Mythos und Tabula rasa: Narrationen und Denkformen der totalen Auslöschung und des absoluten Neuanfangs 9783839439845

Deconstruction and obliteration - mythical narratives of foundations from an interdisciplinary perspective.

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German Pages 178 Year 2018

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Mythos und Tabula rasa: Narrationen und Denkformen der totalen Auslöschung und des absoluten Neuanfangs
 9783839439845

Table of contents :
Inhalt
Arbeitskontext und Ausgangsfragen
Mythos als belief system und Tabula rasa
Mythos und Tabula rasa: Poetik des Erzählens, Erinnerung und Gedächtnis, Fläche und Raum
Tabula rasa in Polen
Wer hat Angst vor Cassirers »The Myth of the State«?
›Sinn ist ein aufgeschobener Tod‹
›Du passé faisons table rase‹
1940 – Die Niederlage als Ursprungsort politischer Mythen in Frankreich
»Stunde Null« und »Achtundsechzig« als Gründungsmythen der deutschen Nachkriegsdemokratie
»Und die Erde war gestaltlos und wirr …« (Gen 1,2) – Mythos und Tabula rasa in der priesterschriftlichen Urgeschichte
Ist die Apokalypse ein Mythos?
Autorinnen und Autoren

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Yves Bizeul, Stephanie Wodianka (Hg.) Mythos und Tabula rasa

Lettre

Yves Bizeul, Stephanie Wodianka (Hg.)

Mythos und Tabula rasa Narrationen und Denkformen der totalen Auslöschung und des absoluten Neuanfangs

Der Druck dieses Bandes wurde finanziert vom DFG-Graduiertenkolleg »Deutungsmacht – Religion und belief systems in Deutungsmachtkonflikten« der Universität Rostock. Unser herzlicher Dank geht an Frank Hamburger für die formale Redaktion und Vereinheitlichung der Beiträge sowie an Cornelia Putzker für die die sorgfältige orthographische Lektorierung des Bandes.

© 2018 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld Satz: Frank Hamburger, Rostock Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-3984-1 PDF-ISBN 978-3-8394-3984-5 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Arbeitskontext und Ausgangsfragen Yves Bizeul | 7

Mythos als belief system und Tabula rasa Yves Bizeul | 15

Mythos und Tabula rasa: Poetik des Erzählens, Erinnerung und Gedächtnis, Fläche und Raum Stephanie Wodianka | 25

Tabula rasa in Polen Zur Deutungsmachtpolitik in demokratischen Ordnungen André Brodocz | 41

Wer hat Angst vor Cassirers »The Myth of the State«? Elemente eines philosophischen Krimis Chiara Bottici | 59

›Sinn ist ein aufgeschobener Tod‹ Anmerkungen zu Barthes’ semiologischer Idee des Mythos Ludwig Jäger | 77

›Du passé faisons table rase‹ Vandalisme révolutionnaire und sozio-politische Regenerationsmythen während der Französischen Revolution Hans-Jürgen Lüsebrink | 93

1940 – Die Niederlage als Ursprungsort politischer Mythen in Frankreich Matthias Waechter | 111

»Stunde Null« und »Achtundsechzig« als Gründungsmythen der deutschen Nachkriegsdemokratie Wolfgang Bergem | 125

»Und die Erde war gestaltlos und wirr …« (Gen 1,2) – Mythos und Tabula rasa in der priesterschriftlichen Urgeschichte Judith Gärtner | 141

Ist die Apokalypse ein Mythos? Klaus Vondung | 159

Autorinnen und Autoren  | 173

Arbeitskontext und Ausgangsfragen Yves Bizeul

Im Rahmen des Graduiertenkollegs »Deutungsmacht: Religion und belief systems in Deutungsmachtkonflikten« wurde im Wintersemester 2015–2016 an der Universität Rostock ein Seminar zum Thema »Mythos als belief system?« veranstaltet, in dem Texte von »Klassikern« der Mythenforschung erörtert wurden.1 Außerdem wurden der GRK-Workshop »Mythos als belief system« 1 | Hier eine Auswahl der im Seminar besprochenen Texte: Koschorke, Albrecht: Universalität des Erzählens, in: Ders.: Wahrheit und Erfindung: Grundzüge einer Allgemeinen Erzähltheorie. Frankfurt a. M.: S. Fischer 2012, S. 9–26; Pouillon, Jean: Die mythische Funktion, in: Neue Folge, Band 220. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1984, S. 68–83; Barthes, Roland: Der Mythos heute, in: Ders.: Mythen des Alltags. Frankfurt a. M.: Suhrkamp: 1981, S. 251–279; Lévi-Strauss, Claude: Die Struktur der Mythen, in: Ders.: Strukturale Anthropologie. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1969, S. 226–254; Wodianka, Stephanie: Mythos und Erinnerung. Mythentheoretische Modelle und ihre gedächtnistheoretischen Implikationen, in: Günter Oesterle (Hg.): Erinnerung, Gedächtnis, Wissen. Studien zur kulturwissenschaftlichen Gedächtnisforschung. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2005, S. 211–230; Bottici, Chiara: The need for myth, in: Dies.: A Philosophy of Polticial Myth. Cambridge: Cambridge University Press 2007, S. 83–130; Dörner, Andreas: Politischer Mythos als semiotische Gattung, in: Ders.: Politischer Mythos und symbolische Politik. Opladen: Westdeutscher Verlag 1995, S. 76–96; Flood, Christopher: Myth and ideology, in: Kevin Schilbrack (Hg.): Thinking Through Myths. London: Routledge 2002, S. 174–190; Münkler, Herfried: Politische Mythen. Die Bewältigung von Kontingenz, die Klärung der Loyalität und die Reduktion von Komplexität, in: Vorgänge, 46/1 (2007), S. 5–11; Woltersdorff, Nicholas: Thomas Reid and the Story of Epistemology, Cambridge: Cambridge University Press 2001; Cuneo, Terence (Hg.): Nicholas Woltersdorff, Practices of Belief. Selected Essays II. Cambridge: Cambridge University Press 2014; Sandkühler, Hans Jörg: Wissen als gerechtfertigte wahre Überzeugung? Plädoyer für eine wahrheitstheoretisch bescheidene Philosophie, in: Ders.: Philosophie wozu? Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2008, S. 128–167; Berdiajew, Nikolai: Kommunismus und Religion, in: Ders.: Sinn und Schicksal des russischen Kommunismus. Ein Beitrag zur Psychologie und Soziologie

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(7.  Dezember 2016) sowie die GRK-Tagung »Mythos und Tabula Rasa  – absoluter Anfang und totale Auslöschung als Denkform« (29.–31. Januar 2016) durch Vorführung von Filmen bzw. Reportagen sowie durch Analysen von wissenschaftlichen Aufsätzen vorbereitet. Sowohl vor dem Workshop als auch vor der Tagung haben wir die Kollegiaten gebeten,2 ihre Gedanken und Fragen an die Vortragenden zu Papier zu bringen. Ihre Entwürfe werden hier verkürzt wiedergegeben. Sie dienen als Einführung zu diesem Sammelband und als Grundlage für weitere Reflexionen zum Thema »Mythos und Tabula rasa«.

1.  M y then

als belief systems

Die Kollegiaten haben sich zunächst mit dem Thema »Mythen als belief systems« auseinandergesetzt. Im Vorfeld des gleichnamigen Workshops haben sie sich gefragt, welche Funktionen belief systems im Alltag erfüllen: Geht es um die Fundierung eines geteilten Wissens (so bei Wolterstorff) oder um die Negation eines solchen Wissens (so bei Sandkühler)?3 Geht es um Kommunikationen zwischen Wissenskulturen bzw. um einen allgemeinen Bewertungsmaßstab von Wissenskulturen? Kann sich die Menge an beliefs im belief system im Laufe der Zeit vergrößern bzw. verkleinern oder werden bestimmte beliefs

des russischen Kommunismus, Luzern: Vita Nova Verlag 1937, S. 8–195; Klaudia Knabel: Ein Mythos im Prozeß. Von der Heiligen zur Superwoman, Jeanne d’Arc im Film, in: Jörg Türschmann/Annette Paatz (Hg.): Medienbilder, Dokumentation des 13. Film- und Fernsehwissenschaftlichen Kolloquiums an der Georg-August-Universität Göttingen Oktober 2000. Hamburg: Verlag Dr. Kovač 2001, S. 143–158; Winock, Michel: Jeanne d’Arc, in: Pierre Nora (Hg.): Erinnerungsorte Frankreichs. München: C. H. Beck Verlag 2005, S. 365–410; Radu, Robert: Art. Wirtschaftskrise/Wirtschaftswunder, in: Stephanie Wodianka/Juliane Ebert (Hg.): Metzlers Lexikon moderner Mythen. Figuren, Konzepte, Ereignisse. Stuttgart/Weimar: Metzler 2014, S. 391–395; Hacke, Jens: Die Bundesrepublik als Idee. Zur Legitimationsbedürftigkeit politischer Ordnung, in: Otto Depenheuer (Hg.): Erzählungen vom Staat. Ideen als Grundlage von Staatlichkeit. Wiesbaden: VS Verlag 2011, S. 115–135. Heer, Sebastian: Mythos und kollektive Selbstdeutung. Das »Wirtschaftswunder« als transzendentes Fundament früher bundesrepublikanischer Ordnungskonstruktion, in: Werner J. Patzelt (Hg.), Die Machbarkeit politischer Ordnungen. Transzendenz und Konstruktion. Bielefeld: transcript Verlag 2013, S. 127–155. 2 | Die Verwendung der männlichen Form hat hier ihre Berechtigung: Sämtliche Promovendinnen des GRK »Deutungsmacht« konnten in diesem Semester wegen Mutterschutz/ Elternzeit bzw. wegen eines Auslandsaufenthaltes nicht an den Veranstaltungen des Kollegs teilnehmen. 3 | Siehe Fußnote 1.

Arbeitskontext und Ausgangsfragen

stets durch andere ersetzt (Tobias Götze 4)? Sind common sense-Überzeugungen Voraussetzung für die Etablierung von belief systems oder bilden sie selbst ein belief system (Robert Brumme5) und was unterscheidet ein belief system von einem knowledge system? Die Tragweite dieser letzten Frage wurde während des Seminars am Beispiel der Shoah sichtbar. Hätten wir keine Möglichkeit, zwischen belief und knowledge systems zu unterscheiden, würde man dem Negationismus und dem Relativismus Tür und Tor öffnen. Darüber hinaus wurden die Wechselbeziehungen zwischen der individuellsystemischen und der kollektiv-systemischen Ebene hinterfragt: Werden belief systems stets von Oben (top-down) aufoktroyiert oder entstehen sie auf der individuellen Ebene? Gibt es einen Prozess der Harmonisierung von belief systems bzw. von Wissenskulturen, und wenn ja, wie verläuft er (Erik Grünke6)? Kann es disbelief systems geben (Tobias Götze)? Es wurde auch nach der Dynamik der spätmodernen belief systems gefragt sowie nach den Überzeugungen, die eine derartige Infragestellung aller Grundlagen erst ermöglichen (Tom Beyer 7). Weiterhin wurde versucht, den Unterschied zwischen Religion und belief systems mit Hilfe der Mengenlehre zu klären (Maximilian Herchen8). Ist Religion eine Teilmenge von belief systems oder steht sie außerhalb dieser? Gibt es noch weitere Teilmengen – so möglicherweise politische bzw. ökonomische belief systems  – und, wenn »ja«, haben all diese Teilmengen einen Bezug zueinander? Sind alle belief systems irgendwie religiös geartet oder gehören die politischen Religionen zu einem extra belief system? Herr Herchen favorisiert den zweiten Zweig der Alternative, wobei eine scharfe Trennung der beiden Antworten seiner Meinung nach kaum möglich ist. Politische Religionen beruhen zwar auf religiösen Traditionen, können aber sehr wohl antireligiös sein. Außerdem entstehe die politische Religion nach Eric Voegelin aus einer engen Vermischung von Politik und Religion, bei der die Politik dominiere (Ersatzreligion).9 Allerdings sei die Religion nicht erst als Teil eines politischen belief system politisch relevant, Religion habe immer auch politische Implikationen. 4 | Zum Dissertationsprojekt von Herrn Götze siehe: https://www.deutungsmacht.unirostock.de/kolleg/mitglieder/kollegiatinnen/tobias-goetze/. 5 | Zum Dissertationsprojekt von Herrn Brumme siehe: https://www.deutungsmacht. uni-rostock.de/kolleg/mitglieder/kollegiatinnen/robert-brumme/. 6 | Zum Dissertationsprojekt von Herrn Grünke siehe: https://www.deutungsmacht.unirostock.de/kolleg/mitglieder/kollegiatinnen/erik-gruenke/. 7 | Zum Dissertationsprojekt von Herrn Beyer siehe: https://www.deutungsmacht.unirostock.de/kolleg/mitglieder/kollegiatinnen/tom-beyer/. 8 | Zum Dissertationsprojekt von Herrn Herchen siehe: https://www.deutungsmacht.unirostock.de/kolleg/mitglieder/kollegiatinnen/maximilian-herchen/. 9 | Vgl. E. Voegelin: Die politischen Religionen; P. J. Opitz: Eric Voegelins Politische Religionen; E. Gentile: Le religioni della politica; J. Gebhardt: Wie vor-politisch ist »Religion«? S. 81–102.

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Dennis Bastian Rudolf empfiehlt, sich dem Begriff des belief system nicht von der Seite der theologischen Philosophie, wie Wolterstorff es tut, sondern mit Milton Rokeach und Philip E. Converse von der Seite der Sozialpsychologie anzunähern.10 Religiöse Überzeugungen sind laut Rudolf nur dann für die Sozialwissenschaft relevant, wenn sie innerhalb eines politischen belief system eine Rolle spielen und politische Religionen seien nichts weiter als funktionale Äquivalente von Religionen. Mit Giovanni Sartori sollten politische belief systems oder genauer politische belief clusters als Ideologien verstanden werden.11 Der politische Mythos sei stets Ausdruck einer Ideologie. Beliefs senkten die Entscheidungskosten, weil sie zunächst ein Nachdenken überflüssig machten. Robert Brumme stellt die Frage nach den Unterscheidungskriterien von Mythen und Ideologien. Unterscheiden sie sich hinsichtlich ihres »manipulativen« Charakters, ihrer Reichweite (Ideologie als allumfassendes belief system) oder aufgrund ihres politischen Anspruchs, ihrer religiösen Durchsetzung bzw. ihrer normativen Bedeutung? Ist Ideologie nicht auch »nur« Mythos, nur eben ein sehr vereinnahmender? Sönke Pöppinghaus beschäftigt die Eigenart des demokratischen belief system.12 Demokratie vertrage nur ein begrenztes Maß an Relativismus. Pöppinghaus fragt nach der Notwendigkeit einer Zivilreligion in der liberalen Demokratie. Ist eine solche Zivilreligion mit dem Pluralismus zu vereinbaren? Sollte nicht anstelle der Zivilreligion ein demokratisches Ethos der Toleranz angestrebt werden? Die Stellungnahmen der Kollegiaten lassen sich in folgende Fragecluster zusammenfassen: • Woher stammen die belief systems und woraus bestehen sie? • Gibt es eine Hierarchie von belief systems bzw. eine Zirkulation der Überzeugungen zwischen unterschiedlichen belief systems? • Lässt sich der Unterschied von Glauben und Wissen aufrechterhalten? Sind belief systems stets auch Wissenskulturen? • Welchen Fundus an festen Überzeugungen braucht die angeblich grundlagenlose Spätmoderne? • Worin besteht der Unterschied zwischen Religion und belief systems?

10 | Vgl. M. Rokeach: The Nature of Human Values; ders.: The Open and Close Mind; P. E. Converse: The Nature of Belief Systems in Mass Publics, S. 206–261. Zum Dissertationsprojekt von Herrn Rudolf siehe: https://www.deutungsmacht.uni-rostock.de/ kolleg/mitglieder/kollegiatinnen/dennis-bastian-rudolf/. 11 | Vgl. G. Sartori: Politics, Ideology, and Belief Systems, S. 398–411. 12 | Zum Dissertationsprojekt von Herrn Pöppinghaus siehe: https://www.deutungsmacht.uni-rostock.de/kolleg/mitglieder/kollegiatinnen/soenke-poeppinghaus/.

Arbeitskontext und Ausgangsfragen

• Welchen Bezug gibt es zwischen Religion und politischen belief systems, vor allem, aber nicht nur, in den sog. politischen Religionen und Zivilreligionen? • Welchen Bezug gibt es zwischen politischen belief systems und Ideologien? • Welchen Bezug gibt es zwischen politischen Ideologien und Mythen? Sind beide belief systems oder sind Mythen nur Instrumente der Ideologien, verstanden als belief systems? • Welche Rolle spielen belief systems und Zivilreligion in liberalen Demokratien? Freilich konnten während des Workshops »Mythos als belief system« nicht all diese Fragen angesprochen und noch weniger beantwortet werden. Es wurde aber schnell klar, dass man zwischen einem sog. common sense belief system und kollektiv elaborierten belief systems unterscheiden sollte. Das erste besteht aus scheinbar »evidenten« Überzeugungen, die erst nach einem Prozess kritischer Überprüfung zur wissenschaftlichen Wissenskultur gehören können. Sie bilden die Voraussetzung jedes Wissens, können aber zugleich auch ein solches Wissen erschweren, ja sogar verhindern. Neben der individuellen Ebene gibt es aber auch eine kollektive Dimension des Phänomens, die für die Problematik dieses Sammelbands von besonderer Bedeutung ist. Belief systems können die Gestalt von Religionen, politischen Ideologien bzw. Weltanschauungen, Zivil- und Ersatzreligionen annehmen. Sie werden dann durch Sozialisation und Propaganda weitervermittelt. Es ist davon auszugehen, dass der Mythos fester Bestandteil von derartigen kollektiven belief systems ist bzw. – wenn er so umfangreich ist wie z. B. der Sozialdarwinismus – selbst ein belief system bilden kann. Meist entsprießt der politische Mythos politischen Ideologien und Weltanschauungen, auch wenn sie nur selten einfache Werkzeuge in den Händen von »Mythosfabrikanten« sind. Laut Barthes geht der Mythos – als sekundäres semiologisches System – aus der Gestalt einer »exzessiv gerechtfertigten Aussage« hervor.13 Eine Überwindung der Herrschaft der Bourgeoisie würde laut Barthes eine Aufhebung der bürgerlichen Ideologie und des Mythos nach sich ziehen. Er sei ein Instrument der Vormachtstellung des Bürgertums und sichere dessen kulturelle Hegemonie, indem er »die Realität der Welt in ein Bild der Welt, die Geschichte in Natur« verwandele. Barthes weigert sich, die bedeutenden Funktionen des Mythos über seine ideologische Dimension hinaus zu sehen. Dass eine (mythische) Arbeiterrevolution den Mythos überflüssig machen würde, ist kaum zu erwarten. Außerdem ist der Mythos nicht per se

13 | Vgl. R. Barthes: Mythen des Alltags, S. 113.

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konservativ, er kann auch emanzipatorische Kräfte freisetzen.14 Auch demokratische belief systems brauchen den Mythos als stabilisierende Instanz.15

2.  P olitischer M y thos

und

»tabul a

rasa«

Der politische Mythos als belief system ist meist Gegenstand eines Kampfes um die Deutungsmacht. Er steht im Dienste von Identitätspolitiken und Legitimierungsprozessen. Politische Mythen können aber auch dazu beitragen, tiefgehende Umbrüche aufzuarbeiten und zu bewältigen. Sie werden während und unmittelbar nach Krisen, Revolutionen und Kriegen, also in Zeiten einer angeblichen tabula rasa, zahlreicher. Der Kollegiat Tom Beyer weist auf drei Wechselwirkungen zwischen Mythos und tabula rasa hin: (1) Die tabula rasa bilde die Voraussetzung, um Mythen überhaupt erzählen zu können. Jede Narration brauche eine leere Wachstafel, auf die man sie schreiben könne. (2) Der Mythos als Gründungserzählung bzw. als Erzählung eines Ursprungs bzw. einer Schöpfung evoziere stets das Bild der tabula rasa. Damit eine Narration mythisches Potenzial entfalten könne, d. h. fraglose Evidenz erzeuge, müsse sie im Idealfall so wirken, als hätte vor ihr nichts auf der leeren Tafel gestanden. (3) Und zuletzt sei die tabula rasa selbst als ein Mythos  – hier im Sinne einer Legende – zu betrachten, der Bedeutsamkeitsordnungen zu stürzen vermöge. Denn komplett leer könne eine Tafel niemals sein. Wir gingen immer schon »informiert« an Untersuchungsgegenstände heran, selbst dann, wenn wir versuchten, keinerlei subjektive Informationen an sie heranzutragen bzw. in die Untersuchung miteinzubeziehen. Tobias Götze erinnert uns daran, dass bei Sokrates und später bei John Locke eine unbeschriebene (Wachs-)Tafel als Metapher für den menschlichen Geist dient, auf dem sich sukzessiv das und nur das einprägt, was der Mensch über seine Sinne wahrnimmt.16 Die Metapher ermöglicht, alle vermeintlich 14 | Vgl. Y. Bizeul: Theorien der politischen Mythen und Rituale, S. 15–39. 15 | Vgl. Y. Bizeul: Vernetzte und kanonisierte politische Mythen in der modernen Demokratie, S. 109–139. 16 | Platon sieht im Gedächtnis eine Art Wachstafel (Theaitetos 191c-d), während Aristoteles dieses Bild für den Intellekt verwendet, der als »leidender Geist« aus den Sinneswahrnehmungen entsteht (De anima III, 430 a). Locke hat diese u. a. von Ibn Tufail, einem Schüler Avicennas, benutzte Metapher übernommen und gegen die Angabe Descartes’, es gäbe »angeborene Ideen«, die Ansicht vertreten, das blank paper – in Thomas Hobbes’ Leviathan heißt es clean paper (Leviathan II, XXX) – werde durch die Erfahrung

Arbeitskontext und Ausgangsfragen

a priori vorhandenen oder angeborenen Erkenntnisse zu negieren und andererseits genau das und nur das als Erkenntnisgrundlage zuzulassen, was uns über unsere Erfahrung zugänglich ist. Es geht um die Be-Gründung der empirischen Erkenntnislehre. Die Konstruktion eines Nullpunktes kann demnach als Strategie fungieren, um Deutungsmachtkonflikte zu verschleiern und auf diesem Weg selbst Deutungsmacht zu erlangen, indem die auf dem Nullpunkt auf bauenden Behauptungen jeglicher Rechtfertigung gegenüber etablierten Bewertungsmaßstäben enthoben sind. Dennis Bastian Rudolf schlägt vor, diese These mit Hilfe des Vorländerschen Transzendenzverständnisses zu verschärfen.17 Mit der Vorstellung des »neuen« absoluten Anfangs werden bestimmte Dinge undenkbar, unsagbar und unverfügbar; andere hingegen besonders hervorgehoben. Die bewusste Konstruktion eines Nullpunktes legitimiert daher eine scharfe vorher/nachher bzw. gut/schlecht Unterscheidung. Die Metapher der tabula rasa erfüllt nach Sören Pöppinghaus zwar eine manipulative, aber zugleich auch strategisch-produktive Funktion. Modaltheoretisch formuliert, ließe sich mit Niklas Luhmann behaupten, dass die Vorstellung der tabula rasa notwendig sei, um kontingenten Entscheidungen einen Rückhalt im Unbezweifelbaren zu geben. Allerdings entsteht die Vorstellung des »vorgangslosen Anfangs« nicht immer aus einer bewusst getroffenen Entscheidung – wie gegen Luhmann zu behaupten wäre. Allein der Mythologe (oder die Mythologin), der (oder die) ›von außen‹ auf die mythische Erzählung blickt, erkennt von eben jener Position der Beobachtung zweiter Ordnung aus, dass mythische Erzählungen auf einem kontingent gesetzten Anfang beruhen. Die Beobachtung zweiter Ordnung jenes Sachverhalts durch den Mythologen, also die Frage nach der Bedeutung der Vorstellung von tabula rasa als Vorstellung eines vorgangslosen Ursprungs für die Deutungsmacht des Mythos, kommt daher auch einem Reflexiv-Werden der Beobachtung erster Ordnung gleich. Das wirft nach Pöppinghaus die Frage auf, inwiefern der Mythologe bzw. die Mythologin an den Mythos der tabula rasa glauben muss, um ihn zu verstehen. Vor diesem Hintergrund scheint ihm eher die gegenteilige Annahme plausibel: die Mythologin bzw. der Mythologe muss ihren bzw. seinen Glauben an den Mythos sozusagen suspendieren (nicht eliminieren!), um einen beschrieben, wobei nach Lockes Überzeugung Kinder unterschiedlich angeborene Charaktere vorweisen (An Essay concerning Humane Understanding, 1690, II, 1, § 1), eine Vorstellung, die Condillac ablehnte (Traité des sensations, 1754). 17 | Laut Hans Vorländer beruhen demokratische Verfassungsordnungen nicht nur auf Selbstgesetzgebung, sie greifen auch auf Geltungsressourcen zurück, über die sie nicht oder nur bedingt verfügen. Vgl. H. Vorländer (Hg.): Transzendenz und die Konstitution von Ordnungen; ders. (Hg.): Demokratie und Transzendenz.

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klareren Blick auf die Strukturen des Mythos und seine Funktionsmechanismen zu bekommen. So verstanden, sind die Mythologin und der Mythologe analysierende Beobachtende der Mythen und derer, die an sie glauben, wobei sie stets ihre eigenen Beobachtungen und den Mythos reflektieren. Es geht aus dem operativen Hintergrund des Beobachtens hervor, dass die die Mythen und ihre Deutungsmacht Erforschenden die Frage stellen können, ob und inwiefern der Mythos der Vorstellung der tabula rasa bedarf. Die Annahme der tabula rasa, sofern sie denn geglaubt wird, ist nichts anderes als eine wirkmächtige Konstruktion, die verdeckt, dass es niemals so etwas wie einen radikalen Neuanfang gibt. Dies zu behaupten heißt dann, dass die Vorstellung der tabula rasa einer Entscheidung gleichkommt. Sie verdeckt diesen Umstand, indem sie nicht sagt, dass sie nicht sagt, was sie nicht sagt,18 nämlich: tabula rasa gibt es nie und wird es niemals geben. Doch der Mythos verhindert gerade die Erkenntnis dieser Annahme. Nur der Mythologe kann dies sehen, so dass sich die Frage stellt, inwiefern die Vorstellung einer tabula rasa für den Mythos und seine konstituierende Erzähllogik maßgeblich ist. Gehört die Annahme einer tabula rasa demnach notwendigerweise zum Funktionieren des Mythos? Existieren mythische Erzählungen, die ohne die Annahme einer tabula rasa auskommen und wirkmächtig würden? Diese Frage scheint laut Pöppinghaus die traditionelle Frage nach dem Problem einer ›creatio ex nihilo‹ zu berühren. Die Kollegiaten gehen also von der Unmöglichkeit einer echten geschichtlichen tabula rasa aus. Sie würden lieber mit Jean-Jacques Derrida von einem »Palimpsest« und von einer »Wiederherstellung« Vergangenem sprechen.19 Es lässt sich mit Tobias Götze fragen, inwiefern Dekonstruktionen für neue Narrative und neue Mythen entscheidend sind. Als neue Mythen beinhalten sie von sich aus eine gewisse gewünschte Originalität und Innovation, dürfen aber womöglich, um deutungsmächtig zu werden, nicht als radikal neu (dann: fremd) auftreten. Die Formel lautet infolgedessen: den Bedarf an Innovation decken (genug Neues), ohne dabei fremd zu wirken (zu viel Neues vermeiden). Anerkennung wird durch optimale Dekonstruktion gewährleistet, die nicht identisch mit maximaler Dekonstruktion ist. Das führt nach Maximilian Herchen zu der weiteren Frage, ob eine Auslöschung der Vergangenheit nicht gerade den Zweck hat, das Gegenteil zu erreichen, nämlich, wenn auch negativ, sich an etwas zu erinnern.

18 | Vgl. N. Luhmann: Gibt es in unserer Gesellschaft noch unverzichtbare Normen? S.  21. Eine Kommunikation sagt nach Luhmann »was sie sagt, sie sagt nicht, was sie nicht sagt«. Vgl. N. Luhmann/P. Fuchs: Reden und Schweigen, S. 7. 19 | Vgl. J.-J. Derrida: La forme et le vouloir-dire, S. 277–299; ders./F. C. T. Moore: White Mythology, S. 5–74, hier S. 10f.

Mythos als belief system und Tabula rasa Yves Bizeul

Der Mythos als Gründungsnarrativ erzählt von einem zeitlich verorteten Neuanfang, zugleich drückt er den festen Willen aus, den Gegenstand dieses künstlichen Konstrukts zu vernatürlichen und als ewig darzustellen. Jeanne d’Arc ist bei Michelet die Gründerin der französischen Nation, die paradoxerweise schon immer da war. Er nennt die Gallier »Kinder einer entstehenden Welt« und beschreibt sie als »groß, weich und blond« in Analogie zu Embryos.1 Im Nachkriegsdeutschland erzählten die Mythen des Wirtschaftswunders in der Bundesrepublik und des Antifaschismus in der DDR von der angeblichen »Stunde Null« nach dem Zweiten Weltkrieg. Diese »Stunde Null« ist aber zugleich auch die wundersame Wiedergeburt der ewigen deutschen Nation. Sebastian Herr stellt fest, dass bei allem Neuanfang der oft proklamierten »Stunde Null« das Narrativ des deutschen Wirtschaftswunders »emotionalempathische Rückzugsräume des Erinnerns« bereitstellte. Es gab zahlreiche »Anschlussmöglichkeiten an die Vergangenheit« (VW-Käfer, Autobahn, Fleiß, Arbeitsmoral).2 Man sprach damals übrigens von einem Wirtschaftswunder und nicht von einem Demokratiewunder, was auch der Grundhaltung der meisten Deutschen zu dieser Zeit entsprach. Mythen spielen oft bei der Verarbeitung des horror vacui eine entscheidende, als »riskante Erzählungen« (Münkler) aber auch eine äußerst ambivalente Rolle.3 Der Mythos fungiert als Linse, »durch die wir die Welt sehen« (Bottici).4

1 | Nicht von ungefähr hat die Expertin für französische Literatur, Paule Petitier, auf die engen Beziehungen von Michelet und dem französischen Zoologen Etienne Geoffroy Saint-Hilaire, einem Vertreter der Embryologie, hingewiesen. Vgl. P. Petitier: La Géographie de Michelet, S. 131ff. 2 | S. Heer: Mythos und kollektive Selbstdeutung, S. 146f. 3 | Vgl. H. Münkler: Der Antifaschismus als Gründungsmythos der DDR, S. 221–235, hier S. 223. 4 | Vgl. C. Bottici: A Philosophy of Political Myth, S. 225.

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So haben die Narrative der Renaissance und der Reformation Entwicklungen plastisch vorgeführt, die den meisten Zeitgenossen nicht völlig bewusst waren. Jean Brun beschreibt die Renaissance als eine Öffnung zur Welt. Man strebte damals zwar nach einer restitutio der Antike und einer renovatio des Menschen. In Wahrheit haben sich jedoch in der Frühen Neuzeit das Weltbild und das Verständnis der Seele pluralisiert und gewandelt.5 Die Aufhebung des Einheitsgedankens und die Durchsetzung der Idee der Vielfalt führten als Reaktion zu einem Streben nach Harmonie und zur Entstehung mehrerer mythischer Narrative, so dem Mythos des neuzeitlichen Staates – eine creatio ex nihilo, die das Chaos in Ordnung überführen sollte (siehe hierzu etwa Machiavellis Der Fürst, die Utopien Morus’, Campanellas oder Bacons, die Souveränitätslehren von Bodin und Hobbes) –, dem Mythos der neuzeitlichen Wissenschaft, deren Programm der Entschlüsselung des Alphabets der Natur oder dem Mythos der »Entzauberung der Welt« (Max Weber), der das Versprechen der umfassenden Beherrschung dieser beinhaltet. Auch die große Erzählung, wonach die korrupte Welt nur gerettet werden kann, indem man zurück zu den Ursprüngen, zu den Quellen gehen sollte, war bestimmend. Die Reformation versprach ihrerseits die unmittelbare Beziehung des einzelnen Menschen zu Gott ohne vermittelnde (korrumpierende und korrumpierte) Zwischeninstanzen. Martin Luther selbst wurde später zum Gegenstand mehrerer Gründungsmythen. Er wurde als einfacher Mönch, der wie ein religiöser Galileo Galilei die Welt aus den Angeln hob, stilisiert. Später hat man in ihm den Gründer der deutschen Nation sehen wollen.6 Ein weiteres wichtiges mythisches Narrativ war die Überwindung von Tradition und Aberglaube, Unfreiheit und überkommenen Autoritäten durch den Gebrauch der Vernunft. Damit verbunden war die Metapher des Lichtes, welches die Dunkelheit aus der Welt vertreibt. Nicht zu Unrecht haben Horkheimer und Adorno die mythische Qualität der Aufklärung erkannt und Voegelin in der (Frühen) Neuzeit Parallelen zu Denkfiguren der Gnosis identifiziert.7 Der Mythos des Sozialvertrags ist eines der markantesten, frühen Beispiele für den Anspruch, die Moderne sollte »alles Normative aus sich selber« (Habermas) schöpfen.8 Politische Ordnung und die Ausübung von Macht wurde auf die Zustimmung derjenigen, die dieser Macht unterworfen sind, zurückgeführt. Die Adressaten der Gesetze verstehen sich jetzt gleichzeitig gemeinsam auch als ihre Autoren. Einerseits sind solche Vorstellungen mit der Schaffung poli5 | Vgl. J. Brun: L’Europe philosophe, S. 139–153. 6 | Vgl. H. Lehmann: ›Er ist wir selber: der ewige Deutsche‹, S. 91–103; ders.: Martin Luther als deutscher Nationalheld im 19. Jahrhundert, S. 53–65. 7 | Vgl. M. Horkheimer/T. W. Adorno: Dialektik der Aufklärung; E. Voegelin: Der Gottesmord. 8 | Vgl. J. Habermas: Der philosophische Diskurs der Moderne, S. 31.

Mythos als belief system und Tabula rasa

tischer Ordnung ex nihilo eng verbunden. Andererseits richtet sich diese Erzählung gegen eine Herrschaft, die sich auf Tradition und/oder transzendente Autoritäten stützen würde. »Das Volk«/»der demos«/»die Nation« werden im Zuge der Revolutionen zum maßgeblichen Subjekt der Politik. Mit ihnen ist stets auch die Befreiung von illegitimer Herrschaft verbunden, sei es das Ancien Régime oder später der drückenden Kolonialherrschaft. Zugleich wird »das Volk«, verstanden als die Gruppe der »einfachen Leute«, »der Armen« oder »der Unterprivilegierten«, gegen herrschende ökonomische und politische Eliten in Stellung gebracht. Auch die Revolution ist über die Geschehnisse selbst hinaus zu einem Mythos geworden, in marxistischer Lesart gar zu einer mythischen Weltrevolution, die sich am Horizont abzeichnet und eine Zeitenwende in Aussicht stellt, nicht weniger als das Ende der »Vorgeschichte der Menschheit« (Marx),9 der Äon der Machtkämpfe und Leiden. Unterdessen wurde die Ökonomie zum mythischen Narrativ einer »objectified reality« (Taylor),10 die nicht nur verspricht, die soziale Welt verständlich und transparent (als Marktgeschehen rationaler Akteure) zu machen, sondern einen Mechanismus der friedlichen gesellschaftlichen Organisation bereitzuhalten (damit verbunden ist das Bild der »unsichtbaren Hand«, die widerstreitende Ziele koordiniert, ohne auf Zwang und Gewalt rekurrieren zu müssen). Schließlich ist hier die Geschichtsphilosophie zu nennen als jenes Hauptnarrativ, welches das 19. Jahrhundert prägte. Wie Armin Nassehi argumentiert, erlauben es die »Kollektivsingulare« Geschichte und Fortschritt, die sich sozial und funktional differenzierende moderne Gesellschaft als ein und dieselbe zu sehen. Beide würden sich auf ein Ziel zubewegen.11 All diese mythischen Erzählungen, die aus sozialen, ökonomischen und politischen Krisen sowie aus technischen und wissenschaftlichen Transformationsprozessen entstanden sind, gehen mehr oder weniger bewusst von der Vorstellung der tabula rasa aus. Auf der Grundlage einer Überwindung von Traditionen und Vorurteilen macht die Moderne Platz für das Neue und soll die Konstruktion einer besseren innerweltlichen Zukunft ermöglichen. Die Avantgarde des (beginnenden) 20. Jahrhunderts setzt sich an die Spitze dieser Bewegung. Aufgrund der Desillusionen des Fortschrittsglaubens, der aus den Katastrophen des 20. Jahrhunderts (Weltkriege, Ausschwitz, Gulag, Hiroshima usw.) folgte, ist später auch die Moderne selbst Gegenstand einer tabula rasa geworden. Doch die Postmoderne und das viel beschworene »Ende der großen Erzählungen« (Lyotard)12 können selbst als mythische Narrative betrachtet werden, die Übersicht schaffen. Deutschland weist allerdings in dieser Beziehung 9 | Vgl. K. Marx: Zur Kritik der politischen Ökonomie, S. 7–160, hier S. 9. 10 | Vgl. C. Taylor: Modern Social Imaginaries, S. 69ff. 11 | Vgl. A. Nassehi: Die Zeit der Gesellschaft, S. 316f. 12 | Vgl. J.-F. Lyotard: Das postmoderne Wissen.

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eine gewisse Unzeitlichkeit auf: Als sich die Aufklärung in Europa und den USA verbreitete, triumphierte hier das Gegennarrativ der Romantik. Aus verständlichen Gründen wurde in der Nachkriegszeit in der neuen Bundesrepublik neben dem Bewusstsein der Dialektik der Aufklärung bzw. der Moderne der von dem Historiker Heinrich August Winkler positiv betrachtete »lange Weg nach Westen« zur dominanten mythischen Narration, welche den früheren »deutschen Sonderweg« ablösen sollte.13 Heute herrscht im Westen der überaus komplexe Globalisierungsmythos in all seinen Facetten (market globalism, justice globalism, jihadist globalism; aber auch: clash of civilizations).14 Bezeichnend ist, dass Globalisierung stets als ein Kampf um eine neue Ordnung geschildert wird, wobei der Frontverlauf erwartungsgemäß sehr unterschiedlich gedeutet wird. Globalisierung und multipolare Welt sollen aus der tabula rasa des Kalten Krieges entstanden sein. Parallel zur Erzählung der Entgrenzung und der multipolaren bzw. multikulturellen Welt ist derzeit auch eine starke Sehnsucht nach Gemeinschaft zu verzeichnen. Dazu passen die Narrative des Kommunitarismus, die eine Antwort auf einen Liberalismus, der sich allein auf das Individuum stützen zu können meint, liefern wollen. Hierher gehört aber auch die an allen Ecken und Enden stattfindende Suche nach authentischen kollektiven Identitäten, die sowohl eine emanzipatorische als auch eine zutiefst reaktionäre Gestalt annehmen können. In vielen neuen politischen Bewegungen sehnt man sich nach einer tabula rasa des Neoliberalismus und des Individualismus. Zugleich ist mit dem Internet eine neue Welt angeblicher Freiheit und Gleichheit entstanden, die sich weitgehend von der politischen Welt der Staaten losgesagt hat. Zu dieser mythischen Erzählung gehört nicht nur die angenommene Überlegenheit der digital natives, sondern auch der andauernde Befreiungskampf gegen die Einmischung durch Staaten und Konzerne, indem Hacker zu Helden werden. Mittlerweile verfügen wir sogar über eine »Unabhängigkeitserklärung des Cyberspace« (Barlow).15

13 | Vgl. H. A. Winkler: Der lange Weg nach Westen. Siehe hierzu den Aufsatz von Matthias Waechter in diesem Band. 14 | Vgl. U. Steger (Hg.): Facetten der Globalisierung. Siehe hierzu u. a.: Y. Bizeul: Struktur und Funktion patchworkartiger politischer Mythen in den hochmodernen Gesellschaften, S. 81–99; Y. Bizeul: Politische Mythen im Zeitalter der »Globalisierung«, S. 17–36. 15 | Vgl. Barlow, John Perry: A Declaration of the Independence of Cyberspace (1996), in: https://www.eff.org/cyberspace-independence vom 30.06.2016.

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S chlussfolgerungen All diese Beispiele zeugen von der Bedeutung und den strategisch-produktiven Funktionen der tabula rasa-Narrative in der politischen Mythologie. Die Dekonstruktion der Vergangenheit wird oft nur als Vorstufe eines Neuanfangs erzählt, der allerdings viel von der Vergangenheit übernimmt und neudeutet. Claus Leggewie hat auf fünf Funktionen des Mythos nach einem Neuanfang hingewiesen: Er soll dabei helfen: • • • • •

krisenhafte Übergänge zu bewältigen, sozialstrukturelle Spaltungen aufzuheben, eine neue Entwicklung zu ermöglichen, die Geschichte vergessen zu machen und Generationen zu verbinden.16

Alle fünf Aufgaben erfüllen letztendlich Brückenfunktionen. Das tabula rasaNarrativ erleichtert Transformationsprozesse, die nach einem Bruch in Gang gesetzt werden und wiederum durch den Mythos leichter bewältigt werden sollen. Es verspricht die Entstehung einer besseren, neuen Welt. Auch in diesem Fall wird der Mythos von Riten begleitet. Für Cassirer sind der Mythos als episches Element und der Ritus als dramatisches Element zwei Seiten einer selben Medaille.17 Cassirer betrachtet den Ritus als »Lebensprinzip« des Mythos18 und Claude Rivière erläutert in seinem Buch Les Liturgies politiques die Wechselbeziehung zwischen Mythen und Ritualen: »Der Mythos«, schreibt er, »macht den Ritus glaubhaft und legitimiert ihn, indem er ihm Signifikate zuweist. Dafür vergegenwärtigt der Ritus den Mythos und sorgt für seine Erhaltung, indem er seine Wiederkehr sichert und ihn in einer konkreten wie auch affektiven Form vorführt. Das in illo tempore des Ursprungs geht in dem hic et nunc in Erfüllung«.19 Der Ritus hilft im Falle einer tabula rasa, den Bruch im geschichtlichen Ablauf durch Kontinuitätserzeugung zu kitten. Zeremonien, die zeitlich in regelmäßigen Abständen stattfinden, erinnern an den Neuanfang, vermitteln jedoch zugleich auch den Anschein, als hätte man es danach mit einer lückenlosen Dauerhaftigkeit zu tun. Diese beruhigende und psychisch stabilisierende Botschaft, die schon in der Narrativität des Mythos selbst zu finden ist und einen wichtigen Beitrag zur Konstruktion einer narrativen Identität liefert, findet eine angebliche Bestätigung in der ritualisierten Wiederkehr des Selben. 16 | Vgl. C. Leggewie: Der Mythos des Neuanfangs, S. 275–302, hier S. 288. 17 | Vgl. E. Cassirer: Vom Mythus des Staates, S. 41. 18 | Vgl. E. Cassirer: Versuch über den Menschen, S. 127. 19 | Vgl. C. Rivière: Les Liturgies politiques, S. 13.

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Und dennoch sollte man dem Beispiel Hannah Arendts und Paul Ricœurs folgen. Beide haben die Moderne angesichts der Gefahr des Totalitarismus nicht als tabula rasa der Vergangenheit betrachtet, sondern als Prozess allmählicher Reformen, der sich von jeglicher politischen Hybris fernhalten sollte. Johann Michel spricht in diesem Zusammenhang von einem »modernisme paradoxal«, also von einem »paradoxalen Moderneverständnis«.20 Gerade die Hybris im tabula rasa-Gestus macht diesen aus der Sicht des Beobachters zweiter Ordnung nicht nur unglaubwürdig, sondern auch zu einer Bedrohung für die Zukunft.

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Mythos und Tabula rasa: Poetik des Erzählens, Erinnerung und Gedächtnis, Fläche und Raum Stephanie Wodianka

Mythen sind Erzählungen, die von Gründungsakten berichten. Sie beantworten die Fragen nach dem Ursprung einer neuen Ära und nach den geltenden Werten, Normen und Prinzipien. Wie u. a. Ernst Cassirer argumentiert hat, kann im Grunde alles zum Mythos werden.1 Kennzeichnend für den Mythos als belief system ist, dass er eine bestimmte Erfahrungsweise der Wirklichkeit bewirkt – er ist ein subjektiver Wahrnehmungsmodus von kollektiver Bedeutung.2 Er fungiert als »Linse […], durch die wir die Welt sehen«3 und lässt historische Kontingenz als folgerichtige oder gar notwendige Entwicklung erscheinen. Er verwandelt, wie es Barthes ausgedrückt hat, Geschichte in Natur4 und bleibt somit unabhängig von seiner subjektgebundenen Funktionalisierbarkeit eine scheinbar erzählerlose Erzählung. Seine Vernetzung in Mythenclustern und seine plurimediale Repräsentation erzeugen eine »chorale Stimme« des My1 | »Jeder noch so alltägliche Daseinsinhalt kann den auszeichnenden Charakter der Heiligkeit gewinnen, sobald er nur in die spezifische mythisch-religiöse Blickrichtung fällt  – sobald er, statt in den gewohnten Umkreis des Geschehens und Wirkens eingespannt zu bleiben, das mythische ›Interesse‹ von irgendeiner Seite her ergreift und es in besonderer Stärke erregt.« (E. Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen. Zweiter Teil, S. 89). 2 | S. Wodianka/J. Ebert: Inflation der Mythen, S. 7–25, hier S. 8. 3 | C. Bottici: A Philosophy of political myth, insbes. »The need for myth«, S. 83–130. 4 | »Indem er von der Geschichte zur Natur übergeht, bewerkstelligt der Mythos eine Einsparung. Er schafft die Komplexität der menschlichen Handlungen ab und leiht ihnen die Einfachheit der Essenzen, er unterdrückt jede Dialektik, jedes Vordringen über das unmittelbar Sichtbare hinaus, er organisiert eine Welt ohne Widersprüche, weil ohne Tiefe, eine in der Evidenz ausgebreitete Welt, er begründet eine glückliche Klarheit. Die Dinge machen den Eindruck, als bedeuteten sie von ganz allein.« (R. Barthes: Mythen des Alltags, S. 131.

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thischen, die quasi-naturhafte Beglaubigung potenziert.5 Indem Mythen zeitlich-menschliche Geschichte in überzeitlich-gegebene ›Natur‹ überführen, reduzieren sie Komplexität: Sie setzen sinnlich-konkrete Wahrnehmungen an die Stelle von Abstraktionen, sie bedeuten scheinbar unmittelbar, Gegensätze werden in »glücklicher Klarheit« unterdrückt. Dem Verbraucher des Mythos erscheint die Semantik des sinnlichen Eindruckes eindeutig, konkurrierende Bedeutungen sind aus seiner subjektiven Wahrnehmung ausgeblendet.6 Diese durch Naturhaftigkeit und scheinbare Evidenz geprägte Relation zum Gründungsakt wird bestimmend für Identitätsentwürfe, Menschen- und Weltbilder und für die Deutungskonflikte, die sie umgeben. Der hier präsentierte Band will diesen grundsätzlichen mythentheore­ tischen Einsichten folgen, aber auch eine neue Richtung geben: Inwiefern ist das in Mythostheorie und Mythenforschung immer wieder betonte Gründungs-Potential des Mythischen generell oder im Einzelfall gebunden an Vorstellungen der totalen Zerstörung, der absoluten Auslöschung, des unbedingten Neuanfangs, der tabula rasa? Gibt es eine komplementäre oder widerständige Seite mythischer (Gründungs-)Narrative, die Konstruktionen des Nullpunkts  – insbesondere in Deutungskonflikten  – erfordern oder begünstigen? Ziel ist es, historische Konstellationen sowie narrative und ästhetische Strategien in den Fokus zu stellen, die die Denkformen vom Kahlschlag repräsentieren und in ihrer Relation mit mythischen Gründungerzählungen illustrieren. Die Relation zwischen Mythos und tabula rasa ist in verschiedener Weise denkbar. Einerseits können z. B. radikale Umbruchsituationen als Erfahrung von tabula rasa gedeutet werden, die ein Mythenbedürfnis evozieren: Orientierungskrisen, in denen vorhandenes Wissen und tradierte Überzeugungen über die Welt, die Gesellschaft und den Menschen in ihr entwertet werden. Mythen spielen bei der Verarbeitung dieser Leerstellen oft eine entscheidende, aber auch äußerst ambivalente Rolle: Sie sind […] wahr und falsch zugleich. Indem sie soziale und politische  Wirklichkeiten begründen, sind sie wahr. Indem sie der Gemeinschaft eine Zukunft weisen, erfüllen sie sich selbst. Indem sie fälschen oder etwas verschweigen (und das tun alle Mythen), säen sie den Zweifel an ihrer Gültigkeit und damit die Keime der Dissidenz, den Gegen-Mythos.7 Das Mythische trägt in diesem Sinne die Tendenz zur Selbst-Auslöschung in sich. Die mythenimmanente Relation zwischen Mythos und tabula rasa kann sich darüber hinaus auch darin realisieren, dass eine 5 | Zum Begriff der »choralen Stimme« des Mythischen s. S. Wodianka: Inflation der Mythen, S. 20ff. 6 | Vgl. R. Barthes: Mythen des Alltags, S. 131. 7 | C. Leggewie: Der Mythos des Neuanfangs, S. 275–302. Siehe online-Version unter http://polylogos.org/philosophers/arendt/arendt-mythos.html#four vom 13. Juni 2016.

Mythos und Tabula rasa

mythische (Gründungs-)Erzählung die Erzählung von totaler Auslöschung oder absolutem Neuanfang retrospektiv oder prospektiv impliziert, wie etwa die Apokalypse. Der Band untersucht mit diesem Fokus die Produktion, die Funktion und das Funktionieren von Mythen: ihre Akteure und ihre mediale Erscheinungsform, ihre Ästhetik und die »Arbeit am Mythos«. Die sowohl historische als auch interdisziplinäre Perspektive soll es ermöglichen, Kontinuitäten und Wandel jener Denkform ausfindig zu machen, die die ›andere‹ Seite des mythischen Gründungspotentials ist. Sich für tabula rasa nur als Faktum zu interessieren, wäre naiv, uns interessiert sie eher als Denkform, in ihrer kulturellen Produktivität unabhängig von faktischer Auslöschung und absolutem Anfang. Vor allem soll sie in ihrem möglichen  – oder vielleicht unmöglichen?  – Verhältnis zum Mythos Gegenstand dieses Bandes sein. Lässt sich der Mythos als Teil einer »Kunst des Vergessens« begreifen, die die tabula rasa als Denkform plausibel macht? Oder kann er eine Erzählform sein, die dem wie auch immer motivierten Bedürfnis nach absolutem Anfang und totaler Auslöschung Ausdruck verleiht? Ist der Mythos möglicherweise vielmehr als Erinnerungsmodus zu denken, der das Schicksal der tabula rasa zu verhindern hilft? Ist das Mythische als ihre Repräsentationsform besonders geeignet oder besonders ungeeignet? Meine einleitenden Überlegungen beleuchten die möglichen Verhältnisse zwischen Mythos und tabula rasa aus drei Richtungen: erstens aus der Perspektive der Erzähltheorie, Ästhetik und Poetik; zweitens möchte ich dabei die erinnerungskulturelle und gedächtnistheoretische Dimension des Zusammenhanges von Mythos und tabula rasa berücksichtigen und drittens sind meine Ausführungen nicht zuletzt geleitet vom Interesse am Verhältnis des Mythischen zu Deutungsmacht und belief systems. Mythen sind Erzählungen, deren Kern mehr oder weniger entfaltet oder auch zur Ikone komprimiert sein kann.8 Ihre komplexitätsreduzierende Wirkung verdanken sie ihrer ambivalenten Tiefenstruktur: Claude Lévi-Strauss hat Mythen als grundsätzlich offenes Inventar von jeweils durch Opposition bestimmten Beziehungsbündeln definiert, vergleichbar einer Orchesterpartitur, die synchron und diachron organisiert ist.9 Diese strukturelle Anlage von Widersprüchlichkeit ist die Voraussetzung für die diskontinuierliche Koninuität des Mythischen: Sich durchaus widersprechende Deutungen, Normen und Werte können auf denselben Mythos zurückgeführt und zur Stiftung von 8 | S. z. B. die Repräsentation von Mythen in Fotografien, Gemälden und Statuen (z. B. der Student Cohn-Bendit vor einem Angehörigen der Sicherheitskräfte als Ikone der 68er Bewegung, die Jeanne-d’Arc-Statue in Orléans und Jacques-Louis Davids Ölgemälde »Bonaparte franchissant le Grand-Saint-Bernard«). 9 | C. Lévi-Strauss: Die Struktur der Mythen, S. 226–254, hier S. 232.

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Sinn und Identität funktionalisiert werden. Das Mythische ist eine Form der Weltdeutung, die ihren Urheber nicht kennt, und die durch so geringe modale Distanz zu sich selbst gekennzeichnet ist,10 dass sie sich selbst in ihrem Funktionieren nicht oder nur vorübergehend sieht.11 Der Begriff tabula rasa rekurriert auf ein in der Antike billiges und handliches Schreibgerät für den Alltag: die Wachstafel.12 Sie konnotiert die schnelle Glättung der Fläche zur erneuten Nutzung; tabula rasa ist in diesem Sinne die willentliche Löschung zur erneuten oder zur ersten Nutzung. Führt man die tabula rasa auf die Wachstafel zurück, so ist ein potentielles »Immerwieder« des Auslöschens mitzudenken: Das auf die Wachstafel Geschriebene hat keinen Monumentalitätsanspruch, nach Gebrauch wird die Tafel zur Wiederverwendung geglättet. Die Wachstafel steht zugleich für Reinheit und Vergänglichkeit, für alltägliche Tätigkeit und Funktionalität. Als platonisch-aristotelische Metapher steht die tabula rasa für den Neubeginn des Gedächtnisses, für dessen absolut gedachte Auslöschung. Die der Wachstafel als Gegenstand eigene Idee der rekurrenten Glättung, also der Nicht-Monumentalität des neu Geschriebenen, scheint zunächst für die metaphorisch fundierte »Tabula rasa als Denkform« weniger bedeutend zu sein – sie insistiert ja geradezu auf der Endgültigkeit der Löschung. Im Zusammenspiel mit Mythen könnte dem metaphorischen Potential des Überschreibens jedoch eine besondere kulturelle Attraktivität zukommen, der sich die Idee der tabula rasa immer wieder erwehren muss: Mythisches Erzählen und Arbeit am Mythos verstanden als über das literarische Phänomen der Intertextualität13 hinausgehendes, strukturell präformiertes Palimpsest.14 Alles Erzählen vertraut darauf, dass die Rezipienten wissen, was Erzählen ist, und dass es nicht nur auf das Was, sondern auch auf das Wie ankommt – Erzählen muss nicht erstmalig, sondern anders sein.15 So begründet auch schon Chrétien de Troyes als Erzähler des altfranzösischen Perceval-Romans im 12. Jahrhundert mit der Erklärung: »Ce est li contes del GRAAL,/Don li cuens li bailla le livre,/S’orroiz comant il s’an delivre«: ›Das ist die Erzählung vom Gral, von welcher der Graf (von Flandern) ihm das Buch gab, und ihr sollt 10 | S. dazu das Modell von Erinnerungsnähe und Erinnerungsdistanz zur Differenzierung des historischen und mythischen Erinnerungsmodus in S. Wodianka: Zwischen Mythos und Geschichte, hier Kap. 2. 11 | Zum stabilisierenden Potential des Metamythischen s. S. Wodianka: Metamythische Renarrationen des Jeanne d’Arc-Mythos, S. 37–66. 12 | J.-J. Berns: Das Gedächtnis als Wachstafel und Volière, S. 531–538. 13 | Vgl. G. Genette: Palimpseste. 14 | Zum Konzept der Überschreibung s. L. Jäger: Gedächtnis als Verfahren – Zur transkriptiven Logik der Erinnerung, S. 57–79. 15 | P. Ricœur: Zeit und Erzählung, Bd. I, S. 109.

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hören, wie er dieses ausführt.‹16 Dass es die Erzählung vom Gral schon gibt – und sogar materialiter in der kulturell monumentalen Form des Buches –, ist hier kein Hinderungsgrund des Erzählens, sondern geradezu die Motivation zum Erzählen aufs Neue. Mythisches Erzählen schöpft sein Potential daraus, dasselbe nicht nur anders, sondern darüber hinaus einzig richtig zu erzählen – das immer wieder neue, andere und doch einzig richtige Erzählen ist die conditio sine qua non der Lebendigkeit von Mythen. Die sich auch im Mythos vollziehende Variation des Gleichen, die »Arbeit am Mythos«, ist nach Blumenberg der subjektive Versuch seines »Zuendebringens«.17 Mythisches Erzählen zielt darauf ab, die ›wahre‹ Version des Mythos zu erzählen und damit zukünftige Um- und Neudeutungen prophylaktisch für überflüssig zu erklären. Insofern implizieren mythische Erzählungen eine ihnen eigene Poetik des Schlusses.18 Während erinnerndes Erzählen generell mit dem Selbstbewusstsein verbunden ist, an einem Endpunkt zu stehen,19 zeichnet sich der Mythos als spezielle Erinnerungsform dadurch aus, dass er mit seiner Renarration ein Ende zu setzen versucht. Doch gerade dieser Versuch seines Zuendebringens kann zum Impuls seines Weiter- und Neuerzählens werden, das kulturelle Bedürfnis nach Bewahrung wird produktiv und bewirkt Widerspruch im Ringen um Deutungsmacht oder im Zeichen von Aktualisierung. Erzählen im Zeichen der tabula rasa bedeutet nicht, zum ersten Mal zu erzählen, sondern zu erzählen, als sei noch nie erzählt worden – oder zu erzählen über die Zeit, in der es noch nichts zu erzählen gab, oder über den Menschen, der nicht weiß, was Erzählen ist. Inwiefern taugt das Mythische für solches Erzählen im Zeichen der tabula rasa? Unter welchen Bedingungen kann das Mythische nicht nur herbeireden, sondern auch wegerzählen? Zwei romanistische Beispiele möchte ich hierfür geben. Der bereits oben angeführte Chrétien de Troyes erzählt im späten 12. Jahrhundert in seinem altfranzösischen Roman von einem Perceval, der höfischritterlich betrachtet, eine tabula rasa ist: Seine Mutter hält ihn in Unkenntnis des höfischen Rittertums,20 weil sie ihren Mann und die zwei älteren Söhne bereits als Ritter verloren hatte. Perceval wird erst im Laufe des höfischen Romans und dessen Erzählung zum Ritter, zum beschriebenen Blatt, und sein Weg verläuft über zwei Kristallisationssituationen von tabula rasa. Die erste zeichnet ein Szenario auf weißem Schnee, selbst eine Variante der unbeschriebenen Fläche: Perceval reitet durch die winterliche Heldenlandschaft. 16 | C. de Troyes: Li contes del Graal, V. 66–68, Hervorhebungen d. Verf. 17 | H. Blumenberg: Arbeit am Mythos, S. 291–326. 18 | S. Wodianka: Mythos und Erinnerung, S. 211–230, S. 218f. 19 | F. Kermode: Poetry, Narrative, History. 20 | C. de Troyes: Der Percevalroman (= Le Conte du Graal), explizit V. 175–178.

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Doch Blutstropfen einer getöteten Gans stören dieses metaphorische Bild: Sie erinnern ihn an die roten Wangen und die weiße Haut seiner geliebten Blanchefleur, die er über all seine ritterlichen Abenteuer vergessen hat.21 Diese Unausgewogenheit zwischen höfischer Liebe und höfischer Aventiure ist so schwerwiegend, dass sie seine Identität als höfischer Ritter in Frage stellt: Er verfällt in Amnesie, »il s’oblie/er vergisst sich«, heißt es, und er verharrt in bewegungsloser Starre. Die roten Zeichen auf der Schneefläche lassen ihn selbst zum leeren Blatt werden. An einer zweiten Stelle des Romans22 bedeutet die tabula rasa nicht im negativen Sinne den Identitätsverlust als höfischer Ritter, sondern sie wird zur positiven Erlösungshoffnung. Denn Percevals zweite Erinnerungsstörung bezieht sich auf Gott selbst. Er vergisst über die Aventiure Gott und geht ohne Orientierung im Kirchenjahr am Karfreitag in Waffen. Es folgt ein durch vorbeiziehende Pilger erwirkter Erinnerungsakt der Beichte beim Eremiten, der ihn mit seinen teils ihm nicht bekannten, teils verdrängten Familienverhältnissen konfrontiert und ihm nach Buße in der Hoffnung auf die Erlösungstat Christi Aussicht auf erlösende tabula rasa seiner Schuld gibt.23 Mein zweites Beispiel ist rund 800 Jahre jünger: Roberto Rossellini erzählt in seinem berühmten Film »Germania Anno Zero« von 1947 den Mythos der Stunde Null nach dem Zweiten Weltkrieg. Eine Aussicht auf erlösende, von Schuld befreiende und auf absoluten Neuanfang setzende Auslöschung wie bei Chretien de Troyes kann es hier nicht geben, weil die Infragestellung verbindlicher Werte nicht nur auf individueller, sondern auf kollektiver Ebene zum Thema wird. Roberto Rossellini versetzt den 12-jährigen Protagonisten Edmund in ein Szenario der tabula rasa  – das niedergebombte Berlin der Nachkriegszeit wird in und auch durch seinen Film zur Ikone der totalen Auslöschung. Die Verstrickung in Schuld hat bei allen Protagonisten Kontinuität über das Kriegsende hinaus, es ist kein Subjekt des absoluten Neuanfangs in Sicht  – obwohl der Film einen zweiten Mythos, den Mythos der kindlichen Unschuld, assoziiert. Nahegelegt wird in programmatischer Brechung mit der Idee des mythisch ›reinen‹ Kindes, dass Edmund selbst zu einer tabula rasa geworden ist, in dem Sinne, dass grundlegendste Werte und Normen bei ihm nachhaltig ausgelöscht scheinen: Er tötet – leicht manipulierbar – auf Geheiß eines pädophilen Erziehers seinen eigenen Vater mit Gift. Auch dieser Vatermord als Auslöschung bleibt ohne absoluten Neuanfang, der Film hält dieser Aussicht die Selbsttötung des Jungen am Ende des Films entgegen. Die Verstrickung in Schuld währt über das Jahr Null hinaus: nur so ist der Mythos ›richtig‹ erzählt. Am Ende bleibt nur tabula rasa – oder besser: ihre filmische Repräsentation als Denkform. Rossellinis neorealistischer Film lässt sein im 21 | Ebd., V. 414–4602. 22 | Ebd., V. 6326–6519. 23 | Ebd., V. 6362f.

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Vorspann artikuliertes appellatives Engagement 24 fast vergessen, weil er tabula rasa und den Mythos vom Nullpunkt in ein dynamisches Wechselverhältnis treten lässt. Die ambivalente Assoziation mit dem Mythos kindlicher Unschuld bewirkt einerseits das Aufscheinen von Hoffnung auf einen absoluten Anfang als Herausforderung für zukünftige Generationen und kommt damit der apokalyptischen Narration einer Abfolge von Auslöschung und Wiederkehr nahe. Andererseits impliziert diese Assoziation zugleich die Sorge einer zyklischen Wiederholung faschistischen Moralverlustes, weil es gerade der kindliche Protagonist ist, dessen Moral und Wertvorstellungen ausgelöscht erscheinen, und der als ethische tabula rasa in Zukunft als Erwachsener in seinem Alltag die Weltläufte mitprägen wird.25 Als kulturelles Phänomen ist tabula rasa immer nur Denkform: Verordnung von oder Bedürfnis nach Vergessen-Machen, die z. B. das Selbstverständnis künstlerischer Avantgarden der Moderne bestimmen. Ernst Osterkamp spricht deshalb vom Prinzip »kreativer Zerstörung«, das er aus den revolutionären, technologischen und wirtschaftlichen Kontexten entlehnt 26 und auf künstlerische Diskurse überträgt: »Je avancierter das Modernitätsbewusstsein der Autoren, desto stärker verbindet es sich mit dem Bedürfnis, 24 | Mit gesprochenem Wort wird die Bildeinstellung des Vorspanns unterlegt, die das zerstörte Berlin zeigt: »Dieser Film, der im Sommer 1947 in Berlin gedreht wurde, will nichts anderes sein als ein objektives und wahrhaftes Bild dieser riesigen und fast völlig zerstörten Stadt, in der dreieinhalb Millionen Menschen ein schlimmes, verzweifeltes Dasein fristen, fast so, als seien sie sich dessen gar nicht bewusst. Sie leben in der Tragödie, als sei diese ihr natürliches Lebenselement. Aber das tun sie nicht aus Seelenstärke oder Überzeugung heraus, sondern einfach aus Müdigkeit. Hier geht es nicht um eine Anklage gegen das deutsche Volk, sondern um eine sachliche Bestandsaufnahme der Tatsachen. Sollte jedoch jemand glauben, nachdem er diese Geschichte von Edmund Koeh­ler miterlebt hat, es müßte etwas geschehen, man müßte den deutschen Kindern beibringen, das Leben wieder zu lieben, dann hätte sich die Mühe desjenigen, der diesen Film gemacht hat, mehr als gelohnt.« Der ›Müdigkeit‹, mit der die Berliner Bevölkerung ihre »Tragödie« hinnehme, solle  – so der Appell Rossellinis  – »etwas« entgegengesetzt werden. 25 | Entsprechend ambivalent fiel die Rezeption des Films aus. Während er in Italien preisgekrönt und in Frankreich sehr positiv aufgenommen wurde, gab es in Deutschland ablehnende Reaktionen: »Rossellini pflückt in diesem Film nicht Blumen von dem Grab einer Nation, er erbricht sich in den Sarg.« (Habes, Hans: Rossellini sieht Deutschland, in: Süddeutsche Zeitung vom 28. September 1949 [Jahrg. 5, Nr. 120], S. 2.). 26 | Zur Genese und Fortentwicklung des Konzeptes bei Karl Marx (Revolution), Friedrich Nietzsche (kritische Historie), Alois Schumpeter (Kapitalismuskritik), Karl Jaspers (deutsche Nachkriegsgesellschaft) und Albrecht Koschorke (Städtebau des 20. Jahrhunderts) s. A. Assmann: Ist die Zeit aus den Fugen? S. 164–178.

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mit dem eigenen Werk eine geschichtliche tabula rasa zu schaffen, also das Bewusstsein des absoluten künstlerischen Neuanfangs mit dem Anspruch auf absolute Traditionszerstörung zu verbinden.«27 Faktischer Ausnahmefall ist sie als pathologisches Schicksal, als Amnesie. Totale Auslöschung und absoluter Neuanfang können sich auf Kollektive wie auf Individuen beziehen. Tabula rasa hebt den Menschen bzw. die Gesellschaft aus den Fugen und setzt ihn bzw. sie neu aufs Gleis, sie ermöglicht oder erzwingt einen Identitätsbruch. Absolute Auslöschung kann Strafe sein und Geschenk: im Spannungsfeld zwischen neu anfangen, sich neu definieren müssen und sich neu definieren dürfen, sie steht dann im Zeichen der »reinigenden, entschuldigenden Vorbereitung eines aussichtsreichen Neubeginns«.28 Es gibt eine ethisch-moralische Dimension der tabula rasa: ein Gebot zur tabula rasa wie im Tabu, und ein Verbot der tabula rasa, das sich z. B. in der Nicht-Verjährung von Genoziden in der internationalen Gerichtsbarkeit zeigt. Tabula rasa als Denkform vertraut auf die Funktionalität des Vergessens. Dabei meint sie kein partielles Vergessen: Tabula rasa will nicht nur einzelne Inhalte vergessen machen, sondern sie geht aufs Ganze, ist Vergessen mit Nachdruck und hat eine affektive Dimension:29 zum einen in der Tradition der Wahrnehmungstheorie von Nicolas Malebranche im 18. Jahrhundert unter dem Begriff der »liaison des traces«,30 die das Phänomen zu erklären suchte, wie und warum es zu Wahrnehmungsphänomenen kommt, die sich dem reflektierten Bewusstsein entziehen. Nach Malebranche hinterlassen aktuelle Wahrnehmungen körperliche Spuren im als Wachstafel vorgestellten Gedächtnis. Diese »traces«/Spuren konstituieren den Speicher des Gedächtnisses und der Einbildungskraft. Sie können willkürlich oder unwillkürlich reaktiviert werden: Die esprits animaux können nämlich bei ihrem Rückfluss (z. B. beim Anblick eines bekannten Bildes oder bei dessen Vorstellung) dieselben oder auch benachbarte Spuren erregen und reproduzieren dann den ursprünglichen »Eindruck« im Gedächtnis bzw. der Imagination.31 Tabula rasa in diesem Sinne will auch das Unkontrollierte steuern, die Spuren verwischen, die den unwillkürlichen Erinnerungen den Weg weisen. Zum anderen ist tabula rasa aber auch deshalb eine affekthafte Denkform, weil sie immer ein Vergessen mit Nachdruck meint, ein leidenschaftliches Vergessen. Im erinnerungs- und 27 | E. Osterkamp: Kreative Zerstörung als ästhetisches Verfahren in Richard Wagners ›Meistersingern‹, S. 11–28, hier S. 15. 28 | E. Osterkamp: Kreative Zerstörung, S. 26. 29 | In diesem Sinne formuliert Aleida Assmann: »Eine wichtige Unterscheidung ist die zwischen einem Vergessen von Traditionen und der materiellen Zerstörung kultureller Substanz« (A. Assmann: Ist die Zeit aus den Fugen?, S. 173). 30 | N. Malebranche: De la recherche de la vérité, Chap. V. 31 | R. Behrens: Imagination und Aufklärung, S. 117–140, hier S. 127.

Mythos und Tabula rasa

gedächtnistheoretischen Vergleich geht die tabula rasa deshalb über andere Metaphern des Vergessens hinaus: über den Unterweltfluss Lethe (der ein langes, aber nicht absolutes Vergessen bewirkt), über den Keller des Archivs (der das Gespeicherte dysfunktional macht, aber nicht tatsächlich löscht), über das Loch im Behälter (das Inhalt entweichen, aber nicht endgültig verschwinden lässt), über die Lücke im Text (die an ihren Rändern Bedeutungserschließung ermöglicht) und über den Schlussstrich (der nichts durchstreicht). Tabula rasa reicht deshalb tiefer und weiter, weil kulturelles Gedächtnis Erinnerung im sozialen und symbolischen Raum bedeutet. Gedächtniskunst ist Raumkunst. Die tabula rasa hingegen löscht nicht nur auf der Fläche, sondern auch zur Fläche, sie nimmt dem kulturellen und individuellen Gedächtnis seine Orientierung. Deshalb, weil sie ›flach macht‹ und auf die Ausschaltung der Orientierung im Gedächtnis-Raum zielt, ist tabula rasa als Denkform in Verbindung zu bringen mit dem Konzept des belief systems: verstanden als ein strukturiertes Netz von Überzeugungen, in dem sich Individuen verorten und das durch Hierarchisierung und Organisation nicht nur ein Nebeneinander, sondern ein dreidimensionaler Raum von subjektiven und kollektiven ›beliefs‹ ist. Woltersdorff geht im Anschluss an Wittgenstein von der Existenz subjektiv-individueller belief systems aus, die jeweils in verschiedenen Dimensionen strukturiert seien, z. B. durch die unterschiedliche ›Tiefe‹ individueller Überzeugungen: »Consider the totality of a person’s beliefs at a given time […]. Such a totality is not just a collection. It’s structured, organized: it’s a system. It’s structured in various dimensions, one such dimension being this: A given person’s beliefs differ from each other with respect to the depth of ingression, of entrenchment, in the totality of that person’s beliefs.« 32

Wenn das so ist, dann ringt Deutungsmacht, dann entbrennen Deutungsmachtkonflikte nicht nur um Masse und Quantität, sondern auch um Position und Tiefe. Belief systems sind darauf auf bauend zu verstehen als ein kognitives Ordnungs- und Orientierungsmodell: ein strukturiertes Netz von Überzeugungen, in dem sich Individuen mehr oder weniger reflektiert verorten und das Weltorientierung bietet. Sie sind vorzustellen als ein sich geordnetes Ganzes, in dem alle Teile (beliefs) eine Relation zueinander und zum Ganzen haben, zu einer Struktur verknüpft sind und dabei bestimmte Funktionen innehaben. Die Bedeutung der Elemente (beliefs) eines Systems ist nicht nur jeweils in sich selbst, sondern wesentlich auch durch die Relation zu anderen Elementen (beliefs) des Systems bestimmt. Ein belief system kann auch zu anderen belief systems in Relation treten, sodass aus einer Struktur von Binnen32 | N. Woltersdorff: Thomas Reid and the Story of Epistemology, S. 235.

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Systemen auch Makro-Systeme entstehen können, die die Intensität von Überzeugungen ideologisch steigern können. Jedes belief system ist nicht unbedingt in sich homogen, sondern als ein Polysystem zu verstehen, das in gewissem Maße und graduell verschieden Koexistenz und Interferenz toleriert (Stabilität durch Elastizität). Belief systems sind nur momenthaft Entitäten (»ganz«), grundsätzlich jedoch offene und somit dynamische Inventare von beliefs. Ein Hinzukommen oder Wegfallen von beliefs bewirkt eine Relationsverschiebung, dadurch auch eine Bedeutungsverschiebung unter den anderen beliefs. Durch Hierarchisierung und Organisation sind belief systems nicht nur als ein Nebeneinander oder eine Summe von Überzeugungen, sondern als ein dreidimensionaler Raum von subjektiven und kollektiven ›beliefs‹ zu verstehen, die mit unterschiedlicher Tiefgründigkeit, unterschiedlicher diskursiver Sichtbarkeit, unterschiedlicher Intensität und in unterschiedlichen Repräsentationsformen kulturell verankert sind. Belief systems sind in diesem Sinne ein Wahrnehmungs-Raum. Das Konzept des belief systems ermöglicht es auch, die individuelle und kollektive Ebene von Deutungsmachtkonflikten und Deutungsmachtansprüchen in ihrer Vernetzung zu konzipieren: Jede ›einsame Überzeugung‹ gewinnt ihren Status erst in Relation und Konkurrenz zu kollektiven beliefs, und jede ›von allen‹ geteilte Überzeugung bedarf der Rückversicherung im Einzelnen, dessen sie sich ermächtigt. Belief systems regeln nicht nur, von was der Einzelne überzeugt ist, sondern auch, welchen Status diese Überzeugungen jeweils haben, d. h. wie beständig sie sind, wie verhandelbar, wie reflektiert. Tabula rasa als Denkform bedeutet den Versuch, den Anspruch oder das Bedürfnis, ein solches räumliches Bezugssystem zu ersetzen. Tabula rasa als Denkform ist mit dem Anspruch auf Deutungsmacht verbunden, mit dem Anspruch, die Welt oder eine Ära nicht nur partiell, sondern grundsätzlich neu zu deuten. Dies lässt sich an einem Großprojekt verdeutlichen, das nur scheinbar anti-mythisch konzeptualisiert ist, tatsächlich aber mit dem Anspruch eines belief systems ausgestattet wurde: die von Denis Diderot und Jacques d’Alembert herausgegebene »Encyclopédie«,33 das Symbolwerk der französischen Aufklärung. Diderot hat bekanntlich selbst den Artikel »Encyclopédie« in seiner Encyclopédie verfasst und darin sein Konzept erläutert. Er erschien im 5. Band der Encyclopédie im Jahr 1755, und Diderot hat viel in ihn investiert – umformatiert umfasst er über 70 Normseiten. Diderot beschreibt sein Verständnis von »Encyclopédie« zu Beginn seines Artikels wie folgt: 33 | Diderot, Denis/D’Alembert, Jacques: Encyclopédie ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers, par une société de gens de lettres. […] Paris 1751– 1772. Im Folgenden zitiert nach der Online-Ausgabe fr.wikisource.org/w/index.php?title=Encyclop%C3%A9die,_ou_Dictionnaire_raisonn%C3%A9_des_sciences,_des_arts_ et_des_m%C3%A9tiers&oldid=6492340> vom 5. Januar 2017.

Mythos und Tabula rasa »Das Wort bedeutet Verkettung der Kenntnisse. Tatsächlich ist es das Ziel einer Enzyklopädie, die über die Oberfläche der Erde verstreuten Kenntnisse zusammenzuführen; den Menschen, mit denen wir leben, ihr allgemeines System herauszustellen, und es den Menschen, die nach uns kommen, weiterzugeben; damit die Mühen der vergangenen Jahrhunderte nicht unnütz seien für die Jahrhunderte, die kommen; damit unsere Nachkommen, die dadurch an Wissen gewinnen, auch tugendreicher und glücklicher werden, und damit wir nicht sterben, ohne der Menschheit Gutes gebracht zu haben.« 34

Diderot legt bei seiner Definition den Akzent auf dreierlei. Erstens auf die Aufgabe der Encyclopédie, die connaissances nicht als Summa des auf der Erde verstreuten und aufgesammelten Wissens zu präsentieren, sondern in ihrem enchaînement, in ihren systemischen Zusammenhängen, er will ihr »allgemeines System« herausstellen. Zweitens auf das Ziel der Weitergabe dieses systemisch strukturierten Wissens an die Menschen in Gegenwart und Zukunft: die synchrone wie diachrone transmission der connaissances ist ein wichtiges encyklopädisches Ziel. Drittens insistiert Diderot auf dem schönen aufklärerischen und in der Moderne nicht mehr uneingeschränkt geteilten Gedanken, dass diese enzyklopädische Wissens-Weitergabe die Menschen nicht nur wissender, sondern auch tugendhafter und glücklicher macht. Sein Streben nach einer Verweisstruktur, die sachliche Zusammenhänge ebenso wie sprachliche Zusammenhänge ausweist und die nicht nur ein System wechselseitiger Bedeutungsgebungen und Bestätigungen, sondern auch ein Netz von Widersprüchen schafft, macht den aufklärerischen Innovationscharakter seiner Encyclopédie aus. Die Encyclopädie versucht keine unbedingte Homogenisierung der Einträge. »Die Verweise zwischen den Einträgen erhellen den Gegenstand, zeigen die nahen Verbindungen, die ihn direkt berühren, und die weitläufigen Verbindungen mit anderen Gegenständen, die man für davon isoliert hielte; führen die allgemeinen Bedeutungen an und die analogen Prinzipien; verdeutlichen die Konsequenzen, verbinden den Ast mit dem Stamm, und geben allem jene Einheit, die zur Einstellung der Wahrheit und Überzeugung so zuträglich ist. Aber wenn es geboten ist, werden sie auch einen ganz anderen Effekt erzielen: sie werden die Bedeutungen einander gegenüberstellen; sie 34 | »Ce mot signifie enchaînement de connaissances […]. En effet, le but d’une Encyclopédie est de rassembler les connoissances éparses sur la surface de la terre; d’en exposer le système général aux hommes avec qui nous vivons, & de transmettre aux hommes qui viendront après nous; afin que les travaux des siècles passés n’aient pas été des travaux inutiles pour les siècles qui succéderont; que nos neveux, devenant plus instruits, deviennent en même tems plus vertueux & plus heureux, & que nous ne mourions pas sans avoir bien mérité du genre humain.« (D. Diderot: Art. »Encyclopédie« de l’Encyclopédie, S. 635–648, 635). Übersetzung hier und im Folgenden S. W.

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Stephanie Wodianka werden die die Prinzipien zueinander in Kontrast bringen; sie werden im Verborgenen einige lächerliche Ansichten angreifen, erschüttern, umwälzen, die man nicht öffentlich zu beleidigen wagen würde. Wenn der Autor unparteiisch ist, werden sie immer die Doppelfunktion haben zu bestätigen und zurückzuweisen; auseinanderzubringen und zu versöhnen.« 35

Widersprüchlichkeit und Heterogenität ist für Diderot nicht das Gegenteil von System, sondern gehören zu den Spielarten des enchaînement von Wissen. Sie sind die andere Seite jenes Strebens, über Einhelligkeit zur Überzeugung zu gelangen. Bestätigung und Zurückweisung, Zwist und Einklang – dieses encyclopädische Wechselspiel setzt an die Stelle glatter Wissens-Einheit die Einheit von Argumentation und Gegen-Argumentation. Diese kann in ihrer Komplexität nicht von einem einzelnen Menschen zur Darstellung gebracht werden (deshalb die programmatische Berufung auf eine ganze société de gens de lettres), und sie wird immer unvollkommen, unabgeschlossen bleiben. Das An-die-Oberfläche-Bringen ihres System-Charakters durch Verweise, die auch Widersprüchlichkeit tolerieren und hervorbringen, vermag die Begrenztheit und Vorläufigkeit aller menschlichen Einsicht zu relativieren und in die Nähe von ›überzeugtem Wissen‹ zu rücken. Fortschrittspotential sieht Diderot zusätzlich in der Möglichkeit kombinatorischer Synthesen bei der enzyklopädischen Lektüre, die neue connaissances emergieren lässt. Doch Diderots Encyclopédie-Projekt war dem Ziel nach weit mehr als ein InnovationsGenerator: Es war radikal. Es versteht sich nicht nur als innovativ, sondern als revolutionär – hier zeigt sich das Mythencluster Aufklärung, das Raison, Encyclopédie, Fortschritt und Revolution vernetzt: Die Revolution der Aufklärung meint nicht nur die von 1789. Diderot schreibt: »Aber was das Werk in Misskredit bringen wird, ist vor allem die Revolution, die sich im Denken der Menschen vollziehen wird, und im Nationalcharakter. Heute, da die Philosophie mit großen Schritten voranschreitet; da sie alle Dinge ihres Gegenstands-

35 | »Les renvois de choses éclaircissent l’objet, indiquent ses liaisons prochaines avec ceux qui le touchent immédiatement, & ses liaisons éloignées avec d’autres qu’on en croiroit isolés; rappellent les notions communes & les principes analogues; fortifient les conséquences; entrelacent la branche au tronc, & donnent au tout cette unité si favorable à l’établissement de la vérité & de la persuasion. Mais quand il le faudra, ils produiront aussi un effet tout contraire; ils opposeront les notions; ils feront contraster les principes; ils attaqueront, ébranleront, renverseront secrètement quelques opinions ridicules qu’on n’oseroit insulter ouvertement. Si l’auteur est impartial, ils auront toujours la double fonction de confirmer & de refuter; de troubler & de concilier.« (D. Diderot: Art. »Encyclopédie« de l’Encyclopédie, S. 635–648, 642A).

Mythos und Tabula rasa bereiches ihrer Herrschaft unterwirft; da ihr Ton der dominante ist und da man dabei ist, das Joch der Autorität und des Exempels abzuschütteln, um sich an die Regeln der Vernunft zu halten, gibt es fast kein dogmatisches Grundlagenwerk, mit dem man gänzlich zufrieden wäre. […] Das ist der Effekt des Fortschritts der Vernunft; ein Fortschritt, der viele Statuen umreißen wird und andere aufrichten wird, die umgerissen worden sind.« 36

Die Encyclopédie bringt das alte belief system zum Wanken, erschüttert es. Mit dem Ziel einer tabula rasa wählt sie eine Strategie, die das alte belief system durch das neue subversiv unterwandert: »Immer dann, wenn einem nationalen Vorurteil Respekt zu zollen wäre, müsste man es im einschlägigen Artikel respektvoll darstellen, & mit all seinem Hofstaat an Wahrscheinlichkeit und Verführungskraft; aber das Gebäude mit Schlamm übergießen, eine Staubwolke über es ergehen lassen, indem man auf Artikel verweist, in denen solide Prinzipien als Grundlage entgegengesetzter Wahrheiten dienen. Diese Art und Weise, den Menschen ihre Täuschung zu nehmen, ist sehr unmittelbar wirksam bei Menschen von großem Esprit, und sie wirkt sicher und ohne unangenehme Konsequenz, heimlich und ohne Aufsehen zu erzeugen, auf alle Geistesgrößen. Wenn diese affirmativen und ablehnenden Verweise weitsichtig geplant und mit Geschick vorbereitet sind, verleihen sie der Encyclopédie die Eigenschaft, die ein gutes Wörterbuch haben muss; diese Eigenschaft ist, die allgemeine Denkweise zu verändern.« 37

36 | »Mais ce qui le [l’ouvrage] jettera dans le mépris, c’est sur-tout la révolution qui se fera dans l’esprit des hommes, & dans le caractere national. Aujourd’hui que la Philosophie s’avance à grands pas; qu’elle soûmet à son empire tous les objets de son ressort; que son ton est le ton dominant, & qu’on commence à secouer le joug de l’autorité & de l’exemple pour s’en tenir aux lois de la raison, il n’y a presque pas un ouvrage élémentaire & dogmatique dont on soit entierement satisfait. […] Tel est l’effet des progrès de la raison; progrès qui renversera tant de statues, & qui en relevera quelques-unes qui sont renversées.« (D. Diderot: Art. »Encyclopédie« de l’Encyclopédie, S. 635–648, 363A). 37 | »Toutes les fois […] qu’un préjugé national mériteroit du respect, il faudroit à son article particulier l’exposer respectueusement, & avec tout son cortege de vraissemblance & de séduction; mais renverser l’édifice de fange, dissiper un vain amas de poussiere, en renvoyant aux articles où des principes solides servent de base aux vérités opposées. Cette maniere de détromper les hommes opere très-promptement sur les bons esprits, & elle opere infailliblement & sans aucune fâcheuse conséquence, secretement & sans éclat, sur tous les esprits. C’est l’art de déduire tacitement les conséquences les plus fortes. Si ces renvois de confirmation & de réfutation sont prévus de loin, & préparés avec adresse, ils donneront à une Encyclopédie le caractere que doit avoir un bon dictionnaire; ce caractere est de changer la façon commune de penser.« (D. Diderot: Art. »Encyclopédie« de l’Encyclopédie, S. 635–648, 642A).

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Die Encyclopédie will die Art und Weise des Denkens revolutionieren! Seine Subversivität und Effizienz erlangt das Unternehmen durch die unbemerkte Vernetzung neuer beliefs mit alten, die nach und nach – nicht eklatant und plötzlich – die alten beliefs so unvernetzbar werden lässt, dass diese auf unbemerkte Weise ausgeschlossen, abgesondert werden. Das erinnerungskulturelle Funktionsverhältnis von tabula rasa und belief systems, das Diderot mit seiner Encyclopédie umzusetzen versucht, ist somit in einem Dreischritt zu denken: Auf die »Auslöschung der Tafel« folgt die »Neubeschriftung« und schließlich die Überführung des neu ›Gemerkten‹ (weil nur auf Fläche gezeichneten) in ein neues belief system als Deutungsund Bedeutungsraum. Und hier kommen Mythen und Mythencluster in ihrer Funktionalisierbarkeit ins Spiel: weil sie in der Lage sind, Makro-beliefs und Mikro-beliefs miteinander auf einer mittleren Abstraktionsebene zu verknüpfen.38 Mythen leisten – funktionalisiert im Zeichen von tabula rasa – als Erzählung zugleich die Neubeschriftung der Tafel und die Transformation der Tafel von der Merk-Fläche zum Gedächtnisraum, zum einem dreidimensionalen belief system. Jenseits eines solchen von Individuen kollektiv geteilten belief systems kann es keine tabula rasa geben: sie braucht den Anschluss an Reste vorgängiger belief systems. Tabula rasa als Denkform hat nur innerhalb eines partiell geteilten belief systems Deutungsmacht. In diesem Raum liegen das Potential und die Begrenztheit des Mythischen.

B ibliografie Assmann, Aleida: Ist die Zeit aus den Fugen? Aufstieg und Fall des Zeitregimes der Moderne, München: Carl Hanser Verlag 2013. Barthes, Roland: Mythen des Alltags [Mythologies, 1957]. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2000. Behrens, Rudolf: Imagination und Aufklärung. Positionen des frühen 18. Jahrhunderts in Frankreich, in: Ders. (Hg.): Ordnungen des Imaginären. Theorien der Imagination in funktionsgeschichtlicher Sicht. Hamburg: Meiner 2002, S. 117–140. Berns, Jörg-Jochen: Das Gedächtnis als Wachstafel und Volière, in: Ders. (Hg.): Gedächtnislehren und Gedächtniskünste in Antike und Frühaufklärung. Tübingen: de Gruyter 2003, S. 531–538. Bottici, Chiara: A Philosophy of political myth. Cambridge: University Press 2007. Blumenberg, Hans: Arbeit am Mythos, in: Manfred Fuhrmann (Hg.): Terror und Spiel. Probleme der Mythenrezeption. Frankfurt a. M.: Fink 1979, S. 291–326. 38 | S. dazu auch S. Wodianka/J. Ebert: Inflation der Mythen, S. 14ff.

Mythos und Tabula rasa

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Tabula rasa in Polen Zur Deutungsmachtpolitik in demokratischen Ordnungen André Brodocz

1.  E inleitung : Tabul a

rasa in

P olen

Ende 2015 protestierten in Polen immer wieder mehrere zehntausend Menschen gegen die erst wenige Monate zuvor gewählte Regierung. Weil allerdings die Wahl von der bis dahin oppositionellen Partei gewonnen wurde, erscheinen diese Proteste auf den ersten Blick überraschend. Denn solche Regierungswechsel werden in der Regel eher von Protesten vor als nach der Wahl begleitet. In diesem Fall fand die Wahl am 25. Oktober 2015 statt.1 An ihr nahmen 50,92 Prozent der in Polen wahlberechtigten Bürgerinnen und Bürger teil. Sie wurde von der Partei »Recht und Gerechtigkeit« (»Prawo i Sprawiedliwość«, kurz: PiS) gewonnen, die mit 37,58 Prozent der abgegebenen Stimmen zur stärksten Fraktion im polnischen Parlament wurde. Obwohl sie damit deutlich unter 50 Prozent der Stimmen blieb, verfügt die PiS mit 235 von 460 Sitzen dennoch über eine absolute Mehrheit, weil das polnische Wahlrecht die stärkste Fraktion mit zusätzlichen Abgeordneten prämiert. Polen steht mit dieser Mehrheitsprämie nicht allein, auch in Griechenland und Italien gibt es derzeit vergleichbare Zusatzmandate für die Wahlgewinner. Die Proteste in Polen entzündeten sich nicht am Wahlrecht oder dem dadurch begünstigten Ergebnis für die PiS, sondern an einer Reihe von Gesetzesänderungen, die die neue Regierung zeitnah nach ihrem Antritt auf den Weg gebracht hat. Diese betreffen zum einen das Verfassungsgericht, vor allem dessen Zusammensetzung, Kompetenzen und Verfahrensweisen; zum anderen sind von diesen Gesetzesänderungen die öffentlich rechtlichen Medienanstalten betroffen, deren Aufgaben geändert und deren Personal ausgetauscht 1 | Vgl. zur Wahl und den Wahlergebnissen den Abschlussbericht der OSCE: Poland, Parliamentary Elections, 25 October 2015: Final Report, Warsaw 2016 (http://www.osce. org/odihr/elections/poland/217961, 4. Januar 2017).

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werden soll. Diese Gesetzesänderungen sind der Anlass für die seit der Wahl stattfindenden Proteste. Und sie sind natürlich auch der Anlass für die Kritik der EU, die mit diesen neuen Gesetzen in Polen den Rechtsstaat gefährdet sieht. Diese Geschehnisse in Polen dienen mir im Folgenden als Beispiele für Tabula rasa als Deutungsmachtpolitik, und zwar als Deutungsmachtpolitik in konsolidierten Demokratien.2 Meine erste These ist deshalb, dass tabula rasa nicht nur eine Deutungsmachtpolitik ist, die sich auf Gründungsphasen beschränkt, um den Weg für einen demokratischen Neuanfang frei zu machen, sondern dass tabula rasa als Deutungsmachtpolitik auch in konsolidierten Demokratien gemacht wird. Meine zweite These ist, dass Demokratien durch tabula rasa als Deutungsmachtpolitik weder generell gefördert noch generell gefährdet werden. Vielmehr kommt es darauf an, womit tabula rasa gemacht wird und wie sich diese Deutungsmachtpolitik auf das Deutungskonfliktmanagement der demokratischen Ordnung im Einzelnen auswirkt. Im zweiten Schritt werde ich deshalb zuerst zeigen, wie in Demokratien als dynamischen Ordnungen Deutungsmacht überhaupt generiert wird und in welcher Form die damit verbundenen Deutungskonflikte in diesen demokratischen Ordnungen ausgetragen werden. Ein zentrales Ergebnis wird sein, dass dabei zwischen Deutungsmachtpolitik unter unsicheren symbolischen Bedingungen und Deutungsmachtpolitik unter schwachen bzw. starken symbolischen Bedingungen unterschieden werden muss. Vor diesem Hintergrund werde ich auf tabula rasa als Deutungsmachtpolitik eingehen. Ich werde im dritten Schritt zeigen, wie sich Deutungsmachtpolitiken unter unsicheren, schwachen und starken symbolischen Bedingungen unterscheiden und in welcher Variante hier jeweils tabula rasa als Deutungsmachtpolitik vorliegt, wobei mir die eingangs angeführten Entwicklungen in Polen wieder als Illustration dienen werden. Zum Schluss werde ich noch einen kurzen Ausblick darauf werfen, inwiefern demokratische Ordnungen damit in einem spezifischen Verhältnis zur tabula rasa als Deutungsmachtpolitik stehen.

2 | Ich werde in diesem Rahmen keine vollständige Analyse der polnischen Situation nach der Parlamentswahl 2015 liefern können. Mir dienen die Entscheidungen und Praktiken der regierenden PiS hier nur als Illustration meines theoretischen Arguments. Eine erste Analyse, die diese polnische Situation vor allem historisch kontextualisiert, findet sich bei V. Trappmann: Polnische Zerreißproben.

Tabula rasa in Polen

2.  D eutungsmacht

in dynamischen

O rdnungen 3

2.1  Die dynamische Konstitution politischer Ordnungen Ordnungen geben dem Handeln Orientierung. Sobald sich Handelnde an einer Ordnung orientieren, gehen sie deshalb wie selbstverständlich davon aus, dass diese Ordnung existiert. Indem sie sich an einer Ordnung orientieren, bestätigen sie mit dem Vollzug ihrer Handlung immer auch, dass diese Ordnung tatsächlich existiert. Insofern ist es ihre Handlung, die ihnen mit ihrer Verknüpfung die Existenz dieser Ordnung in actu beweist  – zumindest für den Moment. Dabei kann sich das Handeln allerdings allein schon wegen des Komplexitätsgefälles zwischen der Ordnung und einer einzelnen Handlung nie auf die Ordnung im Ganzen beziehen. Die Verknüpfung des Handelns mit der Ordnung erfolgt deshalb damit, dass sich das Handeln im Einklang mit der Vorstellung vollzieht, durch die die Einheit der Ordnung symbolisch zum Ausdruck gebracht wird: ihre Einheitsvorstellung.4 Allerdings finden Handelnde nicht nur bei einer einzigen Ordnung Orientierung. Ihnen stehen immer verschiedene Ordnungen zur Verfügung, weshalb sie sich stets auch an einer anderen Ordnung orientieren und ihre Handlungen auch anders verknüpfen könnten.5 Max Weber zufolge bevorzugen Handelnde aus dieser Pluralität schließlich jene Ordnungen, denen sie jeweils legitime Geltung zuschreiben.6 Wer sich beim Handeln an einer legitimen Ordnung orientiert, bestätigt nicht nur vor sich selbst die Existenz dieser Ordnung, sondern erwartet zugleich von den anderen, dass sie sich wegen ihrer Legitimität an der gleichen Ordnung orientieren sollen. Insbesondere in politischen Ordnungen vollzieht sich dieses Handeln zudem vor den Augen Dritter, die selbst gar nicht agieren, sondern zuschauen. Wie Jeffrey Edward Green gezeigt hat, ist dieses Zuschauen bei der Analyse politischer Ordnungen allein schon deshalb nicht zu vernachlässigen, weil die meisten Bürgerinnen und Bürger ihre Erfahrungen mit der politischen Ordnung überwiegend dadurch machen, dass sie den politischen Eliten beim Handeln zuschauen.7 Damit verbinden sie andere Erwartungen, und sie erleben die politische Ordnung auch anders als die politischen Eliten. Für eine 3 | Vgl. hierzu ausführlich A. Brodocz: Die Dynamisierung demokratischer Ordnungen. 4 | Zugleich ist dies auch die Idee, die das Handeln leitet. Die Einheitsvorstellung kann deshalb aus der Perspektive des Handelns auch als ihre Leitidee begriffen werden. Siehe so etwa im Anschluss an Maurice Haurious Begriff der ›idée directrice‹ bei K.-S. Rehberg: Symbolische Ordnungen. 5 | Vgl. A. Anter: Die Macht der Ordnung, S. 86–94. 6 | Vgl. M. Weber: Wirtschaft und Gesellschaft, S. 16–19. 7 | Vgl. J. E. Green: The Eyes of the People.

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politische Ordnung wird dieses Erleben der Zuschauer allerdings erst dann als okulare Praktik relevant, wenn sie ihr zuschauend Erlebtes auch in einen kommunizierten Zusammenhang mit der politischen Ordnung bringen, die sie mit anderen teilen und sich so an dieser Ordnung orientieren.8 Eine Ordnung kann auf diese Weise durchaus Unterschiedlichem Orientierung bieten: dem Handeln und dem Zuschauen. Darüber hinaus wird auch nicht immer auf die gleiche Art und Weise gehandelt. Eine Ordnung bietet im Gegenteil Handlungen eine Orientierung, die durchaus sehr verschieden sind. Die Einheitsvorstellung einer Ordnung ist deswegen mit unterschiedlichen Handlungen verknüpft. Ebenso sind die Gründe verschieden, weswegen Handlungen mit derselben Einheitsvorstellung verknüpft werden. In dieser Hinsicht sind hegemoniale Einheitsvorstellungen deshalb auch immer »incompletely theorized agreements«.9 In der Folge wird die Einheitsvorstellung einer Ordnung auf diese Weise äquivalent zu unterschiedlichen Handlungen und deren Begründungen. Für die Einheitsvorstellung bedeutet dies, dass sie durch unterschiedliche Verknüpfungen selbst unterschiedslos gegenüber Unterschiedlichem wird. Anders gesagt: Indem eine Einheitsvorstellung mit verschiedenen Handlungen äquivalenziell verbunden wird, büßt diese Einheitsvorstellung Differenzen ein. Dies sind genau die Differenzen, aus denen sie ihre eigene Bedeutung generieren kann. Poststrukturalistisch gesprochen wird die Einheitsvorstellung zu einem Signifikanten ohne Signifikat, zu einem »leeren Signifikanten«10 oder wie ich bevorzuge: zu einer deutungsoffenen Einheitsvorstellung. Eine Einheitsvorstellung ist aber nicht schon an sich deutungsoffen. Vielmehr wird sie in ihrer Bedeutung erst durch die Verknüpfungen mit verschiedenen Handlungen immer wieder neu geöffnet. Eine politische Ordnung ist deshalb zwingend dynamisch konstituiert. Die Deutungsoffenheit ihrer Einheitsvorstellung ist wiederum ein emergenter Effekt, der durch die Dynamik der Deutungsöffnung möglich wird. Aus der Außen-Perspektive erscheint eine Einheitsvorstellung also als deutungsoffen, gerade weil ihr aus der Binnenperspektive beteiligter Akteure durchaus Bedeutung, wenn auch verschiedene, eingeräumt wird. Für die Orientierungsleistung von Ordnungen ist diese Binnenperspektive entscheidend, denn ohne diese binnenperspektivisch unterstellte Bedeutung der Einheitsvorstellung würden sich Handelnde auch kaum dazu motivieren lassen, sich an der von ihr symbolisierten Ordnung zu orientieren. Die Unterschiedlichkeit der Deutungen bleibt allerdings nicht zwingend latent. Sie kann sich für die Handelnden manifestieren, sobald 8 | Vgl. dazu ausführlich A. Brodocz: Deutungskämpfe vor den Augen des Volkes. 9 | C. R. Sunstein: Legal Reasoning and Political Conflict, S. 35ff; ders., One Case at a Time, S. 61. 10 | E. Laclau: Emancipation(s), S. 36ff.

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sie kommuniziert wird. Dann kommt es zu Deutungskonflikten um die Bedeutung der Einheitsvorstellung. Dies sind zugleich Konflikte um Deutungsmacht,11 denn wer über die Bedeutung der legitimen Ordnung entscheidet, besitzt darin eine Chance, seinen Willen auch gegen das Widerstreben anderer durchzusetzen.

2.2  Deutungskonflikte und Deutungsmacht Ordnungen sind auf solche Deutungskonflikte und auf Kämpfe um Deutungsmacht durchaus angewiesen, denn sie treiben die Deutungsöffnung der Einheitsvorstellung weiter voran und halten die Ordnung so in der Zeit. Zugleich müssen die Handelnden stets von der Eindeutigkeit dieser Einheitsvorstellung überzeugt bleiben, obwohl sie gerade in der Zeit als deutungsoffen erlebbar werden. Diese Dynamik wird durch die okulare Praktik des Zuschauens noch verstärkt. Wenn die Bürgerinnen und Bürger zuschauen, wie die politischen Eliten um die Deutungsmacht über die Einheitsvorstellung ringen, und wenn die Bürger ihre individuellen Erfahrungen dieses Zuschauens kommunizieren, dann steigt die Wahrscheinlichkeit, dass sie in der Zusammenschau den emergenten Effekt der Deutungsöffnung einvernehmlich deuten  – und zwar als Indiz oder gar Beweis für eine »beliebig deutbare« und damit desorientierende Einheitsvorstellung. Auf den ersten Blick scheint damit nicht nur der Verfall von Ordnungen wie vorprogrammiert, sondern schon ihre Verstetigung als wenig wahrscheinlich. Dennoch behaupten sich Ordnungen durchaus in der Zeit. Wie aber kann eine Einheitsvorstellung auf Dauer eindeutig und deutungsoffen sein? Wie kann diese paradox erscheinende Spannung ausgehalten werden? Dies wird nachvollziehbar, wenn der Prozess der Deutungsöffnung noch einmal präzisiert wird. Entscheidend dabei ist, dass der Sinn, der einer Einheitsvorstellung mit jeder Handlung zugeschrieben wird, nicht eindimensional angelegt ist. Nur unter dieser Prämisse wäre nämlich eine Einheitsvorstellung entweder eindeutig oder deutungsoffen. Wird jedoch etwa mit Niklas Luhmann davon ausgegangen, dass Sinn dreidimensional angelegt ist, dann stellt sich die paradoxe Spannung anders dar. Dreidimensional heißt, dass Handlungen in sachlicher, sozialer und zeitlicher Hinsicht einen jeweils unterschiedlichen Sinn ergeben. »Sachlich« liegt der Sinn einer Handlung darin, dass sie sich von anderen Handlungen unterscheidet. »Sozial« ist ihr Sinn, weil sie auf verschiedene Art und Weise erlebt werden kann. »Zeitlich« ist ihr Sinn, weil sich Vergangen-

11 | Vgl. A. Brodocz: Die Macht der Judikative, S. 98ff.

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heit und Zukunft mit jeder Handlung verändern und dementsprechend neu erscheinen können.12 Zentral für die Deutungsöffnung einer Einheitsvorstellung ist vor allem die soziale Sinndimension. Die Handelnden und Zuschauenden müssen ihre politische Ordnung auf eine möglichst vielfältige Weise erleben können. Nur so bleibt eine Ordnung mit den unterschiedlichen Interessen und Präferenzen überhaupt kompatibel, und nur so kommt der Deutungsöffnungsprozess überhaupt in Gang. Deutungskonflikte spielen sich zunächst aber erst in der Sachdimension ab, denn es sind Konflikte darüber, was die Einheitsvorstellung ausmacht. Dieser Streit kann auf die Ordnung sowohl stabilisierend als auch destabilisierend wirken. Er stabilisiert, wenn er den Deutungsöffnungsprozess am Laufen hält; er destabilisiert, sobald er den beteiligten Parteien vor Augen führt, dass die Sache der Einheitsvorstellung – ihre Sache – etwas ist, unter der jeder offensichtlich etwas anderes versteht. Jetzt droht die Reflexion der Deutungsoffenheit, die Deutungsoffenheit der Einheitsvorstellung wird manifest. Der Gehalt der Ordnung erscheint fortan beliebig und austauschbar. Die Handelnden können so nicht mehr erkennen, was daran ihre Sache ist. Sie werden sich womöglich sogar über die Bedeutung ihrer Ordnung einig: Sie ist »bedeutungslos«.13 Für die Verstetigung politischer Ordnungen kommt es deshalb ganz wesentlich darauf an, wie sie den Umgang mit ihren Deutungskonflikten handhaben. Eine Variante ist das konzentrierte Deutungskonfliktmanagement.14 Hier gibt es eine anerkannte Autorität, die die Deutungskonflikte qua Entscheidung beendet. Die Attraktivität einer solchen »Konfliktautorität«15 beruht auf der Unterstellung, dass »sie weiß, was Sache ist«. Die Funktionalität dieser Autorität liegt jedoch darin, dass sie überhaupt erst fixiert, was Sache ist. Es geht also im konzentrierten Deutungskonfliktmanagement darum, den sachlichen Sinn der Einheitsvorstellung festzulegen. Das schafft jenes Maß an Eindeutigkeit, das für die individuelle Überzeugung von der Existenz der Ordnung von Nöten ist. Gleichzeitig geht es darum, den sozialen Sinn dieser sachlichen Fixierung nicht vorzuschreiben. Das lässt unterschiedliches Erleben in jenem Maß zu, wie es für die fortgesetzte Orientierung an der Ordnung benötigt wird. Existiert eine derartige autoritative Deutungsinstanz, dann ist das Deutungskonfliktmanagement dementsprechend dort konzentriert. Deutungskonflikte verwandeln sich hier in Deutungskonkurrenzen um die Gunst dieser Konflikt12 | Vgl. N. Luhmann: Sinn als Grundbegriff der Soziologie, S. 46ff.; ders., Soziale Systeme, S. 111ff. 13 | Siehe hierzu auch A. Brodocz: Töten und Sterben für die Gemeinschaft. 14 | Zur Unterscheidung von diffusem und konzentriertem Deutungskonfliktmanagement vgl. auch A. Brodocz: Kampf um Deutungsmacht. 15 | G. Frankenberg: Die Verfassung der Republik, S. 230.

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autorität. An die Stelle der direkten Konfrontation rückt das indirekte Ringen um die Entscheidung eines Dritten.16 Die Konzentration von Deutungsmacht bei einer autoritativen Deutungsinstanz ist aber nur eine Möglichkeit, wie Gesellschaften mit diesen Deutungskonflikten umgehen können. Eine andere Variante ist das diffuse Deutungskonfliktmanagement. Es zeichnet sich dadurch aus, dass es gerade keine Institution gibt, die autoritativ über die Bedeutung dieser Einheitsvorstellung im Konfliktfall entscheidet. Hier werden die Deutungskonflikte weiterhin direkt ausgetragen; unter Umständen kämpfen gleichzeitig verschiedene Institutionen und Akteure darum, als Konfliktautorität anerkannt zu werden. Wenn es dazu kommt, transformiert sich das Deutungskonfliktmanagement von einem diffusem zu einem konzentrierten.

3.  D eutungsmachtpolitik 3.1  Tabula rasa unter unsicheren symbolischen Bedingungen Dort, wo sie institutionalisiert sind, entscheiden autoritative Instanzen nicht nur Deutungskonflikte, sondern sie üben auch Deutungsmacht aus. Diese Durchsetzung von Deutungsmacht ist ein Aspekt von Deutungsmachtpolitik. Dort, wo diese Instanzen fehlen, kämpfen Akteure und Institutionen um diese Deutungsmacht. Diese Herstellung von Deutungsmacht ist ein weiterer Aspekt von Deutungsmachtpolitik. Bei der Analyse von Deutungsmachtpolitiken muss berücksichtigt werden, dass keine Institution an sich über Deutungsmacht verfügt. Schon deshalb ist die Deutungsmacht einer Institution nicht allein eine Frage ihrer Funktionen und Mittel. Entscheidend sind in erster Linie die nötigen symbolischen Bedingungen. Diese sind entweder sicher oder unsicher. Unsicher sind die symbolischen Bedingungen, wenn es keine gemeinsam anerkannte Einheitsvorstellung gibt. Typisch hierfür sind historische Phasen der Gründung, der Transformation oder Revolution von Ordnungen, aber auch Phasen der Krise, des Verfalls oder des Scheiterns von Ordnungen. Ist eine Einheitsvorstellung dagegen etabliert, dann sind die symbolischen Bedingungen der Deutungsmacht sicher. Typisch hierfür sind konsolidierte Ordnungen. Für eine Institution, die unter diesen Bedingungen als autoritative Instanz anerkannt ist, sind dies zugleich starke symbolische Bedingungen. Dagegen sind dieselben symbolischen Bedingungen für alle anderen um die Deutungsmacht konkurrierenden Institutionen in diesem Fall zugleich schwach.

16 | Vgl. G. Simmel: Soziologie, S. 124ff.; sowie daran anschließend T. Werron: Direkte Konflikte, indirekte Konkurrenzen.

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Weil eine Einheitsvorstellung erst durch die Handlungen, die sich mit ihr verknüpfen, ihre konstitutive Position in der Ordnung einnimmt, sind die symbolischen Bedingungen von Deutungsmacht zwar grundsätzlich in der Praxis veränderbar. Dennoch sind die Erfolgsaussichten einer Deutungsmachtpolitik deshalb nicht grundsätzlich identisch. Sie sind im Gegenteil davon abhängig, ob sie unter unsicheren oder unter starken bzw. schwachen symbolischen Bedingungen erfolgen.17 Deutungsmachtpolitik lässt sich aber nicht nur hinsichtlich ihrer symbolischen Bedingungen differenziert analysieren, sondern auch in ihrer Ausübung, also der Deutungspraxis: als Deutungsmachtpolitik, die auf die Einheitsvorstellung zielt, als Deutungsmachtpolitik, die auf die Instanz des autoritativen Deuters zielt sowie als Deutungsmachtpolitik, die auf einzelne Deutungen zielt. Unter unsicheren symbolischen Bedingungen wird danach Deutungsmachtpolitik betrieben, wenn es an einer hegemonialen Einheitsvorstellung fehlt und verschiedene Ordnungsvorstellungen darum konkurrieren, die Einheit der Ordnung zu symbolisieren. Deutungsmachtpolitik besteht deshalb unter diesen symbolischen Bedingungen vor allem im offenen Kampf darum, mit welcher Einheitsvorstellung die gemeinsame Ordnung symbolisiert werden soll. Ihr Erfolg hängt dabei maßgeblich von den Gelegenheiten ab, an dem Diskurs über die gemeinsame Einheitsvorstellung teilnehmen zu können. Maßgeblich mitbestimmt werden diese Gelegenheiten von den Funktionen und Kompetenzen der um Deutungsmacht konkurrierenden Institutionen und Akteure. Deutungsmachtpolitik zielt unter unsicheren symbolischen Bedingungen deshalb auch auf das künftige Deutungskonfliktmanagement. Das umfasst den Zugang zu Institutionen wie verfassunggebenden Versammlungen, die für den Entwurf der künftigen Staatsform verantwortlich sind bzw. darüber entscheiden. Ist dieser Zugang vorhanden, dann geht es in erster Linie um die Schaffung einer guten Ausgangsposition im künftigen Deutungskonfliktmanagement, d. h. um die Schaffung von Strukturen, die Gelegenheiten zur Genese eigener Deutungsmacht verschaffen. Sind diese Gelegenheiten vorhanden, dann lässt sich Deutungsmachtpolitik unter unsicheren symbolischen Bedingungen in der Deutungspraxis praktizieren. Da es an einer hegemonialen Einheitsvorstellung fehlt, geht es dann vor allem um Deutungen, mit denen eine präferierte Ordnungsvorstellung durchgesetzt werden soll. Hier kommt häufig die zeitliche Sinndimension zum Zuge, indem etwa Zukünfte entworfen werden, die sich mit der Etablierung 17 | Zur Unterscheidung von starken, schwachen und unsicheren symbolischen Bedingungen von Deutungsmacht vgl. A. Brodocz: Die Macht der Judikative, S. 116ff. Siehe hierzu am Beispiel von Verfassunggebungen auch ders.: Verfassunggebung in konsolidierten Demokratien und Postkonfliktgesellschaften.

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der unterstützten Ordnungsvorstellung eröffnen würden. Ebenso wird die Zukunft schwarzgemalt für die Ordnungsvorstellungen, deren Durchsetzung verhindert werden soll. Als Deutungsmachtpolitik findet tabula rasa unter diesen symbolischen Bedingungen vor allem im Kampf um die hegemoniale Einheitsvorstellung statt. Es gibt keine »Stunde Null« in dem Sinne, dass eine Ordnung aus dem Nichts heraus »neu« gegründet wird. »Neue« Ordnungsvorstellungen müssen deshalb auch gegen alte Ordnungsvorstellungen durchgesetzt werden. Tabula rasa ist hier eine Deutungsmachtpolitik, mit der alle Ordnungsvorstellungen diskreditiert werden, die sich als »alt« und »überholt« oder als »Ideen aus finsteren Zeiten« darstellen lassen. Da gerade die Repräsentationsansprüche der konfligierenden Eliten noch aus ihrer Deutungsautorität über diese alten Ordnungsvorstellungen herrühren, ist diese Art der tabula rasa aber kein Selbstgänger, was sich etwa gut bei der Deutungsmachtpolitik internationaler Administrationen beobachten lässt, die zur Verwaltung von Postkonfliktgesellschaften eingesetzt wurden.18

3.2  T abula rasa unter schwachen symbolischen Bedingungen: Die Deutungsmachtpolitik der PiS Im Unterschied zu Postkonfliktgesellschaften findet Deutungsmachtpolitik in konsolidierten Demokratien, d. h. in demokratischen Ordnungen, die über eine hegemoniale Einheitsvorstellung verfügen, unter dementsprechend sicheren symbolischen Bedingungen statt. Während sich unsichere symbolische Bedingungen dadurch auszeichnen, dass sie allen um Deutungsmacht konkurrierenden Akteuren und Institutionen gleichermaßen entgegenkommen wie entgegenstehen, können sichere symbolische Bedingungen sich für einige als starke symbolische Bedingungen darstellen, während sie für die meisten anderen dann schwach erscheinen. Für die Deutungsmachtpolitik von Akteuren und Institutionen unter sicheren symbolischen Bedingungen macht dies einen gravierenden Unterschied. Für Akteure und Institutionen, die keine – oder im Vergleich zu anderen nur eine sehr eingeschränkte – Anerkennung als autoritative Deutungsinstanz für Deutungskonflikte um die hegemoniale Einheitsvorstellung genießen, stellen sich diese symbolischen Bedingungen als schwach dar. Eine Deutungsmachtpolitik, die ausdrücklich gegen die hegemoniale Einheitsvorstellung gerichtet ist, ist für diese Akteure und Institutionen wenig aussichtsreich, weil sie sich so außerhalb der Ordnung positionierten und dann als Feinde der Ordnung exkludieren ließen. Die Deutungsmachtpolitik von Akteuren und Institutionen, die nur über schwache symbolische 18 | Vgl. T. Bonacker: Politische Autorität in Nachkriegsgesellschaften; ders. et al.: Deutungsmacht in Nachkriegsgesellschaften.

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Bedingungen für die Genese eigener Deutungsmacht verfügen, zielt deshalb in der Regel auf einen inkrementellen Wandel der symbolischen Bedingungen, d. h. auf eine schrittweise Ersetzung der derzeit hegemonialen Einheitsvorstellung durch eine neue. Dazu muss die neue Ordnungsvorstellung mit der hegemonialen Einheitsvorstellung wiederholt miteinander äquivalenziell verknüpft werden, und zwar solange, bis sich die Handelnden auch allein an der neue Einheitsvorstellung orientieren können. In Polen finden wir bei der seit 2016 regierenden PiS derzeit Beispiele dafür, wie auf diese Weise Deutungsmachtpolitik betrieben wird. So schließen deren Vertreter mit ihren Ordnungsvorstellungen durchaus an die hegemoniale Einheitsvorstellung »Demokratie« an, doch setzen sie ihre Orientierung an der Demokratie stets mit der Orientierung am Willen des polnischen Volkes oder der polnischen Nation gleich. Der im Frühjahr 2015 neu gewählte Präsident Duda, der nach seiner Wahl seine PiS-Mitgliedschaft als Ausdruck seiner parteipolitischen Neutralität als Präsident niederlegte, rechtfertigte seine Entscheidung, nur die vom neuen Parlament gewählten Verfassungsrichter zu vereidigen, etwa damit, dass nur das neue Parlament den aktuellen »Volkswillen« ausdrücke.19 Solche Verknüpfungen wiederum erlauben es, Handlungen als demokratisch legitim darzustellen, die sich fortan nur an der Einheitsvorstellung eines polnischen Volkswillens orientieren. Die Reform des Verfassungsgerichtsgesetzes verteidigte ein PiS-Abgeordneter im Parlament dann auch damit, dass »über dem Recht [ …] das Wohl des Volkes [steht]«.20 Und wer dann von diesem Volkswillen abweicht, kann ebenso »legitim« als Pole der »schlimmsten Sorte« kategorisiert werden – so wie dies Jarosław Kaczyński, der Vorsitzende der PiS, mit den Kritikern dieses Gesetzes getan hat.21 Deutungsmachtpolitik unter schwachen symbolischen Bedingungen betrifft aber nicht nur die Einheitsvorstellung, sondern auch das Deutungskonfliktmanagement. Politische Ordnungen bieten für diese Deutungsmachtpolitik mit ihrer Trennung von Amt und Person gute Ansatzpunkte. Autoritative Deutungsinstanzen sind institutionalisiert und verleihen so Ämtern Deutungsmacht. Deutungsmachtpolitik als Besetzung dieser Ämter mit neuen Personen zielt also darauf, sich die starken symbolischen Bedingungen dieser Ämter zunutze zu machen. Auch dafür bietet die Deutungsmachtpolitik der PiS seit ihrer Regierungsübernahme 2015 in Polen mit den Konflikten um die Besetzung der Richterämter am Verfassungsgericht Anschauungsmaterial. 19 | F.A.Z.: Vgl. »Zehntausende Polen protestieren gegen die Regierung«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 14. Dezember 2015, S. 2. 20 | Wehner, Markus: »Ein Polen ganz nach seinem Geschmack«, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 20. Dezember 2015, S. 9. 21 | Veser, Reinhard: »In Polen eskaliert der Streit über das Verfassungsgericht«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 17. Dezember 2015, S. 6.

Tabula rasa in Polen

Wie bereits erwähnt, verweigerte Präsident Duda die Vereidigung von fünf Verfassungsrichtern mit Personen, die noch das alte Parlament gewählt hatte. Statt ihrer vereidigte er die fünf Personen, die das neue von der PiS dominierte Parlament für diese Ämter gewählt hatte.22 Zugleich verabschiedete das gerade konstituierte Parlament ein neues Verfassungsgerichtsgesetz, mit dem die Amtszeiten des aktuellen Vorsitzenden und seines Stellvertreters nach drei Monaten vorzeitig beendet werden können und sich somit mit neuen Personen besetzen lassen.23 Auch die Besetzung leitender Posten in öffentlich-rechtlichen Medienanstalten hat sich die PiS auf eine ähnliche Weise mit einem neuen Mediengesetz erschaffen und sogleich eine Person ins Amt gebracht, die sich in der Vergangenheit selbst als » Kaczyńskis Bullterrier« bezeichnet hatte.24 Ebenso hat die PiS für den Staatsdienst ein weiteres Gesetz vorbereitet, mit dem die Leiter staatlicher Behörden nicht nur innerhalb von dreißig Tagen abgesetzt, sondern neue Leiter fortan direkt von der Regierung ernannt werden können.25 Aber nicht nur die Platzierung neuer Personen in deutungsmächtige Ämter ist unter schwachen symbolischen Bedingungen eine deutungsmachtpolitische Option. Auch das Deutungskonfliktmanagement kann zum Gegenstand von Deutungsmachtpolitik unter diesen symbolischen Bedingungen werden, denn ein konzentriertes Deutungskonfliktmanagement begünstigt jene konkurrierenden Akteure und Institution, die als autoritative Deutungsinstanz agieren, weshalb für diese die symbolischen Bedingungen besonders stark sind. Deshalb kann Deutungsmachtpolitik ebenso darauf abzielen, die bisherige Konfliktautorität zu schwächen und so das Deutungskonfliktmanagement grundlegend zu transformieren. Auch dafür findet sich in Polen nach dem Wahlsieg der PiS 2015 ein Beispiel im bereits angeführten neuen Verfassungsgerichtsgesetz. Mit diesem Gesetz wird die Handlungsfähigkeit des Verfassungsgerichts auch dadurch erschwert, dass künftig mindestens dreizehn von fünfzehn Richtern an einem Verfahren mitwirken müssen. Zudem müssen die Verfahren fortan in der Reihenfolge des Eingangs behandelt werden – angesichts der Fülle an Verfahren wären die aktuellen Verfassungskonflikte um die neuen Gesetze dann wohl erst in einigen Jahren an der Reihe. Schließlich werden nicht nur temporale Verschleppungen von Verfahren möglich, sie werden auch prozedural erschwert, denn nach dem neuen Ver22 | ul.: »Sejm für neue Verfassungsrichter«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 20. November 2015, S. 5. 23 | Ebd. 24 | ul.: »Neuer Fernsehchef in Polen ernannt«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 9. Januar 2016, S. 5. 25 | rve.: »Zehntausende Polen protestieren gegen Regierung«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 21. Dezember 2015, S. 2.

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fassungsgerichtsgesetz braucht es stets eine Zweidrittelmehrheit der Richter, um ein Gesetz als verfassungswidrig zu verurteilen.26 Unter schwachen symbolischen Bedingungen vollzieht sich Deutungsmachtpolitik aber auch durchaus in der Deutungspraxis. Dabei geht es vor allem darum, an einzelnen Entscheidungen die Autorität der Instanz zu schwächen, an der Deutungsmacht konzentriert ist. Dafür können deren Ansprüche auf Verbindlichkeit schlicht abgelehnt werden. Das Handeln der autoritativen Deutungsinstanz kann so als eine gescheiterte Autoritätsprobe dargestellt werden. Auch für diese Variante der Deutungsmachtpolitik bietet die neue PiS-Regierung in Polen einige Beispiele. So verschleppte die Regierung die Veröffentlichung des Verfassungsgerichtsurteils über das neue Verfassungsgerichtsgesetz und ließ zudem ausdrücklich offen, ob sie es überhaupt befolgt, weil sie seine Rechtmäßigkeit bezweifelt.27 Für den Justizminister ist das Urteil bereits unrechtmäßig zustande gekommen, weshalb er ein Disziplinarverfahren gegen den Vorsitzenden des Verfassungsgerichts fordert.28 Der ebenfalls von der PiS gestellte Parlamentspräsident pflichtet dem damit bei, dass das Verfassungsgericht sich mit dieser Entscheidung selbst »kompromittiert« habe.29 Schon während das Gericht verhandelte, wurde ihm die dafür nötige Rechtmäßigkeit abgesprochen. PiS-Abgeordnete bezeichneten die verfassungsgerichtliche Beratung über das Verfassungsgerichtsgesetz als ein »geselliges Beisammensein«.30 Die polnischen Beispiele deuten mehr als deutlich darauf hin, dass tabula rasa als Deutungsmachtpolitik auch unter schwachen symbolischen Bedingungen zielführend sein kann. Die Beispiele zeigen auch, dass dies aber weniger die Einheitsvorstellung betrifft, denn deren Stelle ist besetzt. Mit der Einheitsvorstellung kann nicht ordnungsimmanent tabula rasa gemacht werden. Vielmehr muss an sie angeschlossen werden, um sie dann gegebenenfalls langfristig inkrementell zu ersetzen. Unter schwachen symbolischen Bedingungen betrifft tabula rasa als Deutungsmachtpolitik deshalb primär das Deutungskonfliktmanagement. Tabula rasa kann zum einen mit den Personen gemacht werden, die die Ämter der autoritativen Deutungsinstanzen bekleiden. Tabula rasa kann zum anderen aber auch mit der Struktur des konzen-

26 | Ebd. 27 | Veser, Reinhard: »In Polen eskaliert der Streit über das Verfassungsgericht«. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 17. Dezember 2015, S. 6. 28 | ul.: »Verfassungsrichter in Polen gegen neue Richter«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 4. Dezember 2015, S. 5. 29 | Ebd. 30 | Schuller, Konrad: »Polen könnte sämtlichen Rundfunkmitarbeitern kündigen«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 8. Januar 2016, S. 4.

Tabula rasa in Polen

trierten Deutungskonfliktmanagements gemacht werden, indem es in einen Zustand des diffusen Deutungskonfliktmanagements zurückgesetzt wird.

3.3  Tabula rasa unter starken symbolischen Bedingungen Stark sind die symbolischen Bedingungen für die Instanzen, die als autoritative Deuter einer hegemonialen Einheitsvorstellung anerkannt sind. Ihre Deutungsmacht hängt dementsprechend vor allem vom Erhalt der für sie starken symbolischen Bedingungen ab. Deutungsmachtpolitisch bedeutet dies, die hegemoniale Einheitsvorstellung abzusichern, ihren Geltungsanspruch zu artikulieren und zu rechtfertigen. Ebenso kommt es darauf an, die Geltungsansprüche konkurrierender Ordnungsvorstellungen entweder nur im Einklang mit der hegemonialen Einheitsvorstellung zuzulassen oder sie deutlich abzuwehren. Verstetigung kennzeichnet ebenso die Deutungsmachtpolitik unter starken symbolischen Bedingungen im Hinblick auf das Deutungskonfliktmanagement. Zum einen geht es darum, das konzentrierte Deutungskonfliktmanagement zu verfestigen, indem es etwa rechtlich kodifiziert oder gar als wesentlicher Bestandteil der Einheitsvorstellung behauptet wird. Zum anderen geht es darum, die Stelle der autoritativen Instanz im konzentrierten Deutungskonfliktmanagement weiterhin selbst zu besetzen, indem diese Instanz sich etwa weitere Kompetenzen aneignet und sich so mehr Gelegenheiten schafft, als Konfliktautorität agieren zu können, oder indem sie sich als exklusive Stimme der Einheitsvorstellung darstellt, durch die allein der Geltungsanspruch der Einheitsvorstellung überhaupt zur Sprache kommen kann. Unter starken symbolischen Bedingungen kommt der Deutungspraxis als Medium der Deutungsmachtpolitik eine herausragende Rolle zu, denn im konzentrierten Deutungskonfliktmanagement ist die Entscheidung von Deutungskonflikten das Kerngeschäft einer autoritativen Deutungsinstanz. Die Orientierung an der Einheitsvorstellung wird dabei stets explizit gemacht. Performativ wird so in der Deutungspraxis immer auch Deutungsmachtpolitik zur Verstetigung der Einheitsvorstellung betrieben. Ebenso bietet jeder Deutungskonflikt eine Gelegenheit, ihn für Deutungsmachtpolitik im Hinblick auf die Verfestigung des konzentrierten Deutungskonfliktmanagements zu nutzen, indem beispielsweise vor der Entscheidung zunächst grundsätzliche Fragen seiner Entscheidbarkeit entschieden werden müssen. Dies sind häufig Fragen, die ihrerseits neue Felder für Deutungskonflikte generieren, die danach allein wieder von der autoritativen Deutungsinstanz entschieden werden können. Dieser Nachschub an Deutungskonflikten ist nicht zu unterschätzen, denn auch der grundsätzliche Bedarf an Konfliktautorität darf durch die Deutungspraxis nicht verloren gehen.

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Die Erschließung neuer Deutungskonfliktfelder bietet also weitere Gelegenheiten für autoritatives Deuten. Eine andere deutungsmachtpolitische Option ist es, Autoritätsproben selbst herbeizuführen. Autoritative Deutungsinstanzen profitieren unter diesen für sie starken symbolischen Bedingungen davon, dass sie selbst von den Auswirkungen ihrer eigenen Deutungspraxis in einem gewissen Rahmen unabhängig sind. Das zeigt sich nicht nur darin, dass Widerstände und Unmut zu einzelnen Entscheidungen ihre Autorität nicht gleich ganz in Frage stellen. Im Gegenteil: Gerade in solchen Situationen beweist sich, dass ihre Autorität im Zweifelsfall tatsächlich unhinterfragt akzeptiert wird. Unter starken symbolischen Bedingungen spricht also zunächst nicht viel für tabula rasa als Deutungsmachtpolitik. Es gilt sowohl die Einheitsvorstellung als auch das Deutungskonfliktmanagement zu bewahren und nicht damit aufzuräumen. Da dies überwiegend im Medium der Deutungspraxis geschieht, ist tabula rasa auch in dieser Hinsicht kein Alltagsgeschäft der Deutungspolitik. Aber genau deshalb ist tabula rasa eine Deutungsmachtpolitik, mit der Autoritätsproben selbst herbeigeführt werden können. Auch das ist nicht ohne Beispiel. Wenn etwa eine Regierung von heute auf morgen ihre jahrzehntelange Deutung »guter« Verteidigungspolitik vom Tisch wischt und die Wehrpflicht abschafft, wenn sie von heute auf morgen ihre jahrzehntelange Deutung »guter« Energiepolitik vom Tisch wischt und aus der Atomenergie aussteigt oder wenn sie von heute auf morgen ihre jahrzehntelange Deutung »guter« Einwanderungspolitik vom Tisch wischt und die Grenzen für hunderttausende von Flüchtlingen öffnet, dann sind dies zwar keine polnischen, sondern Merkelsche Beispiele für Autoritätsproben, die durch tabula rasa unter starken symbolischen Bedingungen herbeigeführt worden sind. Die folgende Tabelle fasst diese Ergebnisse noch einmal im Überblick zusammen.

Tabula rasa in Polen

Symbolische Bedingungen der Deutungsmachtpolitik

Symbolische Bedingungen Unsicher

Sicher Schwach

Stark

Einheitsvorstellung (EV)

Offener Kampf um EV

Inkrementelle Ersetzung der EV durch neue EV

Absicherung und Bestätigung der hegemonialen EV

Deutungskonfliktmanagement (DKM)

Kampf um Struktur und Positionierung im künftigen DKM

Austausch der Personen in deutungsmächtigen Positionen

Durchsetzung bzw. Verfestigung des konzentrierten DKM

Transformation des konzentrierten DKM in ein diffuses DKM

Strukturelle Absicherung der eignen Position

Deutungsmachtansprüche negieren Autoritätsproben als »Willkür« deuten

Entscheidung von Deutungskonflikten Autoritätsproben als Demonstration des hegemonialen Anspruchs

Deutungspraxis

Zukünfte, die die EV eröffnen

4.  S chluss : Tabul a (k) ein M y thos ?

rasa in der D emokratie  –

Tabula rasa ist keine Deutungsmachtpolitik, die sich auf Gründungsphasen demokratischer Ordnungen beschränkt. Das wird sichtbar, wenn die unterschiedlichen Varianten der Deutungsmachtpolitik und ihre symbolischen Bedingungen analytisch klar unterschieden werden. In ihren Gründungsphasen verfügen demokratische Ordnungen noch über keine Einheitsvorstellung, deren Geltungsanspruch eine so breite Anerkennung findet, dass diese Einheitsvorstellung hegemonial gefestigt ist. Vielmehr konkurrieren verschiedene Ordnungsvorstellungen in solchen Phasen darum, die Einheit

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der Ordnung symbolisch zum Ausdruck zu bringen. Für die in diesen Phasen agierenden Akteure und Institutionen sind dies deshalb unsichere symbolische Bedingungen, um Deutungsmacht zu generieren und zu verstetigen. Deutungsmachtpolitisch findet tabula rasa deshalb unter solchen symbolischen Bedingungen vor allem im offenen Kampf um die Einheitsvorstellung statt. In konsolidierten Demokratien stellt sich das anders dar. Hierbei handelt es sich um demokratische Ordnungen, die über eine hegemoniale Einheitsvorstellung verfügen. Ordnungsimmanent kann mit dieser Einheitsvorstellung deshalb keine tabula rasa gemacht werden. Dennoch ist tabula rasa eine deutungsmachtpolitische Option, die auch in konsolidierten Demokratien genutzt wird. Womit tabula rasa in diesen Fällen gemacht wird, hängt allerdings noch einmal davon ab, ob die symbolischen Bedingungen für die Deutungsmacht der jeweiligen Akteure und Institutionen schwach oder stark sind. Unter schwachen symbolischen Bedingungen zielt tabula rasa als Deutungsmachtpolitik auf das Deutungskonfliktmanagement – entweder auf den Austausch des Personals in autoritativen Deutungsinstanzen oder gar auf die Transformation in ein diffuses Deutungskonfliktmanagement. Aber auch für Akteure und Institutionen, für deren Deutungsmacht die symbolischen Bedingungen stark sind, kann tabula rasa in der Deutungspraxis eine Politik sein, Autoritätsproben selbst herbeizuführen, um aus deren Meisterung gestärkt als Konfliktautorität hervorzugehen. Tabula rasa ist auch in demokratischen Ordnungen nicht allein eine Frage des Neuanfangs. Als Deutungsmachtpolitik wird tabula rasa ebenso in konsolidierten politischen Ordnungen, auch in Demokratien, praktiziert. Vielleicht ist tabula rasa sogar gerade für Demokratien kennzeichnend, denn Demokratien geben keiner Regierung das Recht zum Weitermachen. Demokratien geben dem neuen Recht Vorrang vor dem alten Recht, wenn auch mit wenigen verfassungsrechtlichen Ausnahmen, die sie sich aber selbst setzen. Demokratien zeichnen sich vielleicht als einzige Ordnungsform dadurch aus, dass sie tabula rasa zulassen, und zwar um selbst der tabula rasa zu entgehen. Vielleicht ist das aber auch nur ihr Mythos.

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Wer hat Angst vor Cassirers »The Myth of the State«? Elemente eines philosophischen Krimis Chiara Bottici1

Ich möchte diesen Beitrag mit einer persönlichen Anekdote beginnen. Ich habe mich zum ersten Mal mit dem Buch The Myth of the State beschäftigt, als ich meine Dissertation zum politischen Mythos schrieb.2 Ich hatte damals den Eindruck, dass in der Literatur eine riesige Forschungslücke klaffte: Viele Philosophen hatten sich zwar bisher mit dem Mythos im Allgemeinen beschäftigt, sehr wenige jedoch waren meiner Auffassung nach an einer Analyse des politischen Mythos interessiert gewesen. Noch problematischer: Für die meisten politischen Philosophen, mit denen ich mich damals auseinandersetzte, war der politische Mythos kein geeignetes Thema. Ich erinnere mich daran, dass mir Kollegen im Rahmen eines Philosophie-Seminars in Oxford rieten, mein Thema zu wechseln, da es angeblich nicht »philosophisch« genug war. Cassirer bildete jedoch eine bemerkenswerte Ausnahme: Er war ein Philosoph, er hatte in Oxford gelehrt und sich mit dem Thema beschäftigt. Außerdem hat er dem Mythos, im Unterschied zu den anderen (wenigen) Philosophen, die diesen Forschungsgegenstand untersucht haben, ein ganzes Buch gewidmet. Dieses Buch versprach schon in seinem Titel, sich nicht nur mit »Wilden« und »Primitiven«, sondern mit einem Mythos, der zugleich urpolitisch und modern ist, dem Mythos des Staats, zu beschäftigen. Ich schlug das Buch mit großen Erwartungen auf: Hier würde ich endlich die politische Theorie zum politischen Mythos finden, nach der ich suchte, und damit auch die Legitimierung meines ganzen Unternehmens. Man kann sich meine Enttäuschung vorstellen, als ich die Gliederung las: Der Großteil 1 | Übersetzung ins Deutsche von Yves Bizeul. 2 | Später als A Philosophy of Political Myth (C. Bottici: A Philosophy of Political Myth) erschienen.

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des Buchs beschäftigt sich eben nicht mit dem politischen Mythos, sondern mit der Frage, wie sich die westliche philosophische Tradition seit der antiken griechischen Philosophie bemüht hat, den Mythos zu überwinden. Nach den ersten vier Kapiteln, die sich mit der Frage »Was ist ein Mythos?« beschäftigen, und zwar in einer Abhandlung, in der vor allem die anthropologische Literatur zu den »Wilden« rezipiert wird, trägt der zweite, längere Teil des Buchs den aussagekräftigen Titel »The struggle against myth in the history of political theory«.3 Und genau davon handelt das ganze Buch vordergründig. Erst im dritten Teil, der charakteristischer Weise in einem Unterkapitel Rosenbergs Mythus des 20. Jahrhunderts, einen der wichtigsten ideologischen Texte des Nationalsozialismus, 4 erörtert, findet man eine unmittelbare Auseinandersetzung mit dem politischen Mythos.5 Allerdings beinhaltet der dritte Teil vor allem eine Auseinandersetzung mit Carlyle, Gobineau und Hegel. Alle drei Autoren haben zwar Theorien entworfen, die möglicherweise den Weg zur Entstehung des politischen Mythos vorbereitet haben. Sie gelten jedoch nicht als direkte Vordenker dieses Gegenstands (zumindest nicht für Cassirer). Im ganzen Buch findet man nur im letzten Kapitel, das den Titel »The technique of modern political myths«6 trägt, etwas wie eine politische Theorie des politischen Mythos. Es sind aber nur zwanzig von 300 Seiten. Hier beschäftigt sich Cassirer unmittelbar nur mit dem nationalsozialistischen Mythos des Staats, als ob es sich dabei um den einzig relevanten politischen Mythos des Westens handeln würde.7 Das ist alles, was ich in diesem Buch zu meinem Thema fand. Ich beendete die Lektüre mit dem trüben Gedanken, dass meine Kollegen aus Oxford möglicherweise doch recht gehabt hätten: Vielleicht war der politische Mythos tatsächlich etwas, was für »Wilde« und Nationalsozialisten relevant ist, nicht aber für mich und meine modernen Zeitgenossen. Es ist einem anderen deutschen Philosophen, Hans Blumenberg, geschuldet, dass ich mein Dissertationsprojekt nicht aufgegeben habe. Freilich beschäftigt sich Blumenbergs Arbeit am Mythos nicht speziell mit dem politischen Mythos. Dieses Werk brachte mich jedoch auf die richtige Spur. Man findet zwar bei den beiden Autoren ähnliche Thesen, die ich hier nicht genau3 | E. Cassirer: The Myth of the State [1946], S. 53. 4 | A. Rosenberg: Der Mythus des 20. Jahrhunderts. Zusammen mit Hitlers Mein Kampf wurde Rosenbergs Buch als offizielles Dokument der nationalsozialistischen Ideologie betrachtet (J. Mali: The Myth of the State revisited. Ernst Cassirer and modern political theory, S. 144). 5 | E. Cassirer: The Myth of the State [1946], S. 187. 6 | Ebd., S. 277. 7 | Das Ganze entbehrt nicht einer gewissen Ironie: Trotz seiner radikalen Kritik ist Cassirer in diesem Punkt mit Rosenberg einer Meinung. Dieser hatte behauptet, dass es im Mythos etwas spezifisch Deutsches gibt (J. Mali: The Myth of the State revisited, S. 145).

Wer hat Angst vor Cassirers »The Myth of the State«?

er erläutern kann.8 Allerdings kritisiert Blumenberg Cassirer, da dieser den Mythos vom Standpunkt der modernen wissenschaftlichen Rationalität aus denkt, und zwar als terminus ad quem.9 Das führe ihn dazu, jede Art von Sympathie für den Mythos in der Moderne als Regression zu betrachten. Blumenberg hingegen sieht den Mythos als einen terminus post quem. Er interessiert sich für den Weg seiner Überwindung. Betrachten wir den Mythos von diesem Standpunkt, wird klar, dass der Mythos keine tabula rasa sein kann. Er kann nur ein Instrument für deren Überwindung sein, zumal er ein Mittel zur Überwindung des »Absolutismus der Realität« bietet. Mit anderen Worten: Jede Art von Bedeutsamkeit ist besser als überhaupt keine. Blumenberg nennt die Abwesenheit von Bedeutsamkeit (und nicht nur von Sinn) den »Absolutismus der Realität«, ein für menschliche Wesen unerträglicher Zustand. Paradoxerweise lobt Blumenberg Cassirer dafür, dass er eine Ahnung von dieser Tatsache haben soll, wenn er in seiner Philosophie der symbolischen Formen behauptet, das mythische Bewusstsein sei auch eine Wissensart, eine Denkform. Dennoch untersuchte Cassirer den Mythos vom Standpunkt der wissenschaftlichen Rationalität, als deren terminus ad quem. Das ist besonders klar in The Myth of the State. Das Buch liefert keine Analyse des politischen Mythos als solchem. Es beinhaltet eine Untersuchung des Mythos als etwas, was mittels wissenschaftlicher Rationalität überwunden werden sollte. Wie Eric Voegelin schon in seiner Rezession des Buches 1947 feststellte, gründet die gesamte These des Werks in einer »philosophy of history which is never made quite explicit«10: Cassirer glaubte (wie Auguste Comte auch), dass der menschliche Geist geschichtlich von einer frühen mythischen Phase zu einem immer rationaleren Verständnis der Welt voranschreiten würde. Die Idole des Mythos hätten ab einer bestimmten Zeit den Weg für die Vernunft und die Wissenschaft freigemacht.11 Diese These hat Cassirer laut Voegelin nie explizit vertreten. Sie ist meiner Meinung nach jedoch klar erkennbar und zwar sowohl in The Myth of the State selbst als auch in einem Artikel, der mit demselben Titel 1944 in der Zeitschrift Fortune erschienen ist. Dort hat diese These explizit eine Comtesche

8 | Es geht um das Thema Angst und um die Vorstellung, dass der Mythos eine Antwort darauf sei. Blumenberg lobte Cassirer dafür, dass er im Mythos eine Form des Wissens gesehen hat. Er kritisierte allerdings seine Ansicht, wonach der Mythos durch die Wissenschaft obsolet geworden wäre (vgl. H. Blumenberg: Work on Myth. Cambridge, S. 50; J. Mali: The Myth of the State revisited, S. 43.) 9 | H. Blumenberg: Work on Myth. S. 50–51. 10 | E. Voegelin: The Myth of the State by Ernst Cassirer, S. 445. 11 | Ebd.

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Kontur (E. Cassirer: The Myth of the State [Fortune]).12 Diese Geschichtsphilosophie steht in krassem Gegensatz zu einer anderen Argumentationslinie, die wir vorher erwähnt haben, und die im Gegenteil von der Tatsache ausgeht, dass der Mythos eine bestimmte Art von Wissen darstellt und als solche stets zur Überwindung des »Absolutismus der Realität« und der Ängste, die dieser erzeugt, beiträgt. Doch sowohl im Artikel von Fortune als auch in der Auflage von 1946 des The Myth of the State ist diese Argumentationslinie durch die Masse an Material überschüttet, die Cassirer braucht, um zu beweisen, dass die westliche philosophische Tradition den Mythos mit dem Ziel, ihn endlich loszuwerden, bekämpft hat. Das erklärt, warum sein Buch nicht die Berühmtheit vergleichbarer Werke dieser Zeit erlangen konnte, so wie Hannah Arendts Arbeit über den Totalitarismus13 oder Adornos und Horkheimers Dialektik der Auf klärung 14, obwohl es zu den ersten Analysen gehört, die versuchten, den Nationalsozialismus zu erklären – zumindest ist es ein Versprechen, das im Titel gegeben wird. Im Buch wird viel zu viel Energie darauf verwendet zu beschreiben, wie die westliche politische Theorie versuchte, den Mythos zu beseitigen. Cassirer verfolgte damit das Ziel, uns wichtige Instrumente zu geben, damit wir verstehen können, wieso die politische Theorie ihr Ziel letztendlich verfehlen musste. Als ich meine Dissertation schrieb, war dies meine Hauptthese. Meine ganze Arbeit zum politischen Mythos bestand aus einer einzigen Kritik Cassirers, eine Kritik, die damals unter der Überschrift »Political myth as regression: Cassirer’s Enlightened approach to myth« stand.15 Ich war davon überzeugt, dass Cassirers Verständnis des politischen Mythos viel zu sehr von einem einzigen historischen Beispiel abhing: dem nationalsozialistischen Myth of the State. Er projizierte dessen besonders destruktiven Charakter auf alle anderen Typen von politischen Mythen. Als jüdischer Wissenschaftler, der mit der euro12 | Fortune zählt zu den Publikumszeitschriften. Den Artikel zu Cassirer findet man neben Artikeln zu den Themen »Gas Turbine: New Prime Mover« und »The Ford Heritage«. Gerade aufgrund dieser Tatsache können wir davon ausgehen, dass die Sichtweise, die wir in dem Text, der von Cassirer selbst explizit autorisiert wurde, finden, seinem Selbstbild, das er einer breiten Öffentlichkeit vermitteln wollte, weitgehend entspricht. Durch das sehr große Foto von Dr. Cassirer und durch die Kurzinformationen zu seiner Biografie, die dem Haupttext vorstehen, sind wir gleich mit dem Bild eines europäischen Gelehrten konfrontiert, mit dem Autor eines »extensive work on the history of the problem of knowledge, and of books on the Renaissance and the enlightenment« (E: Cassirer: The Myth of the State [Fortune], S. 165). Dieser kurze Artikel scheint in der Auflage von 1946 zwischen Myth of the State und dem Nachlass-Manuskript zu stehen. 13 | H. Arendt: The Origins of Totalitarianism. 14 | T. W. Adorno/M. Horkheimer: Dialectic of Enlightenment. 15 | C. Bottici: Philosophies of Political Myth.

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päischen Aufklärung eng verbunden war, fühlte sich Cassirer zutiefst durch den Aufstieg des Nationalismus und durch den Mythos der arischen Rasse herausgefordert. Wie bei allen anderen, die irgendwann an die mehr oder weniger implizite Geschichtsphilosophie der Aufklärung mit ihrem Versprechen von einer Befreiung des Politischen vom Mythos geglaubt haben, musste ein solcher Triumph des politischen Mythos nur als eine Form von Regression auf dem westlichen Weg vom Mythos zum Logos erscheinen.16 Auf der ersten Seite von The Myth of the State kann man lesen: If we look at the present state of our cultural life we feel at once that there is a deep chasm between two different fields. When it comes to political action man seems to follow rules quite different from those recognized in all his mere theoretical activities. No one would ever think of solving a problem of natural science or a technical problem by the methods that are recommended and put into action in the solution of political questions. In the first case we never use anything but rational methods. Rational thought holds its ground here and seems constantly to enlarge its fields. Scientific knowledge and technical mastery of nature daily win new and unprecedented victories. But in man’s practical and social life the defeat of rational thought seems to be complete and irrevocable. In this domain modern man is supposed to forget everything he has learned in the development of his intellectual life. He is admonished to go back to the first rudimentary stages of human culture. Here rational and scientific thought openly confess their breakdown, they surrender to their most dangerous enemy.17

Neben der bereits erwähnten und angeblich impliziten Geschichtsphilosophie sollte auch die dramatische Sprache in Rechnung gestellt werden, die sich um die Dichotomien von Progression und Regression, Siegen und Niederlagen, Rationalität und Zusammenbruch, Freunden und »gefährlichsten Feinden« dreht.18 Wir werden später noch darauf zu sprechen kommen. Ich habe den 16 | Die Vorstellung eines westlichen Wegs vom Mythos zum Logos wurde oft als ideologische Rechtfertigung des europäischen Kolonialismus benutzt. Ich habe diese Sichtweise, die heute noch einige Anhänger hat, kritisiert. Vgl. C. Bottici: A Philosophy of Political Myth, S. 20–43. 17 | E. Cassirer: The Myth of the State, S. 3–4, Hervorhebungen C. B. 18 | Angesichts dieser Geschichtsphilosophie und der Art, wie das Buch selbst strukturiert ist, ist das Werk weniger durch eine transzendentale Methode im Stil der Erkenntnistheorie als durch einen klaren hegelianischen Touch gekennzeichnet, vor allem durch die Dramatik der Phänomenologie des Geistes. Während manche Kommentatoren behaupten, die späte Kulturphilosophie Cassirers würde an der transzendentalen Methode festhalten (P. Favuzzi: Kulturphilosophie und Politischer Mythos; M. Ferrari: Ernst Cassirer), vertreten andere die Auffassung, Cassirer habe sich zu diesem Zeitpunkt grundlegend von der Erkenntnistheorie distanziert (J. M. Krois: Der Begriff des Mythos bei Ernst Cassirer).

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Auszug vollständig zitiert, da man in ihm alles findet, was ich in Cassirers Theorie als problematisch erachte. Wie ist eine solche Kluft zwischen praktischem und intellektuellem Leben möglich? Wie kann der Fortschritt des zweiten mit der Regression des ersten einhergehen? Sind denn die Menschen doppelköpfige Tiere? Haben sie einen Kopf für das praktische und einen anderen für das intellektuelle Leben? Freilich ist dieser Umstand für einen Philosophen, der in der Moderne das wichtigste Ziel des Fortschritts sieht und diesen mit einem Ausweg aus dem Mythos assoziiert, besonders schwer zu erklären. Ich persönlich bin davon überzeugt, dass Cassirer in seinem Versuch, eine Erklärung zu liefern, gescheitert ist. Stattdessen hat Cassirer uns gerade zwanzig eher enttäuschende Seiten hinterlassen, auf denen er die Techniken, die die Nationalsozialisten benutzten, um den Mythos der arischen Rasse zu verbreiten, darstellt. Damit kann er aber nicht wirklich erläutern, warum sie in ihrem Unternehmen so erfolgreich wurden. Wir haben hier weder die Zeit noch ist es notwendig, die ganze Kritik an Cassirer, die ich in meinen früheren Abhandlungen dargelegt habe, zu wiederholen. Ich möchte nur einige Punkte, die mir besonders problematisch erscheinen, in Erinnerung bringen. Zunächst ist für Cassirer der politische Mythos keine einfache Form des Denkens oder Sprechens. Es handelt sich um eine vollständige »Lebensform«. Bezugnehmend auf Douttés Anthropologie behauptet er, dass der politische Mythos ein »collective desire personified« sei.19 Dieses Begehren ist das Ergebnis einer ganzen Bewusstseinsform, das »mythische Bewusstsein«, das alles, was die Anthropologen mit Hilfe unterschiedlicher Konzepte wie »Magie«, »Religion«, »Glauben«, »Anbetung« und »Rituale« beschrieben haben, beinhaltet. Die Dichotomie zwischen mythischem und rationalem Bewusstsein erinnert an die soziologische und anthropologische Unterscheidung zwischen »Gemeinschaft«, die durch mythischen Glauben und Praktiken zusammengehalten wird, und »Gesellschaft«, einem Erzeugnis des Willens. Die Letztere entspricht dem, was Cassirer eine »Willensgemeinschaft« genannt hat, während die erstere einer »Schicksalsgemeinschaft« gleichkommt.20 Diese Dichotomie ist jedoch hochproblematisch, da sie Cassirer dazu bringt, unter dem mythischen Denken höchst unterschiedliche Phä-

Ich teile eher die Meinung der Letzteren, denn die Kulturphilosophie lässt sich kaum als transzendentale Methode deuten, zumal sie sich nicht mit den a priori Bedingungen der Möglichkeit von Wissen beschäftigt, sondern mit dem Sinn von kulturellen Bedeutungen, die im Laufe der Geschichte entstehen. Eine Deutung des späteren Cassirer als Mixtur von Kantianismus und Hegelianismus findet man in M. Friedmann: A parting of the Ways. 19 | E. Cassirer: The Myth of the State [1946], S. 280. 20 | J. M. Krois: Der Begriff des Mythos bei Ernst Cassirer.

Wer hat Angst vor Cassirers »The Myth of the State«?

nomene zu verstehen, so die Magie, Rituale und selbst die Religion.21 Damit, so mein Argument, bleibt er den Aufklärern verpflichtet, die eine ähnliche Dichotomie entworfen haben, um das, was nicht Vernunft ist, abzuwehren, indem sie all das unter dem Begriff »Mythos« rubrizierten. Im Unterschied zu den Aufklärern des 18. Jahrhunderts versucht Cassirer das mythische Bewusstsein als eine für den Menschen typische symbolische Form zu rehabilitieren. Indes übernimmt er von ihnen die Dichotomie von Mythos versus Vernunft samt der Teleologie, die eine solche Dichotomie impliziert: Das mythische Bewusstsein soll durch die wissenschaftliche Rationalität in der gleichen Art und Weise überwunden werden wie die wilde Lebensart der Primitiven durch die der modernen Gesellschaften. Ob Cassirer sich irgendwann von der Aufklärung und seinem frühen Neukantianismus distanziert hat, ist heute Gegenstand einer wissenschaftlichen Kontroverse.22 Eines ist jedoch sicher: Er blieb einer mehr oder weniger impliziten Geschichtsphilosophie treu, welche die Erkenntnistheorie gegenüber anderen Sichtweisen privilegiert. Da Cassirer auf den Mythos vom Standpunkt der Epistemologie und der (modernen) Wissenschaft blickt, sieht er den politischen Bezug auf den Mythos als eine Art Regression. Wenn man jedoch den Mythos von einem anderen Standpunkt betrachtet, etwa von einem ästhetischen, dann gibt es für eine solche Schlussfolgerung keinen Grund mehr.23 Wie auch immer, einige Jahre nach der Veröffentlichung meiner Kritik an Cassirer als Verkünder der Aufklärung, las ich Cassirers unter dem Titel »The myth of the state. Its origin and its meaning. Third part: the myth of the twentieth century« veröffentlichtes Manuskript, das in Band 9 von Cassirers Nachlass erschienen ist.24 Dieser Text ist völlig anders als der dritte Teil der Auflage von 1946, und, was noch relevanter für die politische Philosophie ist, er beinhaltet eine viel überzeugendere Analyse des Mythos des Staats. Freilich erscheint diese neue Fassung im Vergleich zur vorangegangenen weniger ko21 | Wir sollten die Tatsache berücksichtigen, dass Cassirer selbst im späten Essay on man, in dem er versucht, unterschiedliche symbolische Formen darzustellen, unfähig bleibt, zwischen Mythos und Religion zu unterscheiden: Beide werden gemeinsam behandelt und lassen sich daher kaum voneinander auseinanderhalten (siehe E. Cassirer: An Essay on Man, S. 87). 22 | Wie ich schon bemerkt habe, stimme ich mit J. M. Krois (Der Begriff des Mythos bei Ernst Cassirer) und M. Friedman (A parting of the Ways) überein. Beide sprechen von einer progressiven Distanzierung Cassirers von der Erkenntnistheorie. Sie sind sich allerdings nicht über die richtige Art, Cassirers Methode zu deuten, einig. 23 | Neben Nietzsches The Birth of tragedy (F. Nietzsche: The Birth of Tragedy and Other Writings), findet man ein anderes gutes Beispiel dafür in Blumenbergs Work on myth (H. Blumenberg: Work on Myth). 24 | E. Cassirer: The Myth of the State [2008].

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härent und ist mit mehr Spannungen durchzogen. Diese sind jedoch produktiver. Lassen Sie mich erklären, was ich damit meine. Zuallererst beginnt dieses Manuskript, das ich ab jetzt den anderen Mythos des Staats bzw. die Nachlass-Fassung nennen werde, nicht mit einer starken Rhetorik der Kluft zwischen dem theoretischen und praktischen Leben, zwischen Rationalität und Mythos oder mit der dramatischen Sprache des Bruchs, wie im Zitat oben. Einiges von dieser Sprache ist noch hier und da im Text vorhanden, aber nicht im gleichen überzogenen Maß. Die Stellen lesen sich eher als Überbleibsel einer aufklärerischen Rhetorik, die eigentlich im Widerspruch zur Stoßrichtung der Theorie steht. Zunächst findet man in der Nachlass-Fassung einen ganz anderen Auftakt: Statt mit der Beschreibung einer Kluft zwischen praktischer Politik und theoretischer Wissenschaft bzw. einem epischen Kampf zwischen gefährlichen Feinden fängt der Nachlass-Text mit der Feststellung an, dass »man is not only an ›animal rationale‹, a rational animal; he is and remains a mythical animal«.25 Ich möchte hier die Bedeutung des »remains« betonen, da kein Denker der Aufklärung einer solchen Aussage hätte zustimmen können. Dieser Terminus taucht in der Auflage von 1946 nicht auf. Warum? Wurde sie gestrichen? Von wem? Fahren wir mit der Lektüre der Nachlass-Fassung fort. Wir finden dort einige andere bemerkenswerte Textstellen, die in der Auflage von 1946 fehlen. Nachdem Cassirer über das romantische Konzept des Mythos sinniert hat, bemerkt er, dass unsere modernen politischen Mythen are by no means mysterious – in a sense they are extremely ›rational‹. They have been made by individual men and for special purposes, they have been called into existence by conscious methodical efforts. We are able to write the history of the race-myth and to give the names of its authors – from Gobineau and Huston Stewart Chamberlain up to Hitler and Rosenberg. These modern political myths are not veiled in darkness; on the contrary they were manufactured in broad daylight. How is it that, in spite of this, they seem to have a full authority – that they could be believed as firmly as any other original and ›primitive‹ conceptions?26

Cassirer stolpert hier über ein Problem, das von den klassischen Denkern der Aufklärung nicht hätte formuliert werden können, da sie daran glaubten, dass die Vernunft die Quelle des Fortschritts sei. Für sie, wie Cassirer selbst feststellt, war der Mythos »a barbarous thing« der Vergangenheit, und »to return to it, or even to look back at it, would be a denial of all of our highest cultural

25 | Ebd., S. 172. 26 | Ebd., S. 198.

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ideals, a renouncement of the intellectual progress of mankind«.27 Dieser Rückblick aber ist es, den Cassirer selbst vollzieht. An einer anderen Stelle fügt er in der Liste der Autoren, die er oben im Zitat erwähnt, auch Hegel, Herder und Fichte als Verantwortliche für die Vorbereitung des Durchbruchs des Mythos des Staats hinzu. Er würde zwar nicht so weit gehen zu behaupten, dass Kant selbst zum Teil verantwortlich war für die Erfindung des Konzepts der Rasse – etwas, was gegenwärtige Historiker behaupten28 –, er meint aber, dass es die Philosophie sei, vor allem die moderne Philosophie, die einen solchen Mythos entstehen ließ. War aber nicht die Rationalität angeblich der »most dangerous enemy of myth«, wie wir in der Auflage von 1946 lesen können? Freilich betont Cassirer in diesem Buch den Beitrag der Philosophie selbst zur Entstehung des Mythos der arischen Rasse, aber in einem Narrativ, in dem dieser Beitrag eine temporäre (und möglicherweise deutsche) Abweichung innerhalb eines breiteren Fortschreitens vom Mythos zur modernen Rationalität darstellt. Die Nachlass-Fassung malt hingegen ein viel dunkleres Bild der Geschichte der Moderne. So schreibt Cassirer in einer aussagekräftigen Textstelle, dass das »entscheidende« Merkmal des modernen politischen Mythos Folgendes sei: History was never free from mythical elements. They are part and parcel of human nature; they cannot be completely eradicated. But the most amazing fact in the political history of the 20 th century was that these elements underwent a complete change of meaning. They are no longer hazard products. They are carefully cultivated and prepared, they are systematized and held under control […] here we have the strange and paradoxical fact of a myth that is completely rationalized. 29

Wir sollten nicht aus dem Blick verlieren, dass zur gleichen Zeit, zu der Cassirer diese Sätze schrieb, zwei andere deutsche Immigranten jüdischer Abstammung demselben Paradoxon einen anderen Namen gaben: Sie nannten es die »Dialektik der Aufklärung«.30 Als ich The Myth of the State zum ersten Mal las, dachte ich, dass Cassirer die exakt gegensätzliche Sichtweise der Adornos und Horkheimers vertrat: Für die beiden war der Nationalsozialismus das Ergebnis der modernen Rationalität, während er in den Augen Cassirers das Resultat ihres Scheiterns war (oder zumindest ihres Scheiterns im praktischen Leben). Als ich aber die Nachlass-Fassung las, diesen anderen Mythos 27 | Ebd., S. 181. 28 | Siehe z. B. das Werk R. Bernasconis (Who invented the concept of race?), in dem die Frage, inwiefern Kant einen Beitrag zur Erfindung des Rassekonzepts geleistet hat, untersucht wird. 29 | E. Cassirer: The Myth of the State [2008], S. 200. 30 | T. W. Adorno/M. Horkheimer: Dialectic of Enlightenment.

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des Staats, habe ich auch einen anderen Cassirer entdeckt, einen Cassirer, der angefangen hatte, an der modernen Rationalität und ihrem Versprechen der Befreiung zu zweifeln, einen Cassirer, der zeigte, dass Mythos und moderne Rationalität eigentlich Hand in Hand fortschreiten können. Das ist das, was er in einer anderen höchst aussagekräftigen Textstelle öffentlich äußert: The fiercest and most horrible things were done in cold blood. They were ordered, regulated, calculated. These crimes were no longer crimes of passions; they were methodical crimes. There arose quite a new ›science‹ of political crime that could be taught and that quickly was learned. This science was based on fixed and entirely ›rational‹ principles. It proceeded in a clear and consistent way. 31

Ist der Nationalsozialismus das Ergebnis einer praktischen Regression in mythische Lebensformen oder die Folge der Erfindung einer neuen Wissenschaft, die auf völlig rationalen Prinzipien beruht? Wenn das Letztere der Fall ist, dann müssen wir zu dem Schluss kommen, dass der Nationalsozialismus keine überraschende und möglicherweise nur deutsche Deviation auf einem sonst progressiven Weg vom Mythos zum Logos war, sondern eher aus der Verwendung moderner Prinzipien selbst entstand – darunter an erster Stelle aus den Prinzipien der modernen Wissenschaft. Die Frage nach der Deutung der Moderne geht mit einer faszinierenden Episode der intellektuellen Geschichte einher, einer Geschichte, die die Gestalt eines philologischen Krimis annimmt. Warum ist die Nachlass-Fassung so unterschiedlich von der offiziellen Fassung, die 1946 veröffentlicht wurde? Warum war dieser Text so lange für ein breiteres Publikum nicht zugänglich?32 Wer hatte Angst vor diesem anderen Mythos des Staats? Es muss daran erinnert werden, dass die Fassung von 1946 des Myth of the State, die heute meist benutzt wird, posthum entstand, da Cassirer vor der Veröffentlichung verstarb. Wenn wir sie mit der erst seit Kurzem zur Verfügung stehenden Nachlass-Fassung vergleichen, kommt unweigerlich der Eindruck auf, dass dieser Text buchstäblich ermordet wurde. Was uns 1946 geliefert wurde, war nur das, was der Mörder uns hinterlassen hat, nämlich einen mageren Text von zwanzig Seiten, der nur dem Anschein nach eine Theorie beinhaltet und in dem zahlreiche auffällige und aufschlussreiche Stellen entsorgt sowie die meisten Spannungen beseitigt wurden. Wer ist dafür verantwortlich? 31 | E. Cassirer: The Myth of the State [2008], S. 206. 32 | Nach meinem Kenntnisstand hat bisher niemand anders diesen editorischen Mord erwähnt. Das ist erstaunlich, zumal die Nachlass-Fassung schon 2008 veröffentlicht wurde. Dieses Versäumnis lässt sich nur dadurch erklären, dass die meisten Cassirer-Experten sich vor allem mit epistemologischen Themen beschäftigen und sich nicht intensiv mit den politischen Implikationen einer derartigen textuellen Entdeckung befassen.

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Der Hauptverdächtige ist Charles Hendel. Er kümmerte sich nach Cassirers Tod um die Auflage von 1946. Im Vorwort schreibt er: »the book is presented practically as it was written by him«.33 Doch nur eine Seite weiter relativiert er diese Aussage. Er bemerkt, dass der Autor im Unterschied zu den Teilen I und II nie seine Zustimmung zu den Änderungen im dritten Teil gegeben hat und schlussfolgert: »I hope that in editing the third and last part, without having the comforting assurance of his own final review of it, I have not altered anything that would have mattered to him«.34 Keinem aufmerksamen Leser wird jedoch die Spannung zwischen den beiden Aussagen entgehen: Das Buch wird entweder als ein Werk dargestellt, das Cassirer selbst geschrieben hat, oder es wurde verändert, auch wenn die Änderungen in einer Art erfolgte, die laut Hendel »did not alter anything that would have mattered to [Cassirer]« (E. Cassirer: The Myth of the State, S. XI). Hendel erwähnt im Vorwort zwei mögliche Komplizen, also zwei weitere Personen, die vor dem Druck des Textes mitgewirkt haben: Professor Brand Blanshard und Dr. Friedrich Lenz. Hendel dankt ihnen für ihre Unterstützung und fügt hinzu: »we can be sure that the work has a scholarly character in detail befitting a book issued under the name of Professor Ernst Cassirer«.35 Wie John Michel Krois und Christian Moeckel in Editorische Hinweise schreiben, war Wissenschaftlichkeit die klare Priorität der Edition von 1946.36 Diese »Wissenschaftlichkeit« und »a book issued under the name of Professor Ernst Cassirer« scheinen das Motiv des editorischen Mords zu liefern: Möglicherweise wurde der andere Mythos des Staats massakriert, um das, was Hendel und seine Komplizen für das wissenschaftliche Bild von Professor Ernst Cassirer hielten, zu bewahren. Und in der Tat hätte die Vorstellung, dass der Nationalsozialismus das Ergebnis der modernen Wissenschaft und Rationalität war, das Bild des neukantianischen Philosophen und Erben der Aufklärung beschädigt.37 Noch etwas ist auf der Suche nach einem Buch mit wissenschaftlichem Charakter verloren gegangen: all die durch die damalige Zeit bedingten Anmerkungen zum Nationalsozialismus, der Weimarer Republik und dem Marxismus, welche der Nachlass-Fassung ihre politische Relevanz geben und zugleich auch den empirischen Hintergrund für die Hauptthese liefern. Cassirer bemerkt zum Beispiel mit Bezug auf die deutschen sozialistischen Führer, 33 | E. Cassirer: The Myth of the State [1946], S. X. 34 | Ebd., S. XI. 35 | Ebd., S. XII. 36 | E. Cassirer: The Myth of the State [2008], S. 344. 37 | Dass dies das Bild von Professor Ernst Cassirer zu der damaligen Zeit war, wird auch durch die Einführung im Fortune-Artikel bestätigt (E. Cassirer: The Myth of the State [1944a], S. 165).

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dass ihr Marxismus sie daran hinderte, richtig zu deuten, was damals geschah: »They thought and spoke in terms of economics and they were convinced that economy is the mainspring of all political actions. By this theory, they failed to see the real point at issue«.38 Solche politischen Bemerkungen sind im Nachlass-Text zahlreich. Sie fehlen aber in der Ausgabe von Hendel gänzlich: Allesamt wurden sie dort gestrichen. Wieso? Weil sie einem wissenschaftlichen Buch nicht angemessen waren? Oder weil sie dem Bild von Professor Ernst Cassirer geschadet hätten? Neben diesen Stellen fehlen auch zwei weitere Argumentationslinien, deren Abwesenheit in der von Hendel besorgten Ausgabe besonders auffällig ist, weil sie eine ganz andere Sicht der Moderne und insbesondere des politischen Mythos liefern. Die erste ist mit dem Namen Hobbes, die zweite mit dem Spinozas eng verbunden. Fangen wir mit der ersten an. Gegen Ende des Textes untersucht Cassirer, inwiefern die Wiederholung bestimmter kollektiver Rituale den Sinn für die individuelle Freiheit zerstören kann: Statt die Freiheit anzustreben, die von Cassirer wie auch von Kant als Aufgabe verstanden wird, fühlen sich die Menschen als Teil eines breiten Ganzen und daher von der Last der individuellen Verantwortung befreit. Laut Cassirer findet man hier die destruktivste Seite des mythischen Denkens, da es eventuell die individuelle Freiheit gänzlich zerstören kann. Dieses Argument findet man zwar auch in Hendels Ausgabe. Hier taucht es jedoch nur als Technik, die lediglich von den Nationalsozialisten angewandt wurde, auf. In der Nachlass-Fassung hingegen ist man mit einem Phänomen konfrontiert, das einen viel früheren Ursprung hat und lange vor der nationalsozialistischen Ideologie entstand: Hobbes’ Leviathan, einer der Gründungstexte der modernen politischen Philosophie: Hobbes calls the state a ›mortal god‹. It seems as if this mortal god had, in modern political life, supplanted all his rivals: the mythical gods of the past. The sacrifices he imposes on men are much more cruel than those demanded by the sacrificial rites of the old mythological gods. We are demanded and expected to immolate on the altar of the state not only our goods and lives but our feelings, our thoughts, our moral and religious convictions. Without the reinstatement and the solemn enthronement of mythical thought man would never have acquiesced in these frightful and revolting sacrifices. 39

Diese Stelle ist höchst irritierend. Während in Hendels Ausgabe nur flüchtig in einem Kapitel erwähnt wird, dass Naturrechtstheoretiker wie Hobbes die politische Theorie endgültig vom Mythos getrennt haben sollen, findet man hier die These, dass die Erfindung des Mythos des Staats auf Hobbes, also auf einen Philosophen der Frühen Neuzeit und Theoretiker des Naturgesetzes, zurück38 | E. Cassirer: The Myth of the State [2008], S. 201. 39 | Ebd., S. 212.

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geht. 40 Statt des neukantianischen Philosophen und Boten der Aufklärung hat man es hier mit einer Kritik der Moderne und möglicherweise eines Theoretikers einer politischen Theologie des Staats zu tun. Ist der Mythos des Staats eine vorübergehende und besondere deutsche Deviation in der Entwicklung der Moderne, wie man es in der 1946-er Ausgabe von The Myth of the State lesen kann, oder haben wir es hier mit etwas zu tun, das grundsätzlich mit der Vorstellung der Souveränität des modernen Staats einhergeht, wie die Nachlass-Fassung zu behaupten scheint? Gilt das Letztere, dann ist Cassirer, um dies unverblümt zu sagen, eher ein Vorläufer Giorgio Agambens als ein Erbe Immanuel Kants. 41 Unmittelbar nach der Stelle zu Hobbes geht Cassirer zu einem neuen Abschnitt über: die Wiederkehr des Fatalismus im historischen und politischen Denken. Hier ist nicht mehr Hobbes, sondern Spinoza, der Spinoza der Ethik und auch des Theologisch-politischen Traktats, sein Gesprächspartner. Es ist sehr aufschlussreich, dass Cassirer seinen anderen Mythos des Staats mit einem Hinweis auf Spinoza beendet. 42 Indem er sich explizit auf Spinoza be40 | Der innere Unwille Cassirers, die Folgen seiner eigenen Entdeckungen zu akzeptieren, erklärt auch, warum er sich in drei Kapiteln im historischen Narrativ, das den größten Teil des Myth of the State ausmacht, mit Machiavelli beschäftigt, während er allen anderen Theoretikern nur jeweils ein Kapitel widmet. Für Cassirer ist Machiavelli der Theoretiker, der im Bereich der Politik das Gleiche getan hat wie Galilei auf dem Gebiet der Naturwissenschaft. Er hat eine neue Wissenschaft der Politik gegründet (E. Cassirer: The Myth of the State [1946], S. 130). Cassirer wollte die eigenen Ängste überwinden und sich selbst beruhigen, als er sich so detailreich mit Machiavellis politischer Theorie beschäftigte. Während Platon und Augustinus gescheitert sind, die politische Theorie vom Mythos zu trennen, hat Machiavelli dies vermocht. 41 | Mit seinem erfolgreichen Homo Sacer hat Giorgio Agamben maßgeblich dazu beigetragen, das Interesse des Fachpublikums für die Bedeutung der politischen Theologie und für die Kritik des Hobbesschen Paradigma der Staatssouveränität zu wecken (G. Agamben: Sovereign Power and Bare Life.). Obwohl das Konzept der politischen Theologie schon im Werk von Michael Bakunin zu finden ist, wurde es vor allem durch die höchst umstrittene Figur von Carl Schmitt bekannt gemacht. Die Beziehungen zwischen Schmitt und Cassirers Philosophie wurden bisher kaum wissenschaftlich behandelt. Unter den wenigen Werken, die sich mit dieser Fragestellung beschäftigen, siehe V. Kahn: The Future of Illusion, S. 55–81. Es geht hier um die Beziehung zwischen Cassirer und Schmitt bezüglich der politischen Theologie. Für einen Vergleich von Schmitt und Cassirer bezüglich ihres jeweiligen Verständnisses des Mythos siehe J. P. McCormick: Carl Schmitt's Critique of Liberalism, S. 89–90. 42 | Der Artikel in der Fortune Zeitschrift endet auch mit Spinoza (E. Cassirer: The Myth of the State [1944a], S. 204). Das Fehlen dieses Autors in der Hendel-Auflage ist umso erstaunlicher.

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ruft, 43 betont er, dass die Leidenschaft nicht durch ein rein theoretisches Argument überwunden werden kann. Sie kann nur durch eine noch stärkere und gegensätzliche Leidenschaft ersetzt werden.44 Cassirer benutzt dieses Argument, um zwei Leidenschaften (Stärke und Großzügigkeit) herauszustellen, die beim Wiederauf bau nach der vom Nationalsozialismus verursachten Krise eingesetzt werden sollten. Diese Analyse kann aber auch als eine Art Eingeständnis der eigenen Ohnmacht gedeutet werden: Was kann die Vernunft angesichts der kollektiven von Hitler personifizierten Sehnsucht, wenn eine Leidenschaft nur durch eine andere überwunden werden kann, ausrichten? Angesichts dieses Dilemmas zieht Cassirer folgende Schlussfolgerung: Modern civilisation is a very instable and fragile thing. It is not built upon sand: it is built upon a volcanic soil. For its first origin and basis was not rational, but mythical. Rational thought is only the upper layer on a much older geological stratum that reaches down to a great depth.45

Spinoza hätte diesem Gedanken sicherlich zugestimmt. Diese spinozistische Konklusion ist sehr beachtenswert und gibt dem Text eine ganz andere Richtung. Wenn Spinoza in der Ethik schreibt, dass ein Affekt nur durch einen weiteren Affekt überwunden werden kann, dann will er darauf aufmerksam machen, dass die Vernunft unsere (passiven) Affekte nur bekämpfen kann, weil diese selbst zu den Affekten zählt. In Cassirers Sprache übersetzt heißt das, dass man einen Mythos nur erfolgreich bekämpfen kann, wenn man einen anderen Mythos gegen ihn in Stellung bringt. Mit anderen Worten: Eine tabula rasa ist nicht möglich, solange ein Mythos operiert; selbst wenn man ihn zerstört, braucht man stets einen anderen, um ihn zu ersetzen. Lange vor den Nationalsozialisten hat Hobbes Leviathan, den alten mythischen Gott, durch den neuen, modernen Mythos des Staates ersetzt. Dann stellt sich eine knifflige Frage. Sie lautet: Durch welchen Mythos sollte nach Cassirer möglicherweise der Mythos des Nationalsozialismus ersetzt werden? Diese Frage stand im Mittelpunkt der Betrachtungen Eric Voegelins und seiner aufschlussreichen Rezension von The Myth of The State. Voegelin kritisiert das Buch. Er bemerkt, dass sein Autor nie verstanden habe, dass »tampering with a myth is a dangerous pastime«, solange man keinen besseren hat, der seine Stelle einnehmen könnte. Er stellt fest: »The overcoming of the

43 | Die Abhandlungen über Angst und Hoffnung wenige Seiten vorher sind ein implizites Zitat von Spinozas TTP (E. Cassirer: The Myth of the State [2008], S. 212). 44 | E. Cassirer: The Myth of the State [2008], S. 222. 45 | Ebd., S. 221.

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darkness of myth by reason 46 is in itself a problematic victory because the new myth which inevitably will take its place may be highly unpleasant«.47 Versuchen wir zum Schluss die Frage zu beantworten: »Wer hat Angst vor dem Mythos des Staats?« Möglicherweise war es Hendel, als er das Buch redigierte und zahlreiche entscheidende Stellen aus Cassirers Text entfernte. Allerdings kann die Sache auch viel einfacher sein. Ein gründlicherer Vergleich der zwei Versionen könnte zeigen, dass wir es einfach mit zwei unterschiedlichen Texten zu tun haben. So gibt es Stellen in der Auflage von 1946, die man nicht im Nachlass findet, wie eine schnelle Übersicht auf die jeweiligen Gliederungen zeigt. Entweder hat Hendel bestimmte Stellen geschrieben und die Einteilung der Texte verändert, oder wir haben es mit zwei verschiedenen Originaltexten von Cassirer zu tun. Es ist deutlich geworden, dass wir dringend eine neue kritische Edition von Cassirers The Myth of the State brauchen. Sie allein könnte den Status der beiden Werke klären. Wenn wir die »freundschaftliche« Arbeit Hendels an Cassirers drittem Teil betrachten, sollten wir auch gegenüber seinem editorischen Beitrag bei den beiden anderen Teilen misstrauisch sein. Es ist aber auch möglich, dass wir es nicht mit einem Mord Hendels und seiner Komplizen zu tun haben, sondern mit einem Selbstmord: Es ist nicht auszuschließen, dass Cassirer selbst den anderen The Myth of the State getötet hat, da er vor den Konsequenzen der Entdeckung zurückschreckte, dass unsere moderne Zivilisation von Anfang an voll mit politischen Mythen wie dem Mythos des souveränen Staats im Sinne von Hobbes war. Wenn man diese Ansicht akzeptiert, dann muss man erkennen, dass der Mythos des Staats keine vorübergehende, deutschlandspezifische Abweichung war, der man leicht entkommen könnte, sondern eher ein viel breiteres Phänomen, das tief in die Logik der Moderne selbst eingelassen ist. Wenn dies der Fall sein sollte, dann wären nicht nur Hendel und seine Komplizen oder Hendel und Cassirer davon betroffen: Dann sollten wir alle Angst vor dem Mythos des Staats haben.

46 | Wie ich an andernorts festgestellt habe, ist dies nichts anderes als das Autonarrativ der europäischen Moderne selbst (C. Bottici: Chiara: A Philosophy of Political Myth). Zur Rolle, die dieses bei der Konstruktion einer gemeinsamen europäischen Identität spielte und heute immer noch spielt, siehe C. Bottici/B. Challand: Imagining Europe. 47 | E. Voegelin: The Myth of the State by Ernst Cassirer, S. 447.

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Wer hat Angst vor Cassirers »The Myth of the State«?

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›Sinn ist ein aufgeschobener Tod‹1 Anmerkungen zu Barthes’ semiologischer Idee des Mythos Ludwig Jäger

1.  ›A uslöschung ‹

und

›N euanfang ‹: Vorbemerkung

Das Programmpapier dieser Tagung markiert den Problemhorizont der Konferenz durch die zentrale Frage, ›inwiefern das Gründungspotential des Mythischen gebunden sei an Vorstellungen der totalen Zerstörung, der absoluten Auslöschung, des unbedingten Neuanfangs, der tabula rasa‹. Diese Frage soll – so das Papier – einmal im Hinblick auf die Rolle von Mythen in ›radikalen Umbruchsituationen‹ verhandelt werden, in denen sie als ›riskante Erzählungen‹ dazu beitragen können, ›neues Orientierungswissen‹ zu erzeugen, zum andern aber auch im Hinblick auf die mythischen Narrative selbst, in denen häufig »eine mythische (Gründungs-)Erzählung die Erzählung von totaler Auslöschung oder absolutem Neuanfang impliziert«. Ich möchte eine dritte Perspektive hinzufügen, in der insbesondere die Tradierungsverhältnisse mythischer Narrative in Frage stehen, den Umstand also, dass spätere Mythosnarrationen dazu tendieren, frühere Versionen in der Fortschreibung zu ›deformieren‹ [267ff]  – wie Barthes formuliert, von dem im Folgenden ausführlicher die Rede sein soll. In der Tat hat der Mythos-Diskurs der letzten Jahre insbesondere in dieser Perspektive, d. h. im Hinblick auf die Fortschreibungsformen mythischer Narrative, die iterative Spannung von Tilgung und Neuanfang näher in den Blick genommen. In den Debattenfokus ist etwa Blumenbergs These getreten, dass die Wirkungsgeschichte der Mythen weniger durch eine Logik der kontinuierlichen Tradierung von Ursprungssemantiken bestimmt sei, als vielmehr durch Logiken des Bruchs und der Diskontinuität, in denen Prozesse der Löschung und Überschreibung, 1 | Vgl. R. Barthes: Mythen des Alltags, S. 263: »Man glaubt, der Sinn werde sterben, aber es ist ein aufgeschobener Tod […].«. Im Folgenden werden reine Seitenverweise auf R. Barthes’ »Mythen des Alltags« in eckigen Klammern in den Text eingefügt.

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der Tilgung und Reformulierung vorherrschen. Mythen werden – so Blumenberg  – immer nur als ›in Rezeption übergegangen‹ angetroffen.2 Sie haben keinen vorrezeptiven Urzustand: »Das Vergessen der ›Urbedeutungen‹ ist die Technik der Mythoskonstitution selbst.«3 Ich möchte nun im Folgenden den skizzierten Problemhorizont aus der Perspektive eines Philosophen und Zeichentheoretikers – aus der Perspektive Roland Barthes’ nämlich  – erörtern, dessen Konzeptualisierung des Mythos die Genese mythischer Semantik in grundlegender Weise an Prozesse der Auslöschung und Überschreibung, der Aneignung und Deformation bindet. Mythen sind für Barthes in ihrem Kern semiologische Verfahren, durch die die mythische Bedeutung im spannungsreichen Zusammenspiel zweier semiologischer Register und der zwischen ihnen herrschenden ›Deformationsverhältnisse‹ [268] konstituiert wird, durch das Zusammenspiel zwischen einer ›primären, transitiven‹ und einer ›sekundären, transkriptiven‹ Sprache und deren Semantiken. Der ›Sinn‹ der ersten Sprache wird gelöscht und überschrieben, bleibt aber gleichsam als Palimpsest erhalten: Die Semantik des [zweiten] mythischen Systems »deformiert den Sinn [des primären Systems] buchstäblich, doch ohne ihn zu vernichten; […] er entfremdet ihn« [269] – so Barthes, oder – wie er auch formuliert: »Man glaubt, der Sinn werde sterben, aber es ist ein aufgeschobener Tod« [263].

2.  ›E ntzifferung ‹

des

M y thos

Roland Barthes’ Untersuchungen der »Mythen des französischen Alltagslebens« [11] nehmen in essayistischen Miniaturen »die Sprache4 der sogenannten Massenkultur« [9] in ihren verschiedenen medialen Erscheinungsformen (›Zeitungsartikel, Photographien, Filme, Theateraufführungen, Ausstellungen‹ 2 | H. Blumenberg: Wirklichkeitsbegriff und Wirkungspotential des Mythos, S.  11–66; hier S. 13f: »Das Vergessen der ›Urbedeutungen‹ ist die Technik der Mythos-Konstitution selbst – und zugleich der Grund dafür, daß Mythologie immer nur als in Rezeption übergegangen angetroffen wird.« 3 | H. Blumenberg: Wirklichkeitsbegriff und Wirkungspotential des Mythos (Kursivierung von mir). 4 | Wenn Barthes von der ›mythischen Sprache‹ [252] spricht (»Der Mythos ist eine Sprache« [11]), verwendet er den Begriff ›Sprache‹ in einer erweiterten Bedeutung: In dieser »generalisierten Auffassung der Sprache«, unter der »jede bedeutungshaltige Einheit oder Synthese zu verstehen [sei], sei sie verbaler oder visueller Art«, gehört Sprache »zu einer allgemeinen, gegenüber der Linguistik erweiterten Wissenschaft, nämlich der Semiologie« [253] Von der »mythischen Sprache« [252] werden Sprachtypen wie die »Objektsprache«, »mathematische Sprache« bzw. »poetische Sprache« abgegrenzt

›Sinn ist ein aufgeschobener Tod‹ – Anmerkungen zu Barthes’ Idee des Mythos

etc.) [11; vgl. auch 252] ›ideologiekritisch‹ in den Blick. In diesen ›medialen Erscheinungen der kleinbürgerlichen Welt‹ werde – so seine Analyse – die historische Konstituiertheit und Relativität der gesellschaftlichen Gegenwart ›ideologisch‹ hinter einem Schleier von ›Natürlichkeit‹ verborgen. Es ist die zentrale Intention Barthes’, dem hier aufscheinenden »ideologischen Mißbrauch auf die Spur zu kommen« [11], hinter der ›dekorativen Darstellung des Selbstverständlichen‹ ›falsche Evidenzen‹ [9] freizulegen, d. h. »en détail die Mystifikation deutlich zu machen, die die kleinbürgerliche Kultur in universelle Natur verwandelt« [9]. Auf diese Weise soll die ›Unterdrückung‹ des ›bestimmenden Gewichts der Geschichte‹ rückgängig gemacht und diese wieder in ihr Recht gesetzt werden.5 Dabei folgt sein ›ideologiekritisches‹ Verfahren einer Analysestrategie, die einen semiologisch entfalteten Begriff des Mythos [251–316] verwendet, um mit seiner Hilfe ›Aufschluß‹ über die ideologische Verfasstheit der ›bürgerlichen Welt‹, insbesondere über ihre Tendenz zur ›Naturalisierung‹ des Historischen zu erlangen: »Von Anfang an schien mir der Begriff des Mythos geeignet, über diese falschen Evidenzen Aufschluß zu geben« [11]. Der Mythos ist für Barthes »ein System der Kommunikation«, eine Sprache» [11], bzw. eine »Rede« [251ff]6, die er vor allem als ein »semiologisches Schema« [257], als ein »semiologisches System« [253ff, 284] begreift, dessen ›konstitutiver Mechanismus‹ [276], d. h. dessen semantische Arbeitsweise [251] in den einzelnen Mythologien in einer »semiologischen Analyse« [9], in einer »semiologischen Demontage« [9], aufgedeckt und sichtbar gemacht, d. h. ›entziffert‹ [258, 275ff]7 werden soll. Dabei richtet sich Barthes insbesondere auf (282ff), die der mythologischen Sprache »Widerstand« leisten, aber gerade deshalb »zur idealen Beute des Mythos werden« (284). 5 | Der Topos des Geschichtsentzugs durch den Mythos ist zentral für Barthes’ MythosTheorie: »[…] der eigentliche Zweck der Mythen ist es, die Welt unveränderlich zu machen« [311]; sie haben das Ziel, »jede geschichtliche Situierung zu leugnen« [214]; sie generieren »eine Ordnung von Behauptungen, denen alle Geschichte entwichen ist« [227], oder wie es auch heißt: »Der Mythos entzieht dem Gegenstand, von dem er spricht, jede Geschichte.« [306; ebenso 268]. 6 | Vgl. auch 270, 273, 278, 295f; dass Barthes »Rede« (»parole«) synonym mit »Sprache« verwendet (vgl. etwa auch 117, 251), lässt sich freilich nicht auf Saussure zurückführen, dessen Theorie er als Bezugstheorie angibt. Vgl. Barthes’ Hinweis auf seine Saussure-Lektüre im Vorwort der Ausgabe von 1970 (R. Barthes: Mythen des Alltags, S. 9) sowie seine Bezugnahmen auf Saussures Semiologie-Idee (S. 253ff, 257ff). 7 | Der Mythologe »entziffert den Mythos, er erkennt ihn als Deformation« [276]. Während dem Mythenleser der ideologische Mechanismus verborgen bleibt, weil seiner Lektüre alles so erscheint, »als riefe das Bild ganz natürlich den Begriff hervor, als fundierte der Signifikant das Signifikat«, ›zertrümmert‹ der Mythologe die scheinbare quasi natürliche Evidenz des Mythos [278].

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die – wie man sie nennen könnte – ›doppelte Semantik‹ der einzelnen kulturellen Figurationen, auf die »Oszillation« [269] zwischen den in einem ersten semiologischen System verfügbaren Sinnressourcen auf der einen und der ›mythischen Bedeutung‹, die er auch ›Ultra-Bedeutung‹ nennt [283], auf der anderen Seite, mit der der Mythos als ›sekundäres System‹ den primären Sinn überschreibt: Die mythische Rede operiert also als »eine zweite Sprache […], in der man von der ersten spricht« [259], sie »wird aus einer Materie geformt, die im Hinblick auf die entsprechende Botschaft schon bearbeitet ist« [253].8 Eben diesen semiologischen Mechanismus  – von ihm wird noch näher die Rede sein – versucht der Mythologe zu entziffern: Er führt an einem reichen Register unterschiedlicher medialer Gestaltungen9 vor, wie sich eine ›parasitäre‹, nämlich mythische Bedeutung als sekundäre in einen primären Sinn ›einschleichen‹ [281f], ihn ›deformieren‹ [269ff] und ihn gleichsam in den prämortalen Zustand des ›aufgeschobenen Todes‹ versetzen kann.

3.  M y thische ›A rbeitsproben‹ Bei den von Barthes aus dem Horizont der Alltagskultur zum Zwecke seiner semiologischen Analyse herausgegriffenen mythischen Phänomenen handelt es sich um Fallbeispiele, an denen der Mythos bei seiner Deformationsarbeit in medial individualisierten Formen beobachtet werden kann. Das Ensemble dieser Arbeitsproben des Mythos reicht von mythischen Objekten wie etwa »Einsteins Gehirn« [118ff] oder dem auf dem Pariser Autosalon 1955 präsentierten ›neuen Citroën‹, DS 19 [196ff], der Göttin (DS = déesse), die Barthes Anlass gibt, Automobil und Kathedrale gleichermaßen als »epochale Schöpfung« zu deuten [196], über Reportagen wie etwa der von Paris Match über den »JetMan« als »Mythos des Fliegers« [121ff] oder einer Reportage des Figaro, die den Leser ›vertraulich‹ am Alltag des ›Schriftstellers in Ferien‹ (André Gide) partizipieren läßt [37ff], bis hin zu Ereignissen wie etwa dem der »Tour de France« [143ff]. Ein zentrales Demonstrationsobjekt schließlich ist ein Portrait-Foto auf der Titelseite von Paris Match, das Barthes im zweiten Teil10 der Mythen des 8 | Vgl. auch R. Barthes: Mythen des Alltags, S. 258, 280, 299f; vgl. hierzu auch unten Abschnitt 4. 9 | Vgl. ebd., S. 252: »Der schriftliche Diskurs, aber auch die Photographie, der Film, die Reportage, der Sport, Schauspiele, Werbung, all das kann als Träger der mythischen Rede dienen.« 10 | Den zweiten Teil seines Buches »Der Mythos heute« verfasste Barthes nachträglich anlässlich des Erscheinens der Mythologien 1957 in Buchform. Die Kapitel waren zuvor fast alle zwischen 1954 und 1956 als essayistische Artikel »jeweils aus aktuellem Anlaß«

›Sinn ist ein aufgeschobener Tod‹ – Anmerkungen zu Barthes’ Idee des Mythos

Alltags als Beispiel11 heranzieht, um an ihm den ›konstitutiven Mechanismus‹ [276] der ›mythischen Rede‹ in einer Theorie des Mythos zu entfalten: das Foto ›eines jungen Negers‹12 in französischer Uniform, der ›den militärischen Gruß erweist‹, »die Augen erhoben und vermutlich auf eine Falte der Trikolore gerichtet« [260]. An diesem Beispiel13 erläutert Barthes seinen zentralen semiologischen Gedanken, dass es sich bei dem Mythos um ein »erweitertes« [260f], ein »sekundäres semiologisches System« handelt, das auf einer primären »semiologischen Kette auf baut« [258], genauerhin, dass die ›mythische Rede‹ sich eine primäre (piktorale) Semantik – ›salutierender Neger‹ – aneignet, um eine sekundäre, mythische Semantik zu etablieren, den ›Begriff‹ ›französische Imperialität‹, wobei die Mächtigkeit der semantischen Evidenz14 des mythischen Begriffs darin besteht, dass das Bild des salutierenden, dunkelhäutigen Soldaten für den ›naiven Mythenleser‹ [277] (freilich nicht für den ›Mythologen‹!) »ganz natürlich15 den Begriff [der französischen Imperialität] hervorruft« [278]: »Der Mythos existiert genau von dem Moment an, in dem die französische Imperialität in den Naturzustand übergeht« [278]. In der ›Zertrümmerung‹ [278] dieser Natürlichkeit, in der ›Störung‹16 der semantischen Evidenz, d. h. in der ›Zerstörung der Bedeutung des Mythos‹ [276] [11] in der Zeitschrift Les lettres nouvelles erschienen: »Erst nachdem ich eine Reihe aktueller Ereignisse untersucht hatte, unternahm ich den Versuch, den zeitgenössischen Mythos methodisch zu definieren« [12]. 11 | Das zweite Beispiel, das er heranzieht, ist ein in einer lateinischen Grammatik enthaltener Beispielsatz »aus einer Fabel von Äsop oder Phädrus« [259ff] (quia ego nominor leo), an dessen ›doppelter Bedeutung‹ ([1] »ich werde Löwe genannt«, [2] »ich bin ein grammatisches Beispiel« er den Mechanismus der mythischen Rede erläutert. 12 | Dass Barthes das Wort »Neger (nègre)« ohne jede Distanzierungsmarkierung verwendet, zeigt, dass sein Gebrauch am Ende der 1950er-Jahre noch nicht gegen die Regeln der politischen Korrektheit verstieß. ›Liest‹ man im Übrigen das Paris-Match-Titelbild mit den Augen des spectators aus Barthes’ Heller Kammer [vgl. R. Barthes: Die helle Kammer], so sticht weniger die dunkle Haut des französischen Soldaten hervor, als vielmehr seine Kindlichkeit. Das Punctum des Bildes, »das mir mitten aus der Seite ins Auge springt« [R. Barthes: Die helle Kammer, S. 52], ist, dass der ›salutierende Neger‹ wie ein Kindersoldat wirkt. 13 | Die Analyse des ›kleinbürgerlichen Mythos des Negers‹ [82ff] durchzieht den theoretischen, zweiten Teil der Mythen des Alltags wie ein roter Faden [vgl. 228, 260f; 263, 264, 269, 271, 272, 276f, 280, 296, 307]. 14 | Vgl. zu Barthes’ Verwendung des Evidenzbegriffes etwa 278, 286; hierzu auch L. Jäger, Semantische Evidenz, S. 39–62. 15 | Kursivierung von mir. 16 | Vgl. zum Begriff der ›Störung‹ L. Jäger: Störung und Transparenz, hier S. 41–48 sowie 59ff.

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besteht dann die genuine semiologische Arbeit des Mythologen: Ihr geht es im Wesentlichen darum, die Gewalt zum Vorschein zu bringen, mit der die semantischen Operationen des Mythos im Interesse der Artikulation eigener Bedeutungsintentionen [vgl. 253] vorfindliche Alltagssemantiken ›deformieren‹ und ›Geschichte in Natur verwandeln‹ [294]17. Barthes’ Demontagen der Alltagsmythen enthüllen die mythische Semantik in ihrem Zentrum, im Kern ihres Verfahrens, da wo sie ›im Übergang der Geschichte zur Natur‹ eine ›Welt ohne Widersprüche‹ organisiert und den Grund für eine ›glückliche Klarheit‹ ihrer Bilder legt. Sie ermöglichen jenen »Rückgang hinter das unmittelbar Sichtbare«, den der Mythos im Zuge seiner Deformationsarbeit zu ›unterdrücken‹ sucht [vgl. 296]. Es ist vor allem dieser Prozess ›der Naturalisierung von Begriffen‹, das mythische Verfahren, vorgefundene Semantiken zu überschreiben und sie als deformierte mit Evidenz auszustatten, das Barthes als konstitutives Moment seiner semiologischen Theorie des Mythos herausarbeitet und dessen ›Demontage‹ [9] den zentralen Gegenstand der mythologischen Entzifferung darstellt. Dieser Operationsmodus des Mythos soll im Folgenden näher fokussiert werden.

4.  ›A neignung‹

und

›D eformation‹: V erfahren

des

M y thos

Barthes begreift den Mythos, wie sich bereits oben gezeigt hat, als eine »Weise des Bedeutens«. Er ist nicht bestimmt »durch den Gegenstand seiner Botschaft, sondern durch die Art, wie er sie äußert« [251]. Er muss als ein semantisches Verfahren verstanden werden, dem ein »semiologisches Schema« zugrunde liegt [257], durch das er bestimmt und organisiert wird. In einem gewissen Sinne lässt sich der Mythos dabei als eine Aneignungsmaschine – oder besser: eine Wiederverarbeitungsmaschine – verstehen, die das, was sie sich (widerrechtlich) aneignet, nämlich den ›Sinn‹ des primären sprachlichen Systems, auf den sie zugreift, gleichsam zweckentfremdet, d. h. ihn ihren eigenen semantischen Intentionen unterwirft.

4.1  Die Utopie der ›transitiven Sprache‹ Der Mythos ist, wie Barthes formuliert, »stets Diebstahl an einer Sprache« [280]. Er ›stiehlt die Sprache‹ [286], von der aus er sich ›besitzergreifend‹ [272] entwickelt und verwendet sie für seine Zwecke. Er ist eine »entwendete und zurückerstattete Rede«, wobei freilich »die zurückgegebene Rede nicht mehr ganz die gestohlene [ist]« [273]. Die Bedeutung des salutierenden, dunkel17 | Vgl. Anm. 5.

›Sinn ist ein aufgeschobener Tod‹ – Anmerkungen zu Barthes’ Idee des Mythos

häutigen Soldaten ist nicht mehr einfach das, was das Titelbild an seiner ikonographischen Oberfläche zum Ausdruck bringt, ›salutierender, dunkelhäutiger Soldat‹, sondern eine ›Überschreibung‹ (Entwendung) der primären Bedeutung durch eine zweite (zurückgegebene) mythische Bedeutung – nämlich: ›französische Imperialität‹, die durch diese Überschreibung mit semantischer Evidenz ausgestattet wird. Der Mythos operiert also semiologisch zugleich mächtig und deformativ: Das Verhältnis der mythischen Semantik zu dem von ihr ›erbeuteten‹ [252] Sinn »ist wesentlich ein Deformationsverhältnis« [vgl. 268f, 281, 297]. Dass der Mythos in seinen Operationen Sinn deformiert, liegt vor allem daran, dass das primäre sprachliche/mediale System, auf das er trifft und das er sich zu Eigen macht, von Entstellung unberührt ist. Die entwendete Sprache ist eine unentstellte Sprache. In dem Modell der primären Sprache als unentstellter Sprache zeigt sich als regulative Idee eine kommunikationstheoretische Utopie Barthes’, die Utopie einer Sprache nämlich, in die der Mythos nicht eindringen kann, in der »der Mensch spricht, um das Reale zu verändern und nicht, um es als Bild zu bewahren […]« [300]. Bei der nicht-mythischen Sprache, die Barthes auch Objektsprache nennt [299ff], handelt es sich – so Barthes – um eine transitive Sprache, eine Sprache, die nicht von den und über die Dinge spricht, sondern um eine, die »die Dinge spricht« [297]: »Wenn ich Holzfäller bin und auf den Baum zu sprechen komme, den ich fälle, dann spreche ich den Baum […] ich spreche nicht über den Baum« [299].18 Unabhängig davon, wie man nun zu Barthes’ Utopie der transitiven Sprache steht, bleibt in jedem Fall festzuhalten, dass der Mythos einen Sinn wiederverarbeitet, den er vorfindet: Er ist nicht referentiell auf die Welt selbst gerichtet – »aus der Natur der Dinge kann er nicht hervorgehen« [252] –, sondern auf semiologisches Material, das in unterschiedlichen medialen Gestalten auftreten kann: »Der schriftliche Diskurs, aber auch die Photographie, der Film, die Reportage, der Sport, Schauspiele, Werbung, all das kann als Träger der mythischen Rede dienen« [252]. Der Mythos findet also immer schon eine medial vielgestaltige erste ›Sprache‹ vor (und nicht ›die Dinge selbst‹), die er verarbeitet. Diese greift er in einer ›zweiten Sprache‹ auf, in der »nicht die Dinge, sondern ihre Namen« verhandelt werden [299], »denn der Mythos kann nur auf Objekte einwirken, die bereits die Vermittlung einer ersten Sprache erfahren haben« [299f]. »Der Mythos [ist] immer Metasprache« [297, 315] und von dieser Machtposition aus stellt er die Semantik der ersten Sprache still und mortalisiert sie tendenziell. Dass die »mythische Rede […] aus einer Materie geformt [wird], die im Hinblick auf eine entsprechende Botschaft schon bearbeitet ist« [253], dass sie nicht im Modus einer gleichsam direkten Bezugnahme auf die Welt agieren kann, 18 | Vgl. auch [315]: »Der Mechaniker, der Ingenieur […] sprechen das Objekt […].«

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unterstellt ein semantisches Normalverfahren, das den Bezug von Zeichen auf Zeichen, von ›Sprache‹ auf ›Sprache‹ als ein abgeleitetes, gewissermaßen nicht originäres Verfahren ansieht, weil der Standardfall des Bedeutens, wie ihn die ›Objektsprache‹ bereitstellt, in der grundlegenderen Bezugnahmeform von Zeichen auf die Wirklichkeit besteht, also in einer Weise des Bedeutens, in der die »Sprache […] mit ihrem Objekt transitiv verbunden« ist [299]. Hierbei ist die Sprache im Umgang mit den Dingen frei: Die Bedeutungen, die sie hervorbringt, sind »arbiträr«19 – im Gegensatz zur ›mythischen Bedeutung‹, die »nie vollständig arbiträr« sein kann [273], weil sie kein unvermitteltes Nahverhältnis zu den ›Dingen‹ hat, sondern immer bei schon bestehendem Sinn ansetzen muss. Die mythische Sprache muss also ihre Mortalisierungsmacht mit einem schweren Mangel erkaufen: Sie kann sich immer nur medial vermittelt auf die Welt beziehen. Über Transitivität verfügt sie nicht. Sie ist zur Transkriptivität 20 verdammt, »zur Metasprache verurteilt« [Barthes: Mythen des Alltags., 315].

4.2  Die Transkriptivität der ›primären Sprache‹ Nun kann man freilich mit guten epistemologischen und zeichentheoretischen Gründen die These vertreten, dass es keine Weise des Bedeutens gibt, in der nicht bereits in der ›ersten Sprache‹ die referentielle Bezugnahme auf die Welt der Gegenstände und Sachverhalte verwoben ist und ermöglicht wird durch inferentielle Bezugnahmen von Zeichen auf Zeichen21, dass die Referenz notwendig ein narratives Fundament hat.22 Zeichen sind nicht dadurch arbiträr, dass sie bei der Bezugnahme auf Gegenstände und Sachverhalte der Realwelt von anderen Zeichen unabhängig wären (was sie nicht sind), sondern dadurch, dass sie ihre semantische Aufladung unabhängig von präsprachlichen Dingen oder kognitiv-mentalen Entitäten (Begriffen etc.) bewerkstelligen. Der »Sinn 19 | »In der Sprache ist das Zeichen bekanntlich willkürlich: nichts verpflichtet das akustische Bild Baum, auf »natürliche« Weise den Begriff Baum zu bedeuten« (R. Barthes: Mythen des Alltags, S. 108). Hierbei handelt es sich freilich nur um Saussures Verständnis von ›relativer Arbitrarität‹, nicht aber um das der ›absoluten/radikalen Arbitrarität‹. Vgl. hierzu etwa L. Jäger: Ferdinand de Saussure. Eine Einführung, S. 138ff; ebenso L. Jäger: F. de Saussures historisch-hermeneutische Idee der Sprache, S. 210–244, hier S. 236ff. 20 | Die Transkriptionshypothese geht davon aus, dass Transkriptivität, also die Eigenschaft der Sprache, rekursiv auf sich selbst Bezug nehmen zu können, eine konstitutive Eigenschaft von Sprache und nicht nur die abgeleitete Eigenschaft einer ›sekundären‹ Sprache darstellt. Zum Begriff der ›Transkriptivität‹ vgl. etwa L.  Jäger: Transkription, S. 306–315. 21 | Vgl. hierzu etwa L.  Jäger: Intermedialität  – Intramedialität  – Transkriptivität, S. 301–324. 22 | Vgl hierzu L. Jäger: Die ›Apartheit‹ der Semantik. S. 11–26.

›Sinn ist ein aufgeschobener Tod‹ – Anmerkungen zu Barthes’ Idee des Mythos

der Dinge« liegt nicht der Sprache »als präsemiologischer Zustand« voraus [283].23 Wenn die Arbitrarität der Zeichen in einer ›Freiheit‹ besteht, dann ist es ihre Unabhängigkeit von nicht-semiologischen Bestimmungsgründen ihrer Bedeutungen (Referenzgegenständen, Begriffen etc.), nicht aber die ›Freiheit‹ von anderen Zeichen (was immer das sein könnte).24 Dass Zeichen unterschiedlicher medialer Provenienz auf andere Zeichen Bezug nehmen (und hierdurch vermittelt auf die ›Wirklichkeit‹), ist durchaus unter den ›Weisen der Bedeutung‹ der Standardfall. Ja – man muss wohl davon ausgehen, dass hierin ein grundlegender Operationsmodus der kulturellen Semantik besteht, die in einem viel umfassenderen Maße ›bereits bearbeitete (semiologische) Materie‹ wiederverarbeitet, als das Barthes anzunehmen scheint. Die kulturelle Semantik ist nicht nur in ihrer mythischen Variante, sondern in ihrer Grundverfassung durch Verfahren der Bezugnahme von Zeichen auf Zeichen, d. h. durch transkriptive Verfahren25 geprägt. Kultureller Sinn kann prinzipiell nur da entstehen, wo Medien bzw. Symbolsysteme entweder auf sich selbst oder auf andere Bezug nehmen und transkribierend auf das multimediale Universum vergangener oder gegenwärtiger Kommunikate zurückgreifen. Diese fungieren  – um mit Burke zu reden  – als das ›Baumaterial der kulturellen Konstruktion‹26, auf das die Transkription zugreift, ein Material, das immer bereits medialen Status hat, also eine ›bereits bearbeitete Materie‹ [253] darstellt. In die Konstitution von Sinn ist also immer eine mediale Bewegung27 eingeschrieben, in deren Vollzug sich Medien in einer rekursiven Geste auf sich selbst oder auf andere Medien, d. h. auf die Spuren vergangener Mediationen beziehen. Nur wenn man – wie Barthes das tut – ›Weisen des Bedeutens‹ privilegiert und für allein authentisch hält, in denen ›Objekte‹ nicht schon die Vermittlung einer ersten Sprache erfahren haben, lässt sich das mythische Verfahren hinsichtlich seiner transkriptiven Natur als eine ›Deformierung‹ interpretieren. Nur dann kann man auch in dem Umstand, dass der Mythos »nur auf Objekte einwirken [kann], die bereits die Vermittlung durch eine Sprache erfahren haben« [300], eine seiner wesentlichen Eigentümlichkeit 23 | Barthes hält es für eine Eigenschaft der Poesie, dass sie danach strebt, »einen präsemiologischen Zustand der Sprache« wiederzufinden, um »nicht zum Sinn der Wörter, sondern zum Sinn der Dinge selbst zu gelangen.« Vgl. R. Barthes: Mythen des Alltags, S. 283. 24 | Eben hierin scheint Barthes aber fälschlicherweise das Wesen der Arbitrarität zu verorten: »In einem einfachen System wie dem der Sprache [langue] kann das Signifikat nichts deformieren, weil der leere, arbiträre Signifikant ihm keinerlei Widerstand bietet« [268]. 25 | Vgl. hierzu Anm. 20. 26 | Vgl. P. Burke: Was ist Kulturgeschichte? S. 145. 27 | Vgl. hierzu etwa L. Jäger: Bezugnahmepraktiken, S. 13–41.

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sehen, obgleich diese Bestimmung tatsächlich nicht erst für die ›Metasprache‹ des Mythos, sondern bereits für die ›Objektsprachen‹ gilt, die sich der Mythos aneignet.

5.  S inn

ist ein ›aufgeschobener Tod ‹

Barthes’ Versuch, bei der Entfaltung seines Mythos-Begriffes auf Saussures Semiologie28 zurückzugreifen, ist grundlegend und fruchtbar, freilich in verschiedener Hinsicht auch problematisch. Zunächst legt Barthes mit Recht einen Zeichenbegriff zugrunde, der hinsichtlich der Konstituenten des Zeichens nicht binär, sondern ternär konzipiert ist.29 Das Zeichen ist eine Beziehung zwischen drei und nicht zwischen zwei Termen. Die ›engen funktionalen Implikationen‹ zwischen diesen drei Zeichen-Konstituenten (Signifikant, Signifikat, Zeichenganzes) sind auch ›für die Untersuchung des Mythos als semiologisches Schema unerlässlich‹ [256f], weil sich das dreidimensionale Schema im Mythos wiederfindet. Es tritt hier freilich in einer erweiterten Form auf: Der Mythos ist nämlich für Barthes insofern ein besonderes semiologisches System, als er – wie sich bereits oben gezeigt hat – »auf einer semiologischen Kette auf baut, die schon vor ihm existiert«. Er ist »ein sekundäres semiologisches System« [258], das auf ein erstes System, auf die Sprache (im medial erweiterten Sinne des Begriffs) zugreift, wobei für Barthes dieser Zugriff mit einer Reduktion des ersten Systems verbunden ist: Die Zeichen-Ganzheiten aus Signifikant und Signifikat der ›ersten Sprache‹ werden in der zweiten, der ›mythischen Rede‹, zu einfachen Signifikanten, oder anders – der Mythos transformiert die (ganzen) Zeichen des ersten Systems in bloße Signifikanten, die er für seine eigenen Semantisierungsintentionen nutzen kann [258]. Im Signifikanten des mythischen Zeichens überlappen sich also für Barthes das (ganze) Zeichen des ersten (»abschließender Term«) und die Ausdrucksseite des zweiten Systems (»Ausgangsterm«). Beide Überlappungsmomente nennt Barthes einmal  – mit Blick auf das erste System  – Sinn und bezüglich des zweiten Systems Form. Das semiologische Schema des Mythos greift auf den Sinn des sprachlichen Zeichens zu und verwandelt es in »eine leere parasitäre Form« [262], die neu semantisiert werden muß, weil sie als ›leere‹, ›verarmte‹ Form »nach einer Bedeutung [verlangt], die sie ausfüllt« [263]. In gewissem Sinne lässt sich das mythische Verfahren im theoretischen und termino28 | Vgl. hierzu etwa L. Jäger: Intermedialität  – Intramedialität  – Transkriptivität, S. 134–163. 29 | Zur ternären Struktur des Saussureschen Zeichenbegriffs vgl. auch L. Jäger: F. de Saussures semiologische Begründung der Sprachtheorie, S. 18–30, hier S. 25ff; ebenso L. Jäger: Aposème und Parasème – Das Spiel der Zeichen, S. 49–71; hier S. 54ff.

›Sinn ist ein aufgeschobener Tod‹ – Anmerkungen zu Barthes’ Idee des Mythos

logischen Rahmen der Barthes’schen Überlegungen als ein Sinn-Form-Transfer beschreiben, als eine Entleerung des Sinns, der aus der Semantik des ersten, des sprachlichen Systems, in das semiologische System des Mythos herüberreicht, aber nur als eine leere Form überlebt, die neu mit einer mythischen Semantik aufgefüllt werden kann und muss. Beim »Übergang vom Sinn zur Form« [264] verdrängt der Signifikant des mythischen Zeichens zunächst den semantischen Reichtum des ersten Systems [263], der nun nur noch ein ›zurückgedrängter Reichtum‹ ist [263], um das neue Wissen des mythischen Begriffs/Signifikats aufzunehmen [264]. Der alte Sinn des ersten Systems ›verarmt‹ und wird ›entfernt‹ [vgl. 262f], indem er durch den ›mythischen Begriff‹ [265] überschrieben wird, er wird zur ›tabula rasa‹. Wir haben es hier also mit einer »anomalen Regression von Sinn zur Form, vom sprachlichen30 Zeichen zum mythischen Signifikanten zu tun« [262]. Gleichwohl bleibt unter dem neuen mythischen Wissen das alte sprachliche Wissen gleichsam palimpsestartig erhalten, die entleerte Form des mythischen Zeichens löscht den überschriebenen Sinn nicht wirklich vollständig aus: »sie läßt ihn verarmen, drängt ihn zurück, hält ihn sich zur Verfügung. Man glaubt, der Sinn werde sterben, aber es ist ein aufgeschobener Tod; der Sinn verliert seinen Wert, bleibt jedoch am Leben, und die Form des Mythos wird von ihm zehren.« [263; vgl auch 282]. Es ist dieses »Versteckspiel von Sinn und Form«, das für Barthes »den Mythos ausmacht« [263].

6.  D ie Transkriptivität

des

S emiologischen

Der Kerngedanke der Mythos-Theorie Barthes’ besteht also, wie sich bislang gezeigt hat, in der Annahme, dass der Mythos als semiologisches Schema bei der Entfaltung seiner semantischen Macht als ein Meta-Zeichensystem operiert, das sich eines ›objektsprachlichen‹ ersten Zeichensystems bedient und dessen sinnentleerte Zeichen als Signifikanten seiner eigenen Bedeutungsproduktion heranzieht. Aber gerade hier entsteht, wie sich bereits oben angekündigt hat, ein grundsätzliches Problem der Barthes’schen Bestimmung des Mythos. Denn der Umstand, dass es die mythischen Semantisierungsprozesse nicht direkt mit präsemiologischen Dingen und Sachverhalten, sondern immer schon mit Zeichen zu tun haben, ist keine Eigentümlichkeit des Mythos, sondern eine der kulturellen Semantik überhaupt – eine Eigentümlichkeit, durch die bereits das ›erste‹ semiologische System, das der Sprache, 30 | Der Übersetzer der neuen Ausgabe der »Mythen des Alltags« übersetzt »linguistique« durchgängig mit »linguistisch«, also auch »signe linguistique« als »linguistisches Zeichen«; gemeint ist aber offensichtlich »sprachliches« Zeichen. Ich habe die Übersetzung deshalb hier entsprechend korrigiert.

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bestimmt ist, das sich auch nur dadurch auf Gegenstände und Sachverhalte einer trans-semiologischen Welt beziehen kann, dass es sich systemintern auf andere Zeichen zu beziehen vermag. Es gibt in der kulturellen Semantik keine ›Objekt-Meta-Differenz‹ zwischen Zeichensystemen derart, dass die Bezugnahme von Zeichen auf Zeichen sich notwendigerweise als die eines Metasystems auf die Zeichen eines primären Systems vollzöge. Wie auch immer man den Mythos theoretisch bestimmt, seine differentia specifica wird nicht darin bestehen können, dass er als »eine zweite Sprache [operiert], in der man von der ersten spricht« [259]. Es ist nämlich – wie sich bereits gezeigt hat – eine grundlegende Eigenschaft von semiologischen Systemen allgemein, dass sie sich rekursiv auf sich selbst (oder auf andere Systeme) beziehen können. Die Fragilität von Zeichenbedeutungen macht es unabdingbar notwendig, dass es jederzeit möglich ist, im Zuge der Verwendung von Zeichen diese aus dem Zeichenfluss herauszugreifen, sie gleichsam stillzustellen und sie im Hinblick auf ihre Semantik verhandelbar zu machen. Mediale Systeme – und insbesondere die Sprache – leben davon, dass sie ihre Zeichen im Interesse der semantischen Neukonfiguration phasenweise (wenn auch nicht auf Dauer)31 mortalisieren können. Der von Barthes am Mythos beschriebene Prozess der ›Leerung‹ und ›Wiederauffüllung‹ von Bedeutung kennzeichnet latent jede Prozessierung von Zeichen. Jede Verwendung eines (sprachlichen) Zeichens ist in gewissem Sinne eine Operation der Resemantisierung dieses Zeichens. Freilich wird dieses transkriptive Moment der Resemantisierung nicht notwendigerweise sichtbar, weil es angesiedelt ist auf einer Skala, die von der Iteration im Modus der Vertrautheit bis zur Fokussierung und Stillstellung des Zeichens im Modus der Störung32 und der transkriptiven Nachbearbeitung reicht. Solange die Semantik der Zeichen für die Diskursbeteiligten evident (ungestört) bleibt, wird ihre Fragilität nicht sichtbar und es besteht kein Anlass für offene transkriptive Bearbeitungen. Gleichwohl ist jeder Zeichengebrauch eine virtuelle semantische Verschiebung. Saussure spricht insofern zu Recht davon, dass jede Zeichenverwendung eine Reeditierung des Zeichens darstelle.33 Zeichenverwendungen sind grundsätzlich bis zu einem gewissen Grade ›sinnentleerende‹ Passagen von ›Sinn zur Form‹ [262ff) sowie Resemantisierungen der Form. Dies ist nicht zwingenderweise ein Prozess zwischen zwei semiologischen Systemen, von denen eines die Objekt- und das zweite die Metasprache darstellt, wenn es natürlich auch diese intermediale Variante gibt. Vielmehr 31 | Vgl. hierzu unten Abschnitt 7. 32 | Vgl. L. Jäger: Störung und Transparenz, S. 35–73. 33 | Für Saussure ist der »Gegenstand, der als Zeichen dient, […] nie zweimal ›der gleiche‹«; selbst im Zeitraum von 24 Stunden wird »jedes Element […] Tausende von Malen neu editiert [reédité]« [vgl. F. de Saussure: Linguistik und Semiologie, S. 303].

›Sinn ist ein aufgeschobener Tod‹ – Anmerkungen zu Barthes’ Idee des Mythos

haben wir hier das transkriptive ›Kerngeschäft‹ semiologischer Operativität vor uns, das bereits auf der Stufe der Zeichenverwendung in der ›ersten Sprache‹ die Passage von ›Sinn‹ zu ›Form‹ und wieder zu ›Sinn‹ innerhalb desselben Systems organisiert.

7.  M y thisches Telos : V erdauerung

semantischer

E videnz

Im Zuge unserer bisherigen Überlegungen hat sich gezeigt, dass für Barthes’ Versuch, die Spezifik der ›mythischen Rede‹ aus dem Umstand abzuleiten, dass der Mythos »ein sekundäres semiologisches System [ist]«, dass »er auf einer semiologischen Kette auf baut, die schon vor ihm existiert« [258], nicht überzeugend argumentiert werden kann: Dass Zeichen auf Zeichen Bezug nehmen, dass sie immer wieder auf semiologische Ketten auf bauen, die schon existieren, muss als ein allgemeines Bestimmungsmoment von semiologischen Systemen überhaupt angesehen werden. Es kann nicht den Mythos als besonderes System auszeichnen. Die für Barthes zentrale Unterscheidung von (transkriptionsfreier) ›transitiver Objektsprache‹ und (transkriptiver) mythischer ›Metasprache‹ ist – wie sich gezeigt hat – sowohl in epistemologischer als auch in zeichentheoretischer Hinsicht nicht legitimierbar. Freilich führt Barthes ein zweites, zeichentheoretisch reformulierbares, theoretisches Moment zur Bestimmung der ›mythischen Rede‹ ins Feld, das als ein besserer Kandidat ihrer ›Auszeichnung‹ als besonderes semiologisches System geeignet sein könnte: Der Mythos ist nämlich für Barthes nicht nur eine Wiederverarbeitungsmaschine, sondern zugleich – wie sich oben gezeigt hat – auch eine ›Naturalisierungsmaschine‹. Es ist für ihn eine zentrale Leistung des Mythos, dass er Begriffe ›naturalisiert‹ [278]. Mit diesem Bestimmungsmoment sind wir, wie Barthes formuliert, »beim eigentlichen Prinzip des Mythos« angelangt: »Er verwandelt Geschichte in Natur« [278; vgl. ebenso 9, 11, 214, 227, 306], und zwar dadurch, dass er in »der dekorativen Darstellung des Selbstverständlichen« »falsche Evidenzen« [11] erzeugt: »Deshalb wird der Mythos als unschuldige Rede erlebt: nicht weil seine Absichten verborgen wären […], sondern weil sie zur Natur geworden sind« [280]. Wie oben bereits erörtert wurde, verwandelt sich  – folgt man Barthes  – das Foto des in französischer Uniform ›salutierenden Negers‹ für den Mythos-Leser in »die Präsenz der französischen Imperialität« [276]: »alles geschieht so, als riefe das Bild ganz natürlich den Begriff hervor, als fundierte der Signifikant das Signifikat« [278]. Die zweite wesentliche Funktion des Mythos besteht also darin, dass er bei dem Leser ›die Beziehung von Signifikant und Signifikat in ein natürliches Verhältnis‹ transformiert [280] und so eine »Naturalisierung des Begriffs« inszeniert [279].

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In der Tat scheint es nun so, als ließe sich mit dieser Barthes’schen Bestimmung ein semiologisch rekonstruierbares, für den Mythos konstitutives Moment freilegen. Es ist die Naturalisierung seiner Begriffe, durch die der Mythos Geschichte in Natur, Arbitrarität in Motiviertheit, Transitivität in Präsenz verwandelt und so eine ›Mystifikation‹ erzeugt, »die die kleinbürgerliche Kultur in universelle Natur verwandelt« [9]. Sie bewirkt durch die Generierung ›falscher Evidenzen‹ [11] das, was man mit einem Terminus Jürgen Links eine kulturelle ›Normalisierung‹34 der mythischen Verfasstheit des französischen Alltagslebens nennen könnte: »Ganz Frankreich ist in diese anonyme Ideologie eingetaucht: Unsere Presse, unser Film, unser Theater, unsere Gebrauchsliteratur, unsere Zeremonien, unsere Justiz, unsere Diplomatie […] die Hochzeit, die uns bewegt, die Küche, von der wir träumen, die Kleidung, die wir tragen, alles in unserem Alltagsleben ist davon abhängig, wie die Bourgeoisie die Beziehung zwischen dem Menschen und der Welt sich vorstellt und uns darstellt« [292]. Versucht man die Idee der ›Naturalisierung von Begriffen‹ zeichen- und medientheoretisch zu reformulieren, so ließe sie sich verstehen als Ausdruck eines Telos, das dem Mythos Barthes’scher Provenienz inhärent zu sein scheint, des Telos nämlich, die ständige, für die Medien und Semiologien der kulturellen Kommunikation charakteristische Oszillation, die konstitutive Bewegung zwischen ›stillem‹ und ›explizitem Wissen‹, zwischen ›Vertrautheit‹ und ›Relevanz‹, zwischen ›Transparenz‹ und ›Störung‹, anzuhalten und den Zustand von Implizitheit, habitueller Vertrautheit und Zeichentransparenz zu verdauern35. Wenn man einerseits die Transparenz (habituelle Vertrautheit) von Zeichen/Medien als einen Aggregatzustand der Kommunikation versteht, den das Zeichen/Medium dann annimmt, wenn die mediatisierte Semantik als stilles Wissen kommunikativ nicht irritiert ist, d. h. wenn sie in ihrer semantischen Evidenz problemlose Geltung hat und andererseits unter Störung (Relevanz) einen kommunikativen Aggregatzustand, in dem das Zeichen/Medium als solches sichtbar und damit resemantisierbar zu werden vermag, so bestünde der Prozess der ›Naturalisierung der Begriffe‹ in dem Versuch, die Semantiken des Mythos für kommunikative Störungen unanfällig zu machen, sie also Resemantisierungen zu entziehen; Phasen semantischer Evidenz und kultureller Vertrautheit würden so auf Dauer gestellt und gleichsam arretiert [vgl. 272]. Der »Entzug der Geschichte« [306] bestünde dann in einem Entzug semantischer Offenheit, im Verbergen der für kulturelle Semantiken konstitutiven Fragilität. Die Löschung des jeweils überschriebenen Sinns wäre auf Dauer gestellt; der ›Tod des Sinns‹ wäre nicht nur aufgeschoben; seine Mortifizierung wäre vielmehr ein finaler Zustand [263]. Die erfolgreiche »Kolonisie34 | Vgl. zum Begriff der »Normalisierung« J. Link: Versuch über den Normalismus. 35 | Vgl. hierzu L. Jäger: Störung und Transparenz.

›Sinn ist ein aufgeschobener Tod‹ – Anmerkungen zu Barthes’ Idee des Mythos

rung« [281] der Semantik durch den Mythos läutete ein neues Zeitalter ein: das Zeitalter nach der Sprachkritik.

B ibliografie Barthes, Roland: Die helle Kammer. Bemerkungen zur Photographie. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1989. Barthes, Roland: Mythen des Alltags. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1964. Barthes, Roland: Mythen des Alltags. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2015. Blumenberg, Hans: Wirklichkeitsbegriff und Wirkungspotential des Mythos, in: Manfred Fuhrmann (Hg.): Terror und Spiel. Probleme der Mythenrezeption. München: Fink 1971, S. 11–66. Burke, Peter: Was ist Kulturgeschichte? Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2005. Jäger, Ludwig: Aposème und Parasème  – Das Spiel der Zeichen. Saussures semiologische Skizzen in den »Notes«, in: Zeitschrift für Semiotik 30/1–2 (2008). Themenheft: Medialität und Sozialität sprachlicher Zeichen, hg. von Jan Georg Schneider, S. 49–71, hier S. 54ff. Jäger, Ludwig: Bezugnahmepraktiken. Skizze zur operativen Logik der Mediensemantik, in: Ludwig Jäger/Gisela Fehrmann/Meike Adam (Hg.), Medienbewegungen. Praktiken der Bezugnahme. München: Fink 2012, S. 13–41. Jäger, Ludwig, Die »Apartheit« der Semantik. Bemerkungen zum narrativen Fundament der Referenz, in: Axel Rüth/Michael Schwarze (Hg.), Erfahrung und Referenz. Erzählte Geschichte im 20. Jahrhundert. München: Fink 2016, S. 11–26. Jäger, Ludwig: F. de Saussures historisch-hermeneutische Idee der Sprache. Ein Plädoyer für die Rekonstruktion des Saussureschen Denkens in seiner authentischen Gestalt, in: LuD 27 (1976), S. 210–244. Jäger, Ludwig: F. de Saussures semiologische Begründung der Sprachtheorie, in: Zeitschrift für Germanistische Linguistik 6.1 (1978), S. 18–30. Jäger, Ludwig: Ferdinand de Saussure. Eine Einführung. Hamburg: Junius 2010. Jäger, Ludwig: Intermedialität  – Intramedialität  – Transkriptivität. Überlegungen zu einigen Prinzipien der kulturellen Semiosis, in: Arnulf Deppermann/Angelika Linke (Hg.), Sprache intermedial. Stimme und Schrift – Bild und Ton. Berlin/New York: de Gruyter 2010, S. 301–324. Jäger, Ludwig: »Semantische Evidenz, Evidenzverfahren in der kulturellen Semantik«, in: Helmut Lethen/Ludwig Jäger/Albrecht Koschorke (Hg.), Auf die Wirklichkeit zeigen. Zum Problem der Evidenz in den Kulturwissenschaften. Frankfurt a. M.: Campus 2015, S. 39–62.

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Jäger, Ludwig: Störung und Transparenz. Skizze zur performativen Logik des Medialen, in: Sybille Krämer (Hg.), Performativität und Medialität. München: Fink 2004, S. 35–74. Jäger, Ludwig: Transkription, in: Christina Bartz/u.a. (Hg.), Handbuch der Mediologie. Signaturen des Medialen. München: Fink 2012, S. 306–315. Link, Jürgen: Versuch über den Normalismus. Wie Normalität produziert wird, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 52013. Saussure, Ferdinand de: Linguistik und Semiologie: Notizen aus dem Nachlaß; Texte, Briefe und Dokumente/Gesammelt, übers.etzt und eingel.eitet von Johannes Fehr. Frankfurt a. M: Suhrkamp 1997.

›Du passé faisons table rase‹ Vandalisme révolutionnaire und sozio-politische Regenerationsmythen während der Französischen Revolution Hans-Jürgen Lüsebrink

1.  S emantik  – B egriffe und D iskursformen des radik alen B ruchs 1789–94 »Du passé faisons table rase« (›Lasst uns mit der Vergangenheit Tabula rasa machen‹), diese Denkfigur hat wohl in kaum einer anderen historischen Epoche eine ähnliche Sprengkraft und eine vergleichbare Wirkung gezeigt als während der Französischen Revolution: auf politischer Ebene etwa durch die Abschaffung der Feudalrechte und die Auflösung der Ständegesellschaft durch verschiedene Dekrete der Französischen Nationalversammlung im Jahre 1789, durch den Sturz der Monarchie am 10. August 1792 und die Verurteilung sowie die Hinrichtung König Ludwigs XVI. am 21. Januar 1793; auf sozialer Ebene durch die Abschaffung der Adelstitel und -privilegien; auf religiöser Ebene durch die Enteignung und Entmachtung des Klerus, die Proklamation religiöser Toleranz sowie die zeitweise Einführung eines deistischen Kults des Höchsten Wesens (»Culte de l’être suprême«); und auf kultureller Ebene durch die Entstehung einer radikal neuen Öffentlichkeit in Bereichen wie Theater, Presse, Chanson und Pamphletliteratur, die mit der Verbreitung einer neuen, politisch geprägten Sprache und der Wortergreifung einer völlig neuen Generation von Publizisten und Politikern einherging.1

1 | Vgl. hierzu u. a. R. Koselleck/R. Reichardt (Hg.): Die Französische Revolution als Bruch des gesellschaftlichen Bewußtseins; M. Winock: La grande fracture, (Erstausgabe in veränderter Form unter dem Titel L’échec au roi); die Beiträge in R. Reichardt (Hg.): Die Französische Revolution, u. a. von H.-J. Lüsebrink zu »Sprache und Literatur«, S. 241–262; J.-C. Martin: La machine à fantasmes.

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Diskurs und Semantik des Zäsurbewusstseins der Akteure der Jahre 1789 bis 1794 sind vor allem von dem radikaldemokratischen Flügel der Aufklärungsbewegung vorbereitet worden, deren Denkfiguren und deren Begrifflichkeit während der Französischen Revolution rezipiert, kreativ verarbeitet und in neue Handlungs- und Diskurskontexte gestellt wurden. Zu nennen wären hier insbesondere das Werk Jean-Jacques Rousseaus; Teile der Werke Voltaires, dessen sterbliche Überreste im Jahr 1791 (ebenso wie 1794 die sterblichen Überreste Rousseaus) in den neuen Ruhmestempel der Nation, das Panthéon, transferiert wurden; sowie die Werke von Montesquieu, Mably, Raynal und Diderot, denen in zahlreichen Schriften vor allem der ersten Revolutionsjahre der Ehrentitel »Père de la Révolution Française« verliehen wurde.2 In geradezu parareligiösen Denk- und Diskursformen wurden in zahlreichen Schriften, die im Zusammenhang mit der Pantheonisierung Voltaires am 11. Juli 1791 erschienen, in gleicher Weise der revolutionäre Bruch mit Fanatismus und Despotenherrschaft, den seine Werke bewirkt hatten, und die Erinnerung an seine Person und seine Ideen beschworen. Sollte jemals die Herrschaft von Fanatismus und Despotismus wieder entstehen, so würde, so die beschwörenden Worte des anonymen Verfassers des Pamphlets Voltaire vengé aus dem Jahre 1791, die Urne, in der Voltaires sterbliche Überreste im Panthéon auf bewahrt sind, genügen, um sie zu vernichten: »Le règne du despotisme est passé, celui des despotes expire; s’il vouloit un jour renaître de sa cendre, l’urne où repose la tienne suffiroit pour l’anéantir.« 3

Das Hauptwerk von Guillaume-Thomas Raynal, die unter Mitwirkung Denis Diderots verfasste Histoire philosophique et politique des établissements et du commerce des Européens dans les deux Indes (1770, dritte, erweiterte Version in 10 Bänden 1780), lasen viele Zeitgenossen neben Rousseaus Contrat Social (1762) nicht nur als ein antikolonialistisches Werk, sondern aufgrund seiner zahlreichen geschichtsphilosophischen Passagen auch als ein Programm der radikalen Staats- und Gesellschaftsveränderung in Europa und insbesondere in Frankreich. In der zeitgenössischen Publizistik wurde sein Autor als »Sage« (›Weiser‹) und »Vieil ami de la liberté« (›Alter Freund der Freiheit‹), als »Martyr

2 | Vgl. hierzu insbesondere J.-C. Bonnet: La Naissance du Panthéon. 3 | Voltaire vengé, suivi d’une observation sur la pétition des prêtres & des maîtres d’école & autres grands hommes, à la tête desquels se trouve Quatremer, probablement par ordre de notre respectable municipalité. [Paris.] Chez Rozé, rue des Prêtres Saint-Séverin, n° 8. [1791], S. 5. »Die Herrschaft des Despotismus ist vorbei, jene der Despoten erlischt; wenn sie eines Tages von seiner Asche wiederauferstünde, würde die Urne, die Deine [Voltaires] Asche birgt, genügen, um sie auszulöschen.« [Übersetzung H.-J. L.].

›Du passé faisons table rase‹

de la philosophie« (›Märtyrer der Philosophie‹)4 sowie Wegbereiter und »Apôtre de la liberté« (›Apostel der Freiheit‹)5 gefeiert, das Werk selbst als eine Art politischer Katechismus angesehen, dessen Rhetorik und dessen philosophische Aussagen als grundlegend für den politischen Bruch von 1789 betrachtet wurden.6 Der deutsche Publizist und Jakobiner Schubart charakterisierte den Diskurs Raynals zu Beginn der Französischen Revolution wie folgt: »Durch seine Geschichte beider Indien«, so stand im Juni 1791 in Schubarts Chronik zu lesen, »begeisterte er die Nation für Freiheit und Menschenwürde; er malte die Despotengreuel, den Gewissenszwang, die Pfafferei und den Verfolgungsgeist mit brennenden Farben; kurz, er wurde als Prediger der politischen Freiheit und Gewissensfreiheit von ganz Europa gehört und bewundert.« 7 Die Ureinwohner Amerikas, die Bewohner Schwarzafrikas und die Bevölkerungen der von Holländern kolonisierten Inselwelt Südostasiens werden von Raynal und Diderot in gleicher Weise imaginiert als Objekte sowie als Opfer eines von europäischer Expansions-, Macht- und Geldgier bestimmten Geschichtsprozesses und als Subjekte seiner Infragestellung. Die Histoire des deux Indes ist kennzeichnenderweise durchzogen von fiktionalen Wortergreifungen von Außereuropäern,8 die an die Adresse der aus Übersee gekommenen fremden europäischen Eroberer gerichtet sind und – als Sprachhandlungen im diskurstheoretischen Sinn  – Widerstand artikulieren und zukünftige Gegengewalt androhen bzw. antizipieren. Die Wortergreifung der ›Anderen‹, der Bewohner eroberter und von Europäern kolonisierter Gesellschaften, die im Supplément au Voyage de Bougainville (1772) von Diderot im Wesentlichen noch die Form eines Dialoges aufwies, artikuliert sich im Werk Raynals als unverhüllte Drohung, die Gewaltausübung legitimiert und in gewisser Hinsicht sprachlich vorwegnimmt. So findet sich beispielsweise im vierten Band des Werkes in der Ausgabe von 1780 folgende Passage, die einem aufständischen Negersklaven zugeschrieben wird. Dieser schwört einem weißen Plantagenbesitzer blutige Rache für erlittenes Unrecht:

4 | Vgl. nacheinander: Révolutions de Paris, du 4 juin 1791, S. 371; Révolutions de Paris, 4. Juni 1791, S. 369; A. Chénier: »André Chénier et Guillaume-Thomas Raynal«, S. 520– 581, hier S. 580. 5 | [Anon: Sur la Lettre de Raynal], in: Chronique de Paris, n° 153, 2. Juni 1791, S. 610. 6 | Vgl. z. B. Révolutions de Paris, 4. Juni 1791, S. 374: »un livre qui combat avec force l’intolérance religieuse, et invite à faire main basse sur les scandales du clergé«. 7 | [C. F. D. Schubart]: »Voltaire und Raynal«, in: Chronik, 47. St., 14. Juni 1791, S. 385– 386, hier S. 386. 8 | Vgl. zu dieser Problematik auch, auf der Grundlage von Reisebeschreibungen, R. Ouellet/M. Parent: »Mise en scène et fonctions de la parole amérindienne«, S. 281–304.

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Hans-Jürgen Lüsebrink »Je tiens de la nature le droit de me défendre; elle ne t’a pas donné celui de m’attraper. Que si tu te crois autorisé à m’opprimer parce que tu es plus fort et plus adroit que moi, ne te plains donc pas quand mon bras vigoureux ouvrira ton sein pour y chercher ton cœur: ne te plains pas lorsque, dans tes entrailles déchirées, tu sentiras la mort que j’y aurais fait passer avec tes aliments. Je suis plus fort ou plus adroit que toi, sois à ton tour victime, expie maintenant le calme d’avoir été oppresseur.« 9

Eine Passage wie die zitierte verweist auf ein komplexes Netz ideologischer, diskursiver und anthropologischer Bezüge. In diskursiver Hinsicht rückt die Wortergreifung des aufständischen Sklaven an die Stelle einer ganzen Reihe ähnlich strukturierter Aussageformen in der Histoire des deux Indes. In ihnen wendet sich die historiographische Erzählerfigur des Werkes (»Historien-philosophe«) in der Ich-Form an die Völker der Erde, aber auch an die Machthaber der europäischen Kolonialstaaten, gelegentlich auch – wie in der berühmten »Apostrophe à Louis XVI«, die aus der Feder Diderots stammt  – in der provokativen »Tu«-Form, d. h. in der Form des Duzens, die hier an die Stelle der respektvollen Majestätsanrede rückt. In ideologischer Hinsicht verweisen Passagen wie die zitierte auf die Legitimation revolutionärer Gewalt im Kontext der Amerikanischen Revolution sowie in der Folge – durch die Rezeptions- und Verwendungsweisen des Werkes in den Jahren 1789 bis 1794 – im Zusammenhang mit der Französischen Revolution. Hier spielte Raynals Histoire des deux Indes zumindest bis 1791 als ideologischer Referenzrahmen und als Arsenal von Sprachhandlungs- und Argumentationsmustern neben Rousseaus Contrat Social und dem Werk Mablys eine herausragende Rolle.10 Semantik und Rhetorik des Zäsurbewusstseins während der Französischen Revolution wurden somit durch vorrevolutionäre Denk- und Diskursfiguren des Aufklärungszeitalters vorgeprägt. Drei Sprachhandlungsmuster, die zugleich Denk- und Diskursfiguren darstellen, waren hierbei von herausragender Bedeutung: erstens die Denk- und Diskursfigur der Tribunalisierung, der verbalen Anklage und Verurteilung von Personen und sozialen Gruppen aufgrund moralischer und politischer Werte; zweitens die Denk- und Vor9 | Raynal, Histoire des deux Indes, 1780, Buch XI, Bd. VI, S. 203–204. »Ich habe von der Natur das Recht erhalten, mich zu verteidigen; sie hat Dir nicht das Recht gegeben, mich gefangen zu nehmen. Wenn Du, der Du stärker und geschickter als ich bist, Dir das Recht beimißt, mich zu unterdrücken, dann beklage Dich nicht, wenn mein starker Arm Deine Brust öffnen wird, um Dein Herz zu suchen; beklage Dich nicht, wenn Du in Deinen zerrissenen Eingeweiden den Tod spüren wirst, den ich mit Deinen Lebensmitteln dort eingeführt haben würde. Ich bin stärker oder gewandter als Du, es ist nun an Dir, Opfer zu sein, sühne nun die Ruhe, in der Du Unterdrücker sein konntest.« [Übersetzung H.-J. L.]. 10 | H.-J. Lüsebrink: »Le rôle de Raynal et la réception de l’Histoire des deux Indes pendant la Révolution française«, S. 85–98.

›Du passé faisons table rase‹

stellungsfigur der ›Verkehrten Welt‹; und drittens die Begriffs- und Metaphernnetze der Wiedergeburt (»Régéneration«). Das Sprachhandlungsmuster der Tribunalisierung ist erstmals von Reinhart Koselleck in seinem Werk Kritik und Krise. Zur Pathogenese der bürgerlichen Welt (1959) als eine grundlegende Denkfigur des revolutionären Epochenumbruchs um 1800 umrissen worden. Verbunden mit der neuen Sinngebung des Begriffs ›Revolution‹, mit dem seit den 1770er-Jahren, das heißt seit der Amerikanischen Revolution, neben seiner traditionellen zyklischen Bedeutung die Vorstellung einer grundlegend neuen und zukunftsoffenen Umwälzung verknüpft wurde,11 implizierte die Denkfigur der Tribunalisierung die radikale Abrechnung mit der Vergangenheit, ihren gesellschaftlichen Normen, Institutionen und Verantwortlichen. »War durch die rigorose Kritik die Existenz der bestehenden Herrschaft bereits zum ›crime‹, zum Verbrechen, geworden, dann ergab sich für den Bürger, dass der Sturz dieser Herrschaft, die ›crise‹, nichts anderes sein kann, denn ein Gericht. Bisher, sagt z. B. der Abbé Raynal, habe die herrschende Balance einen Umsturz und Gewalttätigkeiten verhütet […]. Aber jetzt, schreibt er 1780, können die Despoten nicht mehr mit ewiger Straflosigkeit rechnen, die Gesellschaft und die Gesetze würden sich vielmehr an ihnen rächen […]. Das Ende der Krise liegt in der Züchtigung der Verbrecher beschlossen. Der Bürgerkrieg wird damit in der Gegenwart so sehr beschworen wie sein Ablauf als der Vollzug einer moralischen Jurisdiktion verstanden wird.«12

Und später in Kosellecks Werk heißt es zum Prozess der Tribunalisierung, auch wieder ausgehend von Raynals Werk: »Die Kolonialgeschichte Raynals, in der der drohende Bürgerkrieg bereits erkannt wurde, war zugleich eine geschichtsphilosophisch abgeschirmte Beschwörung des Umsturzes. Krise und Geschichtsphilosophie erwiesen sich damit als eine gegenseitig sich ergänzende, innerlich zusammenhängende Erscheinung.«13

Mit der Tribunalisierung geht die Umwertung tradierter politischer und sozialer Hierarchien und ihre Verankerung in rhetorischen Dichotomien einher: Der Tugendhaftigkeit des Volkes und den Tugenden der Republik werden die Verbrechen der Monarchie und die Habgier der herrschenden Schichten des Ancien Régime gegenübergestellt, wie in zahlreichen populären Druck-

11 | Vgl. hierzu H.-J. Lüsebrink/R. Reichardt: »Révolution« à la fin du 18e siècle, S. 35–68. 12 | R. Koselleck: Kritik und Krise (1959), S. 146. 13 | Ebd., S. 154.

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schriften der Jahre 1791 bis 1794, so etwa in Thomas Rousseaus Pamphlet Les Crimes de la monarchie, et les vertus de la République aus dem Jahre 1793.14 Der Mythos der ›Verkehrten Welt‹ ist eng mit mittelalterlichen und frühneuzeitlichen populären Vorstellungsmustern verbunden, die mit ebenso subversiven wie temporären Praktiken wie dem Karneval verbunden waren. Er implizierte die Vision – und zugleich die symbolische Umsetzung – einer radikalen Umkehrung aller herrschenden Werte, sozialen Hierarchien und politischen Ordnungen, die nicht nur in zahlreichen, vor allem bildlichen, Darstellungen, sondern auch in Ritualen wie den Karnevalsriten ihren Ausdruck fand. Im Kontext der Französischen Revolution finden sich zahlreiche Praktiken und Diskursformen, die an die populäre Denk- und Handlungsfigur der ›Verkehrten Welt‹ indirekt, aber zum Teil auch unmittelbar anknüpften: so etwa das Revolutionslied La Carmagnole, das u. a. die Verse »Il faut raccourcir les géants/Rendre les petits plus grands./Tous à la même hauteur,/Voilà le vrai bonheur!«15 enthält. Die Zeitung Révolutions de Paris, eines der am weitesten verbreiteten Periodika der Französischen Revolution, verwendete Ende Juni 1791, nach dem gescheiterten Fluchtversuch König Ludwigs XVI. und seiner Familie, das im frühneuzeitlichen Mythos der ›Verkehrten Welt‹ verankerte populäre Bild des Glücksrades.16 Dieses habe sich, nach 13 Jahrhunderten monarchischer Unterdrückungsherrschaft, endlich zugunsten des Volkes gedreht, das nunmehr ganz oben stehe: »Depuis 13 siècles les rois de France, tout au plus haut de la roue de fortune, écrasoient les Français sous leurs poids. Nous avons fait tourner la roue sur elle-même et le peuple se trouve à la hauteur de ses anciens maîtres.«17

Zeitungen, wie vor allem der von Hébert herausgegebene Père Duchesne, und zahlreiche Pamphlete der Revolutionszeit wie Le Carnaval politique de 1790 ou 14 | Untertitel: Discours au peuple français et à la Convention Nationale. Paris, Chez l’Auteur, l’an 2 de la République une et indivisible [1793], in-8°, 18 S. 15 | Zitiert nach M. Vovelle: La mentalité révolutionnaire. S. 83, der das revolutionäre Chanson in unmittelbare Beziehung zum populären Mythos der »Verkehrten Welt« (»Monde à l’envers«) rückt: »Le ›monde à l’envers‹, l’idéal égalitaire des niveleurs et des émeutiers populaires s’y exprime plus d’une fois sans détour, ainsi que dans la Carmagnole.« 16 | Vgl. hierzu G. Cocciara: Il mundo alla rovescia (1963). Neuaufl. Torino: Bollato Boringhieri, 1981; und R. Chartier/D. Julia: »Le monde à l’envers.«, in: L’Arc, n° 65, 1976, Themenheft »Le Roy Ladurie«, S. 43–45. 17 | Révolutions de Paris, 4 juin 1791, S. 372. »Seit 13 Jahrhunderten haben die Könige Frankreichs, die ganz oben auf dem Glücksrad waren, die Franzosen unter ihrem Gewicht erdrückt. Wir haben das Rad um sich selbst drehen lassen und das Volk befindet sich nun auf der Höhe seiner einstigen Herren.«

›Du passé faisons table rase‹

l’exil de Mardi Gras à l’Assemblée nationale oder Le Carnaval des Aristocrates aus dem Jahre 1791, verwendeten explizit Diskurselemente und rhetorische Formen des Karnevals (der als soziales Ritual in Paris ab 1790 verboten wurde18), bezogen diese jedoch auf den revolutionären Kontext und gaben ihnen eine völlig neue politische Dimension.19 Begriffs- und Metaphernetze der Wiedergeburt (»Régénération«) schließlich waren bereits in vielfältiger Weise in Schriften der vorrevolutionären Aufklärungsliteratur präsent, die im Kontext der Jahre 1789–94 aufgenommen wurden und eine neue Bedeutungsdimension erhielten. In der Histoire des deux Indes von Raynal etwa finden sich Passagen wie die folgende, die in der revolutionären Pamphletliteratur in wörtlichem Zitat oder in abgewandelter Form rezipiert wurden und ihnen als rhetorisch-diskursives Modell dienten: »On ne peut attendre la liberté que d’une rupture, dont la suite est la ruine de l’une ou de l’autre nation, et quelquefois de toutes les deux. Le tyran est un monstre à une seule tête, qu’on ne peut abattre que d’un seul coup.« 20

Der Aufruf zur Wiedergeburt und die hiermit verbundene revolutionäre Vision zählten, so der französische Kulturhistoriker Antoine de Baecque, zu den am weitesten verbreiteten Diskursfiguren der Revolutionszeit: »L’appel à la régénération, que celle-ci soit politique, sociale, juridique, religieuse, ou biologique, est un des discours les plus répandus dès le début de la Révolution, lorsque les Français, attentifs voire enthousiastes, espèrent de la réunion des états généraux la naissance d’une France nouvelle.« 21 18 | A. de Baecque: France de la Révolution, S. 51–53 (»Carnaval«), hier S. 51 (Ordonnance vom 31. Januar 1790 der Municipalité de Paris). 19 | A. de Baecque: Le corps de l’histoire. Métaphores et politique (1770–1800). Paris: Calmann-Lévy 1993, S. 331–341. 20 | G.-T. Raynal: Histoire philosophique et politique des établissemens et du commerce des Européens dans les deux Indes, Bd. IV, Buch XVIII, Kap. LXII (»Les colonies étoient en droit de se séparer de leur métropole, indépendamment de tout mécontentement«), S. 395. »Man kann die Freiheit nur von einem Bruch erwarten, dessen Folge das Verderben der einen oder der anderen Nation und bisweilen das von beiden ist. [Bezug: Amerikanische Unabhängigkeitserklärung und Loslösung von Großbritannien]. Der Tyrann ist ein Ungeheuer mit einem Kopf, den man nur mit einem Streich abschlagen kann.« 21 | De Baecque: France de la Révolution, S. 17: »Der Aufruf zur Wiedergeburt, ob diese nun politischer, sozialer, rechtlicher, religiöser oder biologischer Natur sei, ist einer der am weitesten verbreiteten Diskurse seit dem Beginn der Revolution, als die Franzosen, aufmerksam und selbst enthusiastisch, von der Einberufung der Nationalstände die Geburt eines neuen Frankreichs erwarteten«. [Übersetzung H.-J. L.].

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Ihre diskursive Umsetzung fand diese Denkfigur in erster Linie in saisonalen oder zyklischen sowie in anthropomorphen Metaphernnetzen: in ihnen wird zum einen der Regenerationsprozess der Nation mit der Wiederkehr des Frühlings oder des Goldenen Zeitalters (»âge d’or«) und seinen Attributen der Fruchtbarkeit und des Überflusses metaphorisch gefasst; und zum anderen in anthropomorphen Metaphernnetzen, in denen ein kranker, dekadenter, verfallender Staats- und Gesellschaftskörper einem verjüngten Körper voller Vitalität und Energie gegenübergestellt wird. Jugend und Weiblichkeit 22 avancieren in der revolutionären Publizistik, Rhetorik und Ikonographie zu metaphorischen Darstellungen von Erneuerung und Wiedergeburt, die sich visuell und diskursiv von den Verkörperungen des Ancien Régime – männlichen, meist älteren Herrschergestalten – absetzten.23 Der deutsche Schriftsteller, Pädagoge und Revolutionsreisende Joachim Heinrich Campe rekurrierte bei seiner Beschreibung des revolutionären Frankreich gleichfalls auf die in der zeitgenössischen französischen Publizistik sehr präsente Metaphorik der ›Wiedergeburt‹, indem er bereits zu Beginn seines ersten Briefes aus Frankreich aus dem Sommer des Jahres 1789 unterstrich  – und hierbei das Wort Wiedergeburt durch Kursivsetzung hervorhob –, dass sich »die Nation, welche jetzt die Augen aller anderen auf sich gezogen hat, in dem Zustande ihrer noch fortdauernden Wiedergeburt zu einem neuen, kraftvolleren, edleren und glücklicheren Dasein«24 befinde. Nicht zufällig wurde auf dem Bastilleplatz, dem Ort des am 14. Juli 1789 gestürmten und in den folgenden Monaten völlig zerstörten ehemaligen Staatsgefängnisses, 1792 zunächst eine kleine, provisorische Freiheitsstatue eingeweiht und dann im Juli 1793 ein »Brunnen der Wiedergeburt« (»Fontaine de la Régénération«), der erst 1810 unter Napoléon I. einem kolossalen BronzeElefanten und dann 1844 der sich noch heute dort befindlichen ›Freiheitssäule‹ (»Colonne de la liberté«, auch »Colonne de juillet« genannt) weichen sollte. Die »Fontaine de la Régénération« bestand aus einer fünfzehn Meter hohen IsisFigur aus Gips, aus deren Brüsten Wasser floß, das die versammelten Patrioten am 14. Juli trinken sollten – eine zeittypische Visualisierung des Regenrationsmythos, der in der zeitgenössischen Vorstellungswelt eng mit einem revolutionären Zäsurbewusstsein einherging.

22 | Vgl. hierzu auch die wegweisende Studie von J. Landes: Visualizing the Nation. 23 | A. de Baecque: Corps de l’histoire, S. 331–341; De Baecque, France de la Révolution, S. 17–19 (»Âges de la vie«). 24 | J. H. Campe: Briefe aus Paris, S. 115 (»Erster Brief. Paris, den 4. August 1789«).

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2.  S ymbole  – D estruktion und Transformation von H errschaf tssymbolen Vor allem die Jahre 1789 bis 1793, zwischen dem Sturm auf die Bastille am 14. Juli 1789 und der Etablierung der Jakobinerherrschaft im Frühjahr 1793, waren von einem sozialen und mentalen Impetus der symbolischen Zerstörung religiöser und politischer Insignien verschiedenster Art geprägt.25 Diese betrafen Statuen und Monumente von Königen und Aristokraten, wie die Reiterstatue Ludwigs XIV. auf der Place des Victoires oder die Statue König Heinrichs IV. auf dem Pont-Neuf in Paris26, Herrschaftssymbole wie Zepter und Kronen, Adelsbriefe und Adelsgenealogien,27Heiligenstatuen und religiöse Kultinstrumente wie Kelche und Weihrauchwedel und schließlich die herrschaftlichen Bauwerke selbst: symbolbehaftete Gefängnisse wie die Bastille, Schlösser verhasster Feudalherren, und in einzelnen Fällen auch Kirchenbauten, die allerdings überwiegend nicht zerstört, sondern einem neuen Verwendungszweck (etwa als Versammlungsorte politischer Klubs) zugeführt wurden. In zahlreichen Fällen ging die Zerstörung traditioneller Herrschaftsinsignien, ihre öffentliche Zurschaustellung und anschließende Verbrennung und Vernichtung, einher mit Festritualen der nationalen Regeneration. So wurden etwa 1794 in Fontainebleau zahlreiche Gegenstände aus dem Königsschloss, wie Porträts König Ludwigs XIII., in einem patriotischen Aufzug durch die Straßen getragen, um anschließend öffentlich, im Rahmen der Einweihung eines Freiheitsbaums und einer Statue zum Gedenken an den ermordeten jakobinischen Publizisten Jean-Paul Marat, verbrannt zu werden. Den Kontrapunkt zu den Symbolen des Despotismus bildeten in dem patriotischen Umzug die Figur der Freiheit (Liberté), verkörpert von einer in ein römisches Gewand gekleideten, auf einer Bahre getragenen Bürgerin, und die Verfassung, das ›Buch des Gesetzes‹ (»Le Livre de la Loi«), das von einem Kind durch die Straßen der Stadt getragen wurde.28 Die Zerstörung der am 14. Juli 1789 von einer Volksmenge von etwa 800 Personen, die sich durch Plünderung von königlichen Depots bewaffnet hat25 | Vgl. hierzu im Überblick und thesenartig, jedoch auch mit sehr anschaulichen Beispielen, auch M. Vovelle: La Mentalité révolutionnaire, S. 93–95 (»La table rase ou l’autodafé«). 26 | A. Bégis: Le Vandalisme révolutionnaire au Château de Fontainebleau, S. 40. 27 | Vgl. hierzu das Gesetz vom 24. Juni 1792 der Assemblée Nationale, in dessen Art. 1 es heißt: »Tous les titres généalogiques qui se trouveront dans un dépôt public, quel qu’il soit, seront brûlés.« Zit. in: A. Bégis: Vandalisme, S. 11. 28 | Ebd., S. 22: »Procès-verbal de l’inauguration de la statue de Marat et d’un Arbre de la Liberté. Le 10e Jour de la seconde décade du 1er mois, l’an 2e, etc. à 4 heures de l’après-midi.«

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ten, gestürmten Bastille, des symbolbehafteten königlichen Staatsgefängnisses, lässt sich zweifellos als der herausragendste symbolische Zerstörungsakt der Französischen Revolution bezeichnen. In der Tat begannen bereits am Tag der Erstürmung der Bastille Hunderte von Bürgern damit, die Mauern des gewaltigen Festungs- und Gefängnisbaus abzutragen, von dem Ende 1789 nur noch Reste der Grundmauern zu sehen waren. Der Braunschweiger Publizist und Pädagoge Joachim Heinrich Campe, der im Sommer 1789 Paris besuchte, bezeichnet das ehemalige Staatsgefängnis in seinen Briefen aus Paris am 9. August 1789 als einen »furchtbaren Schlund, der so manches unschuldige Opfer der Tyrannei verschlang; diesen Ort des Schreckens und des Jammerns, den so manche heiße Träne benetzte […]; diese schaurige Burg liegt«, so Campe, »wenigstens zum Teil schon in ihren Ruinen da, und wird nun bald vollends darin liegen.«29 Die Initiative für die Zerstörung der Bastille hatte der ehemalige Maurer und damalige Bauunternehmer Pierre-François Palloy ergriffen, der bereits am Abend des 14. Juli 1789, zwei Tage bevor er den offiziellen Auftrag von der Pariser Stadtregierung hierzu erhalten sollte, mit seinen Arbeitern mit dem Abbruch des ehemaligen Staatsgefängnisses begonnen hatte. Palloy beschäftigte in den Jahren 1789 bis 1790 teilweise bis zu 500 Arbeiter mit dieser Aufgabe, für die er erst mit erheblicher Verzögerung von der Stadt Paris bezahlt wurde. Wiederum ohne offiziellen politischen Auftrag, sondern auf eigene Initiative hin sowie mit erheblichem finanziellen Engagement, das heißt im Wesentlichen zu Lasten seines eigenes Vermögens, begann Palloy bereits im Sommer 1789 damit, die Überreste der Bastille in ›patriotische Reliquien‹ (»reliques patriotiques«) umzuwandeln: so vor allem in behauene, aus Bastille-Steinen gefertigte Miniaturmodelle der Bastille, die er 1790 von eigens von ihm angestellten »Apôtres de la liberté« (›Apostel der Freiheit‹) als Symbole der Überwindung des Despotismus, der wieder errungenen Freiheit und der Wiedergeburt der Nation in alle Departementshauptstädte Frankreichs transportieren ließ.30 Zusammen mit anderen ›Reliquien der Freiheit‹, wie Medaillons aus den Ketten des ehemaligen Staatsgefängnisses, ließ Palloy sie durch seine Abgesandten in feierlichen, patriotischen Umzügen durch die Städte transportieren, Reliquien ähnlich auf einer Bahre der umstehenden Volksmenge präsentiert. Palloy, der sich bereits 1790 den Beinamen »Le Patriote« zulegte, verfasste für dieses sinnlich-materielle Programm der Inszenierung und Zurschaustellung der Reste des ehemaligen Staatsgefängnisses auch die politischen Diskurse, die seine Abgesandten im Rahmen der patriotischen Rituale vor Ort möglichst übernehmen sollten. 29 | J. H. Campe: Briefe aus Paris, S. 157–158 (»Zweiter Brief. Paris, den 9. August 1789«), S. 156–157. 30 | Vgl. zu Palloy: H.-J. Lüsebrink/R. Reichardt: Bastille, S. 135–150 (»Palloy, ›der Patriot‹ – Bastillestürmer und Vulgarisator«); sowie H. Bocher: Démolir la Bastille.

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So evozierte er wie folgt in einem Text mit dem Titel »Pierre de la Bastille« die symbolhafte Bedeutung der Bastille-Steine: »Cette pierre, tirée des entailles de la terre, vit le jour pour servir, sous le règne des rois, à enfermer pendant trois siècles, dans les cachots les plus horribles, les malheureuses victimes du despotisme: elle fut le témoin muet de leurs pleurs et de leurs gémissements; elle fut souvent arrosée de larmes de sang […]. Elle fera sentir à tous les tyrans, s’ils en ont besoin en cave, après un exemple aussi frappant, quelle est la puissance d’un peuple outragé; […]. L’anéantissement de ce monument de douleur, m’a fourni l’idée de propager ses débris dans tout l’univers dès l’aurore de la liberté, afin que nos descendants se souviennent de leurs droits et ne s’écartent jamais de leurs devoirs, et prennent garde, à l’avenir, de ne plus retomber sous l’esclavage où ils étaient abrutis depuis quatre cents ans. […].« 31

3.  P raktiken  – D emolition , M assaker

und H inrichtung

Die Erstürmung und in ähnlicher Weise die Zerstörung der Bastille waren hochgradig symbolische Akte, durch die ein radikaler Bruch mit der Vergangenheit veranschaulicht werden sollte. Die Zerstörung der kolossalen Festung und die teilweise Transformation ihrer Überreste in ›patriotische Reliquien‹ (wie sie von den Zeitgenossen teilweise selbst genannt wurden) waren Bestandteile einer patriotisch-nationalen Symbol- und Memorialpolitik. Diese ging ebenso von politischer Seite aus – von politischen Klubs, der Nationalversammlung – wie von volksnahen Milieus, wie sie der soziale Aufsteiger und Autodidakt Pierre-François Palloy verkörpert. Offizielle politische Rituale, wie revolutionäre Feste, greifen hier mit privaten Initiativen ineinander, wie sie die groß angelegte und von Palloy aus privaten Mitteln finanzierte Versendung und öffentliche Inszenierung der Bastille-Steine und anderer patriotischer 31 | [Pierre-François] Palloy: »Pierre de la Bastille«, par Palloy, Patriote pour la vie. S. l. n. d. »Dieser Stein, der aus den Eingeweiden der Erde gezogen wurde, erblickte das Tageslicht, um unter der Herrschaft der Könige dazu zu dienen, über drei Jahrhunderte hinweg die unglücklichen Opfer des Despotismus in die furchtbarsten Kerker einzusperren: er wurde von Tränen begossen. Er wird alle Tyrannen fühlen lassen, wenn sie dies nach so einem eindrucksvollen Exempel noch notwendig haben sollten, wie groß die Stärke eines aufgebrachten Volkes ist. […] Die Zerstörung dieses Denkmals der Schmerzen hat mich auf den Gedanken gebracht, seine Überreste von der Morgenröte der Freiheit im ganzen Erdkreis zu verbreiten, damit sich unsere Nachfolger an unsere Rechte erinnern und sich niemals von ihren Pflichten entfernen und in Zukunft dafür Sorge tragen, niemals mehr unter das Joch der Sklaverei zu gelangen, unter dem sie seit vier Jahrhunderten gelitten haben.« [Übersetzung H.-J. L.].

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Reliquien symbolisiert. Ihnen wohnt eine genuin parareligiöse Dimension inne, die sich mit Mona Ozoufs Begriff des ›Sakralitätstransfers‹ (»transfert de sacralité«) wohl am einfachsten und griffigsten fassen lässt.32 Sowohl die Inszenierung der patriotischen Objekte wie der politische Diskurs über sie knüpfte unmittelbar an religiöse Praktiken und Diskurse an, auch hinsichtlich des verwendeten Vokabulars (etwa in Begriffen wie »relique«, »sacré«, »saint«, »fervent«, »ferveur« etc.), die auf patriotische Symbole übertragen wurden. Auch hier an religiöse Vorstellungen anknüpfend, schrieb Palloy den ›patriotischen Reliquien‹, die er aus den Bastille-Überresten formen ließ, mehrere kollektive Wirkungen zu: Sie sollten den gesamten Nationenkörper (»le corps de la nation«) bedecken und durch ihre öffentliche Zurschaustellung symbolische Bande zwischen allen Staatsbürgern schaffen; und sie sollten, wie Palloy im November 1793 an den Vorsitzenden der Société Populaire in Nantes schrieb, der er einen Bastille-Stein und einige patriotische Beigaben übersandt hatte, die Bürger aufrütteln, sie geradezu ›elektrisieren‹ (»électriser«). Palloy formulierte: »Ces images frappantes rappelleront à la postérité les époques mémorables qui ont conduit les Français à la liberté et à l’égalité après 18 siècles d’un honteux Esclavage. Fais en sorte que l’inauguration de ces objets précieux se fasse avec pompe, c’est par des solennités publiques que les hommes encore engourdis par le poids des charges qui les accablent, sortiront de leur Etat de stupeur, et de préjugés, c’est en les éclairant que la raison remplacera leur ennemi.« 33

Das zweite Ereignis – bzw. die Ereignisfolge –, die im Kontext der Französischen Revolution am augenfälligsten den Zusammenhang von radikalem Bruch mit der Vergangenheit, Zerstörung und kollektivem Regenerationsmythos verkörpert, ist der Sturz der Monarchie, der sich in drei Etappen vollzog: Erstens mit dem Fluchtversuch des Königs und seiner Familie am 21. Juni 1791, der in Varennes scheiterte und das bis dahin weitgehend positive Bild des Königs als »Régénérateur de la nation« mit einem Schlag zerstörte, 32 | Vgl. hierzu M. Ozouf: La fête révolutionnaire 1789–1799. 33 | Pierre-François Palloy: Lettre de Palloy à la Société Populaire de Nantes, 28 brumaire an II. Handschriftlicher Brief, BNF Ms. n. a. fr. 3241, F°178, S. 1 (Übersetzung H.-J. L.): »Diese eindrucksvollen Bilder werden die Nachwelt an die denkwürdigen Epochen erinnern, die die Franzosen nach 18 Jahrhunderten der Unterdrückung und der schmachvollen Sklaverei in die Freiheit und Gleichheit geführt haben. ›Mach es so, daß die Einweihung dieser wertvollen Gegenstände mit großem Gepränge erfolgt, denn nur durch öffentliche Feierlichkeiten sind jene Menschen, die durch die Lasten ihrer Mühen niedergedrückt werden, aus ihrem Erstarrungszustand und aus ihren Vorurteilen herauszureißen.« Auch zitiert in H.-J. Lüsebrink/R. Reichardt: Bastille, S. 140.

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worauf der König, einem Gefangenen gleich, zusammen mit seiner Familie nach Paris zurückgeleitet wurde. Die zeitgenössische Presse berichtete, dass eine riesige, stumme Volksmenge die königlichen Karossen bei ihrer Ankunft in Paris empfing, mit eisigem Schweigen, ohne die Hüte abzunehmen und »Vive le Roi« zu rufen. Stattdessen sei, so ist etwa einem Bericht der Zeitung Chronique de Paris zu entnehmen, gelegentlich der Ruf »Vive la Nation« zu hören gewesen und mehrere Personen hätten versucht, nach der Vorbeifahrt der Karossen die Statue Ludwigs XV. vom Sockel zu stürzen und die, wie es heißt, »verlogenen« Inschriften zu zerstören und auszulöschen. 34 Die royalistische Zeitung Journal de la noblesse, de la magistrature, du sacerdoce et du militaire zeigte sich in ihrem Bericht über die Rückkehr des Königs nach Paris im Anschluss an seinen gescheiterten Fluchtversuch äußerst schockiert über die dezidiert respektlose Haltung der Menge gegenüber ihrem Herrscher. Selbst besiegte Herrscher der Antike seien, so die Zeitung, nicht mehr gedemütigt worden als Ludwig bei seinen Einzug in Paris am 25. Januar 1791.35 Ein ›Entsetzen‹, das ›unmöglich wiedergegeben werden könne‹ und das die ›Herzen zu Eis erstarren ließ‹, habe all jene erfasst, die noch ein gewisses Mitgefühl mit ihrem König empfunden hätten.36 Dieses Schauspiel sei, so beschreibt der Berichterstatter der Zeitung die Stimmung der revolutionären Patrioten (»Patriotes«), der ›Leichenzug der Monarchie‹ gewesen, dessen Ende ein Dreizeiler bereits unmittelbar ankündigte, der sich auf den Bannern der Volksmilizen befand, die Ludwig XVI. und seine Familie im Tuilerienschloß  – nunmehr faktisch als Gefangene – empfingen: »Vivre libre ou mourir; Louis XVI s’expatriant N’existe plus pour nous.« 37

Die zweite Etappe des ›Sturzes der Monarchie‹ als eines Moments radikalen Bruchs mit der Vergangenheit stellte der Sturm des königlichen Tuilerienschlosses am 10. August 1792 dar, dessen Folge die Gefangennahme Lud34 | Chronique de Paris, 26 juin 1791, S. 709: »Plusieurs personnes ont tenté, après le passage du roi, de briser la statue de Louis XV, et d’en enlever les inscriptions mensongères.« 35 | Journal de la noblesse, de la magistrature, du sacerdoce et du militaire, n° XXVII, 23–26. juin 1791, S. 224: »Jamais roi vaincu n’a été plus humilié dans les triomphes des anciens.« 36 | Ebd., S. 224: »Une terreur, qu’il est impossible de rendre, glaçoit les cœurs de tous ceux qui avoient conservé quelque sensibilité pour leur roi.« 37 | Ebd., S. 224. »In Freiheit leben oder sterben/da Ludwig XVI das Vaterland verließ/ existiert er für uns nicht mehr.« [Übersetzung H.-J. L.].

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wigs  XVI. und seiner Familie, der Prozess gegen Ludwig XVI. und Königin Marie-Antoinette und ihre Verurteilung zum Tode war. Die Hinrichtung des Königs am 21. Januar 1793 schließlich bildet den frappierendsten Bruch mit der Vergangenheit und ihren symbolischen Codes: An die Stelle eines extrem kodifizierten Rituals, mit dem der Tod des Königs begangen und öffentlich dargestellt wurde und das sich im Falle Ludwigs XIV. im Jahre 1715 über sechs Wochen hin erstreckte und an zahlreichen Orten ablief – vor allem in Versailles, Saint-Denis und Paris38 – trat im Januar 1793 die Guillotinierung Ludwigs XVI., der ohne jegliche Zeremonie wie alle anderen Verurteilten im weißem Hemd auf das Schafott trat und dessen sterbliche Überreste in einem anonymen Massengrab beigesetzt wurden. Die erste dieser drei Etappen, die den revolutionären Bruch mit der monarchischen Vergangenheit markieren, soll abschließend ausgerechnet von einer zeitgenössischen bildpublizistischen Darstellung beleuchtet werden. Es handelt sich um die bereits kurz erwähnten Folgen der gescheiterten Flucht Ludwigs XVI. am 21. Juni 1791. Eine Ende Juli 1791 publizierte und als Einzeldruck verkaufte Graphik mit dem Titel Ce monstre votre idole horreur du genre humain que votre orgueil trompé veut retablir en en vain: tous les vrais citoyens ont enfin rappellé la liberté publique nous ne redoutons plus le pouvoir tiranique39 (Abb.) zeigt einen symbolischen Machtwechsel: rechts ist in der Mitte des Bildes die Büste Voltaires zu sehen, von einem Glorienschein umgeben, vor der Silhouette des Panthéons, des 1791 eröffneten nationalen Ruhmestempels, gewidmet den »Grands hommes de la patrie«, in dem am 11. Juli 1791 die sterblichen Überreste des Philosophen und Schriftstellers Voltaire in einer grandios inszenierten patriotischen Zeremonie, der schätzungsweise 100.000 Zuschauer beiwohnten, beigesetzt wurden. Voltaire wurde von den Zeitgenossen als »Père de la Révolution Française« angesehen, seinen Werken ein entscheidender Einfluss auf jenen revolutionären Bruch eingeräumt, den die Französische Revolution auch für Zeitgenossen repräsentierte. So heißt es in dem Dekret der konstituierenden französischen Nationalversammlung, in dem am 31. Mai 1791 die Beisetzung der sterblichen Überreste Voltaires im Panthéon verfügt wurde: »Le titre de grand a été donné à Voltaire vivant par l’Europe étonnée; mort, toutes les nations le lui ont consacré, et quand tous ses détracteurs ont péri, sa mémoire est devenue immortelle. Voltaire a crée un monument qui repose sur les plus grands bienfaits 38 | Vgl. hierzu den vorzüglichen Ausstellungskatalog: Le roi est mort: Louis XIV, 1715. [catalogue] sous la direction de Gérard Sabatier et de Béatrix Saule. Paris, Tallandier, [Versailles], Château de Versailles, 2015. 39 | O. O., (Paris), 1791. Bibliothèque nationale de France, département Estampes et photographie, RESERVE QB-370 (24)-FT 4 [De Vinck, 4181].

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Abbildung: Ce monstre votre idole horreur du genre humain … (1791)

Quelle: gallica.bnf.fr | Bibliothèque nationale de France. comme sur les plus sublimes productions du génie: Voltaire a terrassé le fanatisme, dénoncé les erreurs jusqu’alors idolâtrées de nos antiques institutions; il a déchiré le voile qui couvrait toutes les tyrannies.« 40

Links ist im Bildzentrum die Büste Ludwigs XVI. zu sehen, die von einer Allegorie der Renommée, des ewigen Ruhmes, vom Sockel gestoßen und überdies, durch die zweite Posaune, mit Schande und Schmach bedeckt wird. Auf dem 40 | Décret sur la translation des cendres de Voltaire à Sainte-Geneviève, S. 2–3. Auch in: Gazette Nationale ou le Moniteur Universel (Réimpression), n° 151, 31. Mai 1791, S. 536. »Der Titel ›groß‹ ist bereits dem lebenden Voltaire von einem erstaunten Europa verliehen worden. Als er verstorben war, haben alle Nationen ihm diesen Titel verliehen und als alle seine Widersacher gestorben waren, ist die Erinnerung an ihn unsterblich geworden. Voltaire hat mit seinem Werk ein Monument geschaffen, das in gleicher Weise auf den größten Wohltaten und auf den sublimsten Schöpfungen des Genies beruht: Voltaire hat den Fanatismus besiegt, die bis dahin vergötterten Irrtümer unserer althergebrachten Institutionen angeprangert und den Schleier zerrissen, der alle Tyranneien bedeckte.« [Übersetzung H.-J. L.].

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Sockel der umstürzenden Büste Ludwigs XVI. ist zu lesen: »Le faux pas« (der falsche Schritt), eine Anspielung auf den verhängnisvoll-fatalen Fluchtversuch des Königs und seiner Familie. Diese zeittypische Bildgraphik weist in mehrfacher Hinsicht auf den Zusammenhang von Zerstörungsgesten und Regenerationsmythen während der Französischen Revolution: An die Stelle der königlichen Herrschaftslegitimation rückt die Legitimation der neuen politischen Machtordnung der Französischen Revolution durch die Philosophie der Aufklärung, hier symbolisiert durch die Figur Voltaires und sein Werk; er verknüpft die Zerstörung der tradierten Herrschaftssymbole, verkörpert durch die Büste Ludwigs XVI., die vorausweist auf die Zerstörung der königlichen Denkmäler und Gräber in den Jahren 1792 und 1793, mit der Einweihung eines neuen Symbols der nationalen Erinnerungskultur, des Panthéon national in Paris. Zugleich wurden sozialer Status und politische Macht durch die Akteure der Französischen Revolution neu definiert und legitimiert: nicht mehr durch Geburt und Abstammung, sondern  – wie bereits Beaumarchais’ vorrevolutionäres Theaterstück Le mariage de Figaro (1784) ebenso nachhaltig wie manifestär proklamierte – durch Leistung und Verdienst (»mérite«).

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1940 – Die Niederlage als Ursprungsort politischer Mythen in Frankreich Matthias Waechter

Der Juni 1940 kann als der absolute Tiefpunkt der französischen Geschichte angesehen werden. Die bestürzende Niederlage gegen Nazi-Deutschland und ihre katastrophalen gesellschaftlichen und politischen Folgen wirkten in der französischen Gesellschaft wie ein kollektives Trauma. Die Einheit der Nation, eine der Leitvorstellungen der französischen politischen Kultur, wurde faktisch aufgelöst, indem das Land in mehrere Zonen mit einem jeweils unterschiedlichen Grad der Abhängigkeit von Deutschland zerstückelt wurde, von der deutschen Annexion (Elsass-Lothringen) über die militärische Besatzung bis hin zur politischen Hörigkeit im von Vichy aus regierten unbesetzten Frankreich. Der Sommer 1940 wurde somit von vielen Bürgern als eine tabula rasa verstanden, welche das bestehende politische System ausradierte. Schwere Krisen- und Umbruchsphasen sind zugleich Zeiten, in denen die Produktion von politischen Mythen Hochkonjunktur hat, ist doch das Bedürfnis nach Verstehen, Trost und Sinngebung, aber auch nach hoffnungsvoller politischer Mobilisierung besonders dringlich.1 Ebenso suchen neu etablierte politische Ordnungen nach Legitimität, die sie vielfach durch politische Mythen zu erzeugen suchen. Von dem Zusammenbruch Frankreichs im Juni 1940 nahmen zwei Mythen ihren Ausgang, nämlich der Pétain-Mythos und der Mythos des Gaullismus.

1 | Vgl. Waechter, Matthias: Mythos, Version: 1.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, verfügbar unter: http://docupedia.de/zg/Mythos vom 11.02.2010.

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Matthias Waechter

1.  1940

als tabul a rasa

Es sei kurz der historische Hintergrund ins Gedächtnis gerufen: Nachdem Deutschland am 1. September 1939 Polen angegriffen hatte, erklärte Frankreich dem Nachbarland den Krieg und mobilisierte seine Truppen. Doch bedeutete die Mobilisierung keineswegs den Beginn von Kampfhandlungen, wie es 1914 der Fall gewesen war. Französische Einheiten intervenierten weder in den deutsch-polnischen Krieg noch griffen sie den Nachbarn an dessen westlicher Front an  – sieht man einmal von einer kurzen, nach wenigen Tagen wieder abgebrochenen Invasion ins Saargebiet ab, bei der sie auf praktisch keinen deutschen Widerstand stießen. Die Militärführung fürchtete, bei einem Angriff analog zum Ersten Weltkrieg wieder in einen endlosen Stellungskrieg zu geraten, sodass sich die Soldaten hinter der Maginot-Linie verschanzten. »Unser Interesse ist es, zu warten«, definierte Regierungschef Edouard Daladier die Strategie Frankreichs.2 Es begann die drôle de guerre, wie man in Frankreich die Monate nennt, in denen man im Zustand eines Krieges war, dieser aber faktisch nicht stattfand. Man hoffte, dass das durch eine Handelsblockade von wichtigen Lieferungen abgeschnittene Deutschland auf längere Sicht aufgeben müsse und somit ein verlustreicher Kampf vermieden würde. Je länger der Sitzkrieg dauerte, desto fataler waren seine Auswirkungen auf die Stimmung innerhalb der französischen Gesellschaft. Die Militärführung hatte kein klares Kriegsziel definiert, weshalb die Frage nach dem Sinn des scheinbar endlosen, langweiligen Wartens in den Grenzbefestigungen umgehend aufkam. »Der Krieg war noch nie so unfassbar wie in diesen Tagen«, so schrieb der Soldat Jean-Paul Sartre in sein Tagebuch. »Er fehlt mir, denn wenn er nicht existiert, was zum Teufel mache ich hier?«3 Ähnlich wie auch im Ersten Weltkrieg begann unter den verschiedenen Bevölkerungsschichten eine Debatte über die gerechte Verteilung der Kriegslasten. Die ungünstige wirtschaftliche Entwicklung bewirkte ebenso, dass erneut Dissonanzen zwischen den unterschiedlichen soziopolitischen Lagern auftraten. Die innere Einheit der Franzosen war somit bereits schwer erodiert, als es am 10. Mai 1940 schließlich zum deutschen Angriff kam.4 Die Niederlage Frankreichs geschah in erschreckender und für die Zeitgenossen unbegreiflicher Geschwindigkeit. Innerhalb weniger Tage lag das Land, das gut zwanzig Jahre zuvor den Ersten Weltkrieg gewonnen hatte und über eine der stärksten Armeen der Welt verfügte, am Boden. Die Befestigungsanlagen, die man zehn Jahre zuvor errichtet hatte und für unüberwindbar hielt, erwiesen sich 2 | Daladier zitiert in: F. Bedarida: Huit mois d’attente et d’illusion, Zitat S. 47. 3 | J.-P. Sartre: Les Carnets de la drôle de guerre. Eintrag vom 20. November 1939, S. 35f. 4 | Vgl. H.-J. Heimsoeth: Der Zusammenbruch der Dritten Französischen Republik.

1940 – Die Niederlage als Ursprungsort politischer Mythen in Frankreich

als praktisch nutzlos, denn der Feind verfügte über moderne Waffen und Taktiken, die diese wirkungslos machten: Anstatt Frankreich an seiner befestigten Westgrenze anzugreifen, drang Deutschland durch die Niederlande und Belgien vor, überwand mithilfe seiner Panzer die Ardennen und bereitete mit seinen Kampfflugzeugen das Eindringen der Truppen vor. Die überalterte französische Militärführung hatte ihre Strategien anhand der Erfahrungen des Stellungskriegs 1914–1918 entwickelt, sodass sie gegen den von schnellen, überraschenden Truppenbewegungen gekennzeichneten »Blitzkrieg« des Angreifers keine Konzepte parat hatte. Bereits nach wenigen Tagen des Angriffs hatten die Deutschen einen Keil in die französische Verteidigung getrieben und über 300 000 Soldaten bei Dunkerque eingeschlossen. Zwar konnten diese über den Kanal nach England gerettet werden, doch begann im gleichen Atemzug die entscheidende deutsche Offensive in den Norden Frankreichs. Um den 8./9. Juni waren die französischen Verteidigungslinien gefallen; es begann der generelle Rückzug, sodass am 14. Juni 1940 die Deutschen in die Hauptstadt einrückten. Der Zusammenbruch Frankreichs unter dem deutschen Angriff muss als ein Auflösungsprozess dreier Ebenen, nämlich des Militärs, der Zivilgesellschaft und der politischen Führung, verstanden werden. Was das Militär anbelangte, so gab es in seiner großen Mehrheit bereits mehrere Tage vor der offiziellen Einstellung der Kampfhandlungen den Krieg auf und löste sich in einer chaotischen Fluchtbewegung praktisch auf. Ca. 1,2 Millionen Soldaten kamen in deutsche Kriegsgefangenschaft, 92 000 waren in der Schlacht um Frankreich gefallen. Gleichzeitig entschieden sich zahllose Zivilisten angesichts des deutschen Angriffs dazu, umgehend ihr Zuhause zu verlassen. In den ersten Junitagen des Jahres 1940 befanden sich über acht Millionen Franzosen auf der Flucht. Manche konnten in völlig überladenen Autos fliehen, andere auf Pferdewägen oder Fahrrädern, während sich unzählige Menschen mit einigen eilig auf Kinderwägen oder Schubkarren gepackten Habseligkeiten zu Fuß auf die Straßen begaben. Für viele wurde die Flucht zu einer traumatischen Erfahrung, mussten sie doch ständig vor deutschen Kampfflugzeugen Schutz in Straßengräben suchen und mitansehen, wie ihre Begleiter vom Kugelhagel getroffen wurden. Andere waren aufgrund der Nachrichten vom Vorrücken der Deutschen ohne unmittelbare Gefahr vorsichtshalber geflohen. In den Städten und Dörfern des Westens fanden manche Menschen prekäre Unterkünfte, andere irrten ziellos durch die Straßen, wie etwa ca. 200 000 Flüchtlinge in der Kleinstadt Limoges. Als die Deutschen in Paris eindrangen, fanden sie eine Hauptstadt vor, die von zwei Dritteln ihrer Bewohner verlassen worden war. Auf diese Weise kam es in den ersten Junitagen des Jahres 1940 zu einer beispiellosen Massenpanik, in der Regeln und Gesetze nicht mehr galten, geplündert und Gewalt ausgeübt wurde, zumal viele lokale politische Amtsträger und Ordnungskräfte ebenfalls das Weite gesucht hatten. Ein ex-

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tremes Beispiel für die Deregulierung des sozialen Systems im Sommer 1940 ist der Fall der »Spritzerinnen von Orsay«: Als die deutschen Truppen auf die Kleinstadt vorrückten, brachten in einem Hospital vier Krankenschwestern sieben schwerkranke Patienten mit todbringenden Spritzen kurzerhand um, damit sie nicht dem Feind in die Hände fielen.5 Entscheidend für die Zukunft des Landes war allerdings die Haltung der politischen Führung. An ihrer Spitze stand seit dem 21. März 1940 Paul Reynaud, ein Politiker der gemäßigten Rechten, der sich in den 30-er Jahren für eine Modernisierung der Armee und ihrer Strategie stark gemacht hatte. Um die Autorität seiner Regierung zu stärken, hatte er kurz nach Beginn des deutschen Angriffs einen lebenden Weltkriegsmythos, nämlich Marschall Philippe Pétain, zum Vize-Ministerpräsidenten ernannt. Der damals als Botschafter im Spanien Francos dienende 84-jährige »Retter von Verdun« sollte den entmutigten Franzosen Vertrauen und Hoffnung spenden. Bei seiner nächsten Kabinettsumbildung am 4. Juni 1940 berief Reynaud einen General in seine Regierung, der fortan zum großen Antipoden Pétains in der Geschichte Frankreichs werden sollte: Charles de Gaulle. In den ersten Kriegswochen gelang es dem Ministerpräsidenten noch, die innere Einheit seines Kabinetts zu bewahren. Doch nachdem die Frontlinie zusammengebrochen war und die Regierung Paris verlassen musste, spaltete sie sich in zwei Lager: auf der einen Seite diejenigen, die wie Pétain und der Oberbefehlshaber der Armee, General Weygand, dafür eintraten, Hitler um einen Waffenstillstand zu bitten; auf der anderen diejenigen, die wie de Gaulle Frankreich unter allen Umständen im Krieg halten wollten. Churchills Gesandter in Frankreich, Edward Spears, nannte die einen die »Defätisten« und die anderen die »Nicht-Defätisten«; Innenminister Georges Mandel sprach kurzerhand von den »Weichen« und den »Harten«, zu denen er sich selbst zählte.6 Verteilt auf mehrere Schlösser im Tal der Loire versuchten beide Lager, einen möglichst großen Einfluss auf den Regierungschef zu erlangen, der von seinen Überzeugungen her eigentlich den »Harten« nahestand, dessen einflussreiche Mätresse Hélène de Portes ihn aber dazu drängte, auf die Defätisten um Pétain zu hören. Während diese den Krieg auch für den britischen Verbündeten verloren hielten und Frankreichs Interesse darin sahen, so bald wie möglich mit Deutschland einig zu werden, schlugen die »Nicht-Defätisten« verschiedene Wege vor, wie man weiterkämpfen konnte. So war der réduit breton, der Rückzug aller Truppen auf die bretonische Halbinsel ebenso im Gespräch wie eine Verlagerung von Regierung und Armee ins französische Nordafrika. Waren die »Harten« somit bereit, das Mutterland dem Feind zu überlassen, verkündete Pétain feierlich, er werde den Boden Frankreichs unter keinen Umständen verlassen. Da an5 | Vgl. Fabrice Virgili: Peurs, dérèglements et désordres, S. 31–39. 6 | Sir E. Spears: Assignment to Catastrophe.

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gesichts der chaotischen Umstände das Parlament nicht einberufen werden konnte, vollzog sich die Entscheidungsfindung innerhalb einer Gruppe von nicht mehr als zwanzig Menschen. Am 16. Juni 1940 kam die Partie zu Ende: Im letzten Moment noch hatte Winston Churchill der französischen Regierung den kühnen Vorschlag einer franko-britischen Staats- und Militärunion unterbreitet, um die Defätisten in die Enge zu treiben. Doch im Kabinett, das sich inzwischen nach Bordeaux hatte zurückziehen müssen, hatten unterdessen die »Weichen« die Oberhand gewonnen. Paul Reynaud erklärte am Abend seinen Rücktritt und sein Nachfolger Philippe Pétain rief am folgenden Tag über das Radio seinen Landsleuten zu: »Mit beklommenem Herzen sehe ich mich heute gezwungen, Euch zu sagen: Der Kampf muss aufgegeben werden.« 7

2.  D er P étain -M y thos : A uslöschung nationale W iedergeburt

der

R epublik

und

Indem Pétain im Namen der Regierung bei Hitler um einen Waffenstillstand nachsuchte, entschied er sich bewusst gegen eine Kapitulation der Truppen, für die primär das Militär Verantwortung getragen hätte. Nach seinem Kalkül sollte die Schuld für die Niederlage allein auf die alte politische Führung abgewälzt werden, während die Armee möglichst unbefleckt aus dem Fiasko hervorgehen und die Basis einer Erneuerung Frankreichs um konservative Werte herum bilden sollte. Gemäß seiner Interpretation der Ereignisse war die Niederlage des Juni 1940 zwar ein großes nationales Unglück, doch gab es für diese Tragödie objektive Gründe: Sie war die Konsequenz der politischen Irrtümer der Vorkriegszeit. Auf diese Weise versuchte er dem Zusammenbruch einen höheren Sinn zu verleihen, war er doch aus dieser Perspektive die unvermeidliche Strafe für die Dekadenz der 20-er und 30-er Jahre. »Nach dem Sieg [von 1918] hat die Genusssucht über den Opfergeist gesiegt«, rief Pétain am 20. Juni 1940 den Franzosen über das Radio zu. »Man hat mehr gefordert, als dass man gedient hätte. Man wollte sich die Mühen ersparen; jetzt begegnet man dem Unglück.«8 Schuld an dem Niedergang der Vorkriegsjahre war, so die Lesart Pétains, nicht ein bestimmtes politisches Lager. Vielmehr sei es die republikanische Ordnung als solche gewesen, die den inneren Zusammenhalt unter den Franzosen zerstört habe. Das alte Regime habe zur Uneinigkeit unter den Bürgern geführt, da es soziale Konflikte zugespitzt und Klassengegensätze in die politische Arena getragen habe, anstatt diese zu überwinden. Der Staat habe aufgehört, der Garant der nationalen Einheit zu sein, vielmehr sei er die Beute 7 | P. Pétain: Appel du 17 juin 1940, S. 57. 8 | P. Pétain: Appel du 20 juin 1940, S. 60.

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von organisierten Einflussgruppen geworden. »Wir kannten Regierungen der sogenannten Rechten, die den Staat für finanzielle und wirtschaftliche Interessen unter Beschlag nahmen«, sagte Gaston Bergery, ein Politiker der »Radikalen« und begeisterter Befürworter Pétains am 7. Juli 1940 vor der Nationalversammlung. »Und wir hatten Regierungen der sogenannten Linken, die den Staat für eine gewerkschaftliche Bürokratie, welche auf trügerische Weise lediglich eine einzige Klasse der Nation repräsentierte, unter Beschlag nahmen.«9 Die Hauptschuldigen für den Verfall der politischen Ordnung waren in den Augen Pétains und seiner Anhänger die Parteien, die in ihren unaufhörlichen Machtkämpfen die Autorität des Staates immer weiter untergraben hatten. Auf diese Weise trug der Marschall eine Fundamentalkritik an allen grundlegenden Institutionen des republikanischen Regierungssystems vor: am Parlament als Ort der politischen Willensbildung und Ursprung der Exekutive und an den Parteien als legitime Repräsentanten von gesellschaftlichen Interessen. Auch die Schule, diese zentrale und symbolträchtige Institution des französischen Republikanismus, fand in seinen Augen keine Gnade. Sie sei »unter dem Anschein der Einheit eine Schule der Uneinigkeit, des sozialen Kampfes, der nationalen Zerstörung gewesen«.10 Solchermaßen verweigerte der Marschall jegliche selbstkritische Analyse der Niederlage, welche die Entscheidungen der Militärführung miteingeschlossen hätte. Wie Stanley Hoffmann es ausdrückt, legte Pétain vielmehr »ein Schuldbekenntnis ab, indem er an die Brust des Anderen klopfte«. Er versuchte die Franzosen aufzurichten und zu vereinen, indem er ihnen in Form der Republik einen Sündenbock präsentierte, an dem sie ihre Ohnmacht auslassen sollten. Aus der Niederlage konnte nach Auffassung Pétains und seines Umkreises nur eine Konsequenz gezogen werden: die umgehende Auslöschung des republikanischen politischen Systems. »Es gibt kein historisches Beispiel für ein Regime, das ein militärisches Desaster von solchen Ausmaßen überlebt hätte«, befand Gaston Bergery in seiner besagten Rede. »Und das ist nur recht so: Denn das militärische Desaster ist nichts anderes als die katastrophale Auswirkung der Korruption des Regimes.«11 Der Waffenstillstand lieferte in diesem Szenario nicht nur den angeblich empirischen Beweis für die Schädlichkeit der bisherigen staatlichen Verfasstheit, sondern stellte auch eine Chance dar, indem er die Perspektive auf eine neue Ordnung eröffnete. Somit wirkte die tabula rasa des Sommers 1940 geradezu wie ein Geschenk für Frankreichs antirepublikanische Rechte. In diesem Sinne bezeichnete Charles Maurras, die intellektuelle Leitfigur der extremen Rechten und wichtigste Feder der Zeitschrift »Action française«, den Juni 1940 als eine »divine surprise« (göttliche 9 | G. Bergery: Pour une France intégrée à la nouvelle Europe, S. 201. 10 | P. Pétain: Politique sociale de l’éducation, S. 53. 11 | G. Bergery: Pour une France intégrée à la nouvelle Europe, S. 202.

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Überraschung), da sie einen seit Jahrzehnten herbeigesehnten Neuanfang ermöglichte.12 Am 10. Juli 1940 ließ Pétain die politische tabula rasa vollziehen: Frankreichs Parlamentarier beschlossen ein Gesetz, das die Republik abschaffte und an seine Stelle den »État français« setzte. Das nationale Gedächtnis sollte partiell ausgelöscht werden, indem die republikanische Tradition eliminiert wurde: An die Stelle der revolutionären Leitworte »Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit« trat die neue Devise »Arbeit, Familie, Vaterland«. Das Bild Marschall Pétains ersetzte fortan in den öffentlichen Gebäuden die »Marianne«, die Verkörperung der republikanischen Tradition. Pétain und sein Umkreis versuchten, aus der tabula rasa des Sommers 1940 eine neue Einheitsvorstellung entstehen zu lassen: Frankreichs Einheit sollte nicht mehr inklusiv – durch die Aufnahme aller den republikanischen Prinzipien nahestehenden Menschen – verstanden werden, sondern dissoziativ  – durch die Abspaltung derjenigen Bürger, die zuvor angeblich Uneinheit bewirkt hatten  – entstehen. Die drei Feindbilder der antirepublikanischen Rechten wurden vehement bekämpft und aus dem öffentlichen Leben gedrängt: Die Juden, die Freimaurer und die »Fremdlinge« (abschätzig als »métèques« bezeichnet). Letztere wurden künftig von der Beamtenschaft ausgeschlossen, die nur noch Kindern französischer Väter (den sogenannten »Stammesfranzosen«) vorbehalten war. Ein im Juli 1940 verkündetes Gesetz erlaubte es fortan, die seit 1927 vollzogenen Einbürgerungen zu annullieren und damit Menschen zu Staatenlosen zu machen. Die Freimaurerlogen, in denen die extreme Rechte schon immer die geheimen Drahtzieher des schädlichen Republikanismus erblickt hatte, wurden aufgelöst; Beamte mussten, falls sie einer Loge angehört hatten, schriftlich ihren Bruch mit der Freimaurerei bekennen. Die Hauptzielscheibe der Ausgrenzungspolitik waren allerdings die Juden, die seit der Dreyfus-Affäre immer wieder das Opfer rechtsnationalistischer Hetzkampagnen geworden waren. Das im Oktober 1940 verabschiedete »Judenstatut« definierte zunächst, welche Bürger von dem Gesetz betroffen waren: jeder Mensch, der drei Großeltern »jüdischer Rasse« hatte, sowie jeder mit einem Juden verheiratete Mensch mit zwei Großeltern »jüdischer Rasse«. Daraufhin listete das Statut eine Vielzahl von Ämtern und Berufen auf, die fortan den solchermaßen definierten Juden nicht mehr zugänglich waren. Darunter befanden sich alle politischen und administrativen Ämter, der Lehrerund Offiziersberuf. Auch durften sie fortan keine Betriebe mehr leiten, die Staatsaufträge erhielten. Schließlich verbot das Statut den Juden, im gesamten Presse-, Radio-, Film- und Theaterwesen tätig zu werden – dem Sektor, in dem ihr Einfluss vorgeblich am stärksten und schädlichsten gewesen war.13 12 | C. Maurras: »La Divine Surprise«, S. 43-44. 13 | Text des »Judenstatuts« in: P. Milza, Sources, S. 205–207.

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Die neue Einheit Frankreichs sollte sich in Pétain verkörpern und durch die Hinwendung der Bürger an ihn erzielt werden. Er wurde inszeniert als uneigennütziger Retter, der sich, wie er es selbst formulierte, aufgeopfert hatte, indem er dem leidenden Frankreich »die Gabe seiner Person« gemacht hatte, um dessen »Unglück zu mildern«.14 Im Zentrum des staatlich propagierten Pétain-Mythos standen die Taten des Marschalls im Ersten Weltkrieg: Seine Strategie bei der Schlacht von Verdun, als er angeblich die Wende bewirkt und damit dem Land den Sieg ermöglicht hatte sowie seine Rolle in der Krise des Jahres 1917, als er die meuternden Soldaten zur Raison gebracht hatte. Pétain ließ es so erscheinen, als stünden seine Entscheidungen im Sommer 1940 in bruchloser Kontinuität mit seinem Wirken während des Ersten Weltkriegs: »Ich war bei euch in den glorreichen Tagen. Als Chef der Regierung bin und werde ich in den düsteren Tagen mit euch bleiben. Seid an meiner Seite. Der Kampf bleibt derselbe.«15 Gleichermaßen wurde Marschall Pétain als die Verkörperung des französischen Patriotismus schlechthin präsentiert, um den naheliegenden Verdacht, seine Zusammenarbeit mit den deutschen Besatzern stelle einen Verrat an der Nation dar, zu zerstreuen. Ein ab 1943 weit verbreitetes Plakat zeigte einen ebenso ernst wie glaubwürdig blickenden Pétain mit der Unterschrift: »Wer ist französischer als er?« In seinen eigenen Reden inszenierte sich der Staatschef als der Repräsentant der Wahrheit schlechthin, der gegen die »Lügen« des vorangegangenen Regimes vorging. »Ich hasse die Lügen, die Euch so viel Übel angetan haben«, lautete einer der immer wieder zitierten Leitsätze seines Regimes.16 Der Marschall verpflichtete sich, die »Versprechen zu halten, selbst die der anderen«. Das Regime baute solchermaßen auf den Trümmern der Niederlage einen neuen Nationalmythos auf, in dessen Mittelpunkt Pétain als richtungsweisender Vater der Franzosen, unumstrittener Chef und militärischer Führer stand. Die totale Demütigung durch die Niederlage, die Orientierungslosigkeit der Bevölkerung angesichts der Besatzung und das Bedürfnis nach einer versichernden Leitfigur führten dazu, dass dieser Mythos weithin positiv rezipiert wurde. Auch als das Vichy-Regime angesichts der zunehmenden Härte der deutschen Besatzung einem wachsenden Vertrauensverlust ausgesetzt war, wirkte dieser Mythos weiter: Zahlreiche Franzosen dissoziierten den Marschall von dem Regime, das er selbst anführte und machten lediglich seine Untergebenen, allen voran den Regierungschef Pierre Laval, für die Zumutungen der Kollaborationspolitik verantwortlich.

14 | P. Pétain: Appel du 17 juin 1940, S. 57f. 15 | P. Pétain: Appel du 20 juin 1940, S. 60. 16 | P. Pétain: Appel du 25 juin 1940, S. 66.

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3.  D e G aulle

und der

G aullismus

als

G egenmy thos

Charles de Gaulle trat am 18. Juni 1940 in die französische Geschichte ein, indem er mit seinem über die BBC gesendeten Aufruf an die Franzosen die Niederlage leugnete und dazu aufrief, den Kampf gegen Deutschland fortzusetzen. Für ihn war der Sommer 1940 keineswegs eine umfassende tabula rasa, denn Frankreich habe zwar eine »Schlacht, aber nicht den Krieg verloren«. Den Waffenstillstand bezeichnete er als »null und nichtig«, geschlossen von einem Mann, der nur noch die »traurige Hülle eines vergangenen Ruhmes« war.17 Vor diesem Hintergrund waren für de Gaulle auch alle Grundentscheidungen, die aus dem Waffenstillstand folgten, illegitim: Die Republik war nicht abgeschafft worden, sondern fand in ihm selbst ihre legitime Verkörperung. Die politisch-militärische Widerstandbewegung, die de Gaulle seit 1940 von London aus auf baute, versuchte mit ihrer Propaganda, den Pétain-Mythos zu bekämpfen. Während das Vichy-Regime den Marschall als eine heiligengleiche Helden- und Retterfigur glorifizierte, verdammte die gaullistische Widerstandsbewegung ihn als einen Gefangenen der deutschen Besatzer, als den Vater der militärischen Niederlage und als einen unrechtmäßigen Gewaltherrscher, der – wie kurz zuvor General Franco – durch ein »pronunciamento« an die Macht gekommen war.18 Doch lässt sich ein Mythos vermutlich nur dann erfolgreich bekämpfen, wenn man ihm einen anderen Mythos entgegenstellt. Dies versuchte die Londoner Widerstandsbewegung, indem sie de Gaulle als Repräsentanten aller heroischen patriotischen Traditionen, als die Wiedergeburt der großen Gestalten der französischen Geschichte inszenierte. Als Leitfigur des Widerstands aktualisierte er die Erinnerung an solche Figuren, die in vergleichbaren Situationen höchster Gefährdung des Vaterlands heroisch gehandelt hatten, und versuchte sich diese anzueignen. Er war – nach eigener Auffassung – Jeanne d’Arc, er war Georges Clemenceau, er war Lazare Carnot.19 Ebenso verkörperte er – nach eigener Wahrnehmung – die Synthese unterschiedlicher, ja widersprüchlicher Traditionen der französischen Geschichte. Seit der Revolution von 1789 hatten sich zwei konträre politisch-ideologische Strömungen auf das Heftigste bekämpft: Das revolutionär-republikanische, laizistische Frankreich konkurrierte mit seinem monarchistischen, antirevolutionären und klerika17 | C. de Gaulle: Discours prononcé au Comité National d’Egypte, S. 89. 18 | Vgl. M. Waechter, Der Mythos des Gaullismus. 19 | Bei der Konferenz von Casablanca soll de Gaulle gegenüber Präsident Roosevelt geäußert haben: »I am Joan of Arc. I am Clemenceau.« C. Hull, The Memoirs, S. 1206ff. Für Thomas Mann ist die Sprechweise des »Ich bin’s« die »Formel des Mythus«, mit der Persönlichkeiten vorgeben, legendäre Leitfiguren wiederzubeleben. T. Mann: Freud und die Zukunft, S. 496f.

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len Widerpart.20 De Gaulle stellte sich  – anders als der antirepublikanische Pétain  – nicht auf die Seite einer Partei der nationalen Erinnerung, sondern gab vor, die »deux France« zu versöhnen. Gleichermaßen ließ er sich als das Symbol dieser Synthese, als das Symbol aller positiven Traditionen der Nationalgeschichte inszenieren. In der ersten Hälfte des Jahres 1941 entstand eine verbreitete Illustration, die den General im Vordergrund vor zwei kriegerischen Frauengestalten zeigte: zu seiner Rechten Jeanne d’Arc zu Pferde mit gezücktem Schwert, zu seiner Linken eine revolutionäre Frauengestalt mit entblößter Brust, die der berühmten Darstellung von Eugène Delacroix »Die Freiheit führt das Volk an« nachempfunden war.21 Die Illustration bezog sich so auf die von de Gaulle geschätzte Synthese zwischen dem Mythos der Jeanne d’Arc und dem Kult der Revolution, indem sie den General als denjenigen zeigte, der diese beiden Traditionen in sich vereinigte und verkörperte. Diese Zuschreibungen stießen seit dem Winter 1941/1942 in Frankreich auf immer positivere Resonanz; mehr und mehr wurden sie von der Widerstandspresse des Untergrunds im Inland übernommen. Als »Symbol der Wiederaufrichtung unseres Landes« bezeichnete die Zeitung Libération de Gaulle im Januar 1942; Combat pries ihn wenige Wochen später als denjenigen, »der den Widerstand gegen die Unterdrückung symbolisiert. Diesem Symbol ist die französische Befreiungsbewegung zutiefst verbunden.«22 Im gleichen Zeitraum scheinen beträchtliche Teile der Bevölkerung den Wert de Gaulles als Symbol akzeptiert zu haben. Sichtbar wird dies etwa in den Briefen, die Franzosen verschiedenster Provenienz der BBC als Medium der Widerstandspropaganda schickten. Der General erscheint hier als das Symbol der Hoffnung und des wiedergewonnenen Muts, als Wahrzeichen des Patriotismus, dessen Radioreden andächtig verfolgt wurden.23 De Gaulles weitgehende Unbekanntheit und Ferne ermöglichten es zudem, dass er früh zur Projektions20 | Das Problem der »deux France« ist in zahlreichen Beiträgen des umfassenden Sammelwerks »Les lieux de mémoire« systematisch untersucht worden. Vgl. dazu v. a. die Aufsätze: J.-L. Ormières: Les rouges et les blancs sowie Marcel Gauchet, hier S. 2395ff u. 2533ff. 21 | Le Général de Gaulle (undatiert): Archives Nationales (Paris): F 1a 5220. Die Darstellung erschien am 4. August 1941 auf der Titelseite des amerikanischen Magazins »Time«; insofern ist davon auszugehen, dass das Bild in der ersten Jahreshälfte entstanden ist. Vgl. Time. The Weekly Newsmagazine: »De Gaulle: Already he rules two-fifths of the French Empire – by mileage.« 22 | Combat-Redaktion: »Le Général de Gaulle: l’Étranger et Nous«, in: Combat, März 1942. Vers la libération, in: Libération (Sud). 23 | Vgl. Les Français écrivent au Général de Gaulle, Service Presse et Information, Februar 1941. Institut d’Histoire du Temps Présent: ARC 074–5: »Sie (i. e. de Gaulle) und Ihre tapferen Kameraden sind unser einziger Grund zu hoffen und zu leben.« »Sagen Sie

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fläche verschiedener Bedürfnisse und Sehnsüchte wurde. Bezeichnend wirken in diesem Zusammenhang »Gebete« an den General, die bereits zum Weihnachtsfest 1940 im Landesinnern kursierten: »Unser Vater de Gaulle, der Du in England bist, verherrlicht sei Dein Name. Dein Sieg komme zu Lande, auf den Meeren und in der Luft. Gib ihnen heute ihre täglichen Bombardierungen. Und gib ihnen hundertfach die Leiden zurück, die sie den Franzosen zugefügt haben. Lass uns nicht unter ihrer Herrschaft, erlöse uns von den Deutschen (boches).« 24

Gleichermaßen stellte sich de Gaulle als der Prophet dar, der die Niederlage Frankreichs seit den 30-er Jahren in seinen militärkritischen Schriften bereits vorausgesehen hatte und der nun seit dem 18. Juni 1940 den Sieg gegen Nazi-Deutschland prophezeite. Von diesem Leitmotiv getragen war auch die erste Biographie des Generals, die 1941 von Philippe Barrès, dem Sohn des berühmten Schriftstellers Maurice Barrès, verfasst wurde.25 Der Kriegsverlauf ließ sich so als eine schrittweise Einlösung seiner Prophezeiungen beschreiben. In diesem Sinne feierte die gaullistische Widerstandsbewegung die jährliche Wiederkehr des 18. Juni als einen Tag, an dem man sichtbar machen konnte, wie sich die Vorhersagen des Résistance-Führers bewahrheiteten. Zum Kriegsende hin wichen diese mythologischen Rollen zunehmend der des Retters und Befreiers des Vaterlands, als welcher er im August 1944 in Paris einzog. In den Monaten der libération kam es zum vorläufigen Kulminationspunkt des de-Gaulle-Kults, der als ein förmlich von Gott gesandter Held weltgeschichtlichen Formats verehrt, besungen und gemalt wurde. Als ein Mann ohne fest definierte politische, soziale und kulturelle Zugehörigkeiten wurde er in der Mythenbildung der Befreiungszeit verstärkt zur Verkörperung der gesamten Nation.26 Im gleichen Zeitraum schufen die Widerstandsgruppen des Inlands einen Mythos, der um die Begriffe »Résistance« und »Révolution« kreiste. Für sie gewann der Widerstand gegen Hitler und die Kollaboration dadurch seinen höheren Sinn, dass er zugleich eine tiefgreifende sozioökonomische und kulturelle Revolution bewirkte. Am Ende des Zweiten Weltkriegs müsste, so forderten es die Diskurse der Widerstandsgruppen, ein totaler Neuanfang stehen. »Skandadem General de Gaulle, dass mehr als nur einer davon ergriffen ist, wenn er ihn hört; seine Stimme, die uns vertraut ist, gibt uns wieder den Mut, der uns häufig fehlt.« 24 | Tracts clandestins publiées en France. Bibliothèque Nationale Paris: Rés. G. 1476 I–VII. In dieser Sammlung weitere Variationen des »Gebets«. 25 | P. Barrès: Charles de Gaulle. 26 | Hierzu M. Waechter: Mythos Der Mythos des Gaullismus, S. 184–189.

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lös wäre es«, so hieß es im März 1943 in der Untergrundzeitung »Libération«, »wenn die schrecklichen Jahre, welche die Welt umgewälzt haben, in Frankreich in irgendeiner elenden Restauration von Institutionen und Männern enden würde. Ganz im Gegenteil muss eine gewaltige Revolution das Ergebnis dieses ungeheuren Dramas sein.«27 In einem ähnlichen Duktus verkündete die Zeitung »Combat« im Sommer 1942: »Die Revolution, die wir in uns tragen, ist die Morgendämmerung einer neuen Zivilisation. Darin liegt der Sinn des Weltbürgerkriegs.«28 Unter diesen Vorzeichen konnte man selbst dem Zusammenbruch, der ökonomischen tabula rasa, noch einen höheren Sinn abgewinnen: »Der einzige Vorteil, den wir von den Umwälzungen und Schrecken dieses Krieges (…) erwarten können, ist, dass sie uns die Gelegenheit bieten werden, in einer zerstörten Wirtschaft ohne Voreingenommenheit den Sinn neu zu überdenken, den wir unserer sozialen Organisation geben wollen«, hieß es im Januar 1943 in der »Revue du Caire«.29 Der Begriff der »libération« erfuhr unter diesen Vorzeichen eine weitgreifende Ausdeutung: Frankreich sollte nicht nur vom Nationalsozialismus, sondern auch vom Klassenkampf, von den Fesseln der Plutokratie, von der Korruption der politischen Sitten der Vorkriegszeit befreit werden. Mit der »libération« sollte Frankreich wieder zur Vorhut der menschlichen Zivilisation werden. Auf diese Weise entwarfen die Wortführer des inneren Widerstands eine Utopie, erhofften sie sich doch, dass mit der Befreiung von der deutschen Besatzung ein für alle Male alle Strukturprobleme einer modernen Industriegesellschaft einer annähernd perfekten Lösung zugeführt werden könnten. Sie glaubten, mit dem Ende des Krieges eine politisch-soziale Ordnung verwirklichen zu können, die Individuen und Gemeinschaft auf ideale Weise integriert. Das Programm des »Conseil national de la résistance«, das 1944 unter dem Titel »Die glücklichen Tage« lanciert wurde, goss diese Utopie in einen umfassenden Kanon politischer sowie sozio-ökonomischer Forderungen. Derjenige, der die Utopie in die Realität umsetzen sollte, war für zahlreiche Protagonisten des Widerstands kein anderer als Charles de Gaulle. Er erschien in den Publikationen des Widerstands als ein Reiner, unbefleckt von jeglicher politischer Schuld aus der Vorkriegszeit, der wie aus dem Nichts kommend in die Geschichte Frankreichs eingetreten war und insofern wie kein anderer dazu prädestiniert war, der strahlenden Zukunft des Landes den Weg zu bahnen. Paradoxerweise war de Gaulle derjenige, der es verhinderte, dass die Befreiung Frankreichs in den Jahren 1944/45 zu einer tabula rasa mit revolutionären Folgen wurde, denn als es zur »libération« kam, galt seine absolute 27 | Libération-(Nord)-Redaktion: »Le Double Combat«. 28 | Combat-Redaktion: »Combat et Révolution«. 29 | E. Minost: La Technique et l’Esprit du Capitalisme, S. 225.

1940 – Die Niederlage als Ursprungsort politischer Mythen in Frankreich

Priorität der Wiederherstellung des Staates und der öffentlichen Ordnung. Um dieses Ziel zu erreichen, zögerte er nicht, mit den alten administrativen Funktionseliten gemeinsame Sache zu machen und diese wieder in ihre Ämter einzusetzen. Es ging ihm vorrangig darum, den Einfluss der kommunistischen Partei einzuhegen und jegliche riskanten politisch-sozialen Experimente zu unterbinden, welche die Stabilisierung Frankreichs erschwert hätten. Die politische Rolle der Résistance hielt er für abgeschlossen, sobald die deutsche Besatzung beendet war. »Jetzt können Sie Ihre Berufstätigkeit wieder aufnehmen«, mit diesen Worten soll er eine Delegation von Widerstandskämpfern im August 1944 verabschiedet haben.30 Auf die traumatische tabula rasa des Sommers 1940 folgte somit keine zweite, heilsbringende tabula rasa zum Kriegsende. Die Befreiung 1944/45 bedeutete für Frankreich Befreiung und Neuanfang, aber keine Revolution.

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»Stunde Null« und »Achtundsechzig« als Gründungsmythen der deutschen Nachkriegsdemokratie Wolfgang Bergem

1.  A bsoluter A nfang nach totaler A uslöschung die liberale D emokratie

und

Das mythische Denken eines absoluten Neuanfangs auf Grundlage einer totalen Auslöschung ist ein fundamentalistisches, monistisches und auch idealisches Denken, das der prinzipiell pluralistischen Vielfalt an Weltbildern, grundlegenden Annahmen und Meinungen sowie der Modi der politischen Willensbildung, der Politikentstehung und der Konfliktregulierung in rechtsstaatlichen und gewaltenteilenden oder gewaltenverschränkenden Demokratien diametral entgegensteht. Die Vorstellung von kompletter Zerstörung und restloser Auslöschung als Voraussetzung eines völligen Neuanfangs mag weiterhin typisch für ein von monotheistischen Religionen geprägtes Denken sein, ohne dass die von Jan Assmann in den Jahren um die Jahrtausendwende ausgelöste1 Debatte darüber, inwieweit die monotheistischen Offenbarungsreligionen mit einer für sie konstitutiven Unterscheidung zwischen wahrer und falscher Religion den Keim für Ausgrenzung, Intoleranz und Gewalt in sich trügen, hier weitergeführt werden soll. Als Denkform des absoluten Beginns eines Neuen auf Basis einer rückstandslosen Eliminierung des Alten verweist der Mythos der tabula rasa, der sauber geschabten Schreibtafel bzw. des unbeschriebenen Blatts auf Vorstellungen der Reinheit, wie sie vor allem Bernard-Henri Lévy als »foi intégriste« für den Glauben an die »bonne communauté«, für die Absage an die jüdisch-christliche Vorstellung von der Erbsünde, die aus diesem Bruch entstehende verklärte Vision von einem unschuldigen Ursprung und einer Rückkehr zur »bonne nature« als dem Ort pri1 | Vgl. J. Assmann: Moses der Ägypter; J. Assmann: Die Mosaische Unterscheidung.

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märer Reinheit sowie für die Annahme einer zu beseitigenden »corruption« und »impureté« der zu verdorbenen Feinden erklärten Gegner beschrieben hat. Dabei besteht das Ziel der endlosen Reinigungsprozedur in einer organisch gedachten »société guérie«, die ohne politische Vermittlungsinstanzen und soziale Differenzierung in osmotischer Einheit, nämlich als »fusion«, existieren könne.2 Der Wille zur Reinheit wird hier zum Traum von einem heilen Leben, in dem der Einzelne in völliger Harmonie mit sich selbst und mit seiner Gemeinschaft, in organischer Ganzheit und ohne Differenz, leben kann. Der Kontrast dieser mythischen Denkform zu den ideengeschichtlichen Voraussetzungen, den konstitutiven Prinzipien und den empirischen Erscheinungsformen der pluralistischen, rechtsstaatlich verfassten Demokratie könnte größer kaum sein. Vermutlich deshalb tun sich repräsentativ-demokratische politische Systeme so schwer, ihre Gründungsnarrative als Mythen der Entstehung explizit einer liberalen Demokratie – und nicht einer Republik oder einer Nation – zu erzählen. Der Mythos eines absoluten Neuanfangs auf Grundlage einer vollständigen Auslöschung als ein totales Narrativ, das einen unhintergehbaren Nullpunkt setzt und unüberbietbare Neuheit herstellt, scheint zumal zu einem konkordanzdemokratisch geprägten Verständnis von Demokratie, das auf Aushandeln durch Kompromiss und inkrementellen Wandel durch bargaining und gütliches Einvernehmen setzt, auf Einbeziehung und Ausbalancierung divergierender, allesamt als legitim anerkannter Interessen, auf das langwierige und gelegentlich mühselige Suchen nach dem relativ besten und auch realisierbaren Lösungsweg, nicht zu passen. Die aktuell vorgebrachte und in Wahlen durchaus erfolgreiche populistische Kritik an den Institutionen, politischen Entscheidungsverfahren und den angeblich korrupten Eliten der Parteiendemokratie bzw. der Mediendemokratie bei gleichzeitig erhobenem Anspruch, selbst den vermeintlich wahren Willen eines vorgeblich moralisch reinen Volkes zu vertreten, macht sich diese spezifische Disposition der liberalen Demokratie zunutze, lieber mit Pathos-Prophylaxe als mit PathosEmphase sowie allem Totalen, Radikalen und Absoluten abhold sich in der Praxis oftmals eher mit piecemeal social engineering zu bescheiden und auf eine Politik des Nachbesserns zu setzen als noch den großen Wurf einer Politik aus einem Guss und idealiter eindeutiger programmatischer Legitimation anzustreben. In der Bonner Republik trat verschärfend hinzu, dass der antitotalitäre Grundkonsens, der sich zur Abgrenzung von der nationalsozialistischen Vergangenheit ebenso verwenden ließ wie zur Abgrenzung vom zeitgenössischen Kommunismus der Sowjetunion und im anderen deutschen Staat,3 nicht recht zu Denkformen des Absoluten und Totalen passen wollte. 2 | B.-H. Lévy: La pureté dangereuse, S. 112–129. 3 | Vgl. W. Bergem: Identitätsformationen in Deutschland, S. 289–291.

»Stunde Null« und »Achtundsechzig« als Gründungsmythen

2.  »S tunde N ull« als M y thos der B undesrepublik ?

zur

G ründung

Eine potentiell mythosfähige Imagination einer Tabula-rasa-Situation findet sich in Deutschland am ehesten in der Metapher von der »Stunde Null« im Blick auf die Zeit unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Vorstellung von einem absoluten Neuanfang auf Grundlage einer totalen Auslöschung war in den Jahren nach 1945 in Deutschland weit verbreitet. Die Formulierungen im Titel des Buchs Das Jahr Null. Ein Franzose sieht Deutschland von Edgar Morin, der 1948 erschienenen deutschen Übersetzung von L’an zéro de l’Allemagne aus dem Jahr 1946, und im Titel des Films Deutschland im Jahre Null von Roberto Rossellini aus dem Jahr 1948 bringen die gefühlte Wahrnehmung einer »Stunde Null« im zerstörten Nachkriegsdeutschland auf den Begriff bzw. greifen einen bereits verwendeten Begriff auf und verhelfen ihm zu weiterer Verbreitung. Die Stimmung der Empfindung einer »Stunde Null« hat ein Zeitgenosse beschrieben als ein »trotz Hunger und für Jüngere heute unvorstellbarer Unsicherheit fast schmerzendes Hochgefühl von Freiheit, eine grenzenlose Erwartung. Schlimmeres als das Überlebte war nicht denkbar und diesem Schlimmen war ein Ende gesetzt. Ein Augenblick von Zeitlosigkeit, der sich rauschhaft dehnte, ein Pausenzeichen der Geschichte, nachdem alles verändert sein würde.« 4 In seiner großen Studie über Die Deutschen und ihre Mythen führt Herfried Münkler im Kapitel über »Politische Mythen der Bundesrepublik« als Grund für den Verzicht auf eine explizit politische Gründungserzählung der jungen Republik das Selbstverständnis der Bonner Republik als politisches Provisorium und Transitorium im geteilten Nachkriegsdeutschland an als den »Preis, den man für die Nichtanerkennung der DDR zu entrichten hatte«. 5 Nachdem die bundesrepublikanische Staatsraison der Westbindung und das Elitenprojekt der europäischen Integration gleichermaßen nicht zur Mobilisierung politischer Emotionen und zu Gründungsmythen der – ohnehin zeitlich zuvor gegründeten – Bundesrepublik taugten, führt er als nunmehr wirtschaftlichen Gründungsmythos »Währungsreform und Wirtschaftswunder« sowie aus dem Bereich des Sports den »Ergänzungsmythos des ›Wunders von Bern‹« an.6 Dass hier »Stunde Null« im Blick auf die Frage nach dem Gründungsmythos der Bundesrepublik keine Erwähnung findet, kann man sicherlich damit rechtfertigen, dass die Metapher von der »Stunde Null« eher eine Situations4 | Vormweg in: Born, Nicolas/Manthey, Jürgen (Hg.): Literaturmagazin 7. Nachkriegsliteratur, Reinbek bei Hamburg 1977, S. 203; zit. n. C. Kleßmann: Die doppelte Staatsgründung, S. 37f. 5 | H. Münkler: Die Deutschen und ihre Mythen, S. 455. 6 | Ebd., S. 467.

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wahrnehmung und -deutung oder auch die daraus entstandene Stimmung bezeichnet als ein Narrativ mit einer konkreten Handlungsstruktur. Allerdings transportiert die Perzeption und Interpretation der unmittelbaren Nachkriegssituation als »Stunde Null« den Impuls und geradezu den Appell zu handeln, auch politisch zu handeln – Trümmer beseitigen, anfangen, auf bauen, schaffen, nach vorn blicken, alles neu entwickeln – und hätte von daher durchaus das Zeug zu einem politischen Gründungsmythos. Auch historiographisch, und zwar im Bezug auf deutsche Geschichte, europäische Geschichte und Weltgeschichte, hat die Deutung des Jahres 1945 als einer tiefgreifenden Zäsur einige Plausibilität. Hans-Ulrich Wehler zum Beispiel erkennt im Ende des Deutschen Reichs und des Zweiten Weltkriegs neben der Befreiung von der NS-Diktatur auch einen »Tiefpunkt der neueren deutschen Geschichte« und beschreibt, wie aus Sicht der meisten deutschen Zeitgenossen in den Jahren 1945–48 die Erfahrungen von Kriegsende und Zusammenbruch, Flucht und Vertreibung, von Vergewaltigung und Zerstörung, die Demobilmachung von dreizehn Millionen Soldaten, die Zwangswanderungen von zwölf Millionen Flüchtlingen und Vertriebenen, die Repatriierung von zehn bis elf Millionen displaced persons sowie die Rückkehr von neun Millionen Evakuierten des Bombenkriegs als »Absturz in den Abgrund der Besiegten« erschienen und gar den Eindruck von einem »Finis Germaniae« nahelegten.7 Heinrich August Winkler verweist auf fortbestehende Kontinuitäten für die Westzonen, vor allem für den öffentlichen Dienst, und konstatiert, eine »Stunde Null« habe es nach dem Untergang der nationalsozialistischen Diktatur faktisch nicht gegeben, jedoch treffe »dieser Begriff das Empfinden der Zeitgenossen auf das genaueste«, das von allgegenwärtigem »Chaos« und dem »Ende aller Sicherheit« bestimmt gewesen sei, aber auch von einer tiefen Sehnsucht in einer »Zusammenbruchsgesellschaft«, nunmehr »so rasch wie möglich zu irgendeiner Art von ›Normalität‹ zurückzukehren«.8 Aus Sicht des Kulturhistorikers Hermann Glaser gab sich die »Stunde Null […] als panisches Idyll« im »wunderschöne[n] Mai« 1945, als »Stunde des Atemholens, umstellt von Schrecknissen«, in der »Ungleichzeitigkeit […] individuelles wie kollektives Schicksal« prägte.9 1945 markiert aber auch das Ende einer »zwei Jahrhunderte währenden Epoche, in der Europa die Welt beherrscht hatte«,10 wie Christoph Kleßmann formuliert; für Alfred Weber bedeutete dieses »Ende Europas als Gesetzgeber und Weltpolizist« auch einen »Abschied von der bis-

7 | H.-U. Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 4, S. 941f. 8 | H. A. Winkler: Geschichte des Westens 1914–1945, S. 1171. 9 | H. Glaser: Kleine Kulturgeschichte, S. 13. 10 | C. Kleßmann: 1945 – welthistorische Zäsur und »Stunde Null«.

»Stunde Null« und »Achtundsechzig« als Gründungsmythen

herigen Geschichte«;11 und für Karl Dietrich Bracher war der historische Ort des Zweiten Weltkriegs das »Ende des europäischen Zeitalters«.12 Um die Deutung der Zäsur von 1945 entspann sich eine kontroverse Debatte, die alsbald eng mit der Teilung Deutschlands im Kalten Krieg verknüpft war. Während der staatsoffizielle und auch gesellschaftlich weithin verinnerlichte Antifaschismus in der DDR die Formel der »Befreiung vom Faschismus« durchsetzen konnte, dominierte in Westdeutschland lange Zeit die Wahrnehmung des Kriegsendes als »Niederlage«, »Untergang«, »Kapitulation« oder »Katastrophe«, bis die Weizsäcker-Rede zum 8. Mai 1985 den Durchbruch zu einem veränderten Paradigma, nämlich dem der »Befreiung«, ebnete. Wer nun als erster den Begriff »Stunde Null« aus der Planungssprache vor allem militärischer Organisationen auf die Situation von Nachkriegsdeutschland übertragen hat, ist nicht mehr zu rekonstruieren. Verwendet wurde der Terminus zunächst vor allem im Zusammenhang mit der Literatur, bezog sich aber bald auch auf andere Bereiche und bezeichnete in breiterer Bedeutung den als Zäsur empfundenen Zeitpunkt, der in doppelter Weise sowohl von der totalen Niederlage und entsprechender Hoffnungslosigkeit als auch von der Chance für einen radikalen Umbruch und vollständigen Neuanfang in Politik, Kultur und Gesellschaft geprägt war, sodass es – so die dem Begriff inhärente These – keine Kontinuitäten zwischen den Zeiträumen vor und nach 1945 gebe. Noch im Oktober 1946 hieß es in einem Beitrag des Herausgebers Alfred Andersch und des Chefredakteurs Hans Werner Richter in der Zeitschrift Der Ruf, in Deutschland sei »das alles«, nämlich die schwerfälligen und »mit dem Ballast der Vergangenheit beladen[en]« Staatsschiffe der Gegenwart, jetzt »zerschlagen«; Deutschland habe »weder einen Staat noch eine Wirtschaftsordnung. Die junge Generation [könne] ganz von vorn dort beginnen, wo die Entwicklung bei den anderen hindrängt. Sie braucht nicht umzubauen. Sie kann neu bauen.«13 Die zunehmende öffentliche Thematisierung der NSVerbrechen, die Nürnberger Prozesse und die alliierte Politik einer Entnazifizierung machten die Vorstellung eines völligen Neuanfangs in Gesellschaft, Politik und Kultur auf Grundlage einer tabula rasa für viele zu einem plausiblen Deutungsentwurf. Die Vorstellung von einer »Stunde Null« war also in den Jahren nach 1945 in Deutschland weit verbreitet und nachvollziehbar. Es war das nicht nur unter Intellektuellen und Politikern verbreitete Bewusstsein von der Notwendigkeit eines echten Neubeginns aus dem »Geist der Stunde Null«,14 das den Jahren 11 | A. Weber: Abschied von der bisherigen Geschichte; zit. n. ebd. 12 | K. D. Bracher: Schlussvortrag; zit. n. ebd. 13 | H. W. Richter: Zwischen Freiheit und Quarantäne, S. 19; zit. n. D. v. Laak: Gespräche, S. 20. 14 | K. Sontheimer: So war Deutschland nie, S. 33.

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nach dem Ende der Katastrophe des Dritten Reiches das Signum bereitstellte. Dabei drückte die »für eine diffuse Stimmungslage verwendbar[e]«15 Metapher der »Stunde Null« sowohl die Wahrnehmung dieses Neuanfangs als auch die Hoffnung auf einen solchen Neuanfang aus. Das Bedürfnis nach einem Neustart auf einer tabula rasa war 1945 nach zwölf Jahren NS-Regime verständlich. Allerdings war die Metapher von der »Stunde Null« unweigerlich mit der Leugnung, zumindest dem kollektiven Beschweigen von Kontinuitäten verknüpft. Hermann Lübbes zuerst 1983 vorgetragener und 2007 bestärkter »These vom integrativen Sinn des Beschweigens biographischer Vergangenheitslasten im bundesrepublikanischen Alltag«16 zufolge haben erst das partielle Verdrängen und die Mythenbildung im Sinne einer »Stunde Null« die in die Zukunft statt in die Vergangenheit gerichtete Wiederauf baukooperation zwischen – in Beziehung zu ihrer früheren Position zum NS-Regime – verschiedenen Gruppen ermöglicht und damit eine notwendige Integrations- und Transformationsleistung für den demokratischen Neubeginn bereitgestellt. Zu den moralischen Folgekosten dieses Neuanfangs auf Grundlage öffentlichen Beschweigens gehörte gleichwohl einerseits eine mit der Zeit eintretende Verschiebung im Selbstbild vieler Deutscher vom Täter oder Mitläufer hin zum Opfer der Nazi-Diktatur einschließlich ihrer Konsequenzen nach Kriegsende und andererseits die Fokussierung der These Lübbes auf die Mehrheit der Deutschen in ihrer individuellen Verstrickung in das NS-Regime bei Ausblendung der von den Nazis verfolgten Minderheiten, die sich, wie etwa im Fall von Kommunisten und Homosexuellen, auch in der Ära Adenauer Ausgrenzung und strafrechtlicher Verfolgung ausgesetzt sahen. War also die Vorstellung von einer »Stunde Null« in den Jahren nach 1945 in Deutschland weit verbreitet und nachvollziehbar, aber grundfalsch? Grundfalsch war und ist sie wohl ebenso wenig wie sie rundum zutreffend ist. Angemessener scheint es zu sein, die Frage nach »Stunde Null« und tabula rasa für verschiedene Bereiche differenziert zu beantworten. Punktuell, vor allem für die weit verbreitete, im Blick auf die materiellen Zerstörungen zumal in den Städten geradezu physisch spürbare Wahrnehmung der eigenen Existenz in einer Situation, die von völligem Zusammenbruch, umfassender Zerstörung und der zugleich keimenden Hoffnung auf einen neuen Anfang geprägt war, ist die Metapher »Stunde Null« durchaus triftig. Uta Gerhardt verwendet den Begriff »Stunde Null« für den »Wechsel vom Führerstaat zur parlamentarischen Demokratie, von der staatlich dominierten Wehrwirtschaft zur sozialen Marktwirtschaft und von der Weltanschauungsdiktatur zur Meinungsfreiheit« und weist diesen Systemwechsel recht weitgehend als

15 | C. Kleßmann: Die doppelte Staatsgründung, S. 37. 16 | H. Lübbe: Vom Parteigenossen zum Bundesbürger, S. 9.

»Stunde Null« und »Achtundsechzig« als Gründungsmythen

Effekt der amerikanischen Besatzungspolitik in Deutschland aus.17 Damit wird die »Stunde Null« zur »Nullphase«, einer länger andauernden Phase der Transformation mit eigener Handlungslogik.18 Eine zeitliche Ausdehnung der Semantik der Wendung »Stunde Null« findet sich auch in dem von Hans Braun, Uta Gerhardt und Everhard Holtmann edierten Band über Die lange Stunde Null, die sich nun auf die vier Jahre der Besatzungszeit bzw. mit Blick auf den Beginn der amerikanischen Programmplanung der Besatzungspolitik auf die Zeitspanne von 1942 bis zum Ende der Tätigkeit der Alliierten Hohen Kommissare 1955 erstrecken soll.19 Die übergreifende These des Bandes ist, dass die Besatzungsmächte in der Zeit eines gelenkten sozialen Wandels in Westdeutschland nach 1945 einen Neuanfang herbeigeführt hätten, den sich die Westdeutschen in der Folge aneignen und zur Zivilgesellschaft der Bundesrepublik ausgestalten konnten. Ein weiterer Bereich, für den die Diagnose von einer »Stunde Null« Geltung beanspruchen kann, ist die bildende Kunst, konkret Malerei und Plastik. Der von den Alliierten geförderte Prozess einer Rehabilitierung der von den Nazis als »entartet« diffamierten Klassischen Moderne fand einen Kulminationspunkt im Jahr 1955 – zehn Jahre nach der »Stunde Null« und kurz nach der Aufhebung des Besatzungsstatuts – in der documenta I in Kassel, mit der Westdeutschland wieder Anschluss an die internationale Kunstgemeinschaft fand.20 Wenig Plausibilität kommt der Metapher von der »Stunde Null« hingegen im Blick auf die politische Kultur zu. Zwar entsprach die in dieser Wendung zum Ausdruck gebrachte Vorstellung eines völligen Neuanfangs auf einer tabula rasa, des Auf baus einer ganz neuen Gesellschaft, die anders, die besser sein sollte als die alte, einem verständlichen und wohl auch notwendigen Bewusstsein in dieser Übergangszeit. Jedoch konnten mit den Trümmern der zerstörten Städte eben nicht die Muttermale der deutschen Gesellschaft beseitigt werden. Die politisch-kulturelle Entwicklung zeigte Kontinuitätslinien, die in die Zeit vor 1945, auch in die Zeit vor 1933 und zum Teil auch vor 1918 zurückreichten. Nach dem Zweiten Weltkrieg, insbesondere in der Ära Adenauer, bestand und, in deutlich abgeschwächter Form, besteht gelegentlich bis heute eine Fortdauer von tradierten Elementen politischer Kultur in mehrfacher Hinsicht, unter anderem im Blick auf die autoritäre Tradition eines obrigkeitsstaatlichen Denkens, das den Vorrang der Gemeinschaft vor dem Individuum impliziert, eine eskapistische Haltung einer prinzipiellen Distanz zur Politik, ein übersteigertes Bedürfnis nach Konsens und eine Sehn17 | U. Gerhardt: Soziologie der Stunde Null, S. 16. 18 | Vgl. ebd., S. 121–137. 19 | H. Braun/U. Gerhardt/E. Holtmann (Hg.): Die lange Stunde Null, S. 7f. 20 | Vgl. M. Schieder: Die documenta I, S. 637–643.

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sucht nach Harmonie, die sich politisch in einer mangelnden Bereitschaft und Fähigkeit zur Akzeptanz und Regulierung sozialer Konflikte manifestierten, und eine verbreitete Ablehnung der Ideen der Aufklärung, die in politischer Dimensionierung während der Romantik als die Ideen des französischen Kriegsgegners ins Land gekommen waren.21 Almond und Verba stellten in der Civic-Culture-Studie auf Grundlage von Interviews in den späten 1950-er Jahren für Westdeutschland ein passives und formal-distanziertes Verhältnis der Bundesbürger zur Politik bei einem gleichzeitig hohen politischen Informationsstand, eine starke Output- und schwache Input-Orientierung und eine pragmatische, vor allem mit den wirtschaftlichen Leistungen des neuen Staates und wachsendem Wohlstand begründete Systemakzeptanz fest – kurz gesagt: den Typus der subject culture, der Untertanenkultur, der aus dem 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts hineinragte in das neue System der unter alliierter Überwachung konstituierten rechtsstaatlichen und föderalen Demokratie.22 Die politische Kultur einer Gesellschaft steht ja nicht in einem Vakuum. Sie ist vielmehr eingebettet in überlieferte Wertmaßstäbe und tradierte Denkgewohnheiten, die als kollektives Gut historischer Erfahrungen von Generation zu Generation weitergegeben werden. Dabei ist dieses tradierte Erbe nicht die einzige, noch nicht einmal die wichtigste Determinante der politischen Orientierungen, aber es vermag die Merkmale und Besonderheiten einer Gesellschaft erklären zu helfen. Politische Kulturen sind nicht statisch, aber träge. Sie verändern sich wohl, doch vollziehen sich die Wandlungen, denen sie unterworfen sind, langsam und schwerfällig und vor allem lassen sich diese Veränderungen nicht von oben als Ergebnis einer intentionalen Steuerung herbeiführen. Daher konnte es nach dem Ende der NS-Diktatur auf dem Feld der politischen Kultur eine »Stunde Null« kaum geben. Weil das Narrativ von der »Stunde Null« und der tabula rasa im Jahr 1945 offensichtlich nur punktuell die Wirklichkeit erfasste, konnte sich das GegenNarrativ von der Restauration und Kontinuität im Nachkriegsdeutschland etablieren. Die diffuse Formel von der »Restauration« haben die beiden linkskatholischen Publizisten Walter Dirks und Eugen Kogon seit 1945/46 in den Frankfurter Heften geprägt.23 Der Begriff war als Anklage gemeint und wurde meist undifferenziert verwendet – so blieb gelegentlich unklar, ob eine Wiederherstellung politischer oder sozialer Verhältnisse der nationalsozialistischen Diktatur, der parlamentarischen Demokratie der Weimarer Republik oder der Kaiserreichzeit gemeint war. Der Terminus schien amorph genug, um für ganz unterschiedliche Formen von Unbehagen über die Entwicklung in den 21 | W. Bergem: Tradition und Transformation, S. 75–97 und 223–232. 22 | G. A. Almond/S. Verba: The Civic Culture, S. 102, 428f. und 494–497. 23 | H.-U. Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 4, S. 973.

»Stunde Null« und »Achtundsechzig« als Gründungsmythen

Westzonen und später in der neugegründeten Republik und ganz verschiedene politische Forderungen und Ziele anschlussfähig zu sein. Damit stand er unweigerlich in Gefahr, zu einem breit einsetzbaren pauschalen Etikett für alles mögliche politisch jeweils Nicht-Gewünschte zu werden. Etwas konkreter fassbar verhält es sich mit der ebenfalls als Anklage und als Opposition gegen die These von der »Stunde Null« gemeinten Wendung der »Kontinuitäten«. Diese lassen sich in der Tat in mehreren Bereichen ausmachen; exemplarisch sollen hier fünf Aspekte genannt werden: erstens das kapitalistische Wirtschaftssystem, das nach Kriegsende nie zerstört, sondern nur passager durch Eigentumsvorbehalte und Beschlagnahme in Frage gestellt worden war; zweitens die tradierten Verwaltungsstrukturen, in denen das Berufsbeamtentum ähnlich wie bereits 1918/19 und 1933 ein wichtiges Element der Kontinuität war; drittens das Bildungssystem, bei dessen versuchter Reform sich die Alliierten am Widerstand der Kirchen und der schulischen Interessenvertreter gleichsam die Zähne ausgebissen und am Ende den restaurativen Kräften das Feld überlassen haben; viertens unter den Interessengruppen vor allem die Arbeitgeber- und Unternehmerverbände, die rasch wieder an Einfluss gewinnen konnten; 24 sowie fünftens, als ein äußerst unrühmliches Blatt in der bundesdeutschen Geschichte, die personelle Kontinuität in Politik, Justiz und Sicherheitsbehörden, die es zahlreichen ehemaligen Schergen des NS-Regimes mit ihrem effizienten Netzwerk ermöglichte, im Auswärtigen Amt oder auch in anderen Ministerien, im Bundeskriminalamt, Bundesnachrichtendienst und Verfassungsschutz, in Staatsanwaltschaften und Gerichten auf sicheren Beamtenstellen zum Teil dieselben Sachgebiete zu bearbeiten wie vor 1945.25 Somit scheint es angemessener zu sein, im Blick auf die politische und gesellschaftliche Entwicklung im Nachkriegsdeutschland anstatt den absoluten Begriff von der »Stunde Null« zu gebrauchen, eher von Kontinuität und Wandel zu sprechen. Gleichwohl kommt dem Begriff von der »Stunde Null« durchaus seine Berechtigung als Chiffre für eine Stimmung zu, die sich aus der subjektiven Wahrnehmung völliger Zerstörung und damit der Chance für einen Neuanfang speiste, der etwas beginnen sollte, das fundamental anders war als das in den Jahren vor 1945 Erlebte. »So war die Stunde Null, historisch gesehen, zwar eine Stunde relativer Unverbindlichkeit, da die Macht fehlte, das Gedachte und Propagierte auch ins Werk zu setzen, aber sie schuf doch in ihrer Fülle und Vielfalt einen Nährboden für die geistige und politische Erneuerung Deutschlands, der sich im Rahmen der späteren Verfassungsordnung des Grundgesetzes als fruchtbar erweisen sollte.«26 24 | C. Kleßmann: Deutschland nach 1945, S. 209f. 25 | H.-U. Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 5, S. 21f. 26 | K. Sontheimer: So war Deutschland nie, S. 14.

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Die Wahrnehmung, der Geist oder die Stimmung der »Stunde Null« stellte kulturelle Voraussetzungen für die später erfolgende politische Gründung des westdeutschen Staates bereit. Ein Gründungsmythos der Bundesrepublik Deutschland insgesamt ist die »Stunde Null« dadurch jedoch nicht.

3.  »A chtundsechzig « als M y thos zur G ründung der B undesrepublik ?

eigentlichen

Aus Sicht der Vertreter der These weitgehender Kontinuitäten beim Systemwechsel 1945–49 fand die einschneidende Veränderung der politischen Kultur der Bundesrepublik in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre statt; sie wurde vor allem von der Generation initiiert und getragen, die als erste ihre politische Sozialisation nur in der Nachkriegszeit erlebt hatte. In der Entwicklung, wenn man so will: auch in der Mythengeschichte der westdeutschen Bundesrepublik – liegt die Protestrevolte von 1967/68 zeitlich genau in der Mitte zwischen dem Jahr 1945, das vielfach als »Stunde Null« empfunden wurde und einen Neuanfang markierte, und dem Ende der Bonner Republik durch die zweite deutsche Vereinigung von 1990. Auch wenn sich der Protest der Studentenrevolte von 1967/68 gegen den Nachkriegskonsens des repräsentativ-demokratischen Staates richtete, trug er seinen Teil dazu bei, dass die Bundesbürger in der zweiten Hälfte der Bonner Republik, in den 1970-er und 1980-er Jahren, in Umfragen gestiegene Werte für politisches Interesse und Partizipation, affektive Bindungen an das politische System und eine von ökonomischen Leistungen zunehmend unabhängige Unterstützungsbereitschaft für die Demokratie zeigten, sodass die Bundesrepublik nunmehr als in einer demokratischen politischen Kultur fest verankert gelten konnte.27 Die für die Adenauerzeit noch deutlich erkennbare Kontinuität etatistischer, autoritärer und unpolitischer Traditionen deutscher politischer Kultur konnte in der mit der Chiffre »Achtundsechzig« bezeichneten Phase nunmehr weitgehend beendet werden. Dieser Kontinuitätsbruch basierte weniger auf Einstellungsänderungen der älteren Jahrgänge als auf dem Nachwachsen jüngerer, besser ausgebildeter, im freiheitlichen System der Demokratie sozialisierter und unter günstigeren ökonomischen Bedingungen aufgewachsener Generationen, die teilweise als Vorreiter des postmaterialistischen Wertewandels und der neuen sozialen Bewegungen in den Jahren bis zur Vereinigung gelten können. Für die Vertreter des Narrativs von der eigentlichen Gründung oder der zivilen Nachgründung der Bundesrepublik als einem demokratischen, politisch-kulturell in der Gesellschaft belastbar verankerten Staat in der Zeit und 27 | Vgl. M. Greiffenhagen/S. Greiffenhagen: Politische Kultur, S. 393–395.

»Stunde Null« und »Achtundsechzig« als Gründungsmythen

unter entscheidendem Einfluss der studentischen Revolte der späten sechziger Jahre galt die Generation der Achtundsechziger als demokratisch-partizipatorisches Potential für die weitere Entwicklung der Bundesrepublik, als zukunftsträchtige Hefe im Teig der westdeutschen Gesellschaft. In Umfragedaten konnte gezeigt werden, dass die Ansicht, die Aufgabe der parlamentarischen Opposition sei es nicht, die Regierung zu kritisieren, sondern sie zu unterstützen, von drei Viertel der Studierenden für falsch gehalten wurde, aber nur von einem Viertel der gesamten Bevölkerung, oder dass im Sommer 1968 dreiundfünfzig Prozent aller Studierenden schon an Demonstrationen mit politischen Zielen teilgenommen hatten, aber nur fünf Prozent der nichtakademischen Jugend – auch vor dem Hintergrund der damals verbreiteten Überzeugung, Demonstrationen seine etwas »Unrechtmäßiges«. Max Kaase urteilte im Blick auf solche empirischen Ergebnisse 1971, die Studentenschaft sei »mit weitem Abstand die toleranteste und progressivste Population«.28 Für Heinz Bude ist die Bundesrepublik durch die Protestereignisse zwischen 1967 und 1972, also zwischen dem tödlichen Schuss auf Benno Ohnesorg und dem Wahlsieg Willy Brandts, »erst von innen her zu einem liberalen und demokratischen Land geworden.«29 Jürgen Habermas bescheinigt der »studentische[n] Protestszene«, sie habe »in der Bundesrepublik den ersten Schub einer Fundamentalliberalisierung ausgelöst« und erkennt die langfristige Wirkung der damals praktizierten Protestformen in einem neuen, an libertären Vorbildern ausgerichteten »Individualismus der Lebensformen« und auch in »neuen Formen autonomer Öffentlichkeit, in denen die Grenzen zwischen Demonstration und zivilem Ungehorsam, zwischen Diskussion, Festival und expressiver Selbstdarstellung verschwimmen.«30 Claus Leggewie erklärt 1968 zum Versuch »einer antifaschistischen Neugründung der Bundesrepublik und fortgeschrittener Demokratie«; wenn auch vielfache personelle Kontinuität in Verwaltung und Justiz, Wirtschaft und Politik zwischen NS-Diktatur und Bundesrepublik die Zielscheibe von Kritik und Protest der Achtundsechziger darstellte, sei dies keineswegs als Anschlag auf die Institutionen der Bundesrepublik zu verstehen.31 Einen anderen Aspekt betont Herfried Münkler, wenn er »1968 geradezu als zweite Staatsgründung der Bundesrepublik« bezeichnet, da hier »doch zum ersten und einzigen Mal eine intensive Auseinandersetzung über die Verfassung stattgefunden« habe, »in deren Gefolge es zu einer positiven Anerkennung des Grundgesetzes gekommen« sei. Die oft schrille Kritik an 28 | M. Kaase: Demokratische Einstellungen in der Bundesrepublik Deutschland; zit. n. M. Greiffenhagen/S. Greiffenhagen: Ein schwieriges Vaterland, S. 226f. 29 | H. Bude: Achtundsechzig, S. 123. 30 | J. Habermas: Die nachholende Revolution, S. 26f. 31 | Zit. n. M. Greiffenhagen/S. Greiffenhagen: Ein schwieriges Vaterland, S. 228.

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den Notstandsgesetzen, auch wenn sie sicherlich nicht auf eine nachholende Identifikation im Sinne eines Verfassungspatriotismus zielte, hat in der Tat zu »Beschäftigung mit Verfassungsfragen geführt, wie es sie danach nicht mehr gegeben hat« – auch nicht im Zuge der Vereinigung von 1990.32 Womöglich war es die gerade der Kritik an der Grundgesetzänderung von 1968 geschuldete Vertiefung in Fragen der Verfassung, die ihren Teil dazu beigetragen hat, dass ein großer Teil der 68-er Generation nach der Zäsur der späten sechziger Jahre – inklusive des Regierungswechsels zur sozialliberalen Koalition 1969 – die Bundesrepublik Deutschland zunehmend als »ihren« Staat empfinden konnte. Diese spät, oftmals erst post festum entdeckte Zuneigung und die damit verbundene Nobilitierung war nicht zuletzt in melancholischen Rückblicken nach der Vereinigung auf die nunmehr verschwundene Bonner Republik abzulesen, etwa bei Patrick Süskind, Jahrgang 1949, der sich 1990 »ein wenig traurig« darüber zeigte, »daß es den faden, ungeliebten, praktischen Staat Bundesrepublik Deutschland, in dem ich groß geworden bin, künftig nicht mehr geben wird«.33 Zu den Befürwortern der These vom Demokratisierungspotential der Achtundsechziger gehören nicht nur biographisch einschlägig Betroffene oder politisch Nahestehende. In seiner Rede zur Herstellung der deutschen Einheit am 3. Oktober 1990 vor dem Reichstagsgebäude in Berlin formulierte immerhin Bundespräsident Richard von Weizsäcker: »Die Jugendrevolte am Ende der sechziger Jahre trug allen Verwundungen zum Trotz zu einer Vertiefung des demokratischen Engagements in der Gesellschaft bei.«34 Diese Lesart von »Achtundsechzig« fokussiert die Wirkungen dieser Revolte auf die Stabilisierung der bundesdeutschen Demokratie. Das ist sicherlich legitim, wird aber den Intentionen und zum Teil weit abgesteckten politischen Zielsetzungen der damaligen Akteure nicht gerecht. In Opposition dazu standen von Anfang an Gegen-Narrative, entgegengesetzte Deutungen der 68-er Studentenbewegung als ideologisch verblendete Verirrung, als Rückkehr zu Fundamentalismus und Dogmatismus im politischen Denken, als »romantischer Rückfall«, wie Richard Löwenthal diagnostizierte,35 als Ursprung des »Aufkommen(s) des Gutmenschen, also (der) säkulare(n) Form des pietistisch-abseitigen Frömmlers« als die »verhängnisvollste Folge« dieser Zeit, wie Kai Diekmann meinte,36 als lediglich ein aufgrund der Lebensdaten der Eltern, die in die NS-Zeit reichten, besonders scharf ausgetragener Generationenkonflikt, als Wertezerfall, mangelnder Respekt 32 | H. Münkler: Die Deutschen und ihre Mythen, S. 458. 33 | P. Süskind: Deutschland, eine Midlife-crisis, S. 122. 34 | Zit. n. H. Bude: Achtundsechzig, S. 122. 35 | R. Löwenthal: Der romantische Rückfall. 36 | K. Diekmann: Der große Selbstbetrug, S. 13; zit. n. W. Bührer: Deutungskämpfe um »1968«.

»Stunde Null« und »Achtundsechzig« als Gründungsmythen

gegenüber Autoritäten aufgrund normativer Desorientierung und Abbau fester Normen wie etwa der Ablehnung von Gewalt oder gleich als Ursprung der späteren Gewalt des RAF-Terrorismus. Somit markiert der Epochenbruch von 1968 für die einen den Mythos demokratischen Neubeginns und für die anderen das von kommendem Unheil kündende Menetekel. Gegen die Annahme, »Achtundsechzig« habe das Demokratieverständnis der Bundesrepublik in entscheidender Weise weiterentwickelt oder gar neu begründet, kann nun vorgebracht werden, dass es den Achtundsechzigern gerade nicht um das beharrliche Ringen um einen Kompromiss, der in Deutschland immer gerne als »faul« gilt, weil keine Seite ihr Anliegen in Gänze, rein und unverfälscht durchsetzen kann, dass es ihnen nicht um Toleranz gegenüber anderen politischen Ansichten und geduldige, kleinschrittige Reform ging und damit um den politischen Entscheidungsmodus, der der repräsentativen parlamentarischen Demokratie entspricht. Martin und Sylvia Greiffenhagen weisen darauf hin, dass die insgesamt erfolgreicheren Protestbewegungen dieser Jahre in den USA und in Frankreich vor dem Hintergrund alter Demokratien stattfanden, die ihre Institutionen schon lange Zeit ausgebildet und ihre demokratische Kultur gefestigt hatten, deren Einklagen und Komplettierung dann anstand. In Deutschland sei jedoch aufgrund des Fehlens stabiler demokratischer Traditionen die politische Kritik der Achtundsechziger von Zügen »idealistischen Hochmuts, moralischer Radikalität, fanatischer Lupenreinheit und besonders viel Theorie« gekennzeichnet als – so die Pointe – den »Spuren bürgerlicher Politikferne, deutscher ›Innerlichkeit‹ und Unsicherheit im Umgang mit der Macht«. Aus dieser Konstellation folgern die Greiffenhagens nicht zu Unrecht, die Achtundsechziger hätten gerade »das Demokratieverständnis nicht entwickelt, das unserer politischer Kultur nottut: Toleranz, Kompromiß, geduldige Reform.« 37 Gleichwohl kann der Vergleich zu Protestbewegungen in anderen westlichen Demokratien auch einen anderen Akzent setzen, wenn konstatiert wird, dass »Achtundsechzig« als Nagelprobe für die erfolgreiche Verwestlichung der Bundesrepublik gelten kann – im Blick auf den zuweilen scharfen AntiAmerikanismus der Achtundsechziger in den meisten Fällen kontra-intentional. In dieser Deutung konnte die Bundesrepublik nach der ökonomischen, politischen und militärischen Westintegration nunmehr auch politisch-kulturell zum Westen aufschließen und die Westbindung dadurch vervollständigen. Damit wurden zum einen die noch verbliebenen Relikte deutschen Sonderwegbewusstseins endgültig entsorgt und zum anderen war mit dieser Vertiefung der Verankerung im Westen die Voraussetzung für die Neue Ostpolitik der Regierung Brandt und Scheel geschaffen.

37 | M. Greiffenhagen/S. Greiffenhagen: Ein schwieriges Vaterland, S. 229.

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Für die Annahme, »Achtundsechzig« habe das Demokratieverständnis der Bundesrepublik nicht an das anderer westlicher Demokratien angepasst, sondern in entscheidender Weise weiterentwickelt oder gar neu begründet, spricht hingegen, dass es den Achtundsechzigern gar nicht um das eingangs skizzierte, um Kompromiss und Reform kreisende repräsentativ-demokratische Politikverständnis ging. Das wäre mit dem Selbstverständnis als anti-systemische Bewegung auch schwerlich vereinbar gewesen. Vielmehr wurde hier jedoch der Grundstein für die Entwicklung eines partizipatorischen und emanzipatorischen Demokratieverständnisses gelegt. Im Blick auf dieses Erbe von »Achtundsechzig«, das sich heute in den erweiterten Begriffen von Politik und von Demokratie und auch von Kultur entfaltet, in einem gewandelten Verständnis politischer Partizipation, in den Forderungen nach und Implementationen von Bürgerbeteiligung und in den Debatten über die Zivilgesellschaft, kann von einer – partiellen – Neubegründung der Bundesrepublik gesprochen werden. In Relation zur Vorstellung eines völligen Neuanfangs von einer tabula rasa ist das ein sicherlich bescheidenes Erbe, das die repräsentativ-demokratische Ordnung der Bundesrepublik ergänzt, nicht ersetzt.

4.  S chlussbemerkung Eine Abwägung, ob nun dem Narrativ von der »Stunde Null« im materiell weitgehend zerstörten, militärisch und moralisch besiegten Deutschland von 1945, auch wenn es nur punktuell die politische, gesellschaftliche und kulturelle Realität wiedergibt, oder dem Narrativ von »Achtundsechzig«, das zwischen Kritik an und Festigung der bundesrepublikanischen Demokratie oszilliert, höhere Plausibilität als Gründungsmythos der Bundesrepublik zukommt, kann demnach nur differenziert nach verschiedenen Segmenten des Gegenstands, um dessen mythische Begründungen es geht, vorgenommen werden. Gleichwohl werden die politischen und kulturellen Deutungskontroversen um die Erinnerungsorte »Stunde Null« und »Achtundsechzig« weitergeführt werden, in höherer Intensität in diesem Jahr zum 50-jährigen Gedenkjubiläum zu »Achtundsechzig« und in zwei Jahren, 2020, zum 75-jährigen Gedenkjubiläum zu Kriegsende und »Stunde Null«. Dabei wird die Entwicklung der Deutungskontroversen von Deutungskämpfen zu Deutungsdifferenzen analog zum Wechsel der Erinnerungsmodi durch Mortifikation persönlich memorierter Erlebnisse im Übergang vom informellen kommunikativen Gedächtnis zum gestifteten kulturellen Gedächtnis im einen Fall bereits weit fortgeschritten, im anderen Fall erst im Entstehen begriffen sein. Die Erinnerung an die »Stunde Null« wird zum Gedenkjubiläum ihren Gegenstand demnach eher schon etwas farblos und musealisiert entwerfen, die Erinnerung an »Achtundsechzig« in diesem Jahr wird wie auch bei den vergangenen runden

»Stunde Null« und »Achtundsechzig« als Gründungsmythen

Gedenkanlässen zu publizistischen und wissenschaftlichen Debatten führen, wobei der Gegenstand insgesamt wohl schon in milderem Licht erscheinen wird.

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»Und die Erde war gestaltlos und wirr …« (Gen 1,2) – Mythos und Tabula rasa in der priesterschriftlichen Urgeschichte Judith Gärtner

Das Nachdenken über den Mythos in seiner Funktion, Wirklichkeit zu schaffen und einen Deutungsmachtanspruch zu formulieren, gehört in der alttestamentlichen Wissenschaft zu den immer wieder diskutierten Themenkomplexen.1 Dagegen ist die tabula rasa als Denkfigur bisher kaum diskutiert worden. Sie in ihrem Verhältnis zum Mythos zu bestimmen, stellt in besonderem Maße eine Herausforderung dar, steht doch die tabula rasa, die ursprünglich die unbeschriebene, geglättete und leere Wachstafel zu Beginn eines jeden Schreibprozesses meint, sowohl für den Anfang als auch für die Option, Geschriebenes immer wieder auslöschen zu können.2 Mit dem Mythos verbindet sich hingegen nahezu Gegenteiliges. Erzählungen von den Anfängen der Welt, der Menschheit etc. zielen durch stetiges Neuerzählen auf Stabilität, denn zur Funktionalität von Mythen gehört es, gerade im »Immerwieder-Erzählen« identitätsstiftend und identitätsvergewissernd zu wirken. Somit steht der Mythos für die Konstruktion von Narrativen zur Weltdeutung, während mit der tabula rasa die Dekonstruktion von vormals Konstruiertem verbunden ist. Mythos und tabula rasa zusammenzudenken, bedeutet daher zwei Denkfiguren aufeinander zu beziehen, die gegenteilige Dynamiken freisetzen. Dennoch gibt es ein gemeinsames Moment, das beide Denkfiguren 1 | Vgl. hierzu exemplarisch den von A. Zgoll und R. Kratz herausgegebenen Band »Arbeit am Mythos« oder den von H. Irsigler herausgegebenen Band »Mythisches in biblischer Bildsprache«. 2 | Vgl. hierzu auch die Verwendung der tabula rasa als platonisch-aristotelische Metapher, die das Gedächtnis in seinem ursprünglichen Zustand beschreibt, bevor es Eindrücke der Außenwelt aufgenommen hat. Vgl. hierzu J. Mittelstraß: Art. tabula rasa, S. 198.

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miteinander verbindet. Dabei handelt es sich um die Idee des Anfangs. Die tabula rasa fokussiert den Anfang, nachdem der Prozess des Auslöschens vollzogen ist und der neue Prozess beginnt. Der Mythos fokussiert den absoluten Anfang ebenfalls, indem er Gründungsnarrative konstruiert. »Der Mythos als Gründungserzählung bzw. als Erzählung eines Ursprungs bzw. einer Schöpfung evoziert daher selbst das Bild der tabula rasa. Damit eine Narration mythisches Potenzial entfalten kann, d. h. fraglose Evidenz erzeugt, muss sie im Idealfall so wirken, als hätte vor ihr nichts auf der leeren Tafel gestanden.«3 Ein solches Erzählen beansprucht, deutungsmächtig zu sein, da die Welt in ihrer Gesamtheit neu gedeutet wird. Stephanie Wodianka beschreibt in diesem Zusammenhang einen Dreischritt. Erstens erfolgt das »Auslöschen der Tafel«, sodass die vorhandenen Narrative in Form und Inhalt negiert werden. Darauf folgt zweitens die »Neubeschriftung« durch die Konstruktion neuer Narrative mit Deutungsmachtanspruch, die drittens so in ein neues belief system als Deutungsraum überführt werden, dass sie für ein Kollektiv deutungsmächtig werden.4 Diese Konstruktion neuer Narrative, die durch die zuvor vorgenommene tabula rasa erst entstehen kann, weist wiederum mythische Charakteristika auf. In diesem Sinn wird das Moment der tabula rasa auch Teil des entstehenden Mythos. Zu dieser Funktionalität gehört es, so identitätsstiftend zu wirken, dass Makro-beliefs und Mikro-beliefs miteinander verbunden werden.5 Damit verweist die tabula rasa als Denkfigur aber stets auf die vorgängigen belief systems und entfaltet innerhalb der mindestens partiell geteilten belief systems ihre Deutungsmacht. Im neukonstruierten Narrativ verbinden sich daher tabula rasa und Mythos zu einer neuen identitätsvergewissernden Erzählung. Dieser Dreischritt vom »Auslöschen der Tafel« über die »Neubeschriftung« zur Transformation in ein neues belief system lässt sich in der Auseinandersetzung der alttestamentlichen Literatur mit den neubabylonischen Schöpfungsepen beobachten, die im babylonischen Exil im VI.–V. Jahrhundert v. Chr. entstanden ist. Vor dem Hintergrund der für die babylonische Gesellschaft überaus deutungsmächtigen Schöpfungsepen wurde auch für die im Exil lebenden Judäer die Frage nach den Anfängen der Welt und der Schöpfertätigkeit ihres Gottes virulent. Daher ist in dieser Zeit ein inneralttestamentlicher Diskurs um die Frage »Wie erzählen wir die Anfänge von Welt und Menschen?« festzumachen, der sich kritisch mit den vorhandenen babylonischen Schöpfungsmythen auseinandersetzt. Die gewonnenen neukonstruierten Narrative, wie sie prominent in der priesterschriftlichen Urgeschichte in Gen 1–9* 3 | Bizeul, Y., Einleitung, S. 7–24. 4 | Wodianka, S., Einleitung, S. 25–39. 5 | Zur Funktionalität von Mythen vgl. den kulturanthropologischen Überblick bei R. Bendix: Woran erkennt man Mythen? S. 70–77.

»Und die Erde war gestaltlos und wirr …« (Gen 1,2)

vorliegen,6 zeigen dabei auf, dass die Gründung der Welt und die Erschaffung des Menschen auf die Schöpfertätigkeit des Gottes Israels zurückgehen und gerade nicht in den Kompetenzbereich der babylonischen Gottheiten fallen. Hierin liegt, wie noch weiter auszuführen ist, ein Moment der tabula rasa verborgen: ein von der Denkform der Auslöschung bestimmter Neuanfang, in dem die Auseinandersetzung um den Deutungsmachtanspruch auf Welt und Mensch hindurchscheint. Zugleich ist diese Auseinandersetzung durch das sich in dieser Zeit formierende monotheistische Gottesbild geprägt. Die Schöpfertätigkeit wird zunehmend zum Ausdruck der Göttlichkeit und andersherum zeigt sich an der Schöpfung die Wirkmacht der Gottheit. Dieser Zusammenhang wird in der alttestamentlichen Literatur so beschrieben, dass JHWH, dem Gott Israels, die alleinige Schöpfermacht und damit alleinige göttliche Wirkmacht zukommt. Die den babylonischen Göttern zugeschriebenen Zuständigkeitsbereiche und Kompetenzen werden aberkannt und deren Zuständigkeiten auf den Gott Israels übertragen. Als paradigmatischer Text für diese Thematik gilt in der alttestamentlichen Forschung Gen 1,1–2,4a. Daher werden auch die folgenden Überlegungen von Gen 1,1–2,4a ausgehen, um im literarischen Kontext der priesterschriftlichen Urgeschichte (Gen 1–9*) den Zusammenhang von Mythos und tabula rasa beispielhaft für die alttestamentliche Literatur zu diskutieren.

1.  »I m A nfang schuf G ot t H immel und E rde« (G en 1,1) – D er A nfang als tabul a rasa? Mit der Schöpfungserzählung 7 der Priesterschrift beginnt in Gen 1,–2,4a nicht nur die Hebräische Bibel, sondern auch der in Auseinandersetzung mit dem babylonischen Pantheon entstandene Erzählbogen von den Anfängen der Welt, der mindestens bis zur Gabe der Tora am Sinai gespannt ist.8 Das Er6 | Da es sich bei der priesterschriftlichen Urgeschichte um einen vielschichtigen literarischen Fortschreibungsprozess mit unterschiedlichen redaktionellen Bearbeitungen handelt, wird der Erzählbogen vereinfacht mit Gen 1–9* angegeben. Dabei verweist das Sternchen auf den im Hintergrund zu berücksichtigenden literarischen Wachstumsprozess. 7 | Die Bestimmung der literarischen Gattung von Gen 1,1–2,4a ist nach wie vor umstritten. Während O. H. Steck: Priesterschrift, S. 244–255 die formelhafte Sprache als Ausdruck theologischer Reflexion und Nüchternheit interpretiert und von daher von einem Schöpfungsbericht spricht, betont C. Westermann: BK, S. 111 das Moment der Erzählung, da in Gen 1,1–2,4a eine Dynamik von »Einsatz-Mitte-Schluss« zu erkennen sei. 8 | Zum forschungsgeschichtlichen Überblick über die Priesterschrift und zum umstrittenen Ende der priesterschriftlichen Passagen im Pentateuch vgl. E. Zenger: Gottes

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zählen von den Anfängen der Welt mit seiner Intention, das So-Sein der Welt zu plausibilisieren, wird in der priesterschriftlichen Urgeschichte in Gen 1–9* entfaltet. Diese Kapitel sind von einem universalen Blick auf die Welt und die Menschheit gekennzeichnet, bevor dann der Blick ab Gen 12 auf die Anfänge des Volkes Israels gerichtet wird. Entscheidend ist daher, dass die priesterschriftliche Urgeschichte in Gen 1–9* in ein theologisches Gesamtkonzept der Gründungsgeschichte Israels eingebettet ist, die nicht von ihrem erzählerischen Kontext isoliert verstanden werden kann.9 Der für die Frage nach Mythos und tabula rasa entscheidende Erzählbogen findet sich in der Erzählung von der Erschaffung der Welt bis zur Sintflut (Gen 1–9*). In dieser Narration werden unterschiedliche Aspekte des Anfangs und der tabula rasa reflektiert. Die priesterschriftliche Urgeschichte beginnt mit einer Erzählung in Gen 1,1–2,4a, in der Gott in sieben Tagen die Welt erschafft. Der Text fällt durch seine formelhafte und rhythmisierende Sprachgestalt auf. Gerahmt ist er durch die Aussage in Gen 1,1 »Im Anfang (war es), als Gott den Himmel und die Erde schuf«10 sowie durch den resümierenden Schlussvers »Dies ist die Entstehungsgeschichte des Himmels und der Erde, als sie erschaffen wurden.«11 Innerhalb dieses Rahmens wird nun die Erschaffung der Welt in sieben Tagen beschrieben. Vorangestellt ist den Schöpfungstaten eine Schilderung der Vorwelt in Gen 1,2, in der ein Urzustand benannt wird, der im Kontrast zu der ab Gen 1,3 entstehenden Schöpfungsordnung steht. Die folgenden acht Schöpfungswerke werden durch die den Text durchziehende formelhafte Sprache strukturiert. Dabei werden sie jeweils mit der Formel eingeleitet »und Gott sprach«. Abgeschlossen wird der Schöpfungsvorgang in der Regel mit der Billigungsformel »und Gott sah … es war gut«. Eine umfassende Billigungsformel schließt in Gen 1,31 insgesamt das Schöpfungshandeln Gottes ab: »Und Gott sah alles an, was er gemacht hatte, und siehe, es war gut.« Zu dieser Strukturierung kommt die Aufteilung der Schöpfungswerke auf die sieben Tage, die mit der Formel »und es wurde Abend und es wurde Morgen« zum Ausdruck gebracht wird. Dabei verteilen sich die einzelnen Schöpfungswerke folgendermaßen auf die sechs Tage:

Bogen in den Wolken, S. 27–49, Th. Pola: Priesterschrift, S. 17–50 und weiter J. Wöhrle: Fremdlinge, S. 13–23. 9 | Vgl. hierzu z. B. A. Schüle: Prolog, S. 51–58. 10 | Zur umstrittenen Syntax von Gen 1,1 vgl. die ausführliche Diskussion bei M. Bauks: Welt, 65–86. 11 | Zur Übersetzung vgl. O. H. Steck: Priesterschrift, S. 258 sowie A. Schüle: Gen 1–11, S. 27.

»Und die Erde war gestaltlos und wirr …« (Gen 1,2)

1. Tag

1. Werk

Erschaffung von Tag und Nacht

2. Tag

2. Werk

Erschaffung der Himmelsfeste

3. Tag

3. Werk

Erschaffung von Erde und Meer

4. Werk

Erschaffung der Pflanzen

4. Tag

5. Werk

Erschaffung der Himmelskörper

5. Tag

6. Werk

Erschaffung der Wassertiere und Vögel

6. Tag

7. Werk

Erschaffung der Landtiere

8. Werk

Erschaffung der Menschen

7. Tag

Ruhe und Vollendung

Betrachtet man die Tabelle, fällt auf, dass die ersten vier Tage den Grundkonstanten der Welt in räumlicher und zeitlicher Hinsicht gewidmet sind. Hierzu zählen der Wechsel von Tag und Nacht, wie er am vierten Tag durch die Einsetzung der Himmelskörper manifestiert wird sowie die Aufteilung der Erde in die Bereiche Himmel, Erde, Meer, wobei die Pflanzen zur Erde gehören und explizit erwähnt werden. Der fünfte und sechste Tag setzt das bereits Geschaffene voraus und entfaltet die Belebung der geschaffenen Lebensbereiche durch die Tiere und den Menschen. Der siebte Tag stellt einen Sonderfall dar, da an ihm kein eigentliches Schöpfungswerk mehr beschrieben wird, sondern die Vollendung des göttlichen Schöpferhandelns. Daher heißt es in Gen 2,2: »Und Gott vollendete am siebten Tag sein Werk, das er gemacht hatte, und er ließ ab von seinem Werk, das er gemacht hat«.12 Ausgedrückt wird das Aufhören bzw. Ablassen von den Werken mit dem Verb »šābat«,13 sodass die Vollendung im Ablassen/ Aufhören bzw. Ruhen selbst besteht.14 Auf diese Weise wird der siebte Tag von den vorherigen sechs Tagen nicht nur abgehoben, da ausschließlich das göttliche Handeln und kein weiteres Schöpfungswerk beschrieben wird, sondern er integriert auch die Vollendung des Schöpfungshandelns in das Schöpfungsgeschehen. Es geht daher nicht um das Ausruhen nach der Vollendung, wie es die Übersetzung in der Septuaginta nahelegt: »Und Gott vollendete am sechsten Tag seine Werke und ruhte am siebten Tag von all seinem Werk«.15 Funktional wird damit der Sabbat als siebter Tag in dem Schöpfungsgeschehen fest12 | Zur Übersetzung vgl. U. Neumann-Gorsolke: Schöpfung, S. 141. 13 | Zur Übersetzung von »šābat« in Gen 2,3 vgl. U. Neumann-Gorsolke: Schöpfung, S. 141. 14 | Vgl. zur Diskussion auch K. Schmid: Schöpfung, S. 78. 15 | Die in Gen 9 beschriebene Grenze, die nicht überschritten werden darf, ist die Tötung eines anderen Menschen sowie der Blutgenuss.

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geschrieben und auf diese Weise in den Anfängen der Zeit verankert. Dies ist insofern von Belang, als der Wochensabbat als Ruhetag erst im babylonischen Exil entstanden ist. Handelte es sich beim vorexilischen Sabbat um einen an den Mondphasen orientierten und im Tempel begangenen Feiertag (Hos 2,13; Am 8,5; Jes 1,13), der nicht an Ruhe und an die Unterbrechung von Arbeit geknüpft war, wird der siebte Tag im Exil zu einem wöchentlichen Feiertag, der religiöse und rituelle Formen unabhängig des Tempelkults freisetzte. Damit wird er zu einem der entscheidendsten Identitätsmarker der judäischen Gemeinde.16 Die Schöpfungserzählung in Gen 1,1–2,4a zielt im Ganzen auf den Idealzustand der Welt, wie er von Gott gewollt ist. Besonders deutlich wird dies an der vegetarischen Ernährung von Tier und Mensch, durch eine vollkommene konfliktfreie Zuordnung der beiden, wodurch eine befriedete Weltordnung geschaffen wird. Dass dieses Ideal nicht lebbar ist, entwickelt die Priesterschrift in ihrer Sintflutgeschichte in Gen 6–9, an dessen Ende Gottes Erlaubnis für den Menschen steht, Tiere zum Verzehr kontrolliert zu töten. Zugleich aber bleibt die Schöpfung nach Gen 1 der Maßstab dafür, »wie Gott die Welt und auch den Menschen gemeint hat.«17 Für unsere Fragestellung nach dem Zusammenhang von Mythos und tabula rasa sind nun innerhalb der Schöpfungserzählung in Gen 1 drei Abschnitte von besonderem Interesse: erstens die Setzung im bzw. am Anfang in Gen 1,1, zweitens die Schilderung der Vorwelt und drittens die Erschaffung der Himmelskörper. Da die Schöpfungserzählung in Gen 1 allerdings in den Kontext der priesterschriftlichen Urgeschichte eingebunden ist, ist abschließend viertens die Bedeutung der priesterschriftlichen Sintfluterzählung als Erzählung einer tabula rasa zu problematisieren.

2.  D er A nfang

in G en

1,1

Das erste Wort der priesterschriftlichen Schöpfungserzählung »Anfang – re’šîṯ« suggeriert, dass die Erzählung mit einer leeren Wachstafel, einer tabula rasa, beginnt, zumal dieser in Gen 1,1 konstruierte Anfang den Leser nicht auf einen fest definierten Anfangspunkt verweist. Vielmehr wird aufgrund der semantischen Mehrdeutigkeit des Begriffs ein Verstehenshorizont eröffnet, der eine begrenzte Zeitspanne, den Anfang der Zeit überhaupt sowie den Erstling umfasst.18 Hinzu kommt, dass die grammatische Konstruktion 16 | Vgl. hierzu B. Schmitz: Geschichte, S. 36–44. 17 | U. Neumann-Gorsolke: Schöpfung, S. 161. 18 | Vgl. zur ausführlichen Diskussion der Semantik von »Anfang – re’šîṯ« M. Bauks: Welt, S. 95–98 sowie Rattray, S./Milgrom, J., Art.: ‫ראשׁית‬ – re’šîṯ, S. 292 sowie E. Jenni: Erwägungen, S. 121–127.

»Und die Erde war gestaltlos und wirr …« (Gen 1,2)

Abstraktnomen »Anfang – re’šîṯ« mit der Präposition »im/am/als/durch/mit – be« nicht determiniert ist, wodurch zur semantischen Mehrdeutigkeit noch eine syntaktische Offenheit hinzutritt.19 Auf diese Weise ist der Leser gleich zu Beginn der priesterschriftlichen Erzählung mit einer Polyvalenz konfrontiert, die sich eindeutigen grammatischen und semantischen Zuordnungen entzieht. Der mit dem ersten Wort gesetzte Anfang in Gen 1,1 verweist also auf die Grundstruktur des Anfangens.20 Dieses Verständnis des Verses gewinnt an Plausibilität, wenn man den gesamten ersten Vers als Mottovers mit Überschriftcharakter versteht:21 »Am Anfang von: Gott hat den Himmel und die Erde geschaffen.« (Gen 1,1)

Damit wird deutlich, dass in Gen 1,1 der Beginn der Weltentstehung in den Blick genommen wird. Zugleich allerdings provoziert die Setzung des Anfangs auch die Frage nach dem, was vor dem Anfang lag. »Wer von Anfang spricht, kann i. a. nicht vermeiden, das vor dem Anfang Liegende zu implizieren.«22 In diesem Sinn ist auch die Fortsetzung der Erzählung im nächsten Vers zu verstehen, in dem der Fokus nicht auf das zu Schaffende gerichtet wird, sondern auf das, was vor dem Beginn der Schöpfertätigkeit war. Somit ist das Moment der tabula rasa am Anfang der Erzählung in Gen 1 durchlässig für das, was vor dem Anfang, vor der Erschaffung der Welt, liegt.

3.  D ie Vorwelt

in G en

1,2

Die Erschaffung der Welt in Gen 1,1–2,4a beginnt mit einer Beschreibung des Urzustandes in Gen 1,2: »Aber die Erde war gestaltlos und wirr, und Finsternis war über dem Urmeer. Und ein Windhauch/Sturm Gottes wehte über den Wassern.«

19 | Vgl. zur Diskussion der syntaktischen Optionen in Gen 1,1 M. Bauks: Welt, S. 69–89. 20 | I. Willi-Plein: Geschichte, S. 155 verweist in diesem Zusammenhang m. E. zu Recht auf den Gebrauch des indeterminierten ersten Monats in Ex 12,2. Dort heißt es in priesterschriftlicher Terminologie: »Dieser Monat ist für euch ein Monatshaupt, ein für euch erster in Bezug auf die Monate des Jahres«. Damit wird der ins Frühjahr fallende Passamonat Nissan zu einem von zwei möglichen ersten Monaten des Jahres und kann neben dem im kultischen Festkalender festgelegten Neujahrsmonat im Herbst ebenfalls als erster Monat des Jahres begangen werden. 21 | Vgl. M. Bauks: Welt, S. 85f. 22 | I. Willi-Plein: Geschichte, S. 154.

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Die in Gen 1,2 genannten Elemente, mit denen die noch nicht geschaffene Welt skizziert wird, gehörten zu den auch in mesopotamischer Tradition vorhandenen Vorstellungszusammenhängen. So beginnt z. B. das Weltentstehungsepos Enūma eliš ebenfalls mit der Beschreibung der Vorwelt, deren Charakteristikum wie in Gen 1,2 darin besteht, die Gestaltlosigkeit der Welt jenseits von kosmologischer und sozialer Ordnung herauszustellen.23 Daher zielt die summarische Zusammenstellung lebensfeindlicher Elemente in Gen 1 vor allem darauf, die Nichtexistenz von Raum und Zeit als Grundkonstanten des Urzustandes herauszustellen. Die Attribute »gestaltlos und wirr  – tohû wābohû«, die »Urflut  – tehôm« sowie die »Finsternis  – hošæk« beschreiben bei aller unterschiedlicher Semantik im Einzelnen die Qualität der Vorwelt als nicht-lebensermöglichenden Un-Ort, Nicht-Zeit, in deren Koordinaten keine Lebensordnung möglich ist. Die Schöpfertätigkeit Gottes beginnt somit nicht im Nichts. Ihr Ausgangspunkt ist die Vorwelt. Anders als später in der christlichen Rezeption von Gen 1 wird daher keine creatio ex nihilo erzählt. Vielmehr liegt der Fokus von Gen 1 im Kontext altorientalischer Mythen gerade darauf, zu erzählen, wie das Gestaltlose und Lebensfeindliche Gestalt gewinnt.24 Insofern beginnt die Erzählung von der Erschaffung der Welt mit einer Bestandsaufnahme des Urzustandes. Diese genannten lebensfeindlichen Elemente werden in Gen 1,2 aber im Unterschied zu der altorientalischen Tradition nicht als belebte Elemente mit göttlichen Qualitäten vorgestellt. Vielmehr werden sie im Fortgang der Schöpfungserzählung in die entstehende Grundordnung von Raum und Zeit integriert. Dies geschieht so, dass der Finsternis und dem Wasser konstruktive Größen gegenübergestellt werden, durch die ihre zerstörerischen Aspekte begrenzt und ihre Funktion zu einer lebensdienlichen werden. Die Finsternis wird durch die Erschaffung des Lichts zur Nacht und in den verlässlichen Wechsel von Tag und Nacht integriert. Aus der Unzeit wird eine lebensdienliche Zeit. Gleiches lässt sich für die »Urflut – tehôm« beobachten, die an die auch in der Beschreibung der Vorwelt im Enūma eliš zitierte Urgottheit Tiamat erinnert. Tiamat wird dort als Schöpferin bezeichnet und personifiziert die zerstörerische und chaotische Seite des Meeres.25 In Gen 1,6–8.9–10 werden der Urflut durch die Trennung der Wasser in der Schöpfungsordnung begrenzte Räume zugewiesen. Die Wasser werden zunächst durch die Himmelsfeste getrennt, sodass über und unter der Himmelsfeste der Ort des Wassers vorgestellt wird. Danach werden die Wasser unter dem Himmel an einem Ort gesammelt, sodass das Trockene, die Erde, vom Wasser, dem Meer, unterschieden ist. Auf diese Weise wird deutlich, dass die lebensfeindlichen 23 | Vgl. zum Enūma eliš W. v. Soden: Atramchasis-Mythos, S. 569. 24 | So auch A. Schüle: Urgeschichte, S. 35. 25 | Vgl. M. Bauks: Welt, S. 251–254 sowie A. Schüle: Urgeschichte, S. 35f.

»Und die Erde war gestaltlos und wirr …« (Gen 1,2)

Elemente zwar nicht von Gott geschaffen worden sind, dass dieser Gott aber aufgrund seiner einzigartigen Wirkmächtigkeit ihnen einen begrenzten Ort in seiner kosmischen Ordnung zuweisen kann. Somit steht nicht die Negation der lebensfeindlichen Elemente, sondern deren Integration im Fokus der priesterschriftlichen Schöpfungserzählung. Darüber hinaus werden bei der Erschaffung der Lebewesen im Meer die großen »Tanninim – tannînim« eigens erwähnt. Bei den »Tanninim – tannînim« handelt es sich um Seeungeheuer,26 die ebenfalls wie Tiamat im Kontext des Alten Testaments mit dem Chaoskampf verbunden werden.27 Als Chaosmächte revoltieren sie gegen die obersten Götter und ihre geschaffene Ordnung. In der babylonischen Fassung des Enūma eliš wird dieser Aufstand von Marduk, dem Hauptgott Babylons, niedergeschlagen, womit die Festigkeit der Weltordnung gesichert ist.28 Der entscheidende Aspekt bei der Erwähnung der »Tanninim –tannînim« besteht aber darin, dass sie nach Gen 1,21 weder Gottheiten sind noch antigöttliche Kräfte, die die Schöpfung bedrohen. Im Gegenteil, sie gelten als von Gott geschaffene Elemente, die als Bestandteil der Schöpfungsordnung angesehen werden. Aber nicht nur die Integration der lebensfeindlichen Elemente in die geschaffene Ordnung ist bemerkenswert, sondern auch die gänzlich unpolemische Benennung der Elemente. Anders als z. B. in der Auseinandersetzung Deuterojesajas mit babylonischen Gottheiten werden die Elemente wie Finsternis und die Urflut  – tehôm selbstverständlich als nicht belebt beschrieben, sodass in dieser Nüchternheit der Beschreibung ein entmythisierender Aspekt hervortritt. Die gesamte Schöpfungserzählung in Gen 1 zielt letztlich darauf, den Gott Israels als einzig wirkmächtigen Gott und damit als einzigen Schöpfer des Himmels und der Erde zu profilieren. In dieser monotheistischen Intention liegt nun m. E. das eigentliche Moment der tabula rasa. Indem in der Beschreibung der Vorwelt die als nicht-belebt beschriebenen Elemente in die von Gott geschaffene Ordnung integriert werden, wird ein belief system konstruiert, das die vorhergehenden (babylonischen) zugleich umfasst und überschreibt, und dessen auslöschender Deutungsmachtanspruch im monotheistischen Gottesbild der Priesterschrift begründet liegt.29

26 | Vgl. die Ausführungen zu den Tanninim bei C. Westermann: BK, S. 190f. 27 | Vgl. z. B. Jes 51,9; Ps 74,13 mit der ugaritischen Parallele CTA 3 III 37 sowie Hi 7,12. 28 | Vgl. hierzu die Einführung in das Enūma eliš sowie den Text W. v. Soden: Atramchasis-Mythos, S. 565–602. 29 | Vgl. hierzu A. de Pury: Priesterschrift, S. 36, der zugespitzt formuliert: »[…], sondern er [der Autor der Pg, J. G.] erweist sich auch […] als der «Erfinder» des universalen Gottesnamens und, damit letztlich, des monotheistischen, interreligiösen Gotteskonzeptes.«

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4.  D ie L euchten

am

H immel

Der für die Vorwelt beschriebene Zusammenhang von priesterschriftlicher Schöpfungserzählung und tabula rasa zeigt sich noch einmal in besonderer Weise profiliert bei der Erschaffung der Himmelskörper am vierten Tag in Gen 1,14–19:30 Und Gott sprach: Es sollen Lichter werden an der Feste des Himmels, um zu scheiden zwischen Tag und Nacht, und sie sollen Merkzeichen sein für (festgesetzte) Zeiten und für Tage und Jahre. 15 Und sie sollen Lichter sein an der Feste des Himmels, um zu leuchten auf der Erde. Und so geschah es. 16 Und Gott machte zwei große Lichter: das große Licht zur Herrschaft über den Tag und kleine(re) Licht zur Herrschaft über die Nacht und dazu die Sterne. 17 Und Gott gab sie an die Feste des Himmels, damit sie leuchten auf der Erde. 18 Und damit sie herrschen über den Tag und die Nacht und um zu scheiden zwischen Licht und Finsternis. Und Gott sah, dass es gut war. 19 Und es wurde Abend und Morgen: vierter Tag. 14

Mit der Erschaffung der Gestirne wird die die kosmische Ordnung prägende Grundstruktur der Zeit weiter ausdifferenziert. Dabei kommt den Himmelskörpern eine zweifache Funktion zu. Zum einen manifestieren sie die Unterscheidung in Tag und Nacht, indem sie als Lichtquelle am Himmelsfirmament fungieren. Zum anderen dienen sie als Element der Zeitmessung darüber hinaus als Merkzeichen für die kalendarische Unterteilung in Tage und Jahre sowie in festgesetzte Zeiten.31 Mit den festgesetzten Zeiten wird auf kultische Festzeiten angespielt. Damit wird wie bei der Nennung des siebten Tages auch hinsichtlich der übrigen kultischen Zeiten deutlich, dass diese in ihrer Grundstruktur im Schöpfungsgeschehen selbst verankert sind, sodass sie ihre Legitimation von der Grundordnung der Welt her beziehen.32 Die Aufgabe der Gestirne besteht nun darin, über den Tag und die Nacht eine Verwaltungsherrschaft auszuüben. Der hierfür verwendete Begriff »zur Herrschaft« bezeichnet aber in erster Linie keine Tätigkeit, sondern eine 30 | Zur Analyse dieses Schöpfungswerts im Einzelnen sowie zur forschungsgeschichtlichen Debatte vgl. O. H. Steck: Priesterschrift, S. 95–118. 31 | Vgl. hierzu weiter die Argumentation bei I. Willi-Plein: Geschichte der Zeit, S. 155f. 32 | Vgl. A. Schüle: Urgeschichte, S. 38f, der diesen Aspekt deutlich profiliert, zugleich aber auch festhält, dass Gen 1 aufgrund der offenen Terminologie nicht primär kultätiologisch auszulegen ist. So begegne der Begriff der Zeiten zwar in kultischen Festkalendern, ist aber auch in nicht-kultischen Zusammenhängen belegt, während der Begriff des Zeichens in den Festkalendern fehle.

»Und die Erde war gestaltlos und wirr …« (Gen 1,2)

Zweckbestimmung der Gestirne,33 wie dies durch die Bezeichnung der Gestirne als große Lichter in Gen 1,14.16 zum Ausdruck gebracht wird. Wie die Elemente der Vorwelt handelt es sich bei den Gestirnen somit nicht um belebte Größen. Dies sticht umso deutlicher heraus, als im babylonischen Pantheon die Gestirne als Repräsentanten zentraler Gottheiten galten34, die als Machtwesen am Himmel den Lauf der Welt bestimmten.35 Die Konzentration auf die Zweckbestimmung der Gestirne in Gen 1 geschieht ebenfalls, wie bereits in der Beschreibung der Vorwelt festgestellt, ohne polemische Abgrenzungen gegenüber den babylonischen Gottheiten. Gleichzeitig ist die Transparenz der Referenzen gegeben, da die Lichter am Himmel durchlässig für die zentralen Astralgottheiten des babylonischen Pantheons sind. Die Erschaffung der Gestirne ist daher so konstruiert, dass sie durch ihre entmythologisierende Darstellung als Lichter in großer Selbstverständlichkeit darauf verweist, dass kein anderer Gott als der Gott Israels als Schöpfer die Geschicke der Welt bestimmt. »Konkurrierende Gottheiten werden in Gen 1 nicht mehr ausdrücklich problematisiert, weil der universelle Horizont sie erst gar nicht einbezogen hat«.36 Somit gewinnt die priesterschriftliche Schöpfungserzählung ihren Deutungsmachtanspruch gerade nicht durch aktive Abgrenzung, sondern durch die Konstruktion eines eigenen Schöpfungsnarrativs.

5.  M y thos als tabul a rasa in der priesterschrif tlichen S intflutgeschichte (G en 6–9*) Die von Gott geschaffene und als »sehr gut« befundene Schöpfung entfaltet im Verlauf der priesterschriftlichen Urgeschichte eine geradezu gegenteilige Dynamik von Gewalt. Der Mensch, der als Stellvertreter Gottes auf Erden die Schöpfungsordnung bewahren soll, versagt. Das grundsätzliche Tötungsverbot zwischen Mensch und Tier, Tier und Tier und Mensch und Mensch erweist sich als nicht umsetzbar. Stattdessen, so lässt die Priesterschrift Gott urteilen, ist die Erde voll von Gewalttat und verderbt. Dies erfasst der narrative Bogen, der vom Ende der Schöpfungserzählung in Gen 1,31 zum Beginn der 33 | Vgl. O. H. Steck: Priesterschrift, S. 100f; I. Willi-Plein: Geschichte der Zeit, S. 157. 34 | Zu nennen sind vor allem der Mondgott Sin, der Sonnengott Schamasch sowie die Göttin Ischtar, symbolisiert durch den Ischtar-Stern (Venus). 35 | Vgl. M. Albani: Monotheismus, S. 188, der zudem den Zusammenhang zwischen den irdischen Machthabern und den himmlischen Mächten herausstellt. »Was die Herrscher auf Erden darstellen, das sind die Gestirne am Himmel. […] Mittels der astralen Divination versuchten die mesopotamischen Könige den Willen der in den Gestirnen repräsentierten Götter zu ergründen.« (ebd.). 36 | N. C. Baumgart: Gottesbild, S. 69f.

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Sintfluterzählung in Gen 6,12 gespannt wird.37 Heißt es am Ende des sechsten Schöpfungstags in Gen 1,31: »Und Gott sah an alles, was er gemacht hatte: und siehe es war gut«,

so urteilt Gott am Beginn der priesterschriftlichen Sintflutgeschichte in Gen 6,12 in Entsprechung: »Und Gott sah die Erde an: und siehe sie war verdorben. Denn der Weg allen Fleisches war verdorben auf Erden.«

Die Konsequenz, die Gott aus seiner Betrachtung zieht, ist tabula rasa, die Vernichtung der Schöpfung, um die nicht mehr rückgängig zu machende Dynamik von Gewalt zu ihrem logischen Ende zu führen. Daher schließt sich an das Urteil über die verdorbene Erde der Vernichtungsbeschluss in Gen 6,13 an: »Da sprach Gott zu Noah: Das Ende allen Fleisches ist bei mir beschlossen, denn durch sie ist die Erde voller Gewalttat. So verderbe ich sie zusammen mit der Erde …«

Gott realisiert die von ihm angekündigte Sintflut, indem er den begrenzten Bereich der Urfluten oberhalb des Himmels entgrenzt, sodass sich nach Gen 7,11 die Fenster der Himmelsfeste öffnen und das Wasser auf die Erde strömt. »… an diesem Tag brachen alle Quellen der großen Urflut auf und die Fenster des Himmels öffneten sich …«

Entsprechend der kunstvollen Gestaltung der Erzählung endet die Sintfluterzählung mit der erneuten Begrenzung der chaotischen Wasser: »Und Gott ließ einen Wind über die Erde wehen und das Wasser sank. Die Quellen der Urflut und die Fenster des Himmels schlossen sich, und der Regen wurde vom Himmel zurückgehalten.« (Gen 8,1f)

Damit wird die in Gen 1 beschriebene Einordnung der lebensfeindlichen Elemente in die Schöpfungsordnung wieder aufgenommen. Dass ihnen jegliche Göttlichkeit abgesprochen wird und sie durch die Einordnung in das kosmische Gefüge begrenzt werden, bedeutet für die Priesterschrift aber gerade nicht, dass sie in ihrer lebenszerstörerischen Macht verharmlost werden. Die von ihnen ausgehende Bedrohung für die kosmische Ordnung bleibt be37 | Zur Komposition der priesterschriftlichen Sintfluterzählung vgl. B. Janowski: Schöpferische Erinnerung, S. 33.

»Und die Erde war gestaltlos und wirr …« (Gen 1,2)

stehen. Allerdings können sie diese nicht von sich aus ohne die Einwilligung des Schöpfergottes realisieren. Aber schon zu Beginn der Sintflutgeschichte wird deutlich, dass das göttliche Vorhaben von Inkonsequenz geprägt ist. Zunächst wird Noah als einzig gerechter Mensch eingeführt, der dem Ideal der in Gen 1,26–28 beschriebenen Stellvertretung entspricht. Er erhält nach dem Vernichtungsbeschluss den Auftrag, für sich und seine Familie einen Kasten zu bauen, in den er von allen Lebewesen je ein weibliches und ein männliches mit hineinnehmen soll. Somit wird deutlich, dass Gott zwar auf der einen Seite das Ende aller Lebewesen ankündigt, zugleich aber ein Leben nach der Flut dadurch ermöglicht, dass er die Fortpflanzung der Lebewesen garantiert. Auch der Menschheit wird eine Perspektive nach der Sintflut eröffnet, indem die Ankündigung der Sintflut bereits eine Bundeszusage Gottes enthält. Noch vor der Sintflut also bekundet Gott, mit Noah einen Bund schließen zu wollen (Gen 6,18). Insofern wird bereits am Anfang der Sintfluterzählung deutlich, dass die von Gott angekündigte Sintflut nicht zu einer vollkommenen tabula rasa führen wird, sondern zu einer Situation, in der unter modifizierten Vorzeichen gelingendes Leben nach dem Maßstab von Gen 1 möglich sein wird.38 Dies wird dann im Bundesschluss am Ende der Erzählung in Gen 9,8–17 beschrieben. Zunächst ist bemerkenswert, dass Gott seinen Bund nicht nur mit Noah, sondern mit allen Lebewesen schließt, die aus der Arche gekommen sind. Es handelt sich daher um einen universal gültigen Bund mit der göttlichen Zusage, dass er die Erde nie wieder durch eine Sintflut vernichten wird. Diese göttliche Zusage bekräftigt Gott zweitens durch das von ihm am Himmel gesetzte Zeichen, den Bogen in den Wolken. Bei diesem Bogen handelt es sich aber nicht um den in der abendländischen Wirkungsgeschichte prominent rezipierten Regenbogen, sondern um einen nicht gespannten, von seiner Sehne befreiten Kriegsbogen, um die Zusage, die Erde nie wieder zu zerstören, zu bekräftigen.39 Eine Er38 | B. Janowski: Erinnerung, S. 38, betont hier m. E. zu Recht, dass aufgrund der sprachlichen Bezüge innerhalb der priesterschriftlichen Sintfluterzählung deutlich wird, dass »die Bundeszusage von 6,18a im Gedenken Gottes an Noah und an alle Lebewesen in der Arche (8,1a) realisiert wird. […] Mit der Handlungssequenz 6,18a (»aufrichten«) – 8,1a (»gedenken«)  – 9,11 (»aufrichten«)/12 (»geben«) + 15f (»gedenken«)/17 (»aufrichten«) dürfte die priesterliche Fluterzählung demnach die Intention verfolgen, daß das beabsichtigte Aufrichten des Bundes (6,18a) das Gedenken dieses Bundes (8,1a) nach sich zieht und im zukünftigen Gedenken Gottes (9,15f.) sich der dann aufzurichtende (9,11) bzw. aufgerichtete Bund (9,17) ereignet, und zwar als ›ewiger Bund‹«. 39 | Zur Diskussion um das Bundeszeichen vgl. vor allem E. Zenger: Gottes Bogen in den Wolken, S. 124–131, der aufgrund der vielfältigen Bedeutung des Kampfbogens in der altorientalischen, ägyptischen und alttestamentlichen Bildwelt die Wendung als eine Metapher für die Ausübung der Herrschaft des Schöpfergottes begreift, der als machtvoller

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widerung des Menschen auf die göttliche Zusage enthält dieser Bundesschluss nicht, sodass auch am Charakter des Bundeszeichens deutlich wird, dass es sich ausschließlich um eine göttliche Zusage handelt, die den Bestand der Welt garantiert.40 Drittens ist entscheidend, dass vor dem Bundesschluss in Gen 9,1–6 die in Gen 1 grundgelegte Schöpfungsordnung im Hinblick auf den Herrschaftsauftrag des Menschen modifiziert wird. Dem Menschen wird nun erlaubt, Tiere zu töten, um sich von ihnen zu ernähren. Allerdings steht alles Leben weiterhin unter der Obhut Gottes, sodass der Blutgenuss als göttlicher Anteil der Lebewesen ausgenommen ist.41 Die zweite Begrenzung ist das Töten von Menschen. Dieses Verbot ist rückgebunden an die Stellvertreterfunktion des Menschen und begründet sich durch diese. Insofern zeigen sowohl Bundesschluss als auch die vorangehenden Modifizierungen des Herrschaftsauftrags, dass Gott die Gewaltbereitschaft des Menschen kanalisiert und wie die anderen lebensfeindlichen Elemente in die von ihm geschaffene kosmische Ordnung integriert. Somit intendiert die durch die Sintflut angekündigte tabula rasa, die in Gen 1 geschaffene Ordnung nachzujustieren, damit der Mensch, der eben auch ein gewaltbereites Lebewesen ist, in ihr leben kann. Durch den in der priesterschriftlichen Urgeschichte konstruierten Erzählbogen von Gen 1,31 bleibt deutlich, dass die nachsintflutliche Ordnung auf die vorsintflutliche verweist und sich in ihren Modifikationen am Maßstab von Gen 1 orientiert hat. Daher erzählt die Sintflutgeschichte in Gen 6–9* in gewisser Weise eine gescheiterte tabula rasa. Diese bleibt aber in der Schöpfungserzählung sichtbar: Die in Gen 1 geschaffene kosmische Ordnung ist in der nachsintflutlichen als Maßstab dafür präsent, wie Gott die Welt eigentlich gedacht hat.

König (richtende und rettende) Verantwortung über sein Land (die Erde) übernehme, sodass die urgeschichtliche Flut nicht noch einmal Wirklichkeit werden könne. U. Rüterswörden: Dominium terrae, S. 151, modifiziert diese Aussage aufgrund seiner militärhistorischen Untersuchungen noch dahingehend, dass mit dem Bogen der entspannte, von seiner Sehne befreite Bogen gemeint sei, der als Symbol für das Ende der tödlichen Auseinandersetzung zwischen JHWH und der von ihm geschaffenen Welt stehe. Somit stellt das Bundeszeichen die Umkehrung eines sonst im Alten Testament verwendeten Kriegs- und Feindessymbols dar. 40 | Vgl. hier die Unterschiede zum Bundesschluss mit Abraham in Gen 17, in dem die göttliche Bundesszusage von menschlicher Seite mit dem Bundeszeichen der Beschneidung beantwortet wird. 41 | Vgl. J. Jeremias: Theologie, S. 249f.

»Und die Erde war gestaltlos und wirr …« (Gen 1,2)

6.  JHWH – E nlil , E nki

und N intu

Tabula rasa zeigt sich als Denkform im Kontext der Sintfluterzählung auch textextern in der Rezeption des babylonischen Mythos von der großen Flut. Dabei lassen sich die oben beobachteten Tendenzen, dass sich die Rezeption des babylonischen Mythos in Gen 6–9* gerade nicht durch polemische Abgrenzung, sondern durch die Konstruktion eines eigenen deutungsmächtigen Narrativs auszeichnet, bestätigen. Der babylonische Mythos von der großen Flut liegt im Gilgamesch-Epos und Atramchasis-Mythos vor.42 Sein narratives Gerüst lässt sich folgendermaßen skizzieren: Die Götter, insbesondere der oberste Gott, Enlil, fühlen sich durch die Menschen gestört. Diese hatten sich auf der Erde stark vermehrt und stören die Götter nun durch ihren Lärm. Daraufhin beschließt die Götterversammlung, die Menschheit zu vernichten. Enki, der Gott der Weisheit, hintergeht die Götterversammlung, indem er Atramchasis, dessen Name »der überaus Verständige« bedeutet, warnt und ihm zum Bau der Arche rät. Während der Flut bereut zunächst Nintu, die Schöpfer- und Muttergöttin, den Beschluss. Sie überzeugt die Götterversammlung, die Flut zu beenden und sich mit den Menschen zu versöhnen. Dieses narrative Gerüst liegt auch der Fluterzählung in Gen 6–9 zugrunde. Allerdings werden die in der altorientalischen Erzählung auf verschiedene Götter verteilten Funktionen im monotheistischen System der biblischen Erzählung auf JHWH konzentriert: Strafen, Umkehren, Reue und damit verbundene Barmherzigkeit. Am Anfang agiert JHWH wie Enlil als Gott des vernichtenden Zorns strafend (Gen 6,5–8). Dann wendet er sich wie Enki den Menschen wohlwollend zu, um ein Überleben der Flut zu ermöglichen. Schließlich findet das emotionale Moment der Barmherzigkeit JHWHs in der priesterschriftlichen Erzählung seinen Ausdruck in seinem Gedenken an Noah sowie in der schon vor der Flut zugesagten Bundeszusage.43 Insofern formieren die Autoren der Priesterschrift das narrative Gerüst des vorhandenen Mythos im Sinne ihres universalen Deutungsmachtanspruchs auf die Welt zu ihrem eigenen Narrativ neu.

42 | Vgl. hierzu die Übersetzungen bei W. v. Soden: Atramchasis-Mythos, S. 612–645 sowie K. Hecker: Gilgamesch-Epos, S. 646–759. 43 | Vgl. zur dieser These sowie ihres religionsgeschichtlichen Hintergrundes ausführlich N. C. Baumgart: Umkehr, S. 419–495.

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7.  Fazit Der Durchgang durch die priesterschriftliche Urgeschichte hat die Denkfigur der tabula rasa auf zwei Ebenen profilieren können: erstens als textimmanente Denkfigur der Narration und zweitens in der Auseinandersetzung mit konkurrierenden Weltdeutungsmodellen. 1. Bei den textimmanenten Erscheinungsformen der tabula rasa ist die Erzählung der Sintflut in Gen 6–9 zuerst zu nennen, da das Programm der Sintflut selbst schon tabula rasa ist. Dass die von Gott in Gen 6,13 bereits durch den vor der Sintflut zugesagten Bundesschluss in Gen 6,18 faktisch insofern hintergangen wird, als dass eine Zukunftsoption für Mensch und Tier eröffnet wird, zeigt die Inkonsequenz des göttlichen Handelns. Insofern wird das in der Narration gesetzte Vorhaben des Auslöschens in der Erzählung selbst modifiziert, sodass die Sintflut von einer »gescheiterten tabula rasa« berichtet, deren Grund letztlich im göttlichen Gedenken Gottes liegt. Eine andere Funktion kommt dem ersten Wort der Schöpfungserzählung in Gen 1,1 zu. Hier geht es darum, dass mit der Setzung des Anfangs eine tabula rasa suggeriert wird, die aber durch die Beschreibung dessen, was vor dem Anfang ist, wieder domestiziert wird. Die Wachstafel ist nach Gen 1,1f somit nicht leer, aber sie stellt eben auch noch keine geschaffene Welt dar. 2. Die Denkfigur der tabula rasa, die Stephanie Wodianka in einem Dreischritt als »Auslöschen der Tafel« über die »Neubeschriftung« zur Transformation in ein neues belief system beschrieben hat, hat sich als eine bedeutende Dynamik in der priesterschriftlichen Urgeschichte herausgestellt. Dieser Dreischritt gründet in dem der Priesterschrift zugrundeliegenden monotheistischen Gottesbild, in dessen universalem Deutungsmachtanspruch auf die Welt konkurrierende Gottheiten konzeptionell nicht vorgesehen sind, wie es die Rezeptionen der babylonischen Mythen von der großen Flut oder dem Weltschöpfungsmythos Enūma eliš aufzeigen; denn weder die Mächte der Vorwelt in Gen 1,2 wie z. B. die Urflut noch die Lichter am Himmel in Gen 1,14–19 wie Sonne, Mond und Sterne haben wie in den babylonischen Fassungen göttliche Qualitäten. Stattdessen handelt es sich um nicht-belebte Materie, die durch die Schöpfertätigkeit des einen wirkmächtigen Gottes in die kosmische Ordnung integriert wird. Ebenso tritt das monotheistische Gottesbild der Priesterschrift in der Rezeption des babylonischen Flutmythos hervor. Die in den babylonischen Versionen auf mehrere Gottheiten verteilten Kompetenzen (Strafen, Umkehr, Reue/Barmherzigkeit) sind in der Narration der biblischen Version auf den einen Gott konzentriert. Somit ist insgesamt entscheidend, dass sich die tabula rasa gerade darin zeigt, dass die Rezeption der babylonischen

»Und die Erde war gestaltlos und wirr …« (Gen 1,2)

Mythen ohne polemische Abgrenzung und somit geräuschlos vollzogen wird. Auf diese Weise konzipieren die Autoren der Priesterschrift in der Auseinandersetzung mit den Mythen ihrer Umwelt ihre eigene zugleich integrative und neue identitätsstiftende Narration, die sie in ihr belief system transformieren. Die Transformation des rezipierten Materials selbst ist derart gestaltet, dass das Rezipierte im neuformierten Narrativ zwar hindurchscheint, ohne aber wirklich deutungsmächtig bleiben zu können. In diesem Sinn wird die tabula rasa zu einer tragenden und nachhaltigen Deutungsmacht begründenden Denkfigur der Priesterschrift.

B ibliografie Albani, Matthias: Der eine Gott und die himmlischen Heerscharen. Zur Begründung des Monotheismus bei Deuterojesaja im Horizont der Astralisierung des Gottesverständnisses im Alten Orient. Leipzig 2000. Bauks, Michaela: Die Welt am Anfang. Zum Verhältnis von Vorwelt und Weltentstehung in Gen 1 und in der altorientalischen Literatur. NeukirchenVluyn 1997. Baumgart, Norbert Clemens: Gottesbild, Schöpfungstheologie und die Völker in der Genesis, in: Lukas Bormann (Hg.) Schöpfung, Monotheismus und fremde Religionen. Studien zu Inklusion und Exklusion in den biblischen Schöpfungsvorstellungen. Neukirchen-Vluyn 2008, S. 63–98. Ders.: Die Umkehr des Schöpfergottes. Zu Komposition und religionsgeschichtlichem Hintergrund von Gen 5–9. Freiburg u. a. 1999. Bendix, Regina: Woran erkennt man Mythen? Kulturanthropologische Narratologie und das Genre-Problem, in: Annette Zgoll/Reinhard Kratz (Hg.): Arbeit am Mythos. Leistung und Grenze des Mythos in Antike und Gegenwart. Tübingen 2013, 59–78. De Pury, Albert: Gottesname, Gottesbezeichnung und Gottesbegriff. Elohim als Indiz zur Entstehungsgeschichte des Pentateuch, in: Jan Christian Gertz/Konrad Schmid/Martin Witte (Hg.): Abschied vom Jahwisten. Die Komposition des Hexateuch in der jüngeren Diskussion. Berlin u. a. 2002, S. 25–47. Hecker, Karl: Das akkadische Gilgamesch-Epos, in: TUAT III, Lieferung 4, TUAT CD-ROM. Gütersloh 2005, S. 646–759. Irsigler, Helmut (Hg.): Mythisches in biblischer Bildsprache. Gestalt und Verwandlung in Prophetie und Psalmen. Freiburg 2004. Janowski, Bernd: Schöpferische Erinnerung. Zum »Gedenken Gottes« in der biblischen Fluterzählung, in: Ders., Welt als Schöpfung. Beiträge zur Theologie des Alten Testaments 4. Neukirchen-Vluyn 2008, S. 172–198.

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Judith Gärtner

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Ist die Apokalypse ein Mythos? Klaus Vondung

Wenn wir die Leitbegriffe im Untertitel dieser Tagung umdrehen, so haben wir die kürzestmögliche Bestimmung dessen, was in der abendländischen Tradition unter »Apokalypse« verstanden wird: totale Auslöschung und absoluter Anfang  – in dieser Reihenfolge. Paradigmatisch ist die Offenbarung des Johannes, die dem apokalyptischen Denken den stärksten Anstoß gab und zugleich den Begriff bereitstellte. Die Schrift beginnt mit dem Satz: »Dies ist die apokalypsis – d. h. die Offenbarung – Jesu Christi, die ihm Gott gegeben hat, seinen Knechten zu zeigen, was in Kürze geschehen soll.«1 Das Wort »Apokalypse« wurde zunächst gebraucht, um das Buch selbst zu benennen; dann wurde es zur Sammelbezeichnung für Visionen und Prophezeiungen, die der Offenbarung des Johannes verwandt sind, ob sie nun zeitlich vor ihr liegen, wie das Buch Daniel im Alten Testament, oder ob sie sich aus dem christlichen Zusammenhang gelöst haben, wie die meisten modernen Apokalypsen; schließlich wurde »Apokalypse« das Kennwort für das, was den wesentlichen Inhalt der Offenbarung des Johannes und verwandter apokalyptischer Schriften ausmacht: die Auslöschung der alten Welt und die Schaffung einer neuen. Das Buch Daniel, die erste vollständig ausgeformte Apokalypse, war ein Trostbuch für die frommen Juden, die im seleukidischen Diadochenreich des zweiten vorchristlichen Jahrhunderts dem Druck der Hellenisierung ausgesetzt waren. Die ursprüngliche Heilsgeschichte Israels vom Exodus aus Ägypten bis zum Königtum Davids war schon lange abgerissen. Auch die Verheißungen aus der Zeit des babylonischen Exils, das Reich Israel werde wiedererstehen, hatten sich nicht erfüllt. Dass unter dem Seleukiden Antiochos IV. Epiphanes nun sogar der Tempel dem hellenistischen Kult zugeführt und der jüdische verboten wurde, dass die orthodoxen Juden verfolgt und getötet wurden, musste als Tiefpunkt des unheilvollen Weltgeschehens empfunden werden, als absoluter Tiefpunkt, an dem es nur noch eine Hoffnung gab: dass Gott selbst in die Geschichte eingreifen, die alte Welt mit ihren Machthabern 1 | Offb 1,1.

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vernichten und ein neues Zeitalter der Erfüllung aufrichten werde. Dies versprach das Buch Daniel.2 Für die Christen im römischen Kaiserreich war die Spannung zwischen ihrem Leiden an der Welt und dem Verlangen nach Erlösung womöglich noch größer, war der Messias doch schon erschienen und hatte seine baldige Wiederkehr verheißen. Das Weltgeschehen konnte keinen Sinn und keine Erfüllung mehr gewähren. Die Verfolgung der Christen und schließlich der Zwang zur göttlichen Verehrung des Kaisers Domitian steigerten die Ungeduld; noch verkommener und boshafter konnte die Welt nicht mehr werden. Johannes von Patmos prophezeite gegen Ende des 1. Jahrhunderts, dass diese Welt bald untergehen werde, das Leiden ein Ende habe und Erlösung unmittelbar bevorstehe. Die apokalyptische Botschaft richtete sich also ursprünglich an Menschen, die nach Erlösung verlangten, weil sie verfolgt und unterdrückt wurden, weil sie unter den Bedingungen ihrer Existenz in einem solchen Maße litten, dass eine Wendung zum Besseren nicht mehr möglich erschien. Die Apokalypse versprach nicht eine bloße Verbesserung der Verhältnisse, sondern eine radikale Verwandlung der Wirklichkeit, sie versprach Erlösung durch Vernichtung der alten, unvollkommenen und verdorbenen Welt. Zusammenfassend lässt sich sagen: Das zentrale Strukturmerkmal der Apokalypse ist die Verknüpfung von Untergang und Erneuerung, Vernichtung und Erlösung, oder eben von totaler Auslöschung und absolutem Neuanfang.3 Die Apokalypse entsteht in Krisensituationen, produziert von Menschen, die sich in ihrer gesamten Existenz  – spirituell, gesellschaftlich, aber auch politisch  – gefährdet und gedemütigt, unterdrückt und verfolgt empfinden. Das Gefühl der Unterdrückung und Verfolgung kann berechtigt sein; es ist aber auch möglich, dass eine Situation vermeintlicher Gefährdung übertrieben erscheint oder gar fehlinterpretiert wird. Jedenfalls leidet der apokalyptische Visionär an der Welt und sehnt sich nach Erlösung. Die Welt, in der er lebt, erscheint ihm jedoch als so extrem verdorben und böse, dass er nicht daran glauben kann, durch Veränderungen hier und da, durch Verbesserungen oder Reformen lasse sich noch irgendetwas bewirken. Erlösung, so glaubt er, lasse sich nur dadurch erreichen, dass die alte, verdorbene Welt untergehe und die Urheber des Verderbens vernichtet werden. Der Apokalyptiker empfindet die Krise als universal und akut, er sieht die endgültige Entscheidung als unausweichlich und die radikale Wandlung als nahe bevorstehend an. Apokalyptische Deutungen des Weltgeschehens und Visionen der Erlösung ziehen sich von der Antike über das Mittelalter und die Frühe Neuzeit bis in die Moderne. Der Zusammenhang von Untergang und Erneuerung, Vernichtung und Erlösung bestimmte auch die apokalyptischen Visionen der Moderne, die 2 | Vor allem Dan 2 u. 7. 3 | Zum Folgenden ausführlicher K. Vondung: Die Apokalypse in Deutschland.

Ist die Apokalypse ein Mythos?

sich vom religiösen Vorbild lösten und das apokalyptische Szenario ganz auf weltliche und politische Verhältnisse übertrugen. Der Erste Weltkrieg bietet eindrucksvolle Beispiele; das mörderische Geschehen dieses Kriegs provozierte geradezu eine Explosion apokalyptischer Erlösungsvisionen. Sie wurden jedoch nicht allein durch das unerhörte Ausmaß des Leidens und Sterbens angestoßen, sondern vor allem durch die offenbare Sinnlosigkeit des Zerstörungswerks. Ein Sinn der Geschichte war nicht mehr zu erkennen. Gott, wenn es ihn denn gab, hatte eine mangelhafte Schöpfung hinterlassen. Kurt Pinthus empörte sich gegen den Gott, »der Leid und Tod und Verderben dem Menschen auferlegt«,4 für Ernst Bloch hatte sich der Schöpfergott als »Satan der Schädelstätte«5 entlarvt, Max Beckmann erklärte: »Ich werfe in meinen Bildern Gott alles vor, was er falsch gemacht hat.«6 Diese falsche Welt, die sich auf solch bestialische Weise selbst zerfleischte, hatte nichts Besseres verdient, als vollends unterzugehen. Ja, sie musste untergehen, damit tabula rasa geschaffen wurde für eine bessere Schöpfung aus menschlicher Hand, für ein »irdisches Paradies«.7 Dass die Welt so chaotisch, mörderisch und böse geworden war, schien deutlich darauf hinzuweisen, dass die apokalyptische Wandlung in Kürze eintreten werde; so folgerte Ernst Bloch: »Niemals auch wäre über uns die Welt so dunkel, stünde nicht absoluter Sturm, zentrales Licht allerunmittelbarst bevor.«8 Die apokalyptischen Visionen, die der Erste Weltkrieg hervorrief, stammten von Schriftstellern, Künstlern und Philosophen. Es waren Visionen einer spirituellen Verwandlung der Menschen, aber sie hatten auch eine gesellschaftliche und politische Dimension. Ernst Bloch sah in Liebknecht und Lenin die Heilsbringer der erwarteten »letzten irdischen Revolution«.9 Ernst Toller, der die »Hölle« des Kriegs im Schützengraben erlebt hatte und aus seinen Erfahrungen die Schlussfolgerung zog, die Welt sei »reif zur Vernichtung«,10 proklamierte in seinem apokalyptischen Drama Die Wandlung die Revolution als Weg zur Erlösung und wurde in der Münchner Räterepublik selbst zum revolutionären Politiker. Ernst Bloch erwartete 1921 eine »absolute Verwandlung«, die eine »Wendung aller Dinge zum Paradies« bewirken und eine »neue Welt« und einen »neuen Menschen« hervorbringen werde.11 Trotz 4 | K. Pinthus: Rede für die Zukunft, S. 410. 5 | E. Bloch: Geist der Utopie [1918], S. 441. 6 | Zitiert nach Ch. Brockhaus: Die ambivalente Faszination der Großstadterfahrung in der deutschen Kunst des Expressionismus, S. 103. 7 | K. Hiller: Philosophie des Ziels, S. 196. 8 | E. Blocht: Thomas Münzer als Theologe der Revolution, S. 296. 9 | Ebd., S. 150f. 10 | E. Toller: Eine Jugend in Deutschland, S. 73, 75. 11 | E. Bloch: Thomas Münzer, S. 150f.; E. Bloch: Geist der Utopie [1923], S. 209, 325.

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ihres innerweltlichen Charakters sind die modernen politischen Apokalypsen strukturell, inhaltlich und sprachlich den religiösen Vorbildern so ähnlich, dass es gerechtfertigt ist, sie »apokalyptisch« zu nennen. Der wesentliche Unterschied zwischen alten und neuen Apokalypsen besteht allerdings darin, dass in der Moderne die apokalyptischen Visionäre nicht mehr erwarten, Gott werde in die Geschichte eingreifen, um Erlösung zu bringen; diese Aufgabe wird nun den Menschen selbst und ausschließlich ihnen zugeschrieben. »Gott dürfen wir dieses Geschäft keinesfalls überlassen«,12 forderte Kurt Hiller mitten im Ersten Weltkrieg. Die moderne politische Apokalypse ist aktivistisch. Aber sie ist weder rechts noch links; das apokalyptische Deutungsschema lässt sich mit unterschiedlichen ideologischen Inhalten anfüllen. Apokalyptische Erwartungen gab es während und nach dem Ersten Weltkrieg nicht nur bei Linksintellektuellen, sondern auch bei Nationalisten. Und schon mehr als ein Jahrhundert zuvor verbanden sich apokalyptische Visionen mit revolutionären wie mit nationalistischen Bewegungen. Ist die Apokalypse ein Mythos? Werfen wir zunächst wieder einen Blick zurück in die Antike. Die Mythen, die wir aus dem alten Ägypten und Mesopotamien, aus Hesiods Theogonie und Homers Ilias, aus Herodots Historien und Ovids Metamorphosen kennen, sind Erzählungen von der Erschaffung der Welt, der Götter und Menschen und von den Heldentaten der Halbgötter und Heroen. Die ersteren, die kosmogonischen, theogonischen und anthropogonischen Mythen, bilden den Kernbestand symbolischer Selbstauslegung der kosmologischen Gesellschaften; sie deuten den Sinn und die Ordnung der Existenz im Spannungsfeld von Kosmos, Göttern und Menschen, und wenn die Erzählungen von Göttern, Halbgöttern und Heroen diese mit einem Herrscherhaus verknüpfen, begründen sie die Legitimität politischer Ordnung. Es gibt demnach einen ersten grundlegenden Unterschied zwischen dem Mythos der Antike und der Apokalypse. Der Mythos ist  – als Gründungserzählung – eine Erzählung von Vergangenem; die Apokalypse ist eine Vision des Künftigen. Es gibt einen zweiten Unterschied: Der Mythos ist mehrere tausend Jahre älter als die Apokalypse. Die zeitliche Differenz ist zugleich Index für einen dritten Unterschied, den Unterschied der Symbolform. Der Mythos der kosmologischen Gesellschaften ist eine kompakte Symbolform, d. h., er drückt ein integrales Verständnis der Seinsordnung aus, ein Verständnis, demzufolge das Göttliche im Sinne der Konsubstanzialität den ganzen Kosmos durchwirkt, also Naturphänomene, die Gesellschaft und den Menschen. Die Apokalypse hingegen setzt die differenzierte Symbolik der Offenbarung voraus, der Offenbarung des Göttlichen als welt-transzendent. Die revelatorische Symbolform wurde im Judentum wohl während des babylonischen Exils 12 | K. Hiller: Philosophie des Ziels, S. 188.

Ist die Apokalypse ein Mythos?

und in der Folgezeit ausgearbeitet. In der Retrospektive konnte der legendäre Auszug aus Ägypten als Exodus aus der kosmologischen Gesellschaft mit ihren Mythen gedeutet werden. In der am Sinai manifestierten Präsenz unter einem transzendenten Gott erhielt das Volk Israel Geschichte, verstanden als zielgerichteter Prozess, als Heilsgeschichte. Die enttäuschten Erwartungen in die Heilsgeschichte während der Jahrhunderte nach dem babylonischen Exil schufen die Voraussetzung für die Apokalypse, zum ersten Mal artikuliert im Buch Daniel.13 Wie aber steht es mit den modernen Mythen in ihrem Verhältnis zu den modernen politischen Apokalypsen? Betrachten wir diejenigen modernen Mythen, die besonders zum Vergleich mit modernen politischen Apokalypsen einladen, also politische und ideologische Mythen. Die modernen politischen Mythen sind zum größten Teil nationale Mythen. Die Ausstellung »Mythen der Nationen«, die 1998 in Berlin zu sehen war, präsentierte ein buntes Panorama solcher Mythen aus zahlreichen europäischen Nationen. Die Ausstellung beschränkte sich auf das 19. Jahrhundert, in dem die meisten nationalen Mythen geschaffen oder zumindest öffentlichkeitswirksam gemacht wurden. Als paradigmatisch kann der Mythos vom Sturm auf die Bastille am 14. Juli 1789 gelten. In der Erzählung des Mythos ist dieses Ereignis der Gründungsakt für die französische Nation als einer Republik auf den Grundlagen von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit. Zwar warfen die historischen Ereignisse der Folgezeit  – revolutionärer Terror und imperiale Diktatur Napoleons  – auch Schatten auf den Glanz des Mythos, aber er ist noch lebendig, wie die Feiern zum zweihundertsten Jahrestag des Sturms auf die Bastille zeigten, und dies nicht nur in Frankreich.  Ähnliche Vitalität als nationaler Mythos, der zugleich über die eigene Nation hinausweist, hat auch der Gründungsmythos der Vereinigten Staaten von Amerika. Am Morgen des 19. April 1775, so die Geschichte, fielen auf dem Gemeindeanger der kleinen Stadt Lexington in Massachusetts beim Versuch der britischen Armee, Waffen und Munition der Miliz von Massachusetts zu beschlagnahmen, Schüsse, die ersten Schüsse der amerikanischen Revolution, so der Mythos, »Schüsse, die rings um die Welt gehört wurden«, wie es auf einem Gedenkstein heißt.14 Jeden Sommer wird das Scharmützel im historischen Kostüm nachgespielt; die Touristenattraktion macht die Langlebigkeit des Mythos anschaulich. Die Gründe für seine Langlebigkeit sind offenkundig: zum einen ist es der Inhalt des Mythos, die Manifestation von Freiheit, Men13 | Zum Voraufgegangenen siehe E. Voegelin: Ordnung und Geschichte, Bd. 1: Die kosmologischen Reiche des alten Orients – Mesopotamien und Ägypten; ders.: Ordnung und Geschichte, Bd. 2: Israel und die Offenbarung – Die Geburt der Geschichte; J. Assmann: Exodus. Die Revolution der Alten Welt; N. Cohn: Die Erwartung der Endzeit. 14 | Gedenkstein an der Brücke von Concord, an der sich das Scharmützel fortsetzte.

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schen- und Bürgerrechten, zum andern der historische Erfolg der amerikanischen Demokratie, der über das eigene Staatswesen weit hinausstrahlte. Der Mythos von der Gründung des zweiten deutschen Kaiserreiches besaß weder die Reichweite noch die Langlebigkeit des französischen oder amerikanischen nationalen Mythos. Der deutsche Mythos erzählte von der siegreichen Schlacht bei Sedan, die 1870 die Voraussetzung für die Niederwerfung Frankreichs schuf, und von der Kaiserproklamation 1871 in Versailles. Der Mythos von der Gründung des deutschen Kaiserreichs hatte – wie alle nationalen Mythen – hauptsächlich die Funktion, die Einheit der Nation zu begründen, das Staatsvolk zu integrieren und dessen Identität zu beschwören. Der deutsche nationale Mythos erfüllte diese Funktion freilich nur unvollkommen. Der Sedantag, der schon ab 1873 den Mythos propagierte und ritualisierte, wurde nie gesetzlicher Staatsfeiertag, im Gegensatz etwa zum 4. Juli in den USA und zum 14. Juli in Frankreich. Er war vor allem ein Festtag des Kleinbürgertums, der Schulen, Turner- und Sängervereine, der Innungen und Veteranenverbände. Im Lauf der Zeit geriet er ganz in die Hände einzelner Parteien, der Nationalliberalen und Konservativen, auch der Antisemiten und Alldeutschen. Die Arbeiterschaft und auch die katholische Kirche blieben auf Distanz. Mit der Niederlage im Ersten Weltkrieg und dem Ende des zweiten deutschen Kaiserreichs erledigte sich auch dessen Gründungsmythos. Vergleichen wir nun die modernen politischen Apokalypsen mit den modernen nationalen Mythen, so gilt zunächst der grundlegende Unterschied, den wir für die Antike beobachtet haben, auch hier. Die nationalen Mythen erzählen von Vergangenem, in diesem Fall von einem historischen Ereignis, das der Mythos zum sinn- und einheitsstiftenden Gründungsereignis der Nation erhebt. Die moderne politische Apokalypse ist – wie in der Antike – Vision, Erwartung, Prophezeiung von Künftigem, z. B. einer Revolution, von der die Neugestaltung der Gesellschaft erhofft wird, wie von Ernst Bloch oder Ernst Toller am Ende des Ersten Weltkriegs. Andere Unterschiede sind allerdings eingeebnet. Die modernen politischen Varianten von Mythos und Apokalypse entstehen beide zur ungefähr gleichen Zeit, gegen Ende des 18. Jahrhunderts, der nationale Mythos im Zuge der Entstehung des modernen Nationalismus als politischer Doktrin, die politische Apokalypse im Zuge der Säkularisierung und ebenfalls in Verbindung mit der Entstehung des modernen Nationalismus. Einen Unterschied der Symbolform nach dem Muster kompakt/differenziert vorzunehmen, ist nicht mehr sinnvoll; beide Deutungs- bzw. Spekulationstypen sind säkular und beziehen sich auf Politik und Geschichte. Bleibt also der Unterschied zwischen Erzählung von Vergangenem und Vision des Künftigen. Bei näherem Hinsehen jedoch zeigt sich, dass auch dieser Unterschied eingeebnet wurde, d. h., dass sich in der Moderne nationaler Mythos und politische Apokalypse annäherten oder sich ergänzten. Scharnier für die

Ist die Apokalypse ein Mythos?

Verbindung der beiden Deutungs- bzw. Spekulationstypen war die Tendenz vieler nationaler Mythen, über die eigene Nation hinauszugreifen und die im Gründungsakt manifestierten politischen Ideale als Programm auch für andere Nationen, ja für die ganze Welt zu proklamieren. Apokalyptische Obertöne lassen sich schon in der Französischen Revolution entdecken: Robespierre und Saint-Just, die unerbittlichsten Vertreter der Revolution, verstanden diese als kompromisslosen Kampf für die neue Gemeinschaft der »einen und unteilbaren Nation«, deren Vollkommenheit und tugendhafte Reinheit nur erreicht werden konnte, wenn die Vertreter der alten Welt und die Feinde der neuen Gemeinschaft ausgemerzt wurden. Der Mythos, der die politischen Ideale der Französischen Revolution festhielt, galt als exemplarisch auch für andere Nationen. Der Naturphilosoph Henrich Steffens berichtete 1840 in seiner Autobiographie, wie sein Vater 1789 begeistert den Söhnen die Erstürmung der Bastille verkündete: »Es war eine wunderbare Zeit, es war nicht nur eine französische, es war eine europäische Revolution.«15 Die Historiker Etienne François und Hagen Schulze betonten im Katalog zu der Ausstellung »Mythen der Nationen«, die Französische Revolution sei »im eigentlichen Sinne ein europäischer Mythos«.16 Die Hymne, die zum Mythos gehört, die »Marseillaise«, wurde noch unlängst von Gustav Seibt zur »Weltbürgerhymne« erklärt.17 Ähnlich die Vereinigten Staaten von Amerika. Puritaner, Täufer und andere Sekten hatten im 17. und 18. Jahrhundert apokalyptisches Denken nach Nordamerika gebracht, wo es sich als »Millenarismus« (in Bezug auf das Tausendjährige Reich der Johannes-Offenbarung) mit dem gesellschaftlichen und politischen Selbstverständnis der »Neuen Welt« verband, sehr schön von Ernest Lee Tuveson bereits im Titel seiner einschlägigen Untersuchung auf den Begriff gebracht: Redeemer Nation. The Idea of America’s Millennial Role.18 Der Mythos von der amerikanischen Revolution und der Unabhängigkeitserklärung mit ihrer Deklaration unveräußerlicher Menschen- und Bürgerrechte erhob den Anspruch, paradigmatisch zu sein für die künftige Gestaltung jeglicher politischer Ordnung. Der Mythos konnte so behaupten, die Ereignisse vom 19.  April 1775 hätten »den Beginn einer neuen Ära der Weltgeschichte markiert«.19 Die globale apokalyptische Erlösungsvision auf der Grundlage des nationalen Mythos wurde besonders eindrücklich von dem amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson formuliert. Gegen Ende des Ersten Weltkriegs sah er im künftigen Frieden die Gelegenheit, »nichts weniger als eine Verfassung 15 | H. Steffens: Was ich erlebte, S. 213. 16 | E. François/H. Schulzen: Das emotionale Fundament der Nationen, S. 26. 17 | G. Seibt: Unsere Art zu leben, in: Süddeutsche Zeitung, 17. November 2015. 18 | E. L. Tuveson: Redeemer Nation. 19 | Minute Man. Broschüre des National Park Service, U. S. Department of Interior, 1977.

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für die ganze Welt zu schreiben« und damit die Menschheit zu retten bzw. zu erlösen (»to save mankind«).20 Selbst der kurzlebige deutsche nationale Mythos wurde durch zukunftsgerichtete apokalyptische Obertöne ergänzt. Emanuel Geibels berühmte Verse: »Und es mag am deutschen Wesen einmal noch die Welt genesen«, wurden während des Ersten Weltkriegs in Gedichten, Reden und Predigten häufig zitiert, allerdings meist ins Futurum gesetzt – eine Änderung, die als erster wohl Wilhelm II. vorgenommen hatte.21 Kurt Riezler, engster Berater des Reichskanzlers Theobald von Bethmann Hollweg, kommentierte das Zitat 1915 folgendermaßen: »In der Tat: diese wenigen Worte geben das Tiefste des nationalen Willens wieder. Traurig die Nation, die nicht mehr glaubt, dass an ihrem Wesen die Welt genesen werde.«22 Vor dem Hintergrund nationaler Mythen – neben dem Reichsgründungsmythos waren dies auch der Mythos um die Schlacht im Teutoburger Wald, der Mythos von der Schlacht auf dem Lechfeld 955 als Geburtsstunde der deutschen Nation, für das protestantische Deutschland die mythisierte Verbrennung der Bannandrohungsbulle durch Luther, dazu der Mythos der Befreiungskriege gegen Napoleon mit dem Aufruf der Freiwilligen 1813  – vor diesem Hintergrund entfalteten sich im Ersten Weltkrieg zahlreiche apokalyptische Visionen vom deutschen Sieg als einer menschheitlichen Erlösungstat. Schriftsteller sahen »einer neuen Menschheit Morgenrot« anbrechen, Pastoren den »Tag des ewigen Friedens«. Ein »Friedensreich der Zukunft« werde entstehen, in dem Deutschland »allen Völkern Sonne schafft«, ja, »die Welt erlösen« werde.23 Eine besonders enge Anbindung apokalyptischer Programmatik an einen politischen Mythos kann man im Dritten Reich beobachten. Ausgangspunkt ist ein ideologischer Mythos, den die Nationalsozialisten zwar gerne zum nationalen Mythos gemacht hätten, was aber doch nicht so recht gelang. Es handelt sich um den Mythos vom 9. November, der von Hitlers Putschversuch 1923 in München erzählt und dieses Ereignis mythisiert. Mit der Mythisierung begann Hitler schon in Mein Kampf, doch die Komplettierung des Mythos wurde erst 1933, nach der Machtübernahme Hitlers, möglich. Zunächst konnte der Tod der 1923 erschossenen Putschisten nämlich nur als Opfertod für das erhoffte politische Ziel, das Hitler als »Wiederauferstehung« des deut20 | A. L. George/J. L. George: Woodrow Wilson and Colonel House, S. 198; zitiert nach M. Henningsen: Das amerikanische Selbstverständnis und die Erfahrung des Großen Kriegs, S. 382. 21 | In einer in Münster am 31. August 1907 gehaltenen Rede; vgl. G. Büchmann: Geflügelte Worte, S. 264. 22 | J. J. Ruedorffer: Grundzüge der Weltpolitik in der Gegenwart. S. 22. 23 | Diese und weitere Beispiele bei K. Vondung: Geschichte als Weltgericht. Genesis und Degradation einer Symbolik, in: Ders.: Kriegserlebnis, S. 67.

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schen Volkes sakralisierte, gedeutet werden. Durch den 30. Januar 1933 wurde jedoch gleichsam bewiesen, dass es sich bei dem vergeblichen Putsch von 1923 in Wirklichkeit um ein »Heilsereignis« gehandelt hatte, in dem etwas offenbar geworden war, was sich am 30. Januar 1933 erfüllte. Der Mythos konnte nun vorgeben, der Sieg des Nationalsozialismus sei im Opfertod vom 9. November 1923 bereits transparent geworden, das »Blutopfer« habe die Voraussetzung für den Sieg geschaffen, mehr noch, es habe ihn präfiguriert, ihn gewissermaßen schon vorweggenommen. Die Machtübernahme Hitlers als politisches Ereignis, das den Sieg realiter brachte, wurde in Korrespondenz zum ersten als ein zweites »Heilsereignis« gedeutet, das den Inhalt der Offenbarung vom 9. November, die Vision der »Wiederauferstehung« Deutschlands, verwirklicht habe. Der Mythos erzählte nun eine nationalsozialistische »Heilsgeschichte«. Diese Heilgeschichte wurde um eine apokalyptische Vision ergänzt. Führende Nationalsozialisten, vor allem Hitler selbst, hatten ein apokalyptisches Bild von der Welt, demzufolge die Weltgeschichte durch den Kampf zweier universaler Mächte bestimmt war, deren Unversöhnlichkeit Hitler vorzugsweise in der dualistischen Symbolik »Licht – Finsternis« zum Ausdruck brachte. Die Macht der Finsternis verkörperte sich für Hitler im Judentum, dem »bösen Feind der Menschheit«,24 dem er die Schuld an allen tatsächlichen Defiziten der Welt, aber auch an eingebildeten Gefahren und Bedrohungen zuschob. Mit der Machtübernahme in Deutschland war der »entscheidende Weltkampf«  – so Rosenberg25  – noch nicht gewonnen; er stand noch bevor. Der Mythos vom 9. November eignete sich besonders gut zur Ausweitung ins Apokalyptische. 1935 wurden die Särge mit den exhumierten Leichen der sechzehn »Blutzeugen« von 1923 in zwei neu errichteten »Ehrentempeln« am Münchner Königsplatz beigesetzt. Die Namen der »Blutzeugen« wurden einzeln aufgerufen, jedes Mal antwortete die angetretene Hitler-Jugend im Chor mit »Hier!«. Im Selbstverständnis der Mythenproduzenten symbolisierte dieser Akt die »Auferstehung« der Sechzehn und ihr »ewiges Leben« in den »Garanten der Zukunft«. Konsequent wurde dieses Ritual »Feier des Sieges und der Auferstehung« genannt.26 Das Ritual inszenierte den Mythos.27 Zugleich sollte das Ritual die junge Generation verpflichten, das Werk der Märtyrer im

24 | A. Hitler: Mein Kampf, Bd. 2, S. 724. 25 | A. Rosenberg: Der entscheidende Weltkampf. 26 | Wörtliche Zitate nach: Völkischer Beobachter, 10. November 1935; zum 9. November 1936. Hg. v. der NSDAP, Traditionsgau München-Obb. München o. J. (1936). 27 | Zur engen Verbindung von Mythos und Ritual siehe E. Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, S. 50f., 262f.; M. Eliade: Das Heilige und das Profane, S. 56–62; zum Nationalsozialismus siehe das Kapitel »Mythos und Ritual« in K. Vondung: Deutsche Wege zur Erlösung, S. 65–79.

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Sinne von Hitlers apokalyptischem Weltbild fortzusetzen und bereit zu sein, notfalls wie diese im anstehenden »Weltkampf« ihr Leben zu opfern. Die genannten Beispiele lassen eine Ergänzung nationaler und ideologischer Mythen durch modernes apokalyptisches Denken erkennen. Yves Bizeul hat schon vor längerer Zeit darauf hingewiesen, dass der politische Mythos eine »Heilsgeschichte« entwickeln und eine »eschatologische« Perspektive annehmen kann.28 Die eschatologische Perspektive im Allgemeinen kann apokalyptisch im strengen Sinn werden, wie im nationalsozialistischen Fall. Ich spreche dann von einer Hybridisierung des Mythos und der Apokalypse, was die politische und gesellschaftliche Funktion anlangt. Die Grundwerte der modernen politischen Mythen, ob dies nun die universalen Menschenrechte sind oder das »deutsche Wesen«, wollen nämlich über den eigenen nationalen Rahmen hinaus Geltung gewinnen; und der Anspruch auf solche Geltung wird häufig – wie in unseren Beispielen – als aktivistische Apokalypse propagiert und antizipiert. Durch die Ergänzung mit einem apokalyptischen Programm erweitert sich die Funktion des nationalen oder ideologischen Mythos über Sinnstiftung und Integration des Staatsvolks hinaus zur Aktivierung der Bevölkerung für politische oder ideologische Ziele; dies können moralisch vertretbare, aber auch verbrecherische Ziele sein. Es ist sinnvoll, eine typologische Unterscheidung zwischen Apokalypse und Mythos vorzunehmen, für die Antike ohnehin, aber auch für die Moderne. Zugleich ist es notwendig, die Annäherung oder sogar Hybridisierung der beiden Symbolformen in der Moderne zu beachten, vor allem wegen ihrer politischen und gesellschaftlichen Funktion. An diesem Punkt ist es auch notwendig, die Ebene typologischer Deskription zu verlassen. Etienne François und Hagen Schulze urteilten 1998 über die Mythen der Nationen: »Es besteht kein Zweifel daran, dass sie uns ganz überwiegend außerordentlich ferngerückt sind. […] Die meisten lassen uns kalt, als stammten sie aus einer anderen Welt, als seien sie von der Beschleunigung der Zeit und den Tragödien des 20. Jahrhunderts fortgerissen worden.«29 Yves Bizeul hat hingegen jüngst die Frage aufgeworfen, »ob die Zeit der Dekonstruktion des Nationalmythos wirklich hinter uns liegt«.30 Die Debatte zu dieser Frage hat er in dem von ihm 2013 herausgegebenen Buch unter den Titel gestellt »Rekonstruktion des Nationalmythos«, freilich mit einem Fragezeichen. Mittlerweile hat das Aufleben eines neuen Nationalismus in zahlreichen europäischen Ländern den Boden bereitet für die Reaktivierung nationaler Mythen. Björn Höcke z. B., der thüringische Landesvorsitzende der »Alternative für Deutschland«, beschwor unlängst in Magdeburg bei einer Kundgebung vor dem Dom, in dem Kaiser Otto der 28 | Y. Bizeul: Theorien der politischen Mythen und Rituale, S. 17f. 29 | E. François/H. Schulze: Das emotionale Fundament der Nationen, S. 30f. 30 | Y. Bizeul (Hg.): Rekonstruktion des Nationalmythos? S. 262.

Ist die Apokalypse ein Mythos?

Große begraben liegt, dessen Sieg auf dem Lechfeld gegen die – damals noch heidnischen – Ungarn im Jahr 955. Aber nicht nur eine tausendjährige Vergangenheit sollten Magdeburg und Deutschland haben, so Höcke, sondern »auch eine tausendjährige Zukunft«.31 Die Wiederbelebung des Mythos von Ottos Sieg an der Spitze eines Reichsheeres »aus allen deutschen Stämmen« über die heidnischen Eindringliche aus dem Osten hat dieselbe Funktion wie die meisten nationalen Mythen aus dem 19. Jahrhundert: die Funktion nämlich, über die Beschwörung einer großen Gestalt der Vergangenheit und eines Ereignisses, das als Geburt der einigen Nation interpretiert werden kann, die Einheit der Volksgemeinschaft zu begründen und deren Selbstwertgefühl zu erhöhen, außerdem aber  – da der Mythos die Geschichte vom Sieg über heidnische Eindringlinge erzählt – die Volksgemeinschaft gegen Fremde abzugrenzen. Darüber hinaus erinnert Höckes Beschwörung einer »tausendjährigen Zukunft« Deutschlands in ominöser Weise an die Proklamationen eines tausendjährigen Reichs im vergangenen Jahrhundert. Die nationalen Mythen von der Art des Mythos um Otto den Großen stammen in der Tat »aus einer anderen Welt«, sie sind anachronistisch in den gegenwärtigen demokratischen und pluralistischen Gesellschaften Europas und in der sich globalisierenden Welt. Darüber hinaus sind sie mit ihrer fremdenfeindlichen Intention im eigentlichen Wortsinn re-aktionär. Auch über die apokalyptischen Hybriden des politischen Mythos lässt sich ein Urteil fällen: Was die »Tragödien des 20. Jahrhunderts« anlangt, vom Ersten Weltkrieg über den Holocaust bis zum Archipel Gulag, so waren apokalyptische Welt- und Geschichtsbilder maßgeblich an deren Zustandekommen beteiligt. Die Träume vom tausendjährigen Reich gehören auch dazu. Es ist daher Vorsicht geboten, wenn sich mit der Reanimierung nationaler Mythen auch apokalyptische Hybride wieder breitmachen: So glänzend die apokalyptischen Heilsversprechen immer waren, die Versuche, sie gewaltsam umzusetzen, endeten immer in Tod und Verderben.

B ibliografie Assmann, Jan: Exodus. Die Revolution der Alten Welt. München 32015. Bizeul, Yves (Hg.): Politische Mythen und Rituale in Deutschland, Frankreich und Polen. Berlin 2000. Bizeul, Yves (Hg.): Rekonstruktion des Nationalmythos? Frankreich, Deutschland und die Ukraine im Vergleich. Göttingen 2013. Bloch, Ernst: Geist der Utopie. München/Leipzig 1918. 31 | http://www.faz.net/aktuell/politik/inland/marc-jongen-ist-afd-politiker-und-philosoph vom 2. März 2016.

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Bloch, Ernst: Geist der Utopie. Berlin 1923. Bloch, Ernst: Thomas Münzer als Theologe der Revolution. München 1921. Brockhaus, Christoph: Die ambivalente Faszination der Großstadterfahrung in der deutschen Kunst des Expressionismus, in: Horst Meixner/Silvio Vietta (Hg.): Expressionismus – sozialer Wandel und künstlerische Erfahrung. München 1982, S. 103. Büchmann, Georg: Geflügelte Worte. Berlin 241910, S. 264. Cassirer, Ernst: Philosophie der symbolischen Formen. Zweiter Teil: Das mythische Denken. Darmstadt 1973. Cohn, Norman: Das Ringen um das Tausendjährige Reich. Revolutionärer Messianismus im Mittelalter und sein Fortleben in den modernen totalitären Bewegungen. Bern/München 1961. Cohn, Norman: Die Erwartung der Endzeit. Vom Ursprung der Apokalypse. Frankfurt a. M./Leipzig 1997. Eliade, Mircea: Das Heilige und das Profane. Vom Wesen des Religiösen. Hamburg 1957. Flacke, Monika (Hg.): Mythen der Nationen. Ein europäisches Panorama. Ausstellungskatalog. Deutsches Historisches Museum. Berlin 1998. François, Etienne/Schulze, Hagen: Das emotionale Fundament der Nationen, in: Flacke, Monika (Hg.): Mythen der Nationen. Ein europäisches Panorama. Ausstellungskatalog. Deutsches Historisches Museum. Berlin 1998. George, Alexander L./George, Juliette L.: Woodrow Wilson and Colonel House. A Personality Study. New York 1964, S. 198. Henningsen, Manfred: Das amerikanische Selbstverständnis und die Erfahrung des Großen Kriegs, in: Klaus Vondung (Hg.): Kriegserlebnis. Der Erste Weltkrieg in der literarischen Gestaltung und symbolischen Deutung der Nationen. Göttingen 1980. Hiller, Kurt: Philosophie des Ziels, in: Ders. (Hg.): Das Ziel. Jahrbücher für geistige Politik, Bd. 1, München 1916, S. 196. Hitler, Adolf: Mein Kampf. München 349.–3511938. Meixner, Horst/Vietta, Silvio (Hg.): Expressionismus  – sozialer Wandel und künstlerische Erfahrung. München 1982. Münkler, Herfried: Die Deutschen und ihre Mythen. Berlin 22009. Nagel, Alexander K./Schipper, Bernd U./Weymann, Ansgar (Hg.): Apokalypse. Zur Soziologie und Geschichte religiöser Krisenrhetorik. Frankfurt a. M./ New York 2008. Pinthus, Kurt: Rede für die Zukunft, in: Alfred Wolfenstein (Hg.): Die Erhebung. Jahrbuch für neue Dichtung und Wertung. Berlin o. J. 1919, S. 410. Rosenberg, Alfred: Der entscheidende Weltkampf. Rede des Reichsleiters Alfred Rosenberg auf dem Parteikongress in Nürnberg 1936. München 1936. Ruedorffer, J. J. (Pseudonym für Kurt Riezler): Grundzüge der Weltpolitik in der Gegenwart. Stuttgart/Berlin 1915.

Ist die Apokalypse ein Mythos?

Sorg, Reto/Würffel, Stefan Bodo (Hg.): Utopie und Apokalypse in der Moderne. München 2010. Steffens, Henrich: Was ich erlebte. Aus der Erinnerung niedergeschrieben (1840). Neu hg. v. Henningsen, Bernd. Bd. 1. Berlin 2014. Talmon, J. L.: Politischer Messianismus. Die romantische Phase. Köln/Opladen 1963. Toller, Ernst: Eine Jugend in Deutschland, in: Ders.: Prosa, Briefe, Dramen, Gedichte. Reinbek 1961, S. 73, 75. Tuveson, Ernest Lee: Redeemer Nation. The Idea of America’s Millennial Role. Chicago/London 21974. Vondung, Klaus: Geschichte als Weltgericht. Genesis und Degradation einer Symbolik, in: Ders.: Kriegserlebnis. Der Erste Weltkrieg in der literarischen Gestaltung und symbolischen Deutung der Nationen. Göttingen 1980, S. 67. Vondung, Klaus (Hg.): Kriegserlebnis. Der Erste Weltkrieg in der literarischen Gestaltung und symbolischen Deutung der Nationen. Göttingen 1980. Vondung, Klaus: Die Apokalypse in Deutschland. München 1988. Vondung, Klaus: Revolution als Ritual. Der Mythos des Nationalsozialismus, in: Jan Assmann/Dietrich Harth (Hg.): Revolution und Mythos. Frankfurt a. M. 1992, S. 206–218. Vondung, Klaus: Über die begrenzte Haltbarkeit des politischen Mythos in Deutschland: Vom 9. November 1923 zum 8. Mai 1945, in: Wolfgang Leidhold (Hg.): Politik und Politeia. Formen und Probleme politischer Ordnung. Festgabe für Jürgen Gebhardt zum 65. Geburtstag. Würzburg 2000, S. 229–241. Vondung, Klaus: Deutsche Wege zur Erlösung. Formen des Religiösen im Nationalsozialismus. München 2013. Voegelin, Eric: Ordnung und Geschichte. Bd. 1: Die kosmologischen Reiche des alten Orients – Mesopotamien und Ägypten. Assmann, Jan (Hg.). München 2002. Voegelin, Eric.: Ordnung und Geschichte. Bd. 2: Israel und die Offenbarung – Die Geburt der Geschichte. Hartenstein, Friedhelm/Jeremias, Jörg (Hg.). München 2005. Wolfenstein, Alfred (Hg.): Die Erhebung. Jahrbuch für neue Dichtung und Wertung. Berlin o. J. (1919).

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Autorinnen und Autoren

Bergem, Wolfgang, ist außerplanmäßiger Professur für Politikwissenschaft an der Universität Siegen und Sprecher des Arbeitskreises »Politik und Kultur« der Deutschen Vereinigung für Politikwissenschaft. Einschlägige Publikationen zum Thema: Hg.: 1968 – Deutungen und Kontroversen in Deutschland und Europa (2018); Hg., gemeinsam mit Paula Diehl und Hans J. Lietzmann: Politische Kultur reloaded. Theorien, Methoden und Ergebnisse neuerer Forschung zum Zusammenhang von Politik und Kultur (2018); Narrative Formen in Geschichtspolitik und Erinnerungskultur, in: Narrative Formen der Politik, hg. v. Wilhelm Hofmann u. a. (2014), S. 31–48; Hg., gemeinsam mit Reinhard Wesel: Deutschland fiktiv. Die deutsche Einheit, Teilung und Vereinigung im Spiegel von Literatur und Film (2009); Identitätsformationen in Deutschland (2005). Bizeul, Yves, Inhaber des Lehrstuhls für Politische Theorie und Ideengeschichte an der Universität Rostock. Einschlägige Publikationen zum Thema: Vernetzte und kanonisierte politische Mythen in der modernen Demokratie, in: Inflation der Mythen? Zur Vernetzung und Stabilität eines modernen Phänomens, hg. v. Stephanie Wodianka/Juliane Ebert (2016); Der Kampf um die Deutungsmacht in der Spätmoderne am Beispiel des Mythos des Clash of Civilizations, in: Deutungsmacht. Religion und belief Systems in Deutungsmachtkonflikten, hg. v. Philipp Stoellger (2014); Hg., Rekonstruktion des Nationalmythos? Deutschland, Frankreich und die Ukraine im Vergleich (2013); Mythos, Ideologie und Utopie im heutigen französischen Republikanismus, in: Mythos No. 3. Mythos in Medien und Politik, hg. v. Peter Tepe/Tanja Semlow (2011); Un mythe fondateur et mobilisateur: Le traité de l'Élysée en France et en Allemagne, in: Des Mythes politiques, hg. v. Frédéric Monneyron/Antigone Mouchtouris (2010); Glaube und Politik (2009). Bottici, Chiara, Associate Professor of Philosophy at the New School for Social Research. Einschlägige Publikationen zum Thema: Imaginal Politics: Images beyond the Imagination and beyond the Imaginary (2014); Hg., The Politics

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Mythos und Tabula rasa

of Imagination, co-edited with Benoit Challand (2011); The Myth of the Clash of Civilizations, co-authored with Benoit Challand (2010); Philosophies of Political Myth. A Comparative Look Backward: Cassirer, Sorel and Spinoza, in: European Journal of Political Theory (2009). A Philosophy of Political Myth (2007); Rethinking Political Myth. The Clash of Civilisations as a Self-Fulfilling Prophecy, co-authored with Benoit Challand, in: European Journal of Social Theory (2006). Brodocz, André, Inhaber der Professur für Politische Theorie an der Staatswissenschaftlichen Fakultät der Universität Erfurt. Einschlägige Publikationen zum Thema: Deutungskämpfe vor den Augen des Volkes. Zur Dynamisierung demokratischer Ordnungen durch okulare Praktiken, in: Dominik Hammer/ Marie Kajewski (Hg.): Okulare Demokratie. Der Bürger als Zuschauer (2017), S. 87–113; Deutungsmacht in Nachkriegsgesellschaften. Zur politischen Autorität internationaler Administrationen in Kambodscha und im Kosovo, in: Zeitschrift für Internationale Beziehungen 21 (2014), S. 7–36 (zus. mit Th. Bonacker, W. Distler, Katrin Travouillon); Kampf um Deutungsmacht. Zur Symbolisierung politischer Ordnungsvorstellungen, in: Detlef Lehnert (Hg.): Demokratiekultur in Europa. Politische Repräsentation im 19. und 20. Jahrhundert (2011), S. 47–62; Die Macht der Judikative (2009); Die symbolische Dimension der Verfassung. Ein Beitrag zur Institutionentheorie (2003). Gärtner, Judith, Inhaberin des Lehrstuhls für Altes Testament an der Universität Rostock. Einschlägige Publikationen zum Thema: Die Tora als Geschichte – zur hermeneutischen Bedeutung der Pentateuchtexte in den Psalmen und in Neh 9 in den späten Psalmen, in: Ist die Tora Gesetz? Zu Gesetzesverständnis im Alten Testament, hg. v. Udo Rüterswörden, Frühjudentum und Neuen Testament, BThS 167 (2017), S. 83–117; Keep Justice! (Is 56:1): Thoughts regarding the concept and redaction history of a universal understanding of sedaqa, in: Sedaqa and Thora in Postexilic Discourse, hg. v. Susanne Gillmayr-Bucher und Maria Häusl, LHBOTS (JSOTS) 640 (2017), S. 86–99; Exodus Psalm 114 – the hermeneutical centre of the so-called Egyptian Hallel?, in: Exodus. Rezeptionen in deuterokanonischer und frühjüdischer Literatur, hg. v. dies. und Barbara Schmitz, DCLS 32 (2016), S. 71–87; Rettung erinnern – Zur theologiegeschichtlichen und psalterkompositorischen Bedeutung von Geschichte in den späten Psalmen, in: Geschichte und Gott, hg. v. Michael Meyer-Blanck, XV. Europäischer Kongresses der Wissenschaftlichen Gesellschaft für Theologie vom 14.–18. September 2014 in Berlin, VWGTh 44, (2016), S. 322–338; »indem er Feuer und Würmer in ihr Fleisch gibt« (Jdt 16,17). Die Metaphern in Jdt 16,17 vor dem Hintergrund von Jes 66,24 (zusammen mit Barbara Schmitz, Würzburg), in: The Metaphorical Use of Language in Deuterocanonical and Cognate Literature, hg. v . Markus Witte, DCLY 2014/2015 (2014), S. 107–123.

Autorinnen und Autoren

From generation to generation – Remembered History in Psalm 78, in: Remembering and Forgetting in Early Second Temple Judah, hg. v. Ehud Ben Zwi und Christoph Levin, FAT 85 (2012), S. 269–278. Jäger, Ludwig, 1982–2011 Inhaber des Lehrstuhls für Deutsche Philologie an der RWTH Aachen; 2010/2011 Fellow am Internationalen Kolleg Morphomata an der Universität zu Köln, seit 2012 Senior Advisor des Kollegs. Einschlägige Publikationen zum Thema: (Hauptherausgeber, mit Werner Holly/Peter Krapp/Samuel Weber/Simone Heekeren): Sprache – Kultur – Kommunikation / Language – Culture – Communication. Ein internationales Handbuch zu Linguistik als Kulturwissenschaft / An International Handbook of Linguistics as Cultural Discipline (2016); Helmut Lethen/Ludwig Jäger/Albrecht Koschorke (Hg.): Auf die Wirklichkeit zeigen. Zum Problem der Evidenz in den Kulturwissenschaften. Ein Reader, (2015); Dietrich Boschung/Ludwig Jäger (Hg.): Formkonstanz und Bedeutungswandel (2014); Ludwig Jäger/Gisela Fehrmann/Meike Adam (Hg.): Medienbewegungen. Praktiken der Bezugnahme (2012); Ludwig Jäger: Ferdinand de Saussure. Zur Einführung (2010); Horst Wenzel/Ludwig Jäger (Hg.) in Zusammenarbeit mit Robin Curtis und Christina Lechtermann: Deixis und Evidenz. Freiburg i. Br. (2008); Zahlreiche Aufsätze zu den Forschungsschwerpunkten Medientheorie, Zeichentheorie, Fachgeschichte und Theoriegeschichte der Sprachwissenschaft. Lüsebrink, Hans-Jürgen, seit 1993 Inhaber des Lehrstuhls für Romanische Kulturwissenschaft und Interkulturelle Kommunikation an der Universität des Saarlandes. Einschlägige Publikationen zum Thema: (zus. mit Rolf Reichardt): Die Bastille. Zur Geschichte eines Kollektivsymbols der Französischen Revolution (1990); (Hg. zus. mit Rolf Reichardt/Annette Keilhauer/René Nohr): Kulturtransfer im Epochenumbruch. Frankreich/Deutschland 1770–1815, (1996), 2 Bde; (Hg. zus. mit Jeremy Popkin): Enlightenment, Revolution and the periodical press (2004); Einführung in die Landeskunde Frankreichs. Wirtschaft – Gesellschaft – Politik – Kultur – Mentalitäten (2000); Französische Revolution, in: Stephanie Wodianka/Juliane Ebert (Hg.): Metzler Lexikon moderner Mythen. Figuren, Konzepte, Ereignisse (2014), S. 143–147; (Hg., zus. mit Valérie Deshoulières und Christoph Vatter): Europa zwischen Text und Ort. Interkulturalität in Kriegszeiten (1914–1954)/L’Europe entre Texte et Lieu. Inter­culturalités en temps de guerre (1914–1954), (2013). Vondung, Klaus, von 1976 bis zur Emeritierung 2006 Professor für Germanistik/Neuere Literaturwissenschaft an der Universität Siegen. Einschlägige Publikationen zum Thema: Gnosis und Apokalypse als Interpretamente der Moderne im Werk von Eric Voegelin, in: Staaten und Ordnungen. Die politische und Staatstheorie von Eric Voegelin. Hg. v. Hans-Jörg Sigwart (2016),

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Mythos und Tabula rasa

S. 115–134; Utopische Entwürfe – apokalyptische Visionen: Träume vom besseren Leben? In: Religion und Politik, Bd. 13: Zukunftsvisionen zwischen Apokalypse und Utopie. Hg. v. Katharina Martin/Christian Sieg (2016), S. 45–59; Deutsche Wege zur Erlösung. Formen des Religiösen im Nationalsozialismus (2013); Termine für den Weltuntergang, in: Anderes als Kunst. Ästhetik und Techniken der Kommunikation. Peter Gendolla zum 60. Geburtstag. Hg. v. Thomas Kamphusmann/Jörgen Schäfer (2010), S. 97–104; Jenseits der entzauberten Welt. Naturwissenschaft und Mystik in der Moderne (Hg. mit K. Ludwig Pfeiffer), (2006); Die Apokalypse in Deutschland (1988). Waechter, Matthias, Priv.-Doz. Dr., ist Geschäftsführender Direktor des europäischen Hochschulinstituts CIFE in Nizza. Einschlägige Publikationen zum Thema: Die Erfindung des amerikanischen Westens. Die Geschichte der Frontier-Debatte (1996); Der Mythos des Gaullismus. Heldenkult, Geschichtspolitik und Ideologie 1940–1958 (2006); MythenMächte im amerikanischen Geschichtsbewußtsein: Der Frontier-Mythos, in: Anette Völker-Rasor/Wolfgang Schmale (Hg.), MythenMächte – Mythen als Argument, Berlin (1998), S. 111–131; De Gaulles 30jähriger Krieg. Die Résistance und die Erinnerung an 1918, in: Jost Dülffer/Gerd Krumeich (Hg.), Der verlorene Frieden. Politik und Kriegskultur nach 1918 (2002), S. 51–60; Ein „neues Verdun“: Die Schlacht von Bir-Hakeim und der Mythos des Gaullismus, in: Susanne Brandt/Gerd Krumeich (Hg.), Schlachtenmythen. Ereignis – Erzählung – Erinnerung (2003), S. 165–182; Fortschrittsdiskurse in Frankreich und den USA im 19. und 20. Jahrhundert, in: Saeculum. Jahrbuch für Universalgeschichte 58/II (2007), S. 297–318; Der De Gaulle-Mythos. Erinnerung und Politik in der modernen Demokratie, in: Historisches Jahrbuch 129 (2009), S. 131–144; Mythos, Version: 1.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 11.2.2010, URL: http://docupedia.de/docupedia/index.php?title=Mythos&oldid=68895. Wodianka, Stephanie, seit 2010 Lehrstuhl für Französische und Italienische Literaturwissenschaft an der Universität Rostock. Einschlägige Publikationen zum Thema: (Hg., gemeinsam mit Juliane Ebert): Inflation der Mythen? Zur Vernetzung und Stabilität eines modernen Phänomens (2016); (Hg., gemeinsam mit Juliane Ebert): Metzler Lexikon Moderne Mythen. Figuren, Konzepte, Ereignisse. Stuttgart: Metzler 2014; Zwischen Mythos und Geschichte: Ästhetik, Medialität und Kulturspezifik der Mittelalterkonjunktur (Jeanne d’Arc/Matière de Bretagne), (2009); (Hg., gemeinsam mit Klaudia Knabel und Dietmar Rieger): Nationale Mythen – kollektive Symbole. Funktionen, Konstruktionen und Medien der Erinnerung (2005); Mythos und Erinnerung. Mythentheoretische Modelle und ihre gedächtnistheoretischen Implikationen, in: Oesterle, Günter (Hg.): Erinnerung, Gedächtnis, Wissen. Studien zur kulturwissenschaftlichen Gedächtnisforschung (2005), S. 211–230.

Literaturwissenschaft Michael Gamper, Ruth Mayer (Hg.)

Kurz & Knapp Zur Mediengeschichte kleiner Formen vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart Mai 2017, 398 S., kart., zahlr. Abb. 34,99 € (DE), 978-3-8376-3556-0 E-Book: kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation ISBN 978-3-8394-3556-4

Solvejg Nitzke

Die Produktion der Katastrophe Das Tunguska-Ereignis und die Programme der Moderne Mai 2017, 358 S., kart. 36,99 € (DE), 978-3-8376-3657-4 E-Book: 36,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3657-8

Stephanie Bung, Jenny Schrödl (Hg.)

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Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 8. Jahrgang, 2017, Heft 1 August 2017, 208 S., kart. 12,80 € (DE), 978-3-8376-3817-2 E-Book: 12,80 € (DE), ISBN 978-3-8394-3817-6

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