zu den Aussagen der (oben besprochenen) anti-traditionellen Selbstverteidigung stehen, stellt Ridder die These auf, daß Wolfram eine Quellenfiktion nutzt, um seine Vorstellungen von Autorschaft und Werkkonstruktion in literarische Ausdrucksformen zu transformieren. Die Geschichte der Weitergabe des Textes wirkt wie ein dargestellter Prozeß der auseinander hervorgehenden Werke und thematisiert das Erzählen und seine Voraussetzungen selbst. Jeder Stufe der Textentwicklung ist ein Autor zugeordnet, dem jeweils eine sich steigernde Erzählkompetenz zuerkannt wird, was zu einer dreiphasigen Überlieferungskette führt, auf deren vollendeter Stufe sich das demütige Ich des Wolframschen Textes findet. Die erste Phase dieses Prozesses vertritt Flegetanis, ein gelehrter Naturforscher mit einer besonderen astrologischen Kompetenz, der in den Sternen eine Schrift entdeckt und sich mit deren Entzifferung beschäftigt. Aus einem einzigen Wort, dem Namen Gral, schreibt er auf Arabisch eine Gralsgeschichte. Der Übersetzungsprozeß verschränkt sich schon hier mit einer ersten Stufe der Wahrnehmung von Autorkompetenz. Der Autor formt aus einem vorgegebenen Text einen eigenen, der aus dem anderen hervorgeht und auf ihn bezogen bleibt, dem Erzählen jedoch auch neuen, bisher durch andere Texte nicht gestalteten Raum schafft. Anders akzentuiert wiederholt sich die Umformung der vorgefundenen Quelle bei Kyot. Seine Kompetenz erlaubt es ihm wiederum, die arabisch verfaßte Geschichte zu dechiffrieren und auf zweifache Weise zu erweitern: Die christliche Taufe vertieft sein Verständnis des Textes, während eine aufgefundene Chronik des Gralsgeschlechts dessen Grundlage noch weiter unterstützt. Diese zusammengesetzte Version übersetzt dann der Autor/Erzähler des >ParzivalParzival< als Übersetzer der Geschichte ins Deutsche darstellt, muß dieser Begriff in dem breiteren Kontext eben dieser Kette verstanden werden. Flegetanis und Kyot haben auch übersetzt, aber sie sind doch als Autoren zu bezeichnen, deren Quellen nicht als unverrückbare Vorgabe, sondern als Grundlage neuen Er-

116

zählens gelten. Diese Darstellung einer intertextuellen Quellenfiktion sowie die Konzeption des Übersetzens als Neuschöpfen signalisieren ein verändertes Autor- und Werkbewußtsein gegenüber der dominanten Tradition. Daß der Erzähler dann im Epilog gegen den Verfasser seiner eigentlichen Quelle, Chretien, polemisiert, rundet diese Strategie des Unterminierens nur treffend ab. Im Vergleich haben die Quellenangaben im >Willehalm< ein recht vages Profil. Der Erzähler beruft sich namentlich weder auf fiktive Vorgänger noch auf seine Hauptquelle, die anonyme >Bataille d'AliscansParzival< und höchstwahrscheinlich den Titurel verfaßte, ihn mit der Geschichte vertraut gemacht habe: lantgrave von Düringen Herman l tet mir diz mcere von im bekant (3,8-9). Ob der große Mäzen in der Realität seinem Dichter eine schriftliche Quelle verschafft hat, oder sogar einen Dolmetscher, der ihm beim Übertragen geholfen hat, läßt sich nicht beweisen. In diesem Kontext ist das glücklicherweise unwichtig. Das Auffallende an dieser Bemerkung ist ihre Vagheit: Die Art und Weise, wie Wolfram die Geschichte rezipiert hat, bleibt wohl absichtlich ungeklärt. Genau der gleiche Vorgang, den Ridder im >Parzival< entdeckt hat, vollzieht sich hier im >WillehalmParzival< hat zwei Hauptmomente aufgegriffen: Die Identifikation der Autor-/Erzählerfigur mit dem Themenbereich und dem Protagonisten des Werkes, die sich bei näherer Betrachtung auf Fragen der Gattung und Fiktionalität hin öffnet, und eine aus verschiedenen Strängen raffiniert zusammengeflochtene Quellenfiktion. Zusammen bilden sie einen vielschichtigen Diskurs, der wie nie zuvor der neuen Poetik der volkssprachigen Dichtung eine unmißverständliche Artikulation verleiht. Im Vergleich dazu scheint der Erzähler des >Willehalm< sich auf den ersten Blick sehr konservativ auszudrücken, ja weniger wagen zu müssen oder zu wollen. Doch sind die gleichen Elemente noch präsent: die Parallelität zwischen der Stilisierung der Autor-/ Erzählerrolle und der thematischen Semantik des Texts, die Darstellung des literarischen Tuns als primär wörtliche Übersetzung verbal überlieferter Geschichten und die Auseinandersetzung mit dem berühmten französischen Vorgänger Chretien. Was im >Parzival< den neuen Weg der Fiktionalität gebahnt hat, dient jetzt als Bezugsebene der Reflexion in der neuen Mischgattung. Damit ist ein Anstoß gegeben zur weiteren Untersuchung der Konstruktion von Subjektivität und Reflexivität des >WillehalmParzival< voll thematisierte, im >WillehalmWillehalm< könnte wahrscheinlich auch in dem Sinne verstanden werden. Bezeichnenderweise wirft Wolframs Erzähler-Ich dem Franzosen, dessen fingierte Beschreibung der Quelle sehr nahekommt, Nachlässigkeit vor, indem er selbst ganz grob von der Vorlage abweicht: Wie in der Quelle soll Chretien dem Markgrafen zu Laon einen abgetragenen, schäbigen Rock angezogen haben, während Wolfram seinen Helden einen Waffenrock tragen läßt, dessen Seide und Edelsteine noch glänzend aussehen. Bei Wolfram drückt sich der Diskurs der Fiktionalität also durch eine ironische Distanz zur Quelle aus. Er gibt implizit vor, seiner Vorlage treu zu folgen, geht damit aber in Wirklichkeit sehr locker um und bezichtigt dabei seinen dichterischen Rivalen der phantasievollen Ahnungslosigkeit. Dieser Abstand zur Vorlage wird dann in den letzten Zeilen des Zitats erweitert. Nur der als Liebespfand von Sekundille an Feirefiz gegebene Waffenschmuck könnte den überbieten, den Willehalm dem Perser Arofei genommen hatte. Bedenkt man, daß die Feirefiz-Figur nicht bei Chretien vorkommt, also höchstwahrscheinlich von Wolfram erfunden worden ist, dann stellen sich diese Verse als wohlkalkulierte Pointe heraus. Die Kleidung und Rüstung, die Chretien so falsch eingeschätzt haben soll, werden nur von der übertroffen, die Wolfram selber geschaffen hat. Durch diesen intertextuellen Vergleich faßt der >WillehalmWillehalmWillehalmParzival< kam Ridder zu dem Schluß, daß »Autorbilder literarisch gestaltete poetologische Reflexion über die Voraussetzungen, Bedingungen und Möglichkeiten des eigenen Erzählens [sind], die in produktiver Auseinandersetzung mit dem anderen Autor entwickelt wird. Darin besteht die eigentliche Funktion dieser >SelbstbilderWillehalm< von Anfang an klar: Reflexion über Stoff, Gattung und Werk, die Entwicklung des Erzähler-Ichs und dessen Beziehung zum Publikum in einer immanenten Kommunikationssituation sowie die Entstehung einiger thematischer Perspektiven des Textes stehen in einer für die volkssprachige Literatur der Zeit ungewöhnlich engen Relation zueinander. 53 Im Prolog lassen sich diese thematischen Linien hauptsächlich auf drei Ansatzpunkte reduzieren. Der erste entsteht aus der eingangs mit Inbrunst artikulierten Verbindung zwischen Gott und dem Men51 52 53

Ridder (1998), S. 192. Heinzle, Ausgabe (1991), S. 814. Generell zum Aufbau des Prologs: Roll (1989). I36

sehen, die auf einem eindeutigen Identitätskonzept beruht. Welche Unterschiede auch immer zwischen Mensch und Gott bestehen, sie sind in der engen Verwandtschaftsbeziehung aufgehoben. In der wohl an Legendentopoi angelehnten Weltanschauung des Autor/Erzählers blendet die ständig betonte Gleichheit von Vater und Kind (im menschlichen Sinne also Blutsverwandtschaft) einzelne Charakterzüge aus: so bistü vater unt bin ich kint (1,8); din hint unt dm künne l bin ich bescheidenliche (1,16-17); der pater noster nennet / z'einem kinde erkennet (1,21—22). Weit davon entfernt, im ständigen Fluß und Fortgang zu sein, ist dieses Verhältnis schon entgültig geklärt und abgeschlossen. Denn die Inkarnation der Gottheit ermöglicht dem Menschen, am Wesen Gottes teilzuhaben: dm mennischeit mir sippe git I diner gotheit [,.,] (1,19-20). Diese Wechselbeziehung wird durch den Status des Menschen als genanne Christi (1,26) ständig wachgehalten und besiegelt und in elegantester Knappheit ausgedrückt: du bist Krist, so bin ich kristen (1,28). Den ersten Themenbereich der Handlung, der schon im Prolog angesprochen wird, könnte man also, um den mittelhochdeutschen Terminus zu benutzen, schlagwortartig als sippe bezeichnen. Die anderen Aspekte, die im Handlungsverlauf wichtig werden, stammen dagegen aus direkten Bemerkungen, die der Autor/Erzähler in zwei bestimmte Passagen des Prologs einfließen läßt. In der ersten Übergangsphase, die von der Beziehung zwischen dem Erzähler und dem angebeteten Erlöser zur Beschreibung des Protagonisten hinfuhrt, geht es zunächst um die Sünden, die Willehalm begangen hat, und die tapferen Werke, mit denen er das Erbarmen Gottes zurückgewonnen hat. Die kritische Stelle lautet folgendermaßen: 54

Diese Analyse widerspricht Kienings Verwendung des Dffirenz-Regiiffes als Definition der Relation zwischen Gott und Menschen. Im Anschluß an Haug (21992), S. 188, faßt Kiening (1991) dieses Verhältnis als »Bewußtsein der unendlichen Differenz« (S. 46) zusammen, die durch ständige Oszillation geprägt ist. Für Kiening steht der Mensch im »Spannungsfeld von Verlorenheit und Gnade« (S. 58), in dem sich die »Wesenbestimmung des Individuums zwischen Kreatürlichkeit und Nichtigkeit« (S. 46) entfaltet. Als Folge davon sei seine Funktion im Kosmos »keineswegs universal-einfach«: »[Es] gilt nun nicht mehr der Bewährung an hermeneutischer (Selbst)-Reflexion wie im >Parzival0-/&o/'«OM-Konstruktion verstanden worden, die sich zugleich auf 3,4 zurück- und auf 3,7 vorausbezieht:57 Aus Liebe zu einer Frau geriet Willehalm nicht nur oft in Herzensnöte, sondern auch in die Gefahr des leiblichen wie seelischen Todes.58 Hier berührt der Autor/Erzähler eine Frage, die sich jeder Rezipient spätestens nach den ersten Kapiteln stellt, wenn er nicht schon im voraus oberflächlich mit dem Inhalt des Werkes vertraut ist: Fußt die Beziehung zwischen Willehalm und Giburg nicht auf Ehebruch? Mit dieser Bemerkung nimmt der Erzähler mögliche Einwände seines Publikums vorweg, indem er gleich am Anfang, wenn auch etwas dunkel, die problematische Minnebeziehung des Protagonistenpaares als thematischen Horizont auftut. Die dritte Perspektive öffnet der Autor/Erzähler dann im letzten Teil des Prologs, in dem er auf sein Vorhaben als Verfasser des Werks zu sprechen kommt und einen von dessen übergreifenden thematischen Aspekten kurz einblendet: gan mir got so vil der tage, so sag ich minne und ander klage, der mit triuwen pflac wip und man, sit Jesus in den Jordan durh taufe wan gestozen. 4,25-29 O

55 56 57 38

O

Vgl. Rushing (1991). Heinzle, Ausgabe (1991), S. 823. Ochs (1968), S. 77; Gärtner (1969), S. 213. Der Vorschlag von Greenfield und Miklautsch (1998), S. 232, bei 3,5 einen Punkt zu setzen, weil die Möglichkeit, durch Liebe zu einer Frau den Tod der Seele aufs Spiel zu setzen, mit der Minnekonzeption in der Dichtung nicht vereinbar sei, ebnet und vereinfacht den Text. Am Text vorbei geht auch Fuchs (1997), S. 362, der die Sünde des Protagonisten ausschließlich im Mord sieht und die Problematik der Liebe ignoriert. I38

»Mit dem offenbar intendierten Sinn der Stelle wäre [die in der Forschung geläufige Übersetzung von sit als temporales Adverb] nur mühsam zu vereinbaren, wenn man annähme, es sei darauf abgehoben, das Leid der Christen im >Willehalm< sei das Leid aller Christen zu allen Zeiten«.·'9 Ich schließe mich dieser Interpretation Heinzles an, zumal mit wip und man vorrangig Giburg und Willehalm gemeint sind. Das Wort stt läßt sich demgemäß als »weil« lesen, und wirft somit einen interessanten, aber schwer zu deutenden kausalen Zusammenhang auf: In diesem Text wird zu erzählen sein, wie Mann und Frau (am Beispiel der Protagonisten) Leid auf sich genommen haben, weil Christus im Jordan getauft wurde. Liebe wird hier wiederum als schwierige Emotion dargestellt, da ander wohl pleonastisch steht und etwa »leidgeprüfte Liebe« als Übersetzung zuläßt. Die zweite Perspektive (problematische Minne) mündet jetzt also in die dritte (Religion) ein, wobei ein bestimmtes Verhältnis zwischen beiden angedeutet, aber nicht völlig geklärt wird. In diesem Kontext erscheint das Christentum, das das Erzähler-Ich in der ersten thematischen Perspektive als persönliche Verwandtschaft definiert hat, in einem weniger einfachem Licht als früher. Diese drei Momente Sippe, Minne, Religion —, die sich zunächst als hermeneutische Grundlinien auffassen lassen, bilden keine isolierten Einheiten, sondern beziehen sich vielmehr aufeinander in wechselnden Relationen. Die Dynamik dieser perspektivischen Thematisierung des Textes ist jetzt weiter zu untersuchen. SIPPE P,

Enterbung (5,15ff.)

P2

Heimrich(7,l6ff.)

P3

Terramer(ll,19ff.)

P4

Terramer(12,8ff.)

P,,· Heimrich(l4,lff.)

RELIGION

P5b

Seelenheil der Christen (I4,8ff.)

P7

Tervigant (20, l Off.)

P8

Zweischau (23,15ff.)

MINNE

P6* Gyburg(l4,29ff.)

P,·

Gyburg30,21ff.)

P,o* Teufel (38,2ff.) PL

Vivians (48,4ff.)

P, 2 * Vivians (49,12ff.)

" Aposcroph

59

Heinzle, Ausgabe (1991), S. 827. 139

3.2. Sippe, Minne, Religion am Anfang des Erzählens Wie der Prolog mit der Problematisierung der darin entwickelten Perspektiven endet, knüpft das Erzählen an die Sippenthematik an. Sich offenbar auf die Chanson-de-geste-Überlieferung außerhalb der Hauptquelle >Aliscans< stützend, setzt Wolfram die Geschichte mit der in gekürzter Form erzählten Enterbung des Protagonisten und seiner Brüder in Gang.60 Graf Heimrich von Narbonne nimmt den Sohn eines gefallenen loyalen Vasallen an Kindes Statt an und schickt seine eigenen Nachkommen besitzlos in die Welt hinein, damit sie sich dort selber ein Vermögen schaffen können. Seine Söhne sollen den hohen Lohn einer edlen Frau und die Gunst eines freizügigen Lehnsherrn anstreben. Daß diese Episode nicht einfach hingenommen, sondern als ein außergewöhnlicher Vorgang betrachtet werden sollte, macht die erste Bemerkung des Erzählers schon klar:61 Diz mcere ist war, doch wunderlich 5,15 (P,)

Mit diesen Worten signalisiert der Erzähler aber nicht nur das Merkwürdige an der gleich zu erzählenden Enterbungsepisode, sondern auch den Wandel einer der thematischen Perspektiven. Der Sippengedanke, der den ganzen Prolog durchzog, wird am Anfang des Erzählens auf eine andere Ebene transportiert. Statt das Verhältnis zwischen Gott und Menschen weiter zu entwickeln, konzentriert sich die erzählte Geschichte jetzt auf zwischenmenschliche Beziehungen. Auf die Artikulation des unerschütterlichen Verhältnisses, in dem der Mensch dem Schöpfergott als dessen Kind gegenübersteht, folgt das Auseinandergehen der irdischen Familie. Indem die Sippenthematik diesem Konstellationswechsel unterzogen wird, tritt das Bild einer tief gestörten Weltordnung hervor. Dies mag zunächst als Metapher für ein durch den Sündenfall ins Chaos gestürztes Universum gelten, in dem die Analogie des menschlichen Lebens zum göttlichen durchbrochen ist. Das im Prolog deutlich exponierte eigentliche Wesen Gottes und des Menschen, d.h. Gottes Treue zum Menschen und dessen Teilhabe an der Göttlichkeit, wird der Enterbung des Menschen durch den Menschen gegenübergestellt. Das Leidvolle und Sündenhafte an der irdischen Existenz und alle daraus

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Kiening (1991), S. 60, macht darauf aufmerksam, daß Handschrift G hier die einzige kleinere Initiale setzt. Ob sich der Begriff maere auf die ganze Handlung oder nur diese Episode bezieht, bleibt natürlich offen (vgl. Kiening [1991], S. 60). W. Schröder, Diz mtere ist war (1975), S. 298, entscheidet sich für die im Anschluß zu erzählende Episode. Überblick der Forschung zur Enterbung bei Stevens (1997), S. 38. 140

stammenden Konflikte sind also auf eine solche Entfernung des Menschen vom Ideal des göttlichen Lebens zurückzuführen. Daß hier aber »die Bindung der Taufe über die der Sippe dominiert«, macht den Stellenwert des Erzählanfangs zwischen Prolog und restlichem Werk noch komplizierter. Von hier aus fällt »ein Schatten auf die Möglichkeit ethisch geleiteten Verhaltens, das schließlich, in Konflikt geratend mit macht- und religionspolitischen Überlegungen, nur in Verheerung und Unglück münden wird [...] Sippenbindung und Taufereignis, die im Prolog Wesen und Verwirklichung der göttlich-menschlichen Relation konstituieren, treten an diesem Einsatz ritterlicher Realität auseinander«. Die metaphorische Resonanz dieser Nebeneinanderstellung von Prologproblematik und Eingangsepisode läßt der Erzähler aber schnell verhallen. Mit seiner nächsten Bemerkung kommen wir dem eigentlichen Sinn des Komplexes näher. Er stellt die Brüder Willehalms, die im weiteren Verlauf der Geschichte eine Rolle zu spielen haben, in aller Kürze dar, fügt hinzu, daß sie in der Sphäre von Ritterkunst und Frauenliebe sowohl Not erlitten als auch Glück erworben hatten, und wendet sich an den Helden der Geschichte: ouwe, daz man den niht liez bi sins vater erbe! swen der nü verderbe, da lit doch mer sünden an, denne almuosens dort gewan an sinem toten Heimrich: ich wane, ez wiget ungelich. ir habt daz e wol vernomen (ez endarf iu nü niht mcere körnen), wie ez mit dienste sich gezoch, des manec hohez herze vreude vloch.

7,16-26 (P2) Hier scheint der Erzähler im Kontext des Sippengedankens Heimrich die Schuld am Schicksal Willehalms zuzuschieben: Sollte der Sohn jetzt zugrundegehen, dann gälte die Enterbung wohl als Sünde, die nicht durch die donatio pro anima (Stiftung für das Seelenheil) gedeckt werden könnte. Daß die Verstoßung der Söhne als entscheidendes Moment für die tragischen Ereignisse des Textes zu betrachten ist, unterstreichen dann die letzten Verse des Zitats, die in eine kurze Darstellung von Willehalms Eroberung der heidnischen Königin überleiten: Ritterdienst hat oft dazu geführt, daß

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Kiening (1991), S. 61, 192. Heinzle, Ausgabe (1991), S. 831.

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viele Herzen unfroh wurden. Trotzdem hatte Heimrich seine Nachkommenschaft in gerade dieses gefährliche Ritterdasein hinausgeschickt: ze wiben nach hohem muote I suit ir die sinne rihten l und an ir helfe pflihten (6,6-8). Nicht nur in Heimrichs Enterbungsakt, sondern auch in den damit verbundenen Ratschlägen für das Leben in der Fremde spiegelt sich also die konfliktgeladene Ausgangslage des Textes. Eine Deutung der Beschuldigung Heimrichs durch den Erzähler muß aber vorübergehend ausbleiben, weil diese Schuldzuweisung nur den ersten Teil einer Sequenz bildet, die noch zu untersuchen ist. Als die kampfgierigen Heiden auf christlichem Boden ankommen, rückt Terramer, der Vater Giburgs und Führer der massiven Kriegsmacht, in den Blick: Terramer unvuoget, äaz in des niht genuoget, des sine tohter dühte vil. bescheidenlich ich sprechen wil, swen min kint ze vriunde kür, ungerne ich den ze vriunt verlür. Willelm ehkurneis was so wert ein Franzeis: des noch bedurfte wol ein wtp, ob si ahd kürlichen lip durh minne brcehte in ir gebot. sin sweher hazzete in an not,

11,19-30

(P3)

Hier wird die Schuld an den sich eben entfaltenden Feindlichkeiten Terramer zugeschrieben. Auffallend dabei ist nicht nur die oszillierende Perspektive, die zunächst die Verantwortung dem Christen nimmt und dem Heiden zuschiebt, sondern auch das offensichtliche Reduzieren dieser ungeheuren Ereignisse auf eine persönliche Ebene.65 Was bei der Bezichtigung Heimrichs angedeutet wurde, kommt jetzt klarer zum Ausdruck. In seinen ersten längeren Bemerkungen versucht der Erzähler das Geschehen aus einer subjektiven Sicht zu verstehen, die dem Erfahrungshorizont des Publikums nahe ist.66 In dieser Weise werden die Komplexitäten des ganzen religiöspolitischen Dilemmas radikal vereinfacht, indem das zu Erzählende nur unter dem einen Gesichtspunkt betrachtet wird. Dieser Blickwinkel erwächst aus dem Hervortreten des subjektiven Erzähler-Ichs, von dem in früheren

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Bei dieser Reduktion wird z.B. die Tatsache vernachlässigt, daß Tybalt als verlassener Ehemann berechtigte Ansprüche an seine Frau haben mag (vgl. Kiening [1991], S. 65). Der Bezug des Erzählten zur persönlichen Welt des Autors ist charakteristisch für Wolframs Stil. Vgl. dazu Nellmann (1973), S. 13ff. 142

Abschnitten dieses Kapitels schon die Rede gewesen ist. Die Biographisierung des sich Wolfram von Eschenbach nennenden Erzählers dient also nicht nur als Bauelement in der Konstruktion einer Autorfigur innerhalb des gattungsübergreifenden Fiktionalitätsdiskurses, sondern auch als eine Perspektive, von der aus die Grundlinien des Textes betrachtet und verarbeitet werden können. Während der Übergang vom Prolog zum Erzählen die Konstruktion der Sippenthematik neu akzentuiert hat, wird der Aufbau des Erzählers zur subjektiven Instanz konsequent fortgesetzt. Ironischerweise führt die zunehmende Biographisierung des Erzählers zunächst zu einer Beschränkung der thematischen Perspektiven. Den Ehebruch und die dadurch provozierten religiösen Streitigkeiten ausklammernd, faßt die Erzählerfigur die Situation als eine rein familiäre auf, die leicht auf vernünftige Weise hätte gelöst werden können: Einen besseren Schwiegersohn könnte sich heute niemand mehr wünschen. Der Erzähler präsentiert die führenden Kontrahenten als Väter und stellt sich in seinen Kommentaren selbst als Vater dar. Diese Art von Stilisierung bleibt bis zum Ende des ersten Buches präsent, indem die Erzählerfigur sich zum zweiten Mal auf seine Tochter bezieht: miner tohter tocke l ist unnach so schoene l (da, mit ich si hoene) (33,24—26). Dieser erste Versuch, die komplexen hermeneutischen Linien der Geschichte auf einer persönlichen Ebene zu bündeln und in den Griff zu bekommen, geht in den beiden nächsten Bemekungen des Erzählers noch weiter: wie tet der wise man also? si wären int sippe al geliche, Willelm, der lobes riche, und Ttbalt, Arabeln man, durh den er herzeser gewan vor jamer nach dem bruoder sin und mangen werden Sarrazin dem toäe ergap ze zinse. 12,8-15 (P4) ei, Heimrtch von Narbon, dines sunes dienst jämers Ion durh Giburge minne enpfie. swaz si genäde an im hegte, diu wart vergolten tiure, also daz diu gehiure auch wiplicher sorgen pflac. 14,1-7 (P5a)

Im ersten Zitat scheint der Erzähler die Beschuldigung Terramers für die ganze scheinbar ausweglose Situation nur zu wiederholen. Indem der Sippengedanke zum ersten Mal in dieser Sequenz explizit gemacht wird, eröff143

net der Kommentar eine weitere Dimension: Willehalm und Tibalt sind gleich nah mit Terramer verwandt. In diesem Moment artikulieren sich möglicherweise die Anfänge eines Toleranzgedankens, der in anderen Teilen des Werkes wieder auftaucht, aber bruchstückhaft und schwer zu bestimmen bleibt. Diese frühe Stelle mit Giburgs berühmter Rede und der generell milden Beschreibung der Heiden zu einem einheitlichen Gedankengebäude zu verbinden, läßt die Dynamik der interaktiven Perspektiven kaum zu. Genau dieser Faktor, den man vielleicht als das Implizit-Lassen wichtiger Momente bezeichnen könnte, kennzeichnet die hermeneutische Eigenart dieses Werks. An dieser Stelle darf man den Toleranzbegriff nur im Kontext der höchst persönlichen Reduktion der thematischen Perspektiven, die die ersten Kommentare des Erzählens im Rahmen des Sippengedankens geprägt hat, signifikant werden lassen. Mit Sicherheit läßt sich nur behaupten, daß wir es hier mit einer Verstärkung der Auseinandersetzung des Erzählers mit den zwei Vätern als solchen zu tun haben. Kurz danach spricht dieser tatsächlich den einen Vater in der ersten Apostrophe des Erzählgangs an, wobei die katastrophalen Konsequenzen seiner Ratschläge über den Frauendienst expliziter wiederholt werden. Insgesamt projizieren die fünf Passagen (PjPj) eine Perspektive auf den Text, die aus der Subjektivität des Autor/Erzählers erwächst und in den Rahmen der geänderten Akzentuierung der Sippenthematik paßt. Der erste Blickwinkel entsteht aus den dynamischen Prozessen des Prologs, die in einen ersten Deutungsversuch des Textes einfließen. Daß diese Perspektive nur eine unter mehreren ist, wird aber bald klar. Denn mit dem letzten Zitat (P?a) mündet der Sippengedanke in die zwei anderen im Prolog angelegten thematischen Perspektiven hinein: Minne (Pg) und Religion (P5b). Besonders die nächste Erzählerbemerkung über Minne verdient unsere Aufmerksamkeit: ei Giburc, süeze wtp, mit schaden erarnet wart din lip!

14,29-30 (P6) Die Signifikanz dieses Kommentars läßt sich über seine Form und Stellung im Erzählen erschließen. Die Worte knüpfen nämlich an das Ende einer Sequenz an, in der es primär um die Zuschreibung von Schuld ging, und diese formelle Situierung wird durch die Apostrophe unterstrichen, d.h. genau die Form, die in der letzten Bemerkung über Heimrich verwendet wurde. Gestalt und Position des kurzen Satzes suggerieren also, daß auch Giburg als mitverantwortlich für den Krieg gedacht werden sollte. Diese Vorstellung, die die auch im Prolog flüchtig artikulierte Perspektive der problematischen Minne wieder aufgreift, bleibt aber zunächst unentwickelt, wäh144

rend der Erzähler seine Gedanken auf die religiösen Aspekte seines Textes richtet. Die religiöse Perspektive öffnet sich im ersten Buch mit drei Passagen, die auf deutlichste Weise die Grundposition des Erzählers ausdrücken. In der ersten geht es um das Schicksal der Christen, die an den Schlachten teilnehmen werden: üf erde ein vlüsteclicher tac und himels niuwe sunderglast erschein, do manec werder gast mit engelen in den himel vlouc. ir scelekeit si wenic traue, die durh Willelm nü striten und die mit manlichen siten kämen, lät ir nennen mer. 14,8-15 (P5b)

Der Erzähler läßt sein Publikum dabei in keinerlei Zweifel darüber, daß die gefallenen Christen im Kampf gegen die Heiden als Märtyrer sterben und als solche direkt in den Himmel kommen.67 An anderer Stelle nimmt er in bezug auf die Heiden eine genauso klare Position ein: nü gedenke ich mir leide, sol ir got Tervigant si ze helle hän benant. 20,10-12 (P7)

Angesichts der Farbenpracht der geschmückten Heiden, die an den lichten summer erinnert (20,4-9), bedauert der Erzähler ihre verlorenen Seelen sehr. In seiner Positionbestimmung läßt er sich als Christ aber keineswegs von der menschlichen Seite der Tragödie beeinflußen: Die nicht-christlichen Ritter sind wegen ihrer Anbetung des falschen Gottes zur Hölle verdammt. Darf sich der Erzähler als Erzähler ausdrücken, dann wird dem Mitleid großes Gewicht gegeben: ich bin noch einer, swä man'z saget, der ir tot mit triuwen klaget: disen durh pris und durh den touf und jenen durh den tiuren kauf, daz er auch prisers gerte. 23,15-19 (P8)

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Vgl. Heinzles Kommentar zu 13,4, Ausgabe (1991), S. 838.

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Diese Bemerkung über den Zweikampf zwischen Vivianz und Naupatris könnte also als Ausdruck eines Gestaltungsprinzips gelten, nach dem Wolframs Behandlung der Heiden sich stark von der Quelle abhebt. Eine deutlichere Artikulation der Mergellschen »Zweischau« läßt sich kaum vorstellen: Der Erzähler fühlt sich aufgrund ihrer vergleichbaren Attribute gezwungen, beide Helden im gleichen Maße zu beklagen. Hier muß aber zwischen erzählerischer Methode und theologischer Einstellung streng unterschieden werden. Daß der Erzähler bereit ist, ein ausgeglichenes Bild der beiden Gegner im Lauf des Erzählens anzustreben, hat nicht unbedingt zur Folge, daß er von seinen religiösen Überzeugungen abweichen wird. Wolframs Erzähler ist sich wohl der Tatsache bewußt, daß die Heiden, die er in diesem blutigen Dilemma mit verständnisvollem Mitleid betrachtet und dementsprechend mit für die Zeit außergewöhnlicher Fairneß behandelt, trotz allem wegen ihrer Religion in die Hölle kommen werden. Dieses erzählerische Dreieck - Betonung des Todes der Christen als Martyrium, das in den Himmel fuhrt; Bedauern über das entgegengesetzte Schicksal der Heiden; aber die implizite Anerkennung beider als gleichrangige und gleichberechtige Menschen, die sich in der Gestaltung des Erzählens niederschlägt — kristallisiert sich im ersten Buch als die Konstellation der religiösen Thematik schlechthin heraus, die, beinahe zum Paradox neigend, sich leitfadenartig gegen Ende des Textes wiederholt. Das nächste Hervortreten des Erzählers markiert einen strukturellen Schnittpunkt im thematischen Diskurs. Der Sippengedanke, der sich im Gegensatz zum Prolog zunächst auf einer zwischenmenschlichen Ebene entfaltet hat, fügt sich im Laufe des ersten Buches in die Perspektive der problematischen Minne hinein: Wie oben besprochen, wird wegen der strukturellen Position der an die Protagonistin gerichteten Apostrophe die Idee, daß Giburg auch schuldig sei, kurz angedeutet, aber sofort wieder ausgeblendet. Dieser gemeinsame Horizont tritt dann zurück, indem der dritte im Prolog entfaltete Themenkomplex, also die Religion, wieder aufgegriffen wird. Die zweite Apostrophe, die der Erzähler an Giburg richtet, repräsentiert also den Moment, in dem alle drei Perspektiven ineinanderfließen: Arabele-Giburc, ein wip zwir genant, minne und din lip sich nü mit jämer vlihtet. du hast zem schaden gepflihtet: din minne den touf versnidet; des toufes wer ouch niht midet, sine snide die, von den du bist erborn. ir win ouch drumbe vil verlern, ez enwende der in diu herze siht. min herze dir ungünste giht. 146

war umbe? ich solte e sprechen, waz ich wolde rechen oder war tuon ich minen sin? unschuldic was diu kunegin, diu eteswenne Arabel hiez und den namen ime toufe liez durh den, der von dem warte wart. daz won vil kreßecliche vart zer magde vuor (diu ist nimmer maget), diu den gebar, der unverzaget sin verh durh uns gap in den tot. swer sich vinden lat durh in in not, der enpfahet unendelosen salt: dem sint die singcere holt, der don so hell erklinget. wol im, der'z dar zuo bringet, daz er so nahen muoz gesten, daz in der don niht sol vergen! ich meine ze himele der engel klanc: der ist süezer denne siiezer sane. 30,21-31,20 (P9)

Das Aufeinandertreffen der verschiedenen thematischen Perspektiven kommt in den ersten Sätzen dieser Passage auf dramatische Weise zum Ausdruck: din minne [Minne] den touf [Religion] versmdet; l des toufes wer auch niht midet, l sine sntde die, von den du bist erborn [Sippe]. Minne, Religion und Sippe fungieren hier noch als getrennte Diskurse, die im Körper Giburgs zerstörerisch aufeinanderprallen. Die vorher nur angedeutete Beschuldigung der Protagonistin wird in diesem perspektivischen Gewirr ausdrücklich hervorgehoben: Sie ist eine Frau mit zwei Namen, zwei Traditionen, die einander zu vernichten drohen. Aus diesen Gründen fällt der Erzähler endlich das Urteil über sie, das in verschiedenen Kommentaren seit dem Prolog skizzenhaft präsent gewesen ist: Sein Herz ist ihr ungünstig gestimmt. Der Erzähler ist jetzt am entscheidenden Punkt angelangt, an dem er die möglichen Einwände und Bedenken seines Publikums gegenüber der Figur voll aufnimmt und artikuliert. Diese anscheinend ausschlaggebende Bemerkung löst sich aber zunächst beinahe wieder auf: War umbe? ich solte e sprechen, l waz ich wolde rechen — l oder war tuon ich minen sin? Der Autor will offensichtlich den Eindruck erwecken, daß der Erzähler seine Gedanken noch nicht völlig ausformuliert hat, ja spontan spricht, und so das Publikum in die hermeneutischen Prozesse des Texts selber miteinbeziehen.68 An dieser 68

Kienings (1991), S. 74-76, scharfsinnige Bemerkungen zur Aufnahme der im Prolog benutzten Termini sin und don lassen keinen Zweifel daran, daß wir es hier mit einem wichtigen hermeneutischen Moment des Textes zu tun haben.

147

Stelle tun sich tatsächlich zwei verschiedene Möglichkeiten fiir eine Deutung des Werks auf: Man kann entweder die rivalisierenden thematischen Perspektiven auseinanderhalten und sich anhand dieser ungebündelten Lesarten einen Weg durch den Text bahnen; oder man versucht eine Synthese zu erreichen und die Hauptfigur im vollen Bewußtsein einer schwer zu lösenden Problematik zu verstehen. Mit seiner abrupten Meinungsänderung versucht der Erzähler, sein Publikum für eine synthetische Lesart des Textes zu gewinnen. Der Ablauf der Passage von diesem Moment an vertritt genau diese Art von Interpretationsansatz. Der problematische Doppelname der Protagonistin reduziert sich auf einen einfachen durch die Macht Gottes, der selber aus dem Wort geworden ist. Indem zwei konkurrierende Perspektiven (Minne und Religion) zusammengebracht werden, lösen sie sich in ein harmonisches Gebilde auf:69 Arabele-Giburc wird zu Giburc, und Jesus, dessen Name und Macht über das Wort diese Wandlung der Perspektiven ermöglicht hat, garantiert den Weg ins Paradies, in dem der Gesang der Himmelschöre erklingt. Die umstrittene linguistische Identität der Protagonistin wandelt sich also in einer ununterbrochenen Linie in den himmlischen Gesang der Engel um. Die Synthese der Perspektiven, die der Erzähler am Ende dieser langen Passage erreicht hat, wird dann in den weiteren thematischen Kommentaren (P IO —P 12 ) im ersten Buch fortgeführt. Alle drei Passagen gehen von dem Endpunkt der zweiten harmonisierenden Lesung aus, d.h. dem Weg der nei Christen ins Paradies. Zunächst wird der Teufel angesprochen (Pjo) : ~ de den Christen den Triumph der Seele und sinne ständig auf ihr Unglück. Der Erzähler bittet den, der im Leib der Jungfrau saß (eine Formulierung, die wohl direkt auf die Beschreibung Jesu im vorhergehenden Kommentar zurückgreift), ihn an einen besseren Ort zu führen, damit er nicht allzu lange in Richtung Hölle gehen muß. Von dem Martyrium Vivianz' ausgehend, erinnert der Erzähler das Publikum als nächstes daran, daß der weise Mann immer an sein Christentum denkt (Pn).70 Den Tod des jungen Helden faßt der Erzähler als bittersüße Erfahrung auf: Es schmerzt natürlich sein Herz, erfüllt ihn aber doch mit Freude, weil die Art und Weise dessen Sterbens das höchste Glück der Seele erwarb. Das Vorbild Vivianz' wird dann ein weiteres Mal angeführt, indem er selber apostrophiert wird (Pj 2 )· Diese letzte direkte Anrede im ersten Teil des Werks (vorher wurden schon Gott, Willehalm, Heimrich, Giburg und der Teufel angesprochen) rundet die synthetische Lesart des Werkes, die prinzipiell in der Debatte um die linguisti-

69 70

Gegen Ortmann (1993), S. 96. Vgl. Kiening (1991), S. 185-187. 148

sehe Identität der Protagonistin ausgearbeitet wurde, unzweideutig ab: Jeder Ritter, der sich in Bedrängnis findet, soll sich vor Gott auf Vivianz' Martyrium berufen. Damit wird die Brücke zum Prolog geschlagen, speziell zu Willehalms Heiligenstatus. Die thematischen Perspektiven, die sich im Laufe des Prologs eröffneten, hat der Erzähler nach erheblichem Ringen in Einklang bringen können. Dabei wird zwischen den zwei vorgeführten und gegeneinander ausgespielten Möglichkeiten der Textinterpretation klar entschieden. Ob die Synthese der Perspektiven sowie die synthetisierende Deutungsmethode im ganzen Verlauf der Handlung gültig bleiben können, ist aber noch zu beleuchten.

3.3. Die Rettung des Protagonisten Das nächste Hervortreten des Erzählers auf der thematischen Ebene erfolgt in zwei Phasen: am Ende des m. und am Anfang des iv. Buchs. Nachdem die französische Königin ihre Zöpfe aus der starken Hand ihres Bruders befreit hat und in ihre Kemenate davongelaufen ist, setzt sich Willehalms gewaltiger Wutanfall fort. Sein Zorn drückt sich jetzt verbal aus, was zu solchen Beleidigungen führt, daß der Erzähler aus Anstandsgründen ihn unterbrechen zu müssen meint: Mit seinem Schimpfen beschuldige der Markgraf seine Schwester grundlos (152,28-30). Er nennt sie eine Hure, aber der Erzähler distanziert sich von der Quelle, indem er sich weigert, diese Schimpfwörter direkt wiederzugeben: die namen bet ich bekennet ob ich die wolte vor iu sagen: nü muoz ich si durh zuht verdagen. er schalt se et mer denne genuoc. ob er ie mannheit getraue oder ob er ie gedähte, daz er sin dienest brähte durh herzen gir in wibe gebot, ob er vreude oder not ie enpfienc durh wibes minne, an sinem manltchem sinne was doch diu kiusche zuht betrogen. e wart nie riter baz gezogen und äne vabch so kurtois.

153,4-17 In diesem Moment fällt also der Protagonist buchstäblich aus der Rolle. Der bis dahin vorbildliche Ritter, den als Repräsentanten von höfischen Werten zu beschreiben, der Autor sich große Mühe gegeben hat, ist mit dem Helden aus der Quelle zusammengefallen. Seiner männlichen Mustergültigkeit 149

geht die Beherrschung aus, die Bedeutung und Huldigung der Frau ist aus seiner Weltanschauung verschwunden, kiusche und zuht haben ihren Einfluß verloren. Angesichts dieses tiefverwurzelten Zornes, der alle Grenzen der Höflichkeitsformen überschreitet, sind zentrale Aspekte des höfischen Kodex plötzlich wirkungslos. Seine Erziehung als makellos courtoiser Ritter ist in einem Zuge weg. Daß Willehalm hier als Protagonist aus der Heldenepik agiert, läßt sich an der Zurückhaltung des Erzählers erkennen. Indem der Protagonist selbst gegen die Regeln der Höfischkeit verstößt, hält der Erzähler zumindest an dieser Ethik fest. Dabei tut sich eine Kluft zwischen zwei Welten auf, der Welt der ungebändigten Emotionen und der Gewalt auf der einen Seite (d.h. dem Lebensbereich der heldenepischen Quelle) und der Welt der Selbstbeherrschung und Manierlichkeit (d.h. der höfischen Sphäre der durch Wolframs Erzählen entstehenden Version) auf der anderen. Dieses Nicht-Erzählen-Wollen signalisiert einen Abstand zwischen Erzähler und Figur, die wegen ihres Wutanfalls dem Höfischen entgleitet und in das Heldenepische hineinrutscht. Das Spiel mit den Gattungen soll auch erkennen lassen, daß die Gefühle und Motivationen des Protagonisten eine Komplexität erreicht haben, die sich nicht auf eine einfache Deutung reduzieren lassen. Diese Haltung des Erzählers entspricht wohl der von mir im 2. Kapitel vorgelegten Interpretation von Willehalm als komplexem Charakter. Am Beginn des IV. Buchs aber tritt der Erzähler mit einer ganz anderen Deutung der Episode und der Figur nochmals hervor. Die Verse 162,1— 163,10, mit denen ein neues Kapitel des Romans zu beginnen scheint, kann man mit Sicherheit dem Neuanfang nach einer Vortragspause zurechnen:71 Welt ir nü hoeren, wie ez geste umbe den zorn, den ir hortet e? 162,1-2

Die Zeitadverbien e und nü, verbunden mit dem Wechsel vom Präsens zum Präteritum weit ... hoeren/hortet, kennzeichnen die erneute Kontaktaufnahme zwischen Erzähler (hier explizit im Vortragenden verkörpert) und Publikum. In den folgenden Versen blickt der Erzähler in zwei Richtungen. Zunächst wird in kurzer Zusammenfassung auf die kommenden Ereignisse der Handlung hingedeutet: wie dem Markgrafen Hilfe und hochgemuter Stolz naht (162,4—5) oder wie die römische Königin ihm ihr Leben, ihr Gut und ihre Gunst von ganzem Herzen treu zu Füßen legt (162,6-9). Dann rückt aber Vergangenes wieder in den Blick:

71

Nellmann (1973), S. 120f. 150

des was dem marcgräven not, daz Giburge wol gelanc, wan in minne und jämer twanc. waz pfandes het er l&zen dort!

162,10-13 Dabei greift der Erzähler nicht nur auf die eben erzählten Episoden in Laon zurück, sondern auf die ganze Spannweite des Erzählten. Die Verse 162,1030 vertreten also, um mit Nellmann zu sprechen, einen »umfassenden Rückblick« auf den bisherigen Ablauf der Handlung.72 Dem Panorama zufolge geht es in diesem Werk prinzipiell um Willehalms Bemühungen, seine Frau vor dem grausamen Tod in den Händen ihrer heidnischen Verwandten zu bewahren/^ Die Befreiung Giburgs und die großen Sorgen ihres Mannes, dessen Anstrengungen alleine sie ermöglichen können, bilden den Gegenstand einer ausführlichen Diskussion in den darauffolgenden Zeilen. Was aus diesem Exkurs hervorgeht, erinnert an die synthetisierende Lesung des Textes, die in den ineinanderverschlungenen thematischen Perspektiven des ersten Buches zu spüren war. Denn wir haben in der vorhergehenden Episode einen höchst komplexen Charakter ermitteln können, dessen vielschichtige Motivationen einer eingehenden Deutung bedurften. Der Erzähler schien sich von einer solchen Auslegung fern halten zu wollen, wies aber auf das unhöfische Benehmen des Protagonisten mit Erstaunen hin, indem er seine eigene zuht als Erzähler höfischer Prägung bewahrte. In diesem Moment hat sich das hermeneutische System des Textes wieder aufgespalten. Willehalm agiert und artikuliert sich auf eine Art und Weise, die der Erzähler nicht mehr zu integrieren weiß: Die Perspektiven von Erzähler und Figur sind in Konkurrenz miteinander geraten. Im ersten Buch ist dem Erzähler eine Synthese seiner eigenen thematischen Perspektiven gelungen. Jetzt muß er versuchen, seine Perspektive mit der der Figur zu harmonisieren. Dieser Versuch erfolgt über drei aneinandergeknüpfte, sich steigernde Phasen. Zuerst knüpft der Erzähler an die Perspektive des Publikums an, die im zweiten Kapitel ausgearbeitet wurde: nu prüevet auch den grdzen mart, der uf Alischanz geschach, dar zuo daz vorhtlich ungemach, da Giburc inne beleip,

72

73

Nellmann (1973), S. 120; Vgl. auch Pörksen (1971), S. 55; Kiening (1991), S. 154ff. Dies ist in den meisten Handschriften klar, wenn für 162,10-12 steht: des was auch Giburge not, l ob dem markis wol gelanc. l den minne unde jämer twanc.

diu in nach helfe von ir treip! Giburc was sin liebistez pfant: nach ir ime sinne und vreude swant. ungedulteclich er muoste leben. 162,14-21

Der Rezipient wird aufgefordert, sich die erste Schlachtszene sowie die lebensbedrohende Belagerung von Oransche zu vergegenwärtigen. Die Sehnsucht nach Giburg ist es, die Willehalm Verstand und Freude genommen hat. Dieser Gedanke leitet dann in eine Metapher hinein: ein esse im niemen übergeben künde an so bewandem zu: diu vlust der mäge twanc in vil, noch mer diu not, der Giburc pflac, 162,22-25

Diesen schwer zu verstehenden Satz erklärt Heinzle folgendermaßen: »Willehalm hatte den höchstmöglichen Wert gewürfelt in bezug auf Leid, man konnte ihm nichts dazugeben, >das Maß war volk«7 Der Spielmetapher folgt ein Einblick in das Herz des Protagonisten selbst: mitten in sime herzen lac gruntveste der sorgen fundamint. er mäht erbarmen die halt sint des waren gelouben äne: Juden, heiden, publikäne. 162,26-30

In allen drei Phasen wird lediglich derselbe Grundgedanke wiederholt, nämlich, daß Willehalm ausschließlich durch die Liebe zu seiner Frau motiviert sein soll. Ironischerweise kann der Erzähler Willehalm nur dadurch retten, daß er die Rettung Giburgs als Beweggrund wieder einblendet. In dieser dritten Phase erreicht der Erzähler den Höhepunkt seiner Hyperbel: mitten in sime herzen, gruntveste und fundamint stellen eine dreifache Wiederholung der gleichen Vorstellung dar. Auf ähnliche Weise bilden die Termini Juden, heiden und publikäne eine Sequenz, die sich ins Unwahrscheinliche zieht: Während Juden und Heiden Wolframs mittelalterlichem Publikum als lang etablierte religiöse Gegner vertraut waren, spielt der Begriff publikäne höchstwahrscheinlich auf Angehörige einer häretischen Bewegung an, die zur Zeit der Entstehung des >Willehalm< gerade die europäische Kirche er-

74

Heinzle, Ausgabe (1991), S. 951. 152

faßt hatte.7' Die Steigerung dieses letzten Satzes, der mit dem zeitgenössischen Bezug endet, fängt genau die Bewegung der ganzen Passage ein: Drei verschiedene Konstellationen spielen dieselbe Idee durch und grenzen am Ende an Überspitzung. Neben dieser besonderen Akzentuierung fallen die Konzepte, die dabei vorkommen, besonders auf. »[Der Erzähler] rekapituliert nicht nur ansatzweise die in Laon gegebene Situation, sondern spielt auch zentrale Begriffe und Motive ein, die programmatisch für das bisher Erzählte stehen können.«76 Mit den Begriffen zorn, suone, vreude, not, minne, jamer, auf die Kiening aufmerksam macht, wirkt diese Passage fast prologartig. Wie im eigentlichen Prolog faßt der Erzähler das Leben des Protagonisten zusammen, diesmal aber aus der Perspektive des schon Erzählten. Dies zieht einen Strich unter die vorangegangenen Begebenheiten und fungiert als Ausgangspunkt für das Verständnis des weiteren Verlaufs des Texts. Der Erzähler nutzt die Dynamik der Kommunikationssituation, um eine Zäsur in den Text hineinzubauen und die verschiedenen Lesarten, die sich seit seinem letzten großen Hervortreten herauskristallisiert haben mögen (nämlich die schwer zu deutenden Charakterzüge der Hauptfigur), zu bündeln und in vereinfachter Form ans Publikum weiterzureichen. Daß die Passage wohl auf eine Synthese zielt, und daß diese nicht so einfach realisierbar ist wie die erste, bestätigt der darauffolgende Abschnitt: mich müet auch noch sin kumber. dunk ich iemen deste tumber, die smcehe ltd ich gerne. swenne ich nu rede gelerne, so sol ich in bereden baz, war umbe er siner zuht vergaz, do diu küneginne so brogete, daz er si drumbe zogete. des twanc in minne und ander not, mdge und auch manne tot.

163,1-10 Der defensive Ton des ersten Satzes läßt die Schwierigkeit der synthetisierenden Lesart erkennen: Der Erzähler muß dafür seine eigene Glaubwürdigkeit aufs Spiel setzen. Statt sein Publikum wegen fehlender Komplexität tump zu nennen, ist er jetzt selber bereit, seine Schmähung zu dulden und für dumm

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76

Zum Begriff publikane s. Vorderstemann (1974), S. 240ff.; Kunitzsch (1975), S. 376f.; Marchand (1976). Kiening (1991), S. 155.

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gehalten zu werden. Um die Synthese aufstellen zu können, muß er einen Bescheidenheitstopos kunstvoll variieren: Den Grund für den zornigen Ausbruch in Laon wird er irgendwann besser bereden können. Bereden hat im Mittelhochdeutschen zwei Hauptbedeutungen, die in diesem Kontext ineinander fließen: »mündlich festsetzen« oder »vor dem Gericht verteidigen«. Der Erzähler gibt implizit zu, daß der Protagonist sich in sündenhaftes Benehmen verstrickt hat, das wohl einer Erklärung bedarf, behauptet aber gleichzeitig, nicht in der Lage zu sein, ihn zu verteidigen. Statt dessen bietet er eine Wiederholung der eben erwähnten Begründung: des twanc in minne und ander not spiegelt wan in minne und jamer twanc fast wortwörtlich wieder. Die einzige Erklärung, zu der der Erzähler fähig ist, stammt aus der werkübergreifenden Synthese, die er gleich am Anfang des iv. Buchs ausgearbeitet hat: Die Komplexitäten des Charakters der Willehalm-Figur müssen einfach ausgeklammert werden. Auffallend dabei ist die genaue Formulierung der erzählerischen Selbstverteidigung — die smcehe lid ich gerne — denn smcehe zieht sich (wie im dritten Kapitel gezeigt) wie ein Leitfaden durch Willehalms Gedanken am kaiserlichen Hof. Smcehe ist die Motivation des Protagonisten schlechthin, und diese smcehe bezieht der Erzähler jetzt auf sich selbst. Um die Schwierigkeiten konkurrierender Perspektiven zu bewältigen, muß die Erzählfigur diese transformieren und in seine eigene Perspektive subsumieren.

3.4. Freude und Leid Auf der thematischen Ebene schweigt der Erzähler dann prinzipiell bis zum VI. Buch. Kreisten die ersten beiden thematischen Impulse jeweils um die Hauptfiguren Giburg und Willehalm, so gleitet der Erzähler mit der dritten Gruppe auf eine andere Schiene. An diesen Stellen geht es um zwei Konzepte, die sowohl generell in der mittelalterlichen Vorstellung als auch spezifisch bei Wolfram aufeinander bezogen waren: Freude und Leid. Mit zwei erotischen Liebesszenen hebt sich Wolfram beträchtlich von der Quelle ab. Er präsentiert die Beziehung des Protagonistenpaares als eine sexuelle, die eine versöhnende und erlösende Kraft auszuwirken scheint. Im vi. Buch läßt er sie miteinander ins Bett gehen, wo ihre gegenseitige Liebe den Verlust ihrer Verwandten im Kampf ausgleicht (279,6-12).77 Giburg schmiegt sich so eng an Willehalms Brust, daß er für alles entschädigt wird, was er je verloren hat (280,2—6); ihre Liebe gibt ihm solche Kraft, daß sein Betrübnis sich mit Freude mischt (280,7-9). Auf quasi-mystische Weise verwandelt physi-

77

Zur Sprache dieser Szene s. Kiening (1991), S. 127-128. 154

sehe Liebe, wenn auch nur momentan, die Verluste und Gefahren des Kampfes in Sicherheit: diu sorge im was so verre entriten, l si mähte erreichen nicht ein sper (280,10-11). Vielleicht nicht durch Zufall tritt der Erzähler also an dieser Stelle wieder hervor. Die Szene stellt eine Neuschöpfung des Autors dar und markiert ein wichtiges Stadium in seiner Umgestaltung der Quelle. Daß er seinem Erzähler an diesem Punkt wieder das Wort überläßt, ist in dieser Hinsicht verständlich. Darüber hinaus knüpft dessen Kommentar implizit an seine letzten Bemerkungen über thematische Aspekte des Texts an. Dort hatte der Erzähler versucht, Willehalms Liebe für Giburg als blinden, Verstand und Freude nehmenden Trieb zu erklären; hier zeigt er die positiven Seiten dieser ungeheuren Kraft, die Freude, Hoffnung, ja sogar Seligkeit stiften kann. Um der vollen Bedeutung dieses Kommentars gerecht zu werden, muß man sehr genau dem Fluß seiner Gedanken folgen. Der Sinn ist hier kein fixierter, sondern entsteht aus einer subtilen Bewegung zwischen Bezugsebenen. An beiden Polen dieses Prozesses steht die beiden Protagonisten Vitalität spendende Kraft der Liebe: Giburc was siner vreuden wer (280,12) und der marcgräve kurzewile pflac (281,17). Der Kommentar fließt also aus dem Erzählen und an genau derselben Stelle wieder in das Erzählen hinein, was sehr klar auf seine Funktion als Erklärungsmodell für den Text hindeutet, und er beginnt und endet mit dem Propagieren ähnlicher Lebensweisheiten: nach triiren sol vreude etswenne körnen, so hat diu vreude an sich genomen einen vil bekanten site, der mannen und wiben folget mite. wan jämer ut unser urhap, mit jämer körn wir in daz grap. ine wetz, wie jenez leben erget: ahus dises lebens ordens stet. 280,13-20

Daß diese sentenzenhaften Äußerungen höchstwahrscheinlich auf Formulierungen aus den Weisheitsbüchern der Bibel zurückzuführen sind, hat schon Ohly festgestellt.78 Auch die Vorstellung des schreienden Neugeborenen als Zeichen des jammervollen Eintritts des Menschen in die Welt scheint »in verschiedenen Zusammenhängen gut belegt« zu sein.79 Diese Aussagen des Erzählers als unreflektiertes Wiederholen von Gemeinplätzen zu lesen, wür-

78

Ohly (1985), S. 507.

79

Heinzle, Ausgabe (1991), S. 1009.

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de aber in diesem Kontext zu kurz greifen. Sie öffnen vielmehr das Verständnis des Textes auf einen neuen Horizont hin, und zwar auf die Lebenserfahrung und philosophische Interessiertheit des Publikums. Daß es dabei speziell um einen Deutungsversuch seines Textes geht, zeigen die nächsten Verse auf explizite Weise: diz mcere bt vreuden selten ist. ich müese haben guoten list, swenne ich vreude drinne vunde, swie wol ich nü guotes gunde den, die mir niht habent getan und mir niht tuont: die sint erlän von mir kümmerlicher tat. 280,21-27

Der genaue Bezug dieser Worte ist zwar schwer zu bestimmen, aber ihre Vagheit entspricht wohl dem Sinn der Passage.80 Ob sich der Erzähler hier in seiner Rolle als Verfasser der Geschichte äußert oder mehr als dessen Rezipient, ist kaum zu entscheiden. Wer mit den gemeint ist, entzieht sich ebenfalls dem festen interpretatorischen Griff. Die Interpretation einiger Kritiker, die diese Verse wegen einer impliziten Vergleichstelle mit Tristan als eine Art Polemik gegen Gottfried verstanden wissen wollten, halte ich für abwegig. Die Identität der Leute, denen der Erzähler nur Gutes gönnt, ist eher in der Dynamik dieser direkten Kommunikationssituation zu finden. Der Erzähler bezieht sich entweder auf seine Mitmenschen im verallgemeinernden Sinne einer Lebensweisheit oder auf die Figuren der Geschichte selbst. Für letztere Möglichkeit hat sich Heinzle in seinem Stellenkommentar entschieden: »Der Erzähler bedauert, daß es in seiner Geschichte so wenig Freude gibt, und betont, er habe dies nicht böswillig so eingerichtet: Wie allen, die ihm nichts angetan haben, würde er — so hat man wohl zu ergänzen — auch den Gestalten der Geschichte alles Gute gönnen.«81 Meiner Ansicht nach läßt der Erzähler die Stelle aber absichtlich in der Schwebe: Den Figuren der Geschichte, Produkten des Erzählens, und den Menschen, die einem im alltäglichen Leben begegnen, sollte man sich auf genau dieselbe Art und Weise nähern. Das Leben ist von Anfang bis zum Ende voller Jammer, so wie die zu erzählende Geschichte. Mit den Figuren sollte man also auch in Analogie zu realen Lebensverhältnissen umgehen. Auf diesen Horizont der Lebenserfahrung bezieht sich der Erzähler im weiteren Verlauf des Kommentars unter Berufung auf den Rat eines Weisen: 80

81

Zum Beispiel Mergeil (1936), S. 12l£; Ohly (1985), S. 507ff.; Pörksen (1971), S. 136f.; Kiening (1991), S. 172-175. Heinzle, Ausgabe (1991), S. 1010.

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ein wiser man gap mir den rät, daz ich pfl&ge, swenne ich mähte, sölher güete, diu mir getöhte, üzerhalp der vaLchen wise: des müht ich körnen ze prise, dar an niemen sol verzagen, er enmüeze vreude und angest tragen, swer z'aller zit mit vreuden vert, dem wan nie gemachs2 beschert, ja sol du manlich arbeit werben lief und leit. die zwene gesellecliche site ouch der wären wipheit volgent mite. sit daz man vreude ie trurens jach z'einem esteriche und z'einem dach, neben, hinden, vür zen wenden, groz truren sol niemen sehenden: want hat sich's iemen noch erwert, bi stner vreude ez nähe vert. 280,28-281,16

Wer alle Zeit in Freude lebt, der hat nie Zufriedenheit erfahren; das Leid ist das Haus der Freude; die Freude wohnt mitten im Leid. Durch Metaphern und Wiedergabe von Weisheiten arbeitet der Erzähler eine Position aus, die auf beide Geschlechter zutrifft. Die Thematisierung von Freude und Leid in diesen besonderen Konstellationen wird Wolframs Publikum wohl vertraut gewesen sein. Die Begriffe ziehen sich nicht nur wie ein Leitfaden durch sein ganzes CEuvre hindurch, sondern bilden den Gegenstand zeitgenössischer Diskussionen in höfischen Kreisen. Die in Kürze erscheinenden Ergebnisse des Münster-Bochumer Forschungsprojektes über Sentenzen im hohen Mittelalter sind in dieser Hinsicht von großem Interesse. Sie werden zeigen können, daß gerade das Thema »Leid des Lebens« zu den beliebtesten Diskussionstopoi der höfischen Ära gehörte.83 Es scheint also nahezuliegen, daß Wolfram dabei ein weiteres Deutungsmodell für den Text aufstellen wollte. Statt von der inneren Problematik des Werks auszugehen, d.h. einer Synthese von thematischen Perspektiven oder dem Ausklammern von schwer zu interpretierenden Charakterzügen der Figuren, kann das Publikum die Begebenheiten der Handlung als Widerspiegelung seiner eigenen intellektuellen

82

83

Hier folge ich den Editionen von Lachmann und W. Schröder, die die triviale, also verdächtige Lesart der Handschrift G »ungemach« durch die relevante Stelle in Ka und Fr73 ersetzen. Für diesen Hinweis und anregende Diskussionen danke ich dem Projektleiter in Bochum, Mannfred Eikelmann. 157

Interessen und Themen auffassen. Der Erzähler wollte weit weniger den Text als Exempel einer mittelalterlichen Weltanschauung konzipieren, als auf die Vorstellungen und Interessen seines Publikums zurückgreifen, um diese als Folie für die Deutung des Materials zu benutzen. In diesem Modell soll sich der Rezipient anhand seiner eigenen Lebenserfahrung und Einstellung zu existenziellen Fragen mit dem Text auseinandersetzen. Im zweiten Kampf äußert sich der Erzähler ein weiteres Mal ausführlich und explizit zum Thema »Freude und Leid«. Zunächst spielt er intertextuell auf die Protagonisten und Gattungsmerkmale der deutschen Heldenepik an: üf Alischanz, dem velde sieht, sölh strit mit swerten geschach: swaz man von Etzelen ie gesprach und auch von Ermenriche, ir strtt wac ungeliche. ich hoere von Witegen dicke sagen, daz er eines tages habe durhslagen ahtzehen tüsent als einen swamp, helme: der als manec lamp gebunden vür in trüege, ob er's eines tages erslüege, so wcere sin strit genuoc snel, ob half bescheren wceren ir vel. man sol dem strife tuon sin reht: da von diu maere werdent sieht, wan urliuge und minne bedürfen beidiu sinne. einez hat semfie unde leit, daz ander gar unsemfiekeit. swer wtbe Ion ze reht erholt, eteswenne der grdzen kumber dolt: ob denne der minne süeze sölhen kumber büeze, swä der site wirf begangen, da, ist der minne solt enpfangen.

384,18-385,12 Man hat in dieser Passage eine Reflexion von Seiten des Autors über den literarischen Stellenwert des >Willehalm< im Verhältnis zu anderen Werken der Zeit gesehen.84 Indem er die Hyperbolik des Sagenkreises um Dietrich von Bern verspottet, nimmt er Abstand von der Gattung, die seiner Quelle am ehesten entspricht. Die Schilderung der Taten von Helden in der Epik 84

Knapp (1970), S. 246-247 und Lofmark (1972), S. 104, vermuten, daß die Kritik sich auch auf die Schlachtdarstellung der Chansons de Geste bezieht, in denen Rainouart tatsächlich mehr als zehntausend Heiden an einem Tag erschlägt.

158

grenzt dem Erzähler zufolge ans Lächerliche. Der Satz, um den sich alles dreht, wirkt wie ein literarisches Programm: man sol dem strife tuon sin reht. Dies erinnert an die ernsthaft klingende Aussage am Beginn des Erzählens: da wart sölhiu riterschaft getan, I sol man ir geben rehtez wort, I diu mac wir war wol heizen mart (10,18-20). An beiden Stellen akzentuiert der Erzähler die Wichtigkeit des anständigen und rechten Erzählens. Dieser Moment im viii. Buch reicht aber über den einfachen Ausdruck der Ehrlichkeit und Glaubwürdigkeit des Erzählers hinaus. Der zentrale Satz darf, aber muß nicht ausschließlich in bezug auf den Autor/Erzähler interpretiert werden, etwa wie bei Heinzle: »Man muß vom Kampf erzählen, wie es angemessen ist.«8·5 Folgt man der Syntax des Satzes genau, dann bietet sich eine andere Übersetzung an, die Rezipienten sowie Autor/Erzähler betrifft: »Man muß dem Kampf gerecht werden.« Um dem eigentlichen Sinn des Kampfes näher zu kommen, muß Wolframs Publikum seine Erwartungen an die Gattung weit hinter sich lassen und seine eigene Erfahrung von Freude und Leid in die Interpretation einfließen lassen. Die durch Literatur vermittelte Wahrnehmung dieses Krieges hat weniger mit anderen literarischen Erfahrungen zu tun als mit den Lebenseinstellungen der Rezipienten. Unter Berufung auf diesen zeitgenössischen Diskussionstopos gestaltet Wolframs Erzähler sein Werk als einen offenen Prozeß, in dem die Rezipienten den Text vor dem Hintergrund eigener Lebenserfahrung beurteilen müssen.

3.5. man sach und der Blick des Ichs Im viii. Buch sind die Erzählerkommentare prinzipiell von ganz anderer Art. Hat der Erzähler in den vorangegangenen Abschnitten explizit thematisch auf den Erzählvorgang reagiert, wächst er nach dem Beginn des zweiten Kampfes in das Erzählte selbst hinein. Die längeren Passagen, in denen der Erzähler versucht, seine eigene Stellungnahme zu den Themen des Textes durchzuarbeiten und dabei das Publikum zum aktiven Mitdenken aufzufordern, werden durch knappe, punktuelle Kurzkommentare ersetzt. Die ständig einbrechende, sich gerafft artikulierende Stimme des Erzählers fällt mit einem schon oben ( .2.4) besprochenen Merkmal der Kampfschilderung, der man-sach-Konstruktion, zusammen. Einerseits zieht das Wahrnehmungsverb mit unpersönlichem Pronomen den Erzählenden wie den Zuhörenden in den beschriebenen Vorgang hinein. Dabei regt es den Rezipienten an, das Dargestellte selber zu versinnlichen. Andererseits wird zugleich das rasend schnelle Tempo des Ganzen akzentuiert und zum Miterleben dargeboten.

85

Heinzle, Ausgabe (1991), S. 651. 159

Die oft kühn artikulierte Semantik und Syntax der man-sach-Konstrukuon lassen Erzähler und Publikum ineins fallen und im Zentrum der Aktion stehen. Der Text spielt sich buchstäblich vor den Augen dieser einheitlich gewordenen Wahrnehmungsinstanz ab. Die punktuellen Äußerungen des Erzählers und die man-sach-Konstrukuon verbinden sich im VIH. Buch darüber hinaus zu einer Fokalisierungsinstanz, deren begrenzter Standpunkt den Text prägt. Daß Wolframs Darstellung der Heiden die seiner Quelle weit hinter sich läßt, gehört zwar zu den Gemeinplätzen der Forschung. Die Fokalisierung selbst ist aber keineswegs neutral. In über zwei Dritteln der Kommentare im vin. Buch behandelt der Erzähler die Heiden, während er sich im gesamten zweiten Kampf nur viermal ausschließlich auf die Christen bezieht (s. Tabelle). Dieses Ungleichgewicht hat zur Folge, daß die zweite Schlacht implizit, aber eindeutig durch christliche Augen gesehen und erzählt wird. Die Dynamik dieser Fokalisierung sei jetzt weiter verfolgt. Heiden

Christen

beide

372,1 377,7 377,12 377,23 381,26 387,6 389,23 389,28 393,30 394,27 395,12 396,17 397,4 399,7 399,18 400,1 400,23 404,22 410,6 419,5 426,14 431,26 439,16

392,20 407,10 419,22 439,26 (446,19) (448,3)86

365,30 366,20 379,16 392,2 401,30 402,18 443,8

Die eingeklammerten Stellen folgen erst nach der Schlachtbeschreibung.

160

Die Verwischung von Erzähler-Ich und Autor-Ich, die konsequent auf die Entfaltung einer konstituierenden Subjektivität zielt, geht im achten Buch weiter, indem lokale Ortsnamen und die Politik der Zeit als Bezugspunkte aufgenommen werden:87 Niemand würde den Erzähler der Prahlerei bezichtigen, wenn er behauptete, an einem schönen Maitag im Spessart einen Laubkranz besorgen zu können. Genauso leicht sei es für Poidjus, der goldene Gebirge besitze, prachtvoll aufzutreten (377,20ff.). Die christlichen Fürsten, die Terramers Feldzug nach Aachen verhindern wollen, kämpfen mutig gegen die mächtigen heidnischen Könige Margot von Bossidant und Gorhant. Von diesen »Horn-Halunken« werden viele tapfere Christen mit Keulen verprügelt, woraufhin dem Erzähler ein tragisch-komischer Vergleich einfällt: wie mäht ein Berhartshüser huot l harter üf ein ander körnen (397,4— 5).88 Die Ankunft des Königs Marlanz von Jerikop, der mit vielen Einzeltrupps glanzvoll in den Kampf zieht, wird durch eine Anspielung auf die Kaiserkrönung Ottos IV. in Rom am 4. Oktober 1209 lebendig gestaltet:89 do der heiser Otte ze Rome truoc die krone, körn der also schone gevaren nach siner wihe, mine volge ich dar zuo lihe, daz ich im gihe, des wcere genuoc.

393,30-394,5 Häufig aber geht der Sinn dieser Äußerungen weit über das Einfügen von Lokalkolorit und das Entfalten der subjektiven Erzählstimme hinaus. Blickt man auf eine vergleichbare Stelle, an der der Erzähler sich auf Politisches bezieht, dann wird der voreingenommene Standpunkt der Fokalisierung deutlich spürbar. Beim Auftritt von Aropatin von Ganfassasche ruft der Erzähler eine militärische Auseinandersetzung des 12. Jahrhunderts ins Gedächtnis: nu müeze in als Weife, do der ze Tüwingen vaht, gelingen, aller siner mäht: so vert er dannen äne sige.

87

88

89

Generell zu Wolframs geographischen Koordinaten: Bertau (1972/73) II, S. 792; Schirok (1982), S. 8-18, 16; Schmid (1995). Der Produktionsort des Filzhutes läßt sich nicht bestimmen, da in dem nächstliegenden Ort Beratzhausen (an der Laber bei Regensburg) keine Hutindustrie nachzuweisen ist (Heinzle, Ausgabe [1991], S. 1062). Zum Humor solcher Stellen s. Kiening (1991), S. 164. Zur Stelle s. Bumke (1959), S. 182; Bertau (1972/73), II, S. 1059f.; Kiening (1991), S. 166.

161

alsus ich sin mit wünsche pflige. ich wcene, alsus erget ez doch. 381,26-382,1

Am 5. September 1164 ist das mit Abstand stärkere Belagerungsheer des jungen Weif VII. den wenigen Truppen seines Gegners, des Pfalzgrafen Hugo von Tübingen, mit einem Verlust von 900 Gefangenen unterlegen.90 Der Erzähler hofft, es werde dem überlegenen Aropatin bei Alischanz genauso ergehen. Im nächsten Atemzug behauptet der Erzähler aber zu wissen, daß dieser Wunsch sich verwirklichen wird. Diesem Widerspruch liegt eine verschwommene Fokalisierung zugrunde: Einerseits artikuliert sich der Erzähler als eine neutrale Instanz, die die Fäden der Geschichte in der Hand hält und in der Lage ist, zusammenfassend zurückzublicken oder (wie an dieser Stelle) auf noch nicht Geschehenes vorauszudeuten. Andererseits sieht und spricht er aus der Perspektive eines christlichen Beobachters der Handlung, einem Blickwinkel, der wohl dem des Publikums entsprochen hätte. Als Merkmal des VIH. Buches kann also die Verschmelzung von Perspektiven innerhalb der Erzählinstanz gelten. Dieser Prozeß akzentuiert sich dann im Laufe der immer frenetischer werdenden Schlachtschilderung. Der Erzähler wird von den Ereignissen hin und her gerissen. Verzweifelt fragt er sich, wie die Christen den Kampf überleben sollen: waz mugen die kristen Hute tuon, l sine weren sich, al die wile si leben? I got selbe mac in trost wol geben (392,20—22). Diese Hoffnung wandelt sich aber rasch in einen dunklen Sarkasmus. Nach der Ankunft von Poidwiß mit seinen von den vielgerühmten Königen Tenabruns, Rankulat und Rubiun geleiteten Heeren gibt der Erzähler einen Überblick über das verwüstete Schlachtfeld: Die Christen werden rar, die Heiden dermaßen zahlreich, daß sich der Erzähler deren Heer als ein schwangeres vorstellt, das eine Schar nach der anderen gebiert. Diese plastisch-groteske Metapher blendet dann in ein Bild des Todes über: Ritter von beiden Seiten werden durch den strit gefällt, der jetzt den Charakter einer überpersönlichen, alles Leben verschlingenden Bestie annimmt. Schön geschmückte, tödlich verwundete Männer fallen zum Boden und bilden Streu für die Pferde. Diese Tiere, die normalerweise mit trockenem Stroh zufrieden gewesen wäre, können sich einen ruhigen Platz aussuchen - auf Fürsten oder auf Almansuren. Die Metaphernhäufung - die sich hinlegenden Rosse sind natürlich auch Opfer der Schlacht — führt in den absoluten Tiefpunkt des Schreckensbildes hinein: Vor denjenigen, die vorher so tapfer gekämpft haben, braucht Poidwiß keine Angst zu haben sie sind nämlich tot. Der schwarze Humor der Formulierung — mit den man

90

Zur Stelle s. Bertau, Wolfram (1983), S. 146; Kiening (1991), S. 165. 102

e doch vaste streit, I sin strit si dorfte liitzel miiejen (393,18—19) — nimmt die erste Bemerkung dieser ganzen Sequenz — al die wile si leben — wieder auf und fügt sie in einen drastischen Schluß ein. Die Entwicklung dieser Gedanken und Bilder, die mit einer Reaktion auf die Ankunft eines heidnischen Kriegers anfangen und über aneinandergereihte Metaphern zur sarkastischen Pointe überleiten, zeigen deutlich, wie die Grenzen zwischen wahrnehmendem und artikulierendem Subjekt zerfließen: Der Erzähler fokalisiert als christlicher Beobachter, ja sogar als Teilnehmer am Kampf, drückt sich aber mit der Tonvariation und Vorstellungskraft eines Berufsdichters aus. Blick und Blickwinkel des Erzähler-Ichs haben sich jetzt völlig in den der kämpfenden Christen aufgelöst. Der voreingenommene Standpunkt dieser Fokalisierungsinstanz kommt gegen Ende des vni. Buches noch expliziter zum Ausdruck. Vor dem Anfang des Kampfes hat Terramer sein Riesenheer in zehn Trupps eingeteilt. Diese sind dann nacheinander auf das Schlachtfeld gestürzt, während ihr Herr sich feierlich von acht anderen Königen wappnen ließ. Der zweite Kampf erreicht also seinen Höhepunkt in dem Moment, in dem Terramer als Befehlshaber des letzten, zehnten Trupps, von zwanzig Königen begleitet, in die Schlacht zieht: Tausend straff bespannte Tamburine werden hochgeworfen und geschlagen, achthundert Trompeten schmettern (400,15ff.). Angesichts dieser Machtdarstellung scheint der Erzähler sich kaum mehr bändigen zu können. Er drückt sich plötzlich in einer Reihe von Apostrophen aus, die jeweils durch der Interjektion owe markiert sind: öwe, daz er nü körnen sol, durh den diu sorclichiu dol und daz angestliche ltden die getauften niht wil mtden! nü mein ich Terrameren, der wol nach herzeseren den getauften künde werben. 399,7-13 owe kristen liute, guoter wibe getriute und ir gruoz und ir minne und die hoehern gewinne (ich meine die ruowe äne ende) nü win von maneger hende üf iuch gestochen unt geslagen! swer triuwe hat, der soll iuch klagen. ir sit durh triuwe in dirre not. sit man von erste iu striten bot, daz was gar um sus gestriten: ir habt nü rehtes strifes erbiten. I6 3

hie kumt der von Tenabrt, sinen goten nahen bt. 400.1-1491 owe nü des mordes, der da geschach ze beder sit, do der vane körn in den strit, der krähte den gräzen swertklanc!

401,30-402,3 Obwohl der Erzähler im letzten Zitat das Abschlachten auf beiden Seiten bewundert und bedauert, artikuliert er in den anderen Passagen seine christliche Parteilichkeit. Für die Getauften bedeutet Terramer schmerzliches Leid und qualvolle Not. Dies bringt die Spannung der Syntax im ersten Zitat, das den schrecklichen Namen möglichst lange verschweigt, klar zum Ausdruck. Im zweiten Zitat wird die religiöse Dichotomic unüberhörbar: die kristen Hute, an die der Erzähler appelliert, sollen sich vor dem Heidenkönig fürchten, gerade weil dieser von seinen Göttern begleitet wird. An diesem Punkt tritt der >Willehalm< explizit in die Sphäre der Schwarzweißethik des >Rolandsliedes< ein, das die religiöse Differenz auf brutalste Weise propagierte.92 Die Emotionen der verschwommenen Fokalisierungsinstanz haben den Erzähler an den Abgrund der Schematisierung gebracht; jetzt muß er sich wieder besinnen und zurücktreten. Dies tut er ganz buchstäblich, indem er meint, das Erzählen der Geschichte abbrechen und in die Hände eines anderen geben zu müssen: swer si kan an gelassen, alz ez der riterschefte gezeme, mit minem urloube der neme daz mcere an sich mit warten, ime gedrenge und an den orten oder swä die muotes riehen riten, wie wurde alda von den gestriten nach wibe Ion und umb ir gruoz und wie ein puneiz den anderen muoz nach koverunge werben. swer nü lieze niht verderben dirre äventiure mcere, deste holder ich dem waere. 402,18-30

91 92

Zum Konzept Minne an dieser Stelle s. Kiening (1991), S. 176-177. Einzelne Stellen des >WillehalmRolandslied< aufnehmen, werden bei Schulze (1927), S. 37-46 und Geith (1977), S. 147-163 besprochen. Kiening (1991) und Cormeau (1992) fassen die Hauptlinien von Wolframs Haltung gegenüber seinem Vorgänger prägnant zusammen.

164

Daß diese Aussage nicht als Beleg für eine größere Arbeitspause zu verstehen ist, wie oft in der Forschung angenommen, sondern als »eines der für Wolfram charakteristischen Spannungsmanöver«,93 liegt auf der Hand, wenn man der sich zum Höhepunkt steigernden Bewegung der Kampfschilderung Rechnung trägt.94 In diesem Spannungsmanöver will Wolfram aber auch die hermeneutischen Möglichkeiten seines Werkes noch einmal durchspielen. Der Erzähler schreibt sich zeitlich und räumlich in die Ereignisse der Handlung hinein, eine explizite Artikulation der im ganzen zweiten Kampf dominanten Fokalisierungsinstanz. Er steht selber im Gedränge, an den Rändern, wo die Hochgestimmten reiten, und erlebt aus erster Hand, wie die sich ständig in Bewegung setzenden Sturmangriffe auf ihn zukommen. Dabei werden erzählerische Positionen, die normalerweise implizit bleiben, zerlegt und zur Schau gestellt. Es sei hier nochmal an das im ersten Kapitel schon diskutierte narrativische Modell von Bai erinnert: Sänger/Autor (singt/schreibt)

Hörer/Leser text

Erzähler (erzählt) story Fokalisierer (fokalisiert) fabula Figur (handelt)

Dieses Schema paßt nicht genau zur eben beschriebenen Konstellation. Bei Wolfram sind Erzähler und Fokalisierer ineins gefallen, was bedeutet, daß der Erzähler quasi eine Stufe nach unten gerückt ist: Er steht vor der fabula und fragt sich, wie diese zur story und text werden soll. Darüber hinaus ist das Balsche Modell der Komplexität des Werkes nicht gewachsen: In dieser Passage läßt der Erzähler Begriffe und Aussagen, die in anderen Teilen des Textes schon Kontur gewonnen haben, anklingen, um sie wieder aufzunehmen und in Frage zu stellen. Das Spiel mit den narrativen Ebenen und Fokalisierungsinstanzen fuhrt nämlich in die literarische Reflexion hinein. Seine Erlaubnis, die Geschichte weiter zu erzählen, gäbe der Erzähler dem, der es verstünde, die Christen und Heiden aufeinander loszulassen, wie es dem Rittertum gebührt. Diese Voraussetzung knüpft unmittelbar an die (in III.3.4 kurz besprochene) sentenzartige Beschreibung der ersten Schlacht an:

93 94

Heinzle, Ausgabe (1991), S. 1065. Kiening (1991), S. 216—218, deutet auf den spielerischen Aspekt dieser Stelle hin, indem er ähnliche Stellen im >Willehalm< und im >Parzival< analysiert.

da wart sölhiu rtterschafi getan, sol man ir geben rehtez wort, diu mac vür war heizen man. swä man sluoc öd stach, swaz ich e da. von gesprach, daz wart näher wol gelendet, denne mit dem tode gendet: diz engiltet niht wan sterben und an vreuden verderben. 10,18-26

Die erste Schlacht hat wenig mit Rittertum zu tun und sollte eher als Gemetzel bezeichnet werden.95 Was die Gattung betrifft, bedeutet das für Wolfram einen Paradigmenwechsel: Das Hauen und Stechen, von dem er früher berichtete (hier sind wohl der >Parzival< und die Welt des höfischen Romans gemeint), wird jetzt in den Schatten gestellt. Es gelten somit neue Kampfregeln wie auch neue Möglichkeiten der Sinngebung. Am Ende des vin. Buches aber scheint der Erzähler auf diese Stelle mit einer neuen Akzentsetzung zurückzugreifen. Ein neuer Erzähler solle sich zu Wort melden, das Wort ergreifen, und eigentlich das Wort (mart — Gemetzel) in eine neue semantische Bahn leiten. Um dirre äventiure mcere nicht zu verderben, müsse wieder ritterlich erzählt werden. Erstere Wendung »meint wohl nicht Erzählung von diesem Ereignisvon der entscheidenden Schlacht gegen Terramer< [...], sondern >die Erzählung, welche in dieser Geschichte bestehts >das vorliegende WerkRolandsliedesRolandsliedesRolandsliedes< zu brechen, und wendet sich dann sofort an eine der zwei Hauptfiguren, Giburg. Sie war es nämlich, die ihm im ersten Buch die Möglichkeit einer Synthese geboten hat. In der Arabele-Giburg-Passage treffen die verschiedenen thematischen Perspektiven (Sippe, Minne, Religion), die im Prolog nur skizzenhaft ausgearbeitet wurden, im Körper Giburgs aufeinander und bündeln sich überraschenderweise zu einer einheitlichen Lesart. Es ist also nicht verwunderlich, daß der Autor seinem verwirrten

98

Kiening (1991), S. 218. I6 7

Erzähler die hoffnungsstiftende und sinngebende Gestalt Giburgs erscheinen läßt." Der Status der zwei Protagonisten hat sich im Laufe des Textes bemerkenswert gewandelt: Anfangs wurde Willehalm als Heiliger angebetet, während Giburgs Integrität in Zweifel gezogen wurde; jetzt aber, zum Schluß hin, wird Giburg als Heilige angerufen, während Willehalm verzweifelt seine geistige Orientierung verliert.100 Der Zustand des Heiligenpaares ist nicht statisch, sondern, wie vieles andere in diesem Werk, werdend und changierend. Giburgs Ansehen scheint sogar in diametraler Opposition zu dem ihres Mannes zu stehen. An diesem entscheidenden Punkt des Textes spiegelt dieser Appell den ersten wider, den der Erzähler am Anfang der Geschichte bereitet hat: Dort hieß sie Gtburc, süeze wip (14,29), hier Giburg, heilic vrouwe. Dort ging es um den Schaden, den sie den Christen zugefügt hat; hier braucht der Erzähler sie nur einmal in visio zu sehen, um durch [ir] pris, den süezen sich wieder zusammenzureißen und seine erzählerische Aufgabe fortzuführen. Der Terminus süeze steht im Wechselspiel mit der Figur der Protagonistin und markiert besondere Bedeutungskrisen im Text. Im i. Buch wird sie vom Erzähler dadurch in Frage gestellt, im iv. versucht ihr Vater Terramer, die ungeheuren Konsequenzen ihrer religiösen Bekehrung zu verkraften, und jetzt im IX. scheint sie das ganze Werk zu retten: Sowie Giburg auf der Ebene der Handlung am Schnittpunkt aller Auseinandersetzungen zwischen Christen und Heiden steht — durh Giburge al diu not geschach (306,1) -, so scheint sie auch als Nexus der hermeneutischen Stränge des Werks zu operieren. Die darauf folgenden Erzählerbemerkungen gehen wieder von der synthetisierenden Lesart des i. Buches aus, die aus der Auseinandersetzung um den Doppelnamen Arabele-Giburc resultierte. Dabei werden die drei problematischen Perspektiven des Prologs eingeebnet. Die Minnethematik wird auf der Ebene des Erzählers nicht weiter untersucht, sondern von der Willehalm-Figur aufgenommen:

»l···] manegen sperkraches don hän ich gehört umb ein wtp, diu nü leider minen lip mac dirre vlust ergetzen niht. min herze iedoch ir minne giht. wan din helfe und ir trost,

99

Vgl. Kiening (1991), S. 219: »Der Einschub [...] artikuliert [...] das Problem der Sinnfindung in einem fast hoffnungslosen Erzählgeschehen«.

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ich wcere immer unrelost vor jämers gebende. [...]« 456,14-21

Die Sippen- und Religionsthematik sind zwar nicht aufgehoben, haben sich aber ebenfalls auf einschichtige Raster reduziert: Die Christen können den Weg ins Paradies finden, indem sie, sich ans Vorbild Vivianz' und anderer christlicher Märtyrer haltend, den Glauben tatkräftig verteidigen. Heimrich, der im ersten Buch mit Terramer als Sinnbild einer gestörten Sippenrelation behandelt wird, scheint jetzt in die Verkörperung eines leidgeprüften Patriarchen verwandelt zu sein: Heimrich al eine mich nu da erbarmet sere, daz die endelosen ere so tiuwer sin alter kottfie und anderstunt sich taufte sin gesiebte da in blaute. wie was im do ze muote, da stniu kint und kinde kint und er selbe in sölhen noeten sint, dar zuo mäge unde man? sin herze muose jamer hän. bi dem jämer was doch eilen.

405,20-406,1 Mit diesen Worten läßt der Erzähler aber Resonanzen von Giburgs Toleranzrede anklingen, gegen die er sich verteidigen zu müssen scheint: Giburg will, daß Gott und die Christen sich über die Heiden erbarmen, den Erzähler erbarmet Heimrich und dessen Not; Giburg zufolge hätten sogar die Juden eine besondere Taufe (nämlich die Beschneidung), aber der Erzähler bewundert, wie Heimrichs Sippe sich zum zweiten Mal im Blut getauft hat. Giburg graut es vor dem Gedanken, ob von dem vater siniu kint l hin zer vlust benennet sint (307,27-28), während der Erzähler bedauert, daß Heimrichs Kinder und Kindeskinder sich in solchen Nöten befinden. Diesen Bemerkungen kann man entnehmen, daß dem Erzähler die Toleranzrede präsent geblieben ist. Er kann sich nicht artikulieren, ohne zumindest implizit dazu Stellung zu nehmen. Die Doppelbödigkeit der Giburg-Figur im hermeneutischen System des Werks läßt sich in diesem Moment sehr deutlich erkennen. Auf der einen Seite bietet Giburg als Quelle der Synthese dem Erzähler die Möglichkeit, seine Aufgabe fortzuführen. Auf der anderen Seite aber ist die Stimme der zum Charakter gewordenen Protagonistin nicht zu leugnen. In der Hermeneutik des Textes gilt Giburg als beides zugleich: synthetisierende Strategie und sich eigenständig artikulierende Stimme. Der Er169

zähler benutzt die erste Möglichkeit zu seinen Zwecken, kann die zweite aber nicht völlig ausschalten. In dieser Hinsicht ist die genaue Konstellation am Anfang des IX. Buches bemerkenswert: Wegen der Erscheinung Giburgs will der Erzähler weiterreden, d.h. sie bleibt Vision und ohne Stimme, während er das Wort wieder aufnimmt. Der Erzähler redet von nun an zwar andere (z.B. Heimrich) an, sein Ziel bleibt aber monologisch: die Behauptung des gesichterten Weges der Christen ins Himmelreich. Dies erweist sich als unerreichbar, weil die Stimme der anderen Giburg in die Äußerungen des Erzählers gesickert ist, ja mit ihm ins Gespräch kommt. Die drei darauffolgenden Bemerkungen des Erzählers lassen sich also quasi als Dialog zwischen einer dominierenden Präsenz (dem Erzähler, der versucht, die eine Giburg in Anspruch zu nehmen) und einer nur nachzuzeichnenden Absenz (der anderen Giburg, die als Charakter über ihre eigene Stimme verfugt) verstehen. Als Heimrich selbst seinen edlen Tochtersohn, Vivianz, an Zernubile' rächt und den Heiden durch den Helm bis auf die Zähne spaltet, gibt der Erzähler folgenden Kommentar: ob ich mich nu dar umbe sene, daz ist ein verrez sippez ^gen. die ir leben dannen selten tragen, ob si nimer strifes gegerten mit lanzen noch mit swerten, die ze beder sit da dolten not, si waren doch alle sider tot. 408,30-409,6

Heinzle zufolge läßt sich die Ironie dieser Aussage nicht allein als Beispiel des vielstrapazierten Wolframschen Humors verstehen.101 Vielmehr ist der Sinn der Äußerung in dem stillen Gespräch zwischen dem Erzähler und der anderen Giburg zu suchen, denn die sprachlich gespannte Konstruktion ein verrez sippez klagen nimmt wohl die ganze Sippenthematik der Toleranzrede negierend wieder auf. In dem Zusammenhang ist auch der sarkastische Ton der ganzen Passage zu verstehen. Sich darüber Gedanken zu machen, ob beide Seiten wegen ihrer Verwandtschaft nicht mehr gegeneinander kämpfen sollten, hätte ja keinen Sinn, weil die Überlebenden trotzdem jetzt tot wären. Die Möglichkeit einer Reflexion über Sippe und menschliche Beziehun-

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Heinzle, Ausgabe (1991), S. 1070 (entgegen Nellmann [1973], S. 152). Genauso wenig darf man sich der Meinung Bertaus, Literaturgeschichte (1983), S. 105, anschließen, der die Wendung als »ernstgemeinten Ausdruck für die neue menschliche Identifikation über die Grenzen der Glaubensippen hinweg« interpretiert. 170

gen scheint damit nicht mehr gegeben zu sein.102 Durch dieses Gespräch des Erzählers mit der nur lückenhaft spürbaren Stimme der Protagonistin, das in erster Linie versucht, die Sinngebung des Werkes vor der vereinfachenden Ideologie des >Rolandsliedes< zu retten, gleitet der Text ironischerweise wieder in dessen Sphäre hinab: Zernubile, Herrscher von Ammirafel und Tüsie, gehört nämlich zu den wenigen Figuren, die Wolfram vom Pfaffen Konrad übernommen hat.103 Die Dynamik des Dialogs treibt den Erzähler in eine Position, die zu verleugnen er bestrebt war. Zwei spätere Kommentare nehmen dann den Kern der Toleranzrede auf: ob iuch got so verre geret, daz ir mit strife üf Alischanz rechet den jungen Vivianz [.··] so tuot, daz scelekeit wol ste: hoeret eines tumben wibes rät, schonet der gates hantgetat! 306,20-11; 26-28

Giburg hat behauptet, daß Vivianz zwar gerächt, das Seelenheil der Christen aber auch durch die Schonung von Gottes Geschöpfen gehütet werden müsse. Der Sieg im Kampf stellt also nur einen Teil des christlichen Zieles dar. Die Wiedergutmachung des durch Vivianz' Tod verursachten Leides ist nur die Prämisse für weitere Taten, die die Ehre des Christentums propagieren sollen. Als Stichwörter für diese Perspektive gelten scelekeit und gates hantgetat. Aus dem Munde des Erzählers fallen diese Worte noch einmal, aber radikal anders betont: Alitschanz muoz immer scelic sin, sit ez so tnanec bluot begoz, daz uz ir reinem verhe vloz, die vor gote sint genesen, nü müese wir teilnüfiic wesen ir marter und ir heilekeit! wol im, der da so gestreit, daz sin seit sigenunfi enffienc! scelecliche ez dem ergienc. 420,6-14

Wer bei Alischanz so kämpfte, daß seine Seele Sieg errang, hat wohl das höchste Glück (scelecliche) gewonnen. Aus der Sicht des Erzählers ist die 102

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Kiening (1991), S. 223, spricht wohl zutreffend von der »radikale[n] Desillusionierung erzählweltlicher Präsenz« an dieser Stelle. Rl. 2682-2692. Vgl. Bumke (1961); Moisan (1986) III, S. 198.

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wichtigste christliche Leistung die kämpferisch-militärische. Anklingen läßt der Erzähler hier auch seine frühere, an Vivianz gerichtete Apostrophe: swer sxlde welle erwerben, der sol dich eren, Vivianz: vor gote du bist lieht und glänz, wie mich din tot erbarmet, swie doch nimmer erwärmet din sile in helleviure! 380,14-19

Die Christen, die an der Schlacht teilgenommen haben, treten also im Laufe des Kampfes an die Stelle von Vivianz: Sie sind jetzt selber zu Märtyrern und Heiligen geworden. Er war lieht und gfonz vor Gott. Alischanz und die dort Kämpfenden sind scetic, weil viele von ihnen ihr Blut uz ir reinem verhe ergossen haben. In dieser Entwicklung ist eine klare Antwort auf Giburgs Voraussetzungen an das christliche Heer zu erkennen. Für Giburg blieb Vivianz Konjektur. Für den Erzähler bürgt Vivianz selbst für scelde, eine Rolle, die dann durch die Taten der Christen im Kampf übernommen wird.10 Glanz wird durch Blut ersetzt.105 Diese Meinung kommt im ersten Kommentar des Erzählers nach der Entscheidung der Schlacht noch deutlicher zum Ausdruck: wxr er noch als riche, dennoch hat mer Altissimus. der schuof iz in dem strite alsus: swaz amazüre und eskelir da waren mit dem von Muntespir, al sine künege und emeral mit schumpfentiure vonme wal muosen vlühtic riten mit vlust an allen siten. ir scelekeit si merten, mit den swerten umbe kerten die kritsen al die heidenschaft,

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Vgl. Kiening (1991), S. 188: »An kaum einer anderen Stelle werden legendenhafte Züge im Willehalm deutlicher. Das durch das Blut der gefallenen Märtyrer geheiligte Feld ist klassisches Legendenelement wie auch der schon bekannte aktualisierende Charakter der Passage und die völlige Ausrichtung auf jenseitige Erfüllung (der sele signunß).« Während diese Lesart insofern mit Greenfield, Vivien (1989) und (1991), übereinstimmt, als die Vivianz-Figur als wichtiges Leitmotiv des Werkes gesehen wird, scheint Greenfields Behauptung ungerechtfertigt, daß die Schuldgefühle der Christen wegen Vivianz' Opfertod nur durch Rache ausgelöscht werden könnten (1991), S. 162.

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der verren und der nähen kraft. da vür wil ich'z hän erkant: mit der wärheit diu gates bant des gap die besten stiure. manlicher schumpfentiure nie geschach in manegen jären. sus würben, die da wären verdecket mit der toufe, so der edele vorlaufe, der siner verte niht verzaget und ungeschütet nach jaget, swenn er geswimmet durh den wäc.

434,22-435,15 Die Christen fördern ihr Seelenheil, indem sie die gesamten Heidenheere mit ihren Schwerten umhauen. Von Zurückhaltung angesichts eines schon errungenen Sieges ist hier keineswegs die Rede: Sie hetzen die Feinde wie edle Jagdhunde, die, nachdem sie durchs Wasser geschwommen sind, weiter jagen, ohne das Wasser abzuschütteln. Diesen Erfolg verdanken die Christen wohl der Hand Gottes. Statt gates hantgetät zu schonen, verfolgen die Christen die Heiden durch die Kraft von gates hant. Dieses Spiel mit der Umdeutung von Giburgs Termini erreicht seinen Höhepunkt im nächsten — und im Fragment gebliebenen Werk auch letzten - Kommentar des Erzählers: Mahumet und Tervagant, Kahün, swie si wären genant, al der heidenscheße gate, üf dem wal die naht wart z'ir geböte lützel da gestanden. in tau/beeren landen hant si halt noch vil kleinen pris. in diende auch wenic der markis: Jesus mit der hoehesten hant die klären Giburc und daz lant im des tages in dem stürme gap. er bräht den pris unz in sin grap, daz er nimmer mer wan sigelos, sit er üf Alitschanz verlos Vivianzen, siner swester kint, und der mer, die noch vor gate sint die endelosen wile. siner swester sun Mile wart wol gerochen an dem tage. maneger zunge spräche klage da rewurben vil ze klagene und da heime not ze sagene. die nie toufes künde

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enpfiengen, ist daz sünde? daz man die sluoc alsam ein vihe, grozer sünde ich drumbe gihe: ez ist gar gates hantgetat, zwuo und sibenzec spräche, die er hat. der admirat Terramer mit manegem rtchem künege her wolte bringen al die spräche üf den stuol hinz Ache und dannen ze Rome vueren. si kundenz anders rüeren mit den ecken, die daz werten und üf ir verh so zerten des nü ir sele sint vil lieht: sine ahtent üf kumber niht.

449,23-450,30 Die Heiden mögen wohl mächtige Götter haben, aber der Christengott ist mächtiger. Den Beweis dafür liefert die Tatsache, daß die Heidengötter bis heute in Christenländern immer noch nicht gelten. Bei diesem Vergleich fällt wieder der Begriff hant besonders auf: Dem Markgrafen hatte Jesus aus höchster Hand die schöne Giburg und das Land im Kampf gegeben. Der Gedanke an gates hantgetat ist durch den Preis von der hoehesten hant Jesu, die den Sieg ermöglicht hat, ausgeblendet. Dann aber wird die Ideologie dieser ganzen Sequenz plötzlich auf den Kopf gestellt. Dem Erzähler fällt gates hantgetat wieder ein. Zu dieser Passage hat neulich Burghart Wachinger Stellung genommen, und seine zutreffende Deutung sei hier wiedergegeben:106 Von diesem Erzählerkommentar wird in der Wi&^Ä/m-Literatur meistens nur das Mittelstück zitiert, und dieses enthält in der Tat etwas Neues, Kühnes, eine Kritik am herrschenden Kreuzzugsdenken. Aber man muß auch die Gegenseite sehen. Voraus geht Befriedigung über die vollzogene Rache, und im selben Atemzug, in dem der Glaubenskrieg als problematisch, ja sündhaft erkannt zu werden scheint, wird das im Publikum festverankerte Reichsbewußtsein aktiviert. [...] Es gibt, das möchte ich damit sagen, keine selbstsichere Humanitätsposaune in diesem Werk. Die Kreuzzugsideologie bleibt präsent, und die kühn sich vordrängende Frage nach dem »Recht des Ändern« steht in Konkurrenz zum Selbstbehaupungswillen der eigenen Partei, ohne daß eine Synthese in Sicht käme.

In dieser Passage wird das monologisch ausgerichtete Gespräch des Erzählers mit der Protagonistin, das versucht, die eine Giburg (d.h. die synthesierende Giburg des ersten Buches) in Anspruch zu nehmen, zum ersten Mal dialo-

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Wachinger (1996), S. 52. 174

gisch.107 Die Stimme der anderen Giburg, der lebenden, quasi für sich selbst sprechenden Figur, bricht endlich durch.108 Bezeichnenderweise fällt dieser entscheidende Moment zusammen mit einer klaren Absage an die traditionelle Kreuzzugsideologie, da »die Zurückweisung der Vorstellung von den Heiden als Vieh sich auf Stellen wie Rl. 5421 ff. beziehen« dürfte.109 Die Kommentare des Erzählers haben sich in dieser Hinsicht einmal im Kreis gedreht: Giburg wurde angebetet, um den Text des Erzählers vor der Ideologie des >Rolandsliedes< zu retten. In Anspruch wurde aber eine Giburg genommen, die einen einheitlichen, synthetisierenden Sinn gewährleisten sollte. Dabei kam der Erzähler ins Gespräch mit der anderen Giburg, einem monologischen Dialog aber, der ihn wieder in Richtung des >Rolandsliedes< schickte. Aber nur durch das Durchscheinen der Stimme der anderen Giburg konnte das >Rolandslied< negiert, der Text gerettet werden. Der Sinn dieser ineinanderverschlungen Perspektiven ist klar: Es kann in diesem Werk, wie schon Wachinger anmerkte, keine Synthese geben. Das Zusammenfließen der Stränge — symbolisch synthetisierende Giburg, CharakterGiburg, Abstandnehmen vom >Rolandslied< - kann nur momentan und provisorisch bleiben.

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Entgegen Kiening (1991), S. 230, der die Meinung vertritt, die Worte des Erzählers beleuchteten eher die unausweichliche Eigendynamik des Kampfes als die konkrete Wirksamkeit einer Schonungsidee. Diese Beobachtung stellt Pörksens (1971), S. 36, Ansicht in ein neues Licht, daß das Thema Religion und Glauben auf der Erzählerebene nur in den Schlachten aufkommt und auf der Figurenebene nur in der Waffenruhe dazwischen. Heinzle, Ausgabe (1991), S. 1086.

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IV. Ergebnisse

Macht Kompromisse, so viel ihr wollt, aber laßt euch um Himmels willen auf keine Synthese ein. Giorgio Vbghera

Ein Überblick über die in den vorangegangenen Kapiteln erörterten Argumente läßt sich am besten in Relation zu konkurrierenden Forschungsansätzen ausarbeiten. Ich habe mich bemüht, um auf den Leitsatz Karl Bertaus zurückzukommen, »im Zitat zu bezeugen, wie ich das Zitat verstanden« habe, und muß jetzt die »historische Differenz« meiner Überlegungen zu denen von »zeitgenössischen Autoren« deutlich werden lassen,1 Angesichts der divergenten Reihe von Forschungsansätzen, die im Laufe des letzten Jahrhunderts auf vielfältige Weise versucht haben, sich dem »Sinn« des >Willehalm< zu nähern, beschränkt sich diese Zusammenfassung auf die zur Zeit dominanten Deutungen des Textes. Das Gespräch mit wissenschaftlichen Zeitgenossen und Vorgängern ist in den Einzelteilen in Fußnoten sowie im Hauptargument zwar möglichst breit angelegt worden, aber punktuell geblieben. Im großen und ganzen zerfällt die >WillehalmWillehalmWillehalm< will als Ausdruck der Widersprüche und Gegensätze, die er zur Anschauung bringt, gelesen und verstanden werden. Daraus folgt: Der Gedanke der Schonung soll keine praktizierbaren Lösungen in die Handlung einschleusen, sondern ihrer Problematisierung dienen« (S. 259) -, scheint aber am Ende in die zweite I76

Harmonisierende Lektüren Dieser Gruppe gehören alle Deutungsversuche, die über die Inkonsequenz der Figuren oder die Widersprüche zwischen Figurenrede, Erzählerkommentar und Erzählvorgang hinwegsehen. Man denke in erster Linie an die Frage nach der Gotteskindschaft, die »als ein Angelpunkt in jeder Interpretation des Werks« 3 erscheint. Mit den Auslegungen von Fritz-Peter Knapp, RalfHenning Steinmetz, Christoph Fasbender — um nur die neuesten Arbeiten in dieser Richtung zu nennen4 - soll eine zentrale Ungereimtheit des Textes, nämlich daß Giburg als einzige im Text die Heiden für Gotteskinder hält, definitiv aus dem Weg geschaffen werden. Darüber hinaus wird das Benehmen Willehalms in den früheren Episoden des Werkes entweder in seiner vollen Schwärze herausgearbeitet - z.B. von Werner Schröder, der den Protagonisten am Ende der Erzählung auf einer höheren Stufe des Menschseins zu sehen glaubt als am Anfang; ^ oder wegen höherer Ziele und Triebe entschuldigt — z.B. von John Greenfield, der im Motiv der Rache für Vivianz die legitime Motivation von Ereignissen entdecken will, die »nicht dem Erwartungshorizont des höfischen Publikums entsprechen«.6 Beide Interpretationen versuchen die zweite große Irritation des Werkes zu mildern, nämlich daß der Weg, den der Protagonist zu gehen hat, um seinen im Prolog schon angekündigten Status eines Heiligen zu erreichen, nirgendwo klar wird. Die erste will im Ablauf des Textes eine Entwicklung des Helden zum Heiligen lesen, die zweite sieht Willehalm als einen von Anfang an als Heiliger Handelnden, dessen Motivationen im jeweiligen Kontext immer als gut erklärbar seien.7 Daß die komplexe Konstruktion der Figuren dieses Werkes solche Interpretationen nicht erlaubt, sollte der Gang meiner Analyse schon gezeigt haben.

3 4 5 6 7

Gruppe hinüberzugleiten — »Ein harmonisches Ende, wie es für den >Willehalm< immer wieder konstruiert wurde, hätte die Heidenfrage endgültig eingeschläfert. Ein Märchenschluß stünde auch im Widerspruch zur kriegerischen Wirklichkeit der Kreuzzüge und des Ritterdaseins, wie sie der >Willehalm< gestaltet hat. Das Epos verhilft somit der weltimmanenten Widersprüchlichkeit zu ihrer vollen poetischen Anschauung« (S. 270). Der folgende Bericht versucht, das Hauptargument jedes Artikels zu erfassen. Heinzle, Heiden (1994), S. 302. Knapp (1993); Steinmetz (1995); Fasbender (1997). W. Schröder, Entwicklung (1962). Greenfield, Vivien (1989), S. 61. Vgl. auch Gibbs (1976), S. 13 und passim, die interessantenveise Vivianz statt Rennewart zusammen mit Giburg und Willehalm als einen Integrationsfaktor des Werkes sieht und derzufolge »harmony an essential feature of Willehalm [...] on many levels« ist. 177

Christa Ortmann hat versucht, den Text auf einer übergreifenderen diskursiven Ebene zu glätten:8 das höfisch-ritterliche Ideal sei geschichtlich wirksam als utopischer Entwurf, es werde aus dem Gehalt der Minne abgeleitet (S. 115-116) und wirke Heil für christliche und heidnische Ritter (S. 113). Dabei gehe Wolfram einen Schritt weiter als im >ParzivalWillehalm< nehme den Stellenwert einer Heilsbringerin für Christen und Heiden ein, durch den Roman nicht begründet ist, und zu dem Schluß kommt: »Das Minnerittertum, in dem [...] Christen und Heiden gleich sind, birgt keine Heilserwartung in sich, es kann das Leid nicht überwinden. Das ist die zentrale, resignative Aussage Wolframs, die im Titurel noch einmal thematisiert wird.«9 Um mit Helmut Bracken zu sprechen, »kranken [diese] Interpretationsversuche daran, daß sie das Werk auf einen einhelligen Sinn verpflichten oder die auch von ihnen wahrgenommene Disparatheit wenigstens auf eine Einheitlichkeit zurückbiegen möchten. Ich denke, daß jeder solcher Versuche aus der Sache heraus scheitern muß.« 10

Aporetische Lektüren Eine ganz andere Richtung gehen Walter Haug und Christian Kiening, deren Arbeiten kurz nacheinander erschienen sind und signifikante interpretatorische Berührungspunkte haben. 11 Haug zufolge hat sich Wolfram in sei8 9 10 11

Ortmann (1993). Miklautsch (1995), S. 230. Bracken (1992), S. 160-161. Haug (21992), S. 179-196; Kiening (1991). Beide Ansätze beruhen auf nicht ganz unanfechtbaren Prämissen. (Kienings Ausgangpunkt ist in 1.1 schon kritisch untersucht worden.) Haugs Analyse des Werks stellt den >Willehalm< in den Sog des Chretienschen Modells, das von Hartmann zuerst übernommen und dann von Wolfram im >Parzival< weiter bearbeitet wurde. Seiner Analyse liegt die bei aller Sorgfalt vage gelassene Annahme zugrunde, daß Wolfram an seiner UmI78

nem >Willehalm< weder erlaubt, fiktional Sinn zu konstruieren noch auf heilsgeschichtlich-metaphysische Schemata zurückzugreifen, hat also, sich der Widersprüchlichkeit des Faktischen ausliefernd, Fragen nach der literarischen Gestaltung schlechthin gestellt. Diese Fragen stoßen auf negative Antworten: Blicke man vom Ende aus auf die Poetik des Prologes zurück, so erscheine sein dichtungstheoretisches Konzept in einem neuen, gebrochenen Licht. Darstellung sei hier nicht Anwendung sinngebender Techniken unter dem Beistand des Heiligen Geistes, sondern Suche nach dem Sinn (S. 195). Dieser Sinn sei zwar nicht offen, sondern vorgegeben und durch Gottes herrliches Wirken in der Natur und auch im Menschen präsent; die Verwirklichung in der poetischen Gestaltung wie im tätigen Leben sei aber ein Wagnis der sele und des libes (3,5) und aus eigener Kraft nicht zu leisten (S. 195-196). Das gebe der topischen Invocatio des Heiligen Geistes eine neue Bedeutung im Rahmen eines problematisch gewordenen dichterischen Selbstverständnisses. Es gehe nicht mehr um Erkenntnis und Entscheidung, sondern um die Erfahrung der Ausweglosigkeit und — vielleicht — des gnadenhaften Gelingens. Nichts mache dies so deutlich wie »die Undenkbarkeit des uns vorenthaltenen Schlusses« (S. 195-196).

Wandlung des Modells im fragmentarischen >Titurel< gescheitert ist: »Das Chre'tiensche Konzept [ist] in seinem Prinzip getroffen. Es ist schwer vorstellbar, daß daraus ein Artusroman hätte entstehen können, der den Typus nicht radikal in Frage gestellt hätte.« Ebenso wenig befriedigend ist die Vorstellung, Wolfram habe sich den Stoff für sein zweites Großwerk ausgesucht: »Er zerstört das äventiurenModell nicht von innen her, sondern er gibt die Ebene des Fiktiven auf, um sich wieder der Faktizität des Geschichtlichen zuzuwenden.« Aus beiden Annahmen entsteht ein Bild Wolframs, das die literarisch experimentierfreudige Seite seiner Produktion hervorhebt, aber auch eine damit verbundene Unfähigkeit, diese Experimente vor dem Scheitern zu bewahren. Dem ist doch einiges entgegenzuhalten. Daß Wolfram den >Titurel< nicht zu Ende komponierte, könnte genauso gut auf pragmatische Gründe zurückgehen, z.B. Gönnerwechsel sowie andere Wünsche eines Auftraggebers, Krankheit oder Tod. Daß er >Aliscans< bearbeitete, ist sogar sehr wahrscheinlich praktisch zu erklären: Obwohl wir nichts von dem konkreten Verhältnis zwischen Wolfram und seinem Gönner wissen — es ist wohl nicht abzuleugnen, daß der Dichter nach dem Erfolg des >Parzival< den Thüringer Landgrafen vielleicht zu einem persönlichen »Wunschprojekt« hätte überreden können —, spricht unser Verständnis von solchen Beziehungen im allgemeinen eher dafür, daß Hermann, nicht Wolfram die Wahl des Stoffes getroffen hat. Darüber hinaus müssen die politischen Konstellationen des Stoffes den Interessen und dem Selbstdarstellungspotential des Landgrafen entsprochen haben (vgl. auch Bumke, Wolfram [61991], S. 247). Die Prämissen von Haugs Analyse, die seine stringente Deutung in bezug auf das Chretiensche Modell ermöglichen, sind also nicht zwingend. Die Erklärung grundlegender, für Haugs werkimmanente Interpretation gewichtiger Details wie der Stoffwahl des >Willehalm< und des Fragmentcharakters des >Titurel< ist eher in den pragmatischen Fakten eines dichterischen Lebenslaufes zu suchen als in der hermeneutisch signifikanten »Widersprüchlichkeit des Faktischen«. 179

In Kienings Raster kristallisiert sich der Text als eine »fremde, nicht bruchlos transponierbare und nicht restlos akzeptierbare Erzählwelt« heraus (S. 242). Signifikant sei die oft durchgängige Brechung der Erzählung durch Kommentare (S. 242). Das vielfach gebrochene Verhältnis von Reflexion und Narration werde zu einem Signum des Textes, wenn auch nicht zu dessen explizit formuliertem Thema. Diese problematische sowie problematisierte Relation begrenzt nach Kienings Auffassung die sinngebenden Möglichkeiten des Werks: Der Roman von den Problemen des Heidenkampfes, von der Konfrontation ritterlicher Welt mit einer unhöfischen Auseinandersetzung lote Grenzen aus und stehe selbst auf der Grenze zum Unsagbaren, zu einem in geläufigen Denk- und Sprachkategorien Nicht-mehr-Mitteilbaren (S. 24l). Kurz, man stoße bei Wolfram an die Grenzen literaturtheoretischer Formulierbarkeit (S. 227). Für Kiening ist »die Frage nach dem Textende somit historisch unbeantwortbar, der Versuch einer Antwort an grundsätzliche interpretatorische Fragen gebunden und deren methodischen und literarischen Implikationen unterworfen« (S. 235). Den Satz Walter Haugs wieder aufnehmend, charakterisiert Kiening das Problem des Fragments als hermeneutisch-narrativisch bedingtes Phänomen: »Die Undenkbarkeit des uns vorenthaltenen Schlusses ist vor allem auch eine des vorenthaltenen Kommentars [...] Ein Epilog, der auf die Vorgaben des Prologs Bezug nähme, ist kaum vorstellbar. Er hätte das Problem von Sippschaft, menschlicher und göttlicher, das des Heidenkampfes und heidnischer Religiosität, aber auch das von rittlicher Heiligkeit in einer Weise zu präzisieren, die wohl über die historische Situation und die Möglichkeiten des volkssprachlichen Epikers hinausführte« (S. 239-240). Diese Konstellation führt Kiening nicht, wie Haug, auf eine literaturhistorische Entwicklung zurück, sondern auf den noch breiteren Hintergrund der modernen Philosophie. Haug und Kiening drücken sich zwar mit aller Vorsicht und Zurückhaltung aus,12 vertreten aber schließlich die Meinung, daß Wolfram sich mit seinem Text übernommen habe, daß das Werk bahnbrechend gewesen sei, aber gerade deswegen in die Sackgasse habe führen müssen.13 Widerlegen lassen sich diese Schlußfolgerungen aber auf zweifache Weise. Erstens: Das Fragmentarische des Werkes darf nicht überbewertet werden. Wir wissen, daß Hermann von Thüringen während der Entstehung des Textes gestorben

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In einem späteren Artikel lehnt Kiening (1993), S. 226, die Aussage, Haugs >Undenkbarkeitssatz« suggeriere eine Erklärung für den Fragmentcharakter des Werks, sogar kategorisch ab. Sie drücken dies allerdings viel sorgfältiger und subtiler aus als die Vertreter der früher populären, aber inzwischen wenig beachteten >NotdachWillehalmWillehalm< scheint der Tod von Autor und/oder Auftraggeber zu sein. Sicherlich können solche Überlegungen keine »absolute Gewißheit« oder »Glaubwürdigkeit für sich beanspruchen«.14 Daß derartige textexterne Zusammenhänge nicht nachzuweisen sind, bedeutet aber nicht, daß eine Interpretation des Werkes auf sie verzichten muß. Vergessen darf man nicht, daß den Kommentaren, die die Autoren der Blütezeit über die Werke ihrer Zeitgenossen gemacht haben, zu entnehmen ist, daß die Dichter dieser Epoche ziemlich gut über die sich entwickelnde literarische Szene informiert waren. Die Frage nach dem Textende an »interpretatorische Fragen« zu binden und »literarästhetischen Implikationen«1' zu unterwerfen, ohne die außerliterarischen Wahrscheinlichkeiten mitzuberücksichtigen, gerät noch tiefer in den Bereich der Spekulation als Versuche, das Rätsel an Realien zurückzubinden. Die Rolle des Gönners in der literarischen Produktion des hohen Mittelalters nur am Rande zu beachten, grenzte an Anachronismus. Für Haug und Kiening ist das Werk unabgeschlossen wegen seiner Unabschließbarkeit. Der unvollendete Text weise eindeutig auf eine grundsätzlich gebrochene Hermeneutik hin, die zum Schluß hin unformulierbar, ja unmöglich würde. Diese Antwort auf die Präsuppositionen historisch fundierter Versuche soll das Wagnis des >Willehalm< verdeutlichen, spricht aber mehr für das Wagnis des Interpreten.17 Zweitens: Obwohl es unwissenschaftlich wäre, das Ende des >Willehalm< zu erfinden, muß man doch prüfen, ob ein Handlungsabschluß wirklich unvorstellbar ist, wie die Kritiker behaupten. Wenn Kritiker den Schluß des >Willehalm< für unvorstellbar halten, scheinen sie implizit auf das Modell des höfischen Romans zurückzugreifen, nämlich auf das Happy End> in dem

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Kiening (1991), S. 235. Kiening (1991), S. 235. »Wie sehr der Literaturbetrieb des Thüringer Hofs von der Persönlichkeit Hermanns I. geprägt war, ist daran zu erkennen, daß er nach Hermanns Tod keine Fortsetzung fand« (Bumke [1990], S. 16). Wie rasch sich der Charakter eines höfischen Milieus nach dem Tod einer leitenden Persönlichkeit verändern konnte, belegt auch der Fall der heiligen Elisabeth, die nach dem Tod ihres Mannes, Hermanns Sohn, auf einem Kreuzzug auf der Wartburg keinerlei Unterstützung mehr fand und nach Marburg ziehen mußte. Ähnlich Heinzle, Heiden (1994), S. 307 (Anm. 25): »Warum es [das Werk] ein Torso geblieben ist, wissen wir nicht. Man kann darüber trefflich spekulieren, aber es geht nicht an, daraus ein Argument für den aporetischen Charakter des Werks zu gewinnen oder gar ein Interpretationsverbot abzuleiten.«

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alle Stränge der Handlung zu einer abrundenden Lösung gebündelt werden. Daß der >Willehalm< auf einen ausdifferenzierten Sinngebungsprozeß angelegt ist, zeigt der »Moll-Ton«18 der Erzählung im allgemeinen ganz deutlich. Das Utopische scheint im >Willehalm< nicht im Durchgang durch seine Negation auf, um Haugs Terminologie zu variieren, sondern mitten in seiner Negation. Leid fuhrt nicht zur Freude wie im höfischen Roman. Vielmehr gehören beide zusammen: ja sol diu manlich arbeit l werben lief und leit. / die zwene gesellecliche site l auch der waren wipheit volgent mite (281,7-10).19 In der Welt des >Willehalm< löst sich die integrative Kraft des arturischen Hofes in die Metapher eines Hauses auf: das Leid ist Boden, Dach und - seitlich, hinten, vorne — Wand der Freude (281,11 ff.). Diese interaktive Dynamik von Freude und Leid zieht sich durch den gesamten Text, wobei der Zusammenhang zwischen Süßem und Bitterem immer wieder in Krisensituationen betont wird.20 Man denke nur an die Vorausdeutung des Erzählers — Giburge süeze wart in sür, l den heiden und der kristenheit (12,30-13,1) -, deren Resonanzen in Terramers Flehen (»süeze Giburc«) und in Willehalms dunklen Gedanken nach der zweiten Schlacht zu spüren sind; oder an den ausführlichen Bericht der Nachwirkungen des zweiten Kampfes, in dem - gibt man der Stelle ihr ganzes metaphorisches Gewicht — die Essenz des gesamten Werks festgehalten wird: swen da leben liez der tot, l swie groz wart anders da. des not, l der hete sich selben vunden (446,7-9). Ein Schluß, der dem bisherigen Gang der Erzählung entsprochen hätte, wäre kein abrundender gewesen, sondern hätte die zwei Pole, zwischen denen die Handlung pendelt, in Spannung halten müssen.21 In diesem Sinne wäre er offen geblieben. Daß sich ein solcher Schluß doch vorstellen läßt, zeigt ein Blick auf den Schluß des >Parzivak Beim Vollenden des Gralsromans, der in die höchst komprimierte, das Werk eigentlich infragestellende Loherangrinhandlung einmündet, rundet Wolfram die Geschichte nicht glatt ab, sondern läßt sie auf weitere Fragen hinausweisen.22 Auf den ersten Blick scheint Stephan Fuchs,23 der die relativierten und punktualisierten Gestaltungsmomente und Sinnstrukturen für die Absicht des Autors hält, aus dieser >aporetischen< Gruppe herauszufallen: »Sinngebung, Konsistenz im Sinne von Geschlossenheit und Ganzheit ist durch 18 19 20 21

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Knapp (1974), S. 191. Zur Diskussion dieser Stelle im Rahmen des >Tristan< s. Kiening (1991), S. 175. Vgl. W. Schröder (1960), besonders S. 69; Liebertz-Grün (1996), S. 399. Vgl. Knapp (1983), S. 612: »Nichts deutet auf einen allgemeinen »Versöhnungsschluß< hin. Vielmehr scheint mir gerade Wolframs Resignation über das Seelenheil der großen Masse der Heiden wesentlich als bleibender dunkler Hintergrund, vor dem sich die leuchtenden Gegenbeispiele abheben sollen«. Vgl. Bumke, Parzival und Feirefiz (1991). Fuchs (1997). 182

geradezu planmäßige Diversität zerstört« (S. 267).24 Der Sinn des Fragmentarischen2' schlägt sich aber als Produkt dieser gewollten diskursiven Diversität in den Figuren nieder, die auf verschiedene Weisen - reflektierend oder unreflektierend — in Aporien verwickelt werden. In der Arofelszene wird die Beschreibung »des Ungeheuerlichen, die Enthauptung des völlig Wehrlosen, Verstümmelten und um Schonung Flehenden dem Erzähler zum Problem« (S. 275). »In dem Nebeneinander des grausamen Geschehens und der aufgerufenen höfischen Welt als harmonische Gegenvorstellung zeigt sich die Aporie des ethischen Diskurses als doppelte Unmöglichkeit: Unmöglichkeit der Stellungnahme gegenüber dem Handeln der Figur bei gleichzeitiger Unmöglichkeit, auf die Klage über das Geschehene zu verzichten« (S. 276). In der >Toleranzrede< ringt die Figur selbst mit Emotionen und Begrifflichkeiten, was in die »Unmöglichkeit führt, das auszuformulieren, was Wirksam-Werden des Erbarmens nach göttlichem, gnadenharten Vorbild im Kampf meint«, also in eine Aporie, »die ganz wesentlich ein Versagen der Terminologie, ein Versagen des sprachlichen Ausdrucks in dem Vermittlungsversuch von schonen und erbarmen ist« (S. 286). Gegen Ende des Fragments stellt sich der Protagonist »nicht als vorbildliche[r] Vorkämpfer oder Ritter oder Dulder« heraus, sondern »hat die Aporie des Kriegerstandes [...], die Aporie des Handeln-Müssens, des Aushalten-Müssens und Weiterlebens über den Punkt sinnvollen Handelns hinaus selbst erfahren« (S. 364). Bei der Konstruktion von Figuren, die in einer solchen Erzählwelt leben, zeigt sich also, »daß die Einsamkeit als Herausgenommen-Sein aus einem Kollektiv zugleich Ausweis für das Scheitern erzählerischer Darstellungsmöglichkeiten des Helden in Form diskreter Rollen ist« (S. 344). Diese Gedanken geben Anlaß, den oft verwendeten aber kaum präzis erklärten Aporie-Begriff zu überdenken.2ii Der Duden gibt zwei Definitio-

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Hervorhebung von mir. Fuchs (1997), S. 287, spielt mit dem Feuer, wenn er postuliert: »Das notwendig Fragmentarische aller Diskurse, deren keiner den Figuren mehr Handlungsanweisung zu bieten vermag, macht das Werk zum Fragment«. Dies wird allerdings in einer Fußnote (Anm. 117) qualifiziert: »Freilich ist hier mit Fragment eher die innere Form der Unabschließbarkeit gemeint als der fehlende Werkschluß« (ähnlich auch S.241). Bracken (1992), S. 164, verbrennt sich ebenfalls fast die Finger, indem er behauptet: »So wie [Wolfram] die Geschichte schließlich erzählt hat, bleibt aber Rennewart, über den die Fäden zu knüpfen gewesen wären, nach der Schlacht trotz intensivstem Suchen unauffindbar und damit, so könnte man schließen, auch der harmonische Schluß, ja überhaupt ein Abschluß des Werks« (ähnlich auch Ruh [1980], S. 190). Vgl. Heinzle, Heiden (1994), S. 306: »Die Begriffe .Aporie. und - damit verbunden - >Tragik< fließen neueren Interpreten fast reflexhaft aus der Feder, ohne daß immer recht deutlich wird, was genau sie historisch-philosophisch mit ihnen im Sinn haben.«

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nen an:27 (1) Unmöglichkeit, eine philosophische Frage zu lösen, da Widersprüche vorhanden sind, die in der Sache selbst oder in den zu ihrer Klärung gebrauchten Begriffen liegen; (2) Unmöglichkeit, in einer bestimmten Situation die richtige Entscheidung zu treffen; Ausweglosigkeit. Gegen Fuchs' Verwendung von Aporie im Sinne dieser zweiten Definition ist nichts einzuwenden: Das Werk ist wohl stark geprägt durch die Ausweglosigkeit der Figuren, die mit der Erfahrung von Freude und Leid innerhalb der engen Koordinaten ihrer höchst problematisch gewordenen Welt ringen. Nichts macht dies deutlicher als Bernhards Haltung gegenüber seinem Bruder Willehalm, den er nach dem zweiten Kampf in Tränen findet: »du bist niht Heimrtches sun, wiltu nach wtbes siten tuen. groz schade bedarf genendekeit. [...] süeze vinden, manege sure vlust: niht anders erbes muge wir hän. [...]«

457,3-5; 457,10-11 Indem Bernhard dieses Los als ererbt darstellt,28 entkräftet er zugleich Willehalms frühere Klage: ist mich von Karein uf erborn, l daz ich sus vil han verlorni [...]/ von wem ist mich üf geerbet, l daz ich sus bin verderbet? (455, 11-12; 15-16).29 Die ständige Folge von süßem Finden und bitterem Verlust ist also kein individuell ererbtes Schicksal, dem man sich stellen muß und vielleicht tatkräftig entkommen kann, sondern das menschliche Schicksal schlechthin, in das man sich wohl oder übel zu fügen hat. Wenn Fuchs aber von dem Scheitern erzählerischer Darstellungsmöglichkeiten spricht, scheint er die erste Definition von Aporie ins Spiel bringen zu wollen: Während Haug und Kiening die Aporie des Werkes in den nicht zusammenzuführenden ethischen Diskursen zu finden glaubten, entsteht für Fuchs die Schwierigkeit des Texts aus einer mangelhaften Erzählgrammatik. In den vorhergehenden Kapiteln hoffe ich aber gezeigt zu haben, daß Wolframs Umgang mit seinen Figuren weit davon entfernt ist, mangelhaft oder gescheitert zu sein.

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Duden. Deutsches Universalwörterbuch, 2., völlig neu bearbeitete und stark erweiterte Auflage, hrsg. und bearb. vom Wissenschaftlichen Rat und den Mitarbeitern der Dudenredaktion unter der Leitung von Günther Drosdowski, Mannheim u.a. 1989. Kiening (1991), S. 91, weist auf die pragmatischen Vorteile von Bernhards Denkweise hin. Wie so vieles in diesem Werk werden diese aber im Gesamtzusammenhang durch die allgemeinere Bedeutung übertont. Zur Intertextualität des Hornrufs nach der zweiten Schlacht s. Ortmann (1993), S. 106-107. 184

Innovatorische Lektüren Interpreten der dritten Gruppe unterscheiden sich von denen der zweiten dadurch, daß sie sich von den widersprüchlichen Strömungen des Textes nicht in die wissenschaftliche Aporie treiben lassen. Helmut Brackert stellt entschlossen fest, daß es sich verbietet, »angesichts der gewaltigen Sinnkonstruktion, die der Prolog des Werks im trinitarischen Gebet entwickelt und in der emphatischen Beschwörung eines göttlich inspirierten dichterischen sins auch für das poetische Subjekt festhält, die Ausweglosigkeit und Widersprüchlichkeiten, in denen sich die Gewaltfolge der Geschichte konstruiert, für den eigentlichen >Sinn< des Erzählens zu nehmen.« 30 Wolfram, der »das von Gott geschriebene Buch der Welt so weit wie möglich zu entziffern« versuchte (S. 170), ging es darum, »den archimedischen Punkt« [d.h. die gemeinsame Geschöpflichkeit und die daraus folgende Achtung des Menschen vor dem Menschen] »außerhalb des Werks« zu belassen »und dadurch die wahre Geschichte nicht als Lösung, sondern als erst noch zu lösende Aufgabe« zu konstituieren (S. 171). Für Burghart Wachinger, der den Spannungen zwischen Erzählvorgang, Erzählerbemerkung und Verhaltensmustern nachgeht, gibt es verschiedene Wertorientierungen im Roman, durch deren Zusammenwirken und ungelöste Konflikte »Raum für Neues« entsteht: »Raum einerseits für eine ungewöhnliche Individualität einiger Hauptfiguren und andererseits für ein Nachdenken, das die in der Zeit dominanten ideologischen Grenzen überschreitet.«31 Als Werk gegen die Kreuzzugsideologie kann der >Willehalm< dadurch gelten, »daß er erzählend Fragen offen stellt und offen läßt« (S. 59). Auf ähnliche Weise vertritt Joachim Heinzle eine Theorie der Mehrstimmigkeit im Roman: Giburgs Rede ist deutlich auf den Prolog zurückbezogen und »alles spricht dafür, daß das Nebeneinander der beiden Stimmen als ein Gegeneinander gewollt und sorgfältig berechnet ist«.32 »Die Darstellungsfigur der zwei Stimmen« versteht Heinzle als »Instrument [eines] suchenden Erzählens, das sich nicht in einer glatten Synthese beruhigt« (S. 306). Ursula Liebertz-Grün zufolge kommentiert der Erzähler »nicht nur widersprüchlich, er benutzt auch die Technik des doppelbödigen Erzählens; er erzählt der Kreuzzugsideologie folgend und ihr widersprechend Widersprüchliches«.33 Den Hinweis des Erzählers, er wäre sehr erfreut, wenn ein anderer seine Geschichte fortsetzte (402,28-30), interpretiert sie »als Appell an die Hörer und Leserinnen, selbständig nachzudenken

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Brackert (1992), S. 169-170. Wachinger (1996), S. 51. Heinzle, Heiden (1994), S. 305; dann erneut (1998). Liebertz-Grün (1996), S. 393.

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und aus den Dissonanzen und dem Schluß des Textes ihre eigenen Schlüsse zu ziehen« (S. 403).34 Ganz im Sinne dieser Ansätze will die vorliegende Arbeit verstanden werden. Von vornherein zielte die Analyse auf eine Beschreibung des Textes als ein werdendes und sich entwickelndes organisches Ganzes. Das zweite Kapitel, das sich auf die Fokalisierung der Figuren konzentrierte, hat die These aufgestellt, daß Wolfram, wie kein anderer Dichter der deutschen Blütezeit, mehrdimensionale Charaktere zu konstruieren wußte. Die zum Charakter gewordenen Figuren verfugen über eine eigene Stimme, die sich je nach Kontext artikuliert und manchmal auch weit über die Grenzen der Prologprogrammatik hinausgeht. Das dritte Kapitel kam dann auf die traditionelle Erzählerinstanz zurück und untersuchte das hermeneutische Spiel hinter der Identität des >sich Wolfram von Eschenbach nennenden Autor/Erzählersfiktionale Subjektivität der Erzählerinstanz dazu, den Erzähler eine Stimme finden zu lassen, die denen der Figuren gewachsen ist. Wie die Figuren variiert der Erzähler seine Aussagen nach dem jeweiligen Zusammenhang der Handlung. Seine Stimme ist wie ihre also nicht gegeben, sondern nur zeitlich bestimmt: Sie reagiert auf die Figuren sowie die Dynamik des Blickwinkels. Die Perspektiven dieses Werkes lassen sich also nicht auf ein einfaches Schema reduzieren und scheinen somit die Struktur des höfischen Romans fast in sein Gegenteil zu verkehren. Im Artusroman werden »unter dem Gesetz der Rückbezüglichkeit von innen und außen die äußeren Geschehnisse zum Ausdruck innerer Vorgänge«,3-" deren Sinn »nur im Erfassen des thematisch-strukturellen Konzepts zum Bewußtsein kommen«.36 Der Rezipient muß durch den sorgfältig konstruierten Aufbau des Werkes hindurchgehen. In Wolframs >Willehalm< aber läuft die Handlung vor den Augen des Rezipienten ab. Der Text geht eher an ihm vorbei, Perspektiven kommen

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Mit der hier wie anderswo (S. 383, 393) sorgfaltig vage gelassenen Meinung, das Werk sei abgeschlossen, stimme ich allerdings nicht überein. Auch die Behauptung, daß Wolfram »einen Vexiertext, einen Text mit einer Oberflächenstruktur und einer subversiven Tiefenstruktur geschrieben hat« (S. 383), wäre genau zu überprüfen. de Boor (1953), S. 70. Haug (21992), S. 132.

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ihm aus dem Text entgegen, und er hat Gelegenheit, unter der Leitung des Erzählers Perspektiven auf den Text zurückzuprojizieren. Bei dieser Evolution des Textes wachsen und wechseln die Perspektiven mit der Zeit. Für Heinzle und Wachinger aktivieren »mehrfache Motivierungen und harte Fügungen wechselnder Perspektiven [...] widersprüchliche Denkmuster und Wertorientierungen, die in der Zeit, im Publikum, präsent waren«.^ Genauso gut aber — wenn man es noch wagen darf, die hermeneutische Holprigkeit des >Willehalm< zu erklären — könnten die Widersprüche und Brüche des Werkes aus dem tiefen Interesse des Autors für die Charakterisierung sowohl der Figuren als auch des Erzählers entstanden sein. Ein Zusammenwirken beider Faktoren ist wohl nicht auszuschließen. Für Bakhtin war der >Parzival< »der erste wesentliche zweistimmige deutsche Roman«. Obwohl zeitlich an zweiter Stelle, ist aber die Mehrstimmigkeit des >Willehalm< deutlich stärker ausgeprägt. Denn er fügt sich weder in eine übergreifende heilsgeschichtliche Perspektive noch in die sinnstiftende Struktur des Chretienschen Modells (insofern hat Haug sicherlich recht). Der >Willehalm< transportiert Perspektiven, die dynamisch aufeinander prallen, miteinander reden, ja sich auch gegenseitig ändern. Dies stellt keinen gescheiterten, sondern einen für die damalige volkssprachige Literatur völlig neuen Sinngebungsprozeß dar.38 Der Sinn des >Willehalm< liegt schließlich darin, zu zeigen, daß es keinen einzigen Sinn gibt. Hermeneutisch gesehen gilt das Werk also als völlig modern:35' Kein anderer Text des deutschen Mittelalters erregt so heftige Debatten um seine sinnstiftenden Potentiale kein anderer Text des deutschen Mittelalters scheint von seinen Fortsetzern so mißverstanden worden zu sein.40 Kein Zweifel, die hermeneutische Sensation des >Willehalm< ist in seinem Multiperspektivismus zu suchen. Vielleicht darin liegt auch sein eigentlicher Beitrag zum humanen Denken.

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Zitat Wachinger (1996), S. 58; ähnlich Heinzle, Heiden (1994), S. 306. Vgl. Wachinger (1996), S. 58, der das Werk für ein Großes Dokument der Menschlichkeit hält, »weil es auf neue Weise erzählt.« Die Begriffe >modern< und >human< werden hier verwendet als Unterstützung für und Provokation gegen einige Thesen, die in dem vor kurzem geführten Forschungsstreit um die Gotteskindschaft aufgetaucht sind. Vgl. z.B. Heinzle, Heiden (1994), S. 307-308; Fasbender (1997), S. 31. Zu einigen Ausnahmen vgl. Liebertz-Grün (1984).

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