Gemeinschaften: Figuren der Lebensteiligkeit 9783495820704, 9783495489369

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Gemeinschaften: Figuren der Lebensteiligkeit
 9783495820704, 9783495489369

Table of contents :
Cover
Danksagung
Inhalt
Vorwort
I
II
III
IV
V
VI
VII
Erstes Kapitel: Teilung. Heideggers Kreide, oder: Was bedeutet es eigentlich, eine Pizza zu teilen?
§ 1. Selbigkeit, Gleichheit, Verschiedenheit
§ 2. Durch Aufteilen wird nicht immer geteilt
§ 3. Was bleibt von der Teilung?
Zweites Kapitel: Aufteilung und Verteilung. »Gemeinsame Güter« und »WG-gesucht«
§ 4. Klassische Kriterien der Gemeinschaft
§ 5. Verschmelzen und Auflösen
§ 6. Wohngemeinschaft
§ 7. Aufteilung als »gerechte« Verteilung. (Mit)Eigentum, Besitz und die Gemeinschaft der Bruchteile
§ 8. Zweck-WG, zweckgerichtet, zweckgerecht
§ 9. Schwammige Kriterien
Drittes Kapitel: Erteilung. Was ist eine Gabe?
§ 10. Ein Abendessen unter Freunden
§ 11. Gaben und Pflichten
§ 12. Ver-Sagen (scheitern und behaupten, scheitern zu wollen)
Viertes Kapitel: Arbeitsteilung. Öffentlichkeit und òikos bei »Hans im Glück«
§ 13. Arbeit, Dienst, Beruf(ung)
§ 14. Privat und öffentlich
§ 15. Figuren der Arbeitsgemeinschaft
Fünftes Kapitel: Einteilung und Unterteilung. Gemeinschaft der Mengen und Teilmengen
§ 16. Mengenlehre und Politik
§ 17. Präsentation und Repräsentation
§ 18. Ordnung/Ortung: Was bedeutet es, ein Student an der Johannes Gutenberg-Universität zu sein?
§ 19. Übertragbarkeit einer Metapher
§ 20. Gasthörer
§ 21. Neigung zur Verrechtlichung
Sechstes Kapitel: Erdenteilung. Immanuel Kant vs. Reinhard Mey
§ 22. Viele Gäste
§ 23. Geist der Erde und Gast auf Erden
§ 24. Kants Gastlichkeitsbegriff
§ 25. Ethisch oder rechtlich?
§ 26. Gute Nacht, Freunde (und nicht Feinde)
Siebtes Kapitel: Zweiteilung und Dreiteilung. Hendiadyoin als Logik der Gemeinschaft
§ 27. »Beschattungen« des Fremden. Der Fremde tritt ans Tageslicht, in Form des Schattens
§ 28. Enantiosemie
§ 29. Fremdheit als Fall der Andersheit
§ 30. Unheimliches als Zweiteilung
§ 31. Unheimliches als Dreiteilung
§ 32. Asymmetrie
§ 33. ἓν διὰ δυοῖν
§ 34. Verschachtelung
Achtes Kapitel: Abteilung. Vom Limes zum Limen
§ 35. Das Leben ist eine Zugfahrt
§ 36. Wände und Grenzen
§ 37. Abgrenzung, Ein- und Ausgrenzung
§ 38. Grenze als Schwelle
§ 39. Grenze als Medium
§ 40. Menschen und Götter
§ 41. Limen
Neuntes Kapitel: Spielbeteiligung. Be-dingte Gemeinschaft
§ 42. Eine Pseudo-Etymologie
§ 43. Utilitas
§ 44. Aufforderungen und Angebote
§ 45. Unbekümmertheit
§ 46. Prädikation
§ 47. Plurale Entwicklungen
§ 48. Treppen, die keine Treppen sind
§ 49. Stufen, die keine Stufen sind
Zehntes Kapitel: Teil. Gemeinschaft als Perlenkette
§ 50. Aristoteles, Löwith und Wittgenstein hätten möglicherweise befreundet sein können
§ 51. Element
§ 52. Einfach und zusammengesetzt
§ 53. Gemeinschaft als Perlenkette
§ 54. Gemeinschaft als offener und dynamischer Begriff
§ 55. Dividierbare Perlen
Elftes Kapitel: Mitteilung. Käfer und Mitsein
§ 56. Das Wort des Heraklit
§ 57. Das sagen die meisten
§ 58. Mit-Teilen als sympathein
§ 59. Wo soll ich denn hereinschauen?
§ 60. Ein Zimmer und einen Seelenzustand beschreiben
§ 61. Was bedeutet es, auf das Zeigen zu zeigen?
§ 62. Mitteilung als Komparenz. Zeigen und Erscheinen
§ 63. Aufmerksamkeit
§ 64. Dieselben Worte mit unterschiedlicher Bedeutung
§ 65. Ver-rückte Komparenz
Zwölftes Kapitel: Gegenteil. Eros und Anteros als Formen der Gemeinschaft
§ 66. Fünf Formen der Liebe
§ 67. Familiengeschichte des Eros
§ 68. Endlich bedeutet zweierlei
§ 69. Was sehe ich im Spiegel?
§ 70. Gegensätze der Liebe
Dreizehntes Kapitel: Schicksalszuteilung. Der Mensch auf der Flucht
§ 71. munus als Schicksal
§ 72. Vektoren der Flucht
§ 73. Das Woher der Flucht: Trennung
§ 74. Das Wodurch der Flucht: Nicht-Ort
§ 75. Das Wohin der Flucht: Der Feind wird zum Freund
Vierzehntes Kapitel: Vorteil, Nachteil, Bauteil, Bestandteil, Urteil, Losteilung und Teilnahmslosigkeit. Und das ist längst noch nicht alles
§ 76. Weitere Perspektiven
§ 77. Rankings
§ 78. Bausteine
§ 79. Beständige Bausteine
§ 80. (Vor-)Urteile
§ 81. Nichts machen
Fünfzehntes Kapitel: Umteilung. Philosophie als Hexengebräu und Gemeinschaft im Auge
§ 82. Ein Schlusswort
Literaturverzeichnis
Lexika
Lieder
Gedichte
Filme und TV-Serien
Abbildungen
Fabeln und Romane
Alia

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Giovanni Tidona

Gemeinschaften Figuren der Lebensteiligkeit

VERLAG KARL ALBER

https://doi.org/10.5771/9783495820704

.

B

Giovanni Tidona Gemeinschaften

VERLAG KARL ALBER

A

https://doi.org/10.5771/9783495820704 .

https://doi.org/10.5771/9783495820704 .

Giovanni Tidona

Gemeinschaften Figuren der Lebensteiligkeit

Verlag Karl Alber Freiburg / München

https://doi.org/10.5771/9783495820704 .

Giovanni Tidona Communities Figures of participation in life The linchpin of this book is the concept of community. It is to be discussed in its numerous, complex and interwoven facets of meaning. In the course of a critical textual and conceptual analysis, it will be shown that the common »object« of the community is a multilayered phenomenon that corresponds to numerous differentiations in the history of thought as well as in everyday language and culture. The paradigms of the community are elaborated in 15 chapters on the basis of the semantic diversification of the prepositional compositions of the basic word »division«.

The Author: Giovanni Tidona, born 1982 in Scicli (Italy), received his doctorate in Practical Philosophy in 2013 from the Johannes Gutenberg University in Mainz. Deputy Professor of Philosophy/Ethics at the Faculty of Cultural Sciences and Humanities of the University of Education Heidelberg, Lecturer of Philosophy at the Johannes Gutenberg-University Mainz. Author and editor of numerous publications on phenomenology, social ontology and philosophy of the 20th century.

https://doi.org/10.5771/9783495820704 .

Giovanni Tidona Gemeinschaften Figuren der Lebensteiligkeit Dreh- und Angelpunkt des vorliegenden Buches ist der Gemeinschaftsbegriff. Er soll in seinen zahlreichen, komplexen und miteinander verflochtenen Bedeutungsfacetten erörtert werden. Im Zuge einer kritischen Text- und Begriffsanalyse wird gezeigt, dass der gemeinsame »Gegenstand« der Gemeinschaft ein vielschichtiges Phänomen ist, dem in der Denkgeschichte sowie in der Alltagssprache und -kultur zahlreiche Ausdifferenzierungen entsprechen. Die Paradigmen der Gemeinschaft werden in 15 Kapiteln anhand der semantischen Auffächerung der präpositionalen Komposita des Grundwortes »-teilung« herausgearbeitet. Der Autor: Giovanni Tidona, geboren 1982 in Scicli (Italien), wurde 2013 in Praktischer Philosophie an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz promoviert. Vertretungsprofessor für Philosophie/Ethik an der Fakultät für Kultur- und Geisteswissenschaften der Pädagogischen Hochschule Heidelberg, Dozent für Philosophie an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Autor und Herausgeber zahlreicher Publikationen zur Phänomenologie, zur Sozialontologie und zur Philosophie des 20. Jahrhunderts.

https://doi.org/10.5771/9783495820704 .

Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2019 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Umschlagbild: © Andrea Calabrese Satz und PDF-E-Book: SatzWeise, Bad Wünnenberg Herstellung: CPI Books Gmbh, Leck Printed in Germany ISBN (Buch) 978-3-495-48936-9 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-82070-4

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Teilen macht ganz

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Danksagung

Die Realisierung eines Buches über den Gemeinschaftsbegriff erlaubt eine gemeinschaftliche Danksagung, die im Sinne des Geteilten konsequenterweise von einzelnen, namentlichen Erwähnungen absehen darf und sich somit an die Gemeinschaft aller lieben Menschen, Freunde, Verwandten, Ex-Freundinnen, Mit-Philosophen und insbesondere der Studierenden kommunitär wendet, die zur Entstehung dieser Studie in unterschiedlichem Grade beigetragen haben. Insbesondere zahlreiche Studierende haben die folgenden Ausführungen angereichert, und zwar durch ihre Teilnahme, Rückmeldungen und Beiträge an dem vom Verfasser geleiteten Seminar »Europäisches Denken. Dimensionen der Sprache und Politik« im Wintersemester 2014–2015 an der Johannes Gutenberg-Universität in Mainz sowie an »Paradigmen der Gemeinschaft« im Sommersemester 2016, »Fremdheit und Interkulturalität« im Wintersemester 2016–2017 und »Fremdheit und Diskriminierung« im Sommersemester 2018 an der Pädagogischen Hochschule in Heidelberg. Diesen philosophieverliebten Studenten, damaligen Gemeinschaftsgefährten, soll ein Dank erstattet werden, zusammen mit der Aufforderung, ihrer Leidenschaft für das schönste und wichtigste Fach der Welt (mitunter auch der Menschenwelt) ohne Wenn und Aber weiter nachzugehen. Gemeinschaft ist ein Ganzes und seine Teile. Deshalb soll hier nichtsdestotrotz ein Name erwähnt werden: Diese Arbeit wurde im Geiste des Πόνος, Sohn der Ἔρις geschrieben und ist somit einem philoponos gewidmet, dem auch die Inspiration des Buches zu verdanken ist. Danke an Onkel Tonino. Cava d’Aliga, Mai 2019

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Inhalt

Vorwort

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Erstes Kapitel: Teilung. Heideggers Kreide, oder: Was bedeutet es eigentlich, eine Pizza zu teilen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 1. Selbigkeit, Gleichheit, Verschiedenheit . . . . . . . . § 2. Durch Aufteilen wird nicht immer geteilt . . . . . . . § 3. Was bleibt von der Teilung? . . . . . . . . . . . . . .

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39 39 48 51

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54 54 61 63

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71 75 79

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82 82 84

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Zweites Kapitel: Aufteilung und Verteilung. »Gemeinsame Güter« und »WG-gesucht« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 4. Klassische Kriterien der Gemeinschaft . . . . . . . § 5. Verschmelzen und Auflösen . . . . . . . . . . . . § 6. Wohngemeinschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . § 7. Aufteilung als »gerechte« Verteilung. (Mit)Eigentum, Besitz und die Gemeinschaft der Bruchteile . . . . . § 8. Zweck-WG, zweckgerichtet, zweckgerecht . . . . . § 9. Schwammige Kriterien . . . . . . . . . . . . . . . Drittes Kapitel: Erteilung. Was ist eine Gabe? . . . . . . . § 10. Ein Abendessen unter Freunden . . § 11. Gaben und Pflichten . . . . . . . . § 12. Ver-Sagen (scheitern und behaupten, scheitern zu wollen) . . . . . . . . .

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11 https://doi.org/10.5771/9783495820704 .

Inhalt

Viertes Kapitel: Arbeitsteilung. Öffentlichkeit und òikos bei »Hans im Glück« § 13. Arbeit, Dienst, Beruf(ung) . . . . . . . . . . . . . § 14. Privat und öffentlich . . . . . . . . . . . . . . . . § 15. Figuren der Arbeitsgemeinschaft . . . . . . . . . .

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Fünftes Kapitel: Einteilung und Unterteilung. Gemeinschaft der Mengen und Teilmengen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 16. Mengenlehre und Politik . . . . . . . . . . . . . . . § 17. Präsentation und Repräsentation . . . . . . . . . . . § 18. Ordnung/Ortung: Was bedeutet es, ein Student an der Johannes Gutenberg-Universität zu sein? . . . . . . . § 19. Übertragbarkeit einer Metapher . . . . . . . . . . . . § 20. Gasthörer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 21. Neigung zur Verrechtlichung . . . . . . . . . . . . .

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118 126 129 132

Sechstes Kapitel: Erdenteilung. Immanuel Kant vs. Reinhard Mey § 22. Viele Gäste . . . . . . . . . . . . . . § 23. Geist der Erde und Gast auf Erden . . § 24. Kants Gastlichkeitsbegriff . . . . . . . § 25. Ethisch oder rechtlich? . . . . . . . . § 26. Gute Nacht, Freunde (und nicht Feinde)

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134 134 134 138 139 146

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Siebtes Kapitel: Zweiteilung und Dreiteilung. Hendiadyoin als Logik der Gemeinschaft . . . . . . . . . . . § 27. »Beschattungen« des Fremden. Der Fremde tritt ans Tageslicht, in Form des Schattens § 28. Enantiosemie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 29. Fremdheit als Fall der Andersheit . . . . . . . . . . . § 30. Unheimliches als Zweiteilung . . . . . . . . . . . . . § 31. Unheimliches als Dreiteilung . . . . . . . . . . . . . § 32. Asymmetrie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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. 113 . 113 . 114

. 157 . . . . . .

157 160 164 166 170 175

Inhalt

§ 33. ἓν διὰ δυοῖν . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 34. Verschachtelung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

178 184

Achtes Kapitel: Abteilung. Vom Limes zum Limen . . . . . . § 35. Das Leben ist eine Zugfahrt . . . . . § 36. Wände und Grenzen. . . . . . . . . § 37. Abgrenzung, Ein- und Ausgrenzung § 38. Grenze als Schwelle . . . . . . . . . § 39. Grenze als Medium. . . . . . . . . . § 40. Menschen und Götter . . . . . . . . § 41. Limen. . . . . . . . . . . . . . . .

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Neuntes Kapitel: Spielbeteiligung. Be-dingte Gemeinschaft § 42. Eine Pseudo-Etymologie . . . . § 43. Utilitas . . . . . . . . . . . . . § 44. Aufforderungen und Angebote . § 45. Unbekümmertheit . . . . . . . § 46. Prädikation . . . . . . . . . . . § 47. Plurale Entwicklungen . . . . . § 48. Treppen, die keine Treppen sind . § 49. Stufen, die keine Stufen sind . .

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Zehntes Kapitel: Teil. Gemeinschaft als Perlenkette . . . . . . . . . . . . . . § 50. Aristoteles, Löwith und Wittgenstein hätten möglicherweise befreundet sein können . . . . . . . . . . . . . § 51. Element . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 52. Einfach und zusammengesetzt . . . . . . . . . . . . § 53. Gemeinschaft als Perlenkette . . . . . . . . . . . . . § 54. Gemeinschaft als offener und dynamischer Begriff . . § 55. Dividierbare Perlen . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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243 244 247 250 253 257

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Inhalt

Elftes Kapitel: Mitteilung. Käfer und Mitsein . . . . . . . . . . . . . . § 56. Das Wort des Heraklit . . . . . . . . . . . . . . § 57. Das sagen die meisten . . . . . . . . . . . . . . . § 58. Mit-Teilen als sympathein . . . . . . . . . . . . § 59. Wo soll ich denn hereinschauen? . . . . . . . . . § 60. Ein Zimmer und einen Seelenzustand beschreiben § 61. Was bedeutet es, auf das Zeigen zu zeigen? . . . . § 62. Mitteilung als Komparenz. Zeigen und Erscheinen § 63. Aufmerksamkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . § 64. Dieselben Worte mit unterschiedlicher Bedeutung § 65. Ver-rückte Komparenz . . . . . . . . . . . . . .

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262 262 263 264 266 268 271 273 276 277 281

Zwölftes Kapitel: Gegenteil. Eros und Anteros als Formen der Gemeinschaft § 66. Fünf Formen der Liebe . . . . . . . . . . . . . § 67. Familiengeschichte des Eros . . . . . . . . . . . § 68. Endlich bedeutet zweierlei . . . . . . . . . . . § 69. Was sehe ich im Spiegel? . . . . . . . . . . . . § 70. Gegensätze der Liebe . . . . . . . . . . . . . .

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282 282 283 288 290 291

Dreizehntes Kapitel: Schicksalszuteilung. Der Mensch auf der Flucht . . . . . . § 71. munus als Schicksal . . . . . . . . . . . . . . . . § 72. Vektoren der Flucht . . . . . . . . . . . . . . . . § 73. Das Woher der Flucht: Trennung . . . . . . . . . § 74. Das Wodurch der Flucht: Nicht-Ort . . . . . . . . § 75. Das Wohin der Flucht: Der Feind wird zum Freund

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295 295 295 298 302 306

Vierzehntes Kapitel: Vorteil, Nachteil, Bauteil, Bestandteil, Urteil, Losteilung und Teilnahmslosigkeit. Und das ist längst noch nicht alles . . . . § 76. Weitere Perspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . § 77. Rankings . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 78. Bausteine . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhalt

§ 79. Beständige Bausteine . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 80. (Vor-)Urteile . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 81. Nichts machen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

315 317 319

Fünfzehntes Kapitel: Umteilung. Philosophie als Hexengebräu und Gemeinschaft im Auge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 82. Ein Schlusswort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Literaturverzeichnis . Lexika . . . . . . . Lieder . . . . . . . . Gedichte . . . . . . Filme und TV-Serien Abbildungen . . . . Fabeln und Romane . Alia . . . . . . . . .

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Vorwort

I In der Pseudo-Platonischen Schrift Definitionen (Hóroi) findet sich u. a. ein Spruch, der auf den ersten Blick kaum etwas mit dem Thema »Gemeinschaft« zu tun hat, sich jedoch sehr gut eignet, den Grundton dieses Buches anzugeben. Es handelt sich um eine Definition des göttlichen Wesens, welche folgendermaßen lautet: »Gott: ein unsterbliches Wesen von vollkommener Glückseligkeit« 1. Der Leser soll aber an dieser Stelle gleich darauf hingewiesen werden, dass diese Übersetzung leider ungenau ist, weshalb es sich lohnt, sich das griechische Diktat anzuschauen und zu versuchen, eine anderweitige deutsche Wiedergabe vorzuschlagen: Θεός ζῷον ἀθάνατον, αὔταρκες πρòς εὐδαιμονίαν, »der Gott ist ein unsterbliches und hinsichtlich seines Glückes selbstständiges Tier«. Die Definition birgt vielerlei in sich. Zunächst ist es extrem interessant, dass der Gott, das göttliche Wesen, dabei als ein Tier (ζῷον) bestimmt wird. Auch der Gott nimmt, wie alle anderen Lebewesen, an der ζωή, am »zoologischen Leben« teil. Der Gott ist, genauso wie das Tier, die Pflanze und der Mensch, lebendig. Menschen und Götter haben nach dieser Definition somit etwas Wesentliches gemeinsam: Beide Wesen leben. Ein relevanter Unterschied zeigt sich jedoch zugleich: Im Unterschied zu allen anderen Wesen, die lebendig und sterblich sind, ist der Gott ein unsterbliches Tier. Menschen leben und sterben irgendwann; Götter leben immerwährend: Trotz der größten Verschiedenheiten im Charakter und Temperament haben diese Götter doch alle dieselbe Natur. Daher werden sie gerne als Einheit dem menschlichen Geschlecht gegenübergestellt […] Gemeinsam ist Platon: Definitionen, 411a, in Platon: Briefe / Unechtes, in Sämtliche Werke, Bd. X, Frankfurt a. M./Leipzig: Insel, 1991, S. 433, übers. v. Franz Susemihl.

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17 https://doi.org/10.5771/9783495820704 .

Vorwort

allen die Unsterblichkeit, und sie heißen die »Ewigen«, die immer waren; wodurch aber gewiß nicht dogmatisch festgestellt werden sollte, dass sie niemals geboren seien; was bedeutete das gegenüber der Unmeßbarkeit ihres Lebens! Trotzdem konnte man sie sich nicht anders vorstellen als in der strahlendsten Jugendblüte. […] Auch die höchste Weisheit sollte nicht einem Jenseits des Lebens, sondern seiner freudigsten Kraft angehören und die Erkenntnis nicht auf dem weltabgewandten Greisengesicht, sondern auf der jugendhellen Stirn und den blühenden Lippen Apollons wohnen. »Unsterblich ohne Alter« – das ist das Kennzeichen alles Göttlichen. 2

Götter sind eins mit der Natur: »Die Geistigkeit der neuen Göttergestalten ist verbunden mit der innigsten Naturtreue«. 3 Und obwohl der Mensch, im Unterschied zum Gott, ein vergängliches und bedenkliches Wesen ist (»Denn was sind diese Menschen? Arme Geschöpfe, die nach kurzer Blüte welken und schwinden« (Il. 21, 464)) 4, ist derjenige Natur- und Lebensbereich, den die Götter bewohnen, derselbe auch für die Menschen: Also verwandt miteinander und doch durch eine tiefe Kluft getrennt – so stehen die Menschen und Götter gegenüber. Deutlich spricht es Pindar aus: ›Eins ist der Menschen, ein andres ist der Götter Geschlecht: eine Mutter hat beiden das Leben gegeben; aber so ungleich sind sie in allen ihren Kräften, daß das eine gar nichts ist, ewig fest aber bleibet die Burg des ehernen Himmels‹ (Nem., 6, 1). 5

Menschen und Götter sind ontologisch grundunterschiedlich, beide Geschlechter gehören nichtdestotrotz ein und derselben Natur (»einer Mutter«) an, sie sind Teile ein und derselben Natur; sie sind also beide diese Natur. Durch einen solchen komplexen, auf Gemeinsamkeit und Unterschied beruhenden Einteilungsmechanismus werden Menschen und Götter in das Bild der Natur und des Lebens eingefügt.

II Es gibt aber noch einen weiteren, tragenden Grund, warum diese Pseudo-Platonische Definition sich im Rahmen einer Studie über 2 Walter F. Otto: Die Götter Griechenlands. Das Bild des Göttlichen im Spiegel des griechischen Geistes, Frankfurt a. M.: Klostermann, 1987, S. 163–164. 3 Ebenda, S. 205. 4 Ebenda, S. 165. 5 Ebenda, S. 169.

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Vorwort

den Gemeinschaftsbegriff als äußerst stichhaltig erweist. Götter sind nicht nur unsterblich, sondern auch »hinsichtlich des Glückes selbständig«. Sie bedürfen nichts, um glücklich zu sein – dafür fehlt es ihnen an nichts. Es wäre aber an dem Punkt genauer zu bestimmen, was »Glück« bedeute. Auch dieses Stichwort ist in dem Fall eine teilweise irreführende Übersetzung. Das griechische Wort dafür ist εὐδαιμονία, »Glückseligkeit«. Diese ist aber nicht mit so etwas wie einem »frohen und glücklichen Gemütszustand« (also nicht gleich im Sinn einer psychologischen Wohlbefindlichkeit, zumal auch die Götter leiden können 6) gleichzusetzen; darunter ist eher eine Art »Vollkommenheit« und perfekte Übereinstimmung zu verstehen, und zwar zwischen dem, was ein Gott kann, und dem, was ein Gott tut – was eben das Wesen der Aristotelischen εὐδαιμονία ausmacht: »Glück« ist die Ausübung und Verwirklichung der eigenen Dynamis, die gelungene Ausführung dessen, was der »Dämon« fordert und strebt – eu-daimonie. Die Verwirklichung des eigenen dämonischen Prinzips ist bei jedem Gott immer und stetig bewährt und garantiert – unabhängig davon, welche τιμή einem Gott zukommt, sprich: welcher Zuständigkeitsbereich ihm durch die Machtübernahme Zeus’ zugewiesen wurde. Der Gott und die Naturinstanzen, die er vertritt, üben sich immer vollkommen aus: Ein Gott ist selbstständig in der Konstitution seiner Identität und seines Wesens, in dem grandiosen kosmischen Rahmen der ζωή. Es wäre nun möglicherweise aufschlussreich, die Pseudo-Platonische Definition umzukehren. Dies stellt übrigens eine typische philosophische Vorgehensweise dar: Nicht selten erfolgen Begriffsbestimmungen in der Philosophie per Umkehrschluss, d. h. etwas wird durch sein Gegenteil oder dadurch, was es nicht ist, definiert: Als ob man jemandem erklären sollte, was ein Baum ist, durch Auflistung und Bestimmungen dessen, was der Baum nicht ist: Er ist kein Tier, er wird nicht technisch hergestellt, man kann ihn nicht in der Tasche tragen usw. Ein solches Umkehrschluss-Verfahren, das an das Kinderspiel »Wer bin ich / Was bin ich« erinnert, könnte auf unsere Pseudo-Pla»So hoch sind die Götter über das Menschendasein hinausgehoben. Und doch ist ihr Wesen dem menschlichen nahe verwandt. Schon die äußere Erscheinung ist die gleiche, wenn auch der Gottheit die Vollkommenheit und die Unvergänglichkeit vorbehalten bleibt. Sie wissen und vermögen zwar unvergleichlich viel mehr als die Menschen, aber die Neigungen und Leidenschaften teilen sie doch mit ihnen. Selbst das Leiden ist ihnen nicht ganz erspart« (ebenda, S. 168).

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tonische Definition angewendet werden. Wie würde es damit aussehen, wenn die Struktur dieser Definition auf die Bestimmung des Menschen übertragen würde? In diesem Fall wäre folgende etwaige Umformulierung denkbar: »Der Mensch ist ein sterbliches und hinsichtlich seines Glückes nicht-selbständiges Tier«. Es erscheint klar, dass die Pseudo-Platonische Definition des Gottes durch ein derartiges Umkehrungsspiel auch über den Menschen Aufschluss gibt: Der Mensch stirbt und bedarf für sein Glück – für seine eu-daimonia, zur Verwirklichung seines Wesens, zur Ausübung seiner dynamis – etwas Anderes. Da der Mensch nicht selbstständig ist, verhält er sich wie ein Teil der Natur, der zur eigenen Konstitution anderer Teile bedarf. Eine solche Mensch-Gott-Gegenüberstellung ist somit im Rahmen einer Studie zur Gemeinschaft aus mindestens zwei Gründen wichtig: Auf der einen Seite präpariert sie den Boden für eine Überlegung zum Wesen des Menschen als ein Teil innerhalb eines Ganzen heraus; als ein einzelnes Individuum, das »pros eudaimonian« nichtselbständig und in einem organischen Ganzen angesiedelt ist, in dem jeder Teil zur eigenen Selbstkonstitution auf die anderen Teile angewiesen ist, und zwar auf ähnliche Art und Weise, wie die Hand eines lebendigen Organismus auf dessen Arm sowie seine Teile, die Muskeln, Gewebe und Blutgefäße angewiesen ist. Auf der anderen Seite hat diese Idee auch eine politisch-philosophische Tragweite: Sie kehrt in Aristoteles’ Politik wieder, im ersten systematischen Traktat der westlichen politischen Philosophie, in dem auch die Ursprünglichkeit des Ganzen gegenüber dem Teil hervorgehoben wird. Sollte das »Ganze« bspw. eine staatliche Gemeinschaft sein, die aus weiteren »Teilen« sprich: kleineren Gemeinschaften wie den Dörfern, den Haushalten und schließlich den Einzelnen zusammengesetzt ist, würde es sich folgendermaßen verhalten: Auch von Natur ursprünglicher aber ist der Staat als das Haus und jeder einzelne von uns. Denn das Ganze ist notwendig ursprünglicher als der Teil, weil ja, wenn der ganze Leib dahin ist, auch nicht mehr Fuß oder Hand existiert, außer dem Namen nach, gerade wie man auch eine steinerne Hand noch Hand nennt. Jedes Ding wird nämlich durch seine besonderen Fähigkeiten (érgon) und Möglichkeiten (dýnamis) bestimmt; und wenn es diese nicht mehr besitzt, so ist es nicht mehr dasselbe Ding, und es sollte nicht mehr als dasselbe Ding bezeichnet werden, es sei denn im Sinne bloßer Namensgleichheit. Daß also der Staat von Natur besteht und ursprünglicher als der Einzelne ist, ist klar. Denn wenn aber eben jeder einzelne für

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sich nicht sich selber genügend ist, so verhält er sich zum Staat gerade so wie die Teile eines anderen Ganzen zu diesem letzteren; wenn er aber andererseits überhaupt nicht an einer Gemeinschaft sich zu beteiligen vermag oder dessen durchaus nicht bedarf wegen seiner Selbstgenügsamkeit, so ist er freilich kein Teil des Staates, aber eben damit entweder ein Tier oder aber ein Gott. 7

Das Aristotelische Zitat ist zentral und für diese Studie wegbereitend. Zunächst soll noch einmal etwas pedantisch auf das Diktum Augenmerk gelegt werden: Die deutsche Übersetzung »Staat« könnte trotz ihrer augenscheinlichen Neutralität irreführend sein, denn Aristoteles spricht hier nicht von »Gesellschaft« (ein Begriff, der viel später entstand), sondern von der Polis, vom griechischen Stadtstaat, der an weiteren Stellen der Politik als politikē´ koinōnía bezeichnet wird: Politische Gemeinschaft. 8 Es ist somit von »Gemeinschaft« und nicht »Gesellschaft« die Rede; diese letztere, wie in den folgenden Ausführungen deutlich sein wird, wird dem Begriff der Gemeinschaft eher entschieden entgegengestellt. Diese politische Gemeinschaft – wie jede Art von Gemeinschaft, so Aristoteles – besteht von Natur aus. Der Bezug auf das Leben und auf die Natur kehrt vehement wieder. Gemeinschaft ist in dieser Hinsicht weder ein gesellschaftliches »Konstrukt« noch ein kultureller, konstruktivistisch geprägter Überbau, noch ein extrinsischer, sozialer »Pakt«. Sie ist vielmehr ein ursprüngliches, natürliches Faktum. Und ebenso natürlich ist das Wesen desjenigen Teils, der im Zusammenhang mit anderen Teilen die Aristotelische Gemeinschaft ausmacht: Der Mensch als politisches Tier, ein ζῷον: »Hiernach ist es klar, daß der Staat zu den naturgemäßen Gebilden gehört und daß der Mensch von Natur ein politisches Lebewesen (zôon politikón) ist«. 9 Ähnlich wie der Gott, welcher bei Platon ein Tier ist, gehört auch der Mensch der zōē´ an. Der Verweis auf die Natur und das Leben, welches Götter und Menschen in ihren jeweiligen grundlegenden Gemeinsamkeiten und gewaltigen Unterschieden vereint, taucht wieder auf. Es ist aber ein komplexeres Verhältnis, als man denken würde – weshalb auch die Tragweite der allberühmten Definition des Menschen als zôon politikón übersehen und oft auf ein abgedroschen-erbauliches »Sozialwesen« des Menschen verflacht wird. Das Gott7 8 9

Aristoteles: Politik, 1253a 19–28, Hamburg: Rowohlt, 1994, S. 47–48. Vgl. ebenda, 1252a. Ebenda, 1253a, S. 46–47.

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Tier-Mensch-Verhältnis innerhalb der Natur und desjenigen natürlichen Gebildes, das die Gemeinschaft ist, ist allem Anschein nach hendiadyonisch. Es sieht nämlich so aus, als wären Götter und Menschen zunächst gleich (beide sind Tiere) und würden sich doch in zweiter Instanz durch zwei hinzugesetzte, unterschiedliche bzw. fast gegenteilige Eigenschaften voneinander abgrenzen (die einen sind selbständige, die anderen politische Tiere). Wie in diesem Buch ersichtlich wird, ist eine solche Logik des Hendiadyoins eine tragende Querschnittfolie der Überlegungen und Analysen des Gemeinschaftsbegriffs. An dieser einleitenden Stelle gilt es aber zunächst, den weiteren, von Aristoteles eingeführten und jedoch gegenüber der Definition des Pseudo-Platons kongruenten, wichtigen Unterschied zwischen Gott und Menschen ins Auge zu fassen: Wer nicht in der ursprünglichen Gemeinschaft lebt und dementsprechend auf die weiteren Teile der Gemeinschaft nicht angewiesenen ist, der ist wohl ein nichtmenschliches Lebewesen, also ein Tier oder ein Gott. Dies stellt eine Bestätigung e contrario des Pseudo-Platonischen Ansatzes der oben zitierten Definitionen dar. Darüber hinaus drängt sich hierdurch die erste These auf, die in diesem Buch eine folgerichtige Präzisierung, Untermauerung und teilweise auch In-Frage-Stellung erfahren soll: Gemeinschaft ist ein ontologisch Ursprüngliches, nimmt verschiedene Formen an – wie bei Aristoteles’ Politik: Die Haushaltsgemeinschaft, die Dorfgemeinschaft, die politische Gemeinschaft – und betrifft keine autarkischen Götter oder Tiere, sondern hinsichtlich des Glücks nicht-selbstständige Menschen, die zur Entfaltung und Verwirklichung ihres potenziellen Wesens – was auch immer ihr Wesen ist, und einige Indizien dafür werden die nächsten Seiten anbieten – anderer Menschen und Gemeinschaftsformen bedürfen. Soweit ist aber noch nicht viel zum Wesen der Gemeinschaft gesagt. Auch wenn man den Blick auf den Nexus Gemeinschaft/Unselbstständigkeit des Menschen einschränkt, wird die Art dieses Verhältnisses noch lange nicht geklärt. Diese Problematik lässt sich zunächst relativ grob in einigen ersten Fragen zusammenfassen, z. B.: Wonach bedarf der bedürftige Mensch in der Gemeinschaft? Oder: Soll der Mensch unweigerlich in Gemeinschaften leben, weil er ein naturkonstitutives »Mängelwesen« ist, oder wurde er erst zum Mängelwesen, nachdem er angefangen hat, in Gemeinschaften zu leben – sprich: sich den anderen »Teilen« auszusetzen? Oder aber, mit anderen Worten: Ist die Angewiesenheit, die fehlende Autarkie des Men22 https://doi.org/10.5771/9783495820704 .

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schen eine Ursache oder eine Folge der Gemeinschaft? Der Kausalzusammenhang zwischen Gemeinschaft und Bedürftigkeit bleibt weithin ungeklärt. Aber in viel wesentlicherer Hinsicht stellt diese Arbeit die Frage – und zwar ausgehend von der Überzeugung einer »Ursprünglichkeit« der Gemeinschaft, die somit eine Hintergrundnotwendigkeit für den Menschen darstellt –, ob der gemeinschaftliche Teil-GanzesZusammenhang doch nicht ein äußerst Komplexes sei. Wenn man dieses letztere Wort erst nimmt, bedeutet »komplex« nicht, wie die meisten fälschlicherweise annehmen, »schwierig«, »nicht einfach«, »kompliziert« usw., sondern grundsätzlich »verflochten«. Komplex ist vom lateinischen CUM-PLÈCTO, »mit-flechten«, »mit-knüpfen«, »mit-spinnen« abgeleitet. Eine komplexe Sache ist aus mehreren Teilen zusammengesetzt, die derart ineinander verwoben sind, dass sie vom vielseitigen, vielschichtigen, sozusagen cum-plexen Ganzen nicht abgetrennt werden können, ohne dass das Ganze dadurch beeinträchtigt wird. Eine leitende Hypothese dieser Arbeit besteht darin, dass »Gemeinschaft« eine solche komplexe, »verwobene« Angelegenheit ist. Es kommt nun darauf an, die wesentlichen Teile und die Verflochtenheitsstrukturen und -modalitäten dieser komplexen Angelegenheit herauszuarbeiten und aufzuzeigen.

III Dreh- und Angelpunkt des vorliegenden Buches ist somit der Gemeinschaftsbegriff und das Gemeinschaftsstiftende. Es ist kein Zufall, dass der Titel des Buches »Gemeinschaften« im Plural lautet. Es gibt nämlich zahlreiche – historisch qualifizierte, mögliche und reale, utopische, abgelehnte und nie erreichte, funktionale und kritikwürdige, fruchtbare und schädliche usw. usf. – Gemeinschaftsformen. Nicht jede davon ist allerdings Gegenstand dieses Buches, welches somit nicht im Geringsten so etwas wie ein enzyklopädisches »Sammelsurium« der Gemeinschaftsformen bereitstellen möchte. Vielmehr wird dabei auf die vielschattierte Logik des Gemeinschaftlichen insistiert, die dann aber selbstverständlich auch konkrete, hierbei zu analysierende Gemeinschaftsformen produziert: »Gemeinschaft« ist nämlich, wie im Folgenden deutlich werden wird, ein produktiver Begriff. »Gemeinschaft« ist jedoch auch ein aus mehreren Gründen pro23 https://doi.org/10.5771/9783495820704 .

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blematischer Begriff. Zunächst lässt sich der Begriff schwer einfangen, denn oft gleiten Thematisierungen der Gemeinschaft (wie auch in diesem Buch gezeigt wird) in Analysen der Gesellschaftsformen; »Gemeinschaft« tendiert dazu, von »Gesellschaft« ersetzt und abgelöst zu werden, sodass Bauman behaupten konnte, dass diejenigen, »die heute nach einer Gemeinschaft suchen, zum Los des Tantalus verdammt [sind]: Ihr Ziel wird sich ihnen auf ewig entziehen, und es ist gerade ihr leidenschaftliches Verlangen, das sein Zurückweichen herbeiführt«. 10 Außerdem ist es nicht klar, inwiefern es sich bei »Gemeinschaft« um einen positiven oder gar negativen Begriff handelt: Gemeinschaft ist ein schillernder und mächtiger Begriff […] Auffallend ist dabei, dass die normative Konnotation trotz der immensen Vielschichtigkeit der Verwendungsweisen zumeist positiv ist: Gemeinschaft gilt dem Alltagsbewusstsein als bejahenswerte Instanz, der Begriff ist aufgeladen mit emotionalen Metaphern, die Wärme, Geborgenheit, Liebe, Freundschaft und Vertrautheit symbolisieren […] In wissenschaftlichen Diskursen ist dies erwartungsgemäß nicht immer der Fall. Letztlich ist es jedoch gerade die ambivalente Rolle von Gemeinschaft, welche die zeitgenössische Faszination und Relevanz eines Denkens und einer Politik der Gemeinschaft ausmacht. […] Andererseits sind die Vorbehalte gegen ein naives Denken der Gemeinschaft spätestens seit den 1930er Jahren beinahe ebenso ausgeprägt: Gemeinschaft gilt zumindest im deutschen Kontext immer auch als potentiell gefährlich, totalitär und gewaltsam. 11

Gemeinschaft ist von positiv über ambivalent bis hin zu totalitär und gewaltsam. Es ist ein »schillernder Begriff«, dessen Bedeutungsspektrum sehr breit und manchmal opak – wenn nicht sogar trüb – ist. Ein weiteres Problem besteht darin, dass der Bedeutungsspiegel dieses Wortes oft auch verschwommen ist, und zwar durch Interferenzen von unterschiedlichen, mächtigen Denkparadigmen, die den Begriff vereinnahmen und in ideologische Richtungen lenken. »Gemeinschaft« ist aus diesem Grund häufig dazu verurteilt, ein nicht-neutrales Wort zu sein; es ist oft historisch-nationalistisch und religiös überladen und vertritt somit einen schwierig handhabbaren Begriff.

Zygmunt Bauman: Gemeinschaften. Auf der Suche nach Sicherheit in einer bedrohlichen Welt, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2017, S. 25. 11 Hartmut Rosa u. a.: Theorien der Gemeinschaft. Zur Einführung, Hamburg: Junius Verlag, 2010, S. 9–10. Auf Rosa 2010 ist u. a. zu einer Einführung und Systematik der Gemeinschaftsbegriffe zu verweisen. 10

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Zu den stärksten Begriffsinterferenzen und -verschiebungen zählt durchaus die religiöse Prägung: Von mehreren Seiten sah ich von dem Gebrauch des Wortes ›Gemeinschaft‹ Gefahren ausgehen: Unweigerlich klingt es von Substanz und Innerlichkeit erfüllt, ja aufgebläht; recht unvermeidlich hat es eine christliche Referenz (geistige oder brüderliche, kommunielle Gemeinschaft) oder eine im weiteren Sinne religiöse (jüdische Gemeinschaft, Gemeinschaft des Gebets, Gemeinschaft der Gläubigen – ’umma); es wird zur Bekräftigung vorgeblicher ›Ethnizitäten‹ verwendet – alles dies konnte nur Warnung sein. 12

Im engen Zusammenhang mit der »christlichen Referenz« steht ein weiterer problematischer Aspekt der Gemeinschaft, und zwar eine gewisse futuristisch-teleologische Bedeutung: Ja, das Gemeinwohl und die Idee der Gemeinschaft sind der Idee der Menschheit konsubstantiell. Doch wie uns die Geschichte zeigt, existieren beide nur im Zustand des Ideals und Projekts. […] Die Gemeinschaft als Verwirklichung des Gemeinwohls kann nur ein provisorischer und stets unfertiger Endpunkt sein. 13

Gemeinschaft hat insofern nur Sinn, als sie ein nicht-abgeschlossenes, immer zukunftsorientiertes Projekt oder eine Idee, ein Plan, ein »Entwurf des Mit-Seins« ist. Ein weiterer Grundzug des Gemeinschaftsbegriffs besteht außerdem darin – und dies wird im Folgenden besonders hervorgehoben – dass er ein regelrecht sozialontologischer Begriff ist, denn dieser betrifft im Wesentlichen Strukturen, die sich noch diesseits der konkreten politischen Formen und Gebilde des Politischen befinden – also präpolitische Strukturen: Der Gemeinschaftsbegriff wird […] in die Nähe einer basalen Sozialität gerückt, welche als unterschwellige Textur die gesamte Menschheit umfasst (mitunter sogar die Natur und die Gegenstände), ohne dass damit bereits die Idee gemeinsamer Werte, Traditionen, Sprache, freundschaftlicher Gefühle oder koordinierten Handelns verbunden wäre. Mit Gemeinschaft ist in diesem Zusammenhang eine ursprüngliche, vorgängige und unhintergehbare Form des ›Mit-seins‹ (Heidegger) gemeint, an der jeder Mensch notwendig und automatisch teilhat. 14 Jean-Luc Nancy: Die herausgeforderte Gemeinschaft, Zürich: Diaphanes, 2007, S. 30–31. 13 Marc Augé: Die illusorische Gemeinschaft, Berlin: Matthes & Seitz, 2015, S. 28– 30. 14 Rosa 2010, S. 21–22. 12

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Aus all diesen Gründen soll der Versuch unternommen werden, sich eine ausbalancierte, von heterogenen Einflüssen losgelöste Interpretation des Wortes anzueignen, denn Gemeinschaft zählt, zusammen mit zahlreichen ihrer benachbarten Begriffen, höchstwahrscheinlich zu den Grundwörtern des menschlichen Daseins. Solche theoretischen Aspekte und einige damit verbundene Widersprüche und Schwierigkeiten, die in dieser Einleitung nur angerissen werden können, lassen sich an einem trivialen Beispiel kurz erproben. Stellen wir uns eine beliebige, einfache Gemeinschaftsform vor (in diesem Buch wird oft auf lebensnahe Beispiele rekurriert). Ich könnte einen Lesekreis unter Freunden veranstalten. Es soll James Joyce’ Ulysses zusammen gelesen werden. Ich lade einige interessierte Freunde dazu ein, sich mittwochabends bei mir zu Hause zu treffen – ich werde als Veranstalter des Lesekreises einen Abschnitt aus dem Ulysses vorlesen, die weiteren Teilnehmenden werden erst einmal zuhören und anschließend mit mir den Text zusammen kommentieren – bis wir alle, vielleicht nach einem Jahr, das Buch fertiggelesen haben werden. Bereits dieses triviale Beispiel beinhaltet bezüglich der Klärung der Frage, was eine Gemeinschaft sei, recht viel Problematisches: –





Gemeinschaft erfordert Subjekte derselben: Individuen, die dazu bereit sind, den Ulysses zu lesen. Diese Subjekte sind zufällig auch meine Freunde – sie gehören somit einer weiteren Gemeinschaft an, nämlich meinem Freundeskreis –, welche aber innerhalb der Gemeinschaft einen weiteren Status oder eine weitere Eigenschaft annehmen, »Lesekreis-Teilnehmende«. Andere Freunde von mir besitzen diese Eigenschaft nicht – sie sind bspw. an Literatur nicht interessiert – und werden aufgrund dieses Umstands aus der Ulysses-Gemeinschaft ausgeschlossen. Gemeinschaft schließt anhand von Eigenschaften ein und aus. Gemeinschaft erfordert ein Gut der Teilnahme, was im vorliegenden Fall primär das Buch ist – eine Ulysses-Ausgabe. Diese soll zur Realisierung des Lesekreises durch ökonomische Mittel ergattert und eingesetzt werden, darf weder an Dritte weitergegeben noch beschädigt werden usw. Gemeinschaft erfordert ein Projekt: Wir lesen nicht nach Lust und Laune darauf los, sondern zu dem konkreten Zweck, den Ulysses regelmäßig und vollständig zu lesen und ausgiebig zu kommentieren – dieser telos hält die Gemeinschaft aufrecht.

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Gemeinschaft erfordert Regeln, »Praktiken des Kollektivs«, und zwar zahlreiche und disparate Vorgaben, z. B.: Einhaltung des vereinbarten Termins, Bereitschaft zum Zuhören, Respekt für die Diskussionsregeln und die Gesprächspartner, verbindliche Verhaltensregeln wie z. B. Ausschaltung des eigenen Handys während der Lesung, Rauchverbot usw. usf.

Ausgemacht scheint die Gemeinschaft durch diese und noch weitere Kriterien, die vielleicht als nicht hinreichende, jedoch notwendige Bedingungen zur Konstitution unserer »Gemeinschaft« eingeordnet werden könnten – wir müssen schließlich auch über eine Wohnung verfügen, welche zu anderen Zwecken (bspw. Verkauf der UlyssesAusgaben) nicht geeignet wäre; und wir brauchen zum Lesen eine Couch, Strom, Heizung, kurz gesagt Güter, die nach den sozialökonomischen Kriterien der Gesellschaft, und nicht irgendeiner »Gemeinschaft«, genutzt werden. Von daher die Frage: Wie viele Kriterien bestimmen das Phänomen Gemeinschaft? Und: Welche Kriterien sind rein gemeinschaftlich, ohne dass sie in gesellschaftsnormierte Strukturen wie etwa den »Besitz eines Gutes« hinübergleiten? Dieser Umstand kann auch nun in wissenschaftlicher Weise formuliert werden: Welches Verhältnis besteht zwischen den unterschiedlichen Typen von Gemeinschaften, in die (moderne) Menschen eingebettet sind? Worin bestehen die substanziellen Schnittmengen zwischen politischer Gemeinschaft, Glaubensgemeinschaft, Tippgemeinschaft und Familiengemeinschaft? Formal betrachtet lassen sich mindestens drei Kriterien identifizieren, die für alle diese Gemeinschaftsformen eine Rolle spielen: 1. ein gemeinsames Gut wie z. B. Tradition, Erinnerung, Sprache, Territorium, Besitz oder Gefühle; 2. eine implizit oder explizit definierte Reichweite der Mitgliedschaft, z. B. ein Freundeskreis, die Menschheit oder die Nutzer einer gemeinsamen Wohneinheit; und 3. das normative und oft auch rechtliche Verhältnis von Individuum und Gemeinschaft, also der Freiheits-, Integrations- bzw. Unterordnungsgrad der Einzelnen im Hinblick auf die Regeln und Praktiken des Kollektivs. 15

Wie im Folgenden gezeigt wird, sind solche aufgelistete Kriterien der Gemeinschaft nicht nur extrem unzulänglich, sondern sie erweisen sich in zahlreichen gemeinschaftlichen Konstellationen sogar als reduktiv, widersprüchlich, ideologisch, unfruchtbar und schließlich 15

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falsch. Falsch könnte im Prinzip auch die Idee sein – dies soll aber im Folgenden einer eingehenden Prüfung unterzogen werden –, dass zur Gemeinschaftskonstitution überhaupt Kriterien erforderlich oder notwendig sind. Genauer besehen ist auch unser Ulysses-Lesekreis ziemlich suspekt: Obwohl dieses Beispiel die oben genannten Kriterien der Gemeinschaft völlig erfüllt, scheint dieser Lesekreis eher in eine normierte Gesellschaftsform abzudriften. Und wenn man nun auf den Sprachgebrauch die Aufmerksamkeit richten würde, würde es gleich ins Auge bzw. ins Ohr stechen, dass zu einem derart geschilderten Lesekreis sich nicht so sehr die Definition von »UlyssesGemeinschaft«, sondern »Ulysses-Gesellschaft« eignen würde. Deshalb könnte man die Frage stellen: Wieso hört sich »Ulysses-Gesellschaft« aus irgendeinem Grund besser an? Aber selbst wenn man dem Ausdruck »Ulysses-Gemeinschaft« sprachliche Glaubwürdigkeit zuerkennen würde, ist es klar, dass »Gemeinschaft« in dieser Hinsicht subjekt-, gut-, projekt- und eigenschaftsbezogen zu sein scheint und deshalb labile Grenzen zur »Gesellschaft« aufweist. Dies alles schafft bezüglich eines Verständnisses der Gemeinschaft problematische Knotenpunkte, die in diesem Buch ausführlich aufgegriffen werden. Es wird sich zeigen, dass ein solcher Prototyp der Gemeinschaft, wie am Beispiel der Ulysses-Gemeinschaft, extrem unzulänglich und reduktiv ist, nicht zuletzt, weil solche Paradigmen des Gemeinsamen doch auf hochgradig widersprüchliche Art und Weise auf das Prinzip des Eigenen zurückfallen – Gemeinschaft findet in meiner eigenen Wohnung statt, erfordert Eigentumsgegenstände, verleiht den Teilnehmenden einen eigenen Status – wobei nicht klar ist, ob dieser Status eigen oder gemeinsam ist (unter den Teilnehmenden ist der Status gemeinsam, im Verhältnis zu meinen anderen Freunden eigen – und gegenüber anderen Menschen ausschließend). Über solch klassische Prototypen der Gemeinschaft hat sich auch Roberto Esposito unter besonderem Bezug auf die proprium-Problematik kritisch geäußert: In Wahrheit vereint all diese Konzeptionen die unreflektierte Voraussetzung, dass die Gemeinschaft eine ›Eigenschaft‹ [proprietà] der in ihr zusammengeführten Subjekte sei: ein Attribut, eine Bestimmung, ein Prädikat, das sie als ein und derselben Gesamtheit zugehörig auszeichnet. Oder auch eine durch ihre Union erzeugte ›Substanz‹. In jedem Fall wird sie als eine Qualität begriffen, die zu ihrer Natur als Subjekte hinzutritt und sie zu Subjekten auch von Gemeinschaft macht. Zu mehr Subjekten. Subjekte einer Wesenheit, die größer, höherstehend und gar besser ist als die einfache

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individuelle Identität – die aber dennoch in jener entspringt und letztendlich deren Spiegelbild ist. 16 […] Oder auch, in scheinbar anderer Terminologie, als ein Gut, ein Wert, eine Essenz, die – je nachdem – verlorengehen oder wiedergefunden werden kann, als etwas, das uns einst gehörte und uns eben deshalb einst wieder angehören können wird. Als ein Ursprung, dem nachzutrauern, oder als Geschick, das zu präfigurieren wäre – in jener vollendeten Symmetrie, die arche und telos miteinander verbindet. In jedem Fall aber als unser ›Eigen(tlich)stes‹ [più proprio]. Ob es gilt, uns unser Gemeinsames zu eigen zu machen (wie für Kommunismen und Kommunitarismen), oder aber, unser Eigenes zu kommunizieren (wie für die Diskursethiken), kommt auf dasselbe heraus: die Gemeinschaft bleibt der Semantik der proprium doppelt verbunden. Man braucht dafür gar nicht zum postromantischen Manierismus der Gemeinschaft von Tönnies zurückzugehen, die der Gesellschaft eben aufgrund der ursprünglichen Aneignung des eigenen Wesens entgegengesetzt ist. Es genügt schon ein Hinweis auf die nüchternere, bereits weitgehend säkularisierte Gemeinschaft Max Webers, um, wenngleich entnaturalisiert, genau dieselbe Figur des Zugehörens hervortreten zu sehen. 17

All diese unreflektierten Voraussetzungen, u. a. auch die postromantisch-manieristischen klassischen Ansätze der Gemeinschaft, werden im Folgenden thematisiert, insbesondere im Kapitel über Aufteilung. Auch das proprium als Prinzip der Gemeinschaft verdient eine ausführlichere Analyse – vgl. bspw. Kapitel Teil und Spielbeteiligung. Die soll aber zunächst dahingestellt bleiben, denn es kommt nun darauf an, den theoretischen Kern dieses Buches einleitend zu streifen.

IV Gemeinschaft ist com-munitas – die Teilung (cum–) des munus. Aber die entscheidende Frage ist, was munus bedeutet bzw. was genau in der Gemeinschaft geteilt wird – und folglich wie, wann, von wem und warum. Die Heterogenität der Gemeinschaftsansätze und -bilder ist somit von der Fülle der Interpretationsmöglichkeiten abhängig, die dieses enigmatische Wort auslöst. Die Bestimmung des munus, die das Anliegen dieser Studie ist, ist eine große Herausforderung der Philosophie und Sprachkritik. BeRoberto Esposito: Communitas. Ursprung und Wege der Gemeinschaft, Zürich: Diaphanes, 2004, S. 8. 17 Ebenda, S. 9–10. 16

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reits Roberto Esposito hat darauf hingewiesen, dass ein Verständnis der Gemeinschaft ein genaueres Verständnis derjenigen Dimension voraussetzt, die der munus ist – sowie umgekehrt viele Missverständnisse der Gemeinschaft von einer reduktiven oder missverstehenden Auslegung des munus verursacht werden: Die allererste Bedeutung nämlich, die die Wörterbücher dem Substantiv communitas – und dem entsprechenden Adjektiv communis – zuschreiben, ist jene, die ihren Sinn aus dem Gegensatz zum ›Eigenen‹ bezieht. In allen neulateinischen Sprachen, aber nicht nur in diesen, ist ›gemein‹ (commun, comun, common, kommun) dasjenige, was nicht eigen ist; das beginnt, wo das Eigene aufhört: Quod comune cum alio est desinit esse proprium (Quint. Inst., 7, 3, 24). Es ist dasjenige, was zu mehr als einem, zu vielen, zu allen gehört – und folglich ›öffentlich‹ im Gegensatz zu ›privat‹ ist, oder ›allgemein‹ (aber auch ›kollektiv‹) im Gegensatz zu ›partikular‹. Zu dieser ersten, kanonischen Bedeutung, die auch schon im griechischen koinos zu finden ist – aber auch im gotischen gemein und in seinen Ableitungen Gemeinde, Gemeinschaft, Vergemeinschaftung – tritt jedoch eine weitere, die sich weniger von selbst versteht, weil sie die größere semantische Komplexität eben des Begriffes in sich greift, von dem sie abstammt: munus (archaisch moinus, moenus), das sich zusammensetzt aus der Wurzel *meiund dem Suffix -nes, das eine ›soziale‹ Qualität anzeigt. Dieser Terminus oszilliert in der Tat seinerseits zwischen drei untereinander nicht völlig einheitlichen Bedeutungen, welche die anfängliche Juxtaposition ›öffentlich/ privat‹ – munus dicitur tum de privatis, tum de publicis – ins Abseits zu drängen oder jedenfalls an Relevanz zu mindern scheinen, um dafür ein anderes begriffliches Feld in den Vordergrund zu rücken, das sich insgesamt auf den Begriff der ›Pflicht‹ bzw. des ››Schuldens‹‹ rückführen lässt. Diese Bedeutungen sind onus, officium und donum (Paul. Dig., 50.16.18). Nun verhält es sich so, dass für die ersten beiden Bedeutungen der ›Pflicht‹ – und daher von ›Verpflichtung‹, ›Aufgabe‹, ›Amt‹, ›Posten‹, ›Stellung‹ – unmittelbar einsichtig erscheint, dies für die dritte aber auf den ersten Blick problematisch vorkommt. In welcher Hinsicht sollte eine Gabe eine Pflicht sein? Bestimmt sie sich nicht im Gegenteil als etwas Spontanes und somit eminent Fakultatives? 18

Kommun ist immer eine bestimmte Interpretation – und eine damit zusammenhängende Lebensweise – des munus, die jeglichem Gemeinschaftsbegriff zugrundeliegt. Dieser munus ist immer und in Abhängigkeit von der Gemeinschaftsfigur, die er ausmacht, unterschiedlich. Esposito verfolgt in seiner Studie Communitas diesen 18

Ebenda, S. 11–12.

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dritten semantischen Weg und eruiert einige Sinndimensionen des munus. In diese Richtung versucht er auch die Idee der Zugehörigkeit zu untergraben: Gemeinschaft ist ihm zufolge »weder ein Eigen-tum noch eine Zugehörigkeit. Es ist kein Haben, sondern im Gegenteil eine Schuld, ein Pfand, eine zu-gebende Gabe«. 19 Dies ist jedoch noch ein relativer, partieller Weg, auf dem die com-munitas sich bspw. an einem schattierten Verständnis der (Auf)Gabe orientiert, wie u. a. im Kapitel über Erteilung gezeigt wird. In diesem Buch soll auch ein wesentlicher Schritt über Espositos Theoretisierung hinaus gemacht werden, denn der munus erweist sich in dieser Studie als ein viel komplexerer semantischer, sprachlogischer und dementsprechend sozialontologischer Generator, der viel mehr Facetten und Gemeinschaftsauffächerungen erzeugt – in unserer Studie werden etwa zwanzig munus-Grundvarianten thematisiert, die jeweils weitere Unterparadigmen von Gemeinschaft generieren.

V Philosophisch-politische Ansätze über die »Gemeinschaft« sowie historisch-traditionelle Bestimmungen der koinonia und der communitas definieren »Gemeinschaft« in der Abgrenzung zur »Gesellschaft« und orientieren sich zugleich stark am Begriff der Teilnahme und des Gemeinsam-Habens. So verhält es sich auch bei der ersten soziologischen Theoretisierung von Gemeinschaft, der zufolge »gemeinschaftliches Leben gegenseitiger Besitz und Genuß gemeinsamer Güter [ist]«. 20 Die Idee der Teilnahme setzt somit traditionellerweise einen gemeinsamen Gegenstand voraus, an dem man in der Gemeinschaft teilhat; dies ist der vieldeutige munus des lateinischen Begriffs communitas. Es reicht aber ein kurzer Blick in ein lateinisches Lexikon, um festzustellen, dass der munus der communitas sich nicht auf »ein gemeinsames Gut wie z. B. Tradition, Erinnerung, Sprache, Territorium, Besitz oder Gefühle« 21 beschränkt. Bereits ein einfaches SchulEbenda, S. 16. Ferdinand Tönnies: Gemeinschaft und Gesellschaft, Darmstadt: WBG, 2010, § 11, S. 20. 21 Rosa 2010, S. 176. 19 20

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Vorwort

wörterbuch Lateinisch-Deutsch – das somit keinen Anspruch auf Vollständigkeit oder wissenschaftliche Originalität hat – weist auf ein extrem breites Bedeutungsspektrum dieses Wortes hin: mūnŭs: I. a) 1. Obliegenheit, Aufgabe, Pflicht, Beruf, Amt, Dienst b) Leistung, Abgabe; 2. a) Gefälligkeit, Gnade; b) letzter Liebesdienst, Bestattung; 3. a) Geschenk; b) Opfer(gabe); c) Spende e-s- Beamten an das Volk = (Fest-, Schau)Spiele; 4. a) Theater; b) Kosmos. mūnŭs, ĕrĭs n (cf. mūnĭ) 1. a) Obliegenheit, Aufgabe, Pflicht, Beruf, Amt, Dienst, Verrichtung, Posten, Stelle (alcis, zB. servorum Sklavendienst, regis, civium, bestiae Bestimmung, legationis Gesandschaftsposten, vitae, militiae, od. militare Kriegsdienst, munera rei publicae politischer Wirkungskreis; exsequi u. explere, munere fungi versehen, munere vacare vom Kriegsdienst frei sein; alcis est es ist j-s Aufgabe od. Bestimmung, m. inf. od. ut); b) Leistung, Last, Abgabe [ alci imponere, auferlegen, liber ab omni munere, alci remittere]. 2. a) Gefälligkeit, Gunsterweiterung, Gnade [° tui muneris sum ein Werk deiner Gnade, munere fungi; bsd. ° munere alcis reim. Hilfe od. vermittelst einer Sache, zB. noctis]; b) (dcht., nkl.) letzter Liebesdienst, Bestattung, auch pl. [extremum, sollemne]. 3. a) Geschenk, Gabe, Gratifikation, bsd. als pflichtmäßige Leistung od. zu einem bestimmten Zweck [° nuptiale, ° divinum; alci mittere, ° alci alqd muneri mittere zum Geschenk, ° alqm muneribus donare od. afficere; alcis j-s, zB. regis, ° Bacchi = Wein, ° Cereris = Brot, ° Veneris = Schönheit, ° maris = Perlen, Purpur; auch /, zB. opusculum vigiliarum Frucht; alcis rei an etw., zB. pecuniae]; b) (dcht.) Opfergabe, Opfer [munera templis ferre]; bsd. ° Totenopfer: c) Spende eines Beamten (bsd. der Ädilen) an das Volk: Festspiel, öffentliches Schauspiel, meist pl. [aedificium, gladiatorium; dare u. edere]. 4. a) (dcht. nkl.) Festspielhaus, bsd. Theater; b) / Prachtbau des Weltalls [architectus tanti muneris]. 22

Viele der obigen Bedeutungen des munus und noch weitere, die in diesem Wörterbucheintrag nicht vorkommen, spielen in diesem Buch eine große Rolle. Ebenso aufmerksam werden in dieser Studie auch die Lebensbereiche mit einbezogen, aus denen die munus-Definitionen entstammen. Es wird hierbei somit gewagt, das Problem der Polysemie des munus insofern zu klären, als diese (durch Sprach- und Kulturüberschneidungen, semantische Reibungszonen, kulturologische Geflechte im Spannungsfeld von unterschiedlichen Fach- und Lebensgebieten) in das anderweitige, ebenso breite, deutsche Semantikfeld der -teilung übertragen wird. Dadurch werden munus und die Langenscheidts Großes Schulwörterbuch – Lateinisch/Deutsch, Berlin/München: Langenscheidt, 1971, Stichwort mūnŭs, S. 770.

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Vorwort

entsprechenden Gemeinschaftsbegriffe ihre kommunitäre Bedeutung durch die Bildung derjenigen Sprachformen annehmen, die die Wurzel -teil und -teilung weiterentwickeln. Es wird hier alles Anderes als ein bloßes Sprachspiel getrieben: Wie gezeigt werden wird – und da die Sprache unsere Welt bildet –, konstituieren sich die Gemeinschaftsformen immer an einer logischen Struktur der -teilung heraus, die auch Lebensmodi – d. h. Interpretationen des Teils der Gemeinschaft – konkret bestimmt: Gemeinschaftliche Lebensformen, die immer auf unterschiedliche Art und Weise geteilt werden. Diese Sprach- und Lebenslogik soll entlarvt werden. Der Begriff des Gemeinsamen wird in seinen zahlreichen, komplexen und miteinander verflochtenen Bedeutungsfacetten erörtert werden. Im Zuge einer kritischen Text- und Sprachbegriffsanalyse wird gezeigt werden, dass der gemeinsame »Gegenstand« der Gemeinschaft, weit davon entfernt, ein bloßer »Sozialgegenstand« zu sein, ein vielschichtiges Phänomen ist, dem in der Denkgeschichte sowie in der Alltagssprache und -kultur zahlreiche Ausdifferenzierungen entsprechen. Die Komplexität des Gegenstands der Gemeinschaft wird durch die semantische Artikulation der präpositionalen Komposita des Grundwortes »-teilung« erörtert. Dabei handelt es sich um eine Teilnahmegemeinschaft, die sich bspw. als Auf- und Ver-Teilung der Güter, als Mit-Teilung der Kommunikation, als ErTeilung der Pflichten und Aufgaben, als Ein-Teilung der Rechte, als Beteiligung am Spiel, an der Zweiteilung des Eigen/Fremd usw. orientiert. Der Grundterminus -teilung gilt dabei als dynamischer semantischer Generator der Paradigmen der Gemeinschaft, die anhand der präpositionalen Differenzen und in Anknüpfung an konkrete sozialpolitische Manifestationen expliziert werden. Dies ist der Grund, warum das Buch den Titel »Gemeinschaft (en)« trägt, denn dieser Begriff ist nun offensichtlich im Plural zu deklinieren; und zwar nicht aufgrund der trivialen und selbstverständlichen Tatsache, dass es zahlreiche Gemeinschaften gibt (politische, religiöse, soziale, ethnisch-kulturelle, sprachliche); sondern in viel wesentlicherer Hinsicht deshalb, weil jede einzelne Gemeinschaftsform vielfältige Paradigmen des Gemeinsamen in sich birgt.

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Vorwort

VI Dieses Buch ist von einer zweifachen Auffassung der Philosophie durchdrungen, die auf schematische Art und Weise als epistemeund zugleich doxa-bezogene Idee bezeichnet werden kann. Dies bedeutet, dass diese Studie mit Theorien der Gemeinschaft arbeitet (mit klassischen, neueren und originellen theoretischen Ansätzen) und zugleich durch Rekurs auf Beispiele und Exemplifikationen mit Elementen und Problematiken aus der Lebenswelt im stetigen Dialog ist. Ziel dieser Arbeit ist eine neue Gemeinschaftstheorie aufzustellen, die es nicht verschmäht, sich als theoretisch (in erster Linie sprachtheoretisch) und zugleich praktisch-philosophisch zu präsentieren. Die im Buch präsentierte Gemeinschaft ist eben in dreifachem Sinne zu verstehen, in drei verschiedenen und doch miteinander verbundenen Perspektiven, wie diese von Hartmut Rosa auf den Punkt gebracht worden sind: Zunächst einmal ist es sinnvoll, begrifflich erstens zwischen einem alltäglichen Verständnis von ›Gemeinschaft‹ zu unterscheiden, wie es etwa bei der ›Fahrgemeinschaft‹ der Fall ist, wo nur das gemeinsame Handeln einer Gruppe von Menschen gemeint ist, und zweitens einem politisch-normativen Begriff von Gemeinschaft, der immer dann benutzt wird, wenn eine solche Gruppe als identitätsrelevant verstanden wird. Solche Konzepte liegen dort vor, wo an die Nation, die Glaubensgemeinschaft oder auch die Familiengemeinschaft appelliert wird. Davon wiederum ist drittens der sozialwissenschaftliche Begriff der Gemeinschaft als analytische Kategorie zu unterscheiden, mit dem eine spezifische Form der Vergesellschaftung gemeint ist, welche Solidarität stiftet, auf einem gemeinsamen Normhorizont basiert und häufig von Affekten begleitet wird. 23

Das Alltägliche, das Politisch-Normative und das Sozialwissenschaftliche treffen in dieser Studie aufeinander, und zwar am Ort des Lebens. Der Untertitel dieses Buches lautet »Figuren der Lebensteiligkeit«. Die tragende Idee besteht darin, dass kein Diskurs über Gemeinschaft sinnvoll sein kann, wenn dieser sich nicht aus Elementen des konkreten Lebens und seiner gefächerten Dimensionen speist. Die Lebensteiligkeit, um die es im Untertitel geht, ist somit zunächst als Vielfalt des zugeteilten Lebens und der Lebensbereiche zu intendieren. Das (biologische, soziale, kommunitäre, kulturelle, sprachliche) Leben des Menschen, seine »Teile« (d. h. die konkreten Lebens23

Rosa 2010, S. 174–175.

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Vorwort

formen und -dimensionen in der Gemeinschaftsbereichen) und schließlich der Mechanismus der Teiligkeit, d. h. der verschiedenen Prinzipien, die diese Teile in Zusammenhang miteinander bringen, werden hierbei als Figuren des Gemeinsamen zum Thema gemacht. Diesbezüglich könnte man möglicherweise die Aussage tätigen, dass das Logisch-Gemeinsame (munus/–teil/–teilung) und die konkreten Gemeinschaftsformen in einem ähnlichen Verhältnis wie die ahistorische Logik und die denkhistorischen Konkretionen stehen. Der Grund für die Schwierigkeit einer Gemeinschaftsdefinition liegt nicht so sehr an den konkreten Formen der Gemeinschaft, die ja getarnte, aufzuhellende Aspekte in sich tragen und als Formen des objektiven Geistes seitens der Theorie handhabbar sind, sondern vielmehr in der nicht immer eindeutig theoretisierbaren Logik der »Instanz des Gemeinsamen«, die bei vielen Ansätzen noch ein »Rätsel« mit »nicht verfügbare[m] Charakter« 24 bleibt. Die Klärung dieses »Charakters« ist Anliegen des vorliegenden Buches. Lebensteiligkeit bedeutet somit die Heterogenität der gemeinschaftlichen Lebensformen, welche doch eine ganz konkrete, dynamische Struktur aufweisen. Die Lebensteiligkeit, wie im Folgenden klar sein wird, ist eine Mehrteiligkeit. Damit ist kein bloßer Relativismus oder so etwas wie die Nebeneinanderreihung verschiedener Lebensformen gemeint, sondern ein Entfachungsprinzip (ein »Teiligkeitsprinzip«) des gemeinschaftlichen munus als einheitliches Gerüst der Gemeinschaftstheorien. Ein Gerüst, das auch in der Sprache – und somit im Denken – tief verankert ist und nur von einer regelrecht interphilosophischen Methode ans Licht gebracht werden kann. Es wird somit darauf abgezielt, ein Konstituens der Gemeinschaft zu bestimmen und dadurch ein regelrechtes »Theoriedefizit« 25 der Gemeinschaftsforschung zu begleichen: Überlegungen zum Gemeinschaftsbegriff gibt es viele, dezidierte Theorien der Gemeinschaft gibt es nur ganz wenige. […] Von der Liebes- zur Fahrund Wohngemeinschaft, von der ehelichen über die nachbarschaftliche bis hin zur Volks- und Schicksalsgemeinschaft – was ist das geteilte und konstitutive Moment in dieser losen Aneinanderreihung? Die Tatsachen der Ansammlung von Personen im Plural? Die Intensität von Beziehungen, die über die bloss instrumentelle Vereinigung einzelner Personen hinausgehen? Ein gemeinsamer Bezugspunkt im Sinne eines gemeinschaftlichen 24 25

Nancy 2007, S. 27. Rosa 2010, S. 11.

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Vorwort

Dritten? Eine geteilte Überzeugung, ein geteilter Besitz oder ein geteiltes Schicksal, wie es insbesondere in konservativen Szenerien oftmals imaginiert wird? Der Wortstamm der ›Gemeinschaft‹ verweist zweifellos auf ein solches ›Geteiltes‹, doch was hat es damit auf sich? 26

Dieses Defizit wird ergänzt durch eine Theorie der Gemeinschaft, die sich an einem sprachlich-pragmatischen, vielfältigen Prinzip des munus/-teilung orientiert.

VII Die vorliegende Studie ist durch eine gleichsam »polytheistische« Methode gekennzeichnet. Obwohl in erster Linie Ansätze aus philosophischen Texten im traditionellen Sinne (u. a. Platon, Aristoteles, Immanuel Kant, Max Weber, Aron Gurwitsch, Hannah Arendt, Ludwig Wittgenstein, Martin Heidegger, Giorgio Agamben usw.) und philosophischer Sekundärliteratur herangezogen werden, wird im Zusammenhang damit und in interdisziplinärer Hinsicht aber auch auf extra-philosophische Texte, bspw. aus der Populärkultur (Fabel, Lieder, Werbungstexte, Bilder, Passagen aus dem homerischen Mythos, der Heiligen Schrift, Sprichwörtern usw.) und weitere nichtphilosophische Quellen eingegangen. Die leitende Annahme dabei ist quasi »trans- und interphilosophisch«: Eine transphilosophische Methode, die sich als interkulturell (d. h. im Spannungsfeld von verschiedenen Kulturfundi) und transkulturell erweist, wo die Philosophie als Querschnittdisziplin fungiert. Aus diesem Grund werden auch nicht-philosophische Texte in der Hypothese behandelt, da sie bedeutsame und mit philosophischer Technik zu erschließende Gemeinschaftsparadigmen enthalten. Dadurch wird die Relevanz der philosophischen Logik innerhalb der Lebensweltformen zur Geltung gebracht. Ebenfalls rekurriert die Studie auf vielfältige Disziplinen wie Linguistik, Raumtheorie, Literatur, Mathematik, Kunstformen usw. Eine ideengeschichtliche Artikulation des Nexus »cum-munus«, also der -teilung-orientierten Sprachund Kulturgeflechte, wird sprachhermeneutisch herausgearbeitet. Dadurch ergeben sich höchst anregende philosophische Wege, die manchmal auch Irr- und Umwege sind und in den analysierten Sprachgeflechten Entsprechung finden – durch gezielte Analyse von 26

Ebenda.

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Vorwort

unterschiedlichen Ansätzen, die hierbei durch den roten Faden der teilungs-Auffächerungen vereint werden. Schließlich läuft die Studie auf die Herausarbeitung einer sprachpolitischen Dimension hinaus. Diese ist als Verflechtung des politischen und sozialontologischen Phänomens mit Grundstrukturen und -figuren der europäischen Sprache und Kultursprache zu verstehen. Es soll dabei ein neuer philosophischer Wortschatz des Gemeinschaftlichen rekonstruiert werden. Durch solche Streifzüge im transdisziplinären Spannungsfeld zwischen Philosophie(n) und anderweitigen Wissens- und Reflexionsbereichen, teilweise mit Anleihen bei extraphilosophischer und populärer Kultur, soll somit eine Logik des Gemeinschaftlichen gezeigt werden. Der sich oft entziehende Begriff der Gemeinschaft wird an konkreten Beispielen aus der Lebenswelt erprobt und gemessen werden. Das sind die »Figuren« der Lebensteiligkeit. Es könnte dabei auch von »Para-digmen« der Gemeinschaft die Rede sein, in dem Sinn, dass das schwer aufzugreifende Phänomen der Gemeinschaft an wortwörtlichen para-digmatischen, lebensweltlichen Bei-Spielen ermessen werden kann, die zum Vergleich wie Meterstäbe neben den zu messenden Gegenstand gelegt werden. Die Sprache, ihre Rolle bei der Konstitution der Denkparadigmen und ihre nicht immer offensichtliche, durch philosophische Arbeit ans Tageslicht zu bringende Logik wird stetig hinterfragt werden. Zum Schluss wird sich zeigen, dass der Gemeinschaftsbegriff und seine vielseitige Logik sich auch durch eine ausgeprägte Produktivität auszeichnen, denn es ist auch möglich, immer wieder neue Kriterien, Momente und Figuren der Gemeinschaft zu erhellen – teilweise auch zu schöpfen. Die hierbei präsentierte Gemeinschaftstheorie legt somit den Fokus auf grundlegende Mechanismen der Vergemeinschaftung 27 und vor allem auf die symbolischen, sprachlichen und kulturell-diskursiven Prozesse der Gemeinschaft. Auf diese Art und Weise wird versucht, einen Beitrag zum Verständnis dieses weit»In der Kritik und der Absetzung von Tönnies haben soziologische Theorien vielfach hervorgehoben, dass statt von Gemeinschaft sinnvoll vielmehr von Vergemeinschaftung gesprochen werden sollte. Ein eher substantielles Begriffsverständnis würde so von einem prozeduralen abgelöst. […] Die damit verbundenen Fragen stellen sich nochmals deutlicher, wenn man das konstruktivistische Argument ernst nimmt, dass Gemeinschaften nicht einfach da sind, sondern in komplexen kulturellen, diskursiven und symbolischen Prozessen erst als solche artikuliert und erzeugt werden« (ebenda, S. 66).

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Vorwort

umfassenden und unentbehrlichen menschlichen Phänomens zu leisten. Denn es wird sich zeigen, dass im Zentrum einer Theorie der Gemeinschaftsanalyse doch der Mensch und seine im Vergleich zu den Göttern Nicht-Selbständigkeit, in einem Wort: Das Menschliche, stehen.

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Erstes Kapitel: Teilung. Heideggers Kreide, oder: Was bedeutet es eigentlich, eine Pizza zu teilen?

§ 1. Selbigkeit, Gleichheit, Verschiedenheit Die Ausführungen über einen an Teilhabe orientierten und jedoch dieses Konzept problematisierenden Gemeinschaftsbegriff können mit dem Phänomen der »Teilung« beginnen. Da, wo eine philosophische Methode in der Regel ansetzt, nämlich in der Alltagssprache, ist es zu beobachten, dass diese sich in Bezug auf »Teilung« oft irrt. »Irren« ist hier folgendermaßen zu verstehen: Als Oszillieren, zwischen zwei semantischen Polen unentschieden schwankend, von der einen in die andere Bedeutung wieder zurückfallend. Es wird sich im Zuge der Analyse sprachlicher Umstände zeigen, dass dies bei der Unterscheidung »Teilung« vs. »Aufteilung« oft der Fall ist. Ich gehe mit einem Freund essen und behaupte, wir könnten eine Pizza teilen. Dies bedeutet bspw., dass er eine Hälfte und ich die andere Hälfte bekomme – gleichermaßen würde die Alltagssprache auch bei unterschiedlichen Teilverhältnissen von »Teilung« sprechen. Pizza-Stücke könnten auch als Bruchteile eines Ganzen bezeichnet werden. Dies bedeutet aber nicht im Geringsten, dass wir die Pizza geteilt haben: Vielmehr haben wir sie in verschiedene und verschiedentlich zukommende Stücke aufgeteilt. Es wird eine einzige Pizza gekauft, mir kommt ein Stück, dir ein anderes Stück der Aufteilung zu. Analogermaßen verhält es sich, wenn ein Kuchen »geteilt« wird. Jedes Stück des Kuchens ist in Wahrheit ein Teil eines aufgeteilten, und nicht geteilten Ganzen. Dies liegt grundsätzlich daran, dass, obwohl ich das gleiche große Stück wie dasjenige meines Nachbarn essen kann, doch nicht dasselbe Stück essen kann. Bereits auf dieser trivialen semantischen Ebene, die uns in die erste theoretische Problematik leitet, scheinen Teilung und Aufteilung im engen Zusammenhang mit dem Begriffspaar derselbe/das Gleiche zu stehen. Derselbe Kuchen oder dieselbe Pizza werden von zwei oder mehreren 39 https://doi.org/10.5771/9783495820704 .

Teilung

Freunden »geteilt«, indem diese Lebensmittel als ein Selbiges in gleiche Teile aufgeteilt werden. Beim Pizza-Essen teilen wir Pizza auf und es erhält jeder eine gewisse Menge (einige Teile) auf gerechte oder ungerechte Weise. Dafür muss die Pizza aufgeteilt werden. Die Sprache schwankt zwischen den Polen der Teilung/Aufteilung aber nicht zufällig. Warum ist beim Pizza-Essen umgangssprachlich von einer »Teilung« und nicht »Aufteilung« die Rede? Dies liegt daran, dass man die Pizza doch auch teilt, und zwar, indem wir mit »geteilter Pizza« nicht den konkreten, mit Tomaten und Mozzarella belegten Teig meinen, sondern gleichsam das geteilte Ereignis des Pizza-Essens: Das sich zu Zweit-Wiedersehen, das Gefühl des Unter-Freunden-Seins, die geteilten Stunden – denn die Zeit kann bekanntlich nicht aufgeteilt werden: Bei der gemeinsamen Erfahrung der Zeit ist diejenige Sekunde für mich und für dich nicht die gleiche, sondern dieselbe. Während der Raum aufgeteilt wird, wird die Zeit geteilt. Es sieht demnach so aus, als würde die Alltagssprache eine versteckte Logik zur Geltung bringen, wenn sie ungenauerweise von Pizza-Teilung spricht, als würde man dabei das Teilen nicht als Akt der Stücke-Aufteilung des belegten Teigs, sondern als einheitliches, zu-zweit-erlebtes, zeitlich-gemeinschaftliches Phänomen intendieren. Und/oder: »eine Pizza in Gemeinschaft teilen« bedeutet, dass wir auf der einen Seite die Pizza aufgeteilt (in Stücken zerteilt), auf der anderen aber auch dabei gelacht, diskutiert, zusammen gegessen, getrunken usw. haben. Kurz gesagt wir sind dabei – bei diesem zeitlich-gemeinschaftlichen, nicht aufteilbaren Ereignis – zusammen gewesen. Der munus, der Gegenstand der Gemeinschaft, kommt hier als solcher nicht aufgrund der Aufteilbarkeit in Stücke, sondern anhand einer Teilbarkeit, die sich mit einer prinzipiellen Nicht-Aufteilbarkeit deckt, zustande. Man hat beim Teilungsparadigma ein munus-Objekt, dass sich nur insofern teilen lässt, als es nicht aufgeteilt wird – oder werden kann, denn der Gemeinschaftsgegenstand konfiguriert sich hier als ein Einheitliches heraus. Es gibt zahlreiche solche einheitlichen Gemeinschaftsgegenstände – denn es gibt, wie in dieser Studie ersichtlich wird, unterschiedliche Gegenstandsklassen, die in verschiedene Gemeinschaftsparadigmen involviert sind. Die Pizza ist hier zweifellos ein Gemeinschaftsgegenstand. Ein weiteres, interessantes Beispiel für ein Gemeinschaftsobjekt, das sich in der Problematik der Teilung/Aufteilung ansiedelt, liefert 40 https://doi.org/10.5771/9783495820704 .

§ 1. Selbigkeit, Gleichheit, Verschiedenheit

Martin Heidegger in seiner Freiburger Vorlesung aus dem Wintersemester 1928/1929: Es handelt sich um die Kreide. 1 Er thematisiert in dieser Vorlesung das Phänomen des Mitseins unter Rückführung auf das »mit« des Gemeinsamen: Nach einer interessanten Bemerkung, in der die Dimension des »mit« als Teilnahme festgelegt und dadurch mit Fremdheit als Teilnahmelosigkeit verbunden wird 2, geht er auf eine phänomenologische Analyse des »mit« ein, im Rahmen derer das Stichwort »Gemeinschaft« 3 zutage tritt: Das ›Mit‹ deutet auf Gemeinsamkeit. Das Gemeinschaftliche liegt darin, daß der eine ebenso hingerissen ist wie der andere, daß von beiden gemeinsam das Gleiche gilt. So wie der eine verhält sich auch der andere. Besteht also das Miteinandersein beider darin, daß beide sich in gleicher Weise verhalten und verhalten können? 4

Das Gemeinschaftliche gründet angeblich auf Verhalten. Dass aber von einem »gemeinsamen Verhalten« geredet werden kann, ist noch keine hinreichende Bedingung des Mitseins. Laut Heidegger soll dieses Verhalten an ein Objekt augerichtet sein – sich möglicherweise auch daran orientieren. Dabei treten zwei Instanzen ans Licht, Menschen und Dinge. Gemeinschaft scheint sich auf die Kopräsenz beider zu stützen: Aber bei den Menschen handelt es sich um ein gleiches Verhalten zu Dingen, wie etwa beim Anblick des Gebirges. Miteinander d. h. in gleicher Weise sein, wobei Sein besagt: verhalten zu. Miteinandersein heißt in gleicher Weise verhalten zu […] Gibt es überhaupt dergleichen, daß Menschen sich in gleicher Weise zu etwas verhalten? 5

Insoweit ist man »gemeinsam« beim gemeinsamen »besorgenden Umgang« 6 – um nun ein zentrales Stichwort Heideggers zu verwen1 Jetzt in Martin Heidegger: »Einleitung in die Philosophie«, in: Ders.: Gesamtausgabe, II. Abteilung: Vorlesungen 1919–1944, Band 27 (§ 13–20), Frankfurt a. M.: Klostermann, 1996. 2 »Mit-da-sein besagt nicht nur: zugleich auch seiend, nur eben qua Dasein, sondern die Seinsart Dasein bringt in das ›Mit‹ erst den eigentlichen Sinn. ›Mit‹ ist zu fassen als Teilnahme, wobei Fremdheit als Teilnahmslosigkeit nur eine Abwandlung der Teilnahme ist« (Heidegger 1996, S. 85). 3 »Auf dem Grunde des Miteinander wird Gemeinschaft möglich, aber nicht konstituiert erst eine Gemeinschaft von Ichen das Miteinander« (ebenda, S. 145). 4 Ebenda, S. 88. 5 Ebenda, S. 89. 6 Zur »besorgten Welt« im Gemeinsamen vgl. Martin Heidegger: Sein und Zeit, Tübingen: Niemeyer, 2006, § 26.

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Teilung

den –, welcher in dieser Vorlesung noch als »Verhalten um … einen Gegenstand« terminologisch gefasst wird. Die hierbei aufgewendete phänomenologische Herangehensweise soll aber den Gegenstand des Verhaltens zu … noch hinterfragen. Es kommt beim gemeinschaftlichen Verhalten höchstwahrscheinlich und vielleicht sogar primär auf die Gegenstandsklassen des Verhaltens an. Die Frage ist: Handelt es sich immer um dieselbe Form des Mitseins, oder ändert sich diese, je nachdem, ob sich das Mitsein am »Anblick des Gebirges«, an der »Küchenmitbenutzung« oder an der »Zuweisung der finanziellen Zinsen« oder unzähligen weiteren, disparaten, mehr oder weniger handgreiflichen Gegenständen herausbildet? Um das Verhalten am Gegenstand und seine gemeinschaftliche Tragweite zu präzisieren, bringt Heidegger das Beispiel der Kreide im Seminarraum vor: Nehmen wir unser ständiges Beispiel: Wir alle vollziehen jetzt – miteinander – im Blick auf diese Kreide die Aussage: Diese Kreide ist weiß. Dieses Aussagen ist gegründet auf unserem Sein bei diesem Vorhandenen. Dieses unser Sein bei der Kreide ist aber auch nur bei Zweien von uns allen nie das gleiche. Von allem übrigen abgesehen zeigt schon allein die räumliche Orientierung, in der wir je verschieden bei der Kreide sind, daß jedes Sein bei … jedes einzelnen ein verschiedenes ist. Ja, noch mehr, nicht nur jetzt ist faktisch kein Sein bei … von uns allen das gleiche, sondern es kann nie unterschiedslos das gleiche sein, faktisch nicht und wesensmäßig nicht. Aber der Verschiedenheit der räumlichen Orientierung läßt sich abhelfen; jedes Dasein kann doch z. B. an meine Stelle treten und die Kreide von hier aus vor sich haben. Gewiß kann jeder von uns den Platz eines anderen einnehmen, aber doch nie zu gleicher Zeit. Der Zeitpunkt ist notwendig ein verschiedener, und wenn er der gleiche ist, dann ist notwendig der Platz verschieden. Also gibt es kein Sein bei … und entsprechend kein Verhalten zu …, das gleich wäre. Hieße Miteinandersein soviel wie: sich in gleicher Weise zu einem Ding verhalten, dann gäbe es kein Miteinander. Nun sagen wir doch aber mit verständlichem Sinn, daß wir alle ›miteinander‹ uns zu der Kreide verhalten. Gleich ist also nicht unser Verhalten zu …, sondern gleich ist das, wozu wir uns verhalten. Aber sehen wir denn in der Tat die gleiche Kreide? Sieht jemand auf der hintersten Bank eine Kreide, die derjenigen gleich ist, die ich sehe? Ich behaupte, nein! Sie werden zustimmen und sagen: natürlich nicht; was für den Betrachter der hintersten Bank an der Kreide vorn ist, ist umgekehrt für mich hinten. Was wir da sehen, wozu wir uns verhalten, ist also auch ein Verschiedenes. Aber ich sage noch mehr: Jemand hinten im Saal sieht im Sein bei der vorliegenden Kreide nicht nur faktisch nicht die gleiche Kreide, die ich sehe, und zwar nicht nur deshalb, weil das, was wir da sehen, faktisch Unterschiede zeigt, sondern weil dergleichen im

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§ 1. Selbigkeit, Gleichheit, Verschiedenheit

vorliegendem Fall wesensmäßig ausgeschlossen ist. Damit jemand hinten soll eine gleiche Kreide sehen können, die gleich ist der, die ich sehe, müßten zum mindesten zwei Kreiden vorhanden sein. Gleichheit setzt wesensmäßig Mehrheit voraus. Wie sehen also nicht jeder von uns die gleiche Kreide, sondern alle miteinander dieselbe. Selbigkeit und Gleichheit sind etwas Verschiedenes. 7

Man bewegt sich hier nicht mehr auf der Ebene der Alltagssprache, sondern der philosophischen Sprache, und es drängt sich hierbei auch das Problem des Mitseins und des Gegenstandes des Mitseins auf. Zwischen der Sprache der Phänomenologie und der ordinary language bestehen jedoch wichtige Berührungspunkte, denn: Beim Pizza-Teilen hat man im Prinzip denselben Gegenstand, der »geteilt« wird, indem man ihn in gleiche Stücke aufteilt. Analogerweise würde man bezüglich Heideggers Kreide annehmen, sie sei »dieselbe« Kreide; aber diese Kreide erweist sich jedoch prima facie (und unbeschadet einiger terminologischer Schwankungen und Ungenauigkeiten in Heideggers Text) als immer unterschiedlich, sobald sie in den gemeinschaftlichen Gebrauch eingebracht wird (»ist aber auch nur bei Zweien von uns allen nie das gleiche«). Dies führt dazu, dass eine Kreide im Klassenraum insofern gemeinschaftlich geteilt wird, als wir uns zu Verschiedenem verhalten – auf ähnliche Art und Weise, wie wir eine Pizza teilen, indem ich mich zu meinem bestimmten und du zu deinem bestimmten, unterschiedlichen Pizza-Stück verhalten. Aufgrund einer solchen komplexen Dynamik von Selbigkeit, Gleichheit und Verschiedenheit, gilt es, beim Begriff der verhaltensbezogenen Teilung zu verweilen und der Analyse Heideggers weiter nachzugehen: Wir können uns also zu Verschiedenem verhalten und sind dabei doch miteinander. Zwar merken wir sofort etwas Auffallendes: Angenommen, jeder von uns beschäftigte sich jetzt mit etwas anderem, mit je einem anderen Gegenstand in diesem Saal, dann sind wir zwar zusammen in diesem Saal, aber doch nicht eigentlich miteinander; wir existieren gleichsam alle je von einander weg – es entstünde ein privatives Un-miteinander. Aber liegt das letztlich an der Verschiedenheit der Objekte, mit denen wir uns abgeben? Setzen wir den Fall, die genannten zwei Wanderer kommen abends auf ihre Hütte; der eine hackt Holz, der andere schält Kartoffeln. Hier werden wir ohne Zögern sagen: Die Zwei sind miteinander – und dies nicht nur, weil sie in der Nähe voneinander sind. Sie sind miteinander, obwohl sie sich mit

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Heidegger 1996, S. 89–90.

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Teilung

Verschiedenem, aber doch in Absicht auf dasselbe beschäftigen, auf die Zubereitung der Mahlzeit und im weiteren auf das Besorgen ihres Aufenthalts in der Hütte; in Absicht auf Selbiges gehört das zum Wesen von Dasein. Wenn wir uns entsprechend vergegenwärtigen, daß jeder in diesem Saal auf ein beliebiges und je anderes Objekt gerichtet ist, dann existieren wir in gewisser Weise auseinander. Wenn wir aber annehmen, daß dieses Gerichtetsein eines jeden auf ein verschiedenes Objekt in der einen Aufgabe bestünde, den Saal zu beschreiben, dann wäre durch die Selbigkeit der Aufgabe das Miteinander eigentlicher als zuvor. Ein solches Sichverhalten mehrerer zu Selbigem ist eine Weise, in der sich das Miteinandersein bekundet; vielleicht ist es eine solche, die notwendig zum menschlichen Miteinandersein gehört. In der Tat ist also für das Miteinander eine Absicht auf Selbiges wesentlich. 8

Zur Konstitution des Miteinanders ist es also nicht strikt notwendig, sich auf denselben Gegenstand zu richten – denn dies ist genauer besehen sogar unmöglich, weil selbst das vermeintlich identische Objekt, wie die Kreide, sich doch je nach Ausrichtung der Wahrnehmung, des Verhaltens usw. als verschieden herausstellen kann. Vielmehr ist zum Mitsein die Selbigkeit nicht des Objektes, sondern der Aufgabe, wesentlich. Im Rahmen der Selbigkeit der Aufgabe (»Absicht auf Selbiges«) kann es sogar zu verschiedenen Objekten kommen, auf ähnliche Art und Weise, wie ein gemeinsames Eis-Essen ein gemeinschaftliches Ereignis sein kann, selbst wenn die Beteiligten am Ereignis einen unterschiedlichen Geschmack wählen oder der eine gar kein Eis, sondern ein Getränk bestellt usw. Wesentliche Bedingung ist die »Absicht auf Selbiges«, was wiederum ein sehr bedeutungsbeladener Ausdruck ist. Durch Einführung dieses Wortes übersieht Heidegger jedoch, dass er die Problematik der Teilung in ein ganz anderes Gemeinschaftsparadigma schiebt, das der Erteilung. Dabei geht Gemeinschaft über die Teilung hinaus und konfiguriert sich als eine Aufgabe, wo der munus eine Gabe ist (vgl. Kapitel Erteilung) und das Gemeinschaftsbild somit teleologisch-futuristische Züge erfährt – die Gemeinschaft wird zu einer künftig zu realisierenden Gemeinschaft, wie das Heideggersche Bespiel des Kartoffelschälens verrät. Gemeinschaft ist in dieser Hinsicht aktuell noch nicht ganz da, sondern nur erst in potentia. Das Mitsein ist ein Sich-Einsetzen in einer »gemeinsamen Sache« 9 (eine genauere 8 9

Ebenda, S. 91–92. Am Beispiel der Freundschaft: »Wir wissen zur Genüge, daß z. B. echte und große

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§ 1. Selbigkeit, Gleichheit, Verschiedenheit

Analyse dieses Gemeinschaftsbildes sei auf folgende Ausführungen dahingestellt). Die »Absicht auf Selbiges« erschöpft jedoch noch lange nicht das komplexe Wesen der Mitseins. Obwohl Heidegger auf die Dynamik von Selbigkeit/Gleichheit/Verschiedenheit weiter insistiert, versucht er zum Schluss seiner Mitsein-Analyse doch den Sinn der Teilung an einem einheitlichen, nicht zerlegten Objekt zu retten. Trotz der zahlreichen, unterschiedlichen phänomenologischen Perspektiven auf die Kreide, und obschon der Gegenstand »Kreide« doch in verschiedene Umgangs- und Verhaltensmodi aufgeteilt wird, die wiederum im Zusammenhang mit weiteren verschiedenen Objekten wie Heft, Stift usw. stehen können, ist die Kreide als Gemeinschaftsobjekt oder als Teilungsfigur doch ein Unteilbares (was in präziserer Sprache Unaufteilbares heißen könnte): Inwiefern – so müssen wir deshalb erneut fragen – kann die Kreide in unserem Sein bei ihr etwas Gemeinsames sein? Nun, etwa so, daß wir uns in die Kreide gewissermaßen teilen, und das kann heißen, daß wir sie unter uns verteilen, daß wir sie in Stücke zerteilen. Aber einmal dürfen wir das gar nicht, sie gehört nicht uns, sondern dem Staat. Sie ist also kein uns Gemeinsames und Unsriges in dem Sinne, daß sie unser frei verfügbarer Besitz wäre. Wir dürfen sie nicht zerstückeln und verteilen, wir tun es auch nicht; wir lassen sie ungeteilt, und gleichwohl teilen wir uns in sie. Sich in etwas teilen, ohne es dabei zu zerteilen in Stücke, heißt: etwas für den Gebrauch und im Gebrauch sich gegenseitig überlassen. Diese Kreide ist uns etwas Gemeinsames in dem Gebrauch, den wir von ihr machen bzw. machen können. Wir haben so bestimmt, in welcher Weise sie uns etwas Gemeinsames ist. 10

Auch der Bezug auf den Besitz führt auf ein weiteres Gemeinschaftsparadigma, das im Folgenden eine separat eigene Thematisierung verdient (vgl. Kapitel über Aufteilung). Was hier aber zählt, ist, dass die Kreide sich als ein koinon der Gemeinschaft erweist. Sie ist das Gemeinsame, indem sie ungeteilt bleibt, »und gleichwohl teilen wir uns in sie«. Gemeinschaft ist ein Sich-Einfügen in die Einheitlichkeit des Freundschaft weder dadurch entsteht noch darin besteht, daß ein Ich und ein Du in ihrer Ich-Du-Beziehung einander rührselig anschauen und sich mit ihren belanglosen Seelennöten unterhalten, sondern daß sie wächst und standhält in einer echten Leidenschaft für eine gemeinsame Sache, was nicht ausschließt, sondern vielleicht fordert, daß jeder je sein verschiedenes Werk hat und verschieden zu Werke geht. Es sei nur an die Freundschaft zwischen Goethe und Schiller erinnert« (ebenda, S. 147). 10 Ebenda, S. 100.

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Teilung

Ungeteilten als Unaufgeteilten. Und diese Dynamik ist diesmal nicht teleologisch, sondern ursprünglich-ätiologisch. Gemeinschaft ist nicht futuristisch-gerichtet etwas, das noch kommen soll, sondern im Gegenteil ein bereits – und immer schon – gewesenes Gemeinsames: Damit wir im Gebrauch der Kreide uns sollen in sie teilen können, muß sie uns zuvor schon in einem ursprünglicheren Sinne ein Gemeinsames gewesen sein; wir müssen sie uns zuvor schon so teilen, daß es uns noch freisteht, ob wir Gebrauch machen von ihr oder nicht. Wir müssen schon vor dem Gebrauch und für ihn alle Teilhaber an der Kreide sein, um sie uns gegenseitig im Gebrauch derselben Abstand zu nehmen. 11

Gemeinschaft ist ein »ontologisch Früheres«. Die Idee der Ursprünglichkeit des Mitseins findet sich, nicht zufällig, ebenfalls in Heideggers Hauptwerk Sein und Zeit, in welchem das Mitsein an eine weitere Teilung-Figur angeknüpft wird, und zwar an die behandelte Mitteilung (vgl. entsprechendes Kapitel). Dies bedeutet, dass in der Gemeinschaft doch nichts aufgeteilt werden soll – weil nichts soll und nichts aufgeteilt werden soll –, da die Gemeinschaft sich als ein ursprüngliches Schon-immer-Sein erweist, wo es im Grunde um keine im juridischen Sinne des Eigentums verstandene Zueignung des Aufgeteilten geht. Mit anderen Worten: Wenn wir in der Gemeinschaft sind, sind wir schon immer Teilnehmer in der Teilhabe an einem »Überlassen des Ungeteilten«. So lautet Heideggers Schlussfolgerung: Es zeigte sich: Wir müssen zuvor schon Teilhaber an den Dingen sein, um sie uns im und für den Gebrauch zu überlassen; allem Gebrauchen aber z. B. liegt schon zugrunde ein Seinlassen der Dinge. […] Wir teilen uns in das Vorhandene, heißt: 1. wir zerteilen und verteilen es nicht unter uns, sondern lassen es ungeteilt; 2. wir überlassen es uns gegenseitig im Gebrauch, und auch im bloßen, nicht gebrauchenden Liegenlassen teilen wir uns schon darein. 12

Es ist an diesem Punkt nicht notwendig, sämtliche Ausführungen Heideggers zum Begriff des Miteinandersein weiter zu verfolgen, welche am Ende seiner Vorlesung in den Begriff des Miteinanderseins als »ein Sichteilen in Wahrheit« oder in die Problematik der mit dem 11 12

Ebenda, S. 101. Ebenda, S. 103.

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§ 1. Selbigkeit, Gleichheit, Verschiedenheit

Mitsein zusammenhängenden »Verborgenheit« 13 münden. Vielmehr ist für die Zwecke der vorliegenden Erörterung der phänomenologische Begriff des Teilens relevant, den Heidegger zur Gemeinschafsanalyse am Beispiel der Kreide andeutet (anders als sonst bei diesem Autor ist in diesem Text der Bezug auf »Gemeinschaft am Leitfaden des Miteinandersein« ausdrücklich). Es gilt somit, die erste Frage bezüglich der Gemeinschaft konsequent zu stellen. Die Kreide wird geteilt, indem der Lehrer damit auf die Tafel schreiben kann und der Schüler das damit Geschriebene mitlesen kann. Jener bestimmte gemeinschaftliche Zusammenhang des Schreiben-Lesens oder des Unterrichten-Unterrichtet-Werdens wird durch die Verwendung eines Objekts ermöglicht. Kreide scheint in dieser Hinsicht die schon immer geteilte dingliche Grundlage des Mitseins zu sein, eine ganz bestimmte Auffächerung des munus. Heidegger bemüht sich, darauf hinzuweisen, dass die Kreide ausdrücklich geteilt wird. Wenn sie andernfalls buchstäblich aufgeteilt werden würde, wäre sie plötzlich kein Gemeinschaftsgegenstand mehr. Eine in 20 Stücke (bspw. ein Stück pro Schüler) zerstückelte Kreide würde zum Schreiben und Lesen nicht mehr dienen, denn jedes Stück wäre zu klein und somit untauglich dafür. Dies ist die x-te Artikulation des Hegelschen Prinzips des Umschlagens des Quantitativen ins Qualitative 14 – durch eine bestimmte quantitative Reduktion der Kreide entsteht ein qualitativ unterschiedlicher Gegenstand, der keine Kreide mehr, sondern zu nichts nütze Kreidestücke ist. Die bis zur Unnützlichkeit und Untauglichkeit zerstückelte »Kreide« kann dann kein Gemeinschaftsstiftendes mehr sein – ihre gemeinschaftliche Funktion wird nicht mehr erfüllt.

»Worin teilen wir uns in dieser merkwürdigen Teilhabe am Seienden? Wir teilen uns in seine Unverborgenheit, seine Wahrheit […] Wir teilen uns die Unverborgenheit des Seienden. Das Gemeinsame ist die Wahrheit des Seienden. Die Wahrheit ist das Selbige, was wir suchten, und dieses Selbige ist es auch, was als Unverborgenheit ermöglicht, daß nun das in der Unverborgenheit Offenbare sich als dieses selbst zeigt, und zwar allen zeigt, denen die Unverborgenheit gemeinsam ist« (ebenda, S. 105). Heidegger kommt zu seiner These: »Miteinandersein ist ein Sichteilen in Wahrheit« (ebenda, S. 107). 14 Diese Begriffsunterscheidung spielt bezüglich der Grenze eine große Rolle und wird somit im Kapitel über Abteilung angegangen. 13

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§ 2. Durch Aufteilen wird nicht immer geteilt Eine derartige Problematik der Quantität/Qualität, die mit der gemeinschaftlichen Teilung/Aufteilung-Struktur zusammenhängt, wurde auch von der Kunst aufgegriffen, bspw. in der in der Installation One espresso poured between fifty cups von der Künstlerin Barbara Prokop: 15

Abbildung 1

Wie vom Kunstwerk gezeigt, schlägt sich ein folgerichtig angewandtes Prinzip des Teilens als Aufteilen in eine »Verunmöglichung« des Gemeinschaftlichen um, wenn man dieses letztere als »Genuß gemeinsamer Güter« (Tönnies, vgl. Kapitel über Aufteilung) intendiert. Das Bild stellt plakativ dar, dass die scheinbar gutgemeint gerechte

Zitiert in Stephanie Metzger: »Alternative Gesellschaftsmodelle. Philosophie der Gabe«, in: Deutschlandfunk, 25. 03. 2016, http://www.deutschlandfunk.de/alterna tive-gesellschaftsmodelle-philosophie-dergabe.1184.de.html?dram:article_id=344257 (zuletzt abgerufen am 2. November 2018).

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§ 2. Durch Aufteilen wird nicht immer geteilt

Aufteilung eines Espressos in gemeinschaftlicher Hinsicht in absolut Nichtsnützem resultiert, denn keiner der vermeintlichen Beteiligten an der Espresso-Teilungsgemeinschaft könnte aufgrund der Spärlichkeit der aufgeteilten Bruchteile das Getränk genießen. Man kann hier wohlgemerkt auch von der ökologischen Umwelt-Metapher absehen, die das Kunstwerk in Bezug auf die Problematik der Aufteilung der Ressourcen überträgt: Stichhaltig ist das Bild in erster Linie aus dem Grund, dass dieses durch Zuspitzung des Aufteilungsprinzips die Gefahr einer Negierung des Teilungsprinzips versinnbildlicht. Also zurück zu der Frage: Inwiefern stehen die Gemeinschaftsprinzipien der »Teilung« und »Aufteilung« in einem phänomenologischen Verhältnis? Dabei kommt es wahrscheinlich auf den Gegenstand der Teilung und die Reichweite der Aufteilung an. Eine zu 99 % und 1 % aufgeteilte Pizza würde das Miteinandersein in der Pizzeria nicht ermöglichen, während ein in 2 oder 4–5 noch brauchbare Stücke aufgeteilte Kreide das Miteinandersein erweitern würde – indem 4 Schüler, außer dem Lehrer, sich am Schreiben an der Tafel beteiligen könnten – die Kreide wäre in diesem Fall ein dermaßen aufgeteilter Gegenstand, dass er die Formen der Beteiligung fördern würde. Hierbei zeigt sich aber eine mögliche Ausweitung des Teilung/ Aufteilung-Schemas auf die Quantitativ-Qualitativ-Ausdifferenzierung – oder zumindest eine Weise der Integration beider Begriffsstrukturen. Der problematische Umschlag der Quantität in Qualität scheint das Begriffspaar Teilung vs. Aufteilung zu konterkarieren. Es bleibt aber die Tatsache, dass Teilung sich sozialphänomenologisch als sehr unterschiedlich als Aufteilung erweist. Beide Figuren machen unterschiedliche Gemeinschaftsformen aus, denn sie betreffen i. d. R. unterschiedliche Gegenstände und somit unterschiedliche Interpretationen des munus – je nachdem, ob der munus als Einheitliches oder als Aufteilbares aufgefasst wird, selbst wenn es sich um denselben Gegenstand handelt, der mal so mal so verstanden und gebraucht werden kann. Derselbe Tisch wird z. B. aufgeteilt, indem jeder einen Platz zugewiesen bekommt. Am Tisch werden die TischBeteiligten dadurch voneinander getrennt, es wird jedoch gemeinschaftlich am selben Tisch (und nicht an einem anderen Gemeinschaftstisch) gesessen – die Beteiligten werden dadurch auch miteinander verbunden. Das Beispiel des Tisches könnte übrigens zu einer philosophischen Herausarbeitung des Geteilten weiter entwickelt werden:

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Der Begriff des Öffentlichen bezeichnet zweitens die Welt selbst, insofern es das uns Gemeinsame ist und als solches sich von dem unterscheidet, was uns privat zu eigen ist, also dem Ort, den wir unser Privateigentum nennen. Doch ist dies weltlich Gemeinsame keineswegs identisch mit der Erde oder der Natur im Ganzen, wie sie dem Menschengeschlecht als ein begrenzter Lebensraum und als Bedingtheit seines organischen Lebens angewiesen ist. Die Welt ist vielmehr sowohl ein Gebilde von Menschenhand wie der Inbegriff aller nur zwischen Menschen spielenden Angelegenheiten, die handgreiflich in der hergestellten Welt zum Vorschein kommen. In der Welt zusammenleben heißt wesentlich, daß eine Welt von Dingen zwischen denen liegt, deren gemeinsamer Wohnort sie ist, und zwar in dem gleichen Sinne, in dem etwa ein Tisch zwischen denen steht, die um ihn herum sitzen; wie jedes Zwischen verbindet und trennt die Welt diejenigen, denen sie jeweils gemeinsam ist. 16

Diese »Welt von Dingen«, die Gemeinschaft ausmachen (oder als dingliche Grundlage zum Mitsein dienen) 17, ist allerdings selbst unter bloßer Berücksichtigung der Teilung/Aufteilung-Dynamik extrem differenziert. Zahlreiche auf Teilung/Aufteilung zurückführende Ausdifferenzierungen können bspw. durch den Unterschied Raum/ Zeit erklärt werden, wie im obigen Text von Heidegger. Aber selbst wenn man am gemeinsamen Gegenstand »Tisch« bleiben würde, wären weitere Anmerkungen bzw. Fragen denkbar: Wird das von der Glühlampe über dem Tisch gespendete und den Tischraum erhellende Licht gemeinschaftlich »geteilt« – im dem Sinne, dass das Licht dazu führt, dass jeder zur selben Zeit den Anderen ins Gesicht sehen kann und das Miteinandersitzen und -sprechen überhaupt ermöglicht wird; und/oder wird das Licht im Kontext einer Stromrechnungsteilung, die eher eine Aufteilung ist, in Euro quantifiziert und in Geldanteilen aufgeteilt – von der Teilungs- durch die Aufteilungs- in die Anteilsgemeinschaft hin? In diesem Sinne – und durch diesen Übergang durch unterschiedliche Gemeinschaftsparadigmen – wäre das Geld im genauesten Sinne auf der einen Seite dämonisch – ein daimon, das verbindet 18 – und auf der anderen Seite teuflisch – ein trennender

Hannah Arendt: Vita activa oder Vom tätigen Leben, München: Piper, 1999, S. 65– 66. 17 Dazu siehe Kapitel über Spielbeteiligung und Giovanni Tidona: Ding und Begegnung. Sprach- und Dingauffassung im dialogischen und existenzialen Denken, Freiburg: Alber, 2014. 18 Die Metapher des daimon als medium for dividing and connecting wird im Kapitel über Abteilung und Gegenteil in gemeinschaftlicher Hinsicht herangezogen. 16

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§ 3. Was bleibt von der Teilung?

Teufel, denn Geld teilt das Geteilte als Unaufgeteiltes in den Anteil auf.

§ 3. Was bleibt von der Teilung? Derartige Aspekte und Facetten der Teilung/Aufteilung-Struktur, die eine philosophische Analyse zu Tage fördern kann, werden von einem automatisch-unbewussten Gebrauch der Alltagssprache eher verdeckt, wenn nicht durcheinandergebracht und vermischt. In der Sprache lassen sich nämlich etliche Schwankungen und Ungenauigkeiten feststellen, die diese Begriffe oft opak machen. Diesen Umstand spiegelt der Dudeneintrag über »Teilung« wieder, bei dem eine ausgeprägte Alternanz beider Paradigmen, der Zerlegung/Zerteilung und Aufspaltung auf der einen Seite und der Teilhabe am Einheitlichen auf der anderen Seite, zu finden ist. Dabei wird Teilung zunächst als »ein Ganzes in Teile zerlegen«, »dividieren, sich aufspalten, in Teile zerfallen«, »eine Zahl in eine bestimmte Anzahl gleich großer Teile zerlegen«, fixiert. Daraufhin kommt es zur Bedeutung von »(unter mehreren Personen) aufteilen« sowie zu einer juristisch eingefärbten Bedeutung, die es im nächsten Kapitel zu thematisieren gilt und die den Besitz betrifft (»etwas, was man besitzt, zu einem Teil einem anderen überlassen«). »Teilen« wird als »gemeinsam (mit einem anderen) nutzen, benutzen, gebrauchen« definiert, und zwar innerhalb eines Verwendungsmodus, der die Unteilbarkeit sprich: Einheitlichkeit des Teilungsobjektes voraussetzt. Eine Gitarre kann aber nicht gemeinsam gespielt werden (oder überhaupt gespielt), wenn diese in zwei oder mehrere Teile zerlegt wird, indem man bspw. die Saiten vom Corpus trennt. Dies ist der Grund, warum an dieser dritten alltagsprachlichen Grundbedeutung von »Teilen« als »gemeinschaftlich mit anderen von etwas betroffen werden; an einer Sache im gleichen Maße wie eine anderer teilhaben« 19 weiter gearbeitet werden sollte, um den authentischen Sinn dieser Teilung aufzudecken. Diese letzte Grundbedeutung ist die einzige, in der »teilen« im eigentlichen Sinne (und nicht als Zerlegung und Aufteilung) verstanDUDEN, Deutsches Universalwörterbuch, Bibliographisches Institut Mannheim/ Wien/Zürich, 1983, Stichwort »Teilen«, »S. 1259. Vgl. auch https://www.duden.de/ rechtschreibung/teilen (zuletzt abgerufen am 02. November 2018).

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den werden kann. Aber die Sprache neigt doch dazu, die Alternanz zwischen Paradigmen der Teilung und der Aufteilung in eine Potenzierung der Aufteilung zu wenden, wie ein Blick auf die Synonyme von »Teilung« bestätigt: Darunter kommen tatsächlich vorwiegend semantische Figuren der Spaltung vor. 20 Das Gleiche gilt für zahlreiche, auch fachliche Komposita der -teilung. »Teilung« ist bspw. in der Mathematik (einem Fach, das auch im Rahmen dieser Studie einen Beitrag leisten wird wie im Kapitel über Einteilung) eine Figur der Division, durch die ein Ganzes in Teile aufgeteilt wird. Die Biologie spricht von Zytokinese bzw. Zellenteilung und beschreibt dadurch eine Dynamik der Zerlegung. Ebenso verhält es sich grundphänomenologisch mit der Landesteilung, die per se Partition, Aufteilung ist, indem sie Grundstückteilung ist. Die Landesteilung stellt insbesondere eine gemeinschaftlich-gesellschaftlich relevant begriffliche Weiterentwicklung der »Teilung« dar, da es bei der Aufteilung des Landes in unterschiedliche Gebiete zu einer Partitionierung kommt, die sich nicht nur darauf beschränkt, »Teilung« in »Aufteilung« zu transformieren, sondern einer derartigen Aufteilung zugleich eine politische Begriffsanreicherung verleiht. Dies liegt daran, dass Landesverteilung als raumtheoretisches Phänomen mit der Gesetzgebung zusammenhängt – eine politische town ist ein topologischer Zaun, nach dem Begriffspaar von Ordnung/Ortung. Zusammenfassend ist die Alltagsprache im Fall des Teilungsbegriffes anders als in vielen weiteren Zusammenhängen eher verdeckend als aufdeckend. Darüber hinaus erscheint es offensichtlich, dass dieser terminologische »Fehler« auch im Rahmen der Fachsprachen begangen wird. Teilung wird im gemeinschaftlichen Horizont meistens als Aufteilung verstanden und somit von Grund auf umgedeutet. Die Frage lautet somit: Was bleibt, nach einer solchen Umdeutung, von der authentischen Teilungsgemeinschaft? Die Frage wird umso drängender, wenn man bedenkt, dass die Umdeutung der Teilung in Aufteilung u. a. einen Hang zur Vergesellschaftung – und somit zur »Entartung« – der Gemeinschaft aufweist. Der Gemeinschaftsbegriff tritt durch Einfluss von Aufteilungsstrukturen bis Neben »aufteilen« und »zerlegen« kommen die weiteren Synonyme von »durchhacken«, »durchhauen«, »durchspalten«, entzweihacken«, »entzweihauen«, »zerhacken«, »zerhauen«, »fraktionieren«, »segmentieren«, »aufsplitten«, »dividieren«, »sich gabeln«, »sich scheiden«, »sich trennen«, »abtrennen«, »aufgliedern«, »dritteln«, »parzellieren«, »untergliedern«, »unterteilen«, »halbieren«, »spalten« usw. vor. Vgl. dazu https://www.duden.de/rechtschreibung/teilen.

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§ 3. Was bleibt von der Teilung?

zum kompletten Verschwinden zurück. Eine mögliche Explikation des phänomenologischen Zurücktretens des Gemeinschaftsbegriffes soll demnach im nächsten Kapitel am Beispiel derjenigen Wohndimension unternommen werden, die bezeichnenderweise auf äußerst ungenaue Art und Weise »Wohngemeinschaft« genannt wird.

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Zweites Kapitel: Aufteilung und Verteilung. »Gemeinsame Güter« und »WG-gesucht«

§ 4. Klassische Kriterien der Gemeinschaft Was Gemeinschaft sei, ist eine Frage, die in der Denkgeschichte oft gestellt wurde. Und schon sticht die substantialistische Grundeinstellung dieser Frage ins Auge: Die meisten Ansätze zielen – auf unterschiedlichen Wegen – auf das Was der Gemeinschaft ab, sprich: eine definitorische Einordnung, obgleich es ebenso zulässig wäre, nach dem Wann, Wie oder Warum der Gemeinschaft, sowie in gewisser Hinsicht nach einem Wer zu fragen (bspw. indem man den Fokus auf die Akteure der Gemeinschaft legt: Wer trägt, stiftet, erhält eine Gemeinschaft aufrecht?). Abgesehen von dieser Problematik hat die klassische Gemeinschaftsforschung die Frage auf vielerlei Art und Weise beantwortet, indem sie einige Wesenszüge der Gemeinschaft schilderte. Dazu können in einem Kapitel über Aufteilung und Verteilung einige erste, zentrale Merkmale thematisiert werden: – –



Gemeinschaft wird nicht selten per Umkehrschluss definiert, und zwar in Abgrenzung zur Gesellschaft; Gemeinschaft ist ein Horizont, quasi ein Transzendental. 1 Gemeinschaft ist ontologische Voraussetzung jeglicher Form des Zusammenlebens; Gemeinschaft ist gegenstandsbezogen. Dieser Gegenstand ist primär ein Besitz-Gegenstand – ungeachtet dessen, ob dieser materiell oder immateriell ist –, der in der Regel geteilt wird. Gemeinschaft erweist sich somit als Teilhabe und Teilnahme am geteilten munus – Gemeinschaft ist cum-munus, Kom-munität.

Vgl. dazu Roberto Esposito: »Gemeinschaft und Ursprünglichkeit«, in Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 45, N. 4, 1997.

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§ 4. Klassische Kriterien der Gemeinschaft

Die komplexen und vielschattierten Dimensionen des munus können durch Streifzüge durch dessen linguistische und denkgeschichtliche Aufarbeitungen ans Licht gebracht werden. Im Aufteilungsparadigma, welches in die begrifflich benachbarten Paradigmen der Verteilung und Austeilung gleitet, taucht in der Tat eine zentrale – und höchst problematische – Auffächerung des munus auf. Es kann hierfür bei den traditionellen Kriterien der Gemeinschaft angesetzt werden, wie diese bei Ferdinand Tönnies, Max Weber und Aron Gurwitsch festgelegt und der Kritik unterzogen werden. Die Textpassage ist klassisch: Denn die Gemeinschaft des Blutes als Einheit des Wesens entwickelt und besondert sich zur Gemeinschaft des Ortes, die im Zusammenwohnen ihren unmittelbaren Ausdruck hat, und diese wiederum zur Gemeinschaft des Geistes als dem bloßen Miteinander-Wirken und Walten in der gleichen Richtung, im gleichen Sinne […] Alle drei Arten der Gemeinschaft hängen unter sich auf das engste zusammen, so im Raume wie in der Zeit: daher in allen einzelnen solchen Phänomenen und deren Entwicklung, wie in der menschlichen Kultur überhaupt und in deren Geschichte. Wo immer Menschen in organischer Weise durch ihre Willen miteinander verbunden sind und einander bejahen, da ist Gemeinschaft von der einen oder der anderen Art vorhanden, indem die frühere Art die spätere involviert, oder diese zu einer relativen Unabhängigkeit von jener sich ausgebildet hat. Und so mögen als durchaus verständliche Namen dieser ihrer ursprünglichen Arten nebeneinander betrachtet werden 1. Verwandtschaft, 2. Nachbarschaft, 3. Freundschaft. Verwandtschaft hat das Haus als ihre Stätte und gleichsam als ihren Leib; hier ist Zusammenwohnen unter einem schützenden Dache; gemeinsamer Besitz und Genuß der guten Dinge, insonderheit Ernährung aus demselben Vorrate, Zusammensitzen an demselben Tische. 2

Blut, Ort und Geist im obigen Sinne sind bei Tönnies nichts anderes als drei Grundauffächerungen des geteilten munus. Darüber hinaus ist relevant, dass diese Dimensionen, wie im Bezug auf die Verwandtschaft deutlich wird, durch die Querkategorie des Besitzes gemeinschaftlich geteilt werden, da diese Dimensionen auch bestimmten konkreten und abstrakten Gütern entsprechen, die zusammen (»gegenseitig«) genossen werden: Gemeinschaftliches Leben ist gegenseitiger Besitz und Genuß, und ist Besitz und Genuß gemeinsamer Güter. Der Wille des Besitzes und Genusses Ferdinand Tönnies: Gemeinschaft und Gesellschaft, Darmstadt: WBG, 2010, § 11, S. 20

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Aufteilung und Verteilung

ist der Wille des Schutzes und der Verteidigung. Gemeinsame Güter – gemeinsame Übel; gemeinsame Freunde – gemeinsame Feinde. 3

Die Kernfigur der Gemeinschaft ist somit der wortwörtlich zu intendierende Genosse, derjenige, mit dem man mit-genießt. Gemeinschaft ist Mitgenuss. Was »mitgenossene« Güter schließlich seien, ist nicht schwer zu erraten: A) Blut als Ethnie- bzw. Rassenzugehörigkeit, Blutbindungen bzgl. familiärer Verhältnisse und kurz gesagt biologische Zugehörigkeitsformen, die in erster Instanz durch die Ehe (im Italienischen nicht zufällig als matrimonio, mater– munus bezeichnet); B) Ort als territoriale Ortungsprinzipien des räumlichen Ein- und Ausschlusses, Bodenzugehörigkeit des ius soli und ähnliche politische erdbezogene Konzepte wie die Stadtgemeinde (im Italienischen nicht zufällig als comune bezeichnet, cum–munus); C) Geist als Teilnahme an einem Kulturgut (im Italienischen nicht zufällig als patrimonio culturale, pater–munus bezeichnet), wie Sprache, Traditionen, Mythen, Sitten, Bräuche und so fort. So bitterschmeckend anachronistisch sich eine Gemeinschaft des Blutes, des Ortes und des Geistes anhören mag, ist an derartigen Ausführungen die Entsprechung zu bestimmten kulturanthropologischen Auffächerungen des munus extrem relevant. Dieses rudimentäre – wenngleich für seine Epoche pionierartige – Paradigma der Zugehörigkeit wird dann auch noch im klassischen Rahmen durch Max Weber in Frage gestellt bzw. durch Hinzufügung einer weiteren, ebenso interessanten Zutat entschieden ergänzt: ›Vergemeinschaftung‹ soll eine soziale Beziehung heißen, wenn und soweit die Einstellung des sozialen Handelns – im Einzelfall oder im Durchschnitt oder im reinen Typus – auf subjektiv gefühlter (affektueller oder traditionaler) Zusammengehörigkeit der Beteiligten beruht. […] Keineswegs jede Gemeinsamkeit der Qualitäten, der Situation oder des Verhaltens ist eine Vergemeinschaftung. Z. B. bedeutet die Gemeinsamkeit von solchem biologischen Erbgut, welches als ›Rassen‹-Merkmal angesehen wird, an sich natürlich noch keinerlei Vergemeinschaftung der dadurch Ausgezeichneten. […] Erst wenn sie aufgrund dieses Gefühls [für die gemeinsame Lage] ihr Verhalten irgendwie aneinander orientieren, entsteht eine soziale Beziehung zwischen ihnen – nicht nur: jedes von ihnen zur Umwelt – und erst, soweit diese eine gefühlte Zusammengehörigkeit dokumentiert, ›Gemeinschaft‹. 4

Ebenda. Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie, Tübingen: Mohr, 1980, § 9, S. 21.

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§ 4. Klassische Kriterien der Gemeinschaft

Weber legt den Fokus auf die »Mechanismen« 5 der Gemeinschaft und Gesellschaft und sieht dabei als entscheidendes Merkmal ein nicht allzu handgreifliches »Gefühl [für die gemeinsame Lage]«, welches »ihr Verhalten irgendwie aneinander orientier[t]«. Es handelt sich nicht nur um eine Relativierung der Tönniesschen Kriterien (wie z. B. des Kriteriums des Blutes), die dadurch bestenfalls zu notwendigen aber nicht hinreichenden Bedingungen der Gemeinschaft herabgestuft werden; auch der Bezug auf das »Verhalten« scheint bedeutungsvoll zu sein, da dieses Stichwort bereits im Kapitel über die Teilung im Rahmen der Ausführungen Heideggers auftauchte. Ein solches »Gefühl« könnte unterschiedlich interpretiert werden – etwa als Stimmung, Zugehörigkeitsbewusstsein, Habitus-Empfindung usw. – und macht eine operative Gemeinschaft der Handlung aus: Die »Ausgezeichneten« handeln gemeinschaftlich. In welchem Sinne die Gemeinschaftsakteure handeln, wird von Aron Gurwitsch präzisiert, der wieder auf das »Gefühl« als zentralen Operator der Gemeinschaft Bezug nimmt. Er stellt die übliche Frage, »was Gemeinschaft selbst und als solche wesenhaft konstituiert« 6 – wohlgemerkt im Unterschied zur Gesellschaft – und liefert folgende Antwort: Der Kühle und inneren Distanz des gesellschaftlichen Zusammenseins steht entgegen die menschliche Wärme, das Gefühl der Zusammengehörigkeit und Gemeinsamkeit, die Gesinnung des Wohlwollens, der Solidarität und der gegenseitigen Förderung usw., d. h. alles, was unter den Ausdrücken ›Sich-nahe-sein‹ und ›Sich-nahe-fühlen‹ befaßt werden kann. Gefühle von der Art der genannten, besonders das ›Gefühl der Zusammengehörigkeit und inneren Verbundenheit‹, sind für G. Walther geradezu das, was Gemeinschaft wesentlich konstituiert. Wenn eine Anzahl von Arbeitern verschiedener Nationalität einen Bau errichten, so besteht nach Walther keine Gemeinschaft zwischen ihnen. Sie bilden lediglich einen gesellschaftlichen Verband, der so lange besteht, als sie auf ein ihnen gemeinsames intentionales Objekt (eben den Bau) gerichtet sind, einander in die Hände arbeiten (in ›intentionaler Wechselwirkung‹ stehen). All dies schließt nämlich nicht aus, daß diese Arbeiter einander gleichgültig sind (weil sie beispielsweise verschiedene Sprache sprechen), noch daß ihre Beziehungen durch Feindseligkeiten aller Art belastet werden. Tritt aber anstelle einer solchen nega-

»Mechanismen« der Gemeinschaft sind Forschungsgegenstand etlicher Gemeinschaftskonzepte. Vgl. dazu Hartmut Rosa: Theorien der Gemeinschaft. Zur Einführung, Hamburg: Junius Verlag, 2010, S. 66–90. 6 Aron Gurwitsch: Die mitmenschlichen Begegnungen in der Milieuwelt, Berlin: De Gruyter, 1976, S. 172. 5

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tiven Gesinnung oder der Gleichgültigkeit eine positive Gesinnung, kommt ferner ein Gefühl ›innerer Verbundenheit‹, ›innerer Einigung‹ und ›Zusammengehörigkeit‹ hinzu, so konstituiert sich zwischen ihnen eine Gemeinschaft. Mit dem Auftreten der genannten Gefühle und Gesinnungen springt geradezu ›Gesellschaft‹ in ›Gemeinschaft‹ um. Danach wären also Gefühle und Gesinnungen für die Gemeinschaft konstitutiv. 7

Gurwitsch kommt schließlich auf eine regelrechte Definition der Gemeinschaft: »Aus all dem ergibt sich: Gemeinschaft ist gar nicht eine eigene und besondere Dimension mitmenschlichen Zusammenseins. Vielmehr läßt sie sich kennzeichnen als »gesellschaftliches Gebilde + hinzukommende positive Gesinnungen und Gefühle«. 8 Und zugleich taucht die Idee des gemeinschaftlichen Besitzes wieder auf. Dabei spricht er von einer »Basis«: Das angeführte Beispiel der bäuerlichen Familie läßt erkennen, daß für Gemeinschaft ein umfassender Lebenszusammenhang wesentlich ist. Dieser Lebenszusammenhang, der die Gemeinschaft als solche ausmacht, schwebt aber sozusagen nicht im Leeren. Vielmehr besitzt der Lebenszusammenhang selbst eine Basis, auf der die Gemeinschaft gründet und in der sie wurzelt. Diese Basis ist der gemeinschaftliche Besitz. So z. B. für die Familie der gemeinschaftliche Wohnraum, der in einfacheren Verhältnissen (in Europa: vor Ausbildung des Kapitalismus) gleichzeitig gemeinschaftliche Arbeitsstätte ist; für die Dorfgemeinde ›das Dorf‹ und der Gemeindebesitz (Allmend); für die Städter ihr gemeinsamer Wohnort, ›die Stadt‹, und der Besitz der Allgemeinheit usw. Wo immer Gemeinschaft besteht, da ist ein solcher gemeinschaftlicher Besitz. Daß es sich um gemeinschaftlichen Besitzhandelt, besagt: die Angehörigen der Gemeinschaft haben nicht etwa gleiche oder proportionale Anteile an ihm, wie das z. B. für den Besitz eines Konsortiums der Fall ist. Vielmehr gehört der ganze ungeteilte Besitz jedem Angehörigen der Gemeinschaft als einem, der dazu (zu den Anderen und zum Besitz) gehört. 9

Die obigen Textpassagen werfen zahlreiche Fragen auf. Zum Ersten stellt sich als paradox heraus, dass Gemeinschaft (das Kommune und Kommunitäre) mit Besitz zusammenhängt: Da die Figur des Besitzes auf ein proprium von der proprietà zurückzuführen scheint, stellt sich die Frage, inwiefern etwas Gemeinsames nicht vom Einzelnen, wie bei der herkömmlichen Auffassung des Besitzes, sondern von den Vielen besessen oder besetzt werden kann. Gurwitsch versucht dies 7 8 9

Ebenda, S. 172–173. Ebenda, S. 173. Ebenda, S. 175–176.

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§ 4. Klassische Kriterien der Gemeinschaft

dadurch zu klären: ›die Angehörigen der Gemeinschaft haben nicht etwa gleiche oder proportionale Anteile an ihm […] Vielmehr gehört der ganze ungeteilte Besitz jedem Angehörigen der Gemeinschaft als einem, der dazu (zu den Anderen und zum Besitz) gehört‹. 10 Dieser semantische Strang ist extrem opak. Erstens ist nicht klar, ob ein derartiger gemeinschaftlicher Besitz durch Aufteilung oder Teilung geteilt wird: Gurwitsch lehnt die Aufteilungsdynamik ab, die sich im Falle desjenigen Besitzes unweigerlich meldet, sofern es der Wohnraum ist. Es ist nämlich unmöglich, Raum zu teilen, denn dieser soll zur »Teilung« notwendigerweise aufgeteilt werden (eine Problematik, die auch im Kapitel über Abteilung relevant ist). Zweitens sollte – auch zwecks einer Klärung der Dimension des proprium, die vor diesem Hintergrund mitschwingt – präzisiert werden, ob es sich hier um Besitz oder Eigentum handelt. Vieles deutet darauf hin, dass Gurwitschs Wortwahl und das dementsprechende Gemeinschaftskonzept semantisch unscharf sind. Bereits bestehende Unschärfezonen des Aufteilungskonzeptes werden außerdem durch den Umstand verkompliziert, dass der gemeinschaftliche Besitz, der »mitgenossen« wird, nicht nur materiell-handgreiflich, sondern auch geistig ist: Die herausgestellte Eigenart von gemeinschaftlichem Besitz tritt noch deutlicher zutage, wo es sich nicht um ökonomischen Besitz und nicht um Handgreifliches handelt. So ist eine Familie außer durch den Familienbesitz geeint auch durch die Familientradition. Es herrscht ein bestimmter ›Geist‹ im Hause, der einen bestimmten Lebensstil vorschreibt. Man pflegt hier von ›objektivem Geist‹ zu sprechen […] für die Konstitution von Gemeinschaft sind diese Gebilde vielleicht noch entscheidender als der ökonomische Besitz. 11

An einem geistigen Besitz (oder sollte vielmehr vom »geistigen Eigentum« die Rede sein?) haben Teilnehmende offenbar nicht »gleiche oder proportionale Anteile«, wie es im Falle eines aufgeteilten Kuchens oder Wohnraums wäre. »Anteil« bezieht sich nicht auf die tatsächliche Portion oder Partition eines Gutes – was bei denjenigen Gütern, die »Tradition« oder »Sprache« sind, auch schwer denkbar wäre –, sondern auf die Bezogenheit auf dieses Gut. Mit anderen

Ebenda. Ebenda, S. 176–178. In der Fußnote 74 bezieht sich Gurwitsch auf die Unterscheidung zwischen »Besitz« und »Vermögen« bei Tönnies.

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Aufteilung und Verteilung

Worten: Ich nehme an einer solchen Gemeinschaft teil, nicht primär weil Güter aufgeteilt werden, sondern weil ich in einer vertrauten Relation zu diesen Gütern stehe – genauer gesagt, weil ich mit anderen in Bezogenheit auf die Güter mitstehe: An diesem ›geistigen‹ Besitz hat wie am ökonomischen jeder Gemeinschaftsangehörige Anteil in dem bereits herausgestellten Sinne, daß der ganze und ungeteilte Besitz ihm wie allen Anderen gehört. Der Besitz aber, an dem er Anteil hat, ist in jedem Modus der Anteilhabe gemeinschaftlicher Besitz und als solcher wesentlich charakterisiert. Das bedeutet: die hier gemeinten Besitztümer, welcher Art sie auch sein mögen, begegnen immer von der Gemeinschaft her und in einer wesentlichen Bezogenheit auf diese. Auf diese Bezogenheit, die eine ›selbstverständliche‹ und ›naturhafte‹ ist, gründet der Charakter des Gewohnten und Vertrauten. Insofern aber diese Zugehörigkeit eine solche gemeinschaftshaften Charakters ist und keine persönlich-individuelle, verweist sie auf das ›Mitbeigebrachtwerden‹ von Menschen, die ebenfalls zu der betreffenden Gemeinschaft gehören. Als Gemeinschaftsangehörige werden sie ›mitbeigebracht‹; und das bedeutet auch, daß sie ›Zugehörige‹ sind. 12

Das »Konstituens der Gemeinschaft« 13 ist genau diese Bezogenheit. An anderen Stellen verwendet Gurwitsch weitere Ausdrücke, die den Sinn der »Bezogenheit« in die Richtung einer besonderen Gebundenheit und Verbundenheit schieben. 14 Bemerkenswert ist darüber hinaus, dass unter diesen »geistigen Gütern«, auf die man bezogen ist, die gemeinsame Geschichte eine wichtige Rolle spielt: Zu der Gemeinschaft gehört man in dem Sinne, daß man immer schon zu ihr gehört hat, von jeher in ihr gelebt hat, mit ihr verwachsen, d. h. in sie hineingewachsen ist. […] Wenn wir also einer bestimmten Gemeinschaft angehören, so bedeutet dies, daß wir mit anderen Menschen zusammen in bestimmte Traditionsgüter hineingewachsen sind; entsprechend ist auch die menschliche Zugehörigkeit zu den Anderen, wo sie ausdrücklich und ›bewußt‹ ist, ein traditionelles Miteinanderverwachsensein. 15

Ebenda, S. 178–179. Ebenda, S. 180. 14 Wie z. B. durch folgende Textpassage ausgedrückt: »Weil die Zugehörigkeit in dem Gemeinschaftsbesitz begründet ist, reicht sie so weit wie die Teilhabe und die Gebundenheit an diesen; die Mitglieder einer Gemeinschaft sind nicht einander verfallen, sie gehören sich nicht absolut und unbedingt, sondern nur insofern, als sie durch den gemeinschaftlichen Besitz verbunden sind« (ebenda, S. 188). 15 Ebenda, S. 180. 12 13

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§ 5. Verschmelzen und Auflösen

Auf diesem Weg der Thematisierung der gemeinschaftlichen, geteilten Güter der Tradition, der Sprache und der Geschichte gelangt Gurwitsch zu seiner These: Damit bestimmen wir uns als wesentlich geschichtliche Wesen. Die Vergemeinschaftung des Menschen bedeutet immer schon seine Vergeschichtlichung. Vergemeinschaftung und Vergeschichtlichung sind aber keine äußeren, in irgend einem Sinne nachträglich hinzukommenden Bestimmungen; sie bezeichnen vielmehr Grundmomente der menschlichen Existenz […] Das bedeutet: von vornherein ist der Mensch kein solus ipse; indem er vergemeinschaftet und vergeschichtlicht ist, gehört er immer schon zu anderen Menschen, z. B. zu denen, unter welchen er aufwuchs, zu den Menschen seiner Generation usw. 16

§ 5. Verschmelzen und Auflösen Genauer betrachtet ist die Gurwitschsche Gemeinschaftskonzeption – welche teilweise an Tönnies’ und Webers Ausführungen anknüpft – eine Gemeinschaft der Teilung und der Aufteilung (einige Güter, wie geschichtliche Tradition, werden geteilt, andere, wie der Raum, werden aufgeteilt). Dies ist aber nicht der einzige relevante Charakter seines aufgestellten Gemeinschaftskonzeptes. Auch bei Gurwitsch findet sich nämlich (noch einmal) die Idee einer ontologischen Ursprünglichkeit der Gemeinschaft – Gemeinschaft als »ontologisch Früheres«: In dieser Weise ist das ›Ganze‹ (der umfassende Lebenszusammenhang) vorgängig von den ›Teilen‹ (dem jeweiligen aktuellen Zusammensein) und ist auch früher als diese. Das Vorgängigsein des ›Ganzen‹ vor seinen ›Teilen‹ und ›Momenten‹ und das ›Herauswachsen‹ dieser aus dem ›Ganzen‹ besagt ja immer ein derartiges Enthaltensein des ›Ganzen‹ in seinen ›Momenten‹. 17

Das »Vorgängigsein« besteht nicht in der Aufteilung der Güter und der »Bezogenheit« auf diese Güter (welcher Natur auch immer sie seien), sondern in einem Verschmelzen der Identität in der Pluralität eben ausgehend von solchen Verteilungsformen. Diese Idee wird interessanterweise auch in neueren, sogenannten »negativistischen« Gemeinschaftsauffassungen (wovon im Folgenden noch die Rede sein

16 17

Ebenda, S. 183. Ebenda, S. 191.

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Aufteilung und Verteilung

wird) vertreten, die gerade auf Basis des »ontologisch Früheren« der Gemeinschaft diese letztere von der Gesellschaft abheben: Die verlorene oder zerbrochene Gemeinschaft kann auf verschiedenste Weise, mit allen möglichen Paradigmen illustriert werden: die natürliche Familie; die attische Polis, die römische Republik, die urchristliche Gemeinde, Korporationen, Gemeinden oder Bruderschaften – immer geht es um ein verlorenes Zeitalter, in dem die Gemeinschaft sich noch aus engen harmonischen und unzerreißbaren Banden knüpfte und in dem sie in ihren Institutionen, ihren Riten und Symbolen vor allem sich selbst das Schauspiel, ja sogar die lebendige Darbietung ihrer eigenen Einheit, der ihr immanenten Vertrautheit und Autonomie offenbarte. Im Unterschied zur Gesellschaft (die einfach ein Zusammenschluß oder eine Verteilung von Kräften und Bedürfnissen ist), im Gegensatz aber auch zur Gewaltherrschaft (welche die Gemeinschaft auflöst, indem sie die Völker ihrer Waffengewalt und ihrem Ruhm unterwirft), ist die Gemeinschaft nicht allein das vertraute Kommunizieren und die enge Verbindung ihrer Mitglieder untereinander, sondern auch das organische Einswerden ihrer selbst mit ihrem eigenen Wesen. Sie besteht nicht nur aus einer gerechten Verteilung von Aufgaben und Gütern, auch nicht in einem geglückten Gleichgewicht von Kräften und Machtverhältnissen, sondern vor allem im Mitteilen, Auflösen oder Eindringen einer Identität in eine Pluralität, und zwar so, daß jedes einzelne Mitglied dieser Pluralität seine Identität nur genau durch diese zusätzliche Vermittlung seiner Identifikation mit dem lebendigen Körper der Gemeinschaft findet. Im Leitspruch der Republik definiert die Brüderlichkeit die Gemeinschaft: es ist dies das Modell der Familie und der Liebe. 18

Auf das Wesen der Gemeinschaft bei Nancy wird noch einzugehen sein, vor allem hinsichtlich einer wortwörtlich phänomenologischen Fruchtbarmachung der Gemeinschaft als partage bzw. Komparenz (vgl. u. a. Kapitel über Mitteilung). Es ist an diesem Punkt aber hilfreich, noch eine Weile bei der Aufteilungsdynamik zu bleiben, um diese in einem konkreten und möglichst aufschlussreichen Beispiel aus der Lebenswelt zu artikulieren.

Jean-Luc Nancy: Die undarstellbare Gemeinschaft, Stuttgart: Edition Patricia Schwarz, 1988, S. 27–28.

18

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§ 6. Wohngemeinschaft

§ 6. Wohngemeinschaft Es erscheint klar, dass die alltagssprachliche Alternanz, sprich: Undifferenziertheit zwischen Paradigmen der Gemeinschaft und der Gesellschaft durch eine grundlogische und zugleich lebensweltliche Problematik bedingt ist. Das heißt, im Allgemeinen gibt es Güter, die sich teilen lassen, und andere, deren sharing sich nur als Aufteilen konfigurieren kann. In dieser grundlegenden Opposition ist beispielsweise die Unterscheidung von immateriellen Gütern wie geistiges Eigentum und konkreten Gütern angesiedelt. Gemeinschaft ist nicht (wenngleich gerechte) Verteilung von Gütern, sondern Mit-Teilen (nicht im Sinne der semiotisch-semantischen Kommunikation, sondern des wortwörtlich gemeinten Teilens in der Dimension des »mit«, ähnlich wie beim Gurwitschen »gemeinschaftlichen Besitz«). Es gibt nun u. a. eine konkrete Form der Gemeinschaft – einen bestimmten Ort der munus-Verteilung, welcher zugleich eine konkrete lebensweltliche Figur der Gemeinschaft ist –, die diese Alternanz aktiviert. Es handelt sich um die nicht zufällig benannte Wohngemeinschaft (abgekürzt WG), an der aus unterschiedlichen sozialontologischen Gründen gleichsam ein Bruch des traditionellen, hier kritisch anvisierten Gemeinschaftsbegriffs der Aufteilung/Verteilung ersichtlich wird. Im Falle der WG wird der Tönniessche Ansatz einer Gemeinschaft des Blutes, des Ortes und des Geistes als Besitzes auf konkret sozialontologische Art stark in Frage gestellt. Die Struktur der gemeinschaftlichen Figur »WG« passt sich nämlich nicht mehr an das gängige Gemeinschaftsparadigma an. Diese fehlende Entsprechung konfiguriert sich darüber hinaus als äußerst systematisch. Gemäß der phänomenologischen Einstellung beginnt die Lebenswelt ontisch in der Alltagswelt. Alltagswelt ist aber nicht nur als »zunächst Begegnendes« 19 phänomenologisch relevant, sondern sie trägt auch raumtheoretische Valenz. Raum, Lebenswelt und Sprachanalyse treffen somit beim Beispiel einer Wohnung aufeinander. Genauer gesagt – und sprachlich bezeichnenderweise – handelt es sich hier um eine Wohngemeinschaft. Was der sehr geläufige und abgekürzte Terminus WG im Prinzip verdeutlichen sollte, ist eine Art des gemeinschaftlichen Zu-

19

Wie dieser Ausdruck in Heideggers Sein und Zeit verwendet wird.

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Aufteilung und Verteilung

sammenwohnens, das sich eben nicht als Gesellschaft, sondern Gemeinschaft herausstellt. Weit davon entfernt, der Logik der Sprache absolute Unfehlbarkeit zuzuschreiben, soll jedoch zunächst festgestellt werden, dass die Bezeichnung hier einen gemeinschaftlichen und nicht gesellschaftlichen Begriff betont. Dies ist übrigens nicht immer der Fall, denn andere Sprachwendungen heben demgegenüber den entgegengesetzten Aspekt des Miteinanderseins hervor, indem bspw. gesagt wird, dass man »Gesellschaft leistet«; in ähnlicher Weise ist man »in schlechter oder in guter Gesellschaft«, je nachdem, wer uns begleitet; ebenso ist von den »Stützen der Gesellschaft« die Rede. Sprachwendungen, die das Miteinandersein als »Gesellschaft« ansprechen, sind zahlreicher als diejenigen, die sich am Terminus »Gemeinschaft« orientieren. Über die alltagssprachliche Alternanz zwischen gesellschaftsund gemeinschaftsorientierten Wendungen hinaus, läge außerdem klassisch-begrifflich und à la Tönnies nahe, eine Form des Zusammenwohnens aufgrund des raumtheoretischen Bezugs als Gemeinschaft zu definieren: Eine WG ist bekanntlich ein Ort, der zwecks des gemeinschaftlichen Wohnens aufgeteilt wird. Der »gemeinschaftliche Genuss der Güter«, worunter auch der Ort zu subsumieren ist, findet beim WG-Konzept Entsprechung. Bereits auf dieser ersten Ebene zeigt sich jedoch eine starke Relativierung des Tönniesschen Ansatzes – man könnte zurecht von Halbierung sprechen – denn das Gut der WG wird sicherlich, in den glücklichsten Fällen des Zusammenwohnens, genossen, jedoch nicht besessen, was die Tönniessche Definition der Gemeinschaft vorschreiben würde. Bei der WG ist das gemeinschaftliche Gut per Definition kein Besessenes – sondern Gemietetes. An diesem Punkt der Überlegungen lässt das Beispiel der Wohngemeinschaft einen Verweis auf eine denkgeschichtliche Struktur zu, und zwar die neuzeitliche Unterscheidung von Besitz und Eigentum. Hannah Arendt hatte u. a. das Verdienst, diese strukturelle Opposition philosophisch ans Tageslicht zu bringen und historisch zu verorten: Die modernen, uns selbstverständlichen Gleichsetzungen von Eigentum und Besitz und Reichtum, von Eigentumslosigkeit mit Armut und Elend erschweren ein wirkliches Verständnis des einzigen positiven Bezugs des Öffentlichen zum Privaten, wie er sich in der Pflicht der Staaten kundgibt, Privateigentum zu schützen. Die moderne Identifizierung von Eigentum und Besitz ist um so störender, als nicht nur Eigentum, sondern auch Besitz

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§ 6. Wohngemeinschaft

und Reichtum geschichtlich immer eine größere Rolle im Politischen gespielt haben als irgendein anderes nur privates Anliegen oder Interesse. Bis zum Ende des neunzehnten Jahrhunderts waren bekanntlich Besitzund Vermögensqualifikationen die unerläßliche Bedingung für Zulassung zum politischen Raum und für den Genuß der vollen Bürgerrechte. 20

Eigentum, das zum Besitz wird – aufgrund der modernen »Gleichsetzung« – nimmt in der Neuzeit und bei deren Gesellschaftsbildern immer stärkere politische Valenz an: Anders als im Bild der polis beruht politische Macht und »Genuss von Rechten« auf der Eigentumsund Besitzverfügbarkeit der damit ausgestatteten gesellschaftlichen Akteure. Die Eigenschaft (proprietas im philosophischen Sinne), ein Teil der Gemeinschaft zu sein, wird zum Eigentum (proprietas im juridisch-ökonomischen Sinne). Radikal umgeändert wird durch diese ökonomisch-gesellschaftliche Umwälzung der proprietas auch das Verhältnis von Öffentlichem und Privatem: Vor der Enteignung der unteren Schichten der Bevölkerung zu Beginn der Neuzeit ist die Heiligkeit des Privateigentums immer etwas Selbstverständliches gewesen; aber erst der enorme Zuwachs an Besitz, Reichtum und eben Kapital in den Händen der enteignenden Schichten hat dazu geführt, privaten Besitz überhaupt für sakrosankt zu erklären. Eigentum war ursprünglich an einen bestimmten Ort in der Welt gebunden und als solches nicht nur ›unbeweglich‹, sondern identisch mit der Familie, die diesen Ort einnahm. Deshalb konnte auch noch im Mittelalter die Verbannung und Vernichtung und nicht nur die Konfiskation des Eigentums nach sich ziehen. Kein Eigentum zu haben, keinen angestammten Platz in der Welt sein eigen zu nennen, also jemand zu sein, den die Welt und er in ihr organisierte politische Körper nicht vorgesehen hatte. Dies war natürlich der Fall von ansässigen Fremden und Sklaven, bei denen weder Besitz noch Reichtum das fehlende Eigentum ersetzen konnten, so wie umgekehrt Armut nicht der Bürgerrechte, der Zugehörigkeit zu dem politischen Körper, berauben konnte, solange das Eigentum, der angestammte Platz in der Welt, intakt blieb. Mit dem Verlust dieses Eigentums wiederum war in älterer Zeit auch der Verlust des Schutzes der Gesetze verbunden. Das Eigentum selbst wiederum war mehr als eine Wohnstätte; es bot als Privates den Ort, an dem sich vollziehen konnte, was seinem Wesen nach verborgen war, und seine Unantastbarkeit stand daher in engster Verbindung mit der Heiligkeit von Geburt und Tod, mit dem verborgenen Anfang und dem verborgenen Ende der Sterblichen, die wie alles Lebendige aus dem Dunkel kommen und in das Dunkel eines unterirdischen Reiches zurückkehren. Als dieser Ort der

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Hannah Arendt: Vita activa oder Vom tätigen Leben, München: Piper, 1999, S. 76.

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Aufteilung und Verteilung

Verborgenheit, in dessen Obhut Menschen vor dem Licht des Öffentlichen geschützt geboren werden und sterben, aber nicht ihr Leben verbringen, wo also das vor sich geht, wohin kein menschliches Auge und kein menschliches Wissen dringt, als der Ort von Geburt und Tod war der Bereich des Haushalts und des Eigentums ›privat‹ in einem nicht privativen Sinne. Seine unantastbare Verborgenheit vor dem Öffentlichen und der allen gemeinsamen Welt entsprach der nüchternen Tatsache, daß der Mensch nicht weiß, woher er kommt, wenn er geboren wird, und nicht weiß, wohin er geht, wenn er stirbt. Das Geheimnis des Anfangs und des Endes sterblichen Lebens kann nur da gewahrt werden, wo die Helle der Öffentlichkeit nicht hindringt. 21

Besitz, Ort und Gemeinschaft scheinen anhand dieser denkhistorischen Analyse eine Einheit gebildet zu haben. Dies lag daran, dass das Eigentum »mehr als eine Wohnstätte« war; es war der Ort der Unantastbarkeit, eine »Obhut« der Geborgenheit, die unmittelbar in die Verborgenheit vor dem Öffentlichen gleitet. Das Eigentum war ein Platz in der Welt, der allerdings als private Enklave aus der Welt des Öffentlichen herausgeschnitten und vor der Welt des Öffentlichen beschützt war. Eine private Welt innerhalb der öffentlichen Welt – und davon abgeschirmt. Und sie ist jedoch als privates Eigentum Bedingung der politischen Macht. Die Dichotomie öffentlich/privat und die entsprechenden, damit zusammenhängenden Gemeinschaftskonstellationen – die bereits schattiert sind, denn sie machen die Einfachheit der griechischen Gegenüberstellung òikos/polis komplexer – erfahren darüber hinaus eine Verkomplizierung durch die Eröffnung der Pseudo-Dichotomie Eigentum/Besitz. Zur Erläuterung dieser Dynamik dient noch ein Blick auf das merkwürdige Phänomen der Wohngemeinschaft. Die gemeinschaftliche Form der WG richtet sich offensichtlich zunächst an dieser letzten Grundunterscheidung aus. Bei einem Mietverhältnis und in der Eigenschaft als Mieter (um diesen Umstand in juristischen, zum Teil von der Alltagssprache leicht abweichenden Termini auszudrücken), be-sitzt man eine Wohnung, indem man auf dem entsprechenden Grundstück/Immobilie sitzt, ohne dessen Eigentümer zu sein. Daraus folgt natürlich auch, dass der Eigentümer das Wohnobjekt doch nicht be-sitzt – obwohl er dessen Eigentümer ist. Es eröffnet sich gleichsam eine Kluft, auf der die WG-Form gründet, zwischen Eigentum und Besitz bzw. zwischen Ordnung und 21

Arendt 1999, S. 76–77.

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§ 6. Wohngemeinschaft

Ortung 22. Meine Ordnung als Eigentümer gilt an einer Ortung, an der ich als Subjekt/Bewohner nicht vorkomme. Eine solche Ordnung/Ortung-Diskrepanz ist alles andere als harmlos, und zwar nicht nur aus dem Grund, dass sie einen Bruch z. B. bei Phänomenen der Delokalisierung und des Profits sowie der politischen Valenz des Privateigentums verursacht. Dabei ist von einer regelrechten gemeinschaftlichen Fraktur die Rede, vor allem, wenn man bedenkt, dass die Eigentum-Besitz-Unterscheidung an einer weiteren Grundunterscheidung umgeformt werden könnte, nämlich an der schlechtinnigen Grundunterscheidung des vorneuzeitlichen politischen òikos und der polis. Gerade bei der WG kommt der starke Widerspruch zum Tragen, dass mein vermeintliches òikos – meine »vier Wände«, mein »Platz auf der Welt« (Arendt), kurz gesagt das, was für die griechische Mentalität das Privateste, das Verborgene usw. ist – doch jetzt durch eine wortwörtlich grundlegende öffentliche Instanz durchdrungen ist, und zwar durch die rechtliche Tatsache, dass dieses òikos das gesetzlich normierte Eigentum eines Anderen ist, der es nicht bewohnt. Beweis dafür ist, dass der Mieter einer WG nicht imstande ist – rechtlich nicht befähigt –, alles in der WG zu tun, was er möchte: Ein geregelter Mietvertrag – ein Dispositiv der Gesellschaft, und nicht der Gemeinschaft – bestimmt, oft bis ins Detail, Aspekte der Wohnweise und der Sozialverhältnisse innerhalb der WG (z. B.: Wie lange darin gewohnt werden darf, unter welchen finanziellen und verhaltensmäßigen Bedingungen, von wievielen Menschen und um welche Zeiten welche Handlungen in der WG ausgeführt werden können und welche nicht usw.). Ein nicht wohnender Eigentümer entscheidet durch gesellschaftliche Instrumente (sprich: durch einen durch Bürgergesetz formulierten und legitimierten Mietvertrag), in welcher Weise ein wohnender Besitzender seine Gemeinschaft in der WG, deren Eigentümer er nicht ist, gestalten darf. Es ergibt sich daraus der extrem sonderbare Umstand, dass diese Wohnung weder für den Mieter noch für den Vermieter ein òikos ist – wenn das òikos als Übereinstimmung von Besitz und Eigentum gemeint wird – und zwar aufgrund des am Wohnobjekt klaffenden Bruches zwischen Eigentum und Besitz.

Im Sinne des Begriffspaars, wie dieses von Carl Schmitt verwendet wird und auch im Kapitel über Erdenteilung und Einteilung eine Rolle spielt.

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Aufteilung und Verteilung

Die Präzisierung »am Wohnobjekt« ist nicht überflüssig: Es gibt anderweitige Objekte – »Güter« –, die der Grundunterscheidung Eigentum/Besitz unterliegen, ohne jedoch dadurch besondere gemeinschaftliche Probleme zu generieren. Das Problematische entsteht also nicht so sehr durch die Grundunterscheidung an sich, sondern durch deren Anwendung auf die Gegenstandsklasse »Wohnung/òikos«. Mit anderen Worten ist die WG-Form in ihrer Modellierung am neuzeitlichen Schema (und noch diesseits des Problems der Aufteilung, das im Folgenden behandelt wird) ein gemeinschaftlich janusköpfiger Gegenstand (privat und öffentlich), der die Dimension des òikos konstitutionell aufgehoben hat, indem die WG das òikos-Konzept durch Eliminierung der Eigentumsinstanz in einen »Mischgegenstand« umgeändert hat. Insofern ist die WG nichts Gemeinschaftliches, sondern vielmehr ein – im neuzeitlich konsequentesten Sinne – Gesellschaftliches. Die WG liegt somit auf der Entwicklungslinie òikos/durch öffentliche Valenz ausgezeichneter Haushalt und ist also auch eine äußerst relevante gesellschaftliche Artikulation des Endes der scharfen Unterscheidung zwischen öffentlich/privat. Darauf, dass die WG alles andere als ein privater Ort ist, deutet ganz offensichtlich die triviale Tatsache hin, dass beinahe jeder wichtige Aspekt des Besitzes einer WG, angefangen mit der Identität ihrer Mieter, vertraglich bzw. gesetzlich bestimmt wird. Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen erscheinen die Bilder und das Motto der IKEA-Werbekampagne als subtil bezeichnend. Das Werbemotto stützt sich semantisch genau auf den Vergleich zwischen dem eigenen Zuhause und anderen Orten der Welt, um dann die Überlegenheit des ersteren zu betonen; doch überhaupt erst ein derartiger Vergleich, der einem Griechen unverständlich gewesen wäre, setzt das òikos mit der Dimension »Welt« gleich, als wäre das eigene Zuhause ein Ort des Intimen – auch darauf spielt natürlich die Werbung an –, der aber in einem öffentlichen Vergleich erscheint. Kein Ort, der der Welt beraubt ist 23, sondern ein Ort, der in der Welt vorkommt und unter allen weiteren Orten der Welt sogar herausragt (»Kein Platz auf der Welt ist wichtiger«) – obwohl es ein teilweise intimer und doch gesellschaftlich normierter Bereich ist – dies ist der x-te begriffliche Widerspruch.

Der Raub ist eine weitere, thematisierungswürdige Figur, die als Entwendung möglicherweise in Gestalt einer gleichsam Ent-Teilung übersetzt werden könnte.

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§ 6. Wohngemeinschaft

Abbildung 2

Das einfache und dennoch bedeutungsbeladene Bild der Ikea-Kampagne erlaubt es, anhand der vorigen Bemerkungen einige Schlüsse zu ziehen: A) Der Haushalt ist eine Figur im Spannungsfeld zwischen Öffentlichem und Privatem (nicht zufällig spricht man von Haushaltssperre im öffentlichen Dienst; ein Wort des Privaten wird in Bezug auf eine öffentliche Institution verwendet). Nichtsdestotrotz betont die Ikea-Kampagne die Intimität des Haushalts. Haushalt wird hier als das Private schlechthin verstanden, als Ort der Individualitätszuflucht; B) Es handelt sich sicherlich um einen individuellen Haushalt, dem im Prinzip eine gesellschaftsatomistische Grundeinstellung zugrunde liegt. Ein Blick auf die Ikea-Broschüren und Montageanleitungen suggeriert implizit, dass die Wohnung eher ein Bereich der Zweisamkeit bzw. eine »Gemeinschaft der Liebenden« ist, eine Figur, die im Folgenden behandelt wird, wie die erste Sparte der Abbildung 3 suggeriert: 69 https://doi.org/10.5771/9783495820704 .

Aufteilung und Verteilung

t

Abbildung 3

C)

Das Prinzip des home-sweet-home – interessante, kulturelle Rekonfiguration des ius domi – wird zum hierarchischen Vorrang gesteigert: »Kein Platz auf der Welt ist wichtiger« heißt auch, dass die Wohnung selbst ein »Platz« ist. 24 In der eigenen Wohnung bzw. im Privaten des Haushaltes »scheint das Licht wärmer«: (vgl. Kapitel über Erdenteilung). Es handelt sich um eine ganz präzise, kommunitär signifikante Dynamik zwischen Drinnen und Draußen, die u. a. im Kapitel über Abteilung analysiert wird. Haus ist hier im weitestens Sinne eine »Mitte«:

Das Leben des Menschen [bleibt] doch weiterhin auf eine solche Mitte bezogen. Das ist der Ort, wo er in seiner Welt ›wohnt‹, wo er ›zu Hause‹ ist und wohin er immer wieder ›heimkehrt‹. […] Es ist das Haus, in dem er wohnt. Sein Haus wird zur konkreten Mitte der Welt […] Das Haus also ist es, was dem Menschen die Geborgenheit gewährt, und das Problem des Wohnens verdichtet sich zu dem des Hauses. 25 In der englischen und italienischen IKEA-Anleitungsmontage lautet es jeweils: »Home ist the most important place in the world«; »Casa tua – Il posto più importante al mondo«. 25 Otto F. Bollnow: Mensch und Raum, Stuttgart: Kohlhammer, 1963, S. 123–129. Zu den Begriffen der »Geborgenheit des Hauses«, »Glück des Wohnens«, »Haus als sakraler Raum« sowie zur kritischen Auseinandersetzung damit sei auf das ganze Kapitel III verwiesen. 24

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§ 7. Aufteilung als »gerechte« Verteilung

Solche – und noch weitere, im Folgenden zu analysierenden – Motive machen die Physionomie des kulturellen Objekts »Wohnung« aus. Es handelt sich möglicherweise um einen atomistisch verstandenen Gegenstand – WG als (wichtigste) Zelle der Geborgenheit. Es wäre nun die Frage zu stellen, ob dieses Prinzip des Individualistisch-Atomistischen eine Relativierung erfahren könnte. Es kommt somit darauf an, zu zeigen, inwiefern das Eigentum-/Besitzverhältnis durch das Pendant des Miteigentums – in neuzeitlicher Begrifflichkeit, durch den Mitbesitz, auf dem eine Wohngemeinschaft basiert – ein Paradigma der Aufteilung stiftet.

§ 7. Aufteilung als »gerechte« Verteilung. (Mit)Eigentum, Besitz und die Gemeinschaft der Bruchteile Bei der Definition der materiellen und immateriellen Güter legt der Duden eine Bedeutungsnähe des Verbs aufteilen zum Verb verteilen fest. Verteilen, im Italienischen: ripartire, spartirsi; französisch partager, répartir. Auch hierbei steht Teil bzw. pars in einer bestimmten semantischen Auffächerung im Vordergrund. Ein Gut, unbeschadet dessen, ob es materiell oder immateriell ist, wird verteilt: 1) 2)

3) 4) 5)

das Verteilen; das Verteiltwerden (Sozialwissenschaften) die Lebensqualität maßgeblich bestimmende Aufteilung materieller Größen (z. B. Lohn, Gewinn) und immaterieller Größen (z. B. Freiheit, Sicherheit) auf die Mitglieder einer Gesellschaft (Wirtschaft) Vertrieb Art und Weise, in der etwas vorhanden ist, sich verteilt Art und Weise, in der etwas verteilt ist. 26

Es fällt in der Tat schwer, die semantischen Grenzen zwischen dem Bedeutungsspektrum von verteilen und aufteilen genau zu identifizieren. Dies könnte als ein weiterer Hinweis auf eine gewisse Ambiguität des Verteilungsparadigmas verstanden werden, das ein Gemeinschaftsbild suggeriert, welches von den Kategorien des Rechtes, der Wirtschaft und – wie im DUDEN angegeben – von den »Sozialwissenschaften« geprägt ist. Beim einfachen Hinsehen auf die DUDEN-Definition würde man nämlich denken, dass Verteilung ein DUDEN, Stichwort »Verteilung«, https://www.duden.de/rechtschreibung/Vertei lung (zuletzt abgerufen am 2. November 2018).

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Aufteilung und Verteilung

Kennzeichen der Gesellschaft – nicht zufällig Forschungsgegenstand der »Sozialwissenschaften« – und nicht der Gemeinschaft ist. Auch der Unterschied zwischen materiellen und immateriellen Gütern scheint in diese Richtung zu weisen, denn diese Differenzierung bildet sich im Rahmen des Vertriebs heraus. Es handelt sich kurz gesagt um eine wirtschaftliche Kategorie: Materielle und immaterielle Güter sind Vermögensgegenstände, die in der Bilanz von Unternehmen aufgeführt werden. Es kann sich dabei sowohl um Sachgegenstände als auch um Rechte und geistiges Eigentum handeln. Immaterielle Güter sind dabei nicht körperlich, also nicht physisch greifbar. Im Gegensatz dazu können materielle Güter tatsächlich angefasst und physisch verändertwerden. 27

Es ist hier nicht der Ort, den wirtschaftlichen Unterschied zwischen materiellen und immateriellen Gütern weiter zu vertiefen – wobei einzelne Unterschiede und Gemeinsamkeiten für den Gemeinschaftsbegriff stichhaltig sein könnten. Eine interessante Frage wäre z. B., inwiefern sich innerhalb dieses Paradigmas das Verständnis des immateriellen Gutes am materiellen Gut orientiert (eine Problematik, die vor allem den common sense in Schwierigkeit bringt, denn es fragt sich, inwiefern das immaterielle Gut im Vergleich zum materiellen Gut geteilt/verteilt werden kann). Relevant ist hier jedoch, dass auch dieses Gemeinschaftsparadigma in die Semantik des proprium eingebunden ist. Das Gut – unbeschadet dessen, ob es materiell oder immateriell ist – ist ein Eigentum (ein Sachvermögen oder ein Recht/Dienstleistung, die einem zukommt). Selbst dieses Eigentum kann aber verteilt werden, d. h. es steht nicht nur einem Einzelnen, sondern mehreren zu. Dieser Umstand wird im Bürgergesetz verdeutlicht, wo nicht zufällig von Gemeinschaft und Teilhabern die Rede ist: § 741 BGB Gemeinschaft nach Bruchteilen: Steht ein Recht mehreren gemeinschaftlich zu, so finden, sofern sich nicht aus dem Gesetz ein anderes ergibt, die Vorschriften der §§ 742 bis 758 Anwendung; § 744 BGB Gemeinschaftliche Verwaltung: (1) Die Verwaltung des gemeinschaftlichen Gegenstands steht den Teilhabern gemeinschaftlich zu. (2) Jeder Teilhaber ist berechtigt, die zur Erhaltung des Gegenstands notwendigen Maßregeln ohne Zustimmung der anderen Teilhaber zu treffen; er kann verlangen, dass diese ihre Einwilligung zu einer solchen Maßregel im Voraus erteilen; https://www.rechnungswesen-verstehen.de/bwl-vwl/bwl/materielle-immaterielle -gueter.php (zuletzt abgerufen am 2. November 2018).

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§ 7. Aufteilung als »gerechte« Verteilung

§ 1008 BGB Miteigentum nach Bruchteilen: Steht das Eigentum an einer Sache mehreren nach Bruchteilen zu, so gelten die Vorschriften der §§ 1009 bis 1011; § 1009 BGB Belastung zugunsten eines Miteigentümers: (1) Die gemeinschaftliche Sache kann auch zugunsten eines Miteigentümers belastet werden. 28

Auch die Rechtssprache macht von der Gemeinschaftsbegrifflichkeit Gebrauch. Als besonders interessant erweist sich im Rahmen dieser Vorschriften die Kategorie des Miteigentums, was wortwörtlich ein Paradoxon ist – denn mit- und eigen- scheinen sich auf den ersten Blick gegenseitig aufzuheben oder zumindest stark zu relativieren. Wie würde es z. B. damit aussehen, wenn mein Bruder und ich als Miteigentümer ein Moped mitbesitzen und »verwalten« würden? Uns beiden stünde das Recht zu, dasselbe Moped zu fahren, allerdings nicht unter identischen Bedingungen: Mein Bruder könnte das Moped nicht gleichzeitig wie ich fahren (ich würde das Moped z. B. an den ungeraden Tagen und er an den geraden Tagen fahren), und selbst wenn wir das Moped gleichzeitig fahren würden, müsste in diesem Fall der eine fahren, der andere hintendran gefahren werden – wobei die Ordnung des Fahrens und Gefahren-Werdens abgewechselt werden könnte. Es handelt sich hier um einen sehr trivialen Umstand, der aber den viel weniger banalen Umstand verdeutlicht, dass Miteigentum als solches Einschränkungen in der Mitbenutzung und Ausschöpfung des Gutes unterliegt. Ein Gut wird bei der Gemeinschaft des Miteigentums verteilt, d. h. es steht nicht unvermengt zu Verfügung:

Abbildung 4 Aus https://bgb.kommentar.de/Buch-2/Abschnitt-8/Titel-17/Gemeinschaft-nachBruchteilen (zuletzt abgerufen am 2. November 2018).

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Aufteilung und Verteilung

Wie kann man Mit-Eigentümer der Bruchteile einer Tasse sein? Dies hängt selbstverständlich auch davon ab, was eine »Tasse« ist. Ist eine Tasse ein Gegenstand zum Trinken, dann kann sie nicht zugleich mitbesessen werden. Ist eine Tasse ein aufgehängtes Kunstbild in unserem geteilten Wohnzimmer (»kein Ort in der Welt ist wichtiger«), dann kann sie zugleich mitbesessen werden – z. B. in der Modalität des Betrachtet-Werdens (zur gemeinschaftlichen Problematik der Gegenstände, die unterschiedliche Verwendungsmodi oder affordances aufweisen, sei auf das Kapitel über Spielbeteiligung verwiesen). Sicherlich wird aber zwischen realen und ideellen Bruchteilen unterschieden »Während an realen Bruchteilen einer Sache keine verschiedenen Rechte bestehen können (links), ist Miteigentum an ideellen Bruchteilen (Mitte) möglich. Beim Gesamthandseigentum ist dagegen jeder Eigentümer der ganzen Sache, aber in der Verfügung gebunden (rechts)« 29, was generell zur ontologischen Frage führt: Was ist überhaupt das Wesen dieses aporetischen Gutes, das zugleich privat (eigen) und gemeinschaftlich (verteilt) ist? Im Paradigma der Verteilung ändert sich auch das Profil der Teilnehmer an der Gemeinschaft. Im Kapitel über Einteilung und Teil werden diese als Teile, sprich: als Elemente einer Teilmenge der Gemeinschaft, in Betracht gezogen. Nun handelt es sich – kein Zufall, dass die Sprache damit anfängt, umständlich zu klingen – um Bruchteil-Teilnehmer. Solche Teilnehmer nehmen am Ganzen der Gemeinschaft – was im vorliegenden Fall ein munus als materielles oder immaterielles Gut ist – im Bruchteil-Modus teil. Sie nehmen an einem Gut teil, das auf einer Seite als Ganzes intendiert werden soll – ein Moped ist ein Ganzes, und es könnte nicht anders sein, denn ein Moped ohne Räder ist kein brauchbares Moped mehr. Dieses Ganze wird jedoch auf sehr spezielle Art und Weise verteilt, damit es überhaupt als gemeinschaftliches Ganzes dienen kann. Erst die Verteilung ermöglicht die Teilhabe am Ganzen. Mit anderen Worten: Gemeinschaft muss verteilt werden. 30 Selbstverständlich sind die Verteilungsformen und die jeweiligen Gemeinschaftsteilnahmeformen vom Gut abhängig, denn nicht https://de.wikipedia.org/wiki/Miteigentum (zuletzt abgerufen am 2. November 2018). 30 Zu den juristischen Aspekten dieses Nexus vgl. Wolfgang Theil: »Eigentum und Verpflichtung«, in: Hans Joachim Stadermann, Otto Steiger (Hrsg.): Verpflichtungsökonomik. Eigentum, Freiheit und Haftung in der Geldwirtschaft, Marburg: Metropolis Verlag, 2001, S. 175–200. 29

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§ 8. Zweck-WG, zweckgerichtet, zweckgerecht

jeder Gegenstand kann auf homologe Art und Weise verteilt werden: Ein Grundstück kann gleichzeitig, wenngleich nicht »gleich-ortig« von mehreren bebaut werden, wenn jeder als Miteigentümer den eigenen Bereich zugewiesen bekommt. Ein Akkord in einem musikalischen Instrument wird hingegen auf unterschiedliche Art und Weise immateriell verteilt – es eröffnet sich hier die Möglichkeit, unterschiedliche Formen der Verteilung zu schildern, möglicherweise eine Taxonomie der gemeinschaftlichen Verteilung, denn ein Gut steht in unterschiedlichen Modalitäten mit-eigentümlich zu. Entscheidend ist jedoch, abgesehen von der breiten Palette an möglichen, ausdifferenzierten Verteilungsformen, dass dieses Gemeinschaftsbild ein rechtliches ist: Gemeinschaft wird durch das Recht garantiert. Das Bürgerrecht verwendet das Wort »Gemeinschaft«; streng genommen ist es aber eine normierte Gesellschaftsform. Und/oder, um es anders auszudrücken: Die Figur des Miteigentums nach Bruchteilen scheint eine Art Grauzone zu eröffnen, in der Motive der Gemeinschaft mit Motiven der Gesellschaft ineinander verwoben sind. Es wäre noch eine offene Frage, ob es sich hierbei um eine bloße Übertragung der Kategorien des Rechnungswesens und Rechtes in die Gemeinschaft oder um eine Verrechtlichung der Gemeinschaft handelt, auf ähnliche Art und Weise, wie die Verrechtlichung und das Ethos der Gastlichkeit aufeinander Einfluss ausüben (vgl. Kapitel über Erdenteilung und Einteilung). Es steht das aber fest, dass eine Gemeinschaftsform, die durch Vorschriften des Bürgergesetzes normiert und geregelt ist, in Gegentendenz zu dem diffusen, vorpolitischen Wesen der Gemeinschaft steht, welche unsere Analysen stetig und noch mit spärlichen Ergebnissen aufzufangen versuchen. Gemeinschaft in ihrem authentischen Kern entzieht sich noch diesen Versuchen.

§ 8. Zweck-WG, zweckgerichtet, zweckgerecht Aufteilung ist mit der Frage der gerechten Verteilung des munus eng verbunden. Noch ein Blick auf unsere WG kann dafür aufschlussreich sein, denn die Sprache insistiert auf »Wohngemeinschaft«, obwohl es allmählich klar wird, dass das vermeintliche Gemeinschaftliche eher zum Gesellschaftlichen abdriftet. WG-Aufteilung ist auch Raumverteilung (Verteilung und Aufteilung der Räumlichkeiten, aus denen eine Wohnung besteht). 75 https://doi.org/10.5771/9783495820704 .

Aufteilung und Verteilung

Bezüglich der Aufteilung dieses WG-munus könnte man sich leicht folgende Situation vergegenwärtigen. Zuerst ist der munus gegeben – munus ist eine Gegebenheit, die sich zunächst in ihrem Undifferenziert-Sein ergibt; undifferenziert heißt hier nämlich nichts anderes als ungeteilt:

Abbildung 5

Dies könnte bspw. eine von einer einzelnen Person bewohnte Einzimmerwohnung sein, solange sie nicht aufgeteilt werden soll. Dabei sind Räume (Besitz) und Wohnungsausstattung (Eigentum). Gleich kommt es aber zur oben angedeuteten Umschlagdynamik: Sobald ein Gegenstand geteilt werden soll, drängt sich die Frage nach dessen Aufteilung auf. Dieser unbestimmte munus – Grundstück, Raum, Boden, Gut, Ressource, »der wichtigste Platz auf der Welt« – soll dann einer Aufteilung unterzogen werden. Es gibt zweifellos ausdifferenzierte Kriterien der Aufteilung. Der Tönniessche Ansatz betont das Prinzip der communio an Gütern, die heterogenen Formen deren Verteilung werden jedoch nicht eingehend angezeigt. Aber gerade Teilnahme an einem Gut, das sich phänomenologisch nicht wie eine »Kreide« verhält, bringt notwendigerweise das Problem der Aufteilungsmodalitäten mit sich. Während eine hypothetische Aufteilung der Kreide durch Zerstückelung in nichtsnützliche Scherben den gemeinschaftlichen Gegenstand zerstören und somit die Rahmenbedingungen der Gemeinschaft von Anfang abschaffen würde, sieht es bei der WG-Raumverteilung anders aus, weil eine Aufteilung, sprich: Zerlegung des munus die möglicherweise nicht hinreichende und doch notwendige Rahmenbedingung der Teilnahme am Gegenstand ist. Als Beweis dafür ist es leicht denkbar, dass eine Wohnung, die wie in Abbildung 5 aus einem einzigen ungeschnittenen Wohnraum bestünde, sich für das gemeinsame Wohnen als absolut untauglich erweisen würde. Die Räume müssen dazu verteilt werden. Folgende, erste Aufteilungsmodalität wäre denkbar:

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§ 8. Zweck-WG, zweckgerichtet, zweckgerecht

Abbildung 6

Indem der vorhandene Raum in vier Räumlichkeiten aufgeteilt wird. Wäre ein derartiger munus eine Wohngemeinschaft, könnte man sich dabei vier gleichgroße Zimmer für vier Mitbewohner der Wohnungsgemeinschaft vorstellen. Der common sense würde in diesem Falle eine gerechte Aufteilung suggerieren: Vier gleichgroße Zimmer für vier gleichberechtige Mitbewohner. Es wären jedoch auch weitere Formen der Aufteilung möglich, wie bspw. die folgende:

Abbildung 7

In diesem (in der Alltagspraxis häufigeren) Falle verfügte zwar jeder Mitbewohner über ein Zimmer, diese wären allerdings unterschiedlich groß und unterschiedlich geschnitten. Auch eine derartige Aufteilung könnte sich trotzdem als gerecht erweisen, wenn diese im Hinblick auf die Heterogenität der Mitbewohner bestimmt wird. Es wäre z. B. plausibel, dass der eine Mitbewohner aus irgendeinem Grund das kleinere, aber hellere Zimmer benötigt, oder das schmale, weil er ein schmales Bett aufstellen will; oder dass der andere Mitbewohner auf das größte Zimmer verzichtet, weil der Nachbar, mit dem dieses eine Wand teilt, zu unpassenden Uhrzeiten (unpassend für ihn, aber nicht für seinen Mitbewohner) laut Gitarre spielt, kurz gesagt: Es gibt kein einheitlich »gerechtes«, nivellierendes Kriterium der Raumaufteilung: Verschiedene Zimmer haben unterschiedliche Größe, Ausrichtung, akustische Beschaffenheit usw. und das Raumobjekt wird von unterschiedlichen Akteuren der Wohngemeinschaft mit-bewohnt.

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Aufteilung und Verteilung

Nichtsdestotrotz ist sogar diese trivial-selbstverständliche Einstellung zum Problem alles andere als theoretisch neutral. Im Gegenteil ist sie auch insofern voraussetzungsbeladen, als sie bspw. der Rawlschen Theorie der Gerechtigkeit entgegengestellt werden kann. Denkbar wäre nämlich nicht nur die Aufteilungsmodalität der Abbildung 7, sondern auch die der Abbildung 8:

Abbildung 8

Welche auf den ersten Blick exakt so wie Abbildung 7 aussieht, jedoch grundunterschiedlich ist, weil hierbei die Zuweisung der Räumlichkeiten in Form der Zimmerzuweisung an die Bewohner nicht auf der Grundlage der Berücksichtigung der Bedürfnisse der Einzelnen erfolgen würde. Bei Abbildung 8 verhält es sich so, als würde man die Räumlichkeiten auf eine bestimmte Weise zuweisen, noch bevor die Identität der Bewohner und ihre Bedürfnisse überhaupt bekannt sind. Das wäre eine Übertragung des Rawslchen Prinzips des »Schleiers des Nicht-Wissens« 31 auf die Raumverteilung, was konkret bedeutet: Wenn z. B. künftige und unterschiedliche Mitbewohner A, B und C die Wohnung teilen sollen und jedes Zimmer Vor- und Nachteile aufweist, wird die Zimmerverteilung der Abbildung 8 ausgelost – Zuweisungskriterium ist der Zufall, der Chancengleichheit gewährt; die Identität und die individuellen Bedürfnisse der Mitbewohner stellen dabei kein Zuteilungskriterium dar, denn sie werden vor dem Verteilungsverfahren nicht einmal thematisiert. 32 Dies wäre eine praktische Vgl. John Rawls: Eine Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1979. Es scheint, als könnte man dadurch die Gesellschaftsordnung auf anti-personalistische Art und Weise etablieren, ohne zu wissen, welche Stelle innerhalb der Gesellschaft das Individuum besetzen würde. Beim Gedankenexperiment wäre darüber hinaus die Einführung eines allgemeinen, nicht auf die Bedarfe des Einzelnen eingehenden kompensatorischen Dispositivs – z. B. die Mietminderung bei kleineren oder dunkleren Zimmern – plausibel. Das paradoxe Ergebnis wäre in diesem Falle, dass eine Rawlsche Einstellung zum Problem der Aufteilung die Berücksichtigung der Einzelnen unterlassen würde – sie beruht vielmehr auf deren Ausklammerung, denn die Zimmerzuweisung erfolgt unabhängig von der Identität der Teilnehmer am

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§ 9. Schwammige Kriterien

Anwendung des Rawlschen Prinzip, die eine gerechte Gleichheit bezüglich der Ausgangslage garantiert – die Mitbewohner sollten nichts verhandeln und somit würde niemand riskieren, unter den ungünstigen Folgen einer unvorteilhaften Verhandlung zu leiden. Allerdings könnte diese Übertragung auch zur paradoxen Folge haben, dass alle drei Mitbewohner am Ende der Zimmerzuweisung unzufrieden sind, weil der eine mit breitem Bett das schmale Zimmer zufällig bekommen hat, derjenige, der keine Gitarren aushalten kann, doch an dem Gitarristen grenzt und der dritte das kleine aber helle Zimmer wollte und doch im großen aber dunklen wohnen soll. Das Rawlsche Prinzip des »Schleiers des Nicht-Wissens« würde weiterhin gerecht bleiben, sich in diesem und ählichen Fällen jedoch als ein totaler Fehlschlag herausstellen, denn es würde eine komplett unzufriedene Wohngemeinschaft erzeugen.

§ 9. Schwammige Kriterien Nun erschöpfen die obigen Aufteilungsstrategien des Raums die zahlreichen gemeinschaftlichen Aspekte und Probleme der WG-Teilung nicht im Geringsten. Selbst unter Einschränkung auf die Raumproblematik soll hinzugefügt werden, dass es in einer Wohngemeinschaft auch gemeinschaftliche Gegenstände gibt, die nicht aufgeteilt, sondern eher geteilt werden: Die Möglichkeit zur Benutzung der Toilette, die Küche, das Licht, die Wärme im Wohnzimmer, die Waschmaschine usw. Insofern ist eine Wohngemeinschaft auch ein »gemeinsamer Besitz«, der nicht nur Aufteilungs- sondern auch Teilungselemente mit einschließt. Es gibt außerdem auch ideelle Aspekte oder immaterielle »Güter«. Das Tönniessche Gemeinschaftsparadigma forderte die Prinzipien des Blutes, des Ortes/Besitzes und des Geistes. Selbst wenn man sich einer ideologischen Deutung dieser Stichworte enthält, ist anhand der obigen Analysen klar, dass die konkrete Gemeinschaftsform »WG« – auch aufgrund eines denkgeschichtlichen und sozialen

gemeinschaftlichen Objekt – und folglich auch unabhängig von einer Kenntnisnahme ihrer Bedürfnisse, die somit bei der Zuweisung keine Rolle spielten. Es wäre also die Frage zu stellen, ob Zuteilung, ein zentrales Kriterium der Gemeinschaft, bei Rawls gelte.

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Aufteilung und Verteilung

Hintergrunds, der derartige Lebensweltformen auf mittelbare Art prägt – diese Kriterien untergraben kann. Dies geschieht, weil: 1) Blut: In der WG wohnen i. d. R. nicht Familienangehörige und/ oder miteinander verwandte Menschen. Es ist sogar denkbar, wenn man das gängige Paradigma der Studenten-WG im Auge behält, dass die Anwesenheit eines Verwandten das WG-Konzept entschieden beeinträchtigen kann, z. B. aufgrund der gemeinschaftlich außerordentlichen Verbundenheit, die unter Verwandten besteht und Formen des Ungleichgewichtes zwischen Verwandten/Mitbewohnern/Nicht-Verwandten hervorrufen kann; 2) Ort/Besitz: Da dieses Begriffspaar durchaus in die Schmittsche Ordnung/Ortung umformuliert werden könnte und im Tönniesschen Ansatz sich als eine Einheit erweist, zeigt sich, dass am Wohnobjekt der WG diese Einheit zerlegt wird, indem die entsprechenden Dimensionen des Eigentums und des Besitzes auseinanderdriften: Die Wohnung wird nicht von denjenigen bewohnt, denen sie gehört; und umgehkert, die Bewohner der Wohnung sind nicht deren Eigentümer. 3) Subtiler ist der Bruch und/oder die Paradigma-Umwälzung, die das Kriterium des Geistes betrifft. »Geist« kann durchaus auch als Sprache verstanden werden. In diese Richtung deutet der italienische Ausdruck für »Wortschatz«, »vocabolario« aber auch »patrimonio linguistico«, in welchem der munus des patri-monio wiederhallt – was auch eine weitere Semantisierung des munus zulässt. In dieser Hinsicht muss aber eine WG nicht unbedingt der Ort der Einheitlichkeit der Sprache sein: Nicht selten werden in Studenten-WGs in studentischen Großstädten unterschiedliche Sprachen gesprochen und/ oder zur gemeinsamen Verständigung eine neutrale koiné wie Englisch vereinbart – das Gemeinsame bei Sprachvielfalt ist nicht ein kulturell Identitäres, sondern ein funktional-pragmatisches »Esperanto« der Sprachteilung als Sprachübereinkunft. Würde man »Geist« als »Gefühl der Zusammengehörigkeit« verstehen, wäre es auf der einen Seite schwierig, die genauen Konturen eines solchen Gefühls zu präzisieren (dementsprechende Angaben und Vorgaben finden sich im Mietvertag bekanntlich nicht); und auf der anderen Seite ist der Umstand nicht zu übersehen, dass genau ein solches Prinzip der Zugehörigkeit innerhalb eines weiteren, kon80 https://doi.org/10.5771/9783495820704 .

§ 9. Schwammige Kriterien

kreten WG-Konzeptes ausdrücklich und programmatisch negiert wird, nämlich im Konzept der Zweck-WG. Die Zweck-WG ist somit von großem gemeinschaftstheoretischen Interesse, denn in dieser Form des Zusammenwohnens ergeben sich Schnittmengen der Prinzipien der Gemeinschaft/Gesellschaft. Auf der einen Seite ist dies eine Wohngemeinschaft, in der aber die Grundleitlinie der Zwecklichkeit und Zweckmäßigkeit (ein typisches Merkmal der Gesellschaft und auch deren älteren Formen, wie der symmachia 33) vorherrscht. Daraus ergibt sich das sozialontologisch höchst merkwürdige Geflecht einer Zweckgemeinschaft, was schon von einem terminologischen Standpunkt aus eine contradictio in adiecto darstellt. Wenn bereits die Figur einer »normalen«, nicht zweckbezogenen Wohngemeinschaft das gängige, traditionelle Gemeinschaftskonzept in eine gewisse Krise stürzt, wird dieser Bruch durch die Figur der Zweck-WG noch einmal zugespitzt. Die Wohngemeinschaft scheint schließlich ein ausgewiesenes Grenzfeld gemeinschaftlicher Dynamiken zu sein, für deren Klärung ein traditionelles Paradigma der Aufteilung/Verteilung à la Tönnies/Weber/ Gurwitsch in gewisser Hinsicht unzulänglich bleibt. Aus diesem Grund gilt es jetzt, auf einen weiteren Mechanismus der Gemeinschaft einzugehen, nämlich die Erteilung.

Die symmachia ist eine prototypische Figur der Gesellschaft, denn sie ist ein instrumentales, zweckbezogenes Zusammensein: »Daraus ist denn bereits klar, dass ein Staat, der in Wahrheit so zu heißen verdient und es nicht bloß dem Namen nach ist, sich die Tugend zur angelegentlichen Sorge machen muss, denn sonst wird aus Gemeinschaft (koinonia) ein bloßes Kriegsbündnis (symmachia)« (Aristoteles: Politik, 3, 9, 1280b, Hamburg: Rowohlt, 1994, S. 146).

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Drittes Kapitel: Erteilung. Was ist eine Gabe?

§ 10. Ein Abendessen unter Freunden Auf die Polysemie des lateinischen Terminus munus, der der Drehpunkt des vorliegenden Buches ist, wurde bereits hingewiesen. 1 Die ursprüngliche Bedeutung, die allen Facetten des munus zugrunde liegt und die es in diesem Buch in ihrer Artikulationsvielfalt aufzufächern gilt, ist eben die des »Teils«. Dieser »Teil« kann nun als etwas thematisiert werden, das erteilt wird. Unsere Alltagssprache sagt u. a., dass Aufgaben erteilt werden. Man denke bspw. an ein gemeinsames Abendessen unter Freunden, das möglicherweise in derselben, im Kapitel über Aufteilung geschilderten WG stattfindet. In Anlehnung an die Metapher einer Gemeinschaft von Freunden an einem gemeinsamen WG-Küchentisch würde man sagen, dass jeder der Beteiligten zur Zubereitung des Essens und Vorbereitung des Abends eine bestimmte Aufgabe erteilt bekommt: Sarah kümmert sich um das Brot, Patrick kauft die Getränke ein, Tim bringt das Besteck vom Elternhaus mit, Daniel wird dafür sorgen, dass die Gäste zum rechtzeitigen Einladen telefonisch erreicht werden usw. Die Gemeinschaft des Abendessens kann somit erst durch eine Vorbereitung initiiert werden, die auf der Erteilung der unterschiedlichen Aufgaben beruht. Auch hinter diesem einfachen Beispiel steht ein konkretes, relativ altes und möglicherweise kritikwürdiges Gemeinschaftsparadigma. Dieses Paradigma kann zunächst durch eine semantische Dynamik in zwei Schritten expliziert werden. Der erste Schritt legt den Fokus auf die Basis des Kompositums »Aufgabe«, die »-gabe«. Auch das Wort »Aufgabe« kann, gemäß der Vorgehensweise dieser Studie, als Hendiadyoin betrachtet werden. Ein hendiadyoinartig komplexer Zusammenhang zwischen »Gabe« 1

Siehe dazu die Einleitung des vorliegenden Bandes.

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§ 10. Ein Abendessen unter Freunden

und »Aufgabe« kann rekonstruiert werden. Dies bedeutet konkret, um auf das Beispiel erneut zurückzugreifen, dass Sarah die Aufgabe der Brotzubereitung erteilt bekommt – diesen »Teil« der Aufgaben erhält –, weil sie Brotteig sehr gut zubereiten kann. Auf ähnliche Art und Weise hat Patrick die Aufgabe erhalten, Bier zu kaufen, da er im Unterschied zu seinen Freunden möglicherweise ziemlich geschickt ist, mit dem zur Verfügung stehenden Budget die richtigen Getränke in der richtigen Menge auszusuchen. Ebenso könnte man sagen, dass Tim derjenige ist, der das Besteck bereitstellt, weil man in seinem wohlhabenden Elternhaus über viel Besteck verfügt. Und Daniel hat schon immer durch seine Sozialnetze und kommunikativen Fähigkeiten ein regelrechtes Talent bewiesen, Leute zu kontaktieren. Bei diesem ersten Schritt erscheint klar, dass jeder im Prinzip die eigene Aufgabe aufgrund der eigenen Gabe (Zubereiten-Können, sparsames und effektives Einkaufen, Verfügbarkeit über materielle Güter, kommunikative Veranlagung usw.) erteilt bekommt. »Aufgabe« hängt in diesem Sinne mit Gabe, Talent, Fähigkeit, Können, Veranlagung, Geschicklichkeit zusammen. Sarah tut etwas, weil sie es kann. Und man könnte weiter spekulieren: Sie kann etwas, weil sie es als Gabe bekommen hat – z. B. weil ihre Mutter ihr das Zubereiten »gegeben« sprich beigebracht hat, genauso wie Tim die materielle »Gabe« seiner Eltern (das Besteck genauso wie vieles Weiteres) geschenkt bekommen hat und es dadurch in den Dienst der Gemeinschaft stellen kann. Es könnte jedoch noch ein zweiter Schritt gegangen werden, der eine derart verstandene (Auf-)Gabe in eine weitere, ethisch relevante und äußerst problematische Richtung führen würde. Dass jeder ein Talent oder eine Gabe hat, weil er es als »Gabe« erhalten hat und in den Dienst anderen stellen kann, könnte auch implizieren, dass jeder sein Talent als Gegenleistung oder Gegengabe weiter in den Dienst der Gemeinschaft stellen soll. Sarah soll das Brot zubereiten, weil sie das am besten kann. Und solange sie das Brot noch nicht hat backen lassen, steht sie in einem should-Schuld-Verhältnis gegenüber der Gemeinschaft, die dies als (Auf-)Gabe von Sarah erwartet. Vom »Können« der Gabe gleitet man hierdurch zum »Sollen« des Gebens: Die (Auf-)Gabe wird in diesem zweiten Schritt zur Pflicht. Die Gemeinschaft der (Auf-)Gabenerteilung wird zur Gemeinschaft der Pflichterteilung.

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Erteilung

§ 11. Gaben und Pflichten Die Idee, dass eine Gabe zur Aufgabe und somit zur Pflicht wird, findet in der biblischen Erzählung einen relevanten Prototyp. Dass »jeder gemäß seiner Gabe dienen soll« ist ein Motto, das an mehreren loci betont wird. Timotheus wird bspw. von Paulus dazu aufgefordert, die eigene, erhaltene Gabe einzusetzen: »Lass nicht außer Acht die Gabe in dir, die dir gegeben ist durch Weissagung mit Handauflegung des Rates der Ältesten« 2; und weiter: »Aus diesem Grund erinnere ich dich daran, dass du erweckest die Gabe Gottes, die in dir ist durch die Auflegung meiner Hände« 3. Laut Petrus soll jeder nach seiner Gabe dem Herrn dienen: »Und dienet einander, ein jeder mit der Gabe, die er empfangen hat, als die guten Haushalter der mancherlei Gnade Gottes« 4. Jeder ist nämlich von Christus unterschiedlich begabt worden: »Denn die Predigt von Christus ist unter euch kräftig geworden, sodass ihr keinen Mangel habt an irgendeiner Gabe und wartet nur auf die Offenbarung unseres Herrn Jesus Christus« 5. Als stichhaltig erweist sich auch Paulus’ statement zur Gabe: Über die Gaben des Geistes aber will ich euch, Brüder und Schwestern, nicht in Unwissenheit lassen. Ihr wisst: Als ihr Heiden wart, zog es euch mit Macht zu den stummen Götzen. Darum tue ich euch kund, dass niemand, der durch den Geist Gottes redet, sagt: Verflucht sei Jesus. Und niemand kann sagen: Jesus ist der Herr, außer durch den Heiligen Geist. Es sind verschiedene Gaben; aber es ist ein Geist. Und es sind verschiedene Ämter; aber es ist ein Herr. Und es sind verschiedene Kräfte; aber es ist ein Gott, der da wirkt alles in allen. Durch einen jeden offenbart sich der Geist zum Nutzen aller. Dem einen wird durch den Geist ein Wort der Weisheit gegeben; dem andern ein Wort der Erkenntnis durch denselben Geist; einem andern Glaube, in demselben Geist; einem andern die Gabe, gesund zu machen, in dem einen Geist; einem andern die Kraft, Wunder zu tun; einem andern prophetische Rede; einem andern die Gabe, die Geister zu unterscheiden; einem andern mancherlei Zungenrede; einem andern die Gabe, sie auszulegen. Dies alles aber wirkt derselbe eine Geist, der einem jeden das Seine zuteilt, wie er will. 6

Der erste Brief des Paulus an Timotheus, 4,14. Die Bibel nach der Übersetzung Martin Luthers, Stuttgart: Deutsche Bibelgesellschaft, 2006. 3 Der zweite Brief des Paulus an Timotheus, 1,6. 4 Der erste Brief des Petrus, 4,10. 5 Der erste Brief des Paulus an die Korinther, 1, 6–7. 6 Ebenda, 12,1–11. 2

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§ 11. Gaben und Pflichten

Im Römerbrief erschöpft sich die Gabe nicht nur in Pflicht, sondern sie wird sogar zur Hingabe: Ich ermahne euch nun, Brüder und Schwestern, durch die Barmherzigkeit Gottes, dass ihr euren Leib hingebt als ein Opfer, das lebendig, heilig und Gott wohlgefällig sei. Das sei euer vernünftiger Gottesdienst. Und stellt euch nicht dieser Welt gleich, sondern ändert euch durch Erneuerung eures Sinnes, auf dass ihr prüfen könnt, was Gottes Wille ist, nämlich das Gute und Wohlgefällige und Vollkommene. Die Gnadengaben im Dienst der Gemeinde. Denn ich sage durch die Gnade, die mir gegeben ist, jedem unter euch, dass niemand mehr von sich halte, als sich’s gebührt, sondern dass er maßvoll von sich halte, wie Gott einem jeden zugeteilt hat das Maß des Glaubens. Denn wie wir an einem Leib viele Glieder haben, aber nicht alle Glieder dieselbe Aufgabe haben, so sind wir, die vielen, ein Leib in Christus, aber untereinander ist einer des andern Glied. Wir haben mancherlei Gaben nach der Gnade, die uns gegeben ist. Hat jemand prophetische Rede, so übe er sie dem Glauben gemäß. Hat jemand ein Amt, so versehe er dies Amt. Ist jemand Lehrer, so lehre er. Hat jemand die Gabe, zu ermahnen und zu trösten, so ermahne und tröste er. Wer gibt, gebe mit lauterem Sinn. Wer leitet, tue es mit Eifer. Wer Barmherzigkeit übt, tue es mit Freude. 7

Paulus zeigt zum Gabenverständnis auf, dass die Gaben etwas mit der Hingabe unseres Lebens an Christus und mit einem neuen Denken zu tun haben. Bei der Hingabe geht es um die Heiligung des Lebens in allen Bereichen und beim neuen Denken um das Verständnis der Gaben, u. a. bezüglich dessen, wie die Gaben eingesetzt werden sollen. Selbst die Gabe der Weisheit und Offenbarung bindet an die Erfüllung einer Aufgabe: Dass der Gott unseres Herrn Jesus Christus, der Vater der Herrlichkeit, euch gebe den Geist der Weisheit und der Offenbarung, ihn zu erkennen. Und er gebe euch erleuchtete Augen des Herzens, damit ihr erkennt, zu welcher Hoffnung ihr von ihm berufen seid, wie reich die Herrlichkeit seines Erbes für die Heiligen ist und wie überschwänglich groß seine Kraft an uns, die wir glauben, weil die Macht seiner Stärke bei uns wirksam wurde, mit der er in Christus gewirkt hat. 8

Den Menschen wird das höchste Geschenk gegeben, damit sie ihre Berufung erkennen – ein Akt der Gegenleistung, die eben seitens der Menschen kommen soll. Die Gabe/Gegenleistung-Dynamik artikuliert sich übrigens auch umgekehrt: Bei Lukas erfolgt die Gabe 7 8

Der Brief des Paulus an die Römer, 12,1–8. Der Brief des Paulus an die Epheser, 3,17–20.

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Erteilung

nach Erfüllung einer Pflicht: »Petrus sprach zu ihnen: Tut Buße und jeder von euch lasse sich taufen auf den Namen Jesu Christi zur Vergebung eurer Sünden, so werdet ihr empfangen die Gabe des Heiligen Geistes«. 9 An anderer Stelle wird man durch Gaben belohnt, wenn man wiederum bereits gegeben hat: »Wenn nun ihr, die ihr böse seid, euren Kindern gute Gaben (domata agatha didonai) geben könnt, wie viel mehr wird der Vater im Himmel den Heiligen Geist geben denen, die ihn bitten!«. 10 Es werden durch diese wenigen Zitate viele denkgeschichtliche Geflechte gestreift. Zum ersten kommt sicherlich die in der westlichen Kultur sehr verbreitete und über die biblische Erzählung hinaus repräsentierte Idee zur Geltung, dass eine Gabe/Geschenk nie bedingungslos erfolgt, sondern immer eine Gegengabe oder Gegenleistung fordert. 11 Es handelt sich hierbei schon wieder um den Übergang von Gabe/Aufgabe/Pflicht, der zu einem zentralen ethischen Thema wird. Dies stellt ein gewichtiges Problem im Rahmen philosophisch-kommunitaristischer Ansätze dar. Giorgio Agamben spricht diesen Nexus an, indem er versucht, einen gleichsam negativistischen ethischen Entwurf aufzustellen, der die Orientierung an den Aufgaben, wozu man pflichtberufen sei, aufhebt: Die Tatsache, dass der Mensch weder ein Wesen, noch eine historische oder spirituelle Berufung, noch auch eine biologische Bestimmung hat oder verwirklichen sollte, muss der Ausgangspunkt eines jeden ethischen Diskurses sein. Nur so kann es so etwas wie eine Ethik geben: Denn wenn der Mensch diese oder jene Wesenheit wäre oder zu sein hätte, diese oder jene Bestimmung hätte oder erfüllen sollte, wäre jede ethische Erfahrung unmöglich – es gäbe nur Pflichten, die zu erfüllen wären. 12

Terminologisch bemerkenswert ist im obigen Text die Wortwahl »Pflichten«, denn dieses Wort übersetzt das italienische »compiti« (Aufgaben) 13, eine Übersetzungsungenauigkeit – wenn nicht ein Übersetzungsfehler, denn die richtige Entsprechung von Pflichten Apostelgeschichte des Lukas, 2,38. Das Evangelium nach Lukas, 11,13. 11 Vgl. dazu Marcel Mauss: Die Gabe. Form und Funktion des Austauschs in archaischen Gesellschaften, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1990. 12 Giorgio Agamben: Die kommende Gemeinschaft, Leipzig: Merve, 2003, S. 43. 13 »Il fatto da cui deve partire ogni discorso sull’etica è che l’uomo non è né ha da essere o da realizzare alcuna essenza, alcuna vocazione storica o spirituale, alcun destino biologico. Solo per questo qualcosa come un’etica può esistere: poiché è chiaro che se l’uomo fosse o avesse da essere questa o quella sostanza, questo o quel destino, non 9

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§ 11. Gaben und Pflichten

wäre »doveri«, was im Italienischen Text eben nicht vorkommt –, die vielleicht eine gewisse kulturelle Denkorientierung an einer Pflichtethik verrät. Dass die italienische »Aufgabe« in der deutschen Übersetzung zur »Pflicht« wird, ist nicht der einzige interessante Aspekt dieses Textes. Zu den philosophischen Verdiensten Agambens zählt bekanntlich eine systematische Kritik am traditionellen potentia-Begriff sowie der Versuch, dieser letzteren eine Theorie der potentianicht-zu entgegenzustellen. Seine Kritik entsteht dadurch, dass das ethische Problem der Pflicht/Aufgabe letztendlich an die ontologische Grundlage des potentia-Begriffs anknüpft und dass Pflichten/Aufgaben traditionellerweise von veranlagten Vermögensformen herrühren, die es zu entfalten gelte, d. h. von veranlagten und in den Akt zu überführenden potentia-Bestimmungen. »Werde, der du bist« könnte somit im ethisch gängigen (und kritikwürdigen) Sinne als die pflichtmäßige – also ethisch zwanghafte – Entfaltung einer veranlagten Vorbestimmung intendiert werden. Es ist übrigens eine Idee, die in verschiedenen Bereichen, u. a. dem pädagogischen, Entsprechung findet. 14 Bevor auf die negativistischen Positionen eingegangen wird, kann bei diesem problematischen Boden und beim Thema der pflichtmäßigen Überführung der potentia in den Akt noch verweilt werden. Ein solcher janusköpfiger Charakter des donum, welcher durch eine Dialektik des Nehmens/Gebens als eigene Begabung im Dienste der Gemeinschaft verausgabt werden soll, kann im Zuge der allbekannten biblischen Parabel von den anvertrauten Zentnern gezeigt werden. Dieses Gleichnis enthält zahlreiche gemeinschaftliche Motive, indem die Parabel den Übergang von der Gabe zur Pflicht auf eine ziemlich ambigue Art und Weise inszeniert: Denn es ist wie mit einem Menschen, der außer Landes ging: Er rief seine Knechte und vertraute ihnen sein Vermögen an; dem einen gab er fünf Zentner Silber, dem andern zwei, dem dritten einen, jedem nach seiner Tüchtigkeit, und zog fort. Sogleich ging der hin, der fünf Zentner empfanvi sarebbe alcuna esperienza etica possibile – vi sarebbero solo compiti da realizzare« (Giorgio Agamben: La comunità che viene, Turin: Bollati Boringhieri, 2001, S. 39). 14 Vgl. dazu Giovanni Tidona: »Bildungskrise als Krise des Poietischen. Philosophisch-pädagogische Problemverflechtungen am Beispiel des Begriffs der Kompetenz«, in Bildungsreformen und Bildungskrisen. Zur Organisation des Wissens in der Wissensgesellschaft, hrsg. v. Georg Zenkert: Diskurs Bildung. Schriftenreihe der Pädagogischen Hochschule Heidelberg, Band 62, Heidelberg: Mattes Verlag, 2017.

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Erteilung

gen hatte, und handelte mit ihnen und gewann weitere fünf dazu. Ebenso gewann der, der zwei Zentner empfangen hatte, zwei weitere dazu. Der aber einen empfangen hatte, ging hin, grub ein Loch in die Erde und verbarg das Geld seines Herrn. Nach langer Zeit kam der Herr dieser Knechte und forderte Rechenschaft von ihnen. Da trat herzu, der fünf Zentner empfangen hatte, und legte weitere fünf Zentner dazu und sprach: Herr, du hast mir fünf Zentner anvertraut; siehe da, ich habe damit weitere fünf Zentner gewonnen. Da sprach sein Herr zu ihm: Recht so, du tüchtiger undtreuer Knecht, du bist über wenigem treu gewesen, ich will dich über viel setzen; geh hinein zu deines Herrn Freude! Da trat auch herzu, der zwei Zentner empfangen hatte, und sprach: Herr, du hast mir zwei Zentner anvertraut; siehe da, ich habe damit zwei weitere gewonnen. Sein Herr sprach zu ihm: Recht so, du tüchtiger und treuer Knecht, du bist über wenigem treu gewesen, ich will dich über viel setzen; geh hinein zu deines Herrn Freude! Da trat auch herzu, der einen Zentner empfangen hatte, und sprach: Herr, ich wusste, dass du ein harter Mann bist: Du erntest, wo du nicht gesät hast, und sammelst ein, wo du nicht ausgestreut hast; und ich fürchtete mich, ging hin und verbarg deinen Zentner in der Erde. Siehe, da hast du das Deine. Sein Herr aber antwortete und sprach zu ihm: Du böser und fauler Knecht! Wusstest du, dass ich ernte, wo ich nicht gesät habe, und einsammle, wo ich nicht ausgestreut habe? Dann hättest du mein Geld zu den Wechslern bringen sollen, und wenn ich gekommen wäre, hätte ich das Meine wiederbekommen mit Zinsen. Darum nehmt ihm den Zentner ab und gebt ihn dem, der zehn Zentner hat. Denn wer da hat, dem wird gegeben werden, und er wird die Fülle haben; wer aber nicht hat, dem wird auch, was er hat, genommen werden. Und den unnützen Knecht werft in die Finsternis hinaus; da wird sein Heulen und Zähneklappern. 15

Unbeschadet der sicherlich zahlreichen Interpretationsmöglichkeiten dieser Parabel, auf deren Vollständigkeit hier nicht abgezielt wird, soll vielmehr auf das dabei enthaltene Aufgabe-Konzept fokussiert werden. Auf den ersten Blick handelt es sich hier um eine Geschichte der Güterverteilung: Das »Gut«, das hier den Knechten ausgeteilt wird, bewegt sich im metaphorischen Spannungsfeld des Konkreten und Abstrakten: »Zentner« sind bekanntlich sowohl eine Währung als auch eine Maßeinheit der Masse, sprich 50 Kg. – also Instrumente der Reichtums- und Besitzverteilung. Das Wort »Zentner« übersetzt hier das griechische τάλαντον und das lateinische talentum. Ein τάλαντον ist eine Waage, was metonymisch auf das Abgewogene führt. Dieses Abgewogene ist ver15

Das Evangelium des Matthäus, 25, 14–30.

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§ 11. Gaben und Pflichten

mutlich in erster Linie ein Konkretes, könnte jedoch auf einem etymologischen Weg auf ein abstraktes pòndus des ponderare 16 hindeuten – pòndus ist das auf die Waage wortwörtlich Überlegte/Übergelegte; Denken heißt u. a. ponderare, abwägen. Das Abwiegen steht im semantischen Berührungszusammenhang mit dem Abwägen und umgekehrt. Das Abgewogene/Abgewägte und durch Währung Vertauschte ist ein bonum, ein Gut – also ein munus. Der munus ist hier sowohl das Abgewogene als auch die abwägende Maßeinheit. »Zentner«, »τάλαντα« und »bona« sind somit drei semantische Artikulationen des abstrakt/konkreten, zu messenden und gemessenen Gutes. Aber Zentner sind »Talente«, und diese Letzteren sind, außer Währung und Gut, auch »Begabungen«. Eine Begabung ist eine Gabe – Talente werden durch eine höhere Instanz gegeben und unterschiedlich vergeben; es handelt sich um eine Gabe, die sich somit als Maßgabe konfiguriert. Die Vergabe der Talente/Begabungen, sprich: Zentnerverteilung erfolgt κατα την ιδιαν δυναμιν/unicuique secundum propriam virtutem. 17 Zunächst darf hierbei auf keinen Fall der Bezug auf das Eigene übersehen werden. Das Talent ist ein ίδιος, ein unaustauschbares und unverwechselbares Spezifikum. Auf der anderen Seite lässt der Übersetzungswechsel von der dynamis – einem Terminus, der das Vermögen traditionellerweise im physisch-ontologischen Sinne ausdrückt – zur virtus möglicherweise eine unentscheidbare Überlappung von Ontologie und Moral vermuten. Ist die Begabung bspw. die Körperstärke, die den Knecht befähigt, anstrengende physische Arbeit bei der Ackerbebauung zu leisten, oder eher eine moralische, virtus-bezogene Eigenschaft, z. B. die auf Gewinn zielende Sparsamkeit und Fähigkeit zur Geldverwaltung? Der Nexus zwischen ontologischer dynamis und moralischer virtus, wenn man das im Ganzen berücksichtigt, belässt diesen Unterschied unausgedrückt. Wie auch immer dieser Nexus sich heraus konfiguriert, ist auch der Umstand interessant, dass jeder das Seine bekommt, je nachdem, was jeder schon ist. Die zu verausgabenden (Auf)Gaben in Form Im Italienischen bedeutet »ponderare« »überlegen«, »abwägen«, in »Betracht ziehen«, »denken«. Das Verb ist vom lateinischen »pòndus/pònderis« (»Gewicht«, »Schwere«, »Pfund«) abgeleitet. 17 και ωι μεν εδοκεν πεντε ταλαντα ωι δε εν εκαστωι κατα την ιδιαν δυναμιν και απεδημησεν ευθεως / et uni dedit quinque talenta alii autem duo alii vero unumunicuique secundum propriam virtutemet profectus est statim (Das Evangelium des Matthäus, 25, 15). 16

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Erteilung

eines »Vermögens« werden maßgeschneidert erteilt, was auch bedeutet: Niemand bekommt ein Vermögen, das er nicht weiterentfalten könnte. Das, was auf den ersten Blick wie ein circulus vitiosus aussehen könnte, ist jedoch wahrscheinlich eine Gerechtigkeitsbedingung: Von keinem wird verlangt, was er nicht kann. Dieser Umstand schlägt jedoch wiederum ins Negative um, wenn man bedenkt, dass von jedem verlangt wird, was er kann (dies ist wahrscheinlich die Doppelbedeutung der »Rechenschaftsforderung«). Die ersten zwei moralisch »treuen« und außermoralisch »tüchtigen« Knechte erfüllen tatsächlich ihre Aufgabe secundum virtutem und entfalten das nach Gerechtigkeit anvertraute Vermögen in ein quantitativ gleiches Vermögen. Ihnen steht die Lohn/Belohnung (eine weitere munus-Facette, vgl. Kapitel über Arbeitsteilung) des Herrn zu. Der dritte (und es ist wahrscheinlich kein Zufall, dass die Knechte drei sind) jedoch nicht. Er fürchtet sich vor einem widersprüchlichen (ungerechten?) Herrn und verbirgt seinen Zentner in einem Loch in die Erde, also in diejenige Dunkelheit, die den Gegenpol des Lichtes der gemeinschaftlichen Öffentlichkeit darstellt. 18 Nun ist dieser dritte Knecht aber nicht nur »faul« (im ontologischen Sinne »schlecht«, »untauglich«, im moralischen Sinne »böse«). Er ist außerdem der einzige Knecht, der mit dem Herrn spricht – paradoxerweise der einzige mündige, verantwortungsvolle – im Sinne der Fähigkeit zur Antwort – Knecht (dies ist ein Aspekt, der im Rahmen der zahlreichen Parabelinterpretationen i. d. R. nicht hervorgehoben wird). Er ist der einzige, der durch Begründung und trotz der Ehrfurcht dem Herrn antwortet. 19 Er spricht jedoch, um nein zu sagen – er begründet sprachlich seine Weigerungshaltung gegenüber der gemeinschaftlichen Soll-Erfüllung der (Auf-)Gabe. Er ist der sprechende Versager, der Nein sagt – »man spricht vergebens viel, um zu versagen; der andre hört vor allem nur das Nein«. 20 In der Tat hört der Herr nur das Nein und legt sein widersprüchliches Prinzip bei dem interpretationsschwierigsten Vers des Gleichnisses fest: Eine Lichtmetaphorik, die auch im Märchen »Hans im Glück« (vgl. Kapitel Arbeitsteilung) und im Lied von Reinhard May (vgl. Kapitel über Erdenteilung) vorzufinden ist. 19 Insofern ist Mündigkeit nichts anderes als Ver-Antwortung, Fähigkeit zur Antwort. Es handelt sich hier um einen gescheiterten und doch im Unterschied zu den anderen responsiven Knecht. 20 Johann Wolfgang von Goethe: Iphigenie auf Tauris, 1787, 1. Akt, 3. Szene, »Thoas zu Iphigenie«. 18

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§ 12. Ver-Sagen (scheitern und behaupten, scheitern zu wollen)

»Denn wer da hat, dem wird gegeben werden, und er wird die Fülle haben; wer aber nicht hat, dem wird auch, was er hat, genommen werden«. Daraufhin meldet sich die Gemeinschaft der Strafe: Die nicht erfüllte gemeinschaftliche (Auf-)Gabe bzw. die verfehlte Entfaltung des eigenen (zugeeigneten) Vermögens kata dynamin determiniert den Exitus aus der Gemeinschaft, und zwar in diejenige obskure Finsternis, wo nur Heulen und Zähneklappern sind – was nicht zufällig vermeintlich private, ego-isolierte Schmerzempfindungen sind.

§ 12. Ver-Sagen (scheitern und behaupten, scheitern zu wollen) Die Matthäus-Parabel enthält somit dem Anschein nach eine janusköpfige Gemeinschaftsauffassung: Ausgehend von einer gerechten Erteilung der konkret-abstrakten (Auf-)Gaben anhand eines potentia-Spezifikums wird der Anspruch auf deren Entfaltung seitens einer höheren Instanz (möglicherweise Familie, Schule, Gesellschaft, Wirtschaft und Arbeitsmarkt, Moral?) gestellt. Die Nicht-Erfüllung der (Auf-)Gabe als (Entsprechungs-)Leistung führt zur Stigmatisierung der Weigerungshaltung und zum folgerichtigen Ausschluss aus der Zugehörigkeitsgemeinschaft. An dem Punkt, an dem die Parabelerzählung endet, könnte die Analyse jedoch angeknüpft und in eine zusätzliche Richtung fortgesetzt werden. In der Weigerungshaltung des (vielleicht paradoxerweise) mündigen Knechtes liegt der Keim eines alternativen, negativistischen Gemeinschaftskonzeptes. Das, was die Parabel als ungemeinschaftlich präsentiert, die Entscheidung, das eigene, einer Furcht unterworfene potentia-Vermögen nicht zu entfalten, weist deutliche Anknüpfungspunkte an Agambens Figur des Bartleby auf, »jene[n] Schreiber, der nicht einfach aufhört zu schreiben, sondern ›lieber nicht‹ schreibt«. 21 I would prefer not ist das Motto eines aktualisierten, dritten Knechtes, der diesmal jedoch nicht aus Furcht, sondern aus freier Entscheidung seine eigene potentia entstellt – wenn das ergon der potentia ein Werk ist, wäre durchaus von einer »entwerkten« potentia die Rede. Eine solche »Entwerkung« ist dadurch ermöglicht, dass die authentische potentia eine potentia-nicht-zu ist: Der mündige Knecht und der versagende Bartleby haben nicht nur das Vermögen, 21

Agamben 2003, S. 40.

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Erteilung

die Aufgabe zu erfüllen – es darf nicht übersehen bleiben, dass der mündige Knecht seinen Zentner doch erhalten hat, genauso wie Bartleby schreiben kann –, sondern sie haben, auf viel originärere Art und Weise, das Vermögen nicht nicht zu spielen: Von den zwei Modi, in denen sich Aristoteles zufolge jede Potenz artikuliert, ist hier nur derjenige von Interesse, den der Philosoph ›Potenz nicht zu sein‹ (dynamis me einai) oder Impotenz (adynamia) nennt. […] In der Potenz-zu-sein ist die Potenz auf einen gewissen Akt gerichtet. Energein, Im-Akt-Sein, hat für sie nur eine Bedeutung; in eine bestimmte Aktivität überzugehen (deshalb nennt Schelling auch jene Potenz blind, die es nicht vermag, nicht in den Akt überzugehen). Für die Potenz-nicht-zu-sein gilt hingegen, dass der Akt nicht nur in einem einfachen Übergang de potentia ad actum bestehen kann; sie ist nämlich eine Potenz, die ihre eigene Potenz zum Gegenstand hat, eine potentia potentiae. Mithin ist nur diejenige Potenz, die zu Potenz und Impotenz gleichermaßen fähig ist, höchste Potenz. Wenn jede Potenz gleichermaßen Potenzzu-sein wie Potenz-nicht-zu-sein ist, kann sich der Übergang zum Akt nur vollziehen, indem die eigentliche Potenz-nicht-zu sein in den Akt überführt (Aristoteles sagt ›gerettet‹) wird. Das bedeutet, dass, auch wenn zu jedem Pianisten notwendigerweise die Potenz zu spielen und die nicht zu spielen gehört, Glenn Gould gleichwohl der einzige ist, der es vermag, nicht nicht zu spielen und, indem er seine Potenz nicht ausschließlich auf den Akt, sondern auch auf seine Impotenz richtet, gleichsam mit seiner Potenz nicht zu spielen spielt. 22

Agamben kippt das gemeinschaftliche Grundkonzept der Parabel um, indem er die Nicht-Entfaltung der potentia als die Chiffre einer kommenden Gemeinschaft ansieht. An dieser Stelle ist aber der ethische Aspekt seiner negativistischen potentia-Theorie zu betonen: Wenn der Knecht und Bartleby nicht als die aus der Gemeinschaft Ausgeschlossenen, sondern als Prototypen einer neuen Gemeinschaft betrachtet werden, dann nimmt eine derartige, neue Gemeinschaft ganz andere Züge an als die durch Matthäus geforderte Gemeinschaft der Erteilung und der Pflichten: Es handelt sich um eine Gemeinschaft, in der der Mensch sich dessen potentia bewusst ist, ohne sie zwanghaft in den Akt überführen zu müssen: Das bedeutet jedoch nicht, dass der Mensch nicht irgendetwas ist oder sein sollte, dass er dem Nichts überantwortet wäre und deshalb nach Belieben entscheiden könnte, zu sein oder nicht zu sein, sich dieses oder jenes Schicksal zuzuteilen oder nicht (Nihilismus und Dezisionismus treffen sich in 22

Ebenda, S. 37–38.

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§ 12. Ver-Sagen (scheitern und behaupten, scheitern zu wollen)

diesem Punkt). Es gibt in der Tat etwas, das der Mensch ist und sein soll. Doch dieses etwas ist weder eine Essenz noch im eigentlichen Sinn eine Sache: Es ist das schlichte Faktum seines Daseins als Möglichkeit oder Potenz. Doch genau deswegen kompliziert sich alles, deswegen wird die Ethik wirksam. Einzig und allein deshalb, weil es das eigenste Wesen des Menschen ausmacht, seine eigene Möglichkeit und Potenz zu sein (d. h. insofern es ihm an seinem eigensten Wesen, also der Potenz, in gewissem Sinne mangelt, insofern es auch nicht sein kann, ist es grundlos und der Mensch nicht je schon in seinem Besitz), ist er und fühlt sich schuldig. Der Mensch, der die Potenz zu sein und nicht zu sein ist, steht folglich schon immer in einer Schuld, hat immer schon das schlechte Gewissen, etwas verschuldet zu haben. Nichts anderes besagt die alte theologische Lehre von der Ursünde. Die Moral hingegen bezieht diese Doktrin auf eine strafbare Handlung, die der Mensch begangen hat und legt derart seine Potenz fest, indem sie sie auf die Vergangenheit rückbezieht. Der Beweis, dass es Böses gibt, ist älter und ursprünglicher als jedes Verschulden und beruht schlicht auf der Tatsache, dass der Mensch, der nichts anderes ist, nichts anderes sein soll als seine Möglichkeit oder Potenz, sich gewissermaßen selbst mangelt und sich diesen Mangel aneignen soll, als Potenz existieren soll. Wie Perceval im Roman Chrétien de Troyes’, ist er schuldig durch das, was ihm mangelt, durch eine Tat, die er nicht begangen hat. Deshalb ist die Reue in der Ethik fehl am Platz; und die einzige ethische Erfahrung (die, als solche, weder eine Pflicht noch eine subjektive Entscheidung sein kann) ist die Erfahrung (der eigenen) Potenz, (der eigenen) Möglichkeit zu sein, d. h. in jeder Gestalt die eigene Gestaltlosigkeit und in jedem Akt die eigenen Untätigkeit auszustellen. 23

Obwohl in diesem wie in ähnlichen negativistischen Konzepten bei genauerem Hinsehen auch ein Kritikpunkt liegt, nämlich ihre Orientierung an einer bestimmten, relativ einseitigen Verständnisweise des ergon als Werk, 24 soll dieser Aspekt im Moment dahingestellt bleiben. Was hier gilt, ist der Überwindungsversuch einer strikten Potenz-Akt-Überführungstheorie, die bislang denkgeschichtlich extrem wirksam war und in mehreren Dimensionen der Ethik, der Alltagsprache und des common sense Entsprechungen gefunden hat. Durch eine negativistische Überwindung der potentia-Lehre, die an die eigentliche Quelle der aristotelischen dynamis me on zurückführt, meldet sich ein Gemeinschaftskonzept, in dem die aus dem Defizit Ebenda, S. 42. Diese Problematik wird im Kapitel über Arbeitsteilung und Vorteil/Nachteil angerissen.

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Erteilung

heraus intendierte Schuld zu einer offenen Schuld wird, einer immerwährenden Grunddimension des ethischen Menschseins. Diese Schuld wird weder gebrandmarkt noch gestraft und führt nicht zum Ausschluss aus der Gemeinschaft, sondern ist die erste, offene Bedingung der Gemeinschaft selber, wo der Mensch zwischen der Realisierung und der Entstellung seiner Möglichkeiten ständig schwebt, eine von der zwanghaften Überführung in den Akt losgelöste potentia ist und als solches eine aporetische Ethik annimmt. Eine solche Ethik würde den für die Gemeinschaft gefährlichen Nexus von Gabe/Gegenleistung neutralisieren. Dass man eine Gabe erteilt bekommen hat, bedeutet nicht unweigerlich, dass diese dann durch »Zwang zur Erwiderung« in Gegenleistung transformiert werden soll: So weit diese beiden Positionen voneinander entfernt scheinen, so spürbar wird in beiden eine grundsätzliche Struktur des Gebens. Nämlich, dass Geben und Nehmen miteinander verschränkt sind. Die reine Gabe, also die, die nichts fordert oder nicht doch auf einen wie auch immer gearteten Gewinn ihres Tuns hofft, bleibt meist theoretisch. Selbst da, wo sie immer schon Maßgabe ist, also im religiösen Kontext, wo Gottes Gnade sich fortsetzen soll im menschlichen Geben und Schenken, schwingt letztlich Erwartung mit. Nämlich auf die Honorierung dieses Tuns im Jenseits. Was eigentlich nicht schlimm ist, solange dieses Zusammenspiel von Geben und Nehmen offenbleibt, unkalkulierbar und riskant. Solange es ambivalent bleibt und komplexes soziales Tun. Denn erst, wenn die Gabe wie selbstverständlich mit einer äquivalenten Gegengabe verknüpft ist, wird sie ökonomischer Tausch. Sie verlässt ihr Terrain und verliert das Potenzial, eben solche Kreisläufe der Ökonomie zu torpedieren. 25

Eine solche Schwingung von Geben/Nehmen im Lichte der nicht bedingungslosen Gabe, das Abdriften der Gemeinschaftsgabe ins Ökonomische und die Problematik der Entstellung der Pflicht kennzeichnen nicht zufällig auch ein weiteres Paradigma der Gemeinschaft, das die Dimension der Arbeit prägt. Deshalb ist im Folgenden von Arbeitsteilung die Rede.

Stephanie Metzger: »Alternative Gesellschaftsmodelle Philosophie. Gabe als gesellschaftskritische Denkfigur«, in: Deutschlandfunk, 25. 03. 2016, http://www.deutsch landfunk.de/alternative-gesellschaftsmodelle-philosophie-der-gabe.1184.de.html? dram:article_id=344257 (zuletzt abgerufen am 2. November 2018). Darauf sei zu einer Erörterung der durchgängigen paradoxen Struktur der Gabe und ihrer Artikulationen in der Kunst, Philosophie und Soziologie verwiesen.

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Viertes Kapitel: Arbeitsteilung. Öffentlichkeit und òikos bei »Hans im Glück«

§ 13. Arbeit, Dienst, Beruf(ung) Auch Arbeit hat mit munus bzw. dem »Teil« der Gemeinschaft viel zu tun. Angefangen bei der Differenzierung in Vollzeitarbeit und Teilzeitarbeit (Aufteilung der Arbeitsstunden) bis hin zu gängigen Vorstellungen der Arbeits- und Karrierepositionierung als einer zentralen Bedingung, aktiver Teil der Gemeinschaft zu sein (das sogenannte »aktive Mitglied der Gesellschaft«), färbt sich die Dimension der Arbeit zweifelsohne durch zahlreiche, heterogene gemeinschaftliche Motive. Arbeit ist u. a. Arbeitsteilung. Dieses historische und politischphilosophische Wort ist hierbei nicht nur im Sinne der Aufteilung der Arbeitsaufgaben zu verstehen (wobei der Ausdruck ein starkes Interesse weckt, denn er birgt einen doppelten munus-Begriff). Arbeitsteilung ist auch eine Ausdifferenzierung, die auf Arbeitsspezialisierung beruht, kurz gesagt eine Zerlegung der Einheitlichkeit des Arbeitspensums in unterschiedliche Arbeitskompetenzen und -sphären – man könnte von Zuständigkeiten sprechen. Es handelt sich um zwei Dimensionen der Arbeitsteilung, die oft verwechselt werden, jedoch ein Wesentliches gemein haben: Die Arbeitsteilung ist in der Tat ein dem Arbeitsprozess inhärentes Prinzip, das nicht mit dem nur scheinbar ähnlichen Prinzip der Spezialisierung in Berufe verwechselt werden kann, das dem Herstellungsprozess eigen ist. Das Einzige, was die Berufsspezialisierung mit der Arbeitsteilung gemein hat, ist das allgemeine Prinzip der Organisation, das seinerseits weder aus dem Herstellen noch dem Arbeiten als solchen entspringt, sondern aus dem politischen Bereich stammt, bzw. der menschlichen Fähigkeit zu handeln geschuldet ist. Die Phänomene der Berufsspezialisierung und der Arbeitsteilung können überhaupt nur im Rahmen politischer Gemeinschaften auftauchen, in denen Menschen nicht bloß zusammenleben, son-

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Arbeitsteilung

dern auch zusammenhandeln, in denen daher das Prinzip der Organisation bekannt ist. 1

Arbeits- und Berufsspezialisierung sind an der Organisation orientierte gemeinschaftliche Phänomene. Im weitesten philosophischen Sinne teilt sich auch das Verständnis des existenzialen Phänomens »Arbeit« in der deutschen Sprache in mindestens drei Aspekte auf, und zwar in Arbeit, Dienst, Beruf. Diese Stichworte könnten sicherlich unterschiedlich interpretiert werden, augenfällig ist aber die Möglichkeit einer Auslegung am Leitfaden des heterologischen Prinzips. Während »Dienst« eine ausgeprägt kommunitäre Valenz suggeriert – Dienst ist die Arbeit, die jemand im Dienste eines Anderen vollzieht, indem dem Anderen gedient wird –, führt »Beruf« eher zu einer individuell zu entfaltenden Veranlagung als Berufung – wobei man strenggenommen von den Anderen zu etwas berufen wird, denn der Beruf wäre in dieser Hinsicht die Antwort auf den Ruf des Anderen, selbst wenn dieser Andere eine »innere Stimme« der Berufung ist. Solch unterschiedliche Bezeichnungen der Arbeit lassen eine gewisse Komplexität durchscheinen, die weit über die Ausübung eines Berufs, die Mühe der Arbeit oder etwa die »Dienstleistung« hinausreicht. Die Komplexität des Phänomens »Arbeit« wird in diesem Kapitel, und zwecks einer Thematisierung des entsprechenden munus-Begriffs der Arbeitsteilung, durch ein Einfacheres gestreift. Es wird der Versuch zur Interpretation einer allberühmten Fabel unternommen, deren philosophische Tragweite jedoch noch nie konsequent an den Tag gelegt wurde. Insofern ist der Dreh- und Angelpunkt dieses Kapitels eine philosophische Analyse des Märchens »Hans im Glück« der Gebrüder Grimm.

§ 14. Privat und öffentlich Das Märchen »Hans im Glück« inszeniert eine Geschichte der Gemeinschaftszugehörigkeit. 2 Das Gemeinschaftsgebilde, in dem Hans involviert ist, beruht auf bestimmten Arbeitsauffassungen. Hannah Arendt: Vita activa oder Vom tätigen Leben, München: Piper, 2002, S. 145. Textgrundlage ist hierbei Brüder Grimm: Kinder- und Hausmärchen. Ausgabe letzter Hand. Mit einem Anhang sämtlicher, nicht in allen Auflagen veröffentlichter Märchen, Leipzig: Reclam, 2009.

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§ 14. Privat und öffentlich

Der öffentliche Raum, in dem sich Hans bewegt, ist ein Raum der Arbeit und des Tausches – oder aber der am Warentausch orientierten Arbeit. Diesem öffentlichen Raum entgegenstellt ist das Private, in dem weder Arbeit noch Tausch stattfindet und das durch eine Geschichtseinrahmung am Anfang und am Ende der Narration evoziert wird: Nachdem Hans sieben Jahre gedient hat, will er »wieder heim« zu seiner Mutter (wie bereits in den ersten Zeilen berichtet). Ebenfalls durch den Bezug auf das Heim wird das Märchen beendet. Die letzte Zeile lautet: »Mit leichtem Herzen und frei von aller Last sprang er nun fort, bis er daheim bei seiner Mutter war«. 3 Obwohl der Bezug auf das Heim die Geschichte als diegetische Rahmung umfasst, wird das Heim in seinen Zügen nicht dargestellt: In diesem Sinn ist das Heim ein regelrecht, konsequent verstandenes Privates. Das Private ist im Prinzip der Bereich des Haushalts, der von den öffentlichen Dimensionen des politischen Lebens beraubt (»privat«, im etymologischen Sinne der »Privation«) ist. »Privat« und »öffentlich« sind ursprünglich zwei »verschiedene Seinsordnungen«: Griechischem Denken gemäß ist die menschliche Fähigkeit für politische Organisation von dem naturhaften Zusammenleben, in dessen Mittelpunkt das Haus (οἰκία) und die Familie stehen, nicht nur zu scheiden, sie steht sogar in einem ausgesprochenen Gegensatz dazu. Das Entstehen der Polis, die durchaus den Rahmen für das griechische Verständnis von Politik hergibt, hatte zur Folge gehabt, dass ein jeder außer seinem privaten Leben noch eine Art zweiten Lebens erhielt, seinen βίος πολιτικός. Jeder Bürger gehörte von nun an zwei Seinsordnungen zu, und sein Leben war dadurch ausgezeichnet, dass es genau aufgeteilt war zwischen dem, was er sein eigen nannte (ἴδιον), und dem, was gemeinsam war (κοινόν). 4

Wenn man so möchte, arbeitet auch die Grimm-Geschichte an einer griechischen òikos–polis-Spaltung. Auf der einen Seite steht die öffentliche Gesellschaft des Tausches, auf der anderen ein nicht genau definiertes und außeröffentliches Heim. Bevor auf die Fabelanalyse genauer eingegangen wird, gilt es, den Sinn dieser denkgeschichtlichen Gegenüberstellung zu präzisieren: Die einfache Unterscheidung zwischen öffentlich und privat entspricht dem Bereich des Haushalts auf der einen, dem Raum des Politischen auf der anderen Seite, und diese Bereiche haben als unterschiedene, genau von-

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Ebenda, S. 393. Arendt 2002, S. 35.

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Arbeitsteilung

einander getrennte Einheiten zum mindesten seit Beginn des antiken StadtStaates existiert. […] Die Sphäre des Haushalts war dadurch ausgezeichnet, dass das Zusammenleben in ihr vornehmlich von den menschlichen Bedürfnissen und Lebensnotwendigkeiten diktiert war. […] Dass die Sorge für die Erhaltung des Einzelnen dem Manne und die für die Erhaltung der Gattung der Frau oblag, schien von der Natur selbst vorgezeichnet, und die beiden natürlichsten Funktionen des Menschen, das Arbeiten des Mannes, das der Nahrung dient, und das Gebären der Frau, das der Fortpflanzung dient, waren gleicherweise dem Drang und Trieb des Lebens untertan. Das natürliche Zusammenleben im Haushalt hatte daher seinen Ursprung in der Notwendigkeit, und Notwendigkeit durchherrschte alle Tätigkeiten, die in diesen Bereich fielen. Im Gegensatz hierzu war der Raum der Polis das Reich der Freiheit, und sofern es überhaupt einen Bezug zwischen diesen beiden Bereichen gab, so galt für ihn natürlicherweise, dass die Beherrschung der Lebensnotwendigkeiten innerhalb eines Haushaltes die Bedingungen für die Freiheit in der Polis bereitstellte. […] dass Notwendigkeit ein präpolitisches Phänomen ist, das den privaten Haushaltsbereich charakterisiert, und dass der Zwang und Gewalt nur in dieser Sphäre zu rechtfertigen sind, weil sie die einzigen Mittel bereitstellen, um der Notwendigkeit Herr zu werden – z. B. durch die Herrschaft über Sklaven – und frei zu sein. Die Notwendigkeit, deren Zwang alle Sterblichen unterworfen sind, rechtfertigt die Gewalt; gewaltsam befreien sich die Menschen von der Notwendigkeit, die das Leben auf sie legt, für die Freiheit der Welt. Diese Freiheit in der Welt war den Griechen Bedingung für das, was sie Glück nannten, die εὐδαιμονία. 5

In der idealtypischen (und doch durch ausgiebigen Rekurs auf historische Quellen untermauerten) Interpretation von Hannah Arendt stünden die Prinzipien der Gewalt und der Lebensnotwendigkeiten des privaten Haushalts den Prinzipien der Freiheit und des eudaimonistischen Glücks der öffentlichen Polis gegenüber. Darüber hinaus ist man im Heim unterschiedlich – darin herrscht ein Hausherr über die »Untertanen« bzw. Frauen, Kinder, Sklaven, während die Polis durch das Prinzip der Isonomie, der Gleichstellung der polites gekennzeichnet ist: Die Polis unterschied sich von dem Haushaltsbereich dadurch, dass es in ihr nur Gleiche gab, während die Haushaltsordnung auf Ungleichheit geradezu beruhte. Freisein bedeutete ebenso ein Nichtbefehlen, wie es die Freiheit von dem Zwang der Notwendigkeit und den Befehlen eines Herrn beinhaltete. 6 5 6

Arendt 2002, S. 38–41. Ebenda, S. 41–42.

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§ 15. Figuren der Arbeitsgemeinschaft

Nur unter gleichgestellten polites/»Bürgern« herrscht im öffentlichen Bereich das Prinzip der Isonomie, das von Aristoteles zum ersten Mal politisch-philosophisch gefasst wurde und den gewaltsamen Machtbereich des Haushalts von der Macht der Polis deutlich abhebt: Eben hieraus ist aber auch dies bereits klar, dass nicht einerlei die Regierung des Herrn und die des Staatsmannes ist und dass überhaupt nicht alle Arten von Regierung (archē) einander gleich sind, wie einige behaupten. Denn die letztere ist eine Regierung über Freie (eleútheros) von Natur und die erstere eine solche über Sklaven (doûlos), und die Hausverwaltung (oikonomiké) ist eine Alleinherrschaft (monarchía) – denn jedes Haus wird von einem einzigen verwaltet –, die Regierung des Staatsmannes aber ist eine Herrschaft über Freie und Gleichgestelle. 7

Zusammenfassend ist das private Heim bei Hanna Arendt durch Gewalt, Lebensnotwendigkeit, Alleinherrschaft und Verschiedenartigkeit der Elemente des Haushalts ausgezeichnet; während die öffentliche Polis auf den Prinzipien der Freiheit, Gleichheit, Unabhängigkeit vom Zwang des Lebens, Glück beruht. Schließlich besteht ein letzter Unterschied zwischen Privatem und Öffentlichem, den Hannah Arendt durch eine Lichtmetapher anspricht: Der Raum des Gesellschaftlichen entstand, als das Innere des Haushalts mit den ihm zugehörigen Tätigkeiten, Sorgen und Organisationsformen aus dem Dunkel des Hauses in das volle Licht des öffentlich politischen Bereichs trat. 8

Bei Hanna Arendt steht die Dunkelheit des òikos dem Licht der polis entgegen. Es kommt nun darauf an, festzustellen, inwiefern und auf welchen Wegen die Fabel »Hans im Glück«, eine òikos–polis-Aufspaltung inszeniert, diese letztere jedoch entschieden umändert und deren Bedeutung umstellt.

§ 15. Figuren der Arbeitsgemeinschaft Hans strebt nach Glück. Es liegt jedoch sehr nah, dass das nicht dargestellte, private òikos in der Geschichte »Hans im Glück«, anders als bei seinem griechischen Vorläufer, nicht der Ort der Gewalt und der Willkür, sondern eine Zuflucht aus der arbeitsbedingten Gesellschaft 7 8

Aristoteles: Politik 1255b, Hamburg: Rowohlt, 1994, S. 57. Arendt 2002, S. 47–48.

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ist. In die Geschichte fließen einige denkhistorisch tragende Grundauffassungen ein, welche einer wesentlichen Umwälzung/Verkomplizierung unterliegen: Das òikos ist der Gemeinschaft der Arbeit als ein verstecktes Privates entgegengestellt – in der Gegenüberstellung wird die griechische Dichotomie zumindest in ihrer formalen Struktur aufrecht erhalten –, es zeichnet sich jedoch durch ein gleichsam verborgenes und erstrebenswertes Wesen aus: Nicht im Licht der Öffentlichkeit, sondern im Dunklen des òikos ist das Glück zu finden. Die Fabel scheint die Grundbewegung des griechischen politischen Strebens umzustellen, anhand dessen die Geburt des isonomischen politēs sich als Fortgang vom Privaten ins Öffentliche herauskonfiguriert. Es handelt sich formal um eine Struktur, deren Pole invertiert worden sind. Die Ausgangslage von Hans ist nicht das versteckte Private, in dem sich der Grieche bis zur Vollendung des volljährigen Alters als von »Freiheit« und »Logos« noch beraubtes (privates) Individuum befindet, sondern das Öffentliche, in dem man doch paradoxerweise durch ungünstigen Tausch beraubt wird. Ausgangspunkt der Geschichte ist nämlich die Tatsache, dass Hans bereits lange Jahre in einem öffentlichen/gemeinschaftlichen Arbeitsverhältnis stand: Hans hatte sieben Jahre bei seinem Herrn gedient, da sprach er zu ihm ›Herr, meine Zeit ist herum, nun wollte ich gerne wieder heim zu meiner Mutter, gebt mir meinen Lohn‹. Der Herr antwortete: ›Du hast mir treu und ehrlich gedient, wie der Dienst war, so soll der Lohn sein‹, und gab ihm ein Stück Gold, das so groß als Hansens Kopf war. Hans zog sein Tüchlein aus der Tasche, wickelte den Klumpen hinein, setzte ihn auf die Schulter und machte sich auf den Weg nach Haus. 9

Beweis für seine Zugehörigkeit zu einer Arbeitsgemeinschaft ist auch die Tatsache, dass er entlohnt wird, sprich sich in der Struktur des Lohnes/Gabe befindet. Dieser beruht auf der Gleichung munusZeit-Arbeit = Geld – also auf der doppelten Konvertibilität der Arbeitsstunde in Ware einerseits und der Ware in Geld/Gold andererseits. Hans wird bereits seit den ersten Zeilen als ein arbeitendes, in der Logik des munus der remunerazione (Vergütung/Belohnung) angesiedeltes Individuum dargestellt. In diesem spezifischen Fall konfiguriert sich der munus als siebenjährige Arbeit und der Dienst als eine Herr-Knecht-Beziehung.

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Brüder Grimm 2009, S. 388.

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§ 15. Figuren der Arbeitsgemeinschaft

Die Dichte der Dimension des Dienens in der Arbeit, auch über die Herr-Knecht-Beziehung hinaus, ist philosophisch noch zu entfalten. Der Begriff gewinnt in einer Sequenz des Filmes von Wim Wenders In weiter Ferne, so nah! an existenzieller Relevanz: Der menschgewordene Engel Cassiel kommt aus seiner ersten Lebenskrise durch ein Jobangebot als Kellner heraus und spricht zu der Engelin Raphaela: »Dienen. Endlich dienen. Dienen ist der richtige Weg. Jetzt fange ich nochmal von vorne an«. 10 In einer Szene aus La vita è bella (1997) von Roberto Benigni erfährt die Idee des Dienens eine theologische Valenz. Eliseo Orefice unterrichtet als Oberkellner eines Restaurants den angehenden Kellner und Enkel Guido (Roberto Benigni), welcher an einem bestimmten Punkt die Verneigung zeigen soll und sich aufgrund seiner Ungeschicklichkeit in eine übertriebene Verbeugung begibt. Onkel Eliseos Bemerkung dazu und zum Wesen seiner Arbeit überhaupt ist der erste, vielleicht wichtigste Unterrichtsbeitrag: –

– –

Sieh dir mal die Sonnenblumen an, wie sie sich zur Sonne neigen: wenn ihr Köpfchen noch ein bisschen zu tief hängt, bedeutet, dass die Blume ist tot. Du bedienst zwar, aber du bist kein Diener. Das Bedienen ist die höchste aller Künste. Dienen tut vor allem einer, nämlich Gott. Gott dient zwar den Menschen, aber er bedient sie nimmer fort. Der Knopf war schon ab, als sie … Da gehört nicht mal ein Knopf an, du Dummchen! 11

Die Natur des arbeitsbezogenen Dienens von Hans wird im Märchen nicht präzisiert. Es handelt sich aber um eine Aufgabe bzw. »treu erfüllte« Dienstpflicht, die in einen entsprechenden, materiellen Gegenstand überführt wird, nämlich in einen Goldklumpen, der so groß wie der Kopf/caput des Kapitalismus ist. Wichtig ist hier übrigens die Bewahrheitung der Entsprechung, die nicht unvorteilhaft resultieren darf: »wie der Dienst war, so soll der Lohn sein«. Eine solche gerechte Belohnung/Vergütung wird Hans aber überraschenderweise in die Lage versetzen, aus derselben Gemeinschaft/Gesellschaftsform herauszutreten, die auf diesem Vergütungsmechanismus basiert und in Wim Wenders: In weiter Ferne, so nah! (1993). Roberto Benigni: La vita è bella (1997): – Guarda i girasoli, si inchinano al sole. Ma, se ne vedi qualcuno che è inchinato un po’ troppo, significa che è morto. Tu stai servendo, però non sei un servo. Servire è l’arte suprema, Dio è il primo servitore. Dio serve gli uomini, ma non è servo degli uomini. – Qui zio, un bottone non c’era … – Il bottone qua non ci vuole, stupidotto! 10 11

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der er bisher erfolgreich und in angepasster Weise gehandelt hat: Er wickelt den schweren Klumpen ein, setzt sein Gewicht/Last auf die Schulter und macht sich »auf den Weg nach Haus«. Hans tritt mit anderen Worten aus demjenigen bestimmen Gemeinschaftsverhältnis aus, das Arbeit, sprich: die Beziehung zwischen Arbeitgeber und -nehmer ist. Dieser erste Austritt aus der Gemeinschaft bedeutet aber noch nicht eine Rückkehr ins Nicht-Gemeinschaftliche. Sofort meldet sich ein weiteres, unterschiedliches Gemeinschaftparadigma, in das Hans nahtlos eintritt: Es handelt sich in allererster Linie um die Gemeinschaft der Besitzes, denn Hans wird Eigentümer des in Währung entfremdeten Produktes seiner Arbeit – und somit paradoxer Eigentümer einer alteritas/Fremdheit. Auf Basis seiner Eigentumsverfügbarkeit tritt er, unmittelbar danach, in ein damit zusammenhängendes und doch arbeitssemantisch ziemlich unterschiedliches Szenario ein, das sich am Tausch orientiert: Wie er so dahin ging und immer ein Bein vor das andere setzte, kam ihm ein Reiter in die Augen, der frisch und fröhlich auf einem muntern Pferde vorbei trabte. ›Ach‹, sprach Hans ganz laut, ›was ist das Reiten ein schönes Ding! Da sitzt einer wie auf einem Stuhl, stößt sich an keinen Stein, spart die Schuh und kommt fort, er weiß nicht wie.‹ Der Reiter, der das gehört hatte, hielt an und rief: ›Ei Hans, warum läufst du auch zu Fuß?‹ ›Ich muß ja wohl, da habe ich einen Klumpen heim zu tragen, es ist zwar Gold, aber ich kann den Kopf dabei nicht gerad halten: auch drückt mir’s auf die Schulter.‹ ›Weißt du was‹, sagte der Reiter, ›wir wollen tauschen, ich gebe dir mein Pferd, und du gibst mir deinen Klumpen.‹ ›Von Herzen gern‹, sprach Hans, ›aber ich sage euch, ihr müßt euch damit schleppen.‹ Der Reiter stieg ab, nahm das Gold und half dem Hans hinauf, gab ihm die Zügel fest in die Hände und sprach: ›Wenn’s nun recht geschwind soll gehen, so mußt du mit der Zunge schnalzen und ›hopp hopp‹ rufen‹. 12

Tausch ist wohlgemerkt mit Besitz eng verbunden (der eine ist Voraussetzung des anderen). Nichtsdestotrotz inszeniert die Fabel in diesem Abschnitt eine anderweitige Gemeinschaftskonstellation. Ein in die Gemeinschaft der Reiterarbeit (man trifft hier auf den ersten Berufsspezialisten der Geschichte, da in Bezug auf Hans nicht gesagt wird, was genau er gearbeitet hätte) fröhlich integriertes Individuum »kommt in die Augen« (die optische Metapher ist im »Lichte der Öffentlichkeit« nicht zufällig) und ruft so etwas wie eine Gemeinschaft des Neides hervor. Das Gesehene ist nicht mehr das isonomisch 12

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Gleiche, sondern kann, in dieser Gesellschaft der spezialisierten Arbeitsteilung, ins Beneidete kippen, wenn die Berufsverhältnisse auch aufgrund der unterschiedlichen natürlichen Besitzressourcen, die zur Verfügung stehen, als ungleichgewichtig erscheinen. Das Reiten scheint Hans im Prinzip vorenthalten zu sein und ist somit Generator des gesellschaftlichen Neides. Erschwerend kommt der Umstand hinzu, dass sein Laufen nach Hause von der Last und der Bedrückung des Besitzes erschwert ist »›Ich muß ja wohl, da habe ich einen Klumpen heim zu tragen, es ist zwar Gold, aber ich kann den Kopf dabei nicht gerad halten: auch drückt mirs auf die Schulter‹«. Die Figur der Last ist in der Erzählung in der Tat zentral; an entsprechenden Textbelegen dafür fehlt es nämlich nicht (»schwer«, »Steine«, »Mühe« usw.). Diese Last kann aber durch einen ersten ungünstigen Tausch, welcher jedoch einen augenscheinlichen sozialen Aufstieg fälschlich suggeriert, erleichtert werden: Indem Gold für das Pferd gegeben wird, wird sein Glück gesteigert: Hans war seelenfroh, als er auf dem Pferde saß und so frank und frei dahin ritt. Über ein Weilchen fiel’s ihm ein, es sollte noch schneller gehen, und fing an mit der Zunge zu schnalzen und ›hopp hopp‹ zu rufen. 13

Hans’ Glück dauert aber kurz, denn der Erwerb eines »technischen« Mittels erfordert einen entsprechenden Wissensgrad. Die Diskrepanz zwischen der Zugänglichkeit der technischen Mittel und der jeweiligen Verwendungskompetenzen zeigt sich vehement in einer spezialisierten Arbeitsteilungsgemeinschaft. Hans kann das Pferd nicht zügeln und im Zaum halten (Ausdrücke, die nicht zufällig auch über das konkrete Bild hinaus das Beherrschen einer Situation bedeuten) und ist dafür auf Hilfe angewiesen, die selbstverständlich nur von einer weiteren, anderweitigen Berufsfigur kommen kann: Das Pferd setzte sich in starken Trab, und ehe sich’s Hans versah, war er abgeworfen, und lag in einem Graben, der die Äcker von der Landstraße trennte. Das Pferd wäre auch durchgegangen, wenn es nicht ein Bauer aufgehalten hätte, der des Weges kam und eine Kuh vor sich her trieb. Hans suchte seine Glieder zusammen und machte sich wieder auf die Beine. Er war aber verdrießlich und sprach zu dem Bauer: ›Es ist ein schlechter Spaß, das Reiten, zumal wenn man auf so eine Mähre gerät wie diese, die stößt und einen herab wirft, daß man den Hals brechen kann, ich setze mich nun und nimmermehr wieder auf. Da lob ich mir eure Kuh, da kann einer mit

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Ebenda, S. 389.

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Arbeitsteilung

Gemächlichkeit hinter her gehen und hat obendrein seine Milch, Butter und Käse jeden Tag gewiß. Was gäb ich darum, wenn ich so eine Kuh hätte!‹ ›Nun‹, sprach der Bauer, ›geschieht euch so ein großer Gefallen, so will ich euch wohl die Kuh für das Pferd vertauschen.‹ Hans willigte mit tausend Freuden ein: der Bauer schwang sich aufs Pferd und ritt eilig davon. 14

Bei fehlender Übereinstimmung zwischen den zur Verfügung stehenden Mitteln und dem entsprechenden Einsatzwissen kann sich sogar das Reiten als ein »schlechter Spaß« entpuppen. Der durch diesen Bruch entstandene Frust führt zum weiteren, ungünstigen Tausch (nebenbei bemerkt scheint die Suche nach dem Glück nicht so sehr durch einen Mangel, sondern durch eine Unangepasstheit des Wissens und der sozialen Schicht veranlasst zu sein). Diese Suche mündet hier sogar in eine Form der wirtschaftlichen Autarkie und Selbstständigkeit der Mittelproduktion und -verbrauch, die dazu verhilft, dass dem Glück im Heim nichts mehr im Wege steht: Hans trieb seine Kuh ruhig vor sich her und bedachte den glücklichen Handel. ›Hab ich nur ein Stück Brot, und daran wird mir’s doch nicht fehlen, so kann ich, so oft mir’s beliebt, Butter und Käse dazu essen; hab ich Durst, so melk ich meine Kuh und trinke Milch. Herz, was verlangst du mehr?‹ Als er zu einem Wirthshaus kam, machte er Halt, aß in der großen Freude alles, was er bei sich hatte, sein Mittag- und Abendbrot, rein auf und ließ sich für seine letzten paar Heller ein halbes Glas Bier einschenken. Dann trieb er seine Kuh weiter, immer nach dem Dorfe seiner Mutter zu. 15

Bald interveniert aber die nächste Störung der gemeinschaftlichen Verweisung. Beim Melken der Kuh, das Voraussetzung des autarken Traums Hans’ ist, fehlen Hans die von der spezialisierten Arbeitsgemeinschaft erforderten Fähigkeiten: »so sehr er sich auch bemühte, […] stellt er sich dabei ungeschickt an«. Hans fehlt es an der Kantischen Geschicklichkeit, 16 und dieses Fehlen zwingt ihn dazu, sich an einen weiteren kompetenten Fachmenschen zu wenden, um seinen

Ebenda. Ebenda. 16 Zum Kantischen Begriff der Geschicklichkeit und seinen erziehungswissenschaftlichen Implikationen im Zusammenhang mit dem potentia-Begriff vgl. Giovanni Tidona: »Bildungskrise als Krise des Poietischen. Philosophisch-pädagogische Problemverflechtungen am Beispiel des Begriffs der Kompetenz«, in Bildungsreformen und Bildungskrisen. Zur Organisation des Wissens in der Wissensgesellschaft, hrsg. v. Georg Zenkert, Diskurs Bildung. Schriftenreihe der Pädagogischen Hochschule Heidelberg, Band 62, Heidelberg: Mattes Verlag, 2017. 14 15

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Frust durch eine weitere, selbstverständlich ungünstige Fachverhandlung zu beheben: Die Hitze war drückender, je näher der Mittag kam, und Hans befand sich in einer Heide, die wohl noch eine Stunde dauerte. Da ward es ihm ganz heiß, so daß ihm vor Durst die Zunge am Gaumen klebte. ›Dem Ding ist zu helfen‹, dachte Hans, ›jetzt will ich meine Kuh melken und mich an der Milch laben.‹ Er band sie an einen dürren Baum, und stellte, da er keinen Eimer hatte, seine Ledermütze unter, aber so sehr er sich auch bemühte, es kam kein Tropfen Milch zum Vorschein. Und weil er sich ungeschickt dabei anstellte, so gab ihm das ungeduldige Thier endlich mit einem der Hinterfüße einen solchen Schlag vor den Kopf, daß er zu Boden taumelte und eine zeitlang sich gar nicht besinnen konnte, wo er war. Glücklicherweise kam gerade ein Metzger des Weges, der auf einem Schubkarren ein junges Schwein liegen hatte. ›Was sind das für Streiche!‹ rief er und half dem guten Hans auf. Hans erzählte, was vorgefallen war. Der Metzger reichte ihm seine Flasche und sprach: ›Da trinkt einmal, und erholt euch. Die Kuh will wohl keine Milch geben, das ist ein altes Thier, das höchstens noch zum Ziehen taugt oder zum Schlachten‹. ›Ei, ei‹, sprach Hans, und strich sich die Haare über den Kopf, ›wer hätte das gedacht! Es ist freilich gut, wenn man so ein Thier ins Haus abschlachten kann, was gibt’s für Fleisch! aber ich mache mir aus dem Kuhfleisch nicht viel, es ist mir nicht saftig genug. Ja, wer so ein junges Schwein hätte! Das schmeckt anders, dabei noch die Würste.‹ ›Hört, Hans‹, sprach der Metzger, ›euch zu Liebe will ich tauschen und will euch das Schwein für die Kuh lassen.‹ ›Gott lohn euch eure Freundschaft!‹ sprach Hans und übergab ihm die Kuh, und ließ sich das Schweinchen vom Karren losmachen und den Strick, woran es gebunden war, in die Hand geben. 17

Ein kompetentes Gemeinschafts-/Gesellschaftsmitglied, der Metzger, verhilft ihn noch einmal zum ungünstigen Tausch. Er weist ihn nämlich auf die Unangemessenheit des alten Tieres hin (was ein nicht geübtes Auge nicht hätte sehen können), von daher Hans’ Überraschung: »›wer hätte das gedacht!‹«. Hans fährt somit noch glücklicher fort, denn er soll noch auf eine in der Geschichte ziemlich kryptische Figur stoßen, den Laien. In einer Geschichte, in der Charaktere auf spezialisierte Berufe hindeuten, handelt es sich dabei vermutlich um eine antagonistische Figur. Es ist die Ausnahme, die das Gemeinschafts-/Gesellschaftsbild der Geschichte abrundet: Zu Hans gesellt sich nun ein »Bursche«:

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Hans zog weiter und überdachte, wie ihm doch alles nach Wunsch ginge: begegnete ihm ja eine Verdrießlichkeit, so würde sie doch gleich wieder gut gemacht. Es gesellte sich danach ein Bursch zu ihm, der trug eine schöne weiße Gans unter dem Arm. Sie boten einander die Zeit, und Hans fing an von seinem Glück zu erzählen und wie er immer so vortheilhaft getauscht hätte. Der Bursch sagte ihm, daß er die Gans zu einem Kindtaufschmaus brächte. ›Hebt einmal‹, fuhr er fort und packte sie bei den Flügeln, ›wie schwer sie ist, die ist aber auch acht Wochen lang genudelt worden. Wer in den Braten beißt, muß sich das Fett von beiden Seiten abwischen.‹ ›Ja‹, sprach Hans und wog sie mit der einen Hand, ›die hat ihr Gewicht, aber mein Schwein ist auch keine Sau.‹ 18

Relevant ist der Umstand, dass auch der Bursche mit einem munus ausgestattet ist, den er zu einem »Kindtaufschmaus« bringt. Dieser steht im Zusammenhang mit einer Kindertaufe, die nicht zufällig einen wichtigen topos des Eintritts in die Gemeinschaft darstellt. Es meldet sich hier und auch an anderen Stellen (z. B. bei denjenigen, die das Schwein gestohlen haben), wie durch eine Durchsichtfolie, das Bild einer Gemeinschaft der Zugehörigkeit. Der Zugang zum Schmaus und somit der Eintritt in die Gemeinschaft – und in denjenigen Ritus, der den Beginn der Zugehörigkeit darstellt – wird durch Preisgabe sanktioniert. Der Bursche, dessen Identität nicht geklärt wird, macht aber auch seinen ungünstigen und durch einen narrativen Trick untermauerten Vorschlag: Indessen sah sich der Bursch nach allen Seiten ganz bedenklich um, schüttelte auch wohl mit dem Kopf. ›Hört‹, fing er darauf an, ›mit eurem Schweine mag’s nicht so ganz richtig sein. In dem Dorfe, durch das ich gekommen bin, ist eben dem Schulzen eins aus dem Stall gestohlen worden; ich fürchte, ich fürchte ihr habt’s da in der Hand. Sie haben Leute ausgeschickt, und es wäre ein schlimmer Handel, wenn sie euch mit dem Schweine erwischten: das geringste ist, daß ihr ins finstere Loch gesteckt werdet.‹ Dem guten Hans ward bang; ›ach Gott‹, sprach er, ›helft mir aus der Noth, ihr wißt hier herum besser Bescheid, nehmt mein Schwein da und laßt mir eure Gans‹. ›Ich muß schon etwas aufs Spiel setzen‹, antwortete der Bursche, ›aber ich will doch nicht Schuld sein, daß ihr ins Unglück gerathet.‹ Er nahm also das Seil in die Hand und trieb das Schwein schnell auf einem Seitenweg fort, der gute Hans aber ging, seiner Sorgen entledigt, mit der Gans unter dem Arme der Heimat zu. ›Wenn ichs recht überlege‹, sprach er mit sich selbst, ›habe ich noch Vortheil bei dem Tausch: erstlich den guten Braten, hernach die Menge von Fett, die herausträufeln wird, das gibt Gänsefettbrot auf ein 18

Ebenda, S. 390–391.

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Vierteljahr, und endlich die schönen weißen Federn, die laß ich mir in mein Kopfkissen stopfen und darauf will ich wohl ungewiegt einschlafen. Was wird meine Mutter eine Freude haben!‹. 19

Der Tausch findet selbstverständlich zu Hans »Vortheil« statt. In diegetischer Hinsicht ist der Geschichteneinschub des Burschen höchst interessant, da sich hierbei die Figur des schwarzen Loches meldet. Es handelt sich dabei offensichtlich um dasselbe schwarze Loch der Parabel Matthäus (vgl. Kapitel über Erteilung) und diese Figur weist auch einen relevanten Berührungspunkt zu der im Lied von Reinhard May inszenierten Lichtmetaphorik einer Gemeinschaft, in der »das Licht wärmer scheint« (vgl. Kapitel über Erdenteilung). »Ins finstere Loch« werden nämlich diejenigen gesteckt, die etwas begangen haben, was nur durch Ausschluss aus der Gemeinschaft bestraft werden kann: Es handelt sich um Diebe. Indem der Bursche Hans den grausamen Verdacht einimpft, dass dieses Schwein das »dem Schulzen aus dem Stall gestohlene« Tier sein könnte, führt er die Grundfigur des Nicht-Gemeinschaftlichen als desjenigen ein, der einen Raub begeht. Die Gemeinschaft würde den Räuber Hans nicht mehr in ihrer Mitte dulden. 20 In der Matthäus Parabel gerät derjenige ins finstere Loch, der seine Gabe zur Entfaltung nicht bringen kann oder will. Der nichtverausgabte Begabte (immunisierter munierter) entwendet somit seiner Gemeinschaft einen bestimmten munus. In dem vorliegenden, sehr unterschiedlichen narrativen Szenario artikuliert sich eine ähnliche moralisch/ethische Struktur, nur scheint die Entwendung des munus in diesem Falle handgreiflicher dargestellt zu sein als die verfehlte Realisierung einer Attitüde. Die Grundstruktur bleibt aber davon unberührt: Gemeinschaftszugehörigkeit zeichnet sich durch Gabe – diese symbolische Rolle spielen die beim Kinderschmaus und -taufe gegebenen Geschenke –, während der Gemeinschafsaustritt auf Gabenentzug und Güterentwendung beruht. Der Raub ist die Chiffre des Gemeinschaftsaustrittes.

Ebenda, S. 391. Dies ist auch eine weitere politisch-philosophische Umstellung, wenn man bedenkt, dass die Figur des »Raubes« in anderen Szenarien sogar die Grundlage der Gesellschaft – könnte man dabei von Gemeinschaft reden? – bildet, wie z. B. bei den meisten Gründungsmythen, z. B. beim Raub der Sabinerinnen, dargestellt wird, wo das Entstehen einer Zivilisation durch einen Raub- oder Gewaltakt verursacht wird.

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Die Gefahr des finsteren Loches durfte Hans nicht zufällig durch einen (unvorteilhaften) Tausch, mit anderen Worten: durch Zustimmung der wirtschaftlichen Logik – vereiteln. Ihn erwartet aber noch eine weitere Begegnung: Als er durch das letzte Dorf gekommen war, stand da ein Scherenschleifer mit seinem Karren: sein Rad schnurrte und er sang dazu: ›Ich schleife die Schere und drehe geschwind, und hänge mein Mäntelchen nach dem Wind.‹ Hans blieb stehen und sah ihm zu; endlich redete er ihn an und sprach: ›Euch geht’s wohl, weil ihr so lustig bei eurem Schleifen seid‹. ›Ja‹, antwortete der Scherenschleifer, ›das Handwerk hat einen güldenen Boden. Ein rechter Schleifer ist ein Mann, der, so oft er in die Tasche greift, auch Geld darin findet. Aber wo habt ihr die schöne Gans gekauft?‹ ›Die hab ich nicht gekauft, sondern für mein Schwein eingetauscht.‹ ›Und das Schwein?‹ ›Das hab ich für eine Kuh gekriegt.‹ ›Und die Kuh?‹ ›Die hab ich für ein Pferd bekommen.‹ ›Und das Pferd?‹ ›Dafür hab ich einen Klumpen Gold, so groß als mein Kopf, gegeben.‹ ›Und das Gold?‹ ›Ei, das war mein Lohn für sieben Jahre Dienst.‹ ›Ihr habt euch jederzeit zu helfen gewußt‹, sprach der Schleifer, ›könnt ihrs nun dahin bringen, daß ihr das Geld in der Tasche springen hört, wenn ihr aufsteht, so habt ihr euer Glück gemacht.‹ ›Wie soll ich das anfangen?‹ sprach Hans. ›Ihr müßt ein Schleifer werden, wie ich; dazu gehört eigentlich nichts als ein Wetzstein, das andere findet sich schon von selbst. Da hab ich einen, der ist zwar ein wenig schadhaft, dafür sollt ihr mir aber auch weiter nichts als eure Gans geben; wollt ihr das?‹ ›Wie könnt ihr noch fragen‹, antwortete Hans, ›ich werde ja zum glücklichsten Menschen auf Erden: habe ich Geld, so oft ich in die Tasche greife, was brauche ich da länger zu sorgen?‹ reichte ihm die Gans hin und nahm den Wetzstein in Empfang. ›Nun‹, sprach der Schleifer und hob einen gewöhnlichen schweren Feldstein, der neben ihm lag, auf, ›da habt ihr noch einen tüchtigen Stein dazu, auf dem sich’s gut schlagen läßt und ihr eure alten Nägel gerade klopfen könnt. Nehmt hin und hebt ihn ordentlich auf.‹ 21

Die neue Begegnung, der Schleifer, betont ein erhebliches Prinzip der berufsspezialisierten Arbeitsgesellschaft, nach dem Arbeitsinstrumente und -tätigkeit ineinander fallen: Durch das Sprichwort »Gutes Werkzeug, gute Arbeit« bestätigt auch der Volksmund diese Identität. Zum Gelingen der Schleifertätigkeit reicht es in einer Gesellschaft, dass man »sein Werkzeug verstehen« soll – also bei einer prinzipiellen Ununterscheidbarkeit von ergon als Tätigkeit und ergon als Werkzeug –, wenn man nur über das richtige Instrument verfügt, denn dadurch wird sich eine gelungene Arbeitsleitsung ergeben: »da21

Ebenda, S. 391–392.

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zu gehört eigentlich nichts als ein Wetzstein, das andere findet sich schon von selbst«. Die Idee der absoluten Zulänglichkeit der Mittel zum Arbeitszweck wird hier, was in der Geschichte oft der Fall ist, durch einen Rand- oder Zwischenspruch eingeführt. Nichtsdestotrotz gilt dies als wichtiges Synthesebild einer derartigen Arbeitsgesellschaft, in der es darum geht, sich die adäquaten Arbeitsinstrumente erwählen zu können und deren Verwendungsmodus anzueignen. Arbeitsfähigkeiten sind an instrumentelle Voraussetzungen gebunden, sie betreffen »tüchtige Steine«, die es »ordentlich aufzuheben« gilt. Diesbezüglich zeigt sich hier ein weiterer Bruch im Nexus Instrumentenbesitz/Instrumentenkompetenz. Einer der Gründe, warum Hans die Instrumente ablegt, besteht darin, dass sein Eigentümer-Sein derselben als solches keine Garantie oder Pflicht des (gelungenen) Einsatzes ist. Daß Management unverzichtbar ist, stand seit Beginn der Moderne außer Frage. Dabei muß nach Marx der Dirigent eines Orchesters nicht unbedingt zugleich Eigentümer der Instrumente sein. Dieser Satz ließe sich jedoch auch umkehren: Die Besitzer von Instrumenten sind nicht gezwungen, die schwierige Aufgabe der Orchesterleitung aufzukaufen, während die Eigentümer von Orchestern und Konzerthallen in aller Regel sehr wohl Dirigenten engagieren, anstatt den Taktstock selbst in die Hand zu nehmen. Sobald sie es sich leisten konnten, übertrugen die kapitalistischen Unternehmer Managementaufgaben auf Angestellte. 22

Aufgaben, die anhand entsprechender zur Verfügung stehender Mittel und eigener Kompetenzen selbst erfüllt werden könnten, werden an Dritte übertragen. Sofern diese zur Verfügung stehen, wie es bei gesellschaftlichen Verhältnissen der Fall ist. Anders sieht es bei individuellen Verhältnissen aus. Es wäre zu fragen, wie es um die »Übertragung an Angestellte« bei Hans bestellt wäre – eigentlich könnte man die ganze Reihe des ungünstigen Tausches als eine Form der »umgekehrten Übertragung« und/oder der Übertragung als Verzicht ansehen (in dem Fall wären wir wohl bei einer Figur des Mangels, einem negativistischen Gemeinschaftsparadigma 23). 22 Zygmunt Bauman: Gemeinschaften, Auf der Suche nach Sicherheit in einer bedrohlichen Welt, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2017, S. 51. 23 Ein zentraler Aspekt der negativistischen Theorien der Gemeinschaft liegt eben in der Ablehnung der produktiven, werkorientierten Arbeit als Gemeinschaftsstiftendes. Dazu sei verwiesen auf Kapitel über Vorteil/Nachteil.

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Der tüchtige Stein, der nicht gemäß bedient werden kann, ist in seiner Dienlichkeit stark beeinträchtigt und bleibt deshalb ein toter Stein, indem er sich schließlich zur Last entwickelt. Nach einem anfänglichen Glück »drückten ihn die Steine ganz erbärmlich. Da konnte er sich des Gedankens nicht erwehren, wie gut es wäre, wenn er sie gerade jetzt nicht zu tragen brauchte«. Wenn ein spezielles, anspruchsvolles und durch Verwendungskompetenz schwer gewordenes Instrument übertragen wird, liegt es möglicherweise daran, dass dieses Instrument nicht getragen werden kann. Hans lud den Stein auf und ging mit vergnügtem Herzen weiter; seine Augen leuchteten vor Freude, ›ich muß in einer Glückshaut geboren sein‹, rief er aus, ›alles was ich wünsche, trifft mir ein, wie einem Sonntagskind.‹ Indessen, weil er seit Tagesanbruch auf den Beinen gewesen war, begann er müde zu werden, auch plagte ihn der Hunger, da er allen Vorrath auf einmal in der Freude über die erhandelte Kuh aufgezehrt hatte. Er konnte endlich nur mit Mühe weiter gehen und mußte jeden Augenblick Halt machen; dabei drückten ihn die Steine ganz erbärmlich. Da konnte er sich des Gedankens nicht erwehren, wie gut es wäre, wenn er sie gerade jetzt nicht zu tragen brauchte. Wie eine Schnecke kam er zu einem Feldbrunnen geschlichen, wollte da ruhen und sich mit einem frischen Trunk laben; damit er aber die Steine im Niedersitzen nicht beschädigte, legte er sie bedächtig neben sich auf den Rand des Brunnens. Darauf setzte er sich nieder und wollte sich zum Trinken bücken, da versah er’s, stieß ein klein wenig an, und beide Steine plumpten hinab. Hans, als er sie mit seinen Augen in die Tiefe hatte versinken sehen, sprang vor Freuden auf, kniete dann nieder und dankte Gott mit Thränen in den Augen, daß er ihm auch diese Gnade noch erwiesen und ihm auf eine so gute Art und ohne daß er sich einen Vorwurf zu machen brauchte, von den schweren Steinen befreit hätte; das einzige wäre ihm nur noch hinderlich gewesen. 24

Es ist an diesem Schlusspunkt der Geschichte klar, was mit der »Befreiung von den schweren Steinen« gemeint wird: Das Aufheben des spezialisierungs- und tauschbezogenen Arbeitszwanges, der sich mit dem Austritt aus der Arbeitsteilungsgemeinschaft deckt. Das Austreten aus dieser auch historisch qualifizierten (proto)kapitalistischen Gemeinschaft konfiguriert sich als ein Prozess, der nur durch eine Störung des Tausches bzw. einer daraus resultierenden Kettenreaktion der ungünstigen Tauschgeschäfte ausgelöst werden kann. Dies könnte man u. a. folgendermaßen deuten: Ungerechtigkeit im Tausch führt Gemeinschaftsaustritt herbei. Sollte sich die Gemeinschaft aber 24

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an den Maßstäben der Arbeitsteilung orientieren, ist der Austritt aus dieser doch keine Einbuße, sondern ein Glück: ›So glücklich wie ich‹, rief er aus, ›gibt es keinen Menschen unter der Sonne.‹ Mit leichtem Herzen und frei von aller Last sprang er nun fort, bis er daheim bei seiner Mutter war. 25

Der Gemeinschaftsaustritt ist zugleich ein Wieder-Eintritt ins private òikos, das die Geschichte einrahmt, ohne dass sie es jedoch ausführlich vergegenwärtigt. Das òikos lässt sich nämlich nicht aufhellen, weil es als Privates auch des Lichtes der Öffentlichkeit beraubt ist: Privates als Privation des Lichtes. Das òikos ist aber auch von der gesellschaftlichen Last beraubt, es erschwert nicht. Die Geschichte bringt die Gleichung von Last – munus als Arbeit – und Arbeit als spezialisierte Beherrschung der Mittel zur Geltung. 26 In einer so gearteten Gemeinschaft ist kein Platz für ein solches »Singleton« (vgl. Kapitel über Einteilung), das Hans eigentlich ist: Ein nicht einordbares, beruflich nicht integrierbares Unikat. Hier gibt es nur zugeteilte Plätze für Fachidioten der Arbeitsteilung. Das von der Fabel suggerierte Gemeinschaftsbild spielt sich zwischen den Polen der bloßen Idiotie und der Fachidiotie ab. Insofern stellt das Märchen auf der einen Seite eine stichhaltige Kritik an der Gemeinschaft der Arbeitsteilung dar, andererseits fällt dieser protokapitalistische Gemeinschaftsbegriff in einen obskuren, privaten (Gemeinschaft?)-Begriff zurück (denn es handelt sich hier um ein prototypisches Bild der Zweiergemeinschaft, Mutter und Sohn). Zweifellos ist das ein offenes Ende, das u. a. suggeriert, dass die einzig mögliche Form der Gemeinschaft – wenn man sich aus den Ebenda, S. 393. Es sieht so aus, als würde sich die Fabel an diejenige, besonders pejorative Interpretation der Arbeit als ponos anlehnen: (»ponein«: »sich anstrengen«, im Unterschied zu ergazesthai, »werken«). Noch heute ist bspw. in der französischen Sprache (und weiteren romanischen Idiomen, unter anderem im sizilianischen Dialekt) die Bezeichnung der Arbeit als »travailler« (im Unterschied zu ouvrer, »werken«, »fabricari«) vorfindlich und gängig. Travailler oder das sizilianische travagghiari (»arbeiten«) sind offensichtlich vom tripalium abgeleitet, einem Folterinstrument. Im Italienischen bedeutet tribolare, die auf dieselbe Wurzel von travailler zurückzuführen ist, »sich quälen«, »leiden«. »Travagghiu« im Sizilianischen bedeutet »Arbeit«, das fast identische »Travaglio« im Italienischen »Sorge«, »Qual«, »Schermerzen«, »Geburtswehen«. Bei einem derartigen linguistischen Arbeitsverständnis liegt der Fokus somit auf Mühe, Anstrengung, Leid, Last, im Unterschied zu den »produktiven« Sprachauffassungen der Arbeit wie werken, to work, facere, fabricari, ouvrer.

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Arbeitsteilung

munus-Formen der Arbeit ausklinkt – der familiäre Rückzug bleibt. Das ist wahrscheinlich der Grund, warum die Fabel durch den Bezug auf die Mutter und das Heim eingerahmt wird. Hans findet de facto in der gängig-etablierten Form der Arbeitsgemeinschaft weder Platz noch Glück.

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Fünftes Kapitel: Einteilung und Unterteilung. Gemeinschaft der Mengen und Teilmengen

§ 16. Mengenlehre und Politik Im Kapitel über die Erteilung wurde der munus der Gemeinschaft in der Form einer potenziellen Veranlagung thematisiert, die das Individuum auszeichnet und die es zu entfalten gelte. Etwas-Können und Etwas-Sollen innerhalb der Gemeinschaft – und für die Gemeinschaft, wegen der Gemeinschaft – waren die modalverbalen Hintergründe dieser Analyse. Jetzt kommt es aber darauf an, ein weiteres Verb-Paradigma anzureißen, und zwar das Verb Sein. In einer Ist-Sprache werden nämlich Eigenschaften formuliert, die den Individuen zukommen – eine genauere semantisch-philosophische Analyse der Eigenschaftssprache und die Möglichkeit einer Überwindung derselben werden in den Kapiteln über Spielbeteiligung und über Teil ausgeführt. Unter dem Blickwinkel des Seins, und nicht des Könnens oder des Sollens, stellen sich Individuen als diejenigen Teile der Gemeinschaft heraus, die mit bestimmten Eigenschaften ausgestattet sind. Anhand solcher Eigenschaften werden Individuen im Ganzen der Gemeinschaft eingeteilt und unterteilt. Gemeinschaften werden somit in diesem Kapitel als Mengen betrachtet, wenn eine Menge eine Gesamtheit der Individuen ist. Man versteht hierbei das Wort »Individuen« im allgemeinsten Sinne, und zwar als vereinzelte Gegenstände, die insofern in einer Menge vorkommen, als dass sie eine oder mehrere Eigenschaften teilen bzw. gemeinsam haben. Gemeinschaft ist Einteilung in Gruppen, die wiederum in dieser Hinsicht Eigenschaftszuteilungen sind: munus ist Eigenschaft, die einem Individuum zukommt (oder nicht zukommt). Dabei wird eine Thematisierung des Individuums als Singularität notwendig sein. Singularität ist ein Singleton. Dies ist ein Terminus der Mengenlehre. Für die Zwecke des Kapitels wird somit der Rekurs auf einige Instrumente der Mengenlehre behilflich sein. Dies liegt daran, dass 113 https://doi.org/10.5771/9783495820704 .

Einteilung und Unterteilung

die Philosophie im Grunde eine polytheistische Angelegenheit ist und sich deshalb nicht scheut, sich das Instrumentarium anderer Fächer zu Nutze zu machen. Noch viel wesentlicher könnte man sogar die These vertreten, dass politisch-philosophische Probleme im Grunde ontologische Probleme sind. Ein onto-logisches Problem ist immer auch ein logisches Problem. Dabei wird eine Verflechtung von Ontologie und Politik ersichtlich, insbesondere durch diejenige Ontologie, die mit dem Instrumentarium der Mathematik ans Tageslicht gefördert werden kann. Bei dieser kann man nur gewisse Anleihen machen, die aber ausreichen werden, aufzuzeigen, dass die Mengenlehre und ihr Codex einen validen Verständnis- und Versinnbildlichungsschüssel für sozialontologische Probleme und ihre kritische Vertiefung darstellen.

§ 17. Präsentation und Repräsentation Alain Badiou hatte das Verdienst, die Problematik der Gemeinschaft (und ihres Korrelats Gesellschaft, sprich: staatlicher Gesellschaft) auf ziemlich fruchtbare Art und Weise in die Sprache der Mengenlehre überführt zu haben. Seine Idee besteht im Grunde darin, dass der Staat – sowie etwaige, ähnliche Formen der Gesellschaft – auf einem Repräsentationsprinzip beruhen, das als solches keine Präsentation von nicht-repräsentierten Individuen, sprich: Singletons, duldet. Repräsentierte Individuen bilden politische Teilmengen aus, während präsentierte Individuen einfache »Terme« einer Situation sind, die als solche politisch nicht relevant sind: Das marxistische Dispositiv bezieht den Staat unmittelbar auf die Teilmengen – und nicht auf die Terme – der Situation. Der Marxismus behauptet, dass das, was der Staat als Eins zählt, ursprünglich nicht die Menge der Individuen sei, sondern die Menge der Klassen von Individuen. […] Man muss sich von der Idee durchdringen lassen, dass es das Wesen des Staates ist, keine Individuen zu kennen, und wenn er sie faktisch doch zu kennen hat, dann gemäß einem Zählprinzip, das sie nicht als solche fasst. 1

Individuen werden vom Staat nicht erkannt, sondern durch ein Zählprinzip in Teilmengen repräsentiert:

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Alain Badiou: Das Sein und das Ereignis, Zürich: Diaphanes, 2016, S. 124

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§ 17. Präsentation und Repräsentation

Die marxistische Aussage hat, wenn man sie in ihrer reinen Form begreift, noch einen weiteren Vorteil. Indem sie nämlich behauptet, dass der Staat derjenige der herrschenden Klasse ist, zeigt sie, dass der Staat immer repräsentiert, was schon präsentiert worden ist. 2

Die konkrete Modalität einer solchen staatlichen Repräsentation wird von Badiou folgendermaßen veranschaulicht: Wenn sich der Staat zum Beispiel mit einem Individuum ›beschäftigt‹, ganz gleich in welcher Angelegenheit, dann wird das Individuum nicht als ›es selbst‹ gezählt, was nur bedeuten würde: als die Vielheit, die in der strukturierenden Unmittelbarkeit der Präsentation das Eins empfangen hat. Das Individuum wird stattdessen als eine Teilmenge behandelt, das heißt – um hier den mathematischen bzw. ontologischen Begriff (aus der Meditation 5) einzufügen – als Singleton seiner selbst. Es geht nicht um Anton Müller, den Eigennamen einer unendlichen Vielheit, sondern um {Anton Müller}, die gleichgültige Figur der Einzigkeit durch die Eins-Setzung des Namens. Der ›Wähler‹ zum Beispiel ist nicht das Subjekt X, sondern ein Teil, der von der getrennten Struktur des Staates gemäß dem ihm eigenen Eins repräsentiert wird. Der Staat nimmt also die Menge, deren einziges Element das Subjekt X ist, und nicht die Vielheit, in der ›Subjekt X‹ das unmittelbare Eins ist. 3

Am Schluss resultiert Badious These über das politische Wesen des Staates und über das Schicksal, das die Individuen innerhalb des Staates erfahren: Denn das Individuum wird nicht als eines gefasst, das der Gesellschaft zugehört, sondern in ihr eingeschlossen ist. Der Staat ist wesentlich indifferent gegenüber der Zugehörigkeit, aber er kümmert sich beständig um den Einschluss. Jede beliebige konsistente Teilmenge wird vom Staat sofort gezählt und als Stoff zur Repräsentation genommen, zum Guten oder zum Bösen. Im Gegensatz dazu bleibt immer deutlich, dass der Staat mit dem Leben der Personen – mit der Vielheit, deren Eins sie erhalten haben – wie lautstark dies auch immer verkündet wird, letztlich nichts zu schaffen hat. 4

Eine solche Übertragung der Begriffe der Mengenlehre auf das Politische wird auch bildlich dargestellt. Die folgende Tafel fasst die Modalität der mathematisch-politischen Übersetzung zusammen:

2 3 4

Ebenda, S. 125. Ebenda, S. 126. Ebenda, S. 127.

115 https://doi.org/10.5771/9783495820704 .

Einteilung und Unterteilung

Abbildung 9

Es erscheint klar, worin der Kritikpunkt Badious besteht. Personen in ihrer Individualität erscheinen nicht in der Form der politischen Zugehörigkeit, weil das »Leben der Personen«, sprich ihr individuelles, unverwechselbares, unaustauschbares Spezifikum, keine politische Relevanz hat. Vielmehr werden »Personen« als Elemente einer Teilmenge, also als Elemente einer Gruppe von Individuen, die einige gemeinsame politische Eigenschaften teilen, unterteilt und erst dadurch in die Strukturen des Staates eingeschlossen. Das Individuum als Element einer Teilmenge erschiene in einer derartigen »Gemein116 https://doi.org/10.5771/9783495820704 .

§ 17. Präsentation und Repräsentation

schaft« nicht aufgrund seiner spezifischen Lebensgeschichte, des persönlichen Charakters, der individuellen Wünschen und Gefühle usw. sondern als »Wähler«, »Arbeiter«, »Steuerzahler der Steuerklasse III«, »italienischer Staatsbürger« usw. Die Gemeinschaft der Unterteilung legt den »Singularitäten« keine Rechenschaft ab, weil diese Singularitäten innerhalb der Einteilungsgruppierungen in Form der Teilmengen verschwinden. Dasselbe Problem wird auch von Giorgio Agamben aufgegriffen: Wie muss man sich die Politik der beliebigen Singularität vorstellen, d. h. die Politik eines Seins, dessen Gemeinschaft weder durch Bedingungen der Zugehörigkeit (Roter, Italiener, Kommunist sein), noch durch die bloße Abwesenheit von Bedingungen (wie im Fall der in Frankreich unlängst von Blanchot ins Spiel gebrachten negativen Gemeinschaft) vermittelt wird, sondern durch die Zugehörigkeit selber. 5

Es geht hierbei um die Frage, ob eine Form der Gemeinschaftszugehörigkeit doch unabhängig von der Teilmengengruppierung des Einschlusses möglich sei. Nur durch die Zugehörigkeit ist eben das Zutage-Treten der Individualität der Elemente möglich, derselben Individualität, die die Überbegriffe »Wähler« und »Steuerzahler« in ihrer generalisierenden Eingruppierung verdecken. Identität erscheint erst beim »Singleton«: »Eine ›Identität‹ haben heißt sich abheben: anders sein, und aufgrund dieses Andersseins einmalig – wer sich eine Identität schaffen will, muß daher trennen und scheiden«. 6 Wer sich aber aufgrund der Behauptung der eigenen einmaligen Identität von den Teilmengen und ihren Gruppierungskriterien trennt und scheidet, bleibt eben ausgeschieden, weder repräsentiert noch zugehörig. Daraus ergeben sich die ganzen politisch-semantischen Szenarien des Außenseiters, Grenzgängers, Ausländers kurz gesagt der einmaligen, nicht repräsentierten Singularitäten, die in einer Gemeinschaft der Einteilung, die sich nur um den Einschluss in Teilmengen kümmert, kein ubi consistam finden: Beliebige Singularitäten können keine societas bilden, weil sie keine Identität haben, der sie Ausdruck verleihen könnten, und über kein soziales Band verfügen, dessen Anerkennung erstritten werden müsste. Letztlich ist der Staat bereit, jedwede Forderung nach Identität anzuerkennen – sogar (die Geschichte der Verbindungen zwischen Staat und Terrorismus unserer Zeit Giorgio Agamben: Die Kommende Gemeinschaft, Leipzig: Merve, 2003, S. 78. Zygmunt Bauman: Gemeinschaften. Auf der Suche nach Sicherheit in einer bedrohlichen Welt, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2017, S. 24.

5 6

117 https://doi.org/10.5771/9783495820704 .

Einteilung und Unterteilung

legt dafür Zeugnis ab) die einer staatlichen Identität in seinem Inneren: doch dass Singularitäten eine Gemeinschaft bilden, ohne Identität einzufordern, dass Menschen mit-angehören ohne eine darstellbare Bedingung der Zugehörigkeit (und sei es in Gestalt der einfachsten Voraussetzung) – das ist es, was der Staat keinesfalls dulden kann. 7

§ 18. Ordnung/Ortung: Was bedeutet es, ein Student an der Johannes Gutenberg-Universität zu sein? Versuchen wir nun, diese mengenlehrebezogene politisch-ontologische Struktur anhand von Badious und Agambens Überlegungen auf einen konkreten gemeinschaftlichen Fall zu übertragen. Durch einen Anwendungsversuch der Theorie werden möglicherweise interessante Aspekte – u. a. Prämissen – der Gemeinschaftseinteilung sichtbar werden. Elemente werden in eine staatliche Struktur durch gemeinsame Eigenschaften eingeschlossen. Die staatliche Struktur ist zunächst i. d. R. ein Zusammenhang von Ordnung/Ortung, mit anderen Worten ein Territorium, an dem bestimmte Gesetze (u. a. auch Gesetze des Einschlusses) gelten. Dies bedeutet konkret – und noch auf sehr vereinfachte Art und Weise –, dass die Individuen, die in einer Gemeinschaft vorkommen, A) einem Gesetz/Regelung unterliegen, welches B) an einem bestimmten Ort gültig ist, den diese Individuen gemeinschaftlich bewohnen. Zur Verdeutlichung könnte man erneut auf das Beispiel der Wohngemeinschaft rekurrieren: Vier individuelle Menschen teilen einen in Zimmer aufgeteilten Wohnraum, innerhalb dessen ein aus verschiedenen Regeln bestehender Mietvertrag gültig ist – ein Mietvertrag, den die Wohngefährten einhalten sollen, bspw. durch Zahlung der Miete, Durchführung des Putzplans, Einhaltung von Fristen, Beteiligung an den Formen des WG-Lebens usw. Das Recht/Pflicht auf Wohnen bezieht sich auf einen bestimmten Raum des Wohnens, Gesetz und Raum stehen augenscheinlich gleichsam in einem Überlappungsverhältnis miteinander. Oder durch Mengenlehre-Terminologie ausgedrückt: Die Mitbewohner kommen im Raum vor, werden durch den Vertrag repräsentiert und sind somit eingeschlossen in die Wohngemeinschaft.

7

Agamben 2003, S. 79.

118 https://doi.org/10.5771/9783495820704 .

§ 18. Ordnung/Ortung

Diese vermeintlich gemeinschaftliche Einheit von Ordnung/Ortung am Beispiel der Wohngemeinschaft bleibt aber noch zu vage und unzulänglich. Sie soll deshalb durch den Rekurs auf eine weitere Form dieser Einheit ergänzt und präzisiert werden. An der Johannes Gutenberg-Universität in Mainz findet im Wintersemester ein Seminar über den Gemeinschaftsbegriff statt. Dieser erste Satz ist bereits aufschlussreich und auch für die Problematik der Ordnung/Ortung konsequent, denn: Das Seminar findet statt, es findet sich eine Stätte, ein Ort. Dieser Ort ist der Raum P208 am Philosophischen Seminar im Jakob-Welder-Weg 18, 55128 Mainz. Nun zur Ergänzung und Präzisierung: Dass das Seminar stattfindet, heißt eigentlich – auch in der Logik der Alltagssprache –, dass das Seminar an einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit stattfindet: Freitags um 12.15 Uhr im Raum P208. Die Ortung des Gemeinschaftsseminars ist ein Zeitraum. Das Seminar zählt 22 Teilnehmende. Diese letzteren haben sich während der Anmeldephase für das Seminar angemeldet. Die Anmeldung stellt für die Teilnehmenden zugleich Rechte und Pflichten dar. Zusammen mit einer Teilnahmepflicht und entsprechend vorgesehenen Prüfungsleistungen – Textkenntnis vor jeder Seminarsitzung, aktive Teilnahme an der Seminararbeit, Verfassen einer Hausarbeit, mündliche Prüfung usw. – erwerben die Teilnehmenden auch das Recht, am Seminar teilnehmen zu dürfen: das Recht, freitags um 12.15 Uhr im Seminarraum sitzen zu dürfen, durch einen Reader Zugang zu den Textgrundlagen zu haben, eine Hausarbeit beim Dozenten abzugeben, fair geprüft zu werden, sich an den Seminardiskussionen zu beteiligen usw. Kurz gesagt: Freitags um 12.15 Uhr erscheinen im P208 zweiundzwanzig Individuen, die durch deren Einschreibung an der Uni Mainz und die Anmeldung am Gemeinschaftsseminar dazu berechtigt sind, an diesem gemeinschaftlichen Zeit-Raum teilzunehmen. Die Einschreibung und die Anmeldung sind studienrechtliche und prüfungsordnungsmäßige Eigenschaften, mit denen diese zweiundzwanzig Individuen ausgestattet sind, zumal diese Individuen im Seminar nicht als biographische, psychologische, somatische »Singularitäten« erscheinen – etwa wie »Markus Müller« oder »Sophie Schmidt« mit ihrer bisherigen Lebensgeschichte –, sondern als der angemeldete Student Markus Müller und die angemeldete Studentin Sophie Schmidt. Herr Müller und Frau Schmidt, wer auch immer sie in ihrem Privatleben oder von ihrem person-logischen Charakter her sind, werden im gemeinschaftlichen Seminar-Zeit119 https://doi.org/10.5771/9783495820704 .

Einteilung und Unterteilung

raum nicht als Singularitäten präsentiert, sondern durch die Metastruktur »Seminarteilnehmende« re-präsentiert – Beweis dafür ist, dass sie auch eine Matrikelnummer zugewiesen erhalten: eine Ziffer, die sie verwaltungsgemäß repräsentiert – und somit ihre Identität auf eine elementare Studenteneigenschaft reduziert. Dieser Umstand lässt sich graphisch leicht veranschaulichen. Die erste Annahme ist eben, dass die Ortung ein Zeitraum ist:

S 1 3

2 4

5

n

S={1,2,3,4,5,n} 1,2,3,4,5,n ∈S Abbildung 10

Infolgedessen ist S die Menge der Studierenden, die in diesem Zeitraum erscheinen. 1, 2, 3, 4, … n sind Elemente, die zur großen Menge »Seminarortung« zugehören, nämlich diejenigen, die freitags um 12.15 Uhr im P208 erscheinen. Diese befinden sich – es ist eine lokale Angabe – am Ort. »Im Zeitraum erscheinen« ist eine Eigenschaft, die diesen Studierenden zukommt. Diese Menge sagt jedoch noch nichts zur Ordnung: Denkbar wäre z. B. eine weitere Menge, S1, die Menge der am Seminar angemeldeten Studierenden:

S1 11 31

21 41 n1

51

Abbildung 11

120 https://doi.org/10.5771/9783495820704 .

§ 18. Ordnung/Ortung

1, 2, 3, 4, … n sind in diesem Fall Studierende, die zur OrdnungMenge zugehörig sind, weil sie alle in dieser Menge durch eine gemeinsame Eigenschaft erscheinen, diese Eigenschaft teilen, und zwar die Eigenschaft, am Seminar angemeldet zu sein. Es tauchen jedoch die ersten Probleme auf: S und S1 sind doch zwei verschiedene Mengen, obwohl es sich hier um dieselben Studierenden handelt. Carl Schmitt behauptet, dass das Recht eine Einheit von Ordnung und Ortung ist. 8 Insofern wäre es denkbar, dass in unserem Fall auch S und S1 eine Einheit bilden sollten. Dies ist allerdings problematisch, weil man sich bspw. eine einzige Menge vorstellen könnte, innerhalb derer Zugehörigkeitselemente vorkommen, die mit beiden Eigenschaften – »im Zeitraum vorkommen« und »am Seminar angemeldet sein« – ausgestattet sind, diese Eigenschaften wären allerdings nicht voneinander unterschieden. Eine derartige Überlappungsmenge, die auch als Überlappung zweier Kreise dargestellt werden könnte, wäre höchst problematisch, denn diese würde voraussetzen, dass die beiden Eigenschaften so untrennbar und ununterscheidbar sind, dass sie eigentlich nur eine Eigenschaft ausmachen – logisches Problem: Zwei Eigenschaften sind eigentlich eine einzige Eigenschaft. »Im Zeitraum anwesend sein« und »am Seminar angemeldet sein« sind aber offensichtlich zwei verschiedene Eigenschaften, die bestimmten Elementen nicht unbedingt immer gleichzeitig zukommen. Aus diesem Grund kann der Rekurs auf Badious und Agambens Theorie behilflich sein: Man könnte annehmen, dass das Verhältnis Ordnung/Ortung doch komplexer als eine Überlappungseinheit ist – weil die Ortung sich mit einem Zeitraum deckt und die Einfügung in die Ordnung durch Metastruktur-Eigenschaften (z. B. Am-SeminarAngemeldet-Sein) garantiert wird. Man könnte schließlich vermuten, dass die Ortung/Ordnung im vorliegenden Fall sich ähnlich wie ein Menge/Teilmengen-Verhältnis herausstellt: Die Elemente sind zugleich zur Menge zugehörig und in die Menge eingeschlossen durch die Zugehörigkeit zu einer Teilmenge, die innerhalb der Menge vorkommt:

Vgl. Carl Schmitt: »Das Recht als Einheit von Ordnung und Ortung«, in: Der Nomos der Erde – im Völkerrecht des Jus Publicum Europaeum, Berlin: Duncker und Humblot, 1997.

8

121 https://doi.org/10.5771/9783495820704 .

Einteilung und Unterteilung

S

2 3

1 4

5

n

S1

1,2,3,4,5,n ⊂S S={{1,2,3,4,5,n}} Abbildung 12

S ist wieder die Menge »im Seminarzeitraum Erscheinende«. 1, 2, 3, 4, n sind die Elemente, die S zugehörig sind. Dieselben Elemente sind aber in S zugleich eingeschlossen, weil jedes dieser Elemente auch einer weiteren Teilmenge S1 zugehörig ist, die sich durch die Eigenschaft »am Seminar angemeldet sein« konstituiert. Mit Badiou und den Worten der Mengenlehre: 2 wird präsentiert in S und re-präsentiert in S1, d. h.: 2 kommt in S erst durch eine Metastruktur vor, es erscheint in S nicht als Individuum, sondern durch die Repräsentationseigenschaft »am Seminar angemeldet sein«. Diese Eigenschaft teilt er mit anderen Individuen, allerdings nicht mit allen. Denkbar wäre z. B., dass in S (Zeitraum) auch Studierende erscheinen, die sich am Seminar nicht angemeldet haben und nur aus eigenem Interesse anwesend sind. Dies hätte folgendes Aussehen:

S

2 3

1 4

5 6

n

7

S1

1,2,3,4,5,n ⊂S 1,2,3,4,5,n ∈ S1 6,7 ∈ S

Abbildung 13

Wenn S die Ortung ist, dann wären 1, 2, 3, 4, 5 … n die durch Metastruktur in S eingeschlossenen Elemente, während 6 und 7 nicht eingeschlossen wären – sie verfügen nicht über die notwendige Eigen122 https://doi.org/10.5771/9783495820704 .

§ 18. Ordnung/Ortung

schaft dafür –, d. h. 6 wäre ein Term oder eine Singularität. Es wäre ein Individuum, das mangels einer bestimmten Eigenschaft in die Seminargemeinschaft nicht eingeschlossen ist – obwohl es am Ort ist. Ein Rekurs auf Badious Schema in der Interpretation durch Giorgio Agamben klärt diesen merkwürdigen Umstand: In der Mengenlehre unterscheidet man zwischen Zugehörigkeit und Einschließung. Eine Einschließung liegt vor, wenn ein Glied in dem Sinn Teil der Menge ist, daß alle ihre Glieder Teil einer Menge sind (man sagt dann, dass b eine Untermenge von a ist, und schreibt: b �a). Aber ein Glied kann auch zu einer Menge gehören, ohne in sie eingeschlossen zu sein (die Zugehörigkeit als Grundbegriff der Mengenlehre, lautet: b 2a), oder umgekehrt eingeschlossen sein, ohne dazuzugehören. Alain Badiou hat diese Unterscheidung entwickelt, um sie in politische Begriffe zu übersetzen. Er läßt die Zugehörigkeit der Präsentation und die Einschließung der Repräsentation (Re-Präsentation) entsprechen. So kann man sagen, daß ein Glied zu einer Situation dazugehört, wenn es als ein Glied präsentiert und gezählt wird (in politischen Begriffen sind das die einzelnen Individuen, insofern sie zu einer Gesellschaft gehören). Daß ein Glied in eine Situation eingeschlossen ist, sagt man hingegen, wenn es in einer Metastruktur (dem Staat) repräsentiert wird, in der die Struktur der Situation ihrerseits als ein Glied gezählt wird (das sind die Individuen, insofern sie vom Staat in Klassen neu gefasst werden, zum Beispiel als ›Wähler‹). 9

6 und 7 sind Glieder und gehören somit zu einer Situation (nicht zufällig ist das Wort »Situation« eigentlich eine lokale Angabe: sĭtŭs, Ort, Anlage, Bezirk, Position usw.): 6 und 7 sind (zeit)räumlich situiert im Seminar. 6 und 7 sind allerdings nicht darin eingeschlossen – sie können keine Prüfung ablegen, haben keinen Zugang zu den Seminartexten, und selbst wenn sie sich zu Wort melden, könnte der Dozent verärgert sein, dass ein nicht-angemeldeter Studierender sich ins Seminar einmischt. 6 und 7 bleiben im Prinzip außerhalb der Gemeinschaft, weil eine notwendige Gemeinschaftsmetastruktur sie nicht repräsentiert. Nach dieser Darstellung wäre sogar denkbar, dass 6 z. B. nicht nur ein nicht-angemeldeter Studierender ist, sondern gar kein Studierender. 6 könnte beispielsweise der Cousin des Dozenten sein, der an dem Tag ihn besucht hat und als Zeitvertreib sich eine Philosophie-Sitzung anschaut, obwohl er von Philosophie eigentlich

Giorgio Agamben: Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2002, S. 34.

9

123 https://doi.org/10.5771/9783495820704 .

Einteilung und Unterteilung

nichts versteht und damit nichts zu tun hat. 6 könnte jedermann sein – und keine Gemeinschaftsmetastruktur re-präsentiert ihn, d. h. er ist in der Gemeinschaftsordnung unsichtbar, obwohl er in der Ortung sichtbar ist: Er hockt in der ersten Reihe und starrt den Dozenten an. 6 und 7 sind nicht die einzigen problematischen Fälle in diesem Schema. Es gibt einige Konstellationen der Verkomplizierung dieses Ordnung/Ortung- bzw. Präsentation/Repräsentationsschemas, wenn man den Gliedern auch eine genauere Bestimmung verleiht: Badiou definiert ein Glied dann als normal, wenn es zugleich präsentiert und repräsentiert wird (das heißt dazugehört und eingeschlossen ist), als Exkreszenz (Auswuchs, Wucherung; vor allem medizinisch gebraucht) dagegen ein Glied, das repräsentiert, aber nicht präsentiert wird, als singulär schließlich ein Glied, das präsentiert, aber nicht repräsentiert wird (das dazugehört, ohne eingeschlossen zu sein). 10

Man könnte also die Reihenfolge leicht ändern: A) 1, 2, 3, 4, 5 sind normale Glieder, denn bei diesen konvergieren 2 und �, Zugehörigkeit und Einschluss. Sie sind präsentiert und repräsentiert. Regelrechte Teilnehmer, die den Status von Angemeldeten haben (semantische Überlappung von Ordnung/Ortung: Regelhafter Status). B) 6 und 7 sind singulär. Sie realisieren 2 ohne �. Sie sind da, aber weder eingeschlossen, noch repräsentiert. Interessant ist dann C) die Figur des Auswuches. Wer wächst aus dem Seminar heraus, indem er � ohne 2 realisiert oder, mit anderen Worten, repräsentiert aber nicht präsentiert wird? Das wäre ein angemeldeter Studierender – der Zugang zu den Texten hat, Prüfungen ablegen darf usw. –, er ist jedoch in der Zeitraum-Ortung nicht präsentiert. Dieser könnte plausiblerweise ein angemeldeter Studierender, der am Freitag um 12.15 Uhr im Seminar doch nicht erscheint, weil er aus irgendeinem Grund zu Hause geblieben ist. Dies lässt sich auf folgende, interessante Art und Weise darstellen:

Agamben führt eine neue Figur zwischen Auswuchs und Singularität ein, vgl. ebenda S. 34–35.

10

124 https://doi.org/10.5771/9783495820704 .

§ 18. Ordnung/Ortung

S

2 3

1 4

5 6

n

8 8 S1

7

Abbildung 14

Somit ist auch klar, was »Auswuchs« bedeutet: 8 wächst aus einer Struktur heraus, in die er im Prinzip eingeschlossen ist. Auf der einen Seite erhält er einen Ordnungszusammenhang mit dieser Struktur aufrecht, auf der anderen Seite kommt er in der Struktur, vom Standpunkt der Ortung aus, nicht vor. Der »auswachsende« ExkreszenzStudierende ist im Übrigen auch grundverschieden von demjenigen Studierenden, der am Gemeinschaftsseminar nicht angemeldet ist und im Zeitraum nicht erscheint – dies ist ein vierter Fall, der weder 2 noch � realisiert:

S 4

5 6

8

2 3

1

n

S1

7

Abbildung 15

Außerhalb jeglicher Ordnung/Ortung-Struktur, außerhalb jeglicher Gemeinschaft, stellt dieses Individuum »8« gar kein Problem für die Gemeinschaft selber; besser noch, dieses Individuum stellt einfach nichts dar, es wird in keiner Form dargestellt. Dieses Individuum ist aber insofern interessant: Es ist ein 4. Fall, der zu einem 3. Fall werden kann, d. h. zu dem, was Kant als »Besucher« definiert (vgl. Kapitel über Erdenteilung) – er hält sich im Lande auf, ohne »Vertrag«. Der Cousin des Dozenten hat mit Philosophie nichts zu tun und ist nur 125 https://doi.org/10.5771/9783495820704 .

Einteilung und Unterteilung

aus Urlaubsgründen in Mainz, er schaut jedoch beim Seminar vorbei, d. h. er erscheint in der Ortung – er präsentiert sich – ohne ordnungsmäßig re-präsentiert zu sein. Dieser 4. Fall, der zu einem 3. Fall wird, sowie die dementsprechend fehlende oder mangelhafte Ordnungspräsentation bringen das eigentliche Problem der politischen Einteilungsgemeinschaft ans Licht.

§ 19. Übertragbarkeit einer Metapher Die Metapher eines Seminarraums könnte über gemeinschaftliche staatliche Dynamiken Aufschluss geben. Wenn man diese vierfache Struktur und die damit zusammenhängenden Problematiken auf den Fall des Staates überträgt, könnte man behaupten: A) Präsentierte und repräsentierte Glieder sind Staatsbürger, die sich im Land aufhalten und dem jeweiligen Gesetz unterliegen. Das Gesetz ist nicht nur eine Einheit von Ordnung/Ortung, sondern auch ein Nexus von Pflicht/Recht: Diese Individuen werden nämlich nicht präsentiert – d. h. nicht in ihrer unverwechselbaren Individualität, Biographie, Augenfarben und Eisgeschmackpräferenzen dargestellt –, sondern in politische, repräsentierende Teilmengen eingeschlossen, bspw. sind sie mit dem Recht auf Wählen oder auf Bezug von Sozialhilfe ausgestattet. Hans erscheint nicht als Hans, sondern als »Wähler«, zusammen mit anderen Wählern, die sehr unterschiedliche Eigenschaften haben können, welche jedoch für die Einschlussteilmenge(n) nicht relevant sind. Der »Wähler« Hans mag nämlich Vanilleeis, während die Wählerin Sophie Schokoladeneis präferiert; dieser Unterschied – der sicherlich einen gewissen Aspekt der Identität der beiden ausmacht – spielt jedoch keine Rolle. Diese letztere Differenz – genauso wie viele andere, existenziell relevantere Individualitätseigenschaften und -unterschiede zwischen den Beiden – ist in der politisch-gemeinschaftlichen Einteilungsgruppe nicht einmal sichtbar. Hans und Sophie gehen aber beide wählen und beziehen rechtmäßig Sozialhilfe, genauso wie sie Anspruch auf alle anderen Rechte haben, die ihnen als normale Glieder zukommen. Ein Recht scheint sich somit wie eine Eigenschaft zu verhalten, es orientiert sich nicht an der »Zählung auf eins«, sondern an der »Zählung der Zählung« (Badiou) bzw. an einer Metastruktur. B) Dieselben Rechte kommen denjenigen auswachsenden Gliedern zu, die außerhalb der Ortung stehen, jedoch in die Ordnung weiter eigeschlossen bleiben. Es handelt sich in diesem Falle bspw. um deutsche Bürger, die im Ausland wohnen und nichtsdestotrotz in Deutschland weiter wählen dürfen. Obwohl sie, wie der Student, der zu Hause geblieben ist, sich an einem anderen Lebensort befinden/präsentieren, erhalten sie zu Recht ge-

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§ 19. Übertragbarkeit einer Metapher

genüber der Gemeinschaftsstruktur ein Ordnungs-Verhältnis der Repräsentation. Auch in diesem Fall handelt es sich um eine Zählung auf Zählung (nur gilt diese Zählung auch außerhalb der Ortung). C) Dieses Schema, das bereits in dieser einfachen Form Grenz- und Reibungszonen beinhaltet (z. B. Menschen ohne Staatsangehörigkeit aus EU-Ländern, die bei der Kommunalwahl Wahlrecht haben, oder Menschen die aus politischen und/oder verwaltungstechnischen Gründen im 18. Lebensalter noch keine Staatsangehörigkeit erworben haben und jedoch im Land wie normale Glieder leben), gerät in schwierige Krisenkonstellationen, wenn ein als 4. Fall konfigurierendes Element zu einem als 3. Fall konfigurierende Glied wird. Dieses Element ist der nicht repräsentierte und jedoch anwesende (präsentierte) Cousin/Besucher/Flüchtling.

Auf die Inaktualität der Figur des Besuchers wird im Kapitel über Erdenteilung hingewiesen. Eine sehr ähnliche philosophische Problematik zeigt sich auf der Ebene einer Einteilungsgemeinschaft beim Cousin/Flüchtling. Blicken wir noch einmal auf den Seminarraum zurück. Angenommen, das Seminar findet wie üblich an einem Freitag statt und es erscheinen im Raum nicht nur re-präsentierte Studierende, sondern auch ein Mensch, von dem niemand etwas weiß. Dieser Mensch könnte ein absoluter Unbekannter sein, und gleich könnte der Dozent ihn fragen, was er überhaupt hier zu machen gedenkt. Es liegt weder eine Einschreibung an der Uni noch eine Anmeldung für das Seminar vor. Der Dozent könnte möglicherweise verärgert sein und ihn dazu auffordern, den Raum zu verlassen. Dies ist nicht nur ein theoretischer Grenzfall, sondern ein Umstand, der sich in akademischen Veranstaltungen nicht allzu selten zuträgt – es gibt nicht wenige Dozenten, welche die nicht-angemeldeten Studierenden oder bloß nicht-Studierenden ohne eine vorherige Ankündigung per Mail und/oder Bitte um informelle Teilnahme nicht zulassen. Denkbar wäre auch, dass dieser Mensch, der gleichsam repräsentationslos von draußen hereingestürmt ist, der Cousin eines angemeldeten Studierenden sein könnte, was aber auch, bei fehlender Vorstellung und/ oder vorheriger Bitte zur Teilnahme beim Dozenten, im obigen Sinn problematisch sein könnte. Der Dozent könnte mit Recht den Menschen dazu auffordern, den Seminarraum zu verlassen. Selbst wenn es sich hierbei um den Cousin des Dozenten handele, wäre das problematisch. Der Dozent könnte seinem Cousin durchaus erlauben, der Sitzung beizuwohnen. Aber wie würden die Teilnehmenden reagieren, die doch Glieder der Einteilungsgemeinschaft 127 https://doi.org/10.5771/9783495820704 .

Einteilung und Unterteilung

sind und somit mit Rechten/Eigenschaften ausgestattet sind? Einige von ihnen könnten wohl dagegen sein, dass ein nicht-angemeldeter oder gar Nicht-Student am Seminar »teilnimmt«. Und warum? Zunächst nimmt dieser nichtangemeldete Mensch Raum ein. Seine Präsentation in der Ortung ohne jegliche Ordnung bringt unweigerlich mit sich, dass er einen Sitzplatz besetzt. Sitzplätze in Seminarräumen sind bekanntlich begrenzt – das ist einer der Nützlichkeitsgründe des Anmeldungssystems bei Jogustine, der Prüfungsplattform der Johannes Gutenberg-Universität Mainz, nämlich die Raumzuweisung (oder Raumeinteilung), damit alle Angemeldeten die Möglichkeit zum Sitzen, Gut-Hören und Schreiben im Seminar haben. Sollte ein nicht repräsentierter Mensch das Seminar gut finden und weiter da sitzen wollen, könnte ein re-präsentierter Student seines grundlegenden Rechts zum Sitzen beraubt sein und unbequem auf dem Boden sitzen müssen. Sollte der nicht-re-präsentierte Mensch das Seminar so gut finden, dass er es auch bei weiteren, nicht re-präsentierten Kumpels begeistert bewirbt und sie davon überzeugt, mitzukommen, könnte es wohl dazu kommen, dass immer mehr Angemeldete keinen Sitzplatz hätten und auf dem Boden hocken müssten. Dies könnte in derjenigen Gemeinschaft, die das Gemeinschaftsseminar ist, Unzufriedenheit wecken. Dieselbe Unzufriedenheit könnte dadurch entstehen, dass diese nicht-repräsentierten Menschen sich am Seminar aktiv beteiligen möchten. Sie würden sich möglicherweise ständig zu Wort melden, teilweise mit unpassenden Bemerkungen – denn sie studieren keine Philosophie und hätten somit möglicherweise keine Ahnung vom Fach. Dabei würden sie die interessanten Ausführungen des Dozenten ständig unterbrechen und/oder die kompetenten Rückmeldungen der Philosophiestudierenden unterdrücken. Sie würden schließlich den planmäßigen Seminarablauf beeinträchtigen. Dies wäre nicht nur für die Studierenden, sondern auch für den Dozenten ärgerlich, denn die besten Studierenden könnten sich aufgrund des problematischen Ablaufs des Seminars dafür entscheiden, nicht weiter daran teilzunehmen. Sie würden das Gemeinschaftsseminar verlassen und auf das von einem anderen Kollegen angebotene Kant-Seminar ausweichen; vor allem würden sie – zurecht – herumerzählen, dass die Sitzungen des Herrn Dr. Tidona, die ansonsten ganz spannend waren, schwammig und langweilig wurden, u. a. weil er zuließ, dass eine nicht-repräsentierte Clique von »Nichtsnutzen« den Seminaraublauf beeinträchtigten. 128 https://doi.org/10.5771/9783495820704 .

§ 20. Gasthörer

Soweit diese hypothetische Lage bisher geschildert wurde, würde sich die Anwesenheit nicht-repräsentierter Elemente an demjenigen Ort, der der Seminar-Zeitraum ist, als bedauerlich und ungemeinschaftlich erweisen, wohlgemerkt nach den Maßstäben und Regelungen, die eine solche Einteilungsgemeinschaft erfordert. Man könnte natürlich dagegen einwenden, dass die nicht-repräsentierten Elemente gar kein Hindernis, sondern im Gegenteil eine Bereicherung des Seminars darstellen: Indem sie bspw. von anderen Fächern kommend sich auf kluge Weise zu den philosophischen Bemerkungen interdisziplinär äußern, sich in die gemeinsamen Diskussionen respektvoll einbringen oder einfach ganz brav auf dem Boden sitzen und keine Störung und/oder Beeinträchtigung darstellen. Aber selbst in diesem pseudoglücklichen Szenario wären solche Elemente weder eingeschlossen noch re-präsentiert, zumal sie ihre klugen Bemerkungen in keine als Prüfungsleistung gültige Hausarbeit könnten einfließen lassen – und selbst die klugen Bemerkungen von ihnen wären dadurch stark beeinträchtigt, dass sie keinen Zugang zu den besprochenen Texten im Reader hätten. Denn selbst diese geistig validen und motivierten Singularitäten hätten in diesem Gemeinschaftsbild der Einteilung keinen Einschluss-Status.

§ 20. Gasthörer Es fällt nicht schwer zu erkennen, dass zahlreiche politische Integrationsproblematiken, die sehr weit über das triviale Seminarraumbeispiel hinausgehen, sich auf ein solches philosophisches, mengenlehrebezogenes Gemeinschaftsbild der Einteilung/Einschluss zurückführen ließen. Denn politische Probleme sind in erster Linie ontologische Probleme, d. h. Probleme, die mit Zugehörigkeits- und Einschlusseigenschaften zusammenhängen. Auch das Recht – selbst ein einzelnes Recht, wie eine Hausarbeit einreichen zu dürfen oder wählen zu dürfen – kann somit als Eigenschaft thematisiert werden, ein Terminus der nicht zufällig juridisch-philosophisch ist und mit der Beteiligung an Gemeinschaftshandlungen zusammenhängt (vgl. Kapitel über Spielbeteiligung). Damit eine Singularität in einer Einteilungsgemeinschaft sinnvoll erscheinen kann, muss sie mit einer (oder mehreren) Repräsentationseigenschaft(en) ausgestattet sein. Andernfalls kann diese Singularität nur als problematisches, gemeinschaftsstörendes Singleton am Ort (schlecht) erscheinen. 129 https://doi.org/10.5771/9783495820704 .

Einteilung und Unterteilung

Da sich politische Systeme an dieser Mengenlogik orientieren, kümmern sich die Staaten nicht um Individualitäten, sondern um die Metastrukturen der Inklusion. Auch ein Flüchtling ist ein Singleton, das am Ort erscheint und sich lange an ihm aufhalten kann, falls er durch eine oder mehrere (mehr oder weniger vorübergehende) Metastrukturen inkludiert wird. Die Zugehörigkeit zu einer Ortung geht unweigerlich mithilfe des Ordnung-Einschlusses in dieselbe Ortung durch Metastrukturen der Repräsentation vonstatten. Dieses Prinzip gilt auch für unser Seminar und schlägt eine interessante Brücke zur Kantischen Gast/Besucher-Differenzierung, die im Kapitel über Erdenteilung analysiert wird. Wenn wir uns nochmal die Figur des Cousins anschauen, ist es evident, dass dieser sich ins Seminar nicht integrieren lässt, solange keine ad hoc-Einschluss-Metastruktur etabliert wird. Eine solche Einschluss-Möglichkeit ist aber plausibel und könnte tatsächlich realisiert werden. Der Cousin oder der faule/motivierte Typ, die am Seminar teilnehmen, sprich: in die Seminargemeinschaft des Gemeinschaftsseminars eingeschlossen werden möchten, könnten diesen Einschluss tatsächlich verwirklichen, indem sie den Status als Gasthörer erwerben. Als Gasthörer dürfen Singularitäten im Seminar vorkommen, die weder angemeldete Studierende noch überhaupt Studierende sind. Die Gasthörerschaft ist nun auch eine Metastruktur der Re-Präsentation – ein Gasthörer ist nicht bloß ein Mensch, sondern ein zur Teilnahme berechtigter Mensch –, und diese Metastruktur ist auch unterschiedlich zur Metastruktur »Angemeldet-Sein«, zumal die Rechte und Pflichten, die beide Metastrukturen mit sich bringen, nicht miteinander übereinstimmen: Der Gasthörer darf bspw. am Seminar teilnehmen und Zugang zum Reader haben, er kann jedoch nicht durch die Abgabe einer Hausarbeit geprüft werden – er braucht es im Prinzip auch nicht, da er kein Studierender ist und somit keinen Abschluss anstrebt. Die Figur des Gasthörers ist in gewisser Hinsicht eine Depotenzierung der Seminarteilnahme – im Sinne der Einschränkung der Rechte, die eine regelrechte Seminarteilnahme gewährt –, scheint jedoch auf der anderen Seite zusätzlich einen nützlichen Spielraum der Inklusion ins Seminar zu gewähren. Durch die Gasthörerschaft wird etwas in einer speziellen Form re-präsentiert, was vorher auf sehr problematische Art und Weise nur präsentiert war – und als solches nicht inkludierbar. »Depotenzierung« ist im Übrigen möglicherweise ein irreführendes Wort, denn es wäre durchaus möglich, in der Gast130 https://doi.org/10.5771/9783495820704 .

§ 20. Gasthörer

hörerschaft auch ein Vorrecht zu sehen – ein spezielles, außergewöhnliches Recht zur Teilnahme, durch welches ein Gasthörer – und die Teilmenge der Gasthörer, denn Teilmengen schließen immer plurale Singularitäten ein, sonst wäre es ein nicht repräsentierbares Singleton – einen begünstigten Inklusionsweg eingehen kann. Die Figur des Gasthörers löst somit einige tragende Probleme der Einteilungsgemeinschaft, indem eine neue Metastruktur der Repräsentation erfunden und etabliert wird. Dabei würde man sich noch im Rahmen der Einteilungsgemeinschaft bewegen, es würde dadurch aber ein weiterer Wesenszug aufgezeigt: Einteilungsgemeinschaft bildet sich auch durch Schöpfung von neuen Metastrukturen, die neuen Elementen in irgendeiner Weise einen Einschluss gewähren. Es ist höchst interessant, dass die Verwaltungssprache von »Gasthörern« und nicht von so etwas wie »Besucherhörern« oder »Besuchshörern« spricht. Das bedeutet, dass das Element nicht als Singularität, sondern als Teilmenge anhand bestimmter Eigenschaften inkludiert wird. Diese Eigenschaften werden vom Gemeinschaftsgebilde festgelegt und als Inklusionseigenschaften zugelassen – insofern ist das gemeinschaftseinschränkend oder -ausschließend; dieselben Eigenschaften können jedoch ex novo kreiert werden. Man gelangt somit zu der These: Es ist durchaus wahr, dass die Einteilungsgemeinschaft, wie anhand der Kritiken von Badiou und Agamben ersichtlich wird, ein relativ zwingendes Schema ist. Nichtsdestotrotz wäre es möglich, selbst an diesem Schema und innerhalb dieses Schemas so zu agieren, um es in die Richtung einer aufsteigenden Komplexität zu »öffnen«. Komplexer heißt hier angereichert durch neue Eigenschaftsstrukturen und deren Zuweisung an Elemente. Gemeinschaft ist in diesem Gemeinschaftsbild also nicht Wachstum an Singularitäten, sondern an Metastrukturen. Die Gemeinschaft speist sich von der Produktion neuer Eigenschaften, die bestimmten Subjekten zukommen und diese inkludieren. Gemeinschaft ist Produktion von neuen Eigenschaften, und somit von neuen Zusammenhängen, Relationen zwischen bereits bestehenden Elementen. Diese Elemente werden in die Gemeinschaft inkludiert, d. h.: in das Netz der gemeinschaftlichen Relationen eingefügt.

131 https://doi.org/10.5771/9783495820704 .

Einteilung und Unterteilung

§ 21. Neigung zur Verrechtlichung Das obige Mengenlehreschema, das eine logische Grundlage liefert, weist jedoch weitere Einschränkungen auf, die abschließend nur als offene Fragen angerissen werden können. Ein erstes großes Hindernis gegenüber der Idee einer nicht staatlichen Gemeinschaft – also einer Gemeinschaft, die die Individuen in ihrer Singularität betrachten kann –, besteht darin, dass die oben thematisierten Eigenschaften sich mit Rechten decken. Die Eigenschaft ist ein Recht – Recht darauf, am Ort zu verweilen, eine Hausarbeit einzureichen, wählen zu dürfen usw. Dieses Recht kommt im Prinzip allen Elementen einer Teilmenge zu und nivelliert die Singularitäten auf die Dimension des Rechts: Es liegt in der Natur der ›Menschenrechte‹, daß sie zwar auf den einzelnen abzielen (jeder hat Anspruch auf Anerkennung seiner Differenz, darf also ohne Angst vor Strafe ›anders‹ sein), aber stets kollektiv erkämpft werden müssen und sich nur kollektiv garantieren lassen. Daher der Eifer beim Ziehen von Grenzen und Errichten scharf bewachter Übergänge. Damit aus einer Differenz ein ›Recht‹ werden kann, muß man sie mit einer Gruppe oder Kategorie von Individuen teilen, die zahlreich und zielstrebig genug sind, um ins Gewicht zu fallen: die Differenz wird zum Einsatz in einer kollektiven Geltendmachung von Forderungen. In der Praxis führt dies jedoch lediglich zur Einschränkung der individuellen Freiheit – man verlangt unerschütterliche Loyalität von denen, die als Träger der Differenzen gelten, deren Anerkennung gefordert wird, und grenzt alle anderen aus. Der Kampf um und die Zuweisung von individuellen Rechten führen zu intensiver Gemeinschaftsbildung. 11

Man könnte schließlich auch die Frage stellen, ob die verschiedenen Rechte/Eigenschaften sich auf derselben Ebene ansiedeln, oder vielmehr im hierarchischen Verhältnis stehen. In diesem letzteren Fall einer Über- und Unterordnung von Rechten – also eine Unterteilung von Rechten/Eigenschaften, was auch zum Bild einer Unterteilungsgemeinschaft führen würde – wäre zu fragen, welches das übergeordnete Recht ist. Die Geltung eines übergeordneten Rechts bestimmt im Grunde das Schema, zumal die bisherigen Abbildungen sich am Prinzip der Ortung orientierten – es wurde angenommen, dass die große, übergeordnete Menge/Kreis der Seminarzeitraum ist, in dem bestimmte Regelungen gelten, und sich in diesen großen Kreis wei11

Bauman 2017, S. 93–94.

132 https://doi.org/10.5771/9783495820704 .

§ 21. Neigung zur Verrechtlichung

tere Eigenschaftsteilmengen einfügen/inkludiert werden. Man hätte aber die Perspektive umstellen können, indem man z. B. als übergeordnetes Einteilungsvoraussetzung nicht die Anwesenheit am Ort, sondern die Einschreibung an der Uni (Zugehörigkeit zu einer Ordnung) hätte voraussetzen können, was das ganze Schema und die Lokalisierung der Elemente verändert hätte. Dies soll nur verdeutlichen, dass ein großes Problem jeglichen Gemeinschaftsbildes der Einteilung in der vorausgehenden Auswahl der Hierarchie der Eigenschaften besteht, denn diese prägt dann auch die Formen und Mechanismen der Einteilung. Es geht eben um den Nullpunkt einer Einteilungsgemeinschaft. An diesem Punkt ist es aber erforderlich, die Problematik des Gast/Besuchers noch einmal und von einem anderen Standpunkt aus aufzugreifen.

133 https://doi.org/10.5771/9783495820704 .

Sechstes Kapitel: Erdenteilung. Immanuel Kant vs. Reinhard Mey

§ 22. Viele Gäste Im vorigen Kapitel kristallisierte sich die Figur des Gastes als zentral heraus. Diese wurde in der Deklination des Gasthörers thematisiert, innerhalb eines Gemeinschaftsbegriffs, der durch Einteilung von Eigenschaften und Unterteilung der Elemente einer Gemeinschaft in Teilmengen gesteuert wird. Diese Überlegungen erschöpften jedoch keinesfalls die Komplexität der denkgeschichtlichen Figur des Gastes, ein Motiv, das in der Geschichte der Philosophie in Ableitung von seiner ursprünglichen Quelle xenos zahlreiche Ausdifferenzierungen erfahren hat. xenos, hospes/hostis, ghostis/Gast und weitere Figuren der Gastlichkeit verdienen aus diesem Grund auf den nächsten Seiten eine zunehmende Aufmerksamkeit, zumal diese Begriffe und die jeweiligen Ableitungen in der Alltagssprache (»Hospitalität«, »Hostilität«, Host als Gastgeber und »Gastnehmer«, Gast als ghost) sich teils als Ideologeme herausstellen und/oder eine komplexe denkgeschichtliche Dichte aufweisen. An dieser Stelle bietet sich aber zunächst die Besprechung einer Figur und des dementsprechenden gemeinschaftlichen Konzeptes der Gastlichkeit vor dem Hintergrund einer weiteren munus-Auffächerung an, bei der der munus die gesamte Erde ist: Erdenoberflächenteilung.

§ 23. Geist der Erde und Gast auf Erden Vom Menschen sagt man, er sei ein Gast auf dieser Erde: Unbeschadet der vielfachen ökologischen und kulturologischen Bedeutungsaspekte, die der Ausdruck in sich trägt, ist bereits relevant, dass dieser Spruch die Gastlichkeit und die Erde in Verbindung bringt. Der Gast, um den es hier geht, ist demnach als besonderer Bewohner anzusehen 134 https://doi.org/10.5771/9783495820704 .

§ 23. Geist der Erde und Gast auf Erden

– die genauen Züge dieses Bewohnertums des Gastes (wie u. a. die Zeitbefristung – auch auf Erden) werden sich am Ende deutlicher herausstellen. Auch die ursprüngliche Bedeutung des Wortes Ethik steht im Zusammenhang mit Erde: Dies ist die erste Facette des ethos, auf welche bereits Heidegger insistierte: Der Spruch des Heraklit lautet (Frgm. 119): ἦθος ἀνθρώπῳ δαίμων (ethos anthropoi daimon). Man pflegt allgemein zu übersetzten: ›Seine Eigenart ist dem Menschen sein Dämon‹. Diese Übersetzung denkt modern, aber nicht griechisch. ἦθος (ethos) bedeutet Aufenthalt, Ort des Wohnens. Das Wort nennt den offenen Bezirk, worin der Mensch wohnt. Das Offene seines Aufenthaltes läßt das erscheinen, was auf das Wesen des Menschen zukommt und also ankommend in seiner Nähe sich aufhält. Der Aufenthalt des Menschen enthält und bewahrt die Ankunft dessen, dem der Mensch in seinem Wesen gehört. 1

Das Ethos des Menschen zeigt sich darin, wie er einen Bezirk bewohnt – die Art und Weise, wie er sich darin aufhält. Aufenthalt und Ort des Wohnens als ethisch-raumtheoretische Begriffe sind Gegenstände der Ethik auch im neueren, fachlichen Sinne:

Martin Heidegger: »Brief über den Humanismus«, in Wegmarken, Frankfurt a. M.: Klostermann, 2013, S. 345. Die Idee kehrt in ausformulierter Form auch in einem weiteren, bekannten Aufsatz wieder: »Was heißt nun Bauen? Das althochdeutsche Wort für bauen, ›buan‹, bedeutet wohnen. Dies besagt: bleiben, sich aufhalten. Die eigentliche Bedeutung des Zeitwortes bauen, nämlich wohnen, ist uns verlorengegangen. Eine verdeckte Spur hat sich noch im Wort ›Nachbar‹ erhalten. Der Nachbar ist der ›Nachgebur‹, der ›Nachgebauer‹, derjenige, der in der Nähe wohnt. Die Zeitwörter buri, büren, beuren, beuron, bedeuten alle das Wohnen, die Wohnstätte« (Martin Heidegger: Bauen Wohnen Denken, in Vorträge und Aufsätze, Stuttgart: Klett-Cotta, 2004, S. 140–141). Und weiter: »Mensch sein heißt: als Sterblicher auf der Erde sein, heißt: wohnen. Das alte Wort bauen, das sagt, der Mensch sei, insofern er wohne, dieses Wort bauen bedeutet nun aber zugleich: hegen und pflegen, nämlich den Acker bauen, Reben bauen. Solches Bauen hütet nur, nämlich das Wachstum, das von sich aus seine Früchte zeitigt. Bauen im Sinne von hegen und pflegen ist kein Herstellen. Schiffsbau und Tempelbau dagegen stellen in gewisser Weise ihr Werk selbst her. Das Bauen ist hier im Unterschied zum Pflegen ein Errichten. Beide Weisen des Bauens – bauen als pflegen, lateinisch colere, cultura, und bauen als errichten von Bauten, aedificare – sind in das eigentliche Bauen, das Wohnen, einbehalten. Das Bauen als Wohnen, d. h. auf der Erde sein, bleibt nun aber für die alltägliche Erfahrung des Menschen das im vorhinein, wie die Sprache so schön sagt, ›Gewohnte‹« (ebenda, S. 141) […] »Das altsächsische ›wunon‹, das gotische ›wunian‹ bedeuten ebenso wie das alte Wort bauen das Bleiben, das Sich-Aufhalten« (ebenda, S. 143).

1

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Erdenteilung

Philosophische Grundbegriffe pflegen vieldeutig zu sein. Dafür ist aber nicht eine Unklarheit des Denkens oder eine Ungenauigkeit des Sprechens verantwortlich, sondern eine Mehrdeutigkeit der Gegenstände. Im Fall der Ethik zeigt sich die Mehrdeutigkeit schon in der Etymologie. ta êthika, wie die Disziplin der abendländischen Moralphilosophie von ihrem Urheber, Aristoteles, genannt wird, bezeichnet die das êthos betreffende Dinge. Dabei hat êthos drei Bedeutungen, die eine philosophische Ethik allesamt zu behandeln hat: Die erste Bedeutung, Ethos 1, der gewohnte Ort des Lebens, versetzt den Menschen ins Kontinuum der Natur. Denn auch Tiere haben ein Ethos, das für die jeweilige Art oder Gattung eigentümlich ist. Gemäß ihrer biologischen Ausstattung wohnen Fische im Wasser, das Vieh dagegen entweder auf dem eher natürlichen Weideplatz oder in dem von Menschenhand geschaffenen, künstlichen Stall. Schon bei domestizierten Tieren ist also ihr Ethos, obwohl durch die Biologie vorgeprägt, durch sie unterbestimmt. Beim Urheber der Domestikation ist die Situation entschieden komplizierter. Der Mensch kennt nicht bloß eine Fülle ›geographischer‹ Möglichkeiten, da er sowohl auf der Erde als auch unter ihr, dabei noch in unterschiedlichster Weise wohnen kann. Er relativiert das geographische Ethos auch durch zwei neue Faktoren, durch kulturelle Prägungen und durch Individualität. So überläßt die Natur der Kultur und überlassen liberale Kulturen den Individuen großzügig eine erhebliche Macht. Genau sie drängt nun die Bewertungsfrage auf, die die Ethik auf den Plan ruft: Welche der Möglichkeiten sind gut, welche schlecht? Wegen der zwei neuen Faktoren, der kulturellen Prägungen und des individuellen Lebens, zerfällt die Human-Ethik in zwei sich ergänzende, gelegentlich aber auch widestreitende Bereiche, in ein soziales Ethos bzw. Ethos 2, griechisch ethos (mit kurzem e; lateinisch mores) und in ein personales Ethos bzw. Ethos 3, griechisch êthos (mit breitem e). Einerseits zählen beim Ethos 3 die Art und Weise, wie man sein Leben führt, die Lebensform (griechisch: bios) und die persönliche Einstellung und Sinnesart, der Charakter. Andererseits ist das persönliche Leben in das Ethos 2 eingebunden, in den Inbegriff von Institutionen wie Familie, Recht, Staat, aber auch den Inbegriff von Üblichkeiten, den Gewohnheiten und Sitten. 2

Der Begriff des Ethos 1 könnte auch philosophisch-anthropologisch entfaltet werden, denn der Mensch ist im Unterschied zum Tier potenziell fähig, durch technische Ausstattung und Lebensraumveränderung jeglichen Bezirk auf Erden – und sogar außerhalb der Erde, wie das Beispiel der Internationalen Raumstation (ISS) bezeugt – zu

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Otfried Höffe: Ethik. Eine Einführung, München: C. H. Beck, 2013, S. 9–10.

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§ 23. Geist der Erde und Gast auf Erden

bewohnen, während jede Tierart in der Regel in eine oft sehr kleine Umwelt-Nische eingespannt und darauf eingeschränkt ist. Dieser anthropologische Umstand sollte auf politischer Ebene dazu führen, dass jeder Mensch – unabhängig von seiner Ethnie, Sprache, Gemeinschaftszugehörigkeit usw. – zumindest kulturbiologisch ausgestattet ist, als Mensch, überall wohnen zu können – überall ein ethisches Leben im 1. Sinne zu führen. Auch so könnte man den Ausdruck »Gast auf der Erde« interpretieren: als die Möglichkeit, für den Menschen, entlang seiner Lebensspanne auf jeglichem Gebiet und Bezirk der Erde zu verweilen. Überall ist der Mensch zu Hause, weil er durch seine kulturell-technisch-biologische Konstitution überall Gast der Erde sein kann, indem er auch die rigidesten Temperaturen und die lebensunfreundlichsten Umweltbedingungen durch Technik und Kultur relativieren und ihnen widerstehen kann. Ein Gast der Erde ist der Mensch aber (noch) nicht im politischen Sinne, denn es ist noch nicht dazu gekommen, dass jeder Mensch jegliches Gebiet der Erde bewohnen darf, und zwar aus rechtlich/politischen Gründen. Bestimmte Menschen (die meisten Menschen) dürfen sich in bestimmten Ordnung-Ortungsstrukturen (in den meisten Ordnung-Ortungstrukturen) nicht einmal als Gäste aufhalten. Es ist sogar noch möglich, dass bestimmte Menschen nicht einmal das eigene, ursprüngliche Gebiet bewohnen dürfen, ein Umstand, der mit dem Phänomen der Flucht zusammenhängt (vgl. Kapitel über Schicksalsteilung). Die Politik schränkt die Natur des Menschen ein, auch indem das ethische, an die Erde gebundene Gastlichkeitskonzept trotz der ethischen Herkunft einen Hang zur Verrechtlichung aufweist, mit anderen Worten zu einer juridischen Normierung, die u. U. erhebliche Einschränkungen der Gastlichkeit zur Folge hat und somit den ethischen Charakter entschieden verändert. Es bestehen zahlreiche Gründe für eine solche, im Folgenden zu präzisierende Verrechtlichung. Darunter können ohne Anspruch auf Vollständigkeit zwei isoliert werden: Eine geschichtliche und eine philosophische Ursache, die als Leitfaden der folgenden Überlegungen gelten.

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Erdenteilung

§ 24. Kants Gastlichkeitsbegriff Die Problematik der Verrechtlichung des Ethos der Gastlichkeit wurde neuerdings u. a. von Liebsch aufgegriffen: Spätestens seit Malthus wirft die Demographie der Massen einen dunklen Schatten auch über die menschliche Gastlichkeit. Zwar reagierte man zuvor schon in dem Maße restriktiv auf ungeladene Gäste, wie sie keine Ausnahmeerscheinung mehr waren, sondern durch ihr vermehrtes Auftreten (sei es als Siedler, als Migranten, als Pilger, Flüchtlinge oder Vagabunden) die Aufnahmebereitschaft und -fähigkeit anderer zu überfordern drohten. Dem ›gast, fremdling, dem auf wohlverhalten erlaubt ist, in der Stadt zu wohnen‹, räumte man nur ein befristetes Bleiberecht ein. Zu viele Gäste zerstören die Gastfreundschaft, meinte J. J. Rousseau. Doch dachte man sich den Gast noch nicht als massenhaft auftretenden, unerwünschten Eindringling. Neben das ursprüngliche Ethos der Gastfreundschaft tritt nun zunehmend eine juridische Bedeutung. Der frembde wird zum auslender, welcher als Nichtbürger dem ortsansässigen Einwohner gegenübersteht, der kraft seiner Mitgliedschaft in einem Gemeinwesen Rechte eines Bürgers (civis) genießt. 3

Nun verhalten sich historische Umwälzungen auf ähnliche Weise wie der Wechsel der wissenschaftlichen Paradigmen: Ein Forschungsparadigma kann erst abgelegt werden, wenn ein neues Paradigma bereits zur Verfügung steht, das dieselben Fragen beantwortet und darüber hinaus neue Probleme erklären kann. 4 Dies bedeutet, dass der Übergang von einem ethischen Paradigma der Gastlichkeit (etwas wie die griechische xenia) in ein rechtliches Verständnis der Gastlichkeit (durch das historische Auftreten der massenhaften Proportion der »Gäste« bedingt) nicht möglich hätte sein können, wenn die westliche Kultur ein entsprechendes Paradigma nicht geliefert hätte. Um dieses Paradigma kümmerte sich Immanuel Kant, der gegenüber dem Problem der rechtlichen Gastlichkeit einen philosophischen (und höchst problematischen) Unterbau bereitete. Darüber gibt auch Liebsch Aufschluss: »Erst Kant deutet die Gastlichkeit (hospitalitas oder ›Wirtbarkeit‹) explizit juridisch als ein Recht jedes Menschen. […] Diesem

Burkhard Liebsch: Für eine Kultur der Gastlichkeit, Freiburg: Alber, 2008, S. 146– 147. 4 Zu dieser Problematik in der Wissenschafts- und Erkenntnistheorie vgl. Thomas Kuhn: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1996. 3

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§ 25. Ethisch oder rechtlich?

Recht müsste aber die Pflicht entsprechen, sich dort nicht feindlich zu verhalten, wo man selbst auf dem Boden anderer zu Gast ist«. 5 Kant liefert ein neues Paradigma der Gastlichkeit. Aber noch einmal ist das Parallel zu der Wissenschaft möglich: Ein neues Paradigma in der wissenschaftlichen Forschung ist nicht nur ein neues Instrument zur Lösung alter und neuer Probleme, das ein altes Instrument zur Lösung alter Probleme ersetzt: Es ist auch ein neues Instrument, das neue Probleme schafft. Wie im Folgenden klar werden wird, eröffnet Kants Paradigma der Gastlichkeit eine gefährliche Kluft, die sich mit einer »Zone der Ununterscheidbarkeit« bzgl. des Verständnisses des Menschen in der Gemeinschaft deckt und das ursprüngliche Wesen der Ethik als »Aufenthalt auf Erden« stark gefährdet.

§ 25. Ethisch oder rechtlich? Die Aspekte des Ethischen und des Rechtlichen – mit anderen Worten, des Normalen (als Gewohnten) und des Normativen lassen sich i. d. R. (das heißt auch im Alltagsverständnis) nicht so deutlich voneinander trennen. Nichtsdestotrotz hat man bei Kant zunächst mit einem Ansatz über Gastlichkeit zu tun, der auf dem Normativ-Rechtlichen – wenngleich auf eigene, diskussionswürdige Art und Weise – insistiert: Es handelt sich um den meistdiskutierten Ausschnitt aus der Schrift Vom ewigen Frieden, wo ein gewisses philosophisches Gast- und Besucherkonzept geschildert wird und mehrere Aspekte enthalten sind, die die gängige Diskussion zum Text in der Regel nicht aufhellt: Es ist hier, wie in den vorigen Artikeln, nicht von Philanthropie, sondern vom Recht die Rede, und da bedeutet Hospitalität (Wirtbarkeit) das Recht eines Fremdlings, seiner Ankunft auf dem Boden eines andern wegen, von diesem nicht feindselig behandelt zu werden. Dieser kann ihn abweisen, wenn es ohne seinen Untergang geschehen kann; solange er aber auf seinem Platz sich friedlich verhält, ihm nicht feindlich begegnen. Es ist kein Gastrecht, worauf dieser Anspruch machen kann (wozu ein besonderer wohltätiger Vertrag erfordert werden würde, ihn auf eine gewisse Zeit zum Hausgenossen zu machen), sondern ein Besuchsrecht, welches allen

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Liebsch 2008, S. 148–149.

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Erdenteilung

Menschen zusteht, sich zur Gesellschaft anzubieten, vermöge des Rechts des gemeinschaftlichen Besitzes der Oberfläche der Erde, auf der, als Kugelfläche, sie sich nicht ins Unendliche zerstreuen können, sondern endlich sich doch neben einander dulden zu müssen, ursprünglich aber niemand an einem Orte der Erde zu sein mehr Recht hat, als der andere. – Unbewohnbare Teile dieser Oberfläche, das Meer und die Sandwüsten, trennen diese Gemeinschaft, doch so, daß das Schiff, oder das Kamel (das Schiff der Wüste) es möglich machen, über diese herrenlose Gegenden sich einander zu nähern, und das Recht der Oberfläche, welches der Menschengattung gemeinschaftlich zukommt, zu einem möglichen Verkehr zu benutzen. 6

Nicht von ethischer Philanthropie, sondern von Recht ist die Rede. Genauer besehen werden hier aber drei Formen des »Rechtes« voneinander unterschieden: 1) Das Recht eines Fremdlings, sich auf fremdem Boden aufzuhalten; 2) Das Recht eines Insässigen, vom Fremdling im eigenen Land nicht feindselig behandelt zu werden; 3) Das Recht jedes Menschen, sich überall auf der Erde aufhalten zu dürfen, vermöge gemeinschaftlichen Besitzes der Oberfläche der Erde, in unserer Begrifflichkeit: Vermöge der Erdenteilung. Schon melden sich aber einige Schatten. Zunächst ist Recht 3 gegenüber Recht 1 und 2 untergeordnet. Weiter, Recht 1 ist gegenüber Recht 2 wiederum auch untergeordnet. Das Oberrecht ist in dieser Hinsicht das Recht des Insässigen: Wenn der Fremdling sich nicht friedlich verhält, darf er sich im fremden Boden doch nicht aufhalten und verliert somit Recht auf Erdenteilung, denn er kann doch nicht überall auf Erde verweilen – er kann nur dort verweilen, wo er sich »friedlich verhält«. Und die genauen Modalitäten des »Sich-friedlichVerhaltens« werden wohlgemerkt vom Rechtsystem des Insässigen vorgegeben (genauso wie der Umstand, dass dieser Boden ein »Boden eines Anderen« ist). Dies ist bereits eine starke Relativierung des Prinzips der Erdenteilung, das Kant jedoch trotzdem zur Sprache bringt. Auch dieses bei Kant bereits wackelnde »Recht auf Erdenteilung« oder gemeinschaftlicher Besitz der Oberfläche der Erde weist ein ambigues Wesen auf. Ist das wirklich ein Recht? Wenn Kant diese Zeilen schreibt, kommt ein solches Recht in keinem Grundgesetz vor. Man hat hier offensichtlich mit der wiederkehrenden Struktur der

Immanuel Kant: Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf, in Werkausgabe Bd. XI, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1977, S. 213–214.

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§ 25. Ethisch oder rechtlich?

Ordnung/Ortung und entsprechenden kritischen Zonen zu tun. Obwohl »niemand an einem Orte der Erde zu sein mehr Recht hat, als der andere«, weiß Kant ganz genau, dass es Orte der Erde gibt – im vorliegenden Falle die Nationalstaaten – die eben durch einen Nexus von Ordnung/Ortung konstituiert sind, welcher einige Subjekte einschließt und viele andere ausschließt. In der Annahme, dass eine Ordnung/Ortung ein geltendes Gesetz auf einem bestimmten territorialen Boden ist, ist das Betreten dieses Bodens nur durch Einhaltung des jeweiligen Gesetzes möglich. Was ist eigentlich dieses »Recht«, was strenggenommen kein juridisches Recht ist? Dies ist der erste problematische Aspekt dieses Textes, die Hervorbringung einer Zone des Pseudo-Rechtlichen. Es wird als Recht angesprochen, ist es aber nicht. Interessanterweise appelliert Kant an ein vermeintliches Recht des gemeinschaftlichen Besitzes der Oberfläche der Erde (obwohl keine Verfassung dieses Recht vorsieht), indem er das Wort »Recht« im nicht-rechtlichen Sinne verwendet, und vor allem dann doch sich auf den Boden eines anderen bezieht. Dieser Bodenausschnitt – und weitere, nach ähnlichen Landesgesetzen »privatisierte« Territorien – ist offensichtlich nicht gemeinschaftlicher Besitz, sondern Landverteilung à la Tönnies, wie im Kapitel über Aufteilung erläutert. Schließlich sollte beim Recht des Fremdlings eher von einem »ungeschriebenen Gesetz« die Rede sein, was das vermeintliche »Recht« eher auf die Ebene der Ethik schiebt. Aber Kant betont doch, dass es sich hier um »keine Philanthropie« handelt, und spricht diesen Besitz als »rechtlich« an. Er bezeichnet etwas ursprünglich Ethisches als Rechtliches, obwohl dieses Etwas kein Rechtliches ist. Die terminologischen Schwierigkeiten und Ambiguitäten sind damit aber noch nicht zu Ende. Während in juridischer Hinsicht klar ist, wie eine vertraglich normierte Gastlichkeit aussehen kann – man denke beispielsweise, jetzt mit Blick auf neuere Konstellationen, auf die arbeitsvertragsbedingten Aufenthaltskonditionen bei Gastarbeitern –, ist ein Recht auf »Besuch« im Kantischen Sinne viel diffuser. Kant unterscheidet einen Gast, der den Boden anhand eines vertraglichen Gesetzes betritt – und sich dort aufhält – von einem bloßen Besucher, der sich nicht auf der Grundlage eines Vertrags, sondern eines ethisch-diffusen »Rechtes« hier befindet – obwohl ein solches Recht nie konkret verabschiedet worden ist oder zumindest ungeschrieben bleibt. Wie das logische Verhältnis zwischen vertraglichem Recht und ethischem »Recht« keine Dichotomie ist (dies wäre zwischen Recht und Unrecht der Fall, auch in der jeweiligen, paradox141 https://doi.org/10.5771/9783495820704 .

Erdenteilung

umgekehrten Richtung 7), so könnte das Begriffspaar Gast/Besucher möglicherweise auch eine Pseudo-Dichotomie sein, die die weitere, brandaktuelle Pseudo-Dichotomie der Bürger- und Menschenrechte antizipiert und sogar heraufbeschwört. Nach Kants littera: Der Besucher ist einer, der sich auf dem Boden aufhält. Der Gast ist einer, der sich auf dem Boden aufhält und einen Vertrag geschlossen hat. Anders gesagt: Der Besucher ist in der Ortung ohne Ordnung und der Gast ist in der Ortung und in der Ordnung (in die Ordnung eingefügt, wie im Kapitel über die Einteilung, »repräsentiert«). Es ist auch wahr, dass der Besucher sich friedvoll verhalten soll, also bestimmte Gesetze auf dem Boden einhalten muss, es wird allerdings in dieses Gesetzsystem nicht eingefügt – nicht repräsentiert. Dies bedeutet also auch – nach der mathematischen Terminologie des Kapitels über die Einteilung –, dass der Besucher in der Menge präsentiert aber nicht repräsentiert ist, während der Gast präsentiert und repräsentiert ist. Der Gast ist ein »normales Glied« (vgl. Kapitel über Einteilung), der Besucher ist eine Singularität, eben das, worum die Staaten sich nicht kümmern: »Der Staat ist wesentlich indifferent gegenüber der Zugehörigkeit, aber er kümmert sich beständig um den Einschluss«. 8 Die Kantische Passage wird normalerweise als philosophischer Vorläufer der Menschenrechte angepriesen. Alles deutet nämlich darauf hin, dass das Begriffspaar Gast-Besucher dieselbe Struktur wie das Paar Bürger-Mensch hat, was kritisch bedeutet, dass dieses Begriffspaar möglicherweise ein Hendiadyoin ist: Es zeigt sich, dass im System des Nationalstaats die so genannten heiligen und unveräußerlichen Menschenrechte in eben dem Moment jeden Schutzes beraubt sind, in dem sie sich mehr als Rechte der Bürger eines Staates vorstellen lassen. Bedenkt man es recht, so impliziert dies bereits die Doppeldeutigkeit der Überschrift der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, der Déclaration de l’homme et du citoyen von 1789, in der unklar ist, ob die zwei Begriffe zwei verschiedene Realitäten benennen oder ob sie nicht vielmehr ein Hendiadyoin bilden, jene rhetorische Figur, in der der erste Begriff in Wahrheit immer schon im zweiten enthalten ist. Dass es für etwas wie den reinen Menschen an sich in der politischen Ordnung des Nationalstaates keinen autonomen Raum geben kann, ist umso evidenter, wenn man die Tatsache berücksichtigt, dass der FlüchtlingsstaMan denke bspw. ans sprichwörtlich gewordene summum ius, summa iniuria (Cicero: De officiis, I, 10, 33). 8 Alain Badiou: Das Sein und das Ereignis, Zürich: Diaphanes, 2016, S. 127. 7

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§ 25. Ethisch oder rechtlich?

tus selbst im günstigen Fall immer als ein provisorischer Zustand angesehen wurde, dem die Einbürgerung oder die Repatriierung folgen sollte. Ein auf Dauer angelegter Status des Menschen an sich ist im Recht des Nationalstaats nicht denkbar. 9

Im Lichte solcher Überlegungen zeigt sich Kants Konzept der Gastlichkeit etwas dubios. Man kann die kritischen Punkte zusammenfassen: 1) Beim Begriffspaar Besucher/Gast handelt es sich offenbar um eine Pseudo-Dichotomie. Damit ein Gast als solcher behandelt werden kann – d. h. dessen Aufenthalt vertraglich normiert sein kann –, soll doch ein Aufenthalt vorliegen, d. h. er soll sich doch auf dem »Boden eines anderen« aufhalten. Bevor jemand zum Gast wird, soll er einmal Besucher gewesen sein – was umgekehrt nicht gilt. Auf analoge Art und Weise soll ein Bürger, damit er ein solcher sein kann, zuerst ein Mensch sein (und nicht umgekehrt: Alle Bürger sind nämlich Menschen aber nicht alle Menschen sind Bürger). Der Begriff des präsentierten Besuchers ist im Begriff des repräsentierten Gastes enthalten, aber nicht umgekehrt. 2) Problematisch erscheint die Figur des nicht vertraglich normierten Besuchers auch dann, wenn sie im Einzelnen betrachtet wird. Diese kann insofern sinnvoll sein, nur wenn man von großen Besuchermassen absieht. Das Konzept eines bloß sich aufhaltenden und respektvollen Besuchers kann scheitern, wenn die »Besucher« infolge der Weltkriege zu massenweisen zahlreichen Besuchern werden. Der Besucherbegriff ist aber aus einem entscheidenden Grund unpassend für den heutigen Flüchtlingsbegriff, mit dem er in heutigen Debatten fälschlicherweise zur Deckung gebracht wird, weil Kant aus historischen Gründen davon ausgeht, dass der fragliche Besucher im Besuchsland doch nicht der Staatsrechte bedarf – und sich somit in einer grauen Zone aufhalten kann, weil er irgend woanders (z. B. im Lande, aus dem er stammt) über Staatsrechte verfügt: Anders gesagt kennt Kant nicht das Phänomen der absoluten Beraubung der Staatsrechte, nach dem ganze Völker zu staatenlosen Bevölkerungsmassen wurden:

9 Giorgio Agamben: »Jenseits der Menschenrechte«, in: Mittel ohne Zweck, Zürich: Diaphanes, 2001, S. 25.

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Damit hängt zusammen, daß der Begriff der Menschenrechte im politischen Denken des 19. Jahrhunderts so gut wie keine Rolle spielte, und daß selbst im 20. Jahrhundert, als zum ersten mal große Gruppen von Menschen auftauchten, die in eklatanter Weise aller Rechte beraubt waren, sich keine liberale oder radikale Partei bereit fand, eine neue Proklamation der Menschenrechte in ihr Programm aufzunehmen. […] Weder das 18. noch das 19. Jahrhundert kannte Menschen, die, obgleich sie in zivilisierten Ländern leben, in keinem dieser Länder Staatsbürgerrecht genießen und so in eine Situation absoluter Gesetz- und Schutzlosigkeit gedrängt sind. Erst die Hunderttausende von staatenlosen Flüchtlingen in den zwanziger und dreißiger Jahren unseres Jahrhunderts, denen Millionen von displaced persons in den vierziger Jahren auf dem Fuße gefolgt sind, haben die Frage der Menschenrechte wieder auf die Tagesordnung der lebendigen Politik gebracht. Alle politischen und sozialen Katastrophen unserer Zeit, Kriege oder Revolutionen, haben in erschreckender Monotonie die Masse der absolut Recht- und Heimatlosen vermehrt und das Problemsolcher Rechtlosigkeit in neue Länder und Kontinente verschleppt. 10

Kant betrachtet das vermeintliche Besuchsrecht aus der Perspektive einer Zeit, in der jedem Individuum irgendwo ein Staatsrecht zukommt. Deshalb ist dieser Begriff dazu verurteilt, für die heutige Migrationsproblematik absolut unangemessen zu bleiben. Es ist ein bereits durch seinen Ursprung unscharfes und durch politischgeschichtliche Ereignisse untauglich gewordenes politisch-philosophisches Instrument. Kants Paradigma kann in vielerlei Hinsicht kritisiert werden: A) er beschwört philosophisch die humanitären Menschenrechte herauf und schildert B) einen Gastlichkeitsbegriff, der auf einer universalen, nicht vertraglich basierten Eigenschaft – also am Ende keiner Eigenschaft – beruht; C) dieses Begriffspaar (Gast/ Besucher) produziert eine ähnliche Pseudodichotomie wie Mensch/ Bürger: Kants Recht der Hospitalität liest man nachträglich gern als Vorgriff auf ein kosmopolitisches Recht der Gastlichkeit, das ohne Unterschied allen Bewohnern der Erde zustünde. Genau genommen schwebte Kant jedoch nur ein Besuchsrecht, kein Aufenthalts-, Bleibe- oder gar Asylrecht vor. Er begriff den Fremden nicht als Schutzbedürftigen, sondern als unerwarteten Besucher, dem nur der (jederzeit zurückzuweisende) Versuch gestattet werden sollte, in ›Verkehr‹ mit Einwohnern fremder Länder zu treten. Das

10 Hannah Arendt: »Es gibt nur ein einziges Menschenrecht«, in Die Wandlung, 4. Jg., Herbstheft 1949, Dezember 1949, S. 754–755.

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§ 25. Ethisch oder rechtlich?

›Recht der Menschen‹ schließt nicht das Recht ein, im Notfall irgendwo auf Dauer bleiben zu dürfen. Kant rechnete gar nicht mit der Unmöglichkeit, sich anderswo hin zu wenden. Das Problem der Staaten- und Heimatlosigkeit begegnet uns in seinen Überlegungen nicht. Charakteristisch für unsere Zeit hingegen und historisch beispiellos ist aber gerade die von Millionen Menschen erfahrene Unmöglichkeit, irgendwo auf der Welt eine neue Heimat zu finden bzw. irgendeinem politischen Gemeinwesen zugehören zu dürfen. 11

Kant produziert ein humanitäres Recht in einem historisch-politischen Zusammenhang, in dem eigentlich kein Bedarf danach besteht. Durch diese Erfindung öffnet er aber einen Spalt (humanitär/politisch), der in den nachfolgenden Zeiten problematisch wird. Der Ursprung der Kantischen Problematik ist eigentlich raumtheoretisch: Die Menschen müssen einander dulden, weil die Erde nicht unendlich ist. Dass der Mensch Gast auf dieser Erde ist, bedeutet somit nicht nur, dass sein Aufenthalt zeitlich befristet ist (durch Leben und Sterben), sondern auch räumlich eingegrenzt. 3) Es gibt eine Zeit des Aufenthalts: Gilt das Besuchs-»recht« unbefristet? Oder ist es vielmehr ein Vorläufer des zeitlich eingeschränkten »Aufenthaltsrechts« oder der vorläufigen Aufenthaltsgenehmigung? Auch die xenia war eine zeitlich begrenzte Institution. 12 Dass »Gäste sind wie Fische. Nach drei Tagen fangen sie an, zu stinken«, ist ein in mehreren Sprachen vorfindliches Sprichwort, das in brutaler Weise auf diese zeitliche Bedingung der »Gastlichkeit« hindeutet. 4) Besucher, wer und wie viele auch immer sie sind, sollen sich friedlich verhalten. Diese Problematik führt auf das im Folgenden behandelte Begriffspaar Freund/Feind – »die spezifisch politische Unterscheidung, auf welche sich die politischen Handlungen und Motive zurückführen lassen« 13 bei Carl Schmitt. Das Fazit lautet somit, dass Kants Text einen begrifflichen Vorläufer der Menschrechte herauf beschwört, der zum Schein humanitär-erbaulich ist, jedoch schon einige Aporien enthält, welche sich unter den nach den Weltkriegen veränderten historischen Bedingungen 11 12 13

Liebsch 2008, S. 149 Vgl. dazu Liebsch 2008 und Umberto Curi: Straniero, Mailand: Cortina, 2010. Carl Schmitt: Der Begriff des Politischen, Berlin: Duncker & Humblot, 2009, S. 26.

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und der damit einhergehenden Entstehung des Phänomens der Staatenlosigkeit zuspitzen. Dieser Text wird aus diffusen, vagen ethischen Gründen als wichtiger Bezugspunkt der Diskussion über Migration verwendet. Er sollte aber vielmehr sehr kritisch unter die Lupe genommen und als philosophischer Anfangspunkt der Aporien der Menschenrechte verstanden werden. Vor dem Hintergrund dieser Problematiken bleibt der Begriff der Erdenteilung (»vermöge des gemeinschaftlichen Besitzes der Erdenoberfläche«) eine reine Abstraktion.

§ 26. Gute Nacht, Freunde (und nicht Feinde) Gemäß der methodologisch »polytheistischen« Grundeinstellung dieser Arbeit und zur Präzisierung des Gastbegriffs und seiner problematischen Knoten kann es nun nützlich sein, sich einen Text der Popkultur anzuschauen, der etliche Bezugspunkte zu Kants schwammigem Text aufweist. Es handelt sich um das berühmte Schlagerlied »Gute Nacht, Freunde« von Reinhard Mey. Bereits der Titel enthält zwei Grundelemente des tragenden Gastlichkeitsbegriffs: Es geht um einen friedlichen Gast, der die Gastgeber als »Freunde« anspricht und sich von ihnen zugleich in der Nacht verabschiedet. Gute Nacht, Freunde Es wird Zeit für mich zu geh’n Was ich noch zu sagen hätte Dauert eine Zigarette Und ein letztes Glas im Steh’n

Der erste Vers kann bereits als politisch-philosophisch beladen verstanden werden: »Gute Nacht, Freunde«. Demnach handelt es sich nicht um Feinde. Diese Präzisierung ist alles anderes als selbstverständlich. »Freund« und »Feind« sind nicht nur geläufige Termini der Alltagssprache, sondern sie haben eine grundpolitische Valenz: Die spezifisch politische Unterscheidung, auf welche sich die politischen Handlungen und Motive zurückführen lassen, ist die Unterscheidung von Freund und Feind. Sie gibt eine Begriffsbestimmung im Sinne eines Kriteriums, nicht als erschöpfende Definition oder Inhaltsangabe. Insofern sie nicht aus anderen Kriterien ableitbar ist, entspricht sie für das Politische den relativ selbständigen Kriterien anderer Gegensätze: Gut und Böse im Moralischen; Schön und Häßlich im Ästhetischen usw. Jedenfalls ist sie

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§ 26. Gute Nacht, Freunde (und nicht Feinde)

selbstständig, nicht im Sinne eines eigenen neuen Sachgebietes, sondern in der Weise, daß sie weder auf einem jener anderen Gegensätze oder auf mehreren von ihnen begründet, noch auf sie zurückgeführt werden kann. 14

Wenn Carl Schmitt seine politische Grundunterscheidung schildert, bezieht er sich nicht auf private Freunde/Feinde, sondern er artikuliert dieses Begriffspaar im öffentlichen Sinne: Die Begriffe Freund und Feind sind in ihrem konkreten, existenziellen Sinn zu nehmen, nicht als Metapher oder Symbole, nicht vermischt und abgeschwächt durch ökonomische, moralische und andere Vorstellungen, am wenigsten in einem privat-individualistischen Sinne psychologisch als Ausdruck privater Gefühle und Tendenzen. […] Feind ist also nicht der Konkurrent oder der Gegner im Allgemeinen. Feind ist auch nicht der private Gegner, den man unter Antipathiegefühlen haßt. Feind ist nur eine wenigstens eventuell, d. h. der realen Möglichkeit nach kämpfende Gesamtheit von Menschen, die einer ebensolchen Gesamtheit gegenübersteht. Feind ist nur der öffentliche Feind, weil alles, was auf eine solche Gesamtheit von Menschen, insbesondere auf ein ganzes Volk Bezug hat, dadurch öffentlich wird. Feind ist hostis, nicht inimicus im weiteren Sinne: πολέμιος, nicht ἐχθρός. Die deutsche Sprache, wie auch andere Sprachen, unterscheidet nicht zwischen dem privaten und dem politischen ›Feind‹, so daß viele Mißverständnisse und Fälschungen möglich sind. Die viel zitierte Stelle ›Liebet eure Feinde‹ (Matth. 5,44 Luk. 6,27) heißt ›diligite inimicos vestros‹, ἀγαπᾶτε τοὺς ἐχθροὺς ὑμῶν, und nicht: diligite hostes vestros; von politischem Feind ist nicht die Rede. 15

Die Frage, ob die Freunde im Lied von Reinhard Mey privat oder öffentlich sind, bleibe noch kurz dahingestellt. Der Grund kann aber schon vorweggenommen werden: Es ist extrem schwierig, die Grenzen der privaten Freundschaft und Feindschaft von denen der öffentlichen Freundschaft und Feindschaft – insbesondere, wenn diese Grenzen im Lichte des Gastlichkeitsproblems gezeigt werden sollen – festzumachen. Zu dieser weiteren Ununterscheidbarkeit kann eine Episode aus der Ilias Aufschluss geben, die eben die Institution der xenia darstellt. Im VI. Buch treffen Glaukos und Diomedes im Kampf aufeinander – in demjenigen öffentlichen Kampf, der der trojanische Krieg ist. Sie gehören zu entgegengesetzten Formationen und sind somit öffent-

14 15

Schmitt 2009, S. 26–27. Εbenda, S. 28–29.

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liche Feinde. Irgendwann aber, bevor das Gefecht beginnt, kommt es zu einer xenia-Anerkennung 16:

Abbildung 16

Glaukos nun, des Hippolochos Sohn, und der Held Diomedes Kamen hervor aus den Heeren gerannt in Begierde des Kampfes. Als sie nunmehr sich genaht, die Eilenden, gegeneinander, Redete also zuerst der Rufer im Streit Diomedes: Wer doch bist du, Edler, der sterblichen Erdebewohner? Nie ersah ich ja dich in männerehrender Feldschlacht Vormals, aber anjetzt erhebst du dich weit vor den andern, Kühnes Muts, da du meiner gewaltigen Lanze dich darstellst. Meiner Kraft begegnen nur Söhn’ unglücklicher Eltern! Aber wofern du ein Gott herabgekommen vom Himmel, Nimmer alsdann begehr ich mit himmlischen Mächten zu kämpfen. 17

Dass die (An)erkennung nicht so sehr als moralischer, sondern als ontologischer Begriff zu intendieren ist, wurde im xenologischen Kontext thematisiert in Giovanni Tidona: »Einleitung«, in Fremdheit. Xenologische Konzepte und ihre Relevanz für die Bildungsfrage, Heidelberg: Mattes, 2018. 17 Homer: Ilias, VI. Gesang, 102–129, München: dtv, 2016, S. 102. 16

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§ 26. Gute Nacht, Freunde (und nicht Feinde)

Diomedes stellt die Frage, wer Glaukos doch sei, denn allem Anschein nach handelt es sich nicht um einen beliebigen Kämpfer. Er wird zwar, nicht zufällig, als Erdebewohner angesprochen, es besteht jedoch die Vermutung – ein xenia-Motiv, das auch im Kapitel über Zweiteilung am Beispiel des Odysseus vorkommt –, dass hinter dem fremden Kämpfer eine göttliche, »himmlische« Macht stehen könnte. Es ist nämlich oft so, dass Götter sich im Gewand des Fremden vergegenwärtigen. 18 Glaukos offenbart sich aber bald als das, was er eigentlich ist: ein xenos im wahrsten Sinne, d. h. ein Feind, mit dem man jedoch ein komplexes Freundschaftsverhältnis unterhält: Sprach’s, doch freudig vernahm es der Rufer im Streit Diomedes. Eilend steckt’ er die Lanz in die nahrungssprossende Erde, und mit freundlicher Rede zum Völkerhirten begann er: wahrlich, so bist du mir Gast aus Väterzeiten schon vormals! Öneus, der Held, hat einst den untadligen Bellerophontes Gastlich im Hause geehrt und zwanzig Tage geherbergt. Jen’ auch reichten einander zum Denkmal schöne Geschenke. Öneus’ Ehrengeschenk war ein Leibgurt, schimmernd von Purpur, Aber des Bellerophontes ein goldener Doppelbecher; Und ihn ließ ich scheidend zurück in meinem Palaste. Tydeus’ gedenk ich nicht mehr; denn noch ein stammelnder Knabe Blieb ich daheim, da vor Thebe das Volk der Achaier vertilgt ward. Also bin ich nunmehr dein Gastfreund mitten in Argos, Du in Lykia mir, wann jenes Land ich besuche; Drum mit unseren Lanzen vermeiden wir uns im Getümmel. Viel ja sind der Troer mir selbst und der rühmlichen Helfer, Daß ich töte, wen Gott mir gewährt und die Schenkel erreichen; Viel auch dir der Achaier, daß, welchen du kannst, du erlegest. Aber die Rüstungen beide vertauschen wir, daß auch die andern Schauen, wie wir Gäste zu sein aus Väterzeiten uns rühmen. Also redeten jen’, und herab von den Wagen sich schwingend, faßten sie beid einander die Händ’ und gelobten sich Freundschaft. 19

Er spricht mit »freundlicher Rede« (»μειλιχίοιςι προσευδα«, mit »honigsüßen Worten«) und sagt, dass Diomedes ein »Gast« (»ξεινος«) gewesen sei. Der Begriff der Gastlichkeit taucht wiederholt auf: »Gastlich im Hause geehrt und zwanzig Tage geherbergt«, auch unter Bezug auf die xeineia kala, die »schönen Geschenke der Gastlichkeit«. Was in der homerischen Erzählung häufig vorkommt, vgl. dazu Priamos’ und Odysseus’ Episoden im Kapitel über Zweiteilung. 19 Ilias, VI. Gesang, 212–233, S. 104–105. 18

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Und weiter, »Gastfreunde« waren die jeweiligen Familien in Argos und Lykias, an den Orten der Gastlichkeit, im Haus. Glaukos und Diomedes sind Kämpfer aus entgegengesetzten Fraktionen und sollen somit im blutrünstigen Krieg gegeneinander kämpfen. Sie sind zweifellos öffentliche Feinde. Nichtsdestotrotz verbindet sie nicht nur Ares, sondern ein ehemaliges Gastfreundschaftsverhältnis, »Gäste aus Väterzeiten«, aufgrund dessen die Forderung besteht, dass sie das Wichtigste für einen Kämpfer austauschen, die »Rüstungen«, und sich Freundschaft geloben. Es handelt sich prima facie um eine starke Relativierung der Feindlichkeit, vielmehr um einen Einschub der Freundlichkeit/Gastlichkeit in die Feindlichkeit (Figuren des Einschubs sind im xenologischen Denken sehr häufig, vgl. Kapitel über Zweiteilung). Dies liegt daran, dass im Allgemeinen die Institution der xenia sich als Einschub erweist: als lokaler Einschub – ich betrete als Fremder das Eigene des oikos – oder als zeitlicher Einschub: die Art des Verweilens ist befristet (im vorliegenden Falle auf »zwanzig Tage«), in mein feindliches Fremdheitswesen wird ein anerkanntes Freundschafts- und Vertrautseinswesen eingefügt, allerdings temporär, in der Dauer eines Freundschaftseinschubs, einer Art Ausklammerung des Kampfes, innerhalb des feindlichen Krieges. Auch das Lied von Reinhard Mey beginnt kurioserweise mit dem Refrain, der den Fokus auf die Zeitbeschränkung der Gastlichkeit legt: Ein Freund hat sich unter Freunden aufgehalten – so werden die Gastgeber angesprochen –, der Aufenthalt kommt allerdings bald zu Ende. Es erscheint bereits klar, dass man mit den freundlichen Gastgebern ein Redeverhältnis gehabt hat – vor der Abfahrt soll noch etwas gesagt werden: Dies setzt voraus, dass der Gastgeber und der »Gastnehmer« (die nicht-Existenz dieses Wort ist in enantiosemischer Perspektive interessant) dieselbe Sprache sprechen: Der Gast, worum es hier geht, ist nicht der Barbar, sondern der xenos, der griechisch (oder Deutsch) gut genug spricht, um man mit ihm handeln zu können. 20 Gastlichkeit präsentiert sich im Zeichen des Sprachein- und -ausschlusses. Es ist auch eine Gastlichkeit, in der man konkrete Güter wie Rüstungen (auf)teilt: Der Gast trinkt sein letztes Glas und raucht seine letzte Zigarette zusammen mit den anderen, die jeweils die eigene Zigarette und das eigene Glas haben: Es ist eine Abschiedsgemeinsamkeit, in der jeder zur selben Zeit das 20

Zu diesem asymmetrischen Begriffspaar vgl. Kapitel über Zweiteilung.

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§ 26. Gute Nacht, Freunde (und nicht Feinde)

Eigene hat. Die bald vergehende Zeit einer solchen Teilung ist auch für Dankbarkeit da: Für den Tag, für die Nacht unter eurem Dach habt Dank! Für den Platz an eurem Tisch, für jedes Glas, das ich trank Für den Teller, den ihr mit zu den euren stellt Als sei selbstverständlicher nichts auf der Welt

Figuren der Zeitabläufe (»Tag«, »Nacht«), der Räumlichkeit (»Platz«) und einiger dinglicher, mitweltlicher Grundlagen umrahmen das Phänomen der Gastlichkeit: Wieder rekurriert die Metapher des Tisches, der an anderer Stelle bereits als mitweltliche Grundlage thematisiert worden ist. 21 Der mit Esstätigkeiten thematisch verbundene Tisch ist nämlich eine in Kontexten der Thematisierung des Gemeinschaftlichen rekurrierende Figur, zugleich der Teilung und der Aufteilung: Am selben Tisch sitzt man mit eigenem Teller, »den ihr zu den euren stellt«. Ein geteilter gemeinschaftlicher Rahmen wird in Zonen des Eigenen aufgeteilt, auf ähnliche Art und Weise, wie die Pizza im Kapitel über die Teilung. Dies scheint eine selbstverständlich-triviale Sache zu sein, die im Rahmen der Gastlichkeit von Reinhard Meys Freunden wohl doch nicht allzu selbstverständlich ist – weshalb der Gast sich eben extra dafür bedankt, dass der Teller mit »Selbstverständlichkeit« angeboten wird: Denn das Wesen der Gastlichkeit besteht hier nicht nur darin, dass man einen Teller oder ein Glas bekommt, sondern auch, dass man an diesem Rahmen teilnimmt – mit anderen, genaueren Worten, unter dem selben Dach mit-erscheinen, cum-parire (vgl. Kapitel über Mitteilung) kann; wenngleich doch befristet. Oder doch nicht? Nach einer Wiederholung des Refrains »es ist Zeit für mich zu gehen«, kommt die zweite Strophe, die die Idee der Zeiteinschränkung doch überraschenderweise relativiert: Gute Nacht, Freunde Es wird Zeit für mich zu geh’n Was ich noch zu sagen hätte Dauert eine Zigarette Und ein letztes Glas im Steh’n

Vgl. die Analyse von Paul Celans Gedicht »Der Tisch aus Stundenholz« in Giovanni Tidona: Ding und Begegnung. Sprach- und Dingauffassung im dialogischen und existenzialen Denken, Freiburg: Alber, 2014.

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Habt Dank für die Zeit, die ich mit euch verplaudert hab’ Und für Eure Geduld, wenn’s mehr als eine Meinung gab Dafür, dass ihr nie fragt, wann ich komm’ oder geh’ Für die stets offene Tür, in der ich jetzt steh’

Die Gemeinschaft der Meinungsverschiedenheit und der Geduld (ist es vielleicht ein Konzept der Meinungsteilung?) erweist sich hier seitens des Gastgebers augenscheinlich doch als unbefristet, denn der Gastgeber fragt nicht, »wann ich komm’ oder geh’«. Es wäre interessant, diesen Vers zu hinterfragen, da er in einen Widerspruch zum Refrain tritt. Es könnte z. B. so aussehen, dass die Zeiteinschränkung der Gastlichkeit bzw. das Bewusstsein, dass der Gast sich irgendwann verabschieden muss, beiden präsent ist, und dass der effektive Abschied doch aber vom Gast und nicht vom Gastgeber veranlasst werden soll. Mit anderen Worten, die Verantwortung liegt beim Gast, wenn »Verantwortung« in diesem Kontext als Fähigkeit zur Antwort auf eine beiden Akteuren vorschwebende und dennoch nicht explizit gestellte Frage verstanden wird. Der Gast sagt »es ist Zeit für mich zu gehen« und das sagt er aus eigener Initiative, denn die Gastgeber würden »nie fragen«. In diesem Sinne wäre es plausibel, dass der Gast in diesem Lied eine Figur der »vorausspringenden Fürsorge« verkörpert. 22 Die Gastgeber fragen einerseits nicht und zusätzlich ist ihre Tür »stets offen«, was eben bedeutet, dass die Gastlichkeit auch erneuert werden kann. An der »stets offenen Tür« steht nun aber der Gast zum Abschied, wie der zum dritten Mal gesungene Refrain bestätigt: Gute Nacht, Freunde Es wird Zeit für mich zu geh’n Was ich noch zu sagen hätte Dauert eine Zigarette Und ein letztes Glas im Steh’n

»Die Fürsorge hat hinsichtlich ihrer positiven Modi zwei extreme Möglichkeiten. Sie kann dem Anderen die ›Sorge‹ gleichsam abnehmen und im Besorgen sich an seine Stelle setzen, für ihn einspringen. […] Diese einspringende, die ›Sorge‹ abnehmende Fürsorge bestimmt das Miteinandersein in weitem Umfang, und sie betrifft zumeist das Besorgen des Zuhandenen. Ihr gegenüber besteht die Möglichkeit einer Fürsorge, die für den Anderen nicht so sehr einspringt, als daß sie ihm in seinem existenziellen Seinkönnen vorausspringt, nicht um die ›Sorge‹ abzunehmen, sondern erst eigentlich als solche zurückzugeben. Diese Fürsorge, die wesentlich die eigentliche Sorge – das heißt die Existenz des Anderen betrifft und nicht ein Was, das er besorgt, verhilft dem Anderen dazu, in seiner Sorge sich durchsichtig und für sie frei zu werden« (Martin Heidegger: Sein und Zeit, Tübingen: Niemeyer, 2006, S. 122). 22

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§ 26. Gute Nacht, Freunde (und nicht Feinde)

Für die Freiheit, die als steter Gast bei euch wohnt Habt Dank, dass ihr nie fragt, was es bringt, ob es lohnt Vielleicht liegt es daran, dass man von draußen meint Dass in euren Fenstern das Licht wärmer scheint

Dem Gast wird auch Freiheit stets gewährt: Das Lied sagt nicht explizit, ob es sich um Handlungsfreiheit – so, dass der Gast alles machen darf, wozu er im Stande wäre, und damit eine uneingeschränkte Möglichkeit habe, die gegen die Prinzipien der xenia offensichtlich verstößt – oder um Entscheidungsfreiheit handelt – der Gast kann sich bspw. jederzeit entscheiden, zu gehen oder nicht. Es ist aber relevant, dass die Figur des Nicht-Fragens noch einmal vorkommt, diesmal in Bezug auf eine Gegenleistung des Gastes – ob seine Anwesenheit etwas »bringt« oder sich »lohnt«. Dies stellt auch eine entschiedene Relativierung bzw. Aufhebung des xenia-Prinzips der Gabe als Gegenleistung zur Gastlichkeit dar. Dass der Aufenthalt des Gastes sich nicht unbedingt lohnen muss, bedeutet auch umgekehrt, dass der Gast zu nichts verpflichtet ist. Er muss nichts bringen oder die Gastgeber belohnen. Es muss kein munus als Lohn außer der Gastlichkeit erbracht werden. Dies bestätigt noch einmal den Eindruck, dass das in »Gute Nacht, Freunde« geschilderte Gastlichkeitskonzept relativ schattiert ist, den Leitlinien der xenia nicht konform und generell philanthrophisch-ambigue, denn es grenzt in vielerlei Hinsicht an die Bedingungslosigkeit – es ist der Gast, der sich dann auf buchstäblich zuvor-kommende Art und Weise selber entscheidet zu gehen. Diese Gastlichkeit scheint vielmehr agape statt xenia zu sein, es ist also im denkgeschichtlichen Grunde paradoxerweise kein reines Gastlichkeitskonzept, sondern eine Variante der Nächstenliebe, der im Zusammenhang der Gastlichkeit präsentiert wird: Gastgeber, bei denen ein fremder Gast (ein Fremder als Gast oder ein Gast als Fremder) Aufnahme findet, gewähren Gastlichkeit unter diesem Vorbehalt nicht bloß dadurch, dass sie ihn hereinlassen, sondern durch das Wie der Aufnahme. Als gastlich gilt andererseits besonders ein freundlicher Empfang, der nicht von vornherein durch Vorbehalte, Verdachtsmomente und Bedingungen eingeschränkt ist. Reine Gastfreundschaft wäre in diesem Sinne eine unbedingte, die sich auch dadurch nicht beschränken ließe, dass der Gast sich als Feind entpuppen könnte. Die Geschichte der Gastfreundschaft ist demgegenüber von einem tiefgreifenden Zwiespalt geprägt: Immer wieder schwankt sie zwischen rückhaltloser Bejahung unbedingter und unbegrenzter Gastlichkeit einerseits und defensiven Versuchen andererseits, sie nur beschränkt und unter gewissen Bedingungen zu gewähren.

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Gemäß uralter Sitten wurde dem Gast vielfach ein unantastbarer Status eingeräumt: Wer auch immer er war, er musste aufgenommen werden. Auf der anderen Seite hat die Sitte des Gastrechts fast immer auch Fristen vorgesehen, nach deren Verstreichen der Gast entweder seiner Wege zu gehen hatte oder aber auf Dauer aufzunehmen war – sei es nur als geduldeter Metöke, der im antiken Griechenland nicht gleichberechtigt Zugehöriger oder Mitglied der jeweiligen politischen Lebensform sein könnte. 23

Der Grund für diese Vermischung aus griechischen xenia-Motiven und christlichen agape-Motiven zeigt sich in den letzten zwei Versen: Im Ort der Gastlichkeit scheint ein wärmeres, geborgenes Licht. Die letzte Strophe verdichtet somit die Verflechtung verschiedener Motive, die im vorliegenden Band in der Form eines Kurzschlusses behandelt werden: Die Lichtmetaphorik des Öffentlichkeit-oikos (welche hier umgestellt wird: Drinnen ist es behaglich und hell, draußen dunkel) und das Erscheinen der Gemeinschaft nicht im Ort der Gemeinschaft, sondern an den Übergängen, an der Schwelle (an der offenen Tür, durch die Fenster); und was im Hintergrund, auf indirekte Art und Weise vielleicht noch waltet, ist das Helle, das dem finsteren Loch bei Matthäus entgegengestellt wird. Dann geht der Gast durch die Tür und entfernt sich bewusst und eigenständig von dem gastlichen Ort, indem er die hellen Fenster aus der Ferne noch einmal erspäht. Aber schließlich geht er: Gute Nacht, Freunde Es wird Zeit für mich zu geh’n Was ich noch zu sagen hätte Dauert eine Zigarette Und ein letztes Glas im Steh’n 24

Dass »Das Licht wärmer scheint« ist ein stark verdichteter Satz. Zunächst bedient er sich einer Lichtmetaphorik, wobei nicht das Prinzip der phänomenologischen Erscheinung, sondern des Lichtscheins betont wird. Außerdem steht das Helle in einem Zusammenhang mit dem Warmen: Gemeinschaft ist hell – wobei nicht im Lichte der Öffentlichkeit, sondern noch einmal im Privaten des oikos – und darüber hinaus ist sie durch Wärme qualifiziert. Dieser letzte Aspekt kann an Göran Rosenbergs Begriff der Gemeinschaft als Wärmekreis

23 24

Liebsch 2008, S. 145–146. Reinhard Mey: Gute Nacht, Freunde in: Mein achtel Lorbeerblatt (1972).

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§ 26. Gute Nacht, Freunde (und nicht Feinde)

anknüpfen. 25 Gemeinschaft ist ein warmer und enger Kreis – eine warme Spaltung, die eher in Richtung Verborgenes und Geborgenes – assoziiert werden kann. Gemeinschaft scheint ein Lichtriss zu sein. Es ist kein Zufall, dass auch Bauman auf die Enge bzgl. der Erfahrung der Gemeinschaft Bezug nimmt: Man wäre verleitet zu sagen: der Erfahrung einer engen Gemeinschaft, wenn diese häufig gebrauchte Redewendung nicht pleonastisch wäre: denn keine Anhäufung von Menschen wird als Gemeinschaft erfahren, wenn sie nicht auf eng verknüpften Biographien und der Erwartung einer langfristigen regelmäßigen und intensiven Interaktion beruht. 26

»Wärme« und »Kühle« sind Metaphern, die interessanterweise auch die klassische Gegenüberstellung von »Gemeinschaft« und »Gesellschaft« auszeichnen: Der Kühle und inneren Distanz des gesellschaftlichen Zusammenseins steht entgegen die menschliche Wärme, das Gefühl der Zusammengehörigkeit und Gemeinsamkeit, die Gesinnung des Wohlwollens, der Solidarität und der gegenseitigen Förderung usw., d. h. alles, was unter den Ausdrücken ›Sich-nahe-sein‹ und ›Sich-nahe-fühlen‹ befaßt werden kann. 27

Es ist eine Wärme und Geborgenheit, die in phobischer Hinsicht auch in die Versperrung hinein gleiten kann, nicht zufällig unter Bezug auf die Diebe der Arbeitsteilung und Pflichtenerteilung: Unter ›Gemeinschaft‹ versteht man dabei eine sichere ›Umgebung‹, in die weder Diebe noch Fremde eindringen können. ›Gemeinschaft‹ heißt hier nichts anderes als Isolation, Separation, Schutzwälle und bewachte Tore. 28

Ein solch komplexes Konzept der Gastlichkeit zeigt sich anhand verschiedener Texte der westlichen Tradition, die aus disparaten Bereichen stammen und sehr unterschiedlicher Beschaffenheit sind. Nichtsdestotrotz sind diese Quellen von gemeinsamen Motiven durchdrungen. Ausgangspunkt war der Begriff der Erdenteilung (»vermöge des gemeinschaftlichen Besitzes der Erdoberfläche«). Dabei sind wir bei einer gewissen Erdbezogenheit der Sprache der Politik Vgl. dazu Göran Rosenberg: »Wärmekreise der Politik. Recht, Loyalität, Emotion in der post-ethnischen Gesellschaft«, in Lettre international, Nr. 48/2000, S. 4. 26 Zygmunt Bauman: Gemeinschaften. Auf der Suche nach Sicherheit in einer bedrohlichen Welt, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2017, S. 61. 27 Aron Gurwitsch: Die mitmenschlichen Begegnungen in der Milieuwelt, Berlin: de Gruyter, 1976, S. 172. 28 Baumann 2017, S. 139. 25

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Erdenteilung

gelangt. 29 Dieselbe »Erde« im politisch-topologischen Sinn ist nicht zufällig Gegenstand des Kapitels über Schicksalszuteilung. Dafür soll aber erst einmal die gemeinschaftliche Kategorie der Zweiteilung präsentiert werden, denn der »Gast auf Erden« entpuppt sich in weiteren, xenologisch äußerst komplexen Facetten.

»Die großen Ur-Akte des Rechts dagegen bleiben erdgebundene Ortungen. Das sind: Landnahmen, Städtegründungen und Gründungen von Kolonien. In einer mittelalterlichen Definition der Etymologiae des Isidor von Sevilla […] wird das Wesen des Völkerrechts sehr konkret angegeben: ›Jus gentium est sedium occupatio, aedificatio, munitio, bella, captivitates, servitutes, postliminia, foedera pacis, induciae, legatorum non violandorum religio, connubia inter alienigenas prohibita‹. Das heißt wörtlich: Völkerrecht ist Landnahme, Städtebau und Befestigung, Kriege, Gefangenschaft, Unfreiheit, Rückkehr aus der Gefangenschaft, Bündnisse und Friedenschlüsse, Waffenstillstand, Unverletzlichkeit der Gesandten und Eheverbote mit Fremdgeborenen. Die Landnahme steht an erster Stelle« (Carl Schmitt: »Das Recht als Einheit von Ordnung und Ortung«, in: Der Nomos der Erde – im Völkerrecht des Jus Publicum Europaeum, Berlin: Duncker und Humblot, 1997, S. 15).

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Siebtes Kapitel: Zweiteilung und Dreiteilung. Hendiadyoin als Logik der Gemeinschaft

§ 27. »Beschattungen« des Fremden. Der Fremde tritt ans Tageslicht, in Form des Schattens Wie im Vorigen angedeutet, bringt die Thematisierung eines Gemeinschaftlichen irgendwann und unweigerlich die Problematik des Fremden mit sich. Der Begriff des Fremden stellt nämlich in gewisser Hinsicht das Pendant des Gemeinschaftsbegriffs dar, denn der Fremde ist derjenige, der einer Gemeinschaft konstitutiv nicht angehört – sei es in der Form des aus der Gemeinschaft Ausgeschlossenen oder des für die Gemeinschaft Irrelevanten oder Bedrohlichen – und doch mit dieser Gemeinschaft eine qualitativ unterschiedliche Beziehung hat: Denn das Fremdsein ist natürlich eine ganz positive Beziehung, eine besondere Wechselwirkungsform; die Bewohner des Sirius sind uns nicht eigentlich fremd – dies wenigstens nicht in dem soziologisch in Betracht kommenden Sinne des Wortes –, sondern sie existieren überhaupt nicht für uns, sie stehen jenseits von Fern und Nah. 1

Der Fremde »existiert« hingegen, wenngleich auf besondere – d. h. sonderbare und abgesonderte – Art und Weise. Außerdem – und noch bevor eine solche Nicht-Zugehörigkeit und jedoch »Konstitutivität« für die Gemeinschaft eingehender präzisiert wird – ist es auf dieser einleitenden Ebene wichtig, festzuhalten, dass die Kategorie des Fremden in keiner Weise mit der des Anderen verwechselt werden darf. Der Andere ist nämlich der Gemeinschaft konstitutiv zugehörig: Gerade die Gemeinschaft ist der ideelle oder konkrete Ort, innerhalb dessen man Anderen (und nicht Fremden) begegnet. Dies geschieht, weil Gemeinschaft der Ort der com-parizione, der Mit-Erscheinung der Anderen ist (vgl. Kapitel über Mitteilung). Nicht zufällig stützen Georg Simmel: »Exkurs über den Fremden«, in: Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, Berlin: Duncker & Humblot, 1908, S. 509.

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Zweiteilung und Dreiteilung

sich etliche Paradigmen der Gemeinschaft oft auf die Metapher der Bühne: Die Bühne des Theaters ahmt in der Tat die Bühne der Welt nach, und die Schauspielkunst ist die Kunst ›handelnder Personen‹ […] So ist das Theater denn in der Tat die politische Kunst par excellence; nur auf ihm, im lebendigen Verlauf der Vorführung, kann die politische Sphäre menschlichen Lebens überhaupt so transfiguriert werden, dass sie sich der Kunst eignet. Zugleich ist das Schauspiel die einzige Kunstgattung, deren alleinigen Gegenstand der Mensch in seinem Bezug zur Mitwelt bildet. 2

In-Gemeinschaft-sein bedeutet, noch vor jeglicher Ausdifferenzierung der Logik des Gemeinschaftlichen, Zusammen-Auftreten (wie es im Falle von Glaukos und Diomedes und ihrer xenia-Gemeinschaft der Fall ist, da die Xenoi aus den Heeren auch optisch »heraustreten«, verweise Kapitel über Erdenteilung), ggf. auch in der Modalität des Betrachtet-Werdens, als wäre eine Gemeinschaft auch eine Art Schauspielgemeinschaft. Der Fremde erscheint hingegen innerhalb des Gemeinschaftskreises zunächst nicht. Der und das Fremde ist vielmehr aus der Obskurität heraus zu greifen – entweder, weil er aus einem externen Gebiet kommt, oder weil er vom Besitz her (zu) einem anderen Bereich (zu)gehört, oder weil er ungewohnt ist und somit den Kreis der Gemeinschaft nicht ethisch bewohnen kann. Ein solcher dreifacher, konstitutiver Nexus des Fremden wird in der folgenden, bisweilen klassisch gewordenen und vielzitierten Passage Waldenfels’ aufgegriffen. Hierbei geht es um die Ausdifferenzierung des Fremden nach dem Ort, dem Besitz und der Art: Hinter den deutschen Wörtern ›fremd‹ oder ›Fremdheit‹, die in gängigen Wortverbindungen wie ›Fremderfahrung‹ oder ›Fremdsprache‹ auftauchen, verbirgt sich ein recht komplexer Bedeutungsgehalt. Dies zeigt sich deutlich, wenn man auf andere Sprachen rekurriert, die durchweg mehrere Wörter verwenden, um dieses vielfältige Phänomen zu bezeichnen. Fremd ist erstens, was außerhalb des eigenen Bereichs vorkommt (vgl. externum, extraneum, peregrinum; ξένον; étranger; foreign) und was in der Form von ›Fremdling‹ und ›Fremdlingin‹ (so noch bei Schiller) personifiziert wird. Fremd ist zweitens, was einem Anderen gehört (vgl. ἀλλότριον; alienum; alien). Als fremd erscheint drittens, was von fremder Art ist und als fremdartig gilt (vgl. insolitum, ξένον; étrange; strange): Es sind also die

2 Hannah Arendt: Vita activa oder Vom tätigen Leben, München: Piper, 2009, S. 233– 234.

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§ 27. »Beschattungen« des Fremden. Der Fremde tritt ans Tageslicht, in Form

drei Aspekte des Ortes, des Besitzes und der Art, die das Fremde gegenüber dem Eigenen auszeichnen. 3

Waldenfels legt bei seiner als Ausgangspunkt dienenden Dreiteilung den Fokus auf den Ortsaspekt: »Unter den genannten drei Aspekten gibt der Ortsaspekt den Ton an«. 4 Zurecht weist Waldenfels auf die Fruchtbarkeit der topologischen Einstellung hin: Es lassen sich in der Tat zahlreiche, relevante denkgeschichtliche und alltagssprachliche topologische Aufarbeitungen des Fremden auffinden, angefangen mit dem geläufigen Ausländer, ein Fremder, der sich als aus dem Land heraus – Ausländer als externum, Ausland als Außenland/ Außerland, als das Draußen – konfiguriert. An dieser Stelle soll aber das Potential topologischer Figuren des Fremden in den Hintergrund rücken – topologische Analysen werden im Rahmen des Grenzbegriffs im Kapitel über Abteilung ausgeführt –, um sich vielmehr auf einen weiteren Pfad begeben zu können, der uns erlaubt, sich dem dritten Aspekt des Fremden zuzuwenden: Dem Fremden von fremder Art. Dass der Fremde bereits in der natürlichen Logik der Sprache als merkwürdig aufgefasst wird, gilt sowohl für die englische Sprache, wo sich der durch hendiadyonische Struktur geprägte Begriff von strange(r) ergibt, als auch für weitere Idiomen wie im Französichen étrange(r); und im Italienischen, wo die ausgeprägte Begriffsnähe zwischen straniero (»Fremder«) und strano (»seltsam«) vorfindlich ist. So verhält es sich auch auf einem weiteren, benachbarten Begriffsweg, an dem der Fremde ein befremdlicher Fremder ist, und zwar der Gast. Ein Gast ist ein ghost, das ungewöhnlich Hausende. 5 Diesbezüglich verwendet Liebsch den geglückten Ausdruck der »Zonen der Ununterscheidbarkeit«: Die indoeuropäische Urform ghostis ist im Lateinischen zu hostis und hospes geworden, das wie das griechische xenos für den Gast und den Gastgeber stehen kann, der ›Gewalt hat über den Fremden‹. ›Die alte Bedeutung von hostis als Bezeichnung für den friedlichen Fremden, den Gast, wird […] von hospes übernommen. Für hostis bleibt nur der Restbestand übrig, die Bernhard Waldenfels: Topographie des Fremden. Studien zur Phänomenologie des Fremden 1, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1997, 20136, S. 20. 4 Ebenda. 5 Dass der ghost ungewohnt ist, bedeutet zugleich, dass er mit dem »ethischen Wohnen« und Bewohnen ein anderweitiges Verhältnis als der Hausbesitzer hat, und zwar als merkwürdige, unheimliche fremde Präsenz im Eigenen. 3

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Zweiteilung und Dreiteilung

verengte Bedeutung von hostis als Feind des römischen Volkes‹. Als hostis gilt nur der Nicht-Römer, mit dem man ›nichts gemeinsam‹ hat. So reduziert sich die Bedeutung von hostis auf den nicht-römischen Feind, wohingegen für den feindlichen römischen Gegner inimicus gesetzt wird. Später wird hospes zum Synonym für xenos, das sich offenbar nicht aus der etymologischen Quelle von ghostis ableiten lässt. 6

Auf die hostis/hospes-Problematik sowie auf deren semantisch-philosophische Auffassungen des Fremden wird im Folgenden noch einmal eingegangen. Dabei wird sich u. a. zeigen, dass der Fremde auch ein dicker Begriff ist, da bei derartigen begrifflichen Überlappungen und Verflechtungen die Rede von dicken Begriffen naheliegt. Ethische Probleme sind nämlich ontologische Probleme – oder wenigstens dichte Begriffe, die eine Verflechtung von Ethik und Ontologie bereitstellen. 7 Zunächst soll aber der Fokus auf die Ambiguität des Fremden gelegt werden, weshalb dieses Kapitel von einem gemeinschaftlichen Konzept der Zweiteilung ausgeht.

§ 28. Enantiosemie Die Befremdlichkeit des Fremden liegt bereits in der Wortwurzel ghostis (»Gast« und »Gespenst«) und ist zunächst unter die Chiffre einer Zweiteilung zu subsumieren. Darunter ist der Umstand einer grundsätzlichen Ambiguität des Fremden zu verstehen. Auch im Diskurs über den Fremden, der im Allgemeinen unter verschiedenen Polarisierungen und Stereotypisierungen leidet, wird u. a. immer wieder das strukturelle Argument vorgebracht, dass der Fremde eine Doppelungsfigur nach dem Muster des Janusköpfigen sei. In der Tat orientieren sich zahlreiche Figuren und konkrete Herausarbeitungen des Fremden an den Chiffren der Duplizität, des Doppelten, des symmetrisch und asymmetrisch verstandenen Dichotomischen. Eine relevante denkgeschichtlich konkrete Aufarbeitung ist hierzu der Doppelgänger sowie der Narziss, der sich im Spiegel 6 Burkhard Liebsch: Für eine Kultur der Gastlichkeit, Freiburg: Alber, 2008, S. 144. Zur Analyse einiger zentraler philosophischer Züge des xenos als Gast vgl. Daniel Bella: »Die Gaben des Fremden. Xenien für einen Gast aus Elea«, in: Fremdheit. Xenologische Ansätze und ihre Relevanz für die Bildungsfrage (Hrsg. Giovanni Tidona), Heidelberg: Mattes, 2018. 7 Zu den »dicken Begriffen« vgl. Bernard Williams: Ethik und die Grenzen der Philosophie, Hamburg: Rotbuch Verlag, 1999, S. 197 f.

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§ 28. Enantiosemie

schaut. 8 Der Spiegel wird zur bildlichen Chiffre, da ein Spiegel so gut wie eine Verdopplung der Realität in Form eines Bildes ist. Vor dem Hintergrund gemeinschaftlicher Modelle, die sich an einem Verständnis des Fremden als etwas Ambiguen ausrichten, ist der Teil der Gemeinschaft ein Zweigeteiltes. In der Tat scheint die Dualität im Allgemeinen eine wichtige Rolle in der Sprache zu spielen, insbesondere bei denjenigen Grundworten, die sich als enantiosemisch herausstellen. Das Phänomen der Enantiosemie wurde bereits von Sigmund Freud behandelt, der sich auf weitere wegeröffnende Studien, u. a. von Abel, stützt. Die Enantiosemie beträfe in dieser Hinsicht Worte »mit zwei Bedeutungen, deren eine das gerade Gegenteil der andern besagt«. 9 In seiner terminologischen Analyse stößt Freud auf relevante Beispiele aus unterschiedlichen Sprachsystemen: Im Lateinischen heißt altus hoch und tief, sacer heilig und verflucht […] Im Deutschen bedeutet Boden heute noch das Oberste wie das Unterste im Haus. Unserem bös (schlecht) entspricht ein bass (gut), im Altsächsischen bat (gut) gegen englisch bad (schlecht); im Englischen to lock (schließen) gegen deutsch Lücke, Loch. Deutsch kleben – englisch to cleave (spalten); deutsch S t u m m – Stimme usw. So käme vielleicht noch die vielbelachte Ableitung lucus a non lucendo zu einem guten Sinn. 10

Freud spricht in diesem Kontext und in Anlehnung an Abel von »Erscheinung des antithetischen Doppelsinnes« und von »Zweideutigkeit«. 11 Diesbezüglich ließe sich vielerlei Interessantes feststellen. Zuerst betrifft dieses Phänomen der Enantiosemie eben die Urworte, laut Abel »älteste Wurzeln« 12. Unter den »Urworten« kommen selbstverständlich Termini vor, die eine ausgeprägte gemeinschaftliche Valenz haben, oder aber – was hierbei von großem Interesse ist – das sozialontologisch äußerst relevante Wort anders und die gebeugten Pronomina anderer/andere/anderes, die auch durch eine enantiosemische Logik durchdrungen sind. Zu einer Analyse der Figur des Narzisses im Lichte der Selbst- und Fremdwahrnehmung siehe Michael R. Müller/Hans-Georg Soeffner: »Der Narziss«, in: Diven, Hacker, Spekulanten. Sozialfiguren der Gegenwart, Berlin: Suhrkamp, 2010, S. 303– 315. 9 Sigmund Freud: »Über den Gegensinn der Urworte«, in: Gesammelte Werke, Bd. 8, Werke aus den Jahren 1909–1913, Frankfurt a. M.: Fischer, S. 215. 10 Ebenda, S. 219–220. 11 Ebenda, S. 218. 12 Vgl. ebenda. 8

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Zweiteilung und Dreiteilung

Enantiosemische Verwendungsmodalitäten des Wortes »anders« zeigen sich auf bezeichnende Art und Weise bei einem typischen Sprachfehler im Deutschen seitens von nicht-muttersprachlichen Sprechenden, wenn sie das Adjektiv anders- falsch verwenden. Der Sprachfehler ist relativ geläufig: Man sitzt in einer Kneipe, hat bereits ein Bier getrunken und bestellt auf Deutsch »ein anderes Bier«. Das Syntagma »ein anderes Bier« soll natürlich nicht bedeuten, dass der Kunde ein zum vorigen Bier unterschiedlich beschaffenes Bier bestellen möchte (etwa Pils statt Schwarzbier), sondern genau das gleiche Pils, und zwar ein weiteres. Damit die Bestellung in korrekter deutscher Sprache erfolgen könnte, sollte man nämlich »noch ein Bier« anfordern. Der Sprachfehler, der auf der Verwechslung von »noch ein Bier« mit »ein anderes Bier« beruht, kommt bei speakers von romanischen Sprachen besonders häufig vor, die eben das Wort »anders« verwenden, um sowohl Identität als auch Differenz auszudrücken. Dies bedeutet nämlich das italienische Wort altro, das englische other, das französische autre: »Vorrei un’altra birra«/»I would like another beer«/»Je voudrais une autre bière«, was eben noch ein zweites, gleiches Bier bedeutet. Noch ein Pils, bitte. Wie kann es aber auf diesem merkwürdigen semantischen Zweig dazu kommen, dass »anders« doch »gleich« bedeutet? Dies liegt natürlich daran, dass die Grundworte other/altro/autre sich enantiosemisch verhalten und dementsprechend die Bedeutung von ein zweites Gleiches produzieren. Das Phänomen lässt sich eben nicht nur in den Sprachen auffinden, welche die vom lateinischen alter abgeleiteten Termini auf diese paradoxe Weise verwenden, sondern auch im Deutschen (nebenbei gesagt bewahrheitet sich hier das Faktum, dass man die eigene Sprache nicht nur durch die Kenntnis der Fremdsprachen, sondern sogar durch die durch fremdsprachliche Muster entstandenen Sprachfehler erst richtig kennenlernt). Auch in der deutschen Sprache bedeutet das Wort anders sowohl gleich als auch unterschiedlich, je nach Begriffsperspektive. Ein Freund erzählt uns, dass die Ex-Freundin jetzt einen Anderen hat. Was anders in diesem unerfreulichen Zusammenhang bedeutet, ist auf der einen Seite – und unserem Freund zu Ungunsten –, dass die Freundin jetzt mit einem Anderen sprich mit einem anderen und unterschiedlichen Mann zusammen ist; andererseits bedeutet das aber zugleich, dass dieser andere Mensch nun dieselbe Rolle im Leben der Ex-Freundin spielt, wie einst unser Freund. Ein »Anderer« ist hierbei ein anderer (zu unterscheidender) Mensch in derselben Rolle 162 https://doi.org/10.5771/9783495820704 .

§ 28. Enantiosemie

– zumal es sich hier nicht um den Cousin oder Arbeitgeber der ExFreundin handelt, sondern auch um den Freund. Genauso wie unser Freund gegenüber der jetzigen Ex-Freundin damals der Freund war, und nicht Cousin, Arbeitgeber usw. Oder aber, auf einem anderen semantischen Zweig: Rot ist eine Farbe, und Blau eine andere Farbe: aber Blau ist zugleich genauso eine Farbe, wie Rot – und nicht etwa eine Straße, eine Wolke oder ein Gerät. Es sieht so aus, als wäre das Grundwort anders der semantische Operator der Differenz in der Identität – nur auf versetzter logischer Ebene: »anders« drückt aus, dass dieselbe logische Schablone durch ein unterschiedliches konkretes Exemplar erfüllt wird. Dieser enantiosemische Umstand hat erhebliche sozialontologische Valenz, wie Karl Löwith zeigt: 1. Die allgemeinste und ursprünglichste Bestimmung der Mitwelt liegt im Begriff: ›die andern‹. Indem mir die Mitwelt zunächst als die Welt der ›a n d e r n ‹ begegnet, ist sie weder die Idee der ›Menschlichkeit‹ in einer jeden ›Person‹ (Kant) noch die ›Gesellschaft‹ (Dilthey) und ebenso wenig mein ›Du‹ (Feuerbach) und noch weniger ein ›Freund-Ich‹ (Scheler), sondern die durch mich geeinte Welt der andern, nicht mehr und nicht weniger bestimmt als dadurch, dass sie meine Mitwelt ist. Im Unterschied zu Etwas anderem sind die anderen dadurch ausgezeichnet, dass sie von der selben Seinsart, in derselben Weise da sind wie ich selbst. Unbeschadet dessen, dass sie andere sind, sind sie doch meinesgleichen. Wenn ich mich auf die Straße und damit unter Menschen begebe, begegnen mir die andern in selbstverständlicher Weise als eine Welt von meinesgleichen und insofern gerade nicht als ›andere‹. Der zunächst liegende, aber unausdrückliche Sinn des ›Mit‹ in Mitwelt ist also: Mitmensch in der Bedeutung von meinesgleichen […] 2. Mich in meiner nächsten Umwelt umsehend, unterscheide ich diese andern als meinesgleichen zunächst nicht ausdrücklich von mir selbst, aber doch untereinander. Ihr Verschiedensein gilt ebenso wie ihr Meinesgleichen als das Selbstverständliche […]. Innerhalb der allgemeinen Welt äußert sich die Einzigkeit eines jeden insbesondere nivelliert als allgemeines Anderssein eines jeden als jeder andere. 13

Es ist hier nicht notwendig, den sozialontologischen Thesen Löwiths weiter zu folgen, denn zunächst ist dieser erste semantische Hinweis bereits behilflich: Die Anderen sind unterschiedlich und meinesgleichen. Sie sind andere Menschen (Bedeutung des Anderen als meinesgleichen), die wie ich insofern gleich sind – sie haben wie ich zwei Karl Löwith: Das Individuum in der Rolle des Mitmenschen. Ein Beitrag zur Grundlegung ethischer Probleme, Freiburg: Alber, 20162, S. 138–139.

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Zweiteilung und Dreiteilung

Augen, zwei Beine und sind mit logos ausgestattet; sie sind jedoch auch andere Menschen (Bedeutung des Anderen als Verschiedensein), die zu mir unterschiedlich sind – allein schon deshalb, weil diese Menschen nicht ich sind und auch untereinander unterschiedlich sind (jedes Ich ist nicht dasselbe Ich wie ein anderes Ich). Im Urwort anders waltet eine enantiosemische, janusköpfige Logik.

§ 29. Fremdheit als Fall der Andersheit Man tendiert dazu, auch im Phänomen der Fremdheit eine solche enantiosemische Alteritätslogik zu sehen. Das ist aber ein Denkirrtum, der der Fremdheit keine Rechnung trägt und darauf beruht, dass die Fremdheit als Unterbegriff der Andersheit aufgefasst wird. Jeder Fremde ist ein Anderer, aber nicht jeder Andere ist ein Fremder (selbst meine allzu vertraute Schwester ist ein anderer Mensch). Fremdheit scheint somit der Andersheit untergeordnet zu sein, als ein Fall der Andersheit. Dies verleitet zur Vermutung, dass die Fremdheit als Unterbegriff der Andersheit durch dieselbe Logik der Andersheit durchdrungen sein sollte. Darüber hinaus hat das Phänomen der Fremdheit in der Denkgeschichte nicht die gleiche Aufmerksamkeit genossen, wie das Phänomen der Andersheit. Es reicht ein Blick in die entsprechenden Einträge in HWP, um festzustellen, inwieweit der Andersheit ein philosophischer Vorrang vor der Fremdheit gewährt wurde. Wollte man die beiden Einträge »fremd/Fremdheit« und »Andersheit« miteinander vergleichen, sticht das absolute Ungleichgewicht zwischen einer relativ umfassenden und textuell belegten denkgeschichtlichen Erörterung der Andersheit und den wenigen Worten ins Auge, die den Eintrag »Fremdheit« ausmachen: Eine extrem unzulängliche Definition, die darüber hinaus nicht zufällig an die Sprache der Mengenlehre anknüpft (vgl. Kap. über Einteilung). 14 Die Andersheit genießt in der Philosophiegeschichte Aufarbeitungsformen, während Figuren der Fremdheit eher unterbestimmt sind. Vgl. Historisches Wörterbuch der Philosophie, Stichwort »Fremd/Fremdheit« und »Andersheit/Anderssein«. Im Unterschied zu einem ausführlichen und belegten Eintrag über »Andersheit« enthält »Fremdheit« nur die folgenden, knappen Zeilen: »Fremd, Fremdheit: Fremd heißen in der modernen Logik zwei Klassen bzw. Mengen, deren Durchschnitt (1) leer ist. Fremdheit besteht z. B. zwischen den Klassen der Insekten und der Wirbeltiere«, Bd. 2, 1972,S. 1102.

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§ 29. Fremdheit als Fall der Andersheit

Solche Bemerkungen reichen im Übrigen weiter über die Semantik und die Lexikographie hinaus. Andersheit und Fremdheit finden keine konsequente Systematisierung in ihrem Verhältnis bzw. es besteht der Hang dazu, Fremdheit als einen Fall der Andersheit und somit als ein Phänomen anzusehen, das im Grunde durch dieselbe enantiosemische Logik wie die Andersheit ausgezeichnet wäre. Man könnte sogar behaupten, dass es bereits bei der Geburtsurkunde des philosophischen Begriffs der Andersheit zu einer solchen Verwechslung oder zumindest zu einer nicht deutlichen Ausdifferenzierung von beiden Dimensionen kam. Die Figur der philosophischen Enantiosemie wird im Rahmen einer gleichsam xenontologischen Problematik herausgestellt, und zwar bei der allbekannten und fatalen Unterscheidung von εναντίον und ἕτερον, die nicht zufällig in einem platonischen Dialog ausgeführt wird, der von einer Figur des Fremden eröffnet wird. 15 Beim Sophistes wiederum bewegt man sich aber trotz des incipit streng genommen doch nicht bei einer Xenologie, denn es geht hier um die Auffassung des Anderen und nicht des Fremden. Dies – und vieles Weitere in der Denkgeschichte – hat möglicherweise zur nicht zu thematisierenden Annahme verleitet, dass das Phänomen der Fremdheit sich am Muster der Andersheit orientiere. Dieses Letztere ist sowohl in der Sprachlogik als auch auf der Ebene der platonischen Unterscheidung sowie in weiteren philosophischen Facetten des Anderen durch eine grundsätzliche Duplizität ausgezeichnet, die sich wiederum in Alterität und Alienität 16 differenziert. Auch der Diskurs über die Fremdheit scheint sich in der Tat beim Verständnisversuch des Fremden auf eine zweideutige, zweigeteilte Logik zu berufen. Der Begriff des Fremden scheint jedoch bei genauerem Hinsehen über eine solche enantiosemische Duplizitätslogik entschieden hinauszugehen. Das bedeutet, dass die semantische Figur der Zweiteilung sich in diesem Kontext in eine Struktur entwickelt, die sich als Dreiteilung im Sinne einer Drillingsformel erweist, wie im Folgenden klar werden wird.

»Wenn wir Nichtseiendes sagen, so meinen wir nicht, wie es scheint, ein Entgegengesetztes (εναντίον) vom Seienden, sondern nur ein Verschiedenes (ἕτερον).« (Platon: Sophistes, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2007, 257b (S. 139)). 16 Während »alius« ein anderer unter vielen ist, ist »alter« ein anderer unter zwei, weshalb eher im Letzteren Falle von Ambiguität die Rede sein sollte. 15

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Zweiteilung und Dreiteilung

§ 30. Unheimliches als Zweiteilung Umberto Curi ist das Verdienst zuzuschreiben, eine Brücke zwischen der Figur des Freudschen Unheimlichen und einem rein xenologischen (und nicht allgemein heterologischen) Ansatz geschlagen zu haben. In seiner Studie Straniero 17 nimmt er, ausgehend vom Aufsatz des Jahres 1919, zunächst einen ausschlaggebenden terminologischen Hinweis Freuds auf. Freud listet einige Übersetzungsmöglichkeiten des deutschen Wortes »unheimlich« auf: Lateinisch (nach K. E. Georges, Kl. Deutschlatein. Wörterbuch 1898): ein unheimlicher Ort – locus suspectus; in unheimlicher Nachtzeit – intempesta nocte. Griechisch (Wörterbücher von Rost und Schenkl): ξένος – als fremd, fremdartig. Englisch (aus den Wörterbücher von Lucas, Bellow, Flügel, Muret-Sanders): uncomfortable, uneasy, gloomy, dismal, uncanny, ghastly, von einem Hause: haunted, von einem Menschen: a repulsive fellow. Französisch (Sachs-Villatte): inquiétant, sinistre, lugubre, mal à son aise. Spanisch (Tollhausen 1889): sospechoso, de mal aguëro, lugubre, siniestro. Das Italienische und Portugiesische scheinen sich mit Worten zu begnügen, die wir als Umschreibungen bezeichnen würden. Im Arabischen und Hebräischen fällt unheimlich mit dämonisch, schaurig zusammen. 18

Unter den verschiedenen Übersetzungen und teilweise umständlichen Umschreibungen in einigen Fremdsprachen gibt es eine bestimmte Übersetzungsmöglichkeit, die sich am geeignetsten zu erweisen scheint: Es handelt sich dabei um das griechische Wort xenos. »xenos« und »unheimlich« scheinen sich semantisch zu gleichen und logisch-semantisch ein Gleiches anzusprechen. Das aber weder in der Form einer Umschreibung, noch eines Nachbarbegriffs, sondern in ziemlich eindeutiger Entsprechung. Man könnte folgerichtig mutmaßen, dass die semantische Logik des Fremden als xenos dieselbe sei, wie die des Unheimlichen. Auch eine volkstümliche sowie kulturologisch gängige Vorstellung des Unheimlichen insistiert primär auf der Chiffre der Duplizität, weshalb dieser Begriff oft – zum Teil auch bei Freud – im ZusamUmberto Curi: Straniero, Mailand: Cortina, 2010. Sigmund Freud, »Das Unheimliche«, 1919, in: Gesammelte Werke, Fischer, Frankfurt a. M., Band XII, »Werke aus den Jahren 1917–1920«, S. 232. Abgesehen davon, dass im Italienischen »lugubre«, »sinistro« und »inquietante« absolut korrekte Übersetzungen von »unheimlich« sind. 17 18

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§ 30. Unheimliches als Zweiteilung

menhang mit Figuren der Verdopplung steht, wie bspw. des alter ego (ein Alteritätsbegriff), der belebt-sprechenden Puppe (eine Puppe ist ein wie ein Mensch aussehender Gegenstand), des Spiegels als befremdliche Verdopplung unserer Gestalt. Insbesondere der Spiegel ist ein regelrecht wiederkehrendes, festes Motiv des Gruselkinos. Ich erkenne zwar meine Figur im Spiegel, die sich jedoch mit mir nicht deckt – es ist eine Repräsentation von mir, und nicht ich selbst: In dieser Hinsicht meldet sich auch das befremdlich-unheimliche Potential jeglicher Kunsttätigkeit, die in Anlehnung an ein Mimesis-Paradigma eine Verdopplung zwischen Ding und dessen Darstellung produziert. Es handelt sich um dasselbe thauma, das Kinder erleben, wenn sie zum ersten Mal ihre Gestalt im Spiegel betrachten. Diese Dynamik wird auch in der Pionierstudie von Karl Löwith angedeutet: Befremdend ist unter anderen stets die Gleichheit, z. B. ihr Uniformiertsein oder das Zum-Verwechseln-Ähnlich-Sein von Zwillingen. Und das Befremdendste wäre die Begegnung mit einem andern, der einem andern oder einem selbst völlig gliche, ein Doppelgänger wäre. Das Unheimliche des Doppelgängers ist, dass er einem die Selbstverständlichkeit der eigenen Singularität oder Einzigkeit von einem anderen her zum gegenständlich deutlichen Bewusstsein bringt, der ›ersten Person‹ zeigt, dass sie noch einmal in zweiter Person da ist und sie ihrer einmaligen Einzigkeit beraubt. 19

Unheimlich ist in dieser Hinsicht der Zwiespalt und die Zweiteilung – der Personalität sowie kosmischer Dimensionen, die sich als zweigeteilt und janusköpfig erweisen, darunter auch Orte, Gedanken, Tatsachen sowie ambigue Lebenserfahrungen. Es reiche, vor diesem Hintergrund an die Verwunderung über den bipolaren, dualistischen Charakter des (auch natürlichen) menschlichen Daseins, der beispielweise in der ambiguen Alternanz bzw. im Überschlagen von Schlaf und Wachzustand eine Form gewinnt – zu denken. 20 Löwith 2016, S. 139. In diese denkpsychologische Richtung geht bspw. das Heraufbeschwören des Todes im kindlichen Einschlafen durch die Schlaflieder, wie in vielen volkstümlichen Traditionen der Fall ist. Mütter beschwören den Tod der eigenen Kinder durch Schlaflieder, mit anderen Worten: Ihre Leier dringt in den ambiguen Spielraum der Zweiteilung zwischen Schlaf und Wachzustand, die eigentlich auf die weitere Ebene der Zweiteilung zwischen Schlaf und Tod zurückführt. Der Schlaf steht dabei in einem Gegenüberstellungsverhältnis zum Wachen und zugleich, im Analogieverhältnis dazu, zum Tod. Die polaritätsausgelegte Zweiteilung wird somit zu einer Dreiteilung (Wachzustand/Schlaf/Tod), die die Möglichkeit einer parakonsistenten Vierteilung in sich trägt (Wachzustand/Schlaf = Leben/Tod). Die Logik des unheimlichen Übergangs

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Zweiteilung und Dreiteilung

Als bezeichnend dafür gelten bspw. einige Grundmuster der literarischen und kinematographischen Darstellungsweisen des Unheimlichen, um wieder auf Konkretionen der Verdoppelung (man denke an die Zwillinge bei Shining 21), der Entzweiung (bspw. Dr. Jekyll und Mr. Hyde 22) oder des Ambiguen zurückzukommen. Ein sehr strukturiertes Beispiel für das Ambigue-Unheimliche des Doppelgängers liefert z. B. die Darstellung der Lodge in der Fernsehserie Twin Peaks (David Lynch):

Abbildung 17

Es handelt sich hier um einen Traum von Agent Cooper, der sich wegen der Ermittlungen über den Mord an Laura Palmer in Twin Peaks befindet. Allein der Stadtname ist Programm, denn dieser weist auf »Zwillings-Gipfel« hin: Eine Kleinstadt an der Grenze zwischen USA und Kanada, zweier kulturätiologisch spiegelbildlicher Länder. zwischen Wachen und Schlafen – ein Transit, der sogar in pathologischer Modalität erfahren werden kann – scheint also über die bloße Zweiteilung als Gegenüberstellung hinauszugehen. 21 Stephen King: Shining, Köln: Bastei-Lübbe, 2003. 22 Robert Louis Stevenson: Der seltsame Fall von Dr. Jekyll und Mr. Hyde, Frankfurt a. M.: Insel, 1987.

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§ 30. Unheimliches als Zweiteilung

Die Szene stellt einen Traum dar: Agent Cooper geht schlafen, und sofort meldet sich das onirische Erlebnis der Lodge. Von daher eine doppelte Ambiguität: Ist es Traum oder Realität? Er schläft zwar, begegnet im Traum jedoch Gestalten, die, wie in den weiteren Folgen klar werden wird, an der Grenze zwischen Realität und Okkultem angesiedelt sind. Traum/Realität ist dabei nicht die einzige ambigue Polarität. Im Traum ist Agent Cooper veraltet: Der junge Cooper träumt vom alten Cooper: »Dasselbe ist: lebendig und tot und wach und schlafend und jung und alt. Denn dieses ist umschlagend in jenes und jenes umschlagend in dieses«. 23 Zu den polaren Oppositionen, die die Traumfiguren auszeichnen, zählt auch die geschlechtliche: Mann und Frau werden durch die Präsenz eines Dritten, eines knabenhaften Zwerges, in der Szene vereinigt. Eine derartige Zweiteilung – die eigentlich eine Dreiteilung ist, wie im Folgenden klar wird – prägt nicht nur die Aufstellung der Traumfiguren, sondern auch den szenischen Zusammenhang. Die Hauptfarben der Lodge sind rot und schwarz – die Farbe des eros und thanatos –; diese Farben bilden dann Zwei- und Dreiteilungselemente: Das Bodenmuster ist zweiteilig, drei schwarze Sessel werden verwendet, zwei schwarze Anzüge und ein ganz roter Anzug. Die Frau ist ganz schwarz angezogen, der Zwerg ganz rot, Cooper hauptsächlich schwarz mit einer roten Krawatte – es ist ein Spiel des Farbeneinschubs. Dieses Farbspiel geht weiter. Aus dem rot-schwarzen Ambiente stechen nicht nur zwei graue Lampen, sondern vor allem eine weiße Statue hervor, die nicht nur optisch, sondern thematisch eine ambigue Opposition in Frage stellt: Es handelt sich um die venus pudica, eine schamhafte Aphrodite – das schamhafte Begehren, ein contradictio in adiecto, die durch eine die Farbenopposition sprengende Figur verkörpert wird. Eine ständige Alternanz und der Einschub von Drittelementen, die diese Alternanz in Krise stürzen, durchdringen die ganze Darstellung. Auch die Frau ist eine ambigue Figur: Sie sieht genauso aus wie die ermordete Laura Palmer, es wird jedoch beteuert, sie sei die Cousine des Zwerges. Im weiteren Verlauf der Serie wird dann ein neuer Charakter auftauchen, die tatsächliche Cousine von Laura Palmer: Maddy Ferguson, die von derselben Schauspielerin 23

Heraklit, DK 67, in: Die Fragmente der Vorsokratiker, Bd. 2, Zürich, S. 269–271.

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Zweiteilung und Dreiteilung

Sheryl Lee interpretiert wird, jedoch mit schwarz gefärbten Haaren. Der Zuschauer ist auf diese Weise mit gleichsam drei Laura Palmers konfrontiert: Der ermordeten, der Traum-Laura Palmer und der Cousine Maddy Ferguson. Auch der Zwerg spricht. Unabhängig vom Inhalt seiner Worte, die eine gesonderte Analyse verdienten, ist die Form bereits bezeichnend: Es ist weder eine bekannte noch eine fremde Sprache, sondern ein Drittes. Er spricht zwar Englisch, jedoch durch eine phonetische Verzerrung, die das Verstehen stark behindert und aus diesem Grund Untertitel erfordert. Diese Sprache ist in gewisser Hinsicht Englisch, in einer anderen Hinsicht nicht. Der Zwerg spricht sowohl Englisch (er spricht englische Worte aus), als auch eine Fremdsprache (diese Worte sollen zum Verständnis untertitelt werden), und er spricht weder Englisch (eine Englisch untertitelte Sprache ist doch nicht Englisch im strengen Sinne), noch eine Fremdsprache (obwohl diese Sprache verzerrt wird und untertitelt werden muss, ist doch erkennbar, dass es sich hier ursprünglich um »Englisch« handelt). Eine Sowohl-Als-auch-Weder-Noch parakonsistente Logik formiert die Sprache des Zwerges, genauso wie im Allgemeinen die ganze Traumszene.

§ 31. Unheimliches als Dreiteilung Die Darstellung des Unheimlichen in der Twin Peaks-Szene orientiert sich nur scheinbar an einem Duplizitätsprinzip. Der thematische Drehpunkt des Unheimlichen ist genauer besehen die Drei. Gerade an diesem Punkt meldet sich die Möglichkeit einer etwaigen Relativierung bzw. ergänzenden Fortentwicklung des polaren Schemas einer Zweiteilung, die in eine Dreiteilung mündet. Auch Freud fasst das Gegensätzliche als problematisch auf. In einem ersten Schritt konzentriert er sich auf die Polarität und die Janusköpfigkeit des Begriffs des Unheimlichen. Die »zwei Wege«, die er zur Erörterung der Logik des Unheimlichen einschlägt, führen zum »nähmlichen Ergebnis, das Unheimliche sei jene Art des Schreckhaften, welche auf das Altbekannte, Längstvertraute zurückgeht«: 24 »Man kann nun zwei Wege einschlagen: nachsuchen, welche Bedeutung die Sprachentwicklung in dem Worte »unheimlich« niedergelegt hat, oder zusammentra-

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§ 31. Unheimliches als Dreiteilung

Das deutsche Wort ›unheimlich‹ ist offenbar der Gegensatz zu heimlich, heimisch, vertraut und der Schluß liegt nahe, es sei etwas eben darum schreckhaft, weil es nicht bekannt und vertraut ist. natürlich ist aber nicht alles schreckhaft, was neu und nicht vertraut ist; die Beziehung ist nicht umkehrbar. […] Zum Neuen und Nichtvertrauten muß erst etwas hinzukommen, was es zum Unheimlichen macht. 25

Das bloß »Neue« ist an sich noch lange nicht unheimlich – sonst wäre das nagelneue Modell einer Waschmaschine bei der Kaufhaus-Kette als solches unheimlich. Das Verhältnis Neu/Unheimlich ist somit nicht umkehrbar, nicht symmetrisch. Außerdem fällt das Unheimliche auf das Vertraute zurück, es steht im Zusammenhang damit. Entscheidender ist also, den Wesenszug des Unheimlichen unter diesen Umständen zu suchen. Freud versucht mittels der Sprache(n), »über die Gleichung unheimlich = nicht vertraut hinauszugehen«. 26 Dazu führt er eine Auflistung unterschiedlicher Sprachnuancen an, die den Begriff ansprechen, sowie deutsche Definitionen des Heimlichen und dessen Korrelats. Seine Schlussfolgerung lautet folgendermaßen: Wir werden überhaupt daran gemahnt, daß dies Wort heimlich nicht eindeutig ist, sondern zwei Vorstellungskreisen zugehört, die, ohne gegensätzlich zu sein, einander doch recht fremd sind, des dem Vertrauten, Behaglichen und des dem Versteckten, Verborgengehaltenen. Unheimlich sei nur als Gegensatz zur ersten Bedeutung, nicht auch zur zweiten gebräuchlich. 27

Man bewegt sich hier im Rahmen einer semantischen Figur, die aus zwei Seiten besteht, welche jedoch nicht symmetrisch sind. »Heimlich« bedeutet in der deutschen Sprache nämlich »vertraut«, und »unheimlich« ist somit »unvertraut« 28: Bei dieser Facette von »heimgen, was an Personen und Dingen, Sinneseindrücken, Erlebnissen und Situationen das Gefühl des Unheimlichen in uns wachruft, und den verhüllten Charakter des Unheimlichen aus einem allen Fällen Gemeinsamen erschließen. Ich will gleich verraten, daß beide Wege zum nämlichen Ergebnis führen, das Unheimliche sei jene Art des Schreckhaften, welche auf das Altbekannte, Längstvertraute zurückgeht« (Freud 1919, »Das Unheimliche«, S. 230–231). 25 Ebenda, S. 231. 26 Ebenda. 27 Ebenda, S. 235–236. 28 Bei den Bildungen von »heim-« verhält sich die Sprache extrem komplex: Die »Einheimischen« sind die »Vertraut-Bekannten«; »Ich habe es heimlich gemacht« bedeutet, dass ich etwas auf versteckte und unbeobachtete Art und Weise angestellt habe, genauso wie ein »Geheimnis«. heim- drückt in diesen Fällen Vertrautheit und Verborgenheit aus, von daher wäre die Frage, was das semantische Gegenteil dieser Wendungen ist.

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lich« ist die Vorstellung der vertrauten Geborgenheit ersichtlich, denn heimlich ist das Heim, dessen Bewohner die Heimischen sind. Heimlich ist in diesem semantischen Kreis eng verwandt mit Heimat. Auf analoge Art und Weise, und auf xenologischer Ebene: »fremd« heißt unbekannt und somit unvertraut. Aber auf der anderen Seite des Begriffspaars heißt »heimlich« versteckt: Man tut etwas »heimlich«; weshalb »unheimlich« nicht das genaue Gegenteil von »versteckt« sein kann, da »heimlich« in dieser zweiten Facette doch »versteckt« heißt – von daher die Frage: Was ist das Gegenteil von heimlich/versteckt? Es zeigt sich zwischen den beiden Seiten des Begriffspaars eine semantische Diskrepanz. Alles deutet darauf hin, dass es sich im Falle des Unheimlichen um einen semantischen Kurzschluss handelt. Ein derartiger Kurzschluss kann auch als Interferenz gefasst werden. Interferenz ist hier wortwörtlich zu verstehen: inter-fero/intra-fero, ein-fügen, hindurch-tragen. 29 Außerdem betrifft die komplexe Logik des Begriffs, die sich den bisherigen Analysen noch einigermaßen entzieht, im Kern das Heim. Es ist z. B. sehr bemerkenswert, dass Martin Heidegger in seinem Werk Sein und Zeit im Rahmen der Angst-Analysen die Ausdrücke von »Zuhause« und »Unzuhause« verwendet, was eine philosophisch eingefärbte Übersetzung des psychologischen Begriffs des Unheimlichen darstellen könnte. 30 An dieses Kernproblem des Heims knüpft Umberto Curi an. Er zeigt, dass zwischen Heim und Die Logik des Unheimlichen liegt in der Interferenz, sprich: im Einfügen des fremden Elements in einen bekannten, vertrauten Rahmen. Als ob man nachts in der eigenen vertrauten Wohnung aufwachen, ins Wohnzimmer gehen und dort ein fremdes, unbekanntes Möbelstück vorfände. Diese Erfahrung wäre höchst befremdlich, und zwar nicht weil das allgemeine Ambiente fremd geworden wäre – die Wohnungsausstattung bleibt allzu bekannt –, sondern weil dieses bekannte Ganze durch ein unvertrautes Element durchkreuzt, interferiert wird, was das Gefühl des Nicht-Heimischen im Heimischen auslöst – das Ganze wird durch ein einzelnes Element entschieden gestört. Auf ähnliche Art und Weise steigert sich der Wahnsinn bei Vitangelo Moscarda, dem Hauptcharakter eines berühmten Romans von Luigi Pirandello (Einer, keiner, hunderttausend, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1982), der in eine unwiderrufliche Identitätskrise stürzt, nachdem er am Spiegel und auf Hinweis seiner Frau feststellt, dass seine Nase nur etwas schief ist. Er erfährt dadurch eine Selbstwahrnehmungsinterferenz, die darauf beruht, dass ein Detail seines Aussehens nicht mehr vertraut ist – dass der Teufel im Detail steckt, ist in dieser Hinsicht ein Spruch, der auch nach der Logik des interferierenden Unheimlichen gedeutet werden könnte. 30 Es handelt sich hier um keinen denkgeschichtlich ausgewiesenen, jedoch möglichen Zusammenhang, denn Heidegger hätte bis zum Jahr 1927 (Erscheinungsjahr von Sein und Zeit) den Aufsatz Freuds (1919) bereits gelesen haben können. 29

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§ 31. Unheimliches als Dreiteilung

Nicht-Heim (oder Zu-Hause und Un-zu-hause) keine Opposition, sondern Identität besteht. Und umgekehrt wird sogar der Anschein erweckt, dass das Haus gerade das in sich birgt, was sich im Endeffekt als befremdlich-unheimliches Unzuhause erweist: Zwischen dem Zuhause und dem Unzuhause ist keine Gegenüberstellung, sondern Identität. Das, was wir für vertraut hielten, ist zugleich auch fremd. Und umgekehrt. Die domus, der beruhigende Bereich unserer familiären Liebe – der Ort, an den wir uns zurückziehen, um uns sicher und geborgen zu fühlen, an dem wir glauben, Hospitalität und Verständnis finden zu können – beherbergt in Wahrheit auch das, was für uns einst fremd und fern war. 31

Diese Dynamik kann auch umgekehrt werden: Aber die Unruhe ist nicht weniger stark, wenn wir denselben, umgekehrten Prozess realisieren. D. h. wenn wir begreifen, dass das Un-Zuhause in unserem Zuhause ist, dass das, was wir für das Fernste und Fremdste hielten, bei uns ist, zwischen uns, mit uns – es wohnt uns inne. 32

Eine solche Logik der Unruhe gipfelt dann – was in xenologischer Hinsicht sehr relevant ist – in der Aufhebung der Drinnen-Draußen-Dichotomie: Dieser Unruhe-Gemütszustand gipfelt, sobald das fundamentalste Schema fehlt, ein Schema, das als Bezugspunkt und Modell zu jeder weiteren, ähnlichen Situation dient: Die Drinnen-Draussen-Relation. Sobald ich über das wahre ›Wesen‹ des Anderen zu zweifeln beginne. 33

Das semantische Szenario des Unheimlichen weist somit bisher sehr komplexe und verflochtene Züge auf. Zusammenfassend stellt sich 31 »Tra casa e non-casa non si dà opposizione, ma identità. Che ciò che ritenevamo familiare è insieme anche estraneo. E viceversa. Che la domus, il rassicurante ambito dei nostri affetti – il luogo nel quale ci ritiriamo per sentirci protetti, nel quale crediamo di poter trovare accoglienzae comprensione –, ospita in realtà anche ciò che credevamo essere esterno e remoto rispetto a essa« (Curi 2010, S. 53, übers. v. G. T.). 32 »Ma il turbamento non è minore quando ci avvediamo del processo che è in qualche modo uguale e contrario. Quando, cioè, capiamo che la non-casa è dentro la nostra casa, che ciò che consideravamo essere più lontano ed estraneo è presso di noi, tra noi, con noi – ci abita« (ebenda, übers. v. G. T.). 33 »Ma questo stato d’animo di grande turbamento raggiunge il vertice quando viene a mancare la sicurezza dello schema fra tutti fondamentale, quello che compare come riferimento e modello di ogni altra situazione simile, vale a dire la relazione internoesterno. Quando mi trovo a dover dubitare della vera »natura« dell’altro« (ebenda, S. 53–54, übers. v. G. T.).

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das Unheimliche an zwei unterschiedlichen Achsen auf: 1) Kurzschluss des Vertraut/Unvertrauten und 2) Kurzschluss des Verborgen/Unverborgenen. Gemeinsamer Nenner beider Kurzschlussformen ist dasjenige Heim, das sich an der Drinnen-DraußenGegenüberstellung orientiert. Als wäre diese Angelegenheit nicht schon kompliziert genug, führt Freud in Anlehnung an Grimm einen dritten semantischen Aspekt ein. Auf einem weiteren Weg wird Folgendes angedeutet: »aus dem heimatlichen, häuslichen entwickelt sich weiter der Begriff des fremden Augen entzogenen, verborgenen, geheimen, eben auch in mehrfacher Beziehung ausgebildet«. 34 So dann, vorläufigerweise Freud: »Also heimlich ist ein Wort, das seine Bedeutung nach einer Ambivalenz her entwickelt, bis es endlich mit seinem Gegensatz unheimlich zusammenfällt. Unheimlich ist irgendwie eine Art von heimlich«. 35 Freud setzt die Schilderung der Problematik des Unheimlichen am Beispiel der beseelten Puppen, der Sandmanngeschichte und durch Rekurs auf weitere literarische Quellen, wie u. a. auf Schelling, fort. Gerade an diesem Punkt seiner Ausführungen nimmt Curi die Analyse Freuds wieder auf, beide Ansätze können jedoch entschieden ergänzt werden. Curi betont seinerseits, dass die Struktur, durch die das Unheimlich/Fremde geprägt ist, über die bloße Opposition hinausgeht, er geht jedoch auf das logisch-semantische Wesen dieser Struktur nicht ein. Eine Aufzeigung der Logik des Unheimlichen erlaubt nämlich, anhand der von Freud fast unbemerkten semantischen Übereinstimmung mit dem xenos, auch ein genaueres Verständnis des Fremden. Indem man diese Struktur einer aufmerksameren Analyse unterzieht, erweist sich diese im Grunde als eine Drillingsformel. Der/das Fremde stellt A) eine asymmetrische Zweiteilung dar; B) es zeichnet sich durch eine hendiadyonische Struktur aus und beruht somit C) auf einem in logischer Hinsicht definierbaren Einschlussbegriff, der im Zusammenhang mit der Figur der Verschachtelung steht. Asymmetrie, Hendiadyon, einschließende Verschachtelung sind die im Folgenden zu behandelnden Figuren. Indem man das Fremde/den Fremden unter diesen drei Vorzeichen betrachtet, ist es möglich, diesen Begriff aus seiner klischeehaften Verhaftung in einer bloßen Logik der Enantiosemie zu befreien. 34 35

Freud 1919, S. 236. Ebenda 1919, S. 237.

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§ 32. Asymmetrie

§ 32. Asymmetrie Selbst die Enantiosemie – der Umstand, dass ein Terminus gegensätzliche Bedeutungen in sich trägt, die sich deshalb prima facie als symmetrisch austauschbar erweisen – kann problematisiert werden. Es besteht in der Tat der Verdacht, dass xenologische Begriffe, die sich auf den ersten Blick an enantiosemischen Strukturen ausrichten, in Wirklichkeit asymmetrisch seien. Gerade vor diesem xenologischen Hintergrund ist es möglich, von einer grundlogischen Asymmetrie auszugehen, die vielerlei Aufarbeitungen des Fremden auszeichnet. Von »asymmetrischen Gegenbegriffen« spricht Koselleck und intendiert damit »einseitig verwendbare, auf ungleiche Weise konträre Zuordnungen«. 36 Anhand der denkgeschichtlichen Beispiele »Hellenen/Barbaren«, »Christen/Heiden«, »Mensch/Unmensch«, »Übermensch/Untermensch« werden solche »asymmetrischen Bestimmungen« thematisiert: Derartige Selbstbestimmungen treiben Gegenbegriffe hervor, die den Ausgegrenzten diskriminieren. Der Nichtkatholik wird zum Heiden oder Häretiker; aus der kommunistischen Partei austreten heißt dann nicht die Partei wechseln, sondern wie aus dem Leben, wie aus der Menschheit austreten (J. Kuczinski). […] So kennt die Geschichte zahlreiche Gegenbegriffe, die darauf angelegt sind, eine wechselseitige Anerkennung auszuschließen. Aus dem Begriff seiner selbst folgt eine Fremdbestimmung, die für den Fremdbestimmten sprachlich einer Privation, faktisch einem Raub gleichkommen kann. Dann handelt es sich um asymmetrische Gegenbegriffe. Ihr Gegensatz ist auf ungleiche Weise konträr. Wie im Alltag fußt der Sprachgebrauch der Politik immer wieder auf dieser Grundfigur asymmetrischer Gegenbegriffe. 37

Eine derartige bei Begriffspaaren vorfindliche Asymmetrie bringt u. a. mit sich, dass die Vielfalt und Heterogenität des zweiten, asymmetrisch ausgegrenzten Elements dazu verurteilt ist, unscharf zu bleiben: Wenn die Identität des Römers auf spezifisch-eindeutige Weise festgelegt wird, so ist die Identität des Nicht-Römers nicht spezifisch eindeutig festgelegt, sondern alles kann im Prinzip unter den Begriff des Nicht-Römers subsumiert werden, also die Identität des Nicht-Römers ist horizontal unscharf. Reinhart Koselleck: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1988, S. 211. 37 Ebenda, S. 212–213. 36

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Ein weiterer xenologisch relevanter Aspekt kommt dadurch hinzu. Bei der Analyse der asymmetrischen Gegenbegriffe – »geschichtliche Bewegung vollzieht sich immer in Zonen gegenseitiger Abgrenzung von Handlungseinheiten, die sich zugleich begrifflich artikulieren« 38, so Koselleck – zeigt sich eine asymmetrische UrStruktur: Hellene und Barbar sind zwei Worte, die auch bezüglich ihrer Entstehung in keinem symmetrisch-gleichzeitigen Verhältnis stehen: Die Wörter existierten vor ihrer polaren Zuordnung. Dabei wurden alle Nichtgriechen schon als Barbaren zusammengefaßt, bevor sich die Griechen selbst unter dem Sammelnamen Hellenen begriffen. Vom 6. bis zum 4. Jahrhundert bildete nun das Begriffspaar Hellenen und Barbaren eine universalistische Sprachfigur, die alle Menschen erfasst, indem sie zwei räumlich getrennten Gruppen zugeordnet wurden. Diese Sprachfigur war asymmetrisch. Die Verachtung gegenüber den Fremden, den Stammelnden, nicht zu Verstehenden schlug sich in einer Serie von negativen Epitheta nieder, die die gesamte Menschheit außerhalb Hellas deklassierte. Die Barbaren waren nicht nur im formalen Sinne Nichtgriechen, Fremde, sondern wurden als Fremde negativ bestimmt. Sie seien feige, kunstlos, gefräßig, grausam usw. 39

Die Abwertung des Barbaren und das asymmetrische Begriffspaar Hellene/Barbar stützen sich im vorliegenden Fall auf eine sprachzentrische Interpretation des logos, den Aristoteles in der allberühmten, vielleicht verhängnisvollsten Passage der Politik der phone entgegenstellt. 40 Es ist klar, dass logos und phoné unterschiedliche Auffächerungen erfahren könnten, denn es wäre möglich, unter logos die Vernunft, oder die technische Vernunft, das politische Wesen des Menschen usw. zu verstehen. Es wäre schließlich nicht zwingend, logos als (griechische) Sprache und phoné als Onomatopöie für das Unverständliche, Lallende zu intendieren. Es handelt sich übrigens um einen Begriff, dem gegenüber die griechische Kultur selber kritisch ist: Koselleck zitiert u. a. Platon bezüglich des Auseinanderklaffens von »Artbestimmung und Teilungs-

Ebenda, S. 214. Ebenda, S. 218. 40 »Der Mensch ist aber das einzige Lebewesen, das Sprache (lógos) besitzt. Die bloße Stimme (phōnē´) nämlich zeigt nur das Angenehme und Unangehmene an, darum kommt sie auch den anderen Lebewesen zu« (Aristoteles: Politik, I Buch, 1253a, Hamburg: Rowohlt, 2014, S. 47). 38 39

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kriterium«. 41 Trotzdem gelang es dem asymmetrischen Begriffspaar, die konkrete – und auch die gewalttätige – politische Praxis zu beeinflussen: Aus der Begriffsbestimmung folgte, daß jeder Streit zwischen Griechen ein Streit unter Brüdern sei, ein Bürgerkrieg – stasis – und deshalb krankhaft. Ein Krieg mit Barbaren – polemos – sei dagegen von Natur aus gerecht. Kämpfe unter Griechen sollten milde und mit minimalem Einsatz geführt werden, der Krieg gegen Barbaren auf deren Vernichtung zielen. So sollte kraft des asymmetrischen Dualismus ein politischer Binnenraum gestiftet und gegen die Gesamtheit der Außenwelt abgeschirmt werden. 42

Die Bezeichnungen Hellene/Barbar entsprechen denjenigen politisch relevanten Handlungseinheiten, die die unterschiedlichen Formen (und Logiken) des Krieges sind. Dasselbe Grundphänomen erfährt divergierende Formen der Ausführung. Die praxisleitenden Ausdifferenzierungen werden auf unterschiedliche physis-Formen zurückgeführt und dadurch politisch gerechtfertigt, und zwar in demjenigen organischen Ansatz, der von den aristotelischen polites auch vertreten wird. Koselleck bezieht sich zwar sowohl auf spätere Formulierungen des Begriffspaars als auch auf deren Relativierungen (wie z. B. auf die bei Ciceros geläufige Triade von »Römer«, »Hellenen« und »Barbaren«). 43 Es steht aber fest, dass diese Asymmetrie in ihrer ursprünglichen, idealtypischen Fassung eine relevante politische Grundstruktur liefert. Es liegt nahe, in der Asymmetrie ein grundsätzliches politisches Ur-Schema zu sehen. In dieser Hinsicht könnte auch die aristotelische Politik im Lichte dieses Problems neu interpretiert werden. Diese ist nämlich an der Figur der Pseudo-Dichotomie orientiert, d. h. an unterschiedlichen Begriffspaaren, die sich prima facie als Gegensätze präsentieren, jedoch komplexere Figuren sind als bloße Gegenüberstellungen: »logos/phoné« oder »Regierende/Regierte« sind eminente Beispiele hierfür. 44 Der anfängliche Ansatz der westlichen politischen Philosophie konstituiert sich in Anlehnung an asymmetrische Koselleck 1988, S. 219. Ebenda, S. 220. 43 Ebenda, S. 228 44 Jedes Wort des logos muss zugleich auch eine phoné haben (ein vernünftiges Wort ist zugleich auch ein Wort, das aus Lauten besteht), aber nicht jeder Laut ist als solcher vernünftig, mit logos ausgestattet. Auf ähnliche Art und Weise ist jeder Regierende ein Regierter (der Regierende wird von sich selber regiert, er unterliegt passiv den Gesetzen, die er aktiv verabschiedet), aber der Regierte ist kein Regierender. 41 42

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Pseudodichotomien. Das Fazit lautet: Der »schwache«, unterbestimmte Pol der asymmetrischen Dichotomie ist Voraussetzung des politischen Systems, wird jedoch von demselben System ausgeblendet, da bspw. das Problem des Einschlusses der Sklaven in die polis nicht einmal thematisiert wird, nicht zuletzt aufgrund ihrer animalischen Natur: Der Sklave ist nicht einfach ein nicht-freier Mensch, sondern mit einem Tier gleichzusetzen – ein nicht-politisches Tier. Die Pseudodichotomie ist auch eine nicht ausbalancierte Form der Zweiteilung. Dies hat zur Folge: Wenn das Fremde ein derart semantisch konstituierter Begriff ist, dann ist das Fremde auch die dunkle Grundlage des Politischen. Diese These soll nun aber präzisiert werden, und zwar durch den Rekurs auf die letzte, ausschlaggebende semantische Dimension des Begriffs, und zwar auf seine hendiadyonische Struktur.

§ 33. ἓν διὰ δυοῖν Das Hendiadyoin ist laut dem Historischen Wörterbuchs der Rhetorik (Ueding) eine überraschenderweise noch nicht systematisierte und »in der rhetorischen und stilistischen Theorie bis heute nicht einheitlich definiert[e]« 45 Figur. Eine »einheitliche Erklärung auf der Basis einer detaillierten Sichtung des umfangreichen Materials wäre daher ein Desiderat«. Eine solch formal-semantische Unbestimmtheit des Hendiadyoins kann mit dem sich entziehenden politischen Begriff des Fremden in Zusammenhang gebracht werden – in dieser politischen-logischen Perspektive hätte die Schwierigkeit einer Definition des Fremden mit der fehlenden Systematisierung des Hendyadioins zu tun. Diese rhetorische Figur, die »insbesondere abzugrenzen von Synonymie, Tautologie, enumeratio, Epexegese und ihren Sonderformen« 46 ist, stellt i. d. R. – wobei gerade so etwas wie eine Regel fehlt – zwei Begriffe auf, deren Zusammenhang sich als sehr komplex erweisen kann: »Müllers Postulat zweier Begriffe […] die unabhängig voneinander Geltung haben, sich aber gegenseitig individualisierend zu einem ungeteilten Begriff zusammenschlie-

Historisches Wörterbuch der Rhetorik, hrsg. von Gert Uding, Berlin/New York: de Gruyter, S. 1344. 46 Ebenda, S. 1345. 45

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§ 33. ἓν διὰ δυοῖν

ßen«. 47 In der Annahme, dass das Hendiadyoin sich auf zwei Begriffe beschränkt, ist gerade eine Festlegung des logischen Verhältnisses zwischen diesen beiden Begriffen problematisch: Einerseits sind in der Tat in den meisten Fällen scheinbarer deutscher H. die beiden Begriffe tatsächlich zwei miteinander verbundene, aber Verschiedenes bezeichnende Termini, oder entstammen einem einzigen Genus, sind also weitgehend synonym und dienen der Verstärkung jedes einzelnen von ihnen (›bitten und flehen‹, ›weinen und klagen‹), wie auch die in einigen (dem Synathroismos zuzurechnenden) Wendungen bevorzugte Alliteration zeigt (›Geld und Gut‹, ›Haus und Hof‹, ›mit Mann und Maus‹, ›Kind und Kegel‹); 48 […] Das Fehlen einer einheitlichen Definition in der antiken Rhetorik in Verbindung mit der semantischen Vieldeutigkeit der Terminus H. selbst, die Verwechslungsmöglichkeiten von figurativer und grammatischer Verwendung, die zunehmende Freiheit zur Abstraktion in Gebrauch des Epithets in den modernen Sprachen sowie schließlich die hohe Frequenz scheinbar analoger Phänomene haben mithin zu einem Wildwuchs sowohl der sogar systemimmanent oft unpassenden Beispiele als auch insgesamt der Definitionen geführt. Diese reichen von ›Aufspaltung einer Vorstellung in zwei Wörter‹ [35] über Definitionen, die sich auf das Kriterium der Subordinierbarkeit beschränken [36] bis zur Festlegung auf die Synonymie beider Begriffe. [37] Eine einheitliche Erklärung auf der Basis einer detaillierten Sichtung des umfangreichen Materials wäre daher ein Desiderat. 49

Die deutsche Sprache ist im Unterschied zu anderen Idiomen besonders reich an Hendiadyoin bzw. an stilistischen Figuren, die eine semantische Ähnlichkeit dazu aufweisen und deshalb anhand der im Wörterbuch der Rhethorik geschilderten Problematik als PseudoHendiadyoin betrachtet werden könnten. »Feuer und Flamme«, »Hab und Gut«, »Art und Weise«, »klipp und klar«, »Grund und Boden«, »nie und nimmer« sind nur wenige Beispiele dafür und sollen auf die Komplexität des Hendiadyoins hindeuten, denn es stellt sich die Frage, ob es sich hier um Tautologien handelt. Weiterhin ist zu fragen, was überhaupt das logisch-semantische Verhältnis zwischen beiden Termini ist: Die Flamme ist z. B. strenggenommen ein Teil des Feuers. Es wäre also korrekter, von einer Metonymie zu sprechen, während »Art und Weise« eher eine Tautologie zu sein scheint, in etwa wie »Grund und Boden«, was allerdings eine rechtliche Tautologie suggeriert. Dies sind alles Zwillingsformeln, deren einheitliche Festlegung 47 48 49

Ebenda, S. 1347. Ebenda, S. 1348. Ebenda, S. 1349.

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sich wenigstens als schwierig wenn nicht gar unmöglich erweist. Das vermeintliche Hendiadyoin lässt sich von den Figuren der enumeratio, der Epexegese, des Synathroismus, der Synonymie, der Tautologie, des Zeugma usw. nicht eindeutig unterscheiden. Es geht aber noch weiter. Beim Hendiadyoin werden zwei Begriffe, die in einem diffus metonymischen 50 Verhältnis stehen, durch einen integrierten Ausdruck miteinander vereint, der eine dritte Bedeutung produziert. »Feuer und Flamme«, das allem Anschein nach ein echtes Hendiadyoin ist, bedeutet weder »Feuer« noch »Flamme«, sondern »begeistert«. Die dritte Bedeutung des Hendiadyoins wirkt oft willkürlich, da sie in keinem Zusammenhang mit den einzelnen Sprachbestandteilen des Hendiadyoins selber steht. Im konkreten Fall mit zwei Sprachbestandteilen, die bereits in einem logischen, meistens metonymischen Verhältnis stehen, denn »Flamme« ist ein Teil des Feuers. Bei anderen Hendiadyoin ist die dritte Bedeutung zumindest relativ rückführbar auf die Bedeutung der beiden Elemente: »klipp und klar« bedeutet »eindeutig«, »Haus und Hof« bedeutet »Existenzgrundlage«. Die letzteren Hendiadyoin unterscheiden sich jedoch voneinander aufgrund der Metonymie: »klar« ist nicht ein Teil von »klipp«, während »Hof« sicherlich ein Teil von »Haus« sein kann. Ein drittes Hendiadyoin ist in dieser Hinsicht interessant und repräsentativ: »Hinz und Kunz«. Kunz ist nicht Teil von Hinz, die beiden Elemente, die Eigennamen sind, produzieren jedoch eine antithetische Bedeutung: »Hinz und Kunz« bedeutet weder den bestimmten Mann namens »Hinz« noch den bestimmten Mann namens »Kunz«, sondern den unbestimmten, namenslosen Mann, der »jedermann ist«. 51

Diffus metonymisch ist oft und nicht zufällig ein bestimmtes Verhältnis von Teil/ Ganzem. Eine vollständige Auflistung der deutschen Hendiadyoin ist hierbei nicht notwendig, weshalb dafür nur einige repräsentative Beispiele angebracht werden können, an denen sich die Frage des logischen Verhältnisses zwischen den beiden Elementen stellt, wie z. B. »unter Dach und Fach«,»frank und frei«, »Haus und Hof«, »Hinz und Kunz«, »kreuz und quer«, »Mord und Totschlag«, »Recht und Ordnung«, »Tür und Tor«. 51 Es zeigt sich hier eine erste taxonomische Möglichkeit: Hendiadyoin unterscheiden sich anhand des metonymischen Verhältnisses und der Loslösung der dritten Bedeutung vom logischen Verhältnis der beiden Elemente, sodass es folgende Varianten gibt: a) metonymische Hendiadyoin, deren Bestandteile eine dritte, anderweitige Bedeutung produzieren; b) nicht metonymische Hendiadyoin, deren Bestandteile eine dritte, anderweitige Bedeutung produzieren; 50

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§ 33. ἓν διὰ δυοῖν

Wenn man diese faszinierende, semantische Problematik des Hendiadyoins im Hinterkopf behält, zeigt sich, dass diese mit der Figur des xenos/Gastes recht viel zu tun hat und das in vielerlei Hinsichten. Eine erste Anwendungsmöglichkeit der Problematik des Hendiadyoins betrifft eine wichtige Aktualisierung des Gast/Besucher-Begriffs (vgl. Kapitel über Erdenteilung), und zwar die Figur des Mensch/Bürgers, die auch als Hendiadyoin behandelt werden könnte. Giorgio Agamben betrachtet diese Struktur auch in Bezug auf die Menschenrechte, wo er in Auseinandersetzung mit Hannah Arendts Kritik auf diese semantische Ambiguität Bezug nimmt: Es zeigt sich, dass im System der Nationalstaats die so genannten heiligen und unveräußerlichen Menschenrechte in eben dem Moment jeden Schutzes beraubt sind, in dem sie sich nicht mehr als Rechte der Bürger eines Staates vorstellen lassen. Bedenkt man es recht, so impliziert dies bereits die Doppeldeutigkeit der Überschrift der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, der Déclaration des droits de l’homme et du citoyen von 1789, in der unklar ist, ob die zwei Begriff zwei verschiedene Realitäten benennen oder ob sie nicht vielmehr ein Hendiadyoin bilden, jene rhetorische Figur, in der der erste Begriff in Wahrheit immer schon im zweiten enthalten ist. 52

Wenn daraus eine Unklarheit resultiert, ob beide Begriffe »zwei Realitäten benennen«, ist auch die semantische Absicht der allgemeinen Erklärung alles anderes als deutlich. Die Menschenrechte werden zum Schutz des Menschen verabschiedet, aber »Mensch« ist noch eine unzulängliche Definition, und zwar aus dem einfachen Grund, dass nicht jeder Mensch ein Bürger ist (es gibt Menschen, die keinen Bürgerstatus haben), während jeder Bürger notwendigerweise ein Mensch sein muss (sonst könnten auch Pflanzen, Tiere, Steine und Tische unter irgendwelchen Umständen den Status des Bürgers annehmen). Mit anderen Worten, »Mensch-Sein« ist vielleicht die notwendige aber nicht hinreichende Bedingung des »Bürger-Seins«: Das bedeutet umgekehrt auch, dass »Mensch-Sein« in einer ursprünglichen Menschenrechtsperspektive kein hinreichender Umstand ist. Und/oder, in

c) metonymische Hendiadyoin, deren Bestandteile eine dritte, ähnliche Bedeutung produzieren; d) nicht metonymische Hendiadyoin, deren Bestandteile eine dritte, ähnliche Bedeutung produzieren. 52 Giorgio Agamben: »Jenseits der Menschenrechte«, in: Mittel ohne Zweck. Noten zur Politik, Zürich: Diaphanes, 2001, S. 25.

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Mengenlehre-Terminologie: Die Teilmenge der repräsentierten Bürger ist kleiner als die Menge der präsentierten Menschen. Alle Menschen sind Menschen – Mensch-Sein reicht in politischer Hinsicht jedoch nicht aus. Dazu müssen dem »Menschen« die Eigenschaft(en) des »Bürgers« zukommen. Einige Menschen haben diese Eigenschaften, andere nicht. Also umgekehrt: Nicht jeder Mensch ist ein Bürger. Bürger-Sein ist eine ausschließende Eigenschaft – sie schließt Gruppen aus, und zwar auf Basis einer Asymmetrie des Begriffspaars Mensch/Bürger. Dieselben Menschenrechte, die die Gleichheit der Menschen beteuern und schriftlich niederlegen, schließen Menschen aus. Es könnte im Übrigen nicht anders sein. Wenn jeder Mensch als solcher automatisch über die Eigenschaft des Bürger-Seins verfügen würde, wäre der Terminus »Bürger« überflüssig, so überflüssig, wie eine Eigenschaft, die von allen Gegenständen geteilt wird. Gegenstände unterscheiden sich nämlich anhand unterschiedlicher Eigenschaften, die ihnen zukommen: »Zwei Substanzen, die verschiedene Attribute haben, haben nichts miteinander gemein«. 53 Dieser Umstand findet auch im Rechtlichen Entsprechung: Ein Recht, das von sämtlichen Individuen geteilt wird, ist kein Recht. Gerade aus diesem Grund können »Mensch« und »Bürger« keine Tautologie bilden, weil diese Termini eher einen hendiadyonischen, asymmetrischen Begriff konstituieren. In der Annahme, dass Mensch/Bürger ein Hendiadyion sein könnte, ist es bemerkenswert, dass eine ähnliche Struktur auch eine weitere, tragende Pseudo-Tautologie des politischen Denkens durchdringt: Jede Interpretation der politischen Bedeutung des Begriffs Volk muss ihren Ausgang von der eigenartigen Tatsache nehmen, dass dieser in den modernen europäischen Sprachen immer auch die Armen, die Enterbten, die Ausgeschlossenen meint. Ein und derselbe Begriff bezeichnet also sowohl das konstitutive politische Subjekt als auch die Klasse, die von der Politik zwar nicht ›de jure‹, doch de ›facto‹ ausgeschlossen ist. Das italienische popolo, das französische peuple, das spanische pueblo Baruch Spinoza: Ethik in geometrischer Ordnung dargestellt, Hamburg: Meiner, 2010, 1. Teil (Von Gott), Lehrsatz 2, S. 9. Diesem Lehrsatz folgt dann ein Beweis, der sich auf eine hendiadyionische Struktur stützt: »Beweis: Auch dies ist evident aus Definition 3. Jene muss nämlich in sich selbst sein und durch sie selbst begriffen werden, anders formuliert, der Begriff der einen schließt den Begriff der anderen nicht ein« (ebenda).

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§ 33. ἓν διὰ δυοῖν

(wie die entsprechenden Adjektive popolare, populaire, pupular und spätlateinischen Termini populus und popularis, von denen alle abstammen) bezeichnen in der Umgangssprache wie im politischen Vokabular sowohl die Gesamtheit der Staatsbürger als einheitlichen politischen Körper (wie im popolo italiano oder giudice popolare, d. h. ›Volksrichter, Schöffe‹) als auch die Angehörigen der unteren Klassen (wie homme populaire, Mann aus dem Volk; rione popolare, Arbeiterviertel; front populaire, Volksfront). Und auch das englische, vom Sinn her eher undifferenzierte people bewahrt in sich die Bedeutung der ordinary people im Gegensatz zu den Reichen und dem Adel. So steht zwar in der amerikanischen Verfassung ohne jede Unterscheidung: ›We people of the United States …‹; wenn aber Lincoln in der Rede von Gettysburg ein ›Government oft the people by the people for the people‹ ausruft, setzt die Wiederholung dem einen Volk implizit ein anderes entgegen. […] Eine derart verbreitete und konstante semantische Zweideutigkeit kann nicht zufällig sein: Sie muss einen Doppelsinn widerspiegeln, der dem Wesen und der Funktion des Begriffs Volk in der abendländischen Politik grundsätzlich innewohnt. Alles nimmt sich also aus, als sei das, was wir Volk nennen, in Wirklichkeit nicht ein einheitliches Subjekt, sondern ein dialektisches Oszillieren zwischen zwei entgegengesetzten Polen: der Gesamtheit Volk [Popolo] als dem integralen politischen Körper auf der einen, der untergeordneten Gesamtheit Volk [popolo] als der fragmentarischen Vielheit bedürftiger und ausgeschlossener Körper auf den anderen Seite; hier eine Einschließung, von der man vorgibt, sie gehe ohne Rest auf, dort ein Ausschluss, von dem man weiß, dass er keine Hoffnung läßt; im einen Extrem der totale Staat der integrierten und souveränen Staatsbürger, im anderen das Revier der Elenden, der Unterdrückten, der Besiegten – Armenviertel [cour des miracles] oder Lager. Ein einziger und kompakter Referent des Terminus Volk existiert in diesem Sinne nirgends: Wie viele politische Grundbegriffe ist Volk (ähnlich den Urworten Abels und Freuds oder den hierarchischen Beziehungen Dumonts) ein polarer Begriff, der eine doppelte Bewegung und ein komplexes Verhältnis zwischen zwei Extremen anzeigt. Aber das bedeutet auch, dass die Konstitution der menschlichen Gattung in einem politischen Körper über eine fundamentale Spaltung verläuft, und wir können im Begriff Volk ohne Schwierigkeiten die Kategorienpaare wiedererkennen, wie wir gesehen haben, die ursprüngliche Struktur der Politischen definieren: bloßes Leben [popolo] und politische Existenz [Popolo], Ausschließung und Einschließung, zoé und bios. Das Volk trägt also den fundamentalen biopolitischen Bruch immer schon in sich. Es ist das, was nicht eingeschlossen werden kann in das Ganze, dessen Teil es ist, und was der Gesamtheit nicht angehören kann, in die es immer schon eingeschlossen ist. 54

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Giorgio Agamben: »Was ist ein Volk«, in Agamben 2001, S. 31–33.

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Zweiteilung und Dreiteilung

Diesseits des Politischen (im Verständnis des Fremden und seines Zusammenhangs mit der Gemeinschaft) und sogar innerhalb der Aufarbeitung einer zentralen Kategorie des Politischen, was das Volk ist, ist eine hediadyonische Schwelle vorzufinden. Die (Pseudo)Gegenüberstellungen von zoe/bios und logos/phone sind nämlich Hendiadyoin im Sinne der obigen Definition Agambens: der erste Begriff ist immer im zweiten enthalten. Jede vernünftige Sprache muss in der Tat gleichzeitig Verlautbarung sein, aus Lauten bestehen – es ist gleichsam eine immanente Notwendigkeit, genauso wie jedes politisch qualifizierte Leben auch ein bloßes Leben sein muss. 55 Solche Beziehungen sind allerdings nicht umkehrbar.

§ 34. Verschachtelung Die Figur des Fremden als xenos scheint im Vergleich zum Freudschen Unheimlichen und zum asymmetrischen Barbaren komplexer zu sein. Im Kapitel über Erdenteilung wurde bereits auf den xenos als Gast Bezug genommen. Eine weitere homerische Textpassage ist ebenso aufschlussreich zum Wesen des xenos, und diesmal bezüglich der Verschachtelungsstruktur, die einer bestimmten Aufarbeitung des Fremden innewohnt. Im 17. Gesang der Odyssee kommt der Fremde vor und wird als xenos benannt. Odysseus schleicht sich in ein Gastmahl unter Freier in Gestalt eines fremden Bettlers ein. Seine Anwesenheit wird jedoch irgendwann nicht mehr geduldet, sodass Antinoos ihn verspottet und dazu auffordert, die Feier zu verlassen: ›Sitze ruhig, Fremder, und iß, oder mach, daß du fortkommst, Daß sich die Junker nicht, für das, was du redest, durchs Haus hin Schleifen an Fuß oder Hand und am ganzen Leibe zerschinden.‹ Sprach es; die aber schalten ihn alle über die Maßen, Und da sagte gar mancher der übermütigen Junker: »Unrecht war’s, Antinoos, daß du den elenden Bettler Trafst, Unseliger; wenn es nun einer der Himmlischen wäre!

Es gibt natürlich auch Grenzfälle, die sich durch die Figur des »Auswuchses« (vgl. Kapitel über Einteilung) veranschaulichen lassen: Ein Beispiel dafür sind tote Menschen, die selbst nach dem Tod (Exitus aus der Ortung) noch eine politische oder gemeinschaftliche – teilweise auch rechtliche – Rolle spielen.

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§ 34. Verschachtelung

Denn oft gleichen die Götter von fernher kommenden Fremden Und durchstreifen die Städte in mannigfachen Gestalten, Um nach der Menschen Frevel zu sehen oder rechtem Verhalten.« 56

An dieser dichten Passage werden verschiedene Konzepte dargestellt. Unter diesen ist eine im griechischen Gedankengut gängige Idee, nämlich, dass hinter dem Fremden ein Gott stecken könnte, der »in mannigfachen Gestalten« (in unterschiedlichen menschlichen Formen und Figuren des Fremden) die Städte unter Sterblichen durchstreift. Dies ist der Grund, warum Antinoos in diesem Falle des Übermutes schuldig ist: Er hätte durch die Verachtung des xenos/Fremden einen »Himmlischen« misshandeln können. Anhand der Idee der Tarnung des Göttlichen im Fremden und auf umgekehrte Art und Weise ist die Begegnung mit dem Fremden nichts Unheimlich/Bedrohliches, sondern ein Glücksfall. In der Ilias trifft Priamos, Vater des Hektors, den menschenfreundlichen Gott Hermes unter sehr schwierigen Umständen: Er soll die Leiche des Sohnes Hektor wiedererlangen und dazu begibt er sich auf eine gefährliche und dubiose Expedition zu Achilles, in einen feindlichen Bereich, trotz der Warnung seiner Frau. Walter Otto nimmt auf diese Episode Bezug, um die Relevanz einer solchen Begegnung mit dem xenologischen Gott schlechthin – Hermes ist u. a. Gott der Wanderer – hervorzuheben: Am Flusse, wo der Wagen haltmacht, damit die Pferde trinken, kommt plötzlich ein junger Mann des Weges. Dem Priamos stehen die Haare zu Berge, und er glaubt sich schon verloren. Aber der Fremde reicht ihm freundlich die Hand und heißt ihn unbesorgt sein. Er stellt sich als Gefolgsmann des Achilleus vor und ist gerne bereit, ihn sicher bis zur Tür seines Herrn zu geleiten. Ja, er kann dem bekümmerten Vater die Nachricht geben, daß der Leichnam seines Sohnes, trotz aller Mißhandlungen, unzerstört geblieben sei. Welche Begegnung hätte glücklicher sein können! Freudig erkennt Priamos die schützende Hand der Gottheit (374). Daß aber Hermes selbst es war, der sich in der Gestalt eines Jünglings zu ihm gesellt hatte, das erfährt er erst am Ziel der Fahrt, vor der Tür des Achilleus, als der gütige Begleiter wieder verschwindet (460). 57

56 Homer: Odyssee, XVII. Gesang, vv. 478–487, übers. v. Roland Hampe, Stuttgart: Reclam, 2010, S. 549. 57 Walter F. Otto: Die Götter Griechenlands, Frankfurt a. M.: Klostermann, 201010, S. 148–149.

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Zweiteilung und Dreiteilung

Die homerische Idee, dass hinter dem Fremden ein Gott stecken könnte, ist auch in den philosophischen Anfängen relativ verbreitet: Ein aus vielerlei Gründen vornehmes Beispiel dafür ist in Platons Sophistes aufzufinden, wo ein Fremdling aus Elea vorgestellt wird, der Sokrates zu der Bemerkung veranlasst: SOKRATES: Solltest du etwa, Theodoros, dir unbewußt nicht einen Fremdling, sondern einen Gott mitbringen nach der Rede des Homeros, welcher ja sagt, daß sowohl andere Götter solche Menschen, die an Recht und Scham festhalten, als auch besonders der gastliche Gott, zu geleiten pflegen, um den Übermut und die Frömmigkeit der Menschen zu beschauen: Vielleicht also begleitet auch dich auf dieselbe Art dieser, einer der höheren, um uns, die wir noch so gering sind im Reden, heimzusuchen und zu überführen, ein überführender Gott? 58

Der Fremdling wird sich dann bekanntlich »in einer anderer Weise« bewähren, die jedoch »in gewisser Beziehung« göttlich ist: THEODOROS: Nicht ist dieses die Weise des Fremdlings, o Sokrates; sondern bescheidener ist er als die, welche sich auf das Streiten gelegt haben. Und es dünkt mich der Mann ein Gott zwar keineswegs zu sein, göttlich aber gewiß; denn alle Philosophen möchte ich so benennen. 59

Die kulturätiologische Valenz des Grundgedankens eines Gottes im Gewande des xenos/Fremden ist auch in anderen späteren Traditionen vorfindlich, wie z. B. in der christlichen Erzählung, die diese Idee direkt reflektiert und an der hostia weiter überarbeitet. Außerdem – und noch einmal kurz zurück zur Odyssee-Erzählung – erweckt die homerische littera den Anschein, dass es sich hierbei nicht so sehr nur um eine moralische, sondern eher erkenntnistheoretische Einstellung handelt. Sicherlich verkleiden sich die Götter als Fremde, um »nach der Menschen Frevel zu sehn oder rechtem Verhalten«, dieser »Frevel« ist hier allerdings die Übersetzung von »hybris«, was nicht unbedingt oder primär als ein Verstoß gegen moralische Regeln zu interpretieren ist, sondern einen im weitesten Sinn »kosmischen Aspekt« aufweisen kann. Die unvernünftige Überwindung von Naturgrenzen – Antinoos ist der Anti-Nous, der Unvernünftig-Irrationale – steht nicht umsonst paradigmatisch dafür. 60 Platon: Sophistes, 216a, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2007, S. 15. Ebenda. 60 Vgl. Giovanni Tidona: »Einleitung«, in: Fremdheit. Xenologische Ansätze und ihre Relevanz für die Bildungsfrage, Heidelberg: Mattes, 2018. 58 59

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§ 34. Verschachtelung

Erkannt werden soll in erster Linie die Struktur der Fremdheit als Verschachtelung. Hermes ist verschachtelt in einem jungen Wanderer. Theodoros bringt einen Gast mit, in dem ein Gott verschachtelt sein könnte und der sich dann als Philosoph herausstellt. Odysseus ist als Bettler verkleidet, als ein Fremder, der wiederum ein Gott sein könnte. In diesem Fall ist Odysseus nicht allzu abwegig mit einer Matroschkapuppe vergleichbar – ein Gott in einem xenos in einem Hellenen, oder ein Gott in einem xenos, der doch Hellene ist. Man hat es hier mit einem Grundaspekt der Matroschka zu tun, eine mehrteilige Schachtelpuppe, 61 bei der das jeweilige Beinhaltete nicht gleich sichtbar ist. Das Beinhaltete ist jedoch da, denn dieses schimmert bei genauerem Hinsehen durch die Oberfläche der Schachtel hindurch. Der Bürger beinhaltet derart den Menschen, dass zahlreiche Eigenschaften des einen sich mit vielen Eigenschaften des anderen vollkommen decken: Ein Bürger, wie ein Mensch, soll essen, ein Obdach haben usw. Auch die Gottheit im Fremden könnte möglicherweise im Sinne eines schillernden Aufblitzens begriffen werden, oder auf der anderen Seite als ein Matroschka-Geheimfach oder Doppelboden. Am äußerlichen Erscheinen einer Matroschka kann man nicht ablesen, wie viele andere Puppen in dieser enthalten sind. Hierbei ist offenbar weder von einem asymmetrischen »Barbaren« noch von einem bloßen »ambiguen« die Rede. Dieser xenos ist vielmehr eine verschachtelte Puppe, ein Konzept, das über die Zweiteilung hinausgeht und ein Überdenken der Kategorie der Person als Maske/Puppe erfordert: Die fremde Person wäre in dieser Hinsicht ein Verhältnis von »Schichten« und legt in der Dimension der (Ehr)-Furcht die Notwendigkeit des dritten Elements nahe: Im homerischen Mythos wird eine Definition des Fremden angeboten, die als Anleitung zur adäquaten Symbolisierung dienen kann. Was den Griechen als wild und frevelhaft gilt, wird in der Begegnung des Odysseus mit dem Kyklopen von der Einstellung zum Fremden abhängig gemacht. Glück und Unglück der Begegnung mit dem Fremden wird nicht in Abhängigkeit der Beziehung der Begegnenden, sondern in Abhängigkeit der Beziehung der Begegnenden zu einem Dritten, hier Zeus/Xenios, dem Beschützer der

Interessant ist der Umstand, dass je hochwertiger ein Satz von Matrjoschkas ist, desto weniger sich die großen Puppen von den kleinen unterscheiden. In diesem Sinne könnte man die Matrjoschka-Puppen als Metapher der Nivellierung der Eigenschaften interpretieren.

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Zweiteilung und Dreiteilung

Fremden, definiert. Dieser Bezug auf ein Drittes, dem beide angehören oder nicht, lässt die Fremdheit als Phänomen unangetastet. 62

Die gemeinschaftliche Problematik des Fremden orientiert sich somit an der Dreiteilung bzw. an einer Trias: »Der Bezug zu einem Dritten, dem Göttlichen, definiert, wie der Fremde gesehen wird – und: wie er gefürchtet wird. Das Modell der Kommunikation, das hier aufscheint, umfasst die Trias Eigenes – Fremdes – Göttliches«. 63 Der Sinn dieser Triade in ihrer hendiadyonischen Verschachtelungsstruktur ist auch im Rahmen einer Philosophie der Xenophobie noch fruchtbar zu machen.

Kaiserswerther Institut für Xenologie 1998, zit. in. Wolfgang Bödeker: »Das Fürchten lernen. Anmerkungen zur kathartischen Dimension der Xenologie«, in: C. Bremshey, H. Hoffmann, Y. May, M. Ortu (Hrsg.): Den Fremden gibt es nicht. Xenologie und Erkenntnis, Münster: LIT-Verlag, 2004, S. 171. 63 Bödeker 2014, ebenda. 62

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Achtes Kapitel: Abteilung. Vom Limes zum Limen

§ 35. Das Leben ist eine Zugfahrt Kernfigur dieses Kapitels ist diejenige Deklination des Teils, die sich als Abteilung herauskonfiguriert. Semantisch betrachtet, betrifft das Wort »Abteilung« auf den ersten Blick Räume. In diesem Fall spricht man von abgeteilten, geschlossenen Räumen, wie bspw. einer Literaturabteilung, die in einer Buchhandlung von der Fremdsprachenabteilung getrennt ist. Das Wort Abteilung bezeichnet jedoch in Wahrheit zunächst einmal Menschengruppen, die von anderen Menschen getrennt – abgeteilt – sind. Ein Blick auf die DUDEN-Definition 1 bestätigt nämlich den primären Bezug des Terminus auf »abgeteilte Menschengruppen« in der Eigenschaft der Soldaten, Unternehmer, Ärzte usw.: »Abteilung« ist in dieser Hinsicht eine »geschlossene Gruppe von Soldaten u. Ä.«. Erst in zweiter Instanz bezeichnet das Wort dann Gliederungen eines Reviers und ähnlicher abgegrenzter Räume. Menschen in einer bestimmten Eigenschaft und Räume im Sinn von abgetrennten Gebieten werden durch den Begriff der Abteilung in einen semantischen Zusammenhang gebracht. Unter den Figuren der Abteilung ist das Bild des Zugabteils in diesem Sinn besonders aufschlussreich und metaphorisiert ein ziemlich eindeutiges Gemeinschaftskonzept. Es verhält sich nämlich so, dass Menschen mit der Eigenschaft »1. Klasse-Passagier« von 2. Klasse-Passagieren durch räumliche Eingrenzungen (Türen, Wände) getrennt und unterschieDUDEN, Stichwort »Abteilung«: »1.a. das Abteilen; 1.b. abgeteilte Stelle, abgeteilter Raum; 2.a. (Militär) geschlossene Gruppe von Soldaten u. Ä.; 2.b.(Militär) dem Bataillon entsprechender Verband bei bestimmten Einheiten (bis 1945); 2.c. relativ selbstständiger Teil einer größeren Organisationseinheit (Unternehmen, Warenhaus, Krankenhaus u. a.); Abkürzung: Abt.; 2.d. (Geologie) nächstfolgende Untergliederung einer Formation; 2.e. (Forstwirtschaft) Gliederung eines Reviers«, https://www. duden.de/rechtschreibung/Abteilung (zuletzt abgerufen am 2. November 2018).

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Abteilung

den werden. Darüber hinaus sind diese beiden Menschengruppen, die jeweils mit zwei unterschiedlichen Eigenschaften ausgestattet sind, 2 auch von allen restlichen Menschengruppen außerhalb der Zuges abgeteilt, und zwar durch diejenige weitere Grenze, die den Zug und seinen Rumpf physisch überhaupt ausmachen. Ein Passagiere der 1. Klasse ist von einem Passagieren der 2. Klasse gleichsam »zugintern« abgeteilt (durch die Zugabteile werden alle »Passagieren« untereinander differenziert), während sämtliche Passagiere sozusagen von der Menge der »zugexternen« Nicht-Passagiere abgeschlossen sind. Ein derart trivial geschildertes Zugabteilungsprinzip suggeriert die Metapher einer Gemeinschaftsenklave, innerhalb derer Eigenschafteinteilungen durch räumliche Abteilungen gültig und sichtbar gemacht werden. Ergänzend könnten übrigens weitere ähnlich geltende Untergliederungen thematisiert werden, wie bspw. diejenige der Lokführer- und Kontrolleurabteile, genauso wie die Speisewagen oder die Bedienstetenabteile und Ähnliches. Auch diese weiteren Abteilungsformen würden sich am obigen geschilderten Prinzip ausrichten. Schließlich bleiben außerhalb des Zuges und der dementsprechenden Eigenschafts-Abteilungen die restlichen, nicht genau spezifizierten und als opake Menge athematisch darüberstehenden Menschen. Einer derartigen, durch die Figur des Abteils geschilderten Einschluss/Ausschluss-Dynamik liegt offensichtlich ein bestimmter Raumbegriff zugrunde, nämlich der Raum als Behälter – ein Zugabteil ist auch ein umgrenzter, geschlossener Raum, der Menschen beinhaltet und beherbergt – es handelt sich um eine Raumauffassung, die in vielerlei Hinsicht einer Kritik unterzogen werden kann. 3 Die Diese Eigenschaften scheinen in ihrem Verhältnis übrigens hendiadyonisch zu sein (vgl. Kapitel über Zweiteilung): Unter der Gesamtheit der Menschen sind Passagiermenschen, diese letzteren sind aber zugleich auch Menschen; unter den Passagieren kommen 1.- und 2.-Klasse Passagiermenschen vor. Auf ähnliche Art und Weise ist ein Buch aus der Philosophie-Abteilung, genauso wie ein lonely-planet-Reiseführer oder der letzte Roman von John Grisham, ein in dieser Buchhandlung zu Verkauf stehendes Buch, wie die letzteren und jedoch von den letzteren abgegrenzt, und zwar durch Hinzukommen weiterer Eigenschaften. Und am Anfang dieser Kette: Ein Philosophiebuch ist genauso wie eine Wurst ein im Geschäft erhältliches Produkt, das sich von anderen Produkten durch ein Produktabteilungsprinzip unterscheidet. Abteilung ist in dieser Hinsicht eine hendiadyonische Aus- und Einglierungsform. 3 Zu einer kritischen Analyse des Raums als Behälters in der gegenwärtigen Raumtheorie vgl. Jörg Dünne, Stephan Günzel (Hrsg.): Raumtheorie. Grundlagen aus Philosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2006. 2

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§ 35. Das Leben ist eine Zugfahrt

vermeintliche Unangemessenheit und Überholtheit, im raumtheoretischen Kontext, des Raums als Behälter, liefert möglicherweise ein weiteres Indiz zu einer kritischen Sichtweise auf den damit zusammenhängenden Gemeinschaftsbegriff. Dieser letztere kann nun konziser formuliert werden: Bei Abteilungen geht es um Gemeinschaften als Menschengruppen, die mit unterschiedlichen Eigenschaften ausgestattet sind und innerhalb von räumlichen Behältern vorkommen. Ein solches Gemeinschaftskonzept und -bild könnte anhand dieser vorläufigen Formulierung unter zahlreichen Perspektiven kritisch befragt werden. Einen ersten Aspekt seiner gemeinschaftlichen Unangemessenheit schildert Jean-Luc Nancy: Die Logik des Mit-Sein entspricht in erster Linie dem, was man als banale Phänomenologie organisierter Menschengruppen bezeichnen könnte. Die Reisenden in demselben Zugabteil sitzen einfach nebeneinander, auf zufällige, willkürliche und völlig extrinsische Art und Weise. Sie haben keine Beziehung, aber andererseits sind sie zusammen als Reisende in diesem Zug, im gleichen Raum und für die gleiche Zeit. Sie liegen zwischen der Auflösung in der ›Menge‹ und der Aggregation in der ›Gruppe‹, und beide Formen sind jederzeit möglich, virtuell, nah. Diese Schwingung charakterisiert das Mit-Sein; eine Beziehung ohne Beziehung, eine gleichzeitige Aussetzung gegenüber der Beziehung und zugleich das Fehlen der Beziehung. 4

Gemeinschaften, die durch Zugabteilungen und die jeweilige räumliche Logik konstituiert werden, wären in dieser Hinsicht ein bloßes Nebeneinandersein von Menschen, die nur »akzidentell« in der Möglichkeit eines Verhältnisses situiert sind, wobei diese Möglichkeit jedoch gleichzeitig negiert wird, denn das potentielle Verhältnis wird von Vornherein dadurch ausgelöst, was bereits von Karl Löwith durch den Ausdruck »werkhaft ausgeprägtes Miteinandersein« 5 bzw. zweckbezogenes (im vorliegenden Beispiel, zum Zweck des Reisens) Mit»La logica dell’essere-con corrisponde innanzitutto a ciò che si potrebbe chiamare la fenomenologia banale degli insiemi organizzati di persone. I viaggiatori di uno stesso scompartimento sono semplicemente gli uni accanto agli altri, in maniera accidentale, arbitraria e del tutto esterna. Non hanno rapporti, ma d’altronde sono insieme in quanto viaggiatori di quel treno, in quello stesso spazio e per quello stesso tempo. Stanno fra la disgregazione della ›folla‹ e l’aggregazione del ›gruppo‹, e l’una e l’altro sono in ogni momento possibili, virtuali, prossimi. Questa sospensione caratterizza l’essere-con; un rapporto senza rapporto, un’esposizione simultanea al rapporto e all’assenza di rapporto« (Jean-Luc Nancy: La comunità inoperosa, Neapel: Cronopio, 2002, S. 183, übers. v. G. T.). 5 Vgl. Karl Löwith: Das Individuum in der Rolle des Mitmenschen. Ein Beitrag zur Grundlegung der ethischen Probleme, Freiburg: Alber, 2013, 20162. 4

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sein aufgefasst worden ist. Zugabteilpassagieren könnten also in dieser Hinsicht als am selben abgeschlossenen Ort situierte und jedoch isolierte Fremde (und nicht Gemeinschaftsakteure) thematisiert werden. Obwohl Nancy die Metapher des Zugabteils als Beispiel eines solchen uneigentlichen Mitseins (Nebeneinandersein am selben abgeschlossenen Ort) verwendet, geht er doch nicht auf eine genauere phänomenologische Analyse dieser Figur ein. Aus diesem Grund soll hier diese Figur noch eingehender geklärt werden.

§ 36. Wände und Grenzen Eine Explikation der Abteilungsfigur kann sehr konkret von der Thematisierung der Wände eines Zugabteils ausgehen. Eine Wand, und dies gilt auch im Fall der Abteiltrennwand, wird i. d. R. – und auf sehr privative und teilweise missverständliche Art und Weise – als Grenze (zwischen zwei Abteilen) gedacht. Interessanterweise wurde der Terminus »Grenze« auch im Rahmen derjenigen militärischen Eingruppierungen verwendet, die eben als »Grenzabteilungen« benannt werden. Zu den wichtigsten historischen Prototypen der Grenzen, die auch eine militärische Funktion erfüllten, zählte der römische Limes. Ein oberflächlicher Blick auf Limes-Darstellungen wie bspw. diejenige zu den Zeiten des Kaisers Adrian zeigt – außer der grandiosen Macht eines Reiches, das Kraft seines Expansionsstrebens ein mit dem heutigen Europa, Nordafrika und dem Nahen Osten vergleichbares Territorium erobern konnte – eine Grenze, die als relativ deutliche Unterscheidungslinie fungiert. Diesseits der Grenze ist das rot markierte, heterogene »Römertum«, welches aus Rom, dem Reich, den Provinzen und Militärgebieten besteht, während das grau Markierte ein undifferenziertes »NichtRömertum« abbildet (s. Abb. 18). Es handelt sich bei dem Bild um eine Momentaufnahme des römischen Reichs. An diesem historischen Höhepunkt stand dem römischen Reich aber de facto eine Vielfalt von Völkern gegenüber, die durch den Limes als nicht-römisch kategorisiert wurden. Man hatte es offensichtlich mit einer Subsumption zu tun, die die Unterschiede innerhalb des Nicht-Römertums unterschlug, denn die vielfältigen nicht-römischen Bevölkerungen werden durch die Grenze doch nicht in den jeweiligen, differenzierten Eigenschaftsspezifika wahrgenom192 https://doi.org/10.5771/9783495820704 .

§ 36. Wände und Grenzen

Abbildung 18

men, sondern es kommt dadurch die einheitliche und nivellierende Eigenschaft des zu erobernden Feindes zum Vorschein. Erst nach Eroberung eines bestimmten Volkes aktivierte nämlich römische Politik den Prozess eines Einschlusses der Fremden, der u. a. auch die Anerkennung, sowie in einzelnen Fällen die Aufrechterhaltung bestimmter Spezifika der eroberten Bevölkerung, mit sich brachte. 6 Aber bevor nicht-römische Gebiete vom römischen Reich annektiert worden sind, war der Limes insofern eine frontier, eine Demarkationslinie, an der sich Römer und Nicht-Römer asymmetrisch gegenübergestanden. In dieser Hinsicht hatte der römische Limes das Entgegenstehende (frons) durch ein ungleichgewichtiges Binäres und Asymmetrisches bezeichnet, und zwar auf ähnliche Art und Weise, wie die untereinander differenzierten Passagieren eines Zuges von einer unbestimmten Gesamtheit der nicht-zugfahrenden Menschen abgetrennt sind. Der Limes in dieser Hinsicht war somit von einer asymmetrischen, binären Oppositionslogik durchdrungen. Nun zeigt sich aber am Limes interessanterweise eine weitere Dynamik, die den wesentlichen Unterschied der Grenze gegenüber 6 Anschluss (oder auch, wie im Kapitel über die Einteilung, Einschluss) als Inklusion wird hierbei als Dynamik der Aufrechterhaltung kompatibler Eigenschaften – z. B. bestimmter religiöser Kulte, die mit der Reichsreligion vereinbar sind – oder gar als Heranziehung von neuen Eigenschaften – verstanden. Insofern erweist sich Inklusion als ein Kreativitätsprozess.

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einer bloßen Abteilwand ausmacht. Der Limes ist selbstverständlich ein cum-finis, (it. confine: Grenze), d. h. ein geteiltes Ende. Darüber hinaus, und was an der Limes-Abbildung nicht gleich ersichtlich ist, ist die Mobilität des Limes selbst, bzw. das, was als Ausdehnungspotential einer Grenze definiert worden ist: Der Limes ist eine erweiterbare Grenze gewesen, denn es hat zu seinem Wesen gehört, dass er stetig nach vorne geschoben worden ist. Grenze und Grenzüberschreitung stehen im engen Zusammenhang: »Die latente Versuchung zur Grenzüberschreitung wird damit zur ständigen Begleiterin der Grenze. […] Immer wieder an die Grenzen des eigenen Dehnungspotentials zu stoßen,gehört zum Schicksal des Menschen«. 7 Peter Cornelius Mayer-Tasch: Raum und Grenze, Wiesbaden: Springer, 2013, S. 44. Das Ausdehnungspotential der Grenze könnte auch in Grenzlosigkeit zugespitzt werden. Die Erzählung »Die Sieben Boten« von Dino Buzzati inszeniert dieses Paradoxon. In monologisierender Form wird über die Expedition eines Prinzen erzählt, der sich zur Erkundung der Reichsgrenzen mit Hilfe von sieben Boten auf Reise begibt, solche Grenzen jedoch nie erreicht: »Ausgezogen, das Reich meines Vaters zu durchforschen, wandere ich Tag für Tag von der Hauptstadt mich ständig entfernend weiter. […] Ich wähnte beim Aufbruch, in wenigen Wochen könnte ich mit Leichtigkeit die Grenzen des Landes erreicht haben; stattdessen bin ich nur immer neuen Völkern und Landschaften begegnet und Menschen – wohin ich auch kam – die meine eigene Sprache redeten und sagten, sie seien meine Untertanen« (Dino Buzzati: Die Sieben Boten. 11 Stories, Nymphenburger Verlagshandlung, 1957, S. 147); Der Prinz vermutet, »die Kompaßnadel meines Geographen sei verrückt geworden« […] »Aber noch öfter quält mich der Zweifel, ob es diese Grenze überhaupt gibt, ob unser Reich sich nicht grenzenlos erstreckt und ich selbst, so weit vorwärts ich immer treiben mag, niemals das Ende gewinne« (ebenda, S. 147). Nachdem er sich vom letzten Boten Domenico zum letzten Mal verabschiedet – denn der Tod könnte den Prinzen einholen, bevor Domenico die Strecke bis an das Reich und zurück zur Expedition zurücklegen kann – kommt er zur tragischen Schlussfolgerung: »Nach dir das Schweigen, Domenico, es sei denn, ich fände endlich die ersehnte Grenze. Aber je weiter ich vorrücke, desto größer wird meine Überzeugung, daß keine Grenze da ist. Es gibt keine Grenze, will mir scheinen, zumindest nicht in dem Sinn, in dem wir gewohnt sind, daran zu denken. Es gibt keine Trennungsmauern, keine entscheidenden Täler, keine Berge, die den Durchgang versperren. Wahrscheinlich werde ich die letzte Linie überschreiten, ohne mir dessen auch nur bewußt zu sein, und ich werde nicht aufhören weiterzugehen, unwissend« (ebenda, S. 153). Zum Schluss gibt die Erzählung über die »zweifelhafte Schranke« Aufschluss: »Ich gehe und werde gewahr – bisher habe ich es niemanden anvertraut – ich gehe und werde gewahr, wie von Tag zu Tag und mit jedem Schritt, den ich vor den anderen setze, der zweifelhaften Schranke entgegen, ein ungewöhnliches Licht am Himmel aufleuchtet, das mir niemals erschienen ist, nicht einmal im Traum; und wie die Pflanzen, die Berge, die Flüße, die wir durchqueren, aus anderem Stoff gebildet sind als bei uns daheim; und wie die Luft Vorahnungen mit sich trägt, die ich nicht zu beschreiben vermag« (ebenda, S. 153– 154).

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§ 36. Wände und Grenzen

Ein solches Ausdehnungspotential der Grenze geht immer mit ihrer Anschlussfunktion einher. Indem die Grenze verrückt wird, macht sie das bisher Jenseits-der-Grenze zum Diesseits-der-Grenze. Dies erscheint deutlicher, wenn man auf ein Segment des Limes, den Obergermanisch-Rätischen Limes, das Auge richtet:

Abbildung 19

Die Legende illustriert unterschiedliche Grade und Stufen der Annektierung: Etliche Gebiete, die zuvor nicht römisch besetzt waren, werden durch eine bewegliche, sich nach vorn schiebende Grenzlinie zu römischem Gebiet, u. a. auch durch reguläre, römische Stadtgründungen. Eine derartige frontier beschränkt sich also nicht nur darauf, als Demarkationslinie zwischendem Heterogenen und dem Homogenen (wohlgemerkt, von der römischen, einseitigen Perspektive aus 195 https://doi.org/10.5771/9783495820704 .

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betrachtet) zu gelten, denn zum Begriff der Grenze als frontier gehört auch ein Vektorielles in der Form der mobilen Ausdehnung. 8 Eine solche Asymmetrie ist außerdem sowohl räumlich als auch begrifflich. Bernhard Waldenfels spricht von der »Asymmetrie von Drinnen und Draußen«: Die Relation von Drinnen und Draußen, die aus den Prozessen der Ein- und Ausgrenzung hervorgeht, ist in ihrer konkreten Ausgangsform asymmetrisch und irreversibel. […] Wachen und Träumen, Gesundheit und Krankheit, Jugend und Alter, Leben und Tod, feudale und bürgerliche Gesellschaft, Vertreibender und Vertriebener sind nicht einfach voneinander ausgeschlossen wie zwei Zimmer, die durch eine Wand, oder zwei Felder, die durch einen Graben getrennt sind, und zwar deshalb nicht, weil für jemanden, der auf beiden Seiten stünde, die Schwelle hinfällig würde. Besagte Asymmetrie bringt es mit sich, dass eine Instanz, die Fremdes ausschließt, alles mitausschließt, was sie selbst für fremde Instanzen bedeutet. 9

Auf ähnliche Art und Weise verhalten sich Kosellecks »Asymmetrische Begriffe« (vgl. Kapitel über Zweiteilung). Auch in diesem Fall der Ein- und Ausgrenzung decken sich das Räumliche und das Kulturelle miteinander. Am Vergleich der Zugabteilwand mit dem Limes kristallisiert sich der deutliche Unterschied zwischen einer beweglichen Grenze und einer starren Schranke heraus. Sowohl Grenzen als auch Schranken trennen erstens Menschengruppen mit unterschiedlichen Eigenschaften voneinander (1. Klasse-Passagiere werden von 2. KlassePassagieren unterschieden, genauso wie Reichsrömer von Spaniern innerhalb des Reiches); und zweitens werden die mit unterschiedlichen Eigenschaften ausgestatteten Menschen von den unbestimmten, mit keiner Eigenschaft ausgestatteten Menschen (nach Tarif ausdifferenzierte Passagiere vs. Rest der nicht-fahrenden Menschheit, heterogene Römer vs. bloße Nicht-Römer) ausdifferenziert. Das Wesen der Grenze geht aber insofern weiter über das Wesen der Schranke hinaus, als die Grenze bei ihrer Ausdehnung neue Gebiete und somit neue Eigenschaftsgruppen stiftet. Um auf ein etabliertes poli-

Dieses Vektorielle ist zwar nicht unwiderruflich, denn die Grenze kann auch zurücktreten. Eine Grenze, die nach hinten geschoben wird, wäre nämlich eine zurücktretende Grenze. 9 Bernhard Waldenfels: Der Stachel des Fremden, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1990, S. 33. 8

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§ 37. Abgrenzung, Ein- und Ausgrenzung

tisch-philosophisches Begriffspaar zu rekurrieren, ist die Grenze eine verrückende Struktur der Ortung/Ordnung: Sie annektiert neue räumliche Gebiete, in denen Menschengruppen mit neuen Einschlusseigenschaften ausgestattet werden (vgl. Kapitel über Einteilung). Der Limes bleibt jedoch noch ein unzulängliches Beispiel für eine kommunitär verstandene Grenze, und zwar aus dem Grund, dass es sich hier um eine einseitige politisch-militäre Grenze handelt, bei der das Herbeiführen der neuen Eigenschaften durch einseitiges Fremdimponieren erfolgt und oft die Vernichtung zahlreicher Identitätseigenschaften der besetzten Bevölkerungen (in erster Linie Freiheitseigenschaften) verursacht. Das Beispiel des Limes dient zunächst jedoch dazu, ein erstes tragendes Unterschiedsmerkmal zwischen Grenze und Schranke zu verdeutlichen, die in der Veränderbarkeit und Einschlussfähigkeit der ersten besteht. Bei der Bestimmung des Phänomens der Grenze und zwecks einer semantischen Präzisierung ihres authentisch kommunitären Wesens soll noch kurz bei dem Thema verweilt werden.

§ 37. Abgrenzung, Ein- und Ausgrenzung Ein erstes, grundlegendes Missverständnis bezüglich des Grenzbegriffs ist auf die grobe semantische Reduzierung dieses Wortes auf die Idee der Schranke und der damit einhergehenden Abgrenzung zurückzuführen. Grenze wird in dieser privativen Auffassung als unüberwindbares Limit verstanden, als etwas, das einen Zugang versperrt. Auch wortgewandte Intellektuelle vom Schlage eines Sloterdijk und Rüdiger Safranski verwandten neuerdings im journalistischen Kontext und hinsichtlich der Flüchtlingsproblematik den Terminus »Grenze« und erstatteten sogar ein »Lob der Grenze« auf diese privativ-falsche Art und Weise. 10 Im allgemeinen Sprachgebrauch tendiert man nämlich dazu, »Grenze« im Sinne einer Schranke, Sperre oder unüberwindbaren Mauer zu verstehen und damit die Grenze auf die Idee einer Abgrenzung grundfalsch zu reduzieren. Die Idee der Abgrenzung beim Begriff der Grenze ist zwar auch

Vgl. bspw. Peter Sloterdijk: »Das kann nicht gut gehen. Peter Sloterdijk über Angela Merkel, die Flüchtlinge und das Regiment der Furcht«, in Cicero 28. 01. 2016.

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in bestimmten etymologischen und räumlich-bezogenen Facetten enthalten: Das deutsche Wort ›Grenze‹ ist dem polnischen granica entlehnt und ersetzte im Laufe der frühen Neuzeit das ältere ›Mark‹. Aber schon für ›Mark‹ galt, was auch für ›Grenze‹ zunächst bezeichnend blieb: daß es sowohl eine Abgrenzung meint als auch das umfassendere Gebiet, in dem man sich voneinander abgrenzt. […] Die frontières eines Staates sind die Grenzen, die es zu verteidigen gilt. Im 17. Jahrhundert hat der neue Begriff die alten (fin, confin) verdrängt, erhalten hat sich aber das ebenfalls nach dem Lateinischen gebildete limites, das seinerseits limitaciones verdrängt. […] Entsprechend kennt das Italienische frontiera, früher auch confini, für das Grenzterritorium und confine, früher auch fine, für die Demarkationslinie, ebenso termini; das Spanische: limite und confin. 11

Dieser Aspekt erschöpft jedoch keineswegs das komplexe, mediale Wesen des Grenzbegriffs. Immanuel Kant skizziert bspw. eine Unterscheidung zwischen Schranke und Grenze, in der er die Schranke als etwas Negatives umreißt: Schranke ist etwas, das lediglich negiert, eine bloße Limitation, während Grenze als Positives verstanden wird, da die Grenze eine »Verknüpfungsfunktion« und somit eine Vermittlungsfunktion habe. 12 An der Vermittlungsfunktion der Grenze konstituieren sich die tragenden kommunitarischen Merkmale dieses räumlich-begrifflichen Dispositivs. Wie im Folgenden gezeigt wird, kann dieser Aspekt genauer präzisiert werden durch die Erörterung der medialen Verbindungs- und Trennungsfunktion der Grenze. Die Grenze ist außerdem identitätsstiftend, weil eine Grenze zunächst eine Qualität bestimmt. Hegel hebt diesen Aspekt im Rahmen der Problematik der Veränderung (welche an dieser Stelle nicht behandelt werden kann) durch ein Unterscheidungsbeispiel von qualitativen und quantitativen Grenzen hervor: Die Negation ist im Dasein mit dem Sein noch unmittelbar identisch, und diese Negation ist das, was wir Grenze heißen. Etwas ist nur in seiner Grenze und durch seine Grenze das, was es ist. Man darf somit die Grenze nicht als dem Dasein bloß äußerlich betrachten, sondern dieselbe geht vielmehr Rüdiger Zill: »Grenze«, in: Wörterbuch der philosophischen Metaphern,Darmstadt: WGB, 2014, S. 138–139. 12 Bei jeder Grenze ist somit »auch etwas Positives (z. B. Fläche ist die Grenze des körperlichen Raumes, indessen doch selbst ein Raum, Linie ein Raum, der die Grenze der Fläche ist, Punkt die Grenze der Linie, aber doch noch immer ein Ort im Raume), dahingegen Schranken bloße Negationen enthalten« (Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft, B 310). 11

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§ 38. Grenze als Schwelle

durch das ganze Dasein hindurch. Die Auffassung der Grenze als einer bloß äußerlichen Bestimmung des Daseins hat ihren Grund in der Verwechslung der quantitativen mit der qualitativen Grenze. Hier ist zunächst von der qualitativen Grenze die Rede. Betrachten wir z. B. ein Grundstück, welches drei Morgen groß ist, so ist dies seine quantitative Grenze. Weiter ist nun aber auch dieses Grundstück eine Wiese und nicht Wald oder Teich, und dies ist seine qualitative Grenze. 13

Es schwingen in dieser Auffassung der Grenze zahlreiche Motive mit, u. a. der ὁρισμός: »Die Grenze ist nicht das, wobei etwas aufhört, sondern, wie die Griechen es erkannten, die Grenze ist jenes, von woher etwas sein Wesen beginnt. Darum ist der Begriff: ὁρισμός, d. h. Grenze. Raum ist wesenhaft das Eingeräumte, in seine Grenze Eingelassene«. 14 Die Grenze, die das Wesen (das »Dasein«) des Grundstücks durch qualitative Negation bestimmt, ist somit nicht ein Attribut des Daseins, sondern die Begrenzung durch die Grenze ist Determinierung des Wesens selbst, wo der Terminus nicht nur das äußerliche Ende des Daseins, sondern das Grundstück selbst bezeichnet. Dies bedeutet mit anderen Worten, dass ein Gegenstand – wie auch immer dieses Wort verstanden werden kann – sich erst durch Grenzen konstituiert. Das Wesen eines Gegenstands wird durch seine Grenze ausgemacht.

§ 38. Grenze als Schwelle Ein weiterer Beweis für das identitätsstiftende Wesen der Grenze ist der Umstand, dass an dieser sich auch Identitätsschattierungen der Gegenstandsbereiche zeigen, falls die entsprechenden Grenzen labil sind: In diesem Sinn erfährt das Wort »Grenze« eine semantische Präzisierung als Schwelle: Grenz- bzw. Schwellenerfahrungen lassen sich nicht eindeutig begreifen und kategorisieren, weil ihre Grenzen nicht deutlich festzulegen sind: Doch darüber hinaus gibt es Grenzen, die man überschreitet, indem man sich durch den Eintritt in eine andere Ordnung selbst ändert und gleichsam 13 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1830), Erster Teil: Die Wissenschaft der Logik. Mit den mündlichen Zusätzen, Werke, Bd. VIII Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1970, S. 197. 14 Martin Heidegger: »Bauen Wohnen Denken«, in: Vorträge und Aufsätze, Stuttgart: Klett-Cotta, 2009, S. 149.

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über seinen eigenen Schatten springt. Hierbei handelt es sich um Schwellen, die nicht mitwandern wie die Grenzlinien unserer Horizonte. Es sind Grenzzonen, in denen wir uns aufhalten, an denen wir zögern, vor denen wir zurückschrecken oder die wir überschreiten. Die Ausgrenzung führt zu einer Differenz von Diesseits und Jenseits. Was jenseits der Schwelle lockt und erschreckt, gehört nicht mehr zum Spiel mit eigenen Möglichkeiten, sondern bedeutet eine Herausforderung der eigenen Freiheit durch Fremdartiges, das in der jeweils bestehenden Ordnung keinen Platz findet. Wir haben es mit Heterotopien und Atopien zu tun, deren Anderswo als Außer-ordentliches unserer jeweiligen Ordnung entgleitet. Dazu gehören bereits solche wiederkehrenden Übergangserlebnisse wie Abschied und Wiedersehen, Einschlafen und Erwachen, Erkranken und Gesunden, die unseren gewohnten Alltag durchlöchern. Man geht nicht in den Schlaf, sondern man fällt in Schlaf, wie beim ›to fall in love‹ oder beim ›tomber malade‹. Der Einbruch des Fremdartigen und Außerordentlichen ereignet sich erst recht in unwiderruflichen Lebenszäsuren wie Geschlechtsreife, Berufseintritt oder Altersversagen, bei einschneidenden persönlichen Erfahrungen wie den Metamorphosen der Liebe oder den Kehrtwendungen religiöser und politischer Konversionen, bei umstürzenden öffentlichen Ereignissen wie Naturkatastrophe, Kriegsausbruch oder Revolution, schließlich bei Grenzerfahrungen wie Geburtstrauma und Todeserwartung. 15

Auf den Begriff der Schwelle wird noch einmal im Folgenden rekurriert. Hier gilt, dass eine derart verstandene Grenze sich als ein aporetisches »Erkenntnismittel« erweist, dessen Anwendung weit über das Räumliche hinausgeht: In diesem Sinne ist die Idee der Grenzemehrals nur ein Strich oder eine Linie, diezwei Orte oder Räume trennt (und derart zugleich miteinander verbindet); sie ist vielmehr ein genuines Erkenntnismittel, ein Begriff, ohne den die Welt denkerisch nicht erschlossen werden kann. 16

Grenzen sind in dieser Hinsicht »ambivalente Phänomene, und dies keineswegs nur in der Welt der Staaten und der Politik«. 17 Eine Grenze ist ein Übergang, ein opakes Transit, das »Kontur verleiht« 18 und deren Kontur zugleich schattiert ist – nicht gänzlich einzuordnen, aufschiebbar. Auf diese paradoxe Art und Weise stiftet Grenze IdenBernhard Waldenfels: Der Stachel des Fremden, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1990, S. 31–32. 16 Mayer-Tasch 2013, S. 42. 17 Ebenda, S. 59. 18 Ebenda. 15

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§ 38. Grenze als Schwelle

tität. Eine Grenze ist auch dasjenige Phänomen, das mit der ὁρμή, mit dem Handlungstrieb zusammenhängt: Der Begriff der Grenze spielt nicht nur in der Politischen Theorie, sondern auch in der Anthropologie und in der Ethik des Aristoteles eine bedeutsame Rolle. Sie, die Grenze ist es, die Menschen dazu veranlasst, etwas zu tun: ›Kein Mensch würde wohl etwas unternehmen, hätte er nicht vor, an eine Grenze zu gelangen.‹ 19

Schließlich sind Grenzerfahrungen alltägliche Erfahrungen: Grenzsituationen sind oft Not, jedenfalls aber Ausnahmesituationen. Grenzen und Grenzerfahrungen jedoch sindetwas Alltägliches. Allenthalben stoßen Menschen im Laufe ihres Lebens an Grenzen: an die Grenzen ihres Leistungsvermögens, an Grenzen des Verständnisses, der Einsicht, der Geduld, an Grenzen des Erlaubten, des Zumutbaren, des Erträglichen. Menschenlernen im Laufe ihres Lebens, mit solchen Grenzen und der auch mit ihnen nicht selten verbundenen Noterfahrung zu leben. Sie lernen allerdings auch, dass nicht alle Grenzen zu beachten sind: Wer Anderen Grenzen zieht, muss sein Tun rechtfertigen, die Grenze begründen. Wem Grenzen gezogen werden, hat ein Recht, zuerfahren, warum dies geschieht, und manchma – aus der eigenen Not heraus – auch das Recht, unnötige oder auch ungerechte Grenzen zu ignorieren, zu überschreiten oder gar zu zerstören. 20

»Grenze« stellt sich somit als Erfahrungsüberbegriff heraus. Weit davon entfernt, lediglich ein Politisch-Räumliches anzusprechen, betrifft diese Denkkategorie die verschiedensten Erscheinungen des menschlichen Daseins. Nicht zufällig ist die τιμή, derZuständigkeitsbereich des Hermes, Gott der Grenze, am weitesten unter den Göttern. Hermes ist auf der einen Seite der Herr der Wege. An den Wegen lagen die Steinhaufen (ἓρμαιον), von denen er den Namen empfangen hat. […] Auch die ›Hermen‹ standen vornehmlich an den Wegen, an den Eingängen der Städte und Häuser, an den Markt- und Landesgrenzen. Eine Reihe von Beinamen ehrt den Hermes als Gott der Wege und Eingänge, als Führer und Wegweiser. 21

Aber auf der anderen Seite ist er auch ein »Vielgewandter« 22 und der »menschenfreundlichste unter den Göttern«. 23 Der Gott der Grenze Meyer-Tasch 2013, S. 48. Ebenda, S. 56–57. 21 Walter F. Otto: Die Götter Griechenlands, Frankfurt a. M.: Klostermann, 1987, S. 145–146. 22 Ebenda, S. 133. 23 Ebenda, S. 132. 19 20

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und des Transits ist auch der vielseitigste Gott. Darin könnte man realisieren, dass die Kategorie der Grenze eine für das Leben des Menschen sehr umfassende ist. Sie betrifft als Querfigur zahlreiche, verschiedene Grunddimensionen des menschlichen Daseins. Grenze, Schwelle, Transit, Übergang und ihre benachbarten Figuren nehmen allmählich und bei genauerer Betrachtung eine große und komplexe existenzphilosophische Bedeutung an, woran das authentisch kommunitäre Wesen der Grenze anknüpft. Diesem gilt es nun weiter zu folgen.

§ 39. Grenze als Medium Soweit erschien es klar, dass die Grenze als (wenngleich problematisches) Identitätsstiftendes fungiert. Bei der Frage nach der Identität sind jedoch mindestens (und der Sinn dieses »mindestens« soll im Folgenden präzisiert werden) zwei Elemente involviert, wie bspw. zwei Staaten bei einer geographischen Grenze. Das geographischpolitische Gebiet der Bundesrepublik Deutschlands wird z. B. vom österreichischen durch die Grenze unterschieden, indem die beiden Gebiete jedoch aneinander grenzen, d. h. auf eine gewisse Art und Weise durch ihre Trennung miteinander verbunden sind, auf ähnliche Art und Weise wie die von Heidegger thematisierten Brückenufer. 24 Die Grenze stiftet somit Identität durch ihr mediales Verhalten der Trennung und Verbindung. Die Grenze ist dabei ein Medium auf ähnliche Art und Weise wie ein Fenster, das den Wohnraum vom Draußen trennt; oder wie unsere Haut, die die inneren Körpergewebe von der Umwelt trennt. Aber selbst die Haut trennt das Körpergewebe doch nicht von sämtlichen Elementen der »Draußen«-Umwelt: Sauerstoff durchdringt bspw. die Hautbarriere, ein biologischer Umstand, der lebensnotwendig ist. Wir wollen diese Trennungs-/Verbindungsdynamik weiterverfolgen. Nehmen wir an, dass zwei WG-Mitbewohner eine Wand gemeinsam haben (eine Wand »teilen«). Zwei Zimmer (und damit zwei Zur Analyse eines solchen medialen Wesens des Dinges bei Martin Heidegger vgl. Giovanni Tidona: Ding und Begegnung. Sprach- und Dingauffassung im dialogischen und existenzialen Denken, Freiburg: Alber, 2014.

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§ 39. Grenze als Medium

eigene Privatsphären, Möbeleinrichtungen usw.) werden dadurch voneinander getrennt. In diesem Fall, wie im Fall der Zugabteile, würde man von Abgrenzung sprechen, und/oder von Ein- und Ausgrenzung der Wohnräumlichkeiten. Ebenso gemeinsam haben dieselben Mitbewohner auch einen Küchentisch. Beim Tisch wäre jedoch strenggenommen nicht von Abgrenzung die Rede, denn die Mitbewohner, die am selben Tisch sitzen, sind doch auf irgendeine Art und Weise zusammen (nicht in den durch die Wand abgetrennten Zimmern isoliert). Mitbewohner sitzen zusammen (kommunitär) am Tisch, jeder hat jedoch seinen eigenen Platz. Sitzplätze am Tisch werden anhand eines Aufteilungsverfahrens des Tisches verteilt (zumal an einem Tisch nicht unendlich viele Gäste sitzen können). Jeder konstituiert sich in seiner Identität – wird von anderen abgetrennt –, indem er mit anderen nicht so sehr den Tisch, sondern die Möglichkeit des AmTisch-Sitzens teilt. Indem der »Tisch« trennt, ist er aufgeteilt, indem er verbindet, ist er geteilt. Die Bewusstmachung dieser komplexen Logik des kommunitären Gegenstands »Tisch« als Grenzbegriff stellt eine bedeutungsträchtige Ergänzung der hegelianischen Differenzierung dar. In derselben Wohnung befinden sich auch einige Fenster. Ein Fenster ist eine mediale Grenze zwischen dem Drinnen und Draußen einer Wohnung. Das Draußen wird vom Drinnen getrennt und zugleich mit diesem in Verbindung gebracht, und zwar am Ort der Glasscheibe – gäbe es keine Glasscheibe, gäbe es weder Drinnen noch Draußen, alles wäre Drinnen oder alles Draußen. Nun ist es aber interessant, dass Drinnen und Draußen verbunden bzw. getrennt werden, indem das durchsichtige Glas das Licht von Draußen hereinlässt und zugleich die Kälte aussperrt. »Wohnung« konstituiert sich in ihrer Identität, die darin besteht, dass das Wohnobjekt eine warme und helle, und nicht eine kalte und dunkle Wohnung ist, gerade durch das Zulassen eines Elements des Draußen (Licht) und durch das Verweigern eines weiteren Elements des Draußen (Kälte). Eine derart gedachte Grenze funktioniert somit wie ein Filter. Im Fall des Fensters ist ein solcher identitätskonstituierender Filter jedoch noch einseitig, d. h.: Ein Fenster konstituiert schon das Drinnen, indem ein Wohnraum durch das Fenster zu einem authentischen, warmen und hellen Raum gemacht wird, aber nicht das Draußen. Das Draußen – die kalte und sonnige Winterstraße – bedarf nämlich keines Wohnungsfensters, um ein Draußen zu sein. Selbst 203 https://doi.org/10.5771/9783495820704 .

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wenn es die Wohnung und ihre Fenster gar nicht gäbe, bliebe der Außenraum ein solcher und in seiner Identität unberührt. Das trennende und verbindende Fenster ist vom Standpunkt der Identitätskonstituierung der beiden involvierten Elemente oder Gegenstandsbereiche noch eine einseitige Filtergrenze. Diesen phänomenologischen Umstand bringt auch Georg Simmel im Rahmen des Vergleichs Fenster/Tür auf den Punkt: Wenn in der Brücke die Momente von Getrenntheit und Verbundenheit sich so treffen, daß jenes mehr als Sache der Natur, dieses mehr als Sache des Menschen erscheint, so drängt sich mit der Tür beides gleichmäßiger in die menschliche Leistung, als menschliche Leistung zusammen. Darauf beruht die reichere und lebendigere Bedeutung der Tür gegenüber der Brücke, die sich sogleich darin offenbart, daß es keinen Unterschied des Sinnes macht, in welcher Richtung man eine Brücke überschreitet, während die Tür mit dem Hinein und Hinaus einen völligen Unterschied der Intention anzeigt. Dies hebt sie auch von dem Sinne des Fensters ab, das sonst, als Verbindung des Innenraums mit der äußeren Welt, der Tür verwandt ist. Allein das teleologische Gefühl dem Fenster gegenüber geht fast ausschließlich von innen nach außen: es ist für das Hinaussehen da, nicht für das Hineinsehen. Es stellt die Verbindung zwischen dem Inneren und dem Außeren zwar vermöge seiner Durchsichtigkeit gleichsam chronisch und kontinuierlich her; aber die einseitige Richtung, in der diese Verbindung läuft, ebenso wie seine Beschränkung darauf, ein Weg nur für das Auge zu sein, läßt dem Fenster nur einen Teil der tiefen und prinzipiellen Bedeutung der Tür zukommen. 25

An diesem Punkt gelangt man zur einer möglicherweise vollständigeren Begriffsbestimmung der Grenze: Grenze ist ein trennender und verbindender Filter, durch den zwei Dimensionen ihre Identität annehmen. Die Grenze scheint wie ein medium for dividing and connecting zu funktionieren. Dies hat auch mit dem existenzphilosophischen Aspekt der Grenze zu tun, denn der Mensch ist primär das Wesen, das trennt und verbindet: Weil der Mensch das verbindende Wesen ist, das immer trennen muß und ohne zu trennen nicht verbinden kann – darum müssen wir das bloße indifferente Dasein zweier Ufer erst geistig als eine Getrenntheit auffassen, um sie durch eine Brücke zu verbinden. Und ebenso ist der Mensch das Grenzwesen, das keine Grenze hat. Der Abschluß seines Zuhauseseins durch die Tür bedeutet zwar, daß er aus der ununterbrochenen Einheit des natürGeorg Simmel: Brücke und Tür. Essays des Philosophen zur Geschichte, Religion, Kunst und Gesellschaft, Stuttgart: K. F. Koehler Verlag, 1957, S. 4–5.

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§ 40. Menschen und Götter

lichen Seins ein Stück heraustrennt. Aber wie die formlose Begrenzung zu einer Gestalt kommt, so findet seine Begrenztheit ihren Sinn und ihre Würde erst an dem, was die Beweglichkeit der Tür versinnlicht: an der Möglichkeit, aus dieser Begrenzung in jedem Augenblick in die Freiheit hinauszutreten. 26

§ 40. Menschen und Götter Die soeben erarbeitete Begriffsbestimmung der Grenze fällt allerdings nicht vom Himmel, sie kann zurückgeführt werden auf ein altes, vornehmes Verständnis der Grenze. Unter den zahlreichen Sehenswürdigkeiten, die die Stadt Berlin bietet, ist das Pergamonmuseum auf der Museumsinsel. Im Museum findet sich, neben weiteren historisch-architektonischen Kunstzeugnissen der vorderasiatischen, islamischen Kunst und Kultur der Antike, der allseits berühmte Pergamonaltar:

Abbildung 20

Zu einer Erörterung des medialen Wesens der Grenze erweist sich ein Blick auf die Terrasse des Pergamonaltars als aufschlussreich. Mitten in der Terrasse ist nämlich ein geschlossener Bereich vorfindlich, auf dem die Opfergabe stattfand:

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Simmel 1957, S. 6–7.

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Abbildung 21

Der zur Opfergabe angelegte Bereich kann in vielerlei medialer Hinsicht als Grenze betrachtet werden. Zunächst haben nur Priester zu dem abgeschlossenen Bereich der Opfergabe Zugang, d. h. dieser Bereich ist sakral im Sinne des Abgetrennten, das restlichen Teilnehmenden am Kult verwehrt ist. Der Grenze angehörig ist die Figur des Priesters, ein Kommunikationsmedium zwischen Menschen und Götter. Der Priester bringt durch sein theologisches Wissen zwei Welten in Verbindung, die andernfalls irreduzibel wären, ähnlich wie der Übersetzer Sprechende von zwei Sprachen in Kommunikation bringt, weil er an beiden Sprachsystemen teilnimmt. Dies deckt sich mit der Figur des Dämons, welcher Menschen und Götter erst dadurch in Verbindung bringen kann, dass er teils Mensch und teils Gott ist, nach einer Dynamik, die es im Folgenden zu präzisieren gilt. 27 27

Das in Diotimas Rede (Platon, Symposion) ausgeführte Wesen des Dämonischen in

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§ 40. Menschen und Götter

Auch das geopferte Tier der Opfergabe spielt eine ähnliche, mediale Rolle. Teile des Tiers werden bei der Opfergabe verbrannt. Die konkrete Handlung nimmt symbolischen, identitäts- und differenzstiftenden Charakter an: Das Fleisch des Tieres wird von den Menschen gegessen, der Rauch des Feuers ist für die Huldigung der Götter. Die Götter sind im Unterschied zu den Menschen nicht an die Bedürfnisse des Lebens auf Erden, darunter auch die Nahrung, gefesselt, und können somit mit dem Wohlgeruch des Rauches verehrt werden. Der Nahrungszwang, der das vergängliche und korrumpierbare Leben der Menschen charakterisiert, wird durch die Notwendigkeit signalisiert, dass das rohe Fleisch durch das Feuer zum essbaren Fleisch gemacht wird. Ein wesentlicher Unterschied zeigt sich in der Gemeinsamkeit derselben Opfergabe, die allerdings in zwei Elemente (das Essbare und das Ätherische) getrennt wird. In diesem Fall zeigt sich eine mögliche, weitere Auffächerung des Teilbegriffs, denn durch die Verbrennung unterliegt das Opfer einer Zerteilung; munus der Gemeinschaft ist in diesem Falle das Opfer. Die Elemente der Grenze – die Grenze selber als sakraler, abgetrennten Bereich, der Priester als ambigue, dämonische Figur, das zerteilte, zweigespaltene Opfer der Opfergabe – konfigurieren sich somit als mediale Figuren, die unter dem Zeichen der polyvalenten Zweideutigkeit stehen, die im xenologischen Kontext eine entscheidende Rolle spielt (vgl. Kapitel über Zweiteilung). Der Grenzbegriff geht jedoch über die Zweiteilung hinaus, da seine Logik eher eine komplexe Vier-Werte-Zweideutigkeitsdynamik ist, zu deren Veranschaulichung hier ein weiteres, letztes Beispiels einer Grenze angeführt wird:

Bezug auf Eros ist in dieser Hinsicht ein Grenzmediales: Eros kann insofern eine Verbindungsfunktion erfüllen, als er »zwischen dem Sterblichen und den Unsterblichen« steht: »Wie könnte also ein Gott sein, der unbegabt ist mir Schönem und Gutem? – Auf keine Weise, wie es scheint. – Siehst du nun, sagte sie, daß auch du den Eros für keinen Gott hältst? – Was wäre also, sprach ich, Eros? Etwa sterblich? – Keineswegs. – Aber was denn? – Wie oben, sagte sie, zwischen dem Sterblichen und Unsterblichen. – Was also, o Diotima? – Ein großer Dämon, o Sokrates. Denn alles Dämonische ist zwischen Gott und dem Sterblichen« (Platon: Symposion, Leipzig: Reclam, 2006, 202d-e) – »Denn Gott verkehrt nicht mit Menschen, sondern aller Umgang und Gespräch der Götter mit dem Menschen geschieht durch dieses, sowohl im Wachen als auch im Schlaf« (ebenda, 203a). Die Figur des Dämons überhaupt verbindet somit durch ihr aporetisches Wesen zwei Welten, die ansonsten nicht kommunizieren könnten. Zur weiteren Bedeutung der Diotima-Rede vgl. Kapitel über Gegenteil.

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Abbildung 22

Die Abbildung zeigt diesmal ein Naturphänomen, das als Grenze thematisiert werden kann. Es handelt sich um den mittleren Bereich, an einem Strand, zwischen Wasser und Sand. Dieser Bereich erfährt in der deutschen Sprache die nicht allzu genaue Bezeichnung von Litoral oder Uferlinie. Im Englischen wird er, wahrscheinlich auch auf unpräzise Art und Weise, als water’s edge benannt. Die italienischen Bezeichnungen einer solchen natürlichen Grenze verhelfen zu einem genaueren Verständnis, denn dieser Bereich wird außer »battigia« auch »bagnasciuga« genannt, wobei das letztere Wort ein Oxymoron ist und so etwas wie Nasstrockenheit bzw. Trockennässe bedeutet. Die oxymoronische Bezeichnung des water’s edge verrät das aporetische Wesen der battigia-Grenze, welches jedoch nicht in einer dualen, ambiguen Logik erschöpft. Bei genauerem Hinsehen ist eine battigia nämlich nicht nur »Trockenheit« und zugleich »Nässe«, sondern sie zeichnet sich durch eine gleichsam parakonsistente Logik aus, denn sie hat auf der einen Seite Anteil sowohl am Wasser als auch am Strand (sie ist Teil von beiden »Gebieten«), andererseits ist sie, aufgrund ihrer nur anteiligen Beteiligung am Wasser und Strand, weder ganz Erstes noch Zweites. Die battigia-Grenze ist in gewisser Hinsicht sowohl Wasser als auch Strand, und in anderer Hinsicht weder Wasser noch Strand. Die hier im metaphorischen Sinne angesproche208 https://doi.org/10.5771/9783495820704 .

§ 41. Limen

ne, vierwertige »parakonsistente« Logik 28 des Weder-Noch-SowohlAls-Auch macht das Wesen dieser Grenze aus. Die battigia-Grenze ist somit nicht nur zweideutig, sondern erweist sich in diesem Sinne als vierdeutiger Zwischenraum 29. Die Grenze ist nicht einfach eine Linie, die zwei Bereiche voneinander trennt und verbindet, sondern sie ist eo ipso ein komplexer, strukturiertet Bereich – gleichsam ein Strich, der selbst eine Breite hat 30 –, dessen schillernde Schattierungen nicht aufgeteilt werden können, da die verschiedenen Determinationsformen (mal Nässe, mal Trockenheit, mal Trockennässe, mal Nässetrockenheit) stetig ineinander übergehen. Bei einem solchen Spiel der Bestimmungen, die sich innerhalb des Grenzbereiches abwechseln, ist eine eindeutige räumlich-begriffliche Einteilung der Eigenschaften prinzipiell unmöglich.

§ 41. Limen Es ist höchste Zeit, sich einem neuen Verständnis der Grenze zu wenden: Diese darf auf kommunitäre Art und Weise nicht mehr als Limes, sondern muss vielmehr als Limen verstanden werden. Es ist nur eine Buchstabänderung, die aber eine entschiedene Bedeutungsperspektive zutage fördert: Limen ist in der lateinischen Sprache die (Tür)Schwelle, der Übergangsbereich, der eine mechanisch, strengste Ein- und Ausgrenzungsdynamik relativiert und schattiert: Limen ist sowohl Drinnen als auch Draußen, trennt und verbindet, bringt die qualitativen Unterschiede und Gemeinsamkeiten (Götter und Menschen) zur Geltung und wird schließlich geteilt. Die Grenze als Limen konfiguriert sich somit als eine besondere Teilungsform. Die Gemeinschaftsformen, die sich an der LimenGrenze entwickeln, sind Teilungs-, und nicht Aufteilungs-Gemein-

Im Sinn einer Vier-Werte-Logik. Dieser Zwischenraum hat im Übrigen ausgeprägte gemeinschaftliche Funktion, denn die Badenden pflegen sich nicht auf dem heißen Sand oder auf hoher See zu treffen (mit anderen Worten, dort, wo die Naturelemente eindeutig sind), sondern auf dem parakonsistenten Mittelstreifen der battigia. 30 »Und überlegen wir uns doch, was wir, im Gegensatz zu dieser Erklärung, eine ›exakte‹ Erklärung nennen! Etwas das Abgrenzen eines Bezirks durch einen Kreidestrich? Da fällt uns gleich ein, daß der Strich eine Breite hat« (Ludwig Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2003, S. 71). 28 29

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schaften. cum-finis, geteiltes Ende. Grenze, Opfergabe und Kreide haben dies gemeinsam, sie trennen und verbinden. Im Limen – und nicht Limes – waltet der Prototyp der kommunitären Grenzen, die somit nicht abzuschaffen, sondern in ihrem medialen Wesen zu realisieren sind: Unser Ideal sollte also keine Welt ohne Grenzen sein, sondern eine Welt, in der alle Grenzen anerkannt und respektiert werden und doch durchlässig sind. Eine Welt, in der der Respekt vor den Unterschieden darin bestünde, dass innerhalb einer jeden dauerhaft etablierten Gemeinsamkeit die Individuen, aus denen diese Gemeinsamkeit zusammengesetzt ist, respektiert würden, unabhängig von ihrer Herkunft und ihrem Geschlecht, und in der die Intimsphäre jedes Individuums respektiert würde, ohne dass ihm deshalb ein fester Wohnsitz zugewiesen sein müsste. Das könnte das Ideal einer jeden Erziehung sein, die diesen Namen verdiente. Zweierlei Hindernisse stehen diesem Ideal entgegen. Entweder wird die Vorstellung der Grenze erhärtet und man macht aus ihr eine unüberwindbare Schranke; oder aber umgekehrt – sie wird verwässert, ausgelöscht, verleugnet. 31

Eine notwendige Voraussetzung zum Verständnis des Kommunitären ist somit ein genaueres Verständnis der Grenze als Limen. Dies wird erst erreicht, wenn man sich über ein Abteilungsparadigma der Gemeinschaft hinaus die Komplexität und lebensphilosophische Dichte der Kategorie der Grenze vergegenwärtigt.

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Marc Augé: Die illusorische Gemeinschaft, Berlin: Matthes & Seitz, 2015, S. 13.

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Neuntes Kapitel: Spielbeteiligung. Be-dingte Gemeinschaft

§ 42. Eine Pseudo-Etymologie Dass die Philosophie in gewisser Hinsicht der Instanz des Fremden gegenüber offen ist, lässt sich auch in fachübergreifendem Sinne explizieren: Die Philosophie sucht und findet den Austausch mit anderweitigen, mitunter nicht philosophischen Wissensformen und prägt diese zugleich philosophisch. Es geschieht also oft, dass die Philosophie bei diesem osmotischen Verhältnis ihr eigenes Fachinstrumentarium und Vokabular ändert, indem sie es weiteren Wissenschaften und Wissenschaftsbereichen entlehnt. Das Ergebnis davon ist, dass eine relevante Anzahl der Termini und Begriffe, die in der Philosophie verwendet werden, keinen philosophischen Ursprung haben. Zu den zahlreichen, repräsentativen Beispielen dafür zählt sicherlich der Terminus »Eigenschaft«, wenn man damit die Eigenschaft eines Gegenstands intendiert. Der Terminus »Eigenschaft« stand bereits im Kapitel über die Einteilung und Teil im Vordergrund, hier soll er jedoch noch einmal aufgenommen werden, indem man auf seinen juridischen Ursprung den Fokus legt. Darauf verweist Sandkühler, der den allgemeinsten Begriff »Ding« eben mit »Eigenschaft« in Zusammenhang bringt, und zwar anhand ihrer gemeinsamen juridischen Herkunft: Der Terminus ›Eigenschaft‹ gehört ursprünglich zu demselben rechtlichen Bereich wie der Ausdruck ›Ding‹. Er bezeichnet den ›Besitz‹ oder das Eigentum (proprietas), das jedem Individuum eigen (proprium) ist, und ging dann über in die Bedeutung der Beschaffenheit eines D. oder einer Person. 1

In diesem Sinne ist die Eigenschaft eines Dinges – wie ein makroskopischer semantischer Umstand suggeriert, der wie jedes Makroskopi1 Hans Jörg Sandkühler (Hrsg.): Enzyklopädie Philosophie, Hamburg: Meiner, 1999, Eintrag »Eigenschaft«, S. 261.

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Spielbeteiligung

sche oft unbemerkt bleibt – eben der Besitz. In Bezug auf Dinge oder Menschen sagen wir bspw., dass diese die Eigenschaft der Widerstandsfähigkeit gegen Wärme, der gelben Farbe oder des NervigSeins haben und/oder besitzen. Welche Eigenschaft wir auch immer aus dem (potentiell unendlichen?) Spektrum der Eigenschaften eines Gegenstands selektieren und diesem Objekt zuschreiben, diese Eigenschaft wird immer als das verstanden, was das Objekt besitzt oder dem Objekt zugehört, dem Objekt eigen ist – man spricht in diesem Falle von Zugehörigkeit oder Pertinenz zwischen Objekt und Eigenschaft. Dass etwas eine bestimmte Eigenschaft haben kann, setzt voraus, dass eine Zugehörigkeit, sprich: Pertinenz vorliegt – und umgekehrt: Damit Zugehörigkeit möglich ist, scheint eine Eigenschaftszuschreibung notwendig zu sein. Die Eigenschaftszuschreibung gegenüber einem Objekt konfiguriert sich somit (auf einer gegenüber der Rechtssprache leicht verschobenen semantischen Ebene) als eine Apposition von Attributen gegenüber einem (grammatikalischen) Subjekt: Dem Subjekt »Ahornholz« kommt bspw. das Attribut »gut zur Wiedergabe der hohen Frequenzen« zu. Nur dem grammatikalischen/syntaktischen Subjekt »Ahornholz« wird diese Eigenschaft (und nicht eine andere) zugeschrieben. Es zeigt sich hierbei, nebenbei gesagt, eine deutliche Kongruenz zwischen dem apophantischen Satz (Subjekt + Prädikat) und dem aristotelischen Dingbegriff als ὑποκείμενον: Diesem letzteren fallen nämlich bestimmte συμβεβηκότα zu. Es handelt sich hier um den Begriff eines Dinges »um das herum sich die Eigenschaften versammelt haben«. 2 Heidegger schreibt diesbezüglich: »Unser Denken ist freilich von altersher gewohnt, das Wesen des Dinges zu dürftig anzusetzen. Dies hatte im Verlauf des abendländischen Denkens zur Folge, daß man das Ding als ein unbekanntes X vorstellt, das mit wahrnehmbaren Eigenschaften behaftet ist«. 3 Wenn man sich innerhalb der von Heidegger anvisierten reduktiven Interpretation des Dinges bewegt, in der auch das ursprüngliche »versammelnde Wesen des Dinges« 4 bis zum kompletten Verschwinden aus dem phänomenologischen Wahrnehmungsschirm zurücktritt, dann realisiert sich gleichsam eine Überschneidung der semantischen Martin Heidegger: Der Ursprung des Kunstwerkes, Stuttgart: Reclam, 2010, S. 14. Martin Heidegger: »Bauen Wohnen Denken«, in: Vorträge und Aufsätze, Stuttgart: Klett-Cotta, 2004, S. 148. 4 Ebenda. 2 3

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§ 42. Eine Pseudo-Etymologie

und der ontologischen Ebene: Ein Ding ist Träger von Eigenschaften auf analoge Art und Weise wie ein grammatikalisches Subjekt seine Prädikate »trägt«. 5 Das deutsche Wort »Eigenschaft« scheint demnach in der Logik des proprium angesiedelt zu sein. Das ist die Bedeutung des Präfixes eigen-, welches in der deutschen Sprache sowohl Präfix als auch autonomes Sprachelement in der Funktion des Adjektivs ist, oft auch als Betonung des Besitzes: Eigenname (der Name, den jemand besitzt), aber auch die Wendung mit eigener Kraft (und nicht mit den Kräften eines Anderen) oder mein eigener Hund (von dem ich der Besitzer bin) bestätigen diesen semantischen Besitzkreis. Das entspricht einem Verstärkungsprozess, der eine gewisse Ähnlichkeit zum englischen own aufweist – was nicht zufällig auf die ownership zurückführbar ist, die Entsprechung des deutschen Eigentums: (juridischer) Besitz. Und zum Schluss, selbstverständlich, Eigenschaftswort: Adjektiv. Das Vokabular ist auch in dieser synchronisch-interlinguistischen Perspektive ziemlich genau, da das Wort »eigen« normalerweise als »zugehörig« im Sinne des Besitzes verwendet wird. Es wäre jedoch möglich, den Schwerpunkt dieser Perspektive leicht zu verschieben und, einer anderen semantischen Linie entlang, dahingend zu aktzentuieren, dass das eigen- von Eigenschaft und Eigentum die Betonung nicht auf dem »proprium«, sondern dem Verb »sich eignen« liest. Es handelt sich in diesem Falle um gleichsam eine »Pseudo-Etymologie«, die aber das Verdienst hätte, die Fixierung auf das proprium (und somit auf eine Besitzsemantik) zu relativieren und vielmehr die philosophische Aufmerksamkeit auf einen operativen Begriff der Eigenschaft zu lenken. In der Annahme, dass eigen- auf sich eignen rückführbar wäre – oder zumindest in einem relevanten semantischen Verhältnis damit stünde –, könnte es Folgendes bedeuten: Einem bestimmten Objekt kommt eine bestimmte Eigenschaft zu, wenn dieses Objekt sich zu einer bestimmten Handlung eignet – oder sich zu eignen scheint und/oder als zu einer bestimmten Handlung tauglich gemacht werden kann. Dies wäre wahrscheinlich eine mehr oder minder willkürliche semantische Erweiterung der Eigenschaft auf das »tauglich sein«,

Zum Sinn und zur philosophischen Tragweite dieser sprachontologischen Übereinstimmung sei auf Giovanni Tidona: Ding und Begegnung. Sprach- und Dingauffassung im dialogischen und existenzialen Denken, Freiburg: Alber, 2014 verwiesen.

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Spielbeteiligung

»fähig sein«, »sich eignen zu …«, »zu einer bestimmten Verwendung gut sein«; kurzum, in dieser Betrachtungsweise ergibt sich die Bedeutung von eigen- nicht nur im Sinne des Besitzes, sondern im Hinblick auf eine operative Verwendung im Sinne von geeignet sein. Diese kaum wahrnehmbare morphosemantische Justierung verhilft aber – und dies ist entscheidend – zu einer Verschiebung des Begriffs der Eigenschaft/Besitz von der juridischen Sphäre der proprietas in die handlungsbezogene Sphäre der utilitas. Die Eigenschaft eines Objekts ist nicht mehr »Besitz«, sondern Fähigkeit und dementsprechend potentia/Vermögen, auf eine bestimmte Art und Weise verwendet zu werden – es handelt sich hier um eine »Pragmatik« des Dinges, die in diesem ersten Schritt noch an Heideggers berühmte Ausführungen der »Zuhandenheit« erinnert: Die Griechen hatten einen angemessenen Terminus für die ›Dinge‹: πρᾶγματα, d. i. das, womit man es im besorgenden Umgang (πρᾶξις) zu tun hat. Sie ließen aber ontologisch gerade den spezifisch ›pragmatischen‹ Charakter der πρᾶγματα im Dunkeln und bestimmten sie ›zunächst‹ als ›bloße Dinge‹. Wir nennen das im Besorgen begegnende Seiende das Zeug. Im Umgang sind vorfindlich Schreibzeug, Nähzeug, Werk- und Meßzeug. Die Seinsart von Zeug ist herauszustellen. 6

Es soll hiermit aber dieser operativ-pragmatische Charakter des Umzu über Heidegger hinaus weiter präzisiert werden, und zwar durch Herausarbeitung der als Geeignetheit umgeschriebenen Eigenschaft eines Objekts. Es wird sich zeigen, dass es durch die linguistisch-philosophische Thematisierung des Um-zu – welche im Übrigen einen der zentralen Knoten der Relativismus/(Neu)Realismus-Diskussion darstellt – möglich ist, das Um-zu nicht nur durch den Begriff der affordance von Gibson zu ergänzen, sondern auch einige Vorgänger dieser Kategorie, in erster Linie die Unbekümmertheit von Clara und William Stern, zu entdecken. Auf diesem Weg wird sich die Perspektive auf einen Begriff der Gemeinschaft als durch Spielbeteiligung bedingte Gemeinschaft eröffnen.

6

Martin Heidegger: Sein und Zeit, Tübingen: Niemeyer, 2006, S. 68.

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§ 43. Utilitas

§ 43. Utilitas Was eine affordance ist und wie sich diese an einem Objekt phänomenologisch konstituiert, ist eine in letzter Zeit weithin diskutierte Frage. Insbesondere ausgehend von der gestalttheoretischen Linie, die von Kurt Lewin und Kurt Koffka bis zu den Analysen von James Gibson geht und, wie im Folgenden klar werden wird, angereichert durch die Kindersprache von Stern und eine gewisse Thematisierung des Gegenstandsbegriffs seitens Martinus Langeveld. James Gibson, der vermutlich der Erfinder des Terminus affordance ist, bietet auch einen kurzen historischen Exkurs über seine Vorgänger bezüglich der Begriffsprägung: Der Begriff des Aufforderungscharakters wurde von Kurt Lewin geprägt. Die englischen Übersetzungen sind invitation character (durch J. F. Brown im Jahre 1929) und valence (durch D. K. Adams im Jahre 1931; zur Geschichte dieser Übersetzungen siehe Marrow, 1969, S. 56). Die zweite Übersetzung kam allgemein in Gebrauch. 7

Eine terminologische Fixierung findet allerdings bei Gibson und seiner kanonischen Definition statt: Unter den Angeboten (affordances) der Umwelt soll das verstanden werden, was sie dem Lebewesen anbietet (offers), was sie zur Verfügung stellt (provides) oder gewährt (furnishes), sei es zum Guten oder zum Bösen. Während das Zeitwort to afford im englischen Wörterbuch zu finden ist, sucht man das Hauptwort affordance vergebens; ich habe es selbst geprägt. Ich meine damit etwas, das sich auf die Umwelt und das Lebewesen gleichermaßen bezieht und zwar auf eine Art, die kein gebräuchliches englisches Wort auszudrücken vermag. 8

Gibson präzisiert außerdem, dass eine affordance doch nicht analog wie eine Eigenschaft im klassischen juridisch-philosophischen Sinne (als Besitz-Eigenschaft) zu verstehen ist: »In Wirklichkeit aber ist ein Angebot weder etwas Objektives noch etwas Subjektives; man könnte auch sagen, daß es beides zugleich ist. Es überwindet die Dichotomie zwischen dem Subjektiven und dem Objektivem und hilft uns, die Unangemessenheit dieser Zweiteilung zu begreifen«. 9 Es erscheint 7 James J. Gibson: Wahrnehmung und Umwelt. Der ökologische Ansatz in der visuellen Wahrnehmung, München/Wien/Baltimore: Urban & Schwarzenberg, 1982, S. 150. 8 Ebenda, S. 137. 9 Ebenda, S. 139.

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Spielbeteiligung

somit klar: »die Angebote all dessen, was man etwas nachlässig als Objekte bezeichnet, sind außerordentlich verschiedenartig«. 10 Diese ermöglichen außerdem die Gegenstandswahrnehmung in einem epistemologischen Rahmen, der vom Konzept abweicht, nachdem der Gegenstand ein komplexes Spektrum an daran anhaftenden und voneinander unterscheidbaren Eigenschaften darstellt: Gibsons Thematisierung der affordances ist ein Versuch zur Überwindung dieses kognitiven Wahrnehmungsparadigmas bis hin zu einer pragmatischen Eröffnung des Gegenstandsbegriffs: In der gängigen Psychologie wird behauptet, daß wir diese Objekte in dem Maße wahrnehmen, wie wir ihre Eigenschaften und Qualitäten unterscheiden. […] Dagegen behaupte ich hier, daß das, was wir beim Anschauen von Objekten wahrnehmen, nicht deren Qualitäten, sondern deren Angebote sind. […] Es gibt viele Hinweise dafür, daß das Kind nicht damit beginnt, zunächst die Qualitäten der Objekte zu unterscheiden um danach die Kombinationen der Qualitäten zu lernen, durch die die Objekte gekennzeichnet werden. Die phänomenalen Objekte sind nicht aus Qualitäten aufgebaut; es ist genau umgekehrt. Was das Kind zunächst wahrnimmt, ist das Angebot eines Objekts. […] Niemals besteht die Notwendigkeit, alle Merkmale eines Objekts unterscheiden zu müssen, was ja in der Tat auch unmöglich wäre. Die Wahrnehmung geht ökonomisch vor. Es werden nur solche Eigenschaften eines Dinges registriert, die es von anderen Dingen als es selbst unterscheiden – nicht jedoch alle Eigenschaften, die es von allem, das es selbst nicht ist, unterscheiden. 11

Die affordance garantiert ein unmittelbares, »auf den ersten Blick« stattfindendes Verständnis des Objektes, da eine affordance einen Verwendungsmodus des Gegenstands zutage fördert, dessen Ausführung keine analytische Interpretationsarbeit voraussetzt – was bspw. die Individuation und Aufzählung der Eigenschaften des Objekts wäre. Darüber hinaus kann eine affordance auch wechselhaft und veränderbar sein: Ein Objekt X ist in der Lage, verschiedene affordances anzunehmen, und zwar je nachdem, was sich im Rahmen einer Handlung je und je als geboten oder gefordert erweist: Aus der Tatsache, daß ein Stein ein Wurfgeschoss ist, folgt nicht, daß er ein anderes Ding nicht auch sein kann. Er kann ein Briefbeschwerer sein, eine Buchstütze, ein Hammer oder ein Lot. Er kann mit anderen Steinen zusammen aufgeschichtet werden zur Errichtung eines Grabhügels oder eines 10 11

Ebenda, S. 143. Ebenda, S. 145–146.

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§ 43. Utilitas

Steinwalls. Alle diese Angebote sind miteinander vereinbar. Es lassen sich zwischen ihnen keine scharfen Grenzen ziehen; und auch die willkürlichen Namen, die wir ihnen geben, spielen für die Wahrnehmung keine Rolle. Wenn man weiß, was man mit einem abgesonderten, greifbaren Objekt anstellen kann, wozu es sich verwenden läßt, kann man es nennen, wie man will. Durch die Angebotstheorie entgehen wir dem philosophischen Sumpf, in den wir bei der Annahme fixer Klassen von Objekten, deren jede durch ihre gemeinsamen Merkmale definiert und dann mit einem Namen versehen wurde, gerieten. Wie auch Ludwig Wittgenstein wußte, kann man für eine Klasse von Dingen, der man einen Namen gegeben hat, die notwendigen und hinreichenden Merkmale nicht angeben. 12

Die affordances eines Objekts werden also in enger Verknüpfung mit der Resemantisierungsmöglichkeit desselben Objekts thematisiert. Ein Objekt würde sich in dieser Hinsicht wie ein X herausstellen, das die Anlage einer ständigen, konstruktivistischen Umgestaltung besitzt. In diesem Fall ist es möglich, eine gewisse Nähe zwischen der Vervielfachung der unterschiedlichen, konstruktivistischen »Perspektiven« der Realität und dem »Spiel« der stetigen Resemantisierungen eines Objekts anzunehmen – eine solche, flexible Bedeutungszuschreibung wäre aber nicht willkürlich, sondern eben nach bestimmten »Spielregeln« normiert. Dies lässt eine Idee wieder auftauchen, die sich allem Anschein nach als philosophisches Klischee erübrigt und deren Tragweite jedoch in gewisser Hinsicht noch unbedacht geblieben ist: Ein Objekt – im allgemeinsten und im Folgenden zu präzisierenden Sinne – kann nur vor einem operativen Hintergrund bzw. durch die Handlung verstanden werden, in die es verwickelt ist. Wenn unsere Sprache bspw. sagt: »das Glas steht auf dem Tisch« und nicht »der Tisch steht unter dem Glas« (was aber auch ein wahrer Satz wäre), dann hängt dies sicherlich von zahlreichen linguistischen sowie para- und extralinguistischen Faktoren ab – z. B. von der Tatsache, dass wir es gewohnt sind, Gläser auf Tische zu stellen und nicht Tische unter Gläser zu stellen; und dies liegt weiterhin und nicht zuletzt an dem Umstand, dass das semantische Zentrum des Satzes das Glas und seine Fähigkeit zum Flüssigkeit-Behalten ist, wenn das Glas, was für gewöhnlich der Fall ist, in die Handlung »um einen Tisch sitzen und aus dem Glas trinken« eingebaut ist. 12

Ebenda, S. 145.

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Spielbeteiligung

Es erscheint plausibel zu denken, dass ein in einem Heideggerschen »besorgenden Umgang« angesiedeltes Objekt – was das Glas des obigen Satzes sicherlich ist – eine gewisse Anzahl an unterschiedlichen Verwendungsmodi zulässt. Nach den Vertretern der stärksten konstruktivistischen Positionen wären solche Modi und utilitates potentiell unendlich. Unabhängig von der von einem Objekt X angebotenen Anzahl der konstruktivistischen Möglichkeiten steht aber fest, dass alle möglichen proprietates einem Objekt in der Regel nie gleichzeitig zukommen – es sei denn, dieses Objekt ist der Gott der metaphysischen Tradition oder die absolute Totalität des Seienden. Von dieser Grenzhypothese abgesehen 13 kommt einem Objekt eine eingeschränkte und normalerweise relativ geringe Anzahl an proprietates zu. Man könnte aristotelischerweise vermuten – und das wäre ein weiterer Beweis für unsere (fehlerhafte) Tendenz, die Gegenstände als grammatikalische Subjekte zu denken, denen bestimmte Prädikate zukommen –, dass dies an der Unmöglichkeit liegt, dass sämtliche Eigenschaften eines Objekts demselben Objekt gleichzeitig zukommen, weil unter den sämtlichen Eigenschaften auch widersprüchliche Eigenschaften sind, die sich, wären sie gleichzeitig gegeben, gegenseitig ausschließen würden – ein Glas kann wohl sowohl als »auf dem Tisch stehend« als auch »unter dem Tisch stehend« prädiziert werden, allerdings nicht gleichzeitig. Um aus der strikten Grammatikfalle der aristotelischen Prädikation der Eigenschaften herauszukommen, könnte man die Frage jedoch auf pragmatische Weise behandeln: Es verhält sich so, dass ein Objekt normalerweise nur in einigen Verwendungsmodi angesiedelt ist, und diese letzteren nur ein extrem kleiner Teil sämtlicher potentieller Verwendungsmöglichkeiten desselben Objektes sind. Dies könnte folgendermaßen, auf vereinfachte Weise dargestellt werden (s. Abb. 23). Während der große Kreis die Totalität der Handlungen darstellt, in die ein Objekt verstrickt sein könnte – potentielle Handlungs- und Verwendungsmodi –, repräsentiert der kleine Kreis der Handlungspotentialitäten die eigentliche, »gewöhnliche« utilitas eines Objekts, d. h. die konkreten, faktischen Zuhandenheitsmodi, in denen das Objekt in der Regel vorkommt. Es handelt sich um gewöhnliche operative Zusammenhänge, in denen bei einer bestimmten Konfiguration Welche übrigens auch in Frage gestellt wird, siehe dazu Markus Gabriel: Warum es die Welt nicht gibt, Berlin: Ullstein, 2012.

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§ 43. Utilitas

der Tatsachen eine bestimme Eigenschaft des Objekts »sich eignet …« zu etwas. 14

Abbildung 23

Ein weiteres philosophisches Klischee würde an diesem Punkt suggerieren, dass jede determinatio der »Zugehörigkeit« zu einem Kontext oder »Geeignetheit« eines Objekts auch eine negatio mit sich brächte, da die Determination einer im kleinen Kreis vorkommenden Eigenschaft – ein konkreter und »normaler« Verwendungsmodus des Objekts – die im großen Kreis vorfindlichen Verwendungsmodi im Prinzip ausschließen sollte: Wenn ich das Glas Zum-Trinken verwende, kann ich es doch nicht Zum-Glückwünschen gegen die Wand werfen. Da dasselbe Glas sich zu einer späteren Zeit, wenngleich auf uneigentliche Art und Weise, doch auch Zum-Geworfen-Werden eignet, nachdem ich es gegen die Wand werde geworfen haben – durch Entnahme einer utilitas aus dem großen Kreis –, werde ich es zwar ZumTrinken ungeeignet, doch Zum-Glückwünschen geeignet gemacht haben. Obwohl unsere Sprache, wie im obigen Fall, eigentliche von uneigentlichen Verwendungsmodi unterscheidet, bleibt ein Fakt, dass es jederzeit möglich ist, zu einem Glas zu greifen und es gegen die Wand zu werfen. Das bedeutet, dass die Eigenschaft/Geeignetheit eines Glases, als Flüssigkeitsbehälter und als Glücksbringer verwendet zu werHeidegger besteht im § 18 von Sein und Zeit auf der Geeignetheit des Seienden: »Zuhandenes hat allenfalls Geeignetheiten und Ungeeignetheiten, und seine ›Eigenschaften‹ sind in diesen gleichsam noch gebunden wie die Vorhandenheit als mögliche Seinsart eines Zuhandenen in der Zuhandenheit. Die Dienlichkeit (Verweisung) aber als Zeugverfassung ist auch keine Geeignetheit eines Seienden, sondern die seinsmäßige Bedingung der Möglichkeit dafür, daß es durch Geeignetheiten bestimmt sein kann« (Heidegger 2006, S. 83).

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Spielbeteiligung

den, irgendwie als gleichrangig betrachtet werden können – im Unterschied zu einem Ackerschlepper, dessen Eigenschaften nicht geeignet sind, als Glücksbringer gegen eine Wand geworfen zu werden. Aus diesem Grund scheint das Gegen-die-Wand-Geworfen-WerdenKönnen bei einem Glas eine uneigentliche Eigenschaft zu sein, ist sie aber nicht, wenn man unter Eigenschaft eben das Sich-Eignen-für versteht – sprich die Realisierbarkeit aus einer Potenz, die im gewöhnlichen Alltagsleben unausgedrückt/unentfaltet bleibt, jedoch in latenter Weise immer da ist. Eine derartige mögliche Bestimmung der utilitas eines Objekts ist schon immer im Kreis seiner Verwendungsmöglichkeiten enthalten. Aus diesem Grund sollte man mindestens drei Gruppen von Verwendungsmodi bzw. Determinationen voneinander unterscheiden: »Eigentliche« Verwendungsmodi, »uneigentliche« aber mögliche Verwendungsmodi, hypothetisch rein unmögliche Verwendungsmodi – das Glas wird vermutlich und beim besten Willen nie dazu geeignet sein, als Brennstoff Zum-Feuer-anzünden verwendet zu werden. Diese Frage hat große philosophische Tragweite und ist u. a. in die weitere Frage übersetzbar: Welcher epistemische Mechanismus veranlasst das Erscheinen einer Verwendungspotentialität im kleinen Kreis der konkreten Verwendungen eines Objekts, oder anders gesagt, was ermöglicht es, dass eine Potentialität zu einer konkreten utilitas wird? Dies bringt viele ungelöste Probleme der RealismusRelativismus-Konstruktivismus-Diskussion mit sich, welche um die Frage kreist, ob die Verwendungsmodi eines Objekts potentiell unendlich und willkürlich generierbar oder dagegen eingeschränkt und durch präzise Objektivitätsgesetze normiert sind – solche Regeln oder Gesetze würden sich eben als Einschränkungen der möglichen utilitas eines Gegenstands herauskristallisieren.

§ 44. Aufforderungen und Angebote Jede mögliche oder aktuelle determinatio des Gegenstands ist im Allgemeinen auf einen Hintergrund zurückführbar, den Martinus Langeveld Aufforderungs- oder Angebotscharakter des Dinges definierte. Ein solcher Aufforderungscharakter wird im Aufsatz: »Das Ding in der Welt des Kindes« in entwicklungspsychologischer Hinsicht thematisiert. Das von ihm vorgebrachte Bespiel des Pantoffels – ein Gegenstand, dessen Analyse auch bei neorealistischen Positionen vor220 https://doi.org/10.5771/9783495820704 .

§ 44. Aufforderungen und Angebote

kommt 15, betrifft den Resemantisierungsprozess, dem ein Gegenstand unterliegt und der stetig durch einen immer unterschiedlichen Verwendungsmodus »desselben« Gegenstands ausgelöst wird. Die Idee besteht darin, dass der Gegenstand ein Möglichkeitsspektrum in sich trägt – eine Palette an gewöhnlichen und ungewöhnlichen Potentialitäten – und dass das Kind zum Spiel unter diesen Möglichkeiten einige auswählt. In diesem Sinne wäre es möglich, einen Pantoffel mal als Schuh, mal als Schlagwerkzeug, mal als Puppenwiege zu verwenden: Wählen wir einen Pantoffel; was kann er alles sein: Er kann ein Pantoffel sein, er kann auch ein haariges Etwas sein, auf dem man sabbern kann. Im ersten Falle ist er ein einfacher Gebrauchsgegenstand, im zweiten ein rein Sensuelles-für-mich. Das Kind kann den Pantoffel auch dazu verwenden, einen Nagel einzuschlagen. Jetzt ist der Pantoffel nicht er selbst als Gebrauchsgegenstand, sondern er ist gebrauchter Gegenstand: gewisse objektive Sacheigenschaften – hier der harte Absatz – sind ausgewählt und werden wieder sachgerichtet und sachgerecht angewandt. Er ist deshalb gebrauchter Gegenstand, aber kein Gebrauchsgegenstand, dessen sämtliche Eigenschaften auf einen bestimmten Gestimmten Gebrauch (sic) hin geordnet sind, den Gebrauch als Pantoffel in diesem Falle. Aber das Kind kann auch eine Sacheigenschaft des Pantoffels auswählen, die nun nicht sachgerichtet ihre Verwendung findet: der Pantoffel wird z. B. als kleine Puppenwiege benützt. In diesem Falle bleibt der zur Wiege umgedichtete Pantoffel in dem Weltentwurf des Spieles gedeutet und nicht – wie der als Hammer benützte Pantoffel – in den offenen Weltentwurf aufgenommen und als Werkzeug sachgerichtet gehandhabt. 16

Die von Langeveld ausgeführte subtile Unterscheidung weist darauf hin, dass der Pantoffel im spielerischen Resemantisierungsprozess nicht mehr als Gebrauchsgegenstand sondern als gebrauchter Gegenstand verwendet wird. Die (unscharfe) Differenz zwischen »eigentlicher« und »uneigentlicher« Verwendung eines Gegenstands wird von Langeveld durch die Begriffspaare »sachgerichtet/nicht sachgerichtet« und »sachgerecht/nicht-sachgerecht« wiedergegeben. Das Kind wählt innerhalb des Spektrums der vielfältigen, möglichen Verwendungsmodi einige Eigenschaften/utilitates aus, die für den Erwachsenen unkonventionell und »nicht-sachgerecht« wären (unangemes15 Vgl. Maurizio Ferraris: Das Manifest des neuen Realismus, Frankfurt a. M.: Klostermann, 2014. 16 Martinus Langeveld: »Das Ding in der Welt des Kindes« (1956), in: Studien zur Anthropologie des Kindes, Tübingen: Niemeyer, 1968, S. 144–145.

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Spielbeteiligung

sen, uneigentlich, ungemäß). Es ist klar, dass das Kind bei diesem Spielumstand etwas grundsätzlich Ungerechtes tut. Dies betrifft auch die Nomenklatur: Innerhalb der Spiel(-fiktion?) wird der Pantoffel nicht als solcher benannt, sondern ihm werden anderweitige Bezeichnungen zugeschrieben (Hammer, Wiege usw.). Der Angebotscharakter von Langeveld ist nicht nur ein wichtiger philosophischer Vorgänger der affordance Gibsons. Diese Kategorie weist auch auf die Resemantisierungsarbeit des Kindes hin (was hier als Auswahl unter unkonventionellen affordances zu verstehen ist). Langeveld benennt diesen Prozess unverbindliche Sinngebung – im Unterschied zur offenen Sinngebung. Während die offene Sinngebung, »diejenige Deutung [ist], die wir im offenen Zusammenleben, in offener gemeinschaftlicher Arbeit mir den Mitmenschen aufbauen« 17, welche »im Einverständnis entsteht und besteht« 18, überschreitet die unverbindliche Sinngebung auch die Grenzen der »offenen«: Sie ist nur der Welt gegenüber unverbindlich, sie ist aber keineswegs strukturlos. Ich meine hier das Weltbild des Spiels. Wir sehen, wie die Dinge dort keine feste Bedeutung haben. Was jetzt in offener Sinngebung ein Messer heißt, kann bald eine Brücke, eine Schranke, ein Soldat, ein Haus sein. Man kann aber nichtsdestoweniger nur spielen, indem man auf die Sinngebungen des Spielgenossen eingeht. Unverbindlich ist diese Sinngebung also nur nach außen, d. h. nach der offenen Sinngebung hin. Verbindlich ist sie in Bezug auf ihre eigene Axiomatik. Wenn ein Kind mit einem Bleistift ›Brücke‹ spielt, kann nur derjenige mitspielen, der auf diese Sinngebung eingeht. Es bleibt aber nur so lange ›Spiel‹, wie der Weg zur offenen Sinngebung offen bleibt. Wenn der Bleistift nicht mehr Bleistift werden kann, treten wir in den Wahn – auch eine Sinngebung, aber eine sehr eingeschränkte. 19

Absolut relevant ist dabei der Umstand, dass von Spieldimension insofern die Rede ist, als ein Einverständnis notwendig ist: Man kann einen Stift so wahrnehmen und verwenden, als wäre er eine Brücke, nur wenn man gedanklich mitspielt. In diesem Sinne ist die Axiomatik verbindlich. Dass es sich hier um ein Spiel handelt, ist übrigens der Beweis, dass dieses eine eingeschränkte Dauer 20 hat: Nachdem das Ebenda, S. 143. Ebenda. 19 Ebenda, S. 143–144. 20 Dies ist eben eins der entscheidenden Merkmale des Spiels: »In der Sphäre eines Spiels haben die Gesetze und Gebräuche des gewöhnlichen Lebens keine Geltung. 17 18

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§ 45. Unbekümmertheit

Semantisierungspiel irgendwann zu Ende ist, zieht sich die Sinngebung »Brücke« zurück, und diese wird wieder zu einem Stift. Im hypothetischen Fall eines unbestimmten Fortdauerns der »uneigentlichen« Interpretation des Gegenstands würde es sich nämlich um die Dimension des »Wahns« handeln – der aus diesem Grund nicht als von jeglicher Sinngebung losgelöste Paranoia zu betrachten ist, sondern auch als bestimmte, wenngleich uneingeschränkte Sinngebungsform. Langeveld erörtert insgesamt vier Sinngebungen, sprich: Interpretationsszenarien und -modalitäten. Entscheidend ist aber, abgesehen von den jeweiligen Differenzen, dass selbst die »unverbindliche« Sinngebung sich nicht als strukturlos erweist. Nun ist es wichtig, den strukturierten und jedoch nicht verbindlichen Charakter dieser Sinngebung im Auge zu behalten, bei dem die philosophischen Vorläufer des Aufforderungscharakters entstehen.

§ 45. Unbekümmertheit Die »unverbindliche Sinngebung« von Langeveld findet an einer anderen Stelle einen wichtigen Vorläufer. Auch in diesem Falle handelt es sich um eine kaum bekannte Figur, die in einem entwicklungspsychologischen Kontext und genauer im sechsten Abschnitt von Willam und Clara Stern (»Spiel und Phantasie«, siehe besonders Kapitel XIX, »Eigenschaften der frühkindlichen Phantasie«) durch den geglückten Ausdruck Unbekümmertheit evoziert wird. »Unbekümmertheit« ist nicht, wie affordance, eine linguistische Neuprägung. Dieser bereits existente Terminus der deutschen Sprache wird jedoch von Stern auf etwas kühne Art und Weise – man könnte sagen, wiederum und meta-linguistisch in einer »unbekümmerten« Art, die der Autor selber nicht zu merken scheint – gedeutet. Sterns Kategorie der »Unbekümmertheit« ist eine metaphorisch sorglose und leichtsinnige Bedeutungszuschreibung der Gegenstände. Eine »unbekümmerte« Interpretationsarbeit wird vom Kind in-

Wir ›sind‹ und wir ›machen‹ es ›anders‹. Diese zeitweilige Aufhebung der ›gewöhnlichen Welt‹ ist bereits im Kinderleben völlig ausgebildet, ebenso deutlich sieht man sie aber bei den großen, im Kult verankerten Spielen der Naturvölker« (Johan Huizinga: Homo ludens. Vom Ursprung der Kultur im Spiel, Hamburg: Rowohlt, 1956, 201524, S. 21).

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Spielbeteiligung

nerhalb des Spiels geleistet, also derjenigen Handlung, in der das Kind sorg- und kummerlos gegenüber den eigentlichen, von der ordinary language festgelegten Bedeutungen/utilitates der Gegenstände agiert: Das kleine Kind zeigt nämlich auffällige Unbekümmertheit um die Beschaffenheit des äußeren Objektes, an welches sich die Phantasievorstellung knüpft. Irgendeine Zufallsform eines zerrissenen Papierstückchens wird als ›Schuh‹ begrüßt – für unser Auge ist nur eine ganz entfernte Ähnlichkeit vorhanden. Ein Kreis mit vier kleinen Strichen darin, den das Kind zustande gebracht hat, gilt ohne jedes Bedenken als ›Gesicht‹, vielleicht sogar als das des kleinen Bruders. Zwischen dem Stecken, auf dem der Knabe reitet, und einem Pferd fehlt so gut wie jede Übereinstimmung; der Umstand, daß man den Stecken zwischen die Beine nehmen kann, genügt, um die Phantasievorstellung zu realisieren. 21

Das Kinderspiel und seine Ausrichtung an einem »Unbekümmertheitsprinzip« bzgl. der Bedeutungs- und Identitätseigenschaften der Objekte setzt nämlich »eigenschaftsarme« Spielgegenstände voraus, die keine komplex differenzierte Beschaffenheit aufweisen. Nur derartige Objekte passen zu einer Eingliederung in die kindliche Interpretationsarbeit – oft in der Rolle des zentralen Elements des Spiels und in einer Funktion, die der »bekümmerte«, d. h. bedeutungsbefangene Erwachsene (verfangen in der gängigen Bedeutung) nicht erblicken kann. Was die Aktivierung der »gespielten« Bedeutung ermöglicht, ist eben eine ausgeprägte »Unbekümmertheit« gegenüber der Beschaffenheit des Gegenstands; diese agiert sich gerade aufgrund der relativen Dürftigkeit des Objektes ziemlich hindernislos aus. Der Gegenstand eignet sich umso besser zur Resemantisierung eben aufgrund seiner semantischen Unbestimmtheit: Man erblickt in dieser Unbekümmertheit einen Vorzug der kindlichen Phantasie, und mit Recht, da sie zeigt, wie beweglich, wie stark aus dem Innern quellend das Vorstellungsleben schon um jene Zeit ist. Aber man darf andererseits nicht übersehen, daß der ganze Prozeß ermöglicht wird durch die relative Dürftigkeit des dabei vorgestellten Inhalts. Hätte das kleine Kind wirklich eine scharf umrissene Form- oder Farbenvorstellung von Schuhen, dann würde der Anblick des Papierfetzens nicht so leicht zur Vorstellung ›Schuh‹ führen; es würden die abweichenden Merkmale sofort eine psychische Hemmung bewirken. Und der Stecken als Reitpferd stört den Clara/William Stern: Psychologie der frühen Kindheit bis zum sechsten Lebensjahr, Leipzig: Quelle & Meyer, 1914, S. 235–236.

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§ 45. Unbekümmertheit

kleinen Jungen nur deshalb nicht, weil neben dem Hauptmerkmal der Pferdevorstellung, dem Darauf-Reitenkönnen, alle anderen Inhalte, namentlich die der speziellen Pferdegestalt, weit zurücktreten. 22

Die Unbekümmertheit expliziert sich dann auf unterschiedlichen Stufen und nach präzisen logischen Modalitäten: Es ist schon eine höhere Stufe der Entwicklung, wenn das Kind von der Nicht-Übereinstimmung zwischen Phantasiereiz und Phantasievorstellung ein Bewußtsein hat, sich aber nicht durch sie stören lässt. Auf dieser Stufe sinkt das Objekt lediglich zum Symbol herab, zu einem äußeren Anknüpfungs- oder Auslösungspunkt für die reiche innerliche Vorstellungstätigkeit. Das Kind, das drei Stühle hintereinander stellt, um ›Eisenbahn‹ zu spielen, weiß wohl, daß die Eisenbahn ganz anders aussieht; aber es abstrahiert von den Unterschieden, um das eine ihm wesentlich erscheinende Merkmal, die Hintereinanderreihung, als greifbare Grundlage für seine Spielphantasie zu benutzen. 23

Die Unbekümmerheit nimmt auch radikalere Formen an, wie bspw. die Fabulierung und die willkürliche Generierung semantischer Phantasien: Der höchste Grad dieser Unbekümmertheit liegt dort vor, wo die Phantasie überhaupt auf einen gegenständlichen Ansatzpunkt verzichtet und gerade halluzinationsähnliche Leistungen ermöglicht. Wenn das Kind beginnt zu fabulieren […] Eine besondere Tönung enthält der halluzinatorische Zug in der Spielphantasie. Hier gibt es in der Tat ein Hantieren mit dem Nichts – z. B. das Spielen mit dem fingierten Ball; es kann mit derselben Inbrunst und Hingebung betrieben werden, als ob das reale Spielobjekt zur Verfügung stünde. 24

Stern besteht auf dem armen, »bedürftigen« Bedeutungscharakter der Gegenstände, die ins Spiel gebracht werden: In dieser Perspektive gibt es kein besseres Spielzeug als das Naturelement, das wegen seiner einfachen Struktur zu vielfältigen Verwendungsmodi und somit Resemantisierungen geeignet ist. Das Spiel ist gleichsam der Prüfstand zweier Phänomene, die eine ausgeprägte philosophische Valenz haben: Einerseits erfährt das Kind die Plastizität des Seienden gegenüber der operativen Handlung, andererseits meldet sich die Idee eines

22 23 24

Ebenda, S. 236. Ebenda, S. 236–237. Ebenda, S. 237–238.

225 https://doi.org/10.5771/9783495820704 .

Spielbeteiligung

ontologisch Umfassenden an, das besondere Verwendungen ermöglicht: Die Unbekümmertheit der Phantasie bringt es mit sich, daß es kein idealeres Spielzeug gibt als die formlose Materie, die das Kind beliebig in seine Gewalt nehmen und in die es alles hineinlegen kann, was seine Phantasie ihm vorspiegelt. Das ist das Papier, das zerrissen, gefaltet, geknüllt, geklebt, bekritzelt werden kann; der Sand, der geschaufelt, geformt, geknetet, gestreut wird; das Wasser, der Ton, der Schnee – welche unerschöpflichen Stoffe für kindliche Phantasiefreuden! Es ist doch kein Zufall, daß nirgends Kinder der verschiedensten Altersstufen glücklicher, ausdauernder im Spiel und darum artiger sind als im Meeresstrand, wo sie Woche auf Woche die unendlichen Spielmöglichkeiten des Sandes und Wassers auskosten. 25

Dieses Schema erklärt unmittelbar, aus welchem Grund das Kind einfache Gegenstände (wie einen Stock) favorisiert und, in höherem Grade, höchst einfache Gegenstände wie die Naturelemente (Wasser, Sand, Schnee usw.). Solche »Spielzeuge« eignen sich, kraft ihrer Einfachheit (oder anders gesagt, ihres breiten affordances-Spektrums), zu zahlreichen und vielfältigen Verwendungen. Nun wäre aber zu fragen, ob Stern einer solchen Unbekümmertheit Grenzen setzt. Oder, um die Frage in (neu)realistischer Weise zu stellen: Inwiefern ist das Spektrum der semantischen Möglichkeiten um einen noch unbestimmten Gegenstand X eingeschränkt? Kann eine Hand voll Sand als Hammer verwendet werden, d. h. ist im Möglichkeitsspektrum des Sandes irgendeine affordance zur Härte, Greifbarkeit usw. auffindbar? Die Beantwortung dieser Frage mit Nein würde ein Prinzip der Interpretationseindämmung etablieren: Die Unbekümmertheit deckt sich nicht mit Willkür. Es ist jedoch sinnvoll, auf der semantischen Logik der unbekümmerten Eigenschaftszuschreibung des Gegenstands weiter zu insistieren. Wenn man ein »Etwas« als »Etwas Anderes« intendiert, schreibt man diesem Etwas Eigenschaften zu, die diesem i. d. R. nicht zukommen, was auch eine Forcierung der gängigen utilitas mit sich bringt, welche erweitert oder negiert wird. Dieser Dynamik der unbekümmerten Semantisierung liegt eine bestimmte Logik zugrunde, die auch in weiteren, prominten loci der Hermeneutik zu Tage gebracht wurde.

25

Ebenda, S. 239–240.

226 https://doi.org/10.5771/9783495820704 .

§ 46. Prädikation

§ 46. Prädikation Ein Pantoffel, der auf ungeeignete Art und Weise zum Hämmern verwendet wird, ist ein (schlechter) Hammer. Ein Hammer, der auf ungeeignete Art und Weise zur körperlichen Verletzung verwendet wird, ist eine (sehr gute) Waffe. Eine Waffe, die auf ungeeignete Art und Weise im Rahmen einer Kunstausstellung oder performance beim Ludwig Museum in Köln verwendet wird, ist ein (mehr oder weniger guter) Aufruf gegen die Absurdität des Krieges. Solche banalen Beispiele könnten vermehrt werden. Sie verdeutlichen jedoch bereits, dass die utilitas, die Bedeutung und die Wahrnehmung der betroffenen Objekte – bis zum Objekt »Kunstwerk« hin – oft heteronome Wege einschlägt. Bei jeder Festlegung irgendeiner utilitas schreibt man dem Gegenstand bisher nicht zugeschriebene und anerkannte Eigenschaften zu. Im Falle des Pantoffels, der zum Hammer wird, könnten dafür die Plattheit der Sohle und die Möglichkeit zum Ergreifen entscheidend sein. Dann geschieht Folgendes: Im Zusammenhang mit einer Eigenschaft, die zum Laufen relevant ist (Plattheit), wird eine weitere Eigenschaft ans Tageslicht gebracht, die zum Laufen irrelevant ist (die Möglichkeit zum Ergreifen). Beide Eigenschaften des Pantoffels, die zum Laufen relevante genauso wie die irrelevante, tragen dazu bei, einen unbekümmerten Verwendungsmodus des Pantoffels als Hammer zu haben, der nicht Ergebnis einer absoluten Willkür ist, sondern sogar einige Eigenschaftszüge des gängigen und eigentlichen Verwendungsmodus, sprich: Angebotscharakters beibehält. Dasselbe gilt für die anderen Beispiele, bei denen der Wechsel von utilitas zu utilitas gelungener ist: Ein als Waffe verwendeter Hammer soll genauso hart wie ein als Hammer verwendeter Hammer sein; eine als Kunstwerk verwendete Waffe soll im Prinzip genauso tauglich zur Verletzung wie eine als Waffe verwendete Waffe sein, wenn diese innerhalb der Kunstausstellung als glaubwürdiges Element gelten soll. Es wird aber die Frage gestellt, auf welchem Wege solche Eigenschaften/utilitates zugeschrieben werden. Außer der pragmatischen Handlung, in der bestimmte affordances sich zeigen, gibt es eine weitere Ebene der semantischen Konstituierung der Gegenstandseigenschaften. Eine Eigenschaft ist im Grunde eine (semantische) Prädikation, die durch einen (pragmatischen) Verwendungsmodus entsteht. Aus diesem Grund kann eine Eigenschaft nie von der Handlung abge227 https://doi.org/10.5771/9783495820704 .

Spielbeteiligung

trennt werden, die die »Gegenstandseinheit« betrifft – eine Einheit (Gegenstand + Handlung), deren Einheitlichkeit jedoch nicht als Abgeschlossenheit zu verstehen ist. Aron Gurwitsch stellte eine ähnliche Frage in seiner Habilitationsschrift Die mitmenschlichen Beziehungen in der Milieuwelt: Die Bestimmung des Milieudings als Zeug, welches durch seinen Gebrauch gekennzeichnet wird, wird durch die Befunde der kindlichen Sprache vor der Ausbildung der ›Nennfunktion‹ bestätigt. Weil das Kind durchbildete, sich voneinander eindeutig und prägnant abhebende ›stabile‹ Einheiten wahrnimmt, kann es nach den Namen dieser Einheiten fragen, d. h. jeder solchen Einheit einen Namen zuordnen, aber nicht als ein äußerliches Etikett, sondern eher als Eigenschaft dieser Einheit. […] Diese kindlichen Sprachäußerungen gehen immer auf das, was die betreffenden ›Dinge‹ tun oder was man mit ihnen tun kann. Entsprechend gehen die Bestände der kindlichen Welt ganz in dem Geschehen auf, das an ihnen vorgeht, sie sind geradezu nichts anderes als dieses Geschehen, sie sind völlig darin hineingezogen. 26

In dieser Perspektive bringen die Ausdrücke der Kindersprache, die sich auf bestimmte Gegenstände beziehen, operative Möglichkeiten derselben Gegenstände ans Licht – bis der Gegenstand als »stabile Einheit« mit der Handlung in eins fallen wird. Die Eigenschaftszuschreibung eines Objekts, das eine »stabile Einheit« wird, stellt ein späteres Stadium der kindlichen Sprachentwicklung dar und konfiguriert sich eben als Konkretisierung oder Koagulation einer fließenden Handlung, die am Gegenstand »gerinnt« und somit an den Gegenstand angehaftet wird – und später vom selben Gegenstand abgelöst werden kann. Diese Dynamik wird von Gurwitsch in Bezug auf Sterns Unbekümmertheit geschildert: Dabei ist die Spielphantasie des Kindes von dem beherrscht, was Stern ihre ›Unbekümmertheit‹ nennt: ein Stückchen zerrissenes Papier wird als Schuh angesprochen, eine Reihe von Stühlen stellt einen Eisenbahnzug dar, ein Stock, den das Kind zwischen den Beinen nimmt, ein Pferd usw. Diese Augenblickswelten sind aber im höchsten Maße labil und lösen sich sprunghaft ab: ein viereckiges Stück Holz ist bald ein Ball, dann ein Hut, dann ein Geldstück usw. Dasselbe Stückchen Holz, das soeben noch ein ›Kind‹ war und gepflegt wurde, wird im nächsten Augenblick vom spielenden Kind selbst zerschnitzt und in den Ofen geworfen. 27

Aron Gurwitsch: Die mitmenschlichen Begegnungen in der Milieuwelt, Berlin: De Gruyter, 1976, S. 98–99. 27 Ebenda, S. 99. 26

228 https://doi.org/10.5771/9783495820704 .

§ 46. Prädikation

Der sich von diesem in vielerlei Hinsicht vor-linguistischen Hintergrund abhebende Dingbegriff ist keine Substanz mit fixen Eigenschaften/Attributen, sondern der Gegenstand wird als »ständiger Wechsel der Augenblickswelten« betrachtet: Weil das Kind das, was wir als dasselbe Stück Holz bezeichnen, bald so und bald anders behandelt, zeigt es sich, daß es für es kein konstantes Ding mit festen Eigenschaften ist, sondern im ständigen Wechsel der Augenblickswelten bald zu diesem und bald zu jenem wird […] Die Bestände der Umwelt, in der das Kind lebt, sind nicht durch sachhafte, ihnen ein für allemal zukommende Beschaffenheiten gekennzeichnet, sie sind keine Substanzen mit Attributen, sondern jeweils das, als was sie behandelt werden. 28

Man könnte die Frage stellen, ob dieser Koagulierungsprozess, der mit der Fähigkeit zur Benennung der Dinge einhergeht, nur in der Entwicklungspsychologie gilt. Eine ähnliche Dynamik lässt sich als Thema auch im historisch-hermeneutischen Rahmen auffinden. Was in der Philosophiegeschichte als der Übergang vom mythischen zum rationalen Denken thematisiert wird, weist u. a. die Züge des Wechsels von der griechischen πρᾶγματα-Dingauffassung in die »Gerinnung« der Handlung in einer bestimmten Objekteigenschaft. Es eröffnet sich hierbei ein Forschungsszenario, das die Zwecke der vorliegenden Untersuchung sprengen und auf eine gewisse Interpretation von Heideggers Konzept der Auflockerung hinführen würde – »Auflockerung« wäre in dieser Hinsicht als Verdrehung und Eröffnung der oben erwähnten substanzialistischen semantischen Strukturen zu verstehen. Dieser Ansatz bietet auch fruchtbare Anwendungen in der Semantik an, wo etliche Theorien möglich wären, die sich nicht mehr am Substantiv und seinen Attributen ausrichten, sondern sich um das in einem breiteren und über die Sachbezüglichkeitsgrammatik hinausgehenden Rahmen angesiedelten »Ding« entwickeln. Diese Idee lässt sich auch in der Entwicklungspsychologie vorfinden, bei der das Ding eine Einheit mit der Handlung darstellt, und diese letztere das Ding strukturiert. Ein derartiges Konzept kommt bspw. in Piagets Schriften vor, da das sensomotorische Stadium beim Kind keine Differenzierung zwischen den Gegenstandseigenschaften und den von solchen Eigenschaften ausgelösten subjektiven Handlungen vorsieht. Solche Eigen-

28

Ebenda.

229 https://doi.org/10.5771/9783495820704 .

Spielbeteiligung

schaften werden erst in einem späteren Entwicklungsstadium aus den tragenden Subjekten abstrahiert. 29 Was in der Regel als »Eigenschaft« definiert wird, scheint sich letztendlich als Hypostasierung einer utilitas des Dinges und seines »Verhaltens« 30 im Rahmen der pragmatischen Handlung herauszukristallisieren. An diesem Punkt erscheint es klar, wie der Begriff der »Eigenschaft« im Sinne eines Attributs sich nur innerhalb eines Denkschemas konstituieren kann, das an der Subjekt-Objekt-Aufspaltung orientiert ist, und zwar, weil die Grenzen zwischen Subjekt und Objekt innerhalb der pragmatischen Handlung schattiert sind. Die von Aristoteles abzuleitende Idee, dass der Gegenstand eine substantielle Einheit mit zukommenden und daraus abstrahierenden Eigenschaften sei, hat semantische Strukturen des Aussagesatzes generiert; diese können durch performative linguistische Figuren (Frage, Imperativ usw.) überwunden werden, die anderweitige und nichtsubstanzbezogene Dingbegriffe voraussetzen. 31 Der substanzbezogene Dingbegriff stützt sich somit nicht nur auf die Subjekt-ObjektAufspaltung, sondern auch auf die Trennung des Subjektes von seinen Prädikaten. In dem Augenblick, in dem die Identität eines Dinges und der »Umgang« damit sich entzweien – und es deshalb damit aufhört, eine Identität zu sein –, wird diese in einem Gegenstand objektiviert. Erst dann können die Eigenschaften als vom Subjekt unabhängige, losgelöste Entitäten zu Tage treten – indem diese Eigenschaften zu »Universalia« werden, die auch auf andere Objekte bezogen werden können: Die Eigenschaft des »Warm-Seins« kommt nicht ausschließlich dem Objekt A zu, sondern bezieht sich auch die Objekte B, C, D usw. Auf der anderen Seite konstituieren sich ebenso Gegenstände, die dazu fähig sind, Eigenschaften nach dem Schema des »Zukommens« der Eigenschaft dem Objekt zu haben. Es handelt sich hier um ein hermeneutisches Paradigma, welches in unterschiedlichen philosophischen Bereichen Fuß gefasst hat und dementsprechend einen gewissen Geltungsanspruch erahnen ließe. Dieser Prozess wird sogar in der dialogischen Sprachphilosophie Bubers analysiert – kein zufälliger Umstand, der bestätigt, dass jede hermeneutische Erweiterung zur dialogisch-pluralen Dimension eine Revision, wenn nicht 29 Vgl. Jean Piaget: Abriß der genetischen Psychologie, Olten/Freiburg im Breisgau: Walter, 1974. 30 Verhalten als Sach-Verhalten. 31 Vgl. Tidona 2014.

230 https://doi.org/10.5771/9783495820704 .

§ 46. Prädikation

eine Überwindung, des alten Subjekt-Objekt-Aufspaltungsschemas und der daran orientierten Objektsemantiken erfordert: »Man darf vermuten, daß sich die Beziehungen und Begriffe, aber auch die Vorstellungen von Personen und Dingen aus Vorstellungen von Beziehungsvorgängen und Beziehungszuständen herausgelöst haben«. 32 Die Verobjektivierung der sogenannten Eigenschaften geht mit dem Abbau der Gegenstand-Handlung-Einheit einher: Es handelt sich um einen ursprünglichen Sachverhalt, der wortwörtlich wie ein Verhalten des Dinges zu nehmen ist – sowohl als Aktivität des Dinges (welches keine starre, »stabile Einheit« ist), als auch als das Sich-Tragen des Dinges zusammen mit anderen Dingen in einer holistisch-pragmatischen Verwicklung. Das auf die Bildung des Substanz-Attribut-Begriffes führende hermeneutische Schema – das in der Sprache der Bildung von Substantiven und Prädikaten entspricht – ist aber noch älter. Auch Giambattista Vico, wahrscheinlich der allererste Konstruktivist, thematisiert diesen Aspekt in Bezug auf das genealogische Moment der Gegenstandseigenschaften: VI. Die Ungeheuer und die poetischen Verwandlungen entsprangen notwendig aus einer solchen ersten menschlichen Natur; von ihr haben wir in den Grundsätzen bewiesen, daß die mit ihr Augestatteten die Formen und Eigenschaften nicht von den Subjekten zu abstrahieren vermochten; daher mußten sie nach ihrer Logik die Subjekte zusammensetzen, um ihre Formen zusammenzusetzen, oder ein Subjekt zerstören, um seine ursprüngliche Form von der entgegengesetzten, die eingedrungen war, zu trennen. 33

Die »erste menschliche Natur« ist nicht in der Lage, das Akzidens von der Substanz zu trennen – oder das Prädikat vom Subjekt, was eine der relevanten Leistungen der hypokeimenon-Theorie bei Aristoteles ist. Dass im Bewusstsein dieser Differenz ein regelrechter epistemischer Übergang zu sehen ist, wird auch von Bruno Snell in absoluter Konkordanz mit Vicos Überlegungen hervorgehoben: Das rationale Denken versucht einen Charakter dadurch zu schildern, daß es ihn zerlegt in verschiedene auch sonst vorkommende Eigenschaften und Kräfte, und da es unterscheidet zwischen Ding und Eigenschaft, zwischen Stoff und Kraft, hat es nichts Anstößiges, verschiedenen Menschen ›dieMartin Buber: Das dialogische Prinzip, Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus, 2009, S. 22–23. 33 Giambattista Vico: Prinzipien einer neuen Wissenschaft über die gemeinsame Natur der Völker, Hamburg: Meiner, 2009, 2. Abschnitt, Poetische Logik, VI, S. 195. 32

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Spielbeteiligung

selbe‹ Eigenschaft oder Kraft zuzuschreiben. Das ursprüngliche Denken, das diese Trennung noch nicht kennt, greift notwendig zu den anschaulichen Ganzheiten, um durch Vergleiche das Besondere deutlich zu machen. 34

Zunächst – und noch innerhalb der ursprünglichen Valenz von Heideggers πρᾶγματα – sind das »Ding« und die Handlung ein einheitliches Ganzes; das, was dem Blick des Erwachsenen als herauskristallisierte Eigenschaft des Dinges erscheint, ist in Wahrheit das Ding selbst in seinem Verhalten vor einem pragmatisch-phänomenologischen Hintergrund. Die Thematisierungen der affordance und der utilitas, Heideggers πρᾶγματα und die Unbekümmertheit entlang der Linie Stern/Langeveld/Gurwitsch gelten als dazu veranlagte philosophische Figuren, den ursprünglichen Sinn einer solchen »relationalen« Dingauffassung aufzuwerten. Die Eigenschaft ist somit, in diesem semantischen Forschungshorizont, das Produkt einer fluiden Handlung oder eines später geronnenen »pragmatischen Verhältnisses«; auf analoge Art und Weise, wie ein solides Material Moleküle enthält, die in einem flüssigen Zustand ein anderes »Verhalten« aufweisen würden. Anhand solcher Überlegungen wäre es schließlich möglich, ein Paradigma der als hypostasierende Gerinnung intendierten semantischen Eigenschaft aufzustellen.

§ 47. Plurale Entwicklungen Ein Gegenstand ist somit ein der Interaktion mit anderen Gegenständen offener Kern. Dies ist ein holistisches Konzept, das an Heideggers Krug erinnert und neulich in die Richtung einer Eröffnung und/oder Wiederaufnahme der Figur des Gestells entwickelt wurde. 35 In einem derartigen Geflecht von Semantik und Ontologie konkretisiert sich ebenfalls eine neue Rolle der Nennfunktion, welche sich nicht auf die adequatio von Attributen und Substanzen beschränkt, sondern in der Verwicklung des Dinges in die Handlung und im vorliegenden Falle in der unbekümmerten Produktion des Aufforderungscharakters besteht.

Bruno Snell: Die Entdeckung des Geistes. Studien zur Entstehung des europäischen Denkens, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1986, S. 187. 35 Siehe Karen Barad: Agentieller Realismus. Über die Bedeutung materiell-diskursiver Praktiken, Berlin: Suhrkamp, 2012. 34

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§ 47. Plurale Entwicklungen

Die Kategorie des Angebots- oder Aufforderungscharakters bietet zahlreiche Anwendungsmöglichkeiten innerhalb der praktischen Philosophie und einen Weg zur Überwindung der klassischen Kategorien der Metaphysik, in erster Linie der Subjekt-Objekt-Aufspaltung und des Gegenstandsbegriffs als permanente Objektivität. Die Auflockerung dieser Spaltung kann darüber hinaus eine ausgeprägte kommunitäre Valenz aufweisen: Es ist kein Zufall, dass der Aufforderungscharakter und die »Unbekümmertheit« zu einer Thematisierung der gemeinsamen spielerischen Verwendung führen. Langeveld bringt das Beispiel der Wippe vor: Es gibt sogar Dinge, die darauf angelegt sind, daß man ihnen gemeinsam begegnet: z. B. die Wippe. Nur in übertragenem Sinne kann man allein auf der Wippe sitzen, sonst muß man dazu immer zu zweit sein. Der Gegenstand zeigt das sogar recht deutlich in seiner Gestalt: zwei Plätze sind angebracht, einer links, einer rechts vom Unterstützungspunkt. Die Wippe schaukelt nur, wenn zwei Spieler da sind, die gemeinsam ihr Wippenspiel betreiben. Die menschliche Gemeinschaft ist hier ganz offenkundig vom Gegenstande her bestimmt als Gemeinsamkeit zweier Spieler. Die Spieler sind vom Gegenstande einander zugeordnet. Ich nenne diese Form der Gemeinschaft: ›Gemeinsamkeit‹. Demgegenüber gibt es eine nicht be-ding-te Gemeinschaft, die wir schlechthin ›Gemeinschaft‹ nennen wollen. Wir denken an die Begrüßung, an den Blick zweier Leute, die sich ansehen, an jede Form menschlichen Zusammenseins, wo das Ding auch sehr wohl vorkommen kann, jedoch ohne dieses Zusammensein zu konstituieren. Die Wippe schafft das ganze Zusammensein, und wenn kein Partner da ist, ist die Wippe eine verlorene Chance, eine demonstrative Unmöglichkeit. Man achte darauf: der Gegenstand erfordert den zweiten Mann. Er tut das ganz konkret. Nun gibt es auch viele Dinge, die zwar auf den Anderen verweisen, deren Verweisungscharakter aber nicht konkret ablesbar und erfahrbar ist. 36

Die Gemeinschaft ist ein be-dingtes Spiel. Dieses Spiel strukturiert sich am Ding, um das die Spielakteure kommunitär kreisen, zum Teil nach Heideggers Schema des Ding/thing oder einfacher gesagt – aber in ontologischer Konkordanz mit Heideggers Ausführungen –, nach der Logik des Ballspiels: Das zeigt uns der Ball sehr deutlich. Als rollende Kugel spricht er die unmittelbare Sprache der pathischen Herausforderung zum Handeln: das Rollende fordert das Stoßen heraus. Aber nun stoßen wir den Ball weit weg – und was geschieht: es kommt ein anderer Mensch, der ihn zu uns zurück-

36

Langeveld 1956, S. 148.

233 https://doi.org/10.5771/9783495820704 .

Spielbeteiligung

rollt. Das ist die Entdeckung einer möglichen Reziprozität, einer möglichen menschlichen Gegenseitigkeit, die im Ball gar nicht ablesbar vorhanden ist wie in der Wippe. Der Ball spielt mit mir, indem er zurückprallt, aufspringt, rollt – aber wenn er weit von uns entfernt ist, führt er manchmal den Mitmenschen zu uns in unsere Welt herein. 37

Langeveld bringt hier ein sozialontologisch eingefärbtes Beispiel vor, und dieses bezieht sich auf eine alles andere als unbekümmerte, sondern gewöhnliche Gegenstands-affordance: Eine normale utilitas. Dies bringt auf der einen Seite den starken Nexus von utilitas/affordance und sozialem Gebrauch ans Licht: In diesem Sinne könnten die sozialontologischen Strukturen als Konkretisierungen der affordance verstanden werden, als Gebrauchsmodi. Auf der anderen Seite wäre es jedoch möglich, die soziale Valenz der gewöhnlichen utilitates in Frage zu stellen, und zwar genau in denjenigen Fällen, in denen diese utilitates forciert werden. Die Frage lautet: Da ein zugeworfener Ball oder irgendein anderer auf gewöhnliche Art und Weise gebrauchter Gegenstand eine be-ding-te Gemeinschaft hervorbringt, inwiefern würde sich diese Gemeinschaftsbildung ändern, wenn dieselben Objekte auf ungewöhnliche Weise verwendet werden würden?

§ 48. Treppen, die keine Treppen sind Dies sollte bedeuten, dass das Miteinandersein in seinen Entfaltungsmodalitäten durch die dingliche Grundlage ermöglicht und geprägt, mit einem Wort: be-dingt wird; ein Nexus, zwischen Ding und Formen des Mitseins, der auch an einer anderen Stelle zum Thema gemacht wurde. 38 Die These Langevelds konvergiert diesbezüglich in dem Bewusstsein eines linearen Verhältnisses von Ding und Gemeinschaft: Dingliche Beschaffenheiten würden die Formen und die Modi des Gemeinschaftlichen bestimmen. Damit ist aber zu wenig gesagt, denn es geht darum, die Mechanismen des Verhältnisses von Ding und Gemeinschaft transparent zu machen. Es fragt sich, inwiefern und durch welche Modalitäten ein Ding durch bestimmte und bestimmende semantische Transformationsstrukturen Mitsein prägen kann. In zweiter Instanz könnte man diese These auch durch ihre Umkehrung ergänzen: Nicht nur das Ding prägt Gemeinschaft, son37 38

Ebenda, S. 148–149. Tidona 2014.

234 https://doi.org/10.5771/9783495820704 .

§ 48. Treppen, die keine Treppen sind

dern gemeinschaftliche Desiderata schlagen auf die dingliche Beschaffenheit durch und etablieren einen semantischen Zirkel. Eine solche, beidseitige Dynamik betrifft auch dasjenige Ding, das das architektonische Element ist. Es zeigt sich, dass selbst eine minimale Abweichung der architektonischen affordance eine Umstellung der gemeinschaftlichen Verwendung eines Elements generieren kann. Um die Dynamik einer Änderung der gemeinschaftlichen Bedingungen durch Abweichungen und/oder Änderungen der affordance eines Objekts zu erläutern, kann man sich an dieser Stelle eine Treppe anschauen. Es ist eine besondere Treppe, die sich in Rom befindet und unter dem Namen von Scalinata di Trinità dei Monti oder einfacher »Spanische Treppe« bekannt ist:

Abbildung 24

Dabei handelt es sich wahrscheinlich um eine der berühmtesten Freitreppen der Welt. Es gilt hier nun, sich die Treppe nicht mit dem Blick des Touristen, sondern des Raumtheoretikers anzuschauen. Ursprünglich diente diese Treppe dazu – gemäß dem Bauauftrag von Papst Benedikt dem XIII., anlässlich des Jubiläums 1725 –, die bourbonische spanische Botschaft mit der Chiesa di Trinità dei Monti zu verbinden. 235 https://doi.org/10.5771/9783495820704 .

Spielbeteiligung

Drei Jahrhunderte nach ihrem Errichten hat sich die Physionomie der Treppe jedoch deutlich geändert. Diese ist heute nicht nur, zusammen mit dem gegenüberliegenden Spanischen Platz, eine der wichtigsten Sehenswürdigkeiten Roms – was noch u. U. eine gewöhnliche affordance eines architektonischen Baues ist: Man baut ein Gebäude zum Wohnen, dies wird aufgrund des Stils und seiner Schönheit zur touristischen Sehenswürdigkeit; man baut eine Kirche zum Beten, dies wird eine vielbesuchte Kathedrale, die nicht nur – und nicht primär – zum Beten da ist. Was aber an der Spanischen Treppe geschehen ist, ist eine regelrechte Umstellung der gängigen affordance einer Treppe. In der Abbildung sind unterschiedliche Menschen bei der Treppe und in der unmittelbaren Nähe zu sehen. Was tun diese Menschen? Einige laufen daran vorbei – sie verwenden die Treppe also strenggenommen nicht, abgesehen von der (mehr oder weniger abgelenkten) Betrachtung derselben. Andere Menschen fotografieren die Treppe, einige schicken sich an, die Treppe hinauf- oder hinabzusteigen (wahrscheinlich mit dem touristischen oder nicht touristischen Zweck, die Kirche oder die Botschaft zu erreichen). Die meisten Menschen, die an der Treppe auf irgendeine Weise verweilen, sitzen jedoch auf der Treppe, und genauer: Sie unterhalten sich, flirten, telefonieren, essen ein Brot. Sie warten auf einen Freund – vielleicht beim Lesen eines Buches. Sie denken nach, tragen Stichworte in ihren Terminkalender ein. Einige Straßenverkäufer verkaufen ihre Ware – einige haben die erforderliche Lizenz dazu, andere nicht. Kurz gesagt führen die meisten Menschen auf und an der Treppe Handlungen aus, die auf einer Treppe normalerweise gar nicht vorkommen. Dieser Umstand – ungewöhnliche und heterogene Verwendungsmodi der Treppe – hängt grundsätzlich davon ab, dass die wichtigste affordance der Treppe stark relativiert bzw. negiert wurde: Während eine Treppe ein Übergangsort ist – Verbindung von A mit B –, wurde die Spanische Treppe hauptsächlich zu einem Aufenthaltsort. Es ist eine ethische Verwendung – Aufenthalt ist ethos, die erste Grundbedeutung des Wortes. Es geht sogar soweit, dass einige Aufenthaltsweisen gesetzlich nicht gestattet sind (bspw. Konsum von Lebensmitteln auf der Treppe, Warenverkauf). Bezüglich der affordance ist aber entscheidend: Ein Übergangsort wurde zum Aufenthaltsort, Wartebereich, zur Flirtzone, Handelszone, zum Nachdenkbereich, Treffpunkt und natürlich auch zur Sehenswürdigkeit. Kurzum, ein Transit-Ort wurde zum gemeinschaftlichen locus. 236 https://doi.org/10.5771/9783495820704 .

§ 48. Treppen, die keine Treppen sind

Wie in der nächsten Abbildung ersichtlich ist, ist die Architektur sehr empfänglich für solche (wie bei der Spanischen Treppe mehr oder weniger zufälligen) affordance-Umwälzungen. Wir wissen nicht, ob der Konstrukteur der Treppe in der Abbildung 25 die Spanische Treppe kannte, sicher ist jedoch, dass in diesem Falle ein gemeinschaftliches Prinzip auf das planhafte Bauen und Gestalten übertragen wurde: Zwei Etagen eines Universitätsgebäudes werden durch eine Treppe miteinander verbunden, die allerdings sowohl Treppe als Übergangsort als auch Treppe als Aufenthaltsort ist. Diese Treppe erfüllt beide Funktionen – wie die Spanische Treppe in Rom –, diese sind jedoch voneinander deutlicher abgegrenzt und unterschieden:

Abbildung 25

Gemäß des architektonischen Leitprinzips form follows function, orientiert sich die Gestaltung dieser »Treppe« (aufgrund des multifunktionellen Wesens gilt es jetzt, Anführungszeichen zu setzen) an beiden vorgesehenen Funktionen des Übergangs und des Aufenthalts. Bezeichnend dafür sind die Stufen der »Treppe«. Diese haben eine sichtbar unterschiedliche Höhe, da die Stufen auf der rechten Seite zum Übergang dienen und somit niedriger und leicht begehbar gewählt sind, während die Höhe der Stufen auf der linken Seite zum Sitzen und Zurücklehnen (sie sind auch mit Kissen ausgestattet) zwei bis dreimal so hoch ist, sodass eigentlich strenggenommen von kei237 https://doi.org/10.5771/9783495820704 .

Spielbeteiligung

nen Stufen die Rede sein kann, sondern vielmehr von Sitzlehnen. Weiterer Beweis dafür ist die Tatsache, dass die linke »Treppen«-Seite keinen obigen Durchgang vorsieht – die linke »Treppe« endet bei einem weiteren, abgeschlossenen Aufenthaltsraum, dessen Eingang durch die rechte, eigentliche Treppe erreichbar ist. Die Konfiguration der »Treppe« passt sich insgesamt an zwei Grundfunktionen an, die sehr unterschiedlich sind: Transit und Verweilen. Man könnte weiter darüber spekulieren, welche Funktionen die Treppe gar nicht erfüllt – z. B. das Begehbar-Sein für Menschen mit Behinderung, wofür die Treppe nicht ausgestattet ist. Abgesehen von diesen Randbemerkungen ist aber wesentlich, dass dieses architektonische Element Formen des Miteinanderseins (bspw. das Sitzen und Sich-über-die-Prüfungen-Unterhalten, Gemeinsam-Lesen und generell Treffpunkt-Sein der linken Seite) durch Negierung der gängigen affordance einer Treppe (»Übergang-Sein«) stiftet. Abweichungen und Änderungen der gängigen affordance eines Objekts stiften gemeinschaftliches Miteinandersein.

§ 49. Stufen, die keine Stufen sind Erfolgen derartige, gemeinschaftsstiftende Abweichungen und Änderungen auf willkürliche Weise, oder könnten sie in einer strukturierten Theorie systematisiert werden? Eine Antwort auf die Frage kann gefunden werden, indem man das architektonische Element als Zeichen betrachtet und mit dem linguistischen Zeichen vergleicht, wie dieses letztere in der kanonischen Definition von De Saussure artikuliert worden ist, nämlich als eine Einheit von Bezeichnendem und Bezeichnetem, welche eine Denotation und eine Konnotation in sich trägt. 39 Der Versuch einer Analogie zwischen Architektur und Sprache als semiotische Systeme wurde von Umberto Eco unternommen und resultiert aufschlussreich für die Klärung beider Systeme im Begriff des Kommunikationssystems. Interessanterweise geht auch Eco von der Notion des Gebrauchsobjektes aus: Das Gebrauchsobjekt ist unter dem Gesichtspunkt der Kommunikation das Signifikans desjenigen exakt und konventionell denotierten Signifikats, das seine Funktion ist. In einem umfassenderen Sinne wurde gesagt, daß das 39 Vgl. Ferdinand de Saussure: Cours de linguistique générale: Studienausgabe in deutscher Sprache, Tübingen: Narr Francke Attempto, 2014.

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§ 49. Stufen, die keine Stufen sind

primäre Signifikat eines Gebäudes die Verrichtungen sind, die es bewohnbar machen (das architektonische Objekt denotiert eine Form des Wohnens). 40

Das architektonische Zeichen – was hier bedeutet: Das einzelne Element einer architektonischen Verrichtung, bspw. die Stufe, auf analoge Weise wie das einzelne Wort ein lingustisches Zeichen, sprich: ein Element innerhalb des Systems »natürliche Sprache« ist – deckt sich mit einer Funktion. Das Bezeichnete des architektonischen Zeichens (bspw. Stufe) ist eine Funktion (bspw. Hinaufsteigen). Es handelt sich hierbei in »kommunikationstheoretischer Terminologie« um eine codifizierte Denotation: Gemäß einer tausendjährigen architektonischen Codifikation denotieren mir Treppe oder schiefe Ebene die Möglichkeit des Hinaufsteigens; ob Sprossenleiter oder Palasttreppe, die Wendeltreppe des Eiffelturms oder die spiralförmige schiefe Ebene des Guggenheim-Museums von F. L. Wright, ich befinde mich immer vor Formen, die auf codifizierte Lösungen einer zu erfüllenden Funktion basieren. […] In kommunikationstheoretischer Terminologie bedeutet der Grundsatz: die Form folgt der Funktion, daß die Form des Objekts nicht nur die Funktion möglich machen muß, sondern sie so eindeutig denotieren muß, daß sie nicht nur möglich, sondern auch wünschenswert wird und zu den Bewegungen führt, die am besten geeignet sind, die Funktion zu erfüllen. 41

Dass »die Form zu den Bewegungen führt«, und zwar in eindeutiger Weise, ist eine Bemerkung, die stark an Gibsons affordance erinnert, die nun auf die Thematisierung des architektonischen Zeichens projiziert wird. Eco geht jedoch darüber hinaus, indem er die Frage stellt, ob dasselbe architektonische Zeichen auch eine anderweitige Funktion denotieren kann, und durch welchen semiotischen Prozess dies ermöglicht wird. Man könnte in diesem Fall von einer »zweiten Denotation« sprechen, die von der ersten unterschiedlich ist und jedoch mit der ersten in einem bestimmten Kontinuitätsverhältnis steht: Alle Genialität eines Architekten oder Designers macht eine neue Form noch nicht funktional (und gibt einer neuen Funktion noch keine Form), wenn sie sich nicht auf vorhandene Codifizierungsprozesse stützt. Ein lustiges, aber schlagendes Beispiel wird von Koenig in Zusammenhang mit Häusern erwähnt, welche von der Cassa del Mezzogiorno für die LandUmberto Eco: »Funktion und Zeichen (Semiotik der Architektur)«, in: Ders., Einführung in die Semiotik, Stuttgart: Fink, 8. Aufl. 1994, S. 306. 41 Ebenda, S. 308. 40

239 https://doi.org/10.5771/9783495820704 .

Spielbeteiligung

bevölkerung gebaut wurden. Die Einheimischen verfügten auf einmal über moderne Häuser mit Bad und Toilette, waren aber gewöhnt, ihre körperlichen Bedürfnisse auf den Feldern zu verrichten, und unvorbereitet auf die mysteriöse Neuerung in Form von Klosettbecken benutzten sie die Klosetts als Spülbecken für Oliven; sie spannten ein Netz aus, auf das die Oliven gelegt wurden, zogen die Wasserspülung und wuschen so das Gemüse. Nun gibt es niemanden, der nicht einsähe, wie perfekt die Form eines normalen Beckens zu seiner Funktion paßt, welche sie suggeriert und nahelegt, so sehr, daß man versucht ist, einen recht tiefen ästhetischen und operativen Zusammenhang zwischen der Form und der Funktion zu erkennen. Aber die Form bezeichnet die Funktion nur auf der Basis eines Systems von erworbenen Erwartungen und Gewohnheiten, also auf der Basis eines Codes. Wenn der Gegenstand von einem anderen Code belegt wird (der zwar nicht vorgesehen, aber auch nicht unsinnig ist), so denotiert das Becken eine andere Funktion. 42

Die »zweite Denotation« eines Klosetts oder einer Stufe ist zwar eine Neuerung des Verwendungsmodus des Gebrauchsgegenstands, diese stützt sich trotzdem auf einen bereits vorhandenen, »nicht vorgesehenen aber auch nicht unsinnigen« Code. Die Produktion unterschiedlicher utilitates des Objekts anhand von abweichenden affordances scheint somit nicht willkürlich zu sein, denn sie ist genauer besehen eine Weiterentwicklung und Erweiterung des gängigen Codes. Dies stellte bereits ein erstes, relevantes Ergebnis für eine Gemeinschaftsstudie dar, denn die Produktion der gemeinschaftlichen Konstellationen – wie im Fall der Treppe, die zum gemeinschaftlichen Treffpunkt wird – bestünde in einer Erweiterung des Codes. Gemeinschaft produziert man durch semiotische Erweiterung. Man könnte nichtsdestotrotz noch einen letzten Schritt gehen. Ein architektonisches Zeichen (bspw. Stufe) hat a) nicht-gemeinschaftsstiftende Denotationen (z. B. Hinaufsteigen), b) gemeinschaftsstiftende Denotationen (z. B. Sitzaufenthalt) und schließlich c) kann auch gemeinschaftsstiftende Konnotationen haben: Wir hatten gesagt, daß der architektonische Gegenstand die Funktion denotieren oder eine bestimmte Ideologie der Funktion konnotieren kann. Aber zweifellos kann er auch andere Dinge konnotieren. Die Höhle, von der wir in unserem hypothetischen Modell sprachen, denotierte schließlich eine Schutzfunktion, aber zweifellos hat sie im Laufe der Zeit auch ›Familie, Gemeinschaftskern, Sicherheit‹ usw. konnotiert. Es ist schwer zu sagen, ob diese ihre konnotative Natur, ihre symbolische ›Funktion‹ weniger ›funk42

Ebenda, S. 308–309.

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§ 49. Stufen, die keine Stufen sind

tionell‹ ist, als die erste. Mit anderen Worten: wenn die Höhle (um einen wirksamen, von Koenig angewandten Begriff zu gebrauchen) eine Utilitas denotiert, muß man sich fragen, ob auf dem Gebiet des Gemeinschaftslebens die mit ihrem Symbolwert verbundene Konnotation von Intimität und Familiarität weniger nützlich ist. Die Konnotation ›Sicherheit‹ und ›Schutz‹ gründet sich auf die Denotation der primären Utilitas, sie erscheint aber deswegen nicht weniger wichtig. Ein Stuhl sagt mir vor allem, daß ich mich darauf setzen kann. Aber wenn der Stuhl ein Thron ist, dient er mir nicht nur zum Sitzen; er ist dazu da, sich mit einer gewissen Würde auf ihn zu setzen und bekräftigt den Akt des ›Mit Würde Sitzens‹ mittels einer Reihe von Nebenzeichen, die Majestät konnotieren (Adler auf den Armlehnen, hohe Rückenlehne mit einer Krone obenauf etc.). 43

Gemeinschaft wird somit nicht nur durch neue Denotationen, sondern auch durch neue Funktionskonnotationen gefördert: Aber die Form dieses Fensters, ihre Anzahl, ihre Anordnung auf der Fassade (Bullaugen, Schießscharten, curtain walls etc.) denotieren nicht nur eine Funktion; sie erinnern auch an bestimmte Vorstellungen von Wohnen und Nutzen; sie konnotieren eine globale Ideologie, welche die Arbeit des Architekten bestimmte. 44

Auch im Fall der Stufe wäre es möglich, solche symbolischen Konnotationen zum Ausdruck zu bringen: Die Stufe ist nicht nur eine Sitzgelegenheit, sondern auch ein bestimmter Treffpunkt, der bspw. von einer bestimmten Gruppe verwendet wird – und nicht von einer anderen, auf ähnliche Art und Weise wie die Sitzordnung einer Schulklasse oder eines Seminarraums bestimmte Sozialverhältnisse zwischen den Sitzenden wiederspiegelt. Es wäre z. B. denkbar, dass auf der Treppe in der Abbildung 25 nur bestimmte Fachschaftstudierende säßen, sodass das Sitzen auf der Stufe zugleich auch »Zugehörigkeit zur Fachschaftgemeinschaft« bedeuten würde. 45 Kurz gesagt, das neu denotierte architektonische Zeichen »Stufe« übernimmt auch symbolische Konnotationen, die für seine »Funktion« im weitesten Sinne ebenso wesentlich sind, wie seine Denotationen: So dehnt sich unter dieser Perspektive die Bezeichnung ›Funktion‹ auf alle kommunikativen Bestimmungen des Gegenstandes aus, vorausgesetzt, daß im Gemeinschaftsleben die ›symbolischen‹ Konnotationen des GebrauchsEbenda, S. 310–311. Ebenda, S. 307. 45 Und zugleich auch Ausschluss aus anderen Gemeinschaftsformen, wenn auf der Treppe nur die Politik-Fachschaft sitzt und nicht die Philosophie-Fachschaft, etc. 43 44

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Spielbeteiligung

gegenstands nicht weniger ›nützlich‹ sind als seine ›funktionellen‹ Denotationen. Es muß klar sein, daß sich die symbolischen Konnotationen als funktionelle verstehen, nicht nur im metaphorischen Sinne, sondern insofern sie einen sozialen Gebrauchswert des Gegenstandes mitteilen, der nicht unmittelbar identisch ist mit der ›Funktion‹ im strengen Sinne. 46

Das Ergebnis lautet: Eine ungewohnte Denotation (Sitzen) anstelle einer gängigen Denotation (Hinaufsteigen) produziert eine nicht gängige Konnotation (Gemeinschaft auf der Treppe). Die be-dingte Gemeinschaft wird durch Änderungen und Erweiterung der Kommunikationsprozesse, die sich um die dinglichen Grundlagen des Spielzeugs und des architektonischen Zeichens herum etablieren. Neue Formen der Spielbeteiligung sind be-ding-te, am Ding orientierte Gemeinschaftsmodi.

46

Eco 1994, S. 311.

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Zehntes Kapitel: Teil. Gemeinschaft als Perlenkette

§ 50. Aristoteles, Löwith und Wittgenstein hätten möglicherweise befreundet sein können In der für die Zwecke dieser Arbeit äußerst fruchtbaren deutschen Sprache zeigt sich eine kuriose semantische Schattierung bzgl. des Substantivs »Teil«. »Teil« hat im Deutschen zwei verschiedene Grundbedeutungen, je nachdem, ob damit »der Teil« oder »das Teil« gemeint ist. Schon auf den ersten Blick scheint dieser semantische Unterschied so subtil, dass er kaum bemerkt wird, sodass es auch im alltäglichen Sprachgebrauch zu Verwirrungen zwischen »der« und »das« Teil kommt. 1 Dies liegt u. a. daran – wenn man sich die DUDEN-Definition anschaut – dass die beiden Begriffe bei bestimmten Sprachverwendungen etliche Überschneidungen aufweisen: Wenn man in einer Bäckerei ein Teil (»das Teil«) bestellt, ist dieses Teil natürlich auch ein Teil (»der Teil«) des Backsortiments. Und plötzlich tritt ein weiterer kurioser Umstand ein: Das semantische Feld des Wortes »das Teil« ist Teil des semantischen Feldes des Wortes »der Teil«. Es wäre durchaus möglich, diese Problematik zuzuspitzen: Das semantische Feld des Wortes »der Teil« scheint im Prinzip alles mit einzuschließen, denn, worüber man auch immer redet, ist das Beredete immer ein Teil von Etwas: Diese eine, bestimmte Rose ist ein Teil der Rosen und der Pflanzenwelt, genauso wie die Gabel ein Teil unseres Bestecks ist – und das Besteck ist wiederum ein Teil der Küchenausstattung, und die Küche ein Teil der Wohnung, die selbstverständlich ein Teil des Gebäudes ist, welches wiederum ein Teil der Stadt, die Zu solchen logischen Verwirrungen des Wort- und Artikelgebrauchs vgl. Bastian Sick: Zwiebelfisch-Abc: »Teil, der/Teil, das«, in Spiegel-Online, 22. 08. 16, http:// www.spiegel.de/kultur/zwiebelfisch/zwiebelfisch-abc-teil-der-teil-das-a-433020. html (zuletzt abgerufen am 2. November 2018).

1

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Teil

wiederum ein Teil des Landes usw., ist. Und, selbst wenn man auf dieser phänomenologisch extrem trivialen und noch unzulänglichen Ebene bleibt, könnte man die Perspektive umkehren: Die Rose kann in Teile zerlegt werden – Blütenblätter –, die wiederum aus kleineren Teilen bestehen – Geweben, Zellen, Molekülen, Atomen. Genauso wie es nicht deutlich ist, wie weit, nach oben, die Teil-Addierung gehen kann: Was ist der oberste Teil, der alle anderen kleineren Teile einschließt? Das Universum? Gott? Der Menschengeist, der Gott denken kann? So wurde selbst im physikalischen Bereich problematisiert, ob das Atom als der kleinste Teil, genauer gesagt als der kleinste, unteilbare Bestandteil des Universums zu betrachten sei, da selbst das Atom, zumindest in bestimmten Atommodellen, aus weiteren kleineren Teilen bestünde – bspw. Elektronen –, d. h. aus Teilen, die weiterhin zerteilt werden könnten, indem man bspw. die Relationen zwischen diesen Teilen ansieht. Der Teilbegriff (im Sinne von »der Teil«) ist aber nicht nur innerhalb der Atomdiskussion ontologisch und/oder physikalisch relevant. Man könnte sogar an Grundgemeinschaftskonzepte denken, die sich an bestimmten Interpretationen des Teils als Element orientieren. Aus diesem Grund wird dieses Kapitel durch eine Teilauffächerung betitelt, welche diesmal ohne weitere Präpositionen vorkommt, da es sich hier um einen grundlegend theoretischen, sprich: noch nicht ethisch-moralisch eingefärbt-differenzierten Begriff handelt. Es gilt nun nachzusehen, was ein Teil eigentlich ist und warum dieser Begriff in ontologisch-gemeinschaftlicher Hinsicht so relevant ist. Zwei Gründe dafür können vorweggenommen werden: Ein Teil definiert sich durch Eigenschaften und ein Teil ist etwas, das in Relationen mit anderen Teilen steht.

§ 51. Element Obwohl die Aussage plakativ und übermutig klingen mag, besteht ein nicht zu unterschätzender und oft allzu gern übersehener – wenn nicht bewusst verneinter – Vorteil der Philosophie darin, dass sie viel genauer als die Wissenschaft ist. Diese Feststellung, die die meisten nicht-philosophischen (und oft leider auch philosophischen) Ohren sicherlich stutzig machen könnte, bewahrheitet sich u. a. beim Begriff des Elements. Während es in der Wissenschaft extrem schwierig ist, zu einer einheitlichen Definition des Atoms als Unteilbares zu kom244 https://doi.org/10.5771/9783495820704 .

§ 51. Element

men – nicht zuletzt weil die Physik mehrere, teilweise sehr unterschiedliche Atommodelle erarbeitet, bei denen sich das Atom als alles andere als ein Unteilbares herausstellt –, war bereits die aristotelische Philosophie in der Lage, einen an Genauigkeit bisher unübertroffenen Atom-Begriff zu liefern. Wir befinden uns im Buch V (und, wie wir sehen werden, per Umkehrschluss auch im Buch VII) der Metaphysik und zwar beim stoicheion-Begriff, der hier zur Heranführung der gemeinschaftlichen munus-Figur der Unterteilung gelten soll: Element wird (1.) dasjenige genannt, woraus als erstem immanenten Bestandteil etwas zusammengesetzt ist, welcher nicht mehr der Art nach in Verschiedenartiges teilbar ist, wie z. B. Elemente (Buchstaben) der Sprachlaute dasjenige sind, woraus die Lauteneinheit zusammengesetzt ist und worin sie zerlegt wird als in die letzten Bestandteile, die sich nicht wieder in verschiedenartige Laute von ihnen auflösen lassen. Vielmehr, selbst wenn man sie teilte, ergäben sich gleichartige Teile, wie vom Wasser jeder Teil wieder Wasser ist, nicht dagegen so von der Silbe. (2.) auf gleiche Weise nennt man auch Elemente der Körper dasjenige, worin die Körper als in die letzten, nicht weiter in Verschiedenartiges auflösbare Bestandteile zerlegt werden; mag deren einer oder mögen ihrer mehrere sein, so nennt man sie Elemente. (3.) […] (b) Hiervon überträgt man den Namen Element auch auf das, was als Eines und Kleines zu vielem brauchbar ist. Deshalb wird das Kleine, Einfache und Unteilbare Element genannt. 2

Laut Aristoteles ist ein Teil etwas, das nicht in verschiedenartige Bestandteile teilbar ist. Sollte ein so gearteter Teil hypothetischerweise doch geteilt werden, ergäben sich gleichartige Bestandteile. Man kann an dieser Stelle von den von Aristoteles angebrachten Beispielen absehen – denn diese könnten für die heutige Wissenssensibilität unangemessen erscheinen –, um vielmehr eine solche Logik des Teils auf den Punkt zu bringen: Diese orientiert sich A) an der Gleichheit/ Verschiedenheit-Opposition und B) am Problem der Zusammensetzung eines Ganzen. A) Die Gleichheit/Verschiedenheit-Opposition betrifft bereits bei Aristoteles die Eigenschaft. Das bedeutet konkret: Sollte etwas in etwas anderes geteilt werden, das wiederum unterschiedliche Eigenschaften hätte als das Geteilte, würde es sich in diesem Falle um kein aristotelisches stoicheion/Element handeln. 2

Aristoteles: Metaphysik, V, Hamburg: Meiner, 1989, S. 187.

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Teil

Man nehme als Beispiel ein Wort. Dieses setzt sich aus weiteren Bestandteilen zusammen, die die Silben sind. Dem Wort kommt aber eine Eigenschaft zu, die den einzelnen Silben nicht zukommt, bspw. die Eigenschaft, ein Bedeutungsträger zu sein (ein Wort hat eine Bedeutung, während eine Silbe keine Bedeutung hat). Worte und Silben weisen somit beim Vergleich einen erheblichen Unterschied auf: Die ersten können Bedeutung tragen, die zweiten nicht. Gegenüber den Silben – oder im Vergleich zu den Silben, und in dieser semantischen Hinsicht – ist das Wort kein stoicheion, weil es eben in Verschiedenartiges – d. h. in ein mit unterschiedlichen Eigenschaften Ausgestattetes – teilbar ist. Das Wort ist nicht ein Element, sondern ein Zusammengesetztes. B) Aber wie verhält sich dasselbe Wort gegenüber dem Satz, in den es eingefügt wird? Auf den ersten Blick würde man sagen, dass ein Wort ein Element desjenigen Ganzen ist, das der Satz bildet. Sollte dem so sein, müsste man sich darum kümmern, einen Eigenschaftsunterschied zwischen dem Satz und dem Wort zu finden – denn beide tragen vermeintlich Bedeutung. Dies wäre möglicherweise aber nicht schwierig, zumindest in strukturalistischer Hinsicht, nach der ein Wort nur innerhalb eines Satzes überhaupt eine Bedeutung haben kann. 3 Selbst wenn diese Problematik geklärt werden würde, bliebe doch die Frage: Ist das Wort ein Zusammengesetzes (wie im Fall A) oder ist es ein Element (wie im Fall B)? Gegenüber den Silben scheint das Wort ein zusammengesetztes Ganzes zu sein. Gegenüber dem Satz scheint das Wort ein Element zu sein. Die Lage verkompliziert sich schnell. Laut Aristoteles können stoicheia nicht weiter zusammengesetzt sein (d. h. sie bestehen nicht aus weiteren Teilen, die unterschiedliche Eigenschaften aufweisen). Stoicheia machen dann ein zusammengesetztes Ganzes zusammen. Dieses Ganze ist aber bekanntlich ein mereologisches Ganzes: Dasjenige, was so zusammengesetzt ist, daß das Ganze eines ist, nicht wie ein Haufen, sondern wie die Silbe, ist nicht nur seine Elemente. 4

3 Vgl. dazu Ferdinand de Saussure: Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft, Berlin/New York: de Gruyter 1971. 4 Aristoteles: Metaphysik, Buch VII, 1041b, Hamburg: Meiner, 2009, S. 77.

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§ 52. Einfach und zusammengesetzt

Eine mereologische Zusammensetzung oder ein mereologisches Ganzes unterscheidet sich nämlich vom Aggregat. Oder, nach einem vulgata-Prinzip: »Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile«. Dies geschieht, weil in dem Ganzen etliche Eigenschaften entstehen, die in den einzelnen Bestandteilen nicht vorfindlich sind. Möchte man einen Kuchen backen, bedürfte man bestimmter Zutaten. Mehl, Zucker, Hefe und Milch könnten bspw. als Elemente/ stoicheia des Kuchens betrachtet werden. Aber wenn man die oben genannten Elemente/Zutaten einfach in eine Schüssel legen würde, wäre ein solcher Mischmasch wahrscheinlich ein Aggregat von Mehl, Milch, Hefe und Zucker, jedoch lange noch kein Kuchen. Stattdessen müsste man ein bestimmtes (einfaches) technisches Verfahren in Gang setzen (das Backen nach einem bestimmten Rezept, also nach bestimmten technischen Schritten), welches ermöglichen würde, dass dieselben Elemente nicht einen Mischmasch, sondern ein mereologisches Ganzes ausmachen. In diesem Ganzen – und dies ist wesentlich – würden dieselben Elemente durch das technische Verfahren andere Eigenschaften als in ihrem Anfangsstadium annehmen: In einem gut gebackenen Kuchen ist das Element »Milch« bspw. nicht mehr flüssig, sondern im soliden Zustand; das Mehl ist kein Pulver mehr, sondern es vermischt sich mit der Milch; und auch die Hefe hat durch das Backen ihre Eigenschaften verändert – es ist kein komisch riechendes und schwer verdauliches Element mehr, sondern etwas, das dem Kuchen eine angenehme Weichheit verleiht und ihn gesund und leicht verdaulich macht. Jede Zutat ist ein Element – auch in Aristotelischer Hinsicht: 10 Grammen Hefe haben im Prinzip dieselben qualitativen Eigenschaften wie 100 Grammen Hefe. Hefe scheint in diesem Beispiel tatsächlich ein stoicheion zu sein. Aber anschließend werden die Elemente eines Aggregats – einzelne, in einen Topf möglicherweise sogar willkürlich gelegte Zutaten – zu Teilen eines mereologischen Ganzen, dessen Mischung »entstehende Eigenschaften« aufweist.

§ 52. Einfach und zusammengesetzt Bevor es hinterfragt wird, ob und inwiefern Gemeinschaft mit einer mereologischen Summe vergleichbar ist, gilt es beim Problem der Zusammensetzung der Teile noch zu verweilen. Ludwig Wittgenstein problematisierte die Kategorie der Zusam247 https://doi.org/10.5771/9783495820704 .

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mensetzung, indem er den Verdacht einimpfte, ob ein Gegenstand überhaupt und auf eindeutige Art und Weise zusammengesetzt sein könnte. Hinsichtlich dieser Problematik könnte man hier zwei augenscheinlich gegenläufige Positionen mit einbeziehen, und zwar die Thematisierung des »Elements« und der »Zusammensetzung« im Tractatus und in den Philosophische Untersuchungen. 5 Im Tractatus stellt Wittgenstein nichts Geringeres als eine Welttheorie auf, die als atomistisch bezeichnet werden könnte. Im Vordergrund seiner Theorie steht die Kategorie des Gegenstands. Ein Gegenstand ist etwas Einfaches – wie es im Folgenden klar sein wird, ist »einfach« im aristotelisch-wittgensteinschen Sinne als Gegenteil von »zusammengesetzt« zu verstehen. Die Welt ist allerdings – auch in logischer Hinsicht – nicht als Summe der einfachen Gegenstände zu verstehen, sondern als diejenige mereologische KonFiguration der Gegenstände, welche in einer bestimmten »Verbindung« dann die Sachverhalte ausmachen. Hierfür reicht ein Blick auf die ersten Tractatus-Propositionen: 1 Die Welt ist alles, was der Fall ist. 1.1 Die Welt ist die Gesamtheit der Tatsachen, nicht der Dinge. 1.11 Die Welt ist durch die Tatsachen bestimmt und dadurch, dass es alle Tatsachen sind. 1.12 Denn, die Gesamtheit der Tatsachen bestimmt, was der Fall ist und auch, was alles nicht der Fall ist. 1.13 Die Tatsachen im logischen Raum sind die Welt. 1.2 Die Welt zerfällt in Tatsachen. 1.21 Eines kann der Fall sein oder nicht der Fall sein und alles Übrige gleich bleiben. 2 Was der Fall ist, die Tatsache, ist das Bestehen von Sachverhalten. 2.01 Der Sachverhalt ist eine Verbindung von Gegenständen. (Sachen, Dingen.) 6

Das nicht teilbare Element (stoicheion) dieses Weltbildes ist der Gegenstand; verschiedene Gegenstände in einer bestimmten Relation bilden einen Sachverhalt (d. h. eine Modalität des Sich-Verhaltens der Gegenstände mit- und untereinander); die Sachverhalte sind die Tatsachen, deren Gesamtheit die Welt konstituiert. Gegenstand, Sachverhalt und Tatsache stehen im hendiadyonischen VerschachteLudwig Wittgenstein: Tractatus logico-philosophicus / Logisch-philosophische Abhandlung, Frankfurt a. M., Suhrkamp, 1963; ders.: Philosophische Untersuchungen, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2003. 6 Wittgenstein 1963, S. 9. 5

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§ 52. Einfach und zusammengesetzt

lungsverhältnis zueinander (vgl. Kapitel über Zweiteilung). Außerdem bezeichnet Wittgenstein den Gegenstand, auf aristotelische Art und Weise, auch als Bestandteil: »Es ist dem Ding wesentlich, der Bestandteil eines Sachverhaltes sein zu können«. 7 Der Gegenstand ist ein stoicheion, weil es nicht teilbar ist: »Der Gegenstand ist einfach« […] »Die Gegenstände bilden die Substanz der Welt. Darum können sie nicht zusammengesetzt sein«. 8 An einer weiteren, bekannten Stelle veranschaulicht Wittgenstein sein logisches Weltbild durch die Metapher der Perlenkette, die in diesem Kapitel eine besondere Valenz hat: »Im Sachverhalt hängen die Gegenstände ineinander, wie die Glieder einer Kette«. 9 »Im Sachverhalt verhalten sich die Gegenstände in bestimmter Art und Weise zueinander«. 10 Es sieht so aus, als ob eine Summe an Perlen erst dann »Welt« ausmachen würde, wenn diese Perlen durch eine Schnur in eine bestimmte Relation eintreten. Die Perlen sind die einfachen Gegenstände, die erst durch eine Schnur-Relation (Konfiguration, Zusammenhang) ihren authentischen Sinn als Perlen einer Kette annehmen. Andernfalls bleiben sie isolierte und verstümmelte, aus dem Zusammenhang der Kette losgerissene stoicheia. Der Gegenstand »Perle« bleibt außerhalb der »Kette«, also außerhalb der Relation, verstümmelt, weil der Gegenstand eine Möglichkeit ist, die erst durch sein Vorkommen in der Kette entfaltet wird: Wenn ich mir den Gegenstand im Verbande des Sachverhalts denken kann, so kann ich ihn nicht außerhalb der Möglichkeit dieses Verbandes denken. Das Ding ist selbständig, insofern es in allen möglichen Sachlagen vorkommen kann, aber diese Form der Selbständigkeit ist eine Form des Zusammenhangs mit dem Sachverhalt, eine Form der Unselbständigkeit. (Es ist unmöglich, dass Worte in zwei verschiedenen Weisen auftreten, allein und im Satz.) Wenn ich den Gegenstand kenne, so kenne ich auch sämtliche Möglichkeiten seines Vorkommens in Sachverhalten. 11

Das Ding/Gegenstand ist auf der einen Seite selbständig, und zwar in dem Sinne, dass es ein im Vergleich zur wechselhaften Konfiguration Festes ist: »Der Gegenstand ist das Feste, Bestehende; die KonfiguraEbenda. Ebenda. 9 Ebenda, S. 13. 10 Ebenda. 11 Ebenda, S. 10. 7 8

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tion ist das Wechselnde, Unbeständige. Die Konfiguration der Gegenstände bildet den Sachverhalt«. 12 Aber der Gegenstand ist auf der anderen Seite auch ein Unbeständiges, denn er bedarf der Schnur – der Relation/Konfiguration mit anderen Gegenständen und des Sachverhalts selbst innerhalb des Sachverhalts –, um als »Perle« der Kette (Welt) zur Geltung kommen zu können. Man könnte auf diesen stichhaltigen Text weiter insistieren und ihn auf unterschiedlichen Ebenen auslegen – wie zum Schluss deutlich wird, wurde dieser Ansatz von Wittgenstein selbst entschieden revidiert. Wichtig ist hier aber, dass der Tractatus eine logische Grundlage liefert, die in gemeinschaftlichen Diskursen höchst anwendbar ist und sich unter der Frage subsumieren lässt: Inwiefern ist eine Gemeinschaft mit der Perlenkette, also mit einem mereologischen Zusammenhang von »selbständigen« und »unselbständigen« Elementen vergleichbar? Dieser Frage gilt es nun nachzugehen.

§ 53. Gemeinschaft als Perlenkette Wenn die Welt ein Ganzes ist, das analog wie eine Perlenkette aus den einzelnen Elementen und aus der Struktur (Schnur), in der die Perlen vorkommen, besteht, dann wäre es möglich, diesen Ansatz auch auf die Menschenwelt zu übertragen – im vorliegenden Fall auf dasjenige Ganze, das die Gemeinschaft ist. Die »Perlen« der Gemeinschaft wären in diesem Fall die »Individuen« (In-Dividuum: »Unteilbares«), die eben nicht in ihrer Abschottung und Abtrennung von der Schnur (vom Gemeinschafts-»Band«?) betrachtet werden, sondern als wesentliche, einfache Bestandeile der Menschenwelt, die ihre Bedeutung – nach Wittgenstein: Ihre »Möglichkeit« – erst in dem mitweltlichen Zusammenhang ausdrücken. Dies wäre ein holistisches Bild der Gemeinschaft: Wollte man das Wort ernst nehmen, wäre eine holistische Gemeinschaft eine Ko-Zugehörigkeit der Teile zueinander und zum Zusammenhang (d. h. zu dem Gemeinschaftsrahmen, zu dem materiellen oder geistigen Band, zum munus-Gegenstand in den unterschiedlichen, bisher thematisierten Ausführungen). Und gerade am Unterschied zwischen einer holistischen und atomaren Auffassung hat sich auch der historische Wechsel von der Gemeinschaft zur Gesellschaft abgespielt: Gesellschaft entsteht dort, wo die holisti12

Ebenda, S. 15.

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§ 53. Gemeinschaft als Perlenkette

schen Bezüge abgetrennt werden und die vom Ganzen isolierten »Perlen« auf »Elfenbein-Stücke« degradiert werden: Die Entwicklung der Geschichte des Abendlands wurde als ein Übergang von der Gemeinschaft zur Gesellschaft, vom Holismus zum individualistischen Atomismus, von den status- zu den contractus-Verhältnissen beschrieben. Auf diese Weise wurden aus dem Ganzen, um einen Ausdruck von K. Polanyi zu verwenden, Teile und Momente ›gerissen‹, die doch an dieses Ganze gebunden und damit verbunden waren, d. h. keine Autonomie außerhalb der Gemeinschaftsstruktur aufwiesen. Damit wurde auch der Wirtschaftsraum autonom gemacht, was die Zersplitterung der Sozialverhältnisse, die Durchsetzung des Individuums als Privater, ein Netz von Relationen zwischen Individuen, die aufgrund des Warenaustausches miteinander verbunden waren, mit sich brachte. Die Verbindung zwischen einem Menschen und einem anderen Menschen konnte der Warenvermittlung nicht mehr entbehren. 13

Die »Fessel der Ware« darf nicht als holistische Struktur dienen, und zwar aus dem einfachen Grund, weil die wirtschaftliche Struktur nur ein abgesonderter Aspekt des mitweltlichen Lebens ist. Das Individuum in einer Gesellschaft resultiert hiernach als selbstständiges Individuum, was hier als eigenständiges einfaches Element verstanden wird, das keine Relationen zum Ganzen unterhält. Aber die (Menschen)Welt ist nicht die Gesamtheit der Dinge, sondern der Tatsachen, d. h. der Relationen, die sich zwischen den Dingen etablieren: Ich werde erst Lehrer (mit der Eigenschaft »Lehrer-Sein« ausgestattet) durch meine Schüler, meine Schwester wird erst durch mein Bruder-Sein zur Schwester. Oder, um es genauer zu formulieren: Erst das Verhältnis der »Lehre« konstituiert die Gegenstände »Lehrer und Schüler« und erst das Verhältnis einer Geschwisterschaft konstituiert so etwas wie »Bruder« und »Schwester«. Die gemeinschaftliche

»Lo sviluppo della storia dell’Occidente è stato descritto come un passaggio dalla comunità alla società, dall’olismo all’atomismo individualistico, dalle relazioni di status a quelle di contractus. In questo modo, per dirla con K. Polanyi, sono state »disincastrate« dall’intero parti e momenti che risultavano in esso vincolati e confusi, cioè senza alcuna autonomia rispetto alla struttura comunitaria. Ciò che si è così autonomizzato è lo spazio economico, che insieme trascina con se la polverizzazione dei rapporti sociali, l’affermazione dell’individuo come privato, una tessitura di relazioni a partire da individui collegati tra loro in virtù dello scambio. Il legame tra uomo e uomo non può fare a meno del vincolo attraverso la mediazione delle merci« (Luigi Ruggiu: »Comunità e spazio sociale« in: Giornale di metafisica 2014, »Comunità e pluralità«, Brescia: Morcelliana, S. 149, übers. v. G. T.). 13

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Struktur (die »Schnur«) ist ursprünglicher als die Elemente, die in dieser Struktur vorkommen: In dieser Hinsicht geht die Gemeinschaft dem Individuum voran; sie bestimmt und erklärt sein Verhalten. Genauer gesagt zeichnet sich die Idee einer Gemeinschaft ab, die keine ›Genese‹ oder ›Genealogie‹ ausgehend von den Individuen erfährt – und dementsprechend ist eine Erklärung über die Entstehung der Gemeinschaft nicht mehr nötig –, sondern die Gemeinschaft erweist sich als kultureller, sozialer, traditioneller Zusammenhang, der schon immer da ist und den Sinn des Menschenlebens bestimmen und orientieren kann. 14

Es handelt sich hier im Grunde und in ihren wesentlichen logischen Zügen um eine aristotelische Idee: »Denn das Ganze ist notwendig ursprünglicher als der Teil«. 15 Dieses »Ganze« bei Aristoteles ist die polis, die aber durch eine Ergänzung dieser Idee anhand von Wittgensteins Ansatz nicht strikt als politisch-räumliches Gebiet zu intendieren ist, sondern als das Verhältnis, das sich zwischen den polites etabliert, was bei Aristoteles bspw. die Isonomie wäre. 16 Das ursprünglich gemeinschaftliche Ganze ist der »Status« (und nicht der »contractus«), d. h. das logisch-kommunitäre Gerüst, an dem die Teile hängen, wie Perlen an einer Kette. »Status« ist hierbei buchstäblich zu verstehen, also nicht als »sozialwirtschaftliche Position«, sondern als Stand im allgemeinsten Sinne, Zustand: Stand-Zu-Etwas: »Die Art und Weise, wie die Gegenstände im Sachverhalt zusammenhängen, ist die Struktur des Sachverhaltes«. 17 Die Frage ist aber: Woran – an welcher Schnur – hängen die Perlen einer Gemeinschaft? Woraus besteht die »Schnur«, die die Struktur der Gemeinschaft verkörpert und aufrechthält? In der Annahme, dass die Schnur ein »Verhältnis« zwischen den Perlen ist, gilt es nun, dieses kommunitäre Stichwort zu präzisieren.

»La comunità, in questa prospettiva, precede l’individuo; ne definisce e ne spiega i comportamenti. Più precisamente, al posto di una »genesi«, di una »genealogia« della comunità a partire dagli individui, al posto cioè di una spiegazione relativa al suo sorgere, si delinea l’idea di una comunità come contesto culturale, sociale, tradizionale, sempre già dato, e capace di orientare e riempire di senso la vita degli esseri umani« (Adriano Fabris: »La comunità paradossale e i suoi problemi« in: Giornale di metafisica 2014, S. 97, übers. v. G. T.). 15 Aristoteles: Politik, 1253 a 20, S. 47. 16 Siehe ebenda, 1255b. 17 Wittgenstein 1967, S. 13. 14

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§ 54. Gemeinschaft als offener und dynamischer Begriff

§ 54. Gemeinschaft als offener und dynamischer Begriff Zur genaueren und phänomenologisch fundierten Erörterung der Kategorie des Verhältnisses kann hierbei ein langes Zitat aus der in sozialontologischer Hinsicht wegweisenden Habilitationsschrift Karl Löwiths Das Individuum in der Rolle des Mitmenschen 18 behilflich sein. Es geht dabei um die Struktur der mitmenschlichen Verhältnisse, aufgrund derer er sich darum kümmert, die opaken semantischen Oszillationen zwischen »Verhältnis«, »Zusammenhang«, »Beziehung« und »Relation« zu klären: Jedes Verhältnis ist ein Zusammenhang, aber nicht jeder Zusammenhangist schon ein Verhältnis. Etwas kann mit Etwas in verschiedenerWeise zusammenhängen. Die zwei Grundweisen des Zusammenhangssind der sachhaltig begründete und der sachhaltig unbegründete, bloß zufällige Zusammenhang. Was bloß in zufälliger Weise zusammenhängt, hängt rein aufgrund des außersachlich gestifteten Zusammenhangszusammen. Wenn ich eine Schnur sinnlos mit einem Holz zusammenbinde, so ist das ein solcher ›bloßer‹ Zusammenhang ohne sachliche ›Beziehung‹ des einen auf das andere; weder bezieht sich dabei die Schnur auf das Holz, noch das Holz auf die Schnur, noch beide aufeinander. Wenn aber die Schnur auf das Holz ›gewickelt‹ ist, so hängt sie mit ihm schon nicht mehr ›bloß‹ zusammen. Als eine aufgewickelte Schnur ist sie auf das, worauf sie gewickelt ist – das Holz – bezogen. Ebenso hängen die Perlen einer Halsschnur nicht ›bloß‹ zusammen, sondern sind in bestimmter Weise ›aufgereiht‹ und so aufeinander bezogen. ›Beziehung‹ ist also ein solcher Zusammenhang, worin das eine an ihm selbst auf das andere verweist. Sofern sich Etwas auf etwas anderes bezieht, besteht zwischen ihnen eine Bezüglichkeit oder Relation. Ein Bilderrahmen ist – wie schon das Wort sagt – gleich allem Dazu-daseienden relativ auf … oder bezogen auf … (Bilder). Diese Relation besteht aber nur zwischen Bilderrahmen und Bild, aber nicht zwischen Bild und Rahmen. Das Bild erfordert seinem Bild-Sinne nach keinen Rahmen, es ist ja kein Rahmenbild, wohl aber erfordert ein Bilderrahmen ein Bild zum Umrahmen. Die Relation ist also eine einseitige Beziehung. Einseitig ist eine Relation in Beziehung auf die Möglichkeit einer zweiseitigen Relation, die Korrelation. Korrelativ aufeinander bezogen sind z. B. Schlüssel und Schlüsselloch. Ein jedes dieser beiden verweist seinem Sinne nach auf das andere; die Zweiseitigkeit der Korrelation bedeutet also eine Gegenseitigkeit der Relate. Das eine verweist auf das andere, keines hat Sinn ohne das andere, sie sind füreinander gemacht und passen zueinander. Und trotz Karl Löwith: Das Individuum in der Rolle des Mitmenschen. Ein Beitrag zur Grundlegung der ethischen Probleme, Freiburg: Alber 2013, 20162.

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ihres Füreinanderseins kann man nicht eigentlich sagen, sie stünden zueinander in einem Verhältnis. Ein Verhältnis ist weder ein bloßer Zusammenhang noch eine bloße Relation, noch eine Korrelation, obgleich es alle drei in gewisser Weise enthält. Was unterscheidet aber nun ein ›Verhältnis‹ von einer bloßen Korrelation zweier Relate? Weshalb sprechen wir nicht von der Relation und Korrelation z. B. von Vater und Sohn, sondern von ihrem Verhältnis? Warum kann man den Sinn ihres Zueinander nicht als ein Korrelativsein interpretieren? Und weshalb kann man andererseits nicht sagen, dass etwas wie Schlüssel und Schlüsselloch zueinander in einem Verhältnis stehen? Ist doch beideMal das eine seinem Sinne nach auf das andere bezogen. Verhalten sich aber Schlüssel und Schlüsselloch überhaupt und verhalten sie sich somit zueinander und damit sich im Sinne des Einander? Die Beantwortung dieser Frage erfordert die Stellung der Vorfrage: Was steht hier und dort zueinander in Beziehung? Die scheinbar unbestreitbare formalontologische Antwort darauf ist: beide Mal Etwas zu Etwas anderem. Sind aber wirklich die einen ›Etwas‹ auch nur formal von derselben Art wie die andern? Von welcher Art sind die Etwas, welche sich zueinander verhalten und somit in einem Verhältnis stehen können? Sind Vater und Sohn ›Etwas‹ und ›etwas anderes‹? 19

»Vater« und »Sohn« sind nicht »etwas anderes«, weil sie – im Unterschied zum Schüssel und Schlüsselloch – das Verhältnis selber ändern können, indem sie sich zueinander und zum Verhältnis verhalten. Dies bedeutet konkret mindestens Folgendes: –





Vater und Sohn stehen in einem biologischen Verhältnis. Der Eine ist Erzeuger des Anderen im Rahmen eines Verhältnisses, in dem DNA-Übereinstimmungen sowie medizinische Krankheitsbilder und Personsmerkmale relevant und prägend sind (z. B. der Sohn hat blaue Augen oder eine bestimmte Krankheit wie der Vater); Vater und Sohn stehen in einem anagraphisch-amtlichen Verhältnis: Z. B. braucht der Sohn die Unterschrift seines Vaters zur Bevollmächtigung, soll der Vater unterschreiben. Der Sohn erbt den Nachnamen des Vaters, der Vater soll den Sohn amtlich anerkennen; Vater und Sohn stehen in einem Erziehungsverhältnis: Der Vater erteilt eine Erziehung nach seinen eigenen Leitideen und Maßstäben, diese orientieren sich wiederum aber auch an der

Löwith 2013, § 12 »Der Begriff des ›Verhältnisses‹ im Unterschied von ›Zusammenhang‹, ›Beziehung‹ (Relation) und ›Korrelation‹«, S. 148–149.

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§ 54. Gemeinschaft als offener und dynamischer Begriff







Persönlichkeit des Sohnes – einige Erziehungsmaßnahmen werden vom Sohn akzeptiert und prägen seine Persönlichkeit, andere werden vom Sohn abgelehnt. Die Ablehnung bestimmter Erziehungsmaßnahmen seitens des Sohnes zwingt den Vater, sein eigenes Erziehungsbild zu revidieren; Vater und Sohn stehen in einem persönlichen Verhältnis: Der Vater erkennt sich in bestimmten Charaktermerkmalen des Sohnes wieder, der Sohn lernt seinen Charakter am (Vor)Bild des Vaters kennen; der Sohn ändert seinen Charakter durch das Verhältnis mit dem Vater, der Vater ändert seine Idee zum Verhältnis zum Sohn durch das Fortschreiten und die Änderung des Verhältnisses – das Verhältnis unterliegt mit der Zeit und durch Lebensumstände der beiden Akteuren etlichen Veränderungen, kann vertieft werden, in eine Krise geraten, stagnieren sowie sich verbessern oder verschlechtern; Vater und Sohn stehen in einem ausschließlichen Verhältnis; sie sind nicht nur »Vater« und »Sohn«, sondern der Vater dieses Sohnes und der Sohn dieses Vaters; Vater und Sohn konstituieren sich innerhalb einer Gemeinschaftsstruktur, die sie in umgekehrter Hinsicht mit anderen Individuen erfahren: Der Vater des Sohnes ist seinerseits auch Sohn eines (anderen) Vaters, der Sohn des Vaters bekommt ein Kind und wird seinerseits auch Vater eines (anderen) Sohnes. Dieselbe Schnur-Struktur »Vater-Sohn« wird in diesem Falle mit unterschiedlichen »Perlen« ausgeschmückt, die auf gegenseitige Art und Weise sich selbst und das Verhältnis ändern: Der Vater des Sohnes verhält sich nach der Geburt des Enkels anders gegenüber dem Sohn, der Sohn verhält sich nach der Geburt des eigenen Sohnes anders gegenüber seinem Vater, weil er von nun an das Vater-Sohn-Verhältnis von beiden Seiten besser sehen kann. 20

Die Änderung des Verhältnisses durch einen Dritten ist auch der Sinn der Gemeinschaftstriade bei Simmel: »Wo drei Elemente A, B, C eine Gemeinschaft bilden, kommt zu der unmittelbaren Beziehung, die zwischen A und B besteht, die mittelbare hinzu, die sie durch ihr gemeinsames Verhältnis zu C gewinnen. Dies ist eine formal soziologische Bereicherung, außer durch die gerade und kürzeste Linie werden hier je zwei Elemente auch noch durch eine gebrochene verbunden; Punkte, an denen jene keine unmittelbare Berührung finden können, werden durch das dritte Element das jedem eine andre Seite zukehrt und diese doch in der Einheit seiner Persönlichkeit zusammenschließt, in Wechselwirkung gesetzt; Entzweiungen, die die Beteiligten

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Dies bedeutet grundsätzlich – und die Aufarbeitungen des VaterSohn-Verhältnisses könnten weiter ausgeführt werden –, um es gemäß Wittgenstein/Löwith zu sagen: Der Sachverhalt »Gemeinschaft« ist eine Verbindung (»Verhältnis«) von Gegenständen (»Individuen«) die sich zueinander und zum Verhältnis ko-reflexiv verhalten und dadurch das Verhältnis komplexer machen. Die verhältnismäßige Struktur der Gemeinschaft ist somit eine offene Struktur. Die Menschenwelt ist genauso offen, wie die Welt – sie kann angereichert werden durch das Heranwachsen der Bezüge zwischen Individuen, genauso wie die Welt durch Heranwachsen der logischen Relationen zwischen den Dingen ständig breiter und komplexer wird. Gemeinschaft ist in dieser Hinsicht ein offener und dynamischer Begriff. Marc Augé verwendet diesbezüglich nicht zufällig den Ausdruck von »expandierendem Universum«: Müsste ich definieren, was meine Familie im weiteren Sinne ist, würde ich also sagen, sie sei eher ein expandierendes Universum, und ich wäre heute in Anbetracht meines Alters zweifellos einer der wenigen, die dessen entferntesten und flüchtigsten Umrisse wenn schon nicht deutlich erkennen, so doch zumindest erahnen können. Im engeren Sinne ist meine Familie eine viel schmalere Verwandtschaftslinie (meine Eltern und die Eltern meines Vaters, allesamt inzwischen verstorben, sowie meine Kinder, die selbst neue Bindungen eingegangen sind), sodass ich mich für meine direkten Nachkommen selbst in einen Bezugs- oder Ursprungspunkt verwandelt habe und damit sozusagen in einen symbolischen Repräsentanten jener ›familiären Gemeinschaft‹, die sich vor meinen Augen im Laufe der Jahre im Raum zerstreut und in der Zeit verloren hat. Ich denke nicht, dass sich nun in anderen Universen (Beruf, Kultur) stabilere Bezüge finden lassen. Doch eines muss ich noch präzisieren: Wenn der familiäre Bezug für mich weitgehend untrennbar vom lokalen Bezug (der Bretagne) weiter besteht, dann in Abhängigkeit von einigen aufrechterhaltenen Banden zu manchen Personen, manchen Orten, die ich gern wiedersehen möchte, und manchen Erinnerungen, die nicht verblassen. Diese Bande sind es, die ich Grenzen nenne, subtile Grenzen, die im Raum und in der Zeit, in der Gegenwart und in der Vergangenheit Demarkationslinien und Anschlüsse kreieren; diese Bande stellen sich nicht von selbst

nicht von sich allein aus wieder einrenken können, werden durch den Dritten oder durch ihr Befaßtsein in einem unterschiedlichen Ganzen zurechtgebracht« (Georg Simmel: »Die quantitative Bestimmtheit der Gruppe«, in: Schriften zur Soziologie. Eine Auswahl, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1983, S. 258).

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§ 55. Dividierbare Perlen

her; man reaktiviert sie nur, wenn man will und kann; je nachdem sind sie mal Spur, mal Zeichen, mal Appell. 21

Ein (gemeinschaftlich) holistisches Ganzes ist nicht nur ein Ganzes, indem die Teile logisch aufeinander und auf das Ganze verwiesen/ angewiesen sind, sondern auch der logische Raum, indem die Formen dieser »Ver-/Angewiesenheit« und der »Status« der betroffenen »Subjekte« sich vervielfältigen und verdichten. Man spricht hier von »Subjekten« der Gemeinschaft, weil diese nicht als bloße Teile vorkommen, sondern eben als Subjekte im Sinne sowohl von Akteuren – diejenigen, die die Gemeinschaft aktiv »machen« – als auch als etymologisch gemeinte »Unterlegene«, »Unterworfene«, eben als Subjekte: Indem sie eine Gemeinschaft bilden, bewohnen die Mitglieder diese Gemeinschaft, manchmal von Anfang an auf unbewusste Art und Weise, manchmal anhand einer bewussten Entscheidung. Es kann auch vorkommen, dass die Mitglieder einer Gemeinschaft sie wiederfinden, nachdem sie sie verlassen haben. In diesem Falle werden sie sich in einer Form der kommunitären Existenz nicht als Teile von …, sondern als Subjekte von … wahrnehmen. 22

Im Netz der gemeinschaftlichen Bezüge kann man somit als Individuum auch auf unbewusste Art und Weise stehen. Man kann unbewusst eine Perle sein. Dies liegt daran, dass der Horizont einer derart intendierten Gemeinschaft der Perlen ein ontologisch Ursprüngliches ist, ein Horizont, der diesseits der Entscheidungen der Einzelnen schon immer eröffnet ist.

§ 55. Dividierbare Perlen Jahre nach dem Tractatus revidiert Wittgenstein seine atomistischrelationale Theorie der einfachen Gegenstände. Es handelt sich hierbei um eine regelrechte Kehre: Während der Begriff des Gegenstands 21 Marc Augé: Die illusorische Gemeinschaft, Berlin: Matthes & Seitz, 2015, S. 21– 23. 22 »Formando una comunità, i membri la abitano, a volte sin dall’origine in modo inconsapevole, altre per scelta, altre per caso, altre ancora dopo averla abbandonata e poi ritrovata, e si riconoscono in una forma di esistenza comunitaria in quanto non meramente parti di, ma soggetti di« (Rosa Maria Lupo: »Crepe ontologische della comunità«, in Giornale di Metafisica 2014, S. 131, übers. v. G. T.).

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im Tractatus noch eine starke Analogie zum aristotelischen stoicheion-Begriff aufweist – wobei sub mutata specie einer komplexeren semantischen Theorie –, zählt zu den Ergebnissen seiner Philosophischen Untersuchungen eine stichhaltige Infragestellung der Dynamik der Zusammensetzung dieser Gegenstände. Die tragende Idee – die er durch eine komplexe semantische Analyse ausführt – besteht in der Skepsis darüber, dass es so etwas wie unteilbare »Urelemente« oder »individuals« bzw. stoicheia bzw. einfache (nicht zusammengesetzte) Bestandteile der Realität überhaupt geben kann, denn alles ist in gewisser semantischen Hinsicht immer auf irgendeine Art und Weise »zusammengesetzt«: Aber welches sind die einfachen Bestandteile, aus denen sich die Realität zusammensetzt? – Was sind die einfachen Bestandteile eines Sessels? – Die Stücke Holz, aus denen er zusammengefügt ist? Oder die Moleküle, oder die Atome? – ›Einfach‹ heißt: nicht zusammengesetzt. Und da kommt es darauf an: in welchem Sinne ›zusammengesetzt‹ ? Es hat gar keinen Sinn von den ›einfachen Bestandteilen des Sessels schlechtweg‹ zu reden. Oder: Besteht mein Gesichtsbild dieses Baumes, dieses Sessels, aus Teilen? und welches sind seine einfachen Bestandteile? Mehrfarbigkeit ist eine Art der Zusammengesetztheit; eine andere ist, z. B., die einer gebrochenen Kontur aus geraden Stücken. Und ein Kurvenstück kann man zusammengesetzt nennen aus einem aufsteigenden und einem absteigenden Ast. Wenn ich jemandem ohne weitere Erklärung sage ›Was ich jetzt vor mir sehe, ist zusammengesetzt‹, so wird er mit Recht fragen: ›Was meinst du mit ›zusammengesetzt‹ ? Das kann ja alles Mögliche heißen!‹ – Die Frage ›Ist, was du siehst, zusammengesetzt?‹ hat wohl Sinn, wenn bereits feststeht, um welche Art des Zusammengesetztseins – d. h., um welchen besonderen Gebrauch dieses Wortes – es sich handeln soll. Wäre festgelegt worden, das Gesichtsbild eines Baumes solle ›zusammengesetzt‹ heißen, wenn man nicht nur einen Stamm, sondern auch Aste sieht, so hätte die Frage ›Ist das Gesichtsbild dieses Baumes einfach oder zusammengesetzt?‹ und die Frage ›Welches sind seine einfachen Bestandteile?‹ einen klaren Sinn – eine klare Verwendung. Und auf die zweite Frage ist die Antwort natürlich nicht ›Die Aste‹ (dies wäre eine Antwort auf die grammatische Frage: ›Was nennt man hier die ›einfachen Bestandteile‹ ?‹), sondern etwa eine Beschreibung der einzelnen Aste. Aber ist z. B. nicht ein Schachbrett offenbar und schlechtweg zusammengesetzt? – Du denkst wohl an die Zusammensetzung aus 32 weißen und 32 schwarzen Quadraten. Aber könnten wir z. B. nicht auch sagen, es sei aus den Farben Weiß, Schwarz und dem Schema des Quadratnetzes zusammengesetzt? Und wenn es hier ganz verschiedene Betrachtungsweisen gibt, willst du dann noch sagen, das Schachbrett sei ›zusammengesetzt‹ schlecht-

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§ 55. Dividierbare Perlen

weg? – Außerhalb eines bestimmten Spiels zu fragen ›Ist dieser Gegenstand zusammengesetzt?‹, das ist ähnlich dem, was einmal ein Junge tat, der angeben sollte, ob die Zeitwörter in gewissen Satzbeispielen in der aktiven, oder in der passiven Form gebraucht seien, und der sich nun darüber den Kopf zerbrach, ob z. B. das Zeitwort ›schlafen‹ etwas Aktives oder etwas Passives bedeute. Das Wort ›zusammengesetzt‹ (und also das Wort ›einfach‹) wird von uns in einer Unzahl verschiedener, in verschiedenen Weisen miteinander verwandten, Arten benützt. (Ist die Farbe eines Schachfeldes einfach, oder besteht sie aus reinem Weiß und reinem Gelb? Und ist das Weiß einfach, oder besteht es aus den Farben des Regenbogens? – Ist diese Strecke von 2cm einfach, oder besteht sie aus zwei Teilstrecken von je 1cm? Aber warum nicht aus einem Stück von 3cm Länge und einem, in negativem Sinn angesetzten, Stück von 1cm?) Auf die philosophische Frage: ›Ist das Gesichtsbild dieses Baumes zusammengesetzt, und welches sind seine Bestandteile?‹ ist die richtige Antwort: ›Das kommt drauf an, was du unter ›zusammengesetzt‹ verstehst.‹ (Und das ist natürlich keine Beantwortung, sondern eine Zurückweisung der Frage.). 23

Auch die vermeintlich nicht zusammengesetzten Elemente der Realität können in semantischer Hinsicht – und was steht eigentlich außerhalb der Semantik? – als Zusammensetzungen angesehen werden. Ergebnis: Das Individuum als Unteilbares scheint in logisch-semantischer Hinsicht ein trügerischer Begriff zu sein, denn der Teil einer bestimmten Zusammensetzung ist wiederum selbst ein anderes, bestimmtes Zusammengesetztes (zusammengesetzt aus Teilen, die wiederum Zusammensetzungen sind). Dies liegt daran, dass »Das Wort ›zusammengesetzt‹ (und also das Wort ›einfach‹) von uns in einer Unzahl verschiedener, in verschiedenen Weisen miteinander verwandten, Arten benützt [wird]«. 24 Es gibt strenggenommen keine Teile, sondern immer nur (offene) Strukturen. Dies stellt nicht nur eine starke Dementierung des aristotelischen Begriffs sowie der allgemeinen denkgeschichtlichen Tendenz dar, unteilbare Urelemente der Realität aufzudecken und als »unstrukturiert selbstständige« Bausteine der Welt in ihrer vermeintlichen Abgeschlossenheit festzuhalten. Wenn sogar der vermeintlich einfache Teil eine zusammengesetzte Struktur ist – und es kommt darauf an, »was du unter ›zusammengesetzt‹ verstehst« 25 –, dann 23 24 25

Wittgenstein 2003, S. 41–43. Ebenda. Ebenda.

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kann auch derjenige Teil der Gemeinschaft, was das (menschliche) »Individuum« genannt wird, ebenfalls als ein komplexes Zusammengesetztes intendiert werden. Ein solches »Individuum« (wobei das Wort an diesem Punkt unangemessen erscheint) ist in ein Netz von Zusammensetzungen involviert. Diese Grundidee kann in sozialontologischen Bereichen sehr fruchtbar sein: Das Konzept der »einzelnen Person« wird dadurch zu einem Bündel von gemeinschaftlichen, plastischen Bestimmungen, die mit den restlichen zusammengesetzten »Individuen« (wobei das richtige Wort an diesem Punkt »Dividuen« wäre) der Gemeinschaft verflochten ist. So bin ich als »Individuum« doch geteilt (also zusammengesetzt), und zwar aus meinem »Dozent-Sein«, »Bruder-Sein«, »Italiener-Sein«, »189groß-sein«, »launisch-sein«, »Körper-und-Geist-Sein«, »Wittgenstein-Fan-Sein«, »Autor-eines-Gemeinschaftsbuches-sein«; und weiter, »Ex-Freund-sein«, und zwar von einem weiteren »Dividuum«, das wiederum in unzähligen Gemeinschaftsfacetten geteilt ist. Das Individuum ist eigentlich ein »Dividuum«, d. h. es dividiert sich in den potentiell unendlichen Varianten der gemeinschaftlichen Strukturen, in denen es involviert ist. Diese Modi sind ständig abwechselnd und wechselhaft: Wenn ich meine Studenten unterrichte, bin ich nicht derjenige oder derselbe, der mit einem Kumpel bei einem Bier in der Kneipe über Autos spricht – genauso wie der Kumpel auch mehr-geteilt ist, zwischen dem Stammtischgerede mit mir und seinen weiteren, potentiell unendlichen gemeinschaftlichen Zusammenhängen – »Gemeinschaftssachverhalten« –, an denen er beteiligt ist. Jedes »Individuum« ist doch »geteilt« in dieser gemeinschaftlichen Komplexität – von Rollen, Funktionen, Eigenschaften, Situierungen, Valenzen, teilweise auch widersprüchlichen Identitätsfacetten usw. Dies bedeutet zum Schluss: Nicht nur das gemeinschaftliche Verhältnis zwischen »Individuen« ist plastisch, sondern auch die »Dividuen« selbst können wiederum als plastische, dynamische Zusammensetzungen aus ihren gemeinschaftlichen Möglichkeiten angesehen werden. Und diese gemeinschaftlichen Möglichkeiten sind dem gemeinschaftlichen »Dividuum« wesentlich und identitätsstiftend: Ich bin genauso »Italiener« (im kulturellen, politischen, heimatssehnsüchtigen Sinne) wie »Kumpel in einer Kneipe«. Meine gemeinschaftliche Identität bedarf auch im mereologischen Sinne beider Bestimmungen, die sogar entgegengesetzte oder wechselhafte Bestimmungen erlauben (genauso wesentlich ist jemand nach seinem Einbürgerungsverfahren »Deutscher« und »Kumpel eines anderen 260 https://doi.org/10.5771/9783495820704 .

§ 55. Dividierbare Perlen

Kumpels« in einer anderen Kneipe, beim Gerede über Platon und Hypochondrie). Und als Gemeinschafts-»Dividuum« bin ich »sämtliche Möglichkeiten [m]eines Vorkommens in [gemeinschaftlichen] Sachverhalten«, wenn es gestattet ist, Wittgensteins Diktat in diese kommunitäre Richtung umzuschreiben. Es ergibt sich dadurch ein Bild der Gemeinschaft als ein ständig wechselhafter, dynamischer Zusammenhang von Tatsachen und »Gegenständen«, die wiederum auch offene, teilbare Strukturen sind. Denn auch der Teil der Gemeinschaft ist eigentlich ein strukturiertes Ganzes.

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Elftes Kapitel: Mitteilung. Käfer und Mitsein

§ 56. Das Wort des Heraklit Daher muß man hdem gemeinsamen, d. h.i dem gemeinschaftlichen Logos folgen – denn gemeinsam ist der gemeinschaftliche; obwohl aber der Logos, der Seiende, gemeinsam ist, leben die Leute, als ob sie über eine private Einsicht verfügten. 1

Die oft obskure Sprache des Heraklits gibt diesmal auf ziemlich klare Art und Weise über das Wesen des Logos Aufschluss: Dieser ist ein gemeinsames Gemeinschaftliches, xunos koinos: Was gemeinsam ist, ist auch gemeinschaftlich. Leider verkennen die Menschen aber die Wahrheit des Logos, denn jeder lebt – und dies bedeutet für den Griechen: Jeder spricht und handelt – als hätte jeder eine eigene, unterschiedliche ἰδίαν φρόνησιν, idian phronesin, private Vernunft, individuelle Einsicht. Das Fragment des Heraklits ist u. a. ein Appell dazu, die Intersubjektivität der Vernunft anzuerkennen. Wenn die »vielen« (οἱ πολλοὶ, hoi polloi) Menschen realisieren würden, dass sie denselben, gemeinsamen Logos-Gesetzen unterliegen und mit derselben Vernunft ausgestattet sind, wäre die Plage der Inkommunikabilität von vornherein viel kleiner. Die Inkommunikabilität – in-commun, Un-Gemeinschaftliches – scheint doch leider zu existieren und ist sicherlich ein großes Übel für den Menschen. Obwohl unterschiedliche Formen der In-Kommunikabilität erörtert werden könnten – genauso zahlreiche wie die Kommunikationsformen – stellt die Inkommunikabilität in der Sprache die Hauptproblematik dieses Kapitels dar. In-kommunikabilität ist fehlende – oder verfehlte, unangemessene, überdrüssige, unausHeraklit, DK 22 B 2, Sext. Emp., adv.math. 7, 133: »διὸ δεῖ ἕπεσθαι τῷ ξυνῷ· τοῦ λόγου δ᾽ἐόντος ξυνοῦ ζώουσιν οἱ πολλοὶ ὡς ἰδίαν ἔχοντες φρόνησιν« (Die Vorsokratiker, Bd. 1, Düsseldorf: Artemis & Winckler, 2007, S. 296).

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§ 57. Das sagen die meisten

geglichene – Mitteilung; man bewegt sich hier nicht zufällig innerhalb einer weiteren, für das Leben des zoon logon echon zentralen Auffächerung des Teils. Der Ausgangspunkt des Kapitels über die Mitteilung besteht somit in einem Verständnis des heraklitischen gemeinschaftlichen Logos als gemeinsame Sprache und seines Korrelats, die idia phronesis, die vermeintliche Privatsprache.

§ 57. Das sagen die meisten Bereits Mark Knopfler wurde sich dessen bewusst: there’s so many different worlds / so many different suns / we have just one world / but we live in different ones. 2 Warum leben die Menschen in unterschiedlichen Kommunikationswelten, obwohl sie eine einzige bewohnen – und der Logos dieser Welt ein Gemeinsames ist? Dass es so etwas wie eine Privatsprache geben kann, die nur dem Einzelnen verständlich ist, ist gegenüber der Gemeinschaft eine der gefährlichsten Hypothesen, die aufgestellt werden könnten. Nichtsdestotrotz hat sich fast jeder Mensch – hoi polloi, die meisten – mindestens einmal im Leben, und in den meisten Fällen viel öfter, darüber beklagt, dass die Anderen seine Worte nicht verstünden. Bezüglich der Reibung zwischen koinos logos und idia Vernunft liefert auch die Alltagssprache interessante Indizien. Bei Streitgesprächen hört man oft: »Du verstehst nicht, wie ich das meine!«. Beim einem Liebespaar, das sich in der Diskussion nicht versteht oder zu keiner Übereinkunft kommt, fällt leicht die Aussage: »Wir sprechen nicht dieselbe Sprache«, oder »Wir sprechen verschiedene Sprachen«. Denkbar wäre auch: »Wir sprechen dieselbe Sprache, meinen es aber völlig anderes«. Bei Gesprächspartnern, die offensichtlich in derselben Sprache zu kommunizieren versuchen, ist das Sich-Verstehen nie garantiert. »Man spricht vergebens viel, um zu versagen; der andre hört vor allem nur das Nein« 3 ist nur eine der zahlreichen Möglichkeiten einer verfehlten und frustrierten Kommunikation. Und die meisten Menschen – hoi polloi – kennen leider ganz genau diesen höchst bedauerlichen Umstand: Auf die Frage »Warum habt ihr euch getrennt?« folgt oft die Antwort: »Wir konnten nicht kommunizieren«. Und auf der anMark Knopfler: Brothers in Arms, in: Brothers in Arms (1985). J. W. Goethe: Iphigenie auf Tauris, 1787, 1. Akt, 3. Szene, »Thoas zu Iphigenie«, bereits zitiert in Erteilung. 2 3

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Mitteilung

deren Seite behaupten die meisten Menschen, die in einer gut funktionierenden Beziehung stehen: »Kommunikation ist alles«. Die Aufzählung solcher Sprüche und Prinzipien aus der doxa des Alltagslebens, welche die Zentralität und Wichtigkeit der Kommunikation hervorheben, könnte noch lange fortgesetzt werden: »Man kann nicht nicht kommunizieren«, lautet eine Maxime, die in unterschiedlichen, auch nicht-sprachlichen Bereichen angewendet wird. Hinter diesen trivialen Beispielen steckt jedoch eine Menge an heraklitischen Problematiken. Diese Sätze der Alltagssprache orientieren sich an bestimmten, teilweise grundfalschen und ungemeinschaftlichen Voraussetzungen bezüglich des Wesens der sogenannten Kommunikation/Mitteilung. Eine der falschen Voraussetzungen besteht darin, dass wir über eine Privatsprache verfügen, d. h. etwas denken und in einer Sprache formulieren können, die der Andere trotz unserer Ausdrucksversuche nicht verstehen kann.

§ 58. Mit-Teilen als sympathein Eine »Mitteilung« wird im common sense als eine Nachricht verstanden, welche übermittelt oder überliefert wird. Es wird bspw. vorausgesetzt, dass ein Sender eine Botschaft (»Nachricht«, »Mitteilung«) an einen Empfänger sendet, unbeschadet dessen, ob es sich hier um einen Brief, sms, whatsapp-chat oder einfach sprachliche Nachricht – so etwas wie ein Wort, Satz, Gedankeninhalt in sprachlicher Form usw. – handelt. Übermittlung und Übertragung von Gedanken in sprachlicher Form ist also ein zentraler, medialer Begriff der Mitteilung: Sender, Medium – in der die Botschaft formuliert bzw. übertragen wird – und schließlich Empfänger. 4 Das ist allerdings nicht nur ein extrem reduktiver, sondern auch ein relativ neuer Mitteilungsbegriff. Wie das Grimm-Wörterbuch im Eintrag »Mittheilein« informiert, trug das Wort »Mitteilung«, noch bevor diese sich als »Übertragung/Übermittlung« herausstellte, eine unterschiedliche Bedeutung, die sich nämlich um die Ideen der Gabe und Geschenk bewegt und im Allgemeinen mit Barmherzigkeit zu tun hatte: Die gängige Vorstellung der Kommunikation orientiert sich unthematisch am bekannten Shannon-Weaver-Modell, was ein extrem reduktives Mitteilungs-Paradigma ist.

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§ 58. Mit-Teilen als sympathein

1) mit accusativ der sache und dativ der person, aus eigenem besitz einem etwas geben, als wolthat, geschenk; so in der ältern sprache von der gnade und barmherzigkeit eines höheren gegen einen niederen selbst: so hat unser gnedige herrschaft uns hubern die gnad und früntschaft mit geteilt und solche nün geding zu eim geding lassen kommen. weisth. 4, 182 (Elsasz, ausgang des 15. jahrh.); o herr wollet mir gnad und barmherzigkeit mittheilen. Galmy 324; dieweil er gegen den feinden von natur geneigt barmherzigkeit mitzutheilen, die sich jm ergeben. buch d. liebe 219c; ich lobe dein fürnemmen, liebe tochter, dasz du so gütig und eines demütigen herzen bist, dasz du einem auszländer … begerst barmherzigkeit mitzutheilen, und jhn von dem todt erretten. 225d; 5

Auch eine weitere Bedeutung des Mitteilens basiert auf der Idee des Geschenks: 2) mittheilen, in solchem sinne, mit nur verstandenem object: das sie die selben (tage) halten solten fur tage des wollebens und freuden, und einer dem andern geschenk schicken, und den armen mitteilen. Esther 9, 22; wol zu thun und mit zu teilen (τῆς δὲ εὐποιας καὶ κοινωνίας) vergesset nicht, denn solche opfer gefallen gott wol. Hebr. 13, 16; den armen mittheilen, opes in usus inopum prodigere Steinbach 2, 811; und so noch bei Göthe das part. mittheilend: weil sie sich andre durch gefälligkeit und wohlthun zu verbinden wuszte. mittheilend war sie im höchsten grade. 17, 242. 6

Was auch u. U. den Körper bzw. Leib betrifft, ein Mitteilungsgeschenk, das z. B. im biblischen Kontext von Relevanz ist: 3) einem den leib mittheilen, in fleischlichem sinne. 7

Nun ist aber entscheidend, dass das Mitteilen durch Barmherzigkeit und caritas, welche mit »Geschenk« im Zusammenhang steht – es handelt sich gleichsam um eine ausgeprägt kommunitäre Bedeutung der Mitteilung – im späteren Sprachverlauf des Begriffs zugunsten des »Übertragens« verblass. Auch über diesen Paradigmenwechsel gibt das Grimm-Wörterbuch Aufschluss, denn diese neuere, kommunitär-privative Bedeutung stellt sich erst später heraus: 4) der begriff der mildthätigkeit, wie er in den beispielen unter 1 und 2 hervortritt, verwischt sich zu gunsten eines bloszen hin- oder übergebens, überlieferns, schon in älteren beispielen, gewöhnlicher in der neuern sprache. 8

5 6 7 8

GRIMM-Wörterbuch, Bd. 12, S. 2421. Ebenda, S. 2422. Ebenda. Ebenda.

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Mitteilung

»Mittheilein« war ursprünglich ein Akt der Mildtätigkeit, der caritas. Es war ein wortwörtlich sympathischer Akt, im Sinne des sympathein. Auf der einen Seite steht die alte Bedeutung der Mitteilung als caritas. Auf der anderen, neueren Seite, die Bedeutung der Mitteilung als Übertragung, ein »bloszen hin- oder übergebens«. Die Herausprägung und Festlegung dieser letzteren Bedeutung des Mitteilens führt aber eine drastische Änderung der Idee der Kommunikation herbei, die dadurch eher egologische Züge annimmt. Vielmehr wäre höchste Zeit, die alte, ursprüngliche Bedeutung der Mitteilung als caritas/symphathein zu rehabilitieren. Es gilt nun, einige Aspekte dieser Problematik anzugehen.

§ 59. Wo soll ich denn hereinschauen? Es sieht so aus, als müsste man sich die alte Bedeutung der gemeinschaftlichen Mitteilung wieder aneignen. Voraussetzung dafür ist aber eine kritische Hinterfragung der Idee der Übertragung und ihrer semantischen Hintergründe. Die Übertragungstheorie – und generell die Idee, dass ein Inhalt (Bewusstseinsinhalt, Bild, Idee, Gefühl, Meinung) von Sender A zu Empfänger B weitergegeben werden kann – knüpft an eine semantische Sachbezüglichkeitstheorie an: Dinge ließen sich beschreiben und sprachlich formulieren, sodass diese Formulierung als Medium der Mitteilung verwendet werden könne; sollte dann die Kommunikation scheitern, könnte es also an der Unangemessenheit der Ausgangsformulierung oder an der Unangemessenheit des Rezipienten liegen – aus der Reihe: Der Rezipient ist nicht imstande, die Formulierung »richtig« zu verstehen, weil er diese in seine eigene, private Sprache überführt. 9 Kommunikation wäre in diesem Falle die Übersetzung einer Privatsprache in eine andere Privatsprache. Eine kritische Erweiterung der Sachbezüglichkeitstheorie wurde auf anderweitigen Wegen 10 sowie im vorliegenden Band im Kapitel über Spielbeteiligung unternommen. Es gibt jedoch weitere Argumente gegen die Sachbezüglichkeit, die in eine grundsätzliche Skepsis Etwa nach dem mittelalterlichen Spruch »quidquid recipitur ad modum recipientis recipitur«. 10 Giovanni Tidona: Ding und Begegnung. Sprach- und Dingauffassung im dialogischen und existenzialen Denken, Freiburg: Alber, 2014. 9

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§ 59. Wo soll ich denn hereinschauen?

gegenüber der Privatsprache münden können. Ein berühmter Ausgangspunkt zu dieser Problematik ist der sprachphilosophische Ansatz Wittgensteins in seinen Philosophischen Untersuchungen. Er thematisiert das Problem der Privatsprache durch die Metapher des Käfers. Dadurch – und durch eine Kritik an der Sachbezüglichkeitstheorie – soll er die Sinnlosigkeit der Idee zeigen, dass ein Gedankeninhalt evtl. nicht kommuniziert werden kann, weil er eben in der Lage ist, »privat« zu bleiben: Wenn ich von mir selbst sage, ich wisse nur vom eigenen Fall, was das Wort ›Schmerz‹ bedeutet, – muß ich das nicht auch von den Andern sagen? Und wie kann ich denn den einen Fall in so unverantwortlicher Weise verallgemeinern? Nun, ein Jeder sagt es mir von sich, er wisse nur von sich selbst, was Schmerzen seien! – Angenommen, es hätte Jeder eine Schachtel, darin wäre etwas, was wir ›Käfer‹ nennen. Niemand kann je in die Schachtel des Andern schaun; und Jeder sagt, er wisse nur vom Anblick seines Käfers, was ein Käfer ist. –Da könnte es ja sein, daß Jeder ein anderes Ding in seiner Schachtel hätte. Ja, man könnte sich vorstellen, daß sich ein solches Ding fortwährend veränderte. – Aber wenn nun das Wort ›Käfer‹ dieser Leute doch einen Gebrauch hätte? – So wäre er nicht der der Bezeichnung eines Dings. Das Ding in der Schachtel gehört überhaupt nicht zum Sprachspiel; auch nicht einmal als ein Etwas: denn die Schachtel könnte auch leer sein. – Nein, durch dieses Ding in der Schachtel kann ›gekürzt werden‹ ; es hebt sich weg, was immer es ist. Das heißt: Wenn man die Grammatik des Ausdrucks der Empfindung nach dem Muster von ›Gegenstand und Bezeichnung‹ konstruiert, dann fällt der Gegenstand als irrelevant aus der Betrachtung heraus. 11

Über den Text Wittgensteins könnte man lange spekulieren. Es soll hier eine etwas kühne Randinterpretation gewagt werden. Der entscheidende Punkt ist höchstwahrscheinlich die Perspektivenumstellung, die das Argument gegen die Privatsprache fordert: Der Akt der Kommunikation – in dem Falle, der Kommunikation eines vermeintlich inneren und privaten Schmerzes, der aus diesem vermeintlichen Grund nicht »mitgeteilt«, d. h. vom Anderen nicht begriffen werden kann –, besteht nicht in einem »Nach-Außen-Tragen« durch den Ausdruck des inneren Denk- oder Emotionsinhalts. Der Gebrauch des Wortes »Käfer« ist nicht die Bezeichnung eines Dinges. Einige Gründe für diese etwas kontraintuitive These können schematisch ausgeführt werden:

11 Ludwig Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2003, § 293, S. 163–164.

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Mitteilung

A) Wenn ich mich auf ein Erlebnis von mir beziehe, beziehe ich mich nicht auf einen vermeintlichen inneren Gegenstand, dessen Zugang anderen Menschen verwehrt ist (ähnlich wie ein vermeintlicher Käfer, den nur ich sehen kann). Gegenstand der Kommunikation ist nämlich primär nicht der »Käfer«, sondern das Hereinschauen. Dieser Punkt soll im Folgenden präzisiert werden. B) Die Annahme, dass ich private – d. h. im Prinzip inkommunizierbare – Erlebnisse habe, ist dadurch bedingt, dass der Mensch die Sprache der Empfindungen an der falschen Käfer-Grammatik orientiert, und zwar an der reduktiven Auffassung der Sprache nach dem »Muster von ›Gegenstand und Bezeichnung‹«, bei der dann »der Gegenstand als irrelevant aus der Betrachtung herausfällt«. Aber die Empfindung – oder das vermeintlich innere Erlebnis – konfiguriert sich nicht als vermeintlich unsichtbarer Käfer, sondern ist, wie im Folgenden deutlich sein wird, die Schachtel selbst. C) Diese Denkfehler und ähnliche (wenngleich bei hoi polloi dingfeste Annahmen) führen dann zur falschen Idee, dass es ein Drinnen und ein Draußen der Erlebnisse gibt (das Draußen sei intersubjektiv zugänglich, dass Drinnen privat). Diese falsche Schlussfolgerung soll nun widerlegt werden, und zwar durch das Aufzeigen – und dies ist eine kommunitär ernst zu nehmende Position – dass in Wahrheit alles schon »Draußen« ist.

§ 60. Ein Zimmer und einen Seelenzustand beschreiben Noch einmal kommt Wittgenstein zu Wort: Schau auf das Blau des Himmels, und sag zu dir selbst ›Wie blau der Himmel ist!‹ – Wenn du es spontan tust – nicht mit philosophischen Absichten – so kommt es dir nicht in den Sinn, dieser Farbeneindruck gehöre nur dir. Und du hast kein Bedenken, diesen Ausruf an einen Andern zu richten. Und wenn du bei den Worten auf etwas zeigst, so ist es der Himmel. Ich meine: du hast nicht das Gefühl des In-dich-selber-Zeigens, das oft das ›Benennen der Empfindung‹ begleitet, wenn man über die ›private Sprache‹ nachdenkt. Du denkst auch nicht, du solltest eigentlich nicht mit der Hand, sondern nur mit der Aufmerksamkeit auf die Farbe zeigen. (Überlege, was es heißt, ›mit der Aufmerksamkeit auf etwas zeigen‹). 12

12

Wittgenstein 2003, § 275.

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§ 60. Ein Zimmer und einen Seelenzustand beschreiben

Wenn ich jemandem auf den blauen Himmel zeige, habe ich nicht »das Gefühl des In-mich-selber-Zeigens«. Wenn ich jemandem von meinem Liebeskummer erzähle, habe ich (irrtümlicherweise) »das Gefühl des In-mich-selber-Zeigens«. Ich setze fälschlicherweise voraus, dass mein Liebeskummer in mir ist, und nicht in meinem Gesprächspartner. Beim blauen Himmel setze ich aber voraus, dass ich mich nicht auf einen internen, sondern auf einen externen Gegenstand beziehe. Aber der blaue Himmel ist doch ebenso »intern« wie der Liebeskummer – denn ich beziehe mich strenggenommen nicht auf den blauen Himmel, sondern auf das Bild des blauen Himmels in meinem Gehirn. »Blauer Himmel« und Liebeskummer haben denselben – welchen auch immer – ontologischen Ort. Blauer Himmel und Liebeskummer scheinen also beide interne Erlebnisse zu sein – dies ist ein Argument der relativistischen kognitiven Psychologie. Das ist aber auch ein weiterer Denkfehler: Wären blauer Himmel und Liebeskummer beide interne Erlebnisse, könnte man sich weder über das eine noch über das andere verständigen – die Kommunikation über den blauen Himmel wäre genauso beeinträchtigt, wie der Diskurs über Liebeskummer, denn keiner könnte in den blauen Himmel des Anderen oder in den Liebeskummer des Anderen »hereinschauen«. Es wäre also per Umkehrschluss die Frage zu stellen, ob blauer Himmel und Liebeskummer beide »externe« Erlebnisgegenstände sind, sodass sie bereits in einem Draußen in der Form der Ex-Position 13 zugänglich und verstehbar sind. Man kann versuchen, sich dieser schwierigen aber wesentlichen Idee schrittweise anzunähern. Ich sehe jetzt mein Zimmer und meinen Seelenzustand (z. B. Traurigkeit). Ich kann beide beschreiben. Beide sind mentale Repräsentationen, weil, wie bereits gesagt: Strenggenommen beschreibe ich nicht das Zimmer, sondern das Bild des Zimmers, das in meinem Kopf ist – zumal diese Beschreibung nicht »objektiv« ist. Ich beschreibe nämlich das Zimmer nach meinem Vorverständnis eines Zimmers (ein Innenraumdesigner mit anderen Wahrnehmungserwartungen und -mustern würde es anders beschreiben). Es scheint also keine »Verschiedenheiten«, 14 keinen UnExposition, Aus-Setzung nicht des vermeintlichen »inneren« Objektes, sondern der Kommunikation selber. 14 Es ginge im Wesentlichen darum, die »Verschiedenheiten« zwischen den beiden Sprachspielen zu identizifieren. Beide Sprachspiele scheinen ähnlicher zu sein, als 13

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Mitteilung

terschied, zwischen den beiden Sprachspielen (Beschreibung eines Zimmers und Beschreibung eines Seelenzustands) zu geben: Wenn ich ein vermeintlich »äußeres« Objekt beschreibe – z. B. einen Tisch –, beschreibe ich nicht den Tisch, sondern meine Wahrnehmung des Tisches, meine bisherigen Praxis-Erfahrungen mit dem Tisch, ich selektiere meine Worte anhand meiner Idee eines Tisches usw. usf. I. d. R. nimmt man an, dass unsere Beschreibungen entweder Drinnen-Objekte (und das würde Kommunikationsunmöglichkeit bedeuten) oder Draußen-Objekte (und das würde bedeuten, dass mein Schmerz und das Zimmer draußen sind) beschreiben. Es gibt aber eine dritte Möglichkeit: Unsere Beschreibungen beschreiben weder Drinnen- noch Draußen-Objekte, weil unsere Beschreibungen vielmehr Beschreibungen beschreiben, indem sie auf sie zeigen. Und diese Beschreibungen befinden sich immer in einem mit-geteilten, exponierten Draußen. Zeigen kann man nur durch Aufmerksamkeit, die auf das Objekt – was auch immer das Objekt ist – gerichtet wird. Was heißt »mit Aufmerksamkeit zeigen«? Nehmen wir an, ich sitze in einer schönen Sommernacht mit einer ebenso schönen Frau am Strand auf Sizilien und zeige ihr romantischerweise einen ebenso schönen Vollmond. Ich zeige zunächst: –

Weder den »Gegenstand« Mond als objektiv existenten Trabanten, mit seinen vermeintlich objektiven Eigenschaften;

man denken würde: »Einer malt ein Bild, um zu zeigen, wie er sich, etwa, eine Szene auf dem Theater vorstellt. Und nun sage ich: ›Dies Bild hat eine doppelte Funktion; es teilt Andern etwas mit, wie Bilder oder Worte eben etwas mitteilen – aber für den Mitteilenden ist es noch eine Darstellung (oder Mitteilung?) anderer Art: für ihn ist es das Bild seiner Vorstellung, wie es das für keinen Andern sein kann. Sein privater Eindruck des Bildes sagt ihm, was er sich vorgestellt hat; in einem Sinne, in welchem es das Bild für die Andern nicht kann.‹ – Und mit welchem Recht rede ich in diesem zweiten Falle von Darstellung oder Mitteilung, – wenn diese Worte im ersten Falle richtig angewandt waren?« (Wittgenstein 2003, § 280); »Ich identifiziere meine Empfindung freilich nicht durch Kriterien, sondern ich gebrauche den gleichen Ausdruck. Aber damit endet ja das Sprachspiel nicht; damit fängt es an. Aber fängt es nicht mit der Empfindung an, – die ich beschreibe?– Das Wort ›beschreiben‹ hat uns da vielleicht zum besten. Ich sage ›Ich beschreibe meinen Seelenzustand‹ und ›Ich beschreibe mein Zimmer‹. Man muß sich die Verschiedenheiten der Sprachspiele ins Gedächtnis rufen« (ebenda, § 290).

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§ 61. Was bedeutet es, auf das Zeigen zu zeigen?



Noch meine mentale Repräsentation des Mondes, einschließlich meiner damit einhergehenden Absichten, Gefühle usw. (aus der Reihe: Ich zeige ihr den Mond um romantisch zu wirken und die beste Gelegenheit zu nutzen, sie zu küssen);

Wohlgemerkt, all diese Dinge können sich zeigen – die Frau könnte eine Astronomin sein und bei meiner Aufzeigung gleich an die Mondkrater denken oder, je nach ihrem Temperament und Interessen, an astronomische Beschaffenheit sowie an das Lied The dark side of the moon denken, genauso wie sich viele weitere Denkassoziationen einstellen könnten; oder sie könnte auf der anderen Seite einfach zu dem Schluss kommen, dass ich es gerade auf ziemlich banale Art und Weise versuche, ein Gespräch mit ihr zu führen. All dies kann sich zeigen, aber das ist nicht das, was ich zeige. Ich zeige nämlich mein Zeigen, ich mache nicht auf den »Mond« aufmerksam (was auch immer darunter zu verstehen ist: Trabant, Pink-Floyd-Lied, banale Masche für einen Annährungsversuch), sondern ich mache auf mein Zeigen aufmerksam. Der vermeintliche »Käfer« der Sachbezüglichkeitssemantik ist hierbei unerheblich.

§ 61. Was bedeutet es, auf das Zeigen zu zeigen? Damit sind wir aber noch nicht am Ziel. Ein weiterer, aufschlussreicher Umweg zu diesem Konzept kann aus der scholastischen Terminologie aufgefasst werden, und zwar mithilfe des Begriffspaars id quo cognoscitur und id quod cognoscitur. 15 Diese Wendungen beziehen sich ursprünglich auf den allgemeinen Begriff der »Idee« bzw. der erkannten res, welche eben auf zweierlei Weise verstanden werden kann: – –

als das, was erkannt wird (id quod cognoscitur); als das, wodurch etwas erkannt wird (id quo cognoscitur);

Wenn man dieses scholastische Schema auf die Problematik der Kommunikation/Mitteilung anwendet, ergeben sich interessante Perspek-

Siehe bspw. Thomas von Aquin, Quaestio 10 (De mente) in Quaestiones Disputatae.

15

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Mitteilung

tiven. Bleiben wir beim Mond. Indem ich jemandem den Mond zeige, tue ich Folgendes: – –

ich weise jemanden auf den Gegenstand »Mond« hin (der Mond ist in diesem Falle id quod cognoscitur); oder ich verweise jemanden auf meinen Zeigefinger, der auf den Mond zeigt (der zeigende Finger – das Aufzeigen – ist id quo cognoscitur). In erkenntnistheoretischer Sprache: Ich weise jemanden nicht auf den Mond, sondern auf mein Erkenntnisverfahren des Gegenstands »Mond« hin.

Es wäre die Frage zu stellen, ob im Prozess der Kommunikation das id quod cognoscitur oder vielmehr das id quo cognoscitur relevanter wäre. Es liegt die Vermutung nahe, dass eher im Letzeren das Wesen der Mit-Teilung walte. Und das nicht nur aus dem Grund, dass es immer noch unklar ist, was der objektive Inhalt – also das id quod cognoscitur – des Gegenstands »Mond« (oder »Farbe Blau«, oder »Schmerz«, oder »Käfer«) ist. Darüber hinaus könnte man behaupten: Ziel der Kommunikation ist nicht das Herausarbeiten eines vermeintlichen Gegenstands nach dem Muster »Käfer«, sondern das Etablieren und die Aufrechterhaltung (in den gelungenen Kommunikationsfällen) des Aufzeigungsprozesses, der primär darauf hinausläuft, ein id quo cognoscitur aufrechtzuerhalten, d. h. nicht ein was, sondern ein wodurch des Erkennens. Und dieses »wodurch« geht über die scholastische erkenntnistheoretische Einstellung insofern hinaus, als es sich hier um ein aufmerksames Zeigen auf das Wodurch der Mitteilung handelt. Was bedeutet, dass ich eine andere Person strenggenommen nicht auf den Mond, sondern auf mein Zeigen auf den Mond aufmerksam mache? Es bedeutet nichts anderes, als dass ich mit dieser Person kommunizieren möchte, indem ich sie in unseren koinos bringe, was nicht der Gegenstand der Kommunikation ist, sondern das Kommunizieren selber. Das Zeigen ist nämlich der gemeinsame Logos, der Horizont der absoluten, gemeinschaftlichen Intersubjektivität, was ich mit dieser Person immer schon absolut (losgelöst von den einzelnen, vermeintlich privaten Gegenständen) teile: Mitteilung ist nie so etwas wie ein Transport von Erlebnissen, zum Beispiel Meinungen und Wünschen aus dem Inneren des einen Subjekts in das Innere des anderen. Mitdasein ist wesenhaft schon offenbar in der Mitbefind-

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§ 62. Mitteilung als Komparenz. Zeigen und Erscheinen

lichkeit und im Mitverstehen. Das Mitsein wird in der Rede ›ausdrücklich‹ geteilt, das heißt es ist schon, nur ungeteilt als nicht ergriffenes und zugeeignetes. 16

Indem ich auf den Mond zeige, bringe ich den Mitmenschen in den Horizont der Mitbefindlichkeit und des Mitverstehens. D. h. ich versuche nicht, jemandem etwas zu »vermitteln« (aus der Reihe: »Ich bringe dir die Schönheit des Mondes oder mein inneres Gefühl von der Schönheit des Mondes aus mir heraus bei«), sondern ich versuche den Anderen durch Aufzeigen des Mondes in unser schon immer in der Sprache Geteiltes und jedoch noch nicht Ergriffenes und Zugeeignetes hinein zu bringen.

§ 62. Mitteilung als Komparenz. Zeigen und Erscheinen Was ist dieses »schon immer Geteilte«, das ich nun im Fall der Frau am Strand zu einem zugeigneten Mit-Geteilten machen will? Das ist nichts anderes als unsere Komparenz beim Anblick des Mondes, unser kommunitäres Zusammen-Erscheinen am Ort des Abends und des Mondes. Aber entscheidend ist, dass an diesem »Ort« (an einem schönen, bestirnten Sommerabend) nicht primär der Sommerabend und sein Mond, sondern wir beide als singuläre und dem schon immer Geteilten ausgesetzte Wesen erscheinen: Ein singuläres Wesen erscheint als die Endlichkeit selbst: nämlich am Ende (oder am Anfang), im Berühren der Haut (oder der Seele) eines anderen singulären Wesens, an den äußersten Grenzen derselben Singularität, die als solche stets eine andere, stets mit-geteilt, stets exponiert ist. […] An (der) Stelle einer solchen Einswerdung gibt es Kommunikation: das bedeutet nun ganz klar, daß die Endlichkeit selbst nichts ist, daß sie kein Grund, kein Wesen, keine Substanz ist. Aber sie erscheint, sie stellt sich dar, sie exponiert sich und existiert somit als Kommunikation. Um diese besondere Erscheinungsweise, diese spezifische Phänomenalität, die wohl ursprünglicher ist als jede andere (denn es wäre durchaus möglich, daß die Welt der Gemeinschaft und nicht dem Individuum er-scheint), zu bestimmen, müßte man sagen können, daß die Endlichkeit zusammen-erscheint und nur zusammen-erscheinen kann: darunter sollte man verstehen, daß sich das endliche Sein immer gemeinsam, also (zu) mehreren darstellt, und daß sich zugleich die Endlichkeit stets im Gemeinsam-Sein und als dieses Sein selbst

16

Martin Heidegger: Sein und Zeit, Tübingen: Niemeyer, 2007, S. 162.

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Mitteilung

darstellt und sie sich so stets dem richtenden Gehör und dem Urteil des Gesetzes der Gemeinschaft, oder anders gesagt, viel ursprünglicher noch, dem Urteil der Gemeinschaft als Gesetz darbietet. Die Kommunikation besteht zuallererst in dieser Mit-Teilung und dieser Komparenz der Endlichkeit: das heißt in diesem Auseinander und diesem gegenseitigen Anrufen, die sich so als konstitutiv für das GemeinsamSein erweisen – und zwar insofern als dieses kein gemeinsames Sein ist. […] Sie ist nicht in einer Gestalt eingeschlossen – obgleich sie mit ihrem ganzen Sein an ihre singuläre Grenze stößt – vielmehr ist sie, was sie ist, singuläres Sein (die Singularität des Seins), nur durch ihre Extension, durch ihre Arealität, die sie – ohne Ausmaß oder Begehren ihres ›Egoismus‹ zu berücksichtigen, vor allem nach außen in ihr eigenes Sein kehrt und so die Singularität nur dadurch existieren läßt, daß sie sie einem Draußen aussetzt. Und dieses Draußen selbst ist seinerseits nichts anderes als die Exposition einer anderen Arealität, einer anderen Singularität – dieselbe, anders. Diese Exposition oder diese exponierende Mit-Teilung gibt von Anfang an Anlaß zu einem gegenseitigen Anrufen der Singularitäten, das jeder sprachlichen Anrede weit vorausgeht (wohl aber die erste Bedingung der Möglichkeit der Sprache darstellt). 17

Der Herausgeber von Nancys Text weist in der Fußnote darauf hin, dass der thematische und terminologische Drehpunkt dieser Textpassage das Zusammenerscheinen ist. Nancy verwendet die französischen Wörter comparaitre, das mit »zusammen-erscheinen«, und comparition, die mit »Komparenz« übersetzt werden. Der Sinn dieser Termini wird genauer präzisiert: In diesem Sinn geht die Komparenz der singulären Seienden sogar der Vorbedingung von Sprache voraus, die Heidegger als vorsprachliche Auslegung verstand, und auf die ich die Singularität der Stimmen in Le Partage des voix bezogen habe. Anders als man aufgrund dieses Textes vielleicht hat annehmen können, führt die Mit-Teilung der Stimmen nicht zur Gemeinschaft; sie hängt vielmehr von jener ursprünglichen Mit-Teilung, die die Gemeinschaft ›ist‹, ab. Oder anders gesagt, diese ›ursprüngliche‹ Mit-Teilung selbst ist nichts anderes als eine ›Mit-Teilung‹ der Stimmen, aber auch dann müßte die ›Stimme‹ anders denn als sprachliche oder auch ›vorsprachliche‹ Stimme verstanden werden, nämlich als gemeinschaftliche Stimme. 18

Dieser phänomenologische Ansatz könnte weiter artikuliert werden. Ich zeige einer Frau den Mond, weil ich mit ihr kommunizieren will, d. h.: Ich will, dass meine Endlichkeit durch ihre Endlichkeit mit dieJean-Luc Nancy: Die undarstellbare Gemeinschaft, Stuttgart: Edition Patricia Schwarz, 1988, S. 62–65. 18 Ebenda, S. 65. 17

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§ 62. Mitteilung als Komparenz. Zeigen und Erscheinen

ser zusammenerscheint. Ich will unsere beiden Endlichkeiten in das Draußen des Zugeteilten und Noch-nicht-Ergriffenen bringen. Ich will, dass wir cum-pars haben – mit-erscheinen, was etymologisch auch »mit-teil haben« bedeutet –, und zwar durch die Aussetzung meiner Stimme zum Mond, die möglicherweise von ihrer Stimme zum Mond auseinandergeht; ich will, dass wir beide am Mond stimmen. Ich will keinen »Mond« ausdrücken in dem Sinne, dass ich meine private mentale Repräsentation nach außen bringen will, aus dem einfachen Grund, dass sie bereits draußen ist: Unsere Stimmen zum Mond, was auch immer sie sagen, sind schon Draußen als das Zwischen, das Wodurch, das Zusammen-Erscheinen der Mitteilung. Mitteilung ist Mitteilung der Stimmen. Unsere Stimmen sprechen nicht von Mond, sondern von unseren Stimmen selbst und von ihrem gegenseitigen Rufen. Wir beide und unsere ausgesetzten Stimmen erscheinen: Nur wir beide. Kommunikation als Mit-Teilung betrifft nicht so etwas wie zwei »Subjekte«: Sie ist vielmehr die Exposition/ Aussetzen des gemeinsamen Logos im Zwischen. Mitteilung ist das Zwischen: Die Endlichkeit erscheint zusammen, das heißt sie wird exponiert: das ist das Wesen der Gemeinschaft. Die Kommunikation ist unter diesen Bedingungen kein ›Band‹. Die Metapher des ›sozialen Bandes‹ stülpt fatalerweise über irgendwelche ›Subjekte‹ (das heißt: Objekte) eine hypothetische Wirklichkeit (die des ›Bandes‹), der man verzweifelt eine fragwürdige ›intersubjektive‹ Natur zuzuweisen sucht, die die Gabe besäße, diese Objekte miteinander zu verknüpfen; und dies wäre dann ebenso das ökonomische Band wie auch das Band der Anerkennung. Aber die Komparenz ist von ursprünglicherer Ordnung als das Band. Sie konstituiert sich nicht, bildet sich nicht, noch erscheint sie zwischen bereits gegebenen Subjekten (Objekten). Sie besteht im Erscheinen des Zwischen als solchem: du und ich (das Zwischen-uns); in dieser Formulierung hat das und nicht die Funktion des Nebeneinandersetzens, sondern die des Aussetzens. Im Zusammen-Erscheinen wird folgendes exponiert – und dies sollte man in allen denkbaren Kombinationen zu lesen wissen: ›du (b(ist) / und) (ganz anders als) ich‹; oder einfacher gesagt: du Mit-Teilung ich. 19

19

Ebenda.

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Mitteilung

§ 63. Aufmerksamkeit Wenn wir uns von der Idee verabschieden, dass Mitteilung ein Transport »aus dem Inneren in das Innere« ist, dann blickt das wahre Wesen der Mitteilung hervor, was eben ein Teilen der aufmerksamen Mitbefindlichkeit und Mitverstehen ist. »Aufmerksam« ist kein zufälliges Stichwort, das mit dem von Nancy erwähnten Gehör zusammenhängt. Mitteilung gedeiht nur, wenn man auf dieses ausgesetzte Draußen der Stimmen aufmerksam ist. Aufmerksam ist somit allem Anschein nach ein dichter Begriff. 20 Dass Mitteilung oft scheitert – was ein unleugbares Faktum ist – liegt somit nicht am Fehlen des Verständnisses oder an der mangelhaften Herausarbeitung eines vermeintlich »Inneren«, sondern am Fehlen der Aufmerksamkeit. Aber Worauf ist man – oder ist man nicht – aufmerksam? A) Zunächst auf das kommunitäre Zwischen: Eine Person hört meinen Satz über den Mond und glaubt, dass ich ihr etwas zum Gegenstand »Mond« beibringen will, aber übersieht dabei, dass ich eigentlich ihre Mit-Stimme zum Mond teilen will; sie ist nicht aufmerksam auf meine Stimme und meine Aufforderung zur Mit-Stimme; B) Die Mit-Stimme könnte erfolgen und behaupten: »Ich finde den Mond doch nicht so schön«. Ich könnte trotzigerweise enttäuscht sein und dabei die kommunikative Tatsache übersehen, dass die andere Person ihre Stimme doch auch durch die Dementierung meines Kommentars ausgesetzt hat – sie hat riskiert, mich zu enttäuschen, aber ich begreife nicht, dass dieses Risiko und die dementsprechende ruppige Widerlegung ein authentischer kommunikativer Akt ist. Ich bin nicht aufmerksam gegenüber ihrer Mit-Stimme; C) Wir streiten über die Schönheit des Mondes und übersehen dabei, dass auch dieses Streiten ein Geteiltes ist; wir sind nicht darauf aufmerksam, dass das Auseinandergehen der Stimmen ein konstitutives Moment unserer Komparenz ist;

Das bedeutet ein Begriff im Spannungsfeld von Erkenntnistheoretischem und Moralischem. Auch der Begriff des »Fremden« scheint ein solcher zu sein, vgl. Kapitel über Zweiteilung.

20

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§ 64. Dieselben Worte mit unterschiedlicher Bedeutung

D) Wir fragen uns einander nicht, warum der eine den Mond anders empfindet, als der andere. Wir sind darauf nicht aufmerksam, dass der gemeinschaftliche Logos der Komparenz sich nicht auf einmal gänzlich zeigt, sondern schrittweise – durch forstschreitende Zueignung und Ergreifen der Stimmen. Wodurch entstehen nämlich die sogenannten Kommunikationsschwierigkeiten? Diese sind meistens ein noch mangelhaftes Ans-Licht-Bringen des Geteilten. In dieser Hinsicht sollte der Spruch »Kommunikation ist alles« folgendermaßen umformuliert werden: »Ständige, ununterbrochene Kommunikation ist alles«, was das Geteilte zur fortschreitenden Zueignung bringt: Die Hervorbringung in das Mit-Erscheinen des Noch-NichtKommunitär-Erschienenen. Kommunikation als Mitteilung/Komparenz scheitert somit an der fehlenden Geduld oder an der Eile – man denkt, dass man schon kommuniziert hätte, wohingegen die Schleier noch enthüllt werden sollten.

§ 64. Dieselben Worte mit unterschiedlicher Bedeutung hoi polloi behaupten, dass man oft dieselben Worte mit unterschiedlicher Bedeutung verwende, und dies sei ein gewichtiger Grund für Kommunikationsmissverständnisse. Ich könnte mich z. B. an einem Sommerabend und bei Betrachtung des Mondes an eine Frau wenden und ihr sagen, ich möchte eine Beziehung mit ihr. Was verstünde man aber unter »Beziehung«? Dieses Wort hat unterschiedliche Bedeutungen, damit könnte bspw. 1) eine ernste, zukunftsprojizierte Beziehung, und/oder 2) eine mitmenschliche, locker-intime Freundschaftsrelation, und/oder 3) eine unverbindliche, sommerliche Spaßbeziehung gemeint sein. Ich verwende das Wort mit einer Bedeutung, sie versteht das Wort in einer anderen Facette, und wir haben am Ende nicht kommuniziert – so wie hoi polloi behaupten, nach denen jeder eine private Vernunft hat, d. h. jeder versteht das Wort unterschiedlich, weil dasselbe Wort offensichtlich auf unterschiedliche Mentalschemata zurückführt. Dies ist aber ein falsch gestelltes Problem. Die Aussage dient eher als Rechtfertigung für die Ungeduld zum Kommunizieren, sozusagen als Alibi. Selbst in der Annahme, dass Worte auf unterschiedliche Schemata zurückführen, sehen wir doch im Akt des Kommunizieren den Unterschied zwischen diesen Schemata. Ich verwende ein Wort, deren Facetten die Frau aus dem Beispiel doch kennt. 277 https://doi.org/10.5771/9783495820704 .

Mitteilung

Diese Frau weiß genau, was »Beziehung« 1, 2, und 3 bedeuten kann. Der Satz »wir sprechen verschiedene Sprachen« heißt in erster Linie: Wir wissen und verstehen, dass wir verschiedene Sprachen sprechen, wir teilen das verbale Missverständnis innerhalb eines kommunikativen Verstehens. Missverständnis ist ein Teil, oder ein Moment des Verstehens: Wir verstehen, dass wir uns (gerade) nicht verstehen. Wir sehen, dass wir unterschiedliche Beziehungserwartungen haben und wir sehen auch das Kommunizieren der unterschiedlichen Erwartungen durch den Satz »wir blicken nicht in dieselbe Richtung«, der unsere unterschiedliche Einstellung ans Tageslicht bringt. Wir sehen den kommunikativen Bruch, also wir kommunizieren – teilen und mitteilen – diesen Bruch. Wir sind im Bruch und teilen die (kommunikative) Krise, denn wir erscheinen beide in der partage der Stimmen. Ein allererster Schritt einer Ethik der Kommunikation sollte somit darin bestehen, diesen Bruch zu dulden – nur das Dulden der Geduld kann nämlich den Bruch überbrücken. Und zu realisieren, dass dieser Bruch der Kommunikation ein wesentliches Moment der Kommunikation ist. Wenn Kommunikation nicht gelingt, liegt es nicht daran, dass man »verschiedene Sprachen spricht«, sondern, dass man keine Geduld hat, den (vorläufigen) semantischen Bruch und seine (vorläufig) abgespaltenen Seiten zur Wiedervereinigung zu bringen. Auf ähnliche Art und Weise, wie der Arzt mehrere und wiederholte Fragen stellen sollte, um das Schmerz- und Krankheitsbild einzuordnen. Würde ein Arzt sich auf wenige Fragen beschränken, könnte er den Schmerz missverstehen und auf die falsche Idee kommen, dass sein »Schmerz« unterschieden von dem Schmerz des Patienten ist – wobei es sich dabei nur um eine noch unzulängliche Einordnung handeln würde. Der Schmerz ist hingegen genau derselbe, denn sowohl der Arzt als auch der Patient haben die Semantik (das Sprachspiel) des Wortes »Schmerz« kommunitär gelernt 21 und diese »Wie beziehen sich Wörter auf Empfindungen? Darin scheint kein Problem zu liegen; denn reden wir nicht täglich von Empfindungen, und benennen sie? Aber wie wird die Verbindung des Namens mit dem Benannten hergestellt? Die Frage ist die gleiche wie die: wie lernt ein Mensch die Bedeutung der Namen von Empfindungen? Z. B. des Wortes ›Schmerz‹. Dies ist eine Möglichkeit: Es werden Worte mit dem ursprünglichen, natürlichen, Ausdruck der Empfindung verbunden und an dessen Stelle gesetzt. Ein Kind hat sich verletzt, es schreit; und nun sprechen ihm die Erwachsenen zu und bringen ihm Ausrufe und später Sätze bei. Sie lehren das Kind ein neues Schmerzbenehmen. ›So sagst du also, daß das Wort ›Schmerz‹ eigentlich das Schreien

21

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§ 64. Dieselben Worte mit unterschiedlicher Bedeutung

soll jetzt ebenso kommunitär wieder herausgefordert werden – wahrscheinlich durch genauso so lange Zeit und ebenso viele Geduld, die der Lernprozess ursprünglich einmal erforderte. Und genauso empathisch-sympathisch, denn: Der sprachliche Schmerzausdruck, genauso wie jede kommunikative Beschreibung der Stimmungen und Gefühle, wurde mit langer Zeit und mitmenschlicher Sympathie beigebracht (oder nicht beigebracht: Diejenigen, die anders lieben, haben nicht einen privaten Begriff der Liebe, sondern sie haben einfach keinen und verwechseln einen unterschiedlichen, ebenso kommunitär gelernten Begriff mit dem Begriff der Liebe – sie verwechseln z. B. Eifersucht mit Liebe). Wer Liebe mit Eifersucht verwechselt, der »liebt« nicht anders, sondern er nimmt an einem gemeinsamen, gemeinschaftlichen Begriff der Liebe, der immer derselbe ist, einfach nicht teil. Denn Liebe ist ein koinon, genauso wie Eifersucht und jede andere Empfindungsform. Wenn man sagt: »du verstehst nicht, wie ich das meine«, sollte man eigentlich die Frage folgendermaßen zurückwerfen: »Verstehe ich eigentlich, wie ich das meine?«. In diesem Falle würde das richtige, kommunitäre Wort automatisch erfolgen. Kommunikationsprobleme entstehen nicht durch vermeintliche Privatsprachen, sondern durch die Verwechslung eines Sprachspiels mit einem anderen. Aber beide Sprachspiele sind kommunitär sichtbar. Deshalb rettet das richtige Wort die Kommunikation, wenn es sich auf das richtige Spiel bezieht. Und dieses Spiel wird sym-pathisch mit-ertragen, durch das gemeinschaftliche Auf-sich-Nehmen der Last der Kommunikation und durch das gemeinschaftliche Interesse, bedeute?‹ Im Gegenteil; der Wortausdruck des Schmerzes ersetzt das Schreien und beschreibt es nicht« (Wittgenstein 2003, § 244); »Inwiefern sind nun meine Empfindungen privat? – Nun, nur ich kann wissen, ob ich wirklich Schmerzen habe; der Andere kann es nur vermuten. Das ist in einer Weise falsch, in einer andern unsinnig. Wenn wir das Wort ›wissen‹ gebrauchen, wie es normalerweise gebraucht wird (und wie sollen wir es denn gebrauchen!), dann wissen es Andre sehr häufig, wenn ich Schmerzen habe. – Ja, aber doch nicht mit der Sicherheit, mit der ich selbst es weiß! – Von mir kann man überhaupt nicht sagen (außer etwa im Spaß), ich wisse, daß ich Schmerzen habe. Was soll es denn heißen – außer etwa, daß ich Schmerzen habe? Man kann nicht sagen, die Andern lernen meine Empfindung nur durch mein Benehmen, denn von mir kann man nicht sagen, ich lernte sie. Ich habe sie. Das ist richtig: es hat Sinn, von Andern zu sagen, sie seien im Zweifel darüber, ob ich Schmerzen habe; aber nicht, es von mir selbst zu sagen(ebenda, § 248). Der Satz ›Empfindungen sind privat‹ ist vergleichbar dem: ›Patience spielt man allein.‹ (ebenda, § 246); Sind wir vielleicht voreilig in der Annahme, daß das Lächeln des Säuglings nicht Verstellung ist? Und auf welcher Erfahrung beruht unsre Annahme? (Das Lügen ist ein Sprachspiel, das gelernt sein will, wie jedes andre)« (ebenda, § 249).

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Mitteilung

im Inter-esse der Kommunikation 22 zu stehen. Ich bin inter-, zwischen dir und unserer Sprache. Es handelt sich um ein geteiltes Verständnis, dass allen Streitigkeiten und Abmachungen vorausgeht: Bauman unterscheidet alte Gemeinschaft von moderner Gesellschaft und weist darauf hin, dass es um ein ›von all ihren Mitgliedern geteiltes Verständnis‹ geht: Das Gemeinschaftliche, tatsächliche (Heidegger würde sagen: zuhandene) Verständnis muß nicht erst gesucht, geschweige denn mühsam konstruiert oder erkämpft werden: Dieses Verständnis ›ist da‹, steht fix und fertig zur Verfügung – man versteht sich ›ohne Worte‹ und muß niemals fragen: ›Woraus willst du eigentlich hinaus?‹ Das Verständnis, auf dem Gemeinschaft beruht, geht allen Streitigkeiten und Abmachungen voraus. Es ist nicht das Ergebnis, sondern der Beginn des Zusammenlebens. Tönnies definiert es als eine ›gegenseitig-gemeinsame, verbindende Gesinnung‹, als ›eigener Wille einer Gemeinschaft‹, dem allein es zu verdanken ist, daß die Menschen in ihr ›verbunden‹ bleiben ›trotz aller Trennungen‹. 23

Es könnte natürlich auch sein, dass wir – oder einer von uns – das Teilen der Mitbefindlichkeit nicht wollen. In dieser Hinsicht ist gescheiterte Kommunikation keine kognitive, sondern eine konative Problematik. Diese tritt ein, wenn die Aussetzung der Kommunikation nicht fortgesetzt wird – was eben bedeutet: Wenn der Mensch das Sich-Zeigen des gemeinschaftlichen Logos unter dem Vorwand der »privaten Vernunft« abbricht. Eine »private Vernunft«, die wohlgemerkt auch ein weiteres Problem aufweisen kann, nämlich nicht nur die vermeintliche »Inkommunikabilität« des vermeintlich privaten Inhaltes (Gefühl, Empfindung, Denkinhalt), sondern auch eine persönliche Verwirrung: Hey girl stop what you’re doin’! / Hey girl you’ll drive me to ruin. / I don’t know what it is that I like about you / But I like it a lot 24 behauptet Robert Plant, der eben nicht genau weiß, was genau seine Stimme aussetzt, diese wird jedoch stark ausgesetzt – und das ganze Lied vermittelt eben nichts anderes als diese inhaltslose Aussetzung selber: Communication breakdown / It’s always the same / I’m having a nervous breakdown / Drive me insane! Er vermeint, dass er etwas mitteilen soll (Hey girl I got something I think you ought to know), aber es gibt eigentlich kein »Etwas«, denn alles, was er aussetzen sollte, hat er schon getan, nämlich sein »nerv22 23 24

D. h. ich bin zwischen dir und unserer Sprache. Zygmunt Bauman: Gemeinschaften, Frankfurt am Main, Suhrkamp, 2017, S. 16. Robert Plant: Communication Breakdown, in: Led Zeppelin (1969).

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§ 65. Ver-rückte Komparenz

ous breakdown«. Dies ist viel objektiver als jegliches vermeintliche »Etwas« der Kommunikation, das es natürlich nicht gibt, denn es gibt nur die Draußen-Aussetzung, die in diesem Fall nicht korrespondiert wird: In dem Lied ist die Stimme der Frau, unabhängig davon, was sie hätte sagen können, gar nicht zu hören: communication breakdown, keine Komparenz.

§ 65. Ver-rückte Komparenz Es wäre also offensichtlich höchste Zeit, sich von den an der »KäferGegenstandsbezeichnung«, »Vermittlung/Übertragung« und »Privatsprache« orientierten Kommunikationstheorien zu verabschieden, und vielmehr die Züge einer Mitteilungstheorie der Em-/Sympathie zu umreißen. Es gilt, das Wesen der Sympathie in der Kommunikation zu rehabilitieren. Kommunikative Sympathie konfiguriert sich, im nicht banalen Sinne (also nicht als bloße Aufgeschlossenheit und abgedroschene, »erbauliche« Dialogbereitschaft) als: Sich-Mit-Befinden (als ein pathein, das nicht im reduktiv-pathischen Sinn zu verstehen ist). Es ist nicht nur ein »Mitgefühl« – welches entstehen oder nicht entstehen kann, aus der Reihe: »Ich finde den Mond schön, du findest ihn aber banal«. sym-pathein hieße in dieser Hinsicht nicht primär, die Befindlichkeit des Anderen mit-wahrzunehmen, sondern die Mit-Befindlichkeit von uns beiden ernst zu nehmen. Dies bedeutet zu sehen und zu begreifen, dass wir beide auf den Mond zeigen. Wir beide sehen die Komparenz, nämlich die Tatsache, dass wir beide bereits in einem kommunikativen Feld sind, womöglich auf semantisch »verrückte«, auseinanderliegende Weisen, deren Bruch und Diskrepanz jedoch durch symphathein in den gemeinschaftlichen Logos aufgelöst werden können – denn selbst dieser Bruch ist nicht ein vermeintlich unüberwindbares Hindernis der Kommunikation, sondern ein wesentliches Moment der Annährung an den gemeinschaftlichen Logos. Auch der Bruch wird mit-geteilt, denn Kommunikation ist genauer besehen auch das Feld innerhalb dieses Bruches. Dies gilt auch für diejenige kommunitäre Mitteilungsperspektive, die die Gemeinschaft der Liebenden ist, Thema des nächsten Kapitels.

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Zwölftes Kapitel: Gegenteil. Eros und Anteros als Formen der Gemeinschaft

§ 66. Fünf Formen der Liebe Diejenige grandiose Sprache, die die griechische Sprache ist, unterscheidet mindestens fünf Formen der Bezeichnung für das deutsche Wort »Liebe«. Es handelt sich um ἔρως (ungenauerweise mit »erotischer Liebe« übersetzt), ἀγάπη (was ein im biblischen Kontext sehr ausgeschöpfter Begriff ist, der in caritas übersetzt und mit einer Art »bedingungsloser Liebe« assoziiert wird); und darüber hinaus kommen noch drei Formen hinzu, die in einem bestimmten Verhältnis zueinander stehen: στοργή, die Liebe zu dem Verwandten, φιλία, die Liebe zum Freund, ξενία, die Liebe zum Fremden. Es erscheint klar, inwiefern diese letzten drei Formen in einem engen Verhältnis stehen: In dieser Reihenfolge verdeutlichen sie einen absteigenden Grad an Familiarität des geliebten Objektes. Ich liebe bei der storghé den Verwandten, weil er familiär ist – il familiare mi è familiare, wie ein italienisches Wortspiel durch die Homofonie vom Substantiv »familiare«, »der Verwandte«, und Adjektiv »familiare«, »vertraut«, auf ausgezeichnete Weise zum Ausdruck bringt. Dies bedeutet, ich liebe am Verwandten/familiare genau das, was ich an mir liebe – ich liebe seine Nase, weil sie mich an meine Nase erinnert, seine Art, weil sie dieselbe Art ist, die ich von ihm geerbt und gelernt habe. Der Verwandte ist bei der storghé meistens ein Homologon, er ist mir sehr vertraut, weil wir einander extrem ähnlich sind. Der Freund, dem gegenüber ich philia empfinde, ist auch vertraut und ähnlich, allerdings nicht im selben Grade wie der Verwandte. Mein Freund und ich haben ähnliche Interessen, eine sehr ähnliche Sensibilität, ich teile mit ihm sogar eine politische Dimension (wie Aristoteles’ Ausführungen über die Freundschaft bezeugen), wir sind allerdings nicht verwandt – philia ist nicht storghé. Noch weniger vertraut/ähnlich/familiär ist mir aber der Unbekannte, dem gegenüber ich xenia empfinden kann: die Liebe zum 282 https://doi.org/10.5771/9783495820704 .

§ 67. Familiengeschichte des Eros

Unbekannten, eine Liebesform, die einen ganz besonderen, aporetischen Status hat. Die xenia ist in vielerlei Hinsicht eine Kurzschlussliebe. Es handelt sich, bei diesen fünf Formen der Liebe, dennoch um sehr plastische und flexible Begriffe, sodass diese auch Mischformen und Überkreuzungen zulassen. 1 Unbeschadet der Komplexität des Phänomens »Liebe« im Altgriechischen ist aber im Kapitel über das Gegenteil eher die erste Form der Liebe, Eros, relevant, weil sie vor diesem Hintergrund Eigenspezifika aufweist, die wenngleich versteckte, jedoch für den Geist dieser Arbeit sehr relevante Gemeinschaftszüge in sich tragen.

§ 67. Familiengeschichte des Eros Der erste erhebliche Unterschied zwischen Eros und den restlichen Formen der Liebe besteht darin, dass Eros strenggenommen keine Liebesform – also keine primär begriffliche Kategorie –, sondern ein Gott ist. Genauer gesagt ist Eros ein Gott in der Tradition Hesiods, wobei auch dort der Sinn und der ontologische Status dieser Figur alles anderes als eindeutig ist. Dagegen ist Eros ein Dämon in der platonischen Tradition, und zwar in derjenigen ausführlichen Darstellung, die das Symposion präsentiert. Bei Hesiod ist Eros eine Verbindungskraft, eine gleichsam göttliche Urpotenz, welche die Gegensätze verbindet: Zuerst nun war das Chaos, danach die breitbrüstige Gaia, niemals wankender Sitz aller Unsterblichen, die den Gipfel des beschneiten Olymps, den finsteren Tartaros bewohnen in der Tiefe der breitstrassigen Erde; weiter Bereits wenige Beispiele geben die Flexibilität dieser Begriffe wieder: Eine gute Freundin von mir kann irgendwann zu meiner Partnerin werden (philia gleitet in eros), genauso wie meine damalige Partnerin nach unserer Trennung zu einer vertrauten Freundin wird (eros gleitet in philia). Einst vertraute Partner können sich irgendwann auseinander leben, getrennte Wege gehen und jedoch »sich gut kennen« (Entartung des eros und philia in eine besondere Form der xenia); man verliebt sich in einen Unbekannten, den wir nicht kennen (xenia) und dieser wird zu unserem Partner (eros); Partner werden zu Eheleuten und gründen somit eine Familie, sie werden Familienmitglieder (philia und eros entwickeln sich in storghé); eine Frau bei einem unserer ersten dates sagt zu mir »du kommst mir irgendwie zugleich vertraut und unvertraut vor« (interessante Mischform von eros, philia und xenia); eine Tochter hat mit der eigenen Mutter ein »Freundschaftsverhältnis« (storghé weist Aspekte der philia auf) usw.

1

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Gegenteil

entstand Eros, der schönste der unsterblichen Götter, der gliederlösende, der allen Göttern und Menschen den Sinn in der Brust überwältigt und ihr besonnenes Denken. 2

Eros ist eine urursprüngliche Kraft, die Gegenteile verbindet (Chaos, die gähnende Leere, und Gaia, die feste Erde; und dann Gaia, Erde, und Uranos, Himmel): Es handelt sich um eine »demiurgische Potenz«, »ein Prinzip, das die Theogonie erst ermöglicht«; eine »latente Wirklichkeit, die später erst in Erscheinung tritt«. 3 Eros ist ein latentes, erst später in Erscheinung-tretendes Verbindungsprinzip. Ein ursprüngliches und allem vorausgehendes Verbindungsprinzip, das wegen seiner latenten Eigenschaften allem zugrunde liegt, aber erst an einem geeigneten Zeitpunkt (kairos) in Erscheinung tritt. Hierbei sollte man über die bloße, im heutigen Sinne reduktiv gemeinte »Erotik« hinausdenken: Eros erinnert stark, wenn man die kosmologische Tragweite dieser Darstellung ernst nimmt, an Bindungskräfte zwischen Atomen und Molekülen, die Kohäsion. Eros als Kohäsion. Soweit ist aber, wenngleich etwas Wesentliches, so doch noch nicht viel über Eros gesagt worden, denn diese göttliche Figur nimmt bei Platon weitere Züge an, indem nicht mehr das Göttliche, sondern das Dämonische daran betont wird. Auch dieser zweite Aspekt des Eros hängt in gewisser Hinsicht mit der Verbindungskraft zusammen: Ein Daimonion ist eine Kraft, die trennt und zugleich verbindet (»Ich bin ein Teil von jener Kraft, die stets das Böse will, und stets das Gute schafft« 4, wie sich Mephistopheles vorstellt). Eros ist bei Platon ein Dämon, »zwischen einem Sterblichen und Unsterblichem«, wie Diotima im Symposion darüber berichtet. 5 Insofern steht er in der Mitte zweier Dimensionen, die zahlreiche gegenteilige Aspekte gegeneinander aufweisen. Es gilt das Wesen dieses dämonischen Eros näher kennenzulernen. Nach verschiedenen Definitionen und Erörterungen des Eros kommt Sokrates im Symposion dazu, davon zu berichten, was er von einer Frau aus Mantineia über die Liebe gelernt habe: »Die Rede Hesiod: Theogonie, vv. 116–122, S. 13. Otto Schönberger: »Anmerkungen«, in Theogonie, S. 86–87. 4 Johann Wolfgang Goethe: Faust I, 1336–1337, Frankfurt a. M./Leipzig: Insel Verlag, 2003, S. 64. 5 Man hat hier auch mit einer hendiadyionischen Erzählungsstruktur zu tun: Diotima ist eine Frau, deren Lehre über die Liebe von Sokrates wiedergegeben wird, der wiederum eigentlich Platon ist. 2 3

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§ 67. Familiengeschichte des Eros

über den Eros, aber, die ich einst von Diotima, einer Frau aus Mantineia, gehört habe, die hierüber und über vieles andere sehr gut Bescheid wusste.« 6 Es handelt sich um die allbekannte Diotima-Rede, der relevanteste Standpunkt über den Eros der platonischen und, allgemeiner, der griechischen Philosophie. Es wird im Symposion die Frage gestellt, was Eros sei, und ein von Diotima unterrichteter Sokrates kann daraufhin mit Kenntnis antworten: Wie vorher (gezeigt), sagte sie, (etwas) zwischen einem Sterblichen und Unsterblichem. Was also, Diotima? Ein großer Dämon, Sokrates, denn alles Dämonische steht zwischen Gott und den Sterblichen. Mit welcher Macht und Fähigkeit ausgestattet?, fragte ich. Mit der Fähigkeit, auszulegen und den Göttern zu überbringen, was von den Menschen, und den Menschen was von den Göttern kommt, von den einen die Gebete und Opfer, von den anderen die Forderungen und Antworten auf die Opfer, füllt das Dämonische, in der Mitte zwischen beiden stehend, (den Raum aus), sodass das All mit sich selbst verbunden ist. […] Ein Gott hat mit einem Menschen keinen direkten Kontakt, sondern durch dieses (Dämonische) vollzieht sich jeder Umgang und jedes Gespräch der Götter mit den Menschen, sowohl wenn sie wach sind als auch wenn sie schlafen. 7

Soweit ist alles noch recht Hesiod ähnlich, denn es wird die Bindungskraft des Eros als mediales Wesen hervorgehoben. Eros ist ein Zwitterwesen, das in medialer Art und Weise Kommunikation stiftet. Eros ist in gewisser Hinsicht eine Grenze: Er zeigt Unterschiede auf, indem er die qualitativ unterschiedlichen Seiten trennt, die doch durch Eros auch in Verbindung gebracht werden, in einen parakonsistenten Zusammenhang (vgl. Kapitel über Abteilung). Um aber Eros (ebenso wie alles andere Göttliche und Dämonische) genauer zu erkennen, ist es erforderlich, seine Genealogie zu kennen. Und an dieser Stelle fängt eine »längere Geschichte« an, die hier wiedergegeben werden soll: Wer aber ist sein Vater und wer seine Mutter?, fragte ich. Das ist eine längere Geschichte, sagte sie, dennoch will ich sie dir erzählen. Denn als Aphrodite geboren war, feierten die Götter ein Festmahl – unter ihnen auch Poros, der Sohn der Metis. Als sie aber gespeist hatten, kam Penia, um sich etwas zu erbetteln, da es ja ein Festschmaus war, und 6 7

Platon: Symposion, 201d, Stuttgart: Reclam, 2006, S. 91. Ebenda, 202e-203b, S. 95–97.

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Gegenteil

stand vor der Tür. Da ging Poros, vom Nektar berauscht (denn Wein gab es noch nicht), in den Garten des Zeus und schlief dort seinen Rausch aus. Penia nun, die wegen ihrer eigenen Bedürftigkeit darauf sann, sich ein Kind von Poros machen zu lassen, legte sich zu ihm und empfing den Eros. Deshalb also wurde Eros ein Begleiter und Diener der Aphrodite, weil er an ihrem Geburtstag gezeugt wurde und er zugleich von Natur aus ein Liebhaber des Schönen ist und Aphrodite ja schön ist. Da also Eros ein Sohn des Poros und der Penia ist, wurde ihm ein derartiges Los zuteil: Zuerst ist er immer arm und beileibe nicht zart und schön, wie die meisten glauben, sondern rau, ungepflegt, barfuß und ohne Wohnung, immer auf dem Boden liegend und ohne Decken vor Türen und an Wegen unter freiem Himmel schlafend; der Natur seiner Mutter nach ist er stets ein Gefährte der Bedürftigkeit. Vom Vater her andererseits kommt es, dass er den Schönen und Guten nachstellt, tapfer, verwegen und energisch ist, ein gewaltiger Jäger, immer irgendwelche Kniffe ins Werk setzend, begierig nach Einsicht und erfinderisch, sein Leben lang die Weisheit liebend, ein mächtiger Zauberer und Giftmischer und Sophist. Und weder ein Unsterblicher ist er von Natur aus noch ein Sterblicher, sondern bald blüht er an einem und demselben Tag auf, wenn er Erfolg hat, bald stirbt er dahin, lebt aber wieder auf wegen der Natur seines Vaters; was er aber gewinnt, verrinnt ihm stets wieder, sodass Eros weder jemals Mangel leidet noch reich ist und auch in der Mitte zwischen Wissen und Unwissenheit steht. Es verhält sich nämlich folgendermaßen: Von den Göttern verlangt niemand nach Weisheit und keiner begehrt, weise zu werden – er ist es ja schon –, und auch sonst, wenn jemand weise ist, verlangt er nicht nach Weisheit. Andererseits verlangen auch die Unwissenden nicht nach Weisheit und begehren nicht, weise zu werden, denn genau das ist das Problem mit der Unwissenheit, dass einer, auch wenn er nicht schön, gut und verständig ist, mit sich selbst ganz zufrieden sein zu können glaubt. Deshalb begehrt derjenige, der nicht glaubt, bedürftig zu sein, nicht das, dessen er nicht zu bedürfen meint. Wer denn, Diotima, fragte ich, sind überhaupt jene, die nach Weisheit verlangen, wenn es weder die Wissenden noch die Unwissenden sind? Sie erwiderte: Das ist doch wirklich schon einem Kind völlig klar, dass es diejenigen zwischen diesen beiden Seiten sind, zu denen wohl auch Eros gehört. Denn die Weisheit gehört ja zum Allerschönsten, Eros aber ist das Verlangen nach dem Schönen, sodass Eros notwendigerweise nach der Weisheit verlangt und als einer, der nach der Weisheit verlangt, in der Mitte zwischen einem Wissenden und Unwissenden steht. Ursache dafür ist auch seine Herkunft; denn er stammt von einem wissenden und einfallsreichen Vater und von einer unwissenden und einfallslosen Mutter. Das also, lieber Sokrates, ist das Wesen des Dämons. 8

8

Ebenda, 203c-204b, S. 97–101.

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§ 67. Familiengeschichte des Eros

Eros wird somit im Zeichen der Aporie geboren: Seine Eltern verkörpern Gegenteile, er stammt »von einem wissenden und einfallsreichen Vater« (der immer einen Lösungs»weg« findet, sei er auch noch so schwierig und schmal, wie »Poros« ist) und von einer »unwissenden und einfallslosen Mutter«, und »weder ein Unsterblicher ist er von Natur aus noch ein Sterblicher«. Er »blüht«, »stirbt aber auch bald dahin«, dann »lebt er wieder«. Wie die Philosophen, die nach der Weisheit verlangen, steht er »in der Mitte zwischen einem Wissenden und Unwissenden«. Gemäß seines gegenteiligen Ursprungs (Poros vs. Penia) sind auch seine Merkmale gegenteilig, denn er ist »der schönste unter allen Göttern« (Hesiod), sieht aber wie ein Obdachloser aus (Platon). Eros ist der Mangel, denn das Begehren begehrt immer etwas, dessen es ermangelt; es findet jedoch immer den Weg, um das Begehrte zu erreichen. Mangel und Begehren stehen bei Eros in einem parakonsistenten Verhältnis, auch bzgl. der begehrten Weisheit. Man kann nämlich nichts begehren, das man gar nicht kennt, sondern nur etwas, das man auf mangelhafte Art und Weise kennt; und das Begehren agiert sich bei der Suche nach einem Weg zur Erreichung des begehrten Gegenstands aus. Dieser Weg soll jedoch noch zurückgelegt werden. Dieses Prinzip betrifft im Grunde das Wesen des Begehrens als de-siderium – man sieht die Sterne, also sucht man den Weg zu ihnen, obwohl und gerade weil man an die Sterne nicht herankommen kann. Dies ist die Logik des Wortes DE-SIDERÀRE, 9 ein Beschauen der Fluchtpunkte – wie Dota Kehr in einem Liebeslied ausdrückt: »Verzweifelt ob der Müh der langen Straßen. Was soll ich hier? Seh keine weiten Wege, seh nur Fluchtpunkte auf dem Weg zu Dir«. 10 Und weiterhin: Niemand begehrt das absolut Unbekannte, genauso wie der/das Fremde nicht das absolut Fremde ist, sondern ein qualitativ unterschiedliches Bekanntes. Man begehrt immer innerhalb einer aporetisch-parakonsisten Struktur, worüber das mediale Wesen des Zwitter-Eros Aufschluss gibt. Die Gemeinschaft könnte in dieser Hinsicht – wenn man sich das Wesen des Eros vergegenwärtigt – als etwas Erotisches verstanden werden: Dem Menschen ermangelt es an Gemeinschaft, jedoch nicht auf absolute Art und Weise – sonst hätte er auch kein Begehren da9 10

Aus dem lateinischen sīdus/sīderis, »Stern«. Dota Kehr: Alles du, alles Dur, in: Kleingeldprinzessin (2003).

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Gegenteil

nach; sondern er hat bereits einige Wege der Gemeinschaft zurückgelegt und begehrt jedoch neue Wege – neue Gemeinschaftsformen und -fluchtpunkte. Er begehrt aus einem Mangel heraus – er ist ein gemeinschaftserotisches Wesen –, weil er, analog zu Eros, im Spannungsfeld zwischen seiner Endlichkeit als Individuum und seinem Streben – Streben nach Wegen, die eröffnet, ausgesetzt werden – schwingt: Die Mit-Teilung antwortet auf Folgendes: Was die Gemeinschaft mir offenbart, wenn sie mir meine Geburt und meinen Tod darbietet, ist meine Existenz außer mir. Dies meint nicht, daß meine Existenz von der Gemeinschaft oder in die Gemeinschaft erneut eingebracht würde, als ob diese ein anderes Subjekt wäre, das mich – sei es dialektisch, sei es in der Einswerdung – ersetzen und aufheben würde. Die Gemeinschaft hebt die Endlichkeit, die sie exponiert, nicht auf. Die Gemeinschaft ist selbst letztlich nur dieses Exponieren, dieses Aussetzen. Sie ist die Gemeinschaft der endlichen Wesen und als solche ist sie selbst endliche Gemeinschaft. Also nicht eine begrenzte Gemeinschaft im Verhältnis zu einer unendlichen oder absoluten Gemeinschaft, sondern eine Gemeinschaft der Endlichkeit, denn die Endlichkeit ›ist‹ gemeinschaftlich, und nur sie ist gemeinschaftlich, nichts anders. 11

Die Gemeinschaft der Liebenden ist eine gemeinschaftliche Figur, die bei Nancy den Fokus auf die Endlichkeit des Eros legt. Dies ist aber nur ein Aspekt des Dämons. Es kommt nun darauf an, diese enigmatische und für die Gemeinschaft so relevante Figur weiter zu ergänzen.

§ 68. Endlich bedeutet zweierlei Die einfachsten semantischen Umstände werden häufig missverstanden oder gar übersehen. Das Wort »endlich« wird in DUDEN-Wörterbuch – auch in seiner emotionalen Schattierung – als eine zeitliche Angabe verstanden: Endlich »bezeichnet das Ende einer als lang empfundenen Wartezeit; nach einer langen Zeit des Wartens, der Verzögerung, des Zweifels«. 12 »Das Ende aller Zeiten«, »das Ende des Lebens«; »Alles hat eine Ende; nur die Wurst hat zwei«; die »EndlichJean-Luc Nancy: Die undarstellbare Gemeinschaft, Stuttgart: Edition Patricia Schwarz, 1988, S. 60. 12 Duden: Deutsches Universalwörterbuch, Mannheim: 2015, Stichwort »endlich«. 11

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§ 68. Endlich bedeutet zweierlei

keit des menschlichen Daseins«, das »Ende einer Beziehung« (ihre Korruptibilität und Bedenklichkeit, Zerbrechlichkeit). Die »unendliche Geschichte«. Dies alles deutet das Ende einer Zeitspanne an. Bei »endlich« geschieht dasselbe, was bei zahlreichen vermeintlichen Zeitangaben der Fall ist, nämlich, dass es in Wahrheit getarnte Lokalangaben sind. »Zeitspanne« ist nämlich eine Spanne. »Endlich« bildet sich am »Ende«, was eigentlich eine Raumangabe ist: Das Ende eines Bezirks, Raums, Gebietes. Die räumliche Begrenzung eines Raums: Am Ende der Welt. Ende ist auch in etymologischer Hinsicht ein räumlicher Begriff: »Die urbedeutung des worts scheint spitze, ecke, äuszerstes, wie sich aus dem ahd. andi und andin frons ergibt«. 13 Ende ist frons, frontier, Grenze (vgl. Kapitel über Abteilung). Dies alles suggeriert die Idee, dass man den Begriff der Endlichkeit mit Endhaftigkeit und Endartigkeit umschreiben könnte/sollte. Warum wird »endlich« als etwas »Fehlerhaftes« intendiert? Weil der Akteur der Gemeinschaft der Liebenden, genauso wie Eros, eine fehlerhafte, »endhafte«, »endartige« Grenze ist. Der Liebende in einer solchen Eros-Gemeinschaft ist nur ein endlicher – begrenzter – Teil, genauso wie seine Teile zur Konstitution der Eros-Gemeinschaft analoger Gegenteile bedürfen: Jedes Teil von uns und jedes unserer Teile paßt zu anderen Teilen Unsere Füße schlafen Seite an Seite Unsere Beine und Hüften ruhen nebeneinander unsere Hinterköpfe berühren sich. 14 Grimm: Deutsches Wörterbuch, München: DTV, 1984, Bd. 3, Stichwort »Ende«, S. 447. 14 Lily Brett: Teile von uns in: »Seit heute aber für immer«. Die schönsten Liebes13

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Gegenteil

(Im räumlichen Sinn) gemeinte endliche Teile stehen endlichen Gegenteilen gegenüber. Dieses Gegenüberstehen ist in der Modalität der frons, denn die Körperteile im Gedicht sind aneinander begrenzt – sie grenzen aneinander. Die Berührung ist eine in-contro/Begegnung 15 – Ein Gegeneinandersein der Gegenteile. Die Endlichkeiten der Eros-Gemeinschaft exponieren die eigene »Endartigkeit« durch das gegenseitige (»Seite an Seite«) Berühren der gegenteiligen Körperendungen.

§ 69. Was sehe ich im Spiegel? Das Gedicht stellt jedoch die Logik des frontalen Gegenüberstehens der Gegenteile auf unbemerkte Art und Weise etwas in Frage. Warum berühren sich Hinterköpfe, und nicht einfach Köpfe? Darin liegt möglicherweise eins der Geheimnisse der Eros-Gemeinschaft. Die Betonung, im letzten Vers, der Rückseite und nicht der Vorderseite der Liebenden, ergänzt die Logik der Gemeinschaft der Gegenteile: In der Gemeinschaft spiegelt man sich im Anderen, aber wenn ich mich im Anderen spiegle, sehe ich mich verkehrt herum: Mein linker Arm ist im Spiegelbild zu einem rechten Arm geworden, ich stehe einem Spiegel gegenüber – ich sehe zwar meine Vorderseite – und sehe meine Körper-»Teile« jedoch auf umgekehrte Weise. Der Andere, der meinen Hinterkopf berührt, könnte somit auch als Spiegel verstanden werden, der mir erlaubt, nicht nur meine Vorder-, sondern auch meine Rückseite zu sehen. Es ist so, als ob man einem Spiegel den Rücken zuwenden und den Kopf zum Erschauen nach hinten drehen würde: Ich sehe meinen Rücken im Spiegel des Anderen – meine Schattenseite und im Allgemeinen eine Seite – »Seite an Seite« –, die sich meinem Blick im Prinzip verwehrt/unzugänglich ist. Der Andere der Gegenteilgemeinschaft des Eros ist somit eine notwendige Bedingung der Erkenntnis meiner verwehrten, nicht sichtbaren Seiten. Der Andere ist eine verkehrte Spiegelung meiner Rückseite, die ich in der Einsamkeit nicht sehen kann – wie ein Fremgedichte, ausgewählt von Elke Heidenreich und André Heller, Hamburg: Insel Verlag, 2014, S. 110. 15 Dazu vgl. Giovanni Tidona: Ding und Begegnung. Sprach- und Dingauffassung im dialogischen und existenzialen Denken, Freiburg: Alber, 2014.

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§ 70. Gegensätze der Liebe

der auf einer Heidelberger Straße vehement beteuerte: »if you are alone, you cannot see«. Dazu kommt ein weiterer, letzter Aspekt der Spiegelung hinzu. Jeder Spiegel verzerrt in irgendeinem Grad. Jeder von uns hat die Erfahrung gemacht: Der Spiegel im Kaufhaus macht unsere Figur schlanker, der alte Spiegel im Haus der Großmutter gibt ein verschwommenes Bild von uns wieder; ein gerissener Spiegel deformiert unser Bild; ein Lupenspiegel zeigt Details, die mit bloßem Auge nicht sichtbar sind; ein schmutziger Spiegel beeinträchtigt die Schärfe unseres Selbst-Bildes, ein schattierter Spiegel gibt Schatten und Schattierungen wieder, und kann sogar unser Bild vervielfachen. Das sind nur einige Beispiele bzgl. der Beschaffenheit und Beschichtung eines Spiegels, die durch metaphorische Arbeit auf zahlreiche, sozialpsychologische Dimensionen der Erkenntnis des Selbst im Anderen übertragen werden könnten. Es kommt nämlich darauf an, welche Art der Verzerrung der Spiegel bei der Wiedergabe unseres Selbst mit sich bringt. Und diese Verzerrung ist jedoch notwendig, denn ohne das verzerrte, gegenteilige Bild unserer Rückseite könnten wir diese letztere gar nicht sehen: Die Erkenntnis des Selbst im Anderen ist prinzipiell verzerrt, und es gilt somit, nicht nur unser verzerrtes Bild, sondern auch den Verzerrungsmodus des Anderen zu sehen. Damit wir dann auch ein wiederum verzerrtes Bild zurücksenden können, durch einen umgekehrten, ko-reflexiven – mit-spiegelnden – Prozess der Doppelspiegelung.

§ 70. Gegensätze der Liebe Die Doppeldeutigkeit und Gegenteiligkeit des Eros erschöpft sich nicht in der aporetischen Veranlagung des Dämons, über welche die Diotima-Rede und die Spiegelmetapher Auskunft geben. Die Janusköpfigkeit des Eros wird noch einmal verdoppelt, wie in einem Spiegel re-flektiert, wenn man die Figur des Anteros in Betracht zieht. Anteros ist eine ziemlich nebenrangige, periphere Figur im griechischen Mythos. Diese wird von Pausanias vorgestellt: Before the entrance to the Academy is an altar to Love, with an inscription that Charmus was the first Athenian to dedicate an altar to that god. The altar within the city called the altar of Anteros (Love Avenged) they say was

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Gegenteil

dedicated by resident aliens, because the Athenian Meles, spurning the love of Timagoras, a resident alien, bade him ascend to the highest point of the rock and cast himself down. Now Timagoras took no account of his life, and was ready to gratify the youth in any of his requests, so he went and cast himself down. When Meles saw that Timagoras was dead, he suffered such pangs of remorse that he threw himself from the same rock and so died. From this time the resident aliens worshipped as Anteros the avenging spirit of Timagoras. 16

Anteros (Ἀντέρως), Gegenliebe, erwiderte Liebe, die in Rache, gerächte Liebe (»Love Avenged«) umschalten kann, falls sie verschmäht wird. Sohn der Aphrodites und des Ares (welche auch Phobos und Deimos zeugen), ist in dieser Tradition Bruder des Eros, dessen Gegenstück er zugleich ist: Anteros wird geboren, damit Eros wachsen kann. Beide Figuren teilten einen Altar im Gymnasion in Elis. 17 Eros und Anteros (Anti-Eros) sind Antonyme, die wie »unsere Teile« zueinander passen. Die Struktur der Eros-Gemeinschaft, falls das Verhältnis zu dem Bruder eine Gemeinschaft ist, wie es der Fall zu sein scheint, denn dieses Muster wird auf konkrete Gemeinschaftsformen unter Menschen übertragen, z. B. auf die Homosexualität von Erastes und Eromenos 18, ist das Gegenteil. Die Gemeinschaft der Liebenden – und umgekehrt: Die Liebe zur Gemeinschaft – ist somit gegenteilig: Eros ist Weg und Armut, 19 Pausanias: Pausanias Description of Greece, with an English Translation by W. H. S. Jones, Litt. D., and H. A. Ormerod, M.A., in 4 Volumes. Cambridge: Harvard University Press; London, William Heinemann Ltd. 1918. πρὸ δὲ τῆς ἐσόδου τῆς ἐς Ἀκαδημίαν ἐστὶ βωμὸς Ἔρωτος ἔχων ἐπίγραμμα ὡς Χάρμος Ἀθηναίων πρῶτος Ἔρωτι ἀναθείη. τὸν δὲ ἐν πόλει βωμὸν καλούμενονἈντέρωτος ἀνάθημα εἶναι λέγουσι μετοίκων, ὅτι Μέλης Ἀθηναῖος μέτοικονἄνδρα Τιμαγόραν ἐρασθέντα ἀτιμάζων ἀφεῖναι κατὰ τῆς πέτρας αὑτὸνἐκέλευσεν ἐς τὸ ὑψηλότατον αὐτῆς ἀνελθόντα: Τιμαγόρας δὲ ἄρα καὶ ψυχῆςεἶχεν ἀφειδῶς καὶ πάντα ὁμοίως κελεύοντι ἤθελε χαρίζεσθαι τῷ μειρακίῳ καὶδὴ καὶ φέρων ἑαυτὸν ἀφῆκε: Μέλητα δέ, ὡς ἀποθανόντα εἶδε Τιμαγόραν, ἐςτοσοῦτο μετανοίας ἐλθεῖν ὡς πεσεῖν τε ἀπὸ τῆς πέτρας τῆς αὐτῆς καὶ οὕτωςἀφεὶς αὑτὸν ἐτελεύτησε. καὶ τὸ ἐντεῦθεν δαίμονα Ἀντέρωτα τὸν ἀλάστορατὸν Τιμαγόρου κατέστη τοῖς μετοίκοις νομίζειν (Pausanias: Pausaniae Graeciae Descriptio, 3 Bde., Leipzig: Teubner, 1903). 17 Siehe »Anteros« in: Der Kleine Pauly. Lexikon der Antike in fünf Bänden, Bd. 1, München: dtv, 1979, S. 369. 18 Vgl. Platon: Phaedrus, 255d. 19 Dass »nur die Armen lieben können«, wie das Sprichwort besagt, heißt somit in dieser Perspektive nichts anderes, dass nur sie, trotz und vielleicht gerade wegen der dürftigen Umstände, so erfinderisch sind, dass sie immer einen Weg für ihr Begehren finden. 16

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§ 70. Gegensätze der Liebe

Wissen und Unwissenheit, μεταξύ zwischen Gott und Mensch, etwas Dämonisches, ein Ich und ein Du, Spiegel und Gegenspiegel, Schärfe und Verzerrung: Eros und Anteros. Gemeinschaft als Eros, Begehren, dem es an etwas mangelt, z. B. an der Kenntnis der Rückseite, und der doch einen Weg dahin findet. Und selbst dieser Weg ist zum Teil bereits gebahnt worden. Diese letzte, aporetische Eigenschaft des Eros erweist sich als stichhaltig für das Wesen der Gemeinschaft der Liebenden: Ich begehre weder etwas, das ich ganz kenne, noch das, was ich gar nicht kenne, sondern das, was ich zum Teil nicht kenne (oder was ich zum Teil kenne), etwas, das mir auf eine Weise entzogen ist. Der Liebende steht zwischen Wissen und Unwissenheit. Worüber? Über den Anderen, über sich selbst und über das Wesen desjenigen gemeinschaftlichen, erfinderischen und mangelhaften Verhältnisses, das die Liebe ist. Wenn wir in der Liebe bereits – und auf irgendeine, noch mangelhafte Art – miterscheinen. Eros spielt sich somit, wie jedes Dämonische, im Spannungsfeld der Analogie von Ähnlichkeit und Differenz oder Unterschiedenheit ab. Gegenteil ist in dieser Hinsicht ein Wort, das an die Enantiosemie nahe herankommt: Es bedeutet »Entsprechung« – ich entspreche meinem Liebenden –, doch durch Verteilung der Unterscheide, was der Sinn des Göttlichen/Dämonischen ist: Das griechische Wort θεός gründet im wesentlichen auf der Wurzel δα. Δα bezeichnet vor allem das offenbare und leuchtende Vor-stehen, so ist Ζεύς, der ›Glänzende‹, δῆλος. Aber die Bekundung lässt die Unterschiede zum Vorschein kommen und verteilt sie (wie die Farben im Licht verteilt werden), und daher bezeichnet δα auch das Verteilen, das Zuteilgeben durch das Verteilen der Unterschiede; so ist der Gott der δαίμων, der die Teile des Ganzen aufteilt und verteilt (δαίομαι). 20

Durch die dämonische Verteilung der Unterschiede streben die Liebenden der Liebesgemeinschaft auf der einen Seite Ähnlichkeit an, sie fallen jedoch in den oppositiven Unterschied zurück: Auf den Holzschnitten der Genroku-Periode findet man bei den Liebespaaren oft eine überraschende Ähnlichkeit der Gesichtszüge, die es schwierig macht, Frau und Mann zu unterscheiden. In der griechischen Plastik, die das Ideal der Schönheit darstellt, fällt ebenfalls eine starke Ähnlichkeit zwi-

Emanuele Severino: Vom Wesen des Nihilismus, Stuttgart: Klett-Cotta, 1983, S. 308.

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Gegenteil

schen den Geschlechtern auf. Ist dies nicht eines der Geheimnisse der Liebe? Könnte es nicht sein, daß in den innersten Bezirken der Liebe eine Art unerreichbaren Verlangens wirksam ist, durch das Mann und Frau den sehnsüchtigen Wunsch haben, einer des anderen genaues Abbild zu werden? Und wäre es nicht weiterhin möglich, daß dieses Verlangen schließlich die tragische Folge hat, daß sie ins entgegengesetze Extrem verfallen, um das unmögliche Ziel dadurch erreichen zu können? Um es mit wenigen Worten zu sagen: Wenn sie in ihrer wechselseitigen nicht vollkommene wechselseitige Gleichheit erlangen können, gibt es da nicht einen seelisch-geistigen Prozeß, bei dem beide die sie unterscheidenden Eigenschaften betonen – der Mann seine Männlichkeit, die Frau ihre Weiblichkeit – und daß sie duch diese Revolte noch miteinander zu kokettieren versuchen? Wenn es ihnen jedoch tatsächlich gelingt, eine gewisse wechselseitige Ähnlichkeit zu erreichen, dann nur für einen vorübergehenden Augenblick der Illusion. Denn im gleichen Maße, wie das Mädchen kühner und der Junge scheuer wird, nähern sich beide in dem Punkt, an dem sie ihre Grenzen überschreiten und in entgegengesetzter Richtung aneinender vorbeigehen, bis sie schließlich ins Grenzenlose gelangt sind. 21

Cu s’assumigghia si pigghia – gleich und gleich gesellt sich gern – ist somit ein zu revidierender Spruch. Wer unterschiedlich/gegenteilig ist, gesellt sich gerne, setzt sich aus, um ähnlich zu werden. Aber diese Suche nach Ähnlichkeit ist zum Scheitern verurteilt. Die Liebe ist dieses Scheitern, ein ständiges aussetzendes, wegsuchendes dämonisches Scheitern, das zur Bewusstmachung der Differenz des Anderen führt und bei dem Eros eine verbindende Grenze ist, die die Seiten als Seiten einer gegenteiligen Zweisamkeit zeigt und ändert.

21

Yukio Mishima: Geständnis einer Maske, Hamburg: Rowohlt, 2002, S. 53–54.

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Dreizehntes Kapitel: Schicksalszuteilung. Der Mensch auf der Flucht

§ 71. munus als Schicksal Eine Philosophie, die diesen Namen verdient, sollte irgendwann die Frage nach dem Zusammenhang des Menschen mit seinem Schicksal stellen. Auch Schicksal ist ein Teil: Die Moira, griechische Gottheit des Schicksal, bedeutet »Teil« (meros); die Benennung der lateinischen Göttin des Schicksals, Parca, ist vom pars, »Teil«, abgeleitet. Wie im Folgenden deutlich wird, ist das gemeinschaftliche Schicksal des Menschen die Flucht und die Rekomposition der durch die Flucht vom Ganzen abgetrennten Teile. Um diesen fundamentalen Nexus zu erhellen, drängt sich die Notwendigkeit einer komplexen Topologie der Flucht auf.

§ 72. Vektoren der Flucht Der politisch-kulturwissenschaftliche Diskurs über das Phänomen der Flucht orientiert sich primär am Subjekt der Flucht. Sans papier, extracomunitario, refugee, displaced person, heimatslos, De-factoFlüchtling usw. sind nur einige der zahlreichen, aus unterschiedlichen Sprachen stammenden und oft ideologisch äußerst aufgeladenen Bezeichnungen, die jedoch einen gemeinsamen Nenner haben: Sie legen den Fokus auf den Status des Flüchtlings und somit auf das Wer und nicht auf das Was und Wie der Flucht. Die Person- und Subjektbezogenheit der Frage nach der Flucht ist in einem auf das Individuum angelegten Rechtssystem sicherlich nachvollziehbar. Denn es geht primär um die Rechte des Einzelnen und seine Einschreibung in einen an juristischen Personen ausgerichteten Rahmen. Vor diesem Hintergrund zeigt sich jedoch nicht nur eine Verrechtlichung der Flucht, sondern auch eine topologische Einseitigkeit des Problemverständnisses. Dies geschieht, weil die Flücht295 https://doi.org/10.5771/9783495820704 .

Schicksalszuteilung

lingsproblematik, sofern sie rechtssubjektbezogen ist, sich an der Ziellage oder am Ende der Flucht orientiert. Erst am Ziel der Flucht stellen sich die rechtstechnischen Fragen nach Einschluss, Integration und Zugehörigkeit in ihrer Ausrichtung an dem Wer. Solche rechtsbedingte, topologische Einseitigkeit hat vielerlei zur Folge. Zum Ersten fehlt es immer noch an einem systematischen Grundriss des Phänomens der Flucht als solches und lato sensu. Obwohl sogar Taxonomien der Flucht im geopolitischen Gewande des Migrationsbegriffes und seiner Derivaten 1 bereits aufgestellt wurden, bleibt der Hauptfokus auf dem Flüchtling. Außerdem kommt das Stichwort »Flucht« weder in politischen noch in philosophischen Lexika vor. Das politische und prä-politische Faktum der Flucht eo ipso erfährt somit keine angemessene kulturwissenschaftliche Bestimmung. Zum Zweiten fehlt es auch an einer phänomenologischen Erörterung der Flucht. »Eine Phänomenologie von Flucht und Vertreibung täte gut und not«, 2 wobei es noch genauer darauf ankäme, die Er-Örterung radikal zu intendieren, d. h. als phänomenologische Aufzeigung der raumtheoretischen Dimension der Flucht. Dies ist umso wichtiger, weil der Ort der Flucht – und somit ihre kulturanthropologische Valenz – sich nicht in ihrer Ziellage (wie »Europa«, »Deutschland« oder »Einschluss ins Rechtssystem«) erschöpft, sondern ein planetarischer und mehrstufiger Rahmen ist. Es wird in diesem Kapitel und durch den Rekurs auf raumphänomenologische Methoden und fachübergreifende Streifzüge der Entwurf einer Phänomenologie der Flucht angestrebt. Der Flucht wohnt eine metaphorische Grundstruktur inne, wenn man das meta-pherein wortwörtlich als Über-Gang aufgreift. Flucht ist in erster und grundsätzlicher Linie Ortsveränderung und kann somit durch räumlich-metaphorische Deutungsfolien ausgelegt werden. Aus diesem Grund sollen Vektoren der Flucht rekonstruiert werden. Darunter sind kulturmetaphorische und raumpolitische Verflechtungen, die sich als regelrecht performativ erweisen, d. h. bei denen die Darstellung des Phänomens und die Realitätsleistung desselben ineinander fallen. 1 Vgl. Doren Müller: Flucht und Asyl in europäischen Migrationsregimen, Göttingen: Universitätsverlag, 2010, S. 18. 2 Erwin Leibfried: »Was ist und heißt fremd?« in: Flucht und Vertreibung in der deutschen Literatur, Frankfurt a. M.: Lang, 2001, S. 12.

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§ 72. Vektoren der Flucht

In dieser Hinsicht artikuliert sich Flucht als dreiphasiges und zunächst topologisch angelegtes Phänomen: A1) terminus a quo: Ausgang der Flucht B1) terminus inter quem: Übergang der Flucht C1) terminus ad quem: Ziel der Flucht Den räumlichen Vektoren könnten in zweiter Instanz Raumfiguren zugeordnet werden: A2) Trennung B2) Transit C2) Zuflucht und Fuge Das Vektorielle und das Semantische gehen miteinander und mit einer weiteren, geopolitisch-metaphorischen Instanz einher: A3) Erde als Exil B3) Meer und Wüste C3) Erde als Asyl Darum ist Flucht ein vertikal dreistufiger und horizontal dreifacher Zusammenhang von Raumvektoren, Semantemen und geopolitischen Symbolen. Raumtheorie und Semantik treffen aufeinander und bilden eine phänomenologische Struktur der Flucht aus. Diese fungiert als Gerüst für die daran anhängenden kulturwissenschaftlichen Aspekte der Flucht. Vor allem ist diese Struktur dynamisch: Die raumtheoretischen Vektoren verflechten sich mit dem Semantischen und dem Symbolischen bei der Umstellung kultureller Grundkategorien und -koordinaten. Aus diesem Grund trifft dabei eine Umschreibung des Hegelschen Spruches zu: Flucht ist verkehrte Welt. Was dies genau bedeutet und inwiefern dies geschieht, soll in den folgenden Abschnitten erläutert werden.

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Schicksalszuteilung

§ 73. Das Woher der Flucht: Trennung Wie oft bei der Erörterung zahlreicher Grundphänomene des menschlichen Daseins beginnt es bei der Trivialität. Ein erster trivialer Hinweis zeigt, dass Flucht eine Bewegung ist und als solche einen Ausgangspunkt und eine Richtung aufweist. Bewegungen betrachtet man i. d. R. nicht rückblickend vom Ziel an, sondern prospektiv von ihrem Anfang an. Nichtsdestotrotz legt das englische Wort refugee den Fokus auf das refugium, das zweifellos nicht mit Flucht, sondern mit Zuflucht zu übersetzen ist. 3 Bei dieser englischen Bedeutungsfacette wird – statt des Anfangs – das Ziel der Flucht betont. Der sprachpsychologische Grund dafür ist leicht verständlich: Der Aufnehmende, nicht der Flüchtende, spricht das Wort refugee aus und betrachtet dadurch das Phänomen der (abgeschlossenen) Flucht. Erst am Ende der Flucht gewährt der Aufnehmende ein refugium bzw. eine Zuflucht (und Schutz, Trost, Rettung, gesetzliche Inklusion usw.), um den Flüchtling wenngleich temporär in sein Gesellschafts- und Rechtssystem einzugliedern. Aber Flucht ist nicht gleich Zuflucht. Anfang ist nicht Ende. Vielmehr soll zunächst die Flucht als terminus a quo thematisiert werden. Während der angekommene Flüchtling etymologischkonsequent refugee heißt, soll der aufbrechende Flüchtling einen anderen Namen tragen. Im Lateinischen ist dieser Name profugus, wobei das Präfix pro-, im Unterschied und im Gegenteil zum re-, die entgegengesetzte Richtung anzeigt: Beim pro-fugus ist die Flucht nach Vorne orientiert. Es ist keine vom Ende aus nach hinten zurückblickende (Zu) Flucht: Kein Trost der Geborgenheit und des Überlebthabens, sondern vielmehr angstbeladene Ausflucht nach vorne. Es ist angstträchtige Flucht, die sich von der einfachen Furcht durch »die wesenhafte Unmöglichkeit der Bestimmbarkeit« ihres Objektes unterscheidet: Angst ist grundverschieden von Furcht. Wir fürchten uns immer vor diesem oder jenem bestimmten Seienden. Zwar ist die Angst immer Angst vor …, aber nicht vor diesem oder jenem. Die Angst vor … ist immer Angst um …, aber nicht um dieses oder jenes. 4

Etymologisches Wörterbuch des Deutschen, dtv, 2005, S. 359: »Zuflucht«, »Schutz (ort), Unterschlupf, Hilfe«; ahd. zuoflucht (8. Jh.) […] Übersetzung von lat. refugium der Bibel, verläßt erst im 14. Jh. den biblisch-religiösen Bereich. 4 Martin Heidegger: »Was ist Metaphysik«, in Wegmarken, Frankfurt a. M.: Klostermann, 1976, S. 111. 3

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§ 73. Das Woher der Flucht: Trennung

Der profugee, wenn der (englische) Neologismus zulässig ist, flüchtet also in die Zukunft der Unbestimmtheit hinein. Damit die nach vorne ins Unbekannte orientierte Flucht oder »Flucht zu …« ihr telos bzw. die Zuflucht erreichen kann, muss sie erst als »Flucht aus …« durch eine Trennung ausgelöst worden sein. Die in die Zukunft hineinprojizierte Flucht ist im Grunde separation, ein separierender Aufbruch. Bei dieser Flucht ins Blaue hinein genauso wie »in der Angst – sagen wir – ›ist es einem unheimlich‹.« 5 »Trennung« bedeutet zunächst den Umstand, dass der Flüchtling aufgrund seiner Flucht vor Todes- und Armutsbedrohung sich von seinem materiellen und immateriellen einheimischen Umfeld trennt, um Rettung in einer durch die Flucht noch zu erreichenden Fremde zu finden. Insbesondere in der Literatur wird diese Trennung als gewaltsam dargestellt: Bspw. in den Gedichten von Dagmar Nick, bei der die Trennung durch die Symbole der Zerrissenheit des Kindes und der Zerknitterung eines Papierblattes mit dem »Bangen« und der »Angst« verbunden wird: Weiter. Weiter. Drüber schreit ein Kind. Laß es liegen, es ist halb zerrissen. Häuser schwanken müde wie Kulissen durch den Wind. Irgendjemand legt mir seine Hand in die meine, zieht mich fort und zittert. Sein Gesicht ist wie Papier zerknittert, unbekannt. Ob du auch so ein Leben bangst? Alles andere ist schon fortgegeben. Ach, ich habe nichts mehr, kaum ein Leben, nur noch Angst. 6

Die Worte »Weiter« und »Angst« rahmen das Gedicht ein. Es handelt sich offensichtlich um den ersten Vektor der Flucht: terminus ad quo, zukunftsprojizierte und angstbeladene Ausgangslage der Flucht nach vorne. An das einseitige »Weiter« der Richtung knüpft auch das beharrliche »Fort« eines gleichnamigen Gedichtes derselben Autorin an, in dem die Bewegung nach vorne mit der Figur eines gähnenden, »sich unter uns auftuenden« Spaltes einhergeht: 5 6

Ebenda. Dagmar Nick: Flucht, 1947.

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Schicksalszuteilung

Fort! Fort! […] Bis der erbetene Spalt Sich unter uns auftut und wir hinabsausen können in den Nadir. 7

Ein derartiger Spalt hat zugleich existentiellen und ontologischen Charakter. Der letztere setzt auch beim Vokabular an. »Separierender Aufbruch« ist eigentlich ein pleonastischer Ausdruck, denn im Lateinischen lauten Aufbruch und Trennung jeweils se-partiri (»aufbrechen«) und se-parari (»trennen«, »aufteilen«). In beiden Verben wie in der davon abgeleiteten Separation schillert die pars, der Teil. An dieser sprachlichen Verflechtung ist nicht nur die Handlung der Trennung, sondern auch ihr Gegenstand ersichtlich: Beim Aufbruch wird ein Teil von seinem Ganzen separiert. Die Flucht a quo konfiguriert sich als Augenblick und Auftakt der Trennung – ein Entlaufen und (T)Rennen – des Teils aus seinem Ganzen. Dieser etymologische Nexus erfährt eine weitere Präzisierung bei Kerényi, indem der durch Aufbruch sich trennende Teil mit dem Grundbegriff des Schicksals in Verbindung gebracht wird: Ein anderes romanisches Verbum mit ähnlicher Bedeutung [wie sors] ist italienisch partire, französisch partir, ›fortgehen‹, und kommt auf eine bis jetzt nicht verstandene Weise, wenn man der Lautgestalt trauen darf, vom lateinischen pars ›Teil‹ her. Pars und sors waren für Römer und Romanen offenbar Synonyme, und sie konnten es auf alter und fester Grundlage sein. Diese Grundlage heißt auf griechisch Moira, bedeutet ›Teil‹, und ist der Name der Schicksalsgöttinnen, der Moirai. Die genaue, der Lautform nach altlateinische Übersetzung des Namens ist wohl Parca, die Parze. 8

Die Dimension der Trennung/Aufbruch erweist sich somit auch als schicksalshaft. Sowohl die griechische Moira (meros: »Teil«) als auch die Parca (pars: »Teil«) bestimmen das Schicksal jedes Menschen durch ihre notwendige Zuteilung. Die mythisch-poetische Sprache interpretiert das menschliche Leben als schicksalshafte Abspaltung eines Teils vom Ganzen.

Dagmar Nick: Flucht, 1969. Karl Kerényi: »Moira«, in: Griechische Grundbegriffe, Zürich:Rhein-Verlag, 1964, S. 54.

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§ 73. Das Woher der Flucht: Trennung

Anteil heißt auf Griechisch Moira, sie ist die Göttin, die in jedem menschlichen Leben geschieht, und sie steht über Zeus, der kein Leben über seine gegebenen Grenzen hinaus verlängern kann. Moira besagt den jedem zugeteilten Bereich, samt seiner Grenze. Dem Menschen kommt nie das Ganze, nur ein Leben, in diesem Leben aber Teilnahme auch an verschiedenen Bereichen zu. 9

Über die Gewaltsamkeit und Schicksalshaftigkeit der Trennung hinaus, liefert noch einmal die Sprache den Hinweis auf eine weitere semantische Dimension, in der Trennung mit Untreue zusammenhängt. Beim oben gewagten Neologismus profugee ist nicht zu übersehen, dass ein profugus ein Exilierter ist. Ein altes deutsches Wort bezeichnet die profugi als abtrünnig, untreu. 10 Die Brandmarkung hat damit zu tun, dass der profugus durch die Flucht seinen bisherigen rechtlichen und politischen Heimatstatus aufgibt und sich somit gegenüber dem Heimatland als untreu darstellt. Dabei schwingt aber auch die Metaphorik der Erde mit. An der subtilen Schwelle des bios und zoe – des politisch-qualifizierten und des nackten Lebens – ist der profugee an Untreue gegenüber dem Land bzw. der Erde schuld. Bei dieser Zone der Ununterscheidbarkeit von Politik und Natur besteht die Apostasie des profugus im Trennen/Verlassen des Land- und Stadtbodens sowie seines ortsbezogenen, gesetzesnormierten Gefüges. Apostasie gegenüber seinem Land/Erde ist also zunächst Ortsveränderung – ἀφίσταμαι, »abfallen«, »wegtreten« – und, über die bloß konfessionelle Bedeutung hinaus, ein Heraustreten aus der eigenen Ortung und somit auch aus der eigenen Ordnung. 11 Dem ersten Vektor der Flucht entspricht die Figur des Exils, d. h. das ex-solum, »aus der Erde heraus«. 12 Zusammenfassend zeigt sich das Phänomen der Flucht beim a quo-Vektor durch die ontologische, prä-politische Untreue/Apostasie als gewaltsame, schicksalshafte und abtrünnige, untreue Trennung eines Teils von seiner Erde. Die irdische Metapher spielt eine große Rolle: Es ist Untreue gegenüber den im gewaltsamen Akt der

Karl Kerényi: Antike Religion, München/Wien: Langen-Müller Verlag, S. 215–216. Vgl. Grimm-Wörterbuch, Stichwort »Trennen«. 11 Zum Zusammenfall beider Dimensionen in nomos vgl. Carl Schmitt: Land und Meer, Stuttgart: Klett-Cotta, 2011. 12 Vgl. dtv-Wörterbuch: »Exil«, S. 310. 9

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Schicksalszuteilung

Entwurzelung losgerissenen Wurzeln. Das Ganze ist die Erde. Flucht ist Entwurzelung und somit Riss aus der Erde heraus.

§ 74. Das Wodurch der Flucht: Nicht-Ort »Wurzeln sind im Leben eines Menschen sehr wichtig. Aber Menschen haben keine Wurzeln, sondern Beine, und Beine sind dafür gemacht, anderswohin zu gehen«. 13 Der Mensch hat Beine und keine Flügel oder Flossen und ist insofern ein terrestrisches zoon politikon. Doch scheint sich die Erdenbezogenheit des ersten Vektors der Flucht dadurch zu relativieren, dass der Fokus von der Verwurzelung des Menschen auf die Beweglichkeit seiner Beine umgeschwenkt wird. Entwurzelung kann deshalb als Abschwächung der terrestrischen Bedingtheit des Menschen in einen positiven Begriff umgewertet werden. Es zeigt sich dabei der zweite topologische Vektor: Flucht als Ausgang wird zur Flucht als Übergang, Flucht inter quem. Bei dieser elementaren, d. h.: die Grundelemente betreffenden Wandlung – setzen ganz andere symbolische Chiffren ein: Weg, Transit, Bewegung, Durchgang, Zwischen-Dimensionen. Flucht stellt sich als Umorientierung heraus, löst Modifikationen und teilweise regelrechte Umwälzungen des Raumbegriffs aus. Bei der Flucht inter quem wird das terrestrische Prinzip durch Entwurzelung und das Sich-Begeben in die Antinomien des Erdenprinzips in Frage gestellt. Eine erste metaphorisch-topologische Antinomie ist das Meer. Große Fluchtströme vollziehen sich nicht zufällig über das Meer. Es ist ein epi oinopa ponton, 14 das oft und dramatischerweise durch Blut weingefärbt ist und sich somit nicht als Meer der Verbindung zwischen Völkern »von anderer Zunge«, sondern als Meer ohne Maß, 15 dramatische Todesweite herausstellt. Hier gilt das Wasserelement nicht als Ursprung des Lebens: Es ist vielmehr die absolut blinde und ungeformte, bedrohliche und überwältigende Gewalt des Wassers, das dem Leben des Terrestrischen ein Ende setzt. Das Meer ist aber nicht der einzige Gegensatz zur Erde. Die Wüste, die dem Menschen weder Schutz noch Obdach gewährt, ist Pino Cacucci: Un po’ per amore, un po’ per rabbia, Mailand: Feltrinelli, 2008. Z. B. am Frankfurter Eiserner Steg: Pleōn epi oinopa ponton ep’ allothroous anthrōpous (Segelnd auf weinfarbenem Meer hin zu den Menschen anderer Zunge). 15 Vgl. Franco Cassano: Il Pensiero meridiano, Bari: Laterza, 1996. 13 14

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§ 74. Das Wodurch der Flucht: Nicht-Ort

eine weitere, gegenüber der Fruchtbarkeit der Erde antinomische Dimension: Die Wüste ist immer, auch bei Jabes, der Ort-Unort des Wanderers und des Fremden […] sein etymon verweist auf den verfluchten Ort, den Ort der Verlassenheit und der Verwüstung, der Schrecken auslöst, und es verweist auf den Ort, an dem nichts mehr von dem unnahbaren ›Eigenen‹ trennt, wo die Nähe zur äußersten Entfernung am größten ist. In der Sprache des Alten Testaments erklingt vorwiegend die erste Tönung: die Worte, die auf die Wüste verweisen, gehören alle zur Wurzel smm, wüst-sein. Semana bezeichnet Verwüstung (Ex 23, 29); es ist der Inhalt der prophetischen Drohung (Jes 7, 11). Jesimon ist der Ort des äußersten Elends, an dem sich Israel gegen Gott aufgelehnt hat (Ps Sal 78, 40) und ein Ort, der Schrecken erweckt (simmamon). 16

Flucht ereignet sich im Bereich des Wassers auf der einen Seite und der unfruchtbaren Erde auf der anderen. Wasser ist die Negation des Terrestrischen, und Wüste ist der Ort, an dem »sich jede Migration [vollzieht] und jede Identität zugrunde[geht]«. 17 Die Wege der Flucht schlängeln sich in ihren häufigsten, meist höchstgefährlichen Grunderscheinungen entweder auf hoher See und oder in der Wüste. Wasser und Dürre sind zwei gegeneinander und gegenüber der Erde gestellte Dimensionen. Dies hängt damit zusammen, dass Meer und Wüste, im Gegenteil zur (fruchtbaren) Erde, keinen Aufenthalt ermöglichen und somit keine Ethik zulassen. Aufenthalt und Ethik sind bei den Griechen im Grunde derselbe Begriff. Der ursprünglichen griechischen Bedeutung nach ist die Ethik eine Volkes ἦθος, die Art und Weise des Aufenthalts auf Erden: Der Spruch des Heraklit lautet (Frgm. 119): ἦθος ἀνθρώπῳ δαίμων (ethos anthropo daimon). Man pflegt allgemein zu übersetzten: ›Seine Eigenart ist dem Menschen sein Dämon‹. Diese Übersetzung denkt modern, aber nicht griechisch. ἦθος (ethos) bedeutet Aufenthalt, Ort des Wohnens. Das Wort nennt den offenen Bezirk, worin der Mensch wohnt. Das Offene seines Aufenthaltes läßt das erscheinen, was auf das Wesen des Menschen zukommt und also ankommend in seiner Nähe sich aufhält. Der Aufenthalt des Menschen enthält und bewahrt die Ankunft dessen, dem der Mensch in seinem Wesen gehört. 18

16 17 18

Massimo Cacciari: Migranten, Leipzig: Merve, 1995, S. 80. Ebenda, S. 52. Martin Heidegger: »Brief über den Humanismus«, in Heidegger 1976, S. 345.

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Schicksalszuteilung

Wenn von diesem Standpunkt aus der Aufenthalt auf Erden ethisch ist, dann erweist sich der Übergang per Umkehrschluss als unethisch. Die Flucht in ihrer zweiten topologischen Facette als Übergang ist a-silisch, extra-terrestrisch, un-ethisch (un-eigen-tlich und un-bewohnt). Der Ort, den die Flucht durchstreift, ist ein Nicht-Ort: So wie ein Ort durch Identität, Relation und Geschichte gekennzeichnet ist, so definiert ein Raum, der keine Identität besitzt und sich weder als relational noch als historisch bezeichnen lässt, einen Nicht-Ort. 19

Hohe See und dürre Wüste sind hier als Nicht-Orte insofern zu verstehen, als es sich dabei nicht um kulturanthropologische Wiegen wie die ethische Tuareg-Wüste oder das Meer als »Prinzip der Freiheit der einzelnen Person und dadurch dem europäischen Staatsleben grundlegend«, 20 sondern um nicht-bewohnbare, menschenfeindliche und auf der Flucht rasch zu überstehende Gebiete handelt: erbarmungslose »Natur« als Gegenteil zur Kultur, Abwesenheit der Zivilisation und somit weder »Relation« noch »Geschichte«. Kurz, Nicht-Ort. Der Zusammenhang von Flucht, Transit und Nicht-Ort wird zum topologischen Kernbegriff, denn das 20. Jahrhundert ist die Zeit der Flucht und »Nicht-Orte sind das Maß unserer Zeit«. 21 Nicht-Ort ist das Unethische als Unbewohntes, Traditions- und Relationsloses. Dies reicht sogar über die Grundmetapher der See und der Wüste hinaus, weil Flucht sich oft an Flughäfen, Bahnhöfen und in temporären Flüchtlingsheimen abspielt: Der Vektor der Flucht als Transit bringt die gemeinsame topologische Struktur einer Welt ans Tageslicht, die sich auf unterschiedlichen Ebenen als stetige Flucht und identitätsloser Übergang durch unethische Orte erweist: Eine Welt, in der die Anzahl der Transiträume und provisorischen Beschäftigungen unter luxuriösen oder widerwärtigen Bedingungen unablässig wächst (die Hotelketten und Durchgangswohnheime, die Feriendörfer, die Flüchtlingslager, die Slums, die zum Abbruch oder zum Verfall bestimmt sind) […] eine Welt, die solcher Art der einsamen Individualität, der Durchreise, dem Provisorischen und Ephemeren überantwortet ist. 22

Marc Augé: Nicht-Orte, Frankfurt a. M.: Beck, 2014, S. 92. G. W. F. Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2002, S. 112. 21 Augé 2014, S. 94. 22 Ebenda, S. 92–93. 19 20

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§ 74. Das Wodurch der Flucht: Nicht-Ort

Der Feindlichkeit der Klimabedingungen in unbewohnten Gegenden und der Traditionslosigkeit der unethischen Nicht-Orte kann noch ein dritter Umstand hinzugefügt werden, der den Aufenthalt unterbindet: Nicht-Orte der Flucht als Übergang sind durch eine geradlinige topologische Dynamik geprägt. Relation erfordert nämlich nicht nur Aufenthalt, sondern auch Anhalt und die Möglichkeit des Zurückblickens auf den vergangenen Weg – was im raummetaphorischen Sinne die eigene Geschichte ist. Flucht als Transit ist hingegen vorwärtsgerichtete Unrast und unterbindet sowohl Halt als auch zurückblickendes Nachdenken. Solche Flucht lässt sich durch die raumtheoretische Struktur der wortwörtlich verstandenen Vor-Sicht erklären: Das ›auf einen gegebenen Zielpunkt‹ gerichtete Gehen oder Fahren bedarf der ›Vorsicht‹ im wörtlichen Sinne, d. h. der Haltung, die im Gehen vorausschaut und den Weg auf mögliche Hindernisse oder Gelegenheiten eines besseren Vorankommens abschätzt. Hinten dagegen ist die zurückgelegte Wegstrecke. Sie liegt nicht mehr im Blickfeld und ist wie nicht mehr vorhanden. Der Mensch kann natürlich auch zurückblicken. Aber dazu muß er sich umdrehen, und dazu muß er im Vorwärtsgehen innehalten, d. h. seinen Weg unterbrechen. 23

Sich-Umdrehen wäre ein lebensgefährliches Unterbrechen der Flucht und/oder ein psychisch zerreißendes Zurückblicken auf die Ruinen des verlassenen, nicht mehr heimatlichen Ethos. Die Flucht als rastloses Streben nach vorne würde auch einen Schlüssel zur Erklärung einiger psychologischer Problematiken bei zahlreichen Flüchtlingen liefern, die ihre Flucht und Zuflucht als zielgerichteten Kampf ums Leben und Konkurrenz gegen andere Flüchtlinge erleben. Die massiv antreibende und zwanghafte raumtheoretische Figur der Bollnowschen Vor-Sicht unterbindet nämlich sowohl Rück-Blick auf den zurückgelegten Weg als auch Rück-Sicht (Re-Spekt) auf den Anderen und damit das Errichten von Ethos und Gemeinschaft. Auch dadurch hebt sich Flucht phänomenologisch von der »Reise« ab: Sie schließt nicht nur nostos als Rückkehr aus, sondern auch das Kehren des Rückens auf die Gemeinschaft hin.

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Otto F. Bollnow: Mensch und Raum, Stuttgart: Kohlhammer, 2010, S. 50–51.

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Schicksalszuteilung

§ 75. Das Wohin der Flucht: Der Feind wird zum Freund Flucht stürzt nicht nur die gängigen Rechtskategorien, 24 sondern grundsätzlicher das topologisch-denkgeschichtliche Substrat der Politik in die Krise. Nach einer klassischen Definition unterscheidet sich Flüchten vom Fliehen durch den Begriff der In-Sicherheit-Bringung. Dabei steht Flucht im Zusammenhang mit Gefahr: Zu dem Hauptbegriffe, der allein in Fliehen ausgedrückt wird, sich eilig von einem Ort entfernen, kommen in Flüchten die Begriffe hinzu, daß es wegen einer Gefahr und zu seiner Sicherheit geschehe […] Flüchten drückt demnach den prägnanteren Begriff aus: durch die Flucht vor der Gefahr retten. Wer bloß entläuft, flieht; wer etwas retten will, flüchtet. 25

»Durch die Flucht wird vor Gefahr gerettet«, Flucht selbst stellt jedoch meistens eine Gefahr dar. Obwohl eine gefährliche Flucht bei Elend und Todesbedrohung oft das kleinere Übel ist, zeigt sich trotzdem eine gewisse Zweideutigkeit des Begriffs. Flucht ist nicht nur Rettung, sondern selbst auch Gefahr. Aber die im Lexikon-Eintrag geschilderte Dynamik von Flucht/ Gefahr birgt eine viel wesentlichere »Weltverkehrung«. Flucht stellt auch die raumtheoretische Distinktion von Heim- und Fremdwelt sowie die damit zusammenhängende Grundunterscheidung von Freund und Feind um. Gerade die Annahme, dass Flucht »Rettung vor einer Gefahr« und darum vor einem Feind ist, macht diese Unterscheidung ersichtlich. Freund/Feind ist »die spezifisch-politische Unterscheidung, auf welche sich die politischen Handlungen und Motive zurückführen lassen« 26 und die, wie radikal es klingen mag, doch die konkrete Grundlage des öffentlichen Handelns ist: Die Begriffe Freund und Feind sind in ihrem konkreten, existenziellen Sinn zu nehmen, nicht als Metaphern oder Symbole […] Feind ist also nicht als der Konkurrent oder der Gegner im Allgemeinen. Feind ist auch nicht der private Gegner, den man unter Antipathiegefühlen haßt. […] Feind ist nur der öffentliche Feind, weil alles, was auf eine solche Gesamtheit von Menschen, insbesondere auf ein ganzes Volk Bezug hat, dadurch öffentlich wird. Vgl. Giorgio Agamben: »Jenseits der Menschenrechte«, in Mittel ohne Zweck, Zürich: Diaphanes, 2001, S. 27. 25 J. A. Eberhard: Synonymisches Handwörterbuch der deutschen Sprache, Halle, 1803, S. 220. 26 Carl Schmitt: Der Begriff des Politischen, Berlin: Duncker & Humblot, 2015, S. 25. 24

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§ 75. Das Wohin der Flucht: Der Feind wird zum Freund

Feind ist hostis, nicht inimicus im weiteren Sinne; πολέμιος, nicht εκθρός. 27

Die Dichotomie Freund/Feind konnotiert sich in ihrer Begriffsgeschichte auf topologische Art und in terminologischen Übereinstimmungen zwischen Freund/vertraut auf der einen Seite und Feind/fremd auf der anderen. Ein relevanter denkgeschichtlicher Prototyp des Freundes ist bspw. der Nächste der Nächstenliebe. Der Nächste ist ein öffentlicher Freund; der private Freund ist der Familienangehörige, der Vertraute im Heim oder der Nachbar. Auch bei der wenngleich vielfältigen Formulierung des Feind-Begriffes »[gibt] der Ortsaspekt den Ton an«, 28 denn der Feind stellt sich primär als externus heraus. »Fremdheit« wird zur topologischen Frage; »Freund-« und »Feindsein« zu raumtheoretischen Indikationen. Der öffentliche Freund ist dasjenige Gemeinschaftsmitglied, das innerhalb der Zaunes bzw. towns – also in der Ortung/Ordnung – steht. Der Freund befindet sich, im Gegenteil zum Feind, im Kreis des nomos, der »wie die Mauer« mit Kampf gegen Feinde verteidigt werden muss. 29 Diese raumpolitische Grundunterscheidung und die jeweilige Topologie werden bei der Flucht als terminus ad quem umgestellt. Bei aller Verschiedenheit der politischen Umstände gilt als Grundauslöser der dramatischen Fluchtströme das allgemeine Faktum, dass ein einst freundliches, vertrautes òikos – die Heimwelt – zum Kriegsgebiet und somit zum Feindesgebiet geworden ist. Wenn »in das eigne Haus […] die fremden Menschen und Mächte eindringen« dann »,[wird] sogar das eigne Leben ihm fremd«. 30 Das eigene Leben wird fremd und somit Feind. Selbst das staatliche Gefüge, einst Rückhalt- und Zugehörigkeitsort, verwandelt sich oft in einen grotesken Feind, der die Bezeichnung des Staates zu Unrecht usurpiert. Dabei wird auch der Begriff des Elends von Grund auf transfiguriert. Ursprünglich steht »Elend« im Zusammenhang mit alius / allos (»das Andere«) und konfiguriert sich etymologisch als elli-landi, als das andere Land, das »aus der Fremde kommende«, der Aufenthalt in der Fremde, das nicht-Einheimische. 31 Bei der Flucht trägt sich jedoch der paradoxe Umstand zu, dass das Heim Ebenda, S. 27. Bernhard Waldenfels: Topographie des Fremden, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1997, S. 20. 29 Vgl. Heraklit, DK 22 B 44. 30 Bollnow 2010, S. 91–92. 31 Vgl. dtv-Wörterbuch, »Elend«, S. 277. 27 28

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Schicksalszuteilung

und das Land sich selbst verelenden und verfremden. Das vertraute Heim schlägt durch den Krieg in das verelendete-verfremdete Unheimliche um. Eine solche Umstellung der Heimwelt in die Fremdwelt präpariert eine doppelte Paradoxie heraus: Flucht geht aus vertrauten Feindlichkeitsgebieten her in unvertraute Freundlichkeitsgebiete der Zuflucht hin. Die alte Heimat nimmt die Züge der Hostilität und die Fremde die der Hospitalität an. Bezeichnenderweise wird aufgrund dieser Heim/Fremd-Perspektivenumkehrung auch das lateinische, den Fluchtweg betreffende Motto: hosti non solum dandam esse viam ad fugiendum, sed etiam muniendam / Einem fliehenden Feind soll man goldene Brücken bauen 32 umgedeutet. Richtung und Perspektive werden umgestellt: Frontinus’ Motto bezog sich auf externe Feinde, die das römische Reich verließen und deren Flucht deshalb gefördert werden sollte, während jetzt die Fremden (topologisch: die Externen) ins Herz des Reiches kommen, wo sie in der Eigenschaft eines neuen Freundes empfangen werden. Das Kriegsrecht schlägt in ein Gastrecht um, das im Unterschied zu Kants befristetem Besuchsrecht 33 – auf Entfristung hinausläuft. Flucht scheint sich auch in diesem Fall als Reise ohne nostos zu konfigurieren – der Fremde ist derjenige, »der heute kommt und morgen bleibt«. 34 Aus der Erde heraus in eine neue Erde hinein. Die denkgeschichtlich maßgeblichen Dichotomien von Gefahr/ Flucht, hostes/hospes, Heim–/Fremdwelt schlagen ineinander um. Wieder ist Flucht »verkehrte Welt:« Das vertraute Heim wird unheimlich, der Ort zu einem Nicht-Ort, der Feind wird zum Freund. Draußen und Drinnen werden vertauscht. Die poetisch angesprochene »Freiheit aufzubrechen, wohin [der Mensch] will« 35 wird zum Zwang. Zeitweiliges Besuchsrecht wird zum unbefristeten Aufenthaltsrecht. Aber da, wo Gefahr ist, wächst das Rettende auch: Gerade in solcher Begriffsumwälzung nistet die Möglichkeit eines neuen Politischen. Der Flüchtling flüchtet aus einer einst freundlich und dann

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Frontinus: Strategemata; Buch IV, »De variis consiliis«. Vgl. Immanuel Kant: Zum ewigen Frieden. Georg Simmel: in Waldenfels 1997, S. 39. Friedrich Hölderlin: Lebenslauf.

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§ 75. Das Wohin der Flucht: Der Feind wird zum Freund

feindlich gewordenen Erde als ex-il in die Erde als a-syl hinein. A-syl sieht keinen nostos vor. Dies stellt auch Brechts Exilkonzept um: Schlage keinen Nagel in die Wand Wirf den Rock auf den Stuhl. Warum vorsorgen für vier Tage? Du kehrst morgen zurück. Lass den kleinen Baum ohne Wasser. Wozu noch einen Baum pflanzen? Bevor er so hoch wie eine Stufe ist Gehst du fort von hier. Zieh die Mütze ins Gesicht, wenn Leute vorbeigehen! Wozu in fremden Grammatiken blättern? Die Nachricht, die dich heimruft Ist in bekannter Sprache geschrieben. 36

Im augenfälligen Gegenteil zu Brechts Imperativen drängt sich bei der heutigen Dimension der Flucht doch die Notwendigkeit auf, »in fremden Grammatiken zu blättern«, denn es wird höchstwahrscheinlich keine heimrufende Nachricht erfolgen. Aus Ex-il wird A-syl. Das Spiel mit dem Ortspräfix bedeutet: Einmal Bewegung aus der Erde, dann Privation der Erde. Ausgerechnet in diesem neuen, keinen nostos vorsehenden Flucht-Paradigma nimmt die Frage der (Erst-)Aufnahme, Integration, Gesellschaftseingliederung, Biographie-Förderung maßgeblich an Relevanz zu. Bei der unbefristeten Zuflucht soll die Fremde und das refugium zur neuen Heimat werden. Der Wechsel vom Brechtschen E-xil zum heutigen A-syl erfordert deswegen stark das »Baum-Pflanzen« d. h. eine erneute, nach der Entwurzelung stattfindende Einwurzelung; diese bedarf, gleichsam wie bei einem metaphorischen Veredelungsverfahren, bestimmter Einschlusstechniken. Gerade vor dem Hintergrund der Einwurzelung im Asyl kristallisiert sich also ein letzter semantischer Aspekt der Flucht heraus: Flucht wird zur Fuge. Ähnlich wie andere hierbei herangezogene Grundtermini, ist »Fuge« ein Wort, das sich insofern als Januswort verhält, als es seine Bedeutung in das entsprechende Gegenteil umschlagen kann. Fuge bedeutet zunächst fuga, »Flucht«, »Weglaufen«; aber auch, in einem etymologisch parallelen und im Rahmen der Musikwissenschaft fruchtbar gemachten Signifikat, Einfügen externer

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Bertolt Brecht: Gedanken über die Dauer des Exils.

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Schicksalszuteilung

Stimmen in die dadurch polyphon werdende Komposition. 37 Bei der musikalischen Fuge zeigt sich zugleich die Figur der Flucht – das Thema flieht von einer Stimme zur anderen – und die Zusammenführung der unterschiedlichen Stimmen in die Komposition. Aus diesem Grund ist die Fuge die musikalische Form, innerhalb derer komplexe Einschlusstechniken in ein musikalisches Gespräch erprobt und zur Geltung gebracht werden. Die Fuge stellt schließlich als weitere Deklination des Fluchtbegriffes eine suggestive Parallele zwischen Musik und Politik dar. Es wäre möglich, die Formen der Vergemeinschaftung als ein musikalisches Werk zu betrachten, das durch das Einfügen externer Fugenstimmen – politisch gesprochen: fliehender Subjekte – geprägt ist. Wie die plastische Struktur der musikalischen Fuge – die potentiell für jedes Instrument geschrieben werden kann – den Einschluss neuartiger Elemente zulässt und dem Musiker ein breites Spektrum an Interpretationsmöglichkeiten gewährt, so böte die Fuge als gesellschaftliches Einfügen das metaphorische Denkparadigma einer durch vielfältige Ausdrucksmöglichkeiten ausgezeichneten Gesellschaft an. Die Unmöglichkeit der Festlegung einer endgültig präzisen Struktur der musikalischen Fuge weist auf politischer Ebene auf die Notwendigkeit hin, eine Gesellschaftsform anzustreben, die es immer wieder und durch Ausüben der Fugentechniken weiter zu entwerfen gilt. Nachahmung, Kontrast, kontrapunktische Verfahrensweisen, Engführungen, Thema und Antwort sind alles Stichworte, die primär der musikalischen Fuge angehören aber doch auch politisch interpretiert werden können – und gerade in einer Gesellschaft, in der die »Unausweichlichkeit der Response vom Fremden her« 38 sich immer deutlicher zeigt. Es handelt sich dabei um sicherlich teilweise problematische – aber gerade deshalb weiter zu thematisierende – Figuren der Zusammenführung des Einzelnen in ein bereits vor-strukturiertes, durch die Fuge angereichertes Ganzes. Zu den Aufgaben einer zukünftigen Politik zählt durchaus die Arbeit an den Einschlusstechniken der musikalisch-politischen Fuge. Wichtiger Bestandteil dieser Techniken ist nicht zufällig auch das Brechtsche »Grammatik-Blättern«: Die DaF- und DaZ-Vermittlung Vgl. Österreichisches Musiklexikon (http://www.musiklexikon.ac.at/ml?frames= yes). 38 Bernhard Waldenfels: Sozialität und Alterität. Modi sozialer Erfahrung, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2015, S. 22. 37

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§ 75. Das Wohin der Flucht: Der Feind wird zum Freund

an Zuwanderer, die Sprachintegration durch die vielfältigen Formen der Integrationskurse, der Willkommensklassen, der Bildung durch Spracheinschluss. Dabei fungiert die Sprache als wesentliches Bindemittel des abgetrennten Teils, der einzelnen Stimme. Durch die Flucht als fuga oder sozial-politische Einfügung soll schließlich die Trennung eines Teils vom Ganzen in einer »verkehrten Welt« und durch das politisch-musikalische Gespräch in die Re-Komposition gelangen. Dieser neue Nexus, der die vorliegende Erörterung der raumtheoretischen Konfigurationen der Flucht abschließt, bleibt in seiner Tragweite noch zu durchdenken und zu realisieren. Als raumtheoretischer und phänomenologischer Beitrag zur Anerkennung der Komplexität des Flucht-Phänomens und als Hinweis auf die Rekompositionsnotwendigkeit des Getrennten will sich des vorliegende Kapitels über Schicksalszuteilung anbieten.

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Vierzehntes Kapitel: Vorteil, Nachteil, Bauteil, Bestandteil, Urteil, Losteilung und Teilnahmslosigkeit. Und das ist längst noch nicht alles

§ 76. Weitere Perspektiven Am Ende dieser Auslotung der an Auffächerungen des Teils ausgerichteten Gemeinschaftsbegriffe wurden mehrere, vielfältige, mehr oder minder prägnante und für eine künftige Gemeinschaft fruchtbare Konzepte artikuliert. Die Auflistung solcher Teil-Auffächerungen, die erst in ihrem gesamten Zusammenhang zu verstehen sind, erschöpft jedoch keineswegs das Potential der Gemeinschaftsproduktionen. Gemeinschaft – oder eine Form der Gemeinschaft bzw. Formen, die sich an unterschiedlichen Teil-Auffächerungen orientieren – werden nämlich produziert, wenn eine oder mehrere Auffächerungen Substanz in der jeweiligen Handlung finden. Gemeinschaft wird nämlich gehandelt (erlebt, gearbeitet, empfunden, kommuniziert, gespielt, verhandelt, fremdzugelassen oder -verwehrt usw.) – von daher zeigt sich ein häufiger Rekurs auf Formen der Lebenswelt, von dem diese Seiten durchdrungen sind. Aufgrund der noch offenen Ausschöpfung des Potentials des Gemeinschaftsbegriffs stünden noch weitere Formen und jeweilige Konzepte aus, die der vorliegende Band jedoch nicht thematisiert und nur extrem fragmentarisch, in Form eines Ausblicks auf eine Themenfortsetzung ansprechen kann. Es handelt sich möglicherweise um kurze Blicke in alternative, nicht eruierte oder nicht allzu augenfällige Gemeinschaftsformen hinein. Durch Ausübung der philosophischen Vorstellungskraft wäre es möglich, noch einmal an der Sprache anzusetzen, um weitere mögliche, noch nicht existierende oder bereits vorhandene und jedoch noch nicht deutlich sichtbare Gemeinschaftsartikulationen aufzuzeigen.

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§ 77. Rankings

§ 77. Rankings Ein erster plausibler Nexus ist die Gemeinschaft des Vorteils und Nachteils. Die bedeutete nicht nur, auf intuitive Art und Weise, dass zahlreiche hinterfragbare Gemeinschaftsformen sich am Prinzip des Gewinns und des Verlustes orientieren – sicherlich in wirtschaftlicher, jedoch auch in existenziell prägender Hinsicht, wie bspw. die Arbeiter- oder Konsumentengemeinschaft, deren Teilnahme an der Gemeinschaftsform durch Produktion und Destruktion eines Vorteils – sprich: Kaufkraft – durchdrungen ist. Allgemeiner könnte man die Tragweite eines Vor- und Nachteilprinzips auf die Gesellschaftsumwälzungen übertragen, die eben durch Streben nach Vorrang und Schrecken vor sozialem Rücktritt stark beeinflusst werden. Man sollte dafür diese Termini im agonalen 1 Sinne verstehen, und bald würden sich ganz konkrete Strukturen und leitende Prinzipien zeigen: Hierarchien, rankings, Rangfolgen, Formen des gemeinschaftlichen Vergleiches anhand der Kompetition; Gehaltstabellen, in denen der eine vor-, der andere nachkommt; Renten-, Gehalts- und Ansehensabstufungen, in denen der eine im Vorteil, der andere im Nachteil ist; Wettbewerbe jeglicher Art (Bewerbungen, Prüfungen, Referendariate, Habilitationen, Approbationen, Praktika, Arbeitsbeförderungen und -herunterstufungen usw.), in denen es um die Platzierungsreihenfolge entschieden geht. Bildungsszenarien, in denen der Drehund Angelpunkt das Prinzip der Benachteiligung ist – des Im-Nachteil- oder Im-Vorteil-Seins bzgl. des Bildungsgrads, der Herkunft, der Sprache, der sozioökonomischen Ressourcen, des Familienstands, der Behinderungen usw. Innerhalb solcher Gemeinschaftsformen geht es im Grunde darum, für den einzelnen Teil sich zu fragen, inwiefern er, ein Individuum im Spektakel des Gesellschaftswachstums, voranoder hinterherkommt und dementsprechend ein Vorteil (als Förderungsmittel zum Wachstum) oder Nachteil (als Hindernis) für die Gemeinschaft ist. Vor- und Nach-, scheinbar harmlose Zeit- und Lokalangaben, die aber (un)gemeinschaftlich tiefbeladen sind und an Figuren der Gemeinschaft wie den Kampf, den Auf- und Abstieg und das Anrennen und Anhalten, Auf-der-Strecke-Bleiben anknüpfen. In derartigen Gemeinschaftsformen erhält man den eigenen status quo Eine weiter zu stellende Frage ist, ob und inwiefern das Sozialverhalten sich als agonal im Sinne von agonistisch oder antagonistisch erweist. Dazu vgl. Chantal Mouffle: Agonistik. Die Welt politisch denken, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2014.

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Vorteil, Nachteil, Bauteil, Bestandteil, Urteil, Losteilung und Teilnahmslosigkeit

dadurch, insofern man im Vorteil oder Nachteil ist, und insofern man ein Vorteil oder ein Nachteil ist.

§ 78. Bausteine Derselbe ökonomisch-instrumentale Begriff des Vor-/Nachteils, der allem Anschein nach sich als negativ und ungemeinschaftlich herausstellt, weist jedoch fruchtbare Schattierungen auf. Dies geschieht, wenn der Einzelne sich bei der Beteiligung am Bauen der Gemeinschaft als Bauteil betrachtet. Dies bedeutet, dass Gemeinschaft eine offene Struktur ist, die von den mehreren Bauteilen stets und gemeinsam gebaut wird – Gemeinschaft als work in progress. Ein italienisches Sprichwort lautet: Gli esami non finiscono mai, »Prüfungen enden nie«. Die Auslotung der Beweggründe dieses Spruches wäre interessant. Vielleicht ist es so, dass die Prüfungen nie enden, weil es gar keine endgültige Prüfung geben kann? Als würde man ungefähr sagen, dass an der Arbeit – am Werk der Gemeinschaft – stetig gefeilt werden kann, weil dieses einer ständigen Perfektionierung, Revidierung unterliegt. Und ebenso verhält es sich bei jeder Prüfung, denn jede Revidierung setzt ein Sich-auf-die-Probe-Stellen, Sich-aufs-Spiel-Setzen (denn Gemeinschaft kann auch ein Spiel sein, an dem man sich beteiligt) 2 voraus. Und genau solch ein Bauspiel, an dem man ein beteiligter Bauteil ist, stellt den Sinn der Arbeit am Werk dar – das Sich-ans-Werk-Stellen: Nicht das fertige Produkt, sondern die aristotelisch energetische Tätigkeit der Gemeinschaftsbildung ist die wahre Genugtuung der Beteiligung. In diesem Geist könnte die Gemeinschaftsbaustelle leuchten: derjenige Ort, an dem Projekte entworfen werden, an dem man auf das Bauen vorbereitet wird. Und selbst wenn das Ziel einer Baustelle im fertigen Produkt liegt, bedeutet dies ganz und gar nicht, dass dieses Werk ein autonom-endgültiges ist: Ein Haus wird zur Beleuchtung Strom bedürfen, ein Platz wird Bäume benötigen, eine Straße soll nochmal gepflastert werden; jedes »fertige« Werk wird immer eine weitere, spätere Wartungsintervention erfordern. Dies geschieht in der fortdauernden Baustelle der Welt, wo jedes Werk ein Bauteil ist, der im Zusammenhang mit weiteren Bauteilen steht.

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Vgl. Kapitel über Spielbeteiligung.

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§ 79. Beständige Bausteine

Und dies wird umso interessanter, wenn die Bausteine kein Beton, Holz oder Metall, sondern Ideen sind: weniger handgreifliche, und nichtsdestoweniger wartungsbedürftige und verbesserungswürdige Dinge. Auch an einer Ideenbaustelle ist eine ständige Arbeit erforderlich, wenn man das Risiko eines Nachlassens und Nachgebens der Denkarbeit vermeiden will. Ein stetiges work-in-progress, durch das Gemeinschaft in dem Bewusstsein gebaut wird, dass die Ideen – die Schemata und Figuren der Gemeinschaft, Muster, Leitlinien, Vorgehensweisen, Gebrauchsanleitungen, Begriffe und Verständnisformen des Gemeinsamen – auch dafür da sind, geändert und umgebaut zu werden.

§ 79. Beständige Bausteine Als Bauteil kann jeder Teil der Gemeinschaft auch Bestandteil derselben sein: Ein Bestand-Teil ist etwas, das zum Bestehen und somit Fortbestehen der Gemeinschaft beiträgt. Denn Gemeinschaft soll nicht nur gebaut, sondern dann auch aufrechterhalten werden. Die Frage der Aufrechterhaltung wird im politischen Kontext häufig vorwiegend auf das Problem der politischen Macht bezogen, und zwar, inwiefern und durch welche Modalitäten eine bestimmte politische Ordnung aufrechterhalten werden kann, bspw. durch Gewaltenteilung. Dies ist eine weitere Auffächerung des Teils, die hier nicht thematisiert werden kann. Es wäre aber höchste Zeit, das Weiterbestehen der Gemeinschaft zu thematisieren. Auch Gemeinschaft wird analog zur Macht durch Krisen und Ordnungsumwälzungen (neu) etabliert; jedoch mit dem großen Unterschied, dass die Errichtung und Aufrechterhaltung der Gemeinschaft der Bestandteile von der Logik des Vor- und Nachteil absieht. Erst durch das Ausklammern der agonalen Logik ist es möglich, die Krisen der bereits bestehenden Ordnungen, die Grund zu sozialer Phobie und Ressentiment sind, zur Chance einer Neuordnung zu wenden. Gemeinschaft wird aufrecht erhalten, weil sie ein ontologisch Früheres ist, die immer wieder neue Wege findet und neue Formen annimmt – diese dienen dazu, dem gemeinschaftlichen apriori immer wieder neue Substanz zu verleihen. Gemeinschaft ist in dieser Hinsicht nicht nur be-dingt, wie im Kapitel über Spielbeteiligung erörtert, sondern auch unabdingbar. Das unabdingbare Fortbestehen

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Vorteil, Nachteil, Bauteil, Bestandteil, Urteil, Losteilung und Teilnahmslosigkeit

der Gemeinschaft ist das Schicksal der in das gemeinschaftliche Netz eingefügten Bestandteile: Nur die Existenz eines öffentlichen Raumes in der Welt und die in ihm erfolgende Verwandlung von Objekten in eine Dingwelt, die Menschen versammelt und miteinander verbindet, ist auf Dauerhaftigkeit angewiesen. Eine Welt, die Platz für Öffentlichkeit haben soll, kann nicht nur für eine Generation errichtet oder nur für die Lebenden geplant sein; sie muss die Lebensspanne sterblicher Menschen übersteigen. Ohne dies Übersteigen in eine mögliche irdische Unsterblichkeit kann es im Ernst weder Politik noch eine gemeinsame Welt noch eine Öffentlichkeit geben. Denn die Welt ist nicht im gleichen Sinne gemeinsam wie das christliche Gemeinwohl, die allen Christen gemeinsame Sorge um das eigene Seelenheil; das weltlich Gemeinsame liegt außerhalb unserer selbst, wir treten in es ein, wenn wir geboren werden, und wir verlassen es, wenn wir sterben. Es übersteigt unsere Lebensspanne in die Vergangenheit wie in die Zukunft; es war da, bevor wir waren, und es wird unseren kurzen Aufenthalt in ihm überdauern. Die Welt haben wir nicht nur gemeinsam mit denen, die mit uns leben, sondern auch mit denen, die vor uns waren, und denen, die nach uns kommen werden. Aber nur in dem Maße, in dem sie in der Öffentlichkeit erscheint, kann eine solche Welt das Kommen und Gehen der Generationen in ihr überdauern. Es liegt im Wesen des Öffentlichen, dass es aufnehmen und durch die Jahrhunderte bewahren und fortleuchten lassen kann, was immer die Sterblichen zu retten suchen vor dem natürlichen Verfall der Zeiten. 3

Das Gemeinsame überdauert den Einzelnen. Die Gemeinschaft ist somit nicht nur ein ontologisch Früheres, sondern auch ein Späteres, das fortbesteht, wenn das Individuum aus der Gemeinschaftswelt heraustritt – und das Heraustreten selber wird von der Gemeinschaft aufgehoben: Die überdauernde/fortdauernde Gemeinschaft findet die Formen, die dazu dienen, das Individuum in der Gemeinschaft weiterhin zu retten, bspw. auch nach seinem Tod in der Form der Trauer als Gemeinschaftsform. In dem Fall verhält es sich so, als wäre ein Austritt aus der Gemeinschaft im Prinzip nicht möglich. »Gehen« tut man nie, allein die Form ändert sich.

Hannah Arendt: Vita activa oder Vom tätigen Leben, München/Zürich: Piper, 2002, S. 68–69.

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§ 80. (Vor-)Urteile

§ 80. (Vor-)Urteile Gemeinschaft ist die Welt des Öffentlichen, und wir erscheinen in dieser Welt. Der Rahmen der Erscheinung übersteigt das Individuum, wenn dieses ein Bestandteil ist. Erscheinen bedeutet u. a., solange man sich in dem Erscheinungsrahmen befindet, gesehen und beurteilt werden. Ein weiteres, mögliches Gemeinschaftsparadigma ist somit das Urteil: Wir erscheinen gemeinsam vor Gericht: das ist ein altes christlich-hegelianisches Motiv (christlich, also auch hegelianisch). Wir erscheinen vor dem ›Weltgericht‹, dessen Vorsitz der Weltgeist führt – und dieser fällt das Urteil darüber, ob die Handlungen mit dem Ziel übereinstimmen, das er selbst der Geschichte zugeschrieben hat. So sind wir nicht nur dem ewigen Herumirren ausgeliefert, dieser (typisch abendländischen) Orient(ierungs)losigkeit, die uns einfach alle Kriterien nehmen würde. Wir sind dem Kriterium aller Kriterien ausgesetzt, einer Prüfung, die jedes andere Kriterium hinfällig macht, ohne die (transzendentale?) Tatsache des krinein, des Teilens, des Unterteilens zu zerstören. Hat nicht das ursprüngliche Teil, für das Kant und der deutsche Idealismus stehen, uns ›Moderne‹ (oder wie wir uns auch immer nennen mögen) hervorgebracht: das Ur-Teil als Ursprung, die Teilung in principio, weil geteiltes Prinzip? 4

Ur-Teil der Gemeinschaft ist in dieser Hinsicht Ur-Sprung derselben: Vielleicht ist die ursprüngliche Teilung nichts anderes als unsere gemeinsame Existenz, die Tatsache nämlich, daß wir nicht einzeln existieren. Oder anders formuliert: Es gibt kein für sich existierendes Einzelnes. 5

Die Metapher der Gemeinschaft als Erscheinungsrahmen ist nicht neu: Hannah Arendt spricht bspw. von der »Bühne des Öffentlichen«. 6 Nancy verwendet auch diesen Ausdruck, untermauert durch die Idee der »Szene«:

Jean Luc Nancy: »Das gemeinsame Erscheinen. Von der Existenz des ›Kommunismus‹ zur Gemeinschaftlichkeit der ›Existenz‹« in: Gemeinschaften. Positionen zu einer Philosophie des Politischen, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1994, S. 168–169. 5 Ebenda, S. 169. 6 »Öffentlich wird dieser Bereich, in den die Tatenlustigen vorstoßen, weil sie unter ihresgleichen sind und einander jenes Sehen und Hören und Bewundern der Taten gewähren können, auf deren Hörensagen hin der Dichter und Geschichten-Erzähler dann später ihnen den Ruhm bei der Nachwelt sichern kann. Im Gegensatz zu dem, was im Privaten und in den Familien geschieht, in der Verborgenheit der eigenen vier Wände, erscheint hier alles in jenem Licht, das nur die Öffentlichkeit, und das heißt 4

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Vorteil, Nachteil, Bauteil, Bestandteil, Urteil, Losteilung und Teilnahmslosigkeit

Wenn nun – wie behauptet – die Nicht-Existenz des ›Einzelnen‹ der Stein des Anstoßes für das abendländische Denken war, so war dies doch gleichwohl auch dessen Angelpunkt. Der ›Gründungsakt‹ des abendländischen Denkens mit seinen vielschichtigen griechisch-römisch-jüdischen Voraussetzungen setzt ebenso ein Mit-Teilen des ›Sinns‹ in Szene, wie er diesen ›Sinn‹ im Mitteilen konstituiert oder auftauchen lässt. (Diese Szene trägt viele Namen: Dialektik, Dialog, Politik, Bund, Gerechtigkeit, Liebe, Schönheit usw.). Wir haben uns vor Gericht gerufen, wir haben uns selbst aufgefordert, gemeinsam auf dieser Bühne zu erscheinen. 7

In der Szene/Bühne der Gemeinschaft kommen am Urteil beteiligte Zuschauer vor. Die Zuschauer haben auch in diesem Sinne Anteil an der Gemeinschaft (dieses letztere ist damit nicht als Geldanteil/Kredit 8 zu verstehen, wie es in einer scheinheilig gemeinschaftlichen Unterform des Vor- und Nachteils der Fall ist). Sie nehmen als Bauteile/ Bestandteile und durch Beurteilung teil – auch in den Fällen, in denen das Urteil in die Formen des Vorurteils degradieren kann, welches wiederum auf einer uniformierten Gemeinschaft beruht: Eingelöst werden diese Anforderungen von jener Art Gemeinschaft, die Kant in der Kritik der Urteilskraft entwirft: der ästhetischen Gemeinschaft. Offenbar hat Identität denselben existenziellen Status wie Schönheit: beide beruhen auf keiner anderen Grundlage als einer allgemeinen expliziten oder stillschweigende Übereinkunft, die sich in der unwillkürlichen Billigung eines ästhetischen Urteils bzw. im uniformen Verhalten äußert. Und genau wie Schönheit künstlerischer Praxis bedarf, wird die fragliche Gemeinschaft nur im ›Wärmekreis‹ alltäglicher Praxis hervorgebracht und genossen. Ihre ›Objektivität‹ ist ganz und gar aus den brüchigen Fäden subjektiver Urteile gewoben, denen die Tatsache ihres Verwobenseins allerdings einen Anschein echter Objektivität verleiht. Solange sie lebendig ist (d. h.: solange sie gelebt wird), ist die ästhetische Gemeinschaft ein schillerndes Paradox: einerseits muss sie für jedermann zugänglich sein, weil eine Prüfung der individuellen Berechtigung die Freiheit ihrer Mitglieder beeinträchtigen bzw. negieren würde. Zugleich muss sie jedoch den daraus resultierenden Mangel an Bindungskraft verheimlichen, um die Beruhigungsfunktion nicht zu verlieren, auf die es ihren Anhängern vor allem ankommt. 9 die Anwesenheit der Anderen, erzeugen kann« (Hannah Arendt: Was ist Politik? Fragmente aus dem Nachlass, München: Piper, 2007, S. 45). 7 Nancy 1994, S. 169. 8 Wo das Vertrauen (»Kredit«) mit der Kaufkraft übereinstimmt. 9 Zygmunt Bauman: Gemeinschaften. Auf der Suche nach Sicherheit in einer bedrohlichen Welt, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2017, S. 81–82.

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§ 81. Nichts machen

Die ästhetische Gemeinschaft, in der das Urteil zum Vorurteil neigt, erfährt wiederum zahlreiche Formen, die hierbei zur Analyse nicht herangezogen werden können. Es reiche, hier an den Nexus von Gemeinschaft und Stereotypen zu denken, bei dem das Urteil als bias sich als zentrales und manchmal unabdingbares Konstitutiv der Gemeinschaftsformen und der »Wärmekreise« erweist. Dies stellt auch eine Herausforderung der Stereotypenforschung dar, welche die semantischen Zonen des gemeinschaftlich unterteilten Urteils aufhellen und das problematische Gemeinschaftsstiftende an der »expliziten oder stillschweigende Übereinkunft« zeigen sollte.

§ 81. Nichts machen Die vorigen Figuren des Vorteils/Nachteils, Bauteils und Bestandteils, Urteils und Vorurteils, Anteils beruhen alle – trotz der erheblichen Unterschiede – auf Formen der Teilnahme. Es hat sich jedoch im neueren Gemeinschaftsdiskurs auch die Möglichkeit negativistischer Profile der Gemeinschaft der Teilnahmslosigkeit aufgedrängt. Hierbei dient zum Schluss eine weitere Teilungs-Metapher, die Losteilung. Dies ist ein Terminus der Rechtssprache, der die Befreiung von einer Verpflichtung, Verfangenheit, Urteilsklage bedeutet. 10 In neuer Zeit wurden zahlreiche negativistische Profile der Gemeinschaft hergestellt. Hartmut Rosa unterscheidet deren vier. 11 Im Grunde betrifft eine metaphorische Gemeinschaftslosteilung die Befreiung von der Verpflichtung zur Arbeit, solange diese als Tätigkeit verstanden und ausgeübt wird, die auf ein Werk abzielt. Damit ist die Idee der Herstellung zentral anvisiert und dementsprechend die Freisprechung von einem Urteil, das auf den nicht-operativen Gemeinschaftsbeteiligten lastet. 12 In der Sprache der Rechtes: »Jemanden von einer Klage (oder der Verpflichtung, sich auf die Klage einzulassen) wegen Säumnis des Klägers, von ihm nicht vorgelegter Beweise oder auf Grund eigenen Vorbringens freisprechen; eine Sache durch Urteil aus einer rechtlichen Verfangenheit freigeben« (Deutsches Rechtswörterbuch, https://www.rzuser.uni-heidelberg.de/~cd2/drw/e/lo/stei/losteilen.htm drw /, zuletzt abgerufen am 2. November 2018). 11 Und zwar »Ontologie des Mit-Seins«, »Dekonstruktion der Gemeinschaft«, »Dekonstruktion der Ursprungsidee« und »Dekonstruktion der Einswerdung«. Vgl. Hartmut Rosa: Theorien der Gemeinschaft. Zur Einführung, Hamburg: Junius Verlag, 2010, S. 158–169. 12 Zu einer Einführung in die negativistischen Positionen vgl. Felix Trautmann: 10

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Vorteil, Nachteil, Bauteil, Bestandteil, Urteil, Losteilung und Teilnahmslosigkeit

Negativistischen Momenten und Figuren der Gemeinschaft ist man in dieser Studie bereits begegnet – »Hans im Glück« ist ein Beispiel dafür, genauso wie der »mündige Knecht« oder Agambens Bartleby, oder auch, auf einer weiteren Ebene, ein von der Sachbezüglichkeit losgelöstes Mitteilungsparadigma und eine Handlungstheorie, die sich nicht am Prinzip des proprium/Eigenschaft orientiert, sowie weitere, sich von den gängigen Vorstellungen abhebende Thesen bzgl. des Fremden, der Menschenrechte und der Ordnungs-Ortungsgeflechte. Denn im negativistischen Rahmen gewinnen diejenigen Figuren des Mangels, der Inoperativität, des Verzichtes, der Ausnahme, der potentia-nicht-zu, der Entstellung und Enteignung, der Negation, der Schuld an philosophischer Valenz. Es handelt sich um eine Perspektivenumstellung, welche zeigt, dass solche Mangelfiguren, wenngleich problematische, selbst »Grundstrukturen des Gemeinschaftsdenkens« sind: Mit dieser Hinwendung zu dekonstruktivistischen Positionen geht insgesamt auch eine deutliche Verschiebung auf die Beobachterperspektive einher. Im Zentrum stehen hier weniger die konkreten Deutungsmuster, Selbstbeschreibungen, Interessen und Begehrenslagen der Individuen in Bezug auf gemeinschaftliche Lebensformen, sondern vor allem die Grundstrukturen des Gemeinschaftsdenkens selbst. 13

Gerade das Paradigma des gemeinsamen Gegenstands wird von den neueren negativistischen Positionen der Gemeinschaftstheorie in Frage gestellt, indem diese ihre neuartigen Gemeinschaftsbegriffe nicht an der Teilnahme an einem gemeinsamen Objekt, sondern an einem ontologischen Mangel und an der Negativität ausrichten. Vor dem Hintergrund der Kritik am herkömmlichen Gemeinschaftsbegriff spricht Maurice Blanchot deshalb von »uneingestehbarer« 14 und Jean-Luc Nancy von »undarstellbarer Gemeinschaft«. 15 Für Giorgio Agamben orientiere sich die »kommende Gemeinschaft an der »Nichtmitmachen. Zur Negativität der Gemeinschaft«, in: Andreas Hetzel, Burkhard Liebsch, Hans Rainer Sepp (Hrsg.): Profile negativistischer Sozialphilosophie. Ein Kompendium, Deutsche Zeitschrift für Philosophie. Sonderband, Bd. 32, Berlin: Akademie Verlag 2011. 13 Rosa 2010, S. 154. 14 Maurice Blanchot: Die uneingestehbare Gemeinschaft, Berlin: Matthes & Seitz, 2. Aufl. 2007. 15 Jean-Luc Nancy: Die undarstellbare Gemeinschaft, Stuttgart: Edition Patricia Schwarz, 1988.

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§ 81. Nichts machen

Potenz-nicht-zu: »Denn die einzige ethische Erfahrung […] ist die Erfahrung der (eigenen Potenz), der (eigenen) Möglichkeit zu sein, d. h. in jeder Gestalt die eigene Gestaltlosigkeit und in jedem Akt die eigene Untätigkeit auszustellen«. 16 Schließlich handelt es sich bei den italienisch- und französischsprachigen negativistischen Positionen um eine »Gemeinschaft nicht zu machen und nicht mitzumachen«, 17 die »von der Kritik an der Idee des ›Machens‹ und des ›Herstellens‹ des Sozialen Ausgang nimmt« 18 und somit »auf sich nimmt, nichts zu tun«. 19 Man könnte jedoch die These vertreten, dass die negativistisch angestrebte »Aufhebung des Gemeinsamen« auf einer reduktiven Interpretation des Objektes des Gemeinsamen selber gründet und deshalb doch revidiert werden sollte. Die negativistischen Profile der Gemeinschaft legen nämlich den Fokus primär auf eine bestimmte Gemeinschaftsform, die Arbeitsgemeinschaft (siehe Kapitel über Arbeitsteilung) und tendieren somit dazu, das Objekt des Gemeinsamen auf die operativen Produkte der als Herstellung verstandenen politischen Praxis einzuschränken. In dieser Hinsicht wäre Gemeinschaft die Produktion des politischen Körpers und seiner Werke: An diesem Punkt der Reflexion ergeben sich zwei Wesensmerkmale: 1) Die Gemeinschaft ist keine beschränkte Form der Gesellschaft, ebensowenig wie sie nach der kommuniellen Verschmelzung strebt. 2) Im Unterschied zu einer sozialen Zelle untersagt sie sich, ein Werk zu schaffen, und sie hat keinerlei Produktionswert zum Ziel. 20

Gemeinschaft grenzt sich von der Gesellschaft dadurch ab, dass sie nichts Beständiges anstrebt und keine Sicherheitsstrukturen zur Aufrechterhaltung fordert: ›Ohne Projekt‹: das war der zugleich beängstigende und glückvolle Zug einer unvergleichlichen Gesellschaftsform, die sich nicht greifen ließ, die nicht dazu berufen war, sich zu erhalten, sich zu installieren, und wäre es durch die vielfältigen ›Komitees‹, die eine ungeordnete Ordnung, eine vage Spezialisierung simulierten. 21

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Giorgio Agamben: Die kommende Gemeinschaft, Leipzig: Merve, 2003, S. 44. Trautmann 2011, S. 181. Ebenda, S. 182. Blanchot 2007, S. 56. Ebenda, S. 25. Ebenda, S. 54.

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Vorteil, Nachteil, Bauteil, Bestandteil, Urteil, Losteilung und Teilnahmslosigkeit

In diesem Buch wurde jedoch konsequent gezeigt, inwiefern die Gemeinsamkeit im Sinne der Teilung eines gemeinsamen Objekts über diese arbeits- und werkorientierte Interpretation hinausgeht. Insofern bleibt die negativistische These an der Einschränkung bzw. reduktiven Interpretation ihres Kritikobjektes verhaftet. Sicher ist aber, dass auch ein derart intendiertes Paradigma der Losteilungsgemeinschaft denkbar ist. Die Gemeinschaft ist hiernach auch die Möglichkeit – eine aristotelische dynamis me on –, nicht mitzumachen, losgelöst vom munus als Pflicht und losgeteilt vom munus als Urteil. Kurz gesagt, die paradoxe Möglichkeit der Teilnahmslosigkeit. Und selbst ein solches starkes, negativistisch-dementierendes Gemeinschaftskonzept scheint uns auf die Frage zurück zu verweisen: Was ist der Sinn des Teils, an dem sich unsere Gemeinschaft(en) orientieren?

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Fünfzehntes Kapitel: Umteilung. Philosophie als Hexengebräu und Gemeinschaft im Auge

§ 82. Ein Schlusswort Zum Abschluss unserer Streifzüge in die Gemeinschaftsparadigmen ist es nun möglich, auf eine letzte Teilungsmetapher zu rekurrieren. Umteilung ist hierbei, wie im Falle der Abteilung, eine Militärmetapher, die eine abschließende, methodologische Perspektivenumstellung suggerieren soll. »Umteilen« bedeutet nämlich normalerweise »neu einteilen«, »neu zuordnen«: »Jemand wird in den Zivildienst oder in den waffenlosen Militärdienst umgeteilt«. 1 Die Metapher ist nicht zufällig, da die vorliegende Arbeit, durch ihre Herangehensweise an das Problem der Gemeinschaft, auch eine neue Zuordnung der Rolle der Philosophie andeuten sollte. Die Philosophie sollte ihre gängige Rolle und ihre Modalitäten gegenüber der Lebenswelt umändern. Weit davon entfernt, ein abstraktes und selbstreferentielles akademisches Elfenbeinturmspiel zu bleiben, müsste die Philosophie sich stets im Geflecht mit den verschiedensten Lebensformen, Paradigmen, Strukturen, prozeduralen Kultur- und Sprachmechanismen, alltäglichen Erfahrungen und konkreten Problematiken engagieren. Philosophie ist in der Lage, dies zu tun, weil sie das offenste Fach ist – nicht nur, weil sie mit anderen Fächern in dialektischem Austausch (auch in Form der Infragestellung) sein kann, sondern auch, weil sie sich dabei immer selbst hinterfragt. Andere Fächer können weder in Austausch mit den restlichen Fächern und Wissensbereichen treten, geschweige denn, sich selbst und ihre Grundlagen kritisch unter die Lupe nehmen. Es gibt jedoch fundierte, denkhistorische Gründe, warum die Philosophie ihre Offenheit und den methodischen Polytheismus Vgl. DUDEN, Stichwort »Umteilen«, https://www.duden.de/rechtschreibung/ umteilen (zuletzt abgerufen am 2. November 2018).

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ihrer Instrumente nicht immer ausüben kann. Dies ist nicht nur aufgrund des Klischees, eine schwierige, brotlose Kunst zu sein, die zu nichts diene. Ein Klischee, das selbst in akademischen Kontexten, die eher für die Entfaltung dieses Potenzials der Philosophie zuständig wären, weitergetragen wird. Darüber hinaus hat die Philosophie selber einige Grundfehler begangen, wie z. B. bereits bei ihrer griechischen Entstehung den gewaltigen Geltungsanspruch zur Wahrheit des Logos erhoben zu haben, der sie dazu getrieben hatte, außer- und vorphilosophische Denkformen, die im engen Zusammenhang mit der Lebenswelt standen, zu dementieren. Drittens – und in Anlehnung daran – soll den Philosophen deutlich werden, dass die Philosophie nicht immer eine erbauliche und richtige Tätigkeit ist, sondern Schattenseiten unterschiedlicher Natur aufweist, die eine Revidierung der Philosophie selber – zwecks ihrer Eröffnung der Lebenswelt – erfordern. Kurz gesagt, es drängt sich eine Umteilung der Philosophie und ihrer Rolle auf. Ein wichtiger Vertreter einer solchen, metaphorischen Umteilung war Paul Feyerabend. Man kann ihm zu unseren Abschlussüberlegungen das Wort geben, denn er schneidet verschiedene Problempunkte bzgl. der Umteilung aus dem Militär- in den »Zivildienst der Philosophie« an, die vor dem Hintergrund dieser Studie relevant sind: Vor mir habe ich ein Dokument, das von Philosophen (zum Beispiel Gadamer, Derrida, Ricoeur, Rorty, Putnam), von Wissenschaftlern (unter anderem Sciama, Prigogine) und führenden Politikern (zum Beispiel dem Präsidenten des Europäischen Parlaments) unterzeichnet worden ist. Es wendet sich an ›alle Parlamente und Regierungen der Welt, mit der Bitte, das Studium der Philosophie, ihrer Geschichte und der mit ihr verbundenen Geschichte menschlicher Wissenschaften – von dem intellektuellen Reichtum der Griechen über die großen orientalischen Kulturen bis hin zur Gegenwart – einzuführen, zu fördern und es mit ganzer Anstrengung zu gewährleisten.‹ Ein solchen Studium, so lesen wir, ›ist die unabänderliche Voraussetzung für jede wahrhaftige Begegnung zwischen Völkern und Kulturen, für das Hervorbringen neuer Kategorien zur Bewältigung bestehender Widersprüche und um in der Lage zu sein, die Menschheit auf den Weg zum Guten zu führen.‹ ›In dieser historischen Entscheidungsstunde‹, so schließt das Dokument, ›bedürfen wir eines kulturellen und bürgerlichen Bewußtseins. Wir brauchen Philosophie.‹ Der Aufruf bezeichnet die Philosophie als ›ein ewig wirksames Lebenselixier‹. Dabei ist sie gerade das Gegenteil. Die Philosophie ist keine rundherum gute Sache, die dazu bestimmt wäre, die menschliche Existenz

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zu bereichern. Sie ist ein Hexengebräu, das einige ziemlich todbringende Bestandteile enthält. Zahllose Angriffe auf das Leben, die Freiheit und das Glück haben einen starken philosophischen Hintergrund. Das Aufkommen der Philosophie im Westen oder der ›alte Streit zwischen Philosophie und Dichtkunst‹ (siehe Platon, Politeia 607 b f.) ist der älteste und einflußreichste Angriff dieser Art. 2

Im Geist der vorliegenden Arbeit diente die Philosophie auf vielerlei Art und Weise: Es wurde gezeigt, dass philosophische Methoden wie die Begriffsklärung, der Rekurs auf die Etymologien und die Ideengeschichte sowie im Allgemeinen eine Sprachanalyse, welche interdisziplinären, z. T. kulturwissenschaftlichen Konstellationen Rechnung tragen kann, einen entscheidenden Beitrag zum Verständnis lebensweltlicher Problematiken wie die der Gemeinschaft leisten können. Nun drängt sich aber – womöglich paradoxerweise, denn das Paradoxon wohnt der Philosophie inne – eine Perspektivenumstellung bezüglich der Rolle und des Wesens der Philosophie, gleichsam ein anderer Blick auf ihre Rolle auf. Die Philosophie erweist sich in dieser Hinsicht – und gerade bezüglich der Vielfalt der Lebenswelt, die sie zu thematisieren vermag, nicht als Lebenselixier, sondern als φάρμακον. Ein Pharmakon ist ein doppeltes Mittel, denn einerseits heilt es eine Krankheit, es ist andererseits aber, in unterschiedlicher Dosis, auch krankheitserregend selber. Das ist der Grund, warum Feyerabend das »Lebenselixier« durch das »Hexengebräu« ersetzt, weil die philosophische Unternehmung, die die Vielfalt der Lebenswelt durch Begriffsanalyse klärt und zeigt, durch dieselbe Klärung diese Vielfalt vernichten kann. Philosophie war eine Entmythologisierung der Welt, die eine glasklare und von Sinnhaftigkeit entleerte Dimension des Seins hinterlässt, in der sich gerade aufgrund einer leblosen Logik der Mensch ungeborgen fühlen kann, weil er seinen eigenen Ort darin nicht mehr findet. Die Klärung zeigt und zugleich ver-starrt, wie die Schrift etwas hervorbringt und jedoch zugleich auf eine Bedeutung oder ein Bedeutungsspektrum fixiert. Feyerabend weist vehement darauf hin, dass eine solche Vernichtung der Vielfalt ein fatales denkgeschichtliches Phänomen gewesen ist: Die meisten Intellektuellen glauben, dass die frühen Philosophen uns mit ›intellektuellen Schätzen‹ überhäuft haben. Sie übersehen dabei, daß diese ›Schätze‹ den bereits existierenden Lebensweisen nicht hinzugefügt wur2 Paul Feyerabend: Die Vernichtung der Vielfalt. Ein Bericht, Wien: Passagen-Verlag, 2005, S. 291.

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den; es wurde erwartet, daß sie diese verdrängen. Der Knackpunkt ist, daß diese ›Schätze‹ wichtige Bestandteile eines erfüllten Menschenlebens vermissen lassen und daß ihre Entdecker bei der Suche nach Objektivität und Stabilität die Neigung besaßen, solche Bestandteile außen vor zu lassen. Verglichen mit der Poesie und dem Common Sense, ist der philosophische Diskurs unfruchtbar – und gefühlsarm. Er runzelt über die emotionalen Bindungen und die Wechselfälle des menschlichen Lebens die Stirn, was heißt, daß Philosophen das zerstörten, was sie vorfanden, oftmals so, daß die Standartenträger der westlichen Zivilisation einheimische Kulturen und Lebensweisen zerstört und sie durch ihre eigenen, eigenartigen ›Schätze‹ ersetzt haben. Nach Parmenides ›treib[en]‹ die Menschen oder ›die Vielen‹, wie er sie etwas verächtlich nennt, ›stumm zugleich und blind [dahin …], ständig in verwirrtes Staunen versetzt, entscheidungsunfähi[g]‹, geleitet durch ›in viel Erfahrung entwickelte Gewohnheit‹ (Die Fragmente der Vorsokratiker, Diels-Kranz, Fragmente B 6, 7 f., B 7, 3). Ihre Freuden und Leiden, ihre politischen Handlungen, ihre Zuneigung zu ihren Freunden und Kindern, die Versuche, ihr eigenes Leben und das anderer zu verbessern, und ihre Ansichten über die Art solcher Verbesserungen seien Trugbilder. Laut Platon sind die meisten traditionellen Hilfsmittel für die Darstellung und Untersuchung von Erkenntnissen – die Epik, die Tragödie, lyrische Poesie, die Anekdoten, die wissenschaftliche Abhandlung (einschließlich der vielen Einzelformationen, wie sie in den hippokratischen Schriften gesammelt vorlagen) – entweder fehlerhaft oder täuschend: Sie müssen verändert werden. Die medizinische Praxis müsse zum Beispiel durch eine Theorie geleitet werden, die das erworbene Wissen praktizierender Heilkundler überwinden könne. In einer geordneten Gesellschaft gibt es für die Künste keinen Platz (siehe Politeia 10). Wir wollen sehen, wie einige der Veränderungen, die durch die Vorlieben Platons angestoßen wurden, einzelne Bereiche der griechischen Gesellschaft beeinflußt haben, zum Beispiel die Moral. 3

Die Philosophie hat sämtliche, nicht- oder vorphilosophische Kulturgüter und Wissensformen verdrängt, oder im besten Falle ihren Geltungsanspruch durch das Etablieren wissenschaftlicher Denkformen stark relativiert. Philosophie hat gut funktionierende und pragmatisch-valide Lebensformen und -auffassungen als »Trugbilder« entblößt – besser noch, als solche gebrandmarkt. Derartige vermeintliche Trugbilder dienten aber als Grundlage mitweltlicher – und somit gemeinschaftlicher – Modi und Lebensformen, die an konkrete und wohlbestimmte Ethiken (Modi und Habiti, die Erde zu bewohnen) anknüpften: 3

Ebenda, S. 291–292.

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Die frühen Griechen kannten vier grundlegende Tugenden: Mut, Gerechtigkeit, Mitleid und Weisheit. Nach Protagoras (siehe Platon, Protagoras 327 e 1 ff.) lernt jemand diese Tugenden, wenn er Griechisch lernt – ohne sich an Spezialisten zu wenden und ohne Lehrer – einfach dadurch, daß er in einer Gemeinschaft aufwächst, die sie vorlebt. Die Erziehung hat die Gemeinschaft im Auge. Die homerischen Epen spiegeln diese Situation wider. Sie definieren keine Beispiele, sie verwenden sie, einschließlich solcher Fälle, die zeigen (ohne daß dies ausdrücklich gesagt würde), unter welchen Umständen eine Tugend sich in ein Laster verkehrt. Diomedes ist mutig (vgl. Ilias 5, 114 ff.); sein Mut gerät gelegentlich außer Kontrolle; in diesen Fällen führt er sich wie ein Verrückter auf (vgl. Ilias 5, 330 ff., 434 ff.). Nicht der Autor, sondern der Zuhörer (oder, heutzutage, der Leser) fällt dieses Urteil und erkennt daran die Grenzen des Mutes. Die Weisheit erfährt eine ähnliche Behandlung. Odysseus handelt oft weise und ausgewogen. Er wird darum gebeten, mit temperamentvollen Berühmtheiten wie Achilles zu sprechen; er wird auf schwierige Missionen geschickt. Aber auch die Weisheit des Odysseus zeigt mitunter ein anderes Gesicht und verwandelt sich in Verschlagenheit und Betrug (vgl. Ilias 23, 726 ff.). Solche Einzelbeispiele zeigen, was Mut und Weisheit sind. Sie lassen uns der Vielschichtigkeit von Tugenden bewußt werden. Sie ermutigen uns, die Tugenden durch Ausweitung und Abänderung weiter zu bereichern, entweder in unserer Vorstellungskraft oder durch mutiges und weises Handeln in neuartigen Situationen. Sie nageln die Tugenden nicht fest, sie überlassen es uns, sie zu bewahren oder zu verändern: Beispiele unterrichten uns und ermutigen zur Spontaneität. 4

Nicht zufällig nimmt Feyerabend auf den Mythos Bezug. Dieser ist nämlich das erste, grandiose Opfer der philosophischen Rationalität und ihrer hybris gewesen. Wie in jedem Philosophielehrbuch zu lesen ist, war die Geburt der Philosophie ein denkgeschichtliches Phänomen gekennzeichnet durch die Ablösung mythischer, »irrationaler« und »abergläubischer« Denkformen. Durch den Logos, das argumentative Denken, die Hypotaxe, die die Parataxe ersetzte, die Ideenlehre und die aristotelischen epistemischen Vorgehensweisen, die Sätze der Logik usw. habe die abendländische Kultur einen entscheidenden Vorsprung in die Richtung einer vernünftigen und rationalen Lebensgestaltung gewonnen. Diese ganzen Errungenschaften des Denkens, die der Gegenstand und das Arbeitsfeld der Philosophen sind und die Grundlage für die grandiosesten Erschei-

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Ebenda, S. 292–293.

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nungen des europäischen Geistes, nicht zuletzt für die Wissenschaft, geliefert haben, hatten jedoch eine gefährliche Nebenwirkung, und zwar die Dementierung des Wahrheitsanspruchs und der Operativität der doxa zugunsten der episteme. Aber die doxa des Mythos – bspw. die Tugenden, die in der homerischen Welt parataktisch geschildert werden – und der ethischen vorphilosophischen Lebensformen hatten doch einen präzisen Status, der genuin gemeinschaftliche Einstellungen in der Praxis des Menschen verkörperte: So eingeführte Begriffe sind keine platonischen Entitäten, sie sind nicht ›objektiv‹, das heißt losgelöst von Gegenständen und Traditionen. Begriffe dieser Art sind auf derselben Stufe wie Farbe, Schnelligkeit, Bewegungsanmut, das fachmännische Können bei der Handhabung von Waffen und Wörtern. Sie werden durch die Umstände, unter denen sie aufkommen, beeinflußt, durch Träume, Gefühle, Wünsche. Sie sind keinen rigiden Regeln unterworfen. Die beste Art, solche Begriffe zu erklären, ist die, den Fragesteller in die Praxis eintauchen zu lassen, die diese Begriffe enthält, und ihn darum zu bitten, zu handeln. Der zweitbeste Weg ist, eine offene Liste von Einzelfällen anzugeben. Und Listen spielten in der Tat eine höchst wichtige Rolle im Wachstum des (nah-östlichen, sumerischen, babylonischen, assyrischen, frühgriechischen) Wissens. Sokrates geht anders vor. Als Erwiderung auf die Behauptung des Protagoras, man könne die Tugenden erlernen, indem man Griechisch lerne, ohne einen Lehrer, einfach indem man in einer bestimmten Gemeinschaft (Tradition) lebe, fragt er (siehe Protagoras 329 b 8 ff.), wie die Tugenden sich zueinander und zur Tugend selbst verhielten. Ist Mut ein Teil der Tugend und, falls ja, was bedeutet es dann hier, ›ein Teil von etwas‹ zu sein? Ist er der Kriecherei entgegengesetzt und, falls ja, in welchem Verhältnis steht er zur Weisheit? Impliziert die Tatsache, daß Mut und Weisheit beide ›Teile der‹ Tugend sind, daß sie dasselbe sind und, falls nicht, wie sieht ihr Verhältnis zueinander aus? Dies sind besondere Fragestellungen, die neue und sehr technische Begriffe ankündigen, die selbst keinen Bezug zu den alltäglichen Problemen gewöhnlicher Menschen haben. Sokrates interessiert sich aber nicht nur für solche Begriffe. Er besteht darauf, daß wahre Tugend (oder wahre Erkenntnis, wahre Gerechtigkeit oder wahre Frömmigkeit) nur dann zu erreichen ist, wenn die neuen Begriffe in einem langsam voranschreitenden Prozeß die Traditionen ersetzt haben. Da sie klar und geradlinig sind, mangelt es diesen Begriffen an Elastizität, Vielseitigkeit, an emotionalenAspekten und Vertrautheit der traditionellen Begriffe von Tugend. Da sie eingeführt wurden, um technische Probleme zu lösen, fehlt es den philosophischen Begriffen auch an der Nützlichkeit ihrer Vorgänger. Die Ersetzung wird deshalb das Leben gewöhnlicher Menschen nicht bereichern, sondern es unergiebig und unmenschlich machen. Auch wird sie die Menschen unfrei machen, denn sie wird sie dem gefühllosen, weil ›objekti-

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ven‹ Urteil von Experten unterwerfen. So viel zu den ›Schätzen‹, hervorgebracht durch das Aufkommen der westlichen Philosophie. 5

Nützlichkeit, Elastizität, Vielseitigkeit, genauso wie die Fähigkeit, emotionale Aspekte zur Geltung zu bringen, sind nur einige der Vorteile und Eigenschaften der vorphilosophischen Wissens- und Lebensformen, deren Vernichtung Feyerabend beklagt. Genau dies war die abundance, die in der Originalfassung von der Schrift »Vernichtung der Vielfalt« im Titel auftaucht. 6 Es ist die abundance der wissenschaftlichen und nicht-wissenschaftlichen, nicht philosophischen Denkformen, die für eine menschliche Erkenntnistheorie genauso entscheidend waren und sind, wie die philosophischen Denkformen. Solche nicht-philosophische Denkformen können nun von einer paradox-provokativen Philosophie (also von einer Philosophie, die sich ihrer Grenzen durch Überschreiten ihrer Grenzen bewusst ist) aufgehellt und rehabilitiert werden. Eine Rehabilitierung solcher lebensbezogenen, doxa-geprägten Denkformen durch Aufzeigung der zerstörenden logischen Neigung der episteme ist außerdem nicht nur ein ontologisches, sondern ein politisches Desiderat: Der jüngste Aufruf an ›alle Parlamente und Regierungen der Welt‹ hat ähnliche Nachteile. Er stellt das ›Hervorbringen neuer Kategorien zur Bewältigung bestehender Widersprüche und die Fähigkeit, die Menschheit auf den Weg zum Guten zu führen‹ in den Mittelpunkt. Das mag in den Ohren von Intellektuellen vernünftig klingen, die daran gewohnt sind, Beziehungen in der realen Welt durch Beziehungen zwischen künstlichen Begriffen zu ersetzen. Man bemerke, was darin beschlossen liegt. Die Kategorien werden der ›Menschheit‹ nicht angeboten. Die ›Menschheit‹ wird nicht eingeladen, Überlegungen anzustellen, diese Kategorien vielleicht zu ändern oder abzulehnen. Die Kategorien sollen die Menschheit ›führen‹, so wie ein Polizist den Verkehr regelt. Nun ist es klar, daß ›Kategorien‹ selbst überhaupt nichts ›führen‹ können, es sei denn, ihnen wird Macht verliehen, das heißt, wenn sie durch einflußreiche, weltweit agierende Kräfte auferlegt werden. Um Macht zu erlangen, verkehrte Platon mit Tyrannen. Der Aufruf fordert ›alle Parlamente und Regierungen der Welt dazu auf, das Studium der Philosophie einzuführen, zu fördern und es mit ganzer Anstrengung zu gewährleisten‹ – das heißt, Erziehung oder – bedenkt man die Art von regierungsgesteuerter Erziehung – Gehirnwäsche soll das Kunststück vollführen. Was wird die Ebenda, S. 293–294. Paul Feyerabend: Conquest of Abundance: A Tale of Abstraction Versus the Richness of Being, University of Chicago Press, 1999. 5 6

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Auswirkung einer Erziehung sein, die auf diesen ›neuen‹ Kategorien basiert? Es wird angenommen, daß die Kategorien ›bestehende Widersprüche‹ überwinden – die vielen Formen, wie Menschen ihr Leben eingerichtet haben, werden zurechtgestutzt, um den Kategorien zu genügen. Es gibt keine Verhandlungen von Einzelfall zu Einzelfall zwischen den Mitgliedern verschiedener Gesellschaften, durch die manches vom Reichtum der Weltkulturen erhalten bleiben könnte, sondern ein alles beherrschendes System, ausgebrütet von akademischen Spezialisten und ›mit ganzer Anstrengung‹ durch Parlamente und Regierungen unterstützt, soll angeblich den Konflikt beseitigen. Dies ist wieder einmal der Kolonialgeist, aber verschleierter, als es frühere Formen des Kolonialismus waren, durch zuckersüße humanistische Phrasen. Meine zweite Kritik ist, daß der Aufruf eigennützig ist (Philosophen und Wissenschaftler möchten, daß ihre Themen größere Macht erlangen) und sich in großen Worten und leeren Allgemeinplätzen ergeht. Die wirklichen Probleme unserer Zeit werden nicht einmal berührt. Welches sind diese Probleme? Sie bestehen im Krieg, Gewalt, Hunger, Krankheit und Umweltkatastrophen. Kriegsführende Parteien haben ein wundervolles Instrument gefunden, um ›bestehende Widersprüche zu bewältigen‹: ethnische Säuberung. Der Aufruf weiß nichts zu diesen Greueltaten zu sagen. In gewisser Weise unterstützt er sie sogar durch seine vorgeschlagene Methode begrifflicher oder kultureller Säuberung. Die Philosophen und Wissenschaftler, die ihn unterzeichnet haben, hätten besser daran getan, eine harsche Verurteilung der Verbrechen und Morde, die in unserer Mitte passieren, herauszugeben, zusammen mit einem Aufruf an alle Regierungen, einzuschreiten und das Töten zu beenden, notfalls mit militärischer Gewalt. Solch eine Verurteilung und ein solcher Aufruf wären verstanden worden. Es hätte gezeigt, daß die Philosophie mehr ist als nur eine selbstverliebte Beschäftigung mit leeren Verallgemeinerungen, daß sie eine moralische und politische Kraft ist, die in Betracht gezogen werden muß. Und es hätte, besser als jedes von einer Regierung geförderte philosophische Programm, die jüngere Generation gelehrt, daß sich das philosophische Studium so manchmal lohnt. 7

Das abschließende Wort dieses Buches kann somit mithilfe eines anarchischen Philosophen und Lebensliebhabers formuliert werden. Das Leben lieben heißt nämlich die Philosophie – und somit sowohl ihre Stärke als auch ihre Schwächen und Fehler – und zugleich auch den Mythos und alle anderen Formen und Wege der Erkenntnis lieben – anything goes. Denn sowohl eine Philosophie, die in der Lage ist, sich auf eine gründliche Umteilung einzulassen und die das Leben 7

Ebenda, S. 294–295.

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und mitunter die Figuren der Lebensteiligkeit sucht und dadurch »mehr als eine selbstverliebte Beschäftigung« ist, als auch der ganze Rest – Mythen, Lieder, Worte, Sprüche, literarische Texte, Kunstwerke, Witze, Religionen, Kinoszenen, politische Ideen, richtige und falsche Theorien, Kinderspiele und Gesetze, disparate Formen des Menschenlebens und vor allem Menschen selber – konkurrieren darin, die Vielfalt der Welt und der Menschenwelt ans Tageslicht zu bringen. Nur dadurch ist es möglich, die Gemeinschaft im Auge zu halten.

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