Geburt und Hochzeit des Kriegers: Geschlechterdifferenz und Initiation in Mythos und Ritual der griechischen Polis [Reprint 2012 ed.] 3110164086, 9783110164084

Die Autorin untersucht eine Gruppe von Mythen und Festen der antiken griechischen Religion, in denen die Motive des Gesc

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Polecaj historie

Geburt und Hochzeit des Kriegers: Geschlechterdifferenz und Initiation in Mythos und Ritual der griechischen Polis [Reprint 2012 ed.]
 3110164086, 9783110164084

Table of contents :
Vorwort
Einleitung
I. Mythos und Ritual in Praxis und Theorie
1. Zur Lektüre griechischer Mythen
2. Mythen und Rituale in der Polisreligion
2.1. Myth and Ritual
2.2. Rituale in der Polis
E. Kainis und Kaineus
1. Die Überlieferung des Mythos
2. Die Geschichte der Kainis
2.1. Heroinen-Erzählungen als „Mädchentragödien“
2.2. „Hesiod“: Die Charis der Kainis
2.3. Akusilaos: Die Macht Poseidons
3. Der unverwundbare Krieger Kaineus
3.1. Die „Geburt“ des Kriegers
3.2. Der Speer des Kaineus
3.3. Das Ende von Kainis/Kaineus
III. Achilleus und Thetis
1. Die Überlieferung des Mythos
2. Die „Paideia“ des Achilleus
2.1. Thetis und Achilleus in der Ilias
2.2. Die „Geburt“ aus dem Dreifußkessel
2.3. Unter Männern: Peleus und Chiron
2.4. Skyros: Der Krieger und die Frauen
IV. Die Oschophoria in Athen
1. Rekonstruktion des Festabaufes
1.1. Der Bericht bei Plutarch
1.2. Die Tradition der Pindarkommentare und Atthidographen
1.3. Der Festablauf nach den literarischen Quellen
2. Die Organisation der Oschophoria im Raum der Polis
2.1. Die Oschophoria in der Salaminioi-Inschrift
2.2. Das Genos der Salaminioi
2.3. Athena Skiras und die Geographie Athens
3. Die Oschophoria im mythischen und sozialen Kontext Athens
3.1. Forschungsgeschichte
3.2. Die Pompe
3.3. Verkleidung in Mythos und Ritual bei Plutarch
3.4. Kleider der Frauen – Frauenkleider
3.5. Dionysos Oschophoros als Gott der Jugendlichen
3.6. Androgynie in Philosophie, Mythos und Ritual
4. Die Rituale für Athena Skiras in Phaleron
4.1. Athena Skiras: Eine weiße Göttin an der Grenze
4.2. Deipnophoroi: Speisen und Geschichten
4.3. Das Opfer und die „Ambivalenz“ der Gefühle
4.4. Der Wettlauf
4.5. Die Siegesfeier: Gymnopaidike
V. Theseus, Apollon und die Gaben der Ariadne Aphrodite
0. Einleitung
1. Das Delphinion: Wege und Transformationen
1.1. Lage und rituelle Funktion des Heiligtums in Athen
1.2. Apollon Delphinios: Wege und Geleit
1.3. Theseus am Delphinion
2. Die Gaben der Aphrodite
2.1. Die Tempel der Aphrodite in Athen
2.2. Theseus und Aphrodite
2.3. Ariadne Aphrodite auf Cypern
VI. Die Ekdysia in Phaistos: Leukippos und Leto
1. Die Überlieferung
2. Die Verknüpfung von Mythos und Ritual
3. Mythische und rituelle Kontexte
3.1 Galateia und Lampros
3.2. Leto Phytia
3.3. Leukippos
4. Die Ekdysia und der Bericht des Ephoros
VII. „Schwarze Jäger“, „Weiße Reiter“ und „Amazonen“. Zur rituellen und mythischen Sozialisation Jugendlicher in der Polis
Abkürzungsverzeichnis
Literaturverzeichnis
Register
Namen- und Sachregister
Stellenregister

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Katharina Waldner Geburt und Hochzeit des Kriegers

W G DE

Religionsgeschichtdiche Versuche und Vorarbeiten

Herausgegeben von Fritz Graf · Hans G. Kippenberg Lawrence E. Sullivan

Band 46

Walter de Gruyter · Berlin · New York 2000

Katharina Waldner

Geburt und Hochzeit des Kriegers Geschlechterdifferenz und Inidation in Mythos und Ritual der griechischen Polis

Walter de Gruyter · Berlin · New York 2000

Die Reihe Religionsgeschichtliche Versuche und Vorarbeiten wurde 1903 begründet von Albrecht Dieterich und Richard Wünsch. Die Bände I - X V erschienen 1903-1915 unter der Herausgeberschaft von Ludwig Deubner und Richard Wünsch. Die Bände XVI-XXVII erschienen 1916-1939 unter der Herausgeberschaft von Ludolf Malten und Otto Weinreich. Die Bände XXVIII-XXXVIII erschienen 1969-1982 unter der Herausgeberschaft von Walter Burkert und Carsten Colpe. Die vorliegende Arbeit wurde von der Philosophischen Fakultät I der Universität Zürich im Sommersemester 1997 auf Antrag von Herrn Prof. Dr. W Burkert als Dissertation angenommen.

® Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt

Die Deutsche Bibliothek — CIP-EinheitsauJhahme Waldner, Katharina: Geburt und Hochzeit des Kriegers : Geschlechterdifferenz und Initiarion in Mythos und Ritual der griechischen Polis / Katharina Waldner. - Berlin ; New York : de Gruyter, 2000 (Religionsgeschichtliche Versuche und Vorarbeiten ; Bd. 46) Zugl.: Zürich, Univ., Diss., 1997 ISBN 3-11-016641-0

© Copyright 2000 by Walter de Gruyter GmbH & Co., KG, 10785 Berlin. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Ubersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Umschlaggestaltung: Christopher Schneider, Berlin Druck und buchbinderische Verarbeitung: Hubert & Co., Göttingen

Vorwort Die vorliegende Studie ist die leicht überarbeitete Fassung meiner Dissertation, die im Sommersemester 1997 von der Philosophischen Fakultät I der Universität Zürich angenommen wurde. Literatur, die nach 1998 erschienen ist, wurde nur noch in Einzelfállen berücksichtigt. Folgenden Personen und Institutionen möchte ich für ihre Hilfe danken: Mein Doktorvater Walter Burkert gab die Anregung zu dem Thema und förderte mit wohlwollendem Interesse meinen Versuch, einen eigenen Zugang zum Material zu finden. Das wissenschaftliche Gespräch mit Beate Wagner-Hasel (Darmstadt) begleitete das Entstehen dieser Arbeit kontinuierlich; sie überließ mir nicht nur ihre damals noch unpublizierte Habilitationsschrift zum Gabentausch bei Homer, sondern machte mich auch auf die Bedeutung der von Frauen hergestellten Textilien aufmerksam und sorgte insgesamt dafür, daß ich meine Ergebnisse fester im sozialhistorischen Kontext verankerte. Ein Stipendium der Deutschen Forschungsgemeinschaft ermöglichte drei Jahre sorgenfreies Arbeiten in der anregenden Atmosphäre des Graduiertenkollegs „Geschlechterdifferenz und Literatur" an der Ludwig Maximilian Universität in München, wo meine Arbeit von den Gesprächen mit den Kollegiatinnen und Kollegiaten und den Hochschullehrerinnen und -lehrern außerordentlich profitierte. Roland Baumgarten, Peter Habermehl und Elke Hartmann (alle Berlin) lasen das Manuskript ganz oder in Teilen und bewahrten mich vor manchem Irrtum. Die Herausgeber der R G W ermöglichten die Publikation in dieser Reihe; der kritischen Lektüre des Manuskripts durch Fritz Graf (Princeton) verdanke ich zahlreiche Verbesserungsvorschläge. Der „Fonds für die Altertumswissenschaft" (Zürich) gewährte einen Druckkostenzuschuss. Silke Herrmann (Berlin) half bei der Vorbereitung des Textes zum Druck. Meine Eltern ermöglichten mir das Studium und gewährten mir immer wieder moralische und materielle Unterstützung. Mein Mann Kurt Wino verfolgte nicht nur über Jahre mit großem Interesse meine Auseinandersetzung mit dem Thema, sondern half auch tatkräftig und geduldig mit bei der Herstellung der Druckvorlage. Ihnen allen danke ich von Herzen. Berlin, im September 2000

K. W

Inhalt Vorwort

V

Einleitung

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I. Mythos und Ritual in Praxis und Theorie

4

1. Zur Lektüre griechischer Mythen 2. Mythen und Rituale in der Polisreligion 2.1. Myth and Ritual 2.2. Rituale in der Polis 2.2.1. Polisreligion 2.2.2. Körper in Raum und Zeit 2.2.3. Das Opferritual 2.2.4. Initiation

4 12 12 18 19 21 28 33

Π. Kainis und Kaineus

51

1. Die Überlieferung des Mythos 2. Die Geschichte der Kainis 2.1. Heroinen-Erzählungen als „Mädchentragödien" 2.2. „Hesiod": Die Charis der Kainis 2.3. Akusilaos: Die Macht Poseidons 3. Der unverwundbare Krieger Kaineus 3.1. Die „Geburt" des Kriegers 3.2. Der Speer des Kaineus 3.3. Das Ende von Kainis/Kaineus 3.3.1. Ein Opfer der Kentauren 3.3.2. Ein Toter ohne Grab

51 55 55 60 64 68 68 73 75 75 78

m. Achilleus und Thetis

82

1. Die Überlieferung des Mythos 2. Die „Paideia" des Achilleus 2.1. Thetis und Achilleus in der Ilias 2.2. Die „Geburt" aus dem Dreifußkessel 2.3. Unter Männern: Peleus und Chiron 2.4. Skyros: Der Krieger und die Frauen

82 86 86 88 92 94

Vili

Inhalt

2.4.1. Die Version Homers

94

2.4.2. Die Verkleidung des Achilleus bei Euripides

96

IV. Die Oschophoria in Athen

102

1. Rekonstruktion des Festabaufes 1.1. Der Bericht bei Plutarch 1.1.1. Theseus-Mythologie in Athen 1.1.2. Die Oschophoria in Plutarchs Theseus-Vita 1.2. Die Tradition der Pindarkommentare und Atthidographen 1.3. Der Festablauf nach den literarischen Quellen 2. Die Organisation der Oschophoria im Raum der Polis 2.1. Die Oschophoria in der Salaminioi-Inschrift 2.2. Das Genos der Salaminioi 2.3. Athena Skiras und die Geographie Athens 3. Die Oschophoria im mythischen und sozialen Kontext Athens 3.1. Forschungsgeschichte 3.2. Die Pompe 3.3. Verkleidung in Mythos und Ritual bei Plutarch 3.4. Kleider der Frauen - Frauenkleider 3.5. Dionysos Oschophoros als Gott der Jugendlichen 3.5.1. Ikonographie 3.5.2. Mythen 3.6. Androgynie in Philosophie, Mythos und Ritual 4. Die Rituale fur Athena Skiras in Phaleron 4.1. Athena Skiras: Eine weiße Göttin an der Grenze 4.2. Deipnophoroi: Speisen und Geschichten 4.3. Das Opfer und die „Ambivalenz" der Gefühle 4.4. Der Wettlauf 4.5. Die Siegesfeier: Gymnopaidike

102 103 103 105 112 116 116 116 119 125 134 134 138 141 142 145 145 150 154 159 159 163 164 168 174

V. Theseus, Apollon und die Gaben der Ariadne Aphrodite

176

0. Einleitung 1. Das Delphinion: Wege und Transformationen 1.1. Lage und rituelle Funktion des Heiligtums in Athen 1.2. Apollon Delphinios: Wege und Geleit 1.3. Theseus am Delphinion 1.3.1. Ankunft beim Delphinion 1.3.1.1. Die Version Plutarchs 1.3.1.2. Die Version des Pausanias 1.3.2. Abschied vom Delphinion 1.3.2.1. Hikesie: Zweige der Fülle und des Mangels:

176 178 178 179 185 185 185 190 192 192

Inhalt

1.3.2.2. „Mörder" und ihre „Komplizinnen"

IX

194

2. Die Gaben der Aphrodite 2.1. Die Tempel der Aphrodite in Athen 2.1.1. Aphrodite Urania 2.1.2. Aphrodite Pandemos 2.2. Theseus und Aphrodite 2.2.1. Aphrodite als Geleiterin 2.2.2. Aphrodite Epitragia 2.2.3. Der dritte Dithyrambos des Bakchylides: Verlobung auf dem Meer 2.3. Ariadne Aphrodite auf Cypern 2.3.1. Aphrodite mit Bart und die Erfindung des Hermaphrodites 2.3.2. Ariadne Aphrodite

196 196 197 199 201 201 203

215 218

VI. Die Ekdysia in Phaistos: Leukippos und Leto

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1. Die Überlieferung 2. Die Verknüpfung von Mythos und Ritual 3. Mythische und rituelle Kontexte 3.1 Galateia und Lampros 3.2. LetoPhytia 3.3. Leukippos 3.3.1. Weiße Pferde und ihre Reiter 3.3.2. Geschichten über Leukippoi 3.3.3. Der Schlaf im Tempel 4. Die Ekdysia und der Bericht des Ephoros

222 225 226 226 227 229 230 232 234 236

VII. „Schwarze Jäger", „Weiße Reiter" und „Amazonen"... Zur rituellen und mythischen Sozialisation Jugendlicher in der Polis

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Abkürzungsverzeichnis Literaturverzeichnis Register Namen- und Sachregister Stellenregister

253 256 270 270 281

206 213

Einleitung Transvestie und Transsexualität, die „Perfonnanz" des geschlechtlich kodierten Körpers, gehören zu den beliebtesten Themen der Gender Studies der vergangenen 90er Jahre.1 Spätestens Thomas Laqueurs 1990 erschienenes Buch Making Sex brachte mit aller Deutlichkeit die wissenschafts- und medizingeschichtliche Tatsache zum Bewußtsein, daß eine an den im heutigen Sinne „biologischen" Körper ursächlich gebundene Zweigeschlechtigkeit ein Konstrukt des 18. Jahrhunderts ist, das in der psychoanalytischen Beschreibung der Sexualität seine moderne Fortsetzung fand.2 Erst diese Wahrnehmung der historischen Bedingtheit unseres eigenen Modells ermöglicht einen geschärften Blick auf die Konstruktion von Geschlechterdifferenz, Sexualität und Körperlichkeit in anderen Kulturen und weiter zurückliegenden Epochen.3 Es ist dieser „neue", d. h. gleichzeitig auch in einem bestimmten historischen Moment situierte Blick, mit dem in der vorliegenden Arbeit mythische Texte und Texte über Rituale in der griechischen Polis der archaischen und klassischen Zeit gelesen werden sollen. Dieser Blick ist insofern ein anthropologischer - oder auch „ethnologischer" - als er nach der historischen Eigenart der griechischen Mythen und Rituale fragt und dabei versucht, „eine Annäherung über bewußte Distanzierung"4 herzustellen. Man könnte diese Zugehensweise auch eine „historische Anthropologie" nennen.5 Daß in der griechischen Mythologie ausgerechnet die „männlichsten" Heroen, Achilleus und Herakles, in Frauenkleidern auftreten, hat schon die christlichen Schriftsteller empört, war ihnen ein willkommener Beweis mehr für die Verderbtheit der heidnischen Religion.6 Nicht weniger Befremden erregte eine zweite Gruppe von Mythen, denen mein Interesse gilt: In ihnen 1

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Der Begriff der „Performanz" wurde von der amerikanischen Philosophin J. Butler in die Diskussion eingeführt: J. Butler (1991), Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt a.M. (engl. Gender Trouble, London 1990). Vgl. auch M. Gaiber (1993), Verhüllte Interessen. Transvestismus und kulturelle Angst, Frankfurt a.M. und die Beiträge in: E. Bettinger/J. Funk (Hrsg.) (1995), Maskeraden: Geschlechterdifferenz in der literarischen Inszenierung. Berlin. Th. Laqueur(1990). Ein Beispiel dafür ist P. Brown (1991), Die Keuschheit der Engel. Sexuelle Entsagung, Askese und Körperlichkeit am Anfang des Christentums, München (engl.: The Body and Society: Men, Women and Sexual Renunciation in Early Christianity, New York 1980). Wagner-Hasel (1994), iv. Vgl. dazu Ch. Meier, Die Griechen und die Anderen, in: ders. (1989), Die Welt der Geschichte und die Provinz des Historikers, Berlin, 34-66. Z. B. Tert. De pallio 4, 3 und 4, 7.

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Einleitung

wird erzählt, wie sich ein Mädchen in einen jungen Mann verwandelt; das bekannteste Beipiel ist die Verwandlung von Kainis in Kaineus. Sie wurden seit dem 4. Jahrhundert v. Chr. in die Sammlungen der sog. Paradoxographen eingeordnet unter Mythen, die als άπιστα, „unglaubwürdig", oder zumindest doch als θαυμάσια, „erstaunlich" galten.7 Die aus dem 5. Jahrhundert stammende Prosafassung des Kaineus-Mythos hingegen erzählt dessen Verwandlung ebenso selbstverständlich, wie Achilleus in einer Tragödie des Euripides als Mädchen auftrat und auf einem Wandgemälde des Polygnot als „Transvestit" unter den Töchtern des Lykomedes zu bewundem war. Allein schon diese wenigen Beispiele illustrieren, wie verschieden Verkleidung und Verwandlung im Laufe der Jahrhunderte wahrgenommen wurden. Die moderne, im 18. Jahrhundert einsetzende und in unserem Sinne „wissenschaftliche" Rezeption bemächtigt sich dieser απιστα bis heute mit Hilfe zweier Begriffe: der „Initiation" und der „Androgynie". In diesen zwei Begriffen spiegelt sich die für den wissenschaftlichen Umgang mit Religion von Anfang an charakteristische Spannung zwischen aufklärerischer Religionskritik und einer diese Kritik kompensierenden Begeisterung für „das Irrationale". So stammt das Konzept der „Initiation" und des damit eng verbundenen „Übergangsrituals" ( rite de passage ) aus der aufklärerisch soziologisch orientierten Richtung vor allem englischer und französischer Provenienz; die Vorstellung einer symmetrischen „Androgynie" hingegen läßt sich über Friedrich Creuzers Symbolik und Mythologie der alten Völker (1837 - 1842) zurückverfolgen bis in die frühromantische Philosophie und Mythenforschung. Die Auswahl der Mythen und Rituale, mit denen sich dieses Buch beschäftigt, war durch die Forschungstradition zum antiken Initiationsritual bestimmt: Die Verwandlung der Kainis in Kaineus; die Erzählung über Achilleus, der als Mädchen verkleidet unter den Töchtern des Lykomedes verborgen wird; das athenische Fest der Oschophoria, an dem sich zwei Jungen als Mädchen verkleideten; einige Szenen aus der mit den Oschophoria verbundenen Theseus-Mythologie; schließlich das den Oschophoria vergleichbare Fest der Ekdysia in Phaistos auf Kreta. Die Beschäftigung mit den antiken Texten führte allerdings dazu, daß mir eben jene Begriffe, die diese Tradition vorgab, nämlich „Ritual", „Mythos", „Initiation", „Liminalität" und „Androgynie", ihrerseits zu απιστα wurden. Ein erstes Kapitel soll deshalb über diese Tradition ebenso Auskunft geben, wie über meinen Versuch, die modernen und nicht die antiken άπιστα zum Verschwinden zu bringen. Daß die dabei formulierten methodischen Überlegungen zur antiken Polisreligion

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Griechische Wörter werden nur dann transkribiert oder als Fachtermini ins Deutsche übernommen, wenn sie nicht übersetzt werden oder wenn die Kenntnis der lautlichen Gestalt für das Verständnis der Argumentation wichtig ist.

Einleitung

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ebenso Voraussetzung wie Ergebnis der folgenden Einzelanalysen sind, versteht sich von selbst. Jenseits der von der wissenschaftlichen Tradition vorgegebenen Raster von Initiation und Androgynie erbrachte die von der Frage nach der (Geschlechter)differenz geleitete, historische Lektüre der mythischen Texte und der entsprechenden Rituale ein neues Bild der sozialen und symbolischen Organisation des „Verkehrens" der Geschlechter im Rahmen der Polisreligion. Dabei handelt es sich um einen kleinen Ausschnitt eines umfassenden und ausgesprochen vielfältigen mythischen und rituellen Systems, mit dem Jugendliche beiderlei Geschlechts in die Gesellschaft der Polis integriert wurden.

I. Mythos und Ritual in Praxis und Theorie 1. Zur Lektüre griechischer Mythen Obwohl das Wort Mythos sowohl im Titel dieses Buches als auch des aktuellen Kapitels im Singular verwendet wird, ist damit nicht der Mythos gemeint, denn den Mythos gibt es nicht. Was wir vorfinden, sind mythische Texte, und es stellt sich die Frage, wie diese zu lesen sind. Im folgenden geht es deshalb nicht um eine allgemeingültige theoretische Definition des Begriffes Mythos, sondern um die Beschreibung einer Praxis, eines Lektüreverfahrens und der damit verbundenen Schreibweise eines wissenschaftlichen Textes über antike mythische Texte. Auch wer nicht mehr von dem Mythos spricht, sondern statt dessen von mythischen Texten, stellt sich in jene geisteswissenschaftliche Tradition, die das Phänomen Mythos erst sichtbar machte und problematisierte. Es soll deshalb nicht nur von meiner eigenen Verfahrensweise die Rede sein, sondern auch von der wissenschaftlichen Tradition, die diese erst ermöglichte. Die Trennung des Mythos von konkreten überlieferten Texten ergab sich zwangsläufig mit der Herausbildung des wissenschaftlichen Begriffes Mythos durch Christian Gottlob Heyne (1729-1812):1 Er machte die vielen, von seinen Zeitgenossen als absurd empfundenen Geschichten, auf die in antiken Texten angespielt wird, als solche zu einem eiklärungsbedürftigen Objekt jener umfassenden Altertumswissenschaft, deren Begründer er war. Damit einher ging die Festsetzung einer logischen und chronologischen Priorität des Mythos gegenüber den konkreten antiken Texten, in denen er überliefert ist. Der Mythos liegt dem literarischen Text als Stoff zugrunde, die Mythen selbst stammen - wie Graf in seinem Überblick paraphrasiert - aus der „Kindheit der Menschheit", die wiederum vergleichbar ist mit der Lebensweise der zeitgenössischen „Wilden", über die in den Berichten der Missionare und Entdeckungsreisenden zu lesen war.2 Wie verschieden die im 18. und 19. Jh. gebildeten Ansätze zur Erklärung einzelner Mythen auch waren, blieben sie doch alle der Grundannahme verpflichtet, daß ihr Gegenstand außerhalb der konkret untersuchten Texte liege. Dies gilt, stark vereinfachend gesagt, auch für die ritualistischen, strukturalistischen und psychoana-

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Zur Bedeutung Heynes: Graf (1999), 15-17; vgl. auch Jamme (1991), 23-25. Graf (1999), 15.

Zur Lektüre griechischer Mythen

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lytischen Ansätze des 20. Jh.3 Es ist diese Auffassung vom Mythos, die Detienne in seinem 1981 erschienen Buch L'invention de la mythologie dekonstruiert, indem er ihre „archéologie"4 von den antiken Denkern bis ins 20. Jh. nachzeichnet und zum Ergebnis kommt: [...] il n'est aucun épisode de cette longue histoire qui autorise à reconnaître dans le mythe un genre littéraire ou un type de Técit spécifique. Poisson soluble dans les eaux de la mythologie, le mythe est une forme introuvable.5

Doch wie können wir dann über jene Texte sprechen, die uns die Wissenschaft als Gegenstände vorgibt, ohne sie in „den Gewässern der Mythologie" zu verlieren? Vielleicht, indem wir versuchen, die Bedingungen und verschiedenen Formen mythischen Erzählens, eine „Praxis der Mythologie"4 innerhalb der griechischen Kultur historisch möglichst genau zu erfassen,7 und dabei gleichzeitig nicht vergessen, daß es eine ganz bestimmte wissenschaftliche Perspektive ist, die sich mythisches Erzählen als Gegenstand der Beschreibung wählt. Es läßt sich nachweisen, daß bereits seit archaischer Zeit durchaus ein Bewußtsein vorhanden war für die Besonderheit dessen, was wir heute Mythen nennen,8 auch wenn bekanntlich die terminologische Unterscheidung zwischen mythischem Erzählen (μΰθος) einerseits und verifizierbarer argumentativer Rede (λόγος) andererseits explizit erst bei Piaton erscheint.9 So deutet nach Edmunds eine Stelle bei Aristophanes daraufhin, daß auch auf inhaltlicher Ebene eine Unterscheidung getroffen wurde zwischen Reden, die von „Menschlichem" (τά άνθρώπινα) handelten und allen anderen Geschichten, die als „Mythen" (μΰθοι) bezeichnet wurden.10 Diese Unterscheidung läßt sich in gewisser Weise auf die bereits archaische, für das Epos 3

Dies ist sehr vereinfachend formuliert, fur eine differenziertere Darstellung der Forschungsgeschichte des Mythos: Jamme (1991); Graf (1999), 15-57; vgl. auch Vernant (1987), 209ff.; Burkert (1980); Burkert (1993). 4 Detienne (1981), 12. 5 Ebd., 238. 6 Edmunds (1990), 1. 7 Z.B. Burkert (1979), 1-34; A.B. Neschke-Hentschke (1983), Griechischer Mythos. Versuch einer idealtypischen Beschreibung, Zeitschrift für philosophische Forschung 37, 119-38.; dies. (1987), Mythe et traitement littéraire du mythe en Grèce ancienne, Studi classici e orientali 37, 29-60; Edmunds (1990); Pozzi/Wickersham (1991); zur älteren Literatur vgl. Burkert (1980), die Bibliographien in: Bremmer (1987), Edmunds (1990), Burkert (1993) und Graf (1999). * Dies zeigt Edmunds (1990), 1-20, an dem sich die folgenden Ausführungen orientieren. 9 Plat. Gorg. 523a. 10 Edmunds (1990), 2 verweist neben Hdt. 3, 122 auf Aristoph. Vesp. 1179, wo Antikleon seinem Vater empfiehlt, beim Symposion nicht irgendwelche „mythischen Geschichten" (μΰθοι) zu erzählen, sondern „Menschliches" (τά άνθρώπινα).

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Mythos und Ritual in Theorie und Praxis

bezeugte Chronologie zurückführen, die auf die Theogonie das Götter- und Heroenzeitalter und schließlich das Zeitalter der Menschen folgen läßt." Dieser epische Bestand an Geschichten über Götter und Heroen dürfte bereits sehr früh als panhellenischer Kanon, als eine Art Mythologie im modernen Sinn des Wortes wahrgenommen worden sein.12 Gleichzeitig artikulierten die sich neu herausbildenden Poleis von Anfang an ihre Identität in einem komplexen System von aufeinander bezogenen Heiligtümern (insbesondere Heroengräbern), Festen und lokalen Erzählungen aus dem Götter- und Heroenzeitalter.13 Augenfälligstes Merkmal all dieser Geschichten über Götter und Heroen ist ihre Traditionalität:14 sie wurden immer wieder erzählt, dabei aber auch variiert, auf neue Situationen „angewandt". Eine mythische Erzählung läßt sich deshalb für die griechische Antike mit Burkert als „angewandte Erzählung" („tale applied") definieren.15 So wurde es möglich, daß sich die Tradition mythischen Erzählens über die Jahrhunderte hin erstreckte und immer wieder neue Funktionen erhielt: Die in den homerischen Epen erzählten Mythen evozierten ursprünglich wohl eine glanzvolle, gemeinsame Vergangenheit jener vermutlich aristokratischen Gesellschaft, in der sie zuerst vorgetragen wurden, die für uns aber historisch kaum mehr faßbar ist.16 Die neu entstehenden Poleis wiederum gründeten, wie bereits erwähnt, ihre Identität auf lokale Traditionen, die Geschichte einer Polis war identisch mit den Geschichten über ihre Heroen und Götter. Doch auch die epische, panhellenische Tradition fand ihren Platz in der Polisreligion: Epen wurden an den Festen der Polis rezitiert, die Dichtung von Chorlyrik und Tragödie orientierte sich am epischen Material. Damit kam es auch zu unzähligen Verknüpfungen von lokalen mit panhellenischen Traditionen; durch die neuen Darstellungsweisen in Chorlied und Tragödie wurden die alten Inhalte gleichzeitig neu diskutiert.17 In seiner politischen, quasi-historischen Funktion behielt der

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Hes. erg. 106-201; 159f. Edmunds (1990), 4 fuhrt u.a. die bekannte Herodotstelle 2, 53 an; zu Herodots „religionsgeschichtlichen" Überlegungen vgl. W. Burkert, Herodot über die Namen der Götter: Polytheismus als historisches Problem, MH 42 (1985), 121-32. Pozzi/Wickersham (1991), 1-15; Sourvinou-Inwood (1988a). Auch dies gilt bereits in der Antike als Eigenschaft des mythischen Diskurses, dazu Burkert (1979), 3 mit Verweis auf Eur. fr. 484 und Plat. symp. 177a. Burkert (1979), 22-26. Zu den mythischen Erzählungen des Epos: Graf (1999), 58-78 mit bibliographischen Angaben. Zur historischen Dimension des in den Epen geschilderten Gesellschaftssystems vgl. Ulf (1990); Wagner-Hasel (2000), 18f. Zur Bearbeitung der mythischen Erzählungen in der Tragödie vgl. z.B. Ch. Segal (1986), Interpreting Greek Tragedy: Myth, Poetry, Text, Ithaka/London, 48-74; H.-T. Lehmann (1991), Theater und Mythos. Zur Konstitution des Subjekts im Diskurs der antiken Tragödie, Stuttgart.

Zur Lektüre griechischer Mythen

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mythische Diskurs seine Bedeutung.18 auch wenn gleichzeitig konkurrierende, philosophische Deutungsmodelle entstanden. Schließlich wurde, nicht zuletzt als Folge einer immer mehr von Schriftlichkeit geprägten Kultur und einer gewaltigen Ausdehnung des geographischen Horizonts, das Wissen über Geschichten wichtiger als das Erzählen von Geschichten: Dies fand seinen Ausdruck in der hellenistischen Mythologie und der Erscheinung des poeta doctus. 19 Jeder mythische Text ist also gleichzeitig traditionelle Wiederaufnahme und individuelle Variation und damit möglicherweise immer auch schon Kritik oder zumindest Diskussion einer bereits bestehenden Erzählung. Jan und Aleida Assmann schlagen als Bezeichnung für diesen Vorgang den aus der Rhetorik entlehnten Begriff der „Hypolepse" vor, der die Anknüpfung an das, was der Vorredner gesagt hat, bezeichnet.20 Es ist offensichtlich, daß dabei mündliche Erzähltraditionen schriftlich fortgesetzt wurden, die im übrigen die ganze Antike hindurch lebendig blieben.21 Für uns jedoch existieren mythische Erzählungen immer nur als - hypoleptische - Texte. Es gibt keine rekonstruierbare Urfassung - der Mythos ist tatsächlich „ein Text, den es nicht gibt".22 Statt dessen finden wir nur immer wieder neue „Kristallisationen",23 deren Form bestimmt ist durch die sich ändernden soziokulturellen Bedingungen, denen Autor und Rezipient unterworfen sind. Doch gehorchte 18

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Zur historischen Funktion von Mythen vgl. Brillante in: Edmunds (1990), 93-138. Zu dieser Epoche der griechischen Mythologie vgl. Graf (1999), 168-89; die spezifische Verfahrensweise der hellenistischen Mythographie ist bis jetzt noch kaum untersucht, dazu A. Henrichs, Three Approaches to Greek Mythography, in: Bremmer (1987), 24277. J.U.A. Assmann (1988), Schrift, Tradition und Kultur, in: W. Raíble (Hrsg.), Zwischen Festtag und Alltag: Zehn Beiträge zum Thema „Mündlichkeit und Schriftlichkeit" (ScriptOralia 6), Tübingen: „Wer anknüpft, wiederholt nur einen kleinen Bestandteil, eben gerade soviel, daß der nächste Beitrag nicht in der Luft hängt. Partielle Wiederholung ist also ebenso sehr eine Bedingung des Neuen, wie totale Wiederholung die Entstehung von Neuem veninmöglicht. Das mit dem hypoleptischen Prinzip gekoppelte Instrument ist die Kritik. Mit diesem Instrument wird die Überlieferung durch einzelne Korrektur- und Überholungsschritte in einem unendlichen Prozeß bearbeitet. Kritik im Zusammenhang mit der Hypolepse bedeutet einen kontrollierten Kampf gegen die Tradition unter der Prämisse der Kontinuität" (47). Edmunds (1990), 6. V. Masciadri (1996), Die antike Verwechslungskomödie. „Menaechmi", „Amphitruo" und ihre Verwandtschaft, Stuttgart, 46. Burkert (1979), 22-29. Neschke-Hentschke (1983, s.o. Anm.), 137 spricht von „Darstellungen", sie geht dabei von einem Autor aus, der frei über einen bestimmten Stoff verfügt, ihn „darstellt". Dies trifft den historischen Sachverhalt m.E. jedoch nicht genau, weil dabei nicht berücksichtigt ist, daB antike Literatur, in der die „Kristallisationen" des Mythos faßbar sind, immer situativ ist, d.h. in einen bestimmten soziokulturell vorgegebenen Rahmen gehörte. Vgl. zu dieser Dimension der griechischen Literatur Rosier (1980), 45-56.

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Mythos und Ritual in Theorie und Praxis

dieses Prinzip der Hypolepse irgendwelchen Regeln, die bestimmten, was wie verändert werden darf und was gleich bleiben muß? Diese Frage impliziert die Auffassung, daß mythisches Erzählen eine Art Sprache sei, deren Grammatik sich ableiten und in Regeln beschreiben ließe. Graf weist daraufhin, daß bereits in der Romantik, insbesondere bei Friedrich Creuzer (1771-1848), die Auffassung entstand, daß der Mythos eine eigene Sprache, eine „symbolische Ausdrucksform" sei, wobei Creuzer allerdings beim Versuch, deren Grammatik zu rekonstruieren, „bei der Etymologie stehenblieb".24 Erst im modernen Strukturalismus wurden unter dem Einfluß einer soziologischen Auffassung von Religion, wie sie von Émile Durkheim (1858-1917) herausgebildet worden war, die Mythen tatsächlich als eigenes, der Sprache analoges Kommunikationssystem aufgefaßt.25 Es folgte konsequenterweise der Versuch, dieses als Sprache aufgefaßte Zeichensystem mit Hilfe der v.a. von de Saussure entwickelten strukturalen Linguistik zu analysieren: Claude Lévi-Strauss beschrieb eine auf binären Oppositionen der Erzählmotive beruhende unbewußte Logik mythischen Denkens.26 Eine zweite, ebenfalls auf die strukturale Linguistik zurückgehende Forschungsrichtung versuchte, eine Erzählgrammatik abzuleiten, deren Regeln dem Ablauf jeder beliebigen Erzählung zugrunde liegen sollten.27 Aus „poststrukturalistischer" Sicht erwiesen sich jedoch beide Verfahren als unzulänglich:28 Die Erzählgrammatik reduziert die Erzählung auf eine Aneinanderreihung von kausal verknüpften Handlungen, wobei die paradigmatische Ebene, d.h. der semantische Gehalt einzelner Motive, vernachlässigt wird. Umgekehrt reduziert die Dekodierung nach der Methode von LéviStrauss die Erzählung auf die paradigmatische Ebene. Werden binäre Oppositionen, mit denen mythische Texte tatsächlich oft arbeiten, lediglich als Ausdruck eines universellen menschlichen Denkens aufgefaßt, so gerät deren Ideologiecharakter innerhalb einer spezifischen Gesellschaft aus dem Blickfeld.29 Binäre Oppositionen reichen überdies nicht aus, um das komplexe

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Graf (1999), 26f. Zu Durkheim vgl. unten p.lS; Ein kurzer Überblick zur strukturalistischen Mytheninterpretation bei Graf (1999), 47-57; vgl. auch Neschke-Henschke (1978), Griechischer Mythos und strukturalistische Anthropologie, Poetica 10, 135-53. C. Lévi-Strauss (1955), The Structural Study of Myth, in: Journal of American Folklore, 78 (Nr. 270), 428-44. Den wichtigsten Impuls gaben die Arbeiten des Russen Vladimir J. Propp (1895-1970), vgl. unten Anm. 99; Zu deren Weiterentwicklung zur strukturalistischen narrativen Grammatik: A.L. Greimas, Elemente einer narrativen Grammatik, in: H. Blumensath (Hrsg.) (1972), Strukturalismus in der Literaturwissenschaft, Köln, 49-67. Zu Propp: Martin/Martin (1984), ix-lxxxi. Für einen kurzen Überblick zum .Joststrukturalismus" vgl. Eagleton (1997), 110-37. Ebd., 117.

Zur Lektüre griechischer Mythen

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Gefüge, das die Zeichen einer Sprache bilden, zu beschreiben.30 Dies gilt ganz besonders fur die „Sprache" des mythischen Erzählens: Bezogen auf die griechischen Mythen formulierte Vemant 1974: Im Erzählverlauf und in der Aufteilung semantischer Felder schafft der Mythos gerade zwischen den Begriffen, die er in seinem kategorialen Gerüst unterscheidet und einander entgegensetzt, Übergänge, Verschiebungen, Spannungen und Oszillationen, als implizierten sich die Begriffe irgendwie, auch wenn sie einander ausschließen. Die im Mythos eingesetzte Logik könnte man daher im Unterschied zur widerspruchsfreien Logik der Philosophen eine Logik der Ambiguität, Mehrdeutigkeit und Polarität nennen.

Vemant fragt schließlich, wie sich diese „Schaukeloperationen in Worte fassen oder gar formalisieren" ließen.31 Als Lösung dieses Problems möchte ich vorschlagen, die „Schaukeloperationen" eben nicht zu formalisieren (und damit zu beseitigen), sondern sie zuerst einmal in Worte zu fassen. Die Logik der mythischen Erzählungen, die sich wohl am besten mit Bourdieus Begriff als „Logik der Praxis"32 bezeichnen läßt, und als solche situationsgebunden und relational33 ist und vorwiegend nach den Prinzipien von Analogie und Polarität funktioniert,34 kann - so hoffe ich mit der vorliegenden Arbeit zu zeigen - durchaus beschrieben werden. Was die Interpretation der einzelnen mythischen Erzählung betrifft, soll nach Möglichkeit sowohl der Ablauf der Erzählung als auch die paradigmatische Ebene berücksichtigt werden.35 So ist es meines Erachtens beispielsweise unzulässig, Kaineus36 ausschließlich als androgyne Figur37 oder als Vermittler der binären Opposition „weiblich - männlich" zu verstehen,38 da der Ablauf der Erzählung männliche und weibliche Identität klar trennt, indem er sie hintereinander stellt und damit zum Ausdruck bringt, daß ein androgynes Subjekt gerade nicht möglich ist. Dennoch ist der männliche

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Ebd., 11 Of. Vernant (1987), 242. Bourdieu (1993), 147-79. Insofern bleibt die Vorgehensweise „strukturalistisch"; vgl. dazu Bourdieu (1993), 12, der bemerkt, daß die entscheidende Neuheit des Strukturalismus war, „daß [...] das relationale Denken in die Sozialwissenschaften eingeführt wurde, das mit dem substantialistischen Denken bricht und dazu führt, jedes Element durch die Beziehungen zu charakterisieren, die es zu anderen Elementen innerhalb eines Systems unterhält und aus denen sich sein Sinn und seine Funktion ergeben." Vgl. dazu für den Bereich der frühgriechischen Philosophie G.E.R. Lloyd (1966), Polarity and Analogy: Two Types of Argumentation in Early Greek Thought, Cambridge. Vernant (1987), 177-94, führt dies exemplarisch am Prometheus-Mythos des Hesiod vor. Vgl. unten Kap. Π. Z.B. Delcourt (1953). So Brisson (1976) bei der strukturalistischen Interpretation des Teiresias - Mythos.

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Mythos und Ritual in Theorie und Praxis

Kaineus tatsächlich kein „richtiger" Mann und stirbt im Grunde einen für Frauen typischen Tod. Insofern ich die mythischen Motive auf paradigmatischer Ebene, in ihrer Zeichenfunktion lese, setze ich sie zu ähnlichen oder gleichen Motiven anderer Texte in Beziehung. So läßt sich beispielsweise die Unverletzlichkeit des Kaineus mit weiteren Mythen über unverletzliche Helden wie Achilleus oder Aias in Verbindung bringen. Auf diese Weise lassen sich allerdings beinahe alle Texte einer Kultur miteinander verknüpfen, es entsteht ein einziger strukturalistischer bzw. semiotischer „Megatext".39 Die historische Sichtweise trifft hier jedoch eine bestimmte Auswahl, indem sie nur Texte aus der gleichen Epoche aufeinander bezieht. Schließlich gilt es, die oben beschriebene Dynamik von Tradition und Innovation anhand der überlieferten Texte nachzuzeichnen und dabei die Entstehungsbedingungen der einzelnen Texte soweit wie möglich zu berücksichtigen. Gefragt wird also nicht in erster Linie nach dem, was gleich bleibt, sondern nach den Unterschieden zwischen den Texten. Gerade hier, in jenem Vorgang, den Pindar als Verwandlung von απιστον in πιστόν beschreibt, eröffnet sich, gewissermaßen zwischen den Texten, ein Blick auf deren historische Dimension. Die Erzählerinnen und Erzähler von Mythen verwandeln mit Hilfe von Charis (χάρις) - was an dieser Stelle soviel wie „Dichtkunst" heißen muß - „Unglaubwürdiges" in „Glaubwürdiges".40 Pindar scheint diesen Vorgang zu kritisieren - um nachher mit dem Pelops-Mythos in eben dieser Weise zu verfahren.41 Was jedoch als glaubwürdig oder unglaubwürdig gilt, ist von der sich ändernden sozialen Ordnung bestimmt, die außerhalb des jeweiligen Textes liegt und für uns aus anderen Diskursen, beispielsweise dem ikonographischen oder dem juridischen, zumindest ζ. T. rekonstruierbar ist. Es geht also um den Versuch, „Denkformen und Gesellschaftsformen" aufeinander zu beziehen, eine Methode, die vor allem von der sogenannten „Pariser Schule" um Jean-Pierre Vemant, Pierre Vidal-Naquet und Marcel Detienne in der Nachfolge von Louis Gernet entwickelt wurde.42 Ziel ist dabei jedoch nicht die Herstellung

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Segal (1986), 50. Pind. O. 1, 30-32: Χάρις δ', απερ άπαντα τεύχει τα μείλιχα θνατοΐς, | έπυρέροισα τιμάν καί απιστον έμήσατο πιστόν | έμμεναι τό πολλάκις. „Charis, die Sterblichen all das Liebliche bereitet, | trägt Geltung auf und ersinnt vielfach, da£ auch Unglaubliches I glaublich sei [...]." Übersetzung: Bremer (1992). Zum mythischen Erzählen bei Pindar: Krummen (1990), 28, 157, 169 u.ö. Vgl. dazu z.B. Vidal-Naquet (1989), 10-15; Vemant (1997), 37-39; zu Gernet: das Vorwort von Vemant in: L. Gemet (1982), Anthropologie de la Grèce antique. Préface de J.-P. Vernant, Paris; S.C. Humphreys (1983), Anthropology and the Greeks, 2. Aufl. London. Auch außerhalb der Altertumswissenschaft läßt sich diese Zugangsweise als Methode innerhalb der Literaturwissenschaft ausmachen, vgl. zu ihrer Geschichte in Deutschland und Frankreich: Jurt (1995), 3-67. Jurt weist im letzten Abschnitt seines Überblicks auf neuere Entwicklungen in Frankreich hin, wo sich der Ansatz der söge-

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eines kohärenten Systems, eines widerspruchsfreien Weltbildes; dies ist im Falle der griechischen Kultur schon wegen der bruchstückhaften Überlieferung nicht möglich.43 Vielmehr geht es darum, in jedem Einzelfall Entsprechungen zwischen sozialer und symbolischer Ebene zu suchen, ohne dabei zu vergessen, daß jeder Text über eine Spezifität verfügt, die in der sozialgeschichtlichen Dimension nie ganz aufgehen kann.44 Ich gehe also davon aus, daß, um eine Formulierung von Geertz zu verwenden, „kulturelle Handlungen", wie beispielsweise das Dichten und Vortragen eines Siegesliedes, immer auch „soziale Handlungen" sind.45 Dies gilt in ganz spezifischer Weise für mythische Texte der griechischen Kultur: Die oben beschriebene Veränderbarkeit, die „Kristallisation" mythischer Texte ist ursächlich gebunden an ihre Anwendung in einem ganz bestimmten Bereich historisch faßbarer sozialer Realität: Griechische Mythen handeln immer von Gestalten, Heroen und Göttern, die kultisch verehrt wurden. Sie haben einen engen Bezug zur rituellen - und damit gleichzeitig zur sozialen und politischen - Praxis der Polis.46 Ich wähle für meine Beschreibung mythischer Texte diese Perspektive, die man natürlich auch eine religionswissenschaftliche nennen kann, insofern sie sich auf jenen Bereich der griechischen Kultur konzentriert, der sich mit dem Begriff „Polisreligion" umschreiben läßt. Auch hier soll zuerst kurz von der Tradition die Rede sein, aus der diese Perspektive ererbt ist, anschließend von meinem Versuch, sie für das mir vorliegende Material zu präzisieren.

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nannten „socio-critique" seiner Meinung nach erfolgreich darum bemüht, „der literarischen Spezifizität Rechnung zu tragen, ohne dabei das Soziale im Text zu evakuieren" (67). Vidal-Naquet (1989), 12; Geertz (1997), 26, warnt davor, von einer derartigen Analyse lückenlose Kohärenz zu erwarten, denn: „Nichts jedoch ist kohärenter als die Wahnvorstellung eines Paranoikers oder die Geschichte eines Schwindlers." Burkert (1993), 17 spricht davon, daß der Versuch, über historische Rekonstruktionen aus Texten auf die Ebene außerhalb des Textes zu schließen, eine „wilde Zuordnung" sei, „unreflektiert, konkret, oft aber doch schon wieder konventionell und eingespielt". Daß sich die Zuordnungen nicht in allzu „konventionellen" und „eingespielten" Bahnen bewegen, läßt sich m.E. durch geduldiges Hinterfragen der eigenen ebenso wie der aus der wissenschaftlichen Tradition ererbten Vorurteile wenigstens zum Teil vermeiden. Douglas (1981), 7 spricht von einer „Kohärenz" zwischen sozialer und symbolischer Ordnung, die sich aber nur am konkreten Beispiel zeigen lasse. Jurt (1995) bemerkt im Zusammenhang mit der Vorgehensweise der „socio-critique": „Zwischen literarischen und historischen Fakten besteht nicht eine kausale, sondern eine serielle Entsprechung" (65). Geertz (1997), 50: „Kulturelle Handlungen - das Bilden, Auffassen und Verwenden symbolischer Formen - sind soziale Ereignisse wie all die anderen auch; sie sind ebenso öffentlich wie eine Heirat und ebenso beobachtbar wie etwa die Landwirtschaft." Burkert (1979), 23f. stellt fest, daß es dies ist, worin sich griechische Mythen von der allgemeinen Kategorie der „traditional tales" unterscheiden.

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Mythos und Ritual in Theorie und Praxis

2. Mythen und Rituale in der Polisreligion 2.1. Myth and Ritual Während die Mythologie schon am Ende des 18. Jh., nachdem sie bis dahin fester Bestandteil der Tradition gewesen war, zu einem ,3ezirk der Fremdheit" wurde,47 geschah dies mit religiösen Handlungen, dem „Cultus" oder „Ritual", erst am Ende des 19. Jh. Erst jetzt scheint die seit der Aufklärung immer größer werdende Distanz zur eigenen Religion groß genug, daß religiöses Verhalten an sich - und nicht nur der „irrationale" Mythos - zum „Fremden" und damit Erklärungsbedürftigen wird. Die sogenannten Cambridge Ritualists, William Robertson Smith (18461894), James George Frazer (1854-1941) und Jane Ellen Harrison (18501928), gehörten zu den ersten, die das Ritual als eigene, erklärungsbedürftige Kategorie wahrnahmen und es mit dem Mythos, der als religiöse Erzählung aufgefaßt wurde, verknüpften.48 Graf weist daraufhin, daß bereits Heyne bei seiner Herausbildung des Mythosbegriffes diesen in enger Verbindung mit der Dimension der religiösen Bräuche sah.49 Für die Cambridge Ritualists waren jedoch vor allem die Arbeiten Wilhelm Mannhardts (1831-1880) wichtig, der die europäischen Volksbräuche systematisch sammelte und interpretierte; durchgängiges Erklärungsmuster bildete dabei die Landwirtschaft, insbesondere die Sorge um die Fruchtbarkeit.50 Ähnlich erklärte auch Frazer die unzähligen ethnologischen Belege für Rituale und mythische Geschichten, die er in seinem Hauptwerk, The Golden Bough, gesammelt hatte,51 mit einem funktionalistischen Konzept von Magie: die unaufgeklärten „Wilden" versuchen, die ihnen unverständliche und feindliche Natur durch magische Handlungen in den Griff zu bekommen. Auch auf der Ebene der Mythen diente die Natur als Erklärungsmuster: am bekanntesten ist wohl Frazers von Mannhardt inspirierte Interpretation vorwiegend orientalischer 47

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F. Cramer (1977), Verkehrte Welten. Zur imaginären Ethnographie des 19. Jahrhunderts, Berlin, 39. Zu den Cambridge Ritualists: die Beiträge in: Calder (1991); vgl. auch R. Ackerman (1991), The Myth and Ritual School. J.G. Frazer and the Cambridge Ritualists, New York/London; zu einer umfassenden Forschungsgeschichte der Myth and Ritual-Theorie: Versnel (1993), 16-88. Graf (1999), 44. Z.B. W. Maimhardt (1875-77), Wald und Feldkulte, Bd.I: Der Baumkultus der Germanen und ihrer Nachbarstämme. Mythologische Untersuchungen; Bd. II: Antike Waldund Feldkulte aus nordeuropäischer Überlieferung erläutert, Berlin (Nachdruck Darmstadt 1963). J.G. Frazer (1890), The Golden Bough. A Study in Comparative Religion I-II, London; 3. Auflage mit neuem Untertitel: ders. (1907-1915) The Golden Bough. A Study in Magic and Religion Ι-ΧΠ, London 1907-1915; separat publiziert: Bd. IV: Adonis, Attis, Osiris, London 1906,21907.

Mythen und Rituale in der Polisieligion

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Götter als „Vegetationsgottheiten" („gods of vegetation"), nach der die mythischen Erzählungen von ihrem Tod und ihrer Wiedergeburt den Ablauf der Jahreszeiten symbolisieren." Für die Formulierung eines Zusammenhangs zwischen Mythos und Ritual wurde das Konzept der Evolution herangezogen, war doch 1859 Darwins On the Origins of Species erschienen:53 Das Eigentliche, Ursprüngliche ist demnach das Ritual, der Mythos hingegen ist nur nachträgliche Erklärung mißverstandener Rituale; dezidiert äußert sich beispielsweise Robertson Smith in seinen 1889 erschienen Lectures on the Religion of the Semites für die Priorität des Rituals gegenüber den Mythen.54 Harrison55 formulierte diese Behauptung, vermutlich unabhängig von Frazer, als erste für den griechischen Befìind. Dies geht aus ihrer Einleitung zu einer 1890 unter dem bezeichnenden Titel Mythology & Monuments of Ancient Athens erschienen Übersetzung von Pausanias' „Attica" hervor.56 Doch es war ebenfalls Harrison, die das evolutionistische Modell 20 Jahre später wieder aufgab. Inzwischen hatte sich ein gegenüber den Ansätzen von Mannhardt und Frazer neues Modell der Erklärung von Religion durchgesetzt, das im Grunde bis heute verwendet wird: Religion wird grundsätzlich als soziales Phänomen gesehen, durch religiöse Rituale und die damit verbundenen symbolischen Systeme wird soziale Kohäsion hergestellt, der einzelne an eine bestimmte Gruppe gebunden, die sich ihrerseits wiederum über ihre Ordnung durch Rituale und mythische Texte verständigt. Harrison nahm diese soziologischen Ansätze in ihrem 1912 erschienen Buch Themis mit dem Untertitel A Study in the Social Origins of Greek Religion auf. In diesem Buch formuliert sie den Zusammenhang von Mythos und Ritual in der griechischen Religion neu: Mythos und Ritual entstehen gleichzeitig und beziehen sich aufeinander als λεγόμενον („was gesagt wird") und δρώμενον („was getan wird").57 Sie bezeichnet außerdem beide als eine Art 52

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Zentral ist der Komplex im IV. Bd. des Golden Bough (Adonis, Attis, Osiris); vgl. dazu Burkert (1979), 99f. Schlesier (1994), 157f. Robertson-Smith ( 1889), 19. Zu Harrisons Interpretation der griechischen Religion: Schlesier (1994), 145-92. Mythology & Monuments of Ancient Athens. Being a translation of a portion of the „Attica" of Pausanias by Margaret de G. Verrait. With introductory essay and archaeological commentary by Jane E. Harrison, London/New York 1890. Doit heißt es auf Seite iii: „My belief is that in many, even in the large majority of cases ritual practice misunderstood explains the elaboration of myth [...]."; ebenfalls diesem Grundgedanken verpflichtet ist ihre Studie Prolegomena to the Study of Greek Religion von 1903. Neben Mannhardt und Lobeck war fur Harrison auch K.O. Müller wichtig, dessen Prolegomena zu einer wissenschaftlichen Mythologie 1840 ins Englische übersetzt worden waren; dazu Schlesier (1994), 149-57. Harrison (1927), 328f.: ,Jt [sc. der Mythos, K.W.] is the spoken correlative of acted rite, the thing done; it is to legomenon as contrasted with or rather as related to to dromenon."

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Mythos und Ritual in Theorie und Praxis

Sprache, als „utterance of emotion", und nimmt damit, indem sie den soziologischen Ansatz verwendet, bereits strukturalistische Zugänge vorweg.58 Harrison rezipierte in erster Linie die Arbeiten von Durkheim. Dessen Ansätze lassen sich aber ihrerseits wiederum auf ältere Arbeiten zurückführen: Bereits Numa Denis Fustel de Coulanges (1830-1889) hatte in seinem 1864 erschienen Buch La Cité antique, der ersten sozialgeschichtlichen Studie der antiken Gesellschaft überhaupt, die antike Religion auf soziale Gegebenheiten zurückgeführt: für ihn entsteht sie aus dem in der Familie situierten Ahnenkult.59 Robertson Smith verschob demgegenüber jedoch den Fokus in entscheidender Weise: Unter dem Eindruck von Frazers Studien zum Totemismus, den er verallgemeinert, erklärt er den die einzelne Familie überschreitenden Clan zur Grundlage und ursprünglichen Form der Gesellschaft.60 Damit vollzog sich, was die Sichtweise des Verhältnisses von Familie und Gesellschaft betrifft, eine wesentliche Verschiebung der Gewichtung: Grundlegend für die Kultur ist nun nicht mehr die Familie, sondern die die Verwandtschaft überschreitende Gesellschaftsform,61 bei Freud wird sie in Anlehnung an Darwin „Urhorde" heißen.62 Religion, und insbesondere das gemeinsame Opferritual, dient nach Robertson Smith dazu, den „Totemclan" zusammenzuhalten, wobei die Teilnehmer durch das gemeinsame Opfermahl sowohl untereinander als auch mit den Göttern verbunden würden.63 Daraus ergibt sich für Robertson Smith die grundsätzlich soziale Funktion von Religion: „Religion did not exist for the saving of souls but for the preservation and welfare of society [,..]."64 Hier knüpfte wiederum Durkheim an, der zum Begründer der modernen Soziologie wurde; er übernahm insbesondere Robertson Smiths Sichtweise des Opferrituals und betont em58

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Ebd.,16: „[...] they [sc. Mythos und Ritual, K.W.] probably arose together. Ritual is the utterance of an emotion, a thing felt, in action, myth in words or thoughts. They arise pari passu." N.D. Fustel de Coulanges, Der antike Staat. Kult, Recht und Institutionen Griechenlands und Roms. Mit einer Einleitung von K. Christ, übersetzt von I.M. Kraft, Stuttgart 1981. Robertson Smith (1889), 117 zitiert J.G. Frazer (1887), Totemism, Edingburgh. Zu den verschiedenen Imaginationen einer „Urgesellschaft" vgl. (im Zusammenhang der Geschichte der Herausbildung von Matriarchatstheorien) Wagner-Hasel (1992), 340f., Anm. 26. Freud beruft sich in der 1912/13 erstmals erschienen Artikelfolge Totem und Tabu besonders auf die Werke von Frazer und McLennan: Freud (1991), 49, Anm. 1 u. 2; Allerdings sieht er die Urhorde ( „Ein gewalttätiger, eifersüchtiger Vater, der alle Weibchen für sich behält und die heranwachsenden Söhne vertreibt, nichts weiter") nur als historisch nicht mehr faßbare Vorstufe des Totemismus; „Was wir als primitivste Organisation finden, [...] das sind Männerverbände, die aus gleichberechtigten Mitgliedern bestehen [...]."( ebd. 195). Robertson Smith (1889), 290: „[...] united with one another and with their god by participation in one life or life-blood." Robertson Smith (1889), 30.

Mythen und Rituale in der Polisreligion

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phatisch die den einzelnen übersteigende Kraft des Kollektivs, die in religiösen Ritualen und Erzählungen erfahrbar werde und die ihrerseits den gesellschaftlichen Zusammenhalt verstärke.65 Harrison distanzierte sich unter dem Eindruck der Katastrophe des Ersten Weltkrieges wieder von der von Durkheim übernommenen Begeisterung für das Kollektiv.64 Ihr Grundgedanke, Mythos und Ritual in der griechischen Religion gemeinsam und aufeinander bezogen zu betrachten, erweist sich jedoch, in Verbindung mit einer im weitesten Sinne kultursoziologischen Sichtweise des Phänomens Religion, bis heute als wissenschaftlich produktiv. So wurden Harrisons Ansätze in der französischen Altertumswissenschaft mit den sich aus der Sozialanthropologie entwickelnden strukturalistischen Verfahrensweisen verbunden.67 Das oben beschriebene, in dieser Tradition stehende Vorgehen, Denk- und Gesellschaftsformen gemeinsam zu betrachten, erlaubt es, jenseits von evolutionistischen Konstruktionen, religiöse Bräuche und Texte aufeinander zu beziehen. Im deutschsprachigen Raum wurde eine derartige Betrachtungsweise der griechischen Religion erst in den 60er Jahren von Burkert (wieder) eingeführt.68

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E. Durkheim (1912), Les formes élémentaires de la vie religieuse. Le système totémique en Australie, Paris. Zum Verhältnis von Durkheim zu den Cambridge Ritualists und zu Dürkheims Religionssoziologie vgl. R.A. Jones, La Genèse du systeme? The Origins of Durkheim's Sociology of Religion, in: Calder (1991), 97-121. 66 Vgl. die Bemerkungen in ihrer autobiographischen Vorlesung Alpha & Omega, London 1915, 234f., zitiert nach Schlesier (1991), 199 Anm. 51. 67 Gemet rezipiert Harrison in seinem 1928 erstmals erschienen Aufsatz „Frairies antiques"; jetzt in: Gemet (1976), 21-61; wichtiger noch ist Jeanmaires Weiterführung von Harrisons Ansatz in seiner 1939 erschienen Monographie zum Initiationsritual, vgl. dazu unten p.43. ** Hier waren etwa gleichzeitig zu den Arbeiten der Cambridge Ritualists in den Werken von Hermann Usener (1834-1905) und Albrecht Dieterich (1866-1908) ebenfalls der „Cultus" und die „Heilige Handlung" in den Mittelpunkt des Interesses getreten. In der Folge setzte sich jedoch die von und Ludwig Deubner (1877-1946) und Martin P. Nilsson (1874-1967) vertretene Ansicht durch, daß nur die - meist nach dem Schema Mannhardts erklärte - Handlung der historischen Betrachtung wert sei, während der Mythos der Literatur zugerechnet wurde, vgl. Burkert (1980), 178. Die auf die Ansätze von Usener und Dieterich zurückgreifende Gegenbewegung hingegen führte zu Walter F. Ottos (1874-1958) Verklärung des Irrationalismus; soziologischen Ansätze, wie sie von den Cambridge Ritualists ausgehend in Frankreich und England entwickelte wurden, rezipierte die deutsche Altertumswissenschaft kaum, dazu R. Schlesier, „Arbeiter in Useners Weinberg": Anthropologie und antike Religionsgeschichte in Deutschland nach dem zweiten Weltkrieg, in: H. Flashar (Hrsg.) (1995), Altertumswissenschaft in den 20er Jahren. Neue Fragen und Impulse, Stuttgart, 329-80. Bei der modifizierten Wiederaufnahme des Myth and Ritual-Ansatzes durch Burkert spielte das Konzept des Initiationsrituals, vermittelt durch die Arbeiten von Angelo Brelich eine wichtige Rolle; vgl. unten p.36.

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Mythos und Ritual in Theorie und Praxis

Diese Produktivität des Myth and Ritual-Aas&\zes liegt darin begründet, daß er - wie jedes gute wissenschaftliche Modell - ein ausgesprochen geeignetes Werkzeug zur Beschreibung des historischen Befundes darstellt: Harrisons Formulierung der These von λεγόμενον und δρώμενον war nicht nur eine Folge des Einflusses Dürkheims, sondern beruhte gleichzeitig auf ihrer intensiven Beschäftigung mit den schriftlichen und archäologischen Zeugnissen der griechischen Religion. Denn die Verknüpfung von Mythos und Ritual, die Verbindung von Geschichten über Heroen und Götter mit dem Herstellen einer Beziehung zu eben diesen Gestalten durch rituelle Handlungen, insbesondere durch das Opfer,69 ist kennzeichnend für die meisten aus der griechischen Antike überlieferten Texte und Bildzeugnisse.70 Auch wenn das Ritual, ebensowenig wie der Mythos, eine „catégorie indigène" der griechischen Religion darstellt,71 ist es den überlieferten Zeugnissen angemessen, mythische Texte und rituelle Handlungen als grundsätzlich verschiedene, aber immer aufeinander bezogene soziale Praktiken zu beschreiben. Abzulehnen ist jedoch die von Harrison selbst bereits aufgegebene, aber bis heute immer wieder praktizierte evolutionistische Verknüpfung von Mythos und Ritual: diese führt dazu, daß aus Mythen historisch nicht bezeugte Rituale „rekonstruiert" oder Mythen durch ihre „Zurückführung" auf ein bestimmtes Ritual „erklärt" werden.72 Die in der Antike geläufigste Form der Verbindimg von Mythos und Ritual war das Aition.73 Hier lassen sich grob zwei Typen unterscheiden. Zum einen wird die Einrichtung eines bestimmten Kultes und insbesondere einzelner ritueller Handlungen als Sühne für ein in einer mythischen Erzählung begangenes Verbrechen dargestellt.74 Das Motiv des Opfers erscheint dabei oft auf beiden Ebenen: in der Erzählung sterben Menschen als Sühne für ein begangenes Verbrechen, im Ritual wird ein Tier getötet, um den Zorn der Gottheit zu besänftigen. Die Mythen erzählen in diesen Fällen immer von der Störung jener Ordnung, die durch das Ritual aufrecht erhalten wird. Die Transgression, von der diese Mythen erzählen, läßt sich somit direkt auf ein

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Zum Opfer s. unten 2.2.3. Vgl. dazu das exemplarische Kapitel „Mythos, Heiligtum und Fest" zu den Kulten auf Delos in Graf ( 1999), 98-116. Calarne (1991), „Mythe" et „rite" en Grèce: Des catégories indigènes?, Kernos 4, 179204. Dowden (1989) praktiziert beispielsweise ein derartiges Verfahren. Graf (1999), 108 weist daraufhin, daß Aitia alles Mögliche erklären können, wie z.B. auch Naturerscheinungen; ihre Hauptfunktion besteht allerdings in der Erklärung von religiösen Bräuchen. Calarne (1977), 174-90.

Mythen und Rituale in der Polisreligion

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bestimmtes Ritual beziehen.75 Dennoch bleibt die Erzählung selbständig und auch ohne Ritual verständlich. Dies gilt in weit geringerem Maße für eine zweite Gruppe von Aitia. Es handelt sich dabei um Mythen, die parallel zu einer Reihe von rituellen Handlungen erzählt werden, so daß der Eindruck entsteht, es werde auf ritueller Ebene der Mythos quasi theatralisch aufgeführt. Dabei wird oft, wie z.B. im Falle von Plutarchs Theseus-Vita, die Logik des erzählerischen Ablaufes gestört, neue Motive, die auf ein Ritual verweisen wirken eingefügt. Es ist offensichtlich, daß hier - sei es aus religionspolitischen Gründen oder wie im Falle der Atthidographen aus einem ethnographischen Interesse an der Erklärung bestimmter Feste - , Mythos und Ritual ganz bewußt aneinander angeglichen und aufeinander bezogen werden.76 Abgesehen von diesen in den überlieferten Texten und wohl auch in der alltäglichen Praxis explizit hergestellten aitiologischen Beziehungen zwischen Mythos und Ritual bestehen auch eine Reihe impliziter Zusammenhänge zwischen den beiden Ebenen: In mythischen Erzählungen verweisen namentlich genannte Heroen und Götter auf die entsprechenden, oft topographisch bestimmten Kulte, die für Erzähler und Rezipienten des Textes eine soziale Realität darstellten, auch wenn die Erzählung nicht direkt als Aition eines bestimmten Kultes gemeint war. Eine ähnliche Verweisfunktion läßt sich für Gegenstände annehmen, die in mythischen Erzählungen vorkommen und gleichzeitig in rituellen Praktiken eine wichtige Rolle spielten.77 Manchmal lassen sich topographische Verbindungen herstellen, wenn in mythischen Texten Örtlichkeiten genannt werden, die in der kultischen Geographie einer Polis eine wichtige Rolle spielten. Schließlich erscheinen rituelle Handlungen selbst oft als Motive in mythischen Erzählungen, insbesondere das Opfer. Auf den ersten Blick relativ selten ist jener Fall, den Harrison für die Formulierung ihrer These von λεγόμενον und δρώμενον annimmt: daß das Erzählen eines mythischen Textes Teil eines Rituals ist.78 Einer der wenigen Belege, die wir für rituelles Mythenerzählen in engerem Sinne besitzen, be-

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Graf (1999), 113: „[...] es waren die unheimlichen Seiten des Rituals, welche die Griechen heraushoben und welche die Mythen zu erklären versuchen." Caíame (1990) untersucht diese Mechanismen mit Hilfe strukturalistischer Erzahltheorie anhand von Plutarchs Theseus-Vita. Zur Rolle von Gegenständen vgl. Vemant (1997), 185-88. Harrison vermutet, daß der auf Kreta gefundene Kuretenhymnos, der möglicherweise einen Waffentanz begleitete, ein derartiges Verschmelzen von Mythos und Ritual darstellte; gleichzeitig fuhrt sie als Parallele einen angeblich von nordamerikanischen Indianern durchgeführten „Grizzly Bear Dance" an, bei dem der Tänzer einen Bären darstellt und dies in einem Lied gleichzeitig beschreibt, Harrison (1927), 16 (Kureten) und 328 (Bärentanz).

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Mythos und Ritual in Theorie und Praxis

trifft das athenische Fest der Oschophoria.79 In einem weiteren Sinne allerdings fand mythisches Erzählen durchaus in kultischem Rahmen statt: waren doch das Rezitieren von Götterhymnen und Epen ebenso wie der Gesang von Chorliedern mit mythisch erzählenden Passagen Bestandteil zahlreicher griechischer Feste. Zwischen mythischen Erzählungen und Ritualen besteht also kein formalisierbarer, kausaler Zusammenhang.80 Die Verbindung der beiden Ebenen war Angelegenheit einer praktischen, situationsgebundenen Logik. Die oben aufgezählten Verbindungen stellen lediglich eine Auswahl von Möglichkeiten dar, die sich besonders häufig in griechischen Texten finden lassen. Wie die Verbindungen konkret zustande kamen, welche der Möglichkeiten jeweils verwendet wurden, muß im Einzelfall historisch rekonstruiert und beschrieben werden, soweit dies aufgrund des vorhandenen Materials überhaupt möglich ist. Wenn der Zusammenhang zwischen mythischen Texten und Ritualen in der oben geschilderten Weise gedacht und beschrieben werden soll, hat dies nicht nur Auswirkungen auf die Lektüre von Mythen, sondern auch auf die Sichtweise des Phänomens Ritual. Wenn Mythen Texte sind, die sich auf Rituale beziehen, so sind Rituale Handlungen, die sich auf Mythen beziehen.

2.2. Rituale in der Polis Auch im Falle des Rituals geht es mir nicht um eine allgemeingültige Definition. Statt dessen möchte ich versuchen, zu umreißen, in welchen Zusammenhängen und unter welchen theoretischen Voraussetzungen einzelne Rituale und Feste der griechischen Polis in meiner Arbeit beschrieben und mit dem mythischen Diskurs verknüpft werden. Der Ethnologe Gellner betont, daß eine Ritualtheorie nur dann sinnvoll ist, wenn gleichzeitig die spezifischen Bedingungen jener Religion reflektiert werden, für deren Rituale sie gültig sein soll.81 Es soll deshalb zuerst von den historischen Bedingungen der griechischen Polisreligion und erst dann von den Ritualen, die diese ausmachten, die Rede sein.

79 80

81

S. unten Kap. IV 4.2. Graf (1999), 111: .Mythos und Ritual sind also eigenständige Gebilde, die sich zwar punktuell berühren können, aber eigenen Strukturgesetzen folgen." Gellner (1999).

Mythen und Rituale in der Polisreligion

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2.2.1. Polisreligion Ich fasse die griechische Religion82 als Polisreligion auf, die grundsätzlich aus zwei Bereichen, nämlich aus mythischen Erzählungen und religiösen Handlungen besteht. Sourvinou-Inwood bezeichnet mit dem Begriff,»Polisreligion" die Tatsache, daß die soziale Ordnimg der griechischen Stadtstaaten immer gleichzeitig eine religiöse, genauer eine rituelle Ordnung war, bestehend aus einer Vielzahl von Tempeln, Festen und damit mehr oder weniger eng verknüpften lokalen mythischen Figuren und entsprechenden Erzählungen. Die Religion jeder einzelnen Polis hatte aber gleichzeitig immer auch eine panhellenische, überregionale Dimension, die vor allem in den Mythen des Epos, besonders aber in den panhellenischen Festen und Heiligtümern zum Ausdruck kam." Es geht mir also um eine Konzentration auf den kommunalen und sozialen Aspekt der Religion, eine Sichtweise, die letztlich immer noch in der Tradition Dürkheims steht.84 Ich gehe dabei von einer Konzeption von Gesellschaft aus, wie sie vor allem in der französischen Sozialanthropologie entwickelte wurde: Danach ist die Polisgesellschaft wie es Wagner-Hasel umschreibt - „nicht nach Kategorien von Recht, Wirtschaft, Politik, Kultischem und Sozialem oder Privat-Öffentlichem organisiert" - „Kategorien, mit denen institutionelle Grenzziehungen vorausgesetzt werden, wie sie für unsere in hohem Maße verrechtlichte Gesellschaft typisch sind." Statt dessen ist mit „matrimonialen, verwandtschaftlichen und gefolgsähnlichen" Strukturen zu rechnen, wie sie für vormoderne Gesellschaften ganz allgemein typisch sind.85

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Zur Problematik des Begriffes Religion vgl. Schlesier (1991), 185 Anm. 1 und unten Anm. 84. Sourvinou-Inwood (1988), 295: „[...] each polis was a religious system which was part of the more complex world-of-the-polis system interacting with the religious systems of the other poleis and with the Panhellenic religious dimension"; Vgl. auch: dies. (1990),What is Polis Religion? in: O. Murray and S. Price (Hrsg.), The Greek City from Homer to Alexander, Oxford, 295-322. Dabei muß bewußt bleiben, daß dadurch andere Aspekte von Religiosität ausgeblendet werden; ich folge darin Gellner (1999), 58: „Die Kategorie „Religion" muß dekonstruiert und durch eine Hierarchie von (mindestens) drei Typen der Religion ersetzt werden." Die drei Typen bestimmt er als „Erlösungsreligion", „soziale oder kommunale" und „instrumenteile Religion". Obwohl diese Aspekte wohl in keiner Gesellschaft klar getrennt werden können, läßt sich doch behaupten, daß im Falle des antiken Polytheismus der kommunale Aspekt besonders zentral war. Zu Dürkheims Religionssoziologie: M. Douglas, Heilige Wahrheit - Überlegungen zu Dürkheims Begriff des Heiligen, in: Kamper/Wulf (1987), 428-40. Wagner-Hasel (1988), 19, die aufzeigt, daß auf theoretischer Ebene für die Frage nach der Geschlechterdifferenz vor allem das mit diesem Modell verbundene Aufgeben einer Dichotomie von „öffentlich" vs. „privat" wesentlich ist. Vgl. auch Winkler (1997), 138, der im Zusammenhang einer Sappho-Interpretation betont, daß sich sein Interesse auf

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Mythos und Ritual in Theorie und Praxis

Was die Polisreligion betrifft, waren für mich die in dieser Tradition stehenden Arbeiten von François de Polignac besonders aufschlußreich.86 Er beschreibt die Herausbildung der griechischen Poleis nicht nur als territorialen, sondern gleichzeitig auch als sozialen Vorgang, der in der Ausdifferenzierung und Integration zahlreicher verschiedener sozialer Gruppen bestand. Aus religionsgeschichtlicher Perspektive bezeichnet de Polignac diesen sozialen Vorgang als „mise en forme d'une cohésion cultuelle",87 denn die territoriale Organisation der Polis erfolgte, ebenso wie jene der verschiedenen Gruppen, durch eine Vielzahl von Heiligtümern, Ritualen und Festen. So spricht de Polignac in diesem Zusammenhang geradezu von einer „citoyenneté cultuelle" („Kultbürgerschaft").88 Ein Subjekt in der Polis gehörte immer gleichzeitig verschiedenen Gruppen an. So war ein erwachsener Athener Mitglied eines bestimmten Oikos ebenso wie vielleicht einer adligen, männerbündisch organisierten Hetairie, er war Soldat aber auch Landwirt und gleichzeitig Mitglied der Volksversammlung, konnte einem Genos, einer Phratrie, einer Phyle angehören. Eine Athenerin der Oberschicht fühlte sich dem Oikos ihrer Eltern ebenso verpflichtet wie jenem ihres Ehemanns, sie war aber auch den verschiedenen Gruppen von Frauen zugehörig, die gemeinsam, oft im Auftrag der offiziellen Polisreligion, zahlreiche Kulte durchführten. Die Zugehörigkeiten zu all diesen Gruppen wurde durch gemeinsam ausgeführte Rituale und Feste immer wieder neu inszeniert, wobei das Territorium der Polis keine abstrakte Landkarte war, sondern einen kultisch begehbaren und immer wieder begangenen Raum darstellte. Eine derartige Konzeption der griechischen Gesellschaft und der Polisreligion ermöglicht es auch, gesellschaftliche Macht von Frauen, wie sie beispielsweise in der exklusiven, den Frauen vorbehaltenen Ausübung bestimmter, oft ritueller Tätigkeiten zum Ausdruck kommt, in ihren sozialen und symbolischen Zusammenhängen, Möglichkeiten und Beschränkungen wahrzunehmen.89 Sie muß so nicht mehr als survival eines rekonstruierten Matriarchats90 gesehen werden oder als Spur einer angeblich aus dem Orient

86 87 88 89

90

„Machtbeziehungen zwischen Frauen und Männern als zwei Gruppen derselben Gesellschaft" richte. De Polignac (1984). Ebd., 83. Ebd., 79. Der Versuch der Ethnologie, Machtverhältnisse in vormodemen Gesellschaften adäquat zu beschreiben, führte zu einer Abkehr von dem durch Max Weber geprägten Begriff der Macht, der diese als Möglichkeit definiert, innerhalb einer sozialen Beziehung einem anderen gegen dessen Widerstreben den eigenen Willen aufzuzwingen; zu Webers Machtbegriff und der ethnologischen und insbesondere feministischen Kritik daran: I. Lenz/U. Luig (Hrsg.) (1990), Frauenmacht ohne Herrschaft, Wien. Wagner-Hasel (1992).

Mythen und Rituale in der Polisreligion

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oder aus prähistorischer Zeit stammenden Religion der „Großen Göttin".91 De Polignac betont denn auch, daß in der Polis von Anfang an beide Geschlechter an der „citoyenneté cultuelle" gleichermaßen konstitutiven Anteil hatten.92 Rituelles Handeln von Frauen, sei es innerhalb des Oikos, an exklusiven Frauenfesten oder an den zahlreichen Festen der gesamten Polis wird so in seiner politischen Dimension wahrnehmbar. Erst unter diesen Voraussetzungen wird sichtbar, wie die Konstruktion von Geschlechterdifferenz in der Polisreligion funktionierte.93 Dies gilt gerade auch fur jene Feste, die Thema dieses Buches sind, obwohl - oder vielleicht auch weil - an ihnen auf den ersten Blick (junge) Männer im Mittelpunkt standen. Hier läßt sich rituelles Handeln von Männern und Frauen als aufeinander bezogen untersuchen.94 Was aber bedeutete rituelles Handeln in der Polisreligion?

2.2.2. Körper in Raum und Zeit Die Ethnologin Bell weist in ihrem Buch über Ritualtheorien daraufhin, daß der Ansatz, den ich in meiner Arbeit verfolge, nämlich Religion als ein System von sprachlichen Diskursen einerseits und kultischen Handlungen andererseits zu begreifen, ein grundsätzliches Problem in sich berge: Die Trennung von Sprechen bzw. Denken einerseits und Handeln andererseits. Diese spiegle die Situation des Wissenschafters, insbesondere des Ethnologen: Er (der Denkende) beobachtet die „Anderen" (die Handelnden), seine theoretische Logik ist der praktischen Logik der Handelnden überlegen und kann deshalb erklären, was diese selbst nicht wissen.95 Die „Wahrheit" liege aber paradoxerweise auf der Seite der Handelnden: „Im Anfang war die Tat" setzt " 92 93

94

95

Vgl. z.B. Burkert (1972), 85-96. De Polignac (1994), 77-80. Ich wähle also die Perspektive der historischen Gender Studies, die gleichermaßen nach der Konstruktion von Weiblichkeit und Männlichkeit, sowie nach den verschiedenen Lebensbedingungen von Frauen und Männern als Mitglieder ein und derselben Gesellschaft fragen; dazu methodisch grundlegend bleibt: J.W. Scott (1986), Gender: a Useful category of historical analysis, in: American Historical Review 91, 1053-75. Im altertumswissenschaftlich historischen Bereich sind für mich wichtig: Schmitt-Pantel (1984), Blok (1987), Wagner-Hasel (1988), und Winkler (1997); für die Analyse der symbolischen Geschlechterkonstruktion in griechischen Texten v.a. die Arbeiten von N. Loraux, bes. Loraux (1984) und (1989). Was die Polisreligion betrifft, konzentriert sich die Forschung v.a. auf die exklusiven Frauenfeste und sogenannten Frauengöttinnen wie Hera, Artemis, Athena etc., fiir einen Überblick über die neuere Forschung vgl. Beiträge und Bibliographie in Blundell/Williamson (1998). Durch die Konzentration auf Frauenfeste und -Göttinnen wird diese Perspektive in der Forschung bis jetzt vernachlässigt; Ausnahmen sind: Schmitt (1977), Chirassi-Colombo (1979), Cole (1984), Brulé (1987), Foxhall (1995). Vgl. dazu Bell (1992), 19-54, bes. 28.

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Mythos und Ritual in Theorie und Praxis

Freud ans Ende seines Textes über den Urmord, Totem und Tabu.96 Das Ritual, „die Tat" ist der Fluchtpunkt außerhalb des Textes, ist chronologisch und logisch immer vor dem Wort. Doch auch die Erkenntnis der Zusammengehörigkeit und gegenseitigen Bedingtheit der beiden Ebenen bringt letztlich deren Differenz zum Verschwinden. Wie bereits erwähnt, illustriert Harrison ihre These, daß λεγόμενον und δρώμενον parallele Ausdrucksweisen des gleichen Gefühls seien, mit Beispielen, in denen Texte im Verlauf eines Rituals gesprochen bzw. gesungen werden.97 Der Text wird so jedoch als Sprechafa wahrgenommen und befindet sich damit auf der gleichen Ebene wie das Ritual.98 Strukturalistische Ritualtheorien denken dies konsequent zu Ende: sowohl Ritual als auch Mythos sind Zeichensysteme, sie unterscheiden sich qualitativ nicht mehr voneinander, insofern sie beide der Sprache analog funktionieren. Die beiden Systeme lassen sich so problemlos parallelisieren und auseinander ableiten.99 Dabei wird aber jene Spannung, die in der historisch überlieferten

96

Freud (1912/13), 217. Es ist bezeichnend, daß Freud dies ffir „den Primitiven" annimmt, dem die Tat „sozusagen eher ein Ersatz des Gedankens" sei. Allerdings scheint sich Freud gleichzeitig der Zweifelhaftigkeit der eigenen Konstruktion bewußt zu sein, da er bemerkt, er wolle nicht „für die letzte Sicherheit der Entscheidung" eintreten. " Zu dieser Beziehung von Sprache und Ritual und zur Unterscheidung von Sprache im Ritual und Sprache, die auf das Ritual verweist, vgl. Bell (1992), 110-14. Die Auffassung vom Mythos als Teil des Rituals wurde vor allem bestimmend in der altorientalistischen Myth and Ritual - Theorie, wobei die Entdeckung, daß das babylonische Weltschöpfiingsgedicht Enuma Eliä am Neujahrsfest rezitiert wurde, eine wichtige Rolle spielte; wichtigster Vertreter dieser Richtung: S.H. Hooke (1933), Myth and Ritual. Essays on the Myth and Ritual of the Hebrews in Relation to the Culture Pattern of the Near East, Oxford 1933, vgl. dazu Burkert (1980), 179. 98 Harrison (1927), 16. 99 Bei Lévi-Strauss ist das Ritual „paralangage", der Mythos „métalangage", vgl. dazu Caíame (1990), 23. In strukturalistischen Erzähltheorien (vgl. oben Arun. 24 und 27) findet die Gleichschaltung von Mythos und Ritual auf syntagmatischer Ebene statt. Am wichtigsten waren dabei die Arbeiten von V. Propp, der in einer 1928 in Leningrad erschienen Studie den Ablauf russischer Zaubermärchen in 31 „Funktionen" unterteilte, deren Reihenfolge immer fest bleibt, auch wenn sie nicht in jedem Märchen alle vorhanden sein müssen. Die so im Grunde für alle Märchen einheitliche Struktur erklärt er wiederum damit, daß sie alle einem Initiationsritual entsprächen: ein Junge erleidet einen rituellen Tod und wird als Mann und Bräutigam wiedergeboren; V. Propp (1928), Morfologia skaski, Leningrad, (21969); dt. Morphologie des Märchens, München 1972, 2 1975; Ursprung in der Initiation: ders., Die historischen Wurzeln des Zaubermärchens (russ., Leningrad 1946; dt.: 1987); zu Propp und den Verbindungen zum russischen Strukturalismus: Martin/Martin (1984). Burkert (1979), 5-34 wendet Propps Ergebnisse auf den griechischen Bereich an und versteht sowohl Mythen als auch Rituale als soziobiologisch elementare „programs of action", dabei erarbeitet er parallel zum Proppschen Schema einen Ablauf für die weibliche Initiation, die sogenannte „Mädchentragödie", vgl. dazu unten Kap. Π 2.1.

Mythen und Rituale in der Polisreligion

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Polisreligion gerade durch das Nebeneinander von rituellen Handlungen und mythischen Texten angelegt ist, unsichtbar gemacht.100 Um dies zu vermeiden, versuche ich, Berichte über rituelle Abläufe, wie beispielsweise das Fest der Oschophoria, zwar in Beziehimg zu setzen zum mythischen Diskurs, dabei jedoch die beiden Ebenen von Handlung und Text weder aufeinander zu reduzieren, noch sie logisch oder chronologisch zu hierarchisieren. Dies könnte gelingen, wenn die Bestimmung des Rituals als Handlung ernst genommen wird. So schlägt Burkert vor, Rituale grundsätzlich als Handlungen zu definieren, die einer nonverbalen Kommunikation dienen, die allerdings der Sprache zumindest teilweise analog sei.101 J. Z. Smith geht in dieser Beziehung noch weiter: er konzentriert sich auf die „bare facts of ritual" und betont, daß Rituale, falls wir sie einer Sprache vergleichen, eine „Syntax ohne Semantik" wären.102 Auch Bell betont die Sprachlosigkeit von Ritualen: „[...] ritualization is the avoidance of explicit speech and narrative." Rituale lassen sich in erster Linie als „physisch" ausgeführte Handlungen beschreiben; als solche befinden sie sich - wie Bell betont - auf der Ebene des Körpers und nicht der Sprache.103 Der menschliche Körper ist jedoch keineswegs eine historisch immer gleichbleibende, „natürliche" Konstante, sondern ein „soziales Gebilde" („social body"), wie es Mary Douglas formuliert, die den Zusammenhang zwischen sozialem und physischem Körper folgendermaßen beschreibt: Der Körper als soziales Gebilde (social body) steuert die Art und Weise, wie der Körper als physisches Gebilde wahrgenommen wird; und andererseits wird in der (durch soziale Kategorien modifizierten) physischen Wahrnehmung des Körpers eine bestimmte Gesellschaftsauffassung manifest. Zwischen dem sozialen und dem physischen Körpererlebnis findet ein ständiger Austausch von Bedeutungsgehalten statt, bei dem sich die Kategorien wechselseitig stärken.'04

Bell machte diese sozialanthropologische Sicht des Körpers zur Grundlage einer Theorie des Rituals als einer sozialen Praxis:105 Durch rituelle Handlungen wird eine idealisierte Form des „sozialen Körpers", der „ritualisierte Körper" („ritualized body") hergestellt.106 Die Zugehörigkeit zu jener Gruppe, die das Ritual durchführt, wird durch die Teilnehmer physisch erfahren, wird erlangt durch Mit-Tun. Dabei inszenieren die einzelnen rituellen 100

,01 102 103 104 105 106

Gleichzeitig gilt natürlich auch hier die ganz grundsätzliche poststrukturalistische Kritik, vgl. oben p. 8f.; dazu auch Bell (1992), 102. Burkert in: Hamerton-Kelly (1987), 150. Smith (1982), 53-65 und ders. in: Hamerton-Kelly (1987), 226. Bell (1992), 94-98. Douglas (1981), 99. Bell (1992), 94-117. Ebd., 98: „The implicit dynamic and end of ritualization - that which it does not see itself doing - can be said to be the production of a .ritualized body'."

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Mythos und Ritual in Theorie und Praxis

Handlungen, insofern sie kontrolliert und vorhersehbar an festgelegten Orten zu bestimmten Zeiten stattfinden, eine idealisierte, unveränderliche Ordnung.107 So gesehen lassen sich rituelle Handlungen als eine der wichtigsten Formen der Sozialisation auffassen; Differenzierung (die Abgrenzung einzelner Gruppen und Individuen gegeneinander) und Integration (die Bildung von individuellen und kollektiven Identitäten) finden dabei immer gleichzeitig statt.108 Dieses Mit-Tun ist niemals nur äußerliche Nachahmung, d.h. es prägt auch das einzelne Individuum, denn - so formuliert es der Soziologe Bourdieu - : Der Leib glaubt, was er spielt: er weint, wenn er Traurigkeit mimt. Er stellt sich nicht vor, was er spielt, er ruft nicht die Vergangenheit ins Gedächtnis, sondern agiert die Vergangenheit aus, [...]. Was der Leib gelernt hat, das besitzt man nicht wie ein wiederbetrachtbares Wissen, sondern das ist man.109

Übertragen auf die griechische Polisreligion bedeutet dies, daß die Bewohner und Bewohnerinnen der Polis, all jene, die an der „citoyenneté cultuelle" Anteil hatten, ihre Zugehörigkeit und damit auch ihre „Zugehörigkeitskompetenz""0 zur Polis und ihren zahlreichen Gruppierungen auch über ihren Körper erlangten. Der „soziale Körper" der einzelnen Menschen in der Polis der archaischen und klassischen Zeit1" läßt sich als ein in hohem Maße „ritualisierter Körper" beschreiben. Dies wird beispielsweise deutlich in einem Text, der die religiöse Praxis und die mit ihr verbundene Logik gerade kritisiert. In seiner Kritik am Anthropomorphismus der griechischen Götter schreibt Xenophanes: άλλ* oí βροτοί δοκέουσι γεννάσθαι θεούς, την

107

Rituelle Handlungen unterscheiden sich von alltäglichen darin, daß sie geordnet und kontrolliert verlaufen, sie werden im Idealfall nicht gestört von irgendwelchen Zufällen oder praktischen Notwendigkeiten, diesen Aspekt des Rituals betont v. a. Smith (1982), 63: „Ritual is a means of performing the way things ought to be in conscious tension to the way things are in such a way that this ritualized perfection is recollected in the ordinary, uncontrolled, course of things." Vgl. auch Geertz (1997), 78 der betont, daß durch Rituale religiöse Vorstellungen zu erlebbarer Wirklichkeit werden: „Im Ritual sind gelebte und vorgestellte Welt ein und dasselbe, sie sind in einem einzigen System symbolischer Formen verschmolzen [...]." 108 Bell (1992), 102 weist darauf hin, daß diese Vorgänge in der Praxis ausgesprochen kompliziert und vielfältig verlaufen und sich mit einfachen strakturalistischen Mustern kaum beschreiben lassen (vgl. ebd., 125). 109 Bourdieu (1993), 135. Bells Überlegungen zur Beziehung von Ritual und „sozialem Körper" basieren stark auf den Arbeiten Bourdieus Meier (1985), 15; der Begriff scheint mir deshalb wichtig, weil er andeutet, daß eine Gesellschaft und ihre einzelnen Mitglieder durchaus ein Wissen über die Techniken der Sozialisation ihrer eigenen Gruppe besitzen können; vgl. auch Smith (1982), 63. ' " Vgl. dazu J.-P. Vemant (1986), Corps obscur, corps éclatant, in.· Le temps de la réflexion Vil·. Corps des dieux. Sous la direction de Ch. Malamoud et J.-P. Vernant, 19-45.

Mythen und Rituale in der Polisreligion

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σφετέρην δ* έσθήτα έχειν φωνήν τε δέμας τε (fr. 14 DK).112 Physisch Mensch zu sein bedeutet, geboren zu sein, Kleider zu tragen, eine Stimme und eine äußerlich sichtbare Gestalt zu haben. Genau diese Art von Körperlichkeit wurde an den Festen der Polis immer wieder fur alle sichtbar „inszeniert" oder besser „ausagiert": Zur Polis zu gehören bedeutete, prächtige Kleider zu tragen, im Chor der Bürger, der Epheben oder der Mädchen und Frauen zu singen und zu tanzen, in einem für alle sichtbaren Umzug, in einer Pompe (πομπή), zum Opfer zu ziehen. Die Handlungen der „ritualisierten Körper" lassen sich als Bewegungen in Raum und Zeit beschreiben: „The strategies of ritualization are particularly rooted in the body, specifically, the interaction of the social body within a symbolically constituted spatial and temporal environment.""3 Raum und Zeit werden so in die Ordnung des Rituals eingegliedert.114 Raum- und Zeitkonzepte, die auf diese Weise durch Rituale erst hergestellt werden, lassen sich deshalb immer im Zusammenhang mit der jeweiligen politischen und sozialen Ordnung verstehen. Es war Gemet, dem meines Wissens als erstem eine ganz wesentliche Besonderheit der Raumkonzeption auffiel, wie sie in den griechischen Festen der Polis zum Ausdruck kommt:115 Feste und insbesondere Opfer finden sehr oft „draußen", außerhalb der Polis und unter freiem Himmel statt. Wichtig ist dabei vor allem der Zug, die Pompe durch ein bestimmtes Gebiet und das Mittragen bestimmter Dinge, besonders der Opfergaben. Während Gernet dieses Charakteristikum der griechischen Religion als survival einer Epoche auffaßt, in der die Landwirtschaft wichtiger war als in der klassischen Zeit der Polis, zeigt de Polignac,116 daß dieses Raumkonzept ursächlich verbunden ist mit der politischen und territorialen Struktur der Polis, die durch kultische Handlungen hergestellt und immer wieder erinnert wurde.117 Die räumliche Dimension der rituellen Handlungen war gleichzeitig eine politische und wirtschaftliche. Denn das Territorium der Polis war nicht nur jener Raum, den die Hopliten gegen Außen verteidigten, sondern auf ihm wurde auch der größte Teil der Nahrungsmittel produziert, deren Verteilung und Konsumption nicht nur im Alltag, sondern gerade auch an den Ritualen der Polis eine wichtige Rolle spielten. 112

1,3 114

115 116 1,7

„Doch meinen die Sterblichen, die Götter würden geboren und hätten Gewand und Stimme und Gestalt wie sie." Bell (1992), 93. Die Wahrnehmung dieses Zusammenhangs ist einer der Grundgedanken von Harrisons Themis, allerdings ordnet sie ein derartiges Denken dem „Totemismus" zu: „To man in the totemistic stage of thinking, Dike and Themis, natural order and social order, are not distinguished, not even distinguishable" (533). Gemet (1928). De Polignac (1984). Ebd., 83.

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Mythos und Ritual in Theorie und Praxis

Die zeitliche Dimension der Rituale der Polis zeigt sich zuerst im Festkalender. Die in der Tradition von Mannhardt stehende Forschung versuchte immer wieder, eine ursächliche Verknüpfung zwischen landwirtschaftlichen und jahreszeitlichen Vorgängen und entsprechenden Festen herzustellen, es wurde nach griechischen „Erntedankfesten", und „Maibäumen" gesucht allerdings vergeblich.118 Der Festkalender Athens, der einzige, der einigermaßen vollständig erhalten ist, stellt keine kausalen Verknüpfungen her zwischen landwirtschaftlichen Arbeiten und daraus zu „erklärenden" Festen.1'9 Dennoch gibt es eine Verbindung zur landwirtschaftlichen und jahreszeitlichen Ebene, doch diese ließe sich eher als seriell denn als kausal bezeichnen. Foxhall weist darauf hin, daß die Feste zwischen den Zeiten lagen, die mit landwirtschaftlichen Arbeiten besonders belastet waren.120 Die Feste waren Rekreation im wahrsten Sinne des Wortes: sie dienten der physischen Erholung, der Wiederherstellung des physischen Körpers, ebenso sehr wie der Wiederherstellung des „sozialen" und „ritualisierten Körpers" der einzelnen Teilnehmerinnen und Teilnehmer und der in den Ritualen auf idealisierte Weise ausagierten Ordnung, die in den anstrengenden Zeiten zwischen den Festen durch die praktischen Notwendigkeiten des Alltags durcheinander geraten war.121 Sowohl auf der räumlichen als auch der zeitlichen Ebene spielt also die Landwirtschaft eine wichtige Rolle. Es geht jedoch nicht um eine Wiedereinführung Mannhardtscher Erklärungsmuster, sondern es wird nach der rituellen Dimension der sozialen Vorgänge der Produktion, Verarbeitung und Verzehr von Nahrungsmitteln gefragt.122 Was die landwirtschaftliche Nutzung des Territoriums der Polis betrifft, gehe ich mit Wagner-Hasel und gegen de Polignac davon aus, daß auch in historischer Zeit noch die z.T. saisonale Nutzung von Weideland eine Rolle spielte, d.h. daß wir auf dem kultisch relevanten Territorium der Polis also gleichzeitig mit Ackerbau, Weinbau, Weidewirtschaft und wohl auch Jagd zu rechnen haben.123 Ein weiterer Aspekt der zeitlichen Dimension des Rituals liegt im Ablauf der rituellen Handlungen selbst. Dieser ist unumkehrbar, vorbestimmt durch den „Imperativ" der Tradition und der praktischen Erfahrung. Doch diese auf 1,8 119 120

121

122 123

Zu Mannhardt s. oben p. 12f. Zur athenischen Religion vgl. Parker (1996). Foxhall (1995), 97-110. Foxhall verwendet dafür ein schönes Bild: „They (sc. the fesivals) are moments in which the community takes a deep breath before the rush hits, or lets out a sigh of relief when it has finished" (106); vgl. Thuk. 2, 38. Dem widerspricht nicht, daß Feste die soziale Ordnung des Alltags zeitweilig außer Kraft setzen können. Denn auch diese Außer-Kraft-Setzen der Ordnung findet nach bestimmten Regeln statt und bekräftigt durch seine zeitliche und räumliche Beschränktheit die Regeln des Alltags; zu diesem Aspekt antiker Feste z.B. Versnel (1993). Vgl. unten p. 133; 143. Wagner-Hasel (2000), 278f.; vgl. auch unten p. 127.

Mythen und Rituale in der Polisreligion

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ein Ende hin ablaufende, lineare Zeit ist dadurch, daß sie im Ritual verläuft, verbunden mit der nicht-linearen, ewigen Zeit der Tradition. Diese wurde erfahrbar in den sich immer wiederholenden Jahreszeiten und landwirtschaftlichen Tätigkeiten, ebenso wie in den sich wiederholenden Erzählungen von unsterblichen Göttern. Die mythischen Erzählungen selbst wiederum enthalten ebenfalls eine Dimension der Unumkehrbarkeit, da sie als Erzählungen Handlungsfolgen sind.124 Im Gegensatz zur rituellen Ebene jedoch müssen die Handlungen der Erzählung (kausal) verknüpft werden. In diesen kausalen Verknüpfungen, die in der Tradition geändert werden konnten, können möglicherweise jene Sinnkonstruktionen abgelesen werden, die die physische Ebene des Rituals verschwieg. Für die Ritualteilnehmer war es so möglich, die Erfahrung der rituellen Verkörperung der sozialen Ordnung in Bezug zu setzen zur symbolischen Ordnung der mythischen Texte. Dieser Vorgang konnte individuell verschieden ablaufen, und wir können ihn durch die parallele Lektüre mythischer Texte und Berichte über Ritualabläufe nur noch als Möglichkeit - jedoch nicht in seinen einzelnen individuellen Ausprägungen - rekonstruieren. So gesehen war das körperlich angelernte Wissen über die rituelle und soziale Ordnung der Polis doch - entgegen der Behauptung Bourdieus - zumindest teilweise „wieder betrachtbar", allerdings nur im Medium der mythischen Erzählung. Diese Verbindung der rituellen Handlungen zur symbolischen Ebene der mythischen Erzählungen ist gleichzeitig das zweite distinktive Merkmal von Ritualen in der Polisreligion: Sie sind erstens physische Handlungen, die den „social body" der einzelnen Teilnehmerinnen und Teilnehmer als „ritualized body" herstellen, indem eine rituelle und damit gleichzeitig soziale Ordnung in den Achsen von Raum und Zeit immer wieder neu körperlich ausagiert wird; zweitens bezieht sich dieses Agieren immer gleichzeitig in irgendeiner Weise auf die transzendente, das menschliche Leben des einzelnen überdauernde, unsterbliche Welt der Götter und Heroen; die rituelle Ordnung gibt durch diese Bezogenheit vor, selbst eine unsterbliche zu sein, auch deshalb,

124

R. Barthes (1985), Das semiologische Abenteuer. Frankfurt a.M. (franz. Original: L'aventure sémiologique, Paris 1985), 154 zeigt, daß durch kausal verknüpfte Handlungen vor allem die „Lesbarkeit" einer Erzählung erreicht wird.: „Die Handlungsfolge ist gewissermaßen der privilegierte Aufbewahrungsort dieser Lesbarkeit: .normal' (lesbar) erscheint uns eine Erzählung durch die Pseudologik ihrer Sequenzen; diese Logik ist [...] empirisch und läßt sich nicht auf eine .Struktur' des menschlichen Geistes zurückfuhren; wesentlich an ihr ist, daß sie der Abfolge des erzählten Geschehens eine unumkehrbare (logisch-temporale) Ordnung verleiht: Die Unumkehrbarkeit macht die Lesbarkeit der klassischen Erzählung aus." Vgl. die Auffassung von Mythen als „programs of actions", die ihrerseits wiederum auf grundlegende biologische oder kulturelle Handlungsmuster zurückzufuhren seien, bei Burkert (1979), 14-18.

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Mythos und Ritual in Theorie und Praxis

weil die Bräuche angeblich von Generation zu Generation gleich bleiben.125 Dies ist auch der Grund, warum die „ritualisierten Körper" der Menschen, wenn sie an einem Fest teilnahmen, wie Götter aussehen konnten,126 während man sich die Götter und Göttinnen - erinnern wir uns an die Kritik des Xenophanes - äußerlich wie Menschen vorstellte.127 Doch während die am Fest inszenierte rituelle Ordnung in dieser Weise „unsterblich" war, dachte man sich den einzelnen Menschen als sterblich. Auch diese Dimension gehörte zum Fest: Sterblich sein bedeutete in erster Linie, seinen Körper durch Nahrung wiederherstellen zu müssen und zwar durch jenes Ritual, das im Zentrum fast jeden griechischen Festes stand: das Speiseopfer.

2.2.3. Das Opferritual Die Theorien zum griechischen Opferritual und die damit verbundene Forschungsgeschichte sollen hier nicht ausfuhrlich diskutiert werden.128 Ich möchte lediglich skizzieren, wie das Opferritual in der griechischen Polis in der oben geschilderten Weise als rituelle Handlung, die gleichzeitig auf die symbolische Ebene mythischer Texte bezogen ist, gedacht werden kann.129 Das Opferritual stand im Zentrum der Feste der griechischen Polis, und zwar das olympische Speiseopfer, bei dem das Tier getötet, gebraten oder gekocht und anschließend verteilt und gegessen wurde.130 Unmittelbar damit 125

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Vgl. dazu Connor (1987), der zeigt, wie bei Neueiniiihrungen und Änderungen von Bräuchen immer damit argumentiert wurde, daß es sich eigentlich nicht um Neues, sondern um eine Anknüpfung an schon Bestehendes handle. Dies wird besonders deutlich im homerischen Apollonhymnos, dazu Lonsdale (1993), 51-68, weitere Beispiele ebd., 209f., vgl. auch Connor (1987). Zu dieser Dimension der griechischen Religion Burkert (1977), 282-92. Zum Opferritual: Burkert (1972), mit Angabe der älteren Literatur; R. Girard (1972), La violence et le sacré, Paris; Vernant (1987), 177-94; Detienne/Vernant (1979); Reverdin/Grange (1980); Hamerton-Kelly (1987), mit besonders aufschlußreicher Diskussion der verschiedenen Positionen; zum Opferritual in der Tragödie, mit einleitender Diskussion der Forschung: Foley (1985); zur Repräsentation des Opferrituals in Epos und Tragödie: Seaford (1994); für die Diskussion außerhalb der Altertumswissenschaft: Bloch (1992). Meine Sichtweise basiert auf den oben zitierten Arbeiten, insbesondere jenen von Burkert und Vernant, außerhalb der altertumswissenschaftlichen Diskussion auf Smith (1983); Smith in: Hamerton-Kelly (1987) und Bloch (1992). Die Wahrnehmung der zentralen Stellung des Opferrituals steht am Anfang des aufklärerischen Nachdenkens über die Religion (Lafitau, 1724, Bd. I, 163) und auch am Anfang der Myth and Ritual - Theorie bei Robertson-Smith, vgl. dazu oben p. 14f. Natürlich ist dies, wie Detienne (in: Detienne/Vemant, 1979, 26) feststellt, eine Projektion der christlichen Verhältnisse, doch ist diese Projektion deshalb so produktiv, weil sie den historischen Zusammenhang spiegelt, durch den das christliche mit dem antiken Opferritual verwandt ist.

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verbunden war oft ein Opfer, das einem Heros an seinem Grab dargebracht wurde, also ein Totenopfer war. Unzählige Operrituale stellten immer wieder die „cohésion cultuelle" her, sowohl jene der gesamten Polis, als auch ihrer einzelnen Gruppierungen. Als Handlung betrachtet ist das Opfer zuerst das Töten und anschließende Verspeisen eines Tieres. Burkert betont in erster Linie diesen Aspekt, den er mit Meuli auf den Ursprung des Opfers in prähistorischen Jägerkulturen zurückführt.131 Doch läßt sich diese Dimension des Rituals auch innerhalb der historischen Epoche der griechischen Kultur verstehen. So weist J. Z. Smith daraufhin, daß das richtige, geordnete Schlachten von Tieren ein wichtiger Teil der Tierzucht ist, das Opferritual die rituelle, d.h. kontrollierte und idealisierte Ausführung eben dieser Tätigkeit.132 Diese Perspektive läßt sich durchaus auf den griechischen Bereich übertragen: Große Herden zu besitzen, ist in den homerischen Epen Zeichen von Reichtum und Macht. Petterson und andere vermuten, daß in geometrischer Zeit die Herausbildung einer Sozialstruktur, in deren Mittelpunkt das Tieropfer stand, zusammenhängt mit einer Ökonomie, die vor allem auf Weidewirtschaft und Viehreichtum basierte.133 Wer viele Tiere hatte, konnte es sich leisten, seine Gefolgsleute an großen Opfern großzügig zu bewirten. Darin läßt sich eine erste integrative Dimension der ritualisierten Handlung sehen, die gleichzeitig mit der Herstellung einer Differenz verbunden war: Das Ritual des Speiseopfers half, den durch Reichtum gewonnen Einfluß einzelner in kontrollierte Bahnen zu lenken, die Zurschaustellung dieses Reichtums in den Dienst der Allgemeinheit, schließlich der Poüs zu stellen. Durch das Ritual wurden Einzelpersonen und Gruppen hervorgehoben, ihr Prestige diente aber letztlich der Ehre der Götter der Polis. Das Speiseopfer in der Form, wie es aus der griechischen Antike überliefert ist, scheint einer Gesellschaftsstruktur angemessen, in der viele - Einzelpersonen wie Gruppen - Anteil an der Macht haben, in der aber sorgfältig darauf geachtet wird, daß nicht ein einzelner alle Macht bekommt. Neben zu großer Macht- und Besitzkonzentration auf einzelne Haushalte ist physische Gewalt die größte Bedrohung einer derartigen Ordnung, insbesondere der griechischen Polis. Denn die Polis konstituierte sich nicht nur als Gemeinschaft von Land- und Herdenbesitzern, sondern ebenso als Gemeinschaft von Kriegern, die alle berechtigt waren, Waffen zu tragen; aufgrund ihrer politischen Organisation, die dazu tendierte, möglichst viele Gruppierungen an der Macht teilhaben zu

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Burkert (1972), 20-31, vgl. dazu auch unten Kap. IV 4.3. (bes. Anm. 308). Smith in: Hamerton-Kelly (1987), 191-205, bes. 199: „Sacrifice is, in part, a meditation on domestication. [...] Here the art of breeding is, as well, the art of selective killing." Zum Ritual als idealisierte Handlung vgl. oben Anm. 107. Petterson (1992), 101-6 mit Angabe weiterer Literatur.

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lassen, war sie ständig von politischer Unruhe (στάσις) oder - um einen Ausdruck von Seaford zu verwenden - „reciprocal violence" bedroht.134 Das Opferritual, bei dem ein Tier getötet wurde, läßt sich vor diesem Hintergrund auch als rituelle - und damit kontrollierte und geordnete - Aktualisierung physischer Gewalt auffassen.135 Der Tötungsakt erschien dabei auf den ersten Blick als Ausdruck größter Macht. Doch in seiner Unumkehrbarkeit erwies er diese Macht gleichzeitig als scheinbare. Obwohl der Tierzüchter und die ganze Polis darauf angewiesen waren, daß das Leben weiterging, daß die Herden und damit der Reichtum und die Opferordnung erhalten blieben, konnte der Opfernde nur Platz ftir neues Leben schaffen, dessen Entstehung jedoch lag nur zu einem sehr kleinen Teil in seiner Macht.136 So gesehen führte der Vollzug der Opferrituals vor, daß in der Gesellschaft der griechischen Polis Macht nicht identisch war mit Gewalt,137 auch wenn Gewalt in verschiedenen Formen innerhalb der Polis eine wichtige - und oft bedrohliche - Rolle spielte. Der unumkehrbare Tod des Opfertiers verwies außerdem auf das menschliche Sterben, insbesondere da, wo das olympische Opfer verbunden war mit einem Totenopfer für einen Heros.138 Auch der gemeinsame Zug von Opfernden und Opfertieren zum Altar stellte eine Ähnlichkeit zwischen beiden her, die dadurch unterstrichen wurde, daß beide bekränzt waren. Da das Töten des Tieres jedoch auf eine transzendente, das individuelle Leben überdauernde Ordnung ausgerichtet war, konnte sich die opfernde Gruppe, bestehend aus Individuen mit „ritualisierten Körpern", zumindest für die Dauer des Festes 134 133

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Seaford (1994), 92-105 (fur Athen). Girard und Burkert betonen beide diesen Aspekt des griechischen Opfers, wobei - vereinfachend gesagt - Girard psychoanalytisch, Burkert historisch argumentiert. Dabei wird die Gewalt jedoch immer als Bezugspunkt außerhalb der betrachteten Gesellschaft gesehen, bei Burkert in prähistorischer Zeit, in der Jäger angeblich allein durch Gewalt überlebten, bei Girard in der menschlichen Psyche, deren Disposition einen „Gründungsmord" am Anfang jeder gesellschaftlichen Organisation erfordere. Mit Bloch (1992), 7 möchte ich vorschlagen, das Phänomen Gewalt nicht losgelöst von konkreten politischen und sozialen Bedingungen einer bestimmten, historisch faßbaren Gesellschaftsform zu diskutieren, Gewalt also nicht .jenseits" (der Kultur, der Struktur, der Geschichte, des Bewußtseins) zu situieren. Foucault formuliert im Zusammenhang seiner Überlegungen zur Macht im modernen Staat: „Der Souverän übt sein Recht über das Leben nur aus, indem er sein Recht zum Töten ausspielt - oder zurückhält. Er offenbart seine Macht über das Leben nur durch den Tod, den zu verlangen er imstande ist. Das sogenannte .Recht' über Leben und Tod" ist in Wirklichkeit das Recht, sterben zu machen und leben zu lassen", M. Foucault (1977) Der Wille zum Wissen. Frankfurt a.M., 162 (franz.: Histoire de la sexualité, Vol. 1 .· La volonté de savoir, Paris 1976). Zum Verhältnis von Macht, Herrschaft und Gewalt z.B. H. Arendt (1970), Macht und Gewalt, München Vgl. dazu unten Kap. IV 4.3.

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ebenfalls als Teil dieser, das einzelne Leben überdauernden Ordnung erleben.139 Doch in dem Moment, wo das Opferfleisch gegessen wurde, zeigte sich die Differenz zwischen Menschen und unsterblichen Göttern, denn nur die Menschen müssen essen, um ihren sterblichen Körper am Leben zu erhalten. Dieser Aspekt des Opferrituals spielt in allen modernen Opfertheorien eine wichtige Rolle: Während Robertson Smith aus eindeutig christlicher Perspektive das Moment der Gemeinschaftsstiftung, eine Art „Kommunion" innerhalb der opfernden Gruppe und zwischen Menschen und Göttern, in den Mittelpunkt stellte, beschrieben Henri Hubert und Marcel Mauss das Opferritual als Ablauf von „Sakralisation", eigentlichem Opfer und „Desakralisation". Burkert nimmt dies auf und spricht von einem „dreigeteilten Rhythmus", dem seinerseits wiederum das dreiteiligen Schema des Initiationsrituals entspreche.140 Vemant gelingt es, diese moderne und im Grunde genommen sehr abstrakte Wahrnehmung einer Struktur mit der Interpretation des hesiodeischen Prometheus-Mythos zu verbinden, den er als Text über die Bedeutung des Opferrituals in der griechischen Kultur liest:141 Das Feuer, das Prometheus den Menschen bringt, stammt von den Göttern. Als Inbegriff menschlicher Zivilisation bewirkt es durch seine Anwendung im Opferritual gleichzeitig Kontakt und Trennung zwischen Menschen und Göttern, die früher einmal gemeinsam an einem Tisch speisten. In der Ordnimg jedoch, der das Opferritual angehört, unterscheiden sich Menschen und Götter: letztere brauchen nicht zu essen und sind unsterblich, der Hunger der Menschen jedoch bedeutet „den Verschleiß der Kräfte, die Ermüdung, das Altern und den Tod".142 Nach dem Opferbetrug schickt Zeus den Menschen Pandora,143 Vernant nennt sie, das hesiodeische άντί πυρός paraphrasierend „das Gegenstück des gestohlenen Feuers, seine Umkehr".144 Pandora, die erste Frau, ist bei Hesiod aus männlicher Sicht negativ dargestellt: Frauen verbrauchen die Vorräte, die der Mann erarbeitet. Ohne Frauen jedoch droht ein einsames Alter, denn man hat keine Nachkommen, für die es sich gelohnt hätte, ein Erbe zu erarbei-

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Geertz (1997), 78 betont, daß durch Rituale religiöse Vorstellungen zu erlebbarer Wirklichkeit werden: „Im Ritual sind gelebte und vorgestellte Welt ein und dasselbe, sie sind in einem einzigen System symbolischer Formen verschmolzen [...]." H. Hubert/M. Mauss (1898), Essai sur la nature et la fonction du sacrifice, Année sociologique 2, 29-138; Burkert (1972), 20, Anm. 48; zur Initiation mit Verweis auf Harrison (1927), 15, vgl. dazu unten 2.2.4. Hes. theog. 507-616; Vemant (1987) 177-94; vgl. auch ders. (1997), 160-68. Vernant (1997), 163. Hes. theog. 585-616; erg. 54-105. Vernant (1997), 165; Hes. theog. 585: αύτάρ έπεί δή τεύξε καλόν κακόν άντ' άγαθοίο.

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ten.145 Mit Pandora, die in Hesiods Erga auf Zeus' Geheiß den Deckel des Pithos öffnet, scheinen nicht nur die Übel in die Welt zu treten, sondern auch die Ambivalenz und die Täuschung, die sie in der Theogonie als καλόν κακόν („schönes Übel") verkörpert.146 Die Beziehung zwischen Menschen und Göttern, die im Idealfall ebenso wie die Beziehung zwischen den Bürgern und jene zwischen den Geschlechtem nach dem Prinzip der Charis, des gerechten Tausches, funktionieren sollte, enthält von Anfang an ein Moment der Unsicherheit und Unberechenbarkeit.147 Bemerkenswert ist, daß dieses Moment der rituellen und sozialen Ordnung von Hesiod ursächlich mit der Konstruktion von Weiblichkeit verbunden wird.148 Zeitlin weist daraufhin, daß Hesiod es außerdem in auffälliger Weise vermeidet, die tatsächlichen Beiträge, die Frauen zum Fortbestehen der Gesellschaft leisteten, das Gebären von Kindern und die Ausführung landwirtschaftlicher und textiler Arbeit, direkt zu erwähnen.149 Wie auch immer man jedoch den Pandora-Mythos im einzelnen interpretiert, klar ist, daß für Hesiod die Einsetzung des Opfers nicht nur die Trennung von Göttern und Menschen bewirkt, sondern auch die Setzung von Geschlechterdifferenz und sexueller Reproduktion.150 So erweist sich das oben beschriebene Verfahren, nach dem rituellen Handeln von Männern und Frauen zu fragen, gerade auch im Falle des Opferrituals als berechtigt. Die oft geäußerten Behauptungen, Frauen seien vom Opferritual grundsätzlich ausgeschlossen gewesen, und Feste, an denen Frauen selbst opferten, würden die Ausnahme zu dieser angeblich allgemeingültigen Regel bilden, sind historisch ganz einfach falsch.151 Sie verhindern aber auch eine differenzierte Analyse des Vorganges der Konstruktion von Männlichkeit und Weiblichkeit, der Herstellung von weiblichen und männlichen „ritualisierten Körpern" im Verlauf der unzähligen verschiedenen Opferrituale der Polisreligion. Die enge Verbindung von ritueller Ordnung und sexueller Reproduktion läßt sich einerseits als rituelles Inszenieren und Festigen der sozialen Geschlechterordnung auffassen; gleichzeitig ging es jedoch noch um etwas Anderes: In einer Gesellschaft, in der das Wissen um rituelle, soziale und symbolische Ordnungen vorwiegend mündlich tradiert wird, ist sexuelle Re145 146 147 148

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Hes. theog. 592-607. Hes. theog. 585, vgl. Vernant (1997), 166. Zur Charis zwischen Menschen und Göttern: Burkert (1977), 291. Zeitlin (1996), 53-86 interpretiert den Pandora-Mythos konsequent aus einer die Geschlechterdifferenz beachtenden Perspektive. Zeitlin (1996), 58. Vernant (1997), 168; Zeitlin (1996), 86 kommt zum Schlufi, daß Pandora durch ihre ambivalente Stellung die klar gesetzte Grenze zwischen Göttern und Menschen wiederum verwischt. Z.B. L. Bruit Zaidman in Duby/Perrot (1990), 375f.; für eine Kritik dieser verbreiteten Ansicht vgl. Osbome (1993).

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Produktion die Garantie fur das Weiterbestehen eben dieses Wissens. Burkert formulierte 1964 in jenem Aufsatz, mit dem er sowohl die parallele Lektüre von Mythos und Ritual als auch den Begriff des Initiationsrituals in die deutschsprachige Altertumswissenschaft (wiedereinführte: Solange es keine Schrift, keine schriftlichen Verträge und Gesetze, keine verwaltungsmäßige Ordnung des Gesellschaftslebens gibt - und ehe dergleichen vor rund S000 Jahren erfunden wurde, haben Menschen Hundertausende von Jahren in menschlicher Gemeinschaft existiert - müssen die notwendigen Ordnungen des Gemeinschaftslebens der Seele, und sei es dem unbewußten, instinktiven Seelenleben, eingeprägt sein. Diese Prägearbeit leisten in erster Linie die Initiationsriten.152

2.2.4. Initiation In Piatons Nomoi wird ganz selbstverständlich davon ausgegangen, daß Ammen und Mütter bereits kleinen Kindern Geschichten (μύθοι) erzählen, die von Göttern handeln; derartige Geschichten würden Kinder dann auch bei den Gebeten an den Opfern hören. Im weiteren heißt es, daß sie durch den Anblick der Frömmigkeit ihrer Eltern bei Opfer und Gebet davon überzeugt würden, daß Götter existierten.153 Sowohl in den rituellen wie in den mythischen Bereich scheinen die Jugendlichen gewissermaßen hineinzuwachsen, ohne daß wir von einer spezifischen Ausbildung oder bestimmten Aufnahmeritualen hören. Da die Feste der Polis jedoch einen ganz wesentlichen Bestandteil der sozialen, politischen und kulturellen Ordnung bildeten, erlernten Jugendliche durch ihre aktive Teilnahme das kulturelle System der Polisreligion und übernahmen damit gleichzeitig bewußt und unbewußt die in ihm implizierten, vielfältigen und komplexen sozialen Regeln. Bei genauerem Hinsehen zeigt es sich, daß Jugendliche an allen großen Festen der einzelnen Poleis, aber auch an überregionalen Anlässen, wie beispielsweise den Olympischen Spielen oder dem Apollonfest der Ionier auf Delos, eine wichtige Rolle spielten: Sie nahmen an eigens für sie reservierten Wettläufen und Schönheitswettbewerben teil, sangen in Chören, zogen als bewaffnete Epheben oder als Kanephoren (κανηφόροι), d.h. als Trägerinnen des Opferkorbs, in der Pompe zum Opfer, wie beispielsweise an den Heraia in Argos oder den Panathenäen in Athen." 4 Eine Studie über die Apollonfeste in Sparta zeigt, daß es an jedem dieser Feste rituelle Aufgaben gab, die 152 153 154

Burkert (1966), 47. Plat. leg. 887 d-e. Zu Wettläufen vgl. unten Kap. IV 4.4.; zu Schönheitswettbewerben z.B. Caíame (1977); Graf (1985), 275; zu den Heraia: Burkert (1972), 181-85; Kanephoren an den Panathenäen: Brulé (1987), 301-10; zur Bedeutung der Pompe vgl. unten Kap. IV 3.2.

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Mythos und Ritual in Theorie und Praxis

Jugendlichen vorbehalten waren.155 Außerdem finden wir eine ganze Reihe von zeitlich begrenzten Tempeldiensten fur ausgewählte Jugendliche, wie etwa den Aufenthalt der Arrhephoren (άρρηφόροι) genannten jungen Frauen auf der Akropolis in Athen, die Weihung athenischer Mädchen als Bärinnen" (άρκτοι) im Heiligtum der Artemis von Brauron, oder auch jene von sieben Mädchen und Jungen im Heratempel in Korinth.156 Die Jugendlichen wurden durch verschiedene offizielle Verfahren aus ihrer Altersgruppe ausgewählt;157 stellvertretend für die gesamte Altersgruppe erfüllten sie in dem jeweiligen Tempel bestimmte, zum Kult der Gottheit gehörige Aufgaben und erlernten diese damit gleichzeitig. Ihr Dienst läßt sich somit vergleichen mit den von Bürgern und Bürgerinnen ebenfalls stellvertretend für die Polis ausgeführten Priesterämtern, z.T. sprechen die Quellen auch direkt von jugendlichen Priestern und Priesterinnen.158 Die militärische Ausbildung junger Männer war von religiösen Ritualen begleitet; so leisteten etwa die athenischen Epheben ihren Eid im Heiligtum der Heroinen Aglauros und Pandrosos.159 Die für Sparta belegte kollektive militärische Erziehung der männlichen Jugendlichen in Altersklassen war verbunden mit den bereits erwähnten Apollonfesten, darunter den Kameen, eins der wichtigsten Feste im dorischen Bereich, in dessen Verlauf Jünglinge als „Weintraubenläufer" (σταφυλοδρόμοι) gegeneinander antraten.160 In Kreta gab es eine ähnliche, von rituellen Elementen durchzogene Ausbildung zum Krieger.161Die Reihe ließe sich noch lange fortsetzen162 - nicht zuletzt mit jenen Beispielen, die Thema dieses Buches sind. Auf der mythischen Ebene entprechen dieser großen rituellen Präsenz Jugendlicher eine ausgesprochen große Zahl von Erzählungen über jugendliche Heroen und Heroinen. Es ist heute - insbesondere in jener wissenschaftsgeschichtlichen Tradition, in der auch dieses Buch steht - üblich, all diese Phänomene mit dem 155 156

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Petterson (1992), 57-72. Zu den Arrhephoren: Burkert (1966); Robertson (1983), Brulé (1987), 79-139; PirenneDelforge (1994). Zu Brauron: Sourvinou-Inwood (1988); Korinth: Schol. Eur. Med. 246, weitere Zeugnisse bei Caíame (1977), 220f. Vgl. z.B. Burkert (1966), 42 für das Verfahren der Auswahl der Arrhephoren. Zur Stellvertreter-Funktion der Priester in der Polisreligion: Sourvinou-Inwood (1988a), 260. In Aigeira (Paus. 7, 26, 4) und Patrai (Paus. 7, 19, 1) diente eine junge Frau vor der Ehe der Artemis als Priesterin, in Kalaureia dem Poseidon (Paus. 2, 33, 2); weiter Beispiele bei Burkert (1977), 162; vgl. auch Pestalozza (1933). Zur Ephebie: Ch. Pélékidis (1962), Histoire de l'éphébie attique des origines à 31 avant Jésus-Christ. Paris. Zum Eid: Robert (1938); vgl. unten Kap. IV Anm. 87. Burkert (1977), 354-58; Petterson (1992), 57-72. Der Bericht des Ephoros ist überliefert bei Strab. 10, 4, 21 (C482-84). Zu Initiation und Homosexualität vgl. unten Kap. Π 3.2.; zum Bericht des Ephoros: Kap. VI 4. Vgl. die Zusammenstellung der Zeugnisse im Kap. „Initiation" in: Burkert (1977), 39095; vgl. auch Bremmer (1994), 44-50.

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von Geertz unter die „Common sense-Vorstellungen" eingereihten Begriff des „Initiationsrituals" in Verbindung zu bringen.163 Was jedoch ist damit gemeint? Die Problematik dieser Frage wird unmittelbar einsichtig, wenn man einen neueren Lexikonartikel zu diesem Stichwort heranzieht, etwa jenen von Graf im Neuen Pauly. Der Autor definiert den Begriff doppelt: Initiation bezeichnet a) in einer auf die griechische und römische Religion beschränkten Perspektive die rituelle Einweihung in einen Mysterienkult, b) in weiterer, ethnologischer und sozialanthropologischer Terminologie den Komplex von Riten, mit denen in archaischen Gesellschaften Heranwachsende beiden Geschlechts in die Gesellschaft der Erwachsenen aufgenommen werden (dt. früher auch Pubertätsweihe). Für die erste Funktion existiert eine entsprechende antike Terminologie [...] für die zweite nicht.164

Dies weise daraufhin, daß „die antiken Gesellschaften die ethnologische Initiation nur in Transformationen und Adaptionen an die eigenen Sozialstrukturen kannten".165 Und tatsächlich: Geht man von dem in der Ethnologie gebräuchlichen Begriff der Initiation aus, die darunter von den Jugendlichen einer Gesellschaft ausgeführte Rituale versteht, die den Übergang vom Kindes· zum Erwachsenenalter begleiten und nach dem von van Gennep entwickelten dreiteiligen Schema des Übergangsrituals (rite de passage) ablaufen,166 so sind für die antike griechischen Religion strenggenommen keine vollständigen Initiationsrituale überliefert. Andererseits aber ist die intensive Beteiligung Jugendlicher an der Polisreligion, wie oben ausgeführt, gut belegt. Dieser Widerspruch führte dazu, daß seit Harrison, die den ethnologischen Begriff des Initiationsrituals in die griechische Religionsgeschichte einführte,167 Initiationen Jugendlicher für die antike griechische Religion aus angeblichen „Transformationen" und „Adaptionen" rekonstruiert werden; dabei werden die aus den historisch bezeugten Epochen überlieferten Festabläufe als Reste ursprünglicher älterer Initiationsrituale gedeutet; der Ablauf dieser hypothetischen Rituale wird entweder aus Mythen rekonstruiert oder aus dem Vergleich mit ethnologischen Ritualen erschlossen. Die Frage nach dem Sinn der tatsächlich überlieferten Rituale und der mit ihnen direkt oder indirekt verbundenen mythischen Erzählungen innerhalb des kulturellen und sozialen Systems der Polisreligion bleibt oft ausgeblendet.

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Geertz (1997), 95. F. Graf, s.v. Initiation, DNP 5, 1002-4. Ebd., 1001. Zum Initiationsritual in der Ethnologie z.B. La Fontaine (1985); Bloch (1992); zu van Gennep s.unten p. 45f. S.unten p.41f.

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Es sind vor allem die seit den 60er Jahren verfaßten Arbeiten zu den Ritualen junger Mädchen, die zeigen, wie die Anwendung der „Common sense - Vorstellung" Initiation auf die griechische Polisreligion durch eine sorgfältige Lektüre der Quellen immer mehr in Frage gestellt wurde. Weil die durch diese Arbeiten erzielten methodischen Fortschritte für meine Sichtweise der griechischen Initiation wesentlich sind, sei ein kurzer Überblick vorangestellt, bevor ich mich der Forschungsgeschichte der vermeintlichen männlichen Initiationsrituale zuwende, die Thema diese Buches sind.168 Als erster beschäftigte sich Breiich in seiner 1969 erschienen Monographie Paides e Parthenoi zum griechischen Initiationsritual ausführlich auch mit den Ritualen junger Mädchen.169 Während Breiichs unvollendet gebliebenes Werk jedoch noch ganz der historisch im Grunde nicht haltbaren Rekonstruktion ursprünglicher Rituale gewidmet ist,170 versucht Burkert in dem bereits oben erwähnten 1966 erschienenen Aufsatz, sich bei seiner von Breiichs Arbeiten angeregten Interpretation des Rituals der Arrhephoren auf den tatsächlich überlieferten rituellen Ablauf zu konzentrieren. Die mythische Erzählung ist für ihn nicht survival eines Rituals, sondern wird als Hilfe zur Interpretation des rituellen Ablaufs herbeigezogen. Nach Burkert verläuft der Aufenthalt der Arrhephoren auf der Akropolis nach dem dreiteiligen Schema des Übergangsrituals (rite de passage); stellvertretend für alle jungen Athenerinnen wurden die Mädchen in die für die erwachsene Frau charakteristischen Tätigkeiten rituell eingeführt: ins Weben und in den Bereich der Aphrodite, der reproduktiven Sexualität. Caíame untersucht in Les choeurs des jeunes filles en Grèce archaïque (1977) die Funktion von Frauen- und Mädchenchören im archaischen Griechenland, insbesondere in Sparta.171 Dabei werden allerdings viele Rituale in strukturalistischer Weise direkt aus Mythen rekonstruiert.172 Was die Struktur des rite de passage betrifft, versucht Caíame, Feste als ganze einzelnen Phasen des dreiteiligen Modells zuzuordnen. Die soziale Funktion der untersuchten Feste leitet er nicht aus dem antiken Material ab, sondern aus der supponierten Funktion eines aus ethnologischem Material abstrahierten, universellen Initiationsrituals: Initiation sei die Einführung der Jugendlichen in die für die Geschlechter spezifischen Aufgaben, nämlich Jagd, Viehzucht, Landwirtschaft und Krieg für die Män168

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Ein guter Überblick Uber Literatur zu Initiationsritualen von Mädchen auch bei Versnel (1993), 53.Anm.98. Bereits Jeanmaire (1939) hatte ein Kapitel der weiblichen Initiation gewidmet (257-82; vgl. auch 407-12), wozu er den Dienst der Arrhephoren, die Thesmophorien und den Artemiskult zählt; übergreifendes Thema seines ganzen Buches ist jedoch die männliche Initiation, vgl. dazu unten p. 43. Vgl. die Rezension von Ch. Sourvinou-Inwood (1971), JHS 91,172-77. Caíame (1977), 172-449; Ausgangspunkt bildet die Interpretation zweier Alkmanfragmente von Partheneia, also Liedern für Mädchenchöre. S. oben Anm. 99.

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ner, die physische Reproduktion des Stammes, d.h. Sexualität, Ehe und Mutterschaft für die Frauen.175 Ein Blick auf die athenischen Arrhephoren zeigt, wie wenig eine derartige, von traditionellen Rollenvorstellungen geprägte Abstraktion dem historischen Befund gerecht wird: steht doch dort die Webarbeit mit gleichem oder sogar noch größerem Gewicht neben dem sexuellen Bereich, auf den im Grunde genommen nur undeutlich angespielt wird. So kommt denn auch Brulé, der unter dem Titel La fille d'Athènes (1987) versucht, die rituellen Tätigkeiten athenischer Mädchen als eigenständiges soziokulturelles System, als „religion de jeunes filles" zu rekonstruieren, zu einem bemerkenswerten Ergebnis: Die Annahme einer symmetrischen Verteilung von Krieg und Ehe auf beide Geschlechter, von der Caíame ausgeht und die seit dem in einem etwas anderen Zusammenhang stehenden Diktum Vernants: „Le mariage est à la fille ce que la guerre est au garçon."174 aus dem Diskurs über Initiationsrituale nicht mehr wegzudenken ist, wird von ihm in Frage gestellt. Statt dessen kann er zeigen, daß Ehe als soziales Phänomen beide Geschlechter betrifft und daß die Initiation der jungen Athenerinnen weniger von der weiblichen Biologie, sondern vielmehr von den Bedürfnissen der (männlichen) Polisgemeinschaft bestimmt war, d.h. konkret der Forderung nach Jungfräulichkeit der Bräute und absoluter Treue der Ehefrauen.175 Auch die immer wieder geäußerte Behauptung, daß Artemis die exklusive Göttin weiblicher Initiation sei, gerät durch Brûlés Studie ins Wanken. Denn nur in Athen, genauer in Brauron, war der Artemistempel exklusiv weiblich, an vielen anderen Orten Griechenlands finden wir, ebenso wie im attischen Halai, auch junge Männer im Kult der jungfräulichen Göttin.176 Für die Rituale der ,3ärinnen" im Artemisheiligtum von Brauron gelingt es Sourvinou-Inwood in ihrer Studie Girls ' Transition Rites (1985), anhand der bruchstückhaften archäologischen und literarischen Zeugnisse ein recht genaues Bild der rituellen Tätigkeiten junger Mädchen in diesem Heiligtum zu zeichnen. Bei der Frage nach der sozialen Funktion geht sie ebenfalls vom oben zitierten Schema Vernants aus, kommt allerdings zum

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Caíame (1977), 39. Für die ausschließliche Zuordnung von Sexualität und Ehe zum weiblichen Bereich kann Calarne kein konkretes ethnologisches Beispiel vorweisen. Vemant (1987), 32 (in der franz. Originalausgabe p. 38). Es bandelt sich um die strukturalistische Parallelisierung des Gegensatzpaares „Heirat/Krieg" mit dem Gegensatz „weiblich/männlich"; Der Gegensatz männlich/weiblich ist inbezug auf soziale Verhältnisse jedoch niemals symmetrisch; vgl. dazu z.B. Loraux (1989), 13 und Brulé (1987), 401. Brulé (1987), 98 und 138f. Ebd., 256. So finden wir z.B. im Kult der spartanischen Artemis Karyatis und Limnatis Jugendliche beiden Geschlechts, Zeugnisse bei Caíame (1977), 253-76; Achilles Tatios (7, 13, 2) schildert einen ländlichen Artemistempel, den nur Männer, Jungfrauen und Slavinnen betreten dürfen; obwohl der Text natürlich fiktiv ist, muß die Schilderung der Kultvorschriften fur das zeitgenössische Publikum plausibel geklungen haben.

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Schluß, daß es weniger darum gegangen sei, den Mädchen die für ihr Geschlecht spezifischen Tätigkeiten beizubringen und sie in die Sexualität einzuführen, als ihnen das der Rolle einer athenischen Frau entsprechende Verhalten rituell einzuprägen. Schließlich sei noch die Monographie Death and the Maiden: Girls ' Initiation Rites in Greek Mythology von Dowden genannt. Der Autor versucht, aus mythischem Material die Rituale junger Mädchen zu rekonstruieren, was allerdings im Hinblick auf die im Abschnitt Myth and Ritual genannten Gründe ein fragwürdiges Verfahren ist. Dabei führt seine Konzentration auf den mythischen Bereich zu einer bemerkenswerten, von einer Rezensentin bemängelten Verschiebung:177 Obwohl das Buch vorgibt, von weiblicher Initiation zu handeln, zwingt das Material den Autor, fast ebenso ausführlich über männliche Jugendliche zu schreiben, da in den Mythen immer von beiden Geschlechtern erzählt wird. Die seit Breiich aus dem ethnologischen Vergleichsmaterial abgeleitete, klare Geschlechtertrennung muß also für den griechischen Bereich ebenfalls überdacht werden,178 was uns zu den angeblichen „Transformationen" und „Adaptionen" männlicher Initiationsrituale führt. Zu diesen werden gewöhnlich vor allem die spartanischen Altersklassen,179 die auf Kreta praktizierte Erziehung Jugendlicher im Andreion und die damit verbundene homoerotische Entführung180 und die in diesem Buch behandelten Feste und Mythen gezählt. Sie sind Thema der ältesten Forschungen zum Initiationsritual in der griechischen Religion. Im Vergleich zu den Ritualen der griechischen Mädchen ist das Material jedoch relativ spärlich, so daß es hier weitaus schwieriger ist, ohne die inzwischen obsolet gewordenen Verfahren der Rekonstruktion von Ritualen aus Mythen oder des direkten ethnologischen Vergleiches überhaupt zu sinnvollen Interpretationen zu kommen, vor allem dann, wenn man am hergebrachten Begriff des Initiationsrituals festhält. Das deutlichste Beispiel dafür sind die athenischen Oschophoria: Seit Harrison wird dieses athenische Fest zusammen mit dem schon in der Antike damit verbundenen Theseus-Mythos als Initiationsritual gedeutet;181 die so in rund hundert Jahren erzielten Ergebnisse sind dermaßen widersprüchlich und unbefriedigend, daß ich das Modell des Initiationsrituals für die Beschreibung der Rituale und Mythen Jugendlicher schließlich ganz aufgab, da es sich - zumindest in seiner hergebrachten Form - als nicht geeignet erwies, 177 178

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B. Zweig (1991), Women's Classical Caucus, Newsletter 16, 38-41. Brelich (1969), 21 betont, daß es selbstverständlich sei, daß Jungen und Mädchen getrennt initiiert würden, da ihre Positionen in der Gesellschaft von Natur aus verschieden seien. Vgl. dazu Petterson (1992), 78-90. S. unten Kap. IV 4. Zur Forschungsgeschichte der Deutung der Oschophoria als Initiation s. unten Kap. IV 3.1.

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den komplexen historischen Befund zu erfassen. Die Ursachen für die Unzulänglichkeit des Modells werden deutlich, wenn man sich kurz die Genese des Begriffes selbst und die Geschichte seiner Verwendimg in der Beschreibung der Rituale junger Männer in der griechischen Religion vergegenwärtigt. Der Jesuit J.F. Lafitau (1670 - 1740), der mit seinem 1724 unter dem Titel Moeurs des sauvages amériquains comparées aux moeurs des premiers temps erschienenen Vergleich indianischer und antiker Bräuche gleichermaßen als Vorläufer der modernen Ethnologie wie der historischen Anthropologie gelten kann, dehnte meines Wissens als erster den Begriff der Initiation über die in der Antike geläufige Bedeutung der Einweihung in einen Mysterienkult aus.182 In seinem Text werden bereits alle Dimensionen sichtbar, die der Begriff in der späteren Ethnologie ebenso wie in der Interpretation antiker Rituale annehmen sollte. Die Einweihung in antike Mysterienkulte vergleicht Lafitau mit der christlichen Taufe:183 Fasten, Waschungen und das Zufügen physischer Schmerzen durch Geißelung dienten seiner Meinung nach in paganen Initiationen dazu, den Initianden in einen Zustand zu versetzen, in dem er „Umgang mit den Göttern" erlangte.184 Lafitau behauptet außerdem, daß in der paganen Religion alle Mitglieder der Gesellschaft sich initiieren ließen und vermutet, daß das dafür geeignete Alter die Pubertät gewesen sein könnte.185 Die Geißelung und die allgemeine Einweihung in Mysterien im Alter der Pubertät sind dabei zwei Annahmen, die dem historischen Befund am deutlichsten widersprechen. Offensichtlich projiziert hier Lafitau christliche Vorstellungen in die pagane Antike. Um seine Überlegungen dennoch mit Hilfe der paganen antiken Überlieferung plausibel machen zu können, wendet Lafitau den Begriff Initiation (bzw. jenen der Mysterien) auf ein Ritual an, das in der Antike nie als Initiation oder Mysterienkult bezeichnet worden wäre, ohne das aber die moderne Diskussion des antiken Initiationsrituals nicht denkbar ist: die von Cicero geschilderte Geißelung der spartanischen Epheben im Heiligtum der Qrthia in Sparta.186 Dabei handelt es sich nach Lafitau um eine Initiation, weil eine Geißelung stattfindet; daß Geißelungen zur Einweihung in Mysterien gehörten, leitete er vorher aus einer falsch gelesenen Stelle bei Pausanias über einen Kult der eleusinischen

182

183 184 185 186

Zur antiken Verwendung des Begriffes vgl. Burkert (1990), 14-16 bes. Anm. 33, der u.a. auf eine zweisprachige, hellenistische Inschrift aus Samothrake verweist (SEG 29, 799), wo initiatei als Übersetzung für μΰσται erscheint. Lafitau (1724), 271. Ebd., 277. Ebd., 280. Ebd., 274 f. Cie. Tusc. 2, 34; das Ritual ist erst für die Kaiserzeit in dieser Form bezeugt, ältere Zeugnisse lassen ein Kultspiel vermuten, bei dem es darum ging, Käse vom Heiligtum der Göttin zu stehlen, Xen. Lak pol. 2, 8f.

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Demeter in Arkadien ab.187 Später wird Lafîtau die Erziehung der jungen Irokesen mit jener der Spartaner vergleichen. Von nun an, spätestens aber seit Frazer, ist eine Ethnologie ohne den Begriff des Initiationsrituals nicht mehr denkbar. Frazer bezeichnet die Initiation als „the central mystery of primitive society".188 In den von ihm gesammelten Aufhahmeritualen glaubt er immer wieder die Symbolik von Tod und Wiedergeburt lesen zu können; auch diese Verbindung findet sich bereits bei Lafitau, der Tertullians Vergleich der Mithrasmysterien mit Tod und Auferstehung im Christentum anführte.189 Frazer verbindet dies mit dem Totemismus: es gehe in Initiationsritualen darum, in einer Art magischem Akt die Seele des Initianden aus dessen Körper zu extrahieren. Die losgelöste Seele tritt in Kontakt mit dem Totem und kehrt schließlich gestärkt in den Körper zurück.190 Frazers Zeitgenosse Crawley deutete Initiationsriten („uses at puberty called initiations") als Vorbereitung auf die Hochzeit; sie dienen seiner Meinung nach dazu, die von den „Primitiven" gefurchteten Gefahren bei der Begegnung zwischen den Geschlechtern auf magische Weise zu bannen.191 Während für Frazer immer noch die Auswirkungen des Rituals auf ein Individuum im Mittelpunkt des Interesses steht und für Crawley Hochzeit und Familie die wesentlichen gesellschaftlichen Einrichtungen sind, bewirkt die neue, mit den Namen Robertson Smith und Durkheim verbundene Sicht auf Religion und Gesellschaft auch eine neue, aber nicht weniger gewichtige Bewertung des Initiationsrituals. Es geht nun nicht mehr um Magie und Sexualität oder - wie beim christlich argumentierenden Lafitau - um die Aufnahme eines einzelnen in eine Religionsgemeinschaft, die ein Weiterleben nach dem Tode garantiert, sondern um die Aufnahme in soziale Gruppierungen an sich, die nicht unbedingt religiöser Art sein müssen, sondern als (Unter-)einheiten von Gesellschaft beschrieben werden; nun erst werden ethnologisch belegte Aufnahmerituale in Altersklassen und Geheimbünde aller Art wahrgenommen und als Initiationen bezeichnet. Derartige Gruppierungen sind Thema zweier ethnologischer Monographien, die am Anfang des in Deutschland und den USA erschienen und die die Diskussion über das Initiationsritual, gerade auch in der antiken Kultur, bis heute nachhaltig beeinflussen: Altersklassen und Männerbünde von Schurtz (1902) und Primitive Secret Societies von Webster (1908). Beiden gemeinsam ist der Versuch, Aufnahmerituale Jugendlicher in derartige

187 188 189 190 1,1

Lafitau (1724), 273 mit Verweis auf Paus. 8, 15, 1. Frazer (1907-15), XI278. Lafitau (1724), 272f. verweist auf Tert. de baptismo 5. Frazer (1907-15), ΠΙ 422 (zur Initiation: ebd., 422-45). Crawley (1893); vgl. auch ders. (1902).

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Gruppierungen ursächlich mit der physiologischen Pubertät zu verbinden."2 Damit wird dem in vormodernen und teilweise auch in antiken Gesellschaften faßbaren Konzept der Altersklassen eine moderne Vorstellung von „Jugend" überblendet, die seit Rousseau gängig ist: Jugend wird verstanden „als eine von der Gesellschaft abgesonderte Lebensphase, in der den in dieser Phase befindlichen Individuen bestimmte gesellschaftliche Aufgaben pädagogisch vermittelt auferlegt werden."193 Im Begriff Pubertät erhält die solchermaßen konstituierte Lebensphase eine biologische Begründung. Doch nicht nur dieses der griechischen und auch anderen vormodemen Gesellschaften nicht unbedingt angemessene Konzept der Jugend fand Eingang in die bis heute gängige Vorstellung von der sozialen Funktion des „ethnologischen Initiationsrituals". Weit folgenreicher war noch das von Schurtz vorausgesetzte, biologistisch begründete Gesellschaftsmodell: er postuliert, daß die Männer einen „biologisch" angelegten Gesellschaftstrieb besäßen, während sich das Interesse der Frauen vorwiegend auf die „Geschlechtsliebe" und die „aus ihr entspringenden Familiengefuhle" richte.194 Dem Gesellschaftstrieb der Männer wiederum, der in männerbündischen Organisationen zum Ausdruck komme, verdanke die Gesellschaft als solche ihre Grundlage. Diese Aussage - und weniger die Darstellung des ethnologischen Materials - ist auch nach der Absicht des Autors das eigentliche Ziel seines Werkes, dessen Untertitel Eine Darstellung der Grundlagen der Gesellschaft lautet. Schurtz erhebt außerdem seine Beobachtung, daß zwischen männerbündischen Organisationen und Kriegsführung oft ein enger Zusammenhang besteht, ebenso zur allgemeinen Regel wie die Behauptung, daß Initiationen junger Männer ursächlich an das Vorhandensein von kriegerischen männerbündischen Organisationsformen von Gesellschaft gebunden 195

seien. Als Harrison zum ersten Mal im Zusammenhang der griechischen Religion von „primitive rites of tribal initiation" spricht, sind ihr die Arbeiten von Schurtz und Webster bereits bekannt.196 Um den in Paläokastro gefundenen Hymnos, in dem Zeus als „größter Kuros" angerufen wird, als Lied zum Waffentanz einer Initiation deuten zu können,197 geht sie allerdings, ähnlich wie Lafitau, den Umweg über antike Mysterieninitiationen. Harrison paralle192

194 195

196 1,7

Schon bei Lafitau (1724), 280 klingt dieser Gedanke an, wenn er behauptet, daß in der Antike Einweihungen meist im Pubertätsalter stattgefunden hätten. K.-P. Horn, Was ist eigentlich Jugend?, in: Horn et al. (1998), 4f. Schurtz (1902), 14-17. Zum Männerbund und seiner Forschungsgeschichte vgl. die Beiträge in: Völger/v.Welck (1990). Harrison (1927), 16, Verweis auf Schurtz und Webster: 19, Anm. 1. Hymnos-Text: Inscr. Cret. ΙΠ ii 2; zur Interpretation vgl. M.L. West (1965), The Dictaean Hymn to the Kuros, JHS 85, 149-59; Lonsdale (1993), 156f.

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Mythos lind Ritual in Theorie und Praxis

lisiert den Mythos von der Zerreißung und Wiederherstellung des Dionysos durch die Titanen mit jenem der Errettung des Zeuskindes durch die mythischen Kureten. Diesen entsprechen wiederum die rituelle Kureten in einem bei Strabo überlieferten Mysterienkult.198 Mit Frazer ist für sie die Symbolik von Tod und Wiedergeburt das wichtigste Merkmal der "tribal initiation", gleichzeitig versucht sie jedoch, die Initiation über ihre soziale Funktion zu definieren: "At and through his initiation the boy is brought into close communion with his ancestors: he becomes socialized, part of the body politic."199 Die Ähnlichkeit der Kureten mit den mythischen Schmieden, den Daktylen und Telechinen, läßt Harrison außerdem vermuten, daß die rituellen Kureten derartige Kulturheroen darstellten.200 Etwas zweifelnd fuhrt sie schließlich Schurtz dafür an, daß der Ursprung kultureller Leistungen nicht in der Familie, sondern im Männerhaus liege; auch die rituellen Kureten könnten deshalb einem solchen angehört haben.201 Es darf jedoch nicht unerwähnt bleiben, daß Harrison im gleichen Buch noch ein zweites, ganz anderes Konzept der männlichen Initiation entwickelt: Im Zusammenhang mit dem Dionysoskult stellt sie die Beziehung von Mutter und Sohn ins Zentrum ihrer Interpretation; in dieser mythischen Dyade sieht sie den Reflex einer „adolescent initiation", die in einer matriarchalen Gesellschaft zentral gewesen sei; mit dem Aufkommen des Patriarchats hingegen hätten derartige Initiationen ihre ursprüngliche Bedeutung verloren.202 Dies ist einerseits ein Beispiel für die berüchtigte Inkonsistenz von Harrisons Argumentation, ebenso wie für ihre Gewohnheit, Theorien eklektisch zu rezipieren.203 Andererseits weist dieser Widerspruch jedoch auch auf ihr Bemühen hin, dem überlieferten Material gerecht zu werden, für das sich das von Webster und besonders Schurtz gelieferte Modell der Initiation als Aufnahme in eine als Männerbund gedachte Gesellschaft als ungeeignet erwies. In den einige Jahre später erschienen Epilegomena versuchte Harrison schließlich noch einmal den Begriff der „tribal initiation" soziologisch zu bestimmen: Initiationsrituale dienen dazu, Jugendliche in den Stamm („tribe") aufzunehmen. Dabei gehe es darum, „Männer zu machen" („to manufacture men"); die männliche Rolle in der Gesellschaft definiert sie dop198

199 200 201

202 203

Harrison (1927), 13-25 mit Verweis auf Strab. 10, 3, 11 (C469); vgl. dazu Burkert (1977), 392f.; 419. Harrison (1927), 19. Ebd., 26f. Ebd., 27: „If the investigations of recent anthropologists are correct, it is not so much about the familiy and the domestic hearth that the beginnings of the arts cluster, as about the institution known as the Man's house." Ebd., 41. Zu Harrisons Rezeption der damals geläufigen Matriarchatstheorien vgl. Schlesier (1994), 177-83.

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pelt: „[...] he [sc. der junge Mann, K.W.] became a warrior and a father, he defended the present generation and engendered the next."204 Dies bedeutet bereits eine bemerkenswerte, die Arbeiten Meads vorwegnehmende Aufgabe biologistischer Modelle, die in den „natürlichen" Gegebenheiten von Pubertät und Geschlecht die Ursache von Initiationsritualen sahen.205 Es war jedoch das Modell von Schurtz, dem vorerst die wissenschaftliche - und die politische - Zukunft gehören sollte. So greift Jeanmaire in seiner 1939 erschienen Monographie Couroi et Courètes Harrisons Interpretation des Kureten-Komplexes wieder auf. Seine Auffassung von Initiation beruhte vor allem auf den Arbeiten von Schurtz und Webster, und so geht es ihm in erster Linie darum, zu beweisen, daß Männer- und Kriegerbünde auch im archaischen Griechenland existierten.206 Damit verbunden ist die Annahme, daß die verschiedenen staatlichen Organisationsformen Griechenlands aus dem Männerbund entstanden seien. Bereits Gernet kritisierte in einer Rezension die vorwiegend hypothetisch rekonstruierende Verfahrensweise Jeanmaires ebenso wie dessen einseitige Konzentration auf den militärischen Bereich, sowohl in der Sichtweise der griechischen Gesellschaft als auch der männlichen Initiation.207 Doch blieb die Vorstellung bis heute geläufig, daß ein im Grunde immer nur aus Mythen oder ethnologischen Parallelen rekonstruiertes ursprüngliches Initiationsritual die griechischen jungen Männer in eine Gesellschaft eingeführt habe, die ihrerseits als Männerbund aufgefaßt wird. Dabei wurde der von Schurtz hergestellte ursächliche Zusammenhang der Existenz von Männerbünden und Initiationsritualen in der Ethnologie längst widerlegt.208 Die lange Haltbarkeit dieser „Commonsense-Vorstellung" beruht wohl vor allem darauf, daß sie von bedeutenden modernen Diskursen, jenem der historischen Rekonstruktion einer indogermanischen oder indoeuropäischen Gesellschaft, jenem der Psychoanalyse und schließlich sogar jenem des Strukturalismus aufgenommen wurde: So wurde es üblich, vom „(indogermanischen Männerbund" zu sprechen, oft in Verbindung mit der Behauptung, daß es zwar bei den historischen Griechen keine eigentliche Initiation mehr gebe, einzelne rituelle und mythische Motive aber, insbesondere die Päderastie, aus indoeuropäischer Zeit stammten.209 Freud hatte 204 205 206 207

208

209

Harrison (1921), xxx-xxxiv, Zitat: xxx. M. Mead (1935), Sex and Temperament in Three Primitive Societies, New York. Vgl. auch H. Jeanmaire (1913), La cryptie lacédémonienne, REG 26, 121-50. L. Gemet (1944), Structures sociales et rites d'adolescence dans la Grèce antique, REG 57, 242-48. Initiationsrituale gibt es auch in Gesellschaften, die keine Männer- und Kriegerbünde kennen; vgl. dazu Th. Schweizer in: Völger/v.Welck (1990), 13-30. Wichtig für das Konzept des indogermanischen Männerbundes: L. Weiser (1927), Altgermanische Jünglingsweihen und Männerbünde. Ein Beitrag zur deutschen und nordischen Altertums - und Volkskunde, Bühl (die für die These eines arischen Männerbundes

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Mythos und Ritual in Theorie und Praxis

gleichzeitig zur Theorie des Ödipuskomplexes eine Kulturtheorie formuliert, die Familie und Gesellschaft einander als antagonistisch gegenüberstellt, wobei die Familie als phylogenetisch ältere Stufe der Kindheit zugeordnet wird; Initiationsrituale dienen folglich dazu, diese erste Stufe zu überwinden und in den Bereich der Kultur einzutreten.210 Die Verbindung der seit Schurtz üblich gewordenen rein weiblichen Konnotierung der Bereiche Familie und Sexualität mit dem Freudschen Modell fuhrt dazu, daß dort, wo Initiation weniger als gesellschaftlicher, denn als individueller Vorgang aufgefaßt wird, die Funktion der Rituale in der individuellen Trennung des Jungen von der Mutter gesehen wird.211 Die bereits im Zusammenhang mit der Forschung zur griechischen Mädcheninitiation diskutierten strukturalistischen Ansätze, etwa von Vemant oder Caíame, die der weiblichen Initiation Ehe und Mutterschaft, der männlichen hingegen die Ausbildung zum Krieger zuordnen, stehen deutlich erkennbar in der Tradition von Schurtz und Jeanmaire. Versuchen wir jedoch in der im Abschnitt „Polisreligion" skizzierten Weise, die griechische Gesellschaft nicht als totalitären Männerbund, sondern als komplexes, viele Gruppierungen und insbesondere beide Geschlechter und damit auch die privaten Haushalte umfassendes System zu denken, müssen wir diese bis heute nachwirkende Tradition von der männlichen Initiation als Aufnahme in den Männerbund in ihrer hergebrachten

210

211

auf L.v. Schröder, Mysterium und Rigveda, 1908 verweist, der die Ursprünge des altindischen Dramas aus den Rituale der „arischen Jungmannschaft" ableitete); O. Höfler (1934), Kultische Geheimbünde der Germanen I, Frankfurt; ders. (1973), Verwandlungskult, Volkssagen und Mythen (Österr. Akad. Wiss. Phil.-Hist. Kl. Sitz.-Ber. 279); weitere Literatur bei Versnel (1993), 49, Anm. 90; zur Verbindimg mit nationalsozialistischer Ideologie: Schlesier (1994), 187, Anm. 118 und A.A. Lund (1995), Germanenideologie im Nationalsozialismus. Zur Rezeption der ,Germania' des Tacitus im „Dritten Reich", Heidelberg; initiatorische Päderastie als Relikt eines indoeuropäischen Rituals: Bremmer (1980); Sergent (1986); zur Verbindung von Päderastie und Initiation vgl. unten Kap. II 3.1.; VI 4. Nach Erdheim (1988), 277 erwähnt er diesen Gedanken zum ersten Mal bereits 1897 in einem Brief an Fließ. In Totem und Tabu sieht er in der patriarchalischen Familie die „Wiederherstellung der einstigen Urhorde", die Kultur muß deshalb in religiösen Zeremonien immer wieder an den ursprünglichen Vatermord erinnern, der zum Inzestverbot und zur Solidarität unter den Männer geführt hatte; Freud (1991), 204. In der Schrift Unbehagen in der Kultur heißt es: „Die Phylogenetisch ältere, in der Kindheit allein bestehende Weise des Zusammenlebens wehrt sich, von der später erworbenen kulturellen abgelöst zu werden. Die Ablösung von der Familie wird für jeden Jugendlichen zu einer Aufgabe, bei deren Lösung ihn die Gesellschaft oft durch Pubertäts-und Aufnahmeriten unterstützt." Zitiert nach Erdheim (1988), 277. Z.B. A.E. Jensen (1933), Beschneidung und Reifezeremonien bei Naturvölkern, Stuttgart (Studien zur Kulturkunde, Bd. I, hrsg. von L. Frobenius). Jüngstes Beispiel für eine Anwendung diese Ansatzes auf den griechischen Bereich ist Leitao (1993), der betont, daß es ihm nicht um die soziale, sondern um die biologische und psychologische Dimension der Initiationrituale junger Männer gehe (ebd., 1).

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Form aufgeben. Initiation in ein derart komplexes System, und damit in die Polisreligion, kann für beide Geschlechter immer nur durch eine rituelle Anbindung an eine ganze Reihe von verschiedenen Gruppierungen erfolgt sein, wobei jeweils unterschiedliche Aspekte des Erwachsenwerdens, der Eingliederung der Jugendlichen in die soziale und kulturelle Ordnung der Polis, thematisiert wurden. Indem Jugendliche, in mehr oder weniger hervorgehobener Position, an unzähligen Festen und einzelnen Ritualen der Polisreligion teilnahmen, wurden sie in je verschiedene Facetten dieser Religion und der damit verbundenen sozialen Regeln eingeführt; die entsprechenden Mythen lassen sich zumindest zum Teil auch als Auskunft darüber lesen, um welchen Aspekt es jeweils ging. Da die Rituale einer einzelnen Polis und ihrer Gruppierungen ein langsam gewachsenes, kompliziertes Geflecht bildeten, ist mit Überschneidungen und Wiederholungen zu rechnen. So ließe sich etwa sagen, daß die Arrhephoren durch ihren Dienst auf der Akropolis allen Mitgliedern ihrer Altersgruppe vorführten, daß junge Frauen für Weben und Sexualität zuständig waren. Dies bedeutete gleichzeitig, zur Gruppe der erwachsenen Frauen zu gehören, die den Kult der Athena und jenen der Aphrodite auszuführen hatten, und zwar nicht nur in ihrem privaten Interesse, sondern auch zum Wohle der gesamten Polis. In Brauron hingegen ging es um jene Aspekte der weiblichen Biographie, die zum Bereich der Göttin Artemis gehörten: Nur eine Frau, die wußte, wie man der Göttin Artemis opfert, konnte die physischen Gefahren der ersten Menstruation ebenso wie jene des Wochenbettes überstehen.212 Für die männliche Initiation ist mit ähnlichen, komplexen Verhältnissen zu rechnen. So steht beispielsweise in Athen die Aufnahme männlicher Jugendlicher in die Phratrie neben ihrer Beteiligung am Dionysoskult, der Teilnahme am Panathenäenzug, dem Ephebeneid. Es ging nicht um die Aufnahme in einen „ursprünglichen" Männerbund, sondern um die Zugehörigkeit zum Hoplitenheer ebenso wie zu verschiedenen, nebeneinander existierenden Formen von „commensality" („Tischgemeinschaft"), die für den Status des erwachsenen männlichen Bürgers wichtig waren, wie beispielsweise Schmitt-Pantel im Hinblick auf die Bedeutung von Opfermahl und Symposion betont.213 Die Rituale und Mythen, die Thema dieses Buches sind, bilden nur einen Ausschnitt aus einem so definierten Komplex der Initiation. Bedeutet diese Modifikation des herkömmlichen Begriffs der Initiation nun aber gleichzeitig auch die Aufgabe des seit van Gennep damit verbundenen Modells des Übergangsrituals? Auch hier lohnt es sich, an die Anfänge zu erinnern: Die Gesellschaft, so bemerkt van Gennep im ersten Kapitel sei212

213

Vgl. zu dieser Dimension der Göttin Artemis z.B. King (1983); N. Demand (1994), Birth, Death and Motherhood in Classical Greece, Baltimore, 87-101 P.Schmitt-Pantel, Sacrificial Meal and Symposion: Two Models of Civil Institutions in the Archaic City? in: Murray (1990), 14-33; vgl. auch dies. (1992).

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nes 1909 erschienen Buches, habe man sich wie ein „Haus vorzustellen, [...] das in Zimmer und Flure unterteilt ist", je „zivilisierter" eine Gesellschaft sei, desto „dünner sind die Trennungswände zwischen den Zimmern und um so weiter stehen die Türen der Kommunikation offen, in einer halbzivilisierten Gesellschaft dagegen sind die einzelnen Räume sorgfältig untereinander isoliert." Um von einem in einen anderen Raum zu gelangen seien deshalb, wie bei entsprechenden räumlichen Übergängen, Übergangsrituale notwendig.214 Das Strukturschema leitet er aus konkreten, räumliche Übergänge begleitenden Ritualen ab und beschreibt den Ablauf des Übergangsrituals mit der inzwischen klassisch gewordenen Sequenz von Trennungsriten (rites de séparation), Schwellen- oder Umwandlungsritualen {rites de marge) und Angliederungsriten {rites d'agrégation). Es gelingt ihm, anhand dieses Modells unzählige, bis dahin völlig unsystematisiert von Ethnologen gesammelte Rituale zu klassifizieren und zu beschreiben. Initiationen Jugendlicher sind fur van Gennep nur ein Sonderfall von Aufiiahmeritualen in geschlossene Gruppen, die nach dem Schema des Übergangsrituals ablaufen.215 Was van Gennep über deren soziale Funktion äußert, ist der oben versuchten Neubestimmung des Begriffes Initiation erstaunlich nahe. Van Gennep lehnt die biologistischen und evolutionistischen Modelle von Webster und Schurtz, insbesondere deren ursächlich hergestellte Verbindung von Pubertät und Initiationsritualen in Altersklassen ab.216 Statt dessen schlägt er vor, von einer „sozialen Pubertät" zu sprechen, die mit der physiologischen nicht ursächlich verbunden sei und die Initiationsrituale von Jugendlichen als einen Typ von Aufiiahmeritualen in größere Gruppe zu klassifizieren: „Bei diesen Riten handelt es sich um Trennungsriten, die von der asexuellen Welt lösen. Ihnen folgen Angliederungsriten, die in die sexuelle Welt, d.h. in die in allen Kulturen existierenden und strikt voneinander getrennten Geschlechtsgruppen integrieren."217 Weichen wir von dem recht statischen Gesellschaftsbild van Genneps ab, so können wir sagen, daß in einer komplizierten Gesellschaft, in der die Geschlechtsgruppen nicht immer strikt getrennt sind und in der neben der Geschlechterdifferenz weitere soziale Organisationsmuster vorhanden sind, eben auch die Anbindung Jugendlicher an diese Gesellschaft durch verschiedene, differenzierte Rituale erfolgen kann. Verlaufen derartige neu definierte Initiationen nun aber dennoch nach dem Muster van Genneps? Sie tun es, wenn wir sie, der modernen Ritualdefinition folgend, als in Zeit und Raum ablaufende Handlungen interpretieren. Sie unterscheiden sich dann aber auch nicht mehr von allen anderen Ritualen, insofern wir diese als Handlungen definieren, die einen Bezug zu einem 214 215 216 2,7

Van Gennep (1986), 34. Ebd., 70-113. Ebd., 70f. Ebd., 72.

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symbolischen, transzendenten System haben und dazu dienen, Gesellschaft zu organisieren. Der Ethnologe Michaelis verweist auf diesen allgemeingültigen Charakter des Übergangsrituals und betont, daß van Gennep selbst anders als seinen Kritikern und Rezipienten - dessen Modellhaftigkeit sehr wohl bewußt war, spricht dieser doch von „Schema", bzw. ,Abfolgeordnung".218 Die mißverständliche ontologische Auffassung des Modells des Übegangsrituals hat gerade im Bereich der griechischen Religion zu verwirrenden, tautologischen Ergebnissen geführt. Dies beginnt bereits mit Harrison, die in einem Brief ihrer Begeisterung über van Genneps Buch Ausdruck gab: „[...] I had never seen the importance of the unalterable sequence of rites pre-liminal - liminal - post-liminal - it is really what I was worrying about with rites of sacrifice - entry, sanctification, exit - and all rites de passage have the same schema, birth, marriage, initiation, death, they are all initiations: and I think it will work out that all true myths as opposed to legends have the schema."2™ Das Mißverständnis ist deutlich: daß alle von Hamson aufgezählten Rituale Initiationen seien, sagt van Gennep eben nicht, sondern nur, daß Initiationen mit einem dreiteiligen Verlaufsschema beschrieben werden können. Weit folgenreicher noch war, daß van Gennep selbst, dann aber auch Harrison und andere, das mythologische Schema von Tod und Wiedergeburt nun nicht mehr mit dem Ablauf der Jahreszeiten, sondern mit jenem des dreiteiligen Übergangsrituals erklärten.220 Versnel bemerkt in seinem Überblick zurecht, daß das Konzept der Initiation als universales Erklärungsmuster an die Stelle des Mythos vom sterbenden Vegetationsgott trat.221 Von nun an war es möglich, aus dem verbreiteten mythischen Schema jederzeit auf ein nicht mehr vorhandenes Initiationsritual zu schließen oder auch umgekehrt, jede derartige Erzählung als Reflex eines ursprünglichen Initiationsrituals zu deuten. Die Weiterentwicklung von van Genneps Mythenlektüren zur strukturalen Erzähltheorie bewirkte, daß das Verfahren bis heute praktiziert wird.222 Alle in diesem Buch analysierten mythischen Erzählungen wurden und werden auf diese Weise gedeutet.223 Das moderne Konstrukt der 218

Michaelis (1999), 23f.: „[...] da jede Handlung eine Veränderung ist, ist auch jedes Ritual eine Veränderung, ein Übergang, eine Passage." Zur Rezeption und Kritik an van Gennep vgl. Schomburg-Scherff in Van Gennep (1986), 237. 2 " Es handelt sich um einen unveröffentlichten, vermutlich 1910 verfaßten Brief an Murray, zitiert nach Schlesier (1994), 186, Anm. 118. 220 Van Gennep (1986), 93f. 221 Versnel (1993), 49: „[...] the initiant arose from the dying god's ashes." Vgl. auch ebd., 59. 222 Vgl. oben Anm. 27; 99. 223 Zusammenfassend z.B. Graf (1999), 112f.; vgl. die Literaturangaben zu den einzelnen Beispielen.

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männlichen Initiation und der Myth and Ritual - Ansatz in seiner problematischsten Form waren von Anfang an untrennbar miteinander verbunden. Doch ist eine derartige „initiatorische" Mythenlektüre nicht nur aus den bereits im Abschnitt Myth and Ritual angeführten methodisch-theoretischen Gründen abzulehnen. Die griechischen Heroenbiographien, die dafür meist herangezogen werden, etwa jene des Theseus oder des Achilleus, erzählen in archaischer und klassischer Zeit noch keine geradlinigen Lebensläufe einzelner Helden, mit denen sich die rituellen Initianden hätten identifizieren können. Statt dessen finden wir ein Konglomerat von mythischen Szenen aus der Jugend der Heroen, die je nach Situation verschieden erzählt werden konnten.224 Will man diese Mythenvarianten als Texte über den oben umschriebenen Komplex der Initation lesen, so ist davon auszugehen, daß sie nicht einen idealen Lebenslauf erzählen, sondern ganz verschiedene Aspekte des Heranwachsens Jugendlicher thematisierten und zwar Jugendlicher beiderlei Geschlechts: Denn der Theseus-Mythos ist auch eine Geschichte über Ariadne,225 jener von Achilleus auf Skyros erzählt auch über die Töchter des Lykomedes und über Deidameia,226 um nur zwei Beispiele zu nennen. Nochmals sei daran erinnert, daß Dowden in jenen Mythen, die er der weiblichen Initiation zurechnet, immer auch männliche Protagonisten vorfindet.227 Die einzige antike Erzählung, die noch am ehesten einem linearen biographischen Schema entspricht, ist der Mythos von Demeter und Persephone, wie er im homerischen Demeterhymnos erzählt wird. Doch bezieht sich dieser bekanntlich auf die eleusinischen Mysterien und gerade nicht auf eine Mädcheninitiation im ethnologischen Sinne, obwohl dies immer wieder behauptet wurde.228 Doch auch in den eigentlichen Mysterien, d.h. bei den Initiationen im antiken Sinn des Wortes, ging es nicht um Tod und Wiedergeburt (im christlichen Sinne von Wiederauferstehung), sondern - wie Burkert herausarbeitet - um ein neues, besseres Leben im Diesseits, das nach dem Tod als ewig dauerndes Mysterienfest seine natürliche Fortsetzung im Jenseits finden sollte.229 Die Behauptung, griechische Initiationsrituale für Jugendliche seien immer nach dem Muster des dreiteiligen, mit der Symbolik von Tod und Wie224 225 226 227 228

229

Zu den Erzählungen um Theseus vgl. beispielsweise unten Kap. V. S. unten Kap. V 2.3.2. S. unten Kap. ΠΙ. S. oben p. 38. Bereits Jeanmaire (1939), 269-278; 298-305 deutet die Thesmophorien als survival eines weiblichen Initiationsrituals. Gernet weist jedoch in seiner Rezension (vgl. oben Anm. 207) darauf hin, daß die Thesmophorien ausdrücklich ein Fest der erwachsenen Frauen waren; für eine neuere ethnologisch-vergleichende Perspektive vgl. das entsprechende Kapitel bei: B. Lincoln (1981,21991), Emerging from the Chrysalis, Rituals of Women's Initiation, Oxford, 71-90. Burkert (1990), 19-34.

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dergeburt verbundenen Übergangsrituals verlaufen, bzw. jedes so verlaufende Ritual und jede derartige Erzählung sei auf ein (ursprüngliches) Initiationsrituals zurückzuführen, ist sowohl tautologisch als auch unhistorisch. In gleicher Weise problematisch ist die Verallgemeinerung des Konzeptes der „Antistruktur" oder der „Liminalität", das Turner, ausgehend von der mittleren Phase des Übergangsrituals, entwickelte.230 Turner meinte damit ein grundsätzliches rituelles Außer-Kraft-Setzen aller sozialen Ordnungskategorien, doch ist auch dieses Modell nur sinnvoll, wenn konkret gefragt wird, welche sozialen Kategorien auf welche Weise außer Kraft gesetzt werden. So ist davon auszugehen, daß es in jeder Kultur immer wieder liminale Zustände, Personen etc. gibt; deren Vorhandensein allein ist jedoch keinesfalls der Beweis für das Existieren eines Übergangs- oder Initiationrituals.231 Es bleibt die einfache, aber keineswegs leicht zu beantwortende Frage nach dem konkreten, historisch bezeugten, räumlichen und zeitlichen Ablauf der einzelnen Rituale und Feste, mit denen Jugendliche in die verschiedenen Gruppierungen der erwachsenen Polis eingeführt wurden. Es ist in jedem Einzelfall danach zu fragen, wie jeweils ihre „ritualisierten Körper" durch Handlungen definiert wurden und welche symbolischen Konzepte sich dabei materialisierten, wie und in welchen symbolisch überdeterminierten Achsen von Raum und Zeit alle, d.h. auch die erwachsenen Teilnehmer und Teilnehmerinnen eines Feste, miteinander agierten, sich als Gruppen erfuhren und sich gleichzeitig untereinander und gegen andere abgrenzten. Seiner zentralen Stellung in der Polisreligion entsprechend, steht dabei in den folgenden Analysen immer wieder das Opferritual im Mittelpunkt. Vor allem die Lektüre der aitiologischen Mythen in denen vom Tod Jugendlicher die Rede ist, wird in gewisser Weise auch für die griechische Polisreligion die Beobachtung das Ethnologen Bloch bestätigen, daß in Religionen, in denen das Opfer zentral ist, der Schritt vom Jugendlichen zum Erwachsenen immer wieder als Schritt vom Opfer zum aktiv Opfernden imaginiert wurde.232 Geht man nicht von vornherein davon aus, daß Mythen, die vom Tod Jugendlicher berichten, nach dem eindeutig christlichen Schema von Tod und Wieder230

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V. Turner (1967), Betwixt and Between. The Liminal Period in Rites de Passage, in: ders., The Forrest of Symbols, Ithaca, 93-111; zur Problematik der Verallgemeinerung vgl. Versnel (1993), 60-74 und C. Bynum (1991), Fragmentation and Redemption. Essays on Gender and the Human Body in Medieval Religion, New York, 27-52. Davon geht Bremmer (1987) aus, der behauptet, daß einzelne Helden der ¡lias (Achilleus, Neoptolemos, Philoktet) in einem liminalen Zustand dargestellt würden, was wiederum als Hinweis auf (schon indoeuropäische) Initiationsrituale zu lesen sei. Bloch (1992); vgl. auch dessen Rezeption durch Seaford (1994), der allerdings in Anlehnung an Harrison (vgl. oben Anm. 198) den Mythos von der Zerstückelung und Wiederherstellung des Dionysos als Initiationserzählung liest. Für eine kritische Diskussion der Position Blochs vgl. Gellner (1999), 52-61, der daraufhinweist, daß seine Thesen nur Gültigkeit haben fur Religionen, in denen das Tieropfer zentral ist.

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Mythos und Ritual in Theorie und Praxis

geburt zu lesen seien, so fällt auf, wie oft von tödlichem Scheitern und Verweigern der Anbindung, von unlösbaren Konflikten zwischen einzelnen Bindungsverhältnissen erzählt wird.233 Es ist nicht angemessen, diese Todesfalle als lediglich symbolische „Initiations-Tode" zu lesen. Vielmehr scheint es, daß sie immer wieder die Eingliederung in die soziale und symbolische Ordnung der Polisgesellschaft als für den einzelnen schmerzhaften, ja gewaltsamen Vorgang imaginieren. Gleichzeitig erinnern derartige Geschichten wohl auch daran, daß der frühzeitige Tod von jungen Mädchen im Kindbett234 und jungen Männern im Krieg eine alltägliche Realität eben dieser Gesellschaft war.

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Vidal-Naquet (1989), 121, Anm. 50 weist daraufhin, daß mythische Figuren, die den Übergang verweigern, eine eigene Gruppe darstellen, die bis jetzt noch nicht untersucht sei. Auch die Ergebnisse von Johnston (1999), die einen völlig neuen Zugang zur Interpretation weiblicher Initiationsrituale wählt, deuten darauf hin, daß Vorstellungen vom „wirklichen" Tod gerade bei Ritualen weiblicher Jugendlicher eine Rolle spielten; vgl. dazu unten Kap. V 2.3.2.

II. Kainis und Kaineus

... ut ñeque respuenda ñeque ridenda sit notissima illa vetenim poetaium de Caenide et Caeneo cantilena. Aulus Gellius, Noctes Atticae 9,4, 14

1. Die Überlieferung des Mythos Kaineus ist zuerst, historisch wie mythologisch gesehen, eine außerordentlich alte Figur. In der Ilias erzählt Nestor, daß er noch Kaineus, Theseus und andere beim Kampf gegen die Kentauren erlebt habe; erstere gehörten einer Generation von Heroen an, die den Kämpfern vor Troja seiner Ansicht nach überlegen waren, der Greis bezeichnet sie denn auch als κάρτιστοι έπιχθονίων άνδρων, als „Stärkste unter den Erdenmenschen".1 Die Darstellung des Kaineus im Kampf gegen die Kentauren auf einem Bronzeblech aus Olympia gehört zu den frühesten, eindeutig als mythologisch identifizierbaren Motiven der griechischen Kunst; sie wird ins 3. Viertel des 7. Jh. datiert: Kaineus, flankiert von zwei Kentauren, die mit Baumstämmen auf ihn einschlagen, versinkt aufrecht im Boden, während er noch mit zwei Schwertern nach den Genitalien der Angreifer sticht.2 Dieser seltsame Untergang des Kaineus wird in den homerischen Epen nicht erwähnt, er findet sich jedoch in einem Pindarfragment exakt beschrieben, in dem es heißt, Kaineus sei aufrecht, von „grünen Fichten" geschlagen, unter die Erde verschwunden.3 Dies hängt unmittelbar mit einem weiteren Motiv der Kaineus-Mythologie zusammen, das das homerische Epos nicht kennt: Kaineus ist unverletzbar, genauer gesagt unverwundbar, Waffen aus Metall können ihm nichts anhaben, wohl aber die primitiven Werkzeuge der Kentauren, Äste und Steine. Auch dieses Motiv muß bereits für die frühe Ikonographie vorausgesetzt werden, in der Kaineus manchmal ohne Schild dargestellt wurde.4 Der älteste 1 2

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77. 1, 262-68. LIMC V 1, 885-91, s.v. Kaineus (E. Laufer), bes. Nr. 61; zur Datierung vgl. Laufer (1985), 3. Pind. fr. 128f, 7-9 Maehler (vgl. Schol. Apoll. Rhod. 1, 57; Plut. mor. 1057d): ό δέ χλωραΐς | οϊχεται Καινεύς σχίσαις όρθφ ποδί | γάν. Zur Darstellung der Bewaffnung vgl. Κ. Schauenburg (1962), Eine neue Siana-Schale, AA, 764-66.

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Kainis und Kaineus

schriftliche Beleg für das Motiv der Unverwundbarkeit findet sich in einem Fragment des Hesiod. Es ist verbunden mit jener Erzählung, um die es im folgenden in erster Linie geht: Der Krieger Kaineus beginnt sein Leben als Kaine oder Kainis;5 doch dann verwandelt der Gott Poseidon diese Tochter des Königs Elatos, nachdem er mit ihr geschlafen hat, in einen unverwundbaren Mann. Der entsprechende Text ist bei Phlegon von Tralles überliefert, einem Paradoxographen aus hadrianischer Zeit: Dieselben [sc. Hesiod, Dikaiarchos, Klearchos, Kallimachos und andere, K.W.] erzählen, daß im Lande der Lapithen dem König Elatos eine Tochter geboren wurde, die Kainis hieß. Als sich Poseidon mit ihr vereinigte, habe er ihr versprochen, ihr zu erfüllen, was sie sich wünsche, diese aber habe ihn gebeten, sie in einen unverwundbaren Mann zu verwandeln. Nachdem Poseidon ihren Wunsch erfüllt habe, sei sie zu Kaineus umbenannt worden.6

Es ist unklar, ob die Einleitung des unmittelbar vorher erzählten TeiresiasMythos: „Hesiod, Dikaiarchos, Klearchos, Kallimachos und andere erzählen über Teiresias folgendes", 7 wirklich auch in vollem Umfang auf den Kaineus-Mythos übertragen werden kann, wie der Paradoxograph am Anfang der oben zitierten Passage allerdings selbst behauptet: „dieselben erzählen [...]'\8 Somit lässt sich nicht mit letzter Sicherheit sagen, ob der Kaineus-Mythos genau in dieser Form bei Hesiod erzählt wurde. Die im folgenden vorgeschlagene Lesart zeigt meines Erachtens jedoch in jedem Falle, daß die Art, wie der Mythos erzählt wird, eindeutig auf eine epische Quelle hinweist.9 Eine zweite, ausführliche Version des Kaineus-Mythos findet sich bei Akusilaos von Argos, einem der ersten mythographischen Prosaschriftsteller, die versuchten, epische Stoffe mit lokalen Genealogien zu verbinden. Dies deutet ebenfalls darauf hin, daß der Mythos im Epos, möglicherweise tat-

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Der Einfachheit halber wird im folgenden für die weibliche Figur immer der Name Kainis verwendet. Bei Akusilaos deutet der Dativ Καινή auf einen weiblichen Nominativ "Καινή. Der weibliche Name wäre somit Parallelbildung zu 'Καινός. Maas (1919), 192 und Diels/Kranz zu Akusilaos Β 40a. vermuten, daß Καινή der Dativ der männlichen Form ist und die in den späteren Zeugnissen erscheinende Form Καινίς erst von Ovid gebildet wurde. FGrHist 257 F 36 V (Hes. ft. 87 Merkelbach/West): Oi αύτοί ίστοροΐσιν κατά τήν Λαπιθών χώραν γενέσθαι Έλάτωι τώι βασιλεΐ θυγατέρα όνομαζομένην Καινίδα. ταύτηι δέ Ποσειδώνα μιγέντα έπαγγείλασθαι ποιήσειν αύτηι δ αν έθέληι, τήν δέ άξιώσαι μεταλλάξαι αυτήν εις άνδρα ποιήσαί τε ατρωτον. το6 δέ Ποσειδώνος κατά τό άξιωθέν ποιήσαντος μετονομασθήναι Καινέα. FGrHist 257 F 36 IV: 'Ιστορεί δέ καί 'Ησίοδος καί Δικαίαρχος καί Κλέαρχος καΐ Καλλίμαχος καί άλλοι τινές περί Τειρεσίου τάδε [...]. S. oben Anm. 6. Es ist im folgenden der Einfachheit halber von „Hesiod" die Rede, wenn die bei Phlegon überlieferte Fassung gemeint ist.

Die Überlieferung des Mythos

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sächlich bei Hesiod, vorhanden war.10 Das auf Papyrus überlieferte Fragment ist eingebettet in einen Grammatikertext; es handelt sich dabei um ein wörtliches Zitat. Diese Passage ist bis jetzt der einzige längere, zusammenhängende Text, der von Akusilaos überhaupt überliefert ist. Die unbeholfen wirkende Sprache zeigt deutlich, daß hier - anders als im ostgriechischen Bereich - die Entwicklung einer Prosaliteratur noch in den Anfängen steckte:" Mit Kaine, des Elatos Tochter, verbindet sich Poseidon. Darauf, denn es war ihm nicht heilig (?)12 Kinder zu bekommen, weder von ihm noch von einem anderen, macht Poseidon sie zum Mann, der unverwundbar war und die größte Kraft hatte von den damaligen Menschen und wenn jemand ihn zu stechen versuchte mit Eisen oder Erz, wurde er grade am meisten gefallt (?).13 Und dieser Mann wird König der Lapithen und führte stets Krieg mit den Kentauren. Darauf stellt er seinen Speer mitten auf den Markt und ordnete an, diesen als Gott zu zählen. Den Göttern aber war das nicht wohlgefällig, und Zeus, da er ihn dies tun sah, droht und hetzt die Kentauren gegen ihn. Und diese schlagen ihn aufrecht hinunter unter die Erde, und oben setzen sie einen Felsblock hin als Mal; und er stirbt.14

Der Kaineus-Mythos war bis in römische Zeit hinein außerordentlich bekannt und beliebt und wurde sowohl von Ovid als auch Vergil rezipiert.15 Für den 10

Zu Akusilaos vgl. Frankel (1969), 395f. O. Lendle (1992), Einßhrung in die griechische Geschichtsschreibung, Darmstadt, 18-22. " Zum Stil vgl. Fränkel (1969), 396; die folgende Obersetzung folgt deijenigen von Frankel, ebd. 396. 12 Diskussion der unsicher überlieferten Stelle s. unten p. 64f.; die Übersetzung folgt dem Text von Jacoby (vgl. Anm. 14). 13 Deubner (1919), 4, übersetzt: „so zog er gewaltig den kürzeren", Fränkel (1969), 396: „hatte er ganz gewiß einen Mißerfolg (?)"; Deubner faßt άλίσκεσθαι als „der Erfolglosigkeit überführt werden" auf; die wörtliche Übersetzung ist m. E. aber durchaus verständlich. Der Ausdruck μάλιστα χρημάτων ist nur an dieser Stelle überliefert, wird aber durch den Vergleich mit μάλιστα άνθρώπων (z.B. Hdt. 2, 37) und μάλιστα πάντων verständlich. 14 Akusilaos FGrHist 2 F 22 (POxy. ΧΙΠ fr. 1 col. Π 38): [...] λέγει [sc. Akusilaos, K.W.] γαρ περί Καινέα οϋτως· ,,Καινήι δέ τήι Ελάτου μίσγεται Ποσειδών, επειτα - ού γαρ ήν αύτώι (Pap.aircoîç) ιερόν παΐδας τεκέν οΰτ' έξ ¿κείνου οΰτ' έξ άλλου ούδενός - ποιεί αύτόν Ποσειδέων άνδρα άτρωτον, ίσχύν έχοντα μεγίστην των ανθρώπων των τότε, καί δτε τις αύτόν κεντοίη σιδήρωι ή χαλκώι, ήλίσκεχο μάλιστα χρημάτων, καί γίγνεται βασιλεύς ούτος Λαπιθέων καί τοις Κενταύροις πολεμέεσκε. έπειτα στήσας άκόνίτιον έν άγοράι θεόν έκέλευεν άριθμεΐν. θεοΐ]σι δ' ούκ ηεν [άρεστόν, καί] Ζευς ίδών αύτόν ταύτα ποιούντα απειλεί καί έφορμάι τούς Κενταύρους, κάκεΐνοι αύτόν κατακόπτουσιν δρθιον κατά γης καί άνωθεν πέτρην έπιτιθεισιν σήμα, και αποθνήσκει. 15 Verg. Aen. 6, 448 und Serv. Aen.; Ον. met. 12, 169-201 und 459-32. Ich beschränke mich in der folgenden Analysen auf die angeführten Texte von „Hesiod", Akusilaos und Pindar. Weitere griechische Zeugnisse: Plut. mor. 75e; Lukian. Gallus 19 und Salt. 57; Apoll. Rhod. 1, 57-64; Apollod. Epit. le 22; Antonin. Lib. 17 (vgl. unten Kap. VI 1.);

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Kainis und Kaineus

griechischen Bereich lassen einzelne Titel vermuten, daß er Thema von Tragödien und Komödien war.16 Zwei sprichwörtliche Wendungen, „der Speer des Kaineus" und „unverletzlich wie Kaineus" spiegeln ebenfalls den großen Bekanntheitsgrad des Mythos.17 Außerdem erfreute sich das oben beschriebene heraldische Motiv von Kaineus zwischen zwei Kentauren, die ihn mit Baumstämmen und Steinen angreifen, in der Vasenmalerei bis ins 5. Jh. hinein großer Beliebtheit und wurde schließlich auch in der Bauplastik aufgenommen.18 Im Gegensatz zu diesem Befund steht die Vernachlässigung des Kaineus-Mythos in der modernen Forschung.19 Diese zeigt - ähnlich wie Homer - ganz allgemein eine Abneigung gegenüber mythischen Figuren, die wie Kaineus Grenzen überschreiten, die eigentlich fest sein sollten, jene zwischen den Geschlechtern ebenso wie jene zwischen dem Bereich der Lebenden und der Toten.20 Die häufigste „Lösung" des Problems bildet die Behauptung, die Erzählung von Kaineus sei ein Reflex auf Initiationsrituale, in denen Travestie eine Rolle gespielt habe.21 Gibt man sich mit dieser Erklärung nicht zufrieden, so stellt sich das Problem, wie eine Geschichte zu lesen ist, die - insofern sie von zwei Personen handelt - eigentlich aus zwei Erzählungen besteht. Dies gilt im Grunde für alle Verwandlungsmythen.22 Für die strukturalistische Erzähltheorie, die offenbar implizit immer davon ausgeht, daß eine handelnde Person die Handlungskette durchläuft, ist eine Verwandlung als Motiv schlecht rezipierbar: So muß etwa Burkert bei dem von ihm freigelegten Strukturschema der „Mädchentragödie" davon ausgehen, daß die Verwandlung, da sie über keine feste Position in der Handlungskette verfugt, auf den außerhalb der Erzählung

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Eust. 101, 20 (vgl. Schol. II. 1, 264); die Paradoxographen Palaiphatos, de incred. 10 und Herakleitos, de incred. 3 (beide: Westermann, Mythographi Graeci, vol. ΠΙ); vgl. dazu unten p. 69f. Weiter lateinische Zeugnisse: Gell. 9, 4,14; Lact. Plac. zu Stat. Achill. 264; Myth. Vat. 154; 2. Myth. Vat. 108; 3. Myth. Vat. 6, 25. Ion fr. 36-41 TrGF; Antiphanes fr. 110 PCGII. Speer (δόρυ Καινέως): Schol. Apoll. Rhod. 1, 57. Unverwundbarkeit bei Apóstol. 4, 19 (Paroemiographi Graeci Π): "Ατρωτος υπάρχεις ώς ό Καινεύς· λέγουσι γαρ δτι ούτος άτρωτος ήν κτλ. Laufer (1985). Ausfuhrlich behandelt nur bei Delcourt (1953); vgl. dies. (1958), 51-64; Brisson (1976) 74-77; B. Schmitt-Doumas (1985), Bemerkungen zu Kaineus, Istanbuler Mitt. 35, 5-12, Forbes Irving (1990), 155-62. Vollständig aufgearbeitet ist von archäologischer Seite die ikonographische Tradition bei Laufer (1985). S. dazu unten 3.3.2. Delcourt (1953), 147f.; Bremmer (1987), 37; Dowden (1989), 65f.; Leitao (1993), 102. In der Forschung bestand immer eine Tendenz, Verwandlungsmythen zu rationalisieren, so z.B. indem sie als survivals einer Epoche der griechischen Religion, die Tiergötter und Fetischismus gekannt haben soll, aufgefaßt wurden; vgl. zur Forschungsgeschichte Forbes Irving (1990), lf.; das nach Forbes Irving wichtigste ältere Werk über Verwandlungsmythen ist G. Lafaye (1904), Etudes sur les Métamorphoses d'Ovide et leurs modèles grecs, Paris.

Die Geschichte der Kainis

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liegenden rituellen Bereich verweise.23 Eine in der Nachfolge von LéviStrauss stehende „Decodierung" von Verwandlungsmythen führt ebenfalls zu deren Verschwinden, da die Verwandlung zu einem unter vielen Mitteln zur „médiation" von Gegensätzen wird.24 Aus modemer theoretischer Sicht sind Verwandlungsmythen ganz einfach unmögliche Geschichten. Ich möchte im folgenden versuchen, das Paradoxon der Verwandlung nicht „wegzuerklären". Ich gehe davon aus, daß die Mythenvarianten wie sie für Hesiod und bei Akusilaos überliefert sind, auch in der Antike schon als zwei Geschichten lesbar waren: Eine über Kainis und eine über Kaineus. Jede der beiden Geschichten soll in einen möglichst breiten Horizont verwandter mythischer Erzählungen und ritueller Hintergründe gestellt werden. Gleichzeitig lassen sie die beiden Geschichten übereinander projizieren. Vielleicht wird es so möglich zu beschreiben, wie diese Verwandlungsgeschichte „funktionierte".

2. Die Geschichte der Kainis 2.1. Heroinen-Erzählungen als .Mädchentragödien" Liest man den Kaineus-Mythos in den Versionen des Hesiod und des Akusilaos als Erzählung über die Tochter des Königs Elatos, die mit Poseidon schläft und anschließend verwandelt wird, so erinnert sie an die unzähligen Geschichten, in denen griechische Heroinen ein ähnliches Schicksal erleiden.25 Burkert geht davon aus, daß sich der Ablauf der meisten dieser Erzählungen mit einem nach dem Verfahren von Propp gebildeten Strukturschema beschreiben läßt, das er „Mädchentragödie" nennt: 1) Trennung des Mädchens von Familie und Kindheit, 2) ein Leben in Abgeschiedenheit, z. B. als Priesterin oder im Gefolge der Artemis, 3) Vergewaltigung durch einen Gott, 4) Bestrafung des Mädchens, die oft in Form einer Verwandlung geschieht, 5) Geburt eines Heros und Rettung der Mutter.26 Das von Burkert u.a. aufgeführte Beispiel der Tyro, das wegen der Rolle des Poseidon hier von besonde23

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Burkert (1979), 7: „We must rather state that metamorphosis and sexual union are not in a fixed motifeme sequence; the linearity of the tale structure is suspended at this point." Beispielhaft von Brisson (1976) am Teiresias-Mythos vorgeführt; zur Kritik vgl. Loraux (1989), 17. Das Material ist zusammengestellt bei Dowden ( 1989); Larson ( 1995); Lyons ( 1997). Burkert (1979), 7. Dieses Schema seinerseits führt Burkert (ebd., 16) zurück auf die „natural sequence of puberty, defloration, pregnancy and delivery"; Burkert (1998), 99f. distanziert sich von einer direkten biologischen Erklärung: „Das ,weibliche Märchen' ist eine kulturelle Schöpfung, die sich bemüht, die Stufen natürlicher Entwicklung nachzuvollziehen mit jener sprachlichen Bewußtheit, die der Erzählung eignet." Vgl. oben Kap.I Anm. 99.

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Kainis und Kaineus

rem Interesse ist, zeigt jedoch, wie verschieden die unter dem Titel „Mädchentragödie" subsumierten Erzählungen im einzelnen erzählt werden konnten. Die Begegnimg von Tyro mit Poseidon, aus der ihre Söhne Pelias und Neleus hervorgehen, wird in der Odyssee folgendermaßen geschildert (Od. 11,238-50): Die [sc.Tyro, K.W.] hatte Liebe zu einem Strom gefaßt: dem göttlichen Enipeus, der als der weit schönste von den Strömen über die Erde zieht, und sie kam oftmals zu den schönen Fluten des Enipeus. Dessen Gestalt nahm der Erdbeweger, der Erderschütterer an und legte sich in die Mündungen des wirbelnden Stromes zu ihr, und rings blieb stehen die purpurne Woge, einem Berg gleichend, gewölbt, und verbarg den Gott und die sterbliche Frau. Und er löste ihr den jungfräulichen Gürtel und goß einen Schlaf herab". Doch als der Gott die Werke der Liebe vollendet hatte, legte er seine Hand fest in die ihre und sprach das Wort und benannte es heraus: „Freue dich Frau! der Liebe! und ist ein Jahr herumgegangen wirst du glänzende Kinder gebären. Denn nicht fruchtlos sind die Lager der Unsterblichen [...].28

Tyro wird in dieser Passage als Gattin des Kretheus eingeführt, später heißt es, daß sie diesem noch weitere Söhne gebar.29 Von einer „Mädchentragödie" ist bei Homer nicht die Rede.30 Ähnlich wird von Polymele in der Ilias beiläufig erwähnt, daß sie bereits vor ihrer Ehe einen Sohn von Hermes hatte, der im Hause ihres Vaters aufgezogen wird.31Im Epos interessiert offenbar weniger das Schicksal der Frauen, als die Tatsache, daß Söhne geboren werden, die von einem Gott stammen. Dieses genealogische Interesse ist der Ausgangspunkt der frühsten Sammlungen derartiger Erzählungen, der sogenannten Frauenkataloge. Die oben zitierte Passage stammt eben aus einem derartigen Katalog: Odysseus befragt in der Unterwelt alle Frauen, die er dort antrifft, „so viele der Helden Frauen und Töchter waren" (6W.11, 227), nach ihrem Schicksal und diese erzählen ihm meist, wie sie durch Götter Mütter von berühmten Söhnen wurden (Od. 11, 227-329). Ausführlichstes, 27

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Der Vers 11, 245 wurde in der Antike fiir eine Interpolation gehalten, moderne Herausgeber entscheiden sich unterschiedlich, dazu und zu der ganzen Passage vgl. auch A. Heubeck/A. Hoekstra (1989), A Commentary on Homer's Odyssey, Bd. II, Oxford, 92f. Od. 11, 238-50: ή ποταμού ήράσσατ Ένιπήος θείοιο, | δς πολ\> κάλλιστος ποταμών έπί γαίαν ΐησι, | καί {>' επ Ένιπηος πωλεσκετο καλά βέεθρα. (240) | τφ δ' δρα εϊσάμενος γαιήοχος έννοσίγαιος | έν προχο^ ποταμοΰ παρελέξατο δινήεντος· | πορφύρεον δ' οφα κΰμα περιστάθη οΰρει ίσον, | κυρτωθέν, κρύψεν δέ θεόν θνητήν τε γυναίκα. | [λΰσε δέ παρθενίην ζώνην, κατά δ' ΰπνον ίχευεν.] (245) | αύτάρ έπεί ρ' έτέλεσσε θεός φιλοτήσια ϊργα, | êv τ' &ρα οί φΰ χειρί ëjcoç τ' 8φατ' εκ τ' ονόμαζε· | „χαίρε, γύναι, φιλότητι· περιπλομένου δ' ένιαυτοΟ | τέξεαι άγλαά τέκνα, έπεί οϋκ άποφώλιοι εύναί | άθανάτων· [...]." (250). Text: Homeri Odyssea, ree. P. von der Muehll, Stuttgart 1984. Übersetzung: Schadewaldt (1958). Od. 11, 237 und 258f. Eine derartige Variante, nach der Tyro von ihrer Stiefmutter gequält und von ihren Söhnen gerettet wird, findet sich erst in der späteren Überlieferung, vgl. unten Anm. 48. IL 16, 180-90.

Die Geschichte der Kaiiiis

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wenn auch nur fragmentarisch erhaltenes Beispiel für eine nur diesem Thema gewidmete Katalogdichtung ist die dem Hesiod zugeschriebene Sammlung der sogenannten Ehoien, ein rein genealogisch organisiertes Gedicht. Es handelt vom „Stamm der Frauen", die „ihren Gürtel lösten und sich mit Göttern vermischten".32 Die Heroen, die aus diesen Verbindungen stammen, bilden wiederum Ausgangspunkt für die Konstruktion von Genealogien, die für die rivalisierenden aristokratischen Familien in geometrischer und archaischer Zeit ausgesprochen wichtig gewesen sein müssen, wenn es darum ging, Herrschaftsansprüche zu legitimieren.33 Die archaischen und klassischen Poleis benützen die so überlieferten genealogischen Heroen-Erzählungen von Anfang an in verschiedener Weise, um sich als Gruppe mit gemeinsamer Abstammung zu definieren, die ihre Identität u.a. in der gemeinsamen Verehrung von Heroengräbern zum Ausdruck brachte.34 Wäre es also den antiken Quellen angemessener, zu der älteren Lesart zurück zu kehren, die diese Erzählungen als Teil der Biographie des männlichen Heros auffaßte?35 Dagegen spricht, daß gerade in der Polis nicht nur Heroen, sondern ebenso häufig deren Mütter, also Heroinen, kultisch verehrt wurden.36 Schon in den Hesiod zugeschriebenen Katalogen finden wir - stärker als bei Homer - ein Interesse für die verschiedenen Schicksale der Frauen, die „ihre Gürtel für Götter lösten ..." So war vermutlich bereits die Erzählung über Kallisto vorhanden, die von Artemis in eine Bärin verwandelt wird und so den Arkas, den Stammvater der Arkader, gebiert. Wir wissen nicht, was bei Hesiod über den Tod Kallistos stand. Vielleicht kannte er bereits die Variante, nach der die Heroine von Zeus, dem Vater ihres Kindes, verstimt wurde.37 Einen Heroinenkult für Kallisto bezeugt Pausanias, der in Arkadien in einem Heiligtum der Artemis Kailiste ein Grab der Kallisto sah.38 Eine Lesart, die diese Erzählungen mit der rituellen und sozialen Dimension der Polis verbinden will, muß also davon ausgehen, daß es sich um Geschichten handelt, die - vor dem Hintergrund der Konstruktion von Ge32

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Hes. fr. 1, 1-4 Merkelbach/West: Νυν δέ γυναικών φΰλον άείσατε, ήδυέπειαι | Μοΰσαι 'Ολυμπιάδες, κοΰραι Διός αίγιόχοιο, | αϊ τότ' άρισται έσαν [ | μίτρας τ' άλλύσαντο [ | μισγόμεναι θεοΐσ[ιν [...]. Auch in den Ehoien war die Begegnung von Poseidon und Tyro erzählt (fr. 30-32 MerkelbachAVest). Vgl. dazu West (1985), 6. Zum Heroenkult z.B.: Bérard (1982); Whitley (1986); de Polignac (1984), 127-51; Seaford (1994), 106-43; R. Hägg (1999) (Hrsg.), Ancient Hero Cult. Proceedings of the Fifth International Seminar on Ancient Greek Cult, Göteborg University, 21-23 April 1995, Stockholm; vgl. auch unten 2.3.2. Zur älteren Literatur: Burkert (1979), 146f., Anm. 7 und Anm. 19. Vgl. z.B. das bei Larson (1995) und Lyons (1996) zusammengestellte Material. Hes. fr. 163 Merkelbach/West; vgl. auch Amphis fr. 46 PCG Π; Kall. fr. 632 Pfeiffer; Apollod. 3, 8, 2 - 9, 1. Diskussion aller Varianten bei A.Henrichs in: Bremmer (1987), 242-77. Paus. 8,35, 8.

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nealogie - gleichzeitig von Heroen und von Heroinen und oft auch von deren Vätern erzählen. Es handelt sich also um einen narrativen Diskurs über das Verhältnis sowohl zwischen den Geschlechtern als auch zwischen den Generationen. Es liegt deshalb nahe, den Grund für die sehr verschiedenen Varianten der ,,Mädchentragödie'' (die als solche nicht existiert) in der Vielfalt der Heirats- und Erbregeln zu sehen, die sich für die archaische und klassische Zeit vermuten lassen. Vemant, der sich nach Gernet erstmals mit der politischen Dimension der Ehe auseinandergesetzt hat, unterscheidet grundsätzlich zwischen älteren, für die Politik aristokratischer Häuser typischen, exogamen Heiratspraktiken und den sich in der demokratischen Polis herausbildenden endogamen Heiratsregeln, mit denen der Zugang zum Bürgerrecht und anderen Privilegien geregelt wurde.39 Neuere Forschungen haben das von Gernet und Vernant gezeichnete Bild zum Teil bestätigt, aber auch modifiziert. Die ältere Praxis, für deren Nachweis sich Vernant vor allem auf die Befunde des homerischen Epos bezieht, ermöglichte interregionale Heiratsbeziehungen, die sogar über den griechischen Raum hinausreichten.40 Die Zugehörigkeits- beziehungsweise Filiationsregeln wurden vermutlich äußerst variabel gehandhabt. In der bei Homer geschilderten Gesellschaftsordnimg sind sowohl patri- als auch matrilokale Ehen möglich. Deshalb können die Kinder einer Frau zum Haushalt ihres Großvaters mütterlicherseits gehören, wie beispielsweise der Sohn des Hermes und der Polymele in der oben erwähnten Stelle der Ilias.41 Außerdem kann der Vater allein darüber entscheiden, ob er einen Sohn als Erben anerkennen will oder nicht, unabhängig davon, welchen Status die Mutter des Kindes hat.42 Die bei Homer geschilderten exogamen Heiratspraktiken entsprechen zum Teil den Gewohnheiten der Tyrannen, die ein Interesse an der Herstellung weiträumiger Allianzen hatten.43 Mit dem attischen Bürgerrechtsgesetz von 451 wurde in Athen die Zugehörigkeit zur Bürgerschaft an den Nachweis gebunden, daß beide Elternteile attischer Herkunft waren.44

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Vernant, Die Heirat, in: Vemant (1987), 51-72. Ein knapper Überblick über das Material bei B. Wagner-Hasel, s.v. Ehe, DNP 3, 893-895. Zu archäologischen Spuren derartiger Praktiken vgl. Wagner-Hasel (2000), 259 mit Angabe weiterer Literatur. Vgl. oben Anm. 28. Die legitimen Söhne heißen γνήσιοι, die anderen νόθοι, dazu Zoepffel (1985), 339f.; Wagner-Hasel (1988a). Vernant (1987), 61-64; mit Verweis auf L. Gernet (1954), Mariages de tyrans, in: Hommages à Luden Febvre, Paris, 41-53, Wiederabdruck in: deis. (1968), Anthropologie de la Grèce antique, Paris, 344-59; zuletzt Wagner-Hasel (2000), 259f. Plut. Perikles 37; Aristot. Ath. pol. 42; Demosth. or. 59,16-17 u.ö.; zu den Verhältnissen in Athen: C.B. Patterson (1998), The Family in Greek History, Cambridge MassVLondon; K.A. Kapparis (1999), Apollodoros ,Against Neaira', (D. 59), Berlin/New York, 26-28. Allerdings kam nach C.A. Cox (1998), Household Interests. Property, Marriage Stra-

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Damit ein Vater seine Tochter verheiraten konnte, mußte er in klassischer Zeit also für ihre Echtbürtigkeit garantieren können; damit sein Sohn Bürger werden konnte, mußte er selbst sicher sein, daß dieser tatsächlich von ihm und einer Athenerin stammte. In Athen war es Aufgabe der Phratrien, die Einhaltung dieser Regeln und damit den Zugang zum Bürgerrecht zu kontrollieren.45 Der gute Ruf und der Einfluß eines Bürgers beruhten nicht zuletzt darauf, daß er glaubhaft machen konnte, die sexuellen Aktivitäten der Mitglieder seines Oikos unter Kontrolle zu haben.46 Vor diesem Hintergrund läßt sich vermuten, daß jene Heroinen-Erzählungen, die verlaufen wie die oben zitierte der Tyro, eher in den homerisch-aristokratischen Bereich passen. Die „Mädchentragödien" hingegen, in denen die Tochter mit dem Tode oder der Vertreibung dafür bestraft wird, daß sie ein Kind mit unbestimmter Vaterschaft zur Welt bringt,47 waren geeignet, die Verhältnisse in der Polis zu thematisieren. So erstaunt es nicht, daß gerade sie in der attischen Tragödie und Komödie besonders beliebt waren.4 Auch in der Vasenmalerei gewann das Thema am Anfang des 5. Jh. an Beliebtheit, gleichzeitig läßt sich eine Tendenz beobachten, erotische Begegnungen von Göttern mit sterblichen Frauen als erzwungene darzustellen.49 Dies könnte damit zusammenhängen, daß unter den oben geschilderten Umständen von Frauen natürlich erwartet wurde, die Ehre des Oikos, für die ihre Unberührbarkeit stand, zur Not auch unter Einsatz ihres Lebens zu verteidigen. Schwieriger ist die Frage, ob solche Darstellungen und die entsprechenden Erzählungen ganz allgemein als Bild der Machtverhältnisse zwischen den Geschlechtern zu lesen seien. Dies würde heißen, daß immer damit gerechnet wurde, daß Männer bei der Durchsetzung ihrer erotischen Interessen physische Gewalt anwenden könnten, bestraft würden aber paradoxerweise die Frauen, die Opfer derartiger Gewalt. Schmitt-Pantel zeigt, daß diese Dimension des Geschlechterverhältnisses durchaus als historische Realität faßbar ist;50 allerdings verschiebt der mythische Diskurs das Thema in die Welt der

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tegies, and Family Dynamics in Ancient Athens, Princeton, die exomgame Heiratspraxis der Aristokratie in Athen nie ganz zum Erliegen. Vgl. dazu unten Kap. V Anm. 32. Foxhall (1998), 13lf. Nicht der Verlust einer in modernem Sinn biologisch aufgefaßten Jungfräulichkeit, sondern die Geburt eines Kindes, die den Fehltritt öffentlich sichtbar machte, war der eigentliche Skandal; vgl. dazu G. Sissa (1990), 78-104. Die Motive der Aussetzung und der Bestrafung sind für die Tyro-Erzählung sind belegt bei: Soph. fr. 649-69 TrGFTV- Men. Epitr. I l l ; Apollod. 1, 9, 7; Diod. 4, 68, lf. u.a.; Io wird ausfuhrlich von Aischyl. Prom. dargestellt. F. Lissarague, in: Duby/Perrot ( 1997), 241 f. P. Schmitt-Pantel (1998), Über die Konstruktion der Gewalt im alten Griechenland, in: B.Wagner-Hasel/K.Hofinann-Curtius (Hrsg.), Moderne Antike-Antike modern (Metis 7. Jg. Heft 14), 37-52. Vgl. auch die Beiträge in: S. Deacy/K.F. Pierce (Hrsg.) (1997), Rape

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„Anderen": Götter, Heroen, Satyrn und Kentauren vergewaltigen Frauen, nicht aber die Polisbürger.51 Der mythische Diskurs der „Mädchentragödien" bot eine Möglichkeit, von der Gewalt der Männer gegen die Frauen zu sprechen und das Problem gleichzeitig aus der Polis weg in einen imaginären Bereich zu bannen. Die Erzählung von Kainis und Poseidon ist als Variante einer HeroinenErzählung lesbar, deren spezifische Logik sich vor dem Hintergrund derartiger sozialer Praktiken zeigt: Jene Fassung, von der wir annehmen können, daß sie bei Hesiod überliefert ist, spiegelt eine Dimension der Heiratsregeln, in der das Prinzip von Gabe und Gegengabe eine Rolle spielte, scheint aber gleichzeitig das Versagen derartiger Regeln zu thematisieren. Die Version des Akusilaos von Argos aus dem 5. Jh. wird verständlich im Kontext der Polisreligion und der Stellung, die Poseidon in ihr einnahm.

2.2. „Hesiod": Die Charis der Kainis Die Geschichte der Kainis ist in der dem Hesiod zugeschriebenen Version eine ganz besondere Heroinen-Erzählung: Entgegen der Behauptung Poseidons in der oben zitierten Ocfyssee-Passage, daß die „Lager der Unsterblichen" nie „vergeblich", d.h. ohne Nachkommen blieben,52 ist das Lager von Kainis und Poseidon tatsächlich unfruchtbar. Denn Kainis wünscht sich, der Gott möge sie in einen Mann verwandeln. Poseidon muß ihr diesen Wunsch offenbar erfüllen, da er dies als Gegengabe für den Liebesdienst angeboten hat. Uns erstaunt, daß in der Logik der Erzählung das Versprechen des Poseidon so unbedingt verbindlich ist. Allerdings ist diese Einbindung von Sexualität und Ehe in ein umfassendes System des Austausches von Gaben keine Besonderheit. Sie ist sowohl auf mythischer Ebene als auch in der Praxis von Heiratsregeln und -Ritualen gut bezeugt: So muß beispielsweise Zeus ebenso wie Poseidon dem Wunsch seiner Geliebten Semele nachkommen - ein Umstand, der von Hera geschickt ausgenützt wird, um der Konkurrentin zu schaden; Ares bewegt Aphrodite durch reiche Gaben zum Ehebruch.53 Auch die Bezeichnung χάρις (Charis) für das „Nachgeben" (ύπειξις) der Frau, die nach Plutarch in der archaischen Dichtung geläufig war, läßt sich vor diesem

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in Antiquity, London. Zur rechtlichen Dimension: S.G. Cole (1984), Greek Sanctions Against Sexual Assault, CPh 78, 97-113. So läßt Euripides Ion den Gott Apollon explizit dafür tadeln, daß er junge Frauen vergewaltigt (Eur. Ion 384-95). Od. 11, 249f. Das Motiv von Semeies Wunsch wahrscheinlich schon bei Aischylos fr. 168 TrGF HI; Diod. 3, 64, 3-4 und 4, 2,2-3. Aphrodite und Ares: Od. 8,269f.

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Hintergrund verstehen:54 Charis kann nämlich den angemessenen Gegendienst für eine erhaltene Gabe bezeichnen.55 Auch in homosexuellen Beziehungen konnte die Einwilligung des jüngeren, passiv gedachten Partners als χαρίζεσθαι bezeichnet werden und auf zahlreichen Abbildungen ist zu sehen, wie der ältere Partner dem jüngeren Geschenke anbietet.56 Heiratsregeln und Hochzeitsbräuche organisierten die Beziehung zwischen den Geschlechtern und jene zwischen den Generationen in einem komplizierten Geflecht von Gaben und Gegengaben. Wagner-Hasel zeigt anhand einer Analyse der Termini für homerische Brautgüter bzw. Brautgeschenke, daß für die Charakterisierung der Heiratspraktiken bei Homer das von Vernant vorausgesetzte Konzept des Frauentausches, das auf Lévi-Strauss zurückgeht, nicht ausreicht, da Frauen im Epos nicht nur als „Objekte", sondern auch als Akteurinnen in den auf Austausch von Geschenken basierenden Beziehungen auftreten.57 So bezeichnen bei Homer die Begriffe εδνα und δώρα verschiedene Typen von Gaben: έδνα steht für das ,3rautgut", das der Bräutigam dem Vater der Braut - meist in Form von Vieh - zu entrichten hat und das ein Verhältnis zwischen dem Haus der Braut und dem des Bräutigams konsitutiert. δώρα hingegen wird verwendet für die Geschenke, die die Braut selbst von den Freiern, dem Bräutigam oder ihrem eigenen Vater bekommt und die eine dauerhafte Austauschbeziehung zwischen den Geschlechtern und den Generationen herstellen. Es ist anzunehmen, daß auch hier das homerische System einen Reflex auf tatsächlich vor allem in aristokratischen Familien gebräuchliche Praktiken darstellt. In den Poleis des 5. und 4. Jh. herrscht dagegen die Praxis der Mitgiftehe vor.58 Während die Darbietung von δώρα genannten Brautgeschenken in der nachhomerischen Überlieferung nicht mehr auftaucht, bleibt die Praxis der Beschenkimg der Braut bestehen. So berichtet Pherekydes von Syros von einem Hochzeitsritual, bei dem der Bräutigam der Braut ein Gewand 54

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Plut. mor. 75Id· χάρις γαρ οΰν, ώ Πρωτόγενες, ή του θήλεος ΰπειξις τφ αρρενι κέκληται προς των παλαιών ώς καί Πίνδαρος έφη τον "Ηφαιστον άνευ χαρίτων έκ της "Ηρας γενέσθαι [...]. Vgl. auch Sapph. fr. 49, 2 Voigt. Zum Bedeutungsfeld von χάρις: Wagner-Hasel (2000), 131-65; vgl. auch B. MacLachlan (1993), The Age of Grace. Charis in Greek Poetry, Princeton. χάρις in diesem Sinne z.B. Plat. symp. 182a; Phaidr. 23 lc; zu den Geschenken: G. KochHarnack (1983), Knabenliebe und Tiergeschenke. Ihre Bedeutung im päderastischen Erziehungssystem Athens, Berlin. B. Wagner-Hasel (1988a); vgl. auch Wickert-Michnat (1982), 80-113; E. ScheidTissinier (1994), Les usages du don chez Homère. Vocabulaire et pratiques, Nancy, 83114. Die „Mitgift" (προίξ) stellt das vorgezogene Erbe der Tochter dar und wird in den Quellen häufig von der Brautausstattung in Form von Kleidung und Schmuck unterschieden, die in der Tragödie und in epigraphischen Quellen der hellenistischen Zeit mit dem Begriff bezeichnet wird; dazu: D. Schaps (1979), Economic Rights of Women in Ancient Greece, Edinburgh; Β. Wagner-Hasel, s.v. Eheverträge; DNP 3, 901-2.

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schenkte;59 dieses Geschenk muß er ihr anläßlich der Entschleierung überreicht haben, denn Pherekydes bezeichnet das Ritual, das am dritten Tag der Hochzeit stattgefunden habe, als Anakalypteria (άνακαλυπτήρια). Der wichtigste Punkt bei dieser rituellen Inszenierung war offenbar, daß die Braut das Geschenk akzeptierte; im Gegenzug dazu entschleierte sie sich.60 Auch in mythischen Erzählungen erscheint dieses Gewandgeschenk: Telemachos erhält bei seinem Besuch bei Menelaos und Helena von letzterer ein Gewand, das er bei seiner Hochzeit der Braut schenken soll.61 Kadmos schenkt Harmonía ein Kleid und eine Halskette zur Hochzeit,62 und in den Troerinnen des Euripides gibt Hekabe ihrem toten Enkel Astyanax einen Peplos mit, der für seine Hochzeit bestimmt gewesen wäre. 3 Nicht Gewalt, sondern geregelter Austausch, Charis, soll im Idealfall das Verhältnis der Geschlechter zueinander bestimmen.64 Während das Ritual der Ankalypteria eben diesen Idealfall demonstrativ Wirklichkeit werden läßt,65 tendieren Mythen dazu, die problematische Seite der sozialen Organisation zu thematisieren. Genau dies geschieht auch in der hesiodeischen Erzählung der Begegnung von Kainis und Poseidon. Die Erfüllung des Wunsches der Kainis führt dazu, daß sie nicht schwanger werden kann, daß das Lager des Poseidon entgegen aller Erwartung schließlich ist er ein Gott - „vergeblich" bleibt. Damit aber wird die von Kainis als Gegengabe für die ihr von Poseidon versprochene Wunscherfüllung gewährte Charis gewissermaßen annulliert. Denn heterosexuelle Beziehungen interessieren nur unter dem Aspekt der Reproduktion, erst die Geburt eines Kindes, nicht der sexuelle Akt als solcher veränderte den Status einer , Jung59

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Pherekyd. Syr. fr. 68 (Schibli) mit Kommentar; vgl. auch M.L. West (1971), Early Greek Philosophy and the Orient, Oxford, 15-20. Sinos/Oakley (1993), 25 mit Verweis auf weitere Zeugnisse: Nach Pollux 3, 36 heißt der Tag der Entschleierung άνακαλυπτήρια, an ihm wird die Braut vom Bräutigam beschenkt, wobei diese Geschenke nach Pollux verschiedene Bezeichnungen tragen konnten (τά δέ παρά τοΰ ανδρός διδόμενα δώρα ϊδνα και όπτήρια και άνακαλυπτήρια). In Gerichtsreden wird die Existenz von Anakalypteria-Geschenken als Beweis dafür angeführt, daß eine Hochzeit stattgefunden hatte (Lys. fr. 7 Thalheim), was nach Sinos/Oakley (1993) vermuten läßt, daß die Ankalypteria am Hochzeitsbankett vor Zeugen stattfanden. Od. 15, 54; vgl. zu der Stelle auch Wagner-Hasel (2000), 108f. Apollod. 3 ,4, 2; nach Hellanikos FGrHist 4F98 hat er das Kleid von Athena, die Kette von Aphrodite. Eur. Tro. 1218-20. Bei Aristoph. Plut. 530 heißt es, daß der Bräutigam die Braut mit kostbaren Gewändern ausstattet. Zeitlin (1986), 134 betont ebenfalls, daß regelrechte Heirat, im Gegensatz zu Vergewaltigung, als Austausch betrachtet wurde, sieht darin aber - da sie von der angeblich alles bestimmenden Ideologie des „Frauentausches" ausgeht - nur ein Tauschverhältnis zwischen Brautvater und Bräutigam. Zu dieser Dimension von Ritualen vgl. oben Kap. I Anm. 107.

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frau", Parthenos (παρθένος).66 Kainis benützt das als rituelle Regel vorgegebene System der sozialen Ordnung eben dazu, um sich dieser Ordnung, wie sie in den übrigen Heroinen-Erzählungen zum Ausdruck kommt, zu verweigern. Die Darstellung einer derartigen Manipulation durch listiges weibliches Verhalten wäre gerade für Hesiod typisch, der immer wieder - im Gegensatz zu Homer - das Auseinanderklaffen zwischen der Ideologie des gerechten Austausches und der Realität des Alltags darstellt.67 Allerdings macht der Erzählverlauf im weiteren klar, daß das Verhindern einer Schwangerschaft dazu führt, daß Kainis ihre weibliche Identität verliert, was umgekehrt bedeutet, daß Weiblichkeit ohne Mutterschaft eben nicht denkbar, genauer: erzählbar war.68 Der übliche Verlauf der Heroinen-Erzählung, der immer zur Geburt eines von Göttern stammenden Sohnes führt, wird durch List der Kainis so gewissermaßen ex negativo bestätigt; dies verdeutlicht die Funktion der verschiedenartigen „Mädchentragödien" bei der Konstruktion von Weiblichkeit. Frausein bedeutet nach der Heroinen-Erzählung zweierlei: zum einen, männliche Nachkommen zu gebären; zum anderen aber auch, eine Beziehung herzustellen zwischen der Welt der unsterblichen Götter und jener der sterblichen Menschen. Dem entspricht, daß die Zugehörigkeit der Frauen zur Polis über zwei Bereiche definiert wurde: das Gebären von Söhnen und die Ausübung von Kulten, die die Anbindung der Polis an eine transzendente Ordnung garantierten. Dies ist besonders offensichtlich, wenn Heroinen-Erzählungen direkt, etwa als Aitia, mit einzelnen Kulten der Polisreligion verbunden wurden.69 Aber auch die Rituale, die Frauen innerhalb des Hauses ausführten, etwa bei der Geburt von Kindern, bei der Aufnahme eines Gastes oder bei den Vorbereitungen zur Bestattung von Familienangehörigen, dienten der Herstellung von Passagen zwischen verschiedenen Bereichen. Dies zeigt Wagner-Hasel vor allem für Homer,70 es gilt aber auch für das rituelle Handeln von Frauen in den Häusern der Polis.71 Mit ihrem Wunsch versucht Kainis einer so definierten Weiblichkeit zu entgehen und verliert dabei ihren weiblichen Körper ebenso wie ihren Namen. Welche Rolle jedoch spielt Poseidon in dieser Geschichte? Läßt er sich durch

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Vgl. oben Anm. 47. Der Begriff παρθένος entspricht deshalb nicht genau dem modernen Wort „Jungfrau"; er meint eher einen Zustand, in dem das Mädchen fähig ist, schwanger zu werden; so E. Specht, Parthenogenese und Kopfgeburten. Zur Aneignung weiblicher Potenz im Klassischen Athen, Feministische Studien 5/1, 76-85; vgl. auch E. Klingenschmitt (1974), Griechisch παρθένος, in: M. Mayrhofer u.a (Hrsg.), Antiquitates Indogermanicae. Gedenkschriftfür H. Gürttert, Innsbruck, 237f. Vgl. dazu Zoepffel (1989), 467f.; Naerebout (1987), 117. Vernant (1987), 32 beschreibt diese Dimension der griechischen Definition von Weiblichkeit: „Ein Mädchen, das die Heirat verweigert, verzichtet zugleich auf ihre .Weiblichkeit'." Vgl. das bei Larson (1995) und Lyons (1997) zusammengestellte Material. Wagner-Hasel (2000), 105-130 (Gastfreundschaft); ebd., 158-61; 213-18 (Bestattung). Vgl. z.B. Hunter (1994), 35.

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Kainis tatsächlich überlisten? Oder sollten wir lieber davon ausgehen, daß sich in seinem Verhältnis zu Kainis eine ganz spezifische Qualität seiner Macht innerhalb der Polisreligion ausdrückt? Diese Fragen sind für das Verständnis der bei Akusilaos überlieferten Version noch wichtiger als für die eben diskutierte Erzählung.

2.3. Akusilaos: Die Macht Poseidons Akusilaos benützte für seine Version des Kaineus-Mythos als Quelle möglicherweise einen Text Hesiods oder aber eine der oben besprochenen Fassung vergleichbare epische Quelle. Auffällig ist, daß Akusilaos das Motiv der Verwandlung durch Poseidon anders begründet und zwar mit einer auf den ersten Blick schwer verständlichen Formulierung. Der im Papyrus überlieferte Text lautet an der Stelle: ού γαρ ήν αύτοίς ιερόν παΐδας τεκέν οΰτ' έξ έκείνου οΰτ' έξ άλλου ούδενός. Dies läßt sich etwa folgendermaßen übersetzen: „Denn es war ihnen nicht „heilig" (?) Kinder zu gebären, weder von jenem noch von irgendjemand anderem." Der überlieferte Text bietet jedoch zwei Schwierigkeiten, eine grammatikalische und ein inhaltliche. Die grammatikalische besteht darin, daß es keine Parallele gibt, die belegen würde, daß ούκ Ιερόν mit Dativ und folgendem Infinitiv das gleiche heißen konnte wie das in Inschriften, aber auch literarischen Texten häufige ού θέμις oder ουκ δσιόν τινι (etwa: „es entspricht für jemanden nicht den göttlichen Regeln, ,..").73 Außerdem bedeutet Ιερός, anders als δσιος, „heilig" in einem sehr konkreten Sinn: es steht praktisch immer im Kontext des Tempels oder des Opfers.74 Wir haben es also entweder mit einer einmalig belegten, archaischen Verwendung des Adjektivs ιερός zu tun, dann würde der Satz soviel bedeuten wie: „weil es für sie gegen die göttlichen Regeln verstieß (...)", oder aber der überlieferte Text ist an dieser Stelle verderbt. Das unverständliche Ιερόν wäre dann allenfalls noch als Indiz dafür zu sehen, daß in irgendeiner Weise von einem Kult oder Tempel die Rede gewesen sein könnte, in dessen Umfeld es der Parthenos Kainis nicht erlaubt war, schwanger zu werden. Immerhin ist fur den Poseidon-Tempel in Kalaureia das Priesteramt einer Parthenos belegt.75 Beide Möglichkeiten wecken außerdem die Assoziation zahlreicher aitiologischer Erzählungen, in denen Sexualität und Geburt in Heiligtümern

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Zur Diskussion des Papyrus-Textes vgl. neben Grenfell/Hunt in: POxy. ΧΙΠ, 139-45 auch Deubner (1919) und Jacoby zu Akusilaos FGrHist 2 F22. Zu den Belegen vgl. LSJ, s.v. Burkert (1977), 403. Paus. 2, 33,2.

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streng bestraft wird, da beides als μίασμα („Verunreinigung") galt.76 Doch müssen dies Vermutungen bleiben. Streng genommen geht also aus dem überlieferten Text nur klar hervor, daß Poseidon in der Version des Akusilaos die Verwandlung aus eigenem Antrieb bewerkstelligt, d.h. seine Interessen sind mit jenen der Parthenos Kainis identisch, die - sei es, um die Ehre ihres Oikos zu retten oder weil sie sich als Priesterin in einem Tempel befindet - eine Schwangerschaft verhindern will. Dies führt zu inhaltlichen Schwierigkeiten: Den verschiedenen Herausgebern des Papyrustextes scheint es schwer verständlich, daß Poseidon, anders als alle anderen Götter, die mit menschlichen Frauen Nachwuchs zeugen wollen, die Angst der Kainis teilen sollte. Diels/Kranz verbessern deshalb das überlieferte αύτονς zu αύτη.77 Der Wunsch, nicht zu gebären, beträfe dann nur Kainis, was tatsächlich viel logischer erscheint. Aber es bleibt schwer verständlich, warum Poseidon - völlig anders als die übrigen Götter - der Parthenos zuliebe auf Nachkommenschaft verzichten soll, indem er sie in einen Mann verwandelt. Die gilt noch mehr für den Vorschlag Jacobys, der zu αύτφ ändert. Vielleicht hat Akusilaos tatsächlich eine epische Fassung drastisch gekürzt und dabei eine eigene, wie Grenfell/Hunt in ihrer Edition des Papyrus kommentieren, „naive" Begründung für die Verwandlung eingefugt. Sie muß ihm selbst aber zumindest plausibel vorgekommen sein. Dies wird nachvollziehbar, wenn man die Figur des Gottes Poseidon in der griechischen Mythologie und seine Stellung in der Polisreligion betrachtet. Es läßt sich zuerst ein interessanter paralleler Fall zu Kainis anführen: Poseidon verleiht nämlich nicht nur ihr, sondern auch einer jungen Frau namens Mestra die Verwandlungsgabe. Anders als Kainis, die nur einmal verwandelt wird, kann Mestra sich dank des Geschenks des Poseidons selbst verwandeln. Sie benützt diese Fähigkeit, um ihren Vater zu ernähren, der von Demeter mit einem ewige Heißhunger geschlagen wurde.79 Der Mythos ist bereits für die Kataloge des Hesiod belegt.80 Allerdings wissen wir nicht, unter welchen Umständen bei Hesiod Poseidon der Mestra ihre Begabung schenkt. Ovid deutet in seiner Version an, daß Poseidon ihr mit der Verwandlungsgabe in dem Moment zu Hilfe kommt, als sie vom Vater in die Sklaverei verkauft wird; Mestra erbittet von Poseidon die Rettung mit dem 76

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Z.B. Melanippos und Komaitho im Artemisheiligtum in Patrai (Paus. 7, 18-21); vgl. dazu Redfield in: Halperin et al. (1990), 115-34; Atalante und Melanion (Apollod. 3, 9, 2); Sexualität und Geburt als μίασμα: Parker (1983), 74-103. Akusilaos Β 40a DK Grenfell/Hunt in: POxy. ΧΙΠ, p. 142f. Schol. Lykophr. 1393 ( = Hes. fr. 43b Merkelbach/West); Ov. met. 8, 739-879. Hes. fr. 43b und c Merkelbach/West; zu dem auf Papyrus überlieferten fr. 43c: W. Luppe (1996), Poseidons Verwandlungsgabe für Mestra PHerc. 1609 II, Hes. fr. 43c Merkelbach/West, Cronache ercolanesi 26, 127-30.

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Hinweis darauf, daß sie eiranal mit ihm geschlafen habe, und entflieht in der Gestalt eines Mannes;81 genau wie bei Kainis erscheint auch hier die Verwandlung als Dank fur einen Liebesdienst. Mithilfe Poseidons ist es ihr möglich, das ganze Leben lang beim Vater zu bleiben und diesem zu helfen. Auch einer Tochter des Königs Dañaos kommt seltsamerweise Poseidon - und nicht etwa Artemis - zu Hilfe, als ihr die Vergewaltigung durch einen Satyr droht; dies geschieht, als sie im Gebiet von Argos nach Wasser sucht. Poseidon vertreibt den Satyr, schläft selbst mit Amymone und läßt zum Dank dafür eine Quelle entspringen.82 Poseidon zeigt in diesen Mythen den jungen Frauen gegenüber also ein Verhalten, daß man beinahe als „ritterlich" bezeichnen könnte: er schützt sie vor sexuellen Angriffen, während sein eigenes Benehmen von einer gewissen Zurückhaltung geprägt ist; so ist auch bei der bei Homer geschilderten Begegnung des Gottes mit Tyro nicht von Gewalt die Rede. Auf den ersten Blick im Widerspruch steht dazu Poseidons gewalttätiger, zu Hybris neigender Charakter, der sich in vielen Mythen zeigt und in religionsgeschichtlichen Beschreibungen dieses Gottes zu recht immer wieder hervorgehoben wird.83 So bezeichnet Burkert ihn als „Verkörperung elementarer Kraft",84 die in der Gewalt von Seestürmen, Flüssen und Erdbeben ebenso zum Ausdruck kommt wie in der Energie von Pferden, mit denen er als mythischer Vater des ersten Pferdes eng verbunden war.85 Daß mit dieser Kraft auch männliche sexuelle Potenz assoziiert wurde, lassen die Vergleiche junger Männer mit Pferden und Stieren vermuten: so dienten beispielsweise in Ephesos ταύροι („Stiere") genannte Jungen als Mundschenke an einem Poseidonfest.86 In diesen Zusammenhang gehört wohl auch jene Mythenvariante, nach der Poseidon Vater des ersten Pferdes wird, indem er Demeter zu vergewaltigen versucht und schließlich, da sie sich durch Verwandlung in eine Stute entzieht, selbst in Gestalt eines Hengstes zum Ziel kommt.87

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Ov. met. 8, 850-54. Zusammenhängend erst bei Apoll od. 2, 1, 4 und Hyb. fab. 169; vgl. auch Eur. Phoen. 187; Paus. 2, 37,1 erwähnt einen Fluß namens Amymone. Bezeugt ist ein nicht erhaltenes Satyrspiel Amymone des Aischylos, das zusammen mit den Danaiden aufgeführt wurde; dazu: A. Wessels/R. Krumeich in: R. Krumeich/N. Pechstein/B. Seidensticker (1999), Das griechische Satyrspiel, Darmstadt, 91-97. Burkert (1977), 214-19; Bremmer (1987); vgl. auch Schachermeyr (1950), Poseidon und die Entstehung des griechischen, Götterglaubens, Bern. Sammlung der Zeugnisse: L.R. Farneil (1907), The Cults of the Greek States IV, 1-97, Oxford. Burkert (1977), 214-19. Zeugung des ersten Pferdes: Schol. Pind. P. 4, 246; Schol. Apoll. Rhod. 3, 1244; Schol. Lykophr. 766. Der Beiname Hippios war besonders in Arkadien häufig: Paus. 8, 14, 5 (Pferde im Heiligtum des Poseidon), vgl. auch Paus.8,36,2. Athen. 10, 25,425c , vgl. dazu Graf (1985), 207. Paus. 8 , 2 5 , 4 .

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Sucht man nach der sozialgeschichtlichen Dimension des Gottes, so liegt die Vermutung nahe, daß er besonders für eine kriegerische, Pferdezucht betreibende Aristokratie von Bedeutung gewesen sein muß.88 Die Verteilung und Funktion bestimmter Poseidonheiligtümer deutet darauf hin, daß Poseidon wichtig war fur überregionale Verbindungen. Dies dürfte ebenfalls auf entsprechende aristokratische Gefolgschaften zurückgehen, wie sie in der Forschung fur die Dark Ages angenommen werden.89 Da jedoch die Poleis der archaischen Zeit auf den Zusammenschlüssen eben derartiger Gruppierungen beruhten,90 läßt sich die Funktion Poseidons auch ohne Rückgriff auf die Dark Ages oder gar die mykenische Epoche innerhalb der Polisreligion verstehen. So dienten seine Heiligtümer, die oft am Rande der Poleis an unzugänglichen Stellen der Küste angesiedelt waren, dazu, die überregionalen Kontakte zwischen den Poleis zu organisieren;91 panhellenische Spiele, die Isthmia, fanden im Poseidonheiligtum von Korinth statt.92 Bereits im 8. Jh. scheint das Poseidonheiligtum in Korinth als Versammlungsplatz gedient zu haben, diese Funktion haben Poseidonheiligtümer auch noch in spätere Zeit.93 Burkert bezeichnet Poseidon denn auch als „Stammvater und Ursprung einigender Macht";94 etwas abstrakter könnte man formulieren, daß die Verehrung Poseidons zentral war fur Gruppen, die auf dem Zusammenschluss von (aristokratischen) Männern basierten. Diese hatten ein gemeinsames Interesse an der überregionalen Nutzung von Ressourcen und damit an der Klärung der dabei entstehenden Konflikte,95 wozu die in Poseidonheiligtümem abgehaltenen Versammlungen dienen konnten. Insofern sich die Polis als Zusammenschluß von Männern, genauer Hopliten, mit gemeinsamer Abstammung verstand, basierte sie ebenfalls auf derartigen Bindungen, die ihren Ausdruck etwa in den Phratrien oder am Symposion fanden. Allerdings wurde die Zugehörigkeit zu solchen Gruppen, insofern sie der Polis angehörten, neu durch legitime Abstammung erworben, d.h. den einzelnen stand es nicht mehr frei, ihre Söhne nach Belieben zu legitimieren. Die Bindung an den Oikos und damit die Frauen muß deshalb von Anfang an ebenfalls konstituierendes Moment der sozialen Ordnung der Stadtstaaten gewesen sein. Genau hier dürfte der Grund liegen für die „randständige" Position Poseidons in der Po88

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Zur Bedeutung der Pferdezucht für den aristokratischen Lebensstil: Stein-Hölkeskamp (1989), 11 Of. Vgl. oben Kap. I Anm. 133; unten Kap. V Anm. 28. G. Herman (1987), Ritualised Friendship in the Greek City, Cambridge, untersucht die Bedeutung aristokratischer Verbindungen in klassischer Zeit. R.W.M. Schumacher in: Marinatos/Hägg (1995), 62-87. Burkert (1972), 219-21; zum dortigen Poseidonheiligtum vgl. E.R. Gebhard in: Marinatos/Hägg (1995), 154-77. Gebhard, ebd., 166: die Heiligtümer im Mykale-Gebirge, auf Kalaureia und in Onchestos dienten als Versammlungsorte der Ionier. Burkert (1977), 215. Wagner-Hasel (2000), 261 -305 ; vgl. auch Morgan ( 1990).

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lis, die in Mythen dadurch zum Ausdruck gebracht wurde, daß Poseidon den Kampf ums Hauptheiligtum gegen eine Göttin verliert, nämlich in Argos gegen Hera,96 in Athen gegen Athena,97 aber trotzdem durch den Kult sichtbar und anwesend bleibt. Dies führt uns zurück zu der Frage nach Poseidons Verhalten gegenüber den jungen Frauen. Er scheint dann eine Figur zu verkörpern, die sich etwas salopp als „onkelhaft" bezeichnen ließe: einen Mann, der der Generation des Vaters angehört und sich diesem, sei es durch Verwandtschaft oder durch Gefolgschaft, durch männliche Bindung eben, verpflichtet fllhlt. Als solcher ist seine Position gegenüber den jüngeren Frauen ambivalent. Sie können Objekt seines sexuellen Begehrens sein. Erzählungen, in denen es dabei zur ,,Mädchen/ragö