Nachkriegsgefüge: Europa und die Kunst in den späten 1940er und den 1950er Jahren [1 ed.] 9783412529253, 9783412529239

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Nachkriegsgefüge: Europa und die Kunst in den späten 1940er und den 1950er Jahren [1 ed.]
 9783412529253, 9783412529239

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NACHKRIEGSGEFÜGE Europa und die Kunst in den späten 1940er und den 1950er Jahren

Barbara Lange

Studien zur Kunst 50

Barbara Lange

Nachkriegsgefüge  : Europa und die Kunst

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft Bonn.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. © 2023 Böhlau, Lindenstraße 14, D-50674 Köln, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill U S A Inc., Boston MA, U S A; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau, V&R unipress und Wageningen Academic. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung  : Susanne Kessler, Boundless, 2019 (Detail), mit freundlicher Genehmigung der Künstlerin. Vgl. https://www.susannekessler.de Korrektorat  : Dore Wilken, Freiburg Einbandgestaltung  : Michael Haderer, Wien Satz  : Michael Rauscher, Wien Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com

ISBN 978-3-412-52925-3

Inhalt 1 Nachkriegsgefüge  : Die späten 1940er und die 1950er Jahre . . . . . . . . . . .

Schatten und andere Verdunkelungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kunstgeschichte der Vielheit  : Das europäische Nachkriegsgefüge. . . . . . . . Knotenpunkte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

 7  7 15 19

2 Den Fokus verändern.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

27

3 Gemeinschaft. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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39 39 45 56 67 70

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80 92 102 104 116 122

Keramik als gemeinschaftsstiftendes Medium.. . . . . . . . . . . . . . . . . . Kollaborative Kreativität. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Albisola.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mikropolitiken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . COBR A . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mouvement international pour un Bauhaus imaginiste und Situationistische Internationale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Århus Vægkeramik. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Geflechte und Verflechtungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Künstlerfreunde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fürsorgearbeit  : Matie van Domselaer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zwischenbilanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

4 Zeitschaft und Vielzeitigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 Fremdheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 Der peruanische Weber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 Interferenzen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142 5 Resümée am Kartentisch. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 Unpublizierte Briefe, Materialien und Schriften. . . . . . . . . . . . . . . . . 159 Publikationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 Internetpublikationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172 Websites . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172 Abbildungsnachweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175

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Dank . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179

1 Nachkriegsgefüge  : Die späten 1940er und die 1950er Jahre Schatten und andere Verdunkelungen Als 1945 der Zweite Weltkrieg nach sechs langen Jahren endlich endete, lagen weite Teile Europas in Schutt und Asche. Nicht nur Städte, Dörfer, Straßen und Brücken waren zerstört und Ackerland vernichtet worden. Auch Millionen von Menschen hatten ihren Tod gefunden, auf den Schlachtfeldern, als Zivilist:innen bei Angriffen auf ihre Siedlungen und Arbeitsstätten, in den Arbeits- und Vernichtungslagern der National­ sozialist:innen. Mit dem fatalen Versuch der Faschist:innen, eine neue Weltordnung errichten zu wollen, wurden ganze Teile unserer Zivilisation ausgelöscht, die auf diese Weise unwiederbringlich verloren gingen. Die Geschichte von Europa nach diesem Krieg handelt daher von der Bewältigung großer Verluste. Sie ist dabei auch die Geschichte einer Wiedergewinnung. Zwar konnte man das Alte nicht zurückerhalten. Man konnte beim Aufbau neuer Strukturen aber aushandeln, auf welche Werte man sich besinnen und in welches kulturelle Erbe man sich einschreiben wollte. Die Rede von der Stunde Null, die für 1945 bemüht wird, ist daher richtig und falsch zugleich. Nichts war mehr wie zuvor, auch wenn die Menschen, die das Leben nach dem Krieg mitgestalteten, schon vorher eine Geschichte gehabt hatten, auf die sie zurückgriffen oder von der sie nun abzurücken suchten. Nicht nur die traumatische Erfahrung des Krieges, auch die neue geopolitische Ordnung, die mit dem Abkommen der Alliiert:innen am Ende des Krieges in Jalta geschlossen und nach dem Sieg über das Deutsche Reich mit zwei politisch konkurrierenden Blöcken realisiert worden war, verlangte nach neuen Regeln und Regulierungspraktiken. Auch wenn die Verantwortung für diese Reorganisation bei den Instanzen der Poli­ tik lag, spielten die Künste dabei eine maßgebliche Rolle. In einer anderen Situa­ tion des gesellschaftlichen Aufbruchs in Europa, der für die Kunstgeschichte der ­Moderne so hoch bewerteten Zeit um 1800, hatten vor allem deutschsprachige Kunst­ theoretiker:innen der Romantik manifestiert, dass Kunst einen Eigenwert hat und mit diesem an den Verhandlungen über das Zusammenleben teilnimmt.1 Auch wenn diese Idee keineswegs widerspruchsfrei geblieben und im Laufe der Jahre ihren utopischen Charakter wenn nicht verloren, so zumindest doch stark eingebüßt hatte, war sie seither in der Welt. Sie existierte als ein gedankliches Modell, egal, ob Kunst als ein Flucht1 Vgl. Wolfgang Ullrich  : »Kunst/Künste/System der Künste«. In  : Karlheinz Barck u. a. (Hg.)  : Ästhetische Grundbegriffe, Bd. 3. Stuttgart/Weimar 2001, 556 – 616, besonders Kap. 2 und 3, 571 –  603.

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raum für den Rückzug aus dem Alltag oder als eine Partnerin für das realpolitische Voranbringen von Veränderungsprozessen verstanden wurde. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurde diese Vorstellung von einer autonomen Kunst kontrovers diskutiert. In der Zeit des Faschismus als Propagandamittel für eine Politik missbraucht, deren Protagonist:innen aus Machtkalkül zentrale Werte menschlicher Zivilisation über den Haufen geworfen hatten, begegnete man dem Gedanken einer Eigenmacht von Kunst einerseits mit Skepsis. Gleichzeitig wurde sie aber andererseits auch als diejenige Instanz verhandelt, die nicht nur Unsagbares auszudrücken in der Lage sein konnte. Als Medium der Kreativität sprach man ihr zudem zu, angesichts all der Destruktionen grundlegende Strukturen für eine friedliche Gesellschaft vorstellbar machen zu können. Die in der frühen Moderne entwickelte Denkfigur von Kunst als einer eigenen und potenten Wirkmacht, die im Wertesystem und in der kulturellen Praxis Europas fest verankert war, lieferte in den Jahren nach dem Krieg daher gerade aufgrund ihrer Vagheit eine Grundlage für künstlerisches Selbstverständnis, aber auch für gesellschaftliches Handeln, das nicht auf Rhetorik beschränkt blieb. Das zentrale Thema des Buches ist dieses spezifische Verhältnis von Kunst und Poli­ tik, das in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg in einem komplexen Gefüge zu maßgeblichen Ermächtigungen von Kunst führte. Besonders lässt sich dies in dem Zusammenhang nachvollziehen, der zu einem zentralen Problem der modernen Gesellschaften geworden war und der auch die politischen Entwicklungen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts mit den zwei Weltkriegen mitzuverantworten hatte  : die nicht mehr umkehrbare Veränderung der Lebenswelten durch die Industrialisierung. Neben vielen Erleichterungen im Arbeitsalltag und Forschungsergebnissen in Medizin und Naturwissenschaften, die der Gesundheitsfürsorge und Ernährung der Menschen mit dem Umbruch zu Gute kamen, war dieser allerdings auch mit ausbeuterischen Arbeitsbedingungen und Ressourcenpolitiken verbunden, die nur dem Wohle von einigen dienten. Sie beförderten für ihren Machterhalt gesellschaftliche Ordnungen, die sowohl in der Gegenwart als auch in Bezug auf die Vergangenheit und die Erinnerungspraktiken eine Hierarchie von Kulturen manifestieren konnten. Maßgeblich von Europa ausgehend, war auf diese Weise auf der Welt ein Ungleichgewicht entstanden, bei dem man Moderne und Modernisierung mit Macht und Wohlstand, Ohnmacht hingegen mit nicht-modern und Armut korrelieren konnte. Nach dem Zweiten Weltkrieg, der ein Resultat derartig destruktiver Politiken gewesen war und der die Menschheit an den Rand der Selbstzerstörung geführt hatte, wurden in den Künsten Alternativen zu diesem Dispositiv entwickelt, die nicht nur Blickweisen und Praktiken von Politik in Frage stellten. Mit ihnen sollten auch kulturelle Alteritäten, die in der Vergangenheit als Oppositionen verstanden worden waren, Synergien stiftend zusammengeführt und in eine stabile Balance gebracht werden. Diese künstlerischen Praktiken stehen im Zentrum des Buches. In der Kunstgeschichte hat dieses Thema bislang ein Schattendasein gespielt. Wenngleich nicht gänzlich unbekannt, rückte es doch, von einigen wenigen früheren Untersuchungen und Ausstellungen abgesehen, erst in den letzten Jahren im Zusammenhang

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mit den fachinternen Debatten über Eurozentrismus und dem damit verbundenen Geschichtsverständnis stärker in den Fokus. Dabei wurde eines deutlich  : Die Nachkriegszeit Europas, die bis vor Kurzem gemeinhin als gut erforscht galt, ist in vielerlei Hinsicht ziemlich unbekannt. Verantwortlich dafür ist neben einer Perspektive, die lange Zeit vornehmlich die Welt von privilegierten Männern in den Blick nahm, eine Kunstgeschichte des Kalten Krieges, die der politischen Blockbildung nach dem Zweiten Weltkrieg verpflichtet war und die auch noch über die Zeit nach 1990 für eine Weile Bestand hatte. »Schatten von Jalta« hat Piotr Piotrowski vor Jahren diesen Effekt genannt.2 Mit dem Narrativ von zwei unterschiedlichen Sphären, die, durch den Eisernen Vorhang getrennt, mit ihren vermeintlichen Zentren New York und Moskau angeblich kontrastiv einander gegenüberstehen, war auch für die Kunstgeschichte eine nachhaltig wirksame territoriale Aufteilung entworfen worden. Wie Piotrowski und andere zeigten, konnte ein derartiges Modell weder den Nachwirkungen der vielstimmigen kulturellen Räume in Europa mit ihren Binnenbeziehungen aus der Zeit vor 1945 noch den neuen Strukturen und Verbindungen nach 1945 gerecht werden.3 Welche fatalen Folgen mit derartigen Verkürzungen von Geschichte verbunden sind, zeigt sich aktuell, wenn 2022 die Regierung der Russischen Föderation in der Tradition von Zarismus und Stalinismus autoritär die Kultur des eigenständigen Staates Ukraine kurzerhand als nicht existent und als angeblich von Moskau abhängig erklären konnte. Spätestens seither ist klar geworden, dass die Erzählung von den zwei Blöcken, die die Existenz von kultureller Diversität ignoriert und auf die binäre Opposition von Ost und West reduziert, eine Erfindung zur Durchsetzung hegemonialer Interessen war und ist.4 Das untaugliche Bild von der Zweiteilung der Welt, das lange Zeit die Debatten und Forschungen zur Nachkriegszeit in Europa dominiert hat, bekommt glücklicherweise zunehmend Risse. Nach ersten tastenden Versuchen leitete Piotr Piotrowskis Publikation von 2005 (2009) eine grundlegende Revision ein. Während sich seither Konferenzen, Untersuchungen und Ausstellungsprojekte jenseits der Ideologie des Kalten Krieges darauf konzentrierten, die Gemeinsamkeiten der Kunst in Europa trotz der verschiedenen Gesellschaftsordnungen zu diskutieren,5 nehme ich eine andere Pers2 Piotr Piotrowski  : In the Shadow of Yalta. Art and the Avant-garde in Eastern Europe, 1945 – 1989. Übersetzung Anna Brzyski. London 2009 (zuerst Posen 2005). 3 Vgl. hierzu neben Piotrowski 2009 beispielsweise Sascha Bru u. a. (Hg.)  : Europa  ! Europa  ? The Avant-Garde, Modernism and the Fate of a Continent. Berlin 2009  ; Jérôme Bazin/Pascal Dubourg Glatigny/Piotr Piotrowski (Hg.)  : Art beyond Borders  : Artistic Exchange in Communist Europe (1945 – 1989). Budapest/New York, NY 2016. 4 Auch in der Kunstgeschichte findet seither eine verstärkte Beschäftigung mit der Ukraine und deren kulturellem Verhältnis zu Russland statt. Vgl. pars pro toto die 2022 weltweit online übertragenen Dumbarton Oaks Lectures https://www.doaks.org/events/byzantine-studies/public-lectures/ kyivan-rus-to-modern-ukraine-home [Abruf 12.4.2023]. 5 Vgl. etwa Per Bäckström/Benedikt Hjartarson (Hg.)  : Decentering the Avantgarde. Amsterdam/ New York, NY 2014 und das vom European Research Council (E RC) geförderte Projekt Own

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pektive ein, die zugleich für einen grundsätzlichen Wechsel (nicht nur) im Umgang mit der Nachkriegszeit plädiert. Sie resultiert aus der Erkenntnis, dass eine Geschichte der Kunst, die nicht mehr durch die Geschichte der politischen Systeme dominiert wird, eines grundsätzlich anderen Paradigmas bedarf, um nicht am Ende wieder in der ideologischen Falle des Kalten Krieges zu enden. Dabei soll die Politik aus der Betrachtung keineswegs herausgehalten werden. Ganz im Gegenteil. Im Kunstsystem, das sich Mitte des 20. Jahrhunderts ausdifferenziert hatte, lassen sich Kunst und Politik überhaupt nicht voneinander trennen. Doch nicht nur das. Die Lage ist auch dadurch komplex, dass es zu dieser Zeit weder ein einheitliches Kunstverständnis noch nur den einen klar zu bestimmenden Politikbegriff gab, auf deren Grundlage sich argumentieren ließe. In Anlehnung an die Schriften des Philosophen Jacques Rancière gehe ich daher davon aus, dass die Grenze zwischen Kunst und Politik grundsätzlich fließend ist.6 Während Rancière Ästhetiken des Politischen untersucht und dabei herausgestellt hat, wie sie sich Formen des Theaters, der Musik und Malerei aneignen, nähere ich mich von einer anderen Seite. Mir geht es um die Frage, wie sich in den späten 1940er und den 1950er Jahren mit und durch künstlerische Praxis die Aushandlungspositionen zur Wahrnehmung gesellschaftlicher Realitäten so verschoben, dass sich dabei auch Formen der Kunst und Konzepte von Ästhetik änderten. Wenn also etwa Materialeigenschaften und deren Bearbeitungsmöglichkeiten so in den Fokus rücken, dass daraus Ideen für Kooperationen und Kollaborationen entstehen, und die verschiedenen Interessen, Erfahrungen und Geschichten mit Räumen für Kreativität auch Optionen für gesellschaftliches Handeln kreierten. Damit begebe ich mich, ganz in der Tradition der romantischen Idee von einer Potenzialität der Kunst, auf die Spurensuche nach Belegen für die Annahme, Kunst habe auf ihre eigene Weise an der Gestaltung einer europäischen Nachkriegsidentität mitgewirkt. Ich frage also nicht, wie die politische Ordnung die Kunst bestimmt hat oder jene mit künstlerischen Mitteln unterlaufen wurde. Ich schaue vielmehr darauf, wie in Europa mit und durch Kunst Strukturen geschaffen wurden, die Auswirkungen auf Konzepte vom Zusammenleben, von Geschichte und Erinnerungskultur, von Identitätsentwürfen und Technologieverständnis nehmen konnten. Ich gehe also von einem Zusammenspiel von Kunst und Politik aus und nicht von der Annahme, dass Kunstpraktiken im Rahmen von Politik stattfanden. Die Herausforderung, für eine derartige Herangehensweise ein sinnvolles Modell für das Verhältnis von Kunst und Politik entwickeln zu müssen, beinhaltet auch die Aufgabe, den verschiedenen Vorstellungen von Kunst, die in der Nachkriegszeit existierten, Rechnung zu tragen. Denn stillschweigend wurde in Analysen bislang die konkurrierende Diversität von Konzepten zu nur einer, bildungsbürgerlich motivierten Idee von Reality. Jedem seine Wirklichkeit (Leitung  : Mathilde Arnoux) https://dfk-paris.org/de/ownreality [Abruf 12.4.2023]. 6 Vgl. Jacques Rancière  : Die Aufteilung des Sinnlichen. Die Politik der Kunst und ihre Paradoxien. Hg. von Maria Muhle. Übersetzung Maria Muhle in Zusammenarbeit mit Susanne Leeb und Jürgen Link. Berlin 20082 (zuerst Paris 2000).

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Kunst vereinheitlicht, die auf diese Weise die Norm abgab. Eine derartige Engfüh­ rung, die es zu vermeiden gilt, musste etwa die im Sozialismus staatlich geförderte Kunst genauso zwangsläufig als Politpropaganda abtun, wie sie mit ›Kaufhauskunst‹ oder ›Gelsenkirchener Barock‹ pejorative Begriffe aufbrachte.7 Damit soll keiner undisziplinierten Weitung des kunsthistorischen Gegenstandsbereichs das Wort geredet werden. Vielmehr thematisiere ich Ausgrenzungspraktiken, die mit einem Abrücken von möglicherweise Populismus die Berücksichtigung eines Phänomens ausklammern, das das Feld der Kunst nach 1945 entscheidend prägte und dem es sich tatsächlich zu stellen gilt  : Das Verhältnis von Massenkultur zu einer Kunst, die Eliten auch als Distinktionsmedium einsetzen konnten.8 Der Schatten, der etwas Vorhandenes so verdunkeln konnte, dass man es nicht sehen musste, hat ideologische Wurzeln. Bereits 1939 stellte Clement Greenberg, bekanntlich einer der einflussreichen Theoretiker des Modernismus, in seinem programmatischen Aufsatz Avantgarde und Kitsch fest, dass Werke, die der Verbreitung von Propaganda dienen, nur in einer Hülle von Kunst daherkommen und daher als Kitsch zu bezeichnen sind.9 Mit Blick auf die stalinistische Kulturpolitik setzte er sich in diesem Text seinerzeit speziell mit dem Kunstverständnis eines »russischen Bauern« auseinander und argumentierte, dass dieser kulturell zu ungebildet sei, um eine Kunst verstehen zu können, die nur sich selbst verpflichtet ist. Der sowjetische Staat müsse daher gar kein Verbot von Avantgardekunst durchsetzen, er müsse der Bevölkerung einfach nur eine gewisse kulturelle Bildung verweigern und sich zum Machterhalt wie alle damals totalitären Regierungen einfach am Geschmack der Massen orientieren. Greenberg schrieb damals  : Wenn in Deutschland, Italien und Russland Kitsch die offizielle Richtung der Kultur ist, dann nicht, weil die Regierungen dieser Länder mit Kunstbanausen besetzt sind, sondern weil Kitsch in diesen Ländern, wie überall anders auch, die Kultur der Massen ist. Die Förderung des Kitsch ist bloß eine der billigen Methoden, mit denen totalitäre Regime sich bei ihren Untertanen einzuschmeicheln versuchen.10

Die gegenwärtige Situation in Russland, die von einer populistischen Bilderpolitik begleitet wird, erscheint zwar wie eine Bekräftigung von Greenbergs Beobachtung.   7 Vgl. Ausstellungskatalog Gelsenkirchen, Städtisches Museum 1991/92  : »Gelsenkirchener Barock«. Hg. von Peter Hardetert. Heidelberg 1991. Vgl. auch Barbara Mundt  : »Interieurs in Deutschland 1945 – 1960«. In  : Dies./Ines Hettler/Susanne Netzer  : Interieur und Design in Deutschland. Berlin 1993, 11 – 26 (Bestandskatalog Kunstgewebemuseum Berlin).   8 Die Literatur zu diesem Thema füllt Bibliotheken. Einschlägig diskursbildend Pierre Bourdieu  : Die feinen Unterschiede. Kritik gesellschaftlicher Urteilskraft. Übersetzung Bernd Schwibs/Achim Rousser. Frankfurt/Main 1982 (zuerst Paris 1979).   9 Clement Greenberg  : »Avant-Garde und Kitsch« (1939). In  : Ders.: Die Essenz der Moderne. Ausgewählte Essays und Kritiken. Hg. von Karlheinz Lüdeking, Übersetzung Christoph Hollender. Amsterdam/Dresden 1997, 29 – 55, hier  : 40. 10 Greenberg 1997 (1939), 52.

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Allerdings lässt seine normative Klassifikation von Kunstbanausentum skeptisch aufhorchen. Wir haben, nicht zuletzt herausgefordert durch eine Kunstpraxis der sogenannten Entgrenzung, auch zurückblickend erkannt, dass es sich bei der Dichotomie von Kunstgebildeten und Bildungsunfähigen, mit der Greenberg argumentierte, um eine gedankliche Konstruktion handelt, die seit den Anfängen des Kunstsystems in der Frühen Neuzeit von kulturellen Eliten als eine Abgrenzungsstrategie genutzt wurde.11 Mit seiner Vorstellung von Kitsch vertrat Greenberg um 1940 eine Diskursposition, die dieses partikulare Bildungs- und Subjektkonzept repräsentierte, welches sich das moderne Bürgertum zu eigen gemacht hatte.12 Die Position von Clement Greenberg war für die ideologischen Konfrontationen, wie sie nach dem Zweiten Weltkrieg im Kalten Krieg zwischen den beiden Großmächten USA und Sowjetunion geführt wurden, höchst funktional. Und so ist es nicht nur das bildungsbürgerliche Fundament der Kunstgeschichte, das uns Phänomene im Kunstbetrieb der Nachkriegszeit in Kunst und Kitsch sortieren lässt. Es ist auch der Überformung kunsthistorischer Forschungen durch die damalige politische Blockbildung geschuldet. Tatsächlich gab es um die Mitte des 20. Jahrhunderts auch andere Positionen, die sich im Bereich der Kunst mit den Phänomenen Massenkultur und Populismus beschäftigten, dabei jedoch zu anderen Ergebnissen als Greenberg gekommen waren. Nicht zuletzt in Europa, wo heftige Auseinandersetzungen über die Rolle von Kunst, über deren adäquate Formen und soziale Distinktionen geführt wurden, gab es diese anderen Stimmen, die im kunsthistorischen Diskurs verschattet wurden. Wer, außer den Spezialist:innen, kennt schon die Schriften Intime Banalitäten (1941) und Sozialistische Heringe, realistische Ölfarbe und Volkskunst (1949/50), die der aus Dänemark stammende Asger Jorn in den 1940er Jahren verfasst hatte  ?13 Anders als die Maler:innen des Abstrakten Expressionismus, die trotz ihrer Begrenzung auf die U SA 11 Anna Brzyski  : »Art, Kitsch, and Art History«. In  : Monica Kjellman-Chapin (Hg.)  : Kitsch  : History, Theory, Practice. Newcastle upon Tyne 2013, 1 – 18. 12 Brzyski 2013. Mit Blick auf eine entsprechende Wissenschaftspraxis in der Kunstgeschichte schreibt sie  : »Although they have raised questions concerning the core assumptions of the ­Western value system that continues to divide culture into high and low and identifies some forms as inherently more significant, autonomous, and critical than others, they have not raised the possibility that both terms, kitsch as well as art perform an evaluative function. In other words, they are never simply descriptive, but are always used to confer or withhold value.« Brzyski 2013, 2 (Hervorhebung im Original). 13 Vgl. Asger Jørgensen (= Asger Jorn)  : »Intime Banalitäten« (1941). In  : Asger Jorn  : Heringe in Acryl. Heftige Gedanken zu Kunst und Gesellschaft. Hg. von Roberto Ohrt. Hamburg, 19932, 13 – 20 (zuerst veröffentlicht mit dem Titel »Intime banaliteter«. In  : Helhesten 1 (1941), Heft 2, 33 – 38), und Asger Jorn  : »Sozialistische Heringe, realistische Ölfarben und Volkskunst.« (1949/50). In  : Jorn 1993, 35 – 37. (zuerst unter dem Titel »Sociale sild og realistiske oliefarver«. In  : Ausstellungs­ katalog Kopenhagen 1949/50  : »Spiralen«. Kopenhagen 1949, 8 – 11. Erste deutschsprachige Veröffentlichung in  : Cobra. Internationale Zeitschrift für moderne Kunst 5 (1950), 4). Zu Jorns Verständnis von Kitsch vgl. Karen Kurczynski  : »Asger Jorn, Popular Art, and the Kitsch AvantGarde«. In  : Kjellman-Chapin (Hg.) 2013, 64 – 102.

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den kunsthistorischen Kanon der Nachkriegszeit zum Teil immer noch dominieren und so eine maßgebliche Norm auch für Europa abgeben, war Jorn im europäischen Kunstbetrieb damals ein Hans Dampf in allen Gassen und durch seine Mitgliedschaften in zahlreichen Künstlergruppen sowie seine Teilnahmen an überregional beachteten Ausstellungen quasi omnipräsent. Sich mit seinen Positionen auseinanderzusetzen, bedeutet daher auch, den Spezifika einer europäischen Nachkriegskunstgeschichte nachzugehen. Noch für einen weiteren Aspekt liefert das Œuvre von Asger Jorn eine Arbeitsgrund­ lage. Neben der populistischen Funktionalisierung von Kunst durch die Politik, die Greenberg als Kitsch bezeichnet hatte, war spätestens seit dem Ende des 19. Jahrhunderts eine weitere Konkurrenz entstanden  : die gewinnorientierte Vermarktung von Produkten, die sich wie der Populismus der bildungsbürgerlich fundierten Kunst bedienten. Ihre Funktion ist nicht politische Propaganda. Als gut verkäufliche Ware sind sie vielmehr profitorientiert in den Wirtschaftskreislauf eingebunden. In ihrem Buch Dialektik der Aufklärung, das sie in weiten Zügen während ihres Exils in den U SA Anfang der 1940er Jahre fertiggestellt hatten, bezeichnen Max Horkheimer und Theodor W. Adorno dieses Phänomen als »Kulturindustrie«.14 Dabei ist ihr Standpunkt, aus dem heraus sie argumentieren und analysieren, dem von Clement Greenberg vergleichbar  : Ausgehend von einem letztlich normativen Kulturverständnis hierarchisieren sie und klassifizieren diese Massenkultur als minderwertig.15 Jorn eröffnete in Intime Banalitäten hingegen eine ganz andere Perspektive, wenn er gerade diese popularen Phänomene als die eigentliche Grundlage von Kunst bezeichnet  : »Es ist wichtig zu betonen, dass die Grundlage der Kunst im ewig Gemeinen bleibt, im Einfachen und Billigen, das sich in Wirklichkeit als das uns Teuerste und Verzichtbarste erweist.«16 Anders als Greenberg, Horkheimer und Adorno, die mit ihren Positionen einer sozialen Distinktion das Wort redeten, bildete für Jorn die Alltagspraxis der Bevölkerung die einzig tragfähige Grundlage. Wer gegen die Produktion der schönen, grellen, sorgfältig ausgeführten Bilder zu kämpfen versucht, ist der Gegner der besten zeitgenössischen Kunst. Diese Seen in den Wäldern und diese röhrenden Hirsche, die in Tausenden von Wohnzimmern in Goldverzierungen auf gemusterten Tapeten hängen, gehören zu den tiefsinnigsten Eingebungen der Kunst. Es ist immer ein wenig ermüdend zu sehen, wie die Menschen daran gehen, den Ast, auf dem sie sitzen, abzusägen.17

14 Vgl. Max Horkheimer/Theodor W. Adorno  : Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente (1944). Frankfurt/Main 200314. 15 Vgl. Niels Penke/Matthias Schaffrick  : Populäre Kulturen zur Einführung. Hamburg 2018, 92 –  104. 16 Jorn 1993 (1941), 13. 17 Jorn 1993 (1941), 15.

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Begegnet uns hier eine europäische Position, in die spezifische historische Erfahrungen und Debatten eingeflossen sind  ? Ist es auch ein Resultat dieser spezifischen, europäischen Situation, wenn sich in den 1950er Jahren mit den Cultural Studies in Großbritannien, deren Anfangszeit mit Untersuchungen von Raymond Williams, Richard Hoggart und Stuart Hall verbunden sind, eine Kulturtheorie etabliert hat, die nicht von Distinktion durch Bildung geprägt ist, sondern die die Heterogenität von Kulturen versucht ungleich, aber unhierarchisch zu denken  ?18 Gleichfalls in den 1950er Jahren entwickelte der Kunsthistoriker und Kunstkritiker Lawrence Alloway, einer der einflussreichen Theoretiker der Popkultur, sein Konzept einer Aesthetic of Plenty.19 Es ist wenig verwunderlich, dass Alloway im Austausch mit Asger Jorn stand und beide an der Profilierung einer neuen Identität von Europa nach dem Zweiten Weltkrieg aktiv mitwirkten. Alloway war es auch, der schon früh einerseits auf die Dichte und den Variantenreichtum der Künste im Europa der Nachkriegszeit hinwies20 und der andererseits die Spezifik Europas betonte.21 In den 1930er und den frühen 1940er Jahren hatten Künstler:innen in Europa Verfolgung, Arbeits- und Ausstellungsverbot, ein Abdrängen ins Exil oder in den Untergrund und die Zerstörung ihrer Heimat unmittelbar erleben müssen. Hier waren sie unausweichlich gezwungen gewesen, Partei zu ergreifen, und hatten erfahren müssen, dass auch ihre Netzwerke im Kunstbetrieb zusammen mit der Infrastruktur des Alltags zusammenbrachen und mit Glück und/ oder Geschick sich alte Verbindungen halten oder Ersatzstrukturen aufbauen ließen. Jorns und Alloways Engagement in europäischen Gruppierungen der Nachkriegszeit wie COBR A, Independent Group oder Situationistische Internationale geschah daher in einem Kontext, in dem es um mehr ging als eine schlichte Erweiterung von künstlerischen Materialien und Formen. Ihr Plädoyer für ein verändertes Verständnis von Kunst, bei dem der Status des Objekts relativiert und individuelles Schöpfertum zugunsten von Alltagsprozessen problematisiert wird, steht im Zusammenhang mit dieser Situation.22 In ihren Beschreibungen und Analysen zur Nachkriegszeit in Europa hat Kunstgeschichte diese Aspekte lange Zeit marginalisiert und sie zugunsten von Interpretationen, 18 Vgl. Penke/Schaffrick 2018, 104 – 114. 19 Vgl. Lawrence Alloway  : »The Long Front of Culture« (1959). In  : Richard Kalina (Hg.)  : Imaging the Present. Context, Content and the Role of the Critic. With a Critical Commentary by Richard Kalina. London/New York, NY 2006, 61 – 64 (zuerst in  : Cambridge Opinion 17 (1959), 24 – 26). Vgl. zu Alloway  : Lucy Bradnock/Courtney J. Martin/Rebecca Peabody (Hg.)  : Lawrence Alloway. Critic and Curator. Los Angeles 2015. 20 Vgl. Lawrence Alloway  : »Junk Culture« (1961). In  : Kalina (Hg.)  : 2006, 77 – 80, hier  : 78 (zuerst in  : Architectural Design 31 (1961), Heft 3, 122 – 123). 21 Vgl. Lawrence Alloway  : »Art in Western Europe  : The Postwar Years, 1945 – 1955« (1978). In  : Ders.: Network. Art and the Complex Present. Ann Arbor, MI 1984, 37 – 52 (zuerst in  : Ausstellungskatalog Des Moines, Des Moines Art Center 1978  : »Art in Western Europe  : The Postwar Years, 1945 – 1955«). 22 Vgl. Alloway 1984 (1978), 43 – 44. Vgl. auch das Themenheft »Material Imagination. Art in Europe, 1946 – 72«, Art History 39 (2016), Heft 4. Hg. von Natalie Adamson und Steven Harris.

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welche die bipolare Ordnung des Kalten Krieges bestätigen konnten, in den Schatten ihrer Aufmerksamkeit abgedrängt. Sie vergab dabei auch die Chance, ausgehend von einer hierarchielos erfassten Diversität, die diese Vielfalt abbildet, einen Einstieg in Diskussionen über eine globale Kunstgeschichte zu schaffen, die das koloniale Erbe Europas nicht vergisst, die zugleich das kulturelle Erbe aber nicht auf diesen Aspekt beschränkt. Die Schwierigkeiten, zu dieser Position zu gelangen, dokumentiert die Tatsache, dass es mehr als ein halbes Jahrhundert Zeit und weltweit viele Debatten über die Funktion von Kunst brauchte, bis 2016 Okwui Enwezor das Ausstellungsprojekt Postwar  : Kunst zwischen Pazifik und Atlantik, 1945 – 1965 im Haus der Kunst in München realisierte.23 Offen für Vielfalt und zugleich mit Blick auf die komplexen Verschränkungen vermittelte die umfangreiche Schau, dass Kunst nach 1945 ein Forum war, in dem Menschen auf unterschiedliche und doch gemeinsame Weise ihre Erfahrungen des Zweiten Weltkrieges, ihre erlebte Geschichte und ihre Visionen kommunizieren konnten. Dieser Blick auf die Praxis ihrer Handhabung von Kunst machte die globale Zusammenschau, deren Heterogenität geradezu überwältigte, möglich und sinnvoll. Besonders dunkel fiel der Schatten, der mit der kunsthistorischen Betrachtung der Nachkriegszeit generiert wurde, auf die jüdische Kultur, die nahezu völlig aus dem Blick geriet.24 Statt besonders neugierig zu erforschen, wie diese europäische Tradition nach dem Vernichtungszug des Nationalsozialismus weiter existierte und sich neu aufstellte, wurde sie aus der Nachkriegskunstgeschichte Europas regelrecht ausgeblendet. Die rassistisch motivierte Alteritätsideologie der Faschisten fand so fatalerweise eine erfolgreiche Fortsetzung, die letztlich auch darin ihren beredten Ausdruck finden konnte, dass in den Debatten über die documenta 15 (2022) jüdische und deutsche Geschichte als voneinander getrennt begriffen wurden. Mit dem Ziel, an einem neuen Bild von der Kunstgeschichte Europas der Nachkriegszeit mitzuarbeiten, ist dieses Buch geschrieben. Es soll zeigen, dass dieser Zeitabschnitt weitaus facettenreicher war als bislang bekannt. Mit der Diskussion, wie sich diese Vielheit besser erschließen lässt, ist zugleich der Anspruch verbunden, Auswege aus einer eurozentrischen Perspektive aufzuzeigen. Kunstgeschichte der Vielheit  : Das europäische Nachkriegsgefüge Die Kunst in Europa ist nicht nur ausgesprochen vielseitig, sondern auch voller Spannungen. Nach dem Zweiten Weltkrieg formierten sich die Dispositionen neu. Das Weiter- und Nachleben von Praktiken der Vorkriegsavantgarden, das in der Kunstgeschichte das Bild von dieser Zeit so nachhaltig geprägt hat, kennzeichnet dabei nur 23 Vgl. Ausstellungskatalog München, Haus der Kunst 2016/17  : »Postwar. Kunst zwischen Pazifik und Atlantik, 1945 – 1965«. Hg. von Okwui Enwezor/Katy Siegel/Ulrich Wilmes. München 2016. 24 Eine der bislang wenigen Untersuchungen für Deutschland ist Kathrin Hoffmann-Curtius mit Sigrid Philipps  : Bilder zum Judenmord. Eine kommentierte Sichtung der Malerei und Zeichenkunst in Deutschland von 1945 bis zum Auschwitz-Prozess. Marburg 2015.

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eine der verschiedenen Facetten, die – wie bereits angesprochen – auch durch soziale Ungleichheit bedingt waren. Um diese Kunstgeschichte der Vielheit adäquat abzubilden, bedarf es eines neuen Zugangs. Bislang ist es üblich, anhand kanonischer Beispiele die Kunstgeschichte der Nachkriegszeit in Europa zu erzählen, um so einen Überblick zu vermitteln. Auch ein neues Modell muss eine Orientierung vorgeben und überblicksartig das Feld so abstecken, dass weitere Forschungen das Bild ergänzen und verdichten können. Allerdings liefert die von mir vorgeschlagene Revision zwar eine Grundstruktur, jedoch anders als bei der bislang üblichen Betrachtungsweise keine eindimensionale Erzählung. Denn, Vielheit in den Blick zu nehmen bedeutet, dass wir es mit diversen Prozessen und Dynamiken zu tun haben, die weder eine gemeinsame Zielrichtung noch eine einheitliche Zeitstruktur aufweisen.25 Europa ist in der Nachkriegszeit von einer solchen Vielheit geprägt. Die Philosophen Gilles Deleuze und Félix Guattari machen bei ihren Überlegungen zur geeigneten Form einer Notation, die einer derartigen Ausgangslage gerecht werden kann, die Differenz zwischen Buch und Karte auf.26 Während das Buch einem Baum vergleichbar eine hierarchisierende Binnenstruktur mit eindeutigem Richtungsverlauf von Wurzel zur Krone aufweist, liegt der Karte ein grundsätzlich anderes Konzept zugrunde. Sie übersetzt Vorhandenes in ein offenes System, das Verknüpfungen und Beziehung ermöglicht, die immer wieder variiert werden können.27 Suche ich etwa heute mit Hilfe der Karte den schnellstmöglichen Weg von A nach B, so interessiert mich morgen vielleicht die dort notierte Verbreitung von Hochmoorgebieten, der Verlauf von Flüssen oder die höchste Erhebung. Ich kann Muster ausmachen, die sich je nach thematischem Interesse ändern. Für Deleuze und Guattari ist die Geschichte ein offenes, unregelmäßig verschränktes Gefüge, das dort, wo sich thematische Verdichtungen gebildet haben, Knotenpunkte aufweist.28 Akteur:innen in diesem Geschehen sind sowohl Lebewesen als auch Dinge und Sachverhalte, die miteinander Konstellationen von temporärem Charakter produzieren und aus denen sich, potenziell auf Vorangehendes zurückgreifend, neue Prozesse bilden können.29 Mehr als der Baum ist die Karte daher geeignet, die heterogene Vielfalt abzubilden. Sie soll daher hier produktiv gemacht werden. Die Orientierung an der Multifunk25 Vgl. Achim Landwehr  : Diesseits der Geschichte. Für eine andere Historiographie. Göttingen 2020. 26 Vgl. Gilles Deleuze/Félix Guattari  : Rhizom. Übersetzung Dagmar Berger/Clemens-Carl Haerle/ Helma Konyen/Alexander Krämer/Michael Nowak und Kade Schacht. Berlin 1977 (zuerst Paris 1976). 27 Vgl. Deleuze/Guattari 1977, 21. Zur Rezeption von Deleuze/Guattari in der Kunstgeschichte vgl. Sjoerd van Tuinen  : »Art History after Deleuze and Guattari«. In  : Ders./Stephen Zepke (Hg.)  : Art History after Deleuze and Guattari. Leuven 2017, 7 – 20. 28 Vgl. Gilles Deleuze/Félix Guattari  : Tausend Plateaus. Übersetzung Gabriele Ricke/Ronald Voullié. Berlin 1992, 698 – 700 (zuerst Paris 1980). 29 Deleuze und Guattari knüpfen damit durchaus an vitalistische und expressionistische Ideen vom Beginn des 20. Jahrhunderts an. Vgl. auch Tuinen 2017.

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tionalität einer Karte bedeutet allerdings, dass man kein neues Narrativ entwickelt, sondern eine Grundlage kreiert, aus der sich eine Vielfalt von jeweils adäquaten Erzählungen generieren lässt. Das System muss also so offen gestaltet sein, dass entsprechend vielfältige, ständig ergänzbare Verknüpfungen und Lektüren möglich sind, die unterschiedlichen Fragestellungen und Perspektiven gerecht werden können. Zur Orientierung verhelfen Knotenpunkte, die so ausgewählt sind, dass sie Spezifika des Themas strukturieren und so eine Beliebigkeit vermeiden. Dieses offene, an Prozessen orientierte Gefüge bietet auch Lösungsmöglichkeiten für ein zentrales Problem, das ich bislang stillschweigend übergangen habe  : die Definition von, oder besser, einen Umgang mit Europa. In meinen bisherigen Ausführungen habe ich diesen Begriff unhinterfragt, wenngleich keineswegs unreflektiert verwendet. Denn ganz gleich, auf welcher Grundlage man versucht, diesen Kontinent, der nicht zuletzt für die Ausbildung von Bewertungsmodellen der Kunstgeschichte eine so maßgebliche Rolle gespielt hat, zu definieren, er bleibt in jeglicher Hinsicht diffus. Zwar erfüllt er das geologische Definitionskriterium einer zusammenhängenden Landmasse. Diese teilt er jedoch mit Asien, mit dem er gemeinsam den Großkontinent Eurasien bildet. Dass die Grenze zwischen beiden weder aufgrund einer gemeinsamen Idee von europäischer Identität noch aufgrund territorialer Kriterien gezogen werden kann,30 begünstigt die Unschärfe seiner kulturellen Identität, die sich beständig performativ konturieren muss.31 Verändert sich der Raum, der mit Europa verbunden wird, dadurch kontinuierlich, so scheint er zugleich nicht beliebig zu sein. Wenn Ulrich Beck und Edgar Grande konstatieren, dass Europa in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts von Los Angeles bis Wladiwostok reichen kann, basiert diese Einschätzung auf der Beobachtung von Alltagspraktiken, die einem in Europa generierten Wertesystem folgen.32 Wie Beck und Grande löst der Philosoph Hans Joas die Definition von Europa vom raumfixierten Territorium und schlägt stattdessen eine Orientierung an Ethik vor.33 Ein derart verstandenes Europa ist kein feststehender Raum, sondern das, was diesen auch erdgeschichtlich kennzeichnet  : eine in Bewegung befindliche, in ihren Grenzen flexible Größe, die der Zeit unterworfen ist. Auch in der Kunstgeschichte diskutieren wir seit einer Weile eine an Ideen und Handlungsoptionen orientierte Raumordnung, die wie die genannten Positionen aus 30 Vgl. Ulrich Beck/Edgar Grande  : Das kosmopolitische Europa. Gesellschaft und Politik in der Zweiten Moderne. Frankfurt/Main 2007, 9 – 24. 31 Vgl. Michael Bachmann  : »Einleitung«. In  : Ders./Asta Vonderau (Hg.)  : Europa – Spiel ohne Grenzen  ? Zur künstlerischen und kulturellen Praxis eines politischen Projekts. Bielefeld 2020, 7 – 14, hier  : 10. Vgl. in diesem Zusammenhang auch Judith Miggelbrink  : »Die (Un)Ordnung des Raumes. Bemerkungen zum Wandel geographischer Raumkonzepte im ausgehenden 20. Jahrhundert«. In  : Alexander Geppert/Uffa Jensen/Jörn Weinhold (Hg.)  : Ortsgespräche. Raum und Kommunikation im 19. und 20. Jahrhundert. Bielefeld 2005, 79 – 106. 32 Beck/Grande 2007, 23. 33 Vgl. Hans Joas   : »Die kulturellen Werte Europas. Eine Einleitung«. In   : Ders./Klaus Wiegandt (Hg.)  : Die kulturellen Werte Europas. Frankfurt/Main 2005, 11 – 39.

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Soziologie, Politikwissenschaften und Philosophie Überlegungen der Sozialgeographie folgt.34 Raum wird auch in unserer Disziplin dabei nicht mehr als ein vorgegebenes und feststehendes Territorium definiert, sondern handlungsorientiert prozessual und daher auch in seinen Grenzen fließend verstanden. Diesem neuen Raumkonzept zufolge bringt nicht eine Region eine spezifische Kunst hervor. Vielmehr ist es die Kunstpraxis selbst, die einen kulturellen Raum erzeugt.35 Gerade für Diskussionen zur Moderne, die mit ihrer Orientierung an Nordamerika und Europa lange Zeit an nationalstaatliche und kunstgeographisch feste Räume gebunden waren,36 lassen sich auf diese Weise herkömmliche Hierarchisierungen aufbrechen. Ich lege daher einen kunsthistorischen Begriff von Europa zugrunde, d.h., ich arbeite mit einer kultur- und nicht mit einer ortsbasierten Definition. Dass die Nachkriegszeit besonders geeignet ist, hierfür modellbildend zu sein, ist im Kapitel 4 Thema. Ein derartiges Konzept ist allerdings kein Selbstläufer. So zielführend eine an Prozessen orientierte Vorstellung von Raum in Hinblick auf die Überwindung alter Ordnungsmuster zunächst erscheinen mag, bedeutet sie keineswegs zwangsläufig eine Überwindung alter Hierarchien. Wird in die Flexibilisierung des Territoriums das partikulare, bildungsbürgerliche Kunstverständnis unreflektiert übernommen, schreibt man einen Eurozentrismus fort, der mit einer Kunstgeschichte der Vielheit ja gerade überwunden werden soll. Kunstpraxis von Los Angeles bis Wladiwostok – um die oben genannte Terminologie von Beck und Grande zu übernehmen – wäre dann nicht nur, wie bei Nordamerika, die bis heute manifeste Auswirkung einer Kolonialpolitik und, wie bei Russland, Zeichen für den Vorbildcharakter europäischer Aufklärung. Es hieße fatalerweise auch, einen Kunstbegriff für die Welt zu übernehmen, dessen Profil tatsächlich eher europäisch als wirklich global wäre.37 Doch auch hier muss gefragt werden, was dann als »europäisch« verstanden werden soll. Die mit der Moderne aufgekommene Möglichkeit, plurale Zugänge zur Kultur als – zumindest theoretisch – grundsätzlich gleichberechtigt zu akzeptieren, hatte ja jenseits eines normativen Kunstbegriffs – den ich weiter oben als bildungsbürgerlich klassifiziert habe – das diffuse Feld der populären Kunst entstehen lassen und somit ein Forum eröffnet, um mit einem divers zusammengesetzten Publikum zu kommunizieren.

34 Zur Sozialgeographie vgl. den komprimierten Überblick von Benno Werlen  : Sozialgeographie. Eine Einführung. 3. vollständig überarbeitete und erweiterte Auflage. Bern 2008. Zu einer Kunstgeschichte, die den Anspruch hat, Konzepte der Kunstgeographie des frühen 20. Jahrhunderts weiterzuentwickeln, vgl. einen ihrer maßgeblichen Vertreter Thomas DaCosta Kaufmann  : »Intro­ duction«. In  : Ders./Elizabeth Pilliod (Hg.)  : Time and Place. The Geohistory of Art. Aldershot/ Burlington, VT 2005, 1 – 19. 35 Vgl. Irit Rogoff  : Terra Infirma. Geography’s Visual Culture. London 2000. 36 Vgl. Gabriele Genge, »Kunstwissenschaft«. In  : Friedrich Jaeger/Wolfgang Knöbl/Ute Schneider (Hg.)  : Handbuch Moderne. Stuttgart 2015, 132 – 142, hier  : 135. 37 Vgl. Susanne Leeb  : Die Kunst der Anderen. »Weltkunst« und die anthropologische Konfiguration der Moderne. Berlin 2015, 291 – 299.

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Nun eröffnet auch die Formulierung »populäre Kunst« ein unklares Bedeutungsfeld. Als ein Sammelbegriff, unter den ganz Unterschiedliches subsumiert wird, kann er kaum befriedigend definiert werden.38 In der Vergangenheit wurde darunter ex negativo eine Kunstform verstanden, die nicht die Vorstellungen einer sublimierenden Autonomie erfüllt. Oft fiel das mit der weiter oben beschriebenen Klassifikation als Kitsch zusammen oder näherte sich dem auf jeden Fall an. Seit geraumer Zeit gewinnt eine Perspektive an Bedeutung, die mit dieser kulturhierarchisierenden Ordnung gebrochen hat. Sie erfasst auf der Grundlage von Quantität das, was in einer Gesellschaft als Kultur verhandelt wird. Die Galeriekunst bildet von diesem Standpunkt aus gesehen nur eine vergleichsweise kleine Facette. Populäre Kunst ist hingegen das, »[…] was viele beachten«39. Auch ein Systemwechsel vom entwicklungsorientierten Buch hin zum Modell der funktionsoffeneren Karte beseitigt also keineswegs von vorneherein die grundlegenden Probleme, die mit den bereits angemerkten Hierarchisierungen und Exklusionen verbunden sind. Wie Sybille Krämer in ihren grundsätzlichen Überlegungen zu Karten festgestellt hat  : Pragmatisch eingesetzte Karten haben einen Referenzgegenstand. Anders als künstleri­ sche Bilder beziehen sie sich – erst einmal – nicht auf sich selbst, sondern auf etwas außerhalb von ihnen. Das, was visualisiert wird, ist allerdings nicht ein Territorium, sondern das Wissen über dieses Territorium.40

Knotenpunkte Kartographie ist also eine Dokumentation von Wissen, das zur kommunikativen Nutzung in eine Ordnung gebracht wird. Liest man diese Aussage als einen Arbeitsauftrag zur Veränderung etablierter Perspektiven, so rückt der Kunstbegriff erneut in den Fokus. Orientiert sich nämlich die Kartographie an einem Kunstverständnis, das exklusiv akzeptiert werden will und andere mögliche Positionen als minderwertig degradiert bzw. überhaupt nicht in den Blick nimmt, wäre mit einem Systemwechsel kaum etwas gewonnen. Will man hingegen das Nachkriegseuropa so kartographieren, dass es sich ohne die alten Hierarchien in eine globale Kunstgeschichte integrieren lässt, gilt 38 Vgl. zum weitergefassten Begriff der populären Kultur, in dessen Bedeutungsfeld sich auch die Kunst bewegt  : Penke/Schaffrick 2018, sowie Thomas Hecken  : »Der deutsche Begriff ›populäre Kultur‹«. In  : Archiv für Begriffsgeschichte 49 (2007), 195 – 204. 39 Thomas Hecken  : Populäre Kultur. Mit einem Anhang ›Girl und Popkultur‹. Bochum 2006, 85  ; zitiert nach Penke/Schaffrick 2018, 10. Weiter unten, in Kapitel 4, werde ich im Zusammenhang mit George Kubler ausführlicher auf diesen Aspekt eingehen. 40 Sybille Krämer  : »,Kartographischer Impuls‹ und ›operative Bildlichkeit‹. Eine Reflexion über Karten und die Bedeutung räumlicher Orientierung beim Erkennen«. In  : Zeitschrift für Kulturwissenschaft 1 (2018), 19 – 32, 20, Hervorhebung im Original.

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es, die Knotenpunkte so auszuwählen, dass neben einer Spezifik Europas auch eine hierarchielose Vergleichbarkeit mit anderen, nicht von Europa aus gedachten Gefügen möglich wird. Eine Kunstgeschichte der Nachkriegszeit Europas, die diese neue Perspektive einnimmt, kann nicht in einem Wurf geschrieben werden. Hier soll mit der Setzung von zwei zentralen Knotenpunkten ein Einstieg gewählt werden, der sich aus den diskursiven Verdichtungen in den späten 1940er und den 1950er Jahren ergibt. Liest man in den Publikationen der Zeit, blättert man durch Werkverzeichnisse damals aktiver Künstler:innen und sichtet unveröffentlichte Archivalien, so fallen zwei Argumente ins Auge, die sich beständig wiederholen  : Bei aller Rhetorik und allen Hoffnungen auf einen Neuanfang wurden auffällig häufig Verbindungen zur Zivilisationsgeschichte geknüpft, in der man sich verankert sah. Genauso auffällig ist das Bemühen, Kunst als ein Medium gesellschaftlicher Inklusion nutzen zu wollen. Dabei wurde, wie schon in den Jahrzehnten zuvor, das Verhältnis von Kunst und Alltag erneut auf den Prüfstand gebracht. Kunst galt nicht mehr nur als ein Produkt, das in einem als gesellschaftlicher Freiraum verstandenen Atelier produziert wurde. Kunst sollte mitten im Leben stehen. Sie sollte nicht mehr Straßen, Plätze und Parks nur dekorieren und dabei implizit das politische Selbstverständnis unterstützen. Sie sollte vielmehr bei deren Gestaltung eine von der Kunst mitdefinierte Öffentlichkeit schaffen, genauso wie sie die Arbeitsabläufe in einer Werkstatt, an der Maschine oder am Fließband mitstrukturieren sollte. Die Gestaltung von Raum wurde, zum Teil unter Rückgriff auf Ideen und Praktiken aus den Vorkriegsjahren, als ästhetische und soziale Praxis verstanden, mit der auch ein neuer Blick auf die Zivilisationsgeschichte möglich wurde. Die Debatten wurden zwar zur selben Zeit, jedoch nicht in denselben Kontexten und daher nicht unter denselben Bedingungen geführt. Mit den Begriffen ›Gemeinschaft‹ und ›Vielzeitigkeit‹ bündele ich diese Nachkriegs-Phänomene. Statt deren Komplexität mit einer Zusammenstellung von Einzelbeispielen, die wie Perlen hintereinander aufgefädelt werden, zu schildern, habe ich mich entschieden, exemplarisch zu argumentieren, um mit diesem Vorgehen auch den Modellcharakter zu betonen. Im Folgenden werde ich das Plädoyer für eine kunsthistorische Neuperspektivierung der europäischen Nachkriegszeit anhand von Werken und Aktivitäten von Asger Jorn und Anni Albers konkretisieren. Bewusst habe ich mit Asger Jorn eine Künstlerpersönlichkeit ausgewählt, die nicht nur einen festen Platz im etablierten Kanon der Kunstgeschichte hat, sondern die als weißer Mann aus Westeuropa über Privilegien verfügte, die nach gängiger Lesart bislang kaum hinterfragt wurden. Als Teil der Mastererzählung, die so schwierig zu überwinden ist, erlaubt Jorn gewissermaßen einen barrierefreien Einstieg, der zudem einen ganz wesentlichen Aspekt der Neuperspektivierung signalisieren kann  : Bereits angehäuftes Wissen muss nicht aufgegeben, es muss nur neu sortiert werden. Die Startbedingungen sind also nicht voraussetzungslos. So liegt mit der Biographie von Troels Andersen, der sich als ehemaliger Direktor des Jorn Museums in Silkeborg bestens mit Werk und Nachlass vertraut machen konnte, eine umfangreiche Publikation zu den Lebens- und Karrierestationen des Künstlers vor, auf

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die in der Forschung und im Ausstellungsbetrieb zurückgegriffen wird und die wesentlich unser Bild des Künstlers mitgeprägt hat.41 Von Andersen stammt auch das 2006 aufgelegte letztgültige Werkverzeichnis der Gemälde, das die Kataloge von Guy Atkins, an denen Andersen bereits mitgearbeitet hatte, ergänzt.42 Jorns Œuvre ist damit nicht nur bestens dokumentiert. An jüngeren Untersuchungen zu diesem Künstler lässt sich zudem der Paradigmenwechsel in der kunsthistorischen Forschung zur Nachkriegszeit, der in den vergangenen Jahren stattfand, nachvollziehen. Folgten die Publikationen und Ausstellungen zu Jorn jahrzehntelang weitgehend einem künstlerbiographischen Narrativ, so eröffnete Karen Kurczynski 2014 mit ihrer Dissertation The Art and Politics of Asger Jorn. The Avant-Garde Won’t Give Up eine neue Perspektive, von der auch ich wesentlich profitieren konnte.43 Hatte zuvor das Bild des rastlosen und provokativen Künstlers, der Jorn zweifellos war, Beschäftigungen mit seinem Werk dominiert, legte die Untersuchung von Kurczynski mit Blick auf Materialität und Konzepten von Öffentlichkeit Grundlagen für eine Neuausrichtung der Forschung. Jorn, so zeigt Kurczynskis Monographie, vertrat eine Diskursposition, die zwar auf den ersten Blick Praktiken der Vorkriegs-Avantgarden fortzusetzen scheint. Bei näherer Betrachtung erweisen sich diese jedoch als weitaus komplexer und zugleich beispielhaft für die Zeit, in der man versuchte, die Kunst auf neue Füße zu stellen. Das Buch von Kurczynski 41 Vgl. Troels Andersen  : Asger Jorn. Eine Biographie. Übersetzung Irmelin Mai Hoffer/Rainald Nohal. Köln 2001 (zuerst Kopenhagen, 3 Bde. 1994 – 1997). 42 In den 1960er Jahren begann Guy Atkins im Austausch mit Asger Jorn mit der katalogmäßigen Dokumentation der Ölgemälde. Für die Publikation wählte er eine Unterteilung des Werkes in drei Phasen, der Andersen auch in seiner Biographie folgt  : Guy Atkins  : Jorn in Scandinavia  : 1930 – 1953. A Study of Asger Jorn’s Artistic Development from 1930 to 1953 and a Catalogue of His Oil Paintings from that Period. London/New York, NY 1968  ; Guy Atkins unter Mitarbeit von Troels Andersen  : The Crucial Years  : 1954 – 1964. A Study of Asger Jorn’s Development from 1954 – 1964 and a Catalogue of His Oil Paintings from that Period. London 1977  ; Guy Atkins unter Mitarbeit von Troels Andersen  : The Final Years  : 1965 – 1973. A Study of Asger Jorn’s Artistic Development from 1965 to 1973 and a Catalogue of His Oil Paintings from that Period. London 1980. Für die Revision des Werkverzeichnisses konnte Andersen auf die Vorarbeit von Atkins, der 1988 verstorben war, zurückgreifen  : Guy Atkins/Troels Andersen  : Asger Jorn  : Revised Supplement to the Œuvre Catalogue of His Paintings from 1930 to 1973. Kopenhagen 2006. Auch die anderen Komplexe von Jorns Œuvre sind wissenschaftlich dokumentiert. Nach dem Tod des Künstlers veranlasste sein Münchner Galerist Otto van Loo das Verzeichnis der Druckgrafiken  : Jürgen Weihrauch  : Asger Jorn. Werkverzeichnis der Druckgrafiken. München 1976. Im Auftrag des Jorn Museums rekonstruierte Gerd Presler den Bestand von Jorns 51 Skizzenbüchern  : Gerd Presler  : Asger Jorn. Werkverzeichnis der Skizzenbücher. Silkeborg 2007. Die umfangreichen Schriften des Künstlers erfasste Per Hofman Hansen  : Bibliografi over Asger Jorns Skrifter/A Bibliography of Asger Jorn’s Writings. Silkeborg 1988. Auch die Keramiken und Webarbeiten sind, wenngleich weniger vollständig, dokumentiert  : Troels Andersen (Hg.)  : Asger Jorn  : malerier, keramik, vævninger. Silkeborg 1985  ; sowie Ursula Lehmann-Brockhaus  : Asger Jorn in Italien. Werke in Keramik, Bronze und Marmor 1954 – 1972. Silkeborg 2007 (zugleich Ausstellungskatalog Silkeborg, Kunstmuseum u. a. 2007). 43 Vgl. Karen Kurczynski  : The Art and Politics of Asger Jorn. The Avant-Garde Won’t Give Up. New York, NY/Abingdon 2014.

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erschien 2014 zum hundertsten Geburtstag von Jorn und machte die im internationalen Rahmen vornehmlich englischsprachige Forschung in der Kunstgeschichte mit Aspekten europäischer Kunstgeschichte bekannt, die sich gegen die im Kalten Krieg etablierten Muster sträubten. Zwei Ausstellungen aus demselben Jahr verdichteten diesen Impuls. Zu Ehren seines Landeskindes richtete 2014 das Statens Museum for Kunst in Kopenhagen eine von Dorthe Aagesen und Helle Brøns kuratierte Retrospektive aus, die durch eine zweite Schau, von Karen Kurczynski und Karen Friis verantwortet, im Museum Jorn in Silkeborg ergänzt wurde und die hauptsächlich die kollaborativen Arbeiten des Künstlers, vor allem in seinen Künstlerbüchern, ins Zentrum stellte.44 Unter dem Stichwort »image flow« machte die Zusammenstellung in Silkeborg offensichtlich, wie in Bildern, Objekten und Schriften von Jorn sowohl synchron als auch diachron diverse Kulturen zusammenfinden. Mit seinem Profil, nicht zuletzt seinen Aktivitäten zur Weitung des Kunstverständnisses, liefert die Beschäftigung mit Jorn einen geeigneten Einstieg für grundsätzliche Überlegungen zum Nachkriegsgefüge in Europa. Die Konzentration auf Jorn unter der Überschrift »Gemeinschaft« erlaubt es, zahlreiche Positionen und Prozesse, die in der Nachkriegszeit in Europa eine Rolle spielten, anzusprechen. Trotz des Modells eines offenen Gefüges besteht dennoch die Gefahr, dabei den Eindruck von Kontingenz zu erzeugen. Um das zu vermeiden, nehme ich ergänzend wie kontrastiv mit Anni Albers eine Künstlerin in den Blick und thematisiere mit »Vielzeitigkeit«, dass in einem Gefüge Bewegungen keineswegs in einem Gleichklang zusammenfinden. In den späten 1940er und den 1950er Jahren machte es einen Unterschied, ob man den Krieg im Exil erlebt hatte oder in einem der überfallenen und besetzten Länder. Ob man in einer immer noch existierenden Kolonie eines europäischen Staates lebte oder Angehörige  :r eines der ehemaligen Aggressorstaaten war. Zwar lassen sich diese Differenzen im Zusammenhang mit Jorn genauso diskutieren wie auch die Oppositionen, die im Kunstbetrieb gegen eine Kanalisierung von technologischem Fortschritt für eine Wiedererstarkung von Rüstungsindustrie aktiv waren. Mit Jorn lassen sich auch die Explorationen für ein ökologisches Denken, das Pflanzen, Tiere und Mineralien als aktive Mitakteur:innen verstand, thematisieren. Zudem wird deutlich, dass es einen maßgeblichen Unterschied ausmachte, ob man Künstler oder Künstlerin war. Macht man jedoch allein Jorns Werk und Aktivitäten zum Thema, lässt sich umgehen, dass mit den Vertreibungen der 1930er Jahre Europa eine andere Konturierung erhalten hatte und Jüd:innen oder von den Nazis zu Jüd:innen erklärte Personen, die die Shoa überlebt hatten, Nachkriegseuropa an neuen Orten repräsentierten. Mit Anni 44 Vgl. Ausstellungskatalog Kopenhagen, Statens Museum for Kunst 2014  : »Asger Jorn. Restless Rebel«. Konzept Dorthe Aagesen/Helle Brøns. London/München 2014  ; sowie Ausstellungskata­ log Silkeborg, Museum Jorn 2014  : »Expo Jorn – Art Is a Festival«. Hg. von Karen Kurczynski/ Karen Friis. Silkeborg 2014. Auch diese Kataloge, in denen die damals neuen Perspektiven auf Jorns Werk ausführlich berücksichtigt wurden, erschienen in englischer Sprache. Vgl. zu diesem Doppelprojekt die zugleich als Überblick über den Stand der Forschung angelegte Rezension von Kristina Rapacki  : »Asger Jorn at 100«. In  : Art History 38 (2015), Heft 1, 234 – 239.

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Albers als Beispiel soll dieser wesentliche Aspekt in das Nachkriegsgefüge eingebracht und dessen fester Platz reklamiert werden. In den folgenden Kapiteln wird zunächst Asger Jorn im Zentrum stehen. Mit Blick auf seine Aktivitäten und seinen Vorstellungen von einer folkelige kunst (Kunst für das Volk) gehe ich dabei den Strukturen der Gemeinschaften nach, in denen sich dieser Künstler bewegte bzw. die er stiftete. Dabei kam in Jorns Konzept der Keramik eine zentrale Rolle zu, ermöglichten die komplexen Arbeitsschritte im Produktionsprozess und die quasi Omnipräsenz von keramischen Objekten im Alltag der Menschen es doch, gesellschaftliche, mit Erinnerungskultur verknüpfte Bindungen entstehen zu lassen.45 Auch wenn Jorn der Kunst letztlich eine universell gültige Bedeutung zusprach, plädierte er dafür, regionalbezogene Eigenarten, die aus dem alltäglichen Leben erwachsen waren, zur Grundlage für die Erneuerung von Gesellschaft zu wählen und so die Menschen vor Ort abzuholen. Dass Jorns Sprecherrolle ein Privileg war und einen Preis hatte, den andere bezahlen mussten, werde ich mit Blick auf Matie van Domselaer, mit der der Künstler in den 1950er Jahren verheiratet war, problematisieren. Die Diskussion ihrer Rolle als Ehefrau im Haushalt eines international prominent werdenden Künstlers, die die organisatorischen Aufgaben einer Patchworkfamilie übernahm und dem Mann den Rücken von vielen existenziellen Sorgen freihielt, verstehe ich zugleich als ein Plädoyer dafür, Fürsorgearbeiten im Kunstbetrieb besser sichtbar zu machen. In Kapitel 2 »Den Fokus schärfen« werde ich nun zunächst anhand eines Gemäldes von Asger Jorn meine bisherigen Ausführungen an und mit einem Kunstwerk konkretisieren, um dann mit »Gemeinschaft« in Kapitel 3 die Neuperspektivierung des Nachkriegsgefüges vorzunehmen. Mit »Zeitschaft und Vielzeitigkeit« problematisiere ich in Kapitel 4, dass das zuvor Geschilderte nur einen Strang einer Erzählung ausmacht, der viel komplexer und damit auch analytisch komplizierter ist. Mit Anni Albers öffnet sich das Nachkriegsgefüge in andere Richtungen, auch wenn sich viele Gemeinsamkeiten zu dem ausmachen lassen, was mit dem Beispiel Jorn diskutiert wird. 15 Jahre älter als Asger Jorn, erlebte die Weberin und Grafikerin Anni Albers das, wofür Asger Jorn seit den 1930er Jahren schwärmte, was er jedoch nur aus Erzählungen anderer kannte  : eine Ausbildung und die eigene Lehrtätigkeit am Bauhaus. Als die Hochschule unter dem Druck nationalsozialistischer Propaganda endgültig auseinanderfiel, nahm Albers’ Ehemann Josef, wie sie gleichfalls ein ehemaliger Bauhausschüler, dann Jungmeister und einer der Professoren an diesem Reforminstitut, 1933 das Angebot wahr, in North Carolina (USA) künstlerischer Direktor des neugegründeten Black Mountain Colleges zu werden.46 Anni Albers emigrierte mit ihm in die USA, wo sie den Rest ihres Lebens blieb und schon bald die dortige Staatsangehörigkeit annahm. 45 Vgl. Barbara Lange  : »Community and Communism. Asger Jorn’s Concept of Ceramics«. In  : Dies./Dirk Hildebrandt/Agatha Pietrasik (Hg.)  : Rethinking Postwar Europe. Artistic Production and Discourses on Art in the late 1940s and 1950s. Wien/Köln/Weimar 2020, 75 – 95. 46 Vgl. Helen Molesworth (Hg.)  : Leap before You Look  : Black Mountain College 1933 – 1957. Boston 2015 (zugl. Ausstellungskatalog Boston, Institute of Contemporary Art/Los Angeles, Hammer Museum, UCLA 2015/16) sowie Ausstellungskatalog Berlin, Nationalgalerie Hamburger Bahnhof

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Während sie dort, vor allem ab Ende der 1940er Jahre, mit eigenständigen Positionen zu Textilkunst und Design auf sich aufmerksam machte, blieb sie in Europa – anders als Josef Albers – auch nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges lange Zeit unbeachtet. Wie Asger Jorn mit dem Museum Jorn hatte auch Anni Albers schon zu Lebzeiten Sorge für ihren Nachlass getragen und mit The Josef and Anni Albers Foundation eine Institution geschaffen, die sich um die Sicherung und Erforschung ihrer Werke und der ihres Ehemannes Josef kümmert.47 So ist auch Albers’ Werk sehr gut dokumentiert. Gemeinsam mit Brenda Danilowitz, der Leiterin des Archivs, publizierte der Direktor der in Bethany ansässigen Stiftung Nicholas Fox Weber 2009 den wissenschaftlichen Katalog der Grafiken von Anni Albers.48 Beide besorgten auch die (Neu)edition von Schriften und förderten die Herausgabe von unpublizierten Notizen aus dem Nachlass der Künstlerin.49 Während in den USA seit dem Ende der 1940er Jahre kontinuierlich kleinere Ausstellungen mit Textilarbeiten und/oder Grafiken von Anni Albers zu sehen waren, interessierte man sich in Europa für die Künstlerin, die von der Library of Congress in Washington D.C. trotz ihrer US-amerikanischen Staatsbürgerschaft unter dem ­Stichwort »Women artists Germany«50 geführt wird, zunächst nur wenig. 1975 zeigte das Bauhaus-Archiv in (West-)Berlin gemeinsam mit dem Kunstmuseum Düsseldorf eine sehr kleine Schau mit Webereien und Grafiken, die mit einem Ausstellungsheft dokumentiert wurde.51 1999 nahmen die Peggy Guggenheim Collection in Venedig und das Josef-Albers-Museum in Bottrop an der von der Solomon R. Guggenheim Foundation in Kooperation mit The Josef and Anni Albers Foundation erarbeiteten Retrospektive zum 100. Geburtstag teil.52 Wie im Fall von Jorn fand in den 2010er Jahren ein Paradigmenwechsel in der Beschäftigung mit Anni Albers statt.53 Seither werden auch Albers’ Arbeiten als diskursive Positionsnahme zum Umgang mit Geschichte, Tra2015  : »Black Mountain. Ein interdisziplinäres Experiment 1933 – 1957«. Hg. von Eugen Blume/ Matilda Felix/Gabriele Knapstein. Leipzig 2015. 47 Die finanzielle Grundlage der Stiftung stammt aus Geldern, die Anni Albers’ Familie Anfang der 1990er Jahre als Restitution für das während der 1930er Jahre in Berlin unrechtmäßig enteignete Grundstück- und Immobilienvermögen erhielt. Vgl. The Josef and Anni Albers Foundation http:// www.albersfoundation.org [Abruf 12.4.2023]. 48 Nicholas Fox Weber/Brenda Danilowitz (Hg.)  : The Prints of Anni Allbers  : A Catalogue Raisonné, 1963 – 1984. Bethany, CT/Mexiko 2009. 49 Vgl. Anni Albers  : Selected Writings on Design. Hg. von Brenda Danilowitz. Middletown, CT 2000  ; Anni Albers  : Notebook 1970 – 1980. Hg. von Lucas Zwirner. New York, NY 2017  ; Anni Albers  : On Weaving. Erweiterte Neuausgabe hg. in Verbindung mit The Josef and Anni Albers Foundation. Princeton, NJ 2017 (zuerst Middletown, CT 1965). 50 Vgl. Library of Congress, Washington. Stichwort »Albers, Anni«. 51 Vgl. Ausstellungskatalog Düsseldorf, Kunstmuseum/Berlin (W.), Bauhaus-Archiv 1975  : »Anni Albers  : Bildweberei, Zeichnung, Druckgrafik«. 52 Vgl. Ausstellungskatalog Venedig, Peggy Guggenheim Collection u. a. 1999  : »Anni Albers  : Retro­ spektive zum 100. Geburtstag«. Hg. von Nicholas Fox Weber/Pandora Tabatabai Asbaghi. New York, NY 1999. 53 Vgl. Ausstellungskatalog Düsseldorf, Kunstsammlung NRW/London, Tate Modern 2018  : »Anni Albers«. Hg. von Anne Coxan/Briony Fer/Maria Müller Schareck. München 2018  ; Ausstellungs-

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ditionen und Technologisierung diskutiert. Diese Gemeinsamkeit mit Jorn bei gleichzeitig differenter Position im Nachkriegsgefüge macht Anni Albers zu einem geeigneten Vergleichsbeispiel, um Ausrichtung und Horizonte einer Kunstgeschichte von Europa nach dem Krieg zu erkunden. Doch zunächst soll vorgestellt werden, wie durch einen veränderten Fokus Bekanntes neu perspektiviert werden kann.

katalog Paris, Musée d’art moderne de la ville Paris/Valencia, Instituto Valenciano de Arte Moderno 2021/22  : »Anni et Josef Albers. L’art et la vie«. Hg. von Julia Garimorth. Paris 2021.

2 Den Fokus verändern Um die Vielfalt des Nachkriegsgefüges mit seinen einerseits offensichtlichen, andererseits weniger deutlichen Verschränkungen, mit seinen Verwerfungen und seiner Vielzeitigkeit kartographieren zu können, bedarf es eines veränderten Fokus. Ich möchte an einem konkreten Beispiel verdeutlichen, was das bedeutet, und aufzeigen, wie sich mit veränderter Perspektive vorhandenes Wissen neu strukturieren lässt. Die Zusammenhänge, die sich dabei ergeben, liefern Optionen, mit denen Forschungen und Diskussionen zur Nachkriegszeit Anschluss an die aktuellen Theoriedebatten zur Überwindung von Hegemonialkonzepten halten können. Das Beispiel zeigt aber auch  : Der geschmeidig erscheinenden Lektüre eines Kunstwerks, die auf konventioneller Lesart beruht, stehen zunächst weniger eingängig wirkende Ausführungen gegenüber, die noch nicht über einen etablierten Resonanzraum verfügen. Es wird zwar kein unbekanntes, jedoch ein in seinen Zusammenhängen nur wenig erforschtes Terrain betreten. Um zu unterstreichen, welche Relevanz dieses bislang Marginalisierte für die Weitung des Geschichtsverständnisses hat, habe ich ein prominentes Werk ausgewählt, an dem ich die Möglichkeiten der Neuperspektivierung expliziere. Das großformatige Gemälde Af den stumme myte, op. 2 (Über den stummen Mythos, op. 2) (1952) (Abb. 1) von Asger Jorn entstand während einer schwierigen Lebensphase des Künstlers und gilt als eines seiner Schlüsselwerke  : Im Frühjahr 1951 war bei Jorn Tuberkulose diagnostiziert worden. Die damals oft noch tödlich verlaufende Lungeninfektion hatte sich in Folge von Mangelernährung und den zerstörungsbedingt oft unhygienischen Wohnbedingungen nach dem Krieg in Europa ausbreiten können und galt als eine Gefahr für die Allgemeinheit. Unverzüglich hatte der Künstler, der damals mit seiner Familie in Paris lebte, daher Frankreich verlassen müssen und wurde nun in einem Sanatorium im jütländischen Silkeborg therapiert. Zunächst nicht in der Lage, sich körperlich betätigen zu können, begann er langsam genesend im Herbst mit ersten malerischen und druckgrafischen Umsetzungen eines Sujets, zu dem er während seiner Bettlägerigkeit in einem Skizzenbuch Kompositionsnotizen und -experimente gemacht hatte. Aufgrund der Überschrift »Elaboration d’un mythe muet« im Skizzenbuch, die allerdings möglicherweise erst nachträglich notiert wurde, erhielt die Werkgruppe aus farbigen Lithografien und sieben Gemälden den Titel Af den stumme myte.1 Während 1 Vgl. Troels Andersen  : Asger Jorn. Eine Biographie. Übersetzung Irmelin Mai Hoffer/Rainald Nohal. Köln 2001, 227 (zuerst Kopenhagen, 3 Bde. 1994 – 1997). Anders als Andersen, der die Wiederaufnahme von Jorns malerischer Tätigkeit auf das Frühjahr 1952 datiert, berichtet Karen Kurczynski vom Arbeitsbeginn bereits im Herbst 1951. Vgl. Karen Kurczynski  : The Art and Politics of Asger Jorn. The Avant-Garde Won’t Give Up. New York, NY/Abingdon 2014, 88.

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Abb. 1 Asger Jorn, Af den stumme myte, op. 2 (Über den stummen Mythos, op. 2) (1952), Öl auf Masonit, 135 × 300 cm, Silkeborg, Städt. Bibliothek

der Verkauf der Grafiken Jorns finanzielle Situation verbessern sollte, hatte der Künstler laut seinem Biographen Troels Andersen geplant, die Gemälde dem Sanatorium zu schenken und sie dort als Wanddekoration im Speisesaal anbringen zu lassen. Dazu kam es jedoch nicht. Heute befinden sie sich in unterschiedlichen Sammlungen. Bei seiner Entlassung aus der Klinik 1953 schenkte Jorn Af den stumme myte, op. 2 zusammen mit Af den stumme myte, op. 7 (1953) der Städtischen Bibliothek von Silkeborg, die ihn während seiner Krankheit mit Lektüre versorgt hatte. Auch wenn ursprünglich eine gemeinsame Hängung vorgesehen gewesen war, weisen die sieben Gemälde der Serie keine erzählerische Abfolge auf. Verbunden sind sie allein durch die Art der darstellerischen Ausführung, die auf allen sieben Gemälden, wie bei Af den stumme myte, op. 2, großformatige, diffuse Figurationen mit anthropomorphen Zügen zeigt. Alle Arbeiten der Serie sind so komponiert, dass das Flächige des Bildraums betont wird. Af den stumme myte, op. 2 ist ein buntfarbiges Gemälde. Vertikal entlang der unteren Bildkante präsentieren sich sieben großformatige Figuren, die Augen, Riechorgane und Münder oder Mäuler haben. Ein mit schmutziggrünen Farben akzentuiertes Wesen, dessen linke Körperkontur etwa entlang der Mittelachse verläuft, bildet ein Scharnier zwischen dem linken und rechten Teil des Bildes. Auf seinem Arm und seiner Schulter platziert, richtet sich ein schlangenartiges, aus dem Bild starrendes, schmales Wesen in braunroter Farbe entlang des Hinterkopfes zum oberen Bildrand empor und berührt dabei eine in leuchtend Orange und Grau gemalte Figur, die wie ein Eichhörnchen in der Mitte der oberen Hälfte des Gemäldes hockt. Ihr Blick stellt eine Verklammerung mit den beiden Figuren in der rechten Bildhälfte her. Die dort platzierte Kopffüßler:in in cremigem Blaugrau starrt mit ihrem menschlich wirkenden Gesicht ohne festen Blick aus dem Bild, während das tierähnliche Wesen in der rechten unteren Ecke die Betrachter:in zu fixieren scheint. Rechts neben ihm in der unteren

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rechten Bildhälfte liegt eine langgestreckte Figur mit vogelartigem Schnabel, die Jorn in Blauviolett gemalt und im cremigen Grau der Kopffüßler:in gerahmt hat. Während die rechte Bildhälfte von dem gedrängten Ensemble der Figuren eingenommen wird, lässt sich der Freiraum zwischen den beiden Wesen im linken Teil als Horizontlinie über einem Gewässer interpretieren, über dem sich der Himmel mit einem gelbleuchtenden großen runden Himmelskörper zeigt. Gerade anhand dieser Form, die man als Sonne oder Vollmond deuten kann, lässt sich gut demonstrieren, wie der Künstler das Spiel mit Wahrnehmungslenkung einerseits und Offenheit einer Interpretation andererseits betreibt  : Das Zeichen ist zu vage, um eindeutig zu sein. Dieses Spiel mit Ungewissheit wird wesentlich durch Jorns Malweise mitgetragen. Die Darstellung oszilliert zwischen vermeintlichem Erkennen und Farbereignis, das auf purer Malerei beruht. Die ältere Forschung deutete Af den stumme myte biographisch als Resultat eines außerordentlich belastenden Lebensabschnitts des Künstlers  :2 Seine bereits durch den Krieg unterbrochene Karriere, die seit dem Ende der 1940er Jahre gerade ­wieder Fahrt aufgenommen hatte, war durch die schwere Krankheit erneut ausgebremst worden. Jorn war zudem so geschwächt, dass er nicht mehr in der Lage war, sich um seinen Lebensunterhalt und den seiner Familie zu kümmern. Sowohl er wie auch seine zweite Ehefrau Matie van Domselaer und die vier Kinder – van Domselaer hatte zwei Töchter mit in die Ehe gebracht, die beiden gemeinsamen Kinder mit Jorn waren Anfang der 1950er Jahre geboren worden – waren daher auf Armenfürsorge des dänischen Staates angewiesen. Die Liebesbeziehung mit van Domselaer, die zuvor mit Constant verheiratet gewesen war, hatte zudem zum Ende von COBRA beigetragen, derjenigen Künstler:innenvereinigung, die Jorn Ende 1948 mitbegründet hatte und in der er gemeinsam mit dem ersten Ehemann von van Domselaer ein synergetisches Team gebildet hatte. In den älteren Texten über das Gemälde werden einem künstlerbiographischen Narrativ folgend Malweise und Farbgebung als Ausdruck und Verarbeitung von Jorns psychischer Last interpretiert. Zum Muster der Biographik passt die ausführliche Schilderung der Genesungszeit, in der Asger Jorn als ein Held die ihm auferlegten Rückschläge überwindet und aus der fundamentalen Krise gestärkt hervorgeht.3 Diese auf den Künstler zentrierte Lesart, die die aus der Malweise resultierende Ungewissheit der Rezipierenden mit der psychischen Verfasstheit des Künstlers auflöst, fand eine Entsprechung in der ikonographischen Vereindeutigung, die die Figurationen im Werkkomplex Af den stumme myte als Personal aus der nordischen Mythologie identifizierte.4 Spätestens damit war die Interpretationsfalle zugeklappt und der im Werk angelegten Offenheit der Boden entzogen, der andere Zugänge hätte möglich machen können. 2 Vgl. Andersen 2001, 188 – 189, 208 – 233. Andersen orientiert sich in seinen Bewertungen an Guy Atkins. Vgl. Guy Atkins  : Asger Jorn. London 1964 sowie ders.: Jorn in Scandinavia  : 1930 – 1953. A Study of Asger Jorn’s Artistic Development from 1930 to 1953 and a Catalogue of His Oil Paintings from that Period. London/New York, NY 1968. 3 Vgl. Christian Klein (Hg.)  : Handbuch Biographie. Methoden, Traditionen, Theorien. Stuttgart/ Weimar 2009. 4 Vgl. Atkins 1964 sowie zahlreiche Ausstellungskataloge.

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Erst mit der Untersuchung von Karen Kurczynski wurde dieses Interpretationsparadigma aufgebrochen. Ohne die Verbindung zur Vita des Künstlers und die Referenz auf Mythen aufzugeben, eröffnete sie 2014 eine neue Perspektive. Auf der Basis von Jorns Briefen, Manuskripten und Veröffentlichungen aus den späten 1940er und den frühen 1950er Jahren zeichnet Kurczynski in ihrem Buch nach, dass die Gedanken des Künstlers in dieser Zeit vornehmlich um zwei Themen kreisten  : Zum einen den ganz eigenen Möglichkeiten von Malerei sowie zum anderen der Formbildung auf der Basis von Alltagspraktiken.5 Sie legt dar, dass der Künstler damit Debatten aufgriff, die seit der Romantik im Zusammenhang mit Konzepten von künstlerischer Autonomie geführt und bei denen die Rolle kultureller Traditionen immer wieder neu ausgelotet worden waren. Wiederholt verweist Kurczynski dabei auf die Künstlergruppe Blauer Reiter, deren Mitglieder sich intensiv mit den verschiedenen sozial und temporal fundierten Schichten visueller Kultur als einer gemeinsamen kollektiven Erfahrung von Menschen beschäftigt hatten.6 Sie ging zudem den speziell in der dänischen Gesellschaft verankerten Debatten über den Stellenwert von Mythen nach, denen allen voran der Romantiker Nicolai Grundtvig eine gemeinschaftsstiftende Funktion zugesprochen hatte. Der Lutheraner Pfarrer und Philosoph hatte in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts durch Editionen altnordischer Texte und die Publikation von eigenen religiösen Schriften einen erheblichen Einfluss auf das kulturelle Selbstverständnis in Dänemark genommen.7 Nicht zuletzt Grundtvigs Wertschätzung von folkelighed, worunter er eine durch gemeinsame Erfahrungen und Zusammenarbeit verbundene Gemeinschaft verstand, wirkte auch noch in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg nach, als es darum gehen musste, Verstrickungen mit dem Faschismus aufzuarbeiten und Dänemarks Platz in einer sich neu formierenden Gemeinschaft von Staaten zu definieren. Kurczynski interpretiert Jorns Verständnis von der Rolle der Mythen als erheblich von Grundtvig beeinflusst  : Jorn’s writings make reference to Grundtvig repeatedly. In the 1940s, he admires Grundtvig’s anti-classicism but critiques Grundtvig for lacking an internationalist focus  ; in the 1960s, he cites long quotations from Grundtvig’s mythological discussions which emphasize their Nordic cultural lineage. From Grundtvig, Jorn acquired his understanding of mythmaking as creative transformation of existing stories.8

Die Ausführungen von Kurczynski können dazu verleiten, Grundtvig als alleinigen Schlüssel zum Verständnis von Jorn anzusehen. Wie generell bei seinen Theorielektüren übernahm der Künstler jedoch auch in diesem Fall nur ausgewählte Positionen, 5 Vgl. Kurczynski 2014, 49. 6 Vgl. Kurczynski 2014, 49 – 99. 7 Vgl. Fritz Paul  : »Grundtvig, Nicolai«. In  : Reallexikon der Germanischen Altertumskunde, Bd. 3. Berlin/New York, NY 19992, 122 – 126. 8 Kurczynski 2014, 51.

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mit denen er sein eigenes Konzept von Gemeinsinn und Kreativität begründen und absichern konnte. Mit Grundtvig referierte Jorn auf eine Weltsicht, die Materialismus und Positivismus skeptisch gegenüberstand und dennoch aufklärerisches Gedankengut rezipierte.9 Während Grundtvig die Dichotomie zwischen einem Denken, das der Rationalität verpflichtet ist, und Vorstellungen, die auf Mythen basieren, in einer religiösen Spiritualität auflöste, fehlt eine derartige Perspektive bei Jorn völlig. Für ihn zeigen Mythen, Sagen und Märchen vielmehr die kommunikativen Fähigkeiten der Menschen, grundlegende Lebenserfahrungen in allgemeinverständliche Erzählungen zu fassen.10 Auch wenn deren Moral zur Stabilisierung einer Gesellschaft beitragen kann, war für Jorn ein anderer Aspekt viel wichtiger  : mythische Stoffe haben keine individuelle Autor:in. Sie sind vielmehr über die Zeit gewachsene und optimierte Resultate einer Zusammenarbeit, die viele unterschiedliche Beteiligte kennt. Zielten Grundtvigs Gedanken auf Religion, so die von Jorn auf Kollaboration. Karen Kurczynski interpretiert Af den stumme myte, op. 2 überzeugend als Positionsnahme eines Malers, der selbstbewusst die Eigenständigkeit seines Mediums zum Thema macht.11 Das Gemälde illustriert eben keine mythische Erzählung, die mit ikonographisch bestimmbarem Personal zum Sprechen gebracht werden könnte. Der hier dargestellte Mythos bleibt stumm, er ist Malerei pur. Kurczynski zufolge bedient Jorn damit eine seit der Romantik vieldiskutierte Idee, wonach Kunst aus der ästhetischen Bearbeitung von populärem Kulturgut entsteht.12 Mit diesem Fokus lassen sich auch die augenfälligen Bezugnahmen von Af den stumme myte, op. 2 erklären, die ein kunsthistorisch geschultes Auge erkennt  : Die Komposition erinnert an Edvard Munch,13 die Gestaltung der Gesichter an Porträts von Pablo Picasso aus den 1930er Jahren.14 Mit diesen interpikturalen Referenzen zitierte Jorn Künstler, die wie er am gelebten Alltag interessiert waren. Er verdichtete auf diese Weise seine Zielsetzung als eine allgemein künstlerische. Karen Kurczynski löste mit dieser Analyse Asger Jorn aus dem Image des geschundenen Helden. Af den stumme myte, op. 2 lässt sich auf der Grundlage ihrer Untersuchung in den etablierten Kunstdiskurs der Moderne eingliedern. Mit dem Verweis auf Romantik und deren Tradition war ein wesentlicher Schritt für eine neue Herangehensweise an das Œuvre dieses Künstlers geleistet. Karen Kurczynski war auch an den Ausstellungen beteiligt, die zu Ehren von Jorns 100. Geburtstag 2014 in Dänemark stattfanden und bei denen ausführlicher auf das   9 Vgl. Inga Meincke  : Vox viva  : die ›wahre‹ Aufklärung des Dänen Nicolaj Frederik Severin Grundtvig. Heidelberg 2000. 10 Vgl. Asger Jorn  : Guldhorn og Lykkehjul. Kopenhagen 1957/Les cornes d’or et la roue de la fortune. Übersetzung Matie van Domselaer/Michel Ragon. Paris 1958. 11 Vgl. Kurczynski 2014, 97. 12 Vgl. Karlheinz Bohrer (Hg.)  : Mythos und Moderne. Begriff und Bild einer Rekonstruktion. Frankfurt/Main 1983. 13 Vgl. Oda Wildhagen Gjessing  : »Jorn + Munch«. In  : Ausstellungskatalog Oslo, Munch Museum/ Silkeborg, Museum Jorn 2016/17  : »Jorn + Munch«. Hg. von ders. Brüssel 2016, 27 – 55. 14 Vgl. Kurczynski 2014, 90.

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Verhältnis des Künstlers zur Popularkultur eingegangen wurde. Im Katalog der Kopenhagener Ausstellung thematisierte Helle Brøns die motivischen Parallelen, die zwischen Jorns Gemälden und seinen Keramiken bestehen – ein Phänomen, das zuvor bereits Troels Andersen erwähnt hatte, allerdings ohne dies weiter zu verfolgen.15 Brøns hingegen ging ausführlich darauf ein und interpretierte dieses Wechselverhältnis als eine Teilhabe an der Neubewertung von Popularkultur, die in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg erfolgte.16 Auch für Af den stumme myte, op. 2 lässt sich ein derartiger Zusammenhang beobachten  : Die bildeinnehmende Figur im Keramikrelief La fuite (Die Flucht) (1954) (Abb. 2) weist große Ähnlichkeiten mit dem behaarten Wesen auf, das in Af den stumme myte, op. 2 die Scharnierfunktion einnimmt. Jorn fertigte das Relief einige Monate nach seiner Entlassung aus dem Sanatorium während des ersten internationalen Keramiktreffens 1954 an, das in seinem damals neuen Wohnort in Albisola in Norditalien stattfand. Bis Ende der 1950er Jahre trat für die Dauer, in der Jorn dort wohnte, die Malerei zugunsten von Keramik in den Hintergrund. Es sind die Jahre, in denen der Künstler im Austausch mit ehemaligen CO B R A-Aktivist:innen und deren Unterstützer:innen, seinen neuen Kontakten zur Kunst- und Philosophieszene in Mailand und nicht zuletzt mit ortsansässigen Handwerker:innen aus Albisola modellhaft eine Gesellschaft zu realisieren versuchte, die menschliche Kreativität alltagstauglich und zum Benefit von allen nutzen wollte.17 Keramik wurde für Jorn in dieser Zeit in seinem Œuvre nicht nur das zentrale Medium, dessen Gestaltungsmöglichkeiten er neugierig austestete. Keramik fungierte für ihn als ein Schlüsselmedium, da bei dessen Produktion paradigmatisch verschiedene Kompetenzen in Kollaborationen zusammenfinden müssen. Angefangen von der Aufbereitung von Ton über die Formfindung und Formgebung, bis zur Befeuerung des Ofens und dem Brennen sowie Glasieren der Scherben sind in der Regel mehrere Personen beteiligt, die alle über jeweils spezielles Wissen und spezifische Fertigkeiten verfügen. Zudem hat Keramik anders als die Malerei einen Platz im Alltag der Menschen und bietet trotzdem, wie die Malerei – und wie etwa bei La fuite nachzuvollziehen, – die Möglichkeit einer künstlerisch gestalteten Symbolsprache. Dadurch lassen sich mit Keramik die Verhandlungen über Kunst so weiten, dass die bis dahin in ihrer Lebensrealität, ihrem Geschmack und ihren Gefühlen weitgehend ignorierten Gruppen eine Stimme und einen Platz im Kunstbetrieb erhalten können. Theoretisch – denn in den 1950er Jahren gab es keine Institutionen und kaum Sammler:innen, die diese kollaborativ entstandenen Arbeiten kauften. Die Künstler:innen und ihre Unterstützer:innen blieben jedoch von der Schlüsselrolle des Mediums überzeugt und ließen sich nicht 15 Vgl. Helle Brøns  : »Folk Art, Science Fiction and the Matter of Painting«. In  : Ausstellungskatalog Kopenhagen, Statens Museum for Kunst 2014  : »Asger Jorn. Restless Rebel«. Konzept Dorthe Aagesen/Dies. London/München 2014, 126 – 147. Vgl. auch Andersen 2001, 250. 16 Vgl. Brøns 2014, 128. 17 Vgl. Barbara Lange  : »Community and Communism. Asger Jorn’s Concept of Ceramics«. In  : Dies./Dirk Hildebrandt/Agata Pietrasik (Hg.)  : Rethinking Postwar Europe. Artistic Production and Discourses on Art in the late 1940s and 1950s. Wien/Köln/Weimar 2020, 75 – 95.

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Abb. 2 Asger Jorn, La fuite (Die Flucht) (1954), glasierte Keramik ca. 130,3 (maximale Breite) × 78,5, cm. Silkeborg, Museum Jorn

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entmutigen. Jorn etwa, der mit seiner Malerei damals zunehmend den internationalen Markt erobern konnte, nutzte die Einnahmen vom Verkauf seiner Gemälde, um Organisationen und Aktivitäten zu finanzieren, die das Feld für ein verändertes Kunstverständnis bereiten sollten. Das Mouvement international pour un Bauhaus imaginiste (M.I.B.I . ) und die Situationistische Internationale (SI) waren derartige Zusammenschlüsse. Wenn sie in der Vergangenheit bei kunsthistorischen Betrachtungen der zwei Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg nur wenig Beachtung fanden, entsprach das durchaus ihrer Position als Randphänomenen, die sich zudem kaum in eine auf Debatten über Figuration und Abstraktion fokussierte Erzählung eingliedern ließen. Aus heutiger Sicht erweisen sie sich allerdings als Anfänge einer Bewegung, die seither höchst wirkungsmächtig Ästhetik aus der Begrenzung auf rein formale Fragen löst und Kunst mit sozialen und ethischen Themen im gesellschaftlichen Diskurs verknüpft. Mit verändertem Fokus dieser Genealogie nachzugehen, kann in einem globalisierten Kunstbetrieb helfen, den Platz von Europa neu zu verorten. Die Veröffentlichungen von Karen Kurczynski und Helle Brøns zeigten auch, dass sich ein Gemälde wie Af den stumme myte, op. 2 problemlos in diejenigen kunsthistorischen Betrachtungen der Nachkriegszeit integrieren lassen, die bereits Anregungen aus material und pictorial turn nachvollzogen haben. So erörtert Kurczynski, wie Jorn der Farbe einen eigenständigen Status als Akteurin zuerkennt, die so substanziell an Formgebung und Wirkungsweise der Malerei beteiligt wird.18 Helle Brøns geht auf die Präsenz von Hollywoodfilmen und Comics in der Alltagskultur ein, die Jorn in seinen Werken zwar nicht zitierte, die er aber als Betrachter rezipierte.19 Weniger glatt verläuft hingegen die Rezeption der keramischen Arbeiten. Will man eines der Keramikreliefs von Jorn, wie etwa La fuite, kunsthistorisch bewerten, funktioniert das bislang weitaus weniger geschmeidig. Zwar lässt sich mit Blick auf die Figur wie bei Af den stumme myte, op. 2 Jorns Indienstnahme von Mythen genauso thematisieren wie die mögliche Faszination des Künstlers für die damals populäre Filmfigur King Kong.20 Auch die krude Materialität, die ins Auge springt und die die bildeigene Wirkung wesentlich mitträgt, passt gut zu unseren Debatten, die wir aktuell führen. Zugleich sind es jedoch gerade die Faktoren Form und Material, die sich als sperrig erweisen  : La fuite ist nach geläufigen kunsthistorischen Maßstäben zu offensichtlich aufs Engste mit handwerklicher Tätigkeit verbunden und fällt daher aus einem konventionellen Kunstverständnis, das gerade eine derartige Verbindung zu negieren trachtet, heraus. Dabei lässt sich auch diese Keramik bestens mit kunstspezifischen Diskursen in Verbindung bringen. Als Relief kann man La fuite in die zahlreichen bildtheoretischen Überlegungen zu Perzeption und autonomer Form seit Beginn des 20. Jahrhunderts 18 Vgl. neben ihrer bereits mehrfach zitierten Dissertation den Aufsatz von Karen Kurczynski  : »Materialism and Intersubjectivity in Cobra«. In  : Art History 39 (2016), Heft 4, 676 – 697. Special Issue  : Material Imagination  : Art in Europe, 1946 – 72. Hg. von Natalie Adamson/Steven Harris. 19 Vgl. Brøns 2014. 20 Vgl. Brøns 2014, 129, Abb. 06.3.

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eingliedern, die sich mit dem Verhältnis von leiblicher Wahrnehmung und Kreativität der Rezipierenden beschäftigten. Der Bildhauer Adolf von Hildebrand etwa, der um die Wende zum 20. Jahrhundert eine vielrezipierte Kunsttheorie verfasste, erkannte der Kunstform Relief die exponierte Rolle zu, zwischen Präsenz im Raum der Betrachter:innen und Bildraum eine Brücke schlagen zu können.21 Bei La fuite reizt Jorn dieses Potenzial nicht zuletzt durch die unregelmäßige Konturierung der Tonplatte sowie die Schnitte aus, deren Furchen als bildunabhängiges Muster gitterartig die Darstellung mitbestimmen. Diese gewinnt dadurch eine Offenheit, die sie zugleich in die Wand überführt und sie dennoch nicht, anders als bei architekturgebundenen Reliefs, als deren Dekoration erscheinen lässt. Der flache Bildraum, der sich einer Immersion verweigert, konstituiert einen Wahrnehmungsraum, der sich mit der leiblichen Präsenz der Rezipierenden im Hier und Jetzt verbindet. Interessanterweise sind derartige Beobachtungen keineswegs neu. Sucht man nach Hinweisen, wie Jorns Zeitgenoss:innen auf diese Kunstform reagierten, so stellt man fest, dass sie ein Thema in weitgehend vernachlässigten Debatten über Raumgestaltung war, die einen Diskurs aus den 1920er und 1930er Jahren fortführten. In dem Zusammenhang stellte Carola Giedion-Welcker in einem Aufsatz von 1961 eine Reihe von Beispielen der Reliefkunst aus dem 20. Jahrhundert zusammen, mit denen angefangen von Aristide Maillol über die Brüder Antoine Pevsner und Naum Gabo, Jean Arp, Etienne Hajdú, Kurt Schwitters und Louise Nevelson bis hin zu Alicia Penalba und Jean Tinguely Künstler:innen Räume verschiedenartig neu interpretierten.22 Vor allem dem Lehrer von Asger Jorn, Fernand Léger, sprach sie eine maßgebliche Rolle zu  : Fernand Léger ist es, der die wachsende Bedeutung der Mauer als Operationsfeld künstlerischer Gestaltung für Malerei und Relief neu entdeckt und ihre Rolle in der modernen Architektur hervorhebt. Nach dem erfolgreichen Kampf gegen die erdrückende Überfülle von Dekorationen und Nippes war in einer eben eroberten Leere ein riesenhaftes Wesen, das man für tot gehalten hatte, wieder aufgetaucht, um sich der künstlerischen Gestaltung darzubieten  : die Wand.23

Statt eine derartige Beobachtung aufzugreifen und damit die Wand als ein Thema künstlerischer Gestaltung von Gesellschaft in der Nachkriegszeit zu untersuchen, konzentrierte sich die kunsthistorische Historiographie bis noch vor Kurzem auf die ideologisch überformte Opposition von figurativ vs. non-figurativ.24 Mit Jorns Kera21 Vgl. Adolf von Hildebrand  : Das Problem der Form in der bildenden Kunst, Baden-Baden/Straßburg 196110 (zuerst 1893). 22 Vgl. Carola Giedion-Welcker  : »Ursprünge und Entwicklungswege des heutigen Reliefs« (1961). In  : Ausstellungskatalog Münster, Westfälisches Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte 1980  : »Reliefs. Formprobleme zwischen Malerei und Skulptur im 20. Jahrhundert«. Hg. von Ernst-Gerhard Güse. Münster 1980, 19 – 22. 23 Giedion-Welcker 1980 (1961), 20. Hervorhebung im Original. 24 So konstatiert Anne Vieth in ihrer Untersuchung über die Rolle von Wand im Ausstellungsraum

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mikreliefs rückt daher nicht nur eine bislang marginalisierte Kunstform in den Fokus. Begleitet wird dies von einer Rekonstruktion der Debatten, die durch den Kalten Krieg ins Abseits gerieten. Schnell zeigt sich dabei, dass die Vernachlässigung vermutlich nicht nur in der Dominanz von Politik gründet, sondern aus einem Kernproblem der Kunstgeschichte der Moderne resultiert  : dem Verhältnis zur Popularkultur. So lassen sich die Keramikreliefs von Jorn zwar problemlos in Giedion-Welckers Beispielkatalog integrieren. Ihre experimentelle Öffnung hin zur Popularkultur, die, wie noch ausführlicher gezeigt werden soll, andere Lebenswirklichkeiten und ästhetische Vorstellungen als gleichwertig mit ins Boot holen will – und die bei Giedion-Welcker fehlen –, stößt an analytische Grenzen, die in einer Hierarchisierung von Kulturen wurzeln. So bleibt La fuite ein sperriges Objekt, das sich im Vergleich zu Af den stumme myte, op. 2 auf der Grundlage geläufiger Kategorisierung nicht als gleichwertig klassifizieren lässt. Auch Af den stumme myte war, wie Troels Andersen berichtet, als Wanddekoration geplant gewesen. Obwohl in ihrer Funktion vergleichbar, ruft das handwerkliche Erscheinungsbild von La fuite jedoch ganz andere Debatten auf. Anders als ein Gemälde fordert das Keramikrelief nämlich dazu auf, für die kunsthistorische Analyse die Produktionsbedingungen, gestalterische Kreativität und Gemeinschaft nicht nur zu benennen, sondern auch zueinander in ein angemessenes Verhältnis zu bringen. Genauso wie mit den seit der Romantik geführten Verhandlungen über Mythen, auf die in der jüngeren Forschung zum Werk von Asger Jorn verwiesen wird, das Verhältnis von Kunst und Öffentlichkeit ein Thema ist, lassen sich also auch die auf den ersten Blick handwerklich erscheinenden Keramikreliefs des Künstlers in einen größeren Zusammenhang ästhetischer Debatten eingliedern. Jorn wiederholte mit ihnen nicht nur das, was er zuvor schon malerisch dargestellt hatte. Vielmehr veränderte er mit Medium und Material das Dispositiv derart, dass es nicht mehr in eine bildungsbürgerlich codierte Norm passen will. Beginnt man, sich intensiver mit seinen Keramiken zu beschäftigen und die Bruchstellen gegenüber Galeriekunst und Architekturdekoration näher in Augenschein zu nehmen, so scheinen sie im Vergleich zu den zeitgleich entstehenden Gemälden sogar die aussagekräftigeren Arbeiten zu sein, lassen sich doch mit ihnen offenbar diejenigen Themen diskutieren, die für eine kunsthistorische Rekon­ struktion des Nachkriegsgefüges in/von Europa mit globaler, hierarchiefreier Perspektive bedeutsam und spezifisch sind. Hierzu gehören neben dem Geschichtsverständnis und den Brückenschlägen zur Zivilisationsgeschichte vor allem die Bemühungen um ein inklusives Kunstverständnis, das Bildung nicht allein humanistisch interpretierte und Kreativität nicht nur auf die idea bezog. Die Rückbindung an das Handwerk des gegenwärtigen Kunstbetriebs, weitgehend Neuland betreten zu müssen, da die Rolle der Wand nur in Architektur- und Designgeschichte diskutiert worden war. Vgl. Anne Vieth  : Addicted to Walls. Zeitgenössische Wandarbeiten im Ausstellungsraum. München 2014, 14. Ganz vergessen wurden die kunsthistorischen Auseinandersetzungen mit der Wand, die in der Nachkriegszeit geführt worden waren, allerdings nicht. So war die Ausstellung, die das Westfälische Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte in Münster 1980 zur Kunstform Relief zeigte, Carola GiedionWelcker gewidmet. Vgl. Ausstellungskatalog Münster 1980.

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bzw. an das Handwerkliche, das bei Künstler:innen wie Asger Jorn und Anni Albers zu beobachten ist, ist daher keineswegs eine Rückwärtsgewandtheit gegenüber dem, wovon sich Kunst in Europa jahrhundertelang emanzipieren wollte. Sie nutzt vielmehr dieses Spannungsverhältnis von Kunst und Handwerk, um den menschlichen Faktor im Kontext technologischer Entwicklungen zu diskutieren. Mit dieser Feststellung rücken Aspekte in den Fokus kunsthistorischer Analyse, die zugleich Forschungsdefizite zur Nachkriegszeit offenbaren. Ausgehend von einem Kunstverständnis, das wesentlich durch Lebensideale der modernen bürgerlichen Gesellschaft geprägt worden war, hat Kunstgeschichte Akteur:innen und Schauplätze, die sich nicht in dieses Bild eingliedern lassen, bislang weitgehend vernachlässigt. Dies betrifft Personen genauso wie Orte und Organisationen, aber auch Wertvorstellungen und Handlungsräume. Wir wissen und diskutieren, dass die europäischen Gesellschaften in der Nachkriegszeit patriarchale Strukturen aufwiesen. Genauso ist uns bewusst, dass nach dem an Verlusten reichen Weltkrieg die europäischen Mächte versuchten, die alte koloniale Ordnung aufrechtzuerhalten bzw. wiederherzustellen und sie dabei ihre Ansprüche auch weiterhin mit einer Hierarchisierung der Kulturen der Welt verbanden. In den Fußstapfen des imperialen Zarenreiches dominierte auch Russland die Partnerstaaten der Sowjetunion in ihren Selbstbestimmungsrechten und -wünschen und behandelte die in seinen Machtorbit gelangten Staaten wie Vasallen. Welche Rolle spielen diese Aspekte für das Nachkriegsgefüge der Kunst, welche Dynamiken lassen sich in diesen Zusammenhängen beobachten, die auf kunsteigene Potenziale verweisen  ? Wenn wir Bewegungen in der sozialen Ordnung verzeichnen können, die zu maßgeblichen Verschiebungen im Verständnis von Ästhetik führen, lassen sich dann auch Bruchstellen im idealistisch fundierten Dispositiv von Kultur und Natur feststellen  ? Den Fokus auf die Nachkriegszeit zu verändern, bedeutet, kunsthistorisches Wissen zu Ikonographie und Kunsttheorie nicht aufzugeben, aber Materialexperimente und Medienkontexte ernster zu nehmen und damit neue Fragen an eine scheinbar bekannte Zeit zu stellen.

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Nach dem Krieg  : Rekonsolidierung und die Anfänge einer neuen Ästhetik Den Fokus zu verändern, bedeutet praktisch zunächst nichts anderes, als den Ausschnitt der Betrachtung anders zu wählen und dadurch Binnenverhältnissen, die in der Vergangenheit zugunsten verallgemeinernder Aussagen großzügig marginalisiert worden sind, mehr Präsenz zukommen zu lassen. Mit verändertem Fokus verlassen wir daher zunächst die eingetretenen Pfade kunsthistorischer Historiographie und werfen einen Blick auf Aktivitäten, die abseits der großen Zentren des Kunstbetriebs stattfanden und von dort in damals aktuelle Diskussionen eingriffen. Gilles Deleuze und Félix Guattari gehen – wie eingangs geschildert – davon aus, dass sich im Verlauf der Geschichte Gesellschaften zu speziell verschränkten Gefügen zusammenfinden.1 Dabei formieren sich, so ihre Annahme, Knotenpunkte. Im Nachkriegsgefüge von Europa ist das Konzept von Gemeinschaft ein derartiger Knotenpunkt, an dem eine Vielzahl von zunächst ungerichteten Dynamiken zusammentraf. Die Synergien, die daraus entstanden, wirkten auf unterschiedliche Weise. Sie erzeugten soziale Konflikte, politische Oppositionen, ein Voranbringen von Ökologieverständnis, die Gründung von Interessenvereinigungen und einiges mehr. Im Folgenden soll mit der Praxis des close reading aufgezeigt werden, wie mit diesem Konzept nicht nur Gemeinschaft, sondern auch eine neue Vorstellung von Kunst propagiert wurde, die den Anspruch hatte, Gesellschaft strukturierend zu sein. Durch die in verschiedene Richtungen ausgreifende Beschreibung lässt sich dabei das Dispositiv einer komplexen Konstellation herauspräparieren, die aufbauend auf europäischen Traditionen und Erfahrungen in der Nachkriegszeit der Kunst eine ganz eigene Rolle zugestand. […] De toutes les perspectives, nous sommes accurus pour venir ici, à Albisola, pétrir la glaise en forms d’hommes, des plantes et d’étoiles, et créer des monstres amis. Nous sommes venues, convoqués par le Hasard, car le Hasard est notre ami aussi, et c’est grâce à lui que nous t’avons rencontré ici, à Albisola. Et ici, à Albisola, nous créons ensemble, dans la terre de Foresta, une nouvelle conception de l’art.2 1 Vgl. Gilles Deleuze/Félix Guattari  : Tausend Plateaus. Übersetzung Gabriele Ricke/Ronald Voullié. Berlin 1992, 698 – 700 (zuerst Paris 1980). 2 »Wir sind aus allen Himmelsrichtungen nach Albisola herbeigeeilt, um Lehm zu kneten und daraus Menschen, Pflanzen und Sterne zu schaffen, und Ungeheuer, die Freunde sind. Durch den

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In einem Briefgedicht, aus dem dieser Auszug stammt, protokollierte Edouard Jaguer den Incontro internazionale della ceramica, zu dem sich im August 1954 eine Gruppe von Künstler:innen, Kunstkritiker:innen sowie einige ihrer Angehörigen an der italienischen Riviera getroffen hatten.3 (Abb. 3) Asger Jorn, der dieses Treffen zusammen mit Enrico Baj organisiert hatte, sah im kollaborativen Arbeiten mit Ton eine Möglichkeit, Menschen aus unterschiedlichen sozialen Kontexten zusammenbringen und auf diese Weise die Gesellschaft befrieden zu können.4 Die Zusammenkunft im ligurischen Städtchen Albisola diente dazu, diese Potenzialität nicht nur zu theoretisieren, sondern ganz real zu erleben. Keramik, der der Incontro gewidmet war, war in diesem Zusammenhang daher nicht irgendein Medium. Keramik hatte vielmehr den Stellenwert, durch die aktive Einbindung in ihre Produktion ein Verständnis für die Bedingungen eines friedlichen Zusammenlebens zu erfahren. Die Atmosphäre des Incontro war offenbar so vielversprechend, dass sich für einige Jahre in Albisola Kollaborationen in verschiedenen Konstellationen verstetigten und der Ort dabei auch ein Umschlagplatz für Ideen zur Formierung neuer gesellschaftlicher Strukturen wurde. Edouard Jaguer, Verfasser des Briefgedichtes, war einer der von ihm so bezeichneten Albisolaires, die die Konturierung eines neuen Kunstverständnisses aushandeln wollten. Als junger Mann hatte er in Paris im Umfeld des Surrealismus erste literarische Texte verfasst.5 Während des Zweiten Weltkriegs, den er im von der Deutschen Wehrmacht besetzten Frankreich überlebte, hatte er Schlupflöcher der strengen Zensur genutzt, um publizistisch weiterhin seine Vorstellung experimenteller Kunst zu realisieren und mit seinen Texten zum Widerstand gegen die Nazis beizutragen. Er steht damit beispielhaft für die zahlreichen Künstler:innen, die mit ästhetischen Mitteln versuchten, angesichts massiver materieller Zerstörungen und vor allem des Todes so vieler Menschen sich gegenseitig Mut zu machen und zugleich subtil subversiv tätig zu sein. Wie auch andere entfremdete sich Jaguer in den Jahren des Krieges von seinen früheren Vorbildern André Breton und Marcel Duchamp, deren Positionen ihm angesichts der Gräuel zunehmend als elitär erschienen. So ist es wenig verwunderlich, dass er im November 1948 in Paris zu den Mitbegründer:innen der für die unmittelbare Nachkriegszeit so wichtigen, wenngleich nur kurzlebigen Künstler:innengruppe CO B R A gehörte, die sich Zufall, der uns herbeigerufen hat, sind wir zusammengekommen, denn auch er ist unser Freund. Ihm verdanken wir es, dass wir dich hier in Albisola getroffen haben. Und hier in Albisola erschaffen wir gemeinsam aus der Erde der Foresta eine neue Konzeption von Kunst.« (Übersetzung  : BL) Edouard Jaguer, »Lettera degli albisolaires al giorno 15 agosto« (1954). In  : Ursula LehmannBrockhaus (Hg.)  : Asger Jorn in Italien. Werke in Keramik, Bronze und Marmor 1954 – 1972. Silkeborg 2007, 217 (zugleich Ausstellungskatalog Silkeborg, Kunstmuseum u. a. 2007). 3 Vgl. Lehmann-Brockhaus (Hg.) 2007, 15 – 37. 4 Vgl. Barbara Lange  : »Community and Communism. Asger Jorn’s Concept of Ceramics«. In  : Dies./Dirk Hildebrandt/Agata Pietrasik (Hg.)  : Rethinking Postwar Europe. Artistic Production and Discourses on Art in the late 1940s and 1950. Köln/Weimar/Wien 2020, 75 – 95. 5 Damals nahm der gebürtige Edouard Petit den Künstlernamen Jaguer an, unter dem er künftig veröffentlichte.

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Abb. 3 Gruppenbild vom Incontro internazionale della ceramica 1954 in Albisola. Von links nach rechts  : Edouard Jaguer, Anne Ethuin gen. Simone, Asger Jorn, Yves Dendal, Malitte Pope Matta, Enrico Baj, Roberto Matta, Corneille, Agenore Fabbri, Tullio d’Albisola. (Foto  : Henny Riemers)

dezidiert von den alten Autoritäten des Surrealismus abgrenzen wollte.6 Der erfahrene Literat wurde einer der Redakteure der französischsprachigen Ausgabe von Cobra, dem Periodikum der Vereinigung. Als Jaguer gemeinsam mit seiner Arbeitspartnerin und Ehefrau Anne Ethuin genannt Simone, einer Malerin und wie er gleichfalls ehemaliges COBR A-Mitglied, 1954 am Keramiktreffen in Albisola teilnahm, trafen beide nicht nur auf gemeinsame Bekannte aus der Zeit von COB R A. Sie kamen auch mit Mitgliedern der Mailänder Kunstszene zusammen, die sie – wie im übrigen auch Asger Jorn – bereits durch Enrico Baj kennengelernt hatten.7 6 Vgl. Karen Kurczynski  : The Cobra Movement in Postwar Europe  : Reanimating Art. New York, NY/Abingdon 2021. Einen schnellen Überblick über Mitglieder und Ereignisse im Zusammenhang mit dieser Gruppe verschafft die Zusammenstellung von Sachinformationen im Ausstellungskatalog Mannheim, Kunsthalle Mannheim 2022/23  : »Becoming CoBrA. Anfänge einer europäischen Kunstbewegung«. Hg. von Christina Bergemann/Inge Herold/Johan Holten. München 2022. 7 Vgl. Angela Sanna  : »Enrico Baj – Edouard Jaguer, un pont culturel entre Milan et Paris dans l’Europe d’après-guerre«. In  : Pleine Marge 37 (2003), Mai, 59 – 88, sowie dies.: »Edouard Jaguer et le mouvement Phases  : la recherche d’un art expérimental dans la tournant de l’après-guerre«. In  : Pleine Marge 47 (2008), Juni, 17 – 43.

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Das Treffen in Albisola ist auch deshalb ein für die Nachkriegsjahre typisches Ereignis, weil es Unterschiede zur Zeit vor 1945 erkennen lässt. Es wird nachvollziehbar, wo und wie man sich vom Surrealismus, in dessen Fußstapfen man in vielerlei Hinsicht trat, absetzte oder Autoritäten wie Le Corbusier und am Bauhaus entwickelte Vorstellungen modifizierte. Zentral war dabei der bereits in den Zwischenkriegsjahren verfolgte Anspruch, Kunst und Handwerk, Künstler:innen und Handwerker:innen wieder zusammenzubringen – unter der Führung von Kunst.8 Nun bezog man mit neuen Vorstellungen, die auch auf Erfahrungen aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs basierten, aktiv Position für ein sozial heterogenes Miteinander. Dabei blieben die schon lange etablierten Strukturen des Kunstbetriebs mit dessen Ausstellungs- und Sammlungswesen oder der Möglichkeit, über kunsteigene Periodika Ideen programmatisch zur Diskussion zu stellen, auch weiterhin funktional. Wie schon bei den Avantgarden in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist dieser Diskurs intermedial und transnational, bezieht Künstler:innen aus Malerei, Bildhauerei, Architektur, Fotografie, Sprachkunst und Film genauso mit ein wie Galerist:innen und Handwerker:innen. Zugleich gibt es maßgebliche Differenzen gegenüber den früheren Jahrzehnten  : Neu und grundlegend anders ist, dass durch die inklusive Zielsetzung die Nachbarschaft, die man in Albisola vorfand, nicht mehr, wie in Künstlerkolonien oder bei Sommeraufenthalten der frühen Avantgarden, den Stellenwert eines Idylls und einer Quelle für Inspiration hatte. Vielmehr hatte sie eine eigene Autorität genauso wie die Umgebung mit ihren natürlichen Ressourcen, die Jaguer in seinen programmatischen Äußerungen ausdrücklich erwähnt  : »De toutes les perspectives, nous sommes accurus pour venir ici, à Albisola, pétrir la glaise en forms d’hommes, des plantes et d’étoiles, et créer des monstres amis.«9 Diese »monstres amis« entstammen nicht mehr wie im Surrealismus den individuellen, subjektzentrierten Erlebnissen, sondern allgemein verfügbaren Mythen, die eine Verortung in einer von Traditionen geprägten Gemeinschaft erlauben. Kunst sollte sich nicht mehr um die Einzelne oder den Einzelnen drehen, sondern in einem Kollektiv wurzeln, das auch die Voraussetzungen für ihre Produktion schafft und das mit seiner Praxis Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft miteinander verknüpft.10 Die Idee von Gemeinschaft ist im Nachkriegsgefüge von Europa also ein Knotenpunkt, in dem verschiedene Phänomene zusammenliefen und mit dem sich nicht zuletzt ein zentraler Aspekt diskutieren lässt  : Die hier vorgestellten Aktivitäten verstehen Kunst weder als Medium, um politische Ideen zu kommunizieren, noch nutzen sie Kunst, um Politik zu ästhetisieren. Vielmehr wurden hier die Beziehungen von Kunst und Politik und damit die Möglichkeiten und Aufgaben von Kunst grundsätzlich neu konzipiert – »une nouvelle conception de l’art«, wie es im Gedicht von Edouard Jaguer   8 Vgl. etwa Regina Bittner/Renée Padt (Hg.)  : Handwerk wird modern. Vom Herstellen am Bauhaus. Bielefeld/Berlin 2017.   9 »Wir sind aus allen Himmelsrichtungen nach Albisola herbeigeeilt, um Lehm zu kneten und daraus Menschen, Pflanzen und Sterne zu schaffen, und Ungeheuer, die Freunde sind.« (Übersetzung BL) Jaguer 2007 (1954). 10 Vgl. Kurczynski 2021a, 59.

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heißt.11 Dass dies mehr als eine leere Worthülse war, legen spätere Entwicklungen, wie etwa der Erweiterte Kunstbegriff bei Joseph Beuys oder die vor allem seit den 1990er Jahren verstärkt auftretenden kollaborativen Kunstprojekte nahe.12 Begreift man die hier vorgestellten Phänomene als eine kulturelle Ressource, so hat dies auch Auswirkungen auf die Historisierung der Moderne  : Die 1960er Jahre formieren dann nicht länger, wie in der konventionellen Erzählung, als eine Zäsur, sondern als eine Konsequenz der Überlegungen, mit der Fülle kultureller Möglichkeiten einen normativen, auf partikularen Interessen basierenden Ästhetikbegriff überwinden zu können. »Aesthetics of plenty« hatte dies Lawrence Alloway, einer der Gäste in Albisola, genannt.13 Auch wenn die Produktion künstlerischer Keramik in Albisola in den 1950er Jahren ein kollaboratives Projekt war, hatte es mit Asger Jorn einen wesentlichen Motor. 1914 in Dänemark geboren, ist er einer der Repräsentant:innen der Generation nach Pablo Picasso, Fernand Léger und Le Corbusier, deren Ideen und Praktiken im europäischen Kunstbetrieb der Nachkriegszeit zentrale Referenzen waren und die von den Jüngeren aufgegriffen, modifiziert oder ganz verändert wurden. Während seines ersten Aufenthalts in Paris Ende der 1930er Jahre war Jorn Schüler von Léger gewesen. Er hatte in dieser Zeit auch als Assistent von Le Corbusier gearbeitet und war mit dessen Konzepten von Material und Raumgestaltung bestens vertraut. Zahlreiche seiner Kontakte zu Künstlerkolleg:innen stammen aus diesen Jahren und spielen auch in dem Zusammenhang, der hier betrachtet werden soll, eine maßgebliche Rolle. Picasso, vor allem dessen Beschäftigung mit Keramik, war für ihn und seine Künstlerfreund:innen aus den Niederlanden, Belgien und Frankreich, mit denen er sich 1948 zu der Künstler:innengruppe COB RA zusammenschloss und zu denen auch Edouard Jaguer und Simone gehörten, zunächst ein Vorbild. In Albisola sollten neue Strukturen ausgehandelt werden, die die Erfahrungen des Krieges berücksichtigten. 11 »eine neue Konzeption von Kunst«. (Übersetzung BL) Jaguer 2007 (1954). 12 Vgl. Claire Bishop  : »The Social Turn. Collaboration and It’s Discontent«. In  : Artforum 44 (2006), Heft 6, 178 – 183. Vgl. auch Nina Zimmer  : Spur und andere Künstlergruppen. Gemeinschaftsarbeit in der Kunst um 1960 zwischen Moskau und New York. Berlin 2002. Zimmer beschäftigt sich in dieser Untersuchung auch ausführlich mit der Bedeutung von CO BRA . Indem sie allerdings den Begriff von Ästhetik aus einem bürgerlichen Kunstverständnis unhinterfragt übernimmt, irritieren sie ihre eigenen Beobachtungen, die sie in ihre Ordnung nicht zu integrieren vermag. Besonders auffällig und kontraproduktiv für ihre Argumentation ist es, dass sie die normative Grenze zwischen Kunst und Handwerk betont und so die Verbindungen, die seinerzeit gesucht wurden, ausblendet. 13 Vgl. Lawrence Alloway  : »The Long Front of Culture« (1959). In  : Richard Kalina (Hg.)  : Lawrence Alloway. Imagining the Present. Context, Content, and the Role of the Critic. New York, NY/ London 2006, 61 – 64 (zuerst in Cambridge Opinion 17 (1959), 24 – 26). Alloways Ausführungen bezogen sich allerdings in erster Linie auf die Kultur der Massenmedien wie etwa Film oder Illustrierte, die er mit Ölmalerei und Gedichten in einer Linie betrachtet wissen wollte. Zu den ideologischen Implikationen in Alloways Aufsatz vgl. Julian Myers  : »Living in the Long Front«. In  : Tate Papers No. 16, Autumn 2011. https.//www.tate.org.uk/research/publications/tate-papers/16/ living-in-the-long-front [Abruf 12.4.2023].

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Im Knotenpunkt eines Gefüges laufen die Aktivitäten vieler Akteur:innen zusammen und es wäre daher falsch, eine einzige Person oder Situation als allein entscheidend für weitere Entwicklungen verstehen zu wollen. Zugleich ermöglicht die Fokussierung auf eine Protagonist:in methodisch eine Wirklichkeitserzählung, mit der Faktizität gebündelt werden und zugleich auf weitere Realitäten außerhalb des hier Erzählten referiert werden kann.14 Mit diesem Verständnis fungiert Asger Jorn im Folgenden nicht als Verantwortlicher, sondern als Repräsentant einer Situation, der anregen soll, zukünftig weitere derartige Varianten zu konkretisieren und so das Nachkriegsgefüge zu verdichten. Ausgehend von seinem künstlerischen und theoretischen Œuvre sowie seinen Sozialbeziehungen soll hier diskutiert werden, wie mit Ton und dessen Verarbeitung zu Keramik die gesellschaftlichen Potenziale von kreativer Zusammenarbeit ausgetestet wurden. Verschiedene Aspekte werden dabei deutlich, die helfen können, die Spezifik des europäischen Nachkriegsgefüges zu charakterisieren  : Trotz ihrer Schnittstellen wurden Kunst und Politik als differente Felder verstanden. Nur so war es überhaupt möglich, die künstlerische Produktion als Vorbild für Richtungsänderungen im gesellschaftlichen Zusammenleben einzubringen. Dabei war die Gemeinschaft in Albisola, die hier in den Blick genommen wird, keineswegs als ein homogener Mikrokosmos angelegt, der eine harmonische Utopie suggerierte. Vielmehr trafen hier verschiedene Entwicklungen zusammen, die mit ihren Überlagerungen und Verwerfungen bei der Suche nach einer Revision von Kunst- und Materialverständnis, von Teilhabe an künstlerischer Öffentlichkeit oder von Handlungsräumen der Geschlechter eine typische Beschreibung für das damalige Europa im Rahmen der staatlichen Ordnungen und zugleich unterhalb von deren Kontrolle abgeben können.15 In ihrem Plädoyer, die multiplen Valenzen von Formen zu betrachten, spricht sich Caroline Levine dafür aus, bei kulturwissenschaftlichen Analysen nicht Kohärenzen zu konstruieren, sondern Kollisionen und Widersprüche sichtbar zu machen, um so aus binären Oppositionen ausbrechen zu können.16 Ihre Argumentation soll hier fruchtbar gemacht werden, um aus der Beschreibung von Vielfalt und Uneindeutigkeit ein schärferes Bild einer Kunstgeschichte der Nachkriegszeit in Europa zu gewinnen, das – wie oben angedeutet – derzeit im Vergleich zu den etablierten Narrativen zwangsläufig noch sperrig ist.

14 Vgl. Christian Klein  : »Analyse biographischer Erzählungen«. In  : Ders. (Hg.)  : Handbuch Biographie. Methoden, Traditionen, Theorien. Stuttgart/Weimar 2009, 199. Vgl. auch  : Ders./Matías Martínez (Hg.)  : Wirklichkeitserzählungen. Felder, Formen und Funktionen nicht-literarischen Erzählens. Stuttgart/Weimar 2009. 15 Gilles Deleuze und Félix Guattari haben dieses komplexe Miteinander von Mikrokosmen als molekulare Struktur beschrieben. Vgl. Deleuze/Guattari 1992, Kap. 9  : 1933 – Mikropolitik und Segmentarität, 283 – 316. 16 Caroline Levine  : Forms  : Whole, Rhythm, Hierarchy, Network. Princeton, NJ/Oxford 20174 (zuerst 2015).

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Kollaborative Kreativität Gruppen, wie sie 1954 beim Incontro internazionale della ceramica in Albisola zusammenkamen, stehen in einer Tradition der Moderne in Europa, die angefangen von den Nazarenern über die Nabis, Gemeinschaften wie Die Brücke oder Blauer Reiter, die verschiedenen Gruppierungen des Surrealismus oder die bereits wiederholt genannte Vereinigung COB RA, so verschieden sie im Einzelnen sind, eine Idee teilen  : Künstler:innen, die in Vorstellungen von Kreativität und deren Nutzen für die Gesellschaft übereinstimmen, schließen sich zusammen, um im Austausch kollaborativ diesem Ideal näher zu kommen.17 Vornehmlich Männer nutzten diese soziale Praxis, um sich gemeinschaftlich ihrer Ziele zu versichern und auf diese Weise im Plural Position zu beziehen. Dabei hatten die Mitglieder des Blauen Reiters bereits erkannt, dass die Mehrstimmigkeit eine besondere Publizität erfährt, wenn sich Aktivitäten auf verschiedenen Ebenen verschränken und sich die Zusammenarbeit nicht allein auf die Herstellung von Kunstwerken beschränkt. Durch die kooperative Organisation von Ausstellungen, die Herausgabe eines Periodikums – was im Fall des Almanachs, den der Blaue Reiter herausgab, durch den Ersten Weltkrieg ein abruptes Ende fand – und anderer Schriften ließ sich die Gruppenarbeit wirkungsstark verdichten. So erweiterte sich mancher Kreis auch auf nicht-künstlerisch tätige Akteur:innen, die wie etwa bei den Gruppen des Surrealismus Aufgaben wie Redaktionsarbeit, Büroorganisation, Akquise von Geldern oder die Organisation von Ausstellungsorten übernahmen. In der Zeit des Zweiten Weltkriegs erfuhr die Bedeutung dieser Zusammenarbeit weitere Dimensionen. Nicht nur bot der gemeinschaftliche Zusammenschluss Rückhalt angesichts der menschenverachtenden Ideologie des Faschismus, der sich in Europa zunächst erfolgreich ausbreiten konnte. Politisch harmlos erscheinende künstlerische Vereinigungen wie etwa die Gruppe um die in Dänemark erscheinende Zeitschrift Helhesten beteiligten sich mit ihren Räumlichkeiten und Druckpressen während der Okkupation an Untergrundaktivitäten gegen die Deutsche Wehrmacht.18 Angesichts von Zensur und Verfolgung erhielt das Vertrauen in Gruppenmitglieder dabei eine Dimension, bei der es häufig um ein Weiterleben in Freiheit, wenn nicht gar um ein Überleben gehen konnte. Einige derjenigen, die beim Incontro zusammenkamen, hatten wie Edouard Jaguer, Simone und Asger Jorn Derartiges erlebt und dabei zudem eine weitere Erfahrung gemacht, die die Perspektive auf Kollaborationen maßgeblich verändert hatte  : Im Widerstand gegen den Faschismus hatten sie mit Menschen zusammengearbeitet, die aus ganz anderen Bereichen als denen des Kunstbetriebs kamen. Sie hatten mit ihnen Flugblätter und Plakate gedruckt, Schriften verteilt, waren zu konspirativen Treffen zusammengekommen und hatten miteinander diskutiert. Ideen, wie mit Kreativität Ein17 Vgl. Christoph Wilhelmi  : Künstlergruppen in Deutschland, Österreich und der Schweiz seit 1900  : ein Handbuch. Stuttgart 1996, 1 – 41. 18 Vgl. Kerry Greaves  : »Hell-Horse  : Radical Art and Resistance in Nazi-Occupied Denmark«. In  : Oxford Art Journal 37 (2014), Heft 1, 47 – 63.

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fluss auf gesellschaftliche Strukturen genommen und Veränderungen bewirkt werden können, hatten sich dadurch verändert. Das Nachkriegsgefüge mit seinen Ansätzen für eine Öffnung des Kunstverständnisses ist davon geprägt. Dies erklärt das besondere Interesse an Keramik. Wie die Weberei, über die noch zu sprechen sein wird, ermöglicht es Keramik, eine Brücke zu Feldern außerhalb des Kunstbetriebs zu schlagen. Egal, welches Erscheinungsbild ein als Kunstobjekt gestaltetes Werk aus glasiertem Ton auch hat, es erinnert an Objekte im Alltag vom Geschirr über den Pflanzentopf bis hin zu Toilettenschüsseln. Als künstlerisches Medium trägt Keramik diese Verbindung zur Alltagskultur in sich. In der Moderne umfasst sie handgetöpferte sowie an der Drehscheibe produzierte Gegenstände genauso wie industriell gefertigte Produkte. Im Kunstbetrieb fordern keramische Objekte daher dazu heraus, nicht nur den Kunstbegriff mit seinen Exklusionen zu überdenken, sondern mit Blick auf die in der Moderne konstruierte Opposition von Handwerk und Industrieproduktion in diese Gedanken die Bedingungen von Arbeit und Kreativität einzubeziehen. Dieses Phänomen ist nicht zuletzt in den Jahren nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs zu beobachten, als man darum bemüht war, Gesellschaften inklusiver zu gestalten und im Kunstbetrieb das soziale Spektrum zu weiten. Zugleich ist Keramik noch mehr. Wie archäologische Funde belegen, sind Tonwaren eng mit der Zivilisationsgeschichte verbunden. Von daher ist es nicht verwunderlich, dass weltweit Mythen, die vom Gestalten mit Ton erzählen, dazu dienten, das schöpferische Potenzial von Menschen herauszustellen.19 In der in Europa tradierten Kunsttheorie spielt die Geschichte von Dibutadis, die als Tochter eines Töpfers das Porträt ihres Geliebten geschaffen haben soll, eine entsprechend programmatische Rolle. Bei der Trennung der Kunst vom Handwerk in der frühen Moderne konnte diese Erzählung helfen, die damals neu erfundene Kategorie Kunsthandwerk zu feminisieren.20 Den modernistischen Spaltungstheorien folgend beherrschte das Handwerk Techniken der Bearbeitung, während allein die Kunst das Potenzial haben sollte, konzeptionell gestalterische Ideen umzusetzen. Mitte des 20. Jahrhunderts gehörte Asger Jorn zu denjenigen, die diese Grenzziehung für obsolet hielten. Durch Integration und Stärkung von handwerklichen Potenzialen sollten Ideale einer kommunistischen Gemeinschaft verwirklicht werden. Nicht Politik auf staatlicher Ebene, sondern die Realisierung von Mikroutopien, wie Gilles Deleuze und Félix Guattari es genannt haben,21 sollte die Gesellschaft dabei auch wirtschaftlich konsolidieren. Mit seinem Interesse an Keramik trat Jorn in prominente Fußstapfen. Schon Paul Gauguin hatte mit Referenz auf die Alltagskultur der sogenannten einfachen Leute genauso wie später die Künstler:innen des Blauen Reiters mit Kleinplastiken aus Ton 19 Vgl. Ernst Kris/Otto Kurz  : Die Legende vom Künstler. Ein geschichtlicher Versuch. Wiederauflage Frankfurt/Main 1995, 103 (zuerst Wien 1934). 20 Vgl. Viktoria Schmidt-Linsenhoff  : »Dibutadis. Die weibliche Kindheit der Zeichenkunst«. In  : Kritische Berichte 24 (1996), Heft 4, 7 – 20, 8. 21 Vgl. Deleuze/Guattari 1992, 294 – 295.

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das akademische Kunstverständnis in Frage gestellt. Aristide Maillol und vor allem Lucio Fontana nobilitierten wenig später nicht zuletzt unter Bezugnahme auf die Geschichte der Kunst den Ton, indem sie ihn nicht mehr allein für Entwürfe zur Formfindung einer in anderem Material ausgeführten plastischen Arbeit nutzten, sondern für großformatige fertiggestellte Werke.22 Die Arbeiten von Fontana aus den 1930er Jahren stehen im Zusammenhang mit einer von der faschistischen Regierung in Italien vorangetriebenen Neukonturierung von Volkskunst, die ein populares Verständnis von Kunst aufgriffen.23 Für Jorn, der sich erst später mit Fontanas Konzept beschäftigte, waren zunächst die keramischen Arbeiten von Pablo Picasso das maßgebliche Vorbild.24 Picasso, der während der Besatzungszeit zurückgezogen in Paris gelebt hatte und der in der Nachkriegszeit für zahlreiche Künstler:innen in Europa eine Bezugsgröße darstellte, war nach Kriegsende nach Südfrankreich gezogen. In Vallauris, einer von Keramikproduktion geprägten Kleinstadt am Mittelmeer zwischen Cannes und Antibes, hatte er damit begonnen, in der ortsansässigen Manufaktur Madoura Geschirr und kleine Dekorationsobjekte zu bemalen. Der Verkauf dieser Gefäße, die zwischen Gebrauchsgegenstand und Kunstwerk changieren, trug maßgeblich zum Wohlstand der Gemeinde bei, die so trotz der ersten harten Jahre nach Kriegsende ökonomisch florieren konnte.25 Wenn Jorn sich Picasso als Beispiel nahm, dann nicht primär aus formalen Gründen. Ihm ging es vielmehr darum, durch das kollaborative Arbeiten, das die Keramikproduktion mit sich bringt, Gemeinschaft zu stiften. Als Asger Jorn in der Zeit seiner Genesung von Tuberkulose 1953 zunächst in Silkeborg damit begann, keramische Objekte zu produzieren, hatte seine Karriere als Maler längst begonnen.26 Auch sein am Syndikalismus ausgerichtetes Politikverständnis, mit dem er das Ideal eines von Parteiinteressen und Parteidisziplin unabhängigen Kommunismus verfolgte, hatte bereits während der Kriegsjahre im besetzten Dänemark an Kontur gewinnen können.27 Anfang der 1950er Jahre war er Teil eines transnationalen Netzwerks von Künstlerinnen und Künstlern, die nahezu alle die Okkupation 22 Vgl. Janet Koplos u. a. (Hg.)  : The Unexpected. Artists’ Ceramics of the 20th Century. New York, NY 1998. 23 Vgl. Anthony White  : Lucio Fontana. Between Utopia and Kitsch. Cambridge, MA/London 2011. 24 Vgl. Karen Kurczynski  : The Art and Politics of Asger Jorn. The Avantgarde Won’t Give Up. New York, NY/Abingdon 2014, 115 – 119  ; vgl. auch Lehmann-Brockhaus 2007, 79. Troels Andersen, der Jorns Arbeiten mit Ton am Rande thematisiert, übergeht diese auch archivalisch dokumentierte wichtige Verbindung vollständig. Er erwähnt nur, dass Jorn Picasso 1947 in Südfrankreich persönlich kennenlernte und sich mit diesem austauschte. Vgl. Troels Andersen  : Asger Jorn. Eine Biographie. Übersetzung Irmelin Mai Hoffer/Reinald Nohal. Köln 2001, 148 (zuerst Kopenhagen, 3 Bde. 1994 – 97). 25 Vgl. Ausstellungskatalog Humlebæk, Louisiana Museum of Modern Art 2018  : »Picasso keramik«. Hg. von Michael Juul Holm u. a. Humlebæk 2018  ; Ausstellungskatalog ’s-Hertogenbosch, Stedelijk Museum Het Kruithuis 2006/07  : »Avec plaisir. Keramiek van Pablo Picasso«. Hg. von Titus M. Eliëns. Zwolle 2006. 26 Vgl. Guy Atkins  : Jorn in Scandinavia 1930 – 1953. London 1968 sowie Andersen 2001, 13 – 259. 27 Vgl. Greaves 2014.

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durch die Deutsche Wehrmacht hatten erleben müssen und die wie auch Jorn in diesem Zusammenhang unterschiedliche Erfahrungen mit Arbeit im und für den Untergrund gemacht hatten. Wie der Niederländer Constant (Nieuwenhuys) und der Belgier Christian Dotremont, die Jorn beide nach dem Krieg in Paris kennengelernt hatte und mit denen er seither in einem engen Austausch stand, war er im November 1948 einer der Initiator:innen zur Gründung der Künstlergruppe CO B R A gewesen, die mit zum Teil provokativen Eingriffen in den sich reorganisierenden Kunstbetrieb herkömmliche Strukturen überdenken ließen.28 Auch wenn CO B R A 1951 auseinanderfiel, blieben die meisten ihrer Akteur:innen weiterhin in engem Austausch und pflegten ihr Netzwerk durch die Realisierung von Gruppenausstellungen, gemeinschaftliche Publikationen oder mit Ereignissen wie den bereits erwähnten Incontro internazionale della ceramica 1954 in Albisola. Der Incontro dokumentiert die zeitweilige Schwerpunktverlagerung im Œuvre von Asger Jorn weg von der Malerei und Galeriekunst hin zur Keramik und damit zu einer Praxis, die die Schnittstelle von Kunst und Alltag bespielt. Der Künstler hatte zwar in den 1930er Jahren im Rahmen seiner Ausbildung als Kunstlehrer den handwerklichen Umgang mit Ton erlernt, doch erst während der Tuberkulosetherapie Anfang der 1950er Jahre in Silkeborg fand mit den Bemalungen von Gefäßen erstmals eine intensivere Beschäftigung mit Keramik statt. Schon diese ersten Arbeiten zeigen, dass ihn nicht nur Materialexperimente interessierten. Zwar testete er gestalterische Spielräume aus, die der leicht formbare, zugleich aber auch nur bedingt stabile Ton bietet. Er konnte auf diese Weise Kenntnisse in Bezug auf die Beschaffenheit des Materials und die Varianz der handwerklichen Techniken gewinnen.29 Kontinuierlich tastete er sich dabei an neue Ausdrucksformen heran  : Gestaltungselemente waren für ihn bald nicht mehr nur Oberflächendekors, sondern auch plastische Formen. Zunächst waren es nur kleine Veränderungen, die durch minimale Eingriffe Geschirr seine Funktionsfähigkeit entzog und so ein Alltagsobjekt zum Kunstwerk werden ließ. So ist etwa bei einem bemalten Teller das rechte Beinchen der Figur vollplastisch ausgeführt und streckt sich im 90° Winkel abstehend in die Höhe. (Abb. 4) Der Haushaltsgegenstand ist ein Relief geworden, die ursprüngliche Bedeutung dabei, das Kippmoment bespielend, jedoch sichtbar geblieben. Neben derart darstellerischen Experimenten galt Jorns Interesse vor allem der Tatsache, dass Keramik in der Regel arbeitsteilig produziert wird. Spezialist:innen für die Form arbeiten mit denen für die Befeuerung des Ofens und denen für die Oberflächenbearbeitung mit Glasur zusammen. Jede:r von ihnen verfügt über Spezialkenntnisse, die sich aus Traditionen bei der Verarbeitung der uralten Werkstoffe entwickelt haben und die in das Erscheinungsbild des Endproduktes einfließen. Für Asger Jorn materialisierten sich in den keramischen Objekten somit Zivilisationsgeschichte und ein auf Zusammenarbeit hin angelegtes, gemeinschaftliches Produktionsverfahren gleicher­ 28 Vgl. Kurczynski 2021a. 29 Maßgebliche Unterstützung erfuhr Jorn dabei durch den Betreiber der Silkeborg Pottemageri Niels Nielsen. Vgl. Andersen 2001, 250.

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Abb. 4 Asger Jorn, Ohne Titel (1954), glasierte Keramik ca. 32,5 × 26 × 4 cm. Silkeborg, Museum Jorn

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maßen. Die Bedeutung, die diese Kollaboration aus seiner Sicht für das künstlerische Arbeiten hat, formulierte er in seiner Schrift Guldhorn og Lykkehjul. Ende 1949 als Manuskript weitgehend abgeschlossen, verfügte Jorn erst 1957 über die finanziellen Mittel, das Buch zu publizieren.30 Mit Fotografien und Zeichnungen, die wie in Aby Warburgs Bilderatlas in ihrer Zusammenstellung dazu dienen, Traditionen und wirklichkeitsbestimmende Funktionen archetypischer Formen zu verfolgen, unterstreicht er hier seine Theorie, wonach Kunst aus dem Alltagsleben der Menschen entsteht und daher mit dem Alltag verbunden ist (Abb. 5). Auf diese Weise können sich, so Jorn, beide Bereiche gegenseitig befruchten. Wie Karen Kurczynski charakterisiert  : The Golden Horns book includes photographs of contemporary life next to drawings of petroglyphs, heraldic symbols, masks, coin designs, astrological symbols, and other heterogeneous forms of mythic imagery, in order to show the continuity of ancient popular symbols into the present. It presents Jorn’s understanding of popular art as something embodied in mythic symbols created anonymously in ancient societies and passed down to contemporary culture in various forms. Jorn considered the imagery discussed in the book as a continually evolving popular art, created anonymously for reasons related to the everyday functioning of a community, such as the seasonal cycles of agriculture which led to the origins of the zodiac in ancient Babylon.31

In seinem Vergleich zwischen vergangenen und gegenwärtigen Gesellschaften löst er sich von dem entwicklungsgeschichtlichen Paradigma eines Fortschrittdenkens, das gegenwärtige Technologien als die überlegenen klassifiziert. Für ihn gibt es keine maßgeblichen Unterschiede, liefern die bronzezeitlichen Gemeinschaften, aus denen die titelgebenden Goldhörner stammen, vielmehr Muster zum Verständnis der Gegenwart  : Pour désigner aussi d’une façon artistique les groups ou unités sociales, l’homme a employé, à travers tous les temps, des signes, des emblems, des symbols et des attributes. Souvent, ceux-ci experiment de la profession du groupe, suivant l’idée naturelle que la base de la vie caractérise aussi l’être de la meilleure façon. Il n’y a donc pas, en principe, de différence artistique entre les réclames modernes des coiffeurs, des bureaux de tabac, des pharmacies, entre les emblèmes des syndicats et des corporations d’artisans et entre les totems et les symbols de clans de chasseurs.32 30 Vgl. Asger Jorn  : Guldhorn og Lykkehjul. Kopenhagen 1957. Die von Matie van Domselaer und Michel Ragon angefertigte französischsprachige Übersetzung La roue de la fortune. Méthodologie des cultes erschien 1958 in Paris. Wie andere Publikationen von Jorn hat auch Guldhorn og Lykkehjul eine komplexe Publikationsgeschichte. Vgl. Graham Birtwistle  : Lebendige Kunst. Asger Jorns Kunsttheorie von Helhesten bis Cobra (1946 – 1949). Übersetzung Ellen Küppers. o. O. [München] 1996, 33 – 34. Ich zitiere im Folgenden aus der französischsprachigen Ausgabe von Guldhorn og Lykkehjul. 31 Kurczynski 2014, 85 – 86. 32 »Um Gruppen oder soziale Einheiten auch künstlerisch darzustellen, haben Menschen zu allen

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Abb. 5 Doppelseite mit Abbildungen zu Jagdsymbolik und Jahreszeitkulten aus Asger Jorn, Guldhorn og ­Lykkehjul, Kopenhagen 1957, o.P.

Doch nicht nur bleibt sich Jorn zufolge die Kunst über die Zeiten treu, sie kennt auch keine sozialen Grenzen. Bereits in seinem Aufsatz Intime banaliteter von 1941 hatte er – wie bereits erwähnt – propagiert, dass es ein Fehler sei, die Popularkultur aus dem Kunstverständnis auszuschließen.33 Nur aus dem ge- und erlebten Alltag könne nämlich, wie er ausführt, eine kommunikationsstarke Kunst entstehen  : Der Künstler nimmt aktiv an dem Kampf teil, in dem es darum geht, dass man jene Erkenntnis vertieft, die, aus unseren Lebensgrundlagen heraus, die unsere ist, denn diese Grundlagen ermöglichen uns erst die künstlerische Schöpfung. […] Es handelt sich überhaupt nicht um eine freie Wahl, sondern im Gegenteil darum, dass man in das ganze kosmische System der Gesetze eindringt, die die Rhythmen, die Energien und die Substanzen beherrschen, die die Wirklichkeit der Welt ausmachen, und zwar vom Hässlichsten bis zum Schönsten, in alles, das einen Charakter und einen Ausdruck besitzt, selbst wenn es sich um das Gröbste und Brutalste oder um das Edelste und Zarteste Zeiten Zeichen, Embleme, Symbole und Attribute genutzt. Oftmals liegt diesen die Tätigkeit einer Gruppe zugrunde, der natürlichen Idee folgend, dass das Leben am besten das Sein charakterisiert. Es gibt also im Prinzip keinen künstlerischen Unterschied zwischen den modernen Reklamen für Friseure, Tabakläden, Apotheken, Gewerkschaftsembleme oder Verbände von Handwerkern und den Totems und den Symbolen der Clans von Jägern.« (Übersetzung BL) Jorn 1958 (1957), 84. 33 Vgl. Kapitel 1, 12 – 14.

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handelt, in alles, was zu uns spricht, weil es das Leben selbst ist. Um alles auszudrücken, muss man alles kennen.34

Der Künstler sollte in den nächsten Jahren daran arbeiten, diese Synthese, die er hier mit Worten reklamiert, auch darstellerisch und produktionsästhetisch zu realisieren. Sukzessive überführte er dazu – wie in Kapitel 2 gezeigt – konventionelle Formen malerischer Symbolsprache in ein aus der Alltagskultur bekanntes Medium, in die Keramik. Ziel war es allerdings nicht, wie etwa bei Arts and Craft, mit Hilfe von alltagstauglichen Objekten Menschen eine bildungsbürgerliche Ästhetik nahe zu bringen.35 Vielmehr zielten Jorn und seine Freund:innen auf den Mehrwert, der bei einer gemeinschaftlichen Produktion durch Kollaborationen entstehen kann. Denn Artefakte, die gemeinsam produziert werden, tragen, so Jorn motiviert durch seine Marx-Lektüre, die Zusammenarbeit in sich und lassen an diese Prozesse erinnern, indem sie sie in Material und Formensprache zeigen.36 Ein Einfluss, der die neue Umgebung in Italien und den Beginn neuartiger Kollaborationen dokumentiert, ist die veränderte Farbigkeit von Jorns Keramiken, die ab 1954 entstehen. Das erdige Grün und Braun aus der Zeit in Jütland findet sich durch farbige Glasuren ersetzt, deren Leuchtkraft durch synthetisch hergestellte Farben, wie 34 Asger Jørgensen (= Asger Jorn)  : »Intime Banalitäten« (1941). In  : Asger Jorn  : Heringe in Acryl. Heftige Gedanken zu Kunst und Gesellschaft. Hg. von Roberto Ohrt. Hamburg, 19932, 16 (zuerst mit bürgerlichem Namen veröffentlicht unter dem Titel »Intime banaliteter«. In  : Hel­ hesten 1 (1941), Heft 2, 33 – 38). Zu weiteren Auflagen und Übersetzungen vgl. Per Hofman Hansen (Hg.)  : Bibliografi over Asger Jorns skrifter/A Bibliography of Asger Jorn’s Writings. Silkeborg 1988, Nr. 26, 58. 35 Vgl. Lucy Hartley  : Democratising Beauty in Nineteenth-Century Britain. Art and Politics of Public Life. Cambridge 2017. 36 Eine derartige Interpretation von Keramik unterscheidet sich fundamental von dem Konzept, das der in der Nachkriegszeit in Europa wohl bekannteste Keramiker, Bernhard Leach, mit Leach Pottery in St. Ives in Cornwall aufgezogen hatte und das auf den ersten Blick scheinbar Parallelen zu den Praktiken in Albisola aufweist. In Japan aufgewachsen und dort in den traditionellen Techniken der Töpferei unterrichtet, praktizierte Bernhard Leach mit seinen Familienmitgliedern ein genossenschaftliches Geschäftsmodell, an dem alle Mitarbeiter:innen beteiligt waren. Anders als Jorn es vorsah, wurde bei Leach Pottery allerdings streng zwischen Alltagsgeschirr, das nicht zuletzt an Kaufhäuser in London geliefert wurde, und der für den Kunstmarkt gefertigten studio pottery, die ausschließlich an Galerien ging, unterschieden. Vgl. Jeffrey Jones  : Studio Pottery in Britain 1900 – 2005. London 2007, 77 – 79. Zu den beiden Hauptakteur:innen des Unternehmens in der Nachkriegszeit vgl. Edmund de Waal  : Bernhard Leach. London 1998 und Emmanuel Cooper  : Janet Leach. A Potter’s Life. Ann Arbor, MI 2006. Jorn, der Vielschreiber, fasste sein Konzept eines gesellschaftlichen Nutzens von gemeinschaftlicher Kunstproduktion in einem Manuskript zusammen, mit dem er Anfang der 1950er Jahre vergeblich eine Promotion anzustreben versuchte. Die Schrift, mit der er an Das Kapital von Karl Marx anknüpft, erschien 1962 als Band 2 des damals von ihm neugegründeten Forschungsinstituts Skandinavisk Institut for Sammenlignende Vandalisme. Vgl. Asger Jorn  : Værdi og økonomi. Kritik af den økonomiske politik og udbytningen af det enestående. Kopenhagen 1962.

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Abb. 6 Asger Jorn, Jyske linier ( Jütländische Linien) (1954), glasierte Keramik 134 × 91,5 cm. Silkeborg, ­Museum Jorn

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sie in Albisola verwendet wurden, zustande kommt. Auch ändert sich seine Formsprache  : Jorn begann in der für ihn neuen Form, dem bereits thematisierten Relief, zu experimentieren. Zu den Arbeiten, die Jorn während des Incontro internazionale della ceramica anfertige, gehören die großformatigen Arbeiten La fuite (1954) (Abb. 2) und Jyske linier (Jütländische Linien) (1954) (Abb. 6).37 Als er sie 1955 in Kopenhagen ausstellte, schrieb der mit ihm befreundete Kunstkritiker Robert Dahlmann Olsen  : Wir sehen, wie er sich des Materials bemächtigt, in den Ton gestürzt und die Farben seiner Bilderwelt in Glasuren gebrannt hat. Er hat bei der Arbeit gelernt und begriffen, dass dieses wunderbare Material, der Ton, mit dem ihm eigenen stofflichen Charakter zu respektieren ist. Asger Jorn hat das Stadium der gedrehten Gegenstände überwunden und fährt da fort, wo Pablo Picasso aufgegeben hat.38

Tatsächlich lassen sich diese Arbeiten als eine neuartige Form interpretieren, die aus einer Synthese von Malerei und den plastisch geformten Keramikobjekten resultiert. Ursula Lehmann-Brockhaus informiert, wie sie entstanden sind  :39 Die großformatigen Tonplatten wurden vom Künstler mit den Händen bearbeitet. Durch Drücken und Bohren mit den Fingern entstanden auf diese Weise die intensiven taktilen Oberflächen, die Jorn anschließend mit dem Modellierholz sowie farbigen Glasuren akzentuierte. Um beim Brennen nicht zu zerspringen, mussten die Platten zerschnitten werden. Die ungleich großen Partien, die der Künstler dabei kreierte, evozieren eine eigene Dynamik, die die figurativen Darstellungen im wahrsten Wortsinn durchkreuzt. Von Staffeleigemälden wie herkömmlichen Reliefs unterscheiden sich diese Werke nicht zuletzt durch die unregelmäßigen Verläufe der Kanten – La fuite weitaus ausgeprägter als Jyske linier. Die Figurationen der Reliefs greifen Motive auf, die sich vor allem in Jorns Arbeiten aus der Zeit im Sanatorium in Silkeborg finden lassen  ; der Zusammenhang von La fuite und Af den stumme myte, op. 2 (Abb. 2) war schon weiter oben in Kapitel 2 ein Thema. Auch wenn der Künstler seine Motivwelt gewissermaßen nach Italien mitbrachte, auch wenn seine Gestaltung der Reliefoberflächen individuelle Besonderheiten seiner künstlerischen Handschrift zeigt, er profitierte bei der Entwicklung seiner 37 Alle Teilnehmer:innen am ersten Incontro internazionale della ceramica erhielten ein Schulheft (vgl. S. 61, Abb. 9), in dem sie ihre Arbeiten, die während des Zusammenkommens entstanden, dokumentieren sollten. Jorn führt in diesen Aufzeichnungen La fuite und Jyske linier unter den Nummern 34 und 35, jeweils mit einer Skizze. Vergleicht man beide Zeichnungen miteinander, so ist Jyske linier mit den Hervorhebungen durch Tusche akzentuierter ausgeführt. Auf der Triennale in Mailand 1954 stellte Jorn das Relief La fuite aus. Vgl. Jorns Werkstattheft vom Incontro als Faksimile in Lehmann-Brockhaus 2007, Appendix I, 199 – 209. 38 Robert Dahlmann Olsen  : »Asger Jorn keramik«. In  : Faltblatt zur Ausstellung in Kopenhagen, Kunstgewerbemuseum 1955. Deutschsprachige Übersetzung in  : Lehmann-Brockhaus 2007, 213 –  214, hier 213. 39 Vgl. Lehmann-Brockhaus 2007, 47 – 48.

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neuen Kunstsprache in großem Maße von dem Umfeld, in dem er seit 1954 lebte. In den zahlreichen Keramikwerkstätten in Albisola konnte er Produktionsvorgänge beobachten und Arbeitsschritte erlernen, wie sie nicht nur bei Gefäßen aus Ton praktiziert, sondern auch bei Wandgestaltungen mit Fliesen und Keramikreliefs angewandt werden. In weitaus größerem Maße als zuvor in Silkeborg bekam er die Möglichkeit, sich mit den für die einzelnen Produktionsschritte zuständigen Handwerker:innen neugierig auszutauschen und selbst mit Ton und Glasurfarben zu experimentieren. Ohne die Unterstützung der für ihre Zusammenarbeit mit Künstler:innen bekannten Fabbrica Mazzotti wäre der erste Incontro internazionale della ceramica gar nicht zu realisieren gewesen. Aber entstanden dadurch tatsächlich neue Strukturen der Kollaboration, wie es Edouard Jaguer in seinem Bericht über diesen Incontro vermuten lässt, indem sich aus der kooperativen Nutzung von Gerätschaften, dem Austausch von Kenntnissen und der Kreativität der Einzelnen mit den Handwerker:innen auf der Basis von handwerklichen Traditionen etwas Neues, Gemeinschaftstaugliches und Gemeinschaftszuträgliches ausbilden konnte, das allen und nicht nur den Künstler:innen dienlich war  ? T’ai Smith hat die Differenz untersucht, die am Bauhaus zwischen einer Rhetorik bestand, mit der ein Ideal beschrieben und propagiert wurde, und den realen Zuständen, die dort in den verschiedenen historischen Phasen anzutreffen waren.40 Nicht nur zeigt sie die Diskrepanz zwischen Wunsch und Wirklichkeit, zwischen Worten und Taten auf. Sie arbeitet dabei auch heraus, dass die differenten Positionen, die Männer und Frauen, Künstler:innen und Handwerker:innen sowie die jeweils unterschiedlichen Gewerke einnahmen, trotz der hierarchischen Ordnung, die am Bauhaus herrschte, durch die auf der sprachlichen Ebene beschworene Gemeinschaft immer wieder zusammengehalten werden konnte. Nicht zuletzt funktionierte dies retrospektiv, als das Bauhaus schon gar nicht mehr existierte. Aufschlussreich an ihrer Analyse ist die Feststellung, dass die dort vertretene Idee eines Kollektivs nur auf den ersten Blick einem sozialistischen Konzept entspricht. Aufgrund der arbeitsteiligen Struktur und deren Hierarchisierung entsprach die Realität jedoch der einer kapitalistischen Gesellschaft.41 Die Idee von Gemeinschaft suggerierte nur Gleichheit. Der Verdacht liegt nahe, dass Asger Jorns Gemeinschaftsidee ähnliche Problematiken birgt. Zweifellos nimmt Jorn in vielerlei Hinsicht die Position eines Bestimmers ein, der die Fäden in der Hand hält und auf den sich die Aktivitäten der anderen ausrichten. Dennoch war er gerade mit seinen Experimenten mit Keramik aktiv darum bemüht, im Umgang mit Kunst ein massentaugliches Verständnis zu etablieren, das diverse Erfahrungen einbezog und die Rolle des einzelnen Schöpfers relativierte. Gemeinschaft, die alte Idee der Moderne, erfuhr im Nachkriegsgefüge durch diese Praxis kollaborativer Kreativität eine neue Grundlage. Zum Modell des Gefüges gehört es, Kontingenzen zu vermeiden und neben den Idealen auch Widersprüche, Ungereimt40 T’ai Smith  : »›This Bauhäusler Which Was Not One‹«. In  : Texte zur Kunst 31 (2021), Heft 124, 28 – 41. 41 Vgl. Smith 2021, 33 – 35.

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heiten und Bruchstellen zu erfassen, um so Dynamiken und Bewegungsrichtungen nachvollziehen zu können. Für das Gemeinschaftsideal der kollaborativen Kreativität lässt sich festhalten, dass das Ideal vom schöpferischen Künstler zwar eine Relativierung erfahren sollte, dieses aber keineswegs aufgegeben wurde. Die Veränderungen, die sich dennoch abzuzeichnen begannen, lassen sich mit Blick auf die konkrete Situation vor Ort nachvollziehen. Albisola Mit Wandkeramiken wie La fuite oder Jyske linier, die 1954 während des Incontro inter­nazionale della ceramica in Albisola entstanden, stellte Asger Jorn einen unmittelbaren Bezug zum Ort ihrer Entstehung und der dortigen Keramikproduktion her. Er bezog damit Position zu Ästhetikdiskursen der Nachkriegszeit in Europa, die sich nicht zuletzt um die Frage drehten, welchen Stellenwert Kunst in welcher Öffentlichkeit einnehmen sollte. Jorns Argumente beruhen auf den bereits oben vorgestellten Überlegungen, dass sich ideale Formen aus der Zusammenarbeit der Mitglieder einer Gesellschaft entwickeln und sie dadurch Spuren der Zivilisationsgeschichte in sich tragen. Nicht eine humanistisch geprägte Ideengeschichte, die zugleich Bildung und Wissen logozentrisch versteht, sondern kollaborative Praxis machen somit den Kern seiner Theorie aus, an deren Realisierung er ab der Mitte der 1950er Jahre in Albisola arbeitete. Jorns Keramiken sind jedoch nicht nur ästhetische Äußerungen, mit denen ein partikulares und elitäres Kunstverständnis aufgebrochen werden sollte. Sie zeigen, wie durch künstlerische Praxis gesellschaftliches Gemeinwesen gestaltet werden kann. Eine solche Position war möglich, weil Kunst eine Allianz mit dem Handwerk einging und so ihr altes Versprechen neu formulieren konnte, auch in der modernen industrialisierten Gesellschaft gemeinschaftsgestalterisches Potenzial zu haben. Mit Bahn oder Auto ungefähr eine Stunde Fahrtzeit von Genua aus nach Westen entfernt, liegt Albisola an der ligurischen Küste. Während das geschäftige, von Nachkriegsarchitektur geprägte Albisola Superiore zur Strandpromenade hin von kleinen Bars und Geschäften mit aufblasbaren Gummitieren geprägt ist, zeigt sich im einige hundert Meter weiter westlich gelegenen Albissola Marina – im Folgenden kurz Albisola – mit seinen verwinkelten, in die Hügel ansteigenden engen Gassen ein anders Bild.42 Haus- und Wegdekorationen sowie die vielen kleinen Verkaufsräume der botteghe präsentieren stolz die jahrhundertealte Grundlage der kommunalen Wirtschaft  : Keramik. Seit dem 15. Jahrhundert nutzte man die Lehmgruben der Umgebung zur Tongewinnung und das Holz der nahen waldreichen Berge zur Befeuerung der Öfen. 42 Die unterschiedliche Schreibweise der beiden Kommunen resultiert aus einem Schreibfehler bei der Abschrift einer Urkunde. Die beiden Kleinstädte schreiben sich nicht nur unterschiedlich, jede hat auch eine eigene Stadtverwaltung mit eigenem Bürgermeister:innenamt. Wenn ich die Bezeichnung Albisola verwende, folge ich der in der Kunstgeschichte etablierten Praxis.

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Im 17. Jahrhundert kamen – angeregt nicht zuletzt durch die Importe der Niederländer aus Ostasien – Experimente mit verschiedenen Glasurverfahren hinzu. Wie überall in Europa gingen diese Produkte aus Ton – Gebrauchs- und Ziergeschirr sowie Fliesen und Reliefs zur Innenraumgestaltung von Profan- sowie Sakralarchitektur – vornehmlich auf die Märkte in der näheren Umgebung. Und wie auch an manch anderen Orten mit einer von Keramikproduktion geprägten Geschichte wurden auch in Albisola im Laufe der Zeit aus einigen der Werkstätten Manufakturbetriebe. Dies führte zu einer Spezialisierung der Handwerker:innen auf einzelne Arbeitsgänge. Zugleich entstanden mit den veränderten Abläufen in der Produktion Tätigkeitsbereiche für ungelernte, d.h. handwerklich ungeschulte Arbeiter:innen, die den Spezialist:innen zuarbeiten. Während Asger Jorn bei seiner Ankunft in Albisola bereits Einblicke in das gestalterische Arbeiten mit Ton und Glasur gewonnen hatte, konnten andere Künstler:innen, die keine Vorkenntnisse besaßen, in diese Rolle der Zuarbeiter:innen schlüpfen und auch sie auf diese Weise direkt am Produktionsprozess beteiligt werden. Dies war überhaupt nur möglich, weil in Albisola die Industrialisierung nur verhalten Einzug gehalten hatte. So waren zwar elektrisch betriebene Rohr- und Trommelmühlen zur Aufbereitung des Lehms zur Tonmasse sowie Öfen, die anders als die Holzbefeuerung durch Öl, Gas oder Strom ein konstantes Temperaturniveau halten konnten, angeschafft worden.43 Der Umstieg auf eine maschinelle Fertigung von Geschirr, wovon etwa die Keramikindustrie in England profitierte, erfolgte jedoch nicht. Auch den anderen Weg, der in der Kunstgeschichte als Beginn der modernen künstlerischen Keramik gilt und der gleichfalls besonders in England populär wurde, schlug man nicht ein. Man betrieb keine sog. studio pottery mit der Anfertigung von Einzelobjekten für Sammler:innen.44 Stattdessen blieb man in Albisola auch Anfang des 20. Jahrhunderts der herkömmlichen Handwerkspraxis im Wesentlichen treu und fertigte weiterhin Geschirr und Ausstattungsgegenstände in mehrheitlich traditionellen Formen, Farben und Motiven (Abb. 7). Einzig die Werkstatt von Giuseppe Mazzotti, der 1903 seinen Betrieb eröffnet hatte, entdeckte die zeitgenössische Kunst für sich als eine Marktlücke und produzierte als eine Ausnahme neben anderem auch vom Futurismus inspirierte Keramik, die vornehmlich an Sammler:innen verkauft wurde.45 43 Vgl. Edgar Denninger  : »Keramik und Porzellan«. In  : Reclams Handbuch künstlerischer Techniken, Bd. 3  : Glas, Keramik und Porzellan, Möbel, Intarsie und Rahmen, Lackkunst, Leder. Stuttgart 1986, 69 – 133, hier 79 und 109 – 110. 44 Vgl. Andrew Livingstone/Kevin Petrie (Hg.)  : The Ceramics Reader. London/New York, NY 2017. 45 Vgl. www.gmazzotti1903.it [Abruf 12.4.2023]. Die meisten der Entwürfe stammen, wie die hier gezeigte Teekanne, von dem in Bulgarien geborenen Nikolay Diulgheroff, der nach einer kurzen Ausbildung am Bauhaus in Dessau vor allem in den 1930er Jahren für Mazzotti arbeitete. Die Homepage der Fabbrica Mazzotti vermittelt einen guten Überblick über die Geschichte der Keramikproduktion am Ort. Vgl. auch die Informationen zur Geschichte des Ortes, dessen handwerklicher Tradition und seine Entwicklung als Anziehungsort für Künstler:innen, die das Museo Diffusa Albisola ( M U DA) auf seiner Homepage bereitstellt  : www.museodiffusoalbisola.it [Abruf 12.4.2023].

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(Abb. 8) Die meisten Produkte aus den Werkstätten von Albisola gingen jedoch auch Mitte des 20. Jahrhunderts, als Asger Jorn und seine Künstlerfreund:innen dort ankamen, immer noch an eine am Gegenstand und nicht an der Kunst interessierte Käuferschaft in der Region, die mit Alltagsgeschirr, Fliesen und anderen Dekorationsobjekten eine handwerklich geprägte Kultur weitertradierte. Arjun Appadurai bezeichnet derartige Objekte als »Ware«, die in einen Wirtschaftskreislauf eingebunden ist. Seine Argumentation basiert allerdings nicht auf volkswirtschaftlichen Modellen noch ist seine Perspektive durch kunsthistorische Formvergleiche motiviert, aus denen sich im Sinne der Stilkunde Mentalitäten ableiten lassen sollen. Vielmehr stellt er die Frage, welchen kulturellen und sozialen Stellenwert diese Ware zur Konturierung von Gesellschaft einnehmen kann.46 Das kulturtheoretische Modell, das Appadurai entworfen hat, kann helfen, die Situation in Albisola zu charakterisieren  : Hatte Karl Marx, auf dessen Begrifflichkeit der Wissenschaftler zurückgreift, Ware allein aus einer Perspektive der Produktion erfasst, bedeutet sie für Appadurai mehr. Für ihn haben Objekte, aufgeladen mit kultureller und politischer Symbolik, ein regelrechtes Sozialleben.47 Mit ihren kulturellen und sozialen Biographien stiften sie nämlich Beziehungen, die weit über Konsum hinausgehen. Schon mit ihrer Produktion nehmen sie Bezug auf Geschichte, strukturieren die soziale Ordnung und schaffen Kommunikationsstrukturen, indem sie mit ihren Funktionen immer auch die in sie eingegangenen Werte verhandeln. Konsument:innen verhalten sich zu diesem komplexen System, indem sie mit dem Erwerb und Gebrauch eine eigene Position zu Geschichte und Ethik und damit ihren Platz im Sozialgefüge einnehmen.48 Betrachtet man Albisola durch die Brille dieses Modells, so ist es nicht mehr allein der beschauliche Ort mit signaturartig gestalteten Außenräumen, in dessen Lädchen man als Besucher:in keramische Produkte in traditionellem Design erwerben kann. Das ganz und gar gegenwärtige Albisola schlägt darüber hinaus aktiv eine Brücke zur Vergangenheit  : Man hat sich entschieden, Annehmlichkeiten der technologischen Entwicklungen anzunehmen und in den Werkstätten Maschinen angeschafft, die den Töpfer:innen die Arbeit der Tonzubereitung und das Brennen der Scherben erleichtern. Auf eine Umstellung auf industrielle Fertigung, die zwar billigere, aber nicht mehr handwerklich gefertigte Waren erzeugt, hat man jedoch verzichtet. Damit ist die Differenzierung der sozialen Positionen in der Bevölkerung, die mit dem Manufakturwesen bereits in der Vormoderne Einzug gehalten hatte, nicht wesentlich weiter fortgeschritten  ; gleichzeitig profitiert man gegenüber früheren Zeiten von Errungenschaften der Moderne wie etwa dem Machtverlust der Feudalherrschaft zugunsten republikanischer Teilhabe an Mitbestimmung oder den modernen Systemen zur Versorgung mit Nahrungsmitteln, Strom und Wasser sowie einer modernen Verkehrs- wie Telekommunikationsstruktur. 46 Arjun Appadurai  : »Introduction. Commodities and the Politics of Value«. In  : Ders. (Hg.)  : The Social Life of Things. Commodities in Cultural Perspectives. Cambridge, MA u. a. 1986, 3 – 63. 47 Vgl. Appadurai 1986, 13. 48 Vgl. Appadurai 1986, 34 – 42.

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Abb. 7 Vase aus Albisola im Empire-Stil mit traditionellem Dekor (l.) Abb. 8 Nikolay Diulgheroff, Teekanne (1930er Jahre) aus der Fabbrica Mazzotti, Keramik Höhe 15,5 cm (r.)

Nur auf den ersten Blick mag daher in Albisola die Zeit stehen geblieben sein. Zum modernen Profil der Kommune gehört auch, dass diejenigen, die Keramiken aus Albisola kaufen, dies auch dezidiert wollen. Anders als in der Vergangenheit wird seit der Industrialisierung in Europa nicht mehr nur handwerklich produziert  ; man könnte eben auch industriell gefertigte Gefäße erwerben. Die Keramikwerkstätten von Albisola bedienen daher ein spezielles Marktsegment innerhalb einer aufgefächerten Konsumgesellschaft, in der man zwischen einer Fülle von unterschiedlichen Produkten wählen kann. Der Erwerb ihrer Ware stiftet somit – folgt man Appadurai – Sozialbeziehungen, die in einer industrialisierten Gesellschaft auf einer Wertschätzung des Handwerklichen beruhen. Dies kann unterschiedliche Gründe haben. Sie mögen nostalgisch motiviert sein, auf einem spezifischen Qualitätsbewusstsein oder anderem beruhen. Immer aber bedeutet die Entscheidung für das handwerkliche Produkt – die handwerklich erzeugte Ware – eine soziale Positionierung, mit der man auch zum Industrieerzeugnis und damit immer auch zum System der Industrieproduktion Position bezieht. Es ist überhaupt nicht auszuschließen, dass sich die Konsument:innen, die in den 1950er Jahren Keramik aus Albisola erwarben, in einem kulturellen Segment bewegten, in dem man seinen Haushalt mit industriell gefertigtem Geschirr ausstattete. Vielleicht hatten sie ihre Wohnung zudem mit dem ein oder anderen Stück möbliert und dekoriert, das als Industriedesign den Aufbruch in eine neue Wohnkultur de-

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monstrierte. Wie die vielen anderen, die diese modernistisch ideologisierte Praxis jedoch nicht pflegten, sie dezidiert ablehnten oder sich schlicht und einfach nicht leisten konnten, suchte man daneben aber immer auch den Anschluss an die Vergangenheit, den das Handwerk versprechen konnte. Keramik mit ihrer Einbindung in den täglichen Bedarf konnte somit auch auf der Ebene des Gebrauchs als Ware verschiedene soziale Gruppen und Interessen zusammenbringen. Sie fungierte und fungiert als ein gesellschaftliches Bindeglied. Asger Jorn hatte diese Merkmale von Material und Medium bereits Anfang der 1950er Jahre während seiner Genesungszeit in Silkeborg erkannt.49 Dass er mit seiner Familie das kleine, von den großen Zentren des Kunstbetriebs abseits gelegene Albisola als den Handlungsort auswählte, an dem er seine Theorie in die Realität umzusetzen anstrebte, resultierte jedoch aus einigen Zufälligkeiten. Nachdem er und sein kleiner Sohn Ole, den er mit Tuberkulose angesteckt hatte, für gesund erklärt worden waren und Dänemark verlassen durften, brach die Familie in Richtung Schweiz auf, um dort die wiedergewonnene Gesundheit in günstigem Klima zu stabilisieren.50 War es zunächst der Plan gewesen, bald weiter nach Vallauris zu ziehen, um dort mit Picasso und ortsansässigen Keramiker:innen zusammenzuarbeiten, so erfuhr Jorn zufällig von einer viel bescheideneren, dafür weniger kostenintensiven Alternative. Durch den Briefkontakt mit Enrico Baj, der in Mailand die Künstlergruppe Movimento nucleare gegründet hatte, erfuhr er von der Möglichkeit, die teure Schweiz verlassen und im Sommer­ atelier von Lucio Fontana in Albisola den Winter verbringen zu können.51 Gemeinsam mit Matie van Domselaer und den Kindern Martha, Olga, Ole und Bodil zog er über die Alpen ans Meer, wo die Familie bis zum Erwerb eines Hauses 1957 abwechselnd im Atelier oder auf einem Campingplatz in einem großen Zelt lebte.52 Albisola wurde für den Künstler mehr als ein temporärer Aufenthaltsort. Beim ersten Incontro erhielten alle Teilnehmer:innen von Jorn ein Schulheft, in dem sie die während der Zusammenarbeit geplanten und entstandenen Werke dokumentieren sollten. Nicht ohne Humor hatte er dafür Exemplare der Serie La mia patria ausgewählt, die auf dem Einband prominente Bauwerke und Denkmäler Italiens vorstellten. (Abb. 9) Man kann dies als liebenswerte Selbstidentifikation mit seinem neuen Standort lesen. Hatte Jorn zunächst im Kopf gehabt, etwas ähnliches zu praktizieren, wie es Picasso in Vallauris betrieb, so entstanden in Albisola ganz andere Dynamiken  : Mit Jorn wurde der Ort zu einem hot spot des internationalen Kunstbetriebs. Ehemalige CO B R A-Mit49 Vgl. Asger Jorn  : »Indtrykt af Silkeborgegnens pottermageri«. In  : Dansk Kunsthandværk 27 (1954), Heft 1, 11 – 15. 50 Vgl. Andersen 2001, 263. 51 Ein Großteil des Briefwechsels zwischen Enrico Baj und Asger Jorn aus diesen Jahren wurde veröffentlicht in  : Musée d’art moderne Saint-Etienne (Hg.)  : Baj/Jorn. Lettres 1953 – 1961. SaintEtienne 1989. 52 Das Wohnen der Familie Jorn auf dem Campingplatz in Albisola ist legendär. Vgl. auch die Erinnerungen von Martha Nieuwenhuijs, der Tochter von Matie van Domselaer, in einem Brief an Piero Simondo, 30.1.1997, in  : Lehmann-Brockhaus 2007, 227 – 229.

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Abb. 9 Vorderseite von Asger Jorns Werkstattheft vom Incontro internationale della ceramica in Albisola 1954, Privatbesitz

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glieder und andere Kontakte, die der Künstler aus seinen Aufenthalten in Paris hatte oder die aus seiner Bekanntheit in Skandinavien resultierten, sowie neue Bekanntschaften vornehmlich aus der Kunstszene in Mailand gaben sich in Ligurien schon bald die Klinke in die Hand. Einflussreiche Kritiker:innen und Kurator:innen wie Willem Sandberg aus Amsterdam und Lawrence Alloway aus London kamen in das kleine Küstenstädtchen, um Ateliers zu besuchen, Vorbereitungsgespräche für Ausstellungen und Aufsätze zu führen und daneben im Alltag das wiederauflebende touristische Leben in Italien zu genießen (Abb. 10). Anders als die Künstler:innenkolonien, die in der Moderne an vielen Orten entstanden waren und dort kleine Enklaven bildeten, nahmen die Künstler:innen in Albisola an der alltäglichen Produktionsarbeit teil. Auch wenn die meisten von ihnen keine Mitglieder der Kommune wurden und nicht wie später Asger Jorn und Wifredo Lam Grundbesitz erwarben, waren sie doch mehr als nur Zaungäste. In ihren Erinnerungen beschreibt die Künstlerin Lou Laurin Lam, die mit ihrem Lebensgefährten und späteren Ehemann Wifredo Lam erstmals 1957 nach Albisola kam  : […] People in Milan talked about Albisola as a center for ceramics and for artists in general. There was true “Albisolamania”. Most notably, the Futurist Manifesto had been drawn up in Albisola. The first of the important people to have brought Albisola into the limelight were Lucio Fontana, San Lazaro (editor of the magazine XXe Siècle), Tullio Mazzotti (poet, friend of the Futurists and owner of a large ceramics factory) and Carlo Cardazzo (an art dealer based in Milan and Venice) and his wife Milena Milani. All of the factories in Albisola, large or small, were famous for producing majolica and umbrella stands for commercial distribution. However, there was also a lot of scope for experimentation by modern artists. There were the Surrealists, the painters from the Cobra group, Informalists, Lettrists, Situationists, painters from the Spatialist and Phase movements, as well as the Nuclear movement, and numerous independent painters. Asger Jorn was the great Scandinavian guru, the theoretician behind not only the Cobra group but also the Movement for a Bauhaus Imaginiste and later, along with Guy Debord, the Situationism and the Institute for Compared Vandalism. […] The visiting artists, often with a family in tow, could afford a relatively cheap holiday near the beach, and, at the same time experiment with ceramics.53

Wie Laurin Lam anführt, gab es für die Zusammenarbeit von Künstler:innen und Handwerker:innen eine Tradition, die mit dem Futurismus begonnen hatte. Tatsächlich hatte Giuseppe Mazzotti nicht nur vom Futurismus inspirierte Keramik produziert. Sein Sohn Tullio hatte sich in den 1920er Jahren der Kunstszene in Mailand angeschlossen und neben Gedichten auch Skulpturen aus Keramik im väterlichen Betrieb gestaltet. Über ihn entstand der Kontakt zu den Kreisen der damaligen Regierung, 53 Lou Laurin Lam  : »Meet with Albisola« (2001). https://www.yumpu.com/en/document/read/649 42465/lou-laurin-lam-meeting-with-albissola [Abruf 12.4.2023].

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Abb. 10 In der Bar Testa in Albisola (1957). Im Uhrzeigersinn  : Asger Jorn, Lawrence Alloway, unbekannte Person, Aligi Sassu, Lucio Fontana, Emilio Scanavino. (Foto  : Gunni Busck)

der der Fabbrica Mazzotti in den 1930er Jahren, als Tullios Bruder Torido den Betrieb übernommen hatte, staatliche Großaufträge für keramische Wanddekorationen einbrachte.54 In dieser Zeit war auch Lucio Fontana erstmals nach Albisola gekommen und hatte bei Mazzotti Skulpturen aus Keramik angefertigt.55 Das Einwerben staatlicher Aufträge in den 1930er Jahren hatte die Kooperation mit der faschistischen Regierung unter Mussolini eingebracht, die nicht nur das ökonomische Überleben des Unternehmens Mazzotti absicherte. Offenbar hielt es die Familie damals darüber hinaus für opportun, die Idee von Italien als einer Weltmacht unter der Führung des Duce, die ihre Größe mit einem brutal geführten Krieg in Äthiopien soeben bewiesen hatte, ausdrücklich zu propagieren. Denn das von Laurin Lam erwähnte »Futurist Manifesto«, La ceramica Futurista. Manifesta dell’Aeroceramica, das 54 Vgl. Lehmann-Brockhaus 2007, 42 – 44. Vgl. auch Ausstellungskatalog Gallarate, Galleria d’Arte Moderna e Savona, Complesso Monumentale del Priamàr 2003  : »Albisola futurista  : la grande stagione degli anni Venti e Trenta«. Hg. von Fabrizia Buzio Negri. Gallarate 2003. Die Aufarbeitung dieser Zusammenarbeit ist ein Forschungsdesiderat und steckt wie zu der Zeit, als Lehmann-Brockhaus 2007 ihr Buch veröffentlichte, noch in den Kinderschuhen. Zur Kunstszene der Nachkriegszeit in Mailand vgl. Gabriele Huber  : Enrico Baj und die künstlerischen Avantgarden 1945 – 1964. Berlin 2003. 55 Vgl. White 2011.

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Tullio Mazzotti unter seinem Künstlernamen Tullio d’Albisola gemeinsam mit Filippo Tommaso Marinetti 1938 veröffentlicht hatte, hebt in einer für den Futurismus typisch martialen Sprache nicht nur die zeitgemäßen Möglichkeiten von Arbeiten mit Ton hervor. Es nennt auch Beispiele, wie man im öffentlichen Raum damit die Idee des Faschismus unterstützten kann  : mit Keramikwänden in Bahnhöfen und Sportanlagen oder an einem Postgebäude.56 Mit dem eindeutigen Ortsbezug zu Albisola trägt das Manifest vor allem die Handschrift von Tullio Mazzotti, der in der Veröffentlichung zudem die Produkte aus dem Familienbetrieb anpries. Auf den ersten Blick ist es verwunderlich, dass Asger Jorn und andere Künstler:innen, die während der Kriegsjahre aktiv im Widerstand gegen den Nationalsozialismus gearbeitet hatten, offenbar keine Schwierigkeiten darin sahen, in Albisola mit einem ehemaligen Parteigänger des Faschismus zu kooperieren. Zwar dokumentiert der Briefwechsel zwischen Jorn und Mazzotti eine eher nüchterne Geschäftsbeziehung.57 Die Fotostrecke zum Incontro internazionale della ceramica 1954, die die niederländische Fotografin Henny Riemers, Ehefrau von Corneille, anfertigte und die auf einigen der Bilder auch Tullio d’Albisola im Kreis der Teilnehmer:innen zeigt (vgl. Abb. 3),58 kann jedoch auch als Versuch gedeutet werden, ideologische Gräben überwinden zu wollen. Dass dies möglicherweise in Italien einfacher als anderswo in Europa war, hängt mit der spezifischen politischen und kulturellen Geschichte des Landes während des Faschismus zusammen. Bis heute gilt es immer noch, die damit verbundenen kunsthistorischen Dispositionen besser aufzuarbeiten. Bislang lässt sich nur beobachten, dass in Italien die Fronten zwischen Faschist:innen und Anti-Faschist:innen nie klar verliefen.59 Das resultiert auch daraus, dass hier der Faschismus in den langen Jahren seiner Herrschaft wiederholt sein kulturpolitisches Profil veränderte. Allerdings gab es bei diesen Wechseln eine Konstante  : einen massentauglichen Technikbezug, mit dem man sich der Ideologie des Futurismus folgend von einem humanistisch geprägten, bildungsbürgerlichen Kulturverständnis absetzen wollte. Anders als in Deutschland war die Verbindung von Faschismus und Avantgardeästhetik eine feste Allianz. Die Schwierigkeiten bei der Beurteilung von politischer Haltung gegenüber dem Faschismus hängen nicht zuletzt mit dem Ende der Ära Mussolini und der nach56 Vgl. Filippo Tommaso Marinetti/Tullio d’Albisola  : »La ceramica Futurista. Manifesta dell’ Aeroceramica«. https://www.futurismo.org/manifesto-dellaeroceramica/(zuerst in  : Gazetto del Popolo, Turin 7.9.1938) [Abruf 12.4.2023]. Das Manifest verweist auf den autobiographischen Text von Marinetti Il poema africano della Divisione «28 ottobre” (1937), in dem er seine Teilnahme am italienisch-äthiopischen Krieg 1935 – 36 verherrlicht. 57 Vgl. Briefwechsel zwischen Asger Jorn und der Fabbrica Mazzotti. In  : Jorn Archives, Museum Jorn, Silkeborg  : Breve fra Jorn til Mazzotti. Erbschaftsauseinandersetzungen führten 1959 dazu, dass Ceramiche Mazzotti geschlossen wurden. Die heutige Keramikwerkstatt Mazzotti wurde später von Torido Mazzotti unter altem Namen wiedereröffnet und arbeitet bis heute mit den alten, aus dem ersten Betrieb stammenden Modeln und Matritzen. 58 Vgl. Lehmann-Brockhaus 2007, 23 – 27. 59 Vgl. Huber 2003, 31 und 41.

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folgenden Zeit der Okkupation durch die Deutsche Wehrmacht zusammen. Deren Gräuel­taten gegen die Zivilbevölkerung waren gemeinschaftsstiftend  : Die Geschichte der letzten Kriegsjahre in Italien erleichterte es, eine Erzählung zu etablieren, dass es die aus Deutschland gekommenen Faschisten gewesen waren, die Menschen und Kultur vernichtet hatten. Während in Deutschland die ehemaligen Parteigänger:innen des Nationalsozialismus nach dem Zweiten Weltkrieg abtauchten oder ihre überholten Sympathien zu verbergen und zu verdrängen suchten, war es in Italien einfacher, ehemalige Mitstreiter:innen des Faschismus offen in das Kulturleben der Nachkriegszeit zu integrieren und zentrale Themen der Moderne weiter zu verhandeln, die Jahre zuvor vom Faschismus gekapert worden waren  : Gemeinschaft auch als soziale Identität, politische Potenziale von Kunst und deren Massentauglichkeit, die Rolle von technischen Innovationen vor allem mit Blick auf das Verhältnis von Mensch und Maschine. Die Idee, Kunst und Objekte des Alltags zur Gestaltung von Gesellschaft zu nutzen, konnte Futurist:innen und Postsurrealist:innen sowie die ehemaligen CO B R A-Aktivist:innen zusammenbringen. Offenbar diskutierten Asger Jorn und seine Künstlerfreund:innen derartige Themen allerdings nicht mit Tullio d’Albisola. Er war für sie nicht als Kunsttheoretiker und Gestalter, sondern als Mitinhaber einer Keramikmanufaktur interessant, die wie andere am Ort eine passende Infrastruktur liefern konnte.60 Nochmal Lou Laurin Lam  : Why Albisola  ? It is not Venice. It is not a particularly picturesque place  ; it has no particular charm. Like so many other small villages along the Ligurian coast, various uninspiring modern buildings have sprung up around a small historical core. Yes, the sea and the ceramics were omnipresent, but there was also a fervent internationalism. Artists from all over the world would come back year after year, the North Europeans on their way down to Rome, Naples or Sicily. They would stop off to spend a few days in Albisola to make ceramics which they could pick up a few weeks later on their way back from their Italian holiday, all baked and ready. Such organization, it was perfect  !61

Gilles Deleuze und Félix Guattari haben eine Situation, wie wir sie für die Nachkriegsjahre in Albisola beobachten können, als Mikrokosmos bezeichnet, der, wie sie es nennen, in einer molekularen Struktur verschiedene gesellschaftliche Bereiche miteinander verbindet und bedient. Eine Fokussierung des Alltags auf derartige Mikrostrukturen interpretieren sie als Fluchtbewegung, mit der man sich dominanten Codierungen entziehen und deren Neucodierung begünstigen kann. Vier Punkte benennen sie für eine derartige Situation als maßgeblich  : 1) Molekulare Strukturen sind bis in kleine Details 60 Hierzu gehört auch, dass Tullio Mazzotti vermitteln konnte, Keramiken, die während des ersten Incontro entstanden waren, auf der X. Triennale von Mailand im Dezember 1954 zeigen zu können. Vgl. Nicola Pezolet  : »Bauhaus Ideas  : Jorn, Max Bill, and Reconstruction Culture«. In  : October 141 (2012), Themenheft Asger Jorn, 86 – 110, hier 101. Vgl. weiter unten S. 85. 61 Laurin Lam 2001.

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wirksam und resultieren zugleich aus ihnen  ; 2. sie sind real und keine Imagination  ; 3. sie verhalten sich zu Makrostrukturen  ; 4. dieses Verhältnis ist proportional.62 Ausgehend von dieser Beobachtung lässt sich die Perspektive kalibrieren, mit der sich das Nachkriegsgefüge differenzierter erfassen lässt. Statt mit den etablierten Mustern zu arbeiten, mit denen man bislang entweder die Stunde Null und damit den Bruch mit dem Faschismus bemüht hat, oder die in der Regel an Personen festgemachten Kontinuitäten beschreibt, gilt es zu fragen  : Welches waren die Bedürfnisse – psychoanalytisch motiviert sprechen Deleuze und Guattari von Begehren63 –, auf denen der Mikrokosmos in Albisola basierte  ? Was waren die molekularen Eigenheiten der Mikrostruktur  ? Wie passten diese in die Makrostruktur  ? Mit Arjun Appadurais Verständnis von Ware war bereits eine Begründung für die trotz industrieller Fertigungsmethoden weiterhin auch ökonomisch erfolgreiche Handwerkspraxis in Albisola festgehalten worden. Historiographisch bedeutet dies, die damit verbundenen Sozialbeziehungen in den Blick zu nehmen, um dadurch die ideologischen Bedeutungen der künstlerischen Positionen besser fassen zu können. In den vergangenen Jahren spielte bei der Ausbildung neuer Strukturen im globalen Kunstbetrieb, die alte Hierarchien überwinden wollen, auch Albisola wieder eine Rolle. Hatte man seit den Tagen von Jorn dort weiterhin die Zusammenarbeit mit Künstler:innen gepflegt, so gewann diese Praxis zu Beginn des 21. Jahrhunderts neue Energie  :64 2001 veranstalteten Tiziana Casapietra und Roberto Costantino mit Bezugnahme auf den ersten Incontro internazionale della ceramica von 1954 und unter Einbeziehung der lokalen Werkstätten in Albisola die erste Biennale of Ceramics in Contemporary Art in Albisola. Zwei Jahre später hatte sich diese Schau in der Kunstszene bereits fest etabliert, wie ein Blick auf die Zusammensetzung der Auswahlkommission zeigt  : Mit Nelson Herrera Ysla, dem Begründer des Wifredo Lam Contemporary Art Center in Havanna, Vasif Kortun, Leiter des Istanbul Museum of Contemporary Art, Hans-Ulrich Obrist, damals Kurator am Musée d’Art Moderne de la Ville Paris, Olu Oguibe, Kurator verschiedener Großausstellungen zu zeitgenössischer Kunst aus und in Afrika sowie Young Chuke, dem künstlerischen Leiter der Gwangju Biennale, liest sich die Liste der Namen nicht nur wie ein Who Is Who des internationalen Kunstbetriebs zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Sie dokumentiert vielmehr auch, dass Keramik tatsächlich eine künstlerische Ausdrucksform ist, die als Verhandlungsmedium im globalen Kunstbetrieb fungieren kann. In Albisola führte diese Entwicklung 2011 zur Eröffnung des Museo Diffuso Albisola (MUDA), das neben der Aufgabe, die Keramiktradition am Ort als ein kulturelles Erbe zu schützen, das Ziel verfolgt, ein Forum für deren aktuelle Bedeutung zu bieten.65 62 Vgl. Deleuze/Guattari 1992, 290 – 295. 63 Vgl. Deleuze/Guattari 1992, 293. 64 Vgl. www.museodiffusoalbisola.it [Abruf 12.4.2023]. 65 Vgl. www.museodiffusoalbisola.it [Abruf 12.4.2023]. Zum Aufgabenbereich von M U D A gehört auch die Betreuung der Casa Jorn in Albisola, die nach Gründung des Museums renoviert und als öffentlich zugängliches Künstlerhaus hergerichtet wurde.

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Damit wird zugleich noch ein weiterer Aspekt deutlich, der sowohl in methodischer Hinsicht aufschlussreich ist als auch Perspektiven für das theoretische Fundament einer globalen Kunstgeschichte eröffnet  : Caroline Levine hatte in Auseinandersetzung mit dem Vorwurf, bei der Betrachtung von Kontexten einen eigenen Kosmos zu konstruieren, der in seiner untersuchungsspezifischen Selektivität nicht der Komplexität von Wirklichkeit gerecht werden kann, für ein Modell des begrenzten Ganzen, einer bounded wholeness, plädiert.66 Dieses hat nicht den Anspruch, Wirklichkeit in ihrer Gesamtheit rekonstruieren zu wollen, wohl aber wesentliche, wenn nicht maßgebliche Aspekte so vorzustellen, dass sich daraus aussagefähige Strukturen entwickeln lassen. Das begrenzte Ganze, als das Albisola hier fungiert, erlaubt es einerseits, eine für das Nachkriegsgefüge relevante Vielfalt erfass- und beschreibbar zu machen. Andererseits bleibt es in seiner Beschränkung und Konzentration offen genug, Verbindungen zu weiteren synchronen wie auch diachronen Entwicklungen aufzeigen zu können, die für das wissenschaftliche System einer globalen Kunstgeschichte ordnungsstiftend sein können. Im Knotenpunkt Gemeinschaft ist es ein Strang, der Verhandlungsprozesse über veränderte Auffassungen von Ästhetik im Verhältnis zu Arbeit diskutieren lässt. Mikropolitiken

Eine Auseinandersetzung mit Konzepten von Gemeinschaft bedeutet immer auch, sich mit den Handlungsräumen ihrer Mitglieder zu beschäftigen. Denn wenn nicht mehr eine einzelne Person, sondern ein Kollektiv handelt, können damit Statusveränderungen des Subjekts einhergehen. Zuletzt war im gegenwärtigen Kunstbetrieb zu beobachten, dass Praktiken von Gemeinschaft, Partizipation und Kollaboration tatsächlich zu neuen Beziehungen im Miteinander führen und es mit dem Aufbrechen alter Ordnungen zu Veränderungen im Kunstverständnis kommt. Allerdings »[…] birgt die Idealisierung von Kollektivität aber auch die Gefahr, reale Hierarchien, Abhängigkeiten, Neid und Interessenskonflikte nicht zu erkennen und somit die Privilegien Einzelner unter dem Deckmantel der Kollektivität zu legitimieren  ; […]«67. Wenn in kollaborativen Projekten am Ende allein das in Europa generierte bürgerliche Ideal der männlich gedachten Künstlerindividualität Bestätigung findet und die Bedingungen der damit verbundenen Werteordnung nicht mitverhandelt werden, bleibt die proklamierte Emanzipation zuvor marginalisierter oder gar übersehener Positionen eine Floskel, die keinerlei Konsequenzen nach sich zieht. Diese Problematik gilt nicht nur für die aktuelle Kunst. Das Gemeinschaftsideal spielt in der symbolischen Ordnung der modernen bürgerlichen Gesellschaft grundsätzlich eine konstitutive, zugleich aber auch prekäre Rolle. Einerseits garantiert seine 66 Vgl. Levine 2017, 24 – 48. 67 Katharina Hausladen/Genevieve Lipinsky de Orlov  : »Vorwort«. In  : Texte zur Kunst 31 (2021), Heft 124, 4 – 7, hier 6.

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Präsenz das Versprechen auf Individualität. Denn hätte jene keinen Gegenpart und bestände die Gesellschaft nur aus einer Ansammlung von Individuen, gäbe es keinen gemeinsamen Fluchtpunkt und alles würde auseinanderfallen. Andererseits zielt die Betonung von Gemeinschaft auf die Sicherung einer Gesellschaftsordnung, in der Privilegien zugunsten einiger weniger ungleich verteilt sind.68 Die Gemeinschaftsideologie, bei der Rhetorik und Realität auseinanderfallen, thematisiert daher nicht nur ein heute präsentes Phänomen im zeitgenössischen Kunstbetrieb, sondern ein konsti­ tutives Problem moderner Gesellschaften, die ihr Versprechen von Gleichheit allein politisch nicht einlösen können. Zugleich lässt sich nicht übersehen, dass verbunden mit der Entgrenzung einer idealistischen Ästhetik Veränderungen Fuß fassen und so heutzutage im Kunstbetrieb kulturelle, politische und ökonomische Praktiken ein Forum finden können, die alternative Konzepte von Gemeinschaft verfolgen. Daher stellt sich die Frage nach Vorläufern und Vorbildern, die auf der Ebene von Mikropolitik zunächst ungerichtet damit begonnen haben, einen Weg für diese Entwicklung zu öffnen. Die Suche nach Antworten konfrontiert mit einer weiteren Forschungsproblematik zur Kunst in der Nachkriegszeit. Die ernüchternde Feststellung, dass die künstlerischen Gemeinschaften nur Etiketten sind, um doch wieder das Ideal einer patriarchalen Strukturen verpflichteten, selbstverantwortlichen und gefestigten Subjektivität zu manifestieren, die in der symbolischen Figur des Künstlers eine Vervollkommnung erfährt, wird nicht zuletzt dadurch getragen, dass Publikationen und Ausstellungen immer wieder die Leistungen Einzelner hervorheben, statt zu betrachten, welchen Stellenwert sie innerhalb eines Systems einnehmen. Dieses Desiderat lässt sich nicht mit einem Streich beseitigen. Es kann daher zunächst nur darum gehen, Sollbruchstellen, die in den vergangenen Jahren bereits ausgemacht wurden, in ein Verhältnis zu bringen und die Ansätze einer Neuperspektivierung voranzubringen. In zwei Feldern erweist sich die Forschungslage in besonderem Maße als defizitär  : Zum einen wurde die Rolle von Künstlerinnen, wie überhaupt von Frauen weitgehend ausgeblendet. Zum anderen spielte bislang das Verhältnis von Kunst, Handwerk und industrieller Produktion allenfalls in Debatten zur Designentwicklung eine Rolle, während die Aktivitäten von Künstler:innen, die sich damit auseinandersetzten – im Kontext der Keramik habe ich das bereits vorgestellt – weitgehend vernachlässigt wurden. Beide Bereiche berühren nicht zuletzt ein zentrales Thema, das mit Künstlertum, Kreativität, Ökonomie und Politik verbunden ist und das in den Industriegesellschaften schon länger diskutiert wurde  : das Verhältnis von Mensch und Maschine. Kriegszerstörungen, Atombombe, die Aktivitäten zur Reorganisation der europäischen Gesellschaften und nicht zuletzt die Wiederaufrüstung führten zu neuen Akzentsetzungen und dabei auch zu Neupositionierungen in der Kunst. Im Folgenden will ich mit Interesse an den Verhandlungsprozessen, die ein Gefüge in ständiger Bewegung halten, den Blick auf diejenigen Zusammenhänge werfen, bei 68 Vgl. Helmut Draxler  : »Das Wir-Ideal. Zur Kritik der Kollektivität«. In  : Texte zur Kunst 31 (2021), Heft  124, 42 – 63.

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denen sich proklamierte, aber auch gelebte Bruchstellen im Verhältnis von Kollektivität und Subjektivität ausmachen lassen. Die Schattenfelder, die durch die nur selektive Aufarbeitung der Kunstgeschichte der Nachkriegszeit bestehen, lassen sich dabei zwar nicht ausreichend ausleuchten. Jedoch ist es möglich herauszuarbeiten, welche Gemengelagen es zukünftig noch intensiver zu untersuchen gilt, um die Spezifika des Nachkriegsgefüges von Europa auch im Verhältnis zu anderen Kulturen besser benennen zu können. Der idealistische Subjektentwurf, der im konventionellen Kunstverständnis Europas einen so wichtigen Bezugsrahmen darstellt, wird dabei nicht als absolute, sondern als eine relative Größe verstanden, die sich ständig legitimieren muss. Entstanden damals Dynamiken, die Neukonfigurationen einforderten  ? Auch wenn Asger Jorn ein »Scandinavian guru« war, als den ihn Lou Laurin Lam bezeichnete,69 stellt sich die Frage, ob sein Projekt in Albisola dennoch Anteil daran haben konnte, das Nachkriegsgefüge nicht nur zu einem temporären Knirschen, sondern dieses auch in Bewegung zu bringen. Mit Blick auf drei unterschiedliche Gemeinschaftsprojekte soll dies im Folgenden diskutiert werden  : COB RA, hier bereits schon mehrmals genannt, war eine der zahlreichen Gruppen, die Künstler:innen nach dem Zweiten Weltkrieg gründeten, um sich mit ihren Interessen zu vernetzen. Die Besonderheit von CO B R A besteht in der räumlich dezentralen Struktur und einer Kollaborationspraxis, die die Familien und Lebenspartnerschaften als Sozialverbände einbezog. Asger Jorn war einer der Mitbegründer von COBR A und einer ihrer wesentlichen Motoren. Mit CO B R A wird auch deutlich, wie wichtig es ist, eine Kunstgeschichte, die sich allein auf einen Ost-West-Gegensatz oder die transatlantischen Beziehungen zwischen Paris und New York konzentriert, zu überwinden, und beim Blick auf Europa auch bislang vernachlässigte Regionen wie etwa die skandinavischen Länder, die mit Dänemark für CO B R A eine konstitutive Rolle spielten, einzubeziehen.70 Mouvement international pour un Bauhaus imaginiste ( M.I.B.I.) war eine Vereinigung, deren Konzept Jorn seit 1954 als ein Gegenmodell zur Hochschule für Gestaltung (HfG) in Ulm nutzte, die als selbsterklärte Nachfolgeorganisation des Bauhauses auftrat. Als ein Verbund für den Gedankenaustausch diente M.I.B.I. zugleich als begrifflicher Rahmen, mit dem die Aktivitäten in Albisola öffentlich kommuniziert wurden. Die Situationistische Internationale (SI), deren Mitbegründer Jorn 1957 war und die er auch nach seinem Austritt 1961 sein Leben lang weiter finanzierte, entstand aus einem Zusammenschluss von M . I . B. I . und anderen Gruppen. Mit ihr erweiterte sich nicht nur der Raum der Aktivitäten. Sie ist die Gruppierung, die bereits unter veränderten Bedingungen der Nachkriegszeit agierte. Mitte der 1950er Jahre hatten sich die politischen und militärischen Fronten mit N ATO und Warschauer Pakt verhärtet. Technologieentwicklungen, der Umgang mit Menschenrechten und die Diskussion über ökonomische Grundlagen eines Staates wurden in die Entwürfe für Szenarien neuer Kriege einbezogen und machten neue gesellschaftliche 69 Vgl. Laurin Lam 2001. 70 Vgl. Greaves 2014, 49 – 50.

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Gegenbewegungen erforderlich. Die Situationistische Internationale mischte vor allem in den 1960er Jahren in diesen Protestbewegungen mit, die sich für alternative Politiken stark machten. Dies ist nicht mehr Gegenstand dieser Untersuchung. Ich schaue hier allein auf die Zeit, in der Jorn aktives Mitglied war und untersuche, welche Bedeutung die Gründung von SI für die mikropolitischen Verwirbelungen haben konnte. Mit dem großformatigen Wandrelief Århus Vægkeramik (1959) wird abschließend eine von Asger Jorn initiierte Kollaboration in die Reflexion einbezogen, deren Auftrag, Produktion und Installation ein instruktives Beispiel für sein Konzept von Mikropolitik ist, das auf der Grenze zwischen Kunstbetrieb, Sozial- und Wirtschaftspolitik angesiedelt war und dabei Jorns Vorstellung vom Verhältnis von Künstler:in und Gemeinschaft praktizierte. Die chronologische Abfolge dieser Projekte und ihre unterschiedlichen Betätigungsfelder beschreiben zugleich, wie Jorns Vorstellungen von Kollaboration durch Praxis Kontur gewannen und wo eine Positionsveränderung des Subjekts für ihn an Grenzen stieß. COB RA Asger Jorn war ein kommunikativer Mensch, der immer wieder Allianzen schmiedete, um sich dann wie bei COB RA mit seinen Partner:innen zu überwerfen oder wie bei der Situationistischen Internationale eigensinnig zurückzuziehen. In allen Gruppen, in denen der Künstler nach dem Zweiten Weltkrieg aktiv war, ging es darum, gesellschaftliche Veränderungen mit künstlerischen Mitteln auch dadurch voranzubringen, dass die Enge des bürgerlichen Kunstbetriebs aufgebrochen und Kunst sozial breiter aufgestellt werden sollte. COB RA , die erste dieser Gruppen, mit der sich Jorn in einem internationalen Rahmen engagierte, repräsentiert dabei maßgebliche Entwicklungen, Kontroversen und Bruchstellen, die in der Kunstgeschichte nach dem Zweiten Weltkrieg relevant waren. Ein neugieriger Umgang mit den Ausdrucksmöglichkeiten von Material, dessen Verortung im sozialen Kontext und dabei das Ausloten der Rolle von Künstler:innen waren dabei signifikante Faktoren. CO B R A war daher nicht nur ein weiterer Zusammenschluss von Künstler:innen, um sich untereinander der eigenen Position versichern zu können. Durch die Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs, der mit der Weltordnung auch den Kunstbetrieb in Europa durcheinandergewirbelt hatte, war eine grundsätzliche Neuverortung dessen notwendig geworden, was man unter Kunst verstehen wollte. Hierzu gehörte neben und mit den Debatten über die Rolle des Menschen eine Neubewertung von Maschine und Handwerk genauso wie die Revision von Materialien, Medien und Fertigungsweisen, die Neukonturierung von Öffentlichkeit und das weitgehende Ignorieren einer nationalen Ordnung, die in der frühen Moderne eine so identitätsstiftende Rolle gespielt hatte. Auch wenn sie nur in geringer Auflage publiziert wurden und der Kreis der Abnehmer:innen klein blieb  : Von Beginn an suchten die Mitglieder von COB RA explizit den Kontakt mit der Öffentlichkeit durch ihr gleichnamiges Publikationsorgan, um ihre Positionen zu verbreiten und zur Diskus-

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Abb. 11 Egill Jacobsen, Asger Jorn und Carl-Henning Pedersen, Umschlagentwurf für Cobra. Bulletin pour la coordination artistique Nr. 1 (1949), Lithographie

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sion zu stellen. Die Arbeit an und mit Cobra, als deren Chefredakteur Christian Dotre­ mont fungierte und in deren Redaktion der im Zusammenhang mit dem Incontro vorgestellte Edouard Jaguer einer der Redakteur:innen war, für deren einzelne Ausgaben jedoch verschiedene Künstler:innen verantwortlich zeichneten, bildete dabei den Rahmen, ihre programmatisch so differenten Grundsätze wie die Überwindung von Subjektzentrierung oder Experimente mit konventionell ungewöhnlichen Materialien zu debattieren.71 So war das Cover für die allererste Ausgabe eine Gemeinschaftsarbeit von Egill Jacobsen, Asger Jorn und Carl-Henning Pedersen, die bereits bei der in Dänemark erscheinenden Zeitschrift Helhesten miteinander kooperiert hatten. (Abb. 11) Alle drei verfolgten das Interesse, individuelle Kreativität in Formen von Kollaboration zu überführen, bei denen die Handschrift von Einzelnen in ein Gesamtbild aufgeht. Einen ganz anderen Zugang wählte Raoul Ubac für die Gestaltung des Deckblatts von Cobra Nr. 7. Er beschäftigte sich mit den materiellen Bedingungen, die die Natur seiner ost-belgischen Heimat mit Schiefer bereitstellt, und schnitzte die Druckplatte aus dem spröden Material, dessen Abbau damals auch eine ökonomische Grundlage der Region war. (Abb. 12) Ein derart ökologisches Interesse, das in der gestalterischen Arbeit Naturgeschichte mit Zivilisationsgeschichte zu verbinden sucht, begegnet uns auch bei Asger Jorns norditalienischem Künstlerfreund Giuseppe Pinot Gallizio, von dem weiter unten noch die Rede sein wird.72 Zahlreiche Ausstellungen, die retrospektiv erfolgten, sowie die Präsenz von Werken der COBRA-Künstler:innen auf dem Kunstmarkt haben dieser kurzlebigen Gruppe ­einen festen Platz im kunsthistorischen Gedächtnis verschafft. Nicht zuletzt große Ausstellungen zum 50-jährigen Gründungsjubiläum 2008 in Amstelveen, dem Standort des Cobra-Museums, und Brüssel kommt der Verdienst zu, mit ihren akribischen Dokumentationen Informationen über die verschiedenen Aktivitäten dieser Vereinigung zusammengestellt zu haben.73 Das Narrativ, das diesen Ausstellungen zugrunde lag, wurde allerdings der Komplexität dieser Gruppe nicht gerecht. Wie auch in Publikatio­ nen wurde COBRA hier vor allem unter stilkundlichen Aspekten als ein spielerischer Neoprimitivismus verhandelt, bei dem nicht mehr ganz junge Männer mit kindlichen 71 Die erste von insgesamt zehn Ausgaben erschien 1949 in Kopenhagen und wurde von Robert Dahlmann Olsen herausgegeben, bevor sich mit der Möglichkeit, die Lithographiepresse der Alechinskys in Brüssel nutzen zu können, die koordinierenden Tätigkeiten nach Belgien verlagerten. Nr. 4 erschien in den Niederlanden, Nr. 5 in der Bundesrepublik Deutschland. Das Doppelheft 8/9, für das die Skandinavier:innen verantwortlich waren, wurde zwar bis zur Fertigstellung der Druckfahnen montiert, konnte jedoch aufgrund von Finanzierungsschwierigkeiten nicht gedruckt werden. Zudem war Asger Jorn, bei dem die Fäden für diese Ausgabe zusammenliefen, zu dem Zeitpunkt bereits schwer erkrankt und arbeitsunfähig. 72 Vgl. weiter unten S. 111 – 116. 73 Vgl. Ausstellungskatalog Amstelveen, Cobra Museum voor Moderne Kunst 2008  : »Cobra 1948 –  1951. Terug naar de bronnen van kunst en leven«. Hg. von Willemijn Stokvis  ; Ausstellungskatalog Brüssel, Musées royaux des Beaux-Arts de Bélgique/Koninklijke Musea voor Schone Kunsten van België 2008  : » CO B R A«. Hg. von Anne Adriaens-Pannier/Michel Draguet.

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Abb. 12 Raoul Ubac, Druckplatte mit Umschlagentwurf für Cobra. Bulletin pour la coordination artistique Nr. 7 (1950), Schiefer 30 × 20 cm, Sammlung Alechinsky

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Formen experimentiert haben sollen.74 Es war erneut Karen Kurczynski, die mit einer material- und kenntnisreichen Untersuchung unlängst herausgearbeitet hat, dass COBRA am allerwenigsten einen gemeinsamen Stil und auch alles andere als eine Neuauflage von Primitivismus anstrebte.75 Vielmehr war es das erklärte Ziel, die durch den Krieg verursachten Traumata mit den Mitteln der Kunst aufzufangen und sie in eine produktive, die Gesellschaft befriedende Richtung zu lenken. Anders als im Primitivismus sollten dabei kulturelle Hierarchien abgebaut werden, indem man sich dem, was zuvor marginalisiert worden war, – zumindest in der Theorie – neugierig annäherte. COBRA dachte und agierte konsequent politisch und war eine Nachkriegsantwort der im Krieg in Europa gebliebenen Künstler:innen auf die ins Exil vertriebenen Surrealist:innen. Obwohl die dezentral aufgestellte Gruppe nur kurze Zeit existierte und dabei in einer Region der Welt arbeitete, deren Infrastruktur teilweise noch zerstört war, knüpfte COBR A innerhalb weniger Jahre ein über die Dauer ihrer Existenz hinausreichendes stabiles Netzwerk von Gleichgesinnten, die als gemeinsames Ziel verfolgten, mit den Mitteln von Kunst aus einer surrealistischen Perspektive am Wiederaufbau der Gesellschaft teilzuhaben und diese dabei nachhaltig zu befrieden. Die Erfahrungen von Krieg, Genozid an den Jüd:innen in Europa und der Abwurf der Atombomben über Japan hatten bei diesen Künstlerinnen und Künstlern das Interesse am Unbewussten modifiziert. Zwar wurde weiterhin wie schon in den 1920er und 1930er Jahren das Unvernünftige, das man mit dem animalischen Erbe des Menschen in Verbindung brachte, diskursiviert. Allerdings war dabei nun nicht mehr wie in den Jahrzehnten vor dem Zweiten Weltkrieg Individualpsychologisches themenbestimmend. Vielmehr rückten die allgemeinen Strukturen, die alle Menschen betreffen, in den Fokus. Die Differenzen, die dadurch zu den maßgeblichen Positionen der Vorkriegszeit auftraten, wurden 1947 anlässlich der ersten großen Nachkriegsausstellung zum Surrealismus deutlich, die die inzwischen aus dem Exil nach Frankreich zurückgekehrten Doyens André Breton und Marcel Duchamp unter dem Titel Le surréalisme en 1947. Exposition internationale du surréalisme in der Galerie Maeght in Paris eingerichtet hatten.76 Die Jüngeren, die zumeist während des Krieges in Europa geblieben waren, kritisierten, dass es diese Ausstellung nicht schaffte, die Drastik des Lebens zu kommunizieren. 74 Auch die Überblicksdarstellungen von Willemijn Stokvis, die maßgeblich die Diskussionen über CO B R A geprägt haben, folgen diesem Narrativ. Vgl. Willemijn Stokvis  : Cobra. The Last AvantGarde Movement of the Twentieth Century. Aldershot 2004. Das Buch ist die gekürzte Ausgabe der zunächst auf Niederländisch erschienenen Dissertation von Stokvis Cobra de weg naar spontaniteit (1973), die zum Zeitpunkt der englischsprachigen Ausgabe in den Niederlanden bereits vier Auflagen erfahren hatte. Zwar diskutiert Stokvis weder die Rolle der Künstlerinnen noch den Aspekt der Intermedialität. Ihr Buch ist mit der Zusammenstellung nicht zuletzt des umfangreichen Abbildungsmaterials bis heute jedoch eine wertvolle Ressource. 75 Vgl. Kurczynski 2021a. Asger Jorns Rolle bei CO BRA schildert Kurczynski komprimiert in dem Aufsatz Karen Kurczynski  : »Asger Jorn and Cobra. A Multi-Headed Beast«. In  : Benedikt Hjartason u. a. (Hg.)  : A Cultural History of the Avantgarde in the Nordic Countries. Leiden/Boston, MA 2019, 161 – 188. 76 Vgl. Kurczynski 2021a, 81 – 82.

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Auch die Möglichkeiten, künstlerisch auf die Struktur der Gesellschaft einzuwirken, wurden aus ihrer Sicht nicht genutzt. Wie Karen Kurczynski schreibt  : To many younger artists, the Surrealist movement of the late 1940s seemed apolitical and aesthetically out of touch, while the Communist Party was too rigid and political in its support for representational painting. Although inspired by the artistic experiments and anthropological investigations of earlier Surrealism, the future Cobra artists sought a new way to connect abstract experiments to the material conditions of everyday life, in part because life had been so irrevocably disrupted by the war.77

Es sollte noch ein gutes Jahr dauern, bis der Austausch über das Unbehagen an der Kunstpraxis der älteren Surrealist:innen in die organisatorische Form einer programmatischen Vereinigung mündete. Im November 1948 wurde die Künstler:innengruppe COBR A in einer Pariser Bar gegründet, bei der im Wesentlichen diejenigen zusammenfanden, die schon gemeinsam Nachkriegsperiodika betrieben hatten  : Reflex in den Niederlanden, Høst in Dänemark und Le Surréalisme révolutionnaire in Belgien.78 All of Cobra’s key artistic practices – spontaneity, experimentation, collectivism, symbolic abstraction, anthropological investigation, and the celebration of marginalized cultures where already developed in the Danish Høst group. The Belgians would contribute their close ties to Surrealism and the hegemonic francophone culture of art, photography and cinema, and the Dutch would pioneer a vivid and direct aesthetic through the close artistic dialogue of the painters in Amsterdam.79

Paris sollte auch in den folgenden Jahren der Ort sein, an dem sich die CO B R A -Akti­ vist:innen immer wieder trafen. Doch nicht nur im Namen der Gruppe, der sich von den Metropolen Kopenhagen, Brüssel und Amsterdam ableitet, sondern auch in der Praxis hatte für sie die alte Hauptstadt der Moderne ihren zentralen Stellenwert verloren. Charakteristisch für COB RA ist die dezentrale, internationale und intermediale Ausrichtung. Charakteristisch ist aber auch das Interesse an Prozessen. Dieses drückt sich nicht zuletzt in der Gruppendynamik aus und erschwert es, die Geschichte von COBRA, die nur wenige Jahre zwischen 1948 und 1951 existierte, so zu rekonstruieren, dass sie in ihrer Vielseitigkeit und Vielschichtigkeit überschaubar bleibt. Anders als die Surrealist:innen, bei denen dogmatisch Ausschlüsse betrieben wurden und die Aufnahme von Mitglied77 Kurczynski 2021a, 57. 78 Vgl. Stokvis 2004, 182 und Kurczynski 2021a, 34. Dabei waren Reflex und Le Surréalisme révolutionnaire ausgesprochen kurzlebige Journale  : von Reflex, herausgegeben von der Amsterdamer Künstler:innengruppe Nederlands Experimentele Groep von Constant und Jan Nieuwenhuijs, erschienen lediglich zwei Ausgaben, von Le Surréalisme révolutionnaire, die Christian Dotremont und Noël Arnaud verantworteten, sogar nur eine einzige Nummer. 79 Kurczynski 2021a, 44.

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schaften penibel dokumentiert wurde, war COBRA eine vergleichsweise offene Gemeinschaft. Dementsprechend gab es auch kein Mitgliederverzeichnis. Stellt man die Namen zusammen, die mit COBRA ausstellten oder die für die gleichnamige Zeitschrift Cobra publizierten, kommt man auf ca. 40 Personen aus zwölf verschiedenen Ländern.80 Die meisten Beteiligten kamen aus Dänemark, Belgien und den Niederlanden, aber auch Künstler:innen, Kritiker:innen und Ausstellungsmacher:innen aus Frankreich, England, Schottland, Island, Schweden, Deutschland, Ungarn, Indonesien, Südafrika und Japan schlossen sich COBRA an. Diejenigen, die die Zusammenstellungen der Ausstellungen und das Profil der Zeitschrift nicht zuletzt durch ihre Kontroversen maßgeblich bestimmten, waren neben Asger Jorn Constant, Corneille, Karel Appel und Christian Dotremont  ; später kam Pierre Alechinsky hinzu. Er und seine Ehefrau Micky stellten ihre Lithographiepresse in Brüssel zum Druck der Zeitschrift Cobra zur Verfügung, von der insgesamt zehn Ausgaben erschienen. Mit diesem Periodikum wurden als eine Art Beilage von Cobra zudem vier Ausgaben von Petit Cobra publiziert.81 Außerdem gab COBRA kleine, aufwändig und sehr unterschiedlich gestaltete Künstler:innenmonographien heraus, in denen jeweils ein Mitglied ein anderes vorstellte.82 Neben diesen zwar nur in geringen Auflagen veröffentlichten, aber zeitaufwändig produzierten Druckwerken organisierte die Gruppe Ausstellungen, darunter zwei große Gemeinschaftsausstellungen, die 1949 in Amsterdam und 1951 in Liège/Lüttich stattfanden. Vor allem mit der ersten Schau gelang es, sich im Kunstbetrieb als Gruppe bekannt zu machen. Willem Sandberg, prominenter Widerstandskämpfer gegen die Nazi-Okkupation in den Niederlanden und nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs Direktor des Stedelijk Museum in Amsterdam,83 hatte dafür das von ihm geleitete Haus zur Verfügung gestellt. Berichte über dieses Ereignis dokumentieren nicht nur eine Vielheit von Darstellungsweisen, sondern auch eine programmatische Ungeschlossenheit, die zwischen dadaistischer Provokation, formanalytischen Recherchen und kulturpolitischer Offenheit changiert und an der CO B R A letztlich auseinanderbrechen sollte.84 Mit der zweiten Gruppenausstellung im Musée des Beaux Arts in 80 Vgl. Kurczynski 2021a, 35. 81 Vgl. Stokvis 2004, 185 – 186 und Kurczynski 2021a, 47. Petit Cobra wurde zunächst als ein schreibmaschinenschriftliches Bulletin mit Informationen zu Veranstaltungen geplant, erschien dann aber auch in gedruckter Form. Für vier Ausgaben erstellte Joseph Noiret unter dem Titel Le tout petit Cobra Einlegeblätter mit eigenen sowie von anderen verfassten Gedichten, die ihn begeistert hatten. 82 Von diesen von Christian Dotremont als Reihenherausgeber verantworteten Büchern, die den Grundstock einer von diesem geplanten Bibliothèque de Cobra ausmachen sollten, erschienen insgesamt 15 Titel. 83 Vgl. Ad Petersen  : Sandberg  : graphiste et directeur de Stedelijk Museum. Übersetzung David Cunin. Paris 2007  ; sowie Ank Leeuw-Marcari  : Willem Sandberg. A Portrait of an Artist. Amsterdam 2013. Zur Rolle von Willem Sandberg bei der Rekonstruktion einer europäischen Kunst nach dem Zweiten Weltkrieg vgl. auch Eva Forgács  : »Shaping the New Narrative of a New Europe in Art«. In  : Lange/Hildebrandt/Pietrasik (Hg.) 2020, 31 – 50. 84 Vgl. Stokvis 2004, 203 – 208.

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Liège/Lüttich 1951, für die Nr. 10 von Cobra als Ausstellungskatalog fungierte, liefen die gemeinsamen so enthusiastisch begonnenen Aktivitäten ohne Diskussion sangund klanglos aus.85 In Vertretung von Asger Jorn und Christian Dotremont, die beide lebensbedrohlich an Tuberkulose erkrankt und arbeitsunfähig waren, betreute Pierre Alechinsky die letzte Ausstellung und die letzte Ausgabe der Zeitschrift. Von Beginn an suchte COB RA die Öffentlichkeit und betonte den kollaborativen Ansatz ihrer Praxis  : Gemeinschaftsarbeiten wurden produziert, man traf sich mit allen Familienmitgliedern zu gemeinsamen Ferienaufenthalten sowie weiteren Freizeitaktivitäten, und vertrat nach außen den Eindruck von Zusammenhalt, auf dessen Basis auch Entscheidungen gemeinschaftlich getroffen und vertreten wurden.86 Allerdings bestimmten keinesfalls alle Beteiligten, was ausgestellt oder was publiziert werden sollte. Die Entscheidungsprozesse, bei denen Constant, Christian Dotremont und Asger Jorn die wesentlichen Bestimmer waren, verliefen im Einklang mit den patriarcha­ len Strukturen der Gesellschaft, in der an maßgeblichen Positionen gleichfalls weiße Männer saßen.87 Künstlerinnen agierten keinesfalls auf Augenhöhe und waren Marginalisierungen ausgesetzt. Für ihre Ausgrenzungen wurden, wie Karen Kurczynski am Beispiel von Else Alfelt untersucht hat, geläufige Stereotypen bemüht, die Frauen eine Eigenständigkeit absprachen und ihnen eine mangelnde Durchsetzungskraft testierten.88 Gleichzeitig waren es aber auch Männer, die dieselben Frauen förderten, wie im Fall von Alfelt deren ehemaliger Schüler und späterer Ehemann Carl-Henning Pedersen, der trotz Bedenken von Dotremont, Jorn und Sandberg auf Alfelts Beteiligung an der COBR A-Ausstellung 1949 im Stedelijk Museum in Amsterdam bestand. Man mag dies mit einer anderen Stellung von Frauen im Kunstbetrieb Skandinaviens erklären.89 Tatsächlich gab es damals für Alfelts Position als in Dänemark weithin geschätzte Künstlerin in der frankophonen und niederländischen Kultur keine Parallele. Doch auch der Franzose Edouard Jaguer, der den ausführlichen Text für die Monographie über Alfelt in der COB RA -Bibliothek verfasste, setzt sich dort ganz vorurteilsfrei und ohne Geschlechterklischees mit ihrem Werk auseinander.90 Dass er sich zugleich für seine eigene Lebensgefährtin Simone, die trotz ihrer Mitgliedschaft von den CO B R A 85 Vgl. Stokvis 2004, 232 und Kurczynski 2021a, 65 – 73. 86 Vgl. zu den Treffen 1949 im nahe Kopenhagen gelegenen Bregnerød und bei Erik Nyholm in Jütland Stokvis 2004, 200 und 208. Über die Zusammenkunft in Bregnerød verfasste Christian Dotremont Les Rencontres de Bregnerød (1949), deren Sprachstil dazu diente, die – vermeintlich – spielerisch unbeschwerte Grundhaltung von CO B R A zu betonen. Das von Dotremont entworfene Image prägte lange Zeit erfolgreich die Rezeption der Treffen. Vgl. hierzu Peter Shield  : »Les Rencontres de Bregnerød  : Cobra Myth and Cobra Reality«. In  : Jong Holland N.S. 1 (1992), 30 – 44. 87 Postkolonialer Praxis folgend charakterisiert hier das kursiv geschriebene weiß eine Position, die ein hierarchisches Kulturverständnis vertritt, welches andere Positionen marginalisiert und verdrängt. 88 Vgl. Kurczynski 2021a, 382 – 394. 89 Vgl. Kerry Greaves (Hg.)  : Modern Women Artists in the Nordic Countries, 1900 – 1960. New York, NY/London 2021. 90 Vgl. Edouard Jaguer  : Else Alfelt. Kopenhagen 1950.

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Männern kaum wahrgenommen worden zu sein scheint, nur wenig stark machte, zeigt, dass für die Haltung gegenüber Künstlerinnen offenbar mehrere Kriterien ausschlaggebend waren. Das Muster einer bipolaren Geschlechterdifferenz allein ist zu grob, um die Struktur der Hierarchien beschreiben zu können. Diese Beobachtung ist nicht zuletzt aufschlussreich für Recherchen zu den mikro­ politischen Strömungen, dokumentieren sie mit dem uneindeutigen Umgang mit Geschlechterdifferenz doch Versuche zur Ausbildung anderer, neuer Ordnungsmuster. Das in den letzten Jahren intensivierte Interesse an den CO B R A-Künstlerinnen trägt daher nicht nur dazu bei, bislang weitgehend übersehene Œuvres in unser kulturelles Gedächtnis aufzunehmen. Es hilft auch, das Profil dieser Mikropolitik genauer erfassen zu können. Was brachte die bereits erwähnte Else Alfelt, was brachten aber auch die weniger prominenten Künstlerinnen wie Grete Balle, Anneliese Hager oder Agnete Therkildsen, die als Lebenspartnerinnen von CO B R A -Künstlern in der Forschung bislang nur im Schatten ihrer Ehemänner wahrgenommen wurden, in die Bewegung ein  ? Welche Rollen spielten Micky Alechinsky, Anne Ethuin gen. Simone und Ai-Li Mian als Dialogpartnerinnen, Redakteurinnen und Netzwerkerinnen oder Henny Riemers, die die COBR A-Aktivitäten fotografisch dokumentierte und so mit ihren Aufnahmen die Geschichtsschreibung der Gruppe mitprägte, und die alle in Partnerschaften mit COBR A-Mitgliedern lebten.91 Ein Paar wie Sonja Ferlov Mancoba und Ernesto Mancoba ist durch die Herkunft von Ernesto Mancoba aus Johannesburg in Südafrika interessant, sind doch mit den Werken der beiden zwangsläufig auch die Bedingungen von Kulturverhandlungen in der Spätzeit des Kolonialismus ein Thema. Mancoba kam nicht zuletzt deshalb nach Europa, weil er in den 1930er Jahren nur dort in Museen die Kunstschätze seiner Vorfahren studieren konnte, während Ferlov, die aus einer Kopenhagener Industriellenfamilie stammte, schon als Kind eine Faszination für außereuropäische Kulturen entwickelt hatte. Bei CO B R A gab die junge Dänin Anstöße zur Ausbildung einer neuen Perspektive auf die Kulturen der Welt, indem sie den Kontakt zum Kopenhagener Sammler:innenpaar Amalia und Carl Kjersmeir herstellte, die damals eine der größten Privatsammlungen westafrikanischer Skulpturen besaßen.92 Forschungen zu diesen Akteurinnen, seien sie Künstlerinnen, Redakteurinnen oder Dokumentarfotografinnen, sind dringend notwendig. Sie werden die Rolle der männlichen Protagonisten nicht minimieren, jedoch auch deren Positionen genauer konturieren, und dazu beitragen, diese im Rahmen der patriarchal ausgerichteten Gesellschaften der Nachkriegszeit, in denen im öffentlichen Leben nirgendwo Frauen an Entscheidungspositionen standen, besser einordnen zu können. 91 Vgl. Ausstellungskatalog Silkeborg, Museum Jorn 2021  : »Cobra – the Women Artists«. Hg. von Christian Kortegaard Madsen. Köln 2021. 92 Vgl. Karen Kurczynski  : »Expression for All  : Ferlov, Mancoba, Tajiri and the Art of Cobra«. In  : Flavia Frigeri/Kristian Handberg (Hg.)  : Multiple Modernisms. A Symposium on Globalism in Postwar Art. New York, NY/London 2021, 27 – 42. Zur Sammlung Kjersmeir vgl. Wendy A. Grossman  : »The Kjersmeir Collection of African Art, the Danish Avant-Garde and the Construction of Photographic Meaning«. In  : Hjartason u. a. (Hg.) 2019, 121 – 144.

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Die kunsthistorischen Aufarbeitungen zu den Werken von CO B R A -Künstlerinnen, die aktuell erfolgen, haben neben der erstaunlichen Breite von Positionen, die durch die Gruppe vertreten wurde, noch einen weiteren Aspekt sichtbar werden lassen  : Es waren nicht nur Frauen, die bei der öffentlichen Präsentation von programmatischen Positionen von maßgeblichen Entscheidungen ausgeschlossen wurden. Wie seine Ehefrau Sonja Ferlov war auch Ernesto Mancoba eine Randfigur, desgleichen Alfred Harry Lilliendal, Erik Ortvad, Karl Hartung, Heinz Trökes, Gerrit Kouwenaar, Bert Schierbeek, Erling Jørgensen und C. O. Hultén.93 Jens Tang Kristensen vermutet, dass sich zukünftig der kunsthistorische Stellenwert von CO B R A verändern wird, wenn man neben der Malerei und der Bildhauerkunst auch die anderen Medien, in denen CO B R A Künstler:innen experimentierten, in den Blick nehmen wird  : What was common to many of the artists who were part of Cobra but have since been excised from its history was that they experimented with the creation of new boundary-defying work types like photograms, collages, photography and film. With this in mind, it is important to look at these women’s art as an expression of a different direction than the one traced out in the traditionalist art historical readings of Cobra, where focus has been maintained on the tactile gestures and extroverted painterly expressions of the masculine body as the viewer encounters them in artists such as Rooskens, Appel, Carl-Henning Pedersen and Jorn. […] Similarly, the women artists associated with Cobra may serve as an important contribution to a new reading and an alternative interpretation of the Cobra group with its multi-faceted social and artistic activities, thereby also suspending the idea of Cobra art as being, exclusively, colourful lyrical painting.94

Schon Willemijn Stokvis hatte in ihrer Untersuchung den Fokus der CO B R A-Künst­ ler:innen auf die Rolle von Kunst in der Industriegesellschaft konstatiert, ohne diesen Aspekt dann aber weiter zu verfolgen. Ich zitiere aus der englischsprachigen Ausgabe ihres Buches  : More than any other post-1945 art movement, Cobra exposed, in a certain sense, the raw nerves of the industrial era. It strongly reiterated the cry of resistance already voiced in Romanticism against the inhuman aspects of science and against the society of which it was born.95

COBR A war weitaus mehr als eine Bewegung, die sich auf farbenfrohe Bilder und Skulpturen begrenzte. Vielmehr gliedern sich diese Werke in einen komplexen Kontext von Versuchen, mit Bild, Wort und Alltagsmaterialien künstlerisch Anregungen für 93 Die Namensliste entstammt Jens Tang Kristensen  : »It is well known that the women around Cobra are unknown«. In  : Ausstellungskatalog Silkeborg 2021, 12 – 27, hier 14. 94 Tang Kristensen 2021, 26. 95 Stokvis 2004, 12.

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eine Neuaufstellung der Nachkriegsgesellschaften zu geben, und dabei auch Kunst aus einer Nische des schönen Scheins zu holen. Während ihrer kurzen Existenz von Ende 1948 bis 1951 war die Gruppe zwar äußerst aktiv und produktiv. Sie existierte jedoch viel zu kurz, um aus den verschiedenen Ideen und Kontroversen Energien so zu bündeln, dass daraus mehr als ein aufrüttelnder Paukenschlag erfolgen konnte. Mit dem Ende von COB RA war nicht für alle die Zusammenarbeit beendet. In den folgenden Jahren sollten eine Reihe der COB RA-Mitglieder beim Mouvement international pour un Bauhaus imaginiste (M. I. B. I.) und der Situationistischen Internationale ( SI) wieder zusammenfinden. Dass COBR A sich nicht fortsetzen ließ, sondern sich nur einige der ehemaligen Mitglieder in einem neuen Rahmen wiederfinden konnten, ist Ausdruck für grundlegende Differenzen, die in der Gruppe aufgetreten waren. Die Diskrepanzen resultierten aus unterschiedlichen Auffassungen von Ästhetik, die sich nicht zusammenbringen ließen. Während Christian Dotremont als einer der maßgeblichen CO B R A-Theoretiker:innen ein Konzept vertrat und praktizierte, das die Idee des Künstlers – sein Modell ist eindeutig männlich konnotiert – absolut setzte, vertraten seine Gegenspieler Constant und Asger Jorn eine Position, die Form und Material mit Prozessen des Sozialen verbindet und dabei die Rolle von Künstler:innen zugunsten weiterer Akteur:innen relativiert. Signifikanter Weise beschäftigte sich Dotremont in der Zeit nach CO B R A weiterhin mit der visuellen Wirkung von Schriftzeichen, aus denen er bildhafte Gedichte entwickelte, ohne dies auf kulturtheoretische oder zivilisationshistorische Aspekte zu beziehen. Die ausgebildeten Maler Constant und Jorn tasteten sich hingegen als Konsequenz ihrer Positionen an solche Materialien und Ausdrucksformen heran, mit denen sie neben Tradition und Historizität auch einen gemeinschaftlichen, kollaborativen Kontext zur Darstellung bringen konnten  : Jorn wandte sich, wie bereits geschildert, der Keramik zu und entwickelte sich weiter in die Richtung, Kunst auch als ein sozialpolitisches Projekt zu begreifen. Constant begann – wie ich weiter unten noch vorstellen werde96 – unter Verwendung von Plexiglas und Stahl dreidimensionale Objekte zu bauen. Diese referierten mit ihrer Materialität sowohl auf der Ebene der Produktion, die zeitgemäße Industriearbeit inkorporierte, als auch ihrer Rezeption, die bei der Wahrnehmung mit Durchsicht und Spiegelungen Kontexte in sich aufnahm, auf seine Vorstellungen vom sozialen Raum, mit denen er Ideen von De Stijl weiterentwickelte. Mouvement international pour un Bauhaus imaginiste und Situationistische Internationale Die Rolle von Mikropolitik besteht, wie Gilles Deleuze und Félix Guattari ausführen, darin, auf einer von Individuen ausgehenden Kommunikation, die sich zu Strömungen verdichten kann, Bewegungen auszulösen und zu stabilisieren. Diese Übereinstim96 Vgl. weiter unten S. 109 – 111 sowie Abb. 20.

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mungen, zu denen Einzelne kommen, können daher Konsequenzen für eine ganze Gesellschaft haben.97 Der Vorteil, den eine Orientierung an diesem Modell bei der Frage nach dem Stellenwert von Kunst in gesellschaftlichen Prozessen hat, liegt auf der Hand  : Es wird genauso vermieden, Kunst und Politik als Gegensätze zu sehen, wie es auch keine einzelne Person geben kann, die als eine Initiator:in zum Motor von Bewegungen stilisiert wird. Dennoch bleibt der Blick auf das Individuum möglich, eine für kunsthistorische Untersuchungen maßgebliche Größe. Deleuze und Guattari beschreiben, wie in Gesellschaften Dynamiken möglich werden, indem in sich stabile Praktiken des Alltags, ein übergeordneter stabilisierender Rahmen und zunächst ungerichtete Prozesse so verbinden können, dass daraus Umbruchsituationen entstehen.98 Sie charakterisieren das Erstgenannte als geschmeidige, molekulare Segmentierungen innerhalb des festen, molaren Rahmens, den sie als hartes Segment bezeichnen. Einen dritten Bereich vergleichen sie mit Quantenströmung. »Während Vorstellungen bereits große Komplexe oder auf einer Linie festgelegte Segmente definieren, sind Überzeugungen und Begehren Strömungen, die durch Quanten gekennzeichnet werden und die hinzugefügt, abgezogen oder kombiniert werden.«99 Das Mouvement international pour un Bauhaus imaginiste und die Situationistische Internationale, kurz M. I. B. I. und S I , waren derartige Quantenströmungen. Sie trugen dazu bei, gesellschaftliche Prozesse zu dynamisieren, die wenige Jahre später mit der sogenannten Studentenbewegung in Europa die Gesellschaften maßgeblich verändern sollten. Sie hatten Anteil an einem veränderten Verständnis von Ökologie, mit dem heutzutage verstärkt ein respektvoller Umgang mit den Ressourcen unserer Erde eingefordert wird. Sie waren an den Strukturveränderungen des Kunstbetriebs und der Neukonturierung von Ästhetik nach dem Zweiten Weltkrieg maßgeblich beteiligt. Sie repräsentieren damit, welche Themen und Praktiken in den Jahren nach 1945 dazu führen konnten, in Europa Strömungen zu Bewegungen zu verdichten. Sie zeigen, welche Um- und Abwege es gab und welche Probleme gerade in Bezug auf Gemeinschaft ungelöst blieben. Die Geschichte von M. I. B. I. und S I ist schnell erzählt.100 Nachdem Asger Jorn 1953 aus dem Sanatorium entlassen worden war, fuhr er mit der Familie zur weiteren Stabilisierung seiner Gesundheit in die Schweiz. Dort erfuhr er von der Gründung einer sich als Nachfolge des Bauhauses bezeichnenden Kunsthochschule in Ulm, der Hochschule für Gestaltung (HfG) unter der Leitung des Schweizer Architekten und Bildhauers Max Bill.101 Schnell war Ende 1953 ein brieflicher Kontakt hergestellt, in  97 Vgl. Deleuze/Guattari 1992, 284 – 316.  98 Vgl. Deleuze/Guattari 1992, 303.  99 Deleuze/Guattari 1992, 299. 100 Basisinformationen liefern Andersen 2001, 265 – 268, sowie unter Berücksichtigung von Kulturpolitik und den Konsequenzen für Ästhetik Michael Baers/Iris Ströbel  : »From Social Democratic Experiment to Postwar Avant-Gardism« (2019). http://www.bauhaus-imaginista.org/ articles/5783/from-social-democratic-experiment-to-postwar-avant-gardism [Abruf 12.4.2023]. 101 Eine Zusammenstellung der Vorgänge um die Gründung der Hochschule für Gestaltung, die

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dem Jorn Bill enthusiastisch die Notwendigkeit aufzeigte, gerade in der Situation nach dem Krieg ein neues Zentrum für die Kunst in Europa schaffen zu müssen. Sie verstehen vielleicht nicht, warum ich dieser diskussion mit ihnen soviel bedeutung schenke. Wegen meiner krankheit war ich einige jahre aus der europäischen kunstdiskussion ausgeschlossen, und jetzt sehe ich, dass die künstler sich oft voneinander isolieren, bekämpfen, nur weil sie sich nicht verstehen. Was ihnen fehlt ist ein Zentrum wo man gemeingültige auffassungen ausexperimentieren können. ein solches zentrum könnte der kunstentwicklung in europa wenigstens 20 jahre ekonomisieren. Wollen sie also mit uns zusammenarbeiten  ? Dass heisst nicht unsere auffassung annehmen, im gegenteil, aber das neue »Bauhaus« als brennpunkt aller neuen künstlerischen ideen öffnen.102

Max Bill, Gründungsdirektor der HfG, reagierte wenig interessiert an einer Intensivierung des Austausches. Jorn war ihm offenbar so lästig, dass er nach immer polemischer werdendem Briefwechsel Mitte Februar 1954 darum bat, nicht mehr angeschrieben zu werden  : »sie brauchen sich aber nicht mehr die mühe zu nehmen und nochmals zu schreiben, denn ihre auffassung stimmt nicht mit meiner überein, das werden sie mit ihrem besten hokuspokus nicht ändern können.«103 Dennoch hakte Jorn weiter nach, verwies auf die große Bedeutung einer ungeplanten Kunst und die Notwendigkeit, verschiedene, auch gegensätzliche Standpunkte zusammenbringen zu müssen. Die Weigerung von Bill führte dazu, dass Asger Jorn gemeinsam mit Enrico Baj, mit dem er seit 1953 im Austausch stand, das Mouvement international pour un Bauhaus imaginiste gründete.104 War Baj Mitinitiator gewesen, so wurde in den nächsten Monaten Giu­ seppe Pinot Gallizio Jorns wichtigster Mitstreiter.105 im Wesentlichen auf die private Initiative von Inge Aicher-Scholl und Otl Aicher zurückgeht, vgl.: Eva von Senkendorff  : Die Hochschule für Gestaltung in Ulm. Gründung und Ära Max Bill. Marburg 1989. Während Senkendorff die kulturpolitische Bedeutung der HfG diskutiert, konzentriert sich Hartmut Seeling allein auf die Chronologie dieser Institution. Der Wert seiner Untersuchung liegt in ihrer Zusammenstellung von Namen des Lehrpersonals sowie der Immatrikulationsverzeichnisse, so dass sich Netzwerke rekonstruieren lassen. Vgl. Hartmut Seeling  : Die Geschichte der Hochschule für Gestaltung in Ulm 1953 – 1968. Ein Beitrag zur Entwicklung ihres Programmes und der Arbeiten im Bereich der visuellen Kommunikation. Köln 1985. Zu den ideologischen Implikationen, die mit der HfG Ulm verbunden sind, vgl. Jens Müller (Hg.)  : HfG Ulm. Kurze Geschichte der Hochschule für Gestaltung. Anmerkungen zum Verhältnis von Design und Politik. Zürich 2015 sowie Melanie Kurz  : Designstreit. Exemplarische Kontroverse über Gestaltung. Paderborn 2018. 102 Brief von Asger Jorn an Max Bill vom 12.2.1954. Zweiseitiges Typoskript. In  : Jorn Archives, Museum Jorn, Silkeborg  : Breve fra Jorn til Bill. Schreibweise und Formulierungen habe ich, wie auch in folgenden Zitaten aus dem Briefwechsel, unkorrigiert belassen. 103 Brief von Max Bill an Asger Jorn vom 15.2.1954. Typoskript-Abschrift. In  : Jorn Archives, Museum Jorn, Silkeborg  : Breve fra Jorn til Bill. 104 Vgl. Enrico Baj  : »Préface«. In  : Musée d’art moderne Saint-Etienne (Hg.)  : Baj/Jorn. Lettres 1953 – 1961. Saint-Etienne 1989, 12 – 19. Vgl. hierzu auch Sanna 2003. 105 Baj 1989, 17. Zu Giuseppe Pinot Gallizio vgl. weiter unten S. 111 – 116.

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Die Divergenzen, die Asger Jorn und Max Bill in den Wochen um den Jahreswechsel 1953/54 miteinander austrugen, gingen – wie das obige Zitat deutlich machen kann – weit über eine Debatte über Gestaltungsfragen hinaus.106 Während der eine, Bill, Form unter einer technischen Perspektive betrachtete und in den Materialien von CO B R A , die ihm Jorn zu Beginn des Briefwechsels beigelegt hatte, eine spätexpressionistische »selfexpression« erkannte,107 interpretierte der andere, Jorn, Form als ein Resultat sozialer Interaktion. Nahm für beide Künstler bei der Befriedung der Nachkriegsgesellschaften Kunst eine zentrale Rolle ein, so gingen sie dies von entgegengesetzten Enden an  : Für Max Bill war das ideale Kunstwerk ein Ergebnis von mathematischer Berechnung, das logisch überprüft werden kann.108 Zwar war ihm genauso wie Jorn der Kontext, in den ein Objekt oder ein Gebäude platziert wird, wichtig. Allerdings war es für Bill immer die künstlerische Gestaltung und damit der Mensch mit seinen kreativen und kognitiven Fähigkeiten, die eine Umgebung maßgeblich strukturierte. Typisch für diese Position ist einer der ersten Entwürfe für das Schulgebäude der HfG in Ulm. (Abb. 13) Die Architekturzeichnung zeigt, wie Bill plante, die Anlage der topographischen Situation anzupassen, und dabei die Niveauunterschiede, die durch die hügelige Landschaft vorgefunden wurden, auszugleichen suchte. Deutlich wird aber auch, dass der Bau nicht mit der Umgebung verschmilzt, sondern Bill vorhatte, einen prägnanten Akzent zu setzen. Das von ihm entworfene Schulgebäude sollte nicht mit der Umgebung verschmelzen, es sollte diese vielmehr künftig dominieren. Der Mensch mit seinen kreativen und kognitiven Fähigkeiten setzt sich hier in Szene. Bill steht in einer Tradition des Kunstverständnisses im neuzeitlichen Europa, das im vom Humanismus geprägten vernünftigen Subjekt fluchtet.109 Für Jorn war dieser Logozentrismus eine Sackgasse, die in der Vergangenheit immer wieder dazu geführt hatte, die genuinen Potenziale von Kunst auszubremsen sowie gleichzeitig Kunst für andere Interessen zu missbrauchen.110 Seine dezidiert anti-humanistische Haltung ist 106 Vgl. auch Pezolet 2012. 107 »Wir betrachten in ulm die kunst als die grundlegende aller anderen dinge die wir dort machen. Aber wir verstehen unter kunst nicht irgendwelche ›selfexpression‹ sondern wirkliche kunst.« Brief von Max Bill an Asger Jorn, vom 14.1.1954. Typoskript-Abschrift. In  : Jorn Archives, Museum Jorn, Silkeborg  : Breve fra Jorn til Bill. 108 Vgl. Max Bill  : Form  : eine Bilanz über die Formentwicklung um die Mitte des 20. Jahrhunderts. Basel 1952 sowie Max Bill  : »The Mathematical Approach in Contemporary Art«. In  : Tomás Maldonado (Hg.)  : Max Bill. Buenos Aires 1955, 37 – 38. 109 Der Logozentrismus von Bill verband sich mit ökonomischen Interessen, wie seine angesichts der Kriegszerstörungen in Europa verfasste Schrift dokumentiert. Unmittelbar im Anschluss an den Zweiten Weltkrieg unter der Ägide des Schweizerischen Gewerbeverbandes ediert, zeigt er hier auf, wie die Schweizer Wirtschaft von Aufbaumaßnahmen profitieren kann. Vgl. Max Bill  : Wiederaufbau. Dokumente über Zerstörungen, Planungen, Konstruktionen. Hg. von der Abteilung Außenhandel des Schweizerischen Gewerbeverbandes. Zürich 1945. 110 Vgl. etwa Asger Jorn  : »Die neuen Epochen«. In  : Ders.: Plädoyer für die Form. Entwurf einer Methodologie der Kunst. Übersetzung Inge Leipold. München, 20152, 43 – 44 (zuerst Paris 1958) (= Jorn 2015d (1958)).

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Abb. 13 Max Bill, Vorentwurfsskizze für das Schulgebäude der Hochschule für Gestaltung in Ulm (1950) © Bill-Archiv

darin begründet. Er interpretierte Humanismus und dessen Traditionen in der Kunst daher als elitär und in Hinblick auf all das, was die kreativen Auseinandersetzungen mit Realität betrifft, als exklusiv. Eine nicht auf Humanismus basierende Kunst für alle, eine folkelige kunst, wie er sie im Blick hatte,111 bezieht auch das Unlogische, Arbiträre, wenn nicht Abstruse mit ein, das der Modernismus marginalisiert hatte. Nicht die Mathematik führt laut Jorn zur idealen Form, sondern die durch unterschiedliche Interessen und Notwendigkeiten bestimmte Alltagspraxis, an der alle Glieder der Gesellschaft beteiligt sind. Anders als Bill verstand er seine Rolle als Künstler als Rädchen in einem Getriebe, in dem nicht nur die Menschen, sondern auch Materialien Akteur:innen sind. Konsequenterweise war Kontext daher für Jorn nicht eine Umwelt, die es zu gestalten galt, sondern Mitwelt, die partizipiert. Während es für Bill nur den einen richtigen Weg gab, den er dogmatisch verteidigte, waren für Jorn die sich widerstreitenden Positionen konstitutive Voraussetzung, um mit und aus der Vielfalt am Ende das Beste gewinnen zu können. Nicola Pezolet bringt Jorns Position mit der Wissenschaftstheorie von dessen

111 Vgl. Asger Jorn  : »Die drei Definitionen von Kunst«. In  : Jorn 2015 (1958), 31 – 33 (= Jorn 2015b (1958)). Vgl. auch Dirk Hildebrandt  : »The Politics of Asger Jorn’s Modification«. In  : Lange/ Ders./Pietrasik (Hg.) 2020, 97 – 121.

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Landsmann, dem Physiker Niels Bohr in Verbindung.112 Ausgehend von den widersprüchlichen Ergebnissen, die man bei Untersuchungen in der Quantenphysik erhielt, hatte dieser in den Zwischenkriegsjahren das sog. Komplementaritätsprinzip entwickelt, nach dem Gegensätze und Paradoxien zur Komplexität von Wirklichkeit gehören.113 Wie auch bei anderen Ideen, die Jorn in seine Gedankenwelt inkorporierte, rezipierte er Bohr nicht buchstabengetreu, sondern modifizierte dessen Position für seine Kulturtheorie, für die er den Funktionalisten Max Bill nicht begeistern konnte. Die Namensgebung Mouvement international pour un Bauhaus imaginiste für die Vereinigung, an der Asger Jorn und Enrico Baj bereits zuvor geplant hatten, resultierte also aus dem brieflichen Disput von Jorn mit Max Bill.114 Ohne eine Perspektive, an der Konturierung der HfG in Ulm mitwirken und dabei die Vorstellungen über die Rolle einer freien Kunst einbringen zu können, organisierten Jorn und Baj gemeinsam mit Sergio Dangelo, Gründungsmitglied von M. I . B. I . , für den Sommer 1954 den bereits vorgestellten Incontro internazionale della ceramica in Albisola, zu dem vor allem ehemalige Mitglieder von COB RA und Künstler:innen aus der Mailänder Szene um das Movimento nucleare zusammenkamen. Über die Verbindungen von Tullio Mazzotti gelang es M.I.B. I. , eine Ausstellung von beim Incontro entstandener Werke auf der X. Triennale von Mailand zu realisieren. Die heute verlorenen Exponate, die M . I . B. I . dort zeigte und die, wie etwa die Kleinplastiken von Roberto Matta und Asger Jorn, durch Fotografien dokumentiert sind, (Abb. 14 und 15) verdeutlichen den Kontrast zu einem Standpunkt wie dem von Bill treffend  : Formen sind so zusammengefügt, dass Rezipient:innen sich Lebewesen mit Gliedmaßen vorstellen können – monstres amis hatte sie Edouard Jaguer in seinem Briefgedicht genannt. Die Figuren rufen Erfahrungen aus der Alltagsrealität auf, ihre Betrachtung entführt jedoch in eine andere Welt. Gestalterisch machen sie zugleich einen unfertigen, wenn nicht dilettantischen Eindruck. Nicht menschliche Dominanz wird hier in Szene gesetzt, sondern ein Dialog mit den Materialien, denen ein Eigenleben zugestanden worden war. Mit der Ausstellung von Keramiken, die während des Incontro in Albisola entstanden waren, wurde an prominentem Ort in Mailand die Idee einer gemeinschaftlich produzierten und für die Gemeinschaft produktiven Kunst zur Diskussion gestellt, gehörte die Triennale doch zu den Großereignissen im Kunstbetrieb, die just im Jahr 1954 einen ideologischen Programmwechsel durchmachte.115 1923 ins Leben gerufen, 112 Vgl. Pezolet 2012, 108. 113 Vgl. Niels Bohr  : »Science and the Unity of Knowledge«. In  : Ders.: The Unity of Knowledge. Hg. von Lewis Leary. New York, NY 1955, 47 – 62. Vgl. auch Karen Barad  : »Getting Real. Technoscientific Practices and the Materialization of Reality«. In  : Differences. A Journal of Feminist Cultural Studies 10 (1998), Heft 2, 87 – 128. 114 Laut Karen Kurczynski geht das Adjektiv »imaginiste« auf Pierre Alechinsky zurück  : »Pierre Alechinsky suggested the ›Imaginist‹ title because, he observed, it was not about an ›imaginary‹ Bauhaus that did not exist, but rather a real intervention that celebrated the imagination.« Kurczynski 2014, 111. 115 Vgl. Kjetil Fallan  : »Annus Mirabilis  : 1954, Alberto Rosselli and the Institutionalisation of De-

86  |  Gemeinschaft Abb. 14 Roberto Matta, ohne Titel (1954), glasierte ­Keramik, Maße und Verbleib unbekannt Abb. 15 Asger Jorn, ohne Titel (1954), glasierte Keramik, Maße und Verbleib unbekannt

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war sie bis zum Zweiten Weltkrieg die ersten zwanzig Jahre ihrer Existenz ganz in die Wirtschaftspolitik und Repräsentationskultur des Faschismus in Italien eingebunden gewesen, der mit Benito Mussolini seit 1922 die Regierung stellte. Dem Anspruch, an der Gestaltung der Zukunft mitwirken zu wollen, entsprach, dass man seit dem Umzug von Monza nach Mailand 1933 mit dem Bureau international des expositions ( B I E) kooperierte, das bis heute Großereignisse wie etwa die Weltausstellungen koordiniert und deren wirtschaftliche Abwicklungen unterstützt. Auch nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die Triennale fortgeführt, nun allerdings mit einer anderen Ausrichtung. Obwohl weiterhin international aufgestellt, nutzte man jetzt das periodische Ausstellungsformat, um Industriedesign als einen Wirtschaftsfaktor Italiens auf den Weg zu bringen und zu manifestieren. Max Bill, damals ein Star in der internationalen Architektur- und Designszene, war anlässlich dieses programmatischen Wechsels 1954 als Hauptredner eines begleitenden Symposiums geladen worden, um mit seiner auf die neugegründete Hochschule für Gestaltung in Ulm bezogenen Rede die Perspektiven für die Ausstattung des Alltags mit Produkten des noch jungen Industriedesigns aufzuzeigen. Das bereits am Bauhaus angestrebte Ziel, unter Nutzung der industriellen Fabrikationsmöglichkeiten mit Architektur und Einrichtungen Gesellschaften auch sozial und daher mit politischen Konsequenzen formen zu können, galt gemäß dieser Programmatik als Schlüssel für den Wiederaufbau und die Befriedung Europas. Nicht thematisiert wurde, dass es dabei auch um Gewinninteressen von Unternehmen ging, die nicht der Gemeinschaft zugeführt werden sollten. Von den Veranstalter:innen des Symposiums ungeplant, meldete sich Asger Jorn im Anschluss an Bills Auftritt in Mailand zu Wort und kommentierte als Sprecher für M.I.B.I. dessen Rede. Indem er Bills Ausführungen die Programmatik von M . I . B. I . gegenüberstellte, interpretierte er das Konzept der HfG als fatale Fehlentwicklung. Die schriftliche Version seines Vortrages veröffentlichte er später in Pour la forme (1958). Hier heißt es  : Das Neue Bauhaus [= die HfG in Ulm, BL], einem doktrinären und konservativen Formalismus verfallen, steht jedem Versuch, die eigene Persönlichkeit auszudrücken, feindselig gegenüber  ; sein Ziel ist einzig und allein, eine bestimmte Ordnung in bereits existierende Elemente zu bringen. Das ist ein großer Irrtum, denn gerade heute haben wir ein neues Bauhaus nötig, das lebendig ist, reich an Spannung und Schwung, das die neuen Erfahrungen in allen freien Künsten befruchten und stärken könnte.116

Und mit Blick auf das Verhältnis von Individuum, Subjekt und Gemeinschaft  : sign Mediation«. In  : Grace Lees-Maffei/Ders. (Hg.)  : Made in Italy. Rethinking a Century of Italian Design. London 2015, 255 – 270. Vgl. auch Pezolet 2012. 116 Asger Jorn  : »Argumente zu der internationalen Bewegung für ein Imaginistisches Bauhaus gegen ein imaginäres Bauhaus und seine aktuelle Bedeutung«. In  : Jorn 2015 (1958), 33 – 37, hier 35 (= Jorn 2015c (1958)).

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Die Menschheit gibt es, weil es Individuen gibt, und das Interesse des Individuums geht über seine eigene Existenz hinaus. Die Interessen, die der ganzen Menschheit gemeinsam sind, stellen eine kollektive Subjektivität dar. Und damit sind wir bei der neuen Auffassung von Subjektivität, wie sie heute gesehen wird. Sie revolutioniert die gesamte theoretische und ideologische Grundlage der zukünftigen Kunst und Technik. Wir haben die einzelnen Phänomene miteinander in Verbindung gebracht, und sie sind eine lebendige Synthese eingegangen, wir haben eine dynamische Konzeption von Kunst und Technik entworfen, und das letztendliche Ziel aller Künste und Wissenschaften ist es, gemeinsame Werte zu schaffen, den Interessen der Menschen zu dienen. Aber keine Kunst und keine Technik hat jemals so begonnen, denn das ist unmöglich  : Alles beginnt als zweckfreies Spiel in einem geschlossenen Kreis von Interessen, ganz abgesehen von der persönlichen Befriedung. Aber die individuelle Befriedung und ihr persönlicher Ausdruck sind nicht ohne Interesse für die anderen Individuen  : als neue Möglichkeit oder als Erfahrung.117

Drei Aussagen, die Jorn hier macht, sind für die Einschätzung der mikropolitischen Intention zentral  : 1. Individuum und Subjektivität werden so miteinander verknüpft, dass Praktiken nicht in einer Selbstverwirklichung aufgehen sollen, sondern gemeinschaftsdienlich sein müssen. 2. Kunst und Technik stehen in einem dynamischen Verhältnis. 3. Dieses findet in einem »zweckfreien Spiel«, durch ungerichtete Gestaltung seinen Anfang. Damit wird deutlich, worauf die »neue Auffassung von Subjektivität« zielte. Sie respektiert individuelle kreative Äußerungen, die im Austausch und Widerstreit ihre gemeinschaftsdienliche Funktion erhalten. Dies ist aber nur möglich, wenn alle Mitglieder an dieser Dynamik beteiligt werden. Die Schaffung von Handlungsräumen für individuelle Kreativität bedeutet keine Rückwärtsgewandtheit und Rückkehr zu vorindustriellen Produktionsweisen, sondern vielmehr die Aufforderung, Technik so zu nutzen, dass sich individuelle und allgemeine Interessen in einer Balance befinden. Auf der X. Triennale von Mailand verhallte Jorns Statement weitgehend unbeachtet. Dies hinderte die Mitglieder von M. I. B. I. allerdings nicht daran, ihre Programmatik weiterzuverfolgen. Ende September 1955 fand im Atelier von Giuseppe Pinot Gallizio, der inzwischen zu der Gruppe gestoßen war, in Alba (Piemont) ein Treffen statt, dem auf die kommenden Monate verteilt weitere Zusammenkünfte folgten.118 Man plante, wie schon zuvor bei COB RA, eine Zeitschrift zu veröffentlichen, die als Plattform für programmatische Texte dienen sollte. Im Juli 1956 erschien die erste und einzige Ausgabe von Erestica. Als verantwortlicher Herausgeber fungierte Piero Simondi, Chef­ redakteure waren Giuseppe Pinot Gallizio und Guy Debord, den Asger Jorn 1954 bei einem kurzen Aufenthalt in Paris kennengelernt hatte. Die Aufsätze von Asger Jorn, 117 Jorn 2015c (1958), 36. 118 Hierzu gehörten der Congresso Mondiale degli Artisti Liberi und ein zweiter Incontro internazionale della ceramica, die beide im Sommer 1956 in Alba abgehalten wurden. Vgl. Nicola Pezolet  : »The Cavern of Antimatter. Giuseppe ›Pinot‹ Gallizio and the Technological Imaginary of the Early International Situationist«. In  : Grey Room 38 (2010), 62 – 89, 67.

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Piero Simondi und Elena Verone in der Zeitschrift drehen sich allesamt um die Neukonzipierung von Form mit dem Ziel, eine gemeinschaftstaugliche Perspektive zu eröffnen. Jorn propagierte ein dynamisches Konzept, das auf eine in ständigen Prozessen befindliche Gesellschaft reagieren kann. Unter Bezugnahme auf seine Auseinandersetzung mit Max Bill schrieb er später in Pour la forme hierzu  : Die funktionalistischen Rationalisten waren aufgrund ihrer Ideen einer Standardisierung der Ansicht, dass man definitive, ideale Formen der verschiedenen Objekte, die für den Menschen von Interesse sind, erreichen kann. Die derzeitige Entwicklung zeigt, dass diese statische Konzeption ein Irrtum ist. Man muss ein dynamisches Konzept von Form entwickeln, man muss der Wahrheit ins Gesicht blicken, dass jede vom Menschen geschaffene Form sich im Zustand fortwährender Veränderung befindet.119

Aufbauend auf dem damals verbreiteten Modell von Stil und stilistischer Entwicklung schlug er eine Modifikation vor, die nicht die Anschauung, sondern stattdessen den Gebrauch zum Ausgangspunkt wählt  : Jede menschliche Schöpfung entsteht zuerst in der Phantasie. Man kann von neuen Typen von Funktionen träumen und sie dann mittels Experimenten realisieren. Aber man kann sich niemals die ideale und endgültige Form eines neuen Typus vorstellen und auch nicht mittels Experimenten zu diesem Ergebnis kommen. Nur durch Angleichung und eine sorgfältige Analyse des ›Gebrauchs‹ findet man die endgültige Form.120

Wesentliche Akteur:innen in diesem Prozess – so Jorn in seinen Ausführungen – sind die Materialien. Findet ein neues Material Verwendung, so orientiere man sich zunächst an bekannten Formen, wie der Künstler mit Referenz auf Gottfried Sempers Konzept von Stil argumentiert. Dieser hatte vermutet, dass Tongefäße zunächst geflochtene Körbe oder Taschen aus Leder imitiert haben. Die materialspezifischen Möglichkeiten eröffneten jedoch schnell neue Optionen. Hieran knüpfte Jorn an. Schlüssel für sein Konzept von Material ist der neugierige, austestende Umgang mit dem Vorgefundenen, der Herkömmliches durch Neues, Funktionaleres ersetzen kann. Diese Auffassung begründet denn auch, weshalb für Jorn eine freie Kunst an einer Hochschule für Gestaltung so wichtig war und welchen Stellenwert seine Arbeiten mit Ton für ihn hatten, die er in Auseinandersetzung mit der Alltagspraxis in den keramischen Werkstätten von Albisola entwickelte. Wie beim Bauhaus während des Direktoriats von Walter Gropius, als dort zunächst Johannes Itten und später Wassily Kandinsky und Paul Klee als Dozenten tätig waren, räumte Jorn dem Ungeplanten und Unplanbaren, das er mit Experiment und Kreativität verband, einen hohen, ja, im Unterschied zu 119 Asger Jorn  : »Grundlegende Gesetzmäßigkeiten der Evolution der menschlichen Technik«. In  : Jorn 2015 (1958), 27 – 29, hier 27 (= Jorn 2015a (1958)). 120 Jorn 2015a (1958), hier 28.

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Gropius, sogar einen zentralen Stellenwert ein.121 Anders als am Bauhaus ist dabei die soziale Basis der am Diskurs Beteiligten, die er im Blick hatte, nicht auf eine bürgerliche Elite beschränkt, sondern – zumindest in der Theorie – differenter und dadurch auch breiter aufgestellt. Mit seinem Verständnis von Form brachte sich Jorn in die Debatten um die Verwirklichung von Demokratie ein. M.I.B.I. thematisierte Defizite einer künstlerischen Ausbildung, die curricular den Potenzialen kreativer Gestaltung nicht genügend oder überhaupt keinen Raum gab und stattdessen eine Schulung an einem vorformulierten Ideal verfolgte. Die Gemeinschaft in derart aufgestellten Einrichtungen künstlerischer Ausbildung ist Jorn zufolge hierar­ chisch organisiert und gibt Unbekanntem, noch nicht Gedachtem nicht ausreichend Raum. Eine derartige Institutionskritik fand Mitte der 1950er Jahre nur außerhalb von staatlich finanzierten Institutionen eine Resonanz. Konsequenterweise verlagerten sich die Aktivist:innen von M. I. B. I. daher auf außerinstitutionelle Handlungsräume. Der Austausch, den Asger Jorn seit 1954 mit Guy Debord pflegte, führte am 28. Juli 1957 im kleinen Dorf Cosio di Arroscia (Ligurien) nahe der französischen Grenze zur Gründung einer neuen Organisation, der Situationistischen Internationale ( SI), als einem Zusammenschluss von M. I. B. I. , den Internationale Lettriste sowie der London Psychogeographical Association.122 Neben Guy Debord fungierte zunächst Asger Jorn als eine zentrale Bezugsperson dieser Gruppe, die schon bald über programmatische Zielsetzungen zu streiten begann. Auch wenn er bis an sein Lebensende SI weiterhin mit großzügigen finanziellen Spenden unterstützen und so deren Existenz garantieren sollte, kündigte Jorn 1961 seine Mitgliedschaft auf, enttäuscht von Debords autoritärem Auftreten verbunden mit der Tatsache, dass ein freies Spiel der Kunst durch die Vereindeutigung politischer Ziele im Rahmen dieser Zusammenarbeit nicht möglich war.123 Hatten Jorn und Debord zunächst einander in die Hände gespielt und so gehofft, voneinander profitieren zu können, artete die Kollaboration im Rahmen der Situationistischen Internationale zu einer Konfrontation zwischen Kunst und Politik 121 Vgl. Jorn 2015a (1958). 122 Zur Geschichte der Gruppe, die sich meistens auf deren Rolle in den gesellschaftlichen Aufbruchbewegungen und dabei auf die männlichen Protagonisten konzentriert, vgl. Simon Ford  : The Realization and Supression of the Situationist International. An Annotated Bibliography, 1972 – 1992. Edingburgh/San Francisco, C A 1995  ; Simon Ford  : Die Situationistische Internationale. Eine Gebrauchsanleitung. Übersetzung Egon Günther. Hamburg 2007 (zuerst London 2005)  ; Roberto Ohrt  : Phantom Avantgarde  : eine Geschichte der Situationistischen Avantgarde und der modernen Kunst. Hamburg 1997. Erst in jüngerer Zeit wird auch die Rolle der Frauen innerhalb der Bewegung thematisiert. Vgl. Frances Stracey  : Constructed Situations  : A New History of the Situationist International. London 2014  ; Anna Trespeuch-Berthelot  : Internationale Situationniste  : de l’histoire au mythe (1948 – 2013). Paris 2015. Enrico Baj, der für Jorns Aktivitäten in Italien zunächst ein so wichtiger Mittler gewesen war, wurde kein Mitglied der SI. Zu den Differenzen, die zu Bajs Verzicht auf eine Beteiligung führten, vgl. Sanna 2003. 123 Vgl. Roberto Ohrt  : Das große Spiel. Die Situationisten zwischen Politik und Kunst. Hamburg 2000  ; Rieke Trimcex  : Politik als Spiel. Zur Geschichte einer Kontingenzmetapher im politischen Denken des 20. Jahrhunderts. Baden-Baden 2018.

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aus, die aus Sicht von M. I. B. I. eigentlich eine Synergie hatte ergeben sollen. Offenbar schien man sich um 1960 aber entscheiden zu müssen, welchem Feld man den Vorzug geben wollte.124 Eine zentrale Praxis der Situationisten war das sog. détournement. Dabei wurde Vorhandenes so verändert, dass ein neuer, die ideologische Konnotation der Ausgangsform entlarvender Sinn konstituiert wurde. Während laut Guy Debord und Gil Wolman dabei in einem Akt der Destruktion das Vorgefundene zerstört werden sollte,125 war Asger Jorns Ansatz ein anderer. Er folgte Lawrence Alloways Idee von modification, die statt Vernichtung das Alte in sich aufnimmt und in neue Zusammenhänge integriert. Dirk Hildebrandt hat diesen maßgeblichen Unterschied an Jorns vieldiskutiertem Gemälde Le canard inquiétante (Die Unruhe stiftende Ente) (1959) (Abb. 16) vorgestellt und beschrieben, wie der Künstler nicht einfach nur ein auf dem Flohmarkt erworbenes Gemälde bearbeitete.126 Vielmehr griff Jorn bei seiner Übermalung das Kunstmärchen Das hässliche Entlein von Hans Christian Andersen, auf das der Bildtitel referiert, auf. Dessen emanzipatorischer Gehalt – aus einem vermeintlich hässlichen Entenkind, das aufgrund seiner Erscheinung ein Außenseiter ist, wird ein stolzer Schwan – bildet die Folie, um mit malerischen Mitteln die Verhandlung kultureller Positionen voranzubringen, die zunächst unvereinbar zu sein scheinen. Bei Le canard inquiétante ist es der Kontrast zwischen einer an Gemälden des 19. Jahrhunderts orientierten Landschaftsdarstellung einer Dilettant:in, die die unbeholfene Umsetzung zentralperspektivischer Komposition zeigt, und der buntfarbigen, in heftigem Gestus ausgeführten Tierdarstellung, die dem von Expert:innen im Kunstbetrieb formulierten Anspruch einer Avantgardepraxis entspricht. Der optische Bruch enttarnt zwar das übermalte Bild als eine Illusion von Kunst, er zerstört es jedoch nicht. Anders als lediglich ein Bildträger, der neu gestaltet wird, bildet die Landschaftsmalerei gewissermaßen den Ausgangspunkt für einen Dialog, zu dem Jorn mit seiner Übermalung auffordert. Während die Praxis des détournement Exklusion durch Destruktion anstrebte, zielte die modification auf Inklusion. Diese Diskrepanz zwischen den Auffassungen von Debord und Wolman einerseits und Jorn andererseits musste verständlicherweise letztlich zu einem Zerwürfnis führen, betraf sie doch auch in fundamentaler Weise die Position der Künstler:in. Trotz der innovativen Darstellungsformen der Situationistischen Internationale blieb das von Guy Debord zunehmend in orthodoxer Manier vertretene Konzept einer Idee von künstlerischer Impulsgebung verhaftet, die Kreativität einseitig an einen idealistisch motivierten Ästhetikbegriff bindet. Weder ergaben sich dadurch neue Rollen noch, anders als bei Jorn, die Möglichkeit für neue Allianzen. Für Jorn, der Künstler:innen als Teil einer Gemeinschaft verstand, nicht aber als deren Lenker:innen, war daher die Zusammen124 Vgl. Max Jakob Orlich  : Situationistische Internationale. Eintritt, Austritt, Ausschluss. Bielefeld 2011. 125 Vgl. Guy Debord/Gil J. Wolman  : »Mode d’emploi du détournement« (1956). sami.is.free.fr/ Oeuvres/debord_wolman_mode_emploi_detournement.html [Abruf 12.4.2023]. 126 Vgl. Hildebrandt 2020, hier speziell 100 – 102.

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Abb. 16 Asger Jorn, Le canard inquiétante (Die Unruhe stiftende Ente) (1959), Öl auf Lw 53 × 64,5 cm, ­Museum Jorn, Silkeborg

arbeit in der Situationistischen Internationale auf Dauer perspektivlos, war er doch Akteur anderer mikropolitischer Binnenverhältnisse. Trotz der teilweise personellen Überschneidungen, die bei M. I. B. I. und S I bestanden, gingen die Quantenströmungen, die mit ihnen verbunden waren, in verschiedene Richtungen. Auf unterschiedliche Weise gehörten beide Gruppierungen dennoch zu denjenigen, die einer erneuten militärischen Aufrüstung entgegentraten und stattdessen technologischen Fortschritt für ein friedliches Zusammenleben nutzbar machen wollten. Dass dabei Künstler:innen überhaupt eine maßgebliche Rolle zugedacht wurde, ist ein europäisches Phänomen. Århus Vægkeramik 1958 erhielt Asger Jorn vom Staatlichen Kunstfonds in Dänemark den Auftrag für die künstlerische Innenausstattung des neu erbauten Statsgymnasium in Århus (Jütland). Es handelt sich dabei nicht nur um die größte öffentliche Aufgabe, die der Künstler

Mikropolitiken | 93 Abb. 17 Asger Jorn vor der Århus vægkeramik (Århus Wandkeramik) (1959) (Foto  : Børge Venge) Abb. 18 Asger Jorn, Århus vægkeramik (Århus Wandkeramik) (1959), glasierte Keramik ca. 3 × 27 m, Århus, Statsgymnasium ©Aarhus Stadsarkiv (Foto  : Ib Nicolajsen)

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Abb. 19 Asger Jorn mit dem gemalten ­Modell des Wandteppichs Den lange rejse (Die lange Reise) (1961). Spätere Ausführung  : Pierre Wemaëre zusammen mit Yvette Prince (Aufsicht), Paola Faimali (1. Weberin), Gilbert Heck, Micheline Van und Inge Bjørn.

im Laufe seiner Karriere einwerben konnte. Es war zugleich das teuerste Kunstprojekt, das der dänische Staat bis dahin für die Ausstattung eines Funktionsbaus für die Allgemeinheit jemals finanziert hatte. Die beiden Werke, die in diesem Rahmen realisiert wurden – die Århus Vægkeramik (Århus Wandkeramik) (1959) (Abb. 17 und 18) sowie der gemeinsam mit Pierre Wemaëre realisierte Wandbehang Den lange rejse (Die lange Reise) (1961) (Abb. 19) – kennzeichnen somit sowohl im Œuvre des Künstlers als auch in der Nachkriegsgeschichte Dänemarks eine wichtige Etappe. Nicht nur wurde Asger Jorn mit der Auftragsvergabe von höchster Stelle Anerkennung für seine Kunstpraxis ausgesprochen. Die Entscheidungsträger im Kunstfonds maßen ihr auch einen so hohen Stellenwert bei, dass sie bereit waren, Kosten in ungewohntem Ausmaß zu übernehmen. Dänemark reihte sich damit demonstrativ in die Gruppe derjenigen Staaten ein, die künstlerische Experimente großzügig mit öffentlichen Mitteln unterstützen. Jorn ermöglichte der Auftrag, programmatisch die Bedeutung von Handarbeit in der Industriegesellschaft betonen zu können. Wie er 1957 in einem Text über Handweberei schrieb  : Doch der Mensch bleibt immer der lebende und belebende Mittelpunkt aller von ihm erfundenen Techniken  : keine Maschine kann die Bedeutung der Hand oder der primi-

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tivsten Werkzeuge, deren er sich bedient, wie Hammer, Schere oder Nadel vermindern, ohne gleichzeitig die Bedeutung des Menschen selbst zu vermindern.127

Für Jorn waren die Handweberei und Keramik diejenigen Medien, die mit ihren Schnittstellen zur Industrieproduktion diesen Stellenwert des Menschen thematisieren konnten. Es liegt in der Natur des Künstlers, dessen höchstes Ziel immer in der Schaffung des Wunderbaren, des Phänomenalen, des Meisterwerks lag, alles zu versuchen, den Bereich der Instrumentierung seiner Unternehmungen auszuweiten und unter anderem in den außerhalb des mechanisierten Lebens liegenden handwerklichen Techniken neue Mittel zu suchen, um die Mechanisierung des Lebens zu bekämpfen.128

Von daher ist es nicht verwunderlich, dass die Århus Vægkeramik wiederholt Gegenstand von Analysen war, wenn es um die Frage nach der Ausbildung eines neuen Materialverständnisses ging.129 Nicht allein die mit ca. 3 × 27 Metern monumentalen Ausmaße der titellosen Arbeit begründen also seine Prominenz für die Kunstgeschichte der Nachkriegszeit. Es ist auch ein Objekt, an dem sich paradigmatisch die Veränderungen im Umgang mit Material aufzeigen lassen. Materialien sind, wie Monika Wagner schreibt  : »[…] Indikatoren gesellschaftlicher Empfindlichkeiten, denn an ihnen lagert sich die Geschichte ihrer Verwendungsweisen an  ; schon dadurch vermitteln sie soziale Codes«130. Um diese Codes soll es im Weiteren gehen. Jorn setzte, finanziert vom dänischen Staat, mit der Wandkeramik das um, was er propagierte  : Kollaboration von Künstler:innen und Handwerker:innen zur Gestaltung von Alltag in der Industriegesellschaft mit dem Ziel eines sozialverträglichen und lebensfreundlichen Miteinanders. Im Zentrum der folgenden Ausführungen stehen daher nicht die Strukturen der Allianz von staatlicher und künstlerischer Programmatik, die ein Thema für die Betrachtung von Makropolitik wären. Hier interessiert mit Konzentration auf die Produktion das Dispositiv von Zusammenarbeit, das im Gefüge der Nachkriegszeit Möglichkeiten einer Neuverortung von Kunst andeutet. Ohne die Keramiker:innen der Werkstätten

127 Asger Jorn  : »Der Webstuhl … Spielzeug der Künstler« (1957). Übersetzung François Grundbacher/Walo Fellenberg. In  : Troels Andersen (Hg.)  : Asger Jorn. Gedanken und Betrachtungen über Kunst und zur Arbeit einiger seiner Künstlerfreunde. Anlässlich der Ausstellung Asger Jorn in Silkeborg – Die Sammlung eines Künstlers Kunsthalle Bern 1981. Bern 1981, 39 – 44, 39. 128 Jorn 1981 (1957), 40. 129 Vgl. Kurczynski 2014 sowie dies.: »Materialism and Intersubjectivity in Cobra«. In  : Art History 39 (2016), Heft 4, 676 – 697, hier  : 689 – 693. Die ausführlichste Beschreibung über die Produktionsvorgänge dieses monumentalen Reliefs inklusive Bilddokumentation findet sich bei Lehmann-Brockhaus 2007, 155 – 190. 130 Monika Wagner  : »Materialien als soziale Oberflächen«. In  : Dies./Dietmar Rübel (Hg.)  : Material in Kunst und Alltag. Berlin 2002, 101 – 118, 101.

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von Albisola, die ihre Kreativität beim Modellieren der Tagwerke, deren Brennen und Glasieren einbrachten, wäre nämlich das riesige Relief nicht realisierbar gewesen. Mit der Århus Vægkeramik wird die Auseinandersetzung mit Jorns Mikropolitiken also nochmals geweitet  : COB RA, mit der Jorn seine Positionen erstmals auf einer internationalen Ebene einbrachte, war eine Vereinigung von Künstler:innen gewesen, die ihre Ideen und Konzepte zur Rolle von Kunst gemeinschaftlich weiterentwickeln und dies öffentlich kommunizieren wollten. COB R A ist ein Indiz dafür, dass es nach dem Zweiten Weltkrieg ein Wunsch war, den künstlerischen Austausch nicht auf nationale Ebenen zu beschränken. Man wertete die gemeinsame Erfahrung des Krieges in Europa als eine Grundlage, sich kollaborativ mit den dadurch erworbenen Traumata, aber auch den neu gewonnenen Chancen auseinandersetzen zu können. Die Akteur:innen von COBR A entwarfen dabei eine eigene, von der politischen Ordnung weitgehend unabhängige Geographie. Als wesentliches Instrument der Kommunikation nach außen dienten ihnen ihre Publikationen, die mit ihren geringen Auflagen allerdings eher den Stellenwert einer Selbstvergewisserung hatten, als dass sie damit ein breiteres Publikum erreichten. Genau auf dieses zielten jedoch viele der CO B R A-Akteur:innen. Nach der Auflösung der Gruppe änderten sich 1954 mit M . I . B. I . die Strategien, die sich nun nicht mehr auf den Kunstbetrieb beschränkten. Jorn und seine Mitstreiter:innen nutzten die seit Jahrhunderten in Albisola ansässige Keramikproduktion für eine Allianz zwischen Kunst und Handwerk, um so eine Brücke zum Lebensalltag von Menschen schlagen zu können, die in den exklusiven Zirkeln des Kunstbetriebs nicht bedacht wurden. Allerdings blieb die Praxis hinter der Idee zurück. Zwar kam es im Rahmen des ersten Incontro internazionale della ceramica sowie darüber hinaus bei den kurzzeitigen Besuchen von Künstler:innen am Ort zu temporären Kollaborationen. Die Objekte, die diese in den dortigen Werkstätten unter Anleitung der Töpfer:innen anfertigten, waren jedoch Galeriearbeiten, die der studio pottery vergleichbar letztlich mit den Alltagsgegenständen der Keramikindustrie nur das Medium gemeinsam hatten. Dies war zwar eine wichtige Schnittstelle für die Ausbildung einer neuen, einer massentauglichen Ästhetik, die Jorn mit seinen Keramikarbeiten voranzutreiben versuchte. (Vgl. Abb. 2 und 6) Überzeugend gelang der Brückenschlag zwischen Kunst, Handwerk und industriellen Fertigungsverfahren jedoch erst mit der Århus Vægkeramik. Die Entstehung des Reliefs hat eine längere Geschichte, die bis 1954 zurückdatiert, als die Architekten Arne Gravers Nielsen und Johan Richter den Auftrag für den Bau des Schulgebäudes erhalten hatten. Jorn mit in das Vorhaben einzubeziehen, war vor allem eine Idee von Robert Dahlmann Olsen, der dem Freund nach dessen langer Krankheit eine finanzielle Unterstützung zukommen lassen wollte.131 Jorns Vorstellungen für die künstlerische Ausgestaltung waren zunächst äußerst umfangreich und sollten mit Eingriffen in die Fassadengestaltung, farbigen Fenstern, einem mit Sträu131 Vgl. Lehmann-Brockhaus 2007, 157 – 167. Vgl. auch die Unterlagen zum Auftrag in den Jorn Archives Silkeborg.

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chern, Bäumen und Hausteinen angelegten Labyrinth im Innenhof, einem Wandteppich, Keramikreliefs in den Gängen sowie einer Keramikwand in der Eingangshalle von dem Gehäuse regelrecht Besitz ergreifen.132 Letztlich wurde auch mit Blick auf die explodierenden Kosten und in Absprache mit den Architekten nur das großformatige Keramikrelief für die Eingangshalle sowie in Zusammenarbeit mit Pierre Wemaëre der Wandbehang für die Aula realisiert. Jorn und Wemaëre setzten in dem Auftrag für Århus das um, was sie während ihrer gemeinsamen Ausbildungszeit in Paris in der Werkstatt von Fernand Léger gelernt hatten  : Mit den Wandarbeiten traten sie jenseits von Dekoration in einen Dialog mit der Architektur und präsentierten zugleich malerische sowie bildhauerische Darstellungsmodi.133 Mit ihrem großen Format, vor allem aber in ihrer Ausführung, stellt die Århus Vægkeramik eine Besonderheit dar, die darüber hinaus im Gegensatz zu anderen Keramikreliefs der Zeit auch die Kollaboration des Künstlers mit den Handwerkern in Albisola demonstriert. Wie Karen Kurczynski schreibt  : »The Århus mural […] made full use of the potential of ceramics as Jorn theorized it  : ceramics as an anonymous, collective medium shaped as much by its own inherent materiality as by spontaneous modern expression.«134 Mit ihrer Länge von ca. 27 und einer Höhe von ca. 3 Metern ist die Tonarbeit ein monumentales Werk, dessen Planung, Erstellung und Fertigstellung eine Herausforderung darstellte. Jorn war Maler, der zwar zum Zeitpunkt der Auftragsvergabe bereits intensiv mit den gestalterischen Möglichkeiten von lehmiger Erde und gemahlenem Glas experimentiert hatte. Dennoch beinhaltete das Vorhaben technische Schwierigkeiten, die er weder in der Ausführung noch konzeptionell allein umsetzen konnte. Ihm fehlte ganz arbeitspraktisch das Know-how für die Planung von Materialbeschaffung, Arbeitsabläufen und dem Installieren der gebrannten Platten vor Ort. Aber auch die gestalterische Aufgabe war nicht einfach  : Zum Zeitpunkt der Auftragsvergabe waren die Raumaufteilung sowie die Deckenhöhen mit der Verteilung und Abdeckung von Versorgungsleitungen bereits ausgeführt worden. Die Wand in der Eingangshalle, die für die Platzierung des Reliefs vorgesehen war, wurde an zwei Stellen von Flügeltüren, die in die Aula führen, unterbrochen und bestand somit aus einer großen Fläche sowie zwei kleinen Endstücken. Für die Komposition gab es dadurch bereits unveränderbare Vorgaben. Das Ganze wurde zudem dadurch verkompliziert, dass man von keinem Standpunkt aus mit einem Blick die gesamte Wand, noch nicht einmal ihr langes Mittelstück, wahrnehmen kann. Zudem waren die Fenster, die den Lichteinfall und damit die Oberflächenwirkung der Glasur maßgeblich bestimmen, bereits platziert und eingebaut. Die Aufgabe der Wandgestaltung bedeutete also, auf eine bestehende Situation reagieren zu müssen, statt diese mitzuplanen. 132 Vgl. Lehmann-Brockhaus 2007, 160. 133 Vgl. Carola Giedion-Welcker  : »Ursprünge und Entwicklungswege des heutigen Reliefs« (1961). In  : Ausstellungskatalog Münster, Westfälisches Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte 1980  : »Reliefs. Formprobleme zwischen Malerei und Skulptur im 20. Jahrhundert«. Hg. von Ernst-Gerhard Güse. Münster 1980, 19 – 22, 20. 134 Kurczynski 2014, 133.

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Zur Realisierung des Auftrags benötigte Jorn Partner:innen, für die er zunächst die Familie Mazzotti und die Handwerker:innen der Fabbrica Mazzotti in Albisola ins Auge gefasst hatte.135 Die Entscheidung zur Zusammenarbeit mit einem aus dänischer Sicht ausländischen Unternehmen zog einen längeren juristischen Klärungsprozess nach sich, der über mehrere Monate dauerte. Als 1959 endlich grünes Licht gegeben wurde, stand der Betrieb der Mazzottis, der sich damals im Rahmen von Erbschaftsregelungen neu aufstellen musste, vorübergehend nicht zur Verfügung. Asger Jorn ging daraufhin mit Eliseo Salino und dessen neugegründeter Werkstatt San Giorgio den Untervertrag ein. Dieser besagte, dass Salino Material, Räume und Öfen für die Erstellung der Wandkeramik genauso zur Verfügung stellen sollte wie die technische und künstlerische Assistenz. Salino oblag es zudem, die gebrannte und glasierte Keramik von Ligurien nach Jütland zu transportieren und dort vor Ort zu installieren. Da die Öfen der Werkstatt San Giorgio für so einen umfangreichen Auftrag nicht ausreichten, wurde zudem die Brennkapazität der Stoviglia Cooperativa in Albisola Capo, die auch sonst bei derartigen Engpässen aushalf, mit einbezogen. Teile des späteren Reliefs wurden daher während der Produktionsphase durch den Ort hin und her transportiert, so dass das Vorhaben zu einem Ereignis wurde, an dem die Bewohner:innen des Städtchens regen Anteil nahmen. Die Århus Vægkeramik zeigt eine Darstellung, die ohne Zentrum und Richtung über die drei Teile der Wand im Eingangsfoyer des Schulgebäudes verläuft. Das menschliche Blickfeld erlaubt es lediglich, immer nur einen Teil des Reliefs zu erfassen, das in Komposition und mit seinen Figurationen an Gemälde wie etwa Af den stumme myte, op. 2 (Abb. 1) erinnert.136 Nur die Dimension ist viel größer und die intensive Oberflächenmodulation mit extremen Höhen und höhlenartigen Tiefen vermittelt vor Ort – anders als Reproduktionen es leisten können – einen weitaus intensiveren Eindruck, der dazu anregt, die gesamte Wand abzuschreiten. Die überwältigende Größe und die taktile Struktur bedingen ein eindringliches körperliches Erlebnis, das durch die intensive Farbigkeit mitgetragen wird. Eine Varianz von matten, glänzenden, opaken und ganz durchsichtigen Glasuren in den verschiedensten Farbtönen von Schwarz und Braun über Tiefblau, Türkis, Grasgrün, Orange, Blutrot bis hin zu Sonnengelb und verschiedenen Weißschattierungen gestalten die Oberfläche des Reliefs. Um sowohl die Plastizität als auch die Farbvarianz herstellen zu können, war es notwendig, die Tonplatten bei niedriger Temperatur zu brennen, ein Vorgang, der nur durch die Erfahrung der Handwerker:innen zu meistern gewesen war. Sie hatten auch die Mixtur aus vier verschiedenen Tonarten hergestellt, die die erforderliche feine Struktur gewährleistete. Die blasse graurosa Farbe der Scherben, die durch die sauerstoffarme und kohlenstoffreiche Luft bei niedriger Brenntemperatur erreicht wird und die zum 135 Alle Angaben zu Auftragsvergabe und -ausführung aus Lehmann-Brockhaus 2007, 167. 136 Vgl. die ausführliche Beschreibung der Århus Vægkeramik bei Lehmann-Brockhaus 2007, 178 –  188, die daneben auch Bezugnahmen auf noch weitere Gemälde von Jorn nennt. Zu Af den stumme myte, op. 2 vgl. Kap. 2.

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Teil durch die Glasur durchscheint, lieferte eine ideale neutrale Grundlage für die Kolorierung des Reliefs. Der visuelle, körperintensive Eindruck der Århus Vægkeramik basiert auf einer Kollaboration komplexer Arbeitsabläufe, die eine exakte Abstimmung der einzelnen Beteiligten erforderlich machte. Asger Jorn erstellte nach den Entwurfszeichnungen zwei Arbeitsmodelle aus Keramik. Das kleinere der beiden im Maßstab von 1  : 20 überließ er den Architekten Nielsen und Richter, das größere, bereits differenziertere im Maßstab von 1  : 10, welches er später in der Küche der Casa Jorn in Albisola verbaute, diente als Grundlage, die Produktion des Reliefs zu organisieren.137 Nach Absprache mit den Handwerker:innen wurde die Bearbeitung der Tonplatten, die für die Modellierung eine bestimmte Feuchtigkeit haben mussten, in elf Tagwerke unterteilt. Für diese Arbeit wurden 4 × 3 Meter große Sperrholzplatten im Hof der Werkstatt von Eliseo Salino ausgelegt – mehr als eine, maximal zwei Platten ließ die Größe des Hofes nicht zu –, auf denen der zuvor durch maschinelles Kneten geschmeidig gemachte Ton in Platten von unterschiedlicher Dicke zwischen 5 cm und 30 cm ausgerollt wurde. Dies bedurfte spezieller Kenntnisse der Tonbearbeitung, durch die, der Bearbeitung eines Hefeteigs vergleichbar, eingeschlossene Luftblasen beseitigt wurden, die ansonsten zu einem Zerspringen des Scherbens beim Brand führen konnten. War diese Arbeit erledigt, modellierte Jorn die Oberfläche der jeweiligen Platte mit Händen und Spachtel, wobei teilweise Reliefhöhen von 50 cm entstanden. Helfer:innen assistierten ihm mit ihrem Wissen um typische Praktiken, etwa zur Erstellung von rhythmischen geometrischen Mustern durch Stanzen mit einem Backstein.138 Neben menschlichen Fußspuren und Hundepfoten zeigt die Oberfläche auch andere Abdrücke aus dem Alltag. Bekannt ist die Fotografie von Ugo Morabito, auf der zu sehen ist, wie Jorn auf einem Motorroller sitzend unter der Anweisung von Eliseo Salino über den Ton rollt.139 War die Modellierung einer Platte abgeschlossen, wurde sie mit erdfarbener und weißer Engobe bedeckt, um dann für den Brand in kleinere Partien zerlegt zu werden. Wie schon bei seinen Reliefarbeiten, die er während des ersten Incontro 1954 gearbeitet hatte (Abb. 2 und 6), zerschnitt Asger Jorn die Platten nicht in rechtwinkelige Teile, sondern legte, der fluide erscheinenden Darstellung folgend, ein Netz von bewegten Linien an, das den visuellen Eindruck mitprägt. Solange der Ton noch feucht genug war, wurde er von den Handwerkern zur Vermeidung von Sprüngen und zur Optimierung des Brennergebnisses auf der Rückseite leicht ausgehöhlt und anschließend jedes der insgesamt 1200 Teile von Salino durchnummeriert. Nach dem Trocknen wurden sie gebrannt, ein Vorgang, der zumal bei den unregelmäßigen Volumina der Platten bei der Befeuerung Erfahrung und Routine voraussetzte. Danach wurden für das Auf137 Vgl. Lehmann-Brockhaus 2007, 168 – 169. Dort auch eine Abbildung des kleinen Modells, das heute im Besitz von Gudrun und Viggo Nielsen, Roskilde (DK), ist. 138 Vgl. Kurczynski 2014, 128. 139 Diese Partie befindet sich im Relief an der rechten Seite des Mittelteils. Eine Fotografie der erwähnten Szene u. a. in Brockhaus-Lehmann 2007, 171.

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bringen der Glasur die Teile der drei unterschiedlichen Wandpartien für sich ausgelegt und bearbeitet. Auch hierbei assistierten Spezialist:innen. »The Italian ceramists aided Jorn at every stage.«140 Die fertiggestellten Keramikteile wurden per Zug nach Århus transportiert und dort von den Handwerkern Giovanni Pastorino und Mario Spotorno unter der Anleitung von Eliseo Salino und Asger Jorn montiert. Auch hierbei waren wieder Erfahrung und Können gefragt. Nicht nur mussten die Wandabstände so eingerichtet werden, dass nach der Auflage auf die metallenen Träger die wellige Oberflächenstruktur ohne Brüche erhalten blieb. Auch hatte Jorn bei seiner Planung die für die Installierung notwendige Verfugung nicht mitberechnet. Das Relief war dadurch zu groß und musste beschnitten werden, ein massiver Eingriff, der im Resultat nicht sichtbar ist. Dass bei dieser Anpassung genau der Teil abgetrennt wurde, der Jorns Signatur trug, war konsequent  : Es war die Partie, auf die Jorn am ehesten verzichten konnte. Am Ende offenbart die Rezeption des Werkes die Widersprüche, auf die man im Zusammenhang mit Jorn immer wieder stößt  : So sehr er während der Produktion die Kollaboration betonte, in der Kommunikation über das fertiggestellte Werk erhob er den alleinigen Anspruch auf Autorschaft. Er war derjenige, der Zeitungen Interviews gab, der für Fotos vor dem Relief posierte (vgl. Abb. 17) und es stolz Kolleg:innen zeigte. Im Œuvre­verzeichnis firmiert Århus Vægkeramik als ein Werk von Asger Jorn, nicht als das eines Arbeitskollektivs oder einer Kollaboration von Jorn mit Eliseo Salino und den Werkstätten in Albisola. Während Jorn auf der Ebene der Produktion die gestalterische Ermächtigung handwerklicher und logistischer Kompetenzen praktizierte, blieb er letztlich im Raster etablierter Muster der Kunstgeschichte, die im Künstler einen Schöpfer sehen. Während seine Mitproduzent:innen immerhin einen ökonomischen Nutzen aus der gemeinschaftlichen Produktion ziehen konnten, blieb der symbolische Wert auf diese Weise einzig bei ihm. Die Arbeit an der Århus Vægkeramik und deren Montage in Århus fielen in Jorns Leben mit einem wesentlichen Einschnitt zusammen  : Ende der 1950er Jahre trennte er sich von seiner zweiten Ehefrau Matie van Domselaer. Sein Leben in der Familie in Albisola mit den gemeinsamen beiden Kindern Ole und Bodil sowie Matie van Domselaers Töchtern Martha und Olga fand damit ein Ende. Jorn gab zwar das Haus, das sie 1957 in den Bergen von Albisola Marina erworben hatten, nicht auf. Allerdings verließ seine Familie den Ort und zog nach Paris. Der Künstler, der in den kommenden Jahren von Kopenhagen aus den größten Teil seiner Zeit mit der umfangreichen Fotokampagne zur Publikation von Büchern über die mittelalterliche Kunst und Kultur Skandinaviens verbringen sollte, hielt sich nur noch sporadisch in Albisola auf. Für seine Kooperationspartner:innen in Italien war diese Entwicklung nicht nachvollziehbar. Nicht nur wurde in dem stark vom Katholizismus geprägten Land, in dem erst 1970 gegen den starken Widerspruch der Papstkirche die Scheidung möglich wurde, das Verlassen einer Ehepartnerin und der Kinder als ein Bruch mit ethischen Konven140 Kurczynski 2014, 126.

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tionen angesehen. Auch war für die Handwerker:innen und Künstler:innen, mit denen Jorn nicht nur eine intensive Zusammenarbeit, sondern auch einen gemeinsamen Lebensalltag aufgebaut hatte, völlig unverständlich, warum er dieses aus ihrer Sicht überraschend aufgab. Als ihr Sprecher, der versuchen sollte, Jorn zur Umkehr zu bewegen, fungierte Giuseppe Pinot Gallizio. Der Künstlerfreund erntete allerdings nur eine rüde Abfuhr mit dem Hinweis, sich nicht in die Lebensentscheidung eines anderen einzumischen.141 Von kurzen Aufenthalten abgesehen, sollte Jorn erst in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre wieder für längere Phasen nach Albisola zurückkehren und auch dann erst sein Arbeiten mit Ton wieder aufnehmen. Als er 1959 bei der Anbringung der Århus Vægkeramik von einem ortsansässigen Journalisten interviewt wurde, machte er die harte Arbeit am monumentalen Relief für diesen Schnitt verantwortlich  : »Ich bin krank von Keramik. Es wird mir übel davon. Ich will vorläufig keine mehr machen.«142 Was auf den ersten Blick wie ein Überengagement gepaart mit einer krisenhaften Entwicklung im Privatleben aussieht, kann allerdings auch als Konsequenz interpretiert werden, einen Ausweg aus einer Sackgasse finden zu wollen. Zwar hatte auf mikropolitischer Ebene mit der Århus Vægkeramik die Realisation neuer Strukturen von Zusammenarbeit funktioniert. Jede  :r hatte und musste die eigenen Kompetenzen einbringen, damit das Vorhaben umgesetzt werden konnte. Verschiedene kleinteilige Einheiten – Deleuze und Guattari nennen sie molekulare Elemente – hatten dabei ineinander gegriffen, so dass aus dieser Kooperation ein Ganzes entstanden war, das die Spuren seiner Entstehung zeigt. Ende der 1950er Jahre war der Kunstbetrieb in Europa jedoch weder in der Lage noch bereit, diese Konstellation adäquat rezipieren und die damit verbundenen gesellschaftlichen Veränderungen befördern zu können. Es dominierten konventionelle Vorstellungen vom Künstlertum, verbunden mit dem Konzept eines Werkes, mit dem sich der männlich gedachte Schöpfer verwirklicht. Zu dieser Struktur gehörte auch die Trennung von Kunst und Handwerk, auch wenn eine in Debatten viel geschätzte Institution wie das Bauhaus schon Jahrzehnte zuvor an Konzepten für deren Zusammenführung und an einer Neuinterpretation von Kreativität gearbeitet hatte. Das Festhalten an einer Hierarchie der Medien, die immer noch mit einer Privilegierung von Staffeleimalerei einherging, verbunden mit der Hilflosigkeit, das Verhältnis von Kunst zu technologischen Entwicklungen in den Gesellschaften und die damit verbundenen Arbeitsverhältnisse erfassen zu können, verengten den Blick und trugen dabei nicht zuletzt zur Manifestierung eurozentrischer Ordnungsmodelle in einem Kunstbetrieb bei, in dem nach dem Zweiten Weltkrieg tatsächlich bereits ganz neue Dynamiken entstanden waren.143 Zwar war – Jorns Aktivitäten und Positionen 141 Vgl. Briefwechsel zwischen Giuseppe Pinot Gallizio und Asger Jorn. In  : Jorn Archives, Museum Jorn, Silkeborg  : Breve fra G. Pinot Gallizio til Jorn. 142 In Virtus Schade  : Asger Jorn. Kopenhagen 1965, 17, zitiert nach Lehmann-Brockhaus 2007, 175. 143 Vgl. Ausstellungskatalog München, Haus der Kunst 2016/17  : »Postwar 1945 – 1965. Kunst zwischen Pazifik und Atlantik«. Hg. von Okwui Enwezor/Katy Siegel/Ulrich Wilmes. München 2016.

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sind selbst ein Zeichen dafür – diese Ordnung in Bewegung und Unruhe geraten. Es bedurfte aber mehr als das Einwerben eines öffentlichen Auftrages und dessen Durchführung in kollaborativer Praxis, um – mit Deleuze und Guattari gesprochen – durch »Quanten-Strömung« »segmentierte Linien« nachhaltig so zu irritieren, dass sich neue Ordnungsmodelle formieren konnten.144 Jorns verstärktes Engagement in der Situationistischen Internationale Ende der 1950er Jahre, die mit Provokationen den herkömmlichen Kunstbetrieb zu irritieren suchte, ist daher nicht unbedingt Ausdruck einer Ruhelosigkeit. Diese Neuorientierung kann auch als eine Einsicht in die Notwendigkeit interpretiert werden, neben der Produktion unbedingt auch die Bedingungen der Rezeption ändern zu müssen. Wie die Entwicklung im Kunstbetrieb in den kommenden Jahren zeigen sollte, war die Gemeinschaft in Albisola mehr als nur ein Experiment auf Zeit gewesen. Die mit Århus Vægkeramik realisierte kollaborative Kulturpraxis war eines der Vorbeben, mit denen sich das grundlegende Aufbrechen alter Ordnungen im modernen Kunstverständnis ankündigte. Das Konzept einer Gemeinschaft, die mehr als nur die partikularen Interessen einer bürgerlichen Ästhetik verfolgt, konnte dabei in einer neuen Gemengelage ganz anders aufgehen und zugleich von diesen im Nachkriegsgefüge bereits angelegten Strukturen profitieren. Prozesse, die zunächst in mikropolitischen Zusammenhängen stattfanden, führten nachhaltig zu Veränderungen und lassen es daher auch geraten sein, die Historiographie der Kunstgeschichte für die 1950er Jahre entsprechend zu verändern. Geflechte und Verflechtungen

Gilles Deleuze und Félix Guattari nutzten den Gegensatz von Mikro- und Makropolitik, um auf diese Weise die Lagerung von Strukturen herauszupräparieren. Ihre aus den Natur- und Technikwissenschaften entlehnten Begriffen molekular und modular lassen auch für die Kunstgeschichte abstrakte Einheiten bilden, die Komplexität gedanklich sortier- und damit erfassbar machen. Allerdings stößt dieses Modell an seine Grenzen, wenn es um die Beschreibung geht, wie soziale Interaktionen die Stabilität oder Dynamiken der einzelnen Segmente gewährleisten oder verändern. Um die Handlungsbedingungen und -optionen im Nachkriegsgefüge konturieren zu können, benötigt man daher einen weiteren Zugang, der helfen kann, die bislang gewonnenen Ergebnisse zu verfeinern. Mit der Vorstellung vom Geflecht soll diese Profilierung erfolgen. Geflecht, Plexus, bezeichnet in der Medizin Verbindungen von motorischen und sensiblen Nervenfasern und -strängen. Mit diesem Bild – so meine Intention – wird die Flexibilität der Verschlingungen und die Bindungsfähigkeit der Beziehungen betont und zugleich auf die Möglichkeit weitläufiger Verzweigungen hingewiesen. Ein Gefüge und speziell seine Knotenpunkte werden durch Geflechte stabilisiert, die je nach Struktur unter144 Vgl. Deleuze/Guattari 1992, 284 – 316.

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schiedlich dehn- und belastbar sind  ; manchmal können sie auch reißen und werden dann funktionslos. Dies soll im Folgenden anhand von drei Beispielen, die jeweils eigene Dispositionen aufweisen, dargelegt werden. Sie machen auch deutlich, dass Jorn deshalb so platznehmend sein konnte, weil er von ganz verschiedenen Seiten gestützt wurde. Zugleich helfen sie, das Bild von der Nachkriegszeit zu verdichten. Nun ist der Begriff des Geflechts kein unproblematisches Instrument historiographischer Rekonstruktionen, auch wenn er mit der Möglichkeit zur Beschreibung unregelmäßiger Verzweigungen bis hin zur Verfilzung gegenüber dem Modell des Netzwerks eine größere Offenheit zur Analyse von sozialen Konstellationen bietet.145 Mit dem Netzwerk teilt jedoch auch er die Tendenz, sich auf die materiell habhaftbaren Fakten wie etwa Briefe, Protokolle von Treffen oder Listen zu und Fotografien von Ausstellungen zu konzentrieren, während die immateriellen Faktoren wie etwa spontane Sympathie, alltägliche Fürsorge oder Gereiztheit und deren Ursachen, sofern sie nicht schriftlich dokumentiert wurden, weitaus schwieriger zu erfassen sind. Gerade in Bezug auf das gemeinsame Handeln, das in den hier thematisierten Geflechten eine konstitutive Rolle spielt, lässt sich all das nur vage rekonstruieren. Auch haben nicht alle menschlichen Beziehungen dieselbe Basis und sind von ganz unterschiedlichen Machtverhältnissen überformt, kommen doch ein und derselben Person in Sozialverbänden durchaus unterschiedliche Rollen zu. So nahm der Familienvater Asger Jorn etwa im Austausch mit dem Familienvater Constant eine andere Position ein als der Mann Jorn, für den Matie van Domselaer ihren Ehemann Constant verließ. Jorns Gespräche mit dem Kunstkritiker Lawrence Alloway in der für ihn fremden Sprache Englisch verliefen in einer anderen Intensität als die mit dem Künstlerfreund Giuseppe Pinot Gallizio auf Italienisch oder Französisch, die gleichfalls nicht Jorns Muttersprachen waren, die er aber weitaus besser beherrschte und in denen er viel differenzierter argumentieren konnte. Eine Rekonstruktion, die mit Konzepten von Geflecht und Verflechtungen arbeitet, kann diese Defizite nur bedingt aus dem Weg räumen. Besser als beim Netzwerk lässt sich mit ihr jedoch anzeigen, dass die Sozialbeziehungen alles andere als eine gleichmäßige Struktur aufweisen. Je mehr sie miteinander und ineinander verflochten sind, umso stabiler können sie ein Gefüge halten oder, wie bei der Konstellation Asger Jorn – Constant – Matie van Domselaer, zerstören. Die Stränge – um im Bild des Flechtwerks zu bleiben –, die ich zur Beschreibung der Bindungsfunktion von Geflechten ausgewählt habe, begünstigten je eigene Dynamiken  : Die Beziehungen zu den Künstlerfreunden Constant und Giuseppe Pinot Gallizio beschreiben unterschiedliche Handlungsräume, die Positionen im Kunstbetrieb facettenreich stärken konnten. Die Rolle dieser Künstlerfreundschaften war eine grundlegend andere als die Beziehung 145 Vgl. Julia Gelshorn/Tristan Weddigen  : »Das Netzwerk. Zu einem Denkbild in Kunst und Wissenschaft«. In  : Hubert Locher/Peter J. Schneemann (Hg.)  : Grammatik der Kunstgeschichte. Sprachprobleme und Regelwerk im ›Bild-Diskurs‹. Oskar Bätschmann zum 65. Geburtstag. Zürich u. a. 2008, 54 – 77.

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von Asger Jorn zu Matie van Domselaer, die als Lebensgefährtin und Mutter der gemeinsamen Kinder äußerst prekäre Situationen auszugleichen verstand und so für den Künstler in den für ihn ereignisreichen 1950er Jahren eine relativ stabile Lebens- und Arbeitssituation gewährleistete. Künstlerfreunde Die bisherigen Ausführungen haben gezeigt, dass Asger Jorn nicht nur in seinen Schriften die Bedeutung von Gemeinschaft propagierte. Er lebte auch danach. Die Veränderungen, die sich dadurch auf mikropolitischer Ebene hinsichtlich konventioneller Ästhetik- und Kunstvorstellungen abzeichnen, wurden dabei weiterhin weitgehend von einer bipolaren Geschlechterordnung gerahmt, die weiße Männer begünstigte. Dass jedoch auch diese keineswegs eine homogene Menge abgaben, sondern vielmehr untereinander hierarchisierten, machen die unterschiedlichen Positionen deutlich, die Jorns Freunde Constant und Giuseppe Pinot Gallizio im Kunstbetrieb einnahmen  : Der eine, Constant, wie Jorn ein ausgebildeter Künstler, der theoretisch interessiert hartnäckig seine Vorstellungen öffentlich zur Diskussion stellte und seine Sozialbeziehungen im Feld der Kunst dazu nutzte, seine Anschauung zu festigen. Der andere, Pinot Gallizio, ein Autodidakt, der mit derselben Hartnäckigkeit unkonventionell neue Handlungsräume erschloss, im Kunstbetrieb dabei jedoch ein Außenseiter blieb. Mit Constant, wie Jorn Mitbegründer von COB R A und einer der Verantwortung tragenden Akteur:innen der Gruppe, verband Asger Jorn das gemeinsame Interesse an der Gestaltung von urbanen Räumen. Giuseppe Pinot Gallizio, wie Jorn und Constant einer der Mitbegründer von M. I. B. I. , war der Freund und cicerone, der Jorn nicht nur mit den kommunalpolitischen Strukturen in Ligurien vertraut machte. Als Naturwissenschaftler und archäologisch interessierter Laie regte er zudem zu ungewöhnlichen Materialexperimenten an, bei denen zwar die Zweckfreiheit der Kunst bestehen blieb, die Schnittstelle zu eindeutig alltäglichen Tätigkeiten aber durchlässig wurde. Während Jorn mit Constant gedanklich eine neue Kunst entwarf, erarbeitete er gemeinsam mit Gallizio deren praktische Voraussetzungen. Ein gemeinsames Anliegen dieser Freunde, die allesamt gelegentlich in Albisola zusammenkamen, war es, einen aus ihrer Sicht zu eng gefassten Kunstbegriff zu erweitern und zeitgemäß zu aktualisieren. Mit ihrer Verschiedenheit charakterisieren sie, in welch breitem Interessenspektrum sich ein Künstler wie Asger Jorn bewegte und welch unterschiedliche Anknüpfungspunkte er gleichzeitig finden konnte. Die Geflechte und Verflechtungen, die mit den Künstlerfreundschaften hier betrachtet werden, resultieren aus spezifischen Bedingungen der Nachkriegszeit in Europa. Während seines ersten Aufenthalts in Paris nach Kriegsende lernte Asger Jorn dort Constant kennen, der Kontakt mit Gallizio kam erst einige Jahre später in Italien zustande. So unterschiedliche Persönlichkeiten uns mit den Dreien begegnen, charakteristisch ist, dass es Freundschaften unter Männern waren. Sie praktizierten ein

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Ideal von seelischer Symbiose und den daraus resultierenden Synergien, während sie Frauen die Rolle als Zuschauerinnen zudachten  : Freundschaft unter Künstler:innen, die auch der Beförderung gemeinsamer Interessen in der Öffentlichkeit diente, war in der Nachkriegszeit im Wesentlichen geschlechtlich codiert und eine Kameradschaft von Männern, die zu diesem Zeitpunkt noch kein Pendant bei Künstlerinnen kannte. Die Künstlerfreundschaft von Constant und Asger Jorn, die sowohl Allianzen und Kontroversen bei COB RA , M. I. B. I. und der Situationistischen Internationale als auch eine handfeste persönliche Krise überdauerte, begann im Herbst 1946. Beide lernten sich beim Besuch einer Ausstellung von Werken von Joan Miró in der Galerie Pierre Loeb in Paris kennen.146 Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs waren Reisen in die alte Kunstmetropole zwar beschwerlich, aber wieder möglich geworden. Vieles hatte sich dort verändert. Während der Kriegsjahre, in denen Paris von der Deutschen Wehrmacht okkupiert gewesen war, waren zahlreiche Künstler:innen ins Exil gegangen und sollten, wie etwa Miró, dessen jüngste Werke die Galerie zeigte, nicht mehr dorthin zurückkehren. Auflagenstarke und prominente Zeitschriften, wie etwa Minotaure, hatten durch die kriegsbedingte Zensur und Materialknappheit ihr Erscheinen einstellen oder wie die Cahiers d’art die Publikation unterbrechen, Kunsthandlungen ihre Räume schließen müssen. Pierre Loeb, in dessen Galerie sich Jorn und Constant begegneten, und die auch für COB RA zu einer wichtigen Adresse werden sollte, war nach Kriegsende aus dem Exil zurückgekehrt. Er gehörte zu den Akteur:innen im Kunstbetrieb, die das wieder herstellen wollten, wofür Paris früher so geschätzt worden war  : Die Möglichkeit, an diesem Ort Künstler:innen aus anderen Ländern und Kulturen treffen, mit ihnen eine Vielfalt von Ausstellungen sowie Ateliers von Kolleg:innen besuchen, tage- und nächtelang Gedanken austauschen, diskutieren und Pläne schmieden zu können. Das, was nach Ende des Krieges reinstalliert wurde, war jedoch weit davon entfernt und konnte auch gar keine Fortsetzung des früher Erlebten werden. Überall in Europa hatten Menschen im Krieg, in den Vernichtungslagern oder auf der Flucht ihr Leben verloren oder körperliche Verletzungen davongetragen. In großem Umfang waren materielle Güter, aber auch Sozialbeziehungen zerstört worden. Jüdisches Leben, das trotz des Antijudaismus und späteren Antisemitismus immer zu Europa gehört und die Stadt- und Landkulturen mitgeprägt hatte, existierte nahezu nicht mehr. Nicht nur gegenüber den jüdischen Mitbürger:innen hatte es neben Hilfsbereitschaft auch Verrat gegeben. Jetzt kam es in Frankreich, Norwegen, der Tschechoslowakei und anderswo in Europa zu Racheaktionen gegenüber denjenigen, die mit den Faschist:innen kollaboriert hatten. Diejenigen, die wie Constant und Jorn nicht ins Exil gegangen waren, die den Krieg als Zivilist:innen, junge Familienväter oder -mütter und als Künstler:innen 146 Vgl. Trudy van der Horst  : »Constant 1920 – 2005«. In  : Ausstellungskatalog Amstelveen, Cobra Museum of Modern Art 2016  : »Constant. Space + Colour. From Cobra to New Babylon«. Hg. von Ludo van Halem und Trudy Nieuwenhuys-van der Horst. Rotterdam 2016, 134 – 145. Zu Constant vgl. auch die Homepage der Stiftung Constant  : https://stichtingconstant.nl [Abruf 12.4.2023].

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überlebt und deren Vorkriegskarrieren einen harschen Abbruch erfahren hatten, waren durch die Gewalt und den Hunger der Kriegsjahre sowie der Monate danach traumatisiert. Devisen und Reisedokumente beschaffen und damit wieder nach Paris reisen, dort Ausstellungen und Ateliers besuchen zu können, bedeutete so etwas wie eine Rückkehr zu einer gewissen Form alter Normalität. Allerdings ließ sich nicht ausblenden, dass auch europäische Staaten bereits in neuen Kriegen engagiert waren, bei denen sie versuchten, ihre alten, während der Weltkriegsjahre ins Wanken geratenen kolonialen Ansprüche wiederherzustellen bzw. aufrechtzuerhalten. In Indochina kämpfte die französische Armee, unterstützt von der Fremdenlegion, gegen Truppen der Unabhängigkeitsbewegung Vietnams, die von China Hilfe erhielten.147 Die Niederlande versuchten mit militärischen Mitteln die junge Republik Indonesien, die 1945 nach dem Ende der Besetzung durch japanische Truppen ihre Unabhängigkeit erklärt hatte, wieder in ihren Besitz zu bringen.148 Und auch in der räumlichen Nachbarschaft wurde weiter mit Waffen gekämpft  : In Griechenland versuchte sich die Regierung zwischen 1946 und 1949 mit militärischen Mitteln an der Macht zu halten. Sie wie auch ihre Gegner:innen wurden dabei mit Geld und Waffen von anderen Staaten unterstützt, die auf diese Weise Einfluss behalten bzw. gewinnen wollten.149 Angesichts dieser Situation plädiert Hannah Feldman dafür, statt von einer Nachkriegszeit, von post-war, besser von einer Zeit während des Krieges, von during-war, zu sprechen.150 Eines ihrer Argumente ist dabei, dass der Begriff Nachkrieg nicht nur fälschlich eine Friedlichkeit suggeriert, die es tatsächlich nicht gab. Indem er die Einstellung von kriegerischen Handlungen in fast ganz Europa zum Maßstab macht, schreibt er vielmehr auch eine Hierarchisierung fort, die keineswegs Europa, sondern ein bestimmtes Europabild zum Maßstab nimmt. Griechenland wird dabei genauso marginalisiert wie Vietnam, Indonesien oder Algerien, ganz zu schweigen davon, dass eine Definition von Europa völlig ausgespart bleibt. Wenn ich mich entschieden habe, dennoch mit dem Begriff Nachkriegszeit zu arbeiten, dann nicht nur, weil es sich um eine eingeführte Bezeichnung handelt. Vielmehr nahmen die Akteur:innen, die hier im Blickfeld stehen, die Jahre als Zeit nach einem großen Krieg wahr, in denen es ihnen darum ging, einen nächsten zu verhindern. Für Asger Jorn und Constant, deren Leben während der Kriegsjahre durch die Regeln der Besatzungsmacht Deutschland wesentlich bestimmt worden war, standen daher die 147 Vgl. Christopher E. Goscha  : Historical Dictionary of the Indochina War (1945 – 1954) – An International and Interdisciplinary Approach. Kopenhagen 2011. 148 Vgl. Loe de Jong  : Het Koninkrijk der Nederlanden in de Tweede Wereldoorlog. Deel 12  : Epi­ loog, tweede helft. Leiden 1988. 149 Vgl. Jon V. Kofas  : »Die amerikanische Außenpolitik und der griechische Bürgerkrieg 1946 –  1949«. In  : Bernd Greiner/Christian Th. Müller/Dierk Walter (Hg.)  : Heiße Kriege im Kalten Krieg. Hamburg 2006, 86 – 108. 150 Vgl. Hannah Feldman  : From a Nation Torn  : Decolonizing Art and Representation in France, 1945 – 1962. Durham, NC 2014, 2 – 3.

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Möglichkeiten einer Reorganisation und damit auch eine Neupositionierung im Zentrum. Dem Kennenlernen in Paris im Herbst 1946 folgten in den kommenden Monaten weitere Treffen. »Niet lang daarna kwam Jorn met zijn hele gezin – vrouw plus drie kinderen – bij ons in Amsterdam langs«151, erinnerte sich Constant 1999 in einem Interview. Darüber hinaus tauschten sie sich brieflich aus und entwickelten so ihre Gedankengänge im schriftlichen Dialog weiter. Nach dem Vorbild der Künstlergruppe Høst und deren Zeitschrift Helhesten, von der Jorn bei seinem Besuch in Amsterdam Exemplare mitgebracht hatte, gründete Constant zusammen mit Corneille und Karel Appel im Juli 1948 die Nederlandse Experimentele Groep, der sich sofort Constants Bruder Jan Nieuwenhuijs, Anton Rooskens und Theo Wolvecamp sowie wenig später Eugène Brandt, Gerrit Kouwenaar, Jan G. Elburg und Lucebert anschlossen. Gemeinsam wurden alle im November desselben Jahres Mitglieder von CO B R A .152 Anders als Høst in Dänemark war die Experimentele Groep in den Niederlanden ein reines »jongensboek«153. Fotografien von 1948, auf denen Teilnehmer:innen von Lesungen oder von Diskussionsveranstaltungen dieser Vereinigung zu sehen sind, zeigen zwar auch Frauen wie etwa Tientje (Catherina) Louw, Marga (Sara) Minco oder Paula Eisenloeffel. Die beiden Erstgenannten waren selbst bereits in den 1940er Jahren künstlerisch aktiv und genossen zur Zeit der Experimentele Groep einen gewissen Bekanntheitsgrad in der Öffentlichkeit. Tientje Louw, bis 1954 mit CO B R A -Mitglied Gerrit Kouwenaar liiert, schrieb und illustrierte als Zeichnerin Bücher.154 Marga Minco, mit dem Schriftsteller Bert Voeten verheiratet und neben einem Onkel die einzige Überlebende einer jüdischen Familie, war gleichfalls Schriftstellerin. Sie thematisierte offensiv ihre Erfahrungen der Shoa journalistisch und literarisch.155 Die Experimentele Groep hingegen vermied eindeutige Bezugnahmen auf die Zeitgeschichte. Schon während seiner künstlerischen Ausbildung hatte Constant Fragen zur Ästhetik als zeitunabhängig angesehen. Diese Idee verfolgte er zunächst weiter. Durch die Familie seiner ersten Ehefrau Matie van Domselaer, der Tochter des Avantgardekomponisten und De Stijl-Mitglieds Jacob van Domselaer, war er in Bergen und Amsterdam in Kreise eingeführt worden, in denen sich ehemalige Mitglieder und Unterstützer:innen dieser Künstler:innengruppe aus den Zwischenkriegsjahren trafen.156 Sie hielten während 151 »Nicht lange danach [nach dem Kennenlernen in Paris  ; BL] kam Jorn mit seiner gesamten Familie – Frau und drei Kindern – bei uns in Amsterdam vorbei.« (Übersetzung  : BL). Zitiert in  : Piet Calis  : Het elektrisch bestaan. Schrijvers en tijdschriften tussen 1949 en 1951. Amsterdam 2001, 15. 152 Vgl. Calis 2001, 16 – 17. 153 Calis 2001, 13. 154 Vgl. https://www.schrijversinfo.nl/louwtientje.html [Abruf 12.4.2023]. 155 Vgl. https://www.schrijversinfo.nl/mincomarga.html [Abruf 12.4.2023]. Marga war der Vorname einer Kollegin aus einer Zeitungsredaktion, den Sara Minco für ein gefälschtes Personaldokument während der Besatzungszeit verwenden konnte und den sie später nach Ende des Krieges beibehielt. 156 Vgl. Calis 2001, 14. Zu diesen gehörte auch Maties Bruder Jaap, ein bereits erfolgreicher Literat, der mit den jungen Eheleuten in Amsterdam die Wohnung teilte. Jaap van Domselaer

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der Kriegsjahre im Untergrund Avantgardeinteressen lebendig und wollten nun nach dem Krieg experimentellen Kunstformen eine Zukunft geben. Im Austausch mit den Künstler:innen aus Dänemark sollte sich Constants Perspektive allerdings zunehmend verändern und er angeregt werden, seine Grundfragen stärker mit dem Alltagsleben in Verbindung zu bringen. Die Orientierung an De Stijl blieb jedoch weiterhin in seinem Werk wesentlich, wie die Arbeit Constructie met gekleurde vlakken (Konstruktion mit farbigen Flächen) (1954) (Abb. 20) zeigt. Bevor sich Constant 1954 M. I. B. I. anschloss, wurde die Freundschaft mit Asger Jorn allerdings zunächst auf eine harte Probe gestellt  : Nachdem man sich in Amsterdam getroffen hatte und inzwischen COB RA gegründet worden war, besuchte Constant zusammen mit Matie van Domselaer und den drei jungen Kindern Victor, Martha und Olga im Sommer 1949 Jorn und dessen Familie in Kopenhagen, um von dort aus in einen gemeinsamen Sommerurlaub auf der Ostseeinsel Bornholm aufzubrechen. Dort bekannten sich Asger Jorn und Matie van Domselaer öffentlich als Liebespaar und trennten sich von ihren jeweiligen Ehepartnern. Jorn verlor damit für viele Jahre den Kontakt zu seinen drei Kindern aus erster Ehe. Van Domselaer verließ mit Constant auch ihren Sohn Victor, der beim Vater blieb, und brachte die beiden Töchter mit in die neue Beziehung. Erst Monate später konnten sich Constant und Jorn, inzwischen in Paris lebend, wieder einander annähern. Der Wunsch nach Austausch und Kooperation mit einem Gleichgesinnten war größer als die persönliche Verletzung, die Constant durch das abrupte Ende seiner ersten Ehe davongetragen hatte. Von 1949 an war der Kontakt zwischen beiden eine eher professionelle Beziehung. Constant und Asger Jorn unterstützten sich gegenseitig dabei, Präsentations- und Verkaufsmöglichkeiten für die Werke des jeweils anderen zu erschließen. Vor allem aber trafen sich ihre Interessen bei den Überlegungen, mittels gestalterischer Praktiken öffentliche Räume gemeinschaftstauglich zu machen. Trudy van der Horst, mit der Constant in den letzten Jahren seines Lebens verheiratet war, schildert, dass ihn die Trümmerlandschaften in europäischen Städten dazu geführt haben sollen, sich mit diesem Thema zu beschäftigen. Sie erzählt von Reisen des Künstlers nach Frankfurt/Main und London, bei denen er mit den Kriegszerstörungen konfrontiert worden sei.157 Diese Erzählung ist deshalb so interessant, weil sie Constants Konzept von Abstraktion entspricht  : Zu den am meisten zerstörten Städten des Zweiten Weltkriegs gehörte Rotterdam. Constant hatte seit Beginn der 1940er Jahre dieses Desaster, bei dem in wenigen Stunden eine große Stadt durch Bomben aus der Luft dem Erdboden gleichgemacht worden war und dabei unzählige Menschen ihr Leben verloren hatten, gewissermaßen vor seiner Amsterdamer Haustüre unmittelbar vor Augen. Statt dies als Referenz zu wurde 1944 erschossen, als er in den inzwischen von Wehrmachttruppen befreiten südlichen Teil der Niederlande hatte fliehen wollen. Mit Avantgarde werden z.T. sehr unterschiedliche Phänomene bezeichnet. Zur Schwierigkeit, den heterogenen Begriff zu definieren, vgl. Hubert van den Berg/Walter Fähnders  : »Die künstlerische Avantgarde im 20. Jahrhundert – Einleitung«. In  : Dies. (Hg.)  : Metzler Lexikon Avantgarde. Stuttgart/Weimar 2009, 1 – 19. 157 Vgl. Horst 2016, 137 – 138.

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Abb. 20 Constant, Constructie met gekleurde vlakken (Konstruktion mit farbigen Flächen) (1954), Plexiglas und schwarz gefärbter Stahl, 119,5 × 62 × 57,2 cm. Sammlung Stichting Constant. ­Dauerleihgabe Stedelijk Museum Schidam

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wählen, erzählte er von Eindrücken an fremden Orten. Er weitete damit nicht nur den Horizont, er generalisierte auf diese Weise auch seine alltägliche Erfahrung. Diese Form von Übersetzungsarbeit liegt auch seinem Gestaltungskonzept zugrunde, wenn er alltäglich disparate Eindrücke in einer Synthese so in Kunstsprache überführt, dass sie wie bei Constructie met gekleurde vlakken trotz Spannung eine ausgewogene, körperlich wahrnehmbare Balance erhalten. Die Künstlichkeit sublimiert auf diese Weise Alltagsrealität. Mit der Kombination von Konstruktivismus und der Abstraktion individueller Kriegserfahrung als einem generellen menschlichen Desaster repräsentiert Constant mit seinem Œuvre nicht nur eine Facette des Kunstbetriebs in den Niederlanden der Nachkriegszeit, mit der Positionen der Avantgarde aus den Zwischenkriegsjahren aktualisiert wurden. Er hatte damit auch Anteil an der Historisierung einer Kunst, die den Anspruch erhob, nicht dekorativ, sondern in ihren ästhetischen Eigenheiten gesellschaftsgestaltend sein zu wollen. Debatten des frühen 20. Jahrhunderts über Grundformen aufgreifend, galten nach 1945 die formalen Lösungen, die im Konstruktivismus entwickelt worden waren, als Beginn einer neuen, den Ansprüchen der Moderne adäquaten Kunst, in deren Tradition man sich stellte.158 Als 1953 das Stedelijk Museum in Amsterdam eine Ausstellung zeigte, bei der Constant gemeinsam mit Aldo van Eyck die Rolle von Farbe im Raum verhandelte, verfasste er für den Katalog den Text Voor een spatiaal colorisme. Diesen ließ er von Gerrit Rietveld, einem der Protagonisten von De Stijl, kommentieren.159 Der Architekt Rietveld mochte, wie seine Anmerkungen zeigen, die Positionen des Malers Constant nur bedingt teilen und lehnte dessen Generalisierungen sogar ab. Doch das spielte keine Rolle. Entscheidend war, dass sich Rietveld überhaupt auf diesen Austausch einließ und so an der Konstruktion einer kulturellen Kontinuität mitwirkte, die unabhängig von den politischen Ereignissen einen eigenen Zeitraum von Kunst repräsentierte. In dieses Szenario passt die Freundschaft von Constant und Asger Jorn, die beide trotz unterschiedlicher Lösungen das gemeinsame Ziel einer eigenmächtigen Kunst verfolgten. Mit einer gewissen Offenheit für Vielfalt und ihrer engen Kooperation über Landes- und Sprachgrenzen hinweg trugen beide Künstler zweifellos zum Demokratisierungsprozess im kriegszerstörten Europa bei. Allerdings blendeten sie aus, dass dabei bestimmte Gruppen weiterhin übergangen wurden. Dies waren neben Künstlerinnen die Angehörigen aus den Gesellschaften, die durch imperialistische und koloniale Machtinteressen marginalisiert worden waren, genauso wie diejenigen, die als Jüd:innen im Faschismus verfolgt in einem nun weitgehend befriedeten Europa einen neuen Platz finden mussten. Jorn und Constant hätten ihre Stimmen erheben können, 158 Vgl. Forgács 2020. 159 Vgl. Constant/Aldo van Eyck  : »Spatiaal colorisme«. In  : Dies.: Voor een spatiaal colorisme. Amsterdam 1952, 6 – 8. Der Text wurde später wiederholt abgedruckt und liegt in englischsprachiger Übersetzung mit Einfügung der Kommentare von Gerrit Rietveld vor in  : Ausstellungskatalog Amstelveen 2016, 148 – 149.

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Abb. 21 Giuseppe Pinot Gallizio, stehend zwischen Constant und Asger Jorn (in einem Münchner Brauhaus 1958)

um diesen Akteur:innen mehr Aufmerksamkeit zu verschaffen. Trotz ihrer energischen Plädoyers, mit denen sie die emanzipatorischen Potenziale von Kunst propagierten, hatten sie durch ihr Schweigen in dieser Hinsicht somit durchaus einen Anteil daran, dass das kulturelle Image des vom Faschismus weitgehend befreiten Europas auch nach dem Krieg weiß und männlich fundiert blieb. Bewegte sich die Freundschaft mit Constant in Strukturen, wie sie bereits seit Jahrzehnten im Kunstbetrieb in Europa etabliert waren, so war Asger Jorns Kontakt mit Giuseppe Pinot Gallizio unkonventionell. Die Zusammenarbeit mit Gallizio bot Jorn die Möglichkeit, experimentell den Umgang mit Materialien zu erproben und dabei ein Verständnis von Natur kennenzulernen, das diese als mitwirkende Partnerin interpretierte. Jorn konnte so lernen, das Material von Kunst als eigenständige, aktive Akteurin zu denken. Die beiden Männer teilten zudem das politische Ziel, die Bildung einer für alle sozial verträglichen Gemeinschaft voranzutreiben. Durch den Freund lernte Jorn die Position kennen, dass ein derartiges Zusammenleben nicht nur aus menschlichen Lebewesen besteht. Nicht zuletzt interessierten sich beide für archäologische Fundstücke aus ferner Vergangenheit, die sie als Dokumente von Zivilisationsgeschichte in ihre Konzepte von Kultur und deren Geschichte einbezogen. Asger Jorn lernte Giuseppe Pinot Gallizio (Abb. 21) 1955 über Piero Simondo, der wie Gallizio Kunstpraxis als Forschungsarbeit verstand, in Albisola kennen.160 1902 ge160 Vgl. Andersen 2001, 289 – 290. Zur Zusammenarbeit von Jorn und Gallizio vgl. vor allem Pezolet 2010. Unter dem Dach der Galleria d’Arte Moderna e Contemporanea (GAM) in Turin

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boren, hatte Gallizio Anfang der 1920er Jahre ein Chemiestudium in Turin abgeschlossen und dort zunächst an einem Institut für Pflanzenforschung gearbeitet. Später ließ er sich in seiner Geburtsstadt Alba als auf Heilpflanzen spezialisierter Apotheker nieder, der, wie Andersen es beschreibt, sein Einkommen jedoch vornehmlich mit selbstproduziertem Konfekt verdiente. Während des Zweiten Weltkrieges zunächst als Sanitäter für die italienische Armee mobilisiert, desertierte er und schloss sich einer Partisanen­ gruppe an, die die Befreiung des Landes vom Faschismus zum Ziel hatte. Wenngleich seither überzeugter Kommunist wurde er nach dem Krieg für die konservative Democrazia Cristiana (DC) in den Stadtrat von Alba gewählt. Später verließ er seine Fraktion und engagierte sich parteilos auf kommunal- wie regionalpolitischer Ebene. Genauso wie er mit Substanzen experimentierte, führte er sein Leben lang auf eigene Kosten Versuche mit Pflanzen durch. Hierfür recherchierte er Bodenbeschaffenheiten und Vegetationsverhalten, um anschließend durch Neupflanzungen das ökologische Gleichgewicht in der Langhe zu restabilisieren. Parallel zu seinen botanischen Aktivitäten suchte Gallizio in Höhlen seiner heimatlichen Umgebung nach zivilisatorischen Hinterlassenschaften aus dem Neolithikum, um materielle Belege für seine Theorie eines ökologischen Bewusstseins von Menschen in der frühen Siedlungsgeschichte der Region zu finden. Anders als Asger Jorn und Constant hatte Gallizio während der Kriegsjahre und danach nicht nur am Küchentisch über politischen Aktivismus diskutiert. Er hatte ihn sowohl mit der Waffe in der Hand als auch als Volksvertreter in Debatten politischer Gremien praktiziert. Gallizio wurde für Jorn der Mann, der, mit den politischen Strukturen seiner Heimat vertraut, für den Kontakt mit Menschen sorgen konnte, die zu den sogenannten kunstfernen Milieus gehörten. Mit Blick auf die etablierten Handlungsorte des Kunstbetriebs wie etwa Paris, Mailand oder London mag dies nachgerade rührend wirken. Tatsächlich aber konnten die Künstlerfreunde eine nachbarschaftliche Gemeinschaft aufbauen, die Kunst auch zu einer Sache für diejenigen werden ließ, die dem etablierten bürgerlichen Kunstbetrieb befremdet gegenüberstanden. Mit Gallizio, so lässt sich bilanzieren, sammelte Jorn praktische Erfahrungen zur Weitung des Kunstverständnisses. Die Rolle dieser Praxis als Vorläuferinnen von kunstbasierten Nachbarschaftsinitiativen gilt es kunsthistorisch noch zu erforschen. Jacques Rancière, den ich im ersten Kapitel des Buches als eine theoretische Referenz zitiert habe, hat darüber reflektiert, wie im Feld der Politik Aneignungen von Kunst stattfinden.161 Die Kooperation von Gallizio und Jorn zeigt, wie in einem kleinen Rahmen Kunst und Kreativität so zur politischen Meinungsbildung genutzt wurde, dass befindet sich seit 1999 das von einer Stiftung betriebene Archivio Gallizio. Der Aufbau der Dokumentationsarbeit geht allerdings nur schleppend voran, so dass die wissenschaftliche Aufarbeitung von Gallizios Rolle noch weitgehend aussteht. Eine kommentierte Ausgabe einiger seiner Schriften sowie eine Bibliographie enthält die ausführlich bebilderte Biographie von Martina Corgnati  : Pinot Gallizio. Ravenna 1992. 161 Vgl. Jacques Rancière  : Die Aufteilung des Sinnlichen. Die Politik der Kunst und ihre Paradoxien. Hg. von Maria Muhle. Übersetzung Maria Muhle in Zusammenarbeit mit Susanne Leeb und Jürgen Link. Berlin 20082 (zuerst Paris 2000).

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ein respektvolles Miteinander von Menschen und ihrer unmittelbaren Umgebung, dezidiert eingebettet in die Geschichte der Region, erprobt werden konnte. Schlüssel für die Akzeptanz dieses Modells war der leutselige Gallizio, der Mann auf der piazza mit offenem Ohr für die Anliegen seiner Nachbar:innen, dessen eigenwillige Ideen man tolerieren konnte, weil sie starre ideologische Konfrontationen vermeidend letztlich immer gemeinschaftstauglich waren. M. I. B. I . war ein dafür geeigneter Rahmen. Das doktrinäre Vorgehen von Guy Debord in der Situationistischen Internationale war hingegen nicht die Sache von Gallizio, der sich noch vor Jorn aus der Gruppe verabschiedete.162 Gallizio war bei der Gründung von M. I. B. I . Jorns wichtigster Partner geworden, der über die politischen Kontakte verfügte, um der Institution zu einer gewissen Aufmerksamkeit zu verhelfen. 1955 erklärten die beiden Freunde Gallizios Anwesen in Alba – eine kleine Klosteranlage aus dem 17. Jahrhundert – zum Sitz von M . I . B. I . , den Räumlichkeiten im Keller des Gebäudes gaben sie den Namen »laboratorio sperimentale di Alba«. Gemeinsam mit anderen Mitgliedern von M . I . B. I . beobachteten sie hier unter Anleitung von Gallizio das chemische Verhalten von Substanzen und experimentierten – auch Gallizio hatte inzwischen auf Anregung von Jorn mit dem Malen begonnen – gestalterisch. Sie nannten dies ein Studium der »fisica subnucleare«.163 Gallizio, der in der Runde diese Bezeichnung aufgebracht hatte, hatte den Begriff von dem Physiker Francesco Pannaria übernommen. Dieser beschäftigte sich in den Nachkriegsjahren mit submateriellen Prozessen, die durch die etablierten Systematiken der akademischen Naturwissenschaften nicht erfasst werden konnten, da sie sich unterhalb der Ebene von Kernphysik abspielen.164 Genauso wie Jorn und Gallizio ihre Suche nach archäologischen Fundstücken laienhaft betrieben, waren ihre Experimente in den Kellergewölben des laboratorio aus der Sicht konventioneller Naturwissenschaftspraxis dilettantisch. Das bedeutet jedoch nicht, dass sie allgemein belächelt wurden. Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts suchten zahlreiche renommierte Naturwissenschaftler:innen aus Praktiken von Künstler:innen, die mit chemischen Reaktionen oder physikalischen Vorgängen experimentierten, Erklärungen für wissenschaftlich nicht entschlüsselbare Vorgänge in der Natur zu finden. Anders als in den Laboren der akademischen Institutionen, in denen berechenbare und damit jederzeit nachvollziehbare Prozesse provoziert wurden, konnten die Künstler:innen Zufällen und dabei auch wilden Spekulationen freien Lauf lassen. Diese Praxis der Neugierde bot damals die Chance, etablierte Erklärungsmuster verlassen zu können und so auch Wissensbestände, die im akademischen System als nicht integrierbar ausgeschieden worden waren, zu dokumentieren. Prominent ist aus dieser 162 Vgl. hierzu auch Hildebrandt 2020, hier 106 – 109. 163 Vgl. Pezolet 2010, 66. Pezolet benutzt den englischsprachigen Begriff »antiworld«. 164 Vgl. die Kommentare von Claudio Cardella in Francesco Pannaria  : Aspetti e Scambi della Materia o Energia  : manoscritto inedito, trascrizione, introduzione e note di Claudio Cardella. Morrisville, NC 2020.

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Zeit das Beispiel August Strindberg, auch weil er die Kategorie Zufall theoretisch manifestierte.165 Die Praxis von M. I. B. I. in den Kellern von Alba kann zwar in diese Tradition gestellt werden, sie unterschied sich jedoch maßgeblich von dem Dispositiv um 1900, als man für akademisch nicht Erklärbares noch spirituelle Kräfte in Dienst nahm und in Künstler:innen Grenzgänger:innen zwischen verschiedenen Welten vermutete.166 In seiner Polemik im Briefwechsel mit Jorn referierte Max Bill auf diese Vergangenheit und hatte dem Dänen deshalb vorgeworfen, ein Mann von Gestern zu sein.167 Tatsächlich verkannte er dabei, dass bei M. I. B. I. nicht Spiritualität, sondern Materialität im Fokus war, es nicht um die Wirkungsweise diffuser Kräfte ging, sondern vielmehr das aktive Interagieren der Mitwelt erforscht wurde, für das die etablierten Modelle der Naturwissenschaften zahlreiche Fragen offen ließen.168 Und so waren auch die Räumlichkeiten, in denen in Alba die Experimente stattfanden, keine Zauberküche. Sie waren, finanziert von Gallizio und Jorn, wie ein kleines chemisches Labor in einer akademischen Forschungsinstitution eingerichtet. Die Versuche fanden unter der Leitung des in naturwissenschaftlichen Arbeitsroutinen ausgebildeten Giuseppe Pinot Gallizio statt, auf dessen Autorität Asger Jorn genauso vertraute, wie er in den Keramikwerkstätten in Albisola den Handwerker:innen die Aufbereitung von Ton, die Befeuerung der Öfen und das Brennen der Glasur überließ. Während jedoch die Handwerker:innen Material bearbeiteten, das für sie einen passiven Status hatte, dienten die Experimente in Alba dazu, mehr Verständnis für die aktiv gedeuteten Substanzen zu finden, um daraus Konditionen für eine Zusammenarbeit zu gewinnen. Die Vorstellung, Materialien als eigenständige Akteurinnen zu interpretieren, führte zu einer Neuverteilung im Miteinander der Kompetenzen. Die Figur des Subjekts, bei der in der Vergangenheit die Verantwortung gelegen hatte, gewann nichtmenschliche Partner:innen. Es greift zu kurz, diese konsequenzenreiche Verschiebung allein als ein Resultat der Beschäftigung von Gallizio mit Positionen von Francesco Pannaria oder von Jorns Lektüre von Schriften des Philosophen Gaston Bachelard zu interpretie165 Vgl. August Strindberg  : Verwirrte Sinneseindrücke. Schriften zu Malerei, Fotografie und Naturwissenschaften. Übersetzung Angelika Gundlach. Hg. von Thomas Fechner-Smarsly. Hamburg 2009. 166 Vgl. Ausstellungskatalog Frankfurt/Main, Schirn Kunsthalle 1995  : »Okkultismus und Avantgarde  : von Munch bis Mondrian 1900 – 1915«. Hg. von Veit Loers. Ostfildern 1995. 167 Vgl. ### 168 Die Mitglieder von M . I. B. I. , die an den Aktivitäten in Alba teilnahmen, waren im Kunstbetrieb weder die einzigen noch die ersten, die sich mit dieser Thematik beschäftigten. Roberto Matta, der auch am ersten Incontro teilnahm, hatte wie auch Wolfgang Paalen bereits in den 1930er Jahren damit begonnen, durch Beflammen bemalter Leinwände nicht kontrollierbare Prozesse zu studieren. André Breton thematisiert in seinem Fragment gebliebenen dritten Manifest des Surrealismus, das er im US-amerikanischen Exil verfasste, Entscheidungen von nicht-menschlichen Akteur:innen. Vgl. André Breton  : »Prolégomènes à un troisième manifeste du surréalisme ou non« (1942). In  : Ders.: Manifestes du surréalisme. Paris 1985, 147 – 162 (zuerst Paris 1962).

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ren.169 Diese Autoritäten waren nur Bausteine zur Erarbeitung einer eigenen, einer künstlerischen Position, die auf gemeinschaftlichem Handeln basierte und die in Alba Kontur gewann  : War mit COB RA schon ein kollaboratives Arbeiten praktiziert worden, erhielt dies in der Zusammenarbeit von Jorn und Gallizio nun mit gesellschaftlichen Bezügen einen konkreter definierten Rahmen. Nicola Pezolet konstatiert, dass zwar der Charakter der Räumlichkeiten des laboratorio mit ihren höhlengleichen Kellergewölben die spirituelle Dimension, die im Surrealismus der Zwischenkriegsjahre noch eine wesentliche Kategorie gewesen war, transportieren konnte. Eine andere symbolische Dimension war jedoch weitaus wichtiger  : Die antiquiert anmutende Arbeitspraxis, bei der die M.I.B.I. -Protagonist:innen unter Anleitung von Gallizio Materialexperimente vornahmen und hierzu Gäste aller Altersgruppen aus der Nachbarschaft einluden, stellte einen markanten Gegenentwurf zu den neuentstandenen Forschungsanlagen der Großindustrie dar, in denen in den 1950er Jahren abgeschottet von der Bevölkerung und unter größter Geheimhaltung Experimente zu militärischen Zwecken wieder aufgenommen worden waren.170 Im Kellergewölbe auf Gallizios Anwesen wurde hierzu eine Alternative praktiziert. Nicht allein das Wissen von naturwissenschaftlich geschulten Expert:innen, sondern auch Kreativität im Dialog mit den Substanzen sollte gesellschaftliche Energien freisetzen, die gleichzeitig ökologisch und sozial vertretbar waren. Es bietet sich an, die Künstlerfreundschaft von Asger Jorn und Giuseppe Pinot Gallizio aus einer handlungstheoretischen Perspektive zu betrachten. In Auseinandersetzung mit Schriften von Robert Pippin, John Dewey und Hans Joas hat die Philosophin Judith Siegmund Überlegungen angestellt, die auch die experimentellen Praktiken der beiden Künstlerfreunde als ein gesellschaftsrelevantes Kunstverständnis interpretierbar machen, mit dem die idealistische Auratisierung von Kunst aufgegeben wurde.171 Sinnbestimmend ist dafür nicht allein das Produkt, das die künstlerische Produktion hervorbringt. Vielmehr ergibt sich dessen Sinn wesentlich aus der Handlung selbst, die bei der Rezeption mit Aktivitäten in anderen Bereichen verbunden wird.172 Wenn also Jorn und Gallizio anregten, wie in einem Labor zu experimentieren, etikettierten sie diese Tätigkeit nicht nur als naturwissenschaftliche Forschung. Sie bespielten auf diese Weise aktiv die Schnittstelle zu der Praxis in den Großlaboren, deren Existenz 169 Vgl. Kurczynski 2016, hier 680 – 683. In ihrem Buch The Art and Politics of Asger Jorn (2014) stellt Kurczynski das große Keramikrelief im Statsgymnasium in Århus sogar als ein »renewed engagement with Bachelardian ideas of the imaginative possibilities inherent in physical materials« vor. Kurczynski 2014, 21. Vgl. auch ebenda, 129 – 130. Jorn war durch Christian Dotremont Ende der 1940er Jahre auf die Schriften von Gaston Bachelard aufmerksam geworden. Während für die Zeit von CO BR A Bachelards Theorien Anregungen liefern konnten, verloren dessen Positionen zum Material jedoch zugunsten der Erfahrungen an Bedeutung, die Jorn in Albisola und Alba sammelte. 170 Vgl. Pezolet 2010, 66. 171 Vgl. Judith Siegmund  : »Gedanken zu einer sozialen Handlungstheorie der Kunst«. In  : Daniel Martin Feige/Dies. (Hg.)  : Kunst und Handlung. Ästhetische und handlungstheoretische Perspektiven. Bielefeld 2015, 119 – 142. 172 Vgl. Siegmund 2015, 125.

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und Programmatik sie zugleich zum Thema machten. Auf nachbarschaftlicher, mikropolitischer Ebene entstand auf diese Weise, ganz im Sinne von Jorns modifications, eine kritische Öffentlichkeit. Für Gallizio war es daher völlig unverständlich, dass Jorn Ende der 1950er Jahre diese Allianz aufgab.173 Für Jorn wiederum, der meistens auf mehreren Hochzeiten tanzte, war Alba zu eng geworden. Fürsorgearbeit  : Matie van Domselaer COBR A, M.I.B. I. und S I waren keine reinen Männerbündnisse. Für die Nachkriegszeit typisch, waren die Frauen in diesen Gruppen jedoch keineswegs gleichberechtigt. Von daher ist es wenig erstaunlich, dass Asger Jorn Künstlerfreunde hatte – zwei wurden hier vorgestellt –, jedoch keine Künstlerfreundinnen. Mit Ausnahme von Michèle Bernstein, die allerdings als damalige Ehefrau von Guy Debord als dessen Sekretärin fungierte und in dieser Funktion auch die gesamte Korrespondenz ihres Mannes führte, tauschte Jorn mit den Kolleginnen keine Briefe, Karten oder kurze Notizen aus, unternahm mit ihnen keine Reisen oder Ausstellungsbesuche. Die Kooperation mit Guénia Katz Rajchmann am Buch Pigen i Idlen (1939) (Une fille dans le feu, 1966) (Mädchen im Feuer), die Karen Kurczynski als Beispiel für eine ungewöhnliche, da die Geschlechtergrenzen überschreitende Kollaboration anführt, entstand tatsächlich im Zusammenhang mit dem Liebesverhältnis, das Jorn damals mit der verheirateten Dichterin unterhielt.174 Auch die gemeinsamen Aktivitäten mit seiner Sammlerin und Mäzenin in den frühen 1940er Jahren, der später selbst künstlerisch tätigen Elna Fonnesbech-Sandberg, wurden durch die Liebesbeziehung des Paares gerahmt, die mit jeweils anderen Partner:innen verheiratet waren.175 Diese Zusammenarbeiten lassen sich daher eher als gemeinschaftliche Realisationen von Künstler:innenpaaren klassifizieren, nicht aber als ein Indiz für die Ausbildung neuer, geschlechterunabhängiger Kollaborationsstrukturen. Gegenüber Frauen, zu denen Jorn keinen Sexualkontakt hatte, hielt er genauso wie die anderen Männer seines Umfelds Distanz. In den späten 1940er und den 1950er Jahren spielte in Jorns Leben allerdings eine Frau eine zentrale Rolle  : Matie van Domselaer. Kunsthistorisch fällt sie durch fast alle Raster der Aufmerksamkeit. Weder war sie selbst Künstlerin noch unterstützte sie Asger Jorn mäzenatisch. Jorn inszenierte 173 Vgl. undatierter Brief von Giovanni Pinot Gallizio an Asger Jorn. In  : Breve fra G. Pinot Gallizio til Jorn. Jorn Archives, Museum Jorn, Silkeborg. 174 Vgl. Kurczynski 2014, 66. Zu Katz Rajchmanns Gedichtband Pigen i Idlen (Mädchen im Feuer), den Jorn aus dem Französischen ins Dänische übersetzte und mit Linolschnitten illustrierte, vgl. Hofman Hansen 1988, 57, Nr. 19. Eine Ausgabe mit den originalsprachlich französischen Texten erschien erst 1966 in einer Privatedition unter dem Titel Une fille dans le feu mit nur 46 Exemplaren. Vgl. ebenda 132, Nr. 388. Zur Verbindung von Jorn mit Katz Rajchmann vgl. auch Andersen 2001, 52 – 53, 56 und 61. 175 Zu Jorns Beziehung mit Elna Fonnesbech-Sandberg, die auch Redaktionsmitglied von Helhesten war, vgl. Andersen 2001, 102 – 114.

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sie nicht, Gala Eluard Dalí vergleichbar, als seine Muse noch bediente van Domselaer dieses Image. Matie van Domselaer schrieb keine Kunstkritiken, korrespondierte nicht mit den Galerien ihres Mannes, sie richtete nicht seine Ausstellungen ein und führte auch nicht sein Werkverzeichnis. Selbst auf Fotografien von Ausstellungseröffnungen ist sie nicht zu sehen. Anders als die damalige Frau von Roberto Matta, Malitte Pope Matta (vgl. Abb. 3), die gleichfalls keine Künstlerin war, nahm Matie van Domselaer auch nicht am ersten Incontro internazionale della ceramica in Albisola teil. Allerdings machte die Fotografin und Lebensgefährtin von Corneille Henny Riemers im Vorfeld der Veranstaltung eine Aufnahme, die Matie van Domselaer zusammen mit Corneille, Asger Jorn und den vier kleinen Kindern auf dem Campingplatz in Albisola zeigt, auf dem die Familie Jorn in Ermangelung einer festen Unterkunft im Zelt wohnte. Mehr als Worte beschreibt das Foto die Rolle von Matie van Domselaer  :176 Sie war die Frau im Hintergrund, zuständig für die Fürsorgeaufgaben in einer Familie mit vier jungen Kindern und einem Mann, dessen Lebensführung Flexibilität einforderte genauso wie die Fähigkeit, jahrelang wirtschaftlich prekäre Situationen meistern zu können. Von Beginn ihrer Paarbeziehung an musste Matie van Domselaer die Bereitschaft zur kreativen Anpassung unter Beweis stellen.177 Nachdem Asger Jorn und sie sich im Frühsommer 1949 spontan von ihren jeweiligen Ehepartner:innen getrennt hatten, fehlte ihnen eine Unterkunft, in der sie und die kleinen Töchter Martha und Olga aus van Domselaers Ehe mit Constant wohnen konnten. Da beide über kein regelmäßiges Einkommen verfügten, gelang es ihnen nicht, in Dänemark eine Wohnung zu mieten. Das Paar und die Kinder kamen die nächsten Monate notdürftig in verschiedenen Ferienhäusern, die damals noch nicht winterfest ausgestattet waren, von Freunden und Bekannten des Künstlers unter. Matie van Domselaer, schwanger von Jorn, lernte Dänisch, während sich Jorn vergeblich um die Realisierung seiner Publikationsprojekte kümmerte und mit den COB RA -Kolleg:innen korrespondierte. Ende 1950 zog die Familie, inzwischen um Sohn Ole angewachsen, nach Suresnes, einer Stadt bei Paris am Rande des Bois de Boulogne, wo sie das von einer privaten Initiative betriebene Maison d’artistes danois gemietet hatten. Doch auch dort wurde das Leben, nicht zuletzt durch Asger Jorns angeschlagenen Gesundheitszustand, nicht leichter. Als bei dem Künstler im Frühjahr 1951 Tuberkulose diagnostiziert wurde und er unverzüglich das Land verlassen musste, folgte ihm van Domselaer mit den Kindern nach Silkeborg. Dort lebte sie, erneut schwanger, finanziert durch die Fürsorge des dänischen Staates in einer nur 176 Die Fotografie ist abgebildet in Andersen 2001, 276. Andere Reproduktionen zeigen nur einen Ausschnitt der Aufnahme, die mit Fokus auf Jorn häufig so beschnitten wurde, dass Matie van Domselaer nicht mehr auf dem Bild zu sehen ist. Um das geläufige Image von van Domselaer als der Frau im Hintergrund nicht mehr weiterzutradieren, habe ich mich entschieden, Riemers Fotografie nicht zu reproduzieren und auch sonst keines der wenigen bekannten Bilder von Matie van Domselaer zu zeigen. 177 Vgl. Andersen 2001, der auf den Seiten 189 – 220 von der Zeit bis zu Jorns Genesung berichtet. Ich weise im Folgenden die einzelnen Informationen, die ich dieser Passage entnommen habe, nicht seitengenau nach.

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ärmlich ausgestatteten Sozialwohnung. Sie versorgte ihren Mann, den sie allerdings in der ersten Zeit aufgrund des Ansteckungsrisikos nicht besuchen durfte, mit Literatur. Der kleine Sohn Ole, der sich beim Vater mit Tuberkulose infiziert hatte, war für einige Monate in einer Kinderklinik untergebracht und wurde dort, gleichfalls zunächst ohne Kontakt nach außen, therapiert. Auch nach der Genesung sollte er noch jahrelang, bedingt durch die Krankheit und seine Hospitalisierung, einer besonderen Fürsorge bedürfen. Als Matie van Domselaer mit Mann und den Kindern Martha, Olga, Ole und Bodil, die im Herbst 1951 geboren worden war, 1954 in Albisola ankam, sollte das unruhige Hin- und Herziehen für die nächsten Jahre ein Ende finden. 1957 kaufte Asger Jorn ein altes Haus in den Hügeln von Albisola und erwarb damit einen festen Wohnsitz für die Familie. Bis dahin wohnten die sechs abwechselnd im Atelier von Lucio Fontana und, wenn dies durch dessen Besitzer im Sommer belegt war, auf dem Campingplatz. Wie sich Martha Nieuwenhuijs, Matie van Domselaers älteste Tochter, erinnert  : Als wir im Frühjahr in Albisola ankamen, wurden wir für einige Monate von Lucio Fontana in seinem Atelier im Pozzo Garitta aufgenommen. Den Sommer verbrachten wir dann in Grana in dem berühmten Zelt. Ich sage berühmt, denn häufig wurde es als letzte Zufluchtsstätte einer obdachlosen Familie hingestellt, vielleicht weil die Idee des Camping in der damaligen Zeit in Italien noch etwas Ungewöhnliches bedeutete. Tatsächlich war das Zelt, ein dänisches Fabrikat, in seiner Art ein wahres Schmuckstück  : es hatte nahezu die Größe eines Bungalows, war mit sechs Betten ausgestattet und besaß eine geräumige Veranda. Das Leben auf diesem Grundstück voller Aprikosenbäume, nahe am Haus von Aligi Sassu, verlief vergnüglich, zumindest für uns Kinder. […] Im übrigen verstand es meine Mutter, als Tochter eines Künstlers, mit geringen Mitteln jede Umgebung freundlich zu gestalten.178

Ob dies auch die Perspektive der Mutter war  ? Vielleicht wäre die kunstinteressierte Frau, die als Kind des Avantgardemusikers Jacob van Domselaer im Umfeld von De Stijl in der Großstadt Amsterdam aufgewachsen war und dort auch bis 1949 gelebt hatte, gelegentlich gerne nach Mailand gefahren oder hätte ihren Mann auf seinen Reisen nach Paris, London und Kopenhagen begleitet, statt sich in der Kleinstadt eines ihr fremden Landes um Einkäufe und die Wäsche zu kümmern  ?179 Ohne Angehörige in der Nähe, die in Italien im Familienverbund Eltern im Alltag halfen, fehlte es ihr an 178 Auszug aus einem ursprünglich auf Italienisch verfassten Brief von Martha Nieuwenhuijs an Piero Simondo vom 30.1.1997 in deutschsprachiger Übersetzung in Lehmann-Brockhaus 2007, 228 – 229. 179 Andersen 2001, 284 – 286 berichtet von den Problemen zwischen Jorn und van Domselaer, die aufgrund von chronischem Geldmangel und des instabilen Gesundheitszustandes von Sohn Ole dazu führten, dass der Künstler für seine Familie nach einer Unterkunft in Paris suchte. Der Umzug von van Domselaer und den Kindern in Frankreichs Metropole fand am Ende erst nach der Trennung des Paares statt.

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Unterstützung bei der Betreuung der noch jungen Kinder. Ein Rollenwechsel, bei dem Asger Jorn diese Aufgabe zumindest temporär übernommen hätte, fand nicht statt. Und so war es auch Matie van Domselaer, die den Kindern half, sich in die neue Umgebung zu integrieren und mit ihnen, nicht zuletzt für deren Schulbesuch, Italienisch lernte. Der Biograph von Asger Jorn, Troels Andersen, hat sein Buch mit Fotografien aus dem familiären Alltag illustriert, die den Künstler mit Kleinkindern aus seinen drei Familien entweder auf dem Schoß, an der Hand oder ihn in der Gruppe zeigen.180 Das Image des gutgelaunten Familienvaters, das so befördert wird und sich in die Literatur zu Jorn tradiert hat, entsprach allerdings nicht der Alltagsrealität. Tatsächlich war Asger Jorn, für die Nachkriegszeit in Europa keineswegs ungewöhnlich, ein abwesender Vater. In den 1950er Jahren konnte er von den emotionalen Vorteilen eines Familienlebens profitieren, weil sich die huisvrouw Matie van Domselaer zuverlässig um die Fürsorgeaufgaben kümmerte. Dass ihm, wie er Ende der 1950er Jahre die Trennung begründete, diese Konstellation zu eng geworden war,181 ist nur die halbe Wahrheit. Jorn hatte 1958 bei einer Ausstellungseröffnung in London Jacqueline de Jongh kennengelernt und mit ihr eine Affäre begonnen. Die erheblich jüngere Künstlerin, wie er Mitglied der Situationistischen Internationale, wurde für die nächsten Jahre seine neue Lebensgefährtin.182 Vermutlich hatten sich Matie van Domselaer und Asger Jorn ihre gemeinsame Zukunft weniger herausfordernd vorgestellt und sicherlich nicht damit gerechnet, dass ihr Leben durch die Krankheiten von Vater und Sohn so belastet werden würde. Keineswegs jedoch kann Matie van Domselaer im Sommer 1949 völlig naiv in die Beziehung gestolpert sein. Die damals 29-Jährige war zu diesem Zeitpunkt bereits Mutter von drei Kindern und hatte Erfahrung darin gesammelt, was Elternfürsorge bedeutet. Sie war in ihrer ersten Ehe nicht nur bereits mit einem Künstler verheiratet, sie stammte auch aus einem Künstlerhaushalt und kannte die Herausforderungen durch wirtschaftlich prekäre Lebenssituationen. Sie hatte als junge Frau den Krieg mit der Okkupation ihrer Heimat durch die Deutsche Wehrmacht erlebt, verbunden mit den Anfeindungen ihrer Angehörigen, die eine andere Kunstauffassung vertraten als die vom faschistischen Regime propagierte. Sie hatte den Tod des ihr nahestehenden Bruders verarbeiten müssen, der in den letzten Kriegsmonaten von der Besatzungsmacht erschossen worden war. Sie hatte das Selbstbewusstsein, die Ehe mit Constant zu beenden, auch wenn das zugleich die Trennung von ihrem Sohn Viktor bedeutete und sie von den niederländischen Freund:innen Unverständnis erntete. Jorns Hausfrau im Hintergrund zu werden, war offenbar zunächst auch gar nicht der Plan gewesen. 180 Vgl. Andersen 2001, etwa 169, 241, 276, 333, 486. 181 Vgl. den undatierten Brief von Asger Jorn an Matie van Domselaer. In  : Jorn Archives, Museum Jorn, Silkeborg  : Breve fra G. Pinot Gallizio til Jorn. 182 Künstlerisch ging Jacqueline de Jongh eigene Wege. Vgl. Ausstellungskatalog Brüssel, WIE LS u. a. 2021/22  : »Jacqueline de Jongh  : The Ultimative Kiss«. Hg. von Mercatorfonds. Brüssel 2021.

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Im Herbst 1949 hatte Asger Jorn die Arbeit an dem Text wieder aufgenommen, aus dem später Guldhorn og Lykkehjul (1957) hervorgehen sollte. Es waren die Monate, in denen das Paar keine feste Bleibe hatte und in Dänemark von Ferienwohnung zu Ferienwohnung zog. Als in dieser Zeit das Vorhaben zum Buch anwuchs, entstand der Plan, dieses auch auf Französisch zu veröffentlichen, um es so einem breiteren Publikum zugänglich zu machen. Nachdem sich Jorn zunächst selbst versucht hatte, übernahm van Domselaer die Übersetzung. Allein in sprachlicher Hinsicht war das keine leichte Aufgabe. Matie van Domselaer war weder Französisch- noch Dänisch-Muttersprachlerin und zudem erst noch dabei, Dänisch überhaupt zu erlernen. Dänisch und Französisch gehören auch nicht zur selben Sprachfamilie. Das bedingt bei Übersetzungen lexikalische Probleme. Auch Syntax und Grammatik unterscheiden sich. Bei einem komplexen Text wie Guldhorn og Lykkehjul kann es daher schnell, wenn nicht zu völligen Sinnverschiebungen, so doch zu unerwünschten Abweichungen und daraus resultierenden Missverständnissen kommen. Es bedurfte eines sehr einfühlsamen Sprachvermögens, um die Ausführungen adäquat übertragen zu können. Erheblich erschwert wurde die Übersetzung zudem durch Jorns assoziative und sprunghafte Argumentationsführung, die es quasi unmöglich machte, sich, wie bei der Übersetzungsarbeit geläufige Praxis, an Formulierungen aus vorhandenen Vorbildern anzulehnen. Die französischsprachige Ausgabe von Guldhorn og Lykkehjul ist daher das Ergebnis einer intensiven Auseinandersetzung mit der Gedankenwelt des Künstlers und ein Aushandeln von treffenden Formulierungen, die der Französisch-Muttersprachler Michel Ragon abschließend glättete. Mit Beginn der Paarbeziehung hatte sich, so lässt sich bilanzieren, Matie van Domselaer intensiv in die Ideen von Asger Jorn eingearbeitet und muss ihm dabei – anders wäre die Übersetzungsaufgabe nicht zu leisten gewesen – eine Gesprächspartnerin auf Augenhöhe geworden sein. Ihre große Fremdsprachenkompetenz und die offene Kommunikationsbereitschaft waren es auch, die der Familie das Einleben in Albisola erleichterten. Matie van Domselaer war es, die auf dem Markt und mit den Kindern in der Kleinstadt die Kontakte knüpfte und dafür sorgte, dass die Familie kein Fremdkörper blieb.183 Konform mit der Rolle als bürgerliche Ehefrau und Mutter nahm die Frau im Hintergrund, Matie van Domselaer, im Geflecht des Künstlers für einige Jahre in emotionaler, sozialer und intellektueller Hinsicht eine wichtige Stabilisierungsfunktion ein, die Asger Jorn eine Absicherung seines Handlungsraums verschaffte. Ende der 1950er Jahre hatte dies für Jorn offenbar seine Bedeutung verloren. Selbst eine kontextorientierte Analysepraxis der Kunstgeschichte vernachlässigt es bislang weitgehend, die Fürsorgeaufgaben, die künstlerisches Arbeiten ermöglichen, in den Blick zu nehmen und in ein Verhältnis zu Produktion und Rezeption zu bringen. Die Aufwertung von care-Tätigkeiten entspricht der Zielsetzung, zukünftig eine Wissenschaft betreiben zu wollen, die Machtstrukturen nicht mehr als selbstverständ183 Vgl. undatierter Brief von Giuseppe Pinot Gallizio an Asger Jorn. In  : Jorn Archives, Museum Jorn, Silkeborg  : Breve fra G. Pinot Gallizio til Jorn. Gallizio beschreibt in diesem Brief die Position von Matie van Domselaer in der kleinstädtischen Gemeinschaft von Albisola.

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lich hinnimmt, sondern thematisiert und dabei nicht nur den Gründen von Marginalisierungen, sondern auch denen von Stabilisierungen nachgeht. Zur Kartographie des Nachkriegsgefüges muss es daher gehören, diese Faktoren in das Geschichtsbild einzubeziehen. Während im populärwissenschaftlichen Rahmen Liebesdramen von Künstler:innen einen Resonanzraum finden, sind für fachwissenschaftliche Analysen stattdessen die Rekonstruktionen von Strukturen interessant, die nicht zuletzt helfen, Ideen und Theorien von Künstler:innen mit Alltagsrealität abzugleichen. So dokumentiert der Blick auf die Beziehung zwischen Asger Jorn und Matie van Domselaer, dass Jorns generalisierender Entwurf einer Gemeinschaft, die aus der historisch gewachsenen Zusammenarbeit optimale Bedingungen für die Zukunft gewinnt, eindeutig geschlechterdifferenzierende Züge trägt. Sie entsprechen den verteilten Rollen, die in der Nachkriegszeit Europas Frauen und Männern zugedacht wurden. Während diesen die Aufgabe zukam, für die wirtschaftliche Absicherung der Familie zu sorgen, übernahmen Frauen Fürsorgetätigkeiten für die Familienmitglieder und den gemeinsamen Haushalt. Indem Matie van Domselaer in der Paarbeziehung mit Asger Jorn ihrer geschlechtsspezifischen Aufgabe auch in angespannten Situationen nachkam, trug sie dazu bei, dass sich während und nach seiner Krankheit die Arbeitsbedingungen des Künstlers und seine psychische Verfassung konsolidieren konnten. Zudem hatte sie sich mit seinen inhaltlichen Vorstellungen so intensiv vertraut gemacht, dass sie ihm eine Gesprächspartnerin auf Augenhöhe sein konnte. Inwieweit Jorn dies ab 1954 wahr- und in Anspruch nahm, lässt sich nicht rekonstruieren  ; an den Gruppendiskussionen von M.I.B.I. und SI nahm Matie van Domselaer jedenfalls nicht teil. Dass Jorn umgekehrt, außer zum eigenen Nutzen, die intellektuellen Kompetenzen seiner Lebensgefährtin nicht förderte, stellte in den 1950er Jahren keine Seltenheit dar. Es wäre ausgesprochen unkonventionell gewesen, wäre er mit seinen Vorhaben zurückgetreten, um sich stattdessen mehr um die Kinder und die Haushaltsaufgaben zu kümmern. Aber er hätte durchaus mit Matie van Domselaer absprechen können, wie sie gemeinsam die finanzielle Grundlage für die Familie erwirtschaften sollten. Jorns streng rollenkonforme Haltung bedingte, dass Matie van Domselaer in die alleinige Rolle einer Mutter und Hausfrau rutschte, eine Rolle, die sie nach dem Vorbild ihrer Mutter lebte – eine Beobachtung, die auch die Tochter Martha im oben wiedergegebenen Brief anführt und damit eine Begründung lieferte, warum Matie van Domselaer sich arrangierte. Eine Karriere als sprachsensible Übersetzerin, für die sie zweifelsohne die Kompetenz gehabt hätte und mit der man das Einkommen der Familie hätte aufbessern können, verfolgte weder sie weiter noch unterstützte Jorn sie dabei. Er selbst profitierte in hohem Maße von ihrer bereitwilligen Fürsorge nicht nur während seiner Krankheit. Die Jahre ab 1954 waren die Zeit, in der seine internationale Karriere Fahrt aufnahm und er mit seinen Projekten Beachtung fand, 1958 gekrönt vom großen Staatsauftrag für Århus und der Einladung zur Teilnahme an der Documenta II. Wie bereits in Bezug auf das Künstler:innensubjekt konstatiert, gelang es Asger Jorn auch in der Paarbeziehung mit Matie van Domselaer nicht, konventionelle Rollenmuster hinter sich zu lassen. Sein nachlässiges Verhalten gegenüber seiner Ehepartnerin

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entspricht der mangelnden Förderung von Kolleginnen und der einseitigen Konzentration auf Künstlerfreundschaften – ein Profil, mit dem er alles andere als allein dastand. Betrachtet man die drei Beispiele, die ich für die Beschreibung der Geflechte ausgewählt habe, so zeigt sich, wie dominant und vergleichsweise unangefochten in den späten 1940er und den 1950er Jahren herkömmliche und bekannte Konventionen noch waren. Als stabil erwies sich letztlich einzig die Beziehung zum Künstlerkollegen Constant, der wie Jorn im etablierten Kunstbetrieb erfolgreich hatte Fuß fassen können. Mit der gegenseitigen Förderung durch die Vermittlung von Ausstellungen und Verkäufen sowie gelegentlichen Treffen zum Theoretisieren, bei denen man sich gegenseitig bestärken konnte, bewegte sich ihre Künstlerfreundschaft in vorgespurten Bahnen. Die Versuche, in einem kleinen, eher nachbarschaftlichen Rahmen neue Strukturen für eine Erweiterung des Kunstbegriffs zu etablieren, waren zwar in dieser Beschränkung erfolgsversprechend. Für Jorn erwies sich dieser Weg, den er vor allem mit Giuseppe Pinot Gallizio hatte gehen wollen, letztlich jedoch als zu mühselig und zu provinziell. Matie van Domselaer, die Großstädterin mit vermutlich ganz anderen Ambitionen, hatte sich dieser von Nachbarschaft geprägten Situation allerdings erfolgreich anpassen können. Nicht sie war es, die ausbrach, sondern Jorn, der nach einem neuen, ganz anderen Handlungsraum suchte. Dass Jorn eher ein Mann von Ideen war als jemand, der genügend Ausdauer für die Mühen der Ebene mitbrachte, ist nicht spezifisch für die Nachkriegszeit, sondern in seiner Person begründet. Auch wenn der Mangel an Durchhaltevermögen daher eher seine individuellen Eigenschaften charakterisiert, beschreibt er trotzdem auch allgemeine Schwierigkeiten, wenn es darum ging, ungewöhnliche Wege einzuschlagen. Die Gleichheit der Geschlechter zu realisieren, stellte allgemein eine große Hürde dar und man fiel eher in die Lebensmuster der vergangenen Generationen zurück, statt an einer Gleichstellung zu arbeiten. Dem entspricht, dass das Künstlersubjekt eindeutig männlich konnotiert blieb. Dennoch waren ein neuer Kunstbegriff auf den Weg gebracht und die Erkenntnis, dass Gestaltung ein Zusammenspiel von mehreren, auch nicht-menschlichen Akteur:innen ist. Zwischenbilanz

Mit Blick auf den Knotenpunkt Gemeinschaft lässt sich festhalten, dass der Zweite Weltkrieg zwar einen Einschnitt bedeutete, der Überlegungen und Praktiken für grundsätzliche Veränderungen im Feld der Kunst nach sich zog. In den späten 1940er und den 1950er Jahren können sich diese jedoch noch nicht nachhaltig durchsetzen. Was Anselm Haverkamp generell für Europa als Latenzzeit charakterisiert hat,184 kann für die spezielle Situation in den Künsten übernommen werden  : Neue Strukturen beginnen sich zu formieren. Sie sind jedoch noch nicht – um mit Deleuze und Guattari zu sprechen – modular, sondern erst im Stadium des Molekularen. Als normativer 184 Vgl. Anselm Haverkamp  : Latenzzeit  : Wissen im Nachkrieg. Berlin 2004.

Zwischenbilanz | 123

Rahmen bleiben Identitätskonzepte einer naturalisierten Differenz bestehen, wie sie sich in Europa mit der Aufklärung durchgesetzt und die moderne patriarchale, weiße Ordnung begünstigt hatten. Wenn, wie bei den Gemeinschaftskonzepten, von einer Öffnung des Kunstverständnisses die Rede ist, gilt es dies zu bedenken und zu problematisieren, dass Hierarchien zwischen den Geschlechtern oder Ethnien damit zunächst keineswegs gemeint waren. Die Vernichtung des Judentums durch den Faschismus war ein Thema, allerdings nicht für die Gruppen, die ausgehend von der Kunst die Gesellschaft befrieden wollten. Die Binnendynamiken im Nachkriegsgefüge, wie sich was durchsetzte und was warum verloren ging, muss allerdings noch intensiver erforscht werden. Dass sich mit verändertem Fokus neue Perspektiven auf die Geschichte der Kunst ergeben und erschließen lassen, hat schon jetzt der exemplarische Blick auf die Idee von Gemeinschaft gezeigt.

4 Zeitschaft und Vielzeitigkeit Die Kunstgeschichte Europas der Nachkriegszeit – so habe ich bereits weiter oben im ersten Kapitel konstatiert – lässt sich nicht als eindimensionale, linear verlaufende Geschichte erzählen. Solange jedoch keine neue Struktur geschaffen worden ist, welche den vielen unterschiedlichen Stimmen Gehör verschaffen kann, und man allein viele verschiedene Facetten wie Perlen auf einer Schnur aufreiht, läuft man Gefahr, am Ende nur eine weitere große Erzählung zu entwerfen.1 Das Konzept des Gefüges mit seinen unterschiedlichen Ausrichtungen und Dynamiken soll dies verhindern. Allerdings ist auch das kein Selbstläufer. Es bedarf einer Basis, einer Währung, die die Pluralität zusammenführt und zusammenhält. Das Buch In the Shadow of Yalta (2005/2009) markierte auch deshalb den Beginn einer neuen Etappe kunsthistorischer Debatten innerhalb der Europaforschung, weil sein Verfasser Piotr Piotrowski überzeugend verdeutlichen konnte, dass sich die Kunst in den Staaten des Sozialismus in vielerlei Hinsicht nicht von der in den westlichen Demokratien unterschied, auch wenn sie ganz offensichtlich anders war.2 Trotz der politisch bedingten unterschiedlichen Möglichkeiten, kreativ arbeiten und sich ausdrücken zu können, waren es hier wie dort dieselben spezifisch künstlerischen Fragen. Was anders war, waren die Zeitrechnungen, die in den jeweiligen Historiographien zu unterschiedlichen Taktungen geführt hatten. Während etwa 1948 COB RA gegründet wurde, wurden im gleichen Jahr in der Tschechoslowakei alle sogenannten kosmopolitischen Künstlergruppen mit einem Verbot belegt. Eine der vielen daraus resultierenden Konsequenzen war, dass der Kontakt von Asger Jorn zu den Mitgliedern der zur Auflösung gezwungenen Künstlergruppen Blok und Ra abbrach.3 Als Jorn 1954 gemeinsam mit anderen M . I . B. I . gründete, hatte nach Stalins Tod 1953 hinter dem Eisernen Vorhang das sogenannte Tauwetter eingesetzt, das nicht zuletzt einen künstlerischen Individualismus jenseits von Gruppenbildung begünstigte. Bei M. I. B. I. war hingegen die Arbeit in Gemeinschaft das Ideal. Piotrowski entwirft in seiner Untersuchung das Bild von Zeitschaft und einer durch 1 Vgl. Achim Landwehr  : Diesseits der Geschichte. Für eine andere Historiographie. ­Göttingen 2020, 17. 2 Vgl. Piotr Piotrowski  : In the Shadow of Yalta. Art and the Avantgarde in Eastern Europe, 1945 –  1989. Übersetzung Anna Brzyski. London 2009 (zuerst Posen 2005). 3 Vgl. Troels Andersen  : Asger Jorn. Eine Biographie. Übersetzung Irmelin Mai Hoffer/Reinald Nohal. Köln 2001, 172 (zuerst Kopenhagen, 3 Bde. 1994 – 1997). Vgl. auch Inge Herold  : »Becoming CoBrA  : Belgien, Frankreich, Tschechoslowakei, Deutschland, Schweden, Schottland, Ungarn«. In  : Ausstellungskatalog Mannheim, Kunsthalle 2022/23  : »Becoming CoBrA. Anfänge einer europäischen Kunstbewegung«. Hg. von Christina Bergemann/Inge Herold/Johan Holten. München 2022, 108 – 113, hier  : 111 – 112.

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Kunst verbundenen Vielzeitigkeit. Bei näherer Betrachtung zeigt diese Konstruktion allerdings nicht nur deshalb Defizite, weil sie – wie im ersten Kapitel ausgeführt – mit einem exklusiven Verständnis von Ästhetik operiert, das massenkulturelle Phänomene marginalisiert. Auch die Dominanz politischer Geschichte wurde mit der von Piotrowski angelegten Perspektive nicht gebrochen. Eine spezifisch kunsthistorische Historiographie der Nachkriegszeit gilt es daher noch besser zu profilieren. Ich möchte in diesem Kapitel die Idee, Kunst als gemeinsame Basis für einen Zusammenhalt zu wählen, aufgreifen und in Hinblick auf die Ausbildung des Nachkriegsgefüges – sozusagen die Arbeit an der Karte – vorantreiben. Wenn ich hierfür Anni Albers als Beispiel wähle, so hat das gleich mehrere Gründe  : Mit der Textilkünstlerin und Designtheoretikerin suche ich, wie schon im Fall von Asger Jorn, die Schnittstelle zwischen Alltagskultur und dem, was als Kunst verhandelt wird. Damit können, wie im Fall von Jorn, Albers’ Werke und Theorien Ausgangspunkt für Überlegungen zu einer globalen Kunstgeschichte abgeben, die ein eurozentrisches Verständnis von Kunst nicht absolut setzt, sondern inklusiv gestalterische Praktiken hierarchiefrei in den Blick nimmt. Mit Anni Albers thematisiere ich zudem das Phänomen der Vertreibungen, die im Zusammenhang mit dem Faschismus in den 1930er und 1940er Jahren erfolgten und die in die Nachkriegszeit nachhaltige Wirkungen zeigten. Sie machen es mehr als zuvor schwierig, in der Kunstgeschichte Europa nach 1945 ortsgebunden definieren zu können. Die Arbeiten und Theorien von Anni Albers, die in ihrer Praxis fest in europäischen Traditionen verwurzelt war, fordern uns heraus, die Definition für das Feld der europäischen Kunstgeschichte zu überdenken  : Sie muss offen genug sein, um nicht in die Fallen ideologisch motivierter Exklusionen zu gehen. Sie muss andererseits spezifisch genug sein, um Unterscheidungskriterien an die Hand geben zu können. Am Beispiel Anni Albers zeigt sich zwar das Europäische. Ihr Handlungsraum, in dem sie in der Nachkriegszeit ihre Umgangsweise mit Differenz ausbildete, war jedoch nicht Europa. Mit Anni Albers thematisiere ich Divergenzen, die mit Zeitschaft einhergehen. Diese stellen auch deshalb Herausforderungen dar, weil Grenzen und Definitionen Verhandlungssache sind. Fremdheit 1949 zeigte das Museum of Modern Art in New York die Ausstellung Anni Albers Textiles. Es war die erste Schau, welche die renommierte Institution der Textilkunst widmete und die erste Einzelausstellung einer Künstlerin überhaupt.4 Die ehemalige Bauhaus4 Vgl. Priyesh Mistry  : »Exhibiting Textiles  : MoMA 1949«. In  : Ausstellungskatalog Düsseldorf, Kunstsammlung NRW/London, Tate Modern 2018  : »Anni Albers«. Hg. von Anne Coxan/Briony Fer/Maria Müller-Schareck. München 2018, 130 – 135. Zur Ausstellung vgl. auch die unveröffentlichte Masterarbeit von Theresa Köhl  : Anni Albers Free Hanging Room Dividers (1949) – Gewebte Module zur Raumkonstitution. Philosophische Fakultät der Universität Tübingen, Kunstgeschichte, 2021.

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Abb. 22 Anni Albers mit Textilmustern (1950er Jahre) (Foto  : Unbekannt)

schülerin und spätere Bauhausdozentin (Abb. 22), die unter dem Eindruck rassistisch geprägter Ausgrenzungspolitik in ihrem Heimatland Deutschland 1933 in die USA ausgewandert war, erfuhr damit eine Anerkennung, die ihrer Position als Pionierin einer neuen Textilkunst und einflussnehmenden Akteurin im Kunstbetrieb der USA gerecht wurde.5 Wie Albers hatten in den 1930er und den frühen 1940er Jahren zahlreiche Künst­ler:innen ihre Heimat, in der sie aufgewachsen und ausgebildet worden waren, und wo sie ihre ersten Arbeitserfolge erlebt hatten, verlassen müssen.6 Ihre Emigration 5 Alle Angaben zur Biographie von Anni Albers stammen von der Homepage von The Josef and Anni Albers Foundation, Bethany, CT https://www.albersfoundation.org/alberses/biography [Abruf 12.4.2023] sowie der Zusammenstellung von Henriette Mentha  : »Josef und Anni Albers. Chronologie der Biographien und der künstlerischen Entwicklung«. In  : Ausstellungskatalog Bern, Kunstmuseum 1998/99  : »Josef und Anni Albers. Europa und Amerika«. Hg. von Josef Helfenstein/Ders. Köln 1998, 9 – 27. Sie werden im Folgenden nicht mehr extra ausgewiesen. Für einen Überblick zum Werk von Anni Albers vgl. auch Ausstellungskatalog Düsseldorf/London 2018 sowie Ausstellungskatalog Paris, Musée d’art moderne de la ville Paris/Valencia, Instituto Valenciano de Arte Moderno 2021/22  : »Anni et Josef Albers. L’art et la vie«. Hg. von Julia Garimorth. Paris 2021. 6 Obwohl der Exodus von Künstler:innen, Intellektuellen und Wissenschaftler:innen in den 1930er

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konnte, wie bei Anni Albers, in geordneten Bahnen als eine Übersiedlung erfolgen  : Albers’ Ehepartner Josef – wie sie ehemaliger Bauhausschüler und -dozent, dann sog. Jungmeister und einer der fest angestellten Professoren – hatte im Sommer nach der Schließung des Bauhauses und dem Verlust seiner regelmäßigen Einkünfte kurzentschlossen das Angebot angenommen, die künstlerische Direktion am neugegründeten Black Mountain College in North Carolina, USA, zu übernehmen.7 Mit Hilfe und finanzieller Unterstützung durch den Architekten Philip Johnson, der vom Bauhaus fasziniert war und der die Anwerbung für das College eingefädelt hatte, der äußerst wohlhabenden Kunstmäzenin Abby Aldrich Rockefeller, eine der Mitbegründer:innen des MoMA und Mitglied in dessen Stiftungsrat, sowie des Bankiers Edward M. M. Warburg erfolgte der Umzug der Albers über den Atlantik organisatorisch problemlos innerhalb weniger Wochen. Die Freundschaft des Künstler:innenpaares mit Philip Johnson, die den Rest des Lebens andauern sollte, kann auch dafür sensibilisieren, wie uneindeutig manche Grenzen verlaufen und wie schwierig es ist, Beziehungen der Vergangenheit adäquat einschätzen zu können  : Der Architekt, der zudem als einer der prägenden Figuren des MoMA gilt, war von der Rassenideologie des Nationalsozialismus fasziniert – ein Thema, das in der Kunstgeschichte lange bekannt war, jedoch erst seit kurzem als Problem diskutiert wird.8 Seine politische Einstellung stand einer Unterstützung von Anni und frühen 1940er Jahren ein vielbehandeltes Thema ist, ist es keineswegs ausgeforscht. Konzentrierte sich die Kunstgeschichte – wie auch andere Disziplinen – zunächst auf die sogenannten großen Namen und deren Situation in den U SA, so ist die Exilforschung inzwischen vielfältiger geworden. Beispielhaft für die erste Phase ist das von Stephanie Barron durchgeführte Ausstellungsprojekt  : Ausstellungskatalog Berlin, Neue Nationalgalerie 1997/98  : »Exil. Flucht und Emigration europäischer Künstler 1933 – 45«. Hg. von Stephanie Barron mit Sabine Eckmann. München 1997 (zuerst Los Angeles, County Museum of Art 1997  : »Exiles + Emigrés. The Flight of European Artists from Hitler«. Hg. von Stephanie Barron. New York, NY 1997). Dem aktuellen Forschungsparadigma folgen Alison J. Clarke/Elana Shapira  : Emigré Culture in Design and Architecture. London/New York, NY 2019 (zuerst 2017). 7 Zum Black Mountain College vgl. Mary Emma Harris  : The Arts at Black Mountain College. Cambridge, MA/London 1987. Wie um das Bauhaus ranken sich auch um diese Reforminstitution Mythen, die wie in der materialreichen Untersuchung von Harris gravierende ideologische und zwischenmenschliche Konflikte weitgehend ausblenden und vor allem die zentrale Frage übergehen, warum es dem Projekt letztlich an ökonomischen Ressourcen fehlte. Vgl. auch Eva Díaz  : The Experimenters. Chance and Design at Black Mountain College. Chicago, IL 2015  ; Ausstellungskatalog Berlin, Sammlung Marx in der Nationalgalerie im Hamburger Bahnhof – Museum für Gegenwart 2015  : »Black Mountain. Ein interdisziplinäres Experiment 1933 – 1957«. Hg. von Eugen Blume/Matilda Felix/Gabriele Knapstein. Leipzig 2015  ; Helen Molesworth (Hg.)  : Leap before You Look  : Black Mountain College 1933 – 1957. Boston 2015 (zugl. Ausstellungskatalog Boston, Institute of Contemporary Art/Los Angeles, Hammer Museum, UCLA 2015/16). Zur Lehrtätigkeit des Ehepaars Albers am Black Mountain College vgl. Brenda Danilowitz  : »Perspektiven und Grenzen eines amerikanischen Bauhauses. Das Black Mountain College«. In  : Annika Strupkus (Hg.)  : Bauhaus global. Gesammelte Beiträge der Konferenz Bauhaus global vom 21. bis 26.9.2009. Berlin 2010, 95 – 104. 8 Die Debatte über Philip Johnson, der als eine Ikone der US-amerikanischen Architekturgeschichte gilt, findet nach einem offenen Brief zahlreicher Architekt:innen an die New York Times

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Albers offenbar nicht im Wege. Genauso wenig stellte sie offenbar für die Künstlerin ein Hindernis dar. Als Johnson, der in den 1930er Jahren schon einmal die Architekturabteilung im MoMA geleitet hatte, 1949 dieses um Designgeschichte erweiterte Ressort erneut übernahm, unterstützte er die Ausstellung textiler Wandbehänge und Raumteiler der Künstlerin, die sie auf Vorschlag von Edgar Kaufmann Jr., dem Kurator für Industriedesign am MoMA, konzipiert hatte.9 Die meisten der Vertriebenen hatten weniger Glück als das Ehepaar Albers. Viele mussten ihr Hab und Gut zurücklassen oder es ging zusammen mit ihren Papieren auf der Flucht verloren, sie mussten ihre letzten Ersparnisse für Visa, Tickets und Schlepper:innen aufbringen. In ihrer neuen, ihnen oft unbekannten Umgebung wurden sie nicht unbedingt willkommen geheißen und konnten häufig auch nicht mehr ihrer alten Tätigkeit weiter nachgehen. Je mehr Geflüchtete es wurden, umso schwieriger wurde die Flucht und zahlreiche schafften es nicht, ihr Leben in Sicherheit zu bringen. Otti Berger etwa, die ehemalige Kommilitonin und spätere Kollegin von Anni Albers am Bauhaus, Anfang der 1930er Jahre wie diese gleichfalls eine vielversprechende Textilkünstlerin und -theoretikerin, konnte sich nicht retten und wurde 1944 in Auschwitz ermordet.10 So verschieden die Schicksale sind, sie haben eines gemeinsam  : Selbst wenn sie, wie im Fall von Anni Albers, relativ geordnet verlief, war der Auslöser für die Emigration der Druck der Politik, die jede und jedem der Geflüchteten die existenzielle Grundlage entzog. In den meisten Fällen stand der Antisemitismus des Faschismus mit seinen bizarren Konzepten von Reinheit dahinter. Die als Kind getaufte Protestantin Albers, die allerdings aus einer Familie mit jüdischen Vorfahren stammte,11 entzog sich rechtzeitig der Verfolgung, die mit der Ernennung von Adolf Hitler zum Reichskanzler von Deutschland Ende Januar 1933 begann und die mit einer Deportation in eines der Vernichtungslager geendet hätte.12 Durch die Rassenivon 2020 derzeit vor allem in Foren der US-amerikanischen Öffentlichkeit statt. Vgl. Sigrid Brinkmann im Gespräch mit Sebastian Moll am 2.4.2021 im Deutschlandfunk Kultur  : »Neue MoMA Debatte um einen Nazi-Sympathisanten«. Audiofile auf  : https://www.deutschlandfunkkultur.de/ architekt-philip-johnson-neue-moma-debatte-um-einen-nazi-100.html [Abruf 12.4.2023].   9 Vgl. Brenda Danilowitz  : »Anni Albers (1899 – 1994), ›Constructing Textiles‹, in  : Design 47,8 (4 April 1946)  : 22 – 26«. In  : K. Lee Chichester/Brigitte Sölch (Hg.)  : Kunsthistorikerinnen 1910 –  1980. Theorien, Methoden, Kritiken. Berlin 2021, 238 – 244, hier  : 238, Anm. 2. 10 Vgl. Ingrid Radewaldt  : »Otti Berger«. In  : Ulrike Müller unter Mitarbeit von ders.: BauhausFrauen. Meisterinnen in Kunst, Handwerk und Design. Berlin 20217, 60 – 67. Der kurze Aufsatz mit den Lebensdaten von Berger streift allerdings ihre Bedeutung für die Theorie von Textildesign nur am Rande. Für eine ausführlichere Würdigung, hier allerdings ohne die biographischen Zusammenhänge, vgl. T’ai Smith  : Bauhaus Weaving Theory. From Feminine Craft to Mode of Design. Minneapolis, MN/London 2014, vor allem Kap. 4, 111 – 139. 11 Die Mutter von Anni Albers, Toni Fleischmann, war eine Schwester der Ullstein-Brüder, deren vom Großvater begründetes Medienhaus von den Nationalsozialist:innen zerschlagen wurde, genauso wie die Möbelfabrik Konrad Trunck, die Albers’ Vater Siegfried gemeinsam mit seinem Bruder Ludwig in Berlin besessen hatte. 12 Vgl. Julius H. Schoeps  : »Deutschland seit 1871«. In  : Elke-Vera Kotowski/Ders./Hiltrud Wal-

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deologie des Nationalsozialismus war die Künstlerin in ihrem Heimatland unversehens einer Gruppe zugeordnet worden, die sie zunächst als Fremde und Außenseiterin, dann als Feindin definierte. Mit Anni Albers nehme ich eine Akteurin in den Blick, die im Nachkriegsgefüge von Europa diejenigen repräsentiert, die von der Politik des Faschismus in den 1930er und den frühen 1940er Jahren vertrieben wurden und dabei eine europäische Kultur an andere Orte der Welt mitnahmen. Die Exilforschung, die sich mit dieser Zeitspanne beschäftigt, interpretiert die Konsequenzen dieser Migrationen als Teil der europäischen wie der globalen Geschichte.13 Die Vertreibungen werfen spezifische Aspekte einer entangled history des Diskussionsraumes Europa auf. Wie ich mit dem Beispiel Anni Albers zeigen möchte, betreffen sie neben einer Sensibilisierung für unterschiedliche Historiographien auch die Vorstellung vom Subjekt als willensstarken und entscheidungsfähigen Menschen. Es ist die Position einer Migrantin, die sich der Verfolgung und Ermordung entziehen konnte, die dieses Ideal aufrechterhält. Anni Albers gehörte zu denjenigen, die mit offenen Armen in den U SA empfangen wurden und die sich dort einigermaßen erfolgreich in den Kulturbetrieb einfügen konnten. Alfred Schütz, selbst ein vom Faschismus aus Österreich in die U SA vertriebener Wissenschaftler, untersuchte Anfang der 1940er Jahre Verhaltensmuster von Emigrant:innen.14 Seine Theorie, die in der Migrationsforschung immer noch als Orientierung dient und sich, anders als der Titel vermuten lässt, nicht mit den Fremden, sondern mit dem Phänomen von Fremdheit beschäftigt,15 konzentriert sich auf die Personen, die durch soziale Herkunft, Ausbildung und Berufserfahrung Aussicht auf eine erfolgreiche Integration im Ankunftsland haben konnten.16 Schütz untersuchte also genau den Kreis, zu dem auch Anni Albers gehörte. Laut ihm durchlaufen alle Ankömmlinge an ihrem neuen Lebensmittelpunkt einen Prozess der Irritation, da die kulturellen Gewohnheiten, unter denen sie bislang gelebt haben, keine Gültigkeit mehr besitzen. Es muss erst noch eine Adaption an die neuen Bedingungen erfolgen. Dies macht sie zu besonders aufmerksamen Beobachter:innen, und da sie im Alltag nicht alles als selbstverständlich hinnehmen können, entdecken sie Zusammenhänge, die den Eingesessenen entgehen. Gerade weil sich Anni Albers in den U SA nicht als eine Geflüchtete und als eine Außenseiterin verstehen musste,17 kann mit ihrem Werk und lenborn (Hg.)  : Handbuch der Geschichte der Juden in Europa. Darmstadt 20133, 78 – 89, hier  : 86 – 88. 13 Vgl. https://docupedia.de/zg/Exilforschung/Text [Abruf 12.4.2023]. 14 Vgl. Alfred Schuetz [= Schütz]  : »The Stranger. An Essay in Social Psychology«. In  : The American Journal of Sociology 49 (1944), 499 – 507. Es existiert eine deutschsprachige Übersetzung aus den 1970er Jahren  : »Der Fremde. Ein sozialpsychologischer Versuch«. In  : Alfred Schütz  : Gesammelte Aufsätze, Bd. 2  : Studien zur soziologischen Theorie. Hg. von Arvid Brodersen. Den Haag 1972, 53 – 69. Ich zitiere nach der Originalausgabe. 15 Vgl. https://docupedia.de/zg/Exilforschung/Text [Abruf 12.4.2023]. 16 Schuetz 1944, 499. 17 Vgl. Josef Helfenstein  : »Josef und Anni Albers – Europa und Amerika«. In  : Ausstellungskatalog Bern/Kunstmuseum 1998, 65 – 107, hier  : 65.

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ihren Theorien dieses positive Potenzial von Fremdheit, das aus der Reibungsfläche mit europäisch geprägten Gewohnheiten entstand, besonders gut thematisiert werden. Es zeigt sich in ihrem Umgang mit Weberei  : nämlich dem technischen Know-how, der mit der Bauhaus-Ausbildung vermittelten explorativen Neugierde im Umgang mit Material sowie der Faszination für die präkolumbianische Weberei. Ihre Arbeiten und Positionen beschreiben zudem auch die Rettung und Veränderungen ihrer Herkunftskultur, die am alten Ort großflächig vernichtet wurde und so fast nur noch durch die Emigrant:innen in neuen Kontexten anders weiterexistieren konnte. Albers’ weitere Entwicklung fand so auch im Austausch mit Menschen statt, für die Europa – zumindest weitgehend – fremd war. Die alte Kultur, das war im Fall von Albers neben ihrem Ehemann Josef vor allem der Kontakt zu den engsten Angehörigen ihrer Herkunftsfamilie, die sich im Laufe der 1930er Jahre am Ende alle in die U SA hatten retten können. Es war auch der Austausch mit ehemaligen Bauhäusler:innen, die wie die Ehepaare Kandinsky und Klee in Europa blieben oder die wie Ise und Walter Gropius oder Lászlò Moholy-Nagy gleichfalls in die U SA emigriert waren. Zudem kamen auf Initiative von Josef und Anni Albers zahlreiche Künstler:innen aus verschiedenen Sparten, die wie sie vertrieben, zum Teil eine lange Fluchtgeschichte hinter sich hatten und letztlich in den US A gelandet waren, zeitweise nach North Carolina, um am Black Mountain College zu unterrichten.18 Dieser Kreis erweiterte sich zunehmend durch neue und intensive Kontakte aus dem neuen Umfeld wie der zu Barbara und Theodore Dreier, die das Black Mountain College mitgegründet hatten und mit denen die Albers ihre ersten Reisen nach Mexiko unternahmen. Diskussionspartner von Anni Albers wurden neben Philip Johnson, der auch mit anderen ehemaligen Bauhäusler:innen eng vernetzt war, Buckminster »Bucky« Fuller und John Cage, die in den 1940er Jahren Sommerkurse am Black Mountain College durchführten. Als Josef Albers 1950 zum Direktor des neugegründeten Department of Design an der Yale University berufen wurde, zog das Paar nach New Haven, wo es sich für den Rest seines Lebens niederließ. Sechs Jahre nach ihrer Ankunft erhielt Anni Albers 1939 die U S-amerikanische Staatsbürgerschaft. Für das gut integrierte Künstlerpaar Anni und Josef Albers, das zudem von seinen Reisen nach Lateinamerika fasziniert war, gab es nach 1945 keinen Grund, zurück in die alte Heimat zu übersiedeln. Zumal sich dort durch Faschismus und Krieg vieles verändert hatte. Die Kultur im Umfeld eines liberalen, kunstsinnigen Weltbürger:innentums von Jüd:innen, in der Anni Albers aufgewachsen war, existierte genauso wenig mehr wie die alten Strukturen des Kunstbetriebs. Eine Rückführung der Emigrant:innen und ein Neuaufbau der zerstörten Lebenswelten wurde weder in den Demokratien des Westens noch im Machtorbit der Sowjetunion aktiv betrieben.19 Zwar war das Bauhaus in vieler Munde und diente als ein Imaginationsort für unter18 Vgl. Harris 1987, passim. 19 Vgl. Katrin Steffen  : »Zur Europäizität der Geschichte der Juden im östlichen Europa«. In  : Themenportal Europäische Geschichte, 2006, http: www.europa.clio-online.de/essay/id/fdae-1370 [Abruf 12.4.2023].

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schiedliche Positionen, wie der Konflikt zwischen Max Bill und Asger Jorn dokumentiert.20 Der Austausch mit den ehemaligen Bauhäusler:innen, soweit sie noch lebten bzw. die Shoa überlebt hatten, blieb jedoch sehr verhalten.21 Die Vielfalt der Kunst Europas war selbst in dem kleinen Segment, das am Nachleben von gesellschaftsgestaltender Kunst der 1920er Jahre interessiert war, sehr verschieden geworden. Von daher verwundert es nicht, dass die Ausstellung von Anni Albers im MoMA 1949 außerhalb der USA damals unbeachtet blieb. Dies allein als ein jahrzehntelanges Desinteresse zu interpretieren, würde der Komplexität des Gefüges nicht gerecht. Wenngleich miteinander verzahnt, taktete etwas nicht zusammen. Neben der Tatsache, dass Vermittlungswege damals noch anders als heute funktionierten und Informationen nicht mit einem Klick abrufbar waren, sorgten auch die unterschiedlichen Erfahrungen der 1930er und 1940er Jahre für Kommunikationsschwierigkeiten. Nun bildet ein komplexes System wie das Nachkriegsgefüge nicht nur offen sichtbare Bezüge – wie etwa die Referenzen auf das Bauhaus – aus, es wird in seiner Struktur zudem auch von Leerstellen zusammengehalten. Dies betrifft etwa die Rolle von Frauen im Kunstbetrieb, den Kolonialismus, aber auch das Weiterleben einer Kultur, die mit der Shoa weitgehend vernichtet worden war. Im ersten Moment scheinen diese Hohlräume durch die Einspeisung zusätzlicher Informationen einfach zu füllen zu sein. Doch wie feministische Kunstgeschichte, cultural und postcolonial studies schon gezeigt haben, sind die Auslassungen und Verschleierungen Resultat einer spezifischen Wissenskultur, für die diese Ausblendungen zur Sicherung von Machtpositionen konstitutiv waren. Denn füllt man die Leerstellen mit Wissen und nimmt dies in die Historiographie mit auf, verliert das alte System seine Stabilität. Das Vergessene hat laut dem Historiker Achim Landwehr nicht nur konservatorische, sondern zudem erkenntnisrelevante Funktion  : Während man einerseits vergessen muss, um Leben überhaupt noch zu gewährleisten, ist andererseits Vergessen im strengen Sinn unmöglich, weil man sich zumindest noch daran erinnern muss, vergessen zu haben. Zudem führt uns das Vergessen zurück zur Kontingenz der Vergangenheit, denn damit wird man nicht nur verwiesen auf Gewesenes, das verdrängt worden ist, sondern auch auf die Erinnerungen an Geschehnisse, die nie stattgefunden haben.22

Wenn mit Anni Albers geläufige Erzählungen durchkreuzt und irritiert werden, so auch mit dem Ziel, Kontingenzen der Vergangenheit zu irritieren und auf ihre Leerstellen zu verweisen. Wieso, etwa, wurde eine aus Deutschland stammende, vom Nationalsozialismus vertriebene Textilkünstlerin, die sich mit ihren auf der Ausbildung am Bauhaus 20 Vgl. Kap. 3, 81 – 86. 21 Max Bill lud Josef Albers zwar zweimal, 1954 und 1956, zu einem Sommerkurs an die Hochschule für Gestaltung nach Ulm ein. Mehr oder etwa ein Interesse an den Raumkonzepten von Anni Albers erwuchs daraus allerdings nicht. Vgl. Mentha 1998, 23. 22 Landwehr 2020, 23.

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basierenden Werken als erste Frau die Anerkennung einer Institution wie des MoMAs erarbeitet hatte, nicht zur Documenta II 1959 nach Kassel eingeladen, obwohl dort Wandbehänge (Fritz Winter im Treppenhaus des Fridericianums), non-figurative Kunst aus den USA (Gemälde von Jackson Pollock) und das Verhältnis von Innen- und Außenräumen (Skulpturenpark in der Orangerie) durchaus prominente Themen waren  ? Welche Perspektiven ergeben sich, wenn man ein Ereignis wie die Documenta II nicht, wie sonst üblich, von der Anwesenheit der Pollock-Gemälde aus denkt und erzählt, sondern ausgehend von der Abwesenheit der Wandbehänge von Anni Albers  ? Es geht also darum, Zusammenhänge und Abhängigkeiten, wie wir sie im Nachkriegs­ gefüge mit den rhizomartigen Verschränkungen, verborgenen Verbindungen und Hohlräumen vorfinden, nicht nur räumlich, sondern auch zeitlich zu denken, um so lineare Erzählstrukturen zu unterlaufen.23 Mit der damit verbundenen Vielzeitigkeit wird die Annahme von Anachronismus oder vermeintlich Rückschrittliches als Produkt von Beschränkung auf nur eine Perspektive erkennbar, die anderes marginalisiert oder gänzlich ignoriert. Allerdings sollte die Tatsache, dass Verdrängtes und Vergessenes solchermaßen integriert wird, nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich Vergangenheit als vergangene Zeit nur relativ rekonstruieren lässt – und zwar in Relation zu gegenwärtigen Fragen und Interessen. Die Konzentration auf Anni Albers als Thema in diesem Kapitel steht hier nicht nur für die Aufforderung, die Nachkriegszeit Europas in pluralen Formen von Historiographie zu denken, und in die Analysen mitaufzunehmen, dass mit der Geschichte von Künstlerinnen, von Vertriebenen weitere Zeitmuster ins Spiel kommen. Mit Albers, die als Migrantin das aufmerksame Beobachten gelernt hatte, bringe ich darüber hinaus eine Theorieperspektive ein, die mit ihrer Konzentration auf Form- und Strukturanalyse Anregungen für die kunsteigene Neukonturierung unserer Historiographie der Nachkriegszeit liefern kann, an der wir – siehe oben – aktuell arbeiten. Der peruanische Weber Im Anschluss an die erfolgreiche Ausstellung im MoMA und mit dem Umzug nach New Haven begann Anni Albers Anfang der 1950er Jahre mit der Arbeit an einem ambitionierten Projekt  : einer grundlegenden Publikation über Weberei, die sie unter dem Titel On Weaving 1965 veröffentlichte.24 Die Vorarbeiten zu dem Buch zeigen, wie Albers ein Konzept entwickelte, das europäisch konditioniert ist, indem es auf konkreten kulturhistorischen und politischen Erfahrungen aufbaut, welche die Künstlerin vor ihrer Übersiedlung in die USA gemacht hatte. Die Beschäftigung mit Anni Albers 23 Vgl. hierzu auch Landwehr 2020, 244. 24 Vgl. Anni Albers  : On Weaving. Erweiterte Neuausgabe. Hg. in Verbindung mit The Josef and Anni Albers Foundation. Princeton, NJ/Oxford 2017 (zuerst Middletown, CT 1965). Zu den Vorarbeiten am Buch vgl. den in dieser Ausgabe enthaltenen Aufsatz von T’ai Smith  : »On Reading On Weaving«, 234 – 257.

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erweitert den Eindruck, dass Künstler:innen, die mit dem Diskussionsraum Europa in Verbindung gebracht werden, nach dem Zweiten Weltkrieg zivilisationshistorische Referenzen nutzten, um Perspektiven für eine Befriedung der Gesellschaft zu entwickeln und sich dabei zugleich der eigenen Position in und für die Gemeinschaft zu vergewissern. Zum anderen zeichnet sich wie bei Asger Jorn auch bei Albers die Ausbildung eines neuen Geschichtsverständnisses ab, das die Vergangenheit nicht mehr, wie in der frühen Moderne, romantisiert und dabei zugleich eindimensional eine auf Kolonialismus und Imperialismus gründende Hierarchisierung der Kulturen vornimmt. Fremde Zeit wird bei Albers nicht mehr als überholt und rückständig begriffen, sondern als Ressource und Vorbild für die Gegenwart. Spannend ist, wie sich in ihrem Werk Praxis und Theorie miteinander verzahnen und im textilkünstlerischen Œuvre genau die gestalterische Neugierde Raum gewinnt, die sie schriftlich als Aufgabe der Weberei formuliert. Dabei tastete sie sich über die Praxis an die Theorie heran. Schon früh hatte Albers damit begonnen, parallel zur Weberei in kurzen Aufsätzen ihre Arbeiten zu reflektierten und sie in einen gesellschaftlichen Zusammenhang zu setzen. So etwa in ihren ersten beiden kleinen Texten über die Neuinterpretation von Textilkunst, die sie, seit 1922 Studentin am Bauhaus und erst kurz zuvor in dessen Webereiklasse aufgenommen, 1924 publizierte.25 In ihrer Erinnerung war dies eine Zeit des Experimentierens auf der Basis von fehlenden Lehrkonzepten, Materialmangel und auf der Suche nach adäquater Kompetenz. »Inside, here, at the Bauhaus after some two years of its existence, was confusion«26, beschrieb sie später ihre Ankunft an der neugegründeten Schule. Die fehlende Strukturierung in der Webereiklasse, die unter dem Direktorat von Walter Gropius als eine Art Auffangbecken für die Studentinnen fungierte, bot zugleich die Möglichkeit, Ungewöhnliches auszutesten und so ohne ausreichende Anleitung ein altes Handwerk neu zu interpretieren. In der kunsthistorischen Wahrnehmung lange weitgehend unbeachtet, hat T’ai Smith in ihrer 2014 veröffentlichten Dissertation herausgearbeitet, wie tatsächlich erfolgreich die Studentinnen der später in Textilwerkstatt umbenannten Webereiklasse diese Herausforderung annahmen.27 Dem entscheidenden Schritt vom Bild hin zum Gewebe, der dort in den 1920er Jahren vollzogen wurde, blieb Anni Albers Zeit ihres Lebens treu. In ihrer neuen Umgebung am Black Mountain College, wo sie von 1934 bis 1949 zeitweise unterrichtete, setzte sie das fort, was sie am Bauhaus begonnen hatte  : eine Weberei, die nicht illustriert und die keine Bilder zeigt, die auch in anderen Medien hätte ausgeführt werden können. (vgl. Abb. 23 und 27) Eine Weberei, die das visualisierte Zusammenspiel von sich kreuzenden Fäden ist und deshalb auch, multifunktional 25 Vgl. Anneliese Fleischmann (= Anni Albers)  : »Bauhausweberei«. In  : Junge Menschen 5 (1924), Heft 8, 188 und Anneliese Fleischmann (= Anni Albers)  : »Wohnökonomie«. In  : Neue Frauenkleidung und Frauenkultur (1924), Heft 1, 7 – 8. 26 Anni Albers  : »A Start« (zunächst unpublizierter Text von 1947 für eine Festschrift für Walter Gropius  ; Erstveröffentlichung 1969). In  : Anni Albers  : Selected Writings on Design. Hg. von Brenda Danilowitz. Middeltown, CT 2000, 1 – 2. 27 Vgl. Smith 2014.

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einsetzbar, Räume gestalten kann. In den U S A wurde dies zu ihrem Markenzeichen und dem ihrer Schüler:innen.28 Wie ihr Ehemann Josef war auch Anni Albers in ihrer Lehre bemüht, ein Verständnis für die Eigenarten des Materials auszubilden. Zu einer wesentlichen und nachhaltig prägenden Erfahrung wurden in dem Zusammenhang ihre Reisen nach Lateinamerika. 1934 war Josef Albers zu einem Vortrag nach Havanna auf Kuba eingeladen worden, 1935 erfolgte der erste Aufenthalt in Mexiko, dem sich zahlreiche weitere anschlossen. In den 1930er und frühen 1940er Jahren war eine Faszination für Mexiko bei Künstler:innen aus Europa und den USA nicht ungewöhnlich. Die Praxis der muralistas sorgte für Aufsehen und Aufträge in den USA, 1938 reiste André Breton nach Mexiko-Stadt und interpretierte das Land als gelebten Surrealismus, auf der Flucht vor dem Faschismus landete Wolfgang Paalen dort und wurde Mitherausgeber der Zeitschrift Dyn. Die Begeisterung galt der für die Reisenden und Neuankömmlinge unbekannten Verbindung von einer ihnen fremden Vergangenheit, deren Präsenz sie zu spüren glaubten, politischem Aufbruchswillen und einer Spiritualität, von der sich speziell die Surrealist:innen angezogen fühlten.29 Anni und Josef Albers hatten von diesem Phänomen gehört,30 ihr Interesse galt jedoch schnell anderem. Auch sie registrierten eine ihnen fremde Verbindung von Vergangenheit und Gegenwart, bei der der zeitliche Abstand keine Rolle zu spielen schien.31 Die vielbeschworenen mystischen Faktoren, die andere bei dieser Kombination ausmachten, beachteten sie jedoch weniger. Anni und Josef Albers waren vielmehr von den technischen Aspekten einer Kunstpraxis begeistert, die sie als Hinterlassenschaft der präkolumbianischen Gesellschaften schon beim ersten Besuch der archäologischen Stät28 Vgl. Harris 1987, 23. 29 Vgl. Susanne Klengel  : Amerika-Diskurse der Surrealisten. »Amerika« als Vision und als Feld heterogener Erfahrungen. Stuttgart 1994 sowie Ausstellungskatalog Los Angeles, The Getty Research Institute 2012  : »Farewell to Surrealism. The Dyn Circle in Mexico«. Hg. von Annette Leddy/ Donna Conwell. Los Angeles 2012. 30 Vgl. César Paternosto  : »Josef und Anni Albers  : die Begegnung mit der frühen Kunst Altamerikas«. In  : Ausstellungskatalog Bern, Kunstmuseum 1998, 108 – 126. Anni und Josef Albers unternahmen ihre erste Mexiko-Reise gemeinsam mit Barbara und Theodore Dreier, dem Neffen von Katherine Dreier, die ihrerseits über die New Yorker Künstler:innenvereinigung Société Anonyme in enger Verbindung mit dem Sammler:innenpaar Louise und Walter Arensberg stand. Seit den 1910er Jahren sammelten die Arensbergs präkolumbianische Artefakte, die damals zu der größten Sammlung dieser Objekte in den U SA anwuchs. Vgl. Barbara Lange  : »Der panamerikanische Traum oder die Suche nach den eigenen Ursprüngen  : Die Rolle der präkolumbianischen Kulturen im US-amerikanischen Kunstbetrieb der 1910er und 1920er Jahre«. In  : Henrik Karge/Bruno Klein (Hg.)  : 1810 – 1910 – 2010. Independencias dependientes. Kunst und nationale Identitäten in Lateinamerika. Frankfurt/Main 2016, 103 – 114. Zusammen mit ihrer umfangreichen Sammlung von Werken von Marcel Duchamp und anderen Surrealist:innen sowie Gemälden von Wassily Kandinsky, Paul Klee und Roberto Matta übergaben sie 1950 ihre Louise and Walter Arensberg Collection dem Philadelphia Museum of Art. Vgl. hierzu auch George Kubler  : The Louise and Walter Arensberg Collection  : Pre-Columbian Sculpture. Philadelphia, PA 1954. 31 Jennifer Reynolds-Kaye  : »Anni Albers as Collector«. In  : Ausstellungskatalog Düsseldorf/London 2018, 106 – 109.

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ten Mitla und Monte Albán im Bundesstaat Oaxaca, auf späteren Reisen nach Yucatán sowie im gegenwärtigen Alltag Mexikos studieren konnten. In Formgebung, Farb- und Materialwahl hatte sich für sie eine vergangene Zeit konserviert, die für die künstlerischen Fragen des Paares zu den kommunikativen Möglichkeiten mit kunsteigenen Mitteln höchst aufschlussreich war. In Fotografien hielt Josef Albers diese Eindrücke fest und verarbeitete sie zum Teil zu Fotocollagen, aus denen er ab 1950 die Serie seiner Gemälde und Drucke Homages to the Square entwickelte.32 Angeregt durch die präkolumbianischen Webtechniken und Gewebekolorierungen begann Anni Albers in Arbeiten wie Development in Rose I (1952) sukzessive mit Gestaltungsmöglichkeiten von Fäden zu experimentieren, die das strenge Gitternetz von Kette und Schuss spielerisch kommentieren.33 (Abb. 23) Die Blockstreifen, wie sie sie in ihren Webereien der Bauhaus-Zeit nutzte, finden sich nun durch Akzentuierungen unterbrochen, die durch die starken, mit dunklen Fäden gesetzten Kontraste und durch Verschlingungen der Kette entstehen. Die Tonigkeit, im vorliegenden Beispiel eine Abstufung von blass- bis hin zu lachsrosa Tönen, erscheint dadurch wie in einer Bewegung, die zugleich durch den Reliefcharakter des Gewebes die taktile Qualität des Stoffes transportiert. Eine auf das Material konzentrierte Vorgehensweise, bei der etwa der Faden als Gestaltungselement in Szene gesetzt wird und auf diese Weise die Wahrnehmung bestimmt, sahen Anni und Josef Albers auch in den kulturellen Hinterlassenschaften der präkolumbianischen Gesellschaften Mittel- und Südamerikas als maßgebliches Gestaltungsprinzip zum Ausdruck gebracht. Gleich auf der ersten Mexiko-Reise 1935 erwarb das Ehepaar eine kleine Tonfigur aus präkolumbianischer Zeit, die den Grundstock ihrer Privatsammlung bilden sollte  : auf ihren 13 Reisen nach Mexiko und ihrer Reise nach Südamerika, die sie 1953 – 54 nach Chile und Peru führte, sammelten Josef und Anni Albers im Laufe der Jahre ca. 1400 kleinformatige präkolumbianische Figuren und Gefäße aus Ton und Stein sowie Gewebefragmente.34 Während diese private Kol32 Vgl. Ausstellungskatalog New York, Solomon R. Guggenheim Museum 2017/18  : »Josef Albers in Mexico«. New York 2017. 33 Vgl. Manuel Cirauqui  : »The Two Faces of Weaving«. In  : Albers 2017 (1965), 214 – 233, vor allem 219 – 231. Vgl. auch den Aufsatz von Virginia Gardner Troy  : »Anni Albers and Ancient American Textiles« (2019). http://www.bauhaus-imaginista.org/articles/771/anni-albers-and-ancient-american-textiles [Abruf 12.4.2023] sowie dies.: Anni Albers and Ancient American Textiles  : From Bauhaus to Black Mountain. Farnham 2002. Die Unabhängigkeit der Adaptionen von Albers verfolgt Brenda Danilowitz  : »Tangles, Knots, Braids, Loops and Links«. In  : Ausstellungskatalog Düsseldorf/London 2018, 86 – 89. 34 Vgl. Ausstellungskatalog New Haven, Yale University Art Gallery 2017  : »Small-Great Objects. Anni and Josef Albers in the Americas«. Hg. von Jennifer Reynolds-Kaye. New Haven, CT 2017. Zwischen 1966 und 1979 übergaben die Albers diese Sammlung sukzessive weitgehend dem Yale Peabody Museum of Natural History in New Haven. Anni Albers erarbeitete hierzu einen Katalog, in dem sie auch die Geschichte dieser Sammlung vorstellt. Vgl. Anni Albers  : Pre-Columbian Mexican Miniatures  : The Josef and Anni Albers Collection. New York, NY 1970. o. P. Ein kleiner Teil der Objekte, den das Ehepaar in seinem privaten Besitz behielt, kam später in The Josef and Anni Albers Foundation in Bethany.

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Abb. 23 Anni Albers, Development in Rose I (1952). Leinen 57,2 × 43,5 cm. The Josef and Anni Albers ­Foun­dation, Bethany, CT

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lektion ständig anwuchs, erhielt Anni Albers 1946 zusätzlich die Aufgabe, zur Erinnerung an die Studentin Harriet Engelhardt, die als Rote-Kreuz-Schwester nach Europa gegangen und dort verunglückt war, finanziert von deren Eltern und den Mitgliedern ihrer Schwesterneinheit, für das Black Mountain College eine Lehrsammlung für den Textilunterricht anzulegen.35 Die Arbeit an der Konturierung sowohl der eigenen Sammlung wie der Engelhardt Collection bildete die Basis für das Konzept von On Weaving, wo zahlreiche der Gewebe aus diesen Kollektionen abgebildet sind und als Argumentationsgrundlage dienen. Wie Jennifer Reynolds-Kaye (und Anni Albers in einem Brief an Theodore Dreier) schreibt  : While she was collecting the textiles, Albers noted this confluence between her collecting practice and book project. ‘The Harriet Engelhardt Collection is growing and is turning into something quite rare and precious already, so I like to think. It is interesting to collect the things and it works so well with the material I will need for the book too […].36

Die Auseinandersetzung mit den Techniken der Weberei, die in den Anden bereits vor Ankunft der Konquistador:innen entwickelt worden waren,37 übersetzte Anni Albers in einen imaginierten Dialog mit einem Kollegen aus einer weit zurückliegenden Vergangenheit. In ihrem Aufsatz Constructing Textiles von 1946, der in der Zeitschrift Design erschien, imaginierte sie die Zeitreise eines peruanischen Webers aus präkolumbianischer Zeit in die Gegenwart.38 Dieser würde, so Albers, angesichts der vielen neuen Materialien, die wie Nylon, Orlon, Fiberglas etc. dank der chemischen Industrie Grundlage für Kunststoffgewebe sein könnten, zunächst aus dem Staunen nicht herauskommen. The wonder of this new world of textiles may make our ancient expert feel very humble and may even induce him to consider changing his craft and taking up chemistry or mechanical engineering. These are the two major influences in this great development, the one affecting the quality of the working material, and the other the technique of produc35 Vgl. Reynolds-Kaye 2018, 107. Anni Albers baute diese kleine Sammlung von ca. 100 Beispielen bis zu ihrem Wegzug aus North Carolina 1950 auf. Nachdem das Black Mountain College geschlossen wurde, gelangte die Engelhardt Collection 1958 in die Yale University Art Gallery. 36 Reynold-Kaye 2018, 108. Das eingeschobene Zitat entstammt einen Brief an Theodore Dreier vom 3. Juli 1947 (in  : The Josef and Anni Albers Foundation, Dreier Correspondence 745). 37 César Paternosto weist darauf hin, dass Albers’ Vernachlässigung der präkolumbianischen Weberei in Zentralamerika dem Umstand geschuldet ist, dass sich die aus den Anden stammenden Gewebe aufgrund der trockenen Höhenluft besser konserviert haben. Vgl. Paternosto 1998, hier  : Anm. 38. 38 Vgl. Anni Albers  : »Constructing Textiles«. In  : Albers 2000, 29 – 33. Für den Wiederabdruck in On Designing (1959) überarbeitete Albers den Aufsatz leicht. Brenda Danilowitz kommentiert diesen Aufsatz, der in seiner ursprünglichen Version von 1946 in Chichester/Sölch (Hg.) 2021, 246 – 249 abgedruckt ist. Vgl. Danilowitz 2021. Ich zitiere nach der Version von 1959. Die von mir wörtlich wiedergegebenen Passagen sind mit Ausnahme von kleinen sprachlichen Modifikationen, die ich anmerke, mit der Erstfassung identisch.

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tion. But strangely enough, he may find that neither one would serve him in his specific interest  : the intricate interlocking of two sets of thread at right angles – weaving.39

Angesichts der simplen Technik, in der die meisten Gewebe mit den neuen Kunststoffen ausgeführt sind, würde der Peruaner nämlich schnell sein Selbstvertrauen zurückgewinnen  : »In his search for inventiveness in weaving techniques, he would find few, if any, examples to fascinate him. He himself would feel that he had made many suggestions to offer.«40 Von dieser Stelle an lässt Albers den peruanischen Weber als Ratgeber und kundigen Lehrer sprechen, der darauf hinweist, dass weder die Maschinenweberei noch die neuen Materialien die Notwendigkeit einer guten Planung und die Kenntnisse der Gewebe ersetzen. Denn nur so ließe sich kunstvoll mit dem Material experimentieren, Handwerk und Kunst miteinander verbinden. »Our ancient Peruvian colleague might lose his puzzled expression, seeing us thus set for adventures with threads, adventures that we suspect had been his passion.«41 Anni Albers selbst war, wie sie in Webarbeiten wie Development in Rose I zeigt, offenbar eine gelehrige Schülerin. Später, in On Weaving, wird sie auf die hohen technischen Standards der andinen Weberei zurückkommen und die Vermutung äußern, dass diese in der Schriftlosigkeit der präkolumbianischen Gesellschaften begründet sei, die die Fäden der Textilien als Informationsträger nutzten. In Peru, where no written language in the generally understood sense had developed even by the time of the Conquest in the sixteenth century, we find – to my mind not in spite of this but because of it – one of the highest textile cultures we have come to know. […] Of infinite phantasy within the world of threads, conveying strength of playfulness, mystery or the reality of their surroundings, endlessly varied in presentation and construction, even though bound to a code of basic concepts, these textiles set a standard of achievement that is unsurpassed.42

Die Wertschätzung, die Anni Albers und ihr Mann Josef den prä- und postkolumbianischen Kulturen entgegenbrachten, hat durchaus zwei Seiten. Sensibilisiert durch Diskussionen über die Hierarchisierung von Kulturen, die wir aktuell führen, muss man heutzutage die Erwerbungen von präkolumbianischen Artefakten, die sie auf ihren Reisen tätigten, problematisieren. Die beiden besuchten Mexiko und Chile zwar auch, weil Josef Albers dort zu Vorträgen eingeladen worden war. Die Albers waren jedoch alles andere als Arbeitsmigrant:innen, sondern so wohlhabend, dass sie mit ihrem Geld ihr Interesse an den sie faszinierenden Kulturen und ihren Bildungshunger finanzieren konnten. Vor Ort erwarben sie für vergleichsweise geringe Summen Ausgrabungsob39 Albers 2000 (1959), 30. 40 Albers 2000 (1959), 30. 41 Albers 2000 (1959), 33. 42 Albers 2017 (1965), 50 – 51.

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jekte teils unbekannter Herkunft, brachten diese Schätze außer Landes und blieben auch bei dieser Praxis, nachdem sie sich immer mehr Kenntnisse über diese Objekte angeeignet hatten und über deren eigentlichen Wert Bescheid wussten. Es kann Anni Albers weder auf ihren Reisen noch bei ihren Gesprächen mit Archäolog:innen und Ethnolog:innen, die sie nicht zuletzt im Zusammenhang mit der Konzeption von On Weaving führte,43 entgangen sein, dass die Kulturpolitik der mexikanischen Regierung bemüht war, dem Verkauf von archäologischen Funden, die man als ein vom Kolonialismus unberührtes nationales Erbe betrachtete, entgegenzuwirken,44 auch oder gerade weil es geläufige Praxis war, zur Kompensation von Armut wohlhabenden Reisenden aus dem Ausland archäologische Fundstücke aus undokumentierten Grabungen anzubieten. Aus den Reisen resultierte auch kein nachhaltiger Austausch mit Weber:innen vor Ort, die die alten Techniken zum Teil noch praktizierten. In ihrem Aufsatz hätte Anni Albers statt des fiktiven Webers aus der Inkazeit auch eine zeitgenössische Kollegin aus den Anden zu Wort kommen lassen können – auch wenn in der realen Welt die Verständigung auf Quetchua vermutlich nicht unkompliziert gewesen wäre. Anders als im Umgang mit der Fremdheit, die ihnen bei der Übersiedlung in die U SA begegnete, blieben die Albers in Lateinamerika auf Distanz. Sie studierten die Artefakte und vernachlässigten dabei den Dialog mit denjenigen Praktiker:innen, die einen anderen Kultur- und Bildungshorizont als sie hatten. Allerdings – und das ist die andere, wirkungsmächtigere Seite der Medaille – ist es gerade dieser Dingbezug, durch den Anni Albers eine Verknüpfung auf Augenhöhe herstellte, die unter Berücksichtigung der sozialen und ökonomischen Differenzen und deren Ursachen den Blick auf andere Aspekte als die Techniken der Weberei, die Kunstpraxis selbst, gelenkt hätte. Sie bricht damit aus dem damals in der akademischen Wissenskultur dominanten Erzählmuster aus, das für die Politiken von Kolonialismus und Imperialismus nützlich war und mit einer vermeintlichen Hierarchie von gesellschaftlichen Entwicklungsstadien Machtstrukturen legitimieren konnte. Sie, die gut gekleidete gringa, die auf staubigen Straßen mit dem Auto unterwegs war und der Fundstücke durchs Fenster gereicht wurden,45 entdeckte mit ihrem durch die eigene Tätigkeit geschulten Verständnis für die Machart von Geweben eben auch, dass die Stofffragmente einen unerreicht hohen Standard dokumentierten und sich jener offenbar in die gegenwärtige Webereipraxis Lateinamerikas tradiert hatte. Nicht nur das Image der Kultur bringenden Europäer:innen verlor damit an Gültigkeit. Auch die Vorstellung, dass arme Gesellschaften von ehemals kultureller Größe offenbar den Anschluss an den Fortschritt verpasst hatten, wurde der Boden entzogen. Der fiktive peruanische Weber im Aufsatz Constructing Textiles hat die Funktion, genau diese Bilder als falsch zu kennzeichnen. Mit dem »fair judge«46 als den sie den Weber 43 Vgl. Smith 2017, 243. 44 Vgl. Lange 2016 sowie Paternosto 1998. 45 Vgl. Albers 1970, o. P. 46 Albers 2000 (1959), 29.

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aus einer vergangenen Zeit bezeichnet, nutzte Anni Albers eine Form, wie man sie aus gelehrsamen Texten kennt, wenn Personen aus der Vergangenheit wie etwa ­Platon, Augustinus, Gerschom ben Jehuda, Hildegard von Bingen oder Martin Luther als Ge­ sprächs­partner:innen auftreten. Im Unterschied zum Textzitat oder der Paraphrase, mit denen diese zum Sprechen gebracht werden, basiert der fiktive Dialog mit ihrem Gewährsmann nicht auf Schriften, sondern auf der Analyse von Gewebefragmenten, die eine höchst elaborierte Technologie im Umgang mit gefärbten Fäden zeigen. Der peruanische Weber spricht mit seiner und so auch über seine Weberei, Anni Albers ist seine Übersetzerin oder, wie es im Englischen so treffend heißt, his interpretor. Die Grenze, die Anni Albers auf ihren Reisen und in ihren Texten wahrte, ist somit nicht als Ignoranz zu verstehen. Sie markiert vielmehr ein Bewusstsein für die Differenz und die Erfahrung als Fremde im Alltag Lateinamerikas, die aus den unterschiedlichen Geschichts- und Zeiterfahrungen resultierten. Damit unterscheidet sich ihre Position grundlegend von der des Primitivismus, aber auch der des Indigenismus.47 Albers nutzte zwar die Anregungen, die ihr die Techniken der andinen Weberei geben konnten, sie zielte aber nicht auf eine kulturelle Symbiose. Im Aufsatz Constructing Textiles – wie später im Buch On Weaving – konnte ihr die Tatsache, dass andere Kulturen andere Zeiten haben, bei ihrem Plädoyer für den menschlichen Faktor im Maschinenzeitalter dienlich sein. So lässt sie den zeitreisenden Weber aus der Gesellschaft der Inkas als Advokaten der planerischen und am Material geschulten händischen Kreativität sprechen, die in den arbeitsteiligen Prozessen der industriellen Fertigung verloren zu gehen droht  : He would point out that an age of machines, substituting more and more mechanisms for handwork, limits in the same measure the versatility of work. He would explain that the process of forming has been disturbed by divorcing the planning from the making, since a product today is in the hands of many, no longer in the hands of one. Each member of the production line adds mechanically his share to its formation according to a plan beyond his control. Thus the spontaneous shaping of a material has been lost, the blueprint has taken over. A design on paper, however, cannot take into account the fine surprises of a material and make imaginative use of them.48

Denn, so unterstreicht Albers, mögen die Materialien, die der Weberei Mitte des 20. Jahrhunderts Dank der Forschungsarbeiten in der Chemie zur Verfügung stehen, noch so erstaunliche Eigenschaften haben. Diese Qualitäten bleiben oberflächlich, werden sie gestalterisch nicht ausgeschöpft. »To a member of an earlier civilization, such as our Peruvian, these materials would be lacking in those qualities that would

47 Vgl. hierzu auch  : Barbara Braun  : Pre-Columbian Art and the Post-Columbian World. Ancient American Sources of Modern Art. New York, NY 1993, 303 – 304. 48 Albers 2000 (1959), 30 – 31. In der Version von 1946 heißt es  : » […] he would explain that the process of forming has been broken by divorcing the planning from the making.«

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make them meaningful to him or beautiful.«49 Signifikant ist, dass die Künstlerin die vergangene Kultur zwar als vorbildhaft einführt, sie jedoch keineswegs schwärmerisch romantisiert oder als Legitimation für Maschinenstürmerei nutzt. Vielmehr spricht sie ihr eine Autorität zu, die als kompetenter Kommentar für die eigene Zeit genutzt werden kann. Die Zeit des Peruaners ist eine andere. Interferenzen Kaum eine Publikation zu den Textilien von Anni Albers lässt unerwähnt, dass sie bereits als Kind und Jugendliche bei Besuchen mit der Familie im Berliner Museum für Völkerkunde, wie die Institution damals hieß, von den präkolumbianischen Geweben fasziniert gewesen war. Anni Albers selbst gab diesen Hinweis in dem Aufsatz, den sie 1970 zum Katalog ihrer dem Universitätsmuseum von Yale übergebenen Sammlung verfasste.50 Bereits vor einer Weile ist Virginia Gardener Troy dieser Spur gefolgt und stellte dabei fest, dass die Künstlerin mit ihrer Begeisterung damals keineswegs allein war. Zahlreiche Arbeiten von verschiedenen Weberinnen, die am Bauhaus während der Weimarer Zeit entstanden, zeigen motivische Referenzen an die andine Weberei, die mit ihren geometrischen Mustern auf der Suche nach einem neuen, non-figurativen Bildkonzept offenbar Vorbild sein konnte.51 Anders als die Museumsexponate ihrer Jugendzeit spielte diese Praxis von Kolleginnen, die ihr nicht entgangen sein kann, in Albers’ Erinnerung jedoch keine erwähnenswerte Rolle. Die Referenz auf das Berliner Museum, das vor allem durch die Übernahme von Privatsammlungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts den umfangreichsten Bestand präkolumbianischer Artefakte außerhalb Amerikas besaß, ist eine rhetorische Volte mit doppeltem Gewicht  : Geäußert im Kontext der Stiftung ihrer eigenen Sammlung, schrieb sich Albers damit in die Tradition einer Kulturpraxis ein, die Artefakte der Vergangenheit wertschätzt und für die Nachwelt bewahren möchte. Dabei erfährt nicht jedes Ding aus früherer Zeit Aufmerksamkeit, sondern nur diejenigen, die man für wirkungsmächtig genug hält, Aussagen transportieren zu können. Sie sind Hinterlassenschaften, Schätze, mit denen in der Gegenwart Erinnerungspolitik betrieben wird. Mit der Referenz auf die Erfahrung aus der Jugend nimmt Albers bewusst Bezug auf diesen Umgang mit Geschichte, den sie als ein Schlüsselerlebnis darstellt  : Die Initiation ihrer Wertschätzung erfolgte durch 49 Albers 2000 (1959), 31. In der Version von 1946 heißt es  : »To a member of an earlier cultivated society, such as our Peruvian, these materials would be lacking in the qualities that would make them meaningful or beautiful.« Mit der Einfügung »to him« in der Überarbeitung von 1959 betont Albers die Differenz der Kulturen. 50 Vgl. Albers 1970, o. P. 51 Vgl. Troy 2002. In komprimierter Form finden sich diese Forschungsergebnisse bereits in ihrem Aufsatz »Anni Albers und die Textilkunst der Anden«. In  : Ausstellungskatalog Bern 1998, 127 – 160. Zu den Referenzen auf andinische Weberei in den ersten Bauhaus-Jahren vgl. Troy 2019.

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die Bewahrung zivilisationshistorisch relevanter Artefakte, für deren Obhut auch sie später Sorge trug. Allerdings setzte Anni Albers nicht nur eine Praxis fort, mit der sie aufgewachsen war. Im Anschluss an ihre Ausbildung als Weberin, dem Beginn ihrer Tätigkeit als Dozentin und den ersten Reisen nach Lateinamerika wurde sie Beiträgerin zu einer neuen Systematik, die der Historiographie von Kunst eine ihr eigene Zeit zugesteht. In Auseinandersetzung mit ihren eigenen Eindrücken, dem Sezieren von präkolumbianischen Webereifragmenten und dem Untersuchen zeitgenössischer Gewebe aus Lateinamerika entwickelte sie sukzessive einen originären Standpunkt, der Perspektiven für eine von historischer Chronologie unabhängige Betrachtung von Artefakten eröffnete. Nicht mehr eine an biologischen Metaphern orientierte naturalisierte Kulturgeschichte, wie sie sich im Anschluss an die Aufklärung entwickelt hatte, sondern die Analyse von Strukturen rückte dabei ins Zentrum. Zunehmend bereichert durch Forschungen aus Archäologie und Anthropologie, mit deren Vertreter:innen sie sich austauschte, kam Albers zu dem Schluss, dass die präkolumbianischen Gesellschaften in nichts den europäischen nachgestanden hatten. Die Praktiken, die bei der Bespannung der Webstühle genutzt worden waren, die Verwendung der aus Pflanzenfasern und/oder Tierhaaren gesponnenen Fäden, deren Färbungen sowie die Webtechniken selbst zeugten von einem komplexen Kommunikationssystem und standen doch für sich selbst. In On Weaving wird sie später mit Blick auf ein Fundstück aus dem Westen Südamerikas aus der Zeit um 2500 v. Chr. schreiben  : We easily forget the amazing discipline of thinking that man already achieved four thousand years ago. Wherever meaning has to be conveyed by means of form alone, where, for instance, no written language exists to impart descriptively such meaning, we find a vigor in this direct, formative communication often surpassing that of cultures that have other, additional methods of transmitting information.52

Als Weberin erkannte sie zudem die Zusammenhänge zwischen gegenwärtigen Praktiken lateinamerikanischer Textilkunst (Abb. 24) und der Ausführung eines Gewebes aus der Inkazeit, das sie für die Engelhardt Collection erworben hatte. (Abb. 25) Ihr am Handwebstuhl erworbenes Körperwissen erlaubte es ihr auch, die handwerkliche Disziplin zu rekonstruieren, die notwendig war, um den streng rhythmischen Wechsel von farbigen Dreiecksformen mit derart gleichmäßigem Fadenlauf zu produzieren, wie sie das präkolumbianische Webstück aufweist. Für jemanden, die sich mit den Gestaltungsmöglichkeiten von Fäden befasste, war es – wie das obige Zitat belegt – zudem faszinierend zu sehen, wie bei den Inkas mit Khipus, einer Knotenschrift, jenseits bildlicher Darstellung Informationen gespeichert und vermittelt worden waren. (Abb. 26)53 Auch wenn man nicht in der Lage ist, den Code der Kordeln zu verste52 Albers 2017 (1965), 49 – 50. 53 Das hier abgebildete Khipu stammt aus der Region Ica in Peru und befand sich zunächst in der Sammlung des peruanischen Zahnarztes J. M. Bolívar, bevor es Ende des 19. Jahrhunderts durch

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Abb. 24 Verschiedene Webstücke mit traditionellen Fäden, Farben und Mustern der Quechua aus der Werkstatt Centro de Textiles Traditionales del Cusco, Peru (2018) (Foto  : David Price)

Abb. 25 Gewebefragment vermutlich aus der Gegend des heutigen Peru (dat. 1300–1536), Baumwolle, 27,5 × 23 cm, Yale University Art Gallery (The Harriet Engelhardt Memorial Collection of Textiles, from the Estate of Black Mountain College through a Gift of Mrs. Paul Moore)

hen, und auch nicht zu den Spezialist:innen gehört, die bei diesem System zwischen Rechnungen und Erzählungen unterscheiden können, erkennt man doch durch den visuellen Eindruck die unterschiedlichen Einfärbungen der Stränge, deren farbliche Anordnung ein Muster ergibt  : So zeigt dieser Khipu aus dem Ethnologischen Museum in Berlin von links nach rechts eine Gruppe von zehn Fäden, der eine Gruppe in gleicher Farbe mit nur neun Fäden folgt, um dann zweimal 16 Gruppen à zehn Fäden zusammenzufassen. Strukturiert wird diese Anordnung durch unterschiedliche Knoten und unterschiedliche Fadenlängen, wobei letzteres zumindest zum Teil auch dem Erhaltungszustand geschuldet sein kann. Aufgrund ihrer eigenen Webereipraxis konnte Albers ein derartiges Objekt aus einer anderen, fremden Wissenskultur mit dem elaborierten Standard handwerklichen Ausdrucksvermögens zusammenbringen, den auch die textilen Fundstücke aus präkolumbianischer Zeit aufweisen. Wenngleich auch für Albers die Information, die dieses System bei den Khipus und den Geweben kommunizierte, inhaltlich nicht verständlich war, ließ sie sich ästhetisch davon anregen  : Ein Wandbehang wie Dotted (1959) greift die Strukturierung durch Fadenfarbe und verschiedene Knotenformen eines Khipu auf und kombiniert dies mit Farbwechseln im locker ausgeführten Wollgewebe, die die senkrechten Kettfäden betonen. (Abb. 27) Die Setzung der Knoten schafft eine Spannung zwischen Vertikalität und

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Abb. 26 Khipu (dat. 1400–1550), Baumwolle 50 × 72 cm. Ethnologisches Museum, Staatliche Museen zu ­Berlin, Ident. Nr. VA 16148 (Foto  : Claudia Obrocki); CC BY-NC-SA

Horizontalität, dem durch den Webstuhl vorgegebenen Ordnungssystem. Als Kunstwerk ist der Wandbehang Dotted ein Kommunikationsangebot, dessen Ausdeutung der individuellen Wahrnehmung überlassen bleibt. Material, Farbe und technische Ausführung sind zwar nicht frei von Referenzen, jedoch anders als die Knotenschrift befreit von Eindeutigkeit. Im Gegensatz zu den Produzent:innen der Khipus, die in ihrem uns unverständlichen Notationssystem unmissverständlich arbeiten mussten, konnte Anni Albers ihre Farben und Knoten nach ästhetischen Gesichtspunkten verständnisoffen auswählen und dabei die Prinzipien der Gestaltung aus der anderen Zeit übernehmen. Zwei Aspekte machen Anni Albers für unseren Zusammenhang besonders interessant  : Auch wenn sie eine Künstlerin ist, die sich intellektuell mit ihrer Kunst auseinandersetzte und dazu Publikationen über Kulturtheorie, Geschichte der Textilkunst und die Vermittlung von Carl Plock, einem am Eisenbahnbau in Venezuela beteiligten Ingenieur, vom Museum für Völkerkunde in Berlin gekauft wurde. Vgl. https://smb.museum-digital.de/people/ 45565 [Abruf 12.4.2023]. Es gehört also zu den Objekten, die die junge Anneliese Fleischmann bei ihren Museumsbesuchen gesehen haben kann. Khipus haben sich nur in geringer Zahl erhalten  ; die Angaben schwanken zwischen 600 und 800 Objekten weltweit. Spezialist:innen können zwar zwischen den vermutlich zwei unterschiedlichen Typen differenzieren, ihre Dekodierung steht jedoch noch aus.

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Abb. 27 Anni Albers, Dotted (1959), Wolle 60,3 × 27,9 cm. Boston, Museum of Fine Arts. The Daphne Farago Collection 2012.1317

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des Designs rezipierte sowie das Gespräch mit Fachleuten entsprechender Sammlungen suchte, argumentiert sie auf der Grundlage ihrer praktischen Erfahrung als Weberin. Ihren darstellerischen sowie schriftlichen Ausgangspunkt bildet nicht die Lektüre von Büchern und Aufsätzen, auch wenn sie auf diese referiert,54 sondern ihre handwerkliche Tätigkeit. Von daher repräsentiert sie eine Position, die für die These der gesellschaftsgestaltenden Potenzialität von Kunst in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg ein wichtiger Baustein sein kann. Ihre aus ihrer Praxis gewonnene Klassifikation der Textilien aus präkolumbianischen Gesellschaften bildete zudem einen wesentlichen Beitrag für die Neubewertung einer Kultur, die auf Grund von Vernichtung und Überschreibung durch die europäische Kolonialpolitik im akademischen Wissen als zivilisationshistorisch rückständig gegenüber Europa eingestuft worden war. Albers – und auch das charakterisiert ihre Position als europäisch – entwickelte ihre Analyse nicht aus einer emanzipatorischen Haltung heraus, wie sie uns im Indigenismus oder der négri­ tude-Bewegung begegnet. Über Sympathien, die sie möglicherweise für diese hegte, lässt sie uns im Unklaren. Ihr Standpunkt gründet vielmehr in ihrer Bildung, die sie als Tochter einer wohlhabenden, kulturell und gesellschaftspolitisch interessierten Familie mit Museumsbesuchen einer großen ethnographischen Sammlung und nicht zuletzt der Ausbildung an einem Reforminstitut in der gesellschaftlichen Aufbruchsbewegung im Deutschland der Weimarer Republik erfahren konnte. Im Nachkriegsgefüge vertritt sie damit die Rolle einer Frau, die ausgehend von einer gesellschaftlich privilegierten Stellung ihrer Familie die damals neuen Bildungsmöglichkeiten in Anspruch nahm. Trotz herausfordernder Erfahrungen, die sie aufgrund rassistischer Ausgrenzungspolitik und Ungleichbehandlung der Geschlechter machen musste, erarbeitete sie sich mit ihren erworbenen Kompetenzen einen eigenen Standpunkt und sukzessive auch eine Autorität. Albers’ Geschichte der Webkunst basiert nicht auf einer chronologischen Entwicklung, sondern auf systematischen Einheiten, die sich aus den verschiedenen technischen Möglichkeiten ergeben. Diese Interferenzen konnten etablierte Hegemonien erheblich stören. Mit dieser Störung war Anni Albers an der Grundsteinlegung einer neuen Form von Kunsthistoriographie beteiligt, die eine von der griechisch-römischen Antike aus­ gehende, linear verlaufende Fortschrittserzählung negiert und stattdessen auf ­einer Vielzeitigkeit mit Sprüngen und, gemessen an einer chronologischen Ordnung, unverhofften Verbindungen basiert. Damit war sie nicht allein. Signifikant ist, dass sich in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg eine derartige Neuperspektivierung, die – denken wir etwa an Alois Riegl, Stella Kramrisch oder Henri Focillon – schon länger im Raum stand, so verdichtete, dass daraus eine neue Dynamik mit für die Kunstgeschichte auch gesellschaftspolitischen Konsequenzen entstand. Der Diskurs zu Popularkultur war bereits im Zusammenhang mit Asger Jorn ein Thema gewesen.55 Im unmittelbaren Umfeld von Anni Albers in Yale, wohin Josef Albers 1950 einen Ruf 54 Vgl. Smith 2017, 234 – 257. 55 Vgl. Kap. 1 und Kap. 3.

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erhalten hatte, arbeitete der US-Amerikaner George Kubler in den Nachkriegsjahren an einem Modell, das einer Diversität Rechnung tragen sollte. Der Architekturhistoriker, der 1940 bei dem aus Deutschland in die U SA emigrierten Erwin Panofsky promoviert hatte und der auf präkolumbianische und mexikanische Bauwerke und deren Ausstattung spezialisiert war,56 hatte realisieren müssen, dass weder das in der Disziplin etablierte Instrumentarium für Stilkunde noch die Ikonologie und schon gar nicht eine an Künstler:innenbiographien orientierte Historiographie für Analysen in seinem Gegenstandsbereich funktional waren. Mit The Shape of Time veröffentlichte er 1962 erste Grundzüge für ein allgemeingültiges Modell, das einer Vielzeitigkeit auch mit ihren diskontinuierlichen Verwerfungen Rechnung tragen sollte.57 Albers und Kubler kannten sich aus Yale, wo die Weberin 1952 auch ein Seminar des Wissenschaftlers besuchte.58 So wie Albers sich darauf konzentrierte, die Struktur der Gewebe zu analysieren, arbeitete auch Kubler damals angesichts fehlender Texte und durch die Perspektive des Kolonialismus kontaminierter Überlieferungen an Überlegungen, die Dinge selbst mit kunsthistorischem Blick zum Sprechen zu bringen. Um nicht vorschnell Bewertungen zu fällen, plädiert er in der wenig später veröffentlichten Publikation The Shape of Time dafür, zunächst jegliche Artefakte gleichermaßen und hierarchielos zu berücksichtigen und sie als Versuche der Menschen zu interpretieren, für konkrete Aufgaben Lösungen finden zu wollen.59 Damit hob er die Disziplingrenzen zwischen Kunst- und Kulturgeschichte, Archäologie und Anthropologie auf und trat dafür ein, die Definition von Kunst nicht mehr normativ ausgehend von einer Kultur zu messen, sondern diese variabel zu halten. Die Unterscheidung zwischen nützlichem Gegenstand und Kunst beließ er dabei durchaus bestehen.60 In seinem neuentwickelten System konnten nun materielle Hinterlassenschaften, die wie die Objekte aus präkolumbianischer Zeit keine Verbindungen zur europäischen Kultur hatten, auch Kunstcharakter erhalten, während sie nach damals gängiger Praxis nicht nach ästhetischen, sondern funktionalen oder symbolischen Kriterien beurteilt wurden. Dem entsprach etwa, dass die junge Anneliese Fleischmann ihren ersten Kulturkontakt mit präkolumbianischen Textilarbeiten im Museum für Völkerkunde und nicht im Kunstmuseum gemacht hatte und sie ihre späteren Recherchen im American Museum of Natural History durchführte. 56 Vgl. Sarah Maupeu/Kerstin Schankweiler/Stefanie Stallschus  : »Im Maschenwerk der Kunstgeschichte. Zur Aktualität von Kublers The Shape of Time«. In  : Dies. (Hg.)  : Im Maschenwerk der Kunstgeschichte. Eine Revision von George Kublers The Shape of Time. Berlin 2014, 7 – 20, hier  : 13 – 14. 57 Vgl. George Kubler  : The Shape of Time. Remarks on the History of Things. New Haven, NJ/ London 1962. Erst 1982 erschien das Buch auf Deutsch. Vgl. George Kubler  : Die Form der Zeit. Anmerkungen zu einer Geschichte der Dinge. Übersetzung Bettina Blumenberg. Frankfurt/Main 1982. Ich referiere auf die englischsprachige Ausgabe. Vgl. aber auch die in die deutschsprachige Ausgabe einführenden Überlegungen von Gottfried Böhm  : »Kunst versus Geschichte  : ein unerledigtes Problem«. In  : Kubler 1982, 7 – 26. 58 Vgl. Smith 2017, 236. 59 Vgl. Kubler 1962, 33 – 35. 60 Vgl. Kubler 1962, 15.

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Das Modell von Kubler sah gegenüber den etablierten Analyseverfahren eine an Mathematik und Linguistik orientierte Herangehensweise vor, deren Ausgangspunkt eine Formanalyse bildet. Ihm zufolge erfüllen handwerkliche und künstlerische Artefakte zwar verschiedene Funktionen, in beiden Feldern suchen Produzent:innen jedoch nach einer idealen Form. Kubler schlug vor, ausgehend von den formalen Lösungen eigene Sequenzen zu bilden und so einen von Chronologien und Orten unabhängigen, kunsteigenen Zusammenhang zu kreieren.61 »The time of history is too coarse and brief to be an even granular duration such as the physicists suppose for natural time. It is more like a sea occupied by innumerable forms of a finite number of types.«62 Kubler wandte sich mit seinem formbasierten Modell dezidiert gegen seinerzeit in der Kunstgeschichte etablierte Systematiken von Formanalyse, die Namen wie Heinrich Wölfflin und Benedetto Croce aufrufen, nicht nur, weil sie die Gestaltungsvielfalt von Artefakten mit den Gegensätzen von linear und malerisch, Fläche und Tiefe, geschlossene und offene Form, Vielheit und Einheit, absolute versus relative Klarheit auf vergleichsweise wenige Kategorien reduzieren. Er kritisierte zudem, dass diese Kategorien allein aus der Auseinandersetzung mit einer ganz spezifischen Gruppe, nämlich ausschließlich europäischen Kunstwerken und Architektur, gewonnen worden war. Auch die anderen Methoden der Kunstgeschichte würden sich an dieser Engführung orientieren, so dass sie zwangsläufig ein eindimensionales und für andere Zusammenhänge nicht funktionales Geschichtsbild reproduzierten.63 Wie seit dem Erscheinen von The Shape of Time angemerkt wird, war Kublers Entwurf einer Neuperspektivierung nicht ohne Widersprüche und viel zu unkonkret, um tatsächlich einen Paradigmenwechsel in der Disziplin herbeiführen zu können.64 Trotzdem erhielten mit seinen Überlegungen die Diskussionen für eine kunsteigene Historiographie jenseits eines Eurozentrismus neuen Aufschwung.65 Mit Blick auf Kublers Vorstoß gewinnt die Position von Anni Albers nochmal an Format. Anders als dieser musste sie sich zwar nicht gegen ein ganzes Wissenssystem stemmen und eine Alternative formulieren. Sie beschränkte ihre Ausführungen auf Techniken des Webens und konnte als Praktikerin ihre Kompetenz begründen und autorisieren. Dennoch musste auch sie für ihre Beobachtungen und Analysen einen Rahmen entwickeln, der damals noch fehlte. Dies geschah nicht auf der Basis von Kubler oder anderen Schriften, sondern vielmehr als eine eigenständige Initiative in den späten 1940er und 1950er Jahren parallel und im Austausch mit denjenigen, die an neuen Strukturen von Kunstgeschichte arbeiteten. Wenn George Kubler heute als einer derjenigen genannt wird, der für die Disziplin ein neues Fenster aufgestoßen hat, dann gilt dies auch für Anni Albers, die im Wissenschaftssystem als Frau und Künstlerin eine 61 Kubler 1962, 34. 62 Kubler 1962, 32. 63 Vgl. Kubler 1962, 127. 64 Vgl. Maupeu/Schankweiler/Stallschus 2014, 12 – 13 sowie Böhm 1982, 18 – 22. 65 Vgl. Kerstin Schankweiler  : »›Brüche und Rupturen‹. Eine postkoloniale Relektüre von George Kublers The Shape of Time«. In  : Maupeu/Schankweiler/Stallschus (Hg.) 2014, 127 – 145.

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prekäre, marginalisierte Position einnahm.66 Mit ihrer Fokussierung auf Material und Technologie schuf sie Voraussetzungen, jenseits von Symbolsprache Materialität analysieren und diese in eine Eigenzeitlichkeit einordnen zu können. Sie ignorierte dabei nicht die Chronologien von Geschichtsschreibung, ihre Analysen basieren jedoch nicht auf diesen. Albers entwickelte eine Betrachtungsperspektive, die auf handwerklicher Praxis fundiert. Wie bei Kubler stellt sich auch bei Albers neben der Frage nach der fachpolitischen Relevanz die nach der gesellschaftspolitischen Bedeutung ihrer Herangehensweise, die sich nur implizit zeigt.67 Genauso wie im Urteil über Kubler lässt sich für Albers konstatieren, dass ihre Schlussfolgerung, ausgehend von den Strukturen der Textilien zu argumentieren, eine Vielzeitigkeit etablierte, die den damals geläufigen Narrativen von Kulturgeschichte einen neuen Zugang gegenüber stellte.68 Dieses Ausbrechen aus Erzählungen, die mit Kunst Images vergangener Gesellschaften evozieren, ist alles andere als ein Negieren von Historizität.69 Zu Recht hat Kerstin Schankweiler darauf hingewiesen, dass The Shape of Time nach den Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs mit dem Holocaust erschien.70 Hinzufügen lässt sich, dass mit Koreakrieg, den militärischen Auseinandersetzungen in den Kolonien europäischer Staaten, den Konflikten durch die Gründung Israels und nicht zuletzt der konfrontativen Opposition der politischen Systeme im Kalten Krieg sowie den Schauläufen mit Atom- und Wasserstoffbombenversuchen die Welt in den späten 1940er und den 1950er Jahren keineswegs friedlich geworden war. In den USA , wo Albers und Kubler lebten, erstarkte damals zudem die Bürgerrechtsbewegung, mit der sich Afro-Amerikaner:innen gegen offenen und latenten Rassismus zur Wehr zu setzen versuchten, und gleichzeitig erlebte das Land seit 1947 mit den Aktivitäten des Komitees für unamerikanische Umtriebe (House Un-American Activities Committee) und dem Senator Joseph McCarthy unterstellten Permanent Subcommittee on Investigations eine Einschränkung politischer Meinungsäußerung, bei der nicht zuletzt aus Europa immigrierte Künstler:innen und Intellektuelle kritisch beäugt wurden.71 Das Schweigen von Anni Albers zur Politik ist jedoch nicht Opportunismus, sondern Programm. Wenn sie in diesen Jahren Texte wie Constructing Textiles 66 Vgl. Jordan Troeller  : »Anni Albers’s Pliable Plane  : Writing on Architecture and the Nomadic Textile«. In  : Burcu Dogramaci  : Textile Moderne/Textile Modernism. Wien/Köln/Weimar 2019, 217 – 228, hier  : 223. 67 Vgl. Schankweiler 2014, 144 – 145. 68 Vgl. hierzu die Einordnung von Kubler in entsprechende Diskurse in  : Maupeu/Schankweiler/ Stallschus 2014, 19. 69 Anders Maria Stravinaki  : »Dry Time« (2019). http://www.bauhaus-imaginista.org/articles/6262/ dry-time [Abruf 12.4.2023]. Sie klassifiziert das Geschichtsverständnis von Albers als »problematisch« und als Resultat einer geschichtsvergessenen Ideologie, die sie dem Bauhaus unterstellt. 70 Vgl. Schankweiler 2014, 144. 71 Vgl. Olaf Stieglitz  : »›What I’d done was correct, but was it right  ?’ Öffentliche Rechtfertigungen von Denunziationen während der McCarthy-Ära.« In  : Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History 4 (2007), Heft 1 – 2, 40 – 60, vor allem 43 – 52 (online  : https://d-nb. info/1219066516/34 [Abruf 12.4.2023]).

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(1946/1959) oder The Pliable Plane (1957) veröffentlichte, wenn sie sich durch ihre Recherchen präkolumbianischer Gewebe zu Arbeiten wie Development in Rose I (1952) oder Dotted (1959) anregen ließ, (Abb. 23 und 27) nahm sie mit ihrer Offenheit und Neugierde gerade dadurch eine Position gegen kulturelle Hierarchien und ideologische Konfrontationen ein, indem sie sich auf die Analyse der Fäden konzentrierte und sich deren Überschreibung durch Geschichtsentwürfe verweigerte. Unaufgeregt und selbstbewusst kommentierte sie auf diese Weise die Indienstnahme von Kunst für andere Interessen als einen Missbrauch, dem man durch die Konzentration auf kunsteigene Ausdrucksmöglichkeiten den Boden entziehen kann. Mit der Eigenzeit von Kunst, die zugleich machtorientierte Geschichtsschreibung mit Interferenzen stört, erinnerte Anni Albers in ihren künstlerischen Arbeiten und theoretischen Äußerungen an Phänomene, die im kulturellen Gedächtnis auch deshalb verdrängt worden waren, weil sie eine Relativierung dominanter Erzählungen bedeuten. Signifikant ist, dass diese Überlegungen, die wir auch bei Jorn beobachten konnten, zu einem Zeitpunkt virulent werden, als die Menschheit sich an den Rand der Vernichtung gebracht hatte und es galt, dies auch weiterhin zu verhindern. Zwar gab es ein starkes Interesse, alte Hierarchien aufrechtzuerhalten, und eine Bereitschaft, dies skrupellos auf Kosten von Leben und Kultur durchzusetzen. Doch es war offensichtlich, dass eine stabile Weltordnung nur durch Vielstimmigkeit zu erreichen war. Während Asger Jorn hierfür Kollaborationen diverser Akteur:innen in einer Gemeinschaft als Garanten ansah, war es bei Anni Albers die Offenheit gegenüber pluraler Zeitlichkeit sowohl auf synchroner wie vor allem auf diachroner Ebene. Was soziale Zusammenhänge angeht, blieb sie dabei allerdings weitgehend unkonkret. Wie bei Kubler ist es auch bei ihr letztlich das (Künstler:innen)-Individuum, das Entscheidungen trifft. Albers forderte dazu auf, mit menschlicher Kreativität aktiv die Maschinenproduktion zu bestimmen und nicht durch die Arbeit der Maschine in Gleichgültigkeit zu verfallen.72 Bedenkt man die Marginalisierungen, mit denen sie sich immer wieder aufgrund ihrer Geschlechterrolle arrangieren musste, sowie ihre Fremdheitserfahrung, die sie mit ihrer Übersiedlung machte, berücksichtigt man nicht zuletzt und vor allem, dass ihr, ihren Angehörigen, zahlreichen Freund:innen und Kolleg:innen wie überhaupt einem Teil der Menschheit mit rassistischer Begründung ein Existenzrecht abgesprochen worden war, lässt sich ihr Appell an menschliche Fähigkeiten als ein aktives Eintreten gegen eine Vernichtungspolitik lesen, die Zivilisation und Zivilisationsgeschichte eindimensional interpretiert. Das Bild von der präkolumbianischen Webereikultur, das Anni Albers zeichnete, ist natürlich eine Rekonstruktion, die, wie alle Historiographien, für die Gegenwart funktional war.73 Ihre Referenz auf den hohen Standard der andinen Textilkunst rückt die Handhabung von Technologie in den Fokus, die von Menschen genutzt wird. Die In72 Vgl. Albers 2000 (1959), 30 – 31. 73 Vgl. Bruno Latour  : Die Hoffnung der Pandora. Untersuchungen zur Wirklichkeit der Wissenschaft. Übersetzung Gustav Roßler. Frankfurt/Main 2000, 36 – 95 (zuerst Cambridge, MA 1999).

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terferenz zwischen Webereipraktiken, die sie dabei mit der Verbindung von Gegenwart und Zeit der Inkas aufmachte, durchkreuzte Konzepte von Entwicklungsgeschichte, die allein die Industrialisierung mit der Delegation von Tätigkeiten an Maschinen als Fortschritt ansehen. Albers plädierte hingegen entschieden dafür, die Entscheidungen für menschlich kreative Gestaltung nicht aus der Hand zu geben. Wenn sie für ihre Argumentation dabei auf die Hinterlassenschaften einer weit zurückliegenden Zeit zurückgriff und diese damit in die Gegenwart holte,74 wurde sie dabei durch die Praktiken einer Musealisierung unterstützt, die Objekte der Vergangenheit sammeln, konservieren und inszenieren, um sie als Dinge zum Sprechen zu bringen. In diesem Kontext von Erinnerungskultur hatten Artefakte aus präkolumbianischer Zeit seit der Conquista einen neuen Wert erhalten. Sie waren nach Europa verschifft und in fürstlichen Sammlungen als wertvolle Schätze gehortet worden  ; sie waren Gegenstand wissenschaftlicher Überlegungen wie auch Handelsobjekt in den Amerikas sowie in Europa. Anni Albers bewertete diese materiellen Güter neu, indem sie sie als Vorbilder für den Alltag in einer modernen Gesellschaft produktiv machte. Albers’ Verständnis unterscheidet sich dabei grundlegend von einer primitivistischen Herangehensweise. Weder sah sie in der weit zurückliegenden Kultur einen Urzustand noch rief sie dazu auf, deren vermeintliche Grundformen zu imitieren. Geschichtsmodelle ignorierend, die auf chronologischen Zeitabläufen basieren, schuf sie stattdessen einen kunsteigenen Verhandlungsraum, in dem man imaginativ über Textilkunst kommunizieren und voneinander lernen konnte. Mit ihrer Kulturtheorie, die sie praktisch in ihrer Weberei umsetzte, zielte Anni Albers auf ein aktives Handeln in der Gegenwart. Indem sie die Leistungen der Vergangenheit betonte, unterlief sie eine Eindimensionalität von Fortschritt, die Perspektiven für die Zukunft nur aus der Gegenwart ableitet. Anders als die mikropolitischen Aktivitäten, die bei und im Umfeld von Jorn zu beobachten sind, findet sich bei Albers ein utopischer Gesellschaftsentwurf, bei dem sich aus ästhetischer Praxis Konsequenzen für das Sozialleben einer Gemeinschaft ableiten, allenfalls implizit, indem sie sich mit Webereiklassen am Bildungsprogramm zunächst am Black Mountain College, später in Yale beteiligte. Es gibt noch einen anderen auffälligen Unterschied  : Im Vergleich mit ihren Kolleginnen von COB RA , M. I. B. I. und SI traf Anni Albers in ihrem US-amerikanischen Umfeld offenbar auf weniger festgefahrene Strukturen von Geschlechterdifferenz. Auch wenn sie meistens im Schatten ihres prominenten Ehemannes Josef stand, vergleicht man etwa die Künstler:innenpaare Josef und Anni Albers und Carl-Henning Pedersen und Else Alfelt miteinander, werden trotz Anni Albers’ Marginalisierungserfahrungen ihre größeren Handlungsspielräume deutlich. Neben den Kontakten zu ehemaligen Bauhäusler:innen, die sie weiter intensiv pflegte, hatte sich Anni Albers in den USA zudem ihr eigenes Netzwerk aufbauen können, das sie mit im Kulturbereich einflussreichen Männern wie dem Architekten und Kuratoren Philip Johnson, dem Wissenschaftspolitiker und Hochschullehrer Theodore Dreier oder dem Ethnologen und 74 Landwehr 2020, 249 – 253.

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Kuratoren Junius Bird für sich zu nutzen verstand. Inwiefern diese Unterschiede aus grundsätzlich strukturellen Differenzen resultierten, die genuin verschiedenen Nachkriegssituationen geschuldet sind, muss durch zukünftige Forschungen zum transatlantischen Kulturvergleich erst noch herausgearbeitet werden. Erst dann wird sich auch bewerten lassen, wie wir diesen Teil des Gefüges mit seinen eindeutigen Verbindungen zu Europa bewerten und diskutieren wollen  : als einen integrierten Part europäisch fundierter Vielzeitigkeit oder als eine Zeitschaft, die zum Abdriften gezwungen worden war und die daraufhin nicht nur einen neuen, sondern mit Nordamerika auch einen anderen Zusammenhang finden konnte.

5 Resümée am Kartentisch Eindimensional angelegte Historiographien, die zudem so erzählen, dass eine Perspek­ tive machtvoll privilegiert wird, haben ausgedient. Auch die Kunstgeschichte ist herausgefordert, diesbezüglich ihre Ordnungssysteme zu überdenken und dabei vor allem Lösungen zu entwickeln, die den herkömmlichen Eurozentrismus der Disziplin hinter sich lassen. In diesem Prozess einer Regionalisierung von Europa erweist sich die Nachkriegszeit als eine besondere Herausforderung, hatten sich hier doch Dominanzkonzepte gewissermaßen potenziert  : Eingebunden in die bipolare Weltordnung, die sich nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges herausgebildet hatte, war die kunsthistorische Betrachtung der späten 1940er und der 1950er Jahre in das Fahrwasser einer Ideologie des Kalten Krieges geraten, die nach dem Zusammenbruch des Sozialismus in Europa die hegemoniale Perspektive auf die Kulturen der Welt mit der Gewissheit verbinden konnte, mit dem bürgerlichen Selbstverständnis auf der richtigen Seite gewesen zu sein. Damit war eine selektive Perspektive manifestiert worden, die nicht nur jahrelang die Kunstentwicklung im Sozialismus in den Schatten gedrängt hatte, sondern die auch die sukzessive Formulierung neuer Ästhetikvorstellungen, wie sie nach dem Zweiten Weltkrieg sich auszubilden begannen, ausblendete. Das Buch ist ein Plädoyer dafür, einen neuen Blick auf die Nachkriegszeit zu entwickeln und dabei zugleich Vorstellungen von Europa auf den Prüfstand zu nehmen. Als ein wesentliches Hindernis bei der Überwindung der herkömmlichen Muster, die immer noch einer Kunstgeschichte des Kalten Krieges geschuldet sind, wurde die Rahmung durch die politische Geschichte ausgemacht, die es verhindert, eine Historiographie zu entwerfen, die die Eigenarten und Eigenheiten von Kunst zum Ausgangspunkt nimmt. Als Alternative wurde daher in Anlehnung an Gilles Deleuze und Félix Guattari das Modell eines Gefüges zugrunde gelegt und eine Erzählung konzipiert, die – gleichfalls auf eine Idee der beiden Philosophen zurückgreifend – das Entwerfen einer Landkarte zum Vorbild hat. Auf diese Weise wird es möglich, die Vielheit von Geschichten zu respektieren und durch die Setzung von Knotenpunkten zugleich exemplarisch im Sinne einer bounded wholeness (Levine)1 zu argumentieren. Als ein Knotenpunkt, der programmatische Debatten, Praktiken und Theorien der Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg zusammenfasst, wurde die Auseinandersetzung mit dem Konzept von Gemeinschaft gewählt, an dem sich Verschiebungen in den Ästhetikvorstellungen verfolgen lassen. Unter der Überschrift »Zeitschaft und Vielzeitigkeit« wurde ein weiterer Knotenpunkt gesetzt, der die Konstruktion einer neuen Eindimensionalität 1 Vgl. Caroline Levine  : Forms  : Whole, Rhythm, Hierarchy, Network. Princeton, NJ/Oxford 20174 (zuerst 2015), 14 – 48.

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verhindert. Zugleich zeigen sich in diesem Punkt die Schwachstellen, wenn es darum geht, Europa zu definieren. Mit dem in diesem Buch vorgestellten Ausschnitt aus dem Nachkriegsgefüge ist ein Anfang gemacht, eine neue Perspektive auf einen Kontinent zu gewinnen, der genauso wie alle anderen ständig in Bewegung ist. Drei Ergebnisse der Untersuchung, die für zukünftige Forschungen relevant sind, möchte ich hier explizit festhalten  : Auch wenn Kunst einer eigenen Zeit mit eigenen Rhythmen unterworfen ist, macht es Sinn, mit 1945 einen an einem politischen Ereignis orientierten Einschnitt zu wählen. Die Diktatur-, Vertreibungs- und Kriegserfahrungen führten dazu, dass Themen aus den Vorkriegsjahren nun anders akzentuiert wurden. Beide Felder, die in der Untersuchung als virulent ausgemacht wurden, waren davon betroffen  : das bereits von den Avantgarden seit Beginn des 20. Jahrhunderts verfolgte Ziel, bildungsbürgerliche Kunstvorstellungen sprengen zu wollen, genauso wie die Debatten über das Verhältnis von Mensch und Maschine. Während vor 1945 das modernistische Paradigma von Fort- und Rückschritt weitgehend Orientierung gebend war, veränderte sich nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs die europäische Perspektive. Man verstand sich jetzt als Teil einer uralten Zivilisationsgeschichte, die nicht zerstört werden sollte, auf deren Errungenschaften man neugierig schaute und die man explorativ nutzen wollte. In dem Zusammenhang wurden etablierte Hierarchien künstlerischer Medien über Bord geworfen und speziell Keramik und Weberei – wie ausführlich geschildert – erlebten eine Aufwertung. Das geschah nicht zuletzt auch deshalb, weil diese aufgrund ihrer Produktionsprozesse sozial inklusiv sein können, ein Umstand, der sich zudem für die Rezeption von Kunst funktionalisieren ließ. Das zweite Ergebnis, das die Untersuchung erbracht hat, ist, dass sich diese Veränderungen in mikropolitischen Zusammenhängen zeigen und daher erst latent ausgebildet sind. Zwar war im Europa der Nachkriegszeit nicht nur viel von Gemeinschaft die Rede, es entstanden auch – wie am Beispiel Asger Jorn vorgestellt – neue Formen der Kollaboration, die Grundlagen für eine Neuaufstellung von Kunst vorbereiteten. Wie in anderen Bereichen des Alltags begünstigte man in der Nachkriegszeit allerdings auch im Kunstbetrieb weiterhin weitgehend die Interessen einer patriarchalen, weißen Gesellschaft, die sich zudem schwer damit tat, die Ursachen für und die Vorgänge um die Ermordung der Jüd:innen und die Vernichtung der jüdischen Kultur in Europa aufzuklären. Dies hatte und hat bis heute Auswirkungen auf die Kunstgeschichte, die aufgrund der Ausblendungen seit Jahrzehnten Forschungsdesiderate mit sich herumträgt und die aufgefordert ist, ihre Ordnungssysteme zu überdenken. Die damit verbundenen Diskussionen sind kein rein akademisches Unterfangen. Dies zeigt sich nicht zuletzt daran, dass sich die Erstellung von Datenbanken, die Aufstellung von Fach­ bibliotheken, Sammlungskonzepte, die Profile von Stellen oder die Vergabe finanzieller Mittel an den Mustern von Historiographie orientieren. Sie nehmen damit Einfluss auf unsere Erinnerungskultur genauso wie auf praktische Handhabungen der Forschung. So hat etwa Anni Albers nicht nur einen Platz im Nachkriegsgefüge von Europa, weil die aktuelle Exilforschung Personen wie sie dazuzählt oder sie in der Library of Con-

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gress in Washington entsprechend gelistet ist. Ihr künstlerisches Selbstverständnis, ihre Schritte einer Theorieerarbeitung und ihre kunsttheoretische Perspektive wurzeln – wie im vierten Kapitel dargelegt wurde – fest in Vorstellungen und Praktiken, die sie in Europa kennengelernt und die sie sich zu eigen gemacht hatte. Dies alles im Gepäck traf sie in den US A auf Strukturen, die ihr auch neue Handlungsräume eröffneten. Welches sind die maßgeblichen Bruchstellen, die die Differenzen etwa zu den Künstlerinnen in der Gruppe COB RA ausmachen und die über Begründungen hinausgehen, die in der Persönlichkeit von Albers lagen  ? Erklären sich diese aus der Situation in den USA oder aus der Fremdheitserfahrung, die Albers als Vertriebene machen musste und die den COBR A-Künstlerinnen fehlte  ? Im erstgenannten Fall wäre es ein Argument, die Nachkriegsaktivitäten von Albers eindeutig von Europa abgrenzen zu können, das Zweitgenannte würde begründen, weshalb etwa Forschungen hierzu aus Fördermitteln bezahlt werden sollten, die für die Kunstgeschichte Europas vorgesehen sind. Die in diesem Buch vorgestellten Ergebnisse liefern einen Beitrag, diesbezügliche Diskussionen voranzubringen. Das dritte und wichtigste Ergebnis ist, dass hierfür das Modell des Nachkriegsgefüges funktional sein kann, lässt sich doch damit eine Historiographie der Nachkriegszeit entwickeln, die von der Kunstpraxis ausgeht. Sie verliert die Politik nicht aus dem Auge, perspektiviert sie allerdings kunsthistorisch. Die Erzählung, die sich dabei ergibt, zeigt eine Kunst, die sich mit ihr eigenen Mitteln hochreflektiert mit aktuellen gesellschaftlichen Debatten auseinandersetzt. Sie kommentiert diese dabei nicht nur ästhetisch, sie nimmt durch gestalterische Praxis direkten Einfluss auf Gesellschaft. Als eine maßgebliche Veränderung gegenüber der Vorkriegszeit ist dabei das Bestreben zu beobachten, das Verständnis von Kunst sozial breiter aufstellen und auf diese Weise Ästhetik neu fassen zu wollen. Am Beispiel von Giuseppe Pinot Gallizio, der im Kunstbetrieb eine Außenseiterposition einnahm, lässt sich nachvollziehen, dass die Hürden für diese Öffnung schwer, wenn überhaupt zu nehmen waren. Dennoch war nach dem Ende des Krieges etwas in Bewegung geraten, das sich vor allem in einem neuen Umgang mit der Vielfalt von Kulturen ausdrückt  : es ist nicht mehr die Perspektive des Primitivismus, sondern das neugierige Entdecken von Möglichkeiten, wenn man die alten Hierarchien hinter sich lässt. Dieser Schritt – und das ist die zentrale Feststellung, die mit der Untersuchung erarbeitet werden konnte – erfolgte genuin künstlerisch  : im Erkunden von Möglichkeiten, die Materialien bieten, im kreativen Austesten von Techniken. Verglichen mit Großereignissen wie etwa der Biennale von Venedig oder der Documenta spielten sich die Praktiken in Albisola und Alba eher in Nischen des Kunstbetriebs ab. Das dortige explorative Vorgehen mit einem weitgefassten Begriff gestalterischer Akteur:innen dokumentiert jedoch, dass auch die Kunstpraxis in dieser Zeit Anteil an der Ausbildung eines neuen Verständnisses von Natur und Mitwelt hatte. Wenn dies zunächst weniger auf den großen Bühnen manifest wurde, sondern sich eher in Zusammenhängen ausbildete, die nicht im Rampenlicht standen, verstärkt diese Beobachtung das Argument, bei der Neuperspektivierung der Nachkriegszeit vor allem auch von dem ausgehend zu denken, was zwar mikropolitisch vorhanden war, in den

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bisherigen Narrativen jedoch abwesend gehalten wurde. Auch wenn mit dem Buch erste Orientierungspunkte für eine Neustrukturierung von Historiographie erarbeitet wurden, weist die Karte diesbezüglich noch viele Leerstellen auf. Ein zentrales Thema weiterer Kartierungsarbeit muss die Rolle der Künste und Künstler:innen im Verhältnis zur Kolonialpolitik sein, die in der Nachkriegszeit eine Herausforderung für ein friedliches Miteinander darstellte. Während ich in meiner Untersuchung die Neuperspektivierung vorhandenen Wissens vorgenommen habe, wird diese Aufgabe nicht so leicht von der Hand gehen können. Hier sind Grundlagenforschungen notwendig, die nicht einfach nur Bekanntes ergänzen können, sondern auch den Fokus anders setzen müssen.2 Das Modell vom Gefüge ist so offen angelegt und die ersten beiden Knotenpunkte der Nachkriegskarte wurden so gewählt, dass sie für diese Anschlussuntersuchungen dienlich sein können.

2 Vgl. etwa die Auflistung bei Veronica Peselmann  : »Postkoloniale Fragen in der Kunstgeschichte. Plädoyer für Analysen verteilter Handlungsträgerschaften«. In  : Kritische Berichte 50 (2022), Heft 2, 25 – 34, hier 28.

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Abbildungsnachweise Abb. 1  : Ausstellungskatalog Kopenhagen, Statens Museum for Kunst 2014  : »Asger Jorn. The Restless Rebell«. Hg. von Dorthe Aagensen/Helle Brøns. Kopenhagen 2014, S. 126. Abb. 2, 3, 4, 6, 9  : Ursula Lehmann-Brockhaus  : Asger Jorn in Italien. Werke in Keramik, Bronze und Marmor 1954 – 1972. Silkeborg 2007 (zugleich Ausstellungskatalog Silkeborg, Kunstmuseum u. a. 2007), S. 26 (Abb. 13), S. 47 (Abb. 25), S. 49 (Abb. 28), S. 74 (Abb. 85), S. 199. Abb. 5  : Asger Jorn  : Guldhorn og Lykkehjul. Kopenhagen 1957, o. P. Abb. 7  : http://www.gmazzotti1903.it/a.s.-1600-grandi-vasi.html [Abruf 5.6.2023] Abb.  8  : https://www.bukowskis.com/en/lots/1351466-nicolay-diulgheroff-tullio-d-albisola-a1930-s-nine-piece-tea-service-produced-for-torido-mazzotti [Abruf 5.6.2023] Abb. 10 und 16  : Troels Andersen  : Asger Jorn. Eine Biographie. Übersetzung Irmelin Mai Hoffer/Rainald Nohal. Köln 2001 (zuerst Kopenhagen, 3 Bde. 1994 – 1997), S. 334 und S. 339. Abb. 11 und 12  : Ausstellungskatalog Lausanne, Musée cantonale des Beaux Arts 1997 u. a.: »Cobra«, Frontispiz und S. 199. Abb. 13  : Daniel P. Meister/Dagmar Meister-Klaiber  : Einfach komplex. Max Bill und die Architektur der HfG Ulm. Zürich 2018. Abb. 14 und 15  : Asger Jorn  : Plädoyer für die Form. Berlin 2015 (unveränderte Neuauflage, zuerst 1990), S. 38 und S. 39. Abb. 17  : https://www.aarhusarkivet.dk/records/000207170 [Abruf 13.5.2023] Abb. 18 und Abb. 21  : Ausstellungskatalog München, Städtische Galerie Lenbachhaus 1987  : »Asger Jorn 1914 – 1973. Gemälde, Zeichnungen, Aquarelle, Gouachen, Skulpturen«. Hg. von Armin Zweite. München 1987, S. 16 und S. 17. Abb. 19  : Guy Atkins unter Mitarbeit von Troels Andersen  : Asger Jorn  : The Crucial Years  : 1954 – 1964. A Study of Asger Jorn’s Development from 1954 – 1964 and a Catalogue of His Oil Paintings from that Period. London 1977, S. 114. Abb. 20  : Ausstellungskatalog Amstelveen, Cobra Museum of Modern Art 2016  : »Constant. Space + Colour. From Cobra to New Babylon«. Hg. von Ludo van Halem und Trudy Nieuwenhuys-van der Horst. Rotterdam 2016, o. P. Abb. 22, 23, 25, 27  : Ausstellungskatalog Düsseldorf, Kunstsammlung NRW/London, Tate Modern 2018  : »Anni Albers«. Hg. von Anne Coxan/Briony Fer/Maria Müller-Schareck. München 2018, S. 17, S. 108, S. 112, S. 125. Abb.  24  : https://www.hemispheresmag.com/wp-content/uploads/2018/07/peruviantex-152449 9549-61-1.jpg [Abruf 13.5.2023] Abb.  26  : https://smb.museum-digital.de/object/28561 [Abruf 13.5.2023]

Dank Wie viele Vorhaben hat auch dieses Buch eine längere Geschichte. Sie beginnt mit einem Unbehagen, das sich bei mir einstellte, wenn die Sprache auf die Jahre der unmittelbaren Nachkriegszeit in Europa kam, und meiner gleichzeitigen Unfähigkeit, dies auflösen zu können. Nach und nach lernte ich konkreter zu benennen, was mich störte und wo ich Ansatzpunkte für andere Perspektiven meinte, ausmachen zu können. Aus heutiger Sicht hätte ich mir dabei manche Umwege ersparen und direktere Wege einschlagen können. Ich hätte aber Vieles nicht kennengelernt und vermutlich manche Diskussionen nicht geführt, die ich nicht missen möchte. Für mich waren es notwendige Zwischenschritte und Erfahrungen, um letztlich das Modell des Nachkriegsgefüges entwickeln und meine Argumentation konzentrieren zu können. Mein Dank gilt in dem Zusammenhang den Menschen und Institutionen, die mich bei meiner Arbeit an diesem Projekt unterstützt haben. Ich danke vor allem der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DF G), die diese Untersuchung über drei Jahre großzügig gefördert und mir dabei nicht nur Reisemittel zur Verfügung gestellt hat, sondern auch die Möglichkeit eröffnete, mich für Forschungstätigkeit ein Semester von den Dienstverpflichtungen befreien zu lassen. Ohne die Unterstützung des Jorn Archivs in Silkeborg, namentlich Lucas Haberkorn, wäre mir niemals der Einstieg in die Gedankenwelt von Asger Jorn gelungen. Die Gastfreundschaft des Jorn Museums, die ich bei meinen Aufenthalten erleben durfte, ist einzigartig. Eine besondere Erfahrung war die Unterstützung, die ich von The Josef and Anni Albers Foundation erhielt. Lange geplant, konnte die Forschungsreise in die US A pandemiebedingt nicht stattfinden. Stattdessen nahm sich Brenda Danilowitz, die Leiterin des Archivs, wiederholt Zeit, um mit mir geduldig meine Fragen in Videogesprächen oder via E-Mail zu klären. Ich konnte auf diese Weise auch von ihren umfassenden Kenntnissen profitieren, die mir halfen, mein Bild von Anni Albers zu konturieren. Die Unmöglichkeit des Reisens, geschlossene Bibliotheken und Archive wurden in großem Maße durch die Hilfe kompensiert, die ich durch die Mitarbeiter:innen der Universitätsbibliothek Tübingen erhielt, die mit engagiertem Einsatz und meistens erfolgreich bemüht waren, mir neben seltenen Erstauflagen auch die entlegensten Kleinschriften als Kopie, Digitalisat oder tatsächlich im Printformat zu besorgen. Die Fotografin des Kunsthistorischen Instituts in Tübingen Eva-Maria Hamm fertigte darüber hinaus mit großer Sorgfalt zahlreiche Digitalisate für mich an. Meine Gedanken konnte ich im regelmäßigen Austausch mit Marco Barbero und Theresa Köhl klären, die im Projekt mitarbeiteten und inzwischen selbst Forschungsvorhaben zur Nachkriegszeit durchführen. Bevor ich den ersten Entwurf meines Modells mit ihnen, Idis Hartmann, Erika Ortiz und Marcel Finke diskutierte, erhielt ich von Karin Gludovatz, Susanne Goumegou, Verena Krieger, Magdalena Nieslony und

178  |  Dank

Kerstin Thomas die Möglichkeit, bei Vorträgen Einzelstudien vorzustellen und so an der Profilierung meiner Perspektive zu arbeiten. Dirk Hildebrandt, mit dem ich das Interesse an Asger Jorn teile, war mir wiederholt ein hilfreicher Gesprächspartner. Mit unserem Arbeitskreis Postwar Futures, den ich gemeinsam mit Theresa Köhl und Jordan Troeller im Ulmer Verein gründete, haben sich in den vergangenen Monaten die Diskussionen noch intensivieren und der Kreis der Themen erweitern können. Mit großer Freude und wissenschaftlicher Neugierde schaue ich daher auf unsere zukünftige Beschäftigung mit der Nachkriegszeit. Nicht zuletzt danke ich dem Böhlau Verlag und hier vor allem Kirsti Doepner, die das Buchprojekt von Beginn an mit großer Zuversicht und förderndem Interesse unterstützend begleitet hat. Durch die umsichtige und geduldige Arbeit von Julia Beenken und Michael Rauscher wurde aus dem Manuskript ein Buch. Susanne Kessler stellte für die Covergestaltung eine Abbildung ihrer Arbeit Boundless (2019) zur Verfügung, die mit der grenzenlosen Überlagerung konkreter Strukturen das Konzept vom Nachkriegsgefüge visualisieren kann. Mein ganz besonderer Dank aber gilt Dominik van Os und Stephan Eichmann, die mich beim Verfassen des Manuskripts durch ihre kritischen Kommentare und das Einfordern von Konkretisierungen von manchen Abwegen abhielten und die mein Abwägen von Formulierungen und Argumentationsgängen mit nicht müde werdender Unterstützung begleitet haben.

Personenregister Die beiden Protagonist:innen der Untersuchung Asger Jorn und Anni Albers werden im Register nicht aufgeführt. Die Verweise auf Künstler:innengruppen finden sich unter den Personennamen. A Adorno, Theodor W. 13 Aicher, Otl 82 Aicher-Scholl, Inge 82 Albers, Josef 23, 128, 131, 132, 135, 136, 139, 140, 147, 152 Alechinsky, Micky 72, 76, 78 Alechinsky, Pierre 72, 76, 77, 85 Alfelt, Else 77, 78, 152 Alloway, Lawrence 14, 43, 62, 63, 91, 103 Andersen, Hans Christian 91 Appel, Karel 76, 79, 107 Arensberg, Louise 135 Arensberg, Walter 135 Arnaud, Noël 75 Arp, Jean 35 B Bachelard, Gaston 114, 115 Baj, Enrico 40, 41, 60, 82, 85, 90 Balle, Grete 78 Berger, Otti 129 Bernstein, Michèle 116 Beuys, Joseph 43 Bill, Max 81 – 85, 87, 89, 114, 132 Bird, Junius 153 Bjørn, Inge 94 Blauer Reiter 30, 45, 46 Blok 125 Bohr, Niels 85 Brandt, Eugène 107 Breton, André 40, 74, 114, 135 C Cage, John 131

Cardozzo, Carlo 62 COB R A 14, 32, 40, 43, 45, 48, 60, 62, 65, 69, 70, 72, 74 – 80, 83, 85, 88, 96, 104, 105, 107, 108, 115 – 117, 125, 152, 157 Constant 29, 48, 76, 77, 80, 103 – 112, 117, 119, 122 Corneille 41, 64, 76, 107, 117 Croce, Benedetto 149 D Dangelo, Sergio 85 Debord, Guy 62, 88, 90, 91, 113, 116 Dendal, Yves 41 De Stijl 80, 108, 110, 118 Dewey, John 115 Die Brücke 45 Diulgheroff, Nikolay 57, 59 Domselaer, Jaap van 107 Domselaer, Jacob van 107, 118 Domselaer, Matie van 23, 29, 50, 60, 100, 103, 104, 107, 108, 116 – 122 Dotremont, Christian 48, 72, 76, 77, 80, 115 Dreier, Barbara 131 Dreier, Katherine 135 Dreier, Theodore 131, 138, 152 Duchamp, Marcel 40, 74, 135 E Edouard Jaguer 40, 41 Eisenloeffel, Paula 107 Elburg, Jan G. 107 Ethuin, Anne, gen. Simone 41, 43, 45, 77, 78 Eyck, Aldo van 110

180  |  Personenregister F Fabbri, Agenore 41 Faimali, Paola 94 Ferlov Mancoba, Sonja 78, 79 Focillon, Henri 147 Fonnesbech-Sandberg, Elna 116 Fontana, Lucio 47, 60, 62, 63, 118 Fuller, Buckminster 131 G Gabo, Naum 35 Gallizio, Giuseppe Pinot 72, 82, 88, 101, 103, 104, 111 – 115, 122, 157 Gaugin, Paul 46 Giedion-Welcker, Carola 35, 36 Greenberg, Clement 11 – 13 Gropius, Ise 131 Gropius, Walter 89, 131, 134 Grundtvig, Nikolai 30, 31 H Hager, Anneliese 78 Hajdú, Etienne 35 Hall, Stuart 14 Hartung, Karl 79 Heck, Gilbert 94 Hildebrand, Adolf von 35 Hitler, Adolf 129 Hoggart, Richard 14 Horkheimer, Max 13 Hultén, C.O. 79

Kjersmeir, Carl 78 Klee, Paul 89, 131, 135 Kouwenaar, Gerrit 79, 107 Kramrisch, Stella 147 Kubler, George 148 – 151 L Lam, Wifredo 62 Laurin Lam, Lou 62, 63, 65, 69 Lazaro, San 62 Leach, Bernhard 52 Le Corbusier 42, 43 Léger, Fernand 35, 43, 97 Lilliendal, Alfred Harry 79 Loeb, Pierre 105 London Psychogeographical Association 90 Loo, Otto van 21 Louw, Tientje (Catharina) 107 Lucebert 107

J Jacobsen, Egill 71, 72 Jaguer, Edouard 40 – 43, 45, 55, 72, 77, 85 Joas, Hans 115 Johnson, Philip 128, 131, 152 Jongh, Jacqueline de 119 Jørgensen, Erling 79

M Maillol, Aristide 35, 47 Mancoba, Ernesto 78, 79 Marinetti, Filippo Tommaso 64 Marx, Karl 52, 58 Matta, Malitte Pope 41, 117 Matta, Roberto 41, 85, 86, 114, 117, 135 Mazzotti, Giuseppe 57, 62 Mazzotti, Torido 63, 64 Mazzotti, Tullio 41, 62, 64, 65, 85 McCarthy, Joseph 150 Mian, Ai-Li 78 Milani, Milena 62 Minco, Marga (Sara) 107 Miró, Joan 105 Moholy-Nagy, Lászlò 131 Morabito, Ugo 99 Mouvement pour un Bauhaus imaginiste (M. I . B. I .) 34, 62, 69, 80 – 82, 85, 87, 88, 90 – 92, 96, 104, 105, 113, 114, 116, 121, 125, 152 Movimento nucleare 60, 62, 85 Munch, Edvard 31 Mussolini, Benito (Duce) 63, 64, 87

K Kandinsky, Wassily 89, 131, 135 Kaufmann Jr., Edward 129 Kjersmeir, Amalia 78

N Nederlandse Experimentele Groep 75, 107 Nevelson, Louise 35 Nielsen, Arne Gravers 96

I Independent Group 14 Internationale Lettriste 62, 90 Itten, Johannes 89

Personenregister | 181 Nielsen, Niels 48 Nieuwenhuijs, Jan 107 Noiret, Joseph 76 Nyholm, Erik 77 O Olsen, Robert Dahlmann 54, 72, 96 Ortvad, Erik 79 P Paalen, Wolfgang 114, 135 Pannaria, Francesco 113, 114 Panofsky, Erwin 148 Pastorino, Giovanni 100 Pedersen, Carl-Henning 71, 72, 77, 79, 152 Penalba, Alicia 35 Pevsner, Antoine 35 Phase 62 Picasso, Pablo 31, 43, 47, 54, 60 Pippin, Robert 115 Pollock, Jackson 133 Prince, Yvette 94 R Ra 125 Ragon, Michel 50, 120 Rajchmann, Guénia Katz 116 Richter, Johan 96 Riegl, Alois 147 Riemers, Henny 41, 64, 78, 117 Rietveld, Gerrit 110 Rockefeller, Abby Aldrich 128 Rooskens, Anton 79, 107 S Salino, Eliseo 98 – 100

Sandberg, Willem 62, 76, 77 Sassu, Aligi 63 Scanavino, Emilio 63 Schierbeek, Bert 79 Schwitters, Kurt 35 Semper, Gottfried 89 Simondi, Piero 88 Situationistische Internationale (SI) 14, 34, 62, 69, 70, 80, 81, 92, 105, 113, 116, 121, 152 Société Anonyme 135 Spotorno, Mario 100 Strindberg, August 114 T Therkildsen, Agnete 78 Tinguely, Jean 35 Trökes, Heinz 79 Tullio d’Albisola (Künstlername), siehe Mazzotti, Tullio U Ubac, Raoul 72, 73 V Van, Micheline 94 Verone, Elena 89 Voeten, Bert 107 W Warburg, Edward M. M. 128 Wemaëre, Pierre 94, 97 Williams, Raymond 14 Winter, Fritz 133 Wölfflin, Heinrich 149 Wolman, Gil 91 Wolvekamp, Theo 107

Die Verflechtung von Kunst und Politik in der irischen Moderne

Elisabeth Ansel Jack B. Yeats Nationale Identitätskonstruktionen in der irischen Moderne 978-3-412-52727-3 2023. 512 Seiten. Gebunden € 85,00 D | € 88,00 A Auch als e-book erhältlich Jack B. Yeats (1871–1957) gilt als zentraler Vertreter der irischen Moderne, der vor dem Hintergrund der irischen Unabhängigkeit bereits zu Lebzeiten zum Nationalkünstler stilisiert wurde. Ausgehend vom Schaffen des Malers untersucht Elisabeth Ansel mittels einer diskursanalytischen Herangehensweise sowie postkolonialer Perspektiven die Konstruktionsmechanismen nationaler Identität in der Bildkunst. Über die Auswertung umfangreicher Archivmaterialien gelingt es ihr, erstmals systematisch Yeats’ künstlerische Verflechtungen mit der globalen Kunstgeschichte aufzuzeigen. Dabei macht die Autorin den Konnex von Kunst und Politik anschaulich und markiert die signifikante Funktion von Bildern im Kontext des Nation-Building. Ihre fundierte Werkanalyse dient als Projektionsfläche einer kritischen Erforschung nationaler Verortungen und politisierender Zuschreibungen von Künstlerindividuen. Mit der kolonial geprägten Rezeption der irischen Moderne rückt gleichfalls der Aspekt der Marginalisierung einzelner Nationen in den Blick, womit die Publikation auch zu einer Re-Evaluierung der europäischen Kunst- und Kulturgeschichte beiträgt.

Preisstand 21. 6. 2023

Postwar Europe and the Power of Art

Barbara Lange Rethinking Postwar Europe Artistic Production and Discourses on Art in the late 1940s and 1950s 978-3-412-51400-6 2019. 268 Seiten. Gebunden € 40,00 (D) Auch als e-book erhältlich The book “Rethinking Postwar Europe” offers an in-depth insight into the largely unexplored topic of artistic practices in the 1940s and 1950s in Europe which until recently had been obscured by ideologies of the Cold War. Thanks to the authors’ diverse methodological backgrounds, the volume presents – for the first time – a comprehensive multilayered narrative, focusing on the complexities and entanglements in the artistic field. Instead of assessing the postwar period in the traditional way as divided by the Iron Curtain, the contributions investigate processes of contact, interaction, dissemination, overlapping, and networking. Consequently, the analysis of a diversified European modernism in both its aesthetic and its socio-political dimension resonates with all the different case studies. In particular, the volume looks at how artists developed, designed and (re)negotiated identities and discourses, and sheds new light on the power of art – and creative powers in general – in a postwar setting of mutilations, losses, and devastations.

Preisstand 21. 6. 2023